Eine andere Bürgergesellschaft: Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert 9783666351693, 9783647351698, 3525351690, 9783525351697

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Eine andere Bürgergesellschaft: Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert
 9783666351693, 9783647351698, 3525351690, 9783525351697

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Kritische Studie n zur Geschichtswissenschaf t Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler

Band 153 Barbara Weinmann Eine andere Bürgergesellschaf t

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Eine andere Bürgergesellschaf t Klassischer Republikanismus und Kommunalismu s im Kanton Zürich im späten 18 . und 19 . Jahrhundert

von

Barbara Weinmann

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Umschlagabbildung: Die Volksversammlung vo n Flawi l (St . Gallen ) a m 7 . August 183 6 Mit freundliche r Genehmigun g de r Zentralbibliothek Zürich , Graphische Sammlung , 2002 .

2002. 27897

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-525-35169-0 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft , der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschafte n in Ingelheim am Rhein und der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich. © 2002, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen , Mikroverfilmungen un d die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichte m Papier.

Bayerische Staatsbibliothek München © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Inhalt Vorwort 9 Einleitung 1

1

A. Grundlage n der gemeindlich-genossenschaftliche n Bürgergesellschaft 2

9

1. Ländlich e Gemeindeautonomie und städtischer Republikanismu s im Kanton Zürich bis zum Ausgang des Ancien régime 2

9

1.1. Di e kommunale Autonomietradition auf der Züricher Landschaft 2

9

1.2. Gemeindlich-genossenschaftlich e Selbstverwaltun g und stadtbürgerliche Protesttradition in der Stadtrepublik Zürich . . 4

7

1.3. Da s Spannungsverhältnis zwischen städtischem Herrschafts anspruch und ländlicher Freiheitstradition 6

4

B. Di e Dynamisierung der gemeindlich-genossenschaftliche n Bürgergesellschaft 7

5

2. Di e Dialektik der Züricher Aufklärungsbewegung: Städtisch e Reformbewegung un d ländliche Emanzipation zwische n Spätaufklärung un d dem Ende des Ancien régime 7

5

2.1. Bürgerlich e Öffentlichkeit un d republikanische Erneuerung : Der politisierende Einfluss der städtischen Sozietätenbewegung 7

7

2.2. Di e Dynamisierung des städtischen Gemeinderepublikanismus: Die Entstehung eines »volksaufklärerischen« Milieu s und die Zunftunruhen vo n 177 7 8

9

2.3. Di e Dynamisierung des ländlichen Gemeinderepublikanismus : Altes Recht und neue Freiheit im Gehäuse der tugendhafte n Republik am Beispiel des Stäfner Handel s von 1794/95 9

5 5

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3. Di e »Regeneration« des Züricher Gemeinwesens: Von der Entstehung einer liberalen Reformbewegung u m 182 0 bis zur Gründung des liberalen Verfassungsstaats von 183 1 14 3.1. Gemäßigt e Liberale und »Junge Juristen«: Liberale Strömungen in der Stadt Zürich 14 3.2. Di e Entstehung einer liberalen Bewegung auf der Landschaft : Der Typus des »ländlichen Liberalismus« 15 3.2.1. De r ländliche Liberalismus in der Tradition des kommunalistischen Freiheitskampfes : Die Chronik des Johannes Braendlin 15 3.2.2. Di e populären Pamphlete der ländlich-liberale n Bewegung 16 3.2.3. Di e Verfassungsprogrammatik de s ländlichen Liberalismus: Der Architekt der »staatlichen Volksgemeinde« Ludwig Snell 17 3.2.4. Di e Mobilisierung der Landbevölkerung: Di e Volksversammlung von Uster am 22. November 183 0 19 3.3. De r »Freystaat« als Verheißung: Di e Volkspetitionen des Winters 1830/3 1 zur liberalen Verfassungsrevision 20 3.3.1. Individuelle s Erwerbsstreben zu m Wohl des »gemeinen Nutzens«: Altständisches Besitzdenken und liberales Eigentumsrecht 20 3.3.2. Di e Konservierung der Gemeindebürgergesellschaft un d die Demokratisierung der Staatsbürgergesellschaft: 23 Korporative und individuelle Partizipationsvorstellunge n 3.3.3. Di e »gerechte« Bürgergesellschaft: Genossenschaftlich e Solidargemeinschaft un d liberaler Interventionsstaat 25 3.3.4. Freihei t - Gleichhei t - Bürgerlichkeit : De r liberale Verfassungsstaat i n gemeindlich-genossenschaftliche r Perspektive 26

3 6 5 7 7 5 6 4 9 0 2 3

C. Di e Transformation der gemeindlich-genossenschaftliche n Bürgergesellschaft 26

9

4. Au f dem Weg in die »andere Bürgergesellschaff.«: Vo m »Züri-Putsch« 1839 bis zur Demokratischen Bewegung der 1860er Jahre 26

9

4.1. De r vergebliche Versuch einer Transformation de r gemeindlichgenossenschaftlichen Bürgergesellschaf t au f den Staat: Der »Züri-Putsch« vom 6. September 183 9 27

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4.2. De r »machiavellian moment« der Züricher Republik : Die Bedrohung des »Mittelstandes« als Kern des Gemeinwesens Mitte der sechziger Jahre 28 4.2.1. Di e Formierung der demokratischen Opposition gegen die neue liberale Elite der »Bundes- und Eisenbahnbarone« im Vorfeld des Krisenmoments 28 4.2.2. Da s Schreckgespenst der Deprivation: Wirtschaftskrise und populistischer Journalismus 28 4.2.3. Vo m »exklusiven Gemeindebürger« zum »deklassierten Kleinbürger«: Di e Auflösung der traditionellen politische n Gemeindebürgergesellschaft 29 4.3. De r Schritt in die »andere Bürgergesellschaft« : Die demokratische Volksbewegung von 1867/6 8 und die Verfassungsrevision vo n 1869 30 4.3.1. De r Staat als bürgerliche »Selbsthilfegenossenschaft« : Konturen der »anderen Bürgergesellschaft« i n der demokratischen Presse 30 4.3.2. Di e Verteidigung der »Volksfreiheit«: Di e demokratische Volksbewegung und die Revision der Verfassung 30 4.3.3. Di e Demokratische Bewegung: Wiederherstellung der »alten Schweizerfreiheit« ode r Fortentwicklung auf der »Bahn des Fortschritts«? 32

3 3 9 6

3 3 9 6

Schluss 33

1

Abkürzungsverzeichnis 35

9

Quellen- und Literaturverzeichnis 36

1

Register 38

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Vorwort Die vorliegende Studi e wurde im Wintersemester 1999/200 0 am Fachbereich für Geschichts - un d Kulturwissenschafte n de r Freie n Universitä t Berli n al s Dissertation angenommen . Fü r ih r Interess e a n eine m nich t ebe n sozial geschichtlich akzentuierte n Them a bi n ic h de n betreuende n Professore n Hannes Siegrist und Jürgen Kocka äußerst verbunden. Dank ihrer Bereitschaft, dieses Projekt auch finanziell z u unterstützen, konnte ich die Arbeit in weiten Teilen unter den außerordentlich günstige n Bedingunge n an der Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte de r FU Berlin fertigstellen. Fü r die freundschaftliche Zusammenarbei t während dieser Zeit danke ich allen Kollegen un d Kolleginnen , auc h au s de m Umfel d de s Leh r Stuhls von Professo r Kocka. Besonders anregend un d hilfreich ware n de r Gedankenaustausch mi t Thomas Welskopp, Bernd Dornseifer, Ulric h Wyrwa, Dieter Gosewinkel und Ralf Schimmer. Zu den besonders angenehmen Erlebnisse n dieser Arbeitszeit gehörten die mehrfachen Archiv- und Forschungsreisen in die Schweiz. In lebendiger Erinnerung bleiben mir die instruktiven Anregungen von Professor Rudolf Braun in Zürich während der Anfangsphase de r Dissertation, auch Albert Tanner in Bern verdanke ic h wertvolle Hinweise . Wichtige Ermutigun g un d tatkräftig e Unterstützung hab e ic h i n der Schlußphas e vo r allem vo n Professo r Marti n Schaffner i n Base l erfahren . Katj a Hürliman n i n Züric h möcht e ic h fü r di e zahlreichen Anstöß e un d Erläuterunge n danken , di e si e mi r aufgrun d ihre r fundierten Kenntniss e der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschicht e Zürichs gegeben hat, aber auch für ihre ganz konkreten Hilfestellungen bei der Besorgung von schweizerischer Literatur . Als durchgängig unbürokratisch und sehr hilfsbereit habe ich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Staatsarchivs in Zürich und der Forschungsstelle für schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte de r Universität Zürich kennengelernt. Ihne n se i ebens o gedankt wi e de n Dame n M . Bisli n un d C.H . Blankart-Zahn fü r die herzliche Aufnahme i n Bern. Die Schlussredaktio n de r Arbeit erfolgt e währen d meine r neue n Projekt tätigkeit am Deutschen Technikmuseum, Berlin . Unter den Bedingungen ei ner Vollzeitstelle war es nicht zuletzt die tatkräftige Hilf e meiner Freunde, die mir die erfolgreiche Abgabe ermöglichte. Ihnen - un d hier seien namentlich die beiden eigentliche n »Lektoren « de r Arbeit , Almu t Rietzsche l un d Marku s Schacht, erwähnt, durch deren vorzügliche Arbeit das Manuskript sehr gewonnen hat, - gehör t mein ganz besonderer Dank. 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Die Drucklegun g de s Buche s wird dankenswerterweis e ermöglich t durc h die Zuschüss e de r Deutsche n Forschungsgemeinschaft , de r Geschwiste r Boehringer Ingelhei m Stiftun g fü r Geisteswissenschaften un d de r Direktio n der Justiz un d de s Innern de s Kanton s Zürich , übe r dere n »ungewöhnlich e Maßnahme« ic h mich im Besonderen gefreut habe . Ich widme dieses Buch Meisterstein, dessen prophetische Gabe ich eindeutig unterschätzt habe, und Inge Weinmann, deren mütterliche Sorge um mein körperliches und geistiges Wohl während der Promotion nur durch die unerschütterliche Zuversicht an ihre erfolgreiche Beendigun g übertroffen wurde . Berlin, im April 2002

Barbara Weinmann

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Das höchste Idea l de s badischen Kleinbürger s un d Bauer n blie b imme r die klein e bürgerlich-bäuerlich e Republik , wie si e in der Schweiz .. . besteht. Ei n kleines Tätigkeitsfeld fü r kleine , bescheidene Leute , der Staa t eine etwa s vergrößert e Gemeind e ... , laute r Mittelstan d un d Mittelmä ßigkeit .,. , - da s ist das sanfte Arkadien, das im größten Teile der Schwei z existiert und für dessen Einführun g der badische Kleinbürge r und Baue r seit Jahren geschwärm t hat. 1

Einleitung Mit spürbare r Bitterkei t fällt e Friedric h Engel s 185 0 dieses Urtei l übe r di e Schweiz. Vor allem die Tatsache, dass dieses Mittelmaß zum Vorbild der Badetier Revolution von 1848/4 9 avanciert war, musste ihn besonders enttäuschen. Fragt man jedoch nach der Ursache seines beißenden Spotts über die »Republik der Biedermänner« , biete t sich eine gegenteilige Lesar t des Zitats an, die weit über eine bloße Ablehnung alles Kleinbürgerlichen hinausgeht. Offensichtlic h unterlief da s vo n Engel s persifliert e Mittelstandsidea l jen e vo n Mar x un d Engels entwicklungsgeschichtlich fü r notwendi g erachtet e Polarisierun g von Klassengegensätzen »der bürgerlichen Gesellschaft« auf dem Weg zur proletarischen Gesellschaft. Zeichnet e sich demnach in der republikanischen Schwei z mit ihre n vielfältige n kantonale n Ausformunge n vo n politische r Breitenpar tizipation un d mittclständischer Industrialisierun g das Modell einer »anderen Bürgergesellschaft« ab ? Den entsprechenden Beweis zu führen ist das Ziel dieser Untersuchung, wobei von folgenden Arbeitshypothesen ausgegangen wird: Erstens: Das Schweizer Modell der »anderen Bürgergesellschaft « bezo g sein Fundament un d sei n Entwicklungspotentia l au s mittelalterlich-frühneuzeit lichen Traditionen politischen Denken s und Handelns, die es zu rekonstruieren eilt. Zweitens: Aus diesen Traditionen konnt e sich im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft i n einem schrittweisen »Dynamisierungs prozess« ei n Modernisierungspotentia l entwickeln , u m au f die Erforderniss e der modernen Εrwcrbsgeseilschaft z u reagieren. Drittens: Dies e »ander e Bürgergesellschaft« wurd e nich t allei n durc h da s bisher sozial eng definierte Bürgertu m geschaffen , sonder n fußte maßgeblic h auf den »nichtbürgerlichen« Schichte n von Kleinbürgern un d Bauern.

1 Engels . S. 138 .

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Eine »klassische« empirisch e Sozialgeschicht e de r Trägerschichten sol l und kann auf Basis der Quellengrundlage nicht geliefert werden. Zu bestimmen ist vielmehr, inwiewei t da s Konzept und die Realisierun g de r »anderen Bürger gesellschaft« da s Resultat de r Interaktio n unterschiedliche r soziale r Aktcurs gruppen war, die in jeweils eigenen Denktraditionen standen. Der methodische Ansatz verfolg t demnach , di e politisch e Praxi s vo n soziale n Schichte n un d Gruppen a n di e Ideen - un d Mentalitätsgcschicht e zurückzubinden . Zwe i Akteursebenen werde n i m folgende n unterschieden : di e Eben e de r Eliten kultur, auf der politische Konflikte als Ausdruck konkurrierender gesellschaft licher Deutungsmonopole zu werten sind, und die Ebene der Volkskultur. Auf diese Weis e wir d di e Verbindun g vo n politische r Sozialgeschicht e un d intellectual history 2 durch di e Berücksichtigun g de r volkskulturelle n Akteurs ebene u m mentalitätsgeschichtlich e Perspektive n erweitert . Di e tendenziel l einseitige Konzentratio n de r intellectua l histor y au f Perzeptionsvorgäng e vo n »oben nac h unten « sol l komplementä r durc h di e Untersuchun g vo n lebensweltlichen Einflüsse n von »unten nach oben« ergänzt werden. Die Arbeit ha t ihre n Ausgangspunk t i n de r spezifische n Problemkonstel lation de s Übergangs von der ständischen zu r bürgerlichen Gesellschaft . Al s Entwicklung vom »Gemeinnutz zum Eigennutz«3 ist der fundamentale normative Wandel in der Auflösungsphase der ständischen Gesellschaft charakterisiert worden, de r de n We g i n di e individualistisch-kapitalistisch e Erwerbsgesell schaft begleitete. Diese Interpretation korrespondiert e mi t einem Verständnis von bürgerlicher Gesellschaft , wi e es sich sei t der Französische n Revolutio n entwickelt hatte und von Hegel in seiner Rechtsphilosophie von 1821 definiert worden war. Di e »bürgerliche Gesellschaft « meint e danach die scharfe Tren nung von Staat als Inbegriff des Politischen un d Gesellschaft al s »System de r Bedürfnisse« ökonomische r Natur . I n de r Auseinandersetzun g mi t de m Hegelschen Verständni s vo n de r bürgerliche n al s »zivilrechtlic h geregelte n Wirtschaftsgesellschaft«4 koppelt e Marx den Begriff an den Aufstieg der Bourgeoisie als neuer Klasse, die bürgerliche Gesellschaft erschien mithin als »Klassengesellschaft«. Daneben bestand die sehr viel ältere Tradition eines alternativen Verständnisses von bürgerlicher Gesellschaft, das in Anlehnung an die klassische Theorie von Aristoteles Gesellschaft als politisch-soziale Einheit auffasst. Spätestens seit der kritische n Überprüfun g de r Vorbildfunktio n de s liberale n Modell s de r Staatsbürgcrgesellschaft nac h Beendigung der Ost-West-Konfrontation is t diese theoriegeschichtlich »andere « Konzeption von Bürgergesellschaft stärke r in den Blic k der deutschen Bürgertumsforschun g gerückt . Eine n Schwerpunk t 2 Sieh e zu dem Entwurf einer »cultural Interpretation of history« Howe, bes. S. 122S, S. 1232. 3 Schulze , Gemeinnutz, S. 597. 4 Sewing , S. 9.

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bilden Studien über die Nachwirkungen der Tradition der »societas civiles« auf das Selbstverständni s de s deutsche n Stadtbürgertum s i m Modernisierungs prozess.5 Dagegen is t e s bislang vornehmlic h de r anglo-amerikanische n Forschun g vorbehalten geblieben , di e konkret e Bedeutun g diese r politische n Denktra dition fü r die Formierung und ideologische Prägun g politisch-sozialer Bewe gungen des 17. bis 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. 6 Hier möchte die vorliegende Arbeit anknüpfen , d a ebe n dies e Politik - un d Gesellschaftstheori e auc h di e Entwicklung de r republikanischen Schwei z respektive der Stadtrepublik Zü rich bestimmte. Es ist deshalb zwingend notwendig, zunächst auf die im angloamerikanischen Rau m geführte Forschungsdebatt e einzugehen, aus denen die vorliegende Untersuchun g wichtig e erkenntnisleitend e Ansätz e geschöpf t hat.7 Unter den Begriffen des »Bürgerhumanismus« oder »klassischen Republikanismus« hat John G.A. Pocockden Überlieferungszusammenhang dieses politischen Leitbildes von der florentinischen Renaissance über die politische Diskussion i n England seit Mitte des 17 . Jahrhunderts durch James Harrington s »Oceana« bis hin zur Amerikanischen Revolutio n zu rekonstruieren versucht. 8 Kern de s alternativen bürgergesellschaftliche n Modell s is t das Idea l de r sich selbst regierenden Gemeinschaft wirtschaftlic h unabhängige r und wehrhafter 5 Sieh e dazu di e Monographie n de s Frankfurte r Forschungsprojekt s i n der von Lotha r Cal l herausgegebenen Reih e »Stad t un d Bürgertum« : Call , Stad t un d Bürgertum ; ders . (Hg.) , Vo m alten zum neuen Bürgertum ; ders. (Hg.), Stadt und Bürgertum i m Übergang, sowie die Studien zu einzelnen Städte n vo n Schambach: Weichet ; Roth; Zerhack: Möller; Mettele; Kill; Schulz. Vgl. auch di e begriffsgeschichtliche Untersuchun g vo n »Bürgerschaft « be i Koselleck/Schreiner . Zu r ideen geschichtlichen Erforschun g de r Überlieferun g be i Kan t sieh e Niethammer , de r nachweist , das s bereits Kant s Vorstellung de r Hausvätcr-Gemeinschaf t übe r da s klassische Paradigm a de r Politi k hinauswies, indem er einen bürgerlichen Verfassungsstaat konzipierte , der die Trennung von Staat und Gesellschaf t i m Ansatz erkennen lässt . 6 Vo n deutscher Seit e sin d hie r zu nennen de r grundlegende Aufsat z von Gall, Liberalismu s und »bürgerliche Gesellschaft« vo n 197 5 und die Studie von Nolte, Gemeindcbürgertum un d Libe ralismus. 7 Fü r di e hie r nich t dargestellt e englisch e Forschungsdiskussio n wir d au f di e neuerliche n Untersuchungsergebnisse zu r englischen Arbeiterbewegun g des 19 . Jahrhunderts verwiesen. Di e Frage, warum di e Arbeiterbewegun g nac h 185 0 einen moderate n Kur s einschlug, wir d mi t de m klassentranszendierenden Integrationspotentia l de s politischen Leitbegriff s »the people« beantwor tet, wie ihn der viktorianische Liberalismu s unter Gladstone propagierte. Seine Vision einer an den klassisch-republikanischen Bürgertugeude n orientierte n »people' s Community« führt e i n den un teren Bevölkerungssehichte n zu r Ausbildung eine s »popular liberalism« , de r eine formal e Allian z auch mi t großen Teile n de r Arbeiterschaft ermöglichte . Sieh e Biartitti, Liberty ; ders., Citizcnship ; sowie den Forschungsüberblic k be i Mares. 8 Pocock , Machiavellian Moment . Pococ k stützte sich dabei auf die idccngcschichtlichen Un tersuchungen von B a i l yn und Wood. Eine hervorragende Einführung un d einen Überblic k über die Republikanismusdebatte liefer t Sewiti g i n seinem Vorwort z u einer Anthologie Pococksche r Auf sätze. Sieh e auc h de n Forschungsberich t zu r politische n Ideengeschicht e Amerika s vo n Nolte , Ideen un d Interessen , bes . S. 120ff .

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Bürger. Freihei t un d Stabilitä t de s Gemeinwesen s liege n danac h i n de r virtù seiner Bürger, der politisch und aktiv verstandenen Bürgertugend, die stets die Unterordnung der (Privat-)Interessen des einzelnen unter das Wohl des Ganzen bedingt. Entsprechend droht der Republik vor allem Gefahr von dem Verfall der Tugend ihrer Bürger. Korruption und Dekadenz kennzeichnen diese n »machiavellian moment« 9 -so Pocock-, in dem die Bürger ihre Interessen und Leidenschaften übe r da s Gemeinwoh l stellen . Vo r diese m Hintergrun d ha t Pocock di e Amerikanisch e Revolutio n »les s a s th e first politica l ac t o f revolutionary enlightenment than as the last great act of the civic Renaissance‹‹ 10 bewertet - al s Versuch, die Ideale von Bürgertugen d un d Gemeinwohl gege n die entstehende, von Privatinteressen geleitet e Kommerzgescllschaf t z u institutionalisieren. Kommerz bildete demnach den Antipoden zur Bürgertugend, stand er doch für ungezügelten Egoismus und infolgedessen politische Indifferenz. Der klassische Republikanismus gewann somit in Pococks Darlegung einen defensiven, antimodernistischen wie antikapitalistischen Zug. Diese scharfe Zuspitzun g resultiert e nich t zuletz t au s de m Bestreben , sic h gege n di e bislang absolut dominierende liberal e Interpretatio n de r Amerikanischen Re volution abzugrenzen , di e einzi g de n überragende n Einflus s de s Besitzindi vidualismus John Locke s au f die politisch e Kultu r Amerika s beton t hatte. 11 Zwei antagonistische Modelle von bürgerlicher Gesellschaft stande n sich mithin gegenüber : di e »bürgerlich e Gesellschaft « al s liberal-individualistisch e Wirtschaftsgesellschaft un d die politische Zivilgesellschaft al s die »andere Bürgergesellschaft«, s o bezeichnenderweise de r deutsch e Tite l eine r Anthologi e von Pococks Aufsätzen. In der gegenwärtigen Forschungsdebatt e z u den politischen Traditionen i m anglo-amerikanischen Rau m wird da s dichotomische Model l zweie r säuber lich voneinande r z u trennende r Traditionssträng e politische n Denken s zu sehends konterkariert, indem auf die Mischung republikanischer und liberaler Denkweisen i n der historischen Realitä t abgehoben wird. 12 Diese neue Sicht 9 »Th e moment i n conceptualizcd tim e in which the republic was seen as confronting it s own temporal finitude , a s attempting t o remain morall y an d politicall y stabl e i n a strea m o f irrationa l events«, vgl. Pocock, Machiavellian Moment , S . viii. 10 Pocock , Virtue, S . 120 . 11 Sieh e die »klassische« Darlegun g vo n Macpherson un d Hartz. Hartz interpretiert e di e politi sche Tradition i n Amerika als einzig liberalistisch geprägt , ausgerichtet au f einen radikale n Kapita lismus und individualistische n Frciheitsbegriff . Eine n forschungsgeschichtliche n Überblic k übe r Vertreter un d Positione n diese r konkurrierende n Deutungsparadigme n liefer n u.a . Rodgers sowi e aus deutscher Sich t Vorländer . 12 Batming , S . 12 , beton t di e Vereinbarkei t beide r Denkströmunge n i n de r soziale n Praxis , denn: «logically, i t may be inconsistent to be simultaneously libera l and classical. Historicall y i t was not«. Als »ambivalent, widersprüchlich un d manchma l schlichtwe g paradox « ha t auch Shalhope , S . 50, das politisch e Denke n de r 1780e r un d 1790e r Jahre bezeichnet . I n grundsätzliche r Weis e re flektiert Gebhardt , Ide e des Bürgers, den Formenreichtu m bürgerschaftliche r Traditione n jenseits eines dichotomischen Modells .

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weise schlägt sich in unterschiedlichen Forschungstrend s nieder. So zeigt sich das Bestreben, di e einseitige liberal-kapitalistisch e Deutun g der bürgerliche n Sozialtheorie bei den schottischen Moralphilosophe n des 18. Jahrhunderts zu revidieren.13 Umgekehr t wurd e Thoma s Jefferson al s republikanische r Ge währsmann des um ihn gesponnenen »agrarian myth« entkleidet, der ihn zum Fürsprecher eine s »noncommercial , nonpeeuniar y .. . America n far m life « machte, inde m sein e agrarkapitalistische n Bestrebunge n nachgewiese n wur den.14 Dies e Forschungsergebniss e bezeuge n da s Bemühen de r historische n Akteure, Tugend und Kommerz miteinander zu verbinden. Für die vorliegende Untersuchung wir d darau s die erkenntnisleitende Annahm e gewonnen, dass das bürgergesellschaftliche Model l de s klassischen Republikanismu s ein Entwicklungspotential besaß , u m di e politische n Bürgertugende n eine r »civi l society« mit den egoistischen ökonomischen Impulse n einer sich kommerzialisierenden Gesellschaf t z u versöhnen. 15 I n diesem Sin n lasse n sic h auch die Forschungsergebnisse Rober t von Friedeburg s interpretieren. Um das Fehlen eines ländlich-kommunale n Republikanismu s i n Deutschlan d währen d de r Frühen Neuzei t nachzuweisen , benutz t e r die angelsächsisch e Traditio n de s klassischen Republikanismu s im Sinn einer Gegenfolie. Diese habe sich durch grundrechtsähnliche Positionen, u.a. »die potentielle Gewährung individueller Toleranz un d di e Akzeptanz von Mark t al s gesellschaftlichem Regelungsme chanismus«, ausgezeichnet. 16 Unterstützung erfähr t dies e Thes e zude m durc h di e paralle l zu r »Kom munitarismusdebatte«17 wiederaufgelebte Forschungsdiskussio n über die ame13 Ein e »Rettun g Smith s vo r seine n allz u wohlmeinende n ode r allz u kritische n Interpreten « des 19 . Jahrhunderts ha t 197 3 bereits Medick, S . 176 , angemahnt. Sieh e zu r jüngsten Revisio n de s Bildes von Adam Smit h al s »Apologet des im Entstehe n begriffene n Industriekapitalismus « Böhm , S. 51, sowie die Beiträg e i n Hom/lgnatieff, die au s unterschiedliche r Perspektiv e nac h de n Verbin dungen zwische n klassisch-republikanische m un d naturrechtliche m Diskur s i n der schottische n Aufklärung fragen . 14 Di e traditionalistisch-defensive Sich t au f Jefferson un d sein e Anhänger entwar f Hofstaater, bes. S . 23f , S . 30 ; dagege n Appleby . Di e Autori n gil t al s vehement e Vertreteri n eine r liberale n Interpretation de r amerikanische n Geschichte . Auc h di e hie r wiedergegeben e Thes e richte t sic h gegen di e klassisch-republikanisch e Sichtweis e Pocock s un d seine r Schüler . Μ. Ε . bietet sic h j e­ doch auch ein e Lesar t ihre r Ergebniss e i m obigen Sinn e an . 15 I n umgekehrter Akzentuierun g eine s an Gemeinwoh l un d Tugen d orientierte n Liberalis ­ mus sieh e Kloppenberg. Am Beispie l de r Entwicklun g de s englischen Begriff s de r »middle classes « im 18 . und frühe n 19 . Jahrhundert ha t Wirschin g au f die partielle Kongruen z des klassisch-repub likanischen un d liberale n Paradigma s und deren praktisch e politisch e Konsequenze n i n der engli schen Retormbewegun g vo n 183 2 hingewiesen . Insgesam t beurteil t e r jedoch de n klassische n Republikanismus al s »im Ker n .. . zutiefst antiliberal « (S . 176) . 16 Sieh e von Friedeburg, »Kommunalismus«, S . 69, wobei er sich betontermaßen auf die Ausfüh rungen vo n Dickinso n stützt . 17 Di e aktuell e ››Kommunitarismus«-Bewegun g i n de n US A gin g vornehmlic h au s der vo n dem Sozialphilosophen John Rawl s initiierten Kriti k an den neoliberale n Tendenzen de r achtzige r Jahre hervo r un d setz t de m exzessive n Individualismu s di e Revitalisierun g politische r Bürger -

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rikanische »Populistenbewegung « de r 1890e r Jahre.18 Dieser agrarische n Mit telstandsbewegung de s Südens und Mittleren Westens , die 189 2 auf nationale r Ebene zu r Gründun g de r »People' s Party « führte , hin g lang e Zei t de r Ruc h kleinbürgerlich-reaktionärer Modernisierungsverliere r an , die einer verklärte n Utopie de r »gute n alte n Zeit « huldigten. 19 Heut e wir d dagege n di e radikal e Sozialkritik un d das utopisch-visionäre Potentia l des Populismus als ernsthafte r Versuch eine s »dritte n Weges « i n di e Modern e jenseits vo n Marxismu s un d Kapitalismus gewürdigt , desse n Wurzeln i n die klassisch-republikanische Tra dition politische n Denken s zurückreichten. 20 I n ihre r Sozialkriti k richtete n sich die Populisten gege n die sozialen und antidemokratischen Auswüchs e de r zunehmenden plutokratische n un d monopolistische n Tendenze n de s ameri kanischen Industriekapitalismus . Ihr e Bewegung wa r deshalb ohne Frag e eine Reaktion au f Modernisierungsfolgen , nich t abe r i m Sinn e eine r antimoder nistischen »Gegenreaktion« , den n wede r de r Industrialisierungsprozes s noc h das individuell-kapitalistische Erwerbsstrebe n wurde n generel l abgelehnt . Si e verfolgten stat t dessen di e gesellschaftliche Zielutopi e eine r a m Gemeinwoh l orientierten basisdemokratische n Produzentengemeinschaft , i n der da s Idea l sozial gerechter Austauschbeziehungen, de s »cooperative Commonwealth«, mi t dem Idea l bürgerliche r Selbstrcgierung , de m »people' s government« , ver schmolz.21 Ihr e Programmati k eine s plebiszitä r kontrollierte n gemäßigte n Staatsinterventionismus ähnelt e in frappanter Weis e den 186 9 in Zürich, 187 4 auf Schweizer Bundeseben e durchgeführte n Verfassungsreformen. 22 tilgend mi t ihre r Orientierun g a m Gemeinwoh l entgegen . Di e Kommunitarismus-Debatt e ha t inzwischen z u zahlreiche n Publikatione n geführt . Auc h hierzuland e is t ein wachsende s Interess e zu verzeichnen . Al s Überblic k übe r di e unterschiedliche n Positione n de r amerikanische n Kom miinitarismusdebatte sieh e Honneth , zu r deutschen Diskussio n z . B. Münkler, Politisch e Tugend , und Reese-Schäfer. 18 Di e gesellschaftspolitische Aktualitä t des Populismu s betonen den n auc h di e Vertreter de r Populismusforschung. Sieh e etwa zu m »basisdemokratischen Versprechen « Goodwyn. Auch Hoyte setzt sic h a n verschiedene r Stell e nachdrücklic h dafü r ein , da s partizipatorisch e Bürgeridca l de r Populisten wiederzbeleben . Di e Aktualität des sozialen Denken s der Populisten beton t Palmer. 19 Dies e Beurteilun g fußt e au f vornehmlich sozialpsychologische n Untersuchungsansätzen , die den Populismus als zutiefst antidemokratische Strömung eines von Abstiegsängsten beherrsch ten Kleinbürgertum s begriffen . Fü r dies e Sich t wa r vo r alle m meinungsbiiden d da s Wer k vo n Hofstadter. 20 De n Auftak t z u dieser Neubewertun g des Populismus bildete das vorngenannte Werk vo n Lawrence Gooduyn . Ihr e Beeinflussun g durc h di e Debatt e übe r di e atlantisch e republikanisch e Tradition betone n di e jüngeren Publikatione n zu r Populismusbewegung : Miller , S . 265; Lasch, S. 15, S. 170-176 ; Clanton, S . XIII-XV, Schimmer . 21 Dies e Vision entwickelt e 189 4 als einer der wichtigsten Denke r des Populismus Lloyd. 22 Di e Reformprogrammatik de r Populiste n kreist e vor allem u m die staatlich reguliert e Ver besserung de s Kreditwesen s fü r Kleinproduzenten , ein e Verstaatlichun g de s Transport - un d Telekommunikationswesens, ein e Refor m de s Bode n rechts al s Schutz gege n Spekulation s missbrauch sowi e die Einführung eine r progressive n Einkommenssteuer . De r damit einhergehende n Ausdehnung staatliche r Befugniss e setzte n di e Populiste n basisdemokratisch e Kontrol l media-

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Die vorliegende Arbeit nimmt diese - bislan g schwerpunktmäßig i m anglo amerikanischen Rau m bestehende - Forschungsdebatt e zu m klassische n Re publikanismus auf , führ t abe r insofer n übe r si e hinaus , al s vo n eine m u m vernunftrechtliche Positionen erweiterten, »dynamisierten« Konzept desselben ausgegangen wird . I m Sinn eine r »schweizerische n Variante « de s klassische n Republikanismus sol l diese s Begriffsverständni s de r Darlegun g de r ideen geschichtlichen Tradition der bürgergesellschaftlichen Entwicklun g i n Zürich dienen. Der von Pocock entlehnte Titel von der »anderen Bürgergesellschaft« 23 bezieht sic h danac h zwa r explizi t au f da s von ih m u.a . rekonstruiert e Gescllschaftsmodell, geht jedoch nicht darin auf, sondern soll hier eine eigenständige bürgerliche Zielutopie definieren . Dem Interpretationsansatz des klassischen Republikanismus als Teil des politischen Elitendiskurse s sol l ei n zweiter , de r Volkskultur angehörende r Deu tungsansatz politische n Denken s und Handeln s an die Seit e gestellt werden . Gemeint is t ein e kommuna l verankert e genossenschaftlich e Autonomietra dition, di e eine m de m klassische n Republikanismu s ähnliche n Politikver ständnis verhaftet war. Grundlage des hier verwendeten Deutungsansatze s ist der von Peter Blicklc entwickelte Begrif f des »Kommunalismus«, der in spezifischer Weise modifiziert bzw . erweitert werden soll. In seiner Untersuchun g de s Verfassungs- un d Sozialgefügc s i m oberdeut schen Rau m seit dem Spätmittelalter ha t Blickle eine Tradition gemeindlich genossenschaftlicher Selbstorganisatio n de s »gemeinen Mannes « herausgear beitet, die seiner Auffassung nach im Unterschied zur bisherigen Forschung in Städten und Dörfern gleichermaße n wirksa m war. Diese »kommunalistische « Tradition24 zeichnet e sic h durch ein e spezifisch e politisch e »Verfasstheit « de r Gemeinden aus . Daz u zählt e ei n seh r weitgehende r Autonomiestatus . Di e Gemeinde regelt e ihr e gemeinschaftliche n Belang e aufgrun d autochthone r Gesctzgcbungs-, Verwaltungs- und Strafkompetenzen selbst , ihr oblag die Sicherung des Gemeinwesens nach innen wie außen, und sie schuf sich im Stadtrecht bzw. der Dorfsatzung einen eigenen Rechtskreis . Ein weiteres Kennzei chen war, dass alle diese autochthonen, nicht herrschaftlich delegierte n Rechte im genossenschaftlichen Verband ausgeübt wurden, d. h. von allen Mitgliedern in gleiche r Weise , al s »Berechtigun g wi e Verpflichtung«. 25 De r Begrif f de s nismen entgegen, u.a. den Schutz vor Wahlmissbrauch, Direktwahlen der Senatoren, Begrenzung der Amtszeit und die Einführung von Volksreferenden. Siehe dazu Schimmer, S. 82ff . 23 Sieh e di e vo n W . Sewin g eingeleitet e Aufsatzsammlun g vo n Pocock , Di e ander e Bürger gesellschaft. 24 Zu r schrittweise n Begriffsentwicklun g sieh e P . Blickte , Kommunalismus al s Gcstaltungs prinzip; ders., Gemeindereformation , bes . S. 165-204, sowie ders. , Kommunalismus , Parlamen tarismus. 25 S o lautet m.E. die präziseste Definition de s Koiniminalismus-ßcgriffs von Blickle, wonach: «die Organisation gemeinschaftlicher, alltäglicher Belange (ausgedrückt in Satzungshoheit, Admi-

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Kommunalismus mein t also in der Verknüpfung einer spezifischen gemeind lichen Ordnun g mi t de m genossenschaftliche n Grundsat z sowoh l ei n Ver fassungs- al s auc h ei n Sozialprinzip , da s ei n Gcgenmodel l zu r feudale n Herrschaftsordnung bildete . Di e Gemeinde stellt e daher die ureigene politi sche Organisation des »gemeinen Mannes« von Bürgern und Bauern dar.26 Von hier aus entwickelte Blickl e ei n dichotomische s Deutungsmodel l de r ständischen Gesellschaft , da s dem vertikale n feudale n Herrschaftsprinzi p jenes in den städtischen und ländlichen Gemeinden verankerte, horizontale genossenschaftliche Organisations - und Lebensprinzi p gegenüberstellte. Praktisc h bedingte diese r Antagonismus permanent e Konflikt e zwische n obrigkeitliche m Herrschaftsanspruch un d gemeindlich-genossenschaftliche m Autonomie streben, die im Bauernkrieg von 1524/2 5 und anderen frühneuzeitlichen Un ruhen eskalierten. In de r Verknüpfun g de s kommunalistische n Politik - un d Gesellschafts modells Blickles mit den Untersuchungsergebnissen vo n Heinz Schilling sollen weitergehen d dre i Grundpfeile r de r gemeindlich-genossenschaftliche n Ordnung benann t werden . Al s solch e bestimm t Schillin g da s Rech t au f bestimmte korporativ definierte Freiheitsrechte , namentlich der Rechtssicherhei t und des Besitzes, den Anspruch auf korporative Partizipation und den Grundsatz gleichmäßiger Teilhab e alle r a n Rechte n un d Pflichten. 27 Ein e wertvoll e Erweiterung des Kommunalismus-BegritTs um die Bedeutung eines »sozialen nistration un d Rechtspflege) , di e Friedewahrun g nac h inne n un d außen un d die aus beiden resul tierenden Rechtsnorme n als autochthone Recht e einer Gemeinde von allen Mitgliedern i n gleicher Berechtigung un d Verpflichtun g wahrgenomme n werden . Berechtigun g un d Verpflichtun g er wachsen au s der selbstverantworteten Arbei t als Bauer und Handwerke r i m genossenschaftliche n Verband«, P . Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus , S . 535. 26 P . Blickle, Kommunalismus, S . 14 . Dieser Aufsatz bietet in der Darlegung der »institutionel len Formen , gesellschaftliche n Grundlage n un d normative n Ausprägunge n kommunale r Ord nung« (S . 8) eine ausführliche un d systematisch e Erklärun g des Kommunalismus . 27 Schilling , Städtische r »Republikanismus«? , hie r bes . S . 103-108 . Schillin g filtert e dies e Grundprinzipien au s deutschen Städteverfassunge n de s Mittelalters un d de r Frühe n Neuzei t i m Südwesten sowi e demHanseraum . Di e Übertragun g diese r Ordnungsvorstellunge n auc h au f Gemeinden de r Züricher Landschaf t rechtfertig t sic h zum einen durch ihr e Nähe zu der Definiti on vo n Blickle , die sic h offenkundi g i n bezug auf einen korporative n Partizipationsansprucl i un d den Grundsatz der Korrelation von Rechte n un d Pflichten zeigt . Als ländlich-gemeindliches Äqui valent z u de n vo n Schillin g angeführte n ständische n »Grund - un d Freiheitsrechten « fungier t di e von P . Blickle , Kommunalismus , S . 18ff , benannt e »grundrechtsähnlich e Kategori e de r Haus notdurft«. Diese s Gebot der Auskömmlichkeit induziert e i n der Abwehr herrschaftlicher Ansprü che ei n Freiheits - un d Besitzdenken , legitimiert e abe r auc h innerhal b de r Gemeind e bestimmt e Verfügungsrechte. Ähnliche s galt für das Gebot der Friedewahrung i m Innern, das einen gewisse n Rechtsschutz gege n willkürlich e Übergriff e umfasst e (S . 15f.) . Zum andere n ha t Bierbrauer, Frei heit un d Gemeinde, S . 116-129 , S. 221 ff., i n seiner empirischen Untersuchun g des Berner Ober landes i m Spätmittelaltc r ungeachte t de r Prämiss e de s gemeinen Nutzen s au f die Existen z eine s persönlichen Besitzrecht s hingewiese n un d die Praxi s eines gemeindlichen Rechtsschutze s gege n willkürliche Verhaftun g dargelegt .

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»common sense‹ « ha t darübe r hinau s Wolfgang Kaschub a geleistet. 28 E r geht davon aus , das s da s genossenschaftlich e Organisationsprinzi p eine n spezifi schen Bestand von »sozialmoralischen Konsensformeln « voraussetzte, die sich in den Rechtskodifikationen von Stadt- und Landgemeinden schriftlich niederschlugen, nich t abe r konstituierten . Si c erwuchse n vielmeh r au s nichtko difizierten verbindenden »Alltagscrfahrungen und Alltagsdeutungen« als einem lebensweltlichcn Ordnungs - und Wertcgefüge, i n dessen allgemeiner Akzeptanz sic h de r »commo n sensc « äußert e un d di e innergemeindlich e Konflikt rcgelung möglich wurde. Die Anerkennung bedingte jedoch, dass dieses Gefüge kein starres System sein durfte und der sozialmoralische Wertehorizont wie die rechtliche Normierung auf lebensweltliche Veränderungen der Sozial- und Wirtschaftsstruktur reagiere n konnten. Das kommunalistische Organisations und Lebensprinzip erwies sich nur dann als tragfähig, wenn erstens »die Fähigkeit zu r Weiterentwicklun g un d innere n Dynamisierung « de r Werte - un d Rechtsnormen gegebe n war; 29 zweitens musste grundsätzlich i n den dadurc h ermöglichten innergemeindliche n Aushandlungsprozesse n da s Gebo t eine s »zwar ungleichen , abe r sozialmoralisch wi e juristisch verbürgte n Interessen ausgleichs« sichergestellt sein. In der Zusammenfassung dieser Positionen wird hier von einem Verständnis des Kommunalismu s al s gemeindlich-genossenschaftliche r Autonomietra dition ausgegangen, der ein bürgcrgesellschaftlichcs Model l zugrund e lag, das unter de r Prämiss e der Korrelatio n vo n bürgerlichen Rechte n un d Pflichte n einen korporative n Partizipationsanspruc h un d korporati v gebunden e Frei heits- un d Besitzvorstellunge n umfasst e un d sic h i m Prozes s de r Normen produktion als dynamisierungsfähig erweise n konnte . Nicht zuletzt von Blickl e selber ist die Frage aufgeworfen worden , welch e Bedeutung dem Kommunalismus für die politische Entwicklung i m 19 . Jahrhundert zukommt. Hintergrund ist die überzeugende Annahme, dass die lon gue durée politischer, sozialer und mentaler Prägung im oberdeutschen Rau m nicht abrupt durch den Umbruc h i m Gefolge de r Französische n Revolutio n beendet gewesen sei, wenngleich es sich um eine »durch viele Friktionen bis zur Unkenntlichkeit entstellt e Kontinuität « handele. 30 Davo n ausgehen d is t di e Bewertung des kommunalistischen Modernisierungspotentials Gegenstand ei28 Vgl. Kaschuha. 29 Ebd. , S. 67f. 30 Dies e Kontinuitätslinie zieht Blickle »vom Kornmunalismusdes Spätmittelalters [bis] in die Demokratie der Moderne«, siehe P. Blickte, Kommunalismus und Republikanismus, S. 75. Mögliche Arbeitshypothesen und Fragestellungen zur Untersuchung der kommunalistischen Moderni sierungspotentiale bei ders., Kommunalismus, S. 36-38. In diesem Zusammenhang plädiert er an anderer Stell e ausdrücklich fü r eine grundsätzliche räumlic h un d zeitlic h ausgeweitet e Anwen dung des Kommunalismusbegriffs: ders., Begriffsverfremdung S . 252.

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ner Debatt e de r jüngeren deutsche n un d schweizerische n Protestforschun g geworden, die sich, zugespitzt formuliert, zwischen den Polen »Schrittmacher« oder »Modernisierungsbremse « bewegt . Insbesonder e i n de r deutsche n Forschung wir d dabe i di e Revolutio n vo n 184 8 als Fluchtpunk t kommuna listischcr Kontinuität diskutiert und überwiegend ih r traditionalistisch-defen siver Grundzu g betont . I n diesem Sin n vereng t Rober t vo n Friedebur g de n Kommunalismusbegriff auf ein korporatives Protestprinzip mit ausgesprochen antiindividualistischer, antikommerzielle r ideologische r Prägung , da s vor nehmlich dem Zweck gedient habe, innergemeindliche soziale Konflikte nach außen, gegen die Grundherrschaft mi t ihren Abgaben und Diensten, abzulenken. Darau s folgt e de r »transitorische « Charakte r (Schilling ) de s Kommuna lismus, wonach da s bestehende Herrschaftssyste m ni e grundsätzlich i n Frage gestellt, sondern stets nur auf die Konservierung bestehender Zustände abgezielt worden sei. 31 Von Friedeburg sprich t damit dem kommunalistische n al s nur transitorischem Protes t erstens die Absicht ab, mit seiner Forderung Ernst zu machen, das gemeindlich-genossenschaftliche Selbstverwaltungsmodel l auf größere Zusammenhänge zu übertragen. Er negiert zweitens die Fähigkeit des Kommunalismus, auf die sozialökonomischen Veränderungen in der sich entwickelnden Kommerzgesellschaft reagiere n zu können, d. h. als »residuales Idiom«32 die lcbenswcltlichen Umbrüch e in modifizierten Deutungsmuster n er neut legitimieren z u können. Jüngst is t erstmali g de r Versuc h unternomme n worden , di e Bedeutun g kommunalistischcr Autonomietraditionen fü r die massenmobilisierende Wirkung de s Liberalismu s i n Bade n vo n 180 0 bis 185 0 herauszuarbeiten. 33 Pau l Nolte weist dabei einerseits auf die äußerst günstigen Voraussetzungen hin, die sich dem Liberalismus mit der kommunalistisch geprägten Gemeinde als politisch-sozialem Milieu boten, um an die Gemeindebasis vordringen zu können. Gemeindebürgerlicher Korpsgeis t und das klassisch-republikanische Bürger ideal des badischen Frühliberalismus verschmolzen so zu einem eigenen Typus des »Gemcindeliberalismus«. 34 Andererseit s blieb die liberale Volksbewegun g 31 »Konimunalismu s bestand .. . in einem Ensembl e von Partizipationsfordcrungen , Feindbil dern un d Werthaltungen, di e weder i n sich konsistent noc h je an der Wirklichkeit geprüf t worden , sondern polemisch abrufbar waren und der unmittelbaren Mobilisierun g der sozial differenzierte n Gemeinde gegen einen äußeren Gegner dienten. Her transitorische Charakter... konstituier t gera de de n Konimunalismus« , vo n Friedeburg. »Konimunalismus«, S . 90. 32 Vgl . ebd. , S . 74 . De r Auto r übernimm t diese n Begrif f von Isaac , S. 364, S . 37()ff . u m de n anglo-amerikanischen Republikanismu s al s »positives « Gegenbeispie l zu m Kommunalismu s z u interpretieren. Siehe zum vormodern-defensiven Grundzu g des deutschen Kommunalismu s auc h von Friedeburgi Dörfliche Gesellschaft , un d zuletzt ders.. Ländliche Gesellschaft, wobe i e r die Kon tinuität kommunalistischc r Sozial - un d Obngkeitskritik bi s in das 20. Jahrhundert verlänger t un d in Beziehun g z u dem moderne n parteipolitische n Nationalismu s setzt . 33 Nolte , Gemeindebürgertu m un d Liberalismus ; ders. , Bürgeridcal ; ders. , Gemeindelibe ralismus. 34 »De r Liberalismu s entstand i n Baden vor allem als »Gerneindelibcralismus‹, de r neue pohti -

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auf diese Weise ihrer vorindustriellen, »traditionalistische n Herkunft « verhaf tet. Im wesentlichen antimodern und antibürokratisch orientiert, zielte sie darauf ab, die lokale Gemeindeautonomie gegen die Zentralisierungsmaßnahmen der Reformbürokratie z u verteidigen. In dieser Perspektive interpretiert Nolt e die badische Revolution von 1848/49 im Anschluss an Pocock als letzte »Revolution der Frühen Neuzeit«, 35 die nicht auf Reform, sondern auf »die ›Wiederherstellung‹ eine r verlore n geglaubte n Ordnung « ausgerichte t gewese n sei. 36 Noltes Urteil trifft sich hier mit dem (wesentlich älteren) von Rainer Wirtz, in den Protcsthandlunge n de r Odenwälde r Bauer n i m Mär z 184 8 seie n kein e Ansätze einer längerfristigen Perspektiv e oder gar einer gesellschaftlichen Uto pie zu erkennen, da - so seine Erklärung- die Möglichkeiten, überhaupt gesellschaftliche Alternativen z u denken, äuikrst begrenz t waren, standen doch im wesentlichen nur religiöse Kategorien zur Verfügung. 37 In kritischer Auseinandersetzung mit den Forschungsthesen Nolte s hat sich Irmtraud Göt z von Olcnhuse n dezidier t gege n ein e ausschließlic h traditio nalistisch-antimoderne Interpretatio n de r kommunalen Bürgermentalitä t ge wandt. Sie geht dabei von Noltes zentraler These aus, dass sich republikanische Gesinnungen nicht in der Auseinandersetzung mit abstrakter Staatstheorie entwickeln konnten , sondern aus konkreten Erfahrungen , »di e wiederum durc h Traditionen vermittelt interpretiert wurden«.38 Eben dieser Erfahrungshorizon t - s o Götz von Olenhusen - hatt e sich bis zum Vormärz stetig verändert un d erweitert. Da s Schul - un d Vereinswesen , abe r auc h di e verbesserte n Kom munikationsströme, i n deren Folg e die politische n Entwicklunge n gerad e i n der benachbarten Schweiz nachweislich wahrgenommen und in der einfachen Bevölkerung sogar als Vorbild diskutiert wurden,39 wären hier zu nennen, während sich analog dazu die ständischen Deutungsmuste r auflösten . Diese r dialektische Prozess bedingte, dass Vorstellungen von Freiheit und Republik, von sehe Forderungen mi t dem traditionellen Lokalismus , mit einer traditionellen un d durch di e Ausweitung des hürokratischen Staate s seit der Reformzeit noc h einmal verstärkten Abneigun g gege n die zentralstaatlich e Obrigkei t un d ander e ›Herren ‹ verband. « Sieh e Nolte , Gemeindebürgertu m und Liberalismus, S. 424. Diese Traditionsbindung des Frühliberalismus habe ihm ein unmittelba r emanzipatorisches Potentia l erschlossen , gleichzeiti g abe r Grenze n i m Denke n un d I landein ge setzt (S . 16) . 35 Zitier t nach : Nolte, Der südwestdeutsche Frühliberalismus , S . 755. 36 Nolte , Gemeindebürgertum un d Liberalismus , S . 303. 37 Winz , S . 94 . 38 Göt z von Olenhusen, S . 451. 39 S o berichtet e ma n z . B. au s de m badische n Am t Jestetten, das s »ma n sic h seh r täusche n [würde], wenn man sich überreden wollte, dass die ultraliberalen .. . Schweizer Blätter,Jacobine r a n der Spitze , die verkehrte n Raisonement s de r Schwei z angrenzende n Landleut e vo n sogenannte r Freiheit un d Gleichheit , Repräsentation , Bürgerbefugni s (gege n Beamtendespotismus ) di e vo r Augen liegende n gu t gelungene n Volksaufständ e (z . B . Aarau, Zürich , Schaffmausen , Thurgau) , wenn man , sa g ich , i n der Meinun g stände , das s al l dies e Ding e au s de r nächste n Nachbarschaf t keinen Eindruc k au f die herwärtigen Angelegenheite n gemach t haben« , zitier t nach : Wirtz , S. 85.

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Individualismus und Volkssouveränität eine neue Qualität bekamen und liberales Gedankengut auch von den »kleinen Leuten« aufgenommen wurde. Götz von Olenhuse n führ t dami t di e Entstehun g de r liberale n Volksbewegun g in Baden auf einen erfahrungsgeleiteten »Perzeptions - und Lernprozess« zurück, ein Prozess, der sich mit Forschungsergebnissen der jüngeren schweizerische n Protestforschung empirisch bestätigen lässt . Andreas Sute r ha t i n seine r Untersuchun g de s schweizerische n Bauern krieges von 1653 die qualitative Veränderung des Widerstandshandelns nachgezeichnet. Diese r Entwicklun g la g di e Erfahrun g zugrunde , tradiert e Hand lungsmöglichkeiten ausgeschöpf t z u haben . Sute r benenn t dami t ebens o rationale wi e innovativ e kollektiv e Lernprozesse , i n dene n di e widerstän dischen Bauer n überkommen e Deutungsmuste r ihre s soziale n Handeln s veränderten, au s de r »schöpferisch-kreative n Einsich t ... , das s si e sic h neu e Handlungsstrukturen schaffe n müssen , di e ihr e Handlungsmöglichkeite n verbessern«.40 Entsprechend weit gesteckt waren die politischen Ziele der Aufständischen, die der eidgenössischen Tagsatzung als Gesamtvertretung der kantonalen Obrigkeiten ein zweites Vertretungsorgan, den Bauernbund, als gleichberechtigten Teilhabe r a m Rechts - und Gewaltmonopo l a n di e Seit e stelle n wollten. Ganz offensichtlich blie b der kommunalistische Protest hier kein defensiv ausgerichtete s transitorische s Protestprinzip , sondern entwickelt e ein e »gesellschaftliche Alternative« , welche die bestehende Herrschaftsordnung ra dikal i n Frag e stellte. 41 Nich t wenige r radika l wa r di e Motivatio n de r Basle r Unruhen des 18. Jahrhunderts, deren Träger mit der »Utopie vom freien Dorf « einen gescllschaftsutopische n Ansat z verfolgten , de r letztlic h au f di e Ent feudalisierungder ländliche n Sphär e drang.42 Dieses innovativ e gesellschaftspolitisch e Potentia l de r kommunalistischc n Autonomietradition, da s si e au s ihre m »subversive n Grundzu g gege n Hie rarchien alle r Art« 43 entwickel n konnte , zeigt e sic h auc h i m Übergan g zu r Moderne. Wichtige Hinweis e liefer t etw a die Studie Sandro Guzzis über Widerstandsbewegungen gege n de n erste n schweizerische n Nationalstaa t nac h französischem Muster , die Helvetische Republi k von 1798. 44 Am Beispiel de s Tessin weist Guzzi zwe i unterschiedliche Grundmodelle volkstümlichen Wi 40 Λ. Suter, Der schweizerische Bauernkrie g von 1653 , S. 37; ders., Forschungsbericht; ders.. Regionale politische Kulturen. 41 Auc h für die deutsche Entwicklung sieht P. Blickle, Die Revolution von 1525, S. 151-244, S. 289-297, in dem Bündni s von städtischen und ländlichen Gemeinden auf kleinstaatlicher Eben e die konkrete politische Zielsetzung einer revolutionären Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung auf einen korporativ-bündisch verfassten Staat . 42 A . Suter, »Troublen«. 43 P . Blickle, Komnnmalismus, S. 37. 44 Guzzi , Widerstand, sowie in ausführlicher Darlegun g ders., Logica del progresso c logiche del popolo. Rivoluzione e controrivoluzione nel Ticino meridionale fra Sette e Ottocento.

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derstands nach. Danach kam es in den abseits gelegenen, von äußeren Einflüs sen relati v abgeschirmte n Gemeinde n un d Talschafte n z u eine m »traditio nalistisch« geprägten Widerstand gegen die republikanische Staats- und Gesellschaftsform mi t de m Ziel , di e vorhelvetische Ordnun g wiederherzustellen . Eine gänzlich andere Motivation und Zielrichtung lag den Protestbewegungen der gut erschlossenen, dicht besiedelten Regionen mit Heimarbeit und Gewerbe zugrunde . Ih r »antifeudaler « Widerstan d wa r grundsätzlic h wede r anti republikanisch noch antimodernistisch, sondern entstand erst nachträglich aus der Enttäuschung über die autoritär-repressiven Züge der neuen Ordnung, die an den Feudallasten festhielt. Guzzi macht damit auf eine entscheidende qualitative Veränderun g de s kommunalistische n Protest s aufmerksam , gekenn zeichnet nich t durch di e Abwehr der Moderne , sonder n de n Versuch, eine n »weniger rücksichtslose n Weg in die Moderne« 45 zu finden, was seine Reakti ons- und Modernisierungsfähigkeit unte r Beweis stellt. Dies e Entwicklungs fähigkeit de s Kommunalismus zeigt e sich darüber hinau s i n der wachsende n Bedeutung von Partizipationsforderungen nac h 1799. Selbst jene traditionalistischen Widerstandsgebiet e setzte n sic h nu n fü r di e Einführun g vo n Volksrechten ei n i n dem Bestreben, eine Staatsordnung, di e man nich t abschaffe n konnte, wenigstens kontrollieren z u wollen. Es war daher bezeichnend, das s das Landsgemeindemodel l zu m Schrecke n de r Republikanerelit e i m Jahre 1802 in vielen Gebieten der Schweiz überaus populär wurde. Die »Anschlussfähigkeit« de s Kommunalismus an die politischen Bewegun gen des 19 . Jahrhunderts in der Schweiz hat jüngst Andreas Würgler betont. 46 Der Schwerpunkt seiner Studien zu städtischen un d ländlichen Protestbewe gungen im Ancien régime liegt auf der Entwicklung von politischer Öffentlich keit. Der kommunalistische Protest gewann Würgler zufolge die Qualität eines der politisierten Diskurskultur bürgerlicher Sozietäten vergleichbaren öffentli chen Räsonnements auf volkskultureller Ebene.47 Die Sicherstellung des Publizitätsprinzips gehörte zu den zentralen Forderunge n der Protestbewegungen , die »mit wichtigen Grundwerte n de r liberal-demokratischen Verfassun g ein e hohe Kongruenz « aufwiesen. Ausdrücklic h stellte n sic h deshalb auch liberal e und radikale Bewegunge n de r Schweiz zwischen 183 0 und 184 8 in eine Traditionslinie mit den Unruhen der Frühen Neuzeit, eine Linie, die in der Folge von der liberal-radikalen Historiographi e de s 19 . Jahrhunderts weite r festge schrieben wurde.48 45 Guzzi , Widerstand , S. 85. 46 Sieh e Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit, bes . Kap. 5.3.2. Ideelle Kontinuitäten, S. 318— 328. 47 Sieh e dazu auch Würgler, Modermsierungspotential, hier bes. S. 206 und S. 216, sowie ders., Politische Öffentlichkeit. 48 Zu r historiographisehen Verarbeitung siehe Würgler, Revolution aus Tradition.

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Die vorliegende Arbeit fügt sich in diese Forschungsdebatte ein, indem sie ;n Anlehnung an Kaschuba und Götz von Olenhusen die Reaktionsfähigkeit gemeindlich-genossenschaftlicher »Welt-Anschauung « i m wörtliche n Sin n au f lebensweltliche Veränderungen annimmt. In Abgrenzung von Wirtz und Noltc geht si e unte r diese n Umstände n vo n eine m gescllschaftsutopische n Ent wicklungspotential des Kommunalismus aus. Auf diese Weise wird ein von den bisherigen Positionen abweichender Blickwinkel gewählt, der nach den Bedingungen un d Ausdrucksforme n eine r schrittweise n »Dynamisierung « de r alt ständischen kommunale n Autonomietraditio n fragt . De r Kommunalismu s wird folglich nich t auf ein temporäres Protestprinzip oder synthetisiertes Element eine s gemeindliche n Liberalismu s mi t defensiv-antimodernistische r Ausrichtung beschränkt. Gerade für die schleichende Transformation von der ständischen zur bürgerlichen Welt ist dieser Ansatz von eminenter Bedeutung, denn di e neue n Erfahrunge n un d Problemstellunge n schluge n besonder s in lebensweltlichen Sozialräume n wi e de r Gemeinde ' durch un d erhöhte n da s Bedürfnis, durch tradierte Norme n gedeutet und mit ihnen versöhnt zu werden. Entscheidend war, welche Erklärungs- und Legitimationsmuster bürger gescllschaftliche »Deutungsangebote « liefer n konnten , u m di e neue n Erfah rungen mi t der tradierten Sinnordnun g de r Gemeinde s o zu verbinden, dass überkommene Denkbilder und Handlungsmuster keineswegs ihre Bedeutung gänzlich verloren , sonder n i n einem ' dynamischen Prozes s umgedeute t wurden.! De r i m folgende n benutzt e Leitbegrif f de r »Dynamisierung « de s kommunalistischen Prinzip s meint demzufolge sowoh l die Aufnahme indivi dualistischer Deutungs- und Handlungsmuster als auch die Entwicklung einer modernisierten gesamtgesellschaftlichen Perspektiv e im Übergang zur modernen Zivilgesellschaft . In der Bündelun g diese r Forschungsperspektive n wir d dami t erstmal s de r Versuch unternommen , de n Interpretationsansat z des klassischen Republika nismus in seiner »schweizerischen Variante « für die Untersuchung der politi schen Entwicklun g de r Deutschschwei z fruchtba r z u machen . Gleichzeiti g wird der Kommunalismus unter dem Aspekt seiner konkreten Bedeutun g fü r die politisch-sozialen Bewegunge n in s 19 . Jahrhundert verlängert. Di e Studie bietet au f diese Weise ein e alternativ e entwicklungsgeschichtüch e Lesart , di e sowohl von der primär nationalgeschichtlich strukturierten Periodisierung der Kantonsgeschichte als auch von ihrer bis heute ungebrochenen Bewertun g als »Erfolgsgeschichte« des Liberalismus abweicht. Darüber hinaus leistet sie einen über di e Schwei z hinausgehende n Beitra g zu r Entstehun g de r moderne n Bürgergesellschaft, di e sich von den sozial- und ideengeschichtlichen Prämis sen der westeuropäischen Bürgertumsforschun g ablöst . Mit der Schweiz wird ein Untersuchungsgegenstan d gewählt , der in meh r als einer Hinsich t fü r di e Erforschun g bürgergesellschaftliche r Entwicklun g 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

prädestiniert ist . Die Eidgenossenschaft weis t die ältesten und dauerhafteste n republikanischen Traditionen Europas seit dem Mittelalter auf. Hier entwickelten sic h au s de r gemeindliche n Autonomi e nebeneinande r unterschiedlich e Typen territoriale r Republiken : di e Gemeinderepubli k Graubündens , di e Landsgemeindedemokratien de r Innerschweiz un d di e oligarchisch regierte n Stadtrepubliken. Es verwundert daher nicht, dass die Schweiz in der Staats- und gesellschaftstheoretischen Ideenlandschaf t Europa s und de r US A stet s große Beachtung gefunden hat . Entsprechend ist auch die politische Entwicklung in der Schweiz sehr viel schärfer vom Ausland beobachtet und diskutiert worden, als es der »Sonderfall Schweiz « au s heutiger Sich t vermuten lässt . Besonder e Relevanz gewan n di e eidgenössisch e Entwicklun g mi t de r Aufklärung . Da s aufklärerische Naturrecht , da s de n Gleichheitsbegrif f begründet e un d di e Vertragstheorien auf die Staatsebene übertrug, schien in den Landsgemeinde demokratien der Innerschweiz politische Gestalt gewonnen zu haben. Für den gebürtigen Genfe r Jean Jacques Roussea u manifestiert e sic h hie r de r ideal e Staat, in dem der politisch mündige Bürger seine Naturfreiheit willentlich zum Wohl des Ganzen an einen Kollektivstaa t abtrat. Bei m glücklichsten Vol k der Welt, s o Roussea u i m »Contra t social« , könn e ma n sehen , wi e ein e Scha r Bauern di e Staatsgeschäft e unte r eine r Eich e erledige. 49 Di e Schweize r »Ur demokratie« avancierte zum Ideal der demokratischen Republik, in der sich die antike polis als eine rechtlich geordnet e Gemeinschaft vo n gleichberechtigte n und sich selbst bestimmenden Bürger n tradiert hatte. 50 Auch fü r de n süddeutsche n Frühlibcralismu s stellt e di e Schweize r Ver sammlungsdemokratie di e Inkarnatio n bürgerlich-republikanische r Verge sellschaftung dar . I n ihre r Zukunftskonzeptio n eine r »klassenlose n Bürger gesellschaft mittlere r Existenzen« (Gall ) bezogen sic h die Frühliberale n dan n allerdings weniger auf die schweizerischen Landsgemeindekanton e al s auf die Stadtkantone mit ihren industrialisierten Regionen. Die dort traditionell verankerte un d die überkommenen Lebensverhältniss e kau m sprengend e »mittel ständische Industrie « bot ein Orientierungsmodell fü r den projektierten Pro zess einer »Verbürgerlichung« auf hohem Niveau. 51 Demokratische Republi k un d klassenlos e Bürgergesellschaf t ware n abe r nach allgemeiner Auffassung in größeren Flächenstaaten nur von der Gemeinde aus entwickelbar. Von Montcsquieus Entwurf einer »république f édérative« über Tocquevilles Verwaltungsfödcralismus bis zu den demokratischen Linke n 49 Rousseau , Gesellschaftsvertrag IV, Kap. 1,S . 113 . 50 Dies e Auffassung lie ß allerdings außer acht, dass sowohl die Antike wie auch die mittelalter liche Schwurgenossenschaft au f einem korporativen Freiheitsverständni s fußten , Freihei t also nur durch di e Zugehörigkeit zu m Bürgerkollcktiv , nich t aber individuell gewährten . 51 Vgl . Gall, Liberalismus , S . 17 3 sowie dor t Anm. 40. Am Beispie l de s Fürstentum s Neuen burg i n de r französische n Schwei z zeig t Gaspard für de n Zeitrau m vo n 175 0 bis 1850 , inwiewei t tatsächlich i n den dortigen Industriedörfer n traditionell e Mentalitäte n überdauerten .

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in der Frankfurter Paulskirch e 184 8 wurden die Gemeinden als »Pflanzschulen des Republikanismus « zu m Grundmuste r fü r sic h erweiternd e Rechts - und Handlungskreise bi s hinau f zu r Staatsspitze. 52 I n der eidgenössische n Auto nomietradition kommunale r Gemeinschafte n waffenfähiger , wirtschaftlic h und politisch unabhängiger bürgerliche r Existenze n lag schließlich ihr e dritte Vorbildfunktion, de r man als gemeindepolitisches Konzept nacheifern wollte. Aus de m eidgenossenschaftliche n Verbun d topographisch , konfessionell , sprachlich-ethnisch, sozioökonomisc h un d politisch überau s unterschiedlic h verfasster Kanton e wir d hie r di e Stadtrepubli k Züric h ausgewählt . Ihr e Geschichte weis t nich t nu r ein e überau s vital e mittelalterlich-frühneuzeitlich e Tradition de r Gemeindeautonomi e auf , sonder n auc h ein e jahrhundertealte merkantile und seit dem 18 . Jahrhundert frühindustrielle Entwicklung . Damit sind jene beiden zentralen Voraussetzungen gegeben, unter denen sich die hier behandelte Problematik in aller Schärfe stellte, nämlich aus dem Denkhorizont frühneuzeitlicher Traditionalitä t herau s einen Weg in die moderne Staatsbür ger- und Erwerbsgesellschaft z u finden. Darüber hinaus gehörte Zürich zu den wirtschaftlich un d politisc h mächtigste n Kantonen . Ih m kam eine politisch e Vorreiterrolle in der Schweiz zu, wie sich erneut während der liberalen »Regeneration« der dreißiger Jahre un d der »Demokratischen Bewegung « der sechziger Jahre des 19 . Jahrhunderts bewahrheitete. An drei Entwicklungsstationen sol l in einem weiten Boge n vom ausgehenden 18 . Jahrhundert bi s in die zweite Hälft e de s 19 . Jahrhunderts dieser Weg Zürichs i n die »andere Bürgergesellschaft « nachgezeichne t werden. Erkennt nisleitend mus s dabei sein, die Traditionslinien de s Kommunalismus und des klassischen Republikanismu s i n de r Züriche r Geschicht e aufzuzeigen . Da rüber hinaus ist bei der Zusammenführung beide r Interpretationsansätz e stet s zu bedenken , wi e da s Verhältnis von Kommunalismu s un d klassische m Re publikanismus zueinander zu beurteilen ist. In welcher Hinsicht ergänzten sie einander, d . h . welch e Affinitä t bestan d zwische n ihnen , au s de r sic h ei n Grundkonsens wie auch ein konkretes Modernisierungspotential bilden konnten? Im ersten Kapitel werden zunächst die Grundlagen der städtischen und ländlichen Gemeindeautonomie im Kanton Zürich dargelegt. Außer der institutionellen Àusformung der innergemeindlichen Selbstverwaltun g steht vor allem das Herrschaftsverhältnis zwische n Gemeindebürgerschaf t un d Obrigkeit i m Mittelpunkt. In einem zweiten Schritt (Kapitel 2) wird nachgezeichnet, wie in den städtischen Gesellschaften de r Spätaufklärung ei n republikanischer Reformdiskur s entstand, der auf die Züricher Landschaf t übergin g und 1794/9 5 in den soge nannten Stäfne r Hande l mündete . Dies e ländlich e Reformbewegun g - ihr e Entstehung, ihr e Ziele un d die Gründe ihre s Scheiterns - sol l i m Sin n eine s 52 Fröbel , S . 7 .

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ersten Dynamisierungsimpulses des gemeindlich-genossenschaftlichen Gesell schaftsmodells analysiert werden. Die Entwicklung einer breiten liberalen Volksbewegung, die 1830/31 das restaurative Regierungssyste m erfolgreic h abzulöse n vermochte, is t das Thema des dritten Kapitels. In Abgrenzung von einer städtischen liberalen Bewegun g gilt es, einen eigenen Typus des »ländlichen Liberalismus« zu konturieren. Mit Blick auf seine massenmobilisierende Wirkung werden zunächst das Selbstbild der ländliche n Liberalen , ihr e politisch e Propagand a un d ih r bürgergesell schaftliches Verfassungsprojekt dargelegt. Auf der Grundlage des breiten Quellenfundus der Volkspetitionen von 1830/31 soll darüber hinaus aufgezeigt werden, inwieweit liberale Positionen von der breiten Bevölkerung als Antwort auf die lebensweltliche n Veränderungen , wi e si e durc h Industrialisierun g un d Agrarmodernisierung hervorgerufe n wurden , verstanden un d so traditionelle Denkmuster »dynamisiert« werden konnten. Dieser Prozess verlief keineswegs kontinuierlich un d das gesamte Wertesystem i n gleicher Weise betreffend. E s wird daher darum gehen, die Mischung vormoderner und moderner Haltun gen, das Nebeneinander individualistische r un d kollektiver Sozialnorme n al s Signum dieser zweiten Dynamisierungsstufe aufzuzeigen . Das Krisenpotential, das aus dieser Mischung für die politische Entwicklun g von den 1830e r Jahren bis zur Entstehung der Demokratischen Bewegun g in den 1860e r Jahren entstanden , beleuchtet ein viertes Kapitel. Eine besondere Stellung nimmt der »Züri-Putsch« von 183 9 ein, der zum Stur z der liberale n Regierung führte . I n ihrem volksreligiösen Ursprun g traditionell gepräg t dokumentiert diese Protestbewegung gleichzeitig in ihrer politischen Zielsetzung die Dynamisierung vo n überlieferten Denk - und Handlungsmuster n beson ders eindrucksvoll. In der hier gewählten Forschungsperspektiv e erschein t sie als der erste Versuch, das gemeindlich-genossenschaftliche Ordnungsmodel l auf die Staatsebene zu übertragen. Wie umgekehrt die Liberalen die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« integrativ nutzen konnten, illustriert der Wiederaufstieg de r Liberale n z u Begin n de r vierzige r Jahre: Mi t de r Beschwörun g tradierter Topo i de r Verteidigun g vo n »Glauben « (Jesuiten ) un d »Vaterland « (Heilige Allianz) gelang es ihnen, sich sowohl au f kantonaler, mi t Gründun g des liberalen Bundesstaats von 1848 aber auch auf gesamtschweizerischer Ebene politisch zu reetablieren. Auf diese Weise konnte die liberale Herrschaftselit e ihre politische Vormachtstellun g bi s i n di e sechzige r Jahre imme r wiede r behaupten, und erst - so die These - die Nivcllierung der korporativen Bürgergemeinde 186 6 leitete den entscheidenden letzte n Schrit t in die »andere Bür gergesellschaft« ein . Mit der Formierung einer demokratischen Mittelstands bewegung de r Landschaf t gewan n ein e au s klassisch-republikanische n wi e kommunalistischen Denktraditione n gespeist e Vorstellung de r »korporative n Staatsbürgergesellschaft« politische Kraft. Die Analyse des politischen Reform diskurses der demokratischen Führungselit e wi e auc h de r Reformpetitione n 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

von 1868/69 sollen Aufschluss geben über diesen dritten Dynamisierungsschritt, das gemeindlich-genossenschaftliche Ordnungsmodel l aus seinem traditionellen Kontext zu lösen und unter den Gegebenheiten der modernen Komrr.erz gesellschaft i n einen gesamtstaatlichen Ordnungsentwurf zu transformieren. Mit Blic k au f den gescheiterte n Versuc h eine r solche n Transformatio n i n Baden 1849 werden im Schlusskapitel die Untersuchungsergebnisse zugespitzt daraufhin befragt werden, welche Gründe für den erfolgreichen Züricher und Schweizer Weg ausschlaggebend waren.

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Α. Grundlagen der gemeindlich-genossen­ schaftlichen Bürgergesellschaf t 1. Ländliche Gemeindeautonomie un d städtischer Republikanismu s im Kanto n Zürich bis zum Ausgang des Ancien r égime 1.1. Di e kommunale Autonomietraditio n auf der Züricher Landschaf t Der Blick Schweizer Historiker des 19. Jahrhunderts zurück auf die »aristokratische Epoche « de r eidgenössische n Stadtstaate n de s Ancie n r égime wa r durchaus zornig. Die Regierungen galten als absolutistisch und tyrannisch, die Landleute al s rechtlos und unterdrückt. 1 Ein e breitangelegte Neubewertun g vollzog sich erst seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. De r Grad der Gemeindeautonomie wurde neu bemessen und damit auch das Verhältnis von Obrigkeit und Gemeinde anders beurteilt. Gleichzeitig stellte man die lokalen Freiheitstraditionen i n de n größere n historische n Entwicklungszusammen hang de s gesamtstaatlichen Gemeinwesens . Ihr e Kontinuitä t un d Prägekraf t über den Zusammenbruch des Ancien régime in der Helvetischen Revolutio n von 179 8 hinaus wurden besonders betont. Leonhard von Muralt mahnte folgerichtig an , di e »Bedeutung de r Rest e lokale r Autonomie a m End e des 18 . Jahrhunderts für den Neubau der politischen Ordnung seit 1798... wie auch in der Entwicklung des 19. Jahrhunderts« nich t zu unterschätzen. 2 I n der Metapher von der »Schule, ... die dem Landbürger das politische Reifezeugnis verschaffte, [ohn e die] die spätere Errichtung eines von unten nac h oben aufge bauten, wirklic h demokratische n Staatswesen s völli g undenkba r gewesen« 3 wäre, gewann die lokale Selbstverwaltung schließlic h soga r zeitgeschichtlich e Erklärungskraft. Die besondere Bedeutun g de r Gemeindeautonomi e i n de r Schwei z erga b sich au s ihre r ureigene n Entstehungsgeschichte . Nich t nu r Städte , sonder n auch Lände r überwanden di e feudalen Machtstrukture n un d errichteten ihr e 1 Oechsli , Geschichte de r Schweiz , Bd . I, S. 41ff; Dierauer , Bd . V., S. 308ff.; Feller , S. 161f . 2 L . vo n Muralt, S . 12 . 3 Kunz , S . 137 . Sieh e auc h Gasser , S . 71 , der vo n eine r »selbstvcrantwortliche n Freiheits sphäre« der Gemeinden spricht .

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eigene Herrschaft. Dies galt für die Gemeindeverbände in Graubünden und im Wallis, wie auch für die Urkantone der Innerschweiz, deren Schwurgemein schaft auf dem Grütli den eigentlichen Kern der späteren Schweizer Eidgenossenschaft bildete . Schrittweis e erweitert e sic h diese s Bündnissystem , inde m sich selbständige , genossenschaftlic h organisiert e bäuerlich e Territorie n un d freie Städt e gleichgestellt miteinande r verbanden. Auf die Einmaligkeit dieser Verbindung hat 1937 Karl Siegfried Bader hingewiesen: «Kein einziges Bündnis gelingt außerhalb der Schweiz zwischen Stad t und Dorf« 4 Dies e bäuerlichen Territorien au s siedlungsübergreifenden Tal - und Gerichtsgemeinde n ware n es, in denen der Kommunalismus seine eigentliche »strukturbildende Kraft.. . zur Gestaltung ihrer historischen Umwel t i m Sinn bäuerlicher Interessen« in vollem Umfang entwickelte. 3 Wie aber sah es mit der Vitalität der kommunalen Autonomie in den Stadt staaten der Schweiz aus? Sicherlich gab es auch hier vereinzelt Talgemeinde n innerhalb des Herrschaftsgebiets, die über einen außerordentlich hohen Autonomiestatus verfügten, etwa die Landschaft Grüningen im Kanton Zürich oder das Berner Oberland.) Doch die Mehrzahl de r Landleut e lebt e nicht i n sied lungsübergreifenden, sondern dorfgebundenen Gemeinden. Zudem hatten sie den Status ländlicher Untertanen inne. Konnte sich unter diesen Bedingungen auch hier die kommunale Autonomiekultur i n vergleichbarer Weise politisch gestaltend entfalten ? Analo g is t nach dem Stan d der kommunalen Selbstver waltung in den städtischen Gemeinwesen zu fragen. In welchem Umfang stand es der hauptstädtischen Bevölkerung zu, sich an Regierung und Verwaltung der Stadt zu beteiligen? Kann überhaupt in der Entwicklung der Schweizer Stadt staaten von einem »städtischen Republikanismus « i n der Frühen Neuzei t ge sprochen werden? Am Beispiel de s Züricher Stadtstaate s sollen diese Frage n untersuch t wer den, wobei zwe i Ebenen voneinander z u unterscheiden sind . Unter de n ge meinsamen Aspekte n de r Organisatio n de r lokale n Selbstverwaltung , ihre r Organe und Kompetenze n lasse n sich der Grad lokaler Autonomie der länd lichen Gemeinden wie auch der hauptstädtischen Bürgerschaft bewerten. Daneben trennt beide aber die Ebene des Herrschaftsverhältnisses zwische n de r städtischen Obrigkei t un d ihre n ländliche n Untertanengebieten , de r soge nannten Landschaft.6 Aus diesem Blickwinkel bestimmt sich ländliche Autonomie aus der Stärke resp. Schwäche des herrschaftlichen Territorialstaat s Beid e sind aufeinander bezogen, so dass nie von einer einseitigen Dominanz gesprochen werden kann. Wie ist die Gewichtung in dem Dualismus von Herrschaf t und Gemeinde in dem Züricher Stadtstaat zu bemessen? Welche Herrschafts 4 Bader , Altschweizerische Einflüsse , S . 425. 5 Bierbrauer , Ländlich e Gemeinde, S . 172 . 6 Al s »Landschaft « werde n allgemei n di e Untertanengcbiet e - ländlich e Untertane n un d Munizipalstädte - de r eidgenössischen Städtekanton e bezeichnet .

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Strategien auf der einen Seite und welche gemeindlichen Obstruktionsmetho den auf der anderen Seite lassen sich verfolgen?]Die Antwort auf diese Fragen bleibt, da s mus s einschränkend bemerk t werden, notgedrunge n holzschnitt artig. Angesichts der Fülle an nicht nur regionalen, sondern eben auch lokalen Besonderheiten sin d Verallgemeinerunge n nu r beding t zulässig . Dies e Ein schränkung wiegt für die Züricher Entwicklung um so schwerer, als der schrittweise erfolgend e Erwer b von Territorie n durc h di e Stad t sei t de m 15 . Jahrhundert gan z unterschiedlich e Rechtstraditione n miteinande r verband . Di e Darlegung de r institutionelle n Ausformun g de r Züriche r Landgemeinde n wird sich daher auf eine Skizze häufig anzutreffender Zuständ e beschränken. Die Gemeindeadministration. I n jeder Dorfgemeind e lasse n sic h dre i Ebene n kommunaler Funktionsträge r unterscheiden. 7 Di e Verbindun g herrschaftli cher un d kommunale r Recht e un d Pflichte n kennzeichne t di e erst e Ebene , während di e zweit e Kategori e vo n Funktionsträger n ausschließlic h de r ge meindlichen Selbstverwaltungssphär e zugeordne t ist . Darunte r is t di e dritt e Ebene der niederen Gemeindebeamten angesiedelt, die gegen Entlohnung ihren Dienst versahen. Die zumeist nicht völlig klar zu treffende Differenzierun g der Funktionen auf den ersten beiden Ebenen spiegelt den dualistischen Cha rakter der dörflichen Gemeindeverfassun g zwische n obrigkeitliche n un d gemeindlichen Rechtspositione n wider. Auf der ersten Ebene in einer Mittelstellung zwischen herrschaftlich-städti scher und gemeindlicher Sphäre amtierte der Untervogt. Das war die bei weitem wichtigste, d a höchst e Position , di e ei n Landbürge r innehabe n konnte . Seine hervorgehobene Stellung innerhalb des ländlichen Sozialgefüges wurden durch eine eigen e Amtstracht, eine n Amtsstab (»Knöpflistecken« ) sowi e den Ehrensitz im Vogtstuhl der Kirche äußerlich unterstrichen.8 Entsprechend dem Status ihres Einflussgebietes, der Untervogtcien, ist zwischen Amts- und Dorfuntervögten z u unterscheiden . De r Amtsuntervog t stan d a n de r Spitz e de r ländlichen Verwaltungsbezirke, de n sogenannten Innere n oder Obervogteien und den Äußeren oder Landvogteicn. Er galt als der wichtigste subalterne Beamte der obrigkeitlich-städtischen Vertreter auf der Landschaft, den Ober- und Landvögten. Dagegen fiel de r Amtsbereich de s Dorfuntervogts meis t mit seiner Gemeinde bzw . kleineren Gemeindekonglomeratione n zusammen . Sei n Ansehen war aufgrund des kleineren Herrschaftsbereichs etwas geringer als das des Amtsuntervogtes, in ihren Kompetenzen unterschieden sich beide dagegen kaum, weshalb sie gemeinsam betrachtet werden können. 9 7 Sieh e Bierbrauer, Ländlich e Gemeinde, S . 179 . 8 Das s die Untervögt e auch von selten der Obrigkeit al s Respektspersonen geachte t wurden , geht au s den Nekrologe n hervor . Sieh e die Beispiel e be i Kunz, S. 10 , Anm. 12 , S. 22, Anm. 47. 9 I n kleinen Gemeinde n wurde n di e Amtsgeschäfte stat t durch eine n Untervog t vo n eine m Weibel geführt , de r direkt vom Landvog t de m Kleine n Ra t der Stadt vorgeschlagen wurde . Aller -

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In ihrer Eigenschaft als verlängerter Arm der städtisch-obrigkeitlichen Ober und Landvögte hielten die Untervögte eine Fülle von Exekutivrechten in Händen. In erster Lini e hatten si e die obrigkeitlichen Mandat e zu vollziehen und Zuwiderhandlungen weiterzumelden . Ihr e Polizeirechte erstreckte n sic h auf die Leitung von Voruntersuchungen bis hin zu Verhaftungen. Für die Obrigkeit erwiesen sic h di e besondere n Kenntniss e diese r Beamte n vo n ihre n Unter vogteien als überaus nützlich, wenn nicht gar unabdingbar. Das galt für statistische Erhebungen zur Vorbereitung von Reformplänen ebenso wie bei Grenzstreitigkeiten zwische n einzelne n Vogteien . Andererseit s ermöglicht e ih r Insiderwissen de n Untervögte n auch , die Interessen ihre r Amtsbereiche wirkungsvoll vertreten z u können. Da s zeigte sich besonders bei den Dorfunter vögten, die ihre r Gemeind e - al s deren ordentliche s Gemeindemitglic d - i n besonderer Weise verbunden waren. Gerade ihre amtlichen Befugnisse versetzten si e i n di e Lage , obrigkeitliche Verordnunge n zugunste n ihre r Gemeind e abzuschwächen ode r z u umgehe n bzw . spezifische Zuwendunge n z u erlan gen.10 Dass dies nicht immer zum Besten der Gemeinde war, zeigte die bewusst oberflächliche Handhabun g der Viehinspektion i n der Landvogtei Greifense e im Jahr 1773 , in dere n Folg e der Viehbestand durc h Krankhei t ernstlic h be droht wurde . Di e Bindun g de s Dorfuntervogte s a n sein e Gemeind e wurd e überdies durch eine Fülle von wichtigen Handlungsbefugnissen innerhal b des Gemeinwesens verstärkt. Ihm oblag es, die kommunal gewählten Dorfbeamte n zu vereidigen, eine sogenannte Hauptgemeind e zur Rechnungsablegung ein zuberufen un d ihr zu präsidieren. Eine Schlüsselstellung nahm der Untervogt im Bereich der gemeindlichen Finanzvcrwaltung ein: Nicht selten erhob er im Namen seiner Gemeinde eine Anleihe und bürgte für sie. Neben diese n Exekutivrechte n hatt e der Untervog t al s zweitem wichtige n Kompetenzbereich Anteil an der niederen Gerichtsbarkeit. Er führte den Vorsitz im Niedergericht seiner Gemeinde. Die Gerichtsakten der jeweiligen Vog tei weisen immer einleitend den Namen des Untervogtes auf, der Gericht gedings bestand auch hier das Gebot, dass sich jeder Landbürge r um das Weibelamt bewerben durfte , und der Landvogt hatte unbedingt seine n Vorschlag mit der betreffenden Gemeind e abzustimmen . Die Benennun g vo n Kandidate n erwie s sic h häufi g al s schwierig , di e geringere n Einfluss - un d Verdienstmöglichkeiten aufgrun d de r begrenzten Geschäftstätigkeit machte n das Amt unattraktiv . Etwas anders stellte sic h die Situatio n allerding s i n abgelegenen Weibelbezirke n dar . Hie r konnt e die Entscheidungsmach t de s Weibel s beachtlic h sein , den n e s obla g seine m Gutdünken , o b e r Verstöße gege n obrigkeitlich e Verordnungen a n den Landvog t weitermeldete ode r nicht . 10 S o nahm de r Untervog t beispielsweis e di e Folge n von Brandkatastrophe n i n Augenschein . Von seine m Berich t hin g di e obrigkeitlich e Bewilligun g eine r Sonderabgab e de r umliegende n Gemeinden zugunste n de r Geschädigten ab . Siehe Kunz, S . 29, S. 64. Ein ebenso großes Gewich t hatte das Votum de s Untervogt s i n Frage n vo n nationalökonomische r Bedeutung , di e der obrig keitlichen Genchmigungspflich t unterlagen . Al s di e Gemeind e Riesbac h au f eine m gemeinde eigenen Areal neu e Weinstöcke z u pflanzen plante , führten nich t zuletzt die befürwortenden Gut achten de r betreffende n Untervögt e zu r Bewilligun g (S . 29f) .

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halten hatte. Einige Untervögte besaßen als Zeichen ihrer Machtbefugnis sogar ein eigenes Siegel, mit dem sie die Aktenstücke beglaubigten. Auch hier flossen obrigkeitliche Interessenwahrun g un d gemeindlich e Interessenbindun g in einander, da der Untervogt »sowohl als Vertreter seiner eigenen Gemeinde, wie zugleich al s Sachverwalter der Obrigkeit zu entscheiden hatte.« 11 Vor diesem Hintergrund wird,die enorme Bedeutung des de jure Vorschlagsrechts, de facto aber Wahlrechts dieses Beamten durch die Gemeinde deutlich. Diese Einflussmöglichkeit de r Kommune sicherte immer auch ein Stück ihrer Autonomie. Entsprechend groß war der Wunsch der Gemeinden, zur Unter vogtei ernannt zu werden. Die Wahl des Amts- resp. Dorfuntervogtes vollzo g sich durch de n sogenannten Dreyer-Vorschla g der Gemeinden, d . h . die Be nennung dreier Kandidate n i n der Reihenfolge de r au f sie entfallenen Stim men, der an den Kleinen Rat der Stadt weitergeleitet wurde. In keiner Unter vogtei bestand das Recht der Gemeinden, diese n Beamte n direk t z u wählen. Andererseits lehnte der Kleine Rat es aber strikt ab, Vorschläge seiner Land- und Obervögte oder der Gemeindevorsteher anzunehmen, sondern bestand auf der Erstellung der Kandidatenliste durch die gesamte Gemeindebürgerschaft. Al s 1728 dem Kleinen Rat lediglich der neue Amtsinhaber der Untervogtei Glatt felden gemelde t wurde , de r wahrscheinlic h vo n de n dortige n Gemeinde vorgesetzten unte r Ausschlus s de r Gemeindebürge r gewähl t worde n war , mahnte di e städtisch e Obrigkei t an , »das s be y künftige n Daselbste n vorfal lenden Untervog t Vacante n di e Drcyer-Wah l vo r eine r ganze n Gemeind e ohnbedingt vorgenommen werden muss.«12 Außerdem ernannte die städtische Obrigkeit stets denjenigen der drei Kandidaten, der die meisten Stimmen sei ner Mitbürger auf sich vereinigt hatte.13 Die Ernennung des Untervogtes durch die städtische Obrigkeit erscheint damit nur mehr ein formeller Akt; die eigentliche Auswahl trafen die ländlichen Gemeindebürger selbst. 14 11 Ebd. , S. 31 . 12 Ebd. , S . 23 . Ei n ähnliche r Fall ereignet e sic h 178 3 i n de r Gemeind e Knonau . Nac h de r Absetzung des offensichtlich vo n Landvogt Holzhal b besonders bevorzugten Untervogt s Syz ver pflichtete de r Klein e Ra t de n Landvogt , künfti g »durc h di e Gemeind e Knona u nächsten s eine n Vorschlag au f die vacante Untervogtstell e abfasse n z u lassen « (S . 36). 13 Randbemerkun g des Landvogts von Greifensee au f dem Wahlprotokoll vo m 8 . März 1796 : «Wann ich nun aus ferndriger Erfahrung weiss, dass Ihr MnHnHH. be i sich ergebenden Besetzun gen vo n Vogtstelle n au f die chrbietige n Wünsch e de r betreffende n Gemeind e gnädi g Rücksich t zunemmen belieben« , zitier t nach: ebd., S. 26, Anm. 67. 14 I m Gegensatz daz u steh t da s Urtei l vo n Oechsli , Geschichte de r Schweiz , Bd . I, S. 41 , der Dreyer-Vorschlag se i »rein formeller Ar t ohne praktische Bedeutung«. Ein e Ausnahme bildet e di e Grafschaft Kyburg , di e größte Herrschaf t de s Züricher Territoriums , dere n Landvog t besonder s weitgehende Befugniss e besaß . Nac h de n Aufzeichnunge n de s Johann Kaspa r Escher , de r vo n 1717-1723 die Landvogtswürde innehatte, stand es in einigen Fällen ihm selbst zu, die Untervogts stellen in der Grafschaft z u besetzen. Siche J.K. Escher, Bd. V, S. 392: »Weil ein Landvogt auf Kyburg alle Beamtungen i n der ganzen Grafschaft z u besetzen hat, aussert die drei vordersten Untervögt e und beide Fürsprech , bei deren Wahl er gleichwohl auc h das meiste vermag, is t hoch von nöthen , dass er ... gewissenhaft verfahre« .

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Für die Position des Amtsuntervogts war eine gewisse berufliche Qualifika tion erforderlich . Da s grundsätzlich jedem Gemeindebürge r de r Herrschaf t zugesicherte Rech t z u kandidiere n wurd e i n praxi auf solche beschränkt, di e bereits Verwaltungserfahrung in einer anderen öffentlichen Tätigkeit nachweisen konnten. Die Wahlprozedur verlief entsprechend den rechtlichen Traditionen der einzelnen Vogteien verschieden ab und spiegelte damit wider, in welch unterschiedlichem Ma ß sich die obrigkeitlichen Herrschaftsstrukture n i n den einzelnen Verwaltungsbezirken der Landschaft hatten durchsetzen können. In der Herrschaft Grüninge n versammelten sic h am Wahltag alle Stimmberechtigten au f offenem Fel d zu einer Landsgemeinde , au f der die Kandidaten fü r den Dreyer-Vorschlag auf Zuruf benannt und unmittelbar darauf zur Abstimmung gelangten . Al s ein e de r eingang s erwähnte n siedlungsübergreifende n Talgemeinden verfügte di e Herrschaf t Grüninge n übe r einen traditionell ho hen Autonomiestatus , de n si e sic h z u bewahre n vermochte , wi e di e altde mokratische Institution der Landsgemeinde zeigt. 15 Das Procedere in der Herrschaft Greifense e wie s dagege n stärker e Spure n eine r obrigkeitlich-staatlic h akzentuierten Formalisierun g auf Di e Bewerber mussten sich beim Landvogt anmelden, der daraufhin a n alle Gemeinden eine »Wahl-Anordnung« un d die Kandidatenliste versandte. Am Wahltag hatten sich alle Stimmberechtigten auf dem Landvogteisit z einzufinde n un d gaben ihr e Voten geheim ab , indem sie dem Landschreiber ihren Kandidaten ins Ohr »raunten«. 16 Für de n Dreyer-Vorschla g zu m (nachgeordneten ) Dorfuntervog t musst e man hingegen auf der Gemeindeversammlung von anderen nominiert werden. Bis zu sieben Vorschläg e wurden gesammel t un d anschließen d i n mehrere n Wahlgängen bei offener Abstimmung die drei Anwärter ermittelt. Die geheime Abstimmung, das Raunen, kam nur dort zur Anwendung, wo der Amtsbereich des Dorfuntervogt s au s mehrere n politische n Gemeinde n ode r »Wachten« 17 bestand. Die Amtsdaue r de s Untervogt s betru g regulä r sech s Jahre; vo n de n 33 9 Untervögten, die während des 18. Jahrhunderts amtierten, verblieb allerdings die große Mehrzahl von fast dreihundert über zehn Jahre in ihrem Amt, einige 15 Sieh e dazu Steinemann, S . 138f. , sowie zu m Ablau f Kunz, S. 15 . 16 Dies e deshalb auch »geheim e Run « genannte Abstimmung fan d gewöhnlic h i n der Kirche , dem Schul - oder Gemeindehaus statt . Die Wahldurchführung übernah m i n der Rege l de r Land schreiber oder Ortspfarrer zusamme n mi t einem Geschworenen ode r einem anderen Mitglie d de s kirchlich-bürgerlichen Sittengericht s de r Gemeinde , de s »Stillstands«. Di e stimmfähige n Bürge r betraten einzeln den Rau m un d flüsterten de m Listenführende n de n Name n ihre s Kandidaten zu . War da s »Raunen « beendet , wurde n di e Stimme n ausgezähl t un d di e dre i Kandidate n mi t de n höchsten Stimmenanteilen de r Reihe nach auf die Dreyer-Liste gesetzt. Siehe die Beschreibung bei Kunz, S . 25. 17 Ursprünglic h Ortschafte n de r Deutschschweiz auf Anhöhen, die sich durch die Aneignun g von Allmenden un d Waldungen z u landwirtschaftliche n Korporatione n entwickelten .

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sogar lebenslänglich. l8 Bestand dann aber überhaupt i m demokratischen Sin n die Möglichkeit, die Wahl eines Untervogtes anzufechten bzw. ihn abzusetzen? Tatsächlich reichten wiederholt Landbürger Wahlrekurse bei der Obrigkeit ein. Gemeinhin wurd e der neue Amtsinhaber der Bestechung oder Nötigung im Vorfeld der Wahlen bezichtigt und eine Neuwahl gefordert. Ein eindrückliches Beispiel liefer t di e Wahl des Untervogts Jacob Lätsc h i n der Herrschaft Grü ningen. Kur z nachde m de r Klein e Ra t ih n i m Am t bestätig t hatte , reichte n mehrere Landbürge r be i de r Kanzle i i n Grüninge n eine n Wahlrekur s ein . Lätsch wurde die Ausgabe von Bestechungsgeldern in großem Umfang vorgeworfen, darüber hinaus habe er »denen Spinneren drohen lassen, dass woferne sie es nit mit ihme haltind, werde man ihnen keine Wüpper [Zettelgarn ] mehr geben«.19 Daraufhin wurd e die sogenannte Ehrenkommission der städtischen Regierung berufen, um die Beschuldigungen z u untersuchen. Meist reagierte die Obrigkei t be i erwiesene n Unregelmäßigkeite n mi t de r Wahlkassation , zuweilen beließ sie allerdings, wie in diesem Fall, alles wie gehabt. Anders verhielt es sich jedoch bei Verstößen des Untervogtes gegen die sittliche Ordnung, die stets mit der Amtsenthebung geahndet wurde. Auch in diesen Fälle n konnt e jeder Landbürge r akti v werden . E r war berechtigt , wen n nicht sogar verpflichtet, Delikt e wie Ehebruch, Gotteslästerung, aber auch den Missbrauch amtliche r Befugnisse wie beispielsweise die Fälschung von Viehscheinen20 de m gemeindliche n »Stillstand « anzuzeigen . Diese s gemeindein terne Kontrollorgan der sittlich-moralischen Ordnung , zusammengesetzt aus allen weltliche n un d kirchliche n Gemeindebeamten , konnt e di e Untersu chung selbsttätig einleiten und die offizielle Amtsenthebung durch die Obrigkeit erwirken. Von den 339 vorn genannten Untervögten gingen allerdings nur zehn auf diese Weise ihres Amtes verlustig. Insgesamt umfasst e da s Amt des Untervogtes eine Kompetenzausstattung , die ihn zù einem überau s einflussreichen Vertrete r gemeindlicher Interesse n machen konnte. Letzteres war um so wahrscheinlicher, als diese Position Landbürgern vorbehalten blieb . Gleichzeitig lasse n sic h Oligarchisierungstenden zen erkennen. Der erforderliche Nachwei s von Verwaltungserfahrung fü r die Stelle des Amtsuntervogts engt e den Rekrutierungskrei s au f ländliche Funk tionsträger ein, die bereits eine mehr oder weniger exponierte Stellung auf der Landschaft innehatten . Da s geringe Entgel t au s de n Gebühre n ihre r Amtshandlungen und die hohen Repräsentationskosten setzten zudem einen gewis18 Vgl . dazu Kunz.S. 138ff. , Anhang I »Untersuchungen übe r die Untervogt-Wahlen i m Kan ton Zürich während de s 18 . Jahrhunderts«. 19 De n ganzen Vorfal l schilder t Braun, Da s ausgehende Ancien R égime, S. 241. 20 Sieh e beispielsweise den vorne in Anm. 1 2 geschilderten Vorfall i n der Gemeinde Knonau . Untervogt Syz , der nicht über eine ordentliche Dreyer-Wahl , sondern durch die Gunst des Landvogtes i n sein e Positio n gekomme n war , wurd e vermutlic h vo n de n übergangene n Gemeinde bürgern angezeigt . Kunz, S. 36.

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sen Wohlstand voraus. Schließlich sorgten die langen Amtszeiten und die Praxis, dass noch zu Lebzeiten des Untervogtes sein Sohn die Amtsführung über nahm, dafür, das s die Untervogtsstelle n oftmal s übe r ein ganzes Jahrhundert hinweg i n Hände n ei n un d derselbe n Famili e verblieben . Di e Obrigkei t er kannte diese Entwicklung durchaus und griff oftmals zugunsten der Gemeindebürgerschaft un d ihrer Rechte ein. So bestand sie etwa wie vorn geschildert darauf das s de r Dreyer-Vorschla g vo n de r gesamte n Gemeindebürgerschaf t gewählt und nicht nur von den Dorfvorgesetzten bestimm t wurde. Als weitere Schutzmaßnahme de r genossenschaftliche n Partizipationsrecht e verfügt e si e den Ausschluss der zur dörflichen Elit e gehörenden Wirte, Bäcker und Müller vom Untervogtamt , u m die Mitbürger vor Amtsmissbräuchen z u bewahren. Zu oft nutzten insbesondere Wirte, die das Untervogtamt führten, ihr Gasthaus als Amtsraum un d entschieden zugunste n desjenigen, an dem sie am meisten verdienten.21 E s spricht jedoch fü r die Eigenständigkeit de r Gemeinden, dass die obrigkeitlichen Mandate oft umgangen wurden: Gerade der Ausschluss von Mitgliedern de r dörfliche n Elit e lie ß sic h nich t durchsetzen . Abe r auc h di e Obrigkeit selbst ignorierte, wenn es in ihrem Interesse lag, ihre eigenen Verordnungen, um beispielsweise trotz offenkundiger Wahlmanipulationen eine Wahl nicht kassiere n z u müssen . Di e wirkungsvollst e Waffe , u m di e Mach t de s Untervogtes zu begrenzen, besaß letzten Endes die Gemeinde, indem sie eine sozialnormative Kontrolle über ihn ausübte. Die Vorladung vor den Stillstand, die auch aufgrund von Amtshandlungen wider den gemeinen Nutzen erfolgen konnte, führte nahezu zwangsläufig zu m Amtsverlust, da sich die Obrigkeit in diesen Fällen immer dem Verdikt der Gemeinde anschloss. Die zweit e Eben e kommunale r Funktionsträge r wa r de r ureigene n Auto nomiesphäre de r Gemeind e zugeordnet . I m Unterschie d z u de n vo n de n Landbürgern indirek t pe r Dreyervorschla g gewählten , vo n der Obrigkeit er nannten un d vereidigte n Untervögte n wurde n di e eigentliche n Gemeinde beamten von der Gemeinde in der Gemeindeversammlung direkt gewählt. Als Exekutivorgane de r Gemeindebürgerschaf t gebe n si e Aufschlus s übe r de n Grad kommunaler Selbständigkeit . An der Spitze stan d der Säckelmeister . Ih m unterstand de r sensibelste Be reich kommunaler Selbstverwaltung, di e unabhängige Verwaltung des liegenden un d bewegliche n Gemeindevermögens. 22 E r war verantwortlic h fü r di e 21 Ebd.,S . 21f . 22 Beschaffenhei t un d Verteilun g de r Gemeindcgüte r ware n seh r unterschiedlich . E s ga b Landgemeinden, die bis zu 30.000 Schweizerfranken in Kapitalfonds, andere, die bis zu l 000Jucharten ( = 3 6 Are oder 3600 qm) Gemeindeland besaßen. Eine Aufstellung des helvetischen In nenministeriums vo n 179 8 errechnet e da s Kommunalvermöge n de r Landgemeinde n un d de r Vogteibezirke au f über 800.000 Schweizerfranken an Kapitalfond s und u m di e 50.000 Jucharten Gemeindeland. Grundsätzlic h lassen sich vier Arten von Gemeindegut unterscheiden: 1 . die lie genden Güte r wi e Gemeindehäuser , urbar e Grundstück e a n Reben , Wiesen , Pflanzlan d un d Ackerfeld sowi e Allmenden, Torfmoore und Gemeindewaldungen, welche den wichtigsten Teil

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Einnahmen un d Ausgaben der Gemeinde, deren Abrechnung einmal jährlich in einer Hauptgemcinde23 von der Gemeindeversammlung abgesegnet werden musste. Während dieser Prozedur der »Rechnungsabhör« wurd e jeder Poste n einzeln verlesen, worauf es den Gemeindebürgern freistand , ihr e Meinung zu äußern. Im Anschluss hatte nochmals jeder Gemeindebürger das Recht, seine Ansichten, Abänderungsvorschläge un d Gesuche, ob sie nun den Gemeinde haushalt oder die Organisation der Verwaltung betrafen, kundzutun. Erst nach der Genehmigung durch die Gemeindeversammlung wurde ein Duplikat der Gemeinderechnung an den Land- oder Obervogt abgeliefert, dessen persönliche Anwesenhei t nich t unbeding t erforderlic h war . Di e Vorschrift , das s di e Gemeinde der Obrigkeit Einsicht in ihre Abrechnung gewähren musste, zeitigte in der Praxis überaus selten Konsequenzen. 24 Rudolf Braun bewertet die gemeindliche Rechnungspflicht dahe r primär als »Demonstrationseffekte obrig keitlicher Verwaltung«. 25 Die Hauptgemeinde n zu r Rechnungsabhö r ware n di e einzigen , di e de m Landvogt angezeig t un d gegebenenfall s i n seine r Anwesenhei t durchgeführ t wurden. Die Aufgabe des Säckelmeisters, zur »Mehrung und nutzbringende n Verwendung«26 des Gemeindevermögens zu sorgen, stand demnach nicht unter der permanenten, direkten Kontrolle der Obrigkeit, sondern unter jener der Gemeindeversammlung. All e Frage n de r Dorfwirtschaft , vo n de r Verteilun g der Nutzungsgüter über die Umlage von Sonderabgaben, Anschaffungs- un d Instandsetzungskosten bi s hin z u finanziellen Transaktionen , bedurfte n de r Zustimmung de r Gemeindebürgerschaft. Au s diesem Grun d konnt e de r Sä ckelmeister jederzeit eine Gemeindeversammlung einberufen , ohn e amtliche Bewilligung un d ohne Anwesenheit eine s obrigkeitlichen Vertreters. 27 Einen solchen Grad an Autonomie erreichten i n der Frühen Neuzei t i m schweize risch-oberdeutschen Rau m nu r noc h di e siedlungsübergreifende n Tal - un d Gerichtsgemeinden.28 Da s is t u m s o bemerkenswerter , al s di e finanzielle n der liegenden Genieindegüter des Kantons ausmachten. 2. Grundzinsen und Zehnten. Hiermit ist ein deutlicher Hinwei s gegeben, dass die Gemeinden sic h aus eigener Kraf t aus ihrer Abgabenpflicht loskauften . Während die Zehntenabgabe häufig zum Gemeindeeigentum zählte , traf dies für die grundherrlichen Zinsen seltener zu. 3. Zinstragende Kapitalien, die meist als Hypothek an einzelne Gemeindebürger oder auch außerhalb der Gemeinde ausgeliehen wurden. 4. Einträgliche Rechte, woz u da s jährliche Hintersässengeld , da s Einzugsgel d fü r zugezogen e Ehefraue n un d Neubürger, di e Metzger - un d Tavernengerechtigkeiten, di e an den Meistbietende n verpachte t wurden, und schließlich das Abzugsrecht, eine Art Vermögenssteuer von 5-10%, gehörten. In den Gemeinden, i n dene n sic h kein e Gemeindegüte r fanden , wurd e vo n de n Bürger n ein e Steue r erhoben. Siehe Natter, S. 12ff . 23 Sieh e die Beschreibung der »Rechnungsabhör« bei Kunz, S. 75ff. 24 Vgl . ebd., S. 76. 25 Braun , Das ausgehende Anden Regime, S. 242. 26 Kunz , S. 43. 27 Sieh e dazu die Beispiele in: Sammhing schweizerischer Rechtsquellen, Bd. I/1, S. 383. 28 Allgemei n ging die Tendenz in den Territorialstaaten der Frühen Neuzeit dahin, freie Ge-

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Transaktionen de r Kommunen mitunte r vitale Herrschaftsinteresse n berühr ten, namentlich wenn es um den Loskauf der Gemeinden von grundherrlichen Rechten ging. 29 Dem Säckelmeiste r zu r Seit e stande n di e Geschworene n ode r Dorfmeier . Zusammen bildeten sie die eigentlichen Vorgesetzten der Gemeinde. Ihre Zahl richtete sic h nac h de r Größ e de r Gemeinde , wobe i di e einzelne n Teil e oder Wachten der Gemeinde paritätisch vertreten sein mussten. Zumeist beschränkte sich ihr Kreis auf vier Personen, entsprechend auch »Vierer« genannt. Sofern nicht ein eigenes Säckelmeisteramt bestand, übernahm »der Tauglichste«30 unter den Geschworenen diese Aufgabe; auch hier galt, dass turnusmäßig die einzelnen Wachte n de r Gemeind e eine n Kandidate n stellten. 11 Wahlmodus un d Amtsdauer diese r Gemeindeämte r einschließlic h de s Säckelmeisteramt s be stimmte di e Gemeind e selbst . Ander s al s di e Untervögt e erhielte n di e Ge schworenen eine Aufwandsentschädigung vo n den Kommunen, was ihren Status als Beamte der Gemeinde unterstreicht. Di e Wahlen fande n mehrheitlic h geheim mi t Hilf e vo n Stimm-Marke n statt , di e de r Gemeindebürge r hinte r einem Sichtschut z in eine der dort aufgestellten Büchse n warf, die jeweils einem Kandidaten zugeordnet waren. Das gleiche Prinzi p galt im übrigen auch für Abstimmungen übe r Sachfragen, wobe i grundsätzlich di e einfache Mehr heit entschied. Auch die Kompetenzumschreibung der Geschworenen oblag der Gemeinde und verweist au f ein weiteres Kriterium kommunale r Selbständigkeit , da s eigenständige Satzungsrecht.32 Im Gegensatz zu dem allgemeinen Entwicklungstrend de s Territorialstaat s de r Frühe n Neuzeit , di e Dorfsatzunge n geneh migungspflichtig z u mache n ode r vereinheitlichen d au f si e einzuwirken, 33 konnten sic h di e Züriche r Landgemeinde n di e autonom e Regelun g ihre r Rechtssphäre bi s in s 18 . Jahrhundert bewahren . Wen n sic h trotzde m einig e Gemeinden ihre Gemeindebriefe und Ordnungen von der Züricher Obrigkeit besiegeln ließen, so nicht aufgrund herrschaftlichen Zwangs, sondern aus eigemeindeversammlungen z u unterbinde n bzw . genehmigungspflichti g z u machen . Sieh e Bader, Dorfgenossenschaft un d Dorfgemeinde , S . 294f. , sowi e Hinweis e z u de n Tal - un d Genchts gemeinden bei Bierbrauer, Ländliche Gemeinde, S. 173. 29 Ott o Sigg verweist auf das Beispiel der zu Zürich gehörenden Gemeinde Marthalen, die sich 1754 von ihrem Grundherrn, dem Kloster Rheinau, von den Frontagen und anderen Grundlasten für 30.000 Gulden freikaufte. Siehe Sigg, S. 53. Andere Beispiele für begrenzte Ablösungskäufe bei Bierbrauer, Aufstieg, S. 39f 30 Gemeindeordnun g der Gemeinde Ottenbach von 1760: »Zum ersten solle die Gmeind vier Dorfmeyer haben in dem Umgang den Gerechtigkeiten nach, zwey oben im Dorf und zwey unden im Dorf; aus diesen vieren solle je der tauglichste das Sekelm-Ambt verwalten«, zitiert nach: Kunz, S. 53. 31 Vgl . Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, Bd. I/1, S. 381. 32 Sieh e Bader, Dorfgenossenschaft un d Dorfgemeinde, S. 334ff. 33 Sieh e Bierbrauer, Ländliche Gemeinde, S. 176, sowie P. Blickle, Deutsche Untertanen, S. 41.

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ner Initiative , u m ein e Ar t Rechtsschut z z u erwirken. 34 Ander e Gemeinde n gaben sich ihre »Gemeindeverfassung« i n vollem Bewusstsein ihrer legislativen Unabhängigkeit: »Gesetz und Ordnungen Ε. Ε. Gmeind Ottenbach, welche sie einheilig mi t un d undereinandere n angenommen , de s 13 . Weynmonat Ao . 1760«.35 Als Ausführungsorgane de r Gebote, wie sie in der Gemeindesatzung niedergelegt ode r i n de r Gemeindeversammlun g mündlic h beschlosse n worde n waren, fungierte n di e Geschworenen . Z u de n wichtigste n Aufgabe n diese r Viererbehörde gehörte , de n Gemeinnutze n - etw a di e jährliche Brenn - un d Bauholzzuteilung - unte r de n Nutzungsberechtigte n z u verteilen. Si e über wachte die Weidgangsordnungen, regelt e de n Viehauftrieb, kontrolliert e de n Wochenmarkt und anderes mehr. Darüber hinaus konnte dieses Kollektivorgan - jeweil s unte r de m Vorbehal t de r Genehmigun g durc h di e Gemeindever sammlung - z u allen Fragen der Dorfwirtschaft eigen e Verordnungen aufstel len, wie beispielsweise zur Durchführung de s Gemeinwerks.36 Aber nicht nur die Regelun g ökonomische r Belang e de r Gemeinde unterstand de n Vierern , sondern auc h di e allgemeine gemeindepolizeilich e Sicherun g von Ruh e un d Ordnung.37 Neben diese gemeindeinternen Aufgaben tra t schließlich noch die Vertretung der Gemeinde nach außen gegenüber Zuzüglern, Nachbargemein den und im amtlichen Verkehr mit der Obrigkeit, sofern dies nicht der Säckelmeister übernahm. 38 Angesichts dieser Aufgabenfülle teilte n die Geschworenen die Zuständigkeiten untereinande r au f Di e Kontroll e de r Müller , Bäcker , Kräme r ode r de r feuerpolizeilichen Einrichtungen , die Wald- und Flurpolizei oder die Aufsicht über Straße n un d Brücke n bildete n jeweils einzeln e Ressorts , entschiede n 34 Zu m eigenständigen Satzungsrecht der Gemeinden vgl. Kläui, Ortsgeschichte, S. 63, sowie Kunz, S . 52, S. 73, S. 75. Die freiwillige, auf die Initiative der Gemeinden zurückgehend e Bestäti gung von Gemeindeverordnungen durch die Obrigkeit veranschaulicht das Beispiel der Gemeinde Affoltern a m Albis. Die dort jährlich abgehaltene n Neuwahle n des Vierers wirkten sic h s o schädlich auf die allgemeine Verwaltungsführung aus , dass die Gemeindeversammlung beschloss, ihre bisherige Regelung derart abzuändern, dass nur noch der jeweils dienstälteste Dorfmeier jedes Jahr neugewählt wurde. Nachdem die Gemeinde selbst diese Abänderung vorgenommen hatte, licssen sich di e Gemeindebcamte n dies e Neuerun g zu r eigene n Rechtssicherhei t durc h di e Obrigkei t bestätigen. Vgl. Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, Bd. I/1, S. 90. 35 Kunz , S. 52 , Anm. 21. 36 Steinemann , S. 75, sowie von Wyß, Die schweizerischen Landgemeinden , S . 44. 37 O b dieses Rech t mi t de m Herrschaftsrech t de s Friedegebicten s gleichzusetzen ist , bleib t unklar. 38 Da s auch in diesen Fällen die Dorfvorsteher a n die Beschlüsse der Gemeindeversammlung gebunden waren, zeigt der Brief des Säckelmeisters von Affoltern a n den Obervog t im Jahr 1737 , in dem e r den Willen seine r Gemeind e i n einer Streitsach e mi t einer Nachbargemeind e darlegt : «Hab ic h Auf gestren Ta g ein e gemeyn d gesammle t vo n wäge n das s weids strei t mi t de n Höön geren die vorgesetzten und ein ersamme gemeind mi t 65 stimm Mehr blibend bey dem Spruc h .. . man wer d un s be y unser n fre y Heit s brieffe n beschütze n un d beschirmen« , zitier t nach : Kunz, S. 44, Anm. 13 .

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wurde aber kollektiv; die Beschlüsse wurden den ihnen unterstellten subalternen Gemeindebeamten zur Durchführung übergeben . Die kommunalen Funktionsträge r diese r dritten Kategori e übten Tätigkeiten aus , die nich t al s politisch e Ämte r z u bewerte n sind . Si e versahe n ihr e Dienste gegen festen Sold und wurden, von Gemeinde zu Gemeinde verschieden, entwede r vo n de r Gemeindeversammlun g gewähl t ode r vo n de n Ge schworenen direk t eingesetzt . Di e Variationsbreit e a n niedere n Gemeinde beamten wa r beachtlich . Nahez u jede Gemeind e verfügt e abe r übe r eine n Förster, Dorfwächter, Viehhirte n sowie eine Hebamme, deren Wahl der sogenannten Weibergemeinde oblag. Das Dorfgericht. Kommunal e Autonomie manifestier t sic h nich t zuletz t in der Teilhabe an der Rechtssprechung. Zweifellos gehört die Gerichtsbarkeit zu den am stärksten herrschaftlich geprägten Bereichen, da die Befugnis, Recht zu setzen, eine der wichtigsten und vornehmsten Machtkompetenze n darstellte . Bis zu m Erwer b de r vogteiliche n un d grundherrliche n Recht e durc h di e Stadt Zürich Ende des 15. Jahrhunderts versammelte sich zu den Gerichtstagen in jeder Dorfgemeinde die Gemeindebürgerschaft. I n freier Beratung entschieden entweder sie oder die von ihnen gewählten Geschworene n di e anstehenden Rechtsfälle . De n Vorsitz führte de r jeweilige Vog t oder Grundherr , de m lediglich die Leitung der Versammlung zustand. 39 Diese Dorfgerichte urteilte n über de n gesamte n Bereic h de r niedere n Gerichtsbarkeit . Daz u gehört e zu vorderst der unmittelbare Rechtsbereich , welcher de r gemeindlichen Verein barung unterlag, d. h. der der bäuerlichen »Einung«. Entsprechend wurden alle Verstöße gegen di e dörflichen Ordnungen , di e de n wirtschaftlichen Bereic h einschließlich de r Verletzun g feuerpolizeiliche r Gebot e betrafen , vo n ihne n geahndet. Eine zentrale Bedeutung kam den Dorfgerichten außerde m i n dem heute als privatrechtlich bezeichneten Bereic h des Eigentums- und Erbrechts sowie bei der Beurkundung von Schriftstücken zu . Allerdings beschränkte sich ihre Kompeten z i n de r Rege l nich t au f de n genossenschaftliche n Rahmen , sondern reicht e i n di e obrigkeitlich-herrschaftlich e Sphär e de r Rechts - un d Friedenswahrung hinein , da den Dorfgerichte n ein e eigene Strafgerichtsbar keit zustand , d . h . da s Rech t Bußen , abe r auc h Haftstrafe n z u verhängen . Zudem wurde n strittig e Frage n de r Kompetenzabgrenzun g zwische n Herr schaft und Gemeinde hier entschieden. Die Züricher Obrigkei t beschnit t dies e Funktionsfüll e de r dörflichen Ge richte wirkungsvoll, indem sie das niedere Gerichtswesen zentralisierte. 40 Den neuen Verwaltungseinheiten der Land- und Obervogteien wurden sogenannte 39 Steinemann , S. 67, sowie zusammenfassend Bader, Dorfgenossenschaft un d Dorfgemeinde , S. 342-363. 40 Sieh e die Beschreibung bei Steinemann, S. 132ff .

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Herrschaftsgerichte beigeordnet. 41 Stat t wi e bishe r nac h jeweils gemeinde spezifischen Rechtsgrundsätzen , urteilte n di e neue n Herrschaftsgericht e au f der Grundlag e vo n Rechtsgrundsätzen , di e fü r de n gesamte n Verwaltungs bezirk verbindlich galten . Auf diese Weise wurden viele der alten Dorfrecht e hinfällig. I n ihrem Aufbau waren die Herrschaftsgerichte de m früheren Dorfgericht nachempfunden : De n Vorsit z führt e de r obrigkeitlich e Landvogt, 42 während die eigentliche Urteilsfindung weiterhin landbürgerlichen Geschworenen vorbehalte n blieb , di e nu n abe r vo n de r Gemeindebürgerschaf t eine r ganzen Vogtei nach einem fixen Verteilungsschlüssel gewähl t wurden, so dass jede Gemeinde im Herrschaftsgericht vertrete n war. 43 Die entscheidende Veränderung war demnach, dass nicht mehr jedes einzelne Dorf die volle niedere Gerichtsbarkeit nac h seine n eigene n überkommene n Rechtssätze n ausübe n durfte. Mit dieser Auslagerung wichtiger Selbstverwaltungsrechte aus den Gemeinden verloren di e Gemeindegerichte erheblic h a n Bedeutung. Allerding s verschwanden di e Dorfgericht e nich t völlig . Vo n de n zahlreiche n Rechts materien der niederen Gerichtsbarkeit verblieb den Gemeinden jener Rechtsbereich, de r unmittelba r zu r bäuerliche n Einun g gehörte . Gemeindeintern e Streitfälle über Nutzungs- und Eigentumsfragen, wie z. Β. das Wegerecht und andere nachgeordnete Verstöße gegen di e Dorfsatzung, wurden unte r Vorsitz des Untervogt s wi e bishe r i n de n Gemeinde n vo n de n Gemeindegeschwo renen entschieden.44 Von der Strafkompetenz dieser Gemeindegerichte zeugen

41 Vgl . J .K Bluntschli , Staats - und Rechtsceschichte , Bd . II, S. 32. 42 I n den innere n Obervogteien übernah m das städtische Schulthcissengericht dies e Aufgabe . Vgl.Steinemann, S . 134 . Oftmals saß der Amts-Untervogt i n Abwesenheit der in der Stadt wohnenden Obervögt e auc h selbs t dem Amtsgerich t vor . 43 Beispie l de s Grüninger Amtsrechts: »Es hat 1 2 Richter, die sind abgetheilt, wo ein jedlicher Husshablich sy n un d wohnen solle . Es soll syn einer i m Stattli oder Burgerschafft z u Grueningen , und eine r i n de r kilchhör i Egg . Zwee n i n de r Dingstatt , Zwee n i m Hof f Altorff « usw . E s wurde genau aufgelistet , au s welchen Dörfer n di e Richte r stamme n mussten , wa s verdeutlicht, das s die Herrschaftsgerichte di e Nachfolgerinne n de r alte n niedere n Dorfgericht e waren . Zitier t nach : ebd., S . 135f . Di e Wah l de r Richte r durc h di e Gemeinde n geh t au s eine m obrigkeitliche n Man dat vo n 171 5 hervor , das s di e Wahlbestechun g unte r Straf e stellt : «Wan n fürohi n Untervögte , Richter un d Weibe l zuerwählen , soll e ma n sic h alle s Biethens , Treüwens , Meit h un d Gabe n nemmens un d gebens gäntzlich müssigen , un d s o einer dessen ode r anderen practicieren s wege n angeklagt oder überzeuget wurde , solle er dann zumahle n selbige r Wahl nich t nur nicht fähig syn , sondern Nac h Beschaffenhei t de r Sac h mi t eine r Bus s angesehen werden« , zitier t nach : Kunz, S . 13,Anm. 21. 44 Di e Kompetenze n de r Dorfgericht e umschreib t beispielsweis e da s Andelfinge r Herr schaftsrecht §2 : »Wa s gebotten abe r ei n Gemeyn d de r Eefäden n [Flurzäune] , der Gräbe n unn d annderer dingen halb anleyt, Dieselb Gemeynd ha t demnach wyter zu gebyetten wie von Altemhar kommen ist« , zitiert nach: Pestalutz, S. 52. Die Teilnahme de r Dorfmeier/Geschworenen al s Rich ter läss t sich a m Beispie l de r Gemeinde Horge n nachweisen . Danac h urteilte n si e erstinstanzlic h über Streitigkeite n innerhal b de r Gemeindegenossenschaft, di e Wegrechte, Zäune, Bäume , Wasserleitungen etc . betrafen. Sieh e Kunz, S. 49.

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die Gemeinderechnungen , i n dene n de r Poste n »Busse n un d Fräflen « stet s besonders hervortrat. 45 Die Gemeindeversammlung, De n Souverän jeder Gemeinde stellte die Versammlung aller vollberechtigter Gemeindemitglieder dar: »Die Gemeindeversammlung repräsentier t nich t di e Gemeinde , sonder n si e ist die Gemeinde.« 46 Das zeigte sich auch in der begrifflichen Verwendung des Ausdrucks »Gemeind«. Er bezeichnete nich t nu r die Gemeinde al s Gebietskörperschaft ode r Personen verband, sonder n wurd e auc h synony m fü r di e Versammlun g gebraucht. 47 Zentrale Hoheitsrecht e de r Gemeindeversammlun g wurde n scho n genannt : das selbständige Konstitutierungsrecht zu außerordentlichen Versammlungen, die Wahl ihre r Funktionsträger , di e unabhängig e Verwaltun g de s Gemeinde haushalts sowie das kommunale Satzungsrecht, bei dem die Gemeinde als ihr eigener Gesetzgeber fungierte. Aus diesem Satzungsrech t leitet e sich schließlich auch eine gemeindliche Gerichts- und Strafkompetenz ab. Eines der wenigen überlieferten Beispiele einer vollständigen Gemeindeordnung, die die unterschiedliche n Kompetenzbereich e de r Kommune n veran schaulicht, is t die der Gemeinde Ottenbac h au s dem Jahr 1760. 48 Si e bestand aus siebzeh n Artikeln , di e wi e allgemei n üblic h au f de n beide n jährliche n Hauptgemeinden im Frühjahr und Herbst der Gemeindeversammlung vorgelesen wurden. Die beiden ersten Artikel behandelten die politisch-administrative Organisation, wonach der Säckelmeister berechtigt war, die Gemeindeversammlung einzuberufen , »s o oft e s nöti g ist« ; unentschuldigte s Fernbleibe n wurde mi t eine r Geldstraf e geahndet . Di e Abstimmungen folgte n eine m ge staffelten Wahlrecht, je nach dem Anteil des einzelnen an einer »Gerechtigkeit«. Darunter verstand man den an einen Hof gebundenen Nutzungsantei l a n der Allmende, der z. B. durch Erbteilung zu einer Halben-Gerechtigkeit gesplitte t sein konnte. Jeder Besitzer einer vollen Gerechtigkeit besaß zwei Stimmen, der einer halbe n entsprechen d ein e Stimme . Di e Wahl de r Geschworenen , ihr e Anzahl, Amtsdauer , Entschädigun g sowi e Tätigkeitsumschreibun g wurde n genau aufgelistet . Der Hauptteil der Gemeindeverfassung befasste sich mit den verschiedenen Bereichen der Dorfwirtschaft, wobe i der Verteilungsmodus der Nutzungsan teile und ein umfänglicher Bußenkatalo g von Geldstrafen bi s zu Vorladungen 45 Ebd. , S. 56 (Bußcnandrohung fü r Holzfrevel) , S . 78 (Gemeindeabrechnung de r Gemeind e Aiffoltern a . Α.). 46 Bierbrauer , Ländlich e Gemeinde , S . 173 . 47 Bader , Dorfgenossenschaf t un d Dorfgemeinde , S . 15-20 . 48 Di e folgend e Darstellun g bezieh t sic h au f Kunz, S . 73 f Zu r Abfassun g vo n vollständige n Gemeindeordnungen is t es vor 179 8 nur selte n gekommen . Üblicherweis e wurde n einzeln e Be stimmungen i n eine r Reih e vo n Dorfbriefe n gesammelt , di e de r Säckelmeiste r i n de r Dorflad e verwahrte.

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vor de n Stillstand , u m Verstöß e z u ahnden , i m Mittelpunk t standen. 49 Fest gelegt wurden auc h di e de n Nutzungsrechte n de r Gemeindemitgliede r ent sprechenden Pflichten be i de r Lösun g gemeinschaftliche r Aufgaben , de m Gemeinwerk un d de m Feuerwehrwesen . Breite n Rau m nahme n schließlic h die Bestimmungen zu r Wahl der niederen Gemeindebeamte n - de s Försters, Flurwarts, Brunnenmeisters und der Fährleute - ein . Von zentraler Bedeutung war zudem die Festlegung der »Ansässengelder«, eines jährlich von den im Dorf Niedergelassenen ohne Gemeindebürgerrecht z u entrichtenden Betrags. Die Verfahrensweise mi t von auswärts Zugezogenen stellt e einen weitere n wichtigen Kompetenzbereic h de r Gemeinde dar. Auch hier konnte sie souverän entscheide n un d sowoh l de n Beitragssat z fü r di e Nicderlassungsbewil ligung al s auch fü r de n Einkau f i n das Gemeindebürgerrecht, da s »Einzugsgeld«, bestimmen . Di e Prüfun g de r eingereichte n Einbürgerungsgesuch e gehörte mi t de r Rechnungsabhö r z u den bedeutendste n Geschäfte n de r Gemeindeversammlung. Rechtsgrundlag e bildete n di e kommunale n »Einzugs briefe«, di e di e Gemeind e i m Einvernehme n mi t de r Obrigkei t aufstelle n musste. Doch wurde durchgängig den Forderunge n der Gemeinde stattgege ben. Insbesonder e di e vo n de n Gemeinde n festgesetzt e Höh e de s Einzugs geldes, mit dem die Neubürger die Nutzungsrechte a n den Gemeindegüter n erwarben, bewilligte die Obrigkeit ausnahmslos. Entscheidend aber war, dass es letztinstanzlich der Gemeindeversammlun g vorbehalten blieb, ob sie der Aufnahme zustimmt e oder nicht. Auch wenn alle Bedingungen ihre s Einzugsbriefs erfüll t waren , konnte si e den Bewerber ablehnen, ohn e das s die Obrigkeit ein e höher e Verfügungsgewalt hätt e gelten d machen können.50 Die Gemeinden verfügten damit über ein Regulativ, das den Zuzug erleichtern, aber auch erschweren konnte. Die Vereinbarung der sozialen Normen - de r »Stillstand«. Nachdem die kommunale Autonomie der Züricher Landgemeinden unter den Aspekten ihrer politischen Verfasstheit und der Regelung ihrer wirtschaftlichen Belang e dargestellt wurde, ist zu fragen, welcher Autonomiestatus den Kommunen als Sozialverband zu kam. Wie weit gingen ihre Kompetenzen, sozialpolitische und sozialnormative Anliegen selbsttätig zu behandeln? Das zentrale Organ, das sich mit der Pfleg e des Schul- und Armenwesens sowie der Überwachung der Sittenordnung befasste, war der »Stillstand« der jeweiligen Kirchgemeinde, die sich aus mehreren 49 Artike l 1 4 zum Schut z de r Fluren : «We r z u Herbstzeiten , wan n da s Obst anfange n reiflfe t sich erfrechen thäte , seinem Nächste n Tags oder Nacht s in ein Stuk land hineingienge, und an dem selbigen Frefle n würde , so solle dann eine grosse Person fü r Ε. Ε. Stillstand gestellt werden un d ei n Minder jähriger mi t der Trüllen abgestrafft« . 50 Di e Gemeind e Niederweninge n lehnt e i m Ma i 170 9 ein Gesuc h ab , da »würd e ihr e seh r wohlreiche Gemeind e be i ihre m sons t empfindene n Holzmange l mi t dergleiche n Einzüger n i n kürzer Zei t mächti g beschwert« , zitier t nach : Kunz, S. 79, Anm. 25 .

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Dorfgemeinden zusammensetzte . Sämtlich e Gemeindevorsteher, Untervogt , Säckelmeister un d Geschworene , gehörten dieser Behörde an. Sie übten ihre Tätigkeit jedoch nicht allein aus, sondern zusammen mit den kirchlichen Vertretern. Den Vorsitz des Stillstands führte der Pfarrer, der - d a nur Stadtbürger für diese Position zugelasse n waren - ohnehi n eine exponierte Stellung unter den Landbürger n einnahm . Al s Repräsentante n de s städtische n Ehegericht s waren außerde m di e sogenannten Ehegaume r (Ehe-«Hüter« ) vertreten sowie der Kirchmeier, dem die Verwaltung des Kirchengutes unterstand, der Lehrer und der Sigrist (Kirchenpflcger) . Zu de n Hauptaufgabe n de s Stillstand s gehörte , di e Einhaltun g de s dörfli chen Normenkodex' sicherzustellen. So wachten sie beispielsweise bei Wahlen über die ordnungsgemäße Stimmenauszählung . Auch die Preis- und Lebensmittelkontrolle wurde vorzugsweise ihnen überantwortet, indem man sie zum »Brotwäger« oder »Fleischschätzer« wählte. Darüber hinaus übte der Stillstand die Schul- und Kirchenpflege aus , bestellte den Lehrer und Sigrist und beaufsichtigte die Schulordnung. Z u den rein kirchlichen Aufgaben de s Stillstands gehörte die Überwachung der obrigkeitlichen Kirchenmandate. Verstöße hatte ein Stillständer unverzüglich der Gesamtbehörde zu melden. Dabei konnte es sich auch u m »Laydungen« gege n eines der eigenen Mitgliede r handeln , vorzugsweise de n weltliche n Gemeindebeamten. 51 Obwoh l sic h di e Straf kompetenz des Stillstands der Form nach auf eine öffentliche Rüg e beschränkte, galt es als Inbegriff des Ehrverlusts, vor den Stillstand zitiert zu werden. Für gemeindliche Würdenträger kam es der Amtsenthebung gleich.-52 Diese sozialdisziplinierende Wirkung hatte auch der Landvogt Escher der Herrschaft Kyburg erkannt, weshalb er eine öffentliche Abmahnung durch die kommunalen Stillstände der Bestrafung auf der Landvogtei vorzog: »Wenn man den Frevlern etwas auferlag, s o sie müssen i n ihre m Dor f leiden, al s Stellung von die Kir chenthür auf eine Stunde, Führung durch das Dorf mit Trommeln und Pfeife n etc. Hat solches bei dem Delinquenten und auch ad exemplum mehr effect, als was ma n imme r au f Kyburg dergleiche n ihne n infligiert , wei l alld a e s wenig Leute sehen.« 53 Besondere Bedeutun g ka m der Kirchgemeind e be i der Pfleg e de s Armenwesens zu. Da sie im Bedarfsfall jedem Gemeindebürger Armenunterstützun g gewähren musste , spielt e de r Stillstan d auc h ein e aktiv e Roll e i n de r Ein bürgerungspolitik. Jeder Zugezogene, der sich um das Gemeindebürgerrech t bewarb, hatte nicht nur der Dorfgemeinde, sonder n auch der Kirchgemeind e 51 Ei n solches Beispiel läss t sich dem Bußenkatalo g der Landvogtei Grüninge n entnehmen . 1773 wurde der Säckelmeistcr von Wernetshausen zu 5 Pfd. Strafe verurteilt, da er als Bäcker der Gemeinde z u leichtes Bro t verkaufte. Nachde m sich der Vorfall wiederholte, wurde der Säckelmeister von der Gemeinde bzw. dem Stillstand abgesetzt. Siehe ebd., S. 62, Anm. 12. 52 Sieh e oben Anm. 51. 53 J .K Escher, Bd. IV, S. 276.

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ein Einzugsgeld zu zahlen. Daneben musste er ein Leumundszeugnis des Stillstands seine r Heimatgemeind e vorweisen , da s Auskunft übe r sein e bürger rechtliche Stellun g un d sei n Vermöge n gab . Vo r alle m i n de n frühindus trialisierten Gebiete n de s Züriche r Oberlandes , i n dene n di e Zah l de r Hintersassen und Heimatlosen im Laufe des 18. Jahrhunderts stetig stieg, entwickelte sic h de r Stillstan d z u eine m Kontrollorga n de r Einwohnerschaft . Niedergelassene hatte n sich umgehend bei m Stillstan d anzumelde n un d den Nachweis z u erbringen , das s ihr e Geburtsgemeind e lau t de m Prinzi p de r »Heimatgemeinde« i m Falle ihrer Verarmung für sie sorgen würde. Die Kirchgemeinde Baum a führt e ei n eigene s Verzeichni s übe r di e Hintersässen , da s jährlich geprüf t wurde , u m sicherzustellen , »das s kein e unangenommene n Hintersässen i n di e Gemeind e sic h einschleichen.« 54 Au f dies e Weis e sollt e gesichert werden, dass jeder zugezogen e Nichtbürge r »vo n seinem Stillstan d einen förmlichen Heimatschein vorlegen [könne] , dass er ... in gesunden und kranken Tage n un d i m Fall e der Verarmung an de m Or t seine r Gebur t un d Heimat aufgenommen un d versorgt werde.« 33 Die Kommunen waren demnach auch in der Regelung ihrer sozialen Belange relati v autonom , wenngleic h de r Pfarre r al s Vertreter de r obrigkeitliche n Landeskirche die Präsidentschaft des Stillstands innehatte. Diese Konstellation konnte denn auch zu Konflikten mit den Gemeinden führen, deren Eliten sich in ihrer Herrschaftssphär e beschnitte n fühlten. 56 Darübe r hinaus konnte sich die weltlich e Obrigkei t ihre n Einflus s au f den Stillstan d abe r nu r mittelba r sichern: über die Rechnungsabhör der Kirchgemeinde, deren Procedere jener der Gemeindcabrechnun g entsprach , un d übe r di e formell e Ernennun g de r Ehegaumer und Kirchmeier durch die Land- bzw. Obervögte. De facto vollzog sich deren Wahl aber entweder über einen Dreyervorschlag der Gemeinden wie im Fall der Untervögte - ode r sogar direkt durch die Gemeinden. 37 Entscheidenden Einflus s übt e der Stillstan d gerad e auc h i n bezu g au f die Beachtung moralökonomische r Verhaltensmuste r i n de r Gemeind e aus . Grundsätzlich entschie d di e Behörd e selbs t übe r di e Ausübung ihre r Rüge gerichtsbarkeit. De r Stigmatisierun g eine s Angeklagten durc h de n Stillstan d konnte sich auch das Herrschaftsgericht nich t entziehen, eine Verurteilung erfolgte auch auf diesen öffentlichen Druc k hin. Umgekehrt nutzte die Obrigkeit den Strafeffekt , inde m da s Herrschaftsgericht de n Angeklagten , nachde m e s ihn abgeurteilt hatte, zusätzlich dem Stillstand überantwortete . Zusammenfassung. Be i der Dorfgemeinde kan n e s sich »niemal s um volle Sat zungsautonomie handel n .. . Immer geht es allenfalls u m Satzungsrech t i n ei54 Zitier t nach: Kunz, S. 66. 55 Nauer . S. 11. 56 Sieh e Braun, Das ausgehende Ancien R égime, S. 249f. 57 Kunz , S. 68.

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nem beschränkten kommunale n Wirkungskreis.« 58 Diese wichtige Einschrän kung, die Karl S. Bader für die ländliche Gemeinde des oberdeutschen Raum s getroffen hat , gil t zweifelsohn e auc h fü r di e Züricher Landschaft . Insgesam t bleibt aber festzuhalten, dass sich die Züricher Landgemeinden auch im Gefüge des städtischen Obrigkeitsstaats bis zum Vorabend der Französischen Revolution einen hohe n Autonomiestatus un d damit eine lebendige gemeindlich genossenschaftliche Freiheitstraditio n bewahr t hatten. 59 Ihr e institutionell e Ausformung verweist erstens auf eine eigenständige politische Verfassthcit der Kommunen. Si e verfügte n sowoh l übe r ei n eigene s Satzungsrecht , da s der Gemeindeversammlung zustand , al s auc h übe r ein e darau s abgeleitet e Ge richts- und Strafkompetenz, die von den obersten Gemeindebeamten al s Mitgliedern de s Gemeindegericht s ausgeüb t wurde . Mi t de r erstinstanzliche n Beurteilung gemeindeinterner Streitigkeiten auf der Grundlage tradierter dörflicher Rechtssätz e hatte n sic h die Gemeinde n ein e - wen n auc h begrenzt e unabhängige Herrschaftssphär e bewahre n können . Abe r selbst di e Herr schaftsgerichtc de r Vogteien, die als Ausdruck der Zentralisierungs- und Vereinheitlichungsbestrebungen de r Züricher Obrigkei t di e vornehmsten Herr schaftsrechte der niederen Gerichtsbarkeit an sich gezogen hatten, waren nicht völlig ohn e kommunal e Anbindung . Di e Wahl ihre r Richte r durc h di e Ge meinden der gesamten Vogtei verweist eher auf eine gemeinsame Trägerschaf t von Gemeinde und Obrigkeit . Diese Selbstverwaltungskompetenzen de r Gemeinde können zweitens nicht einseitig als herrschaftlich delegiert bewertet werden. Sie ergaben sich vielmehr aus de r Entwicklun g de s Gemeinwesen s selbst , au f desse n wachsende n Regelungsbedarf die Gemeinde mit der Ausformung eines spezifischen institu tionellen Gehäuses reagierte. Innerhalb dieses Gehäuses wählte die Gemeindebürgerschaft ihr e eigene n Funktionsträger , di e sic h dritten s al s Vertreter de r Kommunen nac h auße n verstanden . Diese s Repräsentationsverständnis , da s bis in die Reihen der zwischen obrigkeitlicher Pflichterfüllun g un d gemeind licher Interessenvertretun g positionierte n Untervögt e reichte , sichert e di e kommunale Bindun g un d Prägun g de r Institutionen . Di e Wahrun g de s gemeindlichen Bezug s gründete letzten Ende s viertens auf der innerkommu nalen Vereinbarun g gesellschaftliche r Normen . Eigenständigkei t i m kom munalistischen Begriffsverständni s mein t auc h di e Akzeptierun g eine s all gemeinverbindlichen sozialmoralische n Wertehorizonts , desse n Bestan d de r Stillstand zu sichern hatte. Die auch von obrigkeitlicher Seite anerkannte Strafwirkung de s gemeindeinternen Rügeverfahren s mach t deutlich , wi e bestim 58 Bader , Dorfgenossenschaft un d Dorfgemeinde, S . 335. 59 Sieh e dazu im Vergleich die Berner Verhältnisse bei Braun, Das ausgehende Ancien R égime. S. 251-254, ode r fü r die deutsche Entwicklun g z . Β . Wunder, Kap. 3: Bäuerlich e Gemeinde n i n Nord-, West-, Süd- und Südwestdeutschland, S. 61-76.

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mend, und möglicherweise wichtiger als die herrschaftliche Verurteilung, dieses Normengefüge fü r den einzelnen war. 1.2. Gemeindlich-genossenschaftlich e Selbstverwaltun g und stadtbürgerlich e Protesttraditio n i n der Stadtrepubli k Züric h Im Urteil ausländischer Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts galten die eidgenössischen Obrigkeite n »al s demokratisch, ja tumultuarisch , un d ihr e Mitgliede r eher al s der Volksgunst ausgelieferte Gemeindepolitike r den n al s aristokrati sche Regenten« 60 Da s Selbstbild war dagegen ein ganz anderes. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts klagte der Berner Chronist Anselm über die zunehmende »Verjunkerung« und »Aristokratisierung« der städtischen Regimente, in deren Folge »us vil nutzen werkhanden mueßig junkeren sind worden«.61 Noch deutlicher waren die sogenannten Fürträge der Züricher Geistlichkeit seit dem 17. Jahrhundert, die - wie wiederholt betont wurde - au f Wunsch der Gemeindebürgerschaft abgefass t worden waren 62 Dies e Mängelrügen prangerte n di e zunehmende Oligarchisierun g un d Herausbildun g eine s neuen Patriziat s an. Scharfe Maßnahme n gege n de n übliche n Wahlmissbrauch , erweitert e Par tizipationsrechte de r Bürgerschaf t sowi e ein e stärker e Berücksichtigun g de r gesamten Gemeindebürgerschaft be i der Ämtervergabe sollte n Abhilfe schaf fen. Tatsächlic h ware n di e Mitwirkungsrecht e de r zunftmäßi g organisierte n Gemeindebürgerschaft sei t de m Sie g der Zunftbewegung i m Jahre 133 6 zugunsten eine r zunehmende n Machtkonzentratio n i n de n beide n Räte n de s Züricher Stadtstaates schrittweise beschnitten worden. Parallel dazu hatte sich in diesen Gremien da s soziale Kräfteverhältnis zwische n den Kaufleuten un d Rentiers auf der einen Seite, den Handwerkern auf der anderen Seite zu deren Lasten verschoben. Allerdings stammt e kei n geringe r Tei l de r Unternehme r und Rentiers - so wie es denn der Berner Chronist auch festhielt - ursprünglic h aus Handwerkerfamilien . Das zunftdemokratische System der Stadt Zürich, Die erfolgreiche Zunftbewegun g schuf mit dem Ersten Geschworenen Brie f von 1336 die verfassungsrechtliche Grundlage des Zunftsystems, das in seinen institutionellen Grundzügen bis zur Helvetischen Revolutio n von 179 8 in Kraft blieb. Durch die Zunftverfassun g trat neben das bisherige Patrizia t von Ritter- und bürgerlichen Geschlechter n als gleichberechtigter Stand die Handwerkerschaft.63 Jeder vollberechtigte Ge60 Peyer , Anfänge, S . 28. 61 P . Guyer , Di e sozial e Schichtung , S . 8 . 62 Vgl . zu m folgende n P . Guyer , Verfassungszustände, S . 18 , S. 28. 63 Entsprechen d vergrößerte sich die Stadtbürgerschaft, de r bisher nur die »Ritter und burger « angehört hatten . Di e Geschäftstätigkei t de r Gemeindeversammlung , di e bi s dahin au f dem Plat z

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meindebürger hatte sich gemäß seiner beruflichen Tätigkei t und seinem Stand in ein e de r Zünft e ode r di e Konstaffe l einzutragen . Di e »Gesellschaf t zu r Konstaffel« blie b de n alte n Elite n de s Adels un d de s bürgerlichen Handels patriziats, dere n Tätigkei t al s nichtzünfti g galt , vorbehalten. 64 Entgege n de r zahlenmäßigen Stärk e der Zünfte wurde beiden Ständen der gleiche Anteil an der Besetzun g de s Kleinen Rat s zugestanden. 65 Di e faktische Unterrepräsen tion der Zünfte wurd e zudem durch die Stellung des Bürgermeisters zementiert, der traditionell au s den Rittern der Konstaffel gewähl t wurde. Aus dieser Konstellation resultiert e ei n latente r Machtkonflik t zwische n de r Konstaffe l und den Zünften, die stets darauf bedacht waren, den politischen Einfluss dieses patrizischen Residuum s zurückzudrängen. 66 Im Ergebnis dreier kurz aufeinanderfolgender Verfassungsreforme n i n den Jahren 1373/1383/139 3 gelang es den Zünften, da s politische Schwergewich t von dem paritätisch besetzten Kleinen Rat auf den Großen Rat mit seiner zünftigen Mehrhei t z u verlagern . Jedes Kleinratsmitglie d konnt e di e Geschäfts gegenstände des Gremiums vor den Großen Rat »ziehen«. Damit ergab sich ein indirektes Kontrollrecht des Großen Rats, das mit Hilfe der Zunftvertreter i m Kleinen Rat , der Zunftratsherrn un d der Zunftmeister, gege n jede politisch e Aktion der Konstaffler gerichtet werden konnte. Als oberste Instanz galt jedoch die in den Zünften organisierte Stadtbürgergemeinde, der die zwei wichtigsten Kompetenzen oblagen: die Besetzung beider Räte. 67 und ein fakultatives Vetorecht. All e Beschlüss e de s Große n Rat s konnte n ausdrücklic h nu r mi t »ge meinem rat t al l unse r burger , al s si e gewonlic h i n da s munste r z u einande r vor dem Großmünste r stattgefunde n hatte , wurde deshal b nu n stärke r i n die Zünfte verlagert . Ausnahme waren die halbjährlichen »Schwörtage«, an denen der neu gewählte Bürgermeister und die Räte sowie die Bürgerschaft sic h gegenseitig den Treueid leisteten . 64 Unterteil t in ein adliges »Stübli« und einen bürgerlichen Zweig, umfasste die Konstaffel laut dem Geschworene n Brie f Edelleute , Rentiers , Kaufleute , Gewandsehneider , Wechsler , Gold schmiede sowie Salzhändler. 65 Wi e für die Reichs- oder Freistädt e des oberdeutschen Raum s typisch, bestand dieser aus zwei sich halbjährlich ablösenden »Ratsrotten«. In jeder Rotte standen sich jeweils dreizehn Ratsherrn al s Vertreter de r Konstaffe l (sech s Adlige un d siebe n Bürgerliche ) un d dreizeh n Zunft meister gegenüber. Vgl. Isenmann . 66 Begünstig t wurd e dies e Entwicklun g durc h de n temporäre n Niedergan g de s Export gewerbes, wodurch das Handelspatriziat einen empfindlichen materielle n Machtverlust hinneh men musste. Dies galt in ähnlicher Weise für den Adel, der aufgrund de r aufkommenden Geld wirtschaft imme r häufige r gezwunge n war , sein e Herrschaftsrecht e un d Naturaleinkünft e z u verpfänden, ohne sie je wieder auslösen zu können. Die Folge war, dass ein großer Teil der wirtschaftlich bedeutende n bürgerliche n Geschlechte r verdräng t wurde , der alte Adel soga r bi s um 1400 nahezu völlig verschwand. Vgl. P. Guyer, Verfassungszustände, S . 5. Im Jahr 137 1 waren in den Ratsrotten anstatt der vorgesehenen zwöl f Ritter nur noch sieben, 138 3 sogar nur noch zwei. Im Jahre 140 8 schied der letzt e Angehörige de s alten Adels aus dem Rat . An seine Stell e trate n zugezogene hohe Ministeriale wie die Meyer von Knonau und emporgekommene Bürgerfamilien . 67 Di e Bürgerschaft wählte sowohl ihre Zunft- bzw. Konstatffelvorgesetzten, di e den Großen Rat bildeten, als auch die Zunftmeister resp . Konstaffelherrn de s Kleinen Rats.

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kornent«,68 aufgehoben bzw. abgeändert werden. Dieser Höhepunkt der Entfaltung des zunftdemokratische n System s Zürich s war allerdings schnel l über schritten. Deutlich lässt sich in der Folgezeit eine Entwicklung ausmachen, in der sic h di e Zunftvorgesetzte n zunehmen d gege n ihr e Zunftgenosse n ab schlossen; dies e Entwicklun g gipfelt e i n eine r Zunftmeisteroligarchie. 69 Al s sich die Zunftmeister schließlich aus der letzten verbliebenen Rückbindung an die Zünfte löse n wollten und statt der halbjährlichen Erneuerungswahlen ihr e Wahl auf Lebenszeit durchsetzten, kam es zum offenen Aufstand. Der Sturz des sogenannten Zunftmeister-Kollegiums un d die Hinrichtung des Bürgermeisters Waldmann im Jahre 1485 wurde von einer breiten Allianz betrieben, in der sich Konstaffier, Zünfte r un d Landschaft miteinande r verbanden. Mit de n darau f folgende n Verfassungsreforme n de s Vierten un d Fünfte n Geschworenen Brief s von 1489/98 70 erhielt der Züricher Stadtstaat seine endgültige, bis i n das 18 . Jahrhundert andauernd e verfassungsrechtlich e Gestalt . Die oligarchischen Züg e des Zunftmeisterregiments wurde n beseitigt, inde m die Zunftmeiste r de n übrige n Ratsherre n (Zunftratsherre n un d Konstaffel herren) ausdrücklich gleichgestellt wurden. Ein Gremium aus drei sogenann ten Obristzunftmeistern hatt e darüber hinaus die Geschäftstätigkeit der Räte zu kontrollieren un d als oberstes Revisionsgericht darübe r zu wachen, dass allen Gemeindebürgern i n gleicher Weise Recht gesprochen wurde. 71 Außerdem schriebe n di e Verfassungsreforme n di e unte r Bürgermeiste r Waldmann vorangetriebene politische Beschränkung der KonstarTcl weiter fest: Ihre Vertretung im Kleinen Ra t schmolz von dreizehn auf sechs Sitze zusammen, im Großen Rat von vierundzwanzig auf achtzehn.72 Des weiteren führt e 68 P . Guyer, Verfassungszustände, S . 6. 69 I n einem ersten Schritt wurden die Mitbestimmungsrechte der Gemeindeversammlung auf jene Frage n reduziert , die »das Reich, di e Eidgenossenschaft, Landkrieg e ode r neue Bündnisse « betraten. Auch haftete der Gemeindebefragung nu n ein weniger partizipatorischer, denn affirma tiver Charakter an: ihre Ergebnisse waren keineswegs bindend und wurden nur nach vorherigem Beschluss des Großen Rats eingefordert. Im weiteren Verlauf verloren die Zünfte das aktive Wahlrecht für die Großräte. Letztere wurden nun von den Zunftmeistern un d Großräten der betreffenden Zunft au f Lebenszeit kooptiert, so dass zumindest kei n direkter Einflus s der Zunftgenosse n auf die Besetzun g de s »Rats der Zweihundert«, wi e de r Groß e Ra t auch genann t wurde , meh r gegeben war. Die Zunftmeister und Konstaffelherrn des Kleinen Rats wurden hingegen weiterhin von den Zünften un d der Konstaffel direk t gewählt. 70 Sieh e Dändliker, Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich, Bd. 2, S. 223f, 235ff. 71 Sieh e P. Guyer, Verfassungszustände, S . 40f sowi e zu deren Sonderkompetenzen während der Ära Waldmann, S. 9, Anm. 29. 72 De r Kleine Rat des Stadtstaates umfasste nun insgesamt 50 Mitglieder, gebildet aus den zwei Ratsrotten mit zwei Bürgermeistern , 24 Zunftmeistern sowi e 24 Ratsherrn. Von diesen 24 Ratsherren wählte die Konstaffel vier sog. Konstaffelhcrrn direkt. Die übrigen zwanzig Ratsherrn wurden vom Großen Rat aus seiner Mitte gewählt, wobei zwei aus der Konstaffel, je einer aus den zwölf Zünften un d sech s nach freie r Wah l au s der Ko n Staffel ode r einer beliebige n Zunf t bestimm t wurden. Die Konstaffel besa ß demnach den rechtlichen Anspruc h au f sechs Ratssitze, die zwölf Zünfte au f insgesamt 36 Sitze, dazu trate n di e sechs Ratsherr n freie r Wahl . Alle Mitgliede r de s

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man wiede r di e direkt e Wah l de r 2 4 Zunftmeister un d Konstaffelherr n de s Kleinen Rats ein, während für den Großen Rat die Ergänzung durch Kooptation un d au f Lebenszei t galt . Wi e bislan g wa r jedes ordentlich e Zunft - un d Konstaffelmitglied, da s im Vollbesitz seiner bürgerlichen Rechte , d. h. weder armengenössig noc h zahlungsunfähi g war , wahlberechtig t un d regiments fähig.73 Auch das Großratsamt stand grundsätzlich jedem Zunftmitglied offen ; der Modus der Ergänzung auf Lebenszeit durch die Zunftmeister un d amtierenden Großräte der betreffenden Zunf t relativierte allerdings die Bedeutung dieses passiven Wahlrechts.74 Insgesamt banden die Verfassungsrevisionen von 1489/98 die politischen Institutionen wiede r stärke r a n die Zünfte zurüc k un d sicherten dere n Domi nanz. Das bedeutete freilich nicht eine Rückkehr zu rein zunftdemokratische n Prinzipien. Die Partizipation der in den Zünften und der Konstaffel organisier ten Gemeindebürgerschaft tra t wieder in den Hintergrund, obwohl der Sturz Waldmanns nur aus ihrer gewaltsamen Erhebung resultiert war. Es blieb bei der Regelung von 1401 , wonach die Gemeindebürger nur in Sonderfällen befrag t wurden, von einer regelmäßigen Einwirkung der Gemeinde kann also nur bedingt gesprochen werden. Dieser Bedeutungsverlust der Gemeindebürgerschaft wa r Teil eines grundsätzlichen Ausdifferenzierungsprozesse s de r Ratsverfassung , de r durc h di e Lösung der Eidgenossenschaft au s dem Reichsverban d i n Gang gesetzt worden war. 75 Obwoh l di e schweizerische n Stadt - un d Länderort e formel l wei terhin de m Reic h zugehörten , wa r nac h Ablehnun g de r Wormscr Reichs tagsbeschlüsse 1495 76faktisch di e Möglichkei t entstanden , sic h al s »frei e Kleinen Rat s hatten sich halbjährlich zu r Hälfte einer Neuwahl z u unterziehen: Di e Bürgermeiste r und Ratsherre n be i der »Regimentsbesatzung« i m Großen Rat , Konstaffelherrn un d Zunftmeiste r am »Meistertag « au f der Konstaffe l un d i n den Zünften . 73 Jede r Zünfter , de r sei t mindesten s zeh n Jahren i n Zürich al s Bürger mi t »Ehre , Gut, Wit z und Bescheidenheit « eingeschriebe n war , konnt e i n beid e Rät e gewähl t werden . Dies e Bestim mung finde t sic h bereit s i m Geschworene n Brie f von 1489 ; i n de r Verfassungsrefor m vo n 171 3 wurde da s republikanisch e Tugendidea l hinzugefügt , inde m jeder Gewählt e de m »Geitz e feind « sein sollte . 74 I m Große n Ra t wurde n de r Konstaffe l 1 8 Sitz e - di e »Achtzehner « - zugesprochen , di e Zünfte entsandte n jeweils zwöl f Abgeordnete, die »Zwölfer«. Z u diesen insgesam t 18 2 Großräten traten, d a beid e Rät e normaliter zusamme n tagten , die 50 Kleinräte . 75 Bi s zur Mitte des 1 S.Jahrhunderts hatte n alle eidgenössischen Ort e und Länder die Reichs freiheit erlangt . Si e all e ware n i m Besit z de r wichtigste n kaiserliche n Privilegien , di e ihne n di e gerichtliche Reichsvogteigewalt un d den Blutbann zusprachen , die Regalien selbständig auszuübe n erlaubten un d vo r alle m mi t de m Lehensrech t de n Autba u eine r Territonalherrschaf t sicherten . Damit verfügten di e Städte und Länderorte der alten Eidgenossenschaft übe r die Grundvorausset zungen territoriale r un d politische r Eigenständigkei t unte r de r Oberhoheit de s Reichs . Vgl. daz u Peyer, Verfassungsgeschichte, S . 14ff . 76 Di e eidgenössische n Ständ e zoge n dami t di e Konsequen z au s der schwachen Positio n de r Reichsstädte au f dem Reichstag , di e durc h di e Reichsrefor m bestätig t wurd e un d di e Unterord -

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Republiken«77 i n der sich selbst noch als »Corpus« bezeichnende n Eidgenos senschaft z u konstituieren. 78 Vor diesem Hintergrun d vollzo g sich i m Inner n eine Ausdifferenzierung de r Landsgemcinde- oder Ratsverfassungen i m Sinne des Aufbaus eines staatlichen Organismus. In Zürich trat zu den beiden Räten als drittes Gremium der »Geheime Rat«79 hinzu, der in Krisenzeiten absolute n Gehorsam von den Bürgern un d Räten fordern konnte . Zudem bildeten sic h erste Ansätze einer Kompetenzausscheidung zwischen dem Kleinem und dem Großem Rat aus statt der bisher nur gewohnheitsrechtlichen Abgrenzun g der Aufgabenbereiche.80 Vo r allem aber vollzog sich eine schärfere Trennun g von Rat un d Bürgerschaft . Regimen t un d Bürgerschaf t trate n auseinander . Be zeichnenderweise fan d jetzt de r Begrif f de r »Bürgerschaft « auc h offizielle n Gebrauch, und das Rechtsverhältnis zwischen beiden wurde aus einem neuen Vertragsdenken begründet. Daneben zeigt e sic h innerhal b de r Zünft e ein e zunehmend e Oligarchi sierung. Ausschlaggeben d fü r dies e Entwicklun g wa r die Verfassungsbestim mung von 1498 , allen nichtzünftigen Gewerbe n die freie Zunftwahl z u erlauben, in deren Konsequenz das institutionell verankerte Zunftsystem von innen heraus verkümmerte. Mit Ausnahme der wenigen Edelleute des adligen Stübli wurde den bisher der Konstaffcl zugeteilte n Tuch- , Salz- und Eisenhändlern , Goldschmieden, Seidenstickern und Glasern freigestellt, sich einer Zunft ihrer Wahl anzuschließen . Ander e nichtzünftig e Tätigkeite n folgten . Diese r Ein bruch in die starre Ständeordnung der Zunftverfassung schwächt e zwar - wi e beabsichtigt- kurzfristig die Konstaffel. Längerfristi g ermöglichte die Freigabe aber insbesondere den Kaufleuten un d Rentiers, alle Handwerkszünfte z u unterlaufen. Nu r noc h 35% bis 40% der Bürgerschaf t blie b an eine bestimmt e nung unte r di e Jurisdiktion de s Reichskammergerichts , di e Entrichtun g de s gemeinen Pfennig s und de r Reichsmatrike l nac h sic h zog . Sieh e ebd. , S . 17f , sowi e Naujoks, S. 111 . 77 Isenmann , S . 194 . 78 Vgl . Im Hof, Ancien R égime, Bd . 2, S. 675, Anm. 2. ; Mager, Respublica , S . 69f . 79 Di e chaotische n Zuständ e währen d de s Waldmannschen Umsturze s hatte n de n Wunsc h nach einer kleinen , effizienten Leitungsinstan z gefördert , di e in akuten Krisenzeite n täti g werde n sollte. Gebildet wurde der Geheime Ra t aus den zwei Bürgermeister n un d den Obristmcistern al s den Standeshäuptern. Mi t der wachsenden Bedeutun g der Territorialhoheit Zürich s wurden de m Geheimen Ra t auch wichtige vertrauliche Staatsangelegenheite n zu r Vorberatung überwiesen . SO E x negativo wurde ausführlic h festgelegt , welch e Geschäft e nich t allei n vo m Kleine n Ra t verhandelt werden durften, sondern dem Großen Ra t vorbehalten war. Dazu gehörten der Bereic h des Finanzwesens (Steuer- und Münzhoheit, Kau f von Land und Leuten), die Bürgerrechtspolitik , die Außen- und Sicherheitspolitik (Entscheid e über Krie g und Frieden sowi e neue Bündnisse un d Vereinigungen) un d di e Wah l de r wichtigste n politischen , administrative n un d diplomatische n Ämter. Vor alle m zeigt e sic h di e Supremati e de s Große n Rat s abe r i n de r 148 9 aufgenommene n alleinigen Befugnis , di e Verfassung z u revidieren . All e übrige n alltägliche n Geschäft e de r Staats und Stadtverwaltung verhandelte der Kleine Rat. Aber auch hier konnte der Große Rat jederzeit al s übergeordnete Entscheidungsinstan z einbezoge n werden. Dafür sorgt e das erleichterte Zugrecht , wonach auf Initiative von drei Kleinräte n ein e strittige Frag e vor den Großen Ra t gebracht werde n musste.

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Zunft gebunden, 81 i n de r nu n stat t de r Handwerke r di e nichtadlig e Ober schicht den Ton angab.82 Die Zünfte degenerierten zusehends zu bloßen Wahlgremien. Es muss aber betont werden , das s viele Mitgliede r diese r Oberschich t au s Handwerkerkreisen stammte. Die soziale Mobilität von Handwerkern war per se kein Novum. 83 Ein wahrer Schub setzte mit dem enormen Aufschwung des Baumwoll- und Seidengewerbes sowie der Wollweberei seit Mitte des 16. Jahrhunderts ein , al s viele Handwerke r nebe n ihre m Beru f au s eigenen Mittel n Textilien i m Verlagssyste m vo n Heimarbeiter n au f de r Züriche r Landschaf t fertigen ließe n un d selbständi g vertrieben , d a de r Hande l allei n de n Stadt bürgern vorbehalte n blieb. 84 I m Ergebni s bildet e sic h ei n eigene r »Unter nehmerstand«,85 der an Umfan g un d Bedeutun g während de r nächsten Jahrhunderte steti g anwuch s un d i m 18 . Jahrhunder t etw a ei n Achte l de r Bevölkerung ausmachte. 86 Da die Zunftverfassun g auc h de m Handwerke r de n Zugan g zu m Staats dienst gewährte, bot sich hier besonders seit der Reformation eine zweite Aufstiegsmöglichkeit.87 E s bildete sich ein eigentlicher Magistratenstand , de r sich im Gegensat z z u frühe r au s viele n Angehörige n vo n Handwerkerfamilie n zusammensetzte,88 so dass bald in Politik und Verwaltung selbst einfache Handwerker neben Vertretern des Junkertums standen. Der Phase erhöhter Mobilität sei t de r Reformatio n folgt e jedoch bal d di e Abschließun g de r Magistra 81 P . Guyvr, Die soziale Schichtung, S . 32. 82 Diese r sozio-politisch e Umschichtungsprozes s wir d i n de r Schweize r Historiographi e gemeinhin al s Übergang zur »Aristokratisierung« aufgefasst , z. Β. Dändliker, Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich. Bd. 2, S. 446: »Das Zeitalter der Aristokratie«; P. Guyer, Verfassungszustande, S. 16. 83 Scho n di e i n de r Konstaffe l gesammelt e Geldaristokrati e de s 15 . Jahrhunderts, di e da s Waldmannsche Regime so heftig bekämpft hatte, rekrutierte sich zu einem Gutteil aus ehemaligen Handwerkern. So beispielsweise Mitglieder der Familie Holzhalb, die noch als Handwerker über Handelsgeschäfte z u solchem Reichtu m gelangten , dass sie eigene Gerichtsherrschaften au f der Züricher Landschaf t erwarbe n un d schließlic h de n Junkertitel annahmen . Sieh e P . Guycr . Di e soziale Schichtung, S. 9. 84 Z u dieser Gruppe der eigentlichen handwerklichen Aufsteiger gehörten keineswegs nur die Meister de s Leinen - un d Wollweberhandwerks , vielmeh r machte n sic h auc h Bäcker , Metzger , Krämer un d Goldschmiede eine n Name n al s Textilexporteure, wi e beispielsweis e die Familie n Locher und Goßweiler, ebd., S. 14. 85 Ebd. , S. 13. 86 Ebd. , S . 15 . Di e Zah l de r Unternehme r betru g 159 9 noc h 20 , stie g abe r bi s i n da s 18 . Jahrhundert auf 2(X) bis 250. Siehe auch S. 24-27, Tab. 1-3 . 87 Di e Lösung von der römischen Kirche brachten dem Stadtstaat neue Aufgaben, die nur über den Ausbau des administrativen Apparats zu bewältigen waren. Allein zur Verwaltung des säkularisierten Kirchenguts wurden 15 Ämter eingerichtet, aber auch das gesamte Armen-, Kranken-und Schulwesen wa r dem Staa t überantwortet. Insgesam t wurden run d 100 Stellen gesehaffen , ein schließlich de r nu n hauptamtlic h tätige n Klcinräte . Ebd. , S . 11 , sowie Braun , Da s ausgehend e Ancien Régime, S. 232. 88 P . Guyer, Die soziale Schichtung, S.U .

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tenfamilien gege n neu e Aufsteiger . E s kristallisierte sic h ein e eigen e Ämter laufbahn89 herau s un d dami t de r Einflus s geschulte r Kräfte , s o dass die real e Bedeutung de r freie n Ämterwah l abnahm . De r direkte Aufstieg eine s i n de r Führung von Staatsgeschäften unkundige n Handwerker s wurde zwangsläufi g zunehmend erschwert . Diese neue Oberschicht der Magistraten- und Unternehmerfamilien entwi ckelte ein eigenes Standesbewusstsein , da s zwar nich t einen patrizische n Le bensstil, wohl abe r die Nobilitierung zu m Junker ablehnte. Die Titulation als »Herren«, di e bi s zu m End e de s 19 . Jahrhunderts i n alle n politisch-soziale n Konflikten zu r Abgrenzung gegen die jeweils herrschende Elite diente, tauchte in diese r Zei t auf . I m Lauf e de s 17 . Jahrhunderts verschwande n di e Nobi litierungen völlig.90 Hierfür lassen sich mehrere Gründe anführen: Zum einen war das adlige »Stübli« der Konstaffel von sich aus offensiv geworden, indem es sich um 163 0 gegen die nichtadligen Aufsteiger völlig abschloss. Die Möglichkeit, durch den Eintritt in die adlige Gesellschaft der Konstaffel den Junkertitel zu erlangen, war somit ausgeschlossen.91 Zu m anderen boten die Zünfte, in die keine Edelleute aufgenommen werde n durften, ein wesentlich besseres politisches Sprungbrett i n die Rät e als die auf wenige Sitze beschränkte Konstaffel . Schließlich wir d abe r di e ursprünglich e sozial e Herkunf t de r Mehrhei t de r Unternehmer un d Rentier s au s bürgerliche n Kaufmannsgeschlechter n un d dem Handwerkertum eine bedeutsame Rolle für die antiadligen Ressentiment s gespielt haben. In den Auseinandersetzungen zwische n Konstaffe l un d Zünften hatten diese Ressentiments seit der Zunftbewegung von 133 6 ihren politischen Niederschlag gefunden. Diese Konfliktlinie blieb bestehen und verstärkte sich zudem , je meh r sic h i n Zürich sei t de r Ablehnung de r Rcichsrefor m 1495 ein republikanische s Staatsverständni s ausbildete . Vo r diese m Hinter grund ist auch das Züricher Verbot, fremde Adelstitel zu führen, zu verstehen, das 1792 dazu führte, dass das Geschlecht der Werdmüller den Reichsfreiherrn titel ablehnte. 92 Mit de r zunehmende n Oligarchisierun g de s politische n System s wurde n zwangsläufig di e zunftdemokratische n Element e imme r stärke r zurückge drängt. Zwar blieb grundsätzlich das Gebot bestehen, die Bürgergemeinde bei Kriegsentscheiden, dem Abschluss von Bündnis- und Friedensverträgen sowie anderen wichtige n Staatsangelegenheite n z u befragen . Bezeichnen d wa r je89 Gewöhnlic h began n sie mit der ehrenamtlichen Tätigkei t i n der Staatskanzlei. Di e Tätigkeit am Stadtgerich t ode r die Leitun g einer Landschreibere i bildete n di e nächst e Stufe, der eigentlich e Abschluss war aber immer entweder ein Ratssit z oder ein anderes hohes Verwaltungsamt. Sieh e die Beschreibung be i Meyer von Knonan, S. 71 ff. 90 Al s letzt e Züriche r Familie n nahme n i m 17 . Jahrhundert di e Wyß , Schwerzenbac h un d Steiner vo n Uetiko n de n Tite l an . Sieh e P. Guyer , Di e sozial e Schichtung , S 19 . 91 Allerding s war bereits im 1 S.Jahrhundert di e Mitgliedschaft i m Stübli keinesweg s zwingen d zur Erlangun g des Titels gewesen . 92 P . Guyer, Di e sozial e Schichtung , S . 19 .

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doch, das s ma n e s i n de r Praxi s wiederholt verletzte . S o wurden di e beide n Villmergerkriege 165 6 und 1712 ohne Anfrage der Landschaft, aber auch ohne die de r Zünft e begonnen. 93 Gleichzeiti g san k bi s in s 18 . Jahrhunder t schrittweise die Vertretung der Handwerker in den Räten. Waren um 1600 noch 111 der zünftigen Großräte Handwerker, schwand ihre Zahl Ende des 18. Jahrhunderts auf 34 Sitze. Ebenso gravierend war der Verlust der Kleinratssitze: von 29 aus dem Handwerkertu m besetzte n Kleinratssitze n u m 160 0 blieben u m 1790 noch drei Kleinratssitze übrig. 94 In politischer Hinsicht waren sie die Verlierer dieser Entwicklung, i n wirtschaftlicher Hinsich t zeigte sich dagegen eine Interessenallianz zwische n Handwerker n un d Unternehmern , di e system stabilisierend wirkte. Einigkeit bestand darüber, die städtischen Privilegien, ob Handels- oder Zunftmonopol, gege n die Landschaft z u verteidigen. Di e restriktive Bürgerrechtspolitik, die 163 0 zur völligen Schließung des Bürgerrechts führte, entsprac h ebens o dem handwerkliche n Interess e an gesicherter Nah rung wie de m unternehmerische n Bemühen , ein e Abwanderung de r ländli chen Heimarbeiter zu erschweren. Daneben boten die zahlreichen »städtischen Dienste«, di e ausdrücklic h de r »gemeine n Burgerschaft « vorbehalte n waren , vielen Handwerker n ein e ökonomisch attraktive Alternative.95 Eine weitere , überau s wichtig e Ausweichmöglichkei t wa r de r geistlich e Stand, d a di e vo n de r Stad t z u besetzende n Pfarrstelle n ausnahmslo s Stadt bürgern vorbehalten blieben. Rund ein Sechstel der städtischen Bürger gehörte seit dem ausgehenden 17 . Jahrhundert der Geistlichkeit an; außer Angehörigen der bürgerliche n Oberschich t un d soga r des Adels schlugen auc h besonder s viele Handwerkssöhn e dies e Laufbah n ein. 96 Da s verwunder t nicht , d a insbesondere die höheren geistlichen Ämter seit der Reformation auc h politi schen Einfluss gewährten. Die Züricher Landeskirche stand in engem Verhältnis zur Obrigkeit, welche die äußere Kirchenordnung garantierte. Während der Rat, soweit es möglich war, die Patronatsrechte an sich zog, beanspruchte um gekehrt die Kirche ein politisch verstandenes »Wächteramt«97. In den zu Beginn genannten Fürträgen war es den Geistlichen erlaubt, dem Regiment Kritik und Reformwünsche zu unterbreiten. Sie boten damit einen gewissen Ersatz für die beschnittenen Anfragerecht e de r Gemeinde, da sich die Geistlichkeit sei t Beginn des 17. Jahrhunderts in zunehmendem Maß zum Sprachrohr der Bürgerschaft machte. Dabei scheute sie nicht davor zurück, der Obrigkeit zu drohen, sie werde ihr e Klage n öffentlic h vo n den Kanzeln verlesen. 98 Die Rüge n un d 93 Sieh e Dändliker , Zürche r Volksanfragen , S . 212f . 94 Sieh e P. Guyer , Di e sozial e Schichtung , S . 30f., Tab . 5 . 95 Ein e ausführlich e Beschreibun g dieser Dienst e i n H.H. Blutttschli . 96 Gugerli , Anhang I. 97 P . Guyer , Verfassungszustände, S . 16 . 98 Au s dem Fürtra g von 1646 : »Wir hoffe n Remedur , sons t würden wi r dem ganze n vol k vo n den Kanzeln zu erkennen geben, dass es nicht an guten Mittel n und nicht an unserm Willen gefehl t habe«, zitier t nach : ebd. , S . 28.

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Reformvorschläge der Fürträge setzten an den wichtigsten Schwachstellen des bestehenden Zunftsystem s an. 99 Breite n Rau m nah m etw a di e Kriti k a n den Wahlmanipulationen ein, die sich aus der offenen Stimmabgabe in den Zünften ergaben. Gerad e hie r trie b die Wahlbestechung erwartungsgemä ß besonder e Blüten. Zechereie n un d Mahlzeite n au f Kosten des Kandidate n gehörte n z u den häufigsten Mitteln des Stimmenkaufs.100Aber auch Schmiergeldzahlungen und die Ausnutzung wirtschaftlicher Verbindlichkeiten gerade vieler kleinerer Handwerksmeister, di e sich bei de n wohlhabenden Geschlechter n Darlehe n geliehen hatten, wurden immer wieder beklagt.101 Insgesamt war den Vorstößen der Geistlichkeit, wieder eine breite, alle bürgerlichen Stände umfassende Teilhabe a n de r Regierun g herzustellen , abe r nu r mäßige r Erfol g beschieden . Wichtige Reformvorschläge, wie die geheime Wahl der Zunftmeister, drange n nicht durch. Das Unbehagen der Bürgerschaft gegen die »Herren« wuchs somit stetig, um sich schließlich i n den Zunftunruhen vo n 171 3 zu entladen. Stadtbürgerliche Protesttradition zwischen altrechtlichem Vertragsdenken und ahistorischer Souveränitätslehre. Den entscheidenden Impuls zum Wiederaufleben de s zunftdemokratischen Gedanken s liefert e wiederu m di e Entwicklun g au f Reichs ebene.10- De r Gegensatz zwische n de m Reic h al s Fürstenbun d un d de r Eid genossenschaft al s Bürger - un d Bauernkorporatio n hatt e sic h nac h de r Ablehnung der Reichsreform zunehmend vertieft. Zwar gingen die Eidgenossen dem offenen Bruc h mit dem Reichsverband weiterhin au s dem Weg und betonten ihr e (allerding s rei n formale ) Reichszugehörigkeit . De r eigentlich e Zweck der Reichseinbindung, die Rechts- und Friedewahrung, war aber für die eidgenössischen Ständ e hinfällig geworden, sie benötigten die Unterstützun g der Reichsgenosse n zu r Friedewahrun g nich t mehr . Diese m Entwicklungs stand gab eine bis weit in das 18. Jahrhundert hineinwirkend e humanistisch e Literatur Ausdruck , di e di e Eidgenossenschaf t al s eigenständige s staatliche s Gebilde darstellte . Z u nenne n sin d di e Werk e Agidiu s Tschudi s un d Josias Simlers, de s erste n »Theoretiker[s ] de r Eidgenossenschaft«. 103 Tschudi s Schweizergeschichte interpretiert e die eidgenössische Verbindung zum Reich als eine freiwillige Unterordnun g der urfreien Helvetie r unte r die kaiserlich e 99 166 8 musst e sic h de r Antiste s Wase r di e Verwarnun g gefalle n lassen , »di e Geistlichkei t langind de r hohen Oberkei t nac h dem Scepter« , zitier t nach : ebd . 100 Welche n Umfan g si e annehmen konnten , zeig t ein Beispie l de r Zunft zu r Saffran , i n de r über 100 Zünfter bestraf t wurden, weil si e auf Kosten eines Zunftmeistcrkandidaten gezech t hat ten, Sieh e ebd. , S . 61. 101 Au s dem Fürtra g von 1696 : Di e Hoffnun g de r Geistlichkeit war , das s die geheim e Wah l »manchem practican t di e Schmirag e un d Spendag e erleide n würde , wei l sein e gemietete n un d erkaufften anhänge r hinder dem umhang thun könnten , was sie wolten un d e r ihrer diensten sic h zu keinem zeithe n versicher n könnte« , zitier t nach : ebd., S. 63. 102 Sieh e zu m folgende n Peyer , Verfassungsgeschichte, S . 76f f 103 SoP . Blickte , Kommunalismus, S . 31.

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Schutzherrschaft, di e aber jederzeit aufkündbar sei. Der Züricher Josias Simler ging bereit s vo n de r faktische n Verselbständigun g de r »Respublic a Helve tiorum« aus , die e r als Produk t eine s geschichtlichen Prozesses , nämlic h de r habsburgischen Bedrohung , auslegte. Hiermit wurde bereits der historisch-staatsrechtliche Bode n für die endgültige Lostrennun g vom Reic h i m Westfälischen Friede n vo n 164 8 bereitet. Es waren gerade jene eidgenössischen Stadtort e wie Basel un d Schaffhausen , di e 1495 noc h nich t vol l zu r Eidgenossenschaf t gehör t hatte n un d deshal b weiterhin al s Reichsstädt e betrachte t wurden , di e de n Trennungsprozes s er folgreich vorantrieben . Nebe n de r überkommene n Berufun g au f die Kaiserprivilegien argumentierte der Basler Bürgermeister Wettstein in den Verhandlungen mi t de m Reic h nu n mi t de r Staatsrechtslehr e Jean Bodins . Danac h gründete die eidgenössische Souveränitä t auf ihrer faktischen Selbständigkeit , die sic h di e Eidgenosse n kraf t eigene r Waffenkraf t erkämpf t hatten . Dies e Verknüpfungeines neue n Argumentationsstranges mit der traditionellen Berufung auf alte Privilegien und Freiheiten entwickelte i n der Folgezeit eine enorme Dynamik im Innern der Eidgenossenschaft . Vor allem i n den Städteorte n nah m di e Bürgerschaf t di e staatstheoretisch e Vorstellung von einer absoluten souveränen Staatsgewalt auf Dies e bildete die Grundvoraussetzung fü r di e Legitimatio n de r bürgerschaftlichen Souveräni tät. Während Bodi n al s Träger der Souveränitätsrecht e jedoch de n absolute n Monarchen legitimiere n wollte, 104 eröffnete di e Frag e nac h dem Inhabe r de r Souveränitätsrechte i n den schweizerische n Städteorte n zwangsläufi g di e gedankliche Perspektiv e de r »Volks«-Souveränität . Hatt e Bodi n mi t de m Kon strukt einer souveränen Staatsgewal t di e staatstheoretisch e Vorbedingun g geschaffen, konnte n nu n di e Vorstellungen Johannes Althusius', 105 wonach di e Souveränität allein beim Volk liege und dieses den Herrsche r lediglich wider ruflich mi t der Regierung beauftrage, in den Protestwellen seit Ausgang des 17. Jahrhunderts zu r Verteidigun g eine r gemeindlich-demokratische n Herr schaftsauffassung herangezoge n werden. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die »169 ler-Bewegung« in der Zunftstadt Basel.106 Aus Opposition gegen die zunehmende Verdrängung der Handwerksmeister aus den Räten und gegen die Allmacht des Kleinen Rat s verlangte die Basler Zunftbürgerschaft i n einem 17 8 Artikel umfassende n Verfassungsent 104 Imboden , vor allem S. 14ff. In der deutschen Stadtgeschichte der Frühen Neuzeit hatte die Souvcränitätslehre mit der Betonung der majestas in der Person des Fürsten gerade den gegenteiligen Effekt: sie entzog dem Stadtbürgertum in der Auseinandersetzung mit dem Landesherren die Möglichkeit, das traditionelle Vertragsargument zu benutzen. Siehe Schilling Städtischer »Republikanismus«?, S. 124. 105 Sieh e ebd., S. 128fY. , sowie P, Blickle, Kommunalismus, S. 31 f., de r Althusius als »Korn munalismustheoretiker« bezeichnet. 106 Zu m folgenden vgl. Isenmam, S. 219-224.

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wurf die Rückkehr zur Zunftdemokratie.107 I m Mittelpunkt der Forderunge n stand die Ausübung der Gesetzgebungsgewalt. In ihrer Begründung griffen die Zünfter auf wirkliche oder vermeintliche alte Freiheitsrechte aus der Reformation zurück, verbanden sie aber darüber hinaus mit der Souveränitätslehre. Das Memorial der Bürgerausschüsse spiegelt deutlich, wie man aus dem Selbstverständnis als Souverän das Gesetzgebungsrecht de r Bürgerschaft ableitete . Das Repräsentativsystem de r Rät e wurd e zwa r anerkannt , d a di e Ausübun g de r höchsten Gewalt aus praktischen Erwägungen nicht ständig von allen Bürgern gemeinsam ausgeübt werden könne; aber andererseits ließen sich in einem republikanisch-demokratischen Staatswese n notaben e nich t di e wichtigste n Entscheidungsrechte delegieren : »D a is t es nicht z u zweifeln , das s wir eine n democraticum un d popularen statu m haben, da die Majestät oder die höchste Gewalt fundamentalite r pene s Universu m Populu m ode r be i de r gesamte n Bürgerschaft stehe t .. . S o bring t e s di e Natu r de s demokratische n un d Popularstands e t praesumt a popul i volunta s vo n sic h selbste n mit , dass , w o Sachen von höchster Importanz vorfielen, da einem jeglichen Bürger insonderheit daran gelegen, als: wenn Bündniss e mit fremden Potentate n und Ständen zu machen, zu Krieg und Frieden zu traktieren, neue Auflagen, Contributione s und Umgeld t anzulegen , i n Religionssache n ein e Änderun g vorzunehmen , und was dergleichen wichtige Sache n mehr, dass hierüber der gesamten Bür gerschaft Will un d Meinung eingeholt, un d ohne dieselbe von dem Magistra t nichts beschlossen werde.« 1“8 Letztlich konnt e di e Bürgerschaf t zwa r ihr e direktdemokratische n Forde rungen nich t durchsetzen , doc h führt e ih r Protes t z u eine r grundlegende n Neuordnung de s politische n Systems , da s be i fortbestehende n Unschärfe n erste Ansätze einer Gewaltenteilung erkennen ließ. Entscheidend war, dass sich das Schwergewicht der Gesetzgebung in den direkt von den Zünftern gewähl ten Große n Ra t verlagerte. 109 Zusätzlic h wurd e ähnlic h wi e i n Züric h ei n Oberstzunftmeister eingesetzt, der die Kontrolle zum Schutz der bürgerlichen Rechte übernahm. Ihm oblag es, »als Vorsteher des Volkes auf die Privilegie n und Freiheiten de r Zünfte un d Bürgerschaft ei n wachendes Auge [zu ] habe n und nicht [zu]zugeben , dass dieselben i m geringsten gekränkt werden.« 110 107 Wi e i n Züric h führt e di e Öffnun g de r 1 5 Handwerkszünft e fü r Angehörig e de r de r Kon Staffel vergleichbare n vie r »Herrenzünfte « z u eine r rasche n Verdrängun g de r Handwerks meister aus den großrätliche n Zunftvorständen . 108 Müller , S . 44f . 109 Nac h de m Verkommni s vo m 23 . Juli 169 1 fiele n all e fü r di e gesamt e Bürgerschaf t rekla mierten Zuständigkeiten a n den Großen Rat , der den Kleine n Ra t umschloss. Allein vom Große n Rat sollte n all e diejenige n Materie n behandel t werden , di e »vo n de r höchste n Unsere s Stande s Importanz un d Wichtigkei t sind , un d welch e da s Gemein e Wesen , un d desse n Wohlfahrt , un d eines jeden verbürgerte n insonderheit , betreffen« , zitier t nach : ebd., S . 46ff . 110 Ebd. , S. 68 .

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1713 entwickelte sich auch in Zürich eine breite, von Handwerkerschaft und freien Berufen, aber auch von Mitgliedern der politisch zurückgesetzten Kon stafTel getragen e Reformbewegung . Äußere r Anlass war die wiederum unter lassene Befragung der Gemeinde zu Beginn des Toggenburger Krieges; hinzu trat die grobe Missachtung der verfassungsrechtlich gesicherte n Zunftgerichtsbarkeit.111 Die Zunftbürgerschaf t besan n sic h daraufhi n au f ih r Versammlungsrech t und demonstrierte in einer Bürgerkundgebung mit rund 600 Anwesenden ihre zahlenmäßige Stärke . Unter Leitun g des Gelehrten Johann Jakob Scheuchze r wurde ein e Zunftdelegatio n bei m Bürgermeiste r vorstellig , mi t de m Ziel , Reformverhandlungen i n Gan g z u setzen . Ein e vo n de n Zünfte n bestellt e Deputiertenkommission wurd e beauftragt, Reformwünsch e de r Zunftgenossen zu sammeln und zusammen mit einer obrigkeitlichen »Ehrenkommission « aus Mitgliedern alle r drei Räte 112 zu verhandeln. Di e Stadtbürgerschaft nah m an der Möglichkeit, Reformwünsche kundzutun, regen Anteil, insbesondere da Anonymität zugesichert wurde.“3 Als Beispiel sei der Brief eines »gantz gemeinen und schlechten jedoch christlich und ehrlich intentionierten burgers« vom 17. September 171 3 erwähnt. Ausführlich belegt e dieser Bürger, wie häufig in den letzte n Jahren gege n di e bestehende n Verfassungsreglement s de r Ge schworenen Briefe verstoßen worden sei. Im Zentrum seiner Kritik standen die »die Herre n Gro ß Räte , [die ] sic h nich t meh r erinnerten , das s sie als Bürger (und nicht als souveräne Herren!) im Rat sässen«. Die Regierungsstellen, Ämter und Vogteien gehörte n nu r noc h einige n Familien , welch e dafü r sorgten , dass niemand anderes in die Regierung gelange. Eine Rückkehr zu den bürgerlichen Rechte n un d Freiheite n se i abe r unumgänglich , d a di e Bürgerschaf t »nicht au s rechtlicher ode r materieller Abhängigkeit , sonder n nu r aus freie m Willen den Entscheiden einer von ihr gesetzten, gerechten Obrigkeit« folge. 1'4 Die Argumentationsführung weis t wi e di e de r Basle r Zünft e ein e bemer kenswerte Vermengung traditioneller und neuer Denkfiguren auf : Die Wiederherstellung de r altbürgerliche n Recht e un d Freiheite n wurd e begründe t mi t 111 Di e wachsende Unzufriedenhei t unte r de n Zunftgenosse n schlu g sic h erstmal s konkre t auf de m Meisterta g de r Zünft e i m Jun i 171 3 nieder . Au f alle n Zünfte n wurd e da s bereit s ei n Jahrhundert vorhe r angemahnt e geheim e Wahlrech t un d allgemein e Vorschlagsrech t fü r di e Zunftmeister eingefordert . Diese s Mal beeilte sich der Große Rat, der Forderung nachzukommen . Doch ein e endgültig e Beruhigun g tra t nich t ein , nich t zuletz t wei l i n Perso n de s Obmann s Bodmer, einem der neun höchste n Verwaltungsbcamten, di e Tätigkeit der Räte, vor allem aber die Bestechungsaffaren de s Bürgermeisters Holzhalb, im Großen Ra t offiziell schar f kritisiert wurden . Siehe di e ausführliche Schilderun g be i Saxer , S . 19ff . 112 Z u de r Regierungskommissio n gehörte n sämtlich e Mitgliede r de s Geheime n Rats , fün f Kleinräte sowi e fün f Großräte. Ein e Auflistung finde t sic h ebd. , S . 47. 113 Dies e umsichtig e Schutzmaßnahm e verhinder t allerding s umgekehr t Einblick e i n di e sozio-ökonomische Struktu r der Opponenten . 114 Zitier t nach : Saxer , S . 44 .

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der Souveränitätslehre. Diese r Tenor beherrschte die gesamte Beweisführun g der aufständischen Bürgerschaft. Als Scheuchzer in den Verhandlungen mit der Regierungskommission di e direkte Mitwirkun g de r Bürgerschaf t a n der Gesetzgebung115 forderte , argumentierte er mit der gemeindlichen Souveränität . Diese lasse sich zum einen historisch un d rechtspositivistisch i n den Gemeinderechten de r frühere n Geschworene n Brief e sowi e de r dor t gängige n Beschlussformel »wir , der rat und ganze gemeinde« nachweisen. Zum zweiten beruhten »di e Recht e der Gemeinde i n den allgemeinen Natur - un d Völker rechten, welch e ursprünglic h de m Vol k di e oberst e Gewal t zuschreiben«. 116 Letzten Endes konnten die Memoralisten aber ihre rechtshistorisch und naturrechtlich begründete n Forderunge n i m sogenannten Libel l vo n 171 3 nur bedingt durchsetzen. Zugestanden wurde die Befragung der Gemeinde bei Entscheiden übe r Krie g un d Frieden , neue n Bündnisse n sowi e al s Novu m be i Verfassungsreformen, ein e Beteiligun g a n de r Gesetzgebun g schie d dagege n aus. Wie di e zweifache , altrechtlich e un d naturrechtlich e Argumentatio n de r Zunftbürgerschaft auc h gegen si e gerichtet werden konnte , zeigte sich in der Gegenwehr der Kaufleute un d anderer führender Geschlechter , deren Zahl in den Räten die Zunftbürgerschaft au f ein Fixu m zu beschränken wünschte. In einem eigene n Memoria l wandte n sic h di e Kaufleut e erfolgreic h gege n jede Begrenzung, indem sie sowohl auf ihre rechtlich verbürgte Freiheit der Zunftwahl als auch auf ihre Rechtsgleichheit al s ordentliche Bürger hinwiesen. 117 In ähnlicher Weise reagierten die Ratsmitglieder auf die Forderung, die Anzahl der Vertreter eine s Geschlecht s i m Regimen t festzulegen . Ausgangspunk t ihre r Argumentation war das freiheitliche Wesen einer Republik, das man aus einer wiederum zweifachen - traditionelle n wie modernen - Begründun g ableitete. Das Grundgesetz einer Republik müss e auf der Freiheit beruhen, daher sei es bedauerlich, wenn »unter dem Vorwand der bürgerlichen Theilsame« versucht werde, »einen gute n Tei l ehrlicher , tugendhafte r un d wohlverdiente r Bürge r dieser althergebrachten Freiheit des unbeschränkten Zutritts in das Regiment« zu berauben. Die Synthese der Argumentationsstränge gipfelt e i n der Formu115 Di e höchste Gewalt sollte bei dem Bürgermeister , den Räte n un d de r ganzen Gemeinde stehen, »welche m ganze n lei b dann zustehe t das rech t krieg , frieden , bündniss e un d gesetz e z u machen un d die regimentsform abzuändern«. Ursprünglich waren die Partizipationsforderungen von Teile n de r Bürgerschaf t noc h wei t übe r diese n Stan d hinausgegangen . Di e gesamt e Zoll- , Steuer- un d Bürgerrechtspoliti k sollte danach ebenfalls der Bürgergemeinde mitunterstellt werden. Auch die Volkswahl des Bürgermeister s und der Großräte wurde i m Vorfeld gefordert, von den Zunftdeputierten aber fallengelassen. 116 Saxer , S. 58. 117 Auc h die Ehrenkommission nahm gegen die Beschränkung Stellung. Es blieb zuletzt nur bei der Bestimmung, bei Eintritt in den Kleine n Ra t seine Geschäfte - unte r Wahrung eines Aufsichtsrechts - ruhe n z u lassen . Folgt ma n allerding s dem Memoria l der Kaufleute , schein t diese Bestimmung als ruinös empfunden worden zu sein. Ebd., S. 61 f.

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lierung, es sei auch gegen das Völkerrecht, wenn man durch »eine neue Satzung einen bürger, der mit anderen gleich frei geboren und dessen Voreltern geholfen haben , di e Freihei t z u erstreiten , verpflichte n will , sein e ererbt e Freihei t abzuschwören«.118 Durchgesetz t werde n konnt e nu r di e Festlegun g de s Mindestalters vo n 3 0 bzw . 3 6 Jahren fü r di e Regimentsfähigkeit . D a abe r bislang das Durchschnittsalter der Kleinräte bei 45 Jahren, das der Großräte bei 38 Jahren gelege n hatte , war de r Erfol g diese r Bestimmun g fü r di e Zunft bürgerschaft minimal . Auch die Vorstellung mit Hilfe einer Vigilanzkommission au s Bürgerschaf t und Behörde n direk t a n de r Kontroll e de r Ratsmitgliede r un d Staatsbeamt e sowie der Einhaltung der Gesetzesvorschriften mitzuwirken , konnte sich nicht durchsetzen. Insgesamt war das Ergebnis der Zunftunruhen, gemessen an den hochgesteckten Erwartungen , enttäuschend . A m 4 . Dezembe r 171 3 verabschiedete der Große Rat handstreichartig den Entwurf der Ehrenkommission, der ohne Mitwirkung der bürgerlichen Deputierte n zustande gekommen war. Dieses Libell wurde dem Geschworenen Brief beigefügt und blieb bis zur Helvetischen Revolutio n z u End e des Jahrhunderts unveränder t bestehen . Den noch, das Libell von 1713 beweist, dass in den Reihen der breiten Handwerkerschaft da s Bewusstsein gemeindebürgerliche r Autonomi e lebendi g gebliebe n war. Un d i m konkrete n Ergebni s hatt e die Bürgerschaft , i m Unterschie d z u den oberdeutschen Reichsstädten , abe r auch einigen eidgenössische n Kanto nen wie Bern, ihre direktdemokratische Beteiligun g bis in das 18. Jahrhundert retten können. Wie is t somi t de r Stan d de r städtische n Gemeindeautonomi e Zürich s a m Vorabend der Französischen Revolutio n z u bewerten? Ergib t sich aus der Vitalität de r gemeindlich-genossenschaftliche n Partizipations - un d Freiheits traditionen eine Anschlussfähigkeit a n die Moderne ? Der Sie g de r Zunftbewegun g vo n 133 6 hatt e ohn e Frag e revolutionäre n Charakter, inde m de r patrizische n Herrschaftsauffassun g ein e repräsentativ gebundene entgegensetzt un d der einfache Handwerke r zu r Regimentsfahig keit erhoben wurden. Dennoch verhinderte er auf Dauer kaum eine mehr einseitige, obrigkeitliche Ausrichtung der Stadtverfassung. Di e Hauptursache la g in der freien Zunftwahl fü r alle nichtzünftigen Tätigkeiten . Der Aufstieg einer neureichen Oberschich t au s Rentiers und Kaufleute n sei t Mitte de s 16. Jahrhunderts, die das Erfordernis der Abkömmlichkeit zu erfüllen vermochten und rasch die Zünfte dominierten, machten plutokratisch-oligarchische Tendenzen fast unvermeidbar. Di e Machtkonzentration wurde außerdem durch die insti tutionelle Verfasstheit des politischen Systems begünstigt. Trotz erster Ansätze einer Kompetenzausscheidun g zwische n Große m un d Kleine m Ra t 1489/9 8 118 Ebd. , S . 63.

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wahrte di e Ratsgewal t insgesam t ein e eindrucksvoll e Geschlossenheit . Ohn e gewaltenteilige Hemmniss e vereinigte sie legislative, judikative und exekutive Befugnisse. Der Ausbau der Staatsmacht im Gefolge der territorialhoheitlichen Politik und der Reformation tate n ein übriges. Ratskommissionen un d verste tigte Großratsämter wurden aus der eigenen Mitte geschaffen un d auf Lebenszeit vergeben, die Ausformung des Geheimen Rats brachte eine weitere Herr schaftskonzentration durc h fachliches Dienstwissen . Zu dieser Gewaltenfüll e trat die oberste Gerichtsbarkeit de r Kleinrät e hinzu , di e den Kleine n Ra t mi t unabhängiger Strafgewalt ausstattete . Auf der anderen Seite gab es aber verfassungsrechtlich verankerte Schranken möglicher Ratswillkür . Daz u gehörten das Kollegialitätsprinzip un d die Doppelbesetzung der Räte und Ämter, auch des Bürgermeisteramts, die der halbjährlichen Rotatio n unterlagen . Karenzzeite n fü r di e Wiederwahl, Verwandt schaftsverbote, Ausstandsregelungen un d nicht zuletzt die Pflicht, bestimmt e Fragen der Bürgerschaft selbst vorzulegen, verfolgten die gleiche Stoßrichtung. Wichtiger wa r aber , das s di e Kernbeständ e stadtbürgerliche r Ordnungsvor stellungen119 ungeachtet der oligarchischen Strukture n weiterbestanden. Dazu zählte zum einen die Rechtssicherheit de r Bürger. Diese Aufgabe, die rechtliche Gleichbehandlun g jeden Bürger s z u schütze n un d Verstöß e z u ahnden , oblag den Obristzunftmeistern, späte r Statthalter genannt, die damit als kontrollierendes Gegengewicht zum Rat wirkten. Als Revisionsgericht urteilten sie über Revisionsgesuch e un d konnte n gegebenenfall s ei n Verfahre n wiederer öffnen. Einen mehr informellen, aber dennoch institutionalisierten Weg boten die geistlichen Fürträge , die den Rat auf Gesuch von Bürgern zwingen konn ten, Rechenschaft übe r sein Verhalten abzulegen . Weiterhin gehört e zu m Kernbestan d de r bürgerliche n Ordnungsvorstel lungen die genossenschaftliche Partizipatio n der Bürger am Regiment. Hierzu zählte an erster Stelle die Ansicht, dass alle Angelegenheiten, die jeden Bürge r unmittelbar berührten, von der Gemeinde zu entscheiden und nach ihrer Maßgabe von den Räten abzuwickeln seien. Diese direktdemokratische Partizipati on konnte sic h die Züricher Bürgerschaf t bi s 179 8 bewahren. Obrigkeitlich e Versuche, die Gemeindeanfragen z u umgehen, wurden wie 1713 mit Unruhen oder Aufständen beantwortet . I n eindrucksvollen Bürgerversammlunge n vo r dem Großmünster oder dem Lindenhof demonstrierte si e den »gemeindlich genossenschaftlichen Urzustand«, 120 i n de m die politische Gewal t wieder be i der Gemeinde lag . Der genossenschaftliche »Urzustand « wurd e ers t dadurch beendet, dass die Bürgergemeinde die ordentliche Ratsgewalt auf einer erneuerten Legitimationsbasi s restituierte . Danebe n wa r de r gemeindlich e Mit bestimmungsanspruch institutionel l durch die zünftige Direktwahl der Zunft119 Sieh e daz u Schilling , Städtische r »Rcpublikanismus«? , S . 103ff . 120 Ebd. , S . 110f.

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meister verankert. Di e allgemeine bürgerlich e Regimentsfähigkei t bo t außerdem durchgängi g auc h Teile n de r gemeine n Bürgerschaf t Aufstiegsmöglich keiten. Eine gänzliche Abschließungder Ratselit e gegen Neuaufsteiger gelan g selbst mit zunehmender Oligarchisierung nie. Überhaupt zeigte sich insgesamt eine relativ breite Repräsentation der Zunftbürgerschaft i n den Räten. Infolge der zahlenmäßig kleine n Bürgerschaf t nah m in der Zeit von 1637-179 0 jeder sechste bi s acht e Bürge r eine n Sit z i m Regimen t ein. 121 Übe r di e Ratszu gehörigkeit und den Besitz eines Ratsamts hinaus konnte ein weiterer Kreis von Bürgern kleinere , ausdrücklic h de r gemeine n Bürgerschaf t vorbehalten e Dienstämter122 al s Nebentätigkeit ode r Zuerwerb erlange n un d war auf diese Weise in subalterner Stellung mit dem Stadtregiment verbunden. Wenn auch die städtischen Ordnungsdienste un d der Schwall a n Mandaten eine obrigkeitlich e Omnipräsen z suggerierte , bleib t doc h z u fragen , o b die Obrigkeit wirklich übe r ein solches Ausmaß an Autorität verfügte, oder ob sie nicht vielmehr erheblic h auf die Bereitschaft ihre r Bürger, sie zu akzeptieren, angewiesen war . Tatsächlic h ware n de m obrigkeitliche n Durchsetzungsver mögen Grenzen gesetzt. Entsprechend war der Herrschaftsstil i n Zürich nicht durch einen harschen, selbstherrlichen un d arbiträren To n geprägt. Entschei dend blieb: Wer eine Rats- und Ämterkarriere anstrebte, musste die Zunft al s Sprungbrett benutzen und stand als Zunftmeister i n direkter, als Großrat oder Ratsherr in indirekter Abhängigkeit von den zünftigen Wahlgremien. Dies bedingte, das s auf die Interesse n un d da s Standesbewusstsei n de r bürgerliche n Handwerker, obwoh l ihr e direkt e Vertretun g i m Kleine n Ra t bi s 179 0 stetig sank, Rücksicht zu nehmen war. Doch die politisch-institutionelle Rückbindun g de r Rät e an die Zunftbür gerschaft allei n erklärt das Fehlen eines absolutistisch-arbiträren Herrschafts stils nicht . Ebens o wichtig is t di e mentalitätsgeschichtlich e Prägung , di e i m engen Zusammenhang mi t der eidgenössischen Loslösun g vom Reic h stand . Der von de n eidgenössische n Stände n postuliert e Unabhängigkeitsanspruc h gegenüber dem Reich, der 1495 zur Ablehnung der Reichsrefom führte, drückte auch ei n spezifische s Rechtsbewusstsei n un d politische s Denke n de r ein zelnen Länder - und Städteort e aus . Die Andersartigkeit ihre r Politikordnun g wurde positiv von der Welt des Adels und der Fürsten abgehoben. Dieses antifeudale gemeindlich-genossenschaftlich e Sonderbewusstsei n formt e da s Verhältnis zwischen Rat und Bürgerschaft Zürich s weit über die Tatsache hinaus, dass sie eine stark bürgerlich-handwerklich geprägte Zunftstadt war. Es erklärt, warum selbs t di e neu e Oberschich t de r wohlhabende n Unternehme r un d Rentiers im Laufe des 17. Jahrhunderts auf eine Nobilitierung verzichtete. Jene 121 Isenmann , S . 215. 122 I m Jahr 1723 gab es bereits 15 9 Staatsstellen, vor allem Wach- und Ordnungskräfte, di e als bürgerliche Dienst e bezeichne t wurden . Sieh e Schnyder , S . 8f .

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Reste de s züricherische n Junkertum s wurde n i n ihre m politische n Einflus s immer meh r zurückgedrängt ; ihr e Ratsvertretun g war ohnehin au f drei Sitz e beschränkt worden, gewohnheitsrechtlic h gal t zudem , dass kein Junker zu m Bürgermeister gewählt werden durfte. Der Junker Ludwig Meyer von Knonau berichtete in seinen »Lebenserinnerungen« von dieser Zurücksetzung: «Es sind Spuren vorhanden , das s tüchtig e Männer , di e unte r de n Junkern gefunde n wurden, nicht zu höhern Stellen emporsteigen konnten ... Solche Stimmungen mildern sic h in Republiken lang e nicht«. Gleichzeitig verwies er auf das hohe Ansehen und bürgerliche Selbstbewusstsein de r zünftigen Handwerker : «Der Bäcker, von dem mein e Eltern das Brod kauften, war ... ein sehr angesehener Zunftmeister, un d man näherte sich ihm in ehrerbietiger Haltung.« 123 Mit de r bewusste n Distanzierun g vo n de r kaiserliche n Reichshohei t ver stärkten sic h demnac h gemeindlich-genossenschaftlich e Deutungs - un d Handlungsmuster, di e sich mit einem absolutistisch-autoritären Herrschafts stil nicht vereinbaren ließen. Dieses (gemeinde)-bürgerliche Standesbewusst sein konnt e sic h u m s o mehr entfalten , al s mit de r Lösun g aus dem Reichs verband auch der kaiserliche Delegationszusammenhang der Räte aufgehobe n wurde. Kaiserlich e Interventione n wi e i n de n Reichs - un d landesherrliche n Territorialstädten, die letztlich immer den rechtlichen Status des Magistrats als Obrigkeit befestigten, entfielen. 124 Dami t war das züricherische Regiment ganz unmittelbar au f die Herrschaftsakzeptanz durc h di e Stadtbürger angewiesen . Diese Legitimationsbasis erfuhr infolge des endgültigen Ausscheidens der Eidgenossenschaft aus dem Reich 1648 eine fundamentale Aufwertung. Di e Überwindung der positivrechtlichen Vertragslehre mit dem Ziel, die eidgenössische Souveränität z u rechtfertigen , wirkt e i m Innere n de r Schwei z nach . I n de n Zunftunruhen sei t Ausgang des 17 . Jahrhunderts spiegelt e sic h ein Gemisc h überkommener und neuer Rechtsgrundsätze, in dem sich naturrechtliche und genossenschaftliche Politiktheorie n de s Stadtbürgertum s verbanden . Dies e Amalgamierung gemeindlich-genossenschaftliche r Denktraditione n mi t de n neuen Ideen deuten den Weg an, auf dem sich das politische Denken des Stadtbürgertums hi n z u neuzeitliche n Republikanismusforme n transformierte . Diese Entwicklun g is t abe r de m Züricherische n Stadtbürgertu m i m Unter schied zum deutschen nu r möglich gewesen , weil di e Eidgenossenschaft vo n der Formierung des Reichssystems seit dem Spätmittelalter nicht mehr erfasst wurde.125

123 Meye r von Knonau, S.41f. 124 Isenmann , S. 259. 125 Sieh e Schilling, Städtische r »Republikanismus«? , S . 140 , S. 142 .

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1.3. Da s Spannungsverhältnis zwische n städtische m Herrschaftsanspruch un d ländlicher Freiheitstraditio n Bisher wurde die kommunale Binnenstruktu r de r städtischen un d ländliche n Gemeinde i m Stadtstaa t Züric h dargelegt . Beide n war - s o zeigte sic h - ein e lebendige Autonomietradition eigen . Dies e Gemeinsamkeit verkehr t sic h jedoch in dem Momen t i n ihr Gegenteil, wenn ma n das Herrschaftsverhältni s von obrigkeitlicher Stadt und untertäniger Landschaft ins Auge fasst. Ländliche Gemeindeautonomie konstituiert e sic h i n diese r kommunale n »Außenper spektive« ers t au s de m Gegensat z zu r städtische n Herrschaft . Diese r latent e Konflikt entwickelte ein zusätzliches Krisenpotential, je stärker die Tendenzen der landeshoheitlichen Durchdringun g seit dem 15 . Jahrhundert wurden. Die lange Zeit vorherrschende Sich t der deutschen Geschichtsforschung , das s innerhalb dieses Prozesse s die bäuerlich-ländliche Gemeind e völlig unterlege n und de r Baue r zu m »geschichtslosen« 126 Wesen degradier t worde n sei , is t in zwischen überholt. Neuere Forschungen betonen dagegen, im Kern gehe es bei dem territorialstaatlichen »Verdichtungsprozess « u m die Aufteilung vo n Frei räumen zwische n Gemeind e un d Herrschaft. 127 Di e Sich t eine r pauschale n politischen Entmündigung der Gemeinden wird demnach abgelehn t zugunsten von Aushandlungsprozessen, wobe i allerding s di e Tendenze n zu r obrig keitlich »beauftragten Selbstverwaltung« 128 eindeutig waren. Wie stellt e sic h da s Verhältnis von Herrschaf t un d Gemeind e au f der Zü richer Landschaf t dar , einem Gebiet, das über einen Autonomiegrad verfügte , der i m oberdeutschen Rau m sons t nur i n siedlungsübergreifenden Kommu nalverbänden wie etwa unabhängigen Talschaften zu finden war? Lässt sich der allgemeine Trend zur Marginalisierung de r ländlich-bäuerlichen Gemeind e wie e r als unvermeidliches Produk t der landeshoheitliche n Zentralisierungs und Vereinheitlichungsbestrebungen auch in der differenzierten Sich t der heutigen Kommunal- und Absolutismusforschung weiterhin gilt 129- auch hier bis zum Begin n de s 18 . Jahrhunderts feststellen ? I m folgende n wir d nac h de n Ursachen diese r kommunale n Unabhängigkeit , ihre r Rückwirkun g au f da s Verhältnis von Gemeinde und Obrigkeit sowie nach den Herrschaftsstrategie n gefragt, di e letzter e entwickel n musst e angesicht s eine s ländliche n Autono miestrebens, das sich gerade auc h i n einer'vitalen Kultu r politischen Protest s Ausdruck verschaffte . In seiner Untersuchun g zur Züricher Gemeindeentwicklung vo n 189 2 hat Friedrich von Wyß einen wichtigen Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Fra126 Sieh e den Forschungsüberblick be i Wunder, S. 141-152 , hier S. 152. 127 Vg l Press , S. 451. 128 Wiese-Schorn , S. 57f.; Vogler , S. 57. 129 Sieh e Wunder, S. 112.

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gen geliefert. Er kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass während des Zeitraums vom 16. bis zum Ende des 1 S.Jahrhunderts die kommunale Selbständigkeit durch den hoheitlichen Verwaltungsappara t nich t beeinträchtigt worden , sondern i m Gegenteil, der Kompetenzbereich der Kommunen stetig gewachsen sei: »Es liegt hierin eine wichtige Verschiedenheit des Ganges, den die Entwicklung de r Schweiz i m Gegensatz gegen diejenige fas t aller andern Staate n nahm. Sie ist eine natürliche Folg e des republikanischen Charakter s des Ganzen, der auch für die Landschaft keineswegs, wie man so oft glaubt, unwirksam war.«130 Von Wyß führt als o die im europäischen Kontex t betont gegenläufige Ent wicklung eine r stärkeren »Kommunalisierung« i m Territorialisierungsprozes s der Schweizer Kantone auf ihren »republikanischen Charakter « zurück. Einen solchen sieh t vo n Wy ß i n erste r Lini e i n de r kommunal-dezentralistische n Staatsform de s Züriche r Stadtstaat s begründet . Nebe n diese r strukturalisti schen Lesar t bietet sich aber eine weitere an : den eigentümlich freiheitliche n Wesenszug von Stadt und Landschaft als eine spezifische Gesinnung , eine »republikanische Praxis « aufzufassen . Beid e Aspekt e - de r strukturell e wi e de r mentalitätsspezifische - solle n fü r die Untersuchung de s Herrschaftsverhält nisses von Stadt(staat) und Landschaft i n Zürich bis zur Helvetik 179 8 herangezogen werden. Die strukturellen Entwicklungsbedingunge n de s Züricher Territorialstaats . De r Ur sprung der sehr weitgehenden Gemeindeautonomi e au f der Züricher Land schaft ist in der historischen Entwicklun g des Züricher Untertanengebiets zu suchen. Nachde m di e Schweize r Ort e i m O.Jahrhunder t di e Reichsfreihei t und damit auch das Recht, eigene Territorien aufzubauen, erlang t hatten, begann die prosperierende Stad t auf das Land auszugreifen. Bereit s im H.Jahr hundert besa ß di e Stad t Züric h ein e gewiss e Herrschaftsgewal t übe r ein e Anzahl vo n Dorfgemeinde n de r Landschaft . Allerding s stande n di e direkte n Herrschaftsrechte einzelne n Stadtzüriche r Bürger n z u un d nich t de r Stad t selbst. Die territoriale Ausdehnung des Züricher Herrschaftsbereichs beruht e dabei weniger au f militärischer, den n au f finanzieller Eroberung . Mi t ihre m wirtschaftlichen Potentia l erwarben die Kommune oder einzelne ihrer Bürger Pfandbriefe der österreichischen Herzöge, die nie ausgelöst wurden, oder kauften die Güter des verschuldeten Landadel s der Umgebung auf. Vieles spricht für das prägnante Urteil von Martin Körner : »Am Anfang beinahe jeden territorialen Zuwachses stand ein e Finanzaffäre.« 131 I n knapp hundert Jahren, bi s 1496, war da s gesamte heutig e Gebie t de r züricherische n Landschaf t a n di e Stadt übergegangen. Auf diese Weise entstand das nördlich der Alpen einzigar130 Vgl . von Wyß, Abhandlungen, S. 91. 131 Körner , S. 392.

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tige Phänomen eigentlicher Stadtstaaten , besonders ausgeprägt in Zürich und Bern. Züric h tra t vo n nu n a n i n alle n eidgenössische n Angelegenheite n al s »Stadt und Landschaft« au f Allerdings gingen di e Vogtei- und Grundrecht e de r Landschaf t keinesweg s geschlossen auf die Stadt über.132 Die Landschaft bot deshalb nach ihrem Übergang a n Züric h kei n einheitliche s Bil d i n de m Sinne , das s sich di e gesamt e Landbevölkerung den hoheitlichen Weisungen der städtischen Regierung hätte fügen müssen. Vielmehr zeigten die Herrschaftsrechte de r Stadt über die einzelnen Teile der Landschaft seh r verschiedene Gestalt , und es bestand imme r noch häufig ein Unterschied von Dorf zu Dorf Gewiss e herrschaftliche Rech te eines Dorfe s konnte n - trot z Übergang s andere r a n die Stadt - be i ihre m alten Inhaber geblieben sein; so vor allem die grundherrlichen Rechte. Das kam dann besonders häufig vor, wenn Vogtei- und Grundherrschaft einer Gemeinde i n verschiedene n Hände n gelege n hatten . Da s Strebe n de r Stad t gin g zunächst dahin , ihr e öffentlich-rechtlich e Landesgewal t auszuweiten , d . h . möglichst viele Vogtcirechte zu vereinnahmen. Bis zum Ende des 1 S.Jahrhunderts gelan g e s ihr , di e höchst e Herrschaftsbefugnis , di e hoh e Vogteigewalt , über di e gesamt e Landschaf t z u erlangen . Danebe n wa r die Stad t abe r auc h Inhaberin zahlreiche r niedere r Vogteirechte geworden. Selten verfügte si e dagegen über die grundherrlichen Rechte, denn diese standen vorab den Klöstern zu, welche nicht wie der Adel durch finanzielle Nöt e gezwungen waren, ihre Rechte über die Landbevölkerung zu veräußern. Mit der Reformation ginge n indes auch viele der geistlichen Grundherrschaften a n die Stadt über, eine nach der andern wurde säkularisiert. Dazu kam, dass nicht alle Bewohner der Landschaft die gleiche rechtliche Stellung einnahmen. Je nach dem Grad der Frei heit der Bauern veränderte sich für diese die Bedeutung der eingangs betrachteten Gerichte , wi e etw a fü r di e freie n Bauern , di e keine r grundherrliche n Gerichtsbarkeit unterstanden. 133 Jede Gemeinde entwickelt e ihr e eigene Stel lung und ihr eigenes Verhältnis gegenüber der Stadt. Von entscheidende r Bedeutun g war , das s di e Stad t ihr e einzelne n Herr schaftsgebiete unte r Respektierun g ihre r lokale n Recht e un d Gebräuch e erworben hatte, wodurch das ländliche Gewohnheitsrecht, wie es in den Dorfverfassungen niedergeleg t war, weitgehend erhalte n blieb. Trotz gewisser Ver132 E s gab Dörfer, die einem oder mehreren Grundherren gehörten. Dazu stande n sie noch unter de r hohe n Vogtei eine s Grafen ode r Herzog s und unte r der niedere n Vogtei eine s dritten Herrn, etw a eine s Stadtbürger s oder eines Angehörigen des niederen Landadels . Andere Dörfe r hingegen stande n nu r z u eine m Tei l i m Eigentu m eine s Grundherrn ; die Dorfleut e de s nicht grundherrlichen Teil s bebaute n eigene n Grun d un d Boden . Dies e frei e Bevölkerun g hatte nu r Vogteigewalten übe r sich . Da s Ma ß der Freiheit , das die Vögte ihre n Untertane n gewährte, war sehr verschieden, und demzufolge zeigten sich starke Ungleichheiten in der rechtlichen Stellung der Vogtleute. Hohe und niedere Vogteibefugnisse und grundherrliche Gewalten standen zudem, wie bereit s gesagt, im gesamten Kantonsgebiet den verschiedensten Inhabern zu. 133 Sieh e dazu Steinemann, S. 71.

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suche insbesondere im Bereich des grundherrlichen Gerichtswesens , über die Einführung vo n Amts- und Herrschaftsrechte n eine n verbindliche n Rechts kodex z u schaffen, ' blieben di e Gemeindeverfassunge n un d di e alte n Dorf gerichte in einem bestimmten Umfan g bis zur Helvetik maßgeblich. 134 Dies e grundsätzliche Akzeptanz kommunaler Rechtstraditionen spiegelt sich auch in dem autobiographische n Berich t de s Landvogt s Escher : »Kan n ei n Landvog t auf Kyburg sich selbst vor vielen Geschäften un d den Unterthanen vor viel .. . Erbitterung sein, wann er die Gemeinden bei ihren Rechten souteniert, dass er fuer die Erkanntnisse, oder per majora gemachten Ordnungen der Gemeinden in solchen Sachen, über die sie zu disponieren haben, nit leicht jemand, der sich klagt, Gehö r giebt .. . Man kan n vernünftig präsupponieren , di e Vorgesetzte n und eine ganze Gemeinde werden Nieman d Unrech t thun.« 135 Ein Grund für die Anerkennung der ländlichen Freiräume war sicherlich die damals geltende Rechtsauffassun g eine r positivrechtlichen Interpretatio n de s Herrschaftsvertrags. Diese s Phänomen schuf eine besondere historische Ausgangskonstellation, im Unterschied etwa zu dem benachbarten Bern, das seine Untertanengebiete militärisc h erobert e und entsprechend mi t dem Rech t des Siegers regierte.136 Dieser Rechtspositivismus war zudem in ganz eigentümlicher Weise mit einem emphatisch aufgeladenen Freiheitsbegriff verknüpft: Die Idee der Freiheit meinte in erster Linie die Autonomie des Gemeinwesens. Aufgrund ihrer eigenen Entstehungsgeschichte und ihres kontinuierlichen Kampf s um die Unabhängigkeit vo m Reich bildete deshalb die Selbständigkeit de s Gemeinwesen s einen zentralen Bezugspunk t i m städtischen Wertesystem, das in die Respek tierung ländlich-kommunaler Freiheitstraditione n hineinwirkte . Greifbarer ist jedoch ein anderer Umstand: die offensichtliche Schwäch e des städtischen Regiments , da s nicht übe r di e Instrumentarie n eine r obrigkeitli chen Politi k verfügte, wi e e s in den absolutistische n Nachbarländer n üblic h war: ein Berufsbeamtentum un d ein stehendes Heer. Schon bei der Untersu chung de r innerstädtische n Administratio n fiel di e enorm e Bedeutun g de s Kommissionswesens auf, obwohl seit dem 16 . Jahrhundert ein eigener Magistratenstand innerhal b des städtischen Bürgertum s heranwuchs . I m Vergleich damit war die-obrigkeitliche Präsenz auf der Landschaft in Gestalt der fünfzeh n Land- oder Obervögte noch geringer; allein schon deshalb, weil die Obervögte, denen di e innere n Vogteie n unterstanden , dere n Verwaltun g vo n de r städti 134 Ebd. , S. 131-138 . 135 J. K . Escher , Bd . V, S.391. 136 I n diesem Sin n beurteilt Erwin Buche r die bernische Politik , »welch e di e Eigenrechte de r Untertanen theoretisc h schonte , praktisc h jedoch entwede r absolu t kontrolliert e ode r dan n abe r untergrub«. Di e neugebildete n sogenannte n Burgergemeinde n wurde n »i n strengste r Abhängig keit vo n de r Staatsverwaltung « gehalten . Sieh e E . Bucher , Landvogteien , S . 116 , S . 183f. , sowi e Beispieles. 81 , S. 97ff .

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sehen Kanzle i au s betrieben un d nich t i n ihre m Verwaltungsgebiet wohnten . Nur an Gerichtstagen oder zur Rechnungsabnahme reisten sie in ihren Bezirk. Die Landvogteien wurden dagegen von residenzpflichtigen Amtsleute n und ihren Kanzleien verwaltet, doch gerade die Grafschaft Kybur g etwa war viel zu groß un d unwegsam , al s dass die Untertane n ihre n Vog t häufig, wen n den n überhaupt zu Gesicht bekommen hätten.137 Zudem wurde die Kompetenz des Landvogts in mehrfacher Hinsicht wirkungsvoll beschnitten: Einerseits behielt sich di e Obrigkei t mi t ihre n Direktive n un d Kontrollrechte n stet s di e letzt instanzliche Entscheidungsgewal t vor . Entsprechen d bürgert e sic h vo r alle m im 18 . Jahrhundert imme r meh r ein , das s die Gemeindebehörde n übe r den Kopf des Landvogtes hinwe g direkte n Kontak t mit de m Kleine n Ra t aufnah men. Aus Opportunitätsgründen konnt e es dabei durchaus vorkommen, dass die Regierun g nich t ihre m Exekutivbeamten , sonder n de r Gemeind e Rech t gab: »In der Tat ist es erstaunlich, i n welch hohe m Maß e sic h die Landschaf t gegenüber ihre n Ober- und Landvögten i n Streitfällen durchsetze n kan n und wie sehr der direkte Zugang zum Städtischen Regiment, d. h. zum Kleinen Rat und seinen Kommissionen, den Weg ebnet.«138 Andererseits sah sich der Landvogt aufgrund de r lokalen Rechtsvielfal t mi t der Notwendigkeit konfrontiert , au f Sonderrechte der Gemeinden un d Herr schaften sowi e au f die lokal e Selbstverwaltungspraxi s un d di e kommunale n Autonomiebestrebungen Rücksich t z u nehmen , u m Ruh e un d Ordnun g z u garantieren, d a die Gemeinde n hartnäcki g au f die ihne n verbriefte n Sonder freiheiten pochten . Schließlic h bedingt e auc h de r notwendig e Rückgrif f au f ländliche Gemeindebeamt e ein e Politi k de r Kooperation , sollt e ein e gewiss e Verwaltungseffizienz erreich t werden, denn diese Konstellation brachte bereits eine delikat e Gemengelag e seh r unterschiedliche r Interesse n resp . soziale r Umfelder mi t sich. 139 Aber nicht nur der bürokratische Apparat fehlte, sondern auch der militärische, um den Herrschaftsanspruch gegebenenfall s auc h repressiv durchzuset zen. Anders als in den absolutistischen Nachbarländer n der Schweiz gelang es selbst den finanzkräftigen Stadtstaaten nicht, gegen den Willen ihrer ländlichen Untertanen ei n stehende s Hee r einzurichten . Vo r diese m Hintergrun d er scheint auc h di e obrigkeitlich e Mandatsflu t al s nu r begrenz t - personel l wi e materiell - durchsetzbar. 140

137 Braun , Das ausgehende Ancien Régime, S. 239; Sommer. 138 Ebd. , S. 244. 139 Übe r die Vorteile dieser zwischen Obrigkeit und Gemeinde angesiedelten Untervögte für die Durchsetzung kommunaler Anliegen wurde bereits ausführlich i n Kapitel 1.1 . gesprochen. 140 Rudol f Braun hat in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der innerstädtischen Denunziation hingewiesen, mi t deren Hilf e die fehlenden Überwachungs - und Kontrollorgan e ersetzt werden konnten. Braun, Das ausgehende Ancien Regime , S. 238.

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Darüber hinaus brachte aber gerade die erzwungene Beibehaltung der Milizarmee de n entscheidene n qualitative n Unterschie d i m Herrschaftsverhältni s von Stad t un d Landschaft , den n di e militärisch e Verteidigun g de s Züriche r Staatswesens fußt e au f der Wehrkraft un d dem Wehrwillen seine r ländliche n Untertanen. Unter diesem Vorzeichen war es ratsam, auf die soziokulturelle n Eigenarten un d politischen Besonderheite n der Landschaft Rücksich t zu nehmen und ein zurückhaltendes, ja mildes Verhalten an den Tag zu legen. Doch reichen solch e funktionale n Erwägunge n de r Staatsräso n nich t aus , u m de n moderaten Herrschaftsstil de r Züricher Obrigkeit zu erklären. Die Pflicht, das eigene Gemeinwesen wenn nöti g mit »Gut und Blut« zu verteidigen, gehört e traditionell z u de n zentrale n Bestandteile n de s freiheitlich-republikanische n wie genossenschaftliche n Denkens . Nac h de r Maßgabe de r mittelalterliche n »Billigkeit« leitet e sich daraus gleichzeitig auch der Anspruch auf eine gewisse obrigkeitliche Wertschätzung ab. Landvogt Esche r gibt von dieser Gesinnun g beredt Zeugnis : »De r Landvog t .. . [soll ] i n Worten un d Werke n di e Unter thanen traktieren al s solche, von welchen i m nothfall das s gemeine Vatterland mit Leib und Gut muss beschützt werden; sie sind Commilitones, nit Senn [Her vorhebung d. Vf.].«141 Daneben resultierten aber auch ganz konkrete Partizipationsrechte, die sogenannten Volksanfragen , au s de r Wehrpflich t un d Loyalitä t de r untertänige n Landschaft. Natürlic h wuchse n di e Möglichkeite n de r Landschaft , ihr e Mit wirkungsrechte erfolgreich einzuklage n oder sogar auszuweiten, immer in Situationen de r inneren oder äußeren Bedrohun g des Kantons. Letztlich war es dieses Abhängigkeitsverhältnis de r Obrigkeit von der Loyalität ihre r Unterta nen, das ihren Versuchen eines verstärkten landeshoheitlichen Zugriffs immer wieder wirkungsvoll e Grenze n setzte . Bezeichnenderweis e versichert e ma n sich erstmals während de s Alten Zürichkriegs im Jahr 143 8 der Zustimmun g der Volkslcute, als man eine Kornsperre gegen den bäuerlich regierten Länder ort Schwyz einrichten wollte. Mit der erfolgreichen Allian z städtischer Elite n und ländliche r Untertane n zu m Stur z de s Bürgermeister s Waldman n 148 9 wurden die Volksanfragen zumindes t bis zum 17. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil der Züricher Regierungspraxis. In den Reformationskämpfen wa r schließlich soga r die schriftliche Fixierun g der Volksbefragung i m »Kappeler brief« von 1532 und damit ihre verfassungsrechtliche Verbindlichkeit gelungen. In allen wichtigen eidgenössischen Angelegenheiten, Krie g und Frieden sowie Bündnisfragen, oftmals aber auch in Stcuerfragen, bediente sich die Obrigkeit dieses »Vorläufers des modernen Referendums«. 142 Dabei wurden entweder 141 J.K . Escher , Bd . IV, S. 250 . 142 Dändliker , Geschicht e de r Stad t un d de s Kanton s Zürich, Bd . 2 , S . 252. E s handelte sic h dabei um ein föderatives Referendum , da sich die Anfragen a n die Ämter und Vogteien als Gesamtheit richteten , di e jeweils ein e Stimm e hatten , un d da s Endergebni s beruht e au f de r Mehrhei t dieser Äniterstimmen.

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Vertreter der Ämter und Vogteien nach Zürich beordert, um in einer Art »Volksparlament«143 über die anstehenden Fragen zu beraten, oder es erfolgte die Abordnung von Ratsboten in die Landschaft, um vor den versammelten Gemeinden »Fürtrag« zu halten und Antworten entgegenzunehmen. Diese Antworten reduzierten sic h ni e auf ein simple s Ja oder Nein , sondern ergingen i n Form von ausdifferenzierten Darlegunge n unterschiedliche r Länge. 144 Die Ähnlichkeit dieser Volksbefragungen mi t den Gemeindeanfragen a n die Konstaffel un d die Zünfte Zürichs seit 140 1 legt die Vermutung nahe, dass die ländlichen Re ferenden ihre n Ursprung der städtischen Zunftverfassung verdankten . Es lässt sic h demnach ein e Analogie i m obrigkeitlichen Herrschaftssti l ge genüber de r handwerkliche n Zunftbürgerschaf t Zürich s un d gegenüber de n Landgemeinden feststellen . Hie r wie dor t fehlte n weithi n arbiträr-autoritär e Akzente. Das zeigte sich insbesondere in der Appellationspraxis der Obrigkeit. Dieses Beschwerderech t de r ländliche n Untertane n a n den Kleine n Ra t war aus de r Landesverwaltun g herau s entstanden . »Aeußers t selte n gelangt e di e Obrigkeit zu einem klaren Rechtsentscheid, da sie sich nicht getraute, die von den Gemeinden vorgelegten Recht e zu verletzen und außer Vermittlungsvorschlägen meis t di e alte n Rechtsinstrument e wiederu m ne u bestätigt e .. . De r persönliche Verkehr zwischen den ... Mitgliedern des Rates und den Landleuten, .. . wobei di e Verhandlungen of t im Dorfwirtshaus ode r auf freiem Feld e geführt wurden , gestaltete sic h seitens der Obrigkeit i n einem überaus wohlwollenden Tone , welcher of t genug an Schwäche grenzte, weil ma n nieman dem ›wehtun‹ wollte.« 145

143 Ebd. , S. 253. Allerdings muss betont werden, dass die Regierung keineswegs an die jeweilige Entscheidung gebunden war. 144 Sieh e dazu die Ausführungen von Dändliker, Berichterstattungen, sowie sein zweiter Band zur nachreformatorischen Zei t ders., Zürcher Volksanfragen, S . 149-225. Im Zeitraum von 145 0 bis 1515 fanden in Betreff des Rorschacherkriegs, ferner der Unterdrückung des Reislaufens und des Pensionenwesens, des Bellenzerzugs und der Stellung zum eidgenössischen Pensionenbne l sowie zum Vertrag mit Frankreich drei Botschaften ans Volk, vier Einberufungen von Vertretern des Landes in die Hauptstadt und drei, nach Ämtern und Gemeinden gesonderte, förmlicheVolksbefragungen statt . 145 Kunz , S. 92. Kam sie dennoch z u einem Entscheid, so fiel diese r oftmals zugunsten de r Dorfaristokratie resp . ihre r lokale n Beamte n vo r Ort aus . Auch dies is t ein Indiz , i n welche m Umfang das Züricher Regiment auf deren Kooperationsbereitschaft angewiesen war und entsprechend da s Appellationsverfahren zu r Begünstigun g diese r Kliente l benutzte . Selbs t be i krasse n Beispielen von materieller Bereicherun g übte die Obrigkeit gegenüber den lokalen Beamte n der Gemeinden deshalb oft eine erstaunliche Milde oder beließ den Dorfoberen eine widerrechtliche Privilegierung, wie das Beispiel der Küsnachter Geschworenen zeigt. 1748 beschwerten sich deren Gemeindemitbürger, dass ihre Geschworenen sich seit Generationen kooptierten, anstatt, wie in anderen Gemeinden üblic h und laut Gemeindebrief verbürgt, durch die Gemeindebürgerschaf t gewählt zu werden. Die Beschuldigten machte n dagegen das bestehende Gewohnheitsrecht gel tend. Obwohl de r Rat hier zugunsten de r Gemeindebürger hätt e entscheiden können , beließ er den Dorfvorstehern ihr e Kooptationspraxis (S. 86-90).

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Sind demnac h di e ländliche n Gemeinde n Zürich s vo n de m allgemein europäischen Entwicklungstren d eine r Herrschaf t mi t den Bauer n z u eine r Herrschaft über die Bauern146 ausgenommen? Gelang es der Züricher Obrigkeit nicht, ihr e landeshoheitlich e Gewal t z u verstärke n un d ei n zentralistische s Verwaltungssystem aufzubauen ? Unverkennbar hat auch im Züricher Stadtstaat seit dem 16 . Jahrhundert ein landeshoheitlicher »Verdichtungsprozess« stattgefunden . Mi t der Kodifikatio n von Amts- und Herrschaftsrechten versuchte man, nach dem Muster des städtischen Gerichtsbuch s ein e gewisse Vereinheitlichung de s Rechtswesen s au f Bezirksebene durchzusetzen . Di e landeskirchlich e Einrichtun g vo n aus schließlich Stadtbürgern vorbehaltenen Pfarrstcllen in den Gemeinden bot seit der Reformatio n zude m ein e potentiell e Möglichkei t obrigkeitliche r Sozial disziplinierung. Häufig entwickelten sich allerdings heftige Konkurrenzkämp fe zwischen den städtischen Pfarrer n un d den Dorfoberen , di e wie Landvog t Escher kritisierte, die obrigkeitliche Politik von Ruhe und Ordnung eher unterminierten, denn förderten.147 Zudem wurde analog zu der wachsenden inner städtischen Oligarchisierun g di e Privilegierung de s städtischen »Bürgers« ge genüber de m »Landmann « i n seiner systemstabilisierenden Funktio n imme r wichtiger. »Frühere Traulichkeit, gemeinsame Teilnahme an Lust und Leid , ja auch Familienverbindungen, die zwischen Städtern und Landleuten nicht selten stattgefunden hatten , kamen in Abgang«.148 Am deutlichsten trat der zunehmende landesherrliche Herrschaftsanspruc h der Stad t i n de r schrittweise n Zurückdrängun g de r ländliche n Partizipatio n zutage. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert reduzierte sich das Anfragerecht immer häufiger auf ein bloßes Mitteilen, die Adaption des obrigkeitlichen Got tesgnadentums führte schließlich im 17. Jahrhundert dazu, dass sich die städtischen »Herren « imme r seltene r a n die verbriefte Mitsprach e de r Landschaf t hielten. Im Wädenswiler Handel von 1646 gelang es dem städtischen Regiment sogar erstmals, seine Autorität in dem Maße durchzusetzen, dass die aufständische Gemeinde Wädenswil militärisc h besetz t und empfindlic h bestraf t wer den konnte. Allerdings nicht, ohne dass gleichzeitig Konzessionen an die übrigen ländliche n Untertanenbezirk e gemach t wurden . Di e einschüchternd e Wirkung dieser Machtdemonstration ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Sie mit Kar l Dändlikc r al s einen »Wendepunkt « un d di e »Eröffnung de r Zeit des stummen, leidende n Gehorsam s de r Züriche r Untertanen« 149 z u bewerten , scheint jedoch überzogen . Nur wenige Jahre späte r zeichnete sic h die städti sche Obrigkei t i m Vorfel d de s Bauernkriege s vo n 165 3 durch ein e überau s 146 Sieh e Wunder, Kap. IV, Kap. V. 147 Vgl. J .K Escher, Bd. IV, S. 267ff. 148 J.K. Bluntschli, Geschichte der Republik Zürich, Bd. III, S. 96. 149 Dändliker , Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich, Bd. 2, S. 432.

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umsichtige und konziliante Haltung gegenüber der Landschaft aus.150 Letztlich entstand mit der Fülle an obrigkeitlichen Mandatierungen, Regulierungen und Verordnungen de r sogenannte n gute n Polize i nich t meh r al s ei n »dünnc[s ] Gerüst de s vereinheitlichende n moderne n Staates« 151 un d allenfall s »i n Ansätzen ein e administrativ-jurisdiktisch e Vereinheitlichun g ... , [s o dass ] nu r bedingt vo n eine r absolutistische n Herrschaftstechni k gesproche n werde n [kann]«.152 Die landeshoheitliche Durchdringun g des Züricher Staatswesens fand ihre Grenze demnach in der Abhängigkeit der Stadt von der Willfährigkeit der ländlichen Untertanen, ob das die Landesverteidigung oder den schlichten Gehorsam betra f Dere n Widerstandsbereitschaf t wa r es , die imme r wiede r i n der Geschichte de s Züriche r Stadtstaate s di e obrigkeitliche n Bemühunge n u m Zentralisierung un d Stärkung der staatlichen Mach t konterkarierten. So setzten beispielsweise die Städteorte ihr e im Vorfeld des Bauernkriegs gemachten Anstrengungen, das Steuersystem zum Zweck der Finanzierung einer stehenden Truppe und eines effizienteren Vewaltungsapparates zu modernisieren und auszubauen, aus Sorge vor Unruhen später nicht mehr fort. Der britische Gesandte Abraham Stanya n umschrie b diese s Abhängigkeitsverhältnis mi t dem Bild eine r au f der Spitz e stehende n Pyramide , di e bei de r kleinste n innere n oder äußere n Erschütterun g umzukippe n drohe. 153 Das , so Stanyan , se i de r eigentliche Grund für die »Milde« der städtischen Regierunge n gegenüber der Landschaft etwa in Steuerfragen .Obrigkeitliche Machtfragilität und untertänige Widerstandstradition stande n also in einer dialektischen Wechselbeziehung zueinander, die sich aus bestimmten strukturellen Vorgaben heraus entwickelte. Die mentatitätsgeschichttiche n Entwicklungsbedingunge n de r Züricher Territorialherr schaft. Bestimmen d fü r da s Herrschaftsverhältni s vo n Obrigkei t un d Unter tanengebiet war überdies das mentalitätsgeschichtliche Moment eines freiheitlich-republikanischen wie genossenschaftlichen Denkens, 154 das von Stadt und Land geteilt wurde. Diese Gesinnung förderte auf seiten der städtischen Obrigkeit eine Haltung, die Autonomie des Gemeinwesens als Inbegriff von Freiheit 150 Vgl . ebd., S. 423ff. So sollten die einzelnen Ämter Ausschüsse bilden, um die Beschwerde punkte auszuarbeiten un d an die Vertreter der Obrigkeit weiterzugeben. De r Rat befasste sic h erst nach dem Bauernkrie g mi t den Klagen , die sich zum eine n au f die wirtschaftlichen Beschränkun gen und Laste n bezogen, zum andere n gege n die Zentralisierung des Rechts- und Gerichtswesen s richteten, un d ga b in vielen Punkten , wen n auc h nich t i n bezug auf letzteres, nach . 151 Peyer , Verfassungsgesehichte, S . 117 . 152 Braun , Da s ausgehende Ancie n R égime, S . 244. 153 Zitier t nach : A. Suter , Regional e politisch e Kulturen , S . 192 . 154 Sute r sieh t hieri n i n Anlehnun g a n Ma x Webe r de n »kulturel l vermittelte n Gra d de r Herrschaftsakzeptanz un d der Widerstandsbereitschaft«, sieh e ebd., S. 194 .

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und Billigkei t i n gewisse m Umfan g auc h de r Landschaf t zuzugestehen ; au f seiten der Landgemeinden bildete sie die Legitimation für eine überaus lebendige politische Protcstkultur. Die aus dem Evangelium entnommene Vorstel lung einer Gleichheit der Seelen vor Gott, mithin auch der Menschen auf Erden sowie Konzeptionen von »Altem Recht und Billigkeit« verbanden sich auf der Züriche r Landschaf t mi t einem spezifische n Geschichtsbewusstsein , da s eine subversiv e un d kritisch e Kraf t entfalte n konnte . Da s Wissen u m eine n früheren Freiheitsstatus , de r zumeis t nu r aufgrun d vo n Pfand - un d Geld geschäften verlore n worde n war , stärkt e da s ländlich e Unabhängigkeitsbe wusstsein. Di e z u gan z unterschiedliche n Zeitpunkte n sei t de m Mittelalte r nachweisbaren Angebote von Züricher Landkommunen, sich durch Rückzahlung der Pfandsumme loszukaufen, geben hiervon Zeugnis.155 Daneben boten die benachbarten Länderort e der Eidgenossenschaft eindrucksvoll e Beispiel e für ein e vo n städtische r Herrschaf t frei e bäuerlich e Selbstorganisation . Ein e alternative un d vor allem vorteilhaftere politisch e Entwicklun g i m Vergleic h zur ländlichen Untertanenschaf t war demnach unzweifelhaft möglich . Nicht minder wichtig war der auch von den obrigkeitlichen Elite n geteilt e Mythos der eidgenössischen Gründungs - und Befreiungsgeschichte, u m den Widerstandswillen wach zu halten. Wie, wenn nicht durch den Aufstand gegen die etabliert e Herrschaft , wa r di e Gründun g de s Erste n Bunde s überhaup t möglich geworden? Widerstand war danach eine durchaus gerechtfertigte, da für di e Entstehun g de r Eidgenossenschaf t unabdingbar e politisch e Option . Der aus der Gründungsgeschichte un d den konkrete n Verfassungszustände n der Länderkanton e tradiert e Glaub e a n di e »Gestaltbarkei t vo n historische n Prozessen«156 verlie h diese r kommunalistische n Protestkultu r i m Ker n ein e gewisse Offenhei t un d inner e Flexibilitä t fü r Neues , wie sic h au f der Land schaft i n de r zweite n Hälft e de s 18 . Jahrhunderts zeige n sollte . Die s gil t i n gleichem Maße, wenn man über das Herrschaftsverhältnis von Stadt und Land hinaus auf das generelle Verhältnis von Obrigkeit und Gemeindebürgerschaf t eingeht und die stadtzüricherische Gemeind e miteinbezieht. Dan n zeigt sich bereits i n de r Amalgamierun g neue r un d alte r Vorstellunge n währen d de r Zunftunruhen von 1713 das innovative Moment kommunalen Protest s in der Züricher Geschichte . I n dieser an das kommunale Milie u - unabhängig , o b städtischer oder ländlicher Provenienz - gebundene n Frciheitskultu r sollte die Aufklärung einen idealen Nährboden finden .

155 Dändliher , Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich, Bd . 2, S. 249 und S. 341. 156 Sieh e A. Suter, Regionale politische Kulturen, S. 193.

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Β. Die Dynamisierung der gemeindlich-genossen­ schaftlichen Bürgergesellschaf t 2. Die Dialekti k de r Züricher Aufklärungsbewegung : Städtische Reformbewegun g un d ländlich e Emanzipatio n zwischen Spätaufklärun g un d de m Ende des Ancien r égime »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, so hat Kant 1784 den »Wahlspruch« de r Aufklärung gefass t un d damit eine n universale n Anspruc h auf eine »Befreiung« au f allen Ebenen des sozialen und kulturellen Lebens formuliert.1 Da die Aufklärung innerhal b de s Ordnungssystems de r Ständegesellsehaf t entstand, gleichzeitig abe r in ihre n gesellschaftliche n Ziele n übe r sie hinauswies, ging der umfassende Freisetzungsanspruch einher mit der Konstituierung neuer sozialmoralischer Bezugssystem e un d gesellschaftlicher Ordnungsvor stcllungen.2 Das galt um so mehr, als das aufklärerische Denke n in Wechselbeziehung stan d mi t Veränderungsprozesse n au f andere n Ebenen . Besonder s deutlich is t diese r Zusammenhan g zwische n rationale r Welterkenntni s un d wirtschaftlichem Wandel . Er manifestierte sic h in neuen landwirtschaftliche n Anbaumethoden un d veränderte r Betriebsführung , de r gewerbliche n Nut zung von Naturkräfte n un d Bodenschätzen , i n der Durchsetzung kapitalisti scher Marktordnung un d nich t zuletz t i n der Entwicklung volkswirtschaftli cher Gesamttheorie n mi t praktische n Folgen , wi e si e Adam Smit h ode r di e Physiokratcn vertraten. Gemeinnutz un d Eigennutz , Kollektivitä t un d Individualität , di e i n de r Ständegcsellschaft klar e Gegensätze bildeten, waren vor dem Hintergrund des nun eintretende n Umbruch s einande r ne u zuzuordne n un d i n eine lebens weltlich plausibl e Deutun g einzubetten . Au s diese r Konstellatio n herau s gewann di e politisch e Denktraditio n de s »klassische n Republikanismus« , i n dessen Mittelpunk t de r politische Leitbegrif f der »Tugend« stand, erneut Be 1 Kant , S . 9 . 2 Bezeichnenderweis e geh t i m 1 H.Jahrhundert di e aristotelische Tradition einer Philosophi e der Politi k i n Moralphilosophi e auf , dabe i bezieh t sic h »da s Moralische « auße r au f Natu r un d Vernunft auc h au f di e neu e Sphär e de s »Sozialen« . Nich t vo n ungefäh r wa r Ada m Smit h Lehr stuhlinhaber fü r Moralphilosophie .

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deutung.3 Dieser Tugenddiskurs wurde vor allem innerhalb der neuen Formen aufgeklärter Geselligkei t geführt . Dazu gehörte n di e unterschiedliche n Sozietäte n wi e Akademien , Gelehr ten- un d Lesegesellschaften , ökonomisch e un d patriotisch e Zirke l un d di e Freimaurerlogen. Sie wurden zu Foren einer spezifisch »bürgerlichen « Vergesellschaftung, di e als kritisch-räsonnierende Öffentlichkei t gesellschaftspoliti schen Einflus s beanspruchte n un d di e Formierun g de r bürgerlichen Gesell schaft ankündigten. 4 Im folgenden soll die Entstehung einer aufgeklärten Sozictätenbewegun g in der Stadt Zürich um die Mitte des 18. Jahrhunderts dargelegt werden, in deren Zirkeln sich ein Reformdenken entwickelte , das zunächst im Sinne des »Ökonomischen Patriotismus « au f die effizienter e Ausgestaltun g de s bestehenden spätabsolutistischen Herrschaftsgefüges zielte . Mit der Gründung»Historisch Folitischer Gesellschaften « i n den 1760e r Jahren entstande n danebe n proto demokratische Strömungen , di e au f de r Grundlag e de s republikanische n Tugenddiskurses ein e politisch-sozial e Reformdiskussio n de s züricherische n Ständestaates verfolgten . Di e letztlic h doc h nu r au f partielle Reforme n zie lenden Aufkläre r au s de r Führungsschich t sahe n sic h jedoc h bal d mi t nichtintendierten Emanzipationsprozessen konfrontiert . Ihre m Konzept einer kontrollierten Aufklärun g »vo n oben « erwuch s zunächs t i n de r städtische n Zunftbewegung von 177 7 eine volksaufklärerische Gegenbewegun g »von unten«: Aufgeklärtes Wissen , abe r auch Kommunikationsstrukture n de r Sozie tatenbewegung wurden von der einfachen Bürgerschaf t fü r den kommunale n Protest rezipiert. Während die städtischen Unruhen rasch eingedämmt werden konnten, wa r e s di e zeitlic h verzögert e Diffusio n de s städtische n Reform diskurses auf der Landschaft, di e das bestehende Herrschaftssyste m de s züri chcrischen Stadtstaat s nachhaltig in Frage stellte. Mit der schrittweise voranschreitende n Entwicklun g eine s ländlichen Ver einswesens und seines politisierten Publikums , dessen Mitglieder sich zunehmend als gleichberechtigte Bürge r des Stadtstaates verstanden un d i m Sinn e einer Gegenöffentlichkeit die Überwindung ihres Untertanenstatus forderten, holte die enthusiastische Beschwörun g des freiheitlich-republikanischen Hir ten- un d Bauernkult s sein e städtische n Initiatore n kur z nac h Ausbruc h de r Französischen Revolution ein. Am Beispiel des gewaltsam unterdrückten »Stäfner Handels« von 1794/9 5 soll gezeigt werden, wie aus dem Krei s der ländli chen Lesegesellschafte n ein e aufklärensch-angeleitete Reformbewegun g ent 3 Sieh e Münikler, Die Idee der Tugend, S. 379-403. 4 S o die »klassische« Herleitung einer politischen Öffentlichkeit von Habermas sowie Manheim. In der Schweiz wird das Modell von Habermas ebenfalls breit rezipiert: Im Hof Politische Öffentlichkeit; Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit. Zum erweiterten Modell von »populärer Öffentlichkeit« aus der Protestforschung siehe Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit, und ders.. Das Modernisierungspotential.

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stand, die in Verbindung mit der kommunalistischcn Autonomietraditio n z u einer wenn auc h nicht erfolgreichen Mobilisierun g der Gemeinden run d um den Zürichsee führte .

2.1. Bürgerlich e Öffentlichkeit un d republikanische Erneuerung : Der politisierende Einfluss der städtischen Sozietätenbewegun g Die Aufwertung der ländlichen Untertanengeseilschaft - Ökonomische r Patriotismus und die Idealisierung des »Philosophischen Bauern«. Die Stadt Zürich zählte im 18. Jahrhundert z u den geistigen Zentren der europäischen Aufklärung. Di e Schriftsteller Johann Jakob Bodme r un d Johann Jakob Breitinger gehörten sei t den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu den literarischen Autoritäten im deutschen Sprachrau m un d pflegten persönliche n Kontak t mit Klopstock, Kleist , Wieland, Ficht e un d Goethe . Naturforsche r wi e Johann Jakob Scheuchzer , Historiker wi e Bodme r ode r Johan n Heinric h Schinz , di e Philologe n Steinbrüchel un d Hagenbuc h un d die Künstle r de r Famili e Füßl i - si e alle machten Zürich zum »Athen an der Limmat«.5 Weltruhm erlangten vor allem der Pädagog e Pestalozz i un d der Theologe Lavater . Den eigentlichen Mittel punkt der Züricher Gelehrtenrepublik bildet e jedoch Johann Jakob Bodmer , der die beiden wichtigsten politischen Reformsozietäte n Zürich s initiierte. Die Tradition der wissenschaftlichen ode r politischen Gesellschaften reicht e in Zürich bi s in das 17. Jahrhundert zurück , doch trugen sie alle bewusst den Charakter von Gelehrtenakademien. 174 6 wurde mit der Gründung der »Physikalischen ode r Naturforschende n Gesellschaft«, 6 die sich bewuss t de m gemeinen Publiku m öffnete , der entscheidende qualitative Schrit t zur »Institutionalisierung des Raisonnements der Privatleute« (Habermas) getan. In ihrem Debattierzirkel entstand ein Reformdenken, das allgemein als »Ökonomischer Patriotismus« bezeichne t wird . Wie die berufsständischen un d naturwissen schaftlichen Gesellschaften Zürichs überhaupt zeichnete sich die Physikalische Gesellschaft durc h eine stark utilitaristische Ausrichtung aus, die immer nach dem praktische n Nutze n un d der Anwendbarkeit vo n Erkenntnissen fragte . Entsprechend galt ihr Interesse weit weniger der Erforschung physikalisch-na turwissenschaftlicher Phänomen e im Sinne der Grundlagenforschung al s der praxisorientierten Popularisierun g von Innovationen. Aus diesem Grund wurde für den gesamten Bereich der Landwirtschaft die »Ökonomische Kommission der Naturforschenden Gesellschaft« 7 gegründet, die sich speziell mit Fra5 Sieh e z. B. Cray», Kap. 1 . 6 Sieh e dazu Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit, Kap . 2; Erne, S. 135-143; Braun, Das ausgehende Ancicn R égime, S. 92ff, 286f. 7 Erne. S. 144-149.

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gen der Kameralistik und des Physiokratismus sowie deren Vermittlung auf der Züricher Landschaft beschäftigte. Seit 1762 wurden jährlich Preisausschreibe n veranstaltet, di e jeweils speziell e Problemstellunge n thematisierten , etw a di e Notwendigkeit vo n Einzäunungen , di e einen folgenschwere n Eingrif f i n die traditionelle Agrarverfassung und ihre kollektiven Nutzungsrechte darstellten, oder die Verwendung von Dünger. Alle Antworten des Wettbewerbs wurden als »Anleitungen an die Landleute« gedruckt und kostenlos verteilt. Nach und nach sollte au f diesem Weg e ein e vo n de n Landleute n selbs t verfasst e Landwirt schaftslehre entstehen . Wirkungsvoll ware n zude m di e sogenannte n Bauerngespräche , z u dene n Abordnungen einzelne r Dörfe r sowie Vertreter der Obrigkeit von der Gesellschaft eingeladen wurden De r Kommission oblag es, sich zuvor über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältniss e der betreffenden Gemeinde n genau zu informieren, u m den Dörflern , di e über die Missstände in ihren Kommune n berichteten, sachgerecht e Ratschläg e z u geben . Auc h dies e Besprechunge n wurden de n betreffenden Gemeinde n i n Abschrift zu r Diskussion i n der Gemeindeversammlung ode r zu r Verlesun g vo n de r Kanze l zugeschickt . Zwi schen 176 3 un d 177 9 wurden solch e Bauerngespräch e regelmäßi g au f dem Zunfthaus zu r Meisen in Zürich durchgeführt . Schließlich unternahmen die Kommissionsmitglieder auch »landwirtschaft liche Reisen« , u m sic h vo r Or t übe r di e Bewirtschaftun g z u informieren . Daneben traten die pädagogischen Ambitionen de r Kommission, die sich um eine Verbesserung de s Landschulwesens bemühte . Auf dem Lan d wurde di e Kommission teilweis e vo n de n Pfarrer n un d den Landvögte n unterstützt ; i n einigen Orten wie Wildensbuch kam es zur Gründung von kleinen Tochtergesellschaften, i n denen allerdings die nichtbäuerlichen Landbewohne r überwogen. Der Erfolg i m Bemühe n de r Ökonomische n Kommission , di e alt e Agrar verfassung zu überwinden und die Bewirtschaftung maßgeblich zu verbessern, bleibt schwe r abschätzbar . Di e wirtschaftlichen Umwälzunge n sei t der Jahrhundertmitte mit der Ausbreitung neuer Industriezweige, erhöhten Getreideimporten, einer hohen Verschuldung der Bauern bei sprunghaft angestiegenem Bevölkerungswachstum bereitete n de r Tätigkeit de r Ökonomen de n Boden . Andererseits ware n si e aber auc h mi t erhebliche n Schwierigkeite n konfron tiert: alte Rechte und Gewohnheiten auf seiten der Bauernschaft, Herrschafts ansprüche un d kurzfristi g angelegt e Verdienstintcresse n au f seite n de r grundbesitzenden städtischen Oberschicht. Mag somit insgesamt eine größere Effizienz de r Reformbemühunge n verhinder t worde n sein , gab es doch Bei spiele wie das Ackerbauerndorf Brütten, das durch eine Allianz wissbegieriger Bauern- un d Taunersöhn e al s erste s au f der Züriche r Landschaf t vo n Flur 8 Sieh e die Beschreibung bei W. Guyer, S. 155-175.

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zwang und gemeinem Nutzen abwich.9 In der Regel erreichte die Kommission zumindest die gehobene Dorfschicht der Landchirurgen und Gastwirte, Handwerker un d Schulleiter, Offiziere un d vor allem lokal e Amtsinhaber, die Gemeindeoberen, dere n Meinun g i n de n Gemeindeversammlun g ein e groß e Rolle spielte. Ganz ohne Zweifel setzten aber die Arbeitsmethoden der Kommission neue Maßstäbe. Dazu gehörten die kontinuierliche Sammlung und Auswertung statistischen Materials, die stete Überprüfung darauf abgestützter Empfehlunge n an de r Praxi s sowi e da s Bemühe n u m ein e volkstümlich e Vermittlun g de s Neuen, etwa über die Preisausschreiben. Ihr erzieherischer Effekt in Richtung auf eigenständiges Denke n un d größer e Innovationsbereitschaf t is t nich t z u unterschätzen. Ein solch emanzipatorischer Impetu s prägte auc h die Bauerngespräche , i n denen sich städtische Obrigkeit und ländlicher Untertan weniger als Vertreter eines ständisch-hierarchischen Herrschaftsverbands begegneten, denn als Partner eine r Interessengemeinschaft . I n diese m Sinn e is t di e Äußerun g Han s Caspar Hirzels gegenüber den Gemeindebürgern von Buchs, Otelfingen, Bop pclsen und Dällikon zu verstehen: »Ja liebe Landleuthe, glaubet es eurem aufrichtigsten fü r euc h von Lieb e ganz erfüllten Freunde . Wenn e s euch wohl gehen muss , so muss es der Stad t wohlgehen , un d wen n e s der Stad t woh l gehen soll, so müsst ihr glücklich sein.« 10 Von immenser Bedeutung war die von der Ökonomischen Kommission vorgenommene Aufwertung de s Landmanns, dessen Bild vom rohen, ungebildeten Unterta n sic h radika l änderte . Als geradezu symptomatisc h kan n die Euphorie gelten, mit der der Musterlandwirt Jakob Guyer, genannt »Kleinjogg« , von seiner aufgeklärten städtischen Umwelt gefeiert wurde, bewies er doch die Realisierbarkeit eines neuen bäuerlichen Menschentypus. Dieser »Philosophische Bauer«, wie ihn Hirzel i n einer 176 1 veröffentlichten Schrif t titulierte, " erlangte i n kürzester Zeit Weltruhm; sogar jenseits des Ozeans wurden sein e Ansichten übe r ein e zweckmäßig e Bewirtschaftung , wi e e r sie sei t 176 9 auf seinem Katzenrütihof durchführte, aufgenommen. Kleinjog g sollte als Ehrenmitglied ein e de r innovativste n Kräft e innerhal b de r Kommissio n werden , sowohl was die Entwicklung neuer Anbaumethoden als auch was ihre Verbreitung unter der bäuerlichen Bevölkerun g anging. S o sind etw a auch die Bau erngespräche, deren Leitun g er häufi g zusamme n mi t de m Präsiden t Hirze l übernahm, auf seine Initiative zurückzuführen. 12 9 Vgl . Sigg, S . 53f . 10 Zitier t nach : G.C.L Schmidt , Bd . 1 , S. 124 , Anni. 553 . 11 Hirzel , S . 371-496 . 12 Höhepunk t der gesellschaftlichen Anerkennungjako b Guyers stellte die Einladung der einzigen eidgenössische n Gesellschaft , de r Helvetische n Gesellschaft , 176 5 dar; ein e Einladung , di e von den standesbewussteren Berner n als schockierend empfunde n wurde . Siehe die Beschreibun g des recht stürmisc h verlaufende n Besuch s bei W . Guyer, S . 52ff .

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Nicht seinem Sachverstan d allein verdankte der »Socrate rustique« - s o der Titel der französischen Übersetzun g von Hirzels Schrift - sein Ansehen. Er galt auch al s Personifizierun g jene r einfachen , natürliche n un d unverdorbene n Lebensweise, wi e si e i n de r zweite n Hälft e de s 18 . Jahrhunderts i m Zug e Rousscauscher Naturschwärmerei vorbildhaft wurde und innerhalb des europäischen Adel s un d Bildungsbürgertum s ein e Schweiz - un d insbesonder e Alpcnsehnsucht bishe r unbekannte n Ausmaßes auslöste. In dieser Sehnsuch t drückte sich ein Konglomerat politischer, sozialer und kultureller Bedürfniss e angesichts eine s sic h imme r stärke r vo n eine m naturvorgegebene n Lebens rhythmus entfernenden Alltag s aus: der Wunsch nach einer neuen Verortun g des Moralisch-Sittsame n un d eine r harmonische n Vorstellun g vo n Gesell schaft als politischer und sozialer Einheit. Rousseau wa r es , der 176 1 i n seine r »Neue n Heloise « ei n ursprüngliche s Naturgefuhl »entdeckte« , das in der alpinen Landschaft der Schweiz am reinsten und stärksten zu erleben sei. Dort meinte man, ein Refugium vorzufinden , in dem ein einfacher, unverdorbene r Menschenschla g noc h in Harmonie mit der Natur zu leben vermochte. Diese Idealisierung des Hirtenlebens und des alpinen Menschen wurde auf die gesamte Schweiz als »Land der großen Natu r und der reinen Menschheit« 13 ausgedehnt. Wallfahrten i n die Schweiz setzten ein, wobe i ei n Besuc h de s Katzenrütihofe s vo n Kleinjog g jedem gebildete n Schweizerreisenden heilig e Pflicht war; unter den illustren Gästen befand sich auch Goethe, der ihn als »eins der herrlichsten Geschöpfe , wie sie diese Erde hervorbringt«,14 feierte . Einfachheit un d Natürlichkei t wurde n zude m politisch aufgeladen , inde m ein Bil d der ungebunden-urwüchsigen Hirten - und Bauerngemeinschaft ge zeichnet wurde, in der die versammelten Landleute unter der Dorfeiche selbst über das Wohl ihres Gemeinwesens entschieden, beseelt von einem traditionell ungezügelten Freiheitswillen, stets bereit, zur Verteidigung ihrer Unabhängig keit brüderlich zusammenzustehen. In diesem Bild schimmerten die Konturen der klassisch-aristotelische n Bürgerrepubli k durch , di e au f de r politische n Diskursebene seit der Renaissance, mit den Umbrüchen des 18. Jahrhunderts aber nun gezielt - als Utopie eines bürgergesellschaftlichen Ordnungsentwurf s - da s politische Denke n inspirierte . Inde m ma n di e helvetischen Älple r un d Bauern i n eine Traditionslinie mi t den demokratischen Bürgerrepublike n de r Antike stellte, diente die Schweiz der aufgeklärten Intelligen z i m Ausland als Folie eines kritischen Räsonnements der eigenen gesellschaftlichen Zustände . Die vermeintlich unpolitische Idealisierung von Freiheit und Tugendhaftigkeit

13 Gra f Friedrich von Stolberg, zitiert nach: Braun, Das ausgehende Anden Regime, S. 82. 14 Goeth e an Sophie von La Roche, 12 . Juni 1765 , zitiert nach : W . Guyer, S. 68, sowie zum Briefwechsel zwische n Hirzel und Rousseau S. 199ff.

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des Schweizer Landmanns konnte auch als verdeckte Kritik am monarchischen Absolutismus gelesen werden.15 Auch i n Züric h wurd e de r republikanisch e Tugenddiskur s i n systemkri tischer Absicht geführt. Die Stoßrichtung war aber eine ganz andere, da es sich hier nich t u m eine n Gegenentwur f zu r monarchisch-absolutistische n Herr schaftswirklichkeit handel n konnte . Die Akzentuierung la g auf der »Erneue rung« politischer Tugendhaftigkeit un d republikanischer Lebensart . Nicht die Umwälzung de s Systems selbst, sondern sein e Reformierun g sollte n diese m Zweck dienen. Es galt, sich auf die Zeiten der Urväter rückzubesinnen, deren Geist im einfachen schweizerische n Landmann weiterlebte. Dieser wurde damit zu m Träge r de s Moralisch-Sittlichen, wa s abe r keinesweg s meinte , ih m auch die gleichen politischen Rechte zuzugestehen. Der »Socrate rustique«, als Nachfahr des helvetischen Freiheitskämpfer s von den Ökonomischen Patrio ten enthusiastisch zu m Leitbil d eine s patriotisch-gesamteidgenössischen Be wusstseins erkoren,16 sollte politisch gesehen Untertan bleiben. Diese Haltung eines »aufgeklärten Patriarchalismus « spiegelt sich auch in Hirzcls Traktat über Kleinjogg: »Ich habe keinen Mann vor mir, der sich aus dem verachteten Bau renstand durch den Umgang mit den Einwohnern der Stadt emporheben und sich den Sitte n der Städte zu nähern gesucht, noch weniger eine n Mann, der durch den Umgang mit Gelehrten die Bücher kennen gelernt und sich zu einem Halbgelehrtcn erhoben hätte. Kleinjogg hat seine Vorzüge der Natur und eignem Nachdenken zu verdanken; er blieb vergnügt bei seinem Stand.« 17 Die Wahrung de s Standesverhältnisse s gal t demnac h al s erste s Gebo t wi e auch di e Zehntenpflicht de r ländliche n Untertanen , welch e di e Ökonome n ebenfalls nich t zu reformieren gedachten. 18 Paradox nimmt sic h dagegen aus, 15 Sieh e Braun, Das ausgehende Ancicn Régime, S. 85, Anm. 41. Brau n nimmt hier eine These von Koselleck, S. 148f. , auf, die dieser anhand der Bewertung des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges durch Paul Raynal entwickelte. Auf die Schweiz übertragen formuliert Braun : »So wie ›der polemische Gegensat z zwische n de r moralische n Unschul d un d de m unmoralische n Despotis mus be i Raynal transozeanisiert wird (nac h Amerika), so wird er in der Alpenliteratur in die Berg welt mit ihrem I lirtenvolk verlagert und exotisiert«. 16 Eindrucksvol l is t da s Beispie l eine r Preisschrift , di e de r Naturforschende n Gesellschaf t Zürich 177 1 eingesandt wurde und in der der historische Rückbezug deutlich wird; hier in Auszügen zitiert : »Al s ich jüngst a m Morgen/Frü h erwacht/Vol l vo n amnuth , fre y vo n Sorgen/Übcr dacht/Wie der Väter Ruhm gcstiegen/Himmel-hocli/Durch ihr heldenmütig Siegen/Leb e noch./ Also wurd a n mi r auc h rege/jede s Glied/Und ic h woll t durc h tausen d Schläge/Selbs t i m Fried / Meinem Vaterlande weisen/Dass mein Bluth/Ihm mit Waffen, Stah l und Eisen/Guthes thut/Kurz Ich lie f in größte r Eile/In das Feld/Da s mit macht/Unsr e Väter durc h ih r Siegen/Fre y gemacht« , zitiert nach: G.C.L. Schmidt , Bd. 1 , S. 128 , Anm. 574. 17 W . Guyer, S. 67. 18 Sieh e daz u di e Äußerung Johann Conra d Heideggers , Gründungsmitglied de r Physikali schen, späte r de r Naturforschende n Gesellschaft : »Di e Zeendc n sin d z u alle n Zeite n be y alle n Völkern gewesen,ja von Gott selbst eingesetzt«, zitiert nach : G.C.L. Schmidt , Bd . 1 , S. 126 , Anm. 569.

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dass mit Hilfe der Preisausschreiben un d der Bauerngespräche die Bauern zu selbständigem Denke n un d Handel n erzogen , ih r Selbstwertgefüh l bewuss t gefördert wurde . Di e Physikalisch e Gesellschaf t Züric h schrie b etw a a n di e Vorortsgemeinde Altstetten , di e de m So g der städtische n Verdienstmöglich keiten ausgesetz t war , folgend e Ermahnung : »Knecht e un d Dienstleut e sin d solche Stadtgänger, die sich um ihre Güter nicht bekümmern .. . Da hiergegen die Bauer n ihr e eigenen Herre n un d Meiste r sind , sich von niemand al s der Obrigkeit befehlen lasse n müssen.« 19 Hier zeigt e sic h ei n folgenschwere r Grundwiderspruc h i m Aufklärungs verständnis de r Ökonomische n Patrioten : Inde m ma n i m wirtschaftliche m Bereich die reine Untcrtanenmentalität de r Bauern aufhob und sie zur Eigenständigkeit erzog , leitete n di e Ökonomische n Patriote n ungewoll t eine n Emanzipationsprozess der Landbewohner ein, der sich über kurz oder lang an der ihne n vorenthaltenen politische n Mündigkei t stoße n musste un d letzte n Endes da s ständisch e Ordnungsgefüg e un d de n städtische n Herrschaftsan spruch z u sprenge n drohte. 20 Diese r politisch e Emanzipationsprozes s wurd e zusätzlich begünstigt durch die Entstehung eines politischen Reformdiskurse s in der städtischen Sozietätenbewegung . Die Radikalisierung des republikanischen Tugenddiskurses - di e »politische Jugendbewegung« 1762-1769. Der von den Ökonomischen Patrioten geweckte Reformgeist entwickelte scho n bal d politische Dimensionen . E s entstand ein e politisch e Sozietätenbewegung i n de r Stadt , di e en g mi t de m Name n Johan n Jako b Bodmers verbunde n ist. 21 Unte r seine r Ägid e wurd e di e Denktraditio n de s klassischen Republikanismu s wiederaufgenommen , di e di e politisch e Ent wicklung Zürich s bi s i n da s ausgehende 19 . Jahrhundert präge n sollte . 176 2 initiierte er die beiden bedeutsamsten Historisch-politischen Gesellschaften, in denen ma n übe r die als notwendig erachtet e Erneuerun g der politischen Tu gendhaftigkeit des republikanischen Gemeinwesens diskutierte. Mochten auch die politischen Patrioten in erster Linie auf konkrete Reformen des städtischen Systems zielen, so bezogen sie doch - anders als die Ökonomischen Patrioten -

19 Ebd. , Bd . 1,S . 178 , Anm. 841. 20 Ebd. , Bd . 2, S . 118ff. , sowi e Graber , Spätabsolutistisches Krisenmanagement, S . 89. 21 J . J. Bodmer , al s Pfarrerssoh n 169 8 geboren , lehrt e vo n 173 1 bi s 177 5 al s Professo r fü r vaterländische Geschichte am Züricher Carolinum. In seiner berühmten Wochenschrift »Discour s der Mahlern« zielt e er auf nationale Selbsterkenntnis , aber auch ganzheitliche Bildung . Mi t seine r Theorie zu r Dichtkunst , abe r auc h de n unzählige n Übersetzungen , etw a vo n Milton s »Paradis e lost«, wurd e Bodme r wei t übe r di e Grenze n Zürich s hinau s bekannt . Sein e eigene n Epe n un d Schauspiele waren i n erster Linie politisch-pädagogisch ausgerichtet und wollten insbesondere die Erkenntnisse der Rousscauschen Staatstheorie von der Volkssouveränität vermitteln. Als »Vater der Jünglinge« hatt e er bis zu seinem To d eine n enorme n Einflus s au f die jüngeren Generatione n de r städtischen Oberschicht .

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erstmals das gesamte Staatswesen, d. h. auch die untertänige Landschaft, i n ihr Republikverständnis mit ein. Zu diesen politischen Gesellschafte n zählt e zum einen di e »Helvetisch-va terländische Gesellschaft zur Gerwi«,22 die sich vor allem historischen Studie n widmete un d zum anderen die »Historisch-politische Gesellschaf t z u Schuhmachern«, deren Tätigkeit sich auf den staatspolitischen Diskurs konzentrierte. Das zentrale Anliegen beider Sozietäten war, »gute Bürger un d Patrioten un d endlich verehrungswürdige Regenten dem Staat zu pflanzen un d zu unterhalten«.23 Die Kritik an der amtierenden politischen Elite in der programmatischen Eröffnungsrede de r Gesellschaft zu Schuhmachern ist unüberhörbar. Bodme r als ihr Spiritus rector wandte sich deshalb insbesondere an die nachwachsende Führungsschicht. Ein Blick auf die soziale Zusammensetzung der Gesellschaft zu Schuhmachern macht dies deutlich: Von den 29 Mitgliedern stammten zwei Drittel aus den Kaufmanns-, Magistrats- und Rentnerfamilien, der städtischen Oberschicht, di e Mehrhei t vo n ihne n soga r au s regierende n Kreisen. 24 Ih r Durchschnittsalter lag bei achtzehn bis zwanzigjahren.25 Anders als ihre Väter, die sich dem Ökonomischen Patriotismus verschrieben hatten, 26 beschäftigten sie sich mit den politischen Missständen des Staatswesens. Durch vertiefte his torische Kenntniss e un d di e Diskussio n staatstheoretische r un d philosophi scher Schrifte n wollt e dies e zukünftig e staatstragend e Elit e ihre n geistige n Horizont erweitern. Es wäre aber falsch, die Gesellschaften al s exklusive Oberschichtenzirkcl z u verstehen ; vo n de n verbleibende n neu n Mitglieder n de r Gesellschaft zu Schuhmachern stammten sechs aus Gelehrten- und Beamtenfamilien, di e übrige n dre i au s de m Handwerkerstand. 27 Al s Präsiden t un d Sprachrohr fungierte mit Christoph Heinrich Müller ein junger Theologe aus einfachen Verhältnissen . Ausgewogener i n der sozialen wie altersmäßigen Zusammensetzun g sowi e gemäßigter i n ihre r politisch-reformerische n Ausrichtun g wa r dagege n di e Gesellschaft zu r Gerwi . Si e spiegelt e eine n repräsentative n Querschnit t de r städtischen Gemeindebürgerschaf t wider : »Männe r übe r 5 0 Jahren, di e all bereits wichtige Staatsämter bekleiden, Handwerker, Jünglinge von 20 Jahren, 22 Di e Namensgebun g bezieh t sic h auf ihren Versammlungsort i m Zunfthau s de r Gerber . 23 Zitier t nach : Büchi,S. 12 . 24 69 % oder zwanzi g Väte r de r Mitgliede r ware n i m Große n Rat , 34,5% oder zeh n Väte r i m Kleinen Ra t vertreten. Sieh e Graber , Bürgerliche Öffentlichkeit , S . 63, Tab. 13 . 25 Bodmer s nachhaltige r Einflus s is t sicherlich au f seine nahez u fünfzigjährig e Lehrtätigkei t am Züricher Carolinu m zurückzuführen , wodurc h jeder Züricher , de r sic h ein e höher e Bildun g erwarb, durch sein e Schule ging. Daz u zählte n di e Söhn e der Magistraten , de r Verlegerkaufleute , der Pfarrherren, der Gewerbetreibenden, der wohlhabenden Handwerke r un d begabte Stipendia ten ärmerer Bürgerfamilien . 26 72 % de r Ökonomische n Patriote n entstammte n de n regierende n Familien , vgl . Graber , Bürgerliche Öffentlichkeit , S . 37, Tab. 7. 27 Vgl . ebd. , S . 65, Tab. 14 .

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die erst ihre Laufbahn anfangen , geist- und weltlichen Stande s sind derselben einverleibt - di e einen lehren, die andern lernen; man sieht da in Beurteilung weder auf Rang noch Alter, sondern auf die Stärke und Wert der Gründe. Es war eine Zeit, dass man diese Innung für verdächtig hielt, sie schien allzu frei. «28 Ganz i m Sinn e Bodmer s gin g e s den Sozietäte n darum , ein e patriotisch vaterländische Gesinnun g z u fördern. Mi t de r Gesellschaf t zu r Gerw i hatt e Bodmer in Konkurrenz zur Helvetischen Gesellschaft in Schinznach29' eine eigene »Helvetisch-vaterländische Gesellschaft « gegründet , um dieses Ziel konsequenter verfolge n z u können . Di e historische n Studie n de r Gerw i ware n angeleitet vo n Bodmer s geschichtstheorctischer Auffassung , nac h der die geschichtliche Entwicklung eines Staates an die »Sitten« und den »Charakter« seines Volkes zurückzubinde n sei . Aus der Aufarbeitung de r helvetische n Ent wicklungsgeschichte wurd e s o letztlich di e natürliche Veranlagung z u eine m demokratischen Nationalcharakte r abgeleitet . Darüber hinau s sollt e der Vergleich vo n Vergangenheit un d Gegenwar t al s Gradmesser des sittlichen un d damit politischen Zerfalls des Vaterlandes dienen. Den tapferen und genügsamen Kriegern und Hirten von ehedem wurden die degenerierten Nachkomme n - da s »elende Muckenvolk« - de r Gegenwart gegenübergestellt. Überhaup t galt bei der historischen Analyse stets, den Zusammenhang zwischen dem Werdegang eines Volkes und der Veränderung seiner Tugendhaftigkeit z u studieren 30 um so Erkenntnisse für die als notwendig erachtete Erneuerung der »republikanischen Tugend « zu gewinnen. Gemeint war damit die gemeinschaftliche Sorg e um das Gemeinwohl, dem sich das Eigenintcresse unterzuordnen hatte . Tugendhaftigkeit äußert e sich in dem aktiven partizipatorischen un d gegebenenfalls militärische n Engagemen t der Bürger für die Republik. Di e innere Stabilität eines republikanischen Ge meinwesens, seine Überlebensfähigkeit, beruhte demnach nicht auf der Ehrerbietigkeit gegenübe r de m herrschende n Regimen t ode r de m individuelle n Nutzenkalkül, sonder n au f der Bereitschaf t seine r Mitglieder , ihr e Pflichte n gegenüber dem Ganzen zu erfüllen. Die größte Gefahr erwuchs der tugendhaften Republik aber paradoxerweise aus ihrer Beständigkeit. In Friedenszeiten, so der Ker n des Dekadenz- und Krisentopos , entwickele sic h zwangsweis e Mü ßiggang und mit ihm Habgier, Korruption und Herrschsucht, die die Tugendhaftigkeit de r Bürgerschaf t i n moralische r wi e politische r Hinsich t unter minierten un d da s republikanisch e Gemeinwese n de m Zerfal l preisgaben. 31 Abhilfe ließ e sich nur durch eine Rückkehr zu Vergangenem schaffen . 28 Johan n Rudol f Schinz i n seine m Nekrolo g au f Bodmer 1783 , zitiert nach : Erne S. 110 , Anm. 17. 29 Sieh e zu dieser ersten nationalen Sozietä t (gegründet 1761/62) , ebd., S. 35—40. 30 De r Historiker forscht »nach den Beyspiele n von Tugend und Laste r und nach Ursachen der Aufnahme [de s Aufstiegs] un d de s Verfalls de r Staaten « (Isaa k Iselin) , zitier t nach : Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit, S . 73. 31 Vo r diesem Hintergrund ist auch die Luxusdebatte des 18. Jahrhunderts zu verstehen: »Die

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Eine solche Wiederherstellung eine s frühere n Zustand s konnt e durc h di e gewaltsam herbeigeführt e Katharsi s einer Revolutio n erfolge n - au s diese m Grund deutet e Thomas Pain e den amerikanische n Unabhängigkeitskrie g al s Versuch einer moralischen Erneuerung. 32 Bodmer ging dagegen einen anderen Weg: Das genaue Studium der antiken Vorbilder in Sparta, Athen und Rom, vor allem aber der alten Sitten des Schweizervolkes als eidgenössischer Variante des klassischen Republikanismu s sollt e helfen, z u frühere r Tugendhaftigkei t zu rückzufinden. Diese n Überlegunge n la g ei n weitere r bekannte r Topo s de s Tugenddiskurses zugrunde, nach dem das einfache Volk natürlicher Träger der Tugend sei , d a sei n Will e grundsätzlic h darau f ausgerichte t war , nich t be herrscht zu werden, sondern in Freiheit zu leben. Dieser Freiheitsdrang schien für die alten Eidgenossen in besonderer Weise verbürgt und die Idee der politischen Tugend mit der eigenen Geschichte vorbildhaft verknüpft z u sein. Bodmer liefert e dami t eine n komplementäre n Bestandtei l z u de m Hirten - un d Bauernkult der Ökonomischen Patrioten, der sich zur nationalen Integrationsideologie verdichten sollte. Der von Bodmer vertretene Tugenddiskurs fand begeisterte Aufnahme unter seinen Schülern, war doch ihr Credo, «die gründe und lehrsätze einer wahren philosophischen Politick , di e Vortheile, Fehle r un d Verbesserunge n de r ver schiedenen Regicrungsarten« 33 z u studiere n un d z u diskutieren . Betrachte t man di e Leseliste n de r Gesellschaf t z u Schuhmachern , is t nebe n Bodmer s Schriften das gesamte Spektrum der politischen Tugendliteratur vertreten: von den antike n Autore n Sallus t un d Plutarc h übe r de n Bürgerhumanismu s Machiavellis hi n z u den damals heftig umstrittene n Schrifte n vo n Roussea u und Montesquieu.34 Die Lektüre wurde vertieft durch Referate zu historischen Beispielen politische r Tugendhaftigkei t un d republikanische n Gemeinsinns . Von besonderem Interesse waren dabei die Revolten und Aufstände der innerschweizerischen Länderorte , verstanden als Nagelprobe republikanische r Re generation. Aber auch gegenwartsbezogene Fragen wurden diskutiert: Conrad Ott hielt etw a einen Vortra g zu dem Thema , »o b die Natu r de r Republi k e s erfordere, den Reichthum der Particularen zu befördern«: »Die Republik ist ein solcher Staat, dessen Natu r eine Gleichheit seine r Bürge r erforderet , hiermi t ein Staat , wo jeder bürge r al s ein thei l de s ganzen verpflichte t ist , alle s nac h seinen kräften ihm mögliche, zu der Erhaltung und Wohlfahrt desselben beyzu tragen, und seine Glüksceligkeit nu r i n der Glüksecligkeit de s ganzen z u suchen. Jeder bürger muss sich die Erfüllung seine r Pflichte n gleic h angelege n seyn lassen, folglich auch der nuze, den die Erfüllung dieser Pflichten hervor Republiken gehen am Luxus zugrunde, die Monarchien an der Armut«, Montesquieu, Esprit des lois, Buch VII, Kap. 4, S . 134 . 32 Vgl . die »Bibel der amerikanischen Revolution« : Paine , S. 120 . 33 Büchi.S . 12 . 34 Vgl . Erne, S. 113 .

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bringt gleich genossen werden. Die Gleichheit der Pflichten soll die Gleichheit der Glüksecligkei t hervorbringe n .. . De r überflüssig e Reichthu m de r Parti cularen is t eine m freie n Staa t seh r schädlich , wei l au s de r Ungleichhei t de r Glüksgüter verschiedene verderbliche leidenschaften i n den Herzen der bürger entstehn; weil dadurch die natürliche Egalité die ursprünglich unte r den Menschen statt hat, aufgehoben wird.« 3“1 Ott beschrieb damit das klassische Ideal bürgerlich-republikanischer Selbst regierung, u m sie weitergehend unter Hinweis auf die »natürliche Egalité« mit dem aufgeklärten Naturrech t zu verbinden. Bereits hier zeigt sich die besondere Eigenar t de s schweizerische n klassische n Republikanismus , vo r alle m i n Anlehnung an Rousseau naturrechtlich e Positione n verarbeitet zu haben. Die politischen Implikatione n diese r von Bodmer inspirierten republikani schen Wiederbelebung ließe n sich leicht erschliessen. Di e Freiheit des Volkes wiederherzustellen konnt e in der politischen Praxi s nichts anderes heißen, als dass die Bürgerschaf t Zürich s aus der politischen Bevormundun g durc h den Kleinen Rat gelöst und in ihre überkommenen Partizipationsrecht e eingesetz t wurde. Zugleich waren auf seiten der Herrschenden Privilegie n und Korruption, die Hauptfeind e republikanische r Sittlichkeit , restlo s auszuräumen. Bal d schon wurden die Töne innerhalb des Zirkels revolutionärer, in einer Herbstsitzung des Jahres 176 2 polemisierte Johann Heinric h Füßl i gege n die Wahl missbräuchc: »Denn glauben Sie nicht, dass die Staatskunst ein Handwerk sei ein allgemeiner Irrtum! Der vornehme Pöbel hält Ämter in der Republik, welche ma n nu r den Verdientesten gebe n sollte , fü r Familiengüter , welch e vom Vater auf den Sohn in gerader Linie fortgehen. Man bestimmt heutzutage Leute von Extraction , wie ma n si e zu nenne n beliebt , vo n der Wiege au s zu Staats Leuten. Ma n sieh t a n ihre r Miene , welch e Ehrenstell e si e künfti g bekleide n werden .. . Sie glauben Müßiggang sei ein Privilegium des vornehmen Standes. Da man ihnen beibringt, dass sie ohne weitere Kenntnis zur Regierung gelangen können, so schleppen sie sich nicht mit dergleichen pedantischen Kleinig keiten [wi e der Mitarbeit in einer Gesellschaft]«. 36 Tatsächlich formiert e sic h seit 176 2 aus und i m Umfel d de r beiden Gesell schaften di e sogenannt e politisch e Jugendbewegung, 37 i n de r mehrheitlic h Söhne der städtischen Oberschicht, aber erstmals auch Angehörige der Mittelschichten, insbesondere Pfarramtskandidaten, radikalaufklärerisch e Positione n entwickelten. Nac h de r Auflösung de r Gesellschaft z u Schuhmachern , nich t zuletzt aufgrund ihre r unterschiedlichen Sozialstruktur , die zu internen Span nungen geführ t hatte, 38 verlagerte sic h di e Jugendbewegung stärke r i n ein e 35 Sieh e Graber , Bürgerlich e Öffentlichkeit , S . 68 , sowi e Braun , Da s ausgehend e Ancie n Régime, S. 295. 36 Büchi,S . 16. 37 Begriffsfindun g vo n Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit, S . 81. 38 Sieh e zur Illustration die Beispiele ebd., S. 65f., wonach sich viele der angehenden Gcistli -

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geheimbündische Subkultur . Hie r gediehe n durchau s Plän e eine r radikale n Katharsis, wie si e Thomas Pain e vertrat; ma n wollte nich t meh r nu r kritisc h diskutieren, sonder n revolutionä r handeln . Pestalozzi , auc h Mitglie d eine s Geheimbundes, räumt e rückschauen d ein , er habe damals gemeint, wen n e r den Bürgermeister von Zürich ermorde, sei alles damit getan.39 Die tatsächlich durchgeführten Aktione n ware n dan n doc h gemäßigter , si e richtete n sic h zunächst gege n extreme Fäll e korrupte r Amtsführung. Mi t Bedach t wurde n Repräsentanten de r drei staatstragende n Säule n Zürich s - Rat , Landeskirch e und Zünfte - ausgewählt , um den desolaten Zustand der Elite des Gemeinwesens zu unterstreichen. In anonymen Druckschriften wurden die Verfehlungen des Landvogts Grebel, des Zunftmeisters Brunne r und des Pfarrers Hottinge r publik gemacht. Deutlic h tra t dabei di e moralphilosophische Argumentatio n des Tugenddiskurse s un d sein e Vereinnahmun g fü r di e eigen e Geschicht e hervor. S o verknüpften Lavate r und de r Maler Füßl i i n der von ihne n gege n Grebel verfassten Klageschrif t »De r ungerechte Landvogt oder die Klage eines Patrioten« (1762) den klassischen republikanischen Topos des rechtmäßigen (! ) Tyrannenmordes - »Sollte n den n kein e Junius Brutu s unte r de n Christe n sein?« - mi t de r Frage , ob Zürich keinen Tel l ode r Baumgarte n meh r habe : »Würden diese redlichen Helvetie r einen solchen Tyrannen, der grausamer ist als Gessler und Landenber g waren , unte r sic h gelitte n habe n ode r hätte n si e ihm nicht vielmehr gleiche Strafen wie diesen angethan?« 40 Neben diesen dem klassischen Republikanismus entlehnten Metaphern und Argumentationsfiguren is t überdie s ein e gan z frappant e qualitativ e Verände rung bemerkenswert . Erstmal s ka m mi t de r Perso n de s Landvogt s un d de s Landpfarrers das Umfeld des ländlichen Untertans mit in den Blick. Hatten die Ökonomischen Patriote n i n ihre r Doppelfunktio n al s Aufklärer un d Herr schende da s politische Herrschaftsverhältni s vo n Stad t un d Lan d unberühr t gelassen, setzte n sic h di e Anhänge r de r politische n Jugendbewegung i n be wusster Abkehr von den als halbherzig empfundenen patriotischen Reformer n über diese Vorbehalte hinweg. Nich t nur die Machenschaften de s städtischen Herrschaftsapparats au f der Landschaft i n Gestalt des Landvogts wurden kri tisch thematisiert, sondern auch ländliche Akteure (wie die Gebrüder Ernst aus Dättlikon) als Helfershelfer enttarnt . Höhepunkt diese r Entwicklun g stellt e di e i m Jahr 176 7 veröffentlicht e Druckschrift des ehemaligen Präsidente n de r Gesellschaft z u Schuhmachern , Christoph Heinric h Müller , dar , i n de r e r eine n philosophierende n Bauer n chen angesicht s eine r fatale n Arbeitsmarktlag e al s Hauslehre r i n de n Familie n ihre r »Vereins brüder« verdinge n mussten . Ihr e materiell e Abhängigkei t vo n de n Oberschichtenfamilie n stan d der vermeintliche n Gleichberechtigun g diametra l entgegen ; kritisch e Anmerkunge n de s Ange stellten führte n wi e gehab t z u dessen Entlassung . 39 Zitier t nach : Braun, Da s ausgehende Ancie n R égime, S . 298. 40 Strickler.S . 17 .

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auftreten ließ , u m scharf e Kriti k a n de r Entsendun g vo n Züriche r Truppe n gegen Genf zu üben. Die Kritik richtete sich gegen die Niederschlagung einer als gerech t empfundene n Bürgerrevolte , di e sic h au f die Lehre n Rousseau s berief I n ironischer Anlehnun g a n di e Bauerngespräch e de r Ökonomische n Kommission übernahm Müller deren Form für ein »Gespräch zwischen einem Baur, eine m Untervog t un d eine m Herren , al s es schien, e s müsse Volk gen Genff ziehen, um die Mediation verfasst vom 15 . Dezember zu belieben«. Mit naiven Frage n und schlagfertigen Kommentare n legt e der Bauer dar, dass wer sich a n de r Niederschlagun g de s Genfe r Volksaufstande s beteilige , vo r Gott und dem eigenen Gewissen ins Unrecht setzen würde, denn »einem die freiheit zu nehmen, ist noch weit ärger als einem das Leben nehmen .. . da dörfte man der Oberkcit selber nicht mehr glauben«. Das Verhalten der Genfer Bürger sei zudem verfassungsrechtlich legitimiert , d a ihnen wie den Zürichern sei t dem Geschworenen Brie f von 171 2 zustünde , »ih r Regimen t anzuordne n wi e si e wollten!«41 Aus diesem Grund beschloss der Bauer, sich »eher zu Riemli zerhacken« zu lassen, als gegen Genf zu ziehen. Müller gelang damit ein brillantes politisches Pamphlet. Durch die Form des Bauerngesprächs legt e e r einen äußers t diffizile n Sachgegenstan d allgemein verständlich dar . Besonders geschickt aber war, dass Müller mi t der Figur des schlichten, aber lebensklugen Bauer n das auch von den Ökonomische Patrioten propagierte Bild des unverdorbenen, integren Landmann s für seine Position vereinnahmte und ihr damit höhere Weihen verlieh. Erwartungsgemäß entwickelte di e hie r inszeniert e Gehorsamsverweigerun g ländliche r Untertane n eine enorme Brisanz. Die umgehend eingeleitete obrigkeitliche Untersuchun g zwang Müller zur Flucht und führte zur Verhaftung von mehreren jungen Patrioten wi e Pestalozzi ; da s Organ de r politischen Jugendbewegung, »De r Erinnerer«, wurd e verbote n un d al s »Schandschrift « zusamme n mi t andere n »Lästerschriften« vo m Henke r öffentlic h verbrannt . Di e Regierun g meinte , hart durchgreifen z u müssen, nachdem bereits die aufgedeckten Korruptions fälle auf beträchtliche öffentliche Resonan z in der Stadt und auf der Landschaft gestoßen waren. Zahlreiche Landleut e hatten , nachdem die Verfehlungen de s Landvogts Grebel bekannt geworden waren, ihrerseits Klagen gegen den Vogt eingereicht, s o dass sic h di e Obrigkei t z u eine r gerichtliche n Untersuchun g gezwungen sah . Obwohl sic h all e Anklagen al s berechtigt erwiese n un d ein e Verurteilung nach sich zogen, kamen auch die jungen Patrioten nicht ungestraft davon: Lavater , Füßli und andere mussten vor dem Ra t Abbitte für ihr eigenmächtiges Handeln leisten . Darüber hinaus verfolgte die Obrigkeit nun eine zweigleisige Strategie , um die politisch e Jugendbewegung z u domestizieren , inde m si e anpassungswil ligen Mitglieder n Aufstiegsofferte n machte . Angesichts eines drohenden Be 41 Graber , Bürgerliche Öffentlichkeit, S . 91, und Bücht, S. 24.

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rufsverbotes lenkte n viel e »Herrensöhne « zugunste n eine r beruflich-politi schen Karriere ein. So wie Lavater und der ehemalige Obmann der Gesellschaft zur Gerwi, Füßli, gelangten viele auf den Spuren ihrer Väter in politische Ämter.42 Während einige in der Folgezeit zumindest einen gemäßigten Reformkur s vertraten, wechselte etw a Hirze l i n das reaktionäre Lage r über. 43 Andere ver suchte ma n dagegen durch Stigmatisierung , begleite t vo n Verhaftungen, Ver hören und Berufsverboten, zu isolieren. Diese Dirffamierungskampagne tra f im besonderen die Pfarramtkandidaten al s Hauptträgerschaft de r Bewegung. Der geschickt eingesetzt e Vorwur f der Ketzere i ka m fü r dies e jungen Theologe n einem Berufsverbot gleich. Für die Mehrzahl der Jugendbewegten wurde unter diese n Bedingunge n de r Konformtätszwan g z u groß , Anpassun g a n da s System oder Flucht ins Private wie bei Pestalozzi folgten .

2.2. Di e Dynamisierung des städtischen Gemeinderepublikanismus : Die Entstehung eines »volksaufklärerischen« Milieu s und di e Zunftunruhen vo n 177 7 Der Verlau f der politische n Jugendbewegung führ t exemplarisc h di e Janusköpfigkeit der Züricher Aufklärungsbewegung vo r Augen. Der Ökonomische Patriotismus einer aufgeklärten Führungsschicht, der mit seinen Reformen auf die Stabilisierun g de s bestehende n spätabsolutistische n Herrschaftsgefüge s ausgerichtet gewesen war, hatte nur zu bald eine politische Reformbewegun g angestoßen, die das Fundament des züricherischen Ständestaates in Frage stellte. Doc h gelan g e s der herrschende n Elit e unte r Ausspielun g de s Identitäts konflikts de r Mehrzah l de r politische n Patrioten , Aufkläre r un d gleichzeiti g Angehöriger der Führungsschicht z u sein, dieses kritische Potentia l End e der 1760er Jahre z u domestizieren. Di e in Gan g gesetzte Politisierun g de r Stadt bürgerschaft ließ sich damit jedoch nicht rückgängig machen, und schon kurze Zeit später - i n den Zunftunruhen de s Jahres 177 7 - zeigt e sich das Doppelgesicht der Aufklärungsbewegung erneut . Anlass der Unruhen war das »Französische Bündnis«. Unter dem Eindruck einer Veränderung der europäischen Kräftekonstellation sahe n sich Zürich wie auch andere reformierte Kantone gezwungen, ihre ablehnende Haltung gegenüber Frankreic h aufzugeben . Di e Verhandlungen verliefe n i n alle r Stille , d a 42 Sieh e beispielsweise Grabers Untersuchung der ehemaligen Angehörigen der Gesellschaft zu Schuhmachern, von denen 58,9 % in den Großen Rat, 41,4 % in den Kleinen Rat eintraten sowie zahlreiche andere öffentliche Ämte r bekleideten. Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit, S . 63, Tab. 13. 43 Vgl . Braun, Das ausgehende Ancicn Regime , S. 301.

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man di e antifranzösisch e Haltun g de r Bürgerschaf t fürchtete . Au s diese m Grund legte der Kleine Rat den Vertragstext auch erst kurz vor Abschluss den Zünften zu r Beurteilung vor, so dass diese praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt waren. Da s bedeutete eine eklatante Verletzung der Vereinbarung des Libells von 1713, 44 wonach de n Zünften ei n Mitsprachcrecht be i Bündnisabkommen zustand. Die Reaktion der aufgebrachten Zünfter erfolgte umgehend, in Handwerkerkreisen tauchte der Plan einer Zunftverschwörung auf. 45 Dabei bediente man sich der geheimbündischen Subkultu r der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, die bis in das Handwerkermilieu hineinreichte . So hatten die aufklärerische Sozietätcnbewegun g und ihre wichtigste Innovation, der herrschaftsfreie Diskurs , auch Anteil an den Zunftunruhen vo n 1777 . Aufklärerisches Wissen war an die Basis diffundiert un d löste nun eine Aufklärungsbewegung »von unten« aus, die auch vor Kritik an den Reformern nich t halt machte. Die neuen Ideen erreichten breite Volksschichten, und es entstand ein gesellschaftliches Räsonnemcnt , das sich bald nicht mehr auf den Binnenraum der Sozietät beschränkte, sondern in den öffentlichen Rau m verlagerte. Wie sich aus Äußerungen Lavaters 46 entnehmen lässt, stammten die Anführer de r Verschwörung au s dem kaufmännische n Bürgertum , abe r auch »von Seithen de r gem. Bürgerschafft « au s Handwerkerkreisen . Mi t Marti n Uster i war zumindes t ei n Vertrete r de r politische n Jugendbewegung i m innerste n Kreis der Opponenten vertreten. Schon bald zeigten sich tiefgreifende Diver genzen zwischen den Gruppierungen, die Forderungen der von den Kaufleu ten belächelten Handwerker 47 wurden als zu radikal empfunden. Da s war um so verständlicher, als sich einige der Klagepunkte gegen die Kaufleute und ihre weiterhin bestehend e Zunftfreihei t richteten , i n dere n Folg e ihr e politisch e Präsenz überdurchschnittlic h hoc h war , währen d di e Vertretun g de r a n be stimmte Zünft e gebundene n Handwerke r beständi g abnahm . De r Maure r David Vogel betonte dementsprechend, es gehe nicht nur um das Mitspracherecht der Zünfte i n Staatsangelegenheiten, sonder n auch das Wahlsystem und die Wahlordnung seie n Gegenstan d de r Kritik : »Da s ärgert Jeden Ehrliche n mann, wan n E r siehet, wi e manchmah l Leuthe , die nich t da s geringste Ver dienst um s Vatterlan d habe n .. . Ein[z]i g nu r u m desswille n herfü r gezoge n werden, weil si e von der oder dieser famille sind , auch ärgert es zu sehen, das 44 Sieh e oben Kap. 1. 2. 45 Zu r Geschichte der Zunftunruhen sieh e die Darstellungen bei : Dändliker, Geschichte der Stadt un d de s Kanton s Zürich, Bd . 3, S . 65ff; W.G . Zimmemiamn, S. 26ff.; Graber , Bürgerlich e Öffentlichkeit, S . 125ff, dessen quellennaher Darstellun g hier gefolgt wird. 46 Nachlas s Hans Kaspar Hirzel, zitiert nach: Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit, S . 12 8 und passim. 47 Fü r die abschätzige Haltung der Kaufleute gibt Lavater Indizien: »jene [die Kaufleute] lassen diesen de n schein anfuhre r z u seyn, da sie sich i n ihren bestehende n Zusamenkönfte n übe r sie moquieren«, zitiert nach: ebd., S. 129.

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Einige Leuth e di e offentlichen Ämter vast als Ein Patrimonium ansehe n un d dass überhaub t bey Vertheilung derselben, die billiche burgerliche Theilsam e sehr wenig beobachtet wird ... und das ist doch Eigentlich gegen unsere Con stitution, und gegen den Wahl Eyd der von Familien nicht Ein Worth sagt, sonder haben will, dass mann den wegsten und besten wehle.« 48 Die Kriti k am »Französischen Bundesgeschäft « weitet e sic h rasc h z u eine r grundsätzlichen Missbilligun g de r bestehende n Verfassungswirklichkei t aus . Vogel griff mit seinen Äußerungen ein traditionelles Streitthema auf. Di e Forderung der bürgerlichen Vertretung gegen die zunehmenden Abschließungs tendenzen der herrschenden Familien wie auch die permanente Verletzung des Wahleids gehörten seit jeher zu den traditionellen Konfliktpunkte n zwische n Rat und Bürgerschaft. 49 Nachdem der frühufklärensch geprägt e Verfassungskonflikt vo n 171 3 überdies nur bescheidene Verbesserungen de r Gemeinde partizipation gebracht hatte, war eine latente Opposition gegen diese Missstände i n besondere r Weise präsent geblieben. Aufklärerische Ideen , stärke r abe r noch die Anleitung zum kritischen Diskurs wirkten jetzt als Motor einer traditionell geprägten kommunalen Protestbewegung , di e die »Wiederherstellung « alter gemeindebürgerlicher Freiheite n forderte. Dabe i wurde überkommene r Inhalt in neuen Forme n artikuliert. So war Vogels Schrift Tei l eines öffentlic h ausgetragenen Meinungsstreit s zwische n Gegner n un d Befürworter n eine s Memorials an die Obrigkeit, das um die Erläuterung des Libells von 1713 nachsuchte. Eifrig wurden diese Pamphlete in den zahlreichen spontan gegründeten Zirkeln un d i n de n Wirtshäuser n diskutiert. Da s konspirative , geheimbün dische Räsonnemen t wa r dem öffentlichen gewichen , nachdem da s von den sogenannten Repräsentante n erarbeitet e Memoria l i n verschiedene n »Bu reaux« zur Unterschrift ausgeleg t worden war: »Es sollen am [Sonn]ta g schon über 10 0 unterschrieben haben , darunter sehr viel geistliche, auch stationiert e geistliche sey n solle n .. . Mein barbie r und der gesell, ein besuche r de r trink stuben, sagte mir, in allen trinken werde über dieses geschäfft geredt«, 50 berichtete der Stadtarzt Hirzel von Eindrücken Lavaters. Insgesamt unterzeichnete n 169 Personen das Memorial, von denen mehr als zwei Drittel, also eindeutig die Hauptträgerschaft, de m Handwerksstand angehörten. 31 Grund fü r ihr e Mobilisierung war neben der politische n Zurückdrängun g auch ihre wachsende soziale Unzufriedenheit angesicht s einer beschleunigten 48 Au s der Schrift David Vogels: Alexander Redlich, der Kupfferschmid a n Seinen Vetter Hrn. Pfarrer Krazfuss zu N., Verfasser des Brieffs Eines zuricherischen Handtwerksmanns an Seine mit Burger, übe r die gegen wärthigen Zeith Läuffte , zitier t nach : ebd., S. 139 . 49 Sieh e oben Kap . 1.2 . 50 Stadtarz t Hirzel nach Äußerungen Lavaters, zitiert nach: Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit , S. 129 . 51 Vgl . ebd., S. 131 , Tab. 17. Von den insgesamt 16 9 Personen gehörten 13 3 zum I landwerksstand, 1 5 waren Kaufleute , elf Angehörige des Gelehrtenstandes und zeh n Geistliche .

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protoindustricllen Entwicklung , di e das Handwerk zu marginalisicren drohte. Entsprechend wurde auf den in der Folge erzwungenen Zunftanhörungen, den »Zunftanzügen«, auc h auf die prekäre wirtschaftliche Lag e der »gemeinen Bürger« hingewiesen. In dieser Situation trat das neue politische Selbstbewusstsein der einfachen Bürgerschaf t hervor . So erinnerte der Schuhmacher Michel die Vorgesetzten daran, »dass Sie treue burger haben, die Sich mit so viel kosten wie mann e s wolle, mi t mord - un d armatu r versehen , auc h das s Jeder burger bereithwillig auff den Plaz und auff die allment sich verfüge« 52 Die Bitte um soziale Erleichterung wurde gekoppelt mi t dem Hinwei s auf die getreulich erfüllten bürgerliche n Pflichte n gegenüber dem Gemeinwesen, aus denen sich umgekehrt bestimmte Rechte ableiten ließen. Mit dem Hinweis auf den gemeindlich-genossenschaftlichen Grundsat z der gleichmäßigen Teilhabe an Rechten und Pflichten wurde die Legitimität des Anliegens gegenüber der Obrigkeit verteidigt. 53 Wie reagierte die zu großen Teilen aus aufgeklärten Reformer n bestehend e Obrigkeit auf die Tatsache, dass hier ein eigenes »volksaufklärerisches« Milie u entstanden war? Ihr Umgang mit einem der Anführer der Bewegung aus der gemeinen Bürgerschaft , de m Krämer Hans Rudolf Hofmeister, ma g das illustrieren. Hofmeister wurd e zum engagierten Verfechter de s Memorials, nachdem er aufgrund von autodidaktischen Studien der Züricher Landesgeschichte zu der Überzeugung gelang t war, dass in der französischen Bündni s frage tatsächlich die Mitspracherechte der Zünfte verletzt wurden. In seiner Argumentation griff Hofmeister abe r über bloße rechtspositivistische Erklärunge n hin aus, als er auf das Prinzip der Volkssouveränität rekurrierte. Stadtarzt Hirzel gab nach einer Unterredung mit Hofmeister dessen Äußerungen wie folgt wieder: »dass er [Hofmeister ] nu r für seyn e freyheitcn geeifert , d a die Fundamental gesetze im namen der gemeind abgefasst seyen, und also ein jeder burger einigen antheil an der gesezgebung habe, dass er also in zweifelhafften feile n auc h seine gedanken äussern könnte, worüber die gemeinde allein entscheiden könne ... Er wolte sich nichts anders berichten lassen, und sagte immer, die gemeind seye doch der gesezgeber [ Hervorhebung d. Vf ]. So finde er es und er müste auf der Zunft di e Frag vorlegen, wer in solchen Zweifeln zwische n der Meynung der obrigkeit und eines redlichen bürgers Richter seye.« 54 Dass Hirzel al s Ratsmitglied angesicht s dieser naturrechtlichen Deduktio n von Volkssouveränitä t un d Meinungsfreihei t zutiefs t erschrak , verwunder t nicht. Auf die Frage, woher Hofmeister sei n Wissen bezogen habe , gab dieser den Besuc h de r »Hundtagsorationen « zu , eine r Ar t Volkshochschule , i n de r 52 Ebd. , S . 130 . 53 S o wurde gefordert, »nac h dem allgemeinen Sprüchwortl i [zu ] handeln, was Ihr wollet, dass Euch di e Leuth e thun , da s thut auc h Ih r Ihnen« , zitier t nach : ebd., S . 131 , Anm. 158 . 54 Ebd. , S . 135 , Anm. 176 .

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Füßli öffentlich e Vorträg e zur Staatstheorie hielt. 55 Die hier erhaltenen Anregungen hatte Hofmeister durch eigene Lektüre vertieft. Eine solche eigenständige politische Bewusstseinsbildung des einfachen Bürgers stieß aber auf heftige Ablehnung unter den obrigkeitlichen Aufklärern. Hier zeigte sich wiederum die Ambivalenz der Aufklärung: »Sobald Aufklärung die Beherrschten ergreift , werden dies e fü r unmündi g erklärt« 56 - i n diese m Sinn e sprac h Hirze l de m Krämer di e Kompeten z ab, sich zu staatsrechtlichen Problemstellunge n un d deren Praxis zu äußern.57 Hofmeister wa r durchau s kei n Einzelfall , ander e einfach e Bürge r wi e de r vorn zitierte Maurer Vogel, der Bratwurster Koller oder der Zinngießer Weber wären zu nennen. Für Hirzel diente das als ein Beweis dafür, »wie stark der thon des worts freyhei t au f die Seel e eine s republikaner s würke.« 58 Nachde m di e üblichen Versuch e de r Einschüchterun g un d de s zeitliche n Verschlcppen s nicht verfingen, sonder n im Gegenteil den Zusammenhalt de r Memoraliste n stärkten und imme r weitere Kreise der Stadtbürgerschaft mobilisier t wurden, wuchs die obrigkeitliche Sorge vor dieser Emanzipationsbewegung von unten. Ganz offensichtlic h tra t de r obrigkeitlich e Autoritätsverlus t zutage , al s trot z Ermahnungen ei n weitere s Memoria l eingereich t wurde . Ratsher r Schinz , Mitglied der Physikalischen Gesellschaft und damit den Reformern zuzurech nen, gab angesichts dieser Zuspitzung zu, »allein die gegenäußerung habe ihn äusserst bestürzt . Ein e bürgerlich e gegenäusserung gege n mngndhh.[Mein e gnädigen Hohe n Herren], ohne noth, ohne authorität, ohne Beruff«. 59 Schinz hatte die folgenschwere Bedeutun g dieses Protests klar erkannt, der sich übe r di e konkrete n Anliege n hinau s au s eine m grundsätzlic h andere n Staatsverständnis speist e un d ein e fü r ih n kau m nachvollziehbar e politische Mündigkeit der Akteure offenbarte. Das Verständnis der Memoralisten von der obersten gesetzgebenden Gewalt des Volkes wie auch die Forderung nach Einführung des demokratischen Mehrheitsentscheid s i n den Zunftversammlun gen, di e dami t z u wahrhaf t politische n Körperschafte n umgestalte t worde n wären, bezeugte n da s Ausmaß de r Politisierung : »E r [Schinz ] find e kein e Unschuld mehr, sonder Leuthe, So Sich angemaaset, Ihren so genanten Doppelsinn zubestimmen, oder Viel mehr Einen Frembden Sin n dem Gesäz bey zulegen, de r nirgend s kei n fundamen t hab e .. . ma n red e Vo n Eine r Gesäz 55 Erwartungsgemä ß richtete sich denn auch der Zorn Hirzcls gegen Füßli: »Wie unvorsichtig ist es, wenn mann in öffentlichen Hörsäle n die Staats grundsäze erklähren will«, zitiert nach: ebd., S. 136. 56 Ebd. , S. 135. 57 »Ic h sehe , das s Staats- und Constitutionssachen fü r ih n z u schwehr seyen , e r solle diese geschikteren überlassen. Er sehe ja die gelehrtesten und Erfahrensten Herren anders hierüber denken. Es seye auch Weisheit, sein Unvermögen in besondern geschäfften z u erkennen«, zitiert nach: ebd. 58 Ebd. , S. 137 , Anm. 182. 59 Ebd. , S. 142 , Anm. 206.

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gebenden Gewalth , als wenn kei n Eingan g in dem geschwohrnen Brief f Vorhanden, de r Selbig e determiniere , man n Verlang t Ei n Mehr, das auch i n den grösten Stürmen , die jemahls über unsere Constitution Ergangen , niehmahl s auff da s Tape t gekommen , un d just di e Constitutio n au s Ihre m Fundamen t Reissen thäte , auc h de n Weg bahnte, alle augenblic k di e grösste n Hande l z u Erregen. «60 In diese r Situatio n grif f de r Ra t au f jene Strategi e zu r Eindämmun g de r Reformbewegung zurück, die bereits so erfolgreich der Aufweichung der politischen Jugendbewegung gedien t hatte . Geziel t wurde n i n eine m Atemzu g Drohungen ausgesprochen und jenen Vertretern bürgerlicher Mittelschichte n Aufstiegsofferten gemacht , die teilweise zehn Jahre zuvor als radikale Elemente der politische n Patriote n ausgegrenz t un d stigmatisier t worde n waren . Al s insgesamt 31 Zünfter, di e ihren Zunftmeistern Gegenäußerunge n überbrach t hatten, vor einer Ratskommission erscheine n mussten , zeigten sich die ersten Erfolge dieses Vorgehens. Außer zwanzig Handwerkern waren auch Geistliche, einige städtisch e Beamt e un d ei n Kaufman n vorgeladen . Während der schon bekannte Kräme r Hofmeiste r wi e ander e auf dem Rech t beharrte, »al s freie r Bürger für seine Freiheit zu sorgen«, und betonte, dass seine Zweifel noch nicht behoben seien. 61 verhielten sich die übrigen Vorgeladenen eher ruhig oder versuchten gar, wie die Geistlichen, sich demonstrativ von den übrigen zu distanzieren. Als die Obrigkeit überdies in einer öffentlichen Verlautbarun g den Zünfte n ihre Recht e bestätigte , gelan g di e Spaltun g de r Protestbewegun g endgültig . Jene Zünfter , di e nu n noc h Widerstand leiste n wollten , gerieten rasc h i n die Isolation. Unter diesen Auspizien wurde der Meistertag von 1777 , an dem die Zunftmeister vo n de r Versammlung gewähl t werden, nich t zuletz t aufgrun d der versöhnlichen Stellungnahmen der Anpassungswilligen zu einem Zeugnis trauten Einvernehmens zwischen den Zünften und der Obrigkeit.62 Jetzt waren es gerade die politischen Patriote n der städtischen Mittelschich t au s subalternen Beamten , ordinierte n ode r angehende n Geistliche n un d Kaufleuten , di e durch ihr Einlenken politisches Karrierekapita l aus den Spannungen schlage n konnten und in die Räte aufstiegen. »Meine schüler sind jez Zunftmeister und rethe, aber mei n Sin n is t nicht i n ihnen , und von meinen Lehre n wüssen sie nichts, nichts mehr«:63 Dieses Fazit zog der alte Bodmcr am Ende der radikalen Aufklärungsphase un d dem Begin n einer konservativ-reaktionären Stabilisie rungsphase. Die Zunftunruhen von 1777 hatten aber bezeugt, dass aufklärerische Gedanken auch von der gemeinen Bürgerschaf t aufgenomme n un d auf traditionelle 60 Ebd.,S . 143 , Anm. 208. 61 Ebd.,S . 144 , Anm. 217. 62 Sieh e die Beschreibungen in: ebd., S. 147. 63 Zitier t nach : ebd., S. 149.

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Konflikte übertrage n wurden . De r damit i n Gang gesetzte Dynamisierungs prozess mündete i n einer kommunalen Protestbewegung , dere n Zie l e s war, die Abschaffung alte r Missstände mittels neuer Legitimationsmuster z u rechtfertigen. Di e altrechtliche Begründun g un d die Forderun g de s gemeindlich genossenschaftlichen Grundsatze s gleichmäßige r Teilhab e a n Rechte n un d Pflichten ware n tradiert e Argumentationsmuster. Ander s verhielt e s sich mi t dem Prinzi p de r Volkssouveränität, da s nu n nich t meh r - wi e noc h i n de n Zunftunruhen vo n 171 3 - allei n von Gelehrten wie Scheuchze r vorgetragen , sondern offensichtlich von den städtischen Mittelschichten aus Handwerk und Gewerbe aufgegriffe n wurde . E s gehörte zu r Dialekti k de r aufklärerische n Sozietätenbewegung Zürichs, dass deren Initiatoren schon bald mit der Eigendynamik des Emanzipationsprozesses konfrontier t wurden . Jede ihre r Refor men trug bereits den Kern ihrer Restriktion i n sich; das galt für die politische Jugendbewegung ebenso wie für die spätere, handwerklich getragene Volksaufklärung. In den 1790er Jahren ist es die ländliche Emanzipation, der sowohl die Ökonomischen Patriote n al s auch die politischen Patriote n zugearbeite t hat ten, welche das Herrschaftsgefüge de s Züricher Stadtstaates ernsthaft i n Frage stellte. Während die französischen Revolutionär e di e Dokument e de r Herrschenden i n den Schlösser n un d Archiven zerstörten , grube n die unzufriedenen Zürche r Landleut e di e vermoderten Pergament e sorgfältig hervo r un d verehrten si e wie wundertätige Reliquien. 64

2.3. Di e Dynamisierung des ländlichen Gemeinderepublikanismus : Altes Recht und neu e Freihei t i m Gehäuse de r tugendhafte n Republik am Beispie l de s Stäfner Handel s von 1794/9 5 Anders als im städtische n Milie u erwuch s de r Aufklärung i n Teile n de r Zü richer Landschaft ei n systemsprengendes Reformpotential . Mi t de r Entwick lung eines ländlichen Vereinswesens seit den 1780e r Jahren entstande n neu e »Erfahrungsforen«, i n dene n ma n sic h zunehmen d au s de m traditionelle n Untertanenstatus löste . Aus diesem Umfel d rekrutierte n sic h di e Initiatore n einer ländlichen Reform - und Protestbewegun g de r Jahre 1794/95 , die allgemein als »Stäfner Handel« bezeichnet wird. Tatsächlich sind aber zwei qualitativ unterschiedliche Bewegungen zu unterscheiden, die allerdings in einem direkten Entwicklungszusammenhang standen , indem der »Memorial Handel « von 1794 zum Auslöser einer breiteren Volksbewegung im Jahr 179 5 wurde, in deren Mittelpunkt die Seegemeinde Stäfa stand. 64 Mörgeli , S. 1 3 (Einleitung).

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Mit dem »Stäfne3r Memorial« formuliert e i m Herbst 179 4 ein kleiner Kreis von Mitgliedern de r Politischen Lescgesellschafte n de r Landschaft ein umfassendes Reformprogramm . Diese r gesellschaftlich e Ordnungsentwur f reflek tiert kaleidoskopisc h di e grundlegenden Gegensätz e vo n Kollektivismus un d Individualismus, von Gemeinnutz und Eigennutz, wie sie mit dem Übergangsprozess von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft hervorbrachen. Das Memorial stellt e de n Versuch dar , diese Gegensätz e z u überbrücke n bzw . in gewandelten Erklärungsmustern miteinander zu verbinden. Zum eine n stande n di e sogenannte n Memoralisten vo r de r Aufgabe, di e Ablösung de s traditionelle n ständische n Verhältnisse s vo n Stadtbürge r un d ländlichem Unterta n zugunste n eine r gleichberechtigte n Stellun g de r Land schaft zu legitimieren. Hieri n la g die wahrhaft revolutionäre Qualität des Memorial Handels . Diese Gleichstellung zielte zum zweiten in besonderer Weise auf die wirtschaftliche Freihei t der Landbewohner, so dass die Forderung nach individuellem Erwerbsstrebe n mi t seinen negative n Konnotatione n mi t dem Gemeinwohlgedanken verbunden werden musste. Drittens zog die angestrebte Überwindun g de s ständische n Untertanenstatu s gleichsa m kompensato risch di e Notwendigkei t nac h sich , einen neue n innergesellschaftliche n Zu sammenhalt zu stiften. Individualisierung, Eigeninteress e und egalisiertes Staatsbürgertum - lasse n sich diese Eckpfeiler eine s »frühliberalen« Konzept s von bürgerlicher Gesell schaft (A . Kölz), die sich als Lösung anzubieten scheinen, tatsächlich nachweisen, oder zeigt sich in dem Reformkatalog des Stäfner Memorials eine alternative Vorstellung? Wie begründete man einerseits den Ausbruch aus bestimmten Kernbereichen des ständischen Wertekanons, und welche ständischen Elemente behielt ma n andererseits bei ? Das Stäfner Memoria l entwarf , das gilt e s zu dokumentieren, ei n gewandeltes gesellschaftliches Ordnungskonzept , inde m es die ursprüngliche n Gegenkonzept e vo n Tugen d un d Interesse , vo n stän disch-korporativem un d naturrechtlich-individuelle m Denke n miteinande r verknüpfte. Weiterhin soll nac h der Rezeption diese s Entwurfs durch die ländliche Bevölkerung gefragt werden , d a der Memoria l Hande l vo n 179 4 zum Auslöser einer breiteren, di e Gemeinden des Zürichsees umfassenden Volksbewegun g wurde, de m eigentliche n Stäfne r Hande l vo n 1795 . Konnt e demnac h de r »transformatorische Gehalt « diese s Gesellschaftsentwurfs , sein e Vernetzun g von Traditionellem un d Neuem , auf die kommunalistische Autonomickultu r der Züricher Landschaft überspringen , sie »dynamisieren«? Es is t z u fragen , wori n di e massenmobilisierend e Wirkun g de s Starne r Memorials bestand , ob es Entsprechungen zwische n de r kommunalistische n Autonomictradition de r Landschaf t un d dieser gesellschaftlichen Ordnungs vorstellung ga b bzw . umgekehr t - mi t Blic k au f das Scheiter n de r Reform bewegung-weiche Grenze n und Gegensätze aufzuzeigen sind . 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Die Entwicklung des ländliche n Vereinswesens seit den 1780er Jahren: Die Singschulen als Vorläufe r der Lesegesellschaften. Erstmal s tauchte da s Memorial i m Krei s der sogenannten Lesegesellschaf t a m Se e auf, di e z u einem Net z von ländliche n Lesevereinen rund um den Zürichsee gehörte. Tatsächlich hatte die »unter allen Ständen in der Stadt grassierende Lesesucht« - s o die Beobachtung des konservativen Stadtzürichers Salomon von Orelli65 um 1780 - auc h auf die Landschaft übergegriffen. Ohn e Zweifel waren die wöchentlichen Lesemappen der Stadtzüricher Lesezirkel auch in die stadtnahen Gebiete rund um den See gelangt: in die Landhäuse r von Stadtbürgern, die Badegasthöfe 66 oder so manches Pfarr haus bzw . in di e vo n stadtbürgerliche n Pfarrer n gegründete n Kapitelsbiblio theken.67 Nebe n de n »elendesten Romanen « kame n s o auc h di e Werk e Rousseaus, Voltaires und Friedrichs des Großen bis hin zu einer »Beleuchtung der Cantischen Philosophie« in die Seedörfer.68 Greift man jedoch auf die pfarrherrlichen Synodalbericht e übe r da s Bildungsniveau au f der Landschaf t au s den 1770e r Jahren zurück , erschein t di e konstatiert e »Lesesucht « zunächs t überraschend. S o berichtete der Pfarrherr Heinric h Esche r von Pfärffiko n i m Züricher Oberland: »Ma n kann sich nichts traurigers vorstellen al s die Landschulen, wie si e insgemei n aussehen . Man denk e sic h einen Haufe n kleiner , roher, ungesitteter Kinder ... Unter vielen Drohungen und Schlägen komme n sie nach Verlauf von einigen Jahren soweit, dass sie etwas lesen, einige Psalmen, Gebete dahersagen können , ohne Verstand und Einsicht«. 69 65 Orelli , S . 9f . 66 Kuraufenthalt e i n den Dörfern run d um den Zürichsee scheinen scho n früh populä r gewe sen zu sein, wie die Inserate des Kurbadehauses zu Stäfa i m Stadtzüricher »Donnerstags-Blatt « sei t 1791 beweisen. Vgl . Fretz . S. 165f , Anm . 103 . 67 Fü r das Gebiet des Zürichsees lässt sich eine solche theologische Lesegemeind e sei t 178 2 in der Kirchgemeind e Küsnach t nachweisen . Diese r Zusammenschluss reformierte r Geistliche r ei nes Kapitels sollte es auch unbemittelten un d in abgelegenen Gemeinden tätige n stadtbürgerliche n Pfarrern erlauben , theologisch e Aufklärungsliteratu r sowi e di e wichtigste n Zeitschrifte n de s Inund Auslandes z u studieren , wobe i die Büche r nac h einem bestimmte n Modu s zirkulierten . Da s Bedürfnis wa r s o groß , das s fas t jedes Landkapite l seine n eigene n Lesezirke l hatte . Sieh e Erne , S. 158;Fretz , S.49 , Anm . 53 . 68 Orelli , S. 10 : »Unter de m Vorwand, es gäbe der Liebhabe r mancherlay , ma n müss e fü r all e sorgen, circulierte n of t i n de r wöchentliche n Leseschachte l Wielands , Voltaire s ode r Friedrich s Werke, eine Beleuchtung de r Cantischen Philosophie , gute oder mitelmässig e Ephemande n un d die elendsten Romane , wie sie nur der seichteste Kop f ausbrüten konnt e .. . Ganz ohne Vorkennt nisse und ohne Vorbereitung lase n sie begierig des Königs von Prcussen, Voltaires und Rousseau s und andere dergleichen Schriften. « 69 Fretz , S. 9. Infolg e diese r bruchstückhaften Lesefähigkei t wa r zwa r einerseits »selten .. . ein e Haushaltung z u finde n ... , i n welche r nich t nebe n de r Bibe l ode r de m Testamen t einig e zu m besondern Unterrich t un d zu r besondere n Erbauun g bestimmt e Büche r anzutreffen « waren . Andererseits reduziert e sic h da s »Lesen« oftmal s - s o die Beobachtun g de s Vikars Brcnnwal d au s Kloten 177 5 - au f ei n mechanische s Hervorbringe n vo n Lauten , di e de r Baue r a n Sonn - un d Feiertagen aus Pflichtbewusstsein vornahm . Er berichtete, dass er »bauern an Sonntagen, bei übri gen stunden der Woche un d i n den Winternächten seh r oft be i der Bibe l sitze n [sieht] , da s hält e r für sein e Pflicht , obgleic h e r nicht rech t lieset« , zitier t nach : Spörri, S . 117 .

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Escher plädiert e deswege n a n di e Synod e un d di e Obrigkeit , übe r ein e Reform des Erziehungswesens auch dem Landbewohner zu vollständiger sittlicher un d geistige r Reif e z u verhelfen , di e ih m u . a . ein e selbsttätig-räson nierende Lektür e erlauben würde . Offensichtlich gehört e Escher zu den Anhängern de s deutsche n Philosophe n Christia n Wolff, 70 de r nac h Voltaire s Worten als »maitre à penser« des deutschsprachigen Raum s auch in den aufgeklärten Kreisen der Deutschschweiz viele Anhänger hatte. Unter dem Einflus s der Wolffschen Schulmetaphysi k leitete sich für den Züricher die Pflicht zu m gesellschaftlichen Zusammenschluss aus dem Rechtjedes einzelnen auf individuelle Vollkommenheit ab . Ihre r Verwirklichun g hatt e de r Staa t z u dienen , denn aus der Glückseligkeit des einzelnen erwuchs die Glückseligkeit des Ganzen. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen und seine Förderung z u eigenständigem, rationa l geleitete m Handel n - dies e Prämisse n vertraten auc h die Ökonomischen Patrioten , allerding s vereng t au f das wirtschaftliche Gebiet . Versuchten demnac h di e Ökonome n de n Landman n nu r al s selbständige s Wirtschaftssubjekt z u betrachten, trat mit dem Erziehungskonzept von geistlicher Seite die Vorstellung des sittlich-gebildeten Landmann s hinzu, hie r nun wiederum vereng t au f ein soziale s Verständnis von ih m al s Individuum un d Mitglied de s Gemeinwesens , al s Perso n un d soziale s Wesen. Politisch e Im plikationen dagegen fehlten.71 Es bleibt festzuhalten: Wiederum gingen die ersten Impuls e fü r ein e geistig e un d moralisch e Fortbildun g de r Landbevölke rung, di e langfristi g mi t de m Untertanenstatu s kollidierte , vo n aufgeklärte n Reformkreisen de r Stadt aus. Als Gewährsmann des Neuen war auch hier der Pfarrer vor Ort gefragt, u m Inhalt und Form der Stoffvermittlung a n den Bedürfnissen de r Landbevölkerung auszurichten. Vor diesem Hintergrun d entstande n unte r der Obhu t de r als »Volksglück seligkeits-Lehrer«72 in die Literatur eingegangenen Landpfarrer seit dem letzten Drittel de s 18 . Jahrhunderts vielerort s Singschulen . Nac h de r Schulgesctz gebung der Züricher Landschaf t war es dem Ortspfarrer überlassen , während oder nach Ablauf der obligatorischen Schulzeit , die für die Kinder mit elf Jahren endete, 73 eine freiwillige Sonntags - oder Abendschule einzurichten, deren 70 Au f die breite Rezeption der Philosophie Christian Wolffs (1679-1754 ) i n Zürich mach t als Zeitzeuge Meyer von Krtonau, S. 81, aufmerksam, der als Gymnasiast i n der Wolffschen Philosophi e unterrichtet wurde. Siehe auch G.C.L. Schmidt, Bd. 1,S . 118ff . Zur Gedankcnlehre Wolffs: Stolleis, S. 248-271 . 71 Die s kan n abe r auc h dara n liegen , das s Wolf f die »Frey e Republik « ode r »politie « de s Aristotelismus zu m Staatsidea l erklärte , vgl. Stolleis, S. 257. Escher konnte also als Stadtbürger de s »Freystaats Zürich« dieses Ideal in der bestehenden Ordnung bereits verwirklicht un d damit keine n Handlungsbedarf für politisch e Reforme n sehen . 72 Sieh e ζ. Β . Heidegger, der i n seine m Lesebuc h fü r Landgeistlich e un d Bauer n vo n 179 1 den Aufschwung eine r Dorfgemeinschaf t unte r de m Einflus s ihre s aufgeklärte n Pfarrer s schilderte , den Heidegge r al s »Religions- un d Volksglückseligkeits-Lehrer« feierte . 73 Sieh e de n Hinwei s be i Pfarrher r Heinric h Escher , zitier t in : Fretz, S. 9 .

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Lehrplan ohn e staatlich e Vorschrifte n ih m überlasse n blieb . De r Erfol g de r Singschulen wa r durchschlagend. Wie das Wädenswiler Beispie l zeigt , entwi ckelte sich in kurzer Zeit eine eigene Festkultur, die zwar dem städtischen Vorbild folgte, gleichzeitig aber ein gewandeltes ländliches Selbstbewusstsein spiegelte: »D a wurde di e bescheiden e Benennung »Singschule « verächtlich ; di e Mitglieder gaben sich den vornehmern Titel »die Musicgesellschaft« un d da sie hörte, dass man in der Stadt nicht in die Musicgesellschaft, sonder n ins »Concert« gehe, so giengen die Herren und das »Weibervolk« z u Wädenschwyl all e Sonntag Abend in das Concert, wohin sie die landvögtliche Familie oder sonst angesehene Persone n au s der Stadt , di e zu m besuch e d a waren, ga r höflic h einluden.«74 Musste aber nicht die Erfahrung eigener kultureller Schaffenskraft di e Hinnahme eines Untertanenstatus unterminieren, der nicht zuletzt traditionell mit Hinweis au f die zivilisatorisch e Kluf t zwische n Stad t un d Landschaf t legiti miert wurde? Es waren zunächst die Städter, die sich dieses wachsenden Widerspruchs bewusst wurden. Trotzdem meinte man, mit der Duldung der kulturellen Aktivitä t de r Landschaf t da s »kleiner e Übel « z u wählen : S o rie t de r konservative Pfarre r Han s Rudol f Schin z i n eine m Vortra g vo r de r Natur forschenden Gesellschaf t Züric h 1782 , die eitle Konkurrenz zwischen einzel nen Seedörfern , wirtschaftlic h wi e kulturel l ein e Vorrangposition beanspru chen z u können , z u fördern , u m die Landbevölkerun g au f diese Weise vom Politisieren abzuhalten. 75 Ob wegen diese r strategischen Überlegungen , feh lender staatlicher Ordnungskraft ode r aufgrund de r Tätigkeit der Volksglückseligkeitsichrer-die Musikgesellschaften wie überhaupt die ländlichen Vereine blieben trot z vielfältiger Mahnunge n vor Sittenverfall un d Hoffar t de s Landmanns von obrigkeitlichen Eingriffe n ungestört . Währenddesse n weckt e di e Begegnung mit neuen, bislang unbekannten Sujet s unter den Seebewohner n das Bedürfni s nac h weitergehende r Bildung . Entsprechen d müsse n Musik 74 Orelli , S . 8f . Dies e Entwicklun g wa r keinesweg s singulär ; nachweislic h fande n ähnlich e Veranstaltungen i n vielen andere n Seegemeinde n statt , wie etw a Fluntern , Stäfa , Hottinge n ode r Küsnacht, wo Leonhard Meister um 1780 an einem Sonntagabend »i n Gesellschaft andre r Herre n und Dame n dem sonntäglichen Conzcrtde r Bauernjungcn s un d Landnympfe n bey[wohnte] ; da sassen di e Einen , di e Andern standen , wiede r ander e hatte n sic h nachlässi g u m Tisc h un d Ban k hergclagcrt. Eine n wei t mannigfache m un d lebhafte m Anblic k verschaff t dies e ungezwungen e Haltung al s selber der glänzendste städtisch e Conzertsaa l .. . An de m Ort e herrsch t seltsam e Mi schung von ländliche n un d städtische n Sitten« . Sieh e Meister, Klein e Reisen , S . 124ff . 75 »Au f diese Weise kan sich der Baurenstolz am besten befriedigen un d der Staat sollte dergleichen Aderläsen gern zulassen, weil sie ein freywilliges un d zugleich sehr würksames Mitel sind, die alzustarken und dem Landsherrn offt bedenklich werden könnenden Kräffte seiner nach mehrere n rechten langenden, von verlohrnen Freyheite n träumenden , mi t ihre m politische n loo s unzufrie denen Unterthane n z u beschneiden un d auf das gehörige Verhältnis hcrabzusezen«, Han s Rudol f Schinz, Vortrag vor der Naturforschenden Gesellschaf t Züric h 1782/83 , zitiert nach : Fretz, S. 160 , Anm. 75.

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gesellschaften un d Legesellschafte n i n eine m Entwicklungszusammenhan g gesehen werden . Ländliche Industrialisierung un d die Entstehung von Privatzirkeln de r Unternehmer als Vorläufer der Lesegesellschaften. Ein e direkte Basi s der Lesegesellschaften bildete n die Privatzirkel de r neuen ländliche n Unternehmerschicht , de r »Tüchler«. Sei t dem 16 . Jahrhundert hatt e die Verlagsproduktion vo n Fertig- und Halbfertig waren au s Wolle, Seid e un d Baumwoll e au f de r Züriche r Landschaf t i n de r Seegegend, i m Züricher Oberlan d sowie i m Knonauer Am t eine enorme Dy namik entwickelt; 76 i m 18 . Jahrhundert began n de r Siegeszug de r Baumwoll Verlagsindustrie, di e nac h de r Jahrhundertmitte ein e erst e Hochkonjunktu r erlebte.77 Getrage n wurd e di e Verlagsindustri e erwartungsgemä ß vo n de m Stadtbürgertum, insbesonder e einfache Bürge r sahen hier eine Möglichkeit de s sozialen Aufstiegs. 78 Danebe n bildet e sich ein neuer Stand von ländlichen Un ternehmern. Ihr e Wurzeln ginge n au f die i m 15 . Jahrhundert noc h unbedeu tende Baumwollspinnerei un d -weberei zurück , die deshalb - au f handwerkli cher Basi s ausgeüb t - al s frei e Gewerb e auc h au f de r Landschaf t betriebe n werden durfte . Ers t im 17 . Jahrhundert erfolgt e schrittweis e di e Beschneidun g der ländlichen Baumwollproduktion , nachde m si e zunehmend attraktive r un d die Konkurrenz der allzu erfolgreichen ländliche n Unternehmerschaf t au f den umgebenden Märkte n unliebsa m spürba r geworde n war. 79 Di e Verlagspro duktion von Baumwollstoffen, de n »Tüchli«, wurde deshalb dem Landverlege r nur noc h a n seine m Wohnor t erlaubt , de r Stoffhande l wi e überhaup t di e ge samte Seiden- und Wollproduktion bliebe n der Stadt Zürich vorbehalten. 80 Der konjunkturelle Aufschwun g i n der zweiten Hälft e de s 18. Jahrhunderts verän 76 I m Lauf e de s 17 . Jahrhunderts breitet e sic h di e Seidenwebere i vo r allem i n der Seegegen d aus; di e Spinnere i wa r gege n End e de s Jahrhunderts in s Oberlan d un d in s ober e Tössta l (Re krutierung der Verlagsarbciter) vorgedrungen . 77 Zu r konjunkturelle n Entwicklun g sieh e Peyer , Vo n Hande l un d Bank , S . 60 ; Pfister , Di e Zürcher Fabriques , S. 503. Die Umschichtun g innerhal b der Sektore n de r Textilindustrie i m 18 . Jahrhundert, d . h . de r Rückgan g de r Wollindustri e al s Leitsekto r de s 17 . Jahrhunderts un d di e Stagnation de r Seidenindustri e zugunste n de r Baumwollindustrie , läss t sic h anhan d de r Textil handelshäuser i n Zürich-Stadt nachvollziehen : 3 9 I läuser verkaufte n Baumwolle , gefolgt vo n 3 2 Häusern, die mit Seide und Halbseide handelten, und nur noch drei Unternehme n hatte n sic h auf Wollhandel spezialisiert . Sieh e Schellenberg, S. 101 . 78 Maliniak , S. 57f, de r darauf hinweist, dass es sich bei den Unternehmer n »fas t ausnahmslo s ... um Emporkömmling e au s den Zünften « handelte . 79 Zunächs t gewährt e ma n 162 1 allerdings noc h fü r di e handwerklic h hergestellte n »Tüchli « Zollfreiheit sowi e das Recht de s »gemeinen Tüchler s .. . die Tüchli gege n Base l un d Straßbur g z u Markte z u tragen« , also den Hande l au f ausländischen Märkten . Sieh e Bürkli-Miyer, S . 6f . 80 Di e Gründun g de s Kaufmännische n Direktorium s de r Stadtzüriche r Kauf - und Handels leute 166 2 erfolgte jedenfalls nicht zuletzt als Interessenorgan gegen die ländliche Konkurrenz. Vgl. M. Grossmann . Die Maßnahmen de s Direktorium s zielte n zu m eine n darauf , di e Ausweitung de r ländlichen Baumwollproduktio n z u unterbinden, indem der An- und Verkauf der Baumwolle un d Garne auf den Wohnort der Landverleger beschränkt und das städtische Marktrecht verabsolutier t

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derte di e Arbeitsteilung zwische n Stad t un d Land . Di e Stadtbürge r konzent rierten sich zunehmend auf den Großhandel, gaben damit aber gleichzeitig den Anspruch au f das Produktionsmonopol auf. 81 »Unliebsame Fruch t des Fabricverdiensts« war der in den Augen des konservativen Stadtzüricher s Orell i unverhältnismäßig e Wohlstand , de r nac h de r Jahrhundertmitte i n den Gebieten des Sees und des Züricher Oberlands einzog und sich in der äußeren Erscheinung der Dörfer, den prunkvollen Häusern und den gewandelte n Ess - und Kleidungsgewohnheiten spiegelte. 82 Diese r neu e Reichtum erfasste, folgt man den Schilderungen vo n Orelli, die gesamte Dorfgescllschaft: Vo n de r verstärkte n Konsumnachfrag e de r Landverlege r un d Heimarbeiter83 profitierten auc h die ländlichen Gewerbetreibenden, Wirtsleu wurde. Darübe r hinaus wurde der Verkauf der Feingarn e fü r die ne u aufkommende Mousseline und Mouchoirproduktio n nu r fü r di e Stad t freigegeben . Sieh e Bürkti-Mtyer , S . 12 , S . 14 , S . 20 . Zum andere n suchte man i n sogenannten Fabrikordnunge n da s Aufkommen neue r Fabrikations zweige i n der Woll- und Seidenverarbeitung au f der Landschaft z u verhindern. 1678/7 9 wurde di e Wollenkämblerei, nu r dre i Jahre späte r di e Buratfabrikatio n un d 170 8 de r gesamt e Bereic h de r Seidenverarbeitung fü r Landbewohne r verboten, diese s Verbot wurde i n den »Fabrikordnungen « des 18 . Jahrhunderts (1717,1727,1755,1772 ) erneut festgeschrieben. Vgl. ebd., S. 15f.,S . 24, S. 29, S. 40. Eine dritte Reglementierung von 169 4 untersagte schließlic h di e geschäftliche Kooperatio n von Stadtbürgern und Landleuten. Die Sorge vor einer Aufweichung de r städtischen Handels - un d Produktionsprivilegien gin g soweit, dass es Stadtbürgern, die auf der Landschaf t wohnten , unter sagt war, ein Unternehme n z u führen . Sieh e ebd. , S . 21ff . 81 Dabe i zeigte sich eine reiche Differenzierung de r Produktpalette: Neben der Strumprwirkc rei wurd e di e Produktio n feine r Baumwollgeweb e (Mousseline , Mouchoirs ) un d di e Indie n nefabrikation (Baumwolldruckerei ) eingeführt , weite r kame n noc h hochspezialisiert e Luxuspro dukte i m Seidensektor hinzu . 82 »Nu n wurden viel grössere und kostbarere Häuse r gebauet als vorher .. . Es ward denn auc h kostbares, bisher unbekanntes Hausgeräth angeschaft. Di e ländliche Kleidung ward auch der Städtischen, so gut e s der Landschneider verstuhnd , umgeschaff.. . wen n Freunde , Verwandte, Nach barn usw . zu m Besuch e kamen, s o ... musste de r Tisch unte r der Las t von Gebackncm , Gesotte nem un d Gebratenem krache n .. . In dieser neue n Lebensar t zeichnete n sic h Stäfa , Wädenschwy l und Richtenschwy l wei t vor allen ander n Scegcmeindc n aus« , siehe Orelli , S. 4 . 83 Sieh e die interessante Beschreibun g Orellis über die Umstrukturierung de s dörflichen Er werbslebens unte r dem Einflus s de r Tcxtilfabrikation. Di e Heimarbeit wa r zunächs t al s saisonal e Nebenbeschäftigung de n Bauersfraue n vorbehalte n gewesen . Mi t de n enorme n Verdienstmög lichkeiten i n der Weberei un d Spinnerei wurd e zusehend s die landwirtschaftlich e Arbei t zu r Ne benbeschäftigung. »Di e Weibe r bliebe n nu n i n alle n Jahrszeite n z u Haus e un d überliesse n di e Güter gänzlich den Mannspersonen. « Di e damit einhergehend e Arbeitskräfteverknappun g i n de r Landwirtschaft schilder t e r wie folgt : «Ein e ander e Folg e der Liebhaberc y z u de m gemächliche n und ergiebige n Stuben - un d Fabrickverdiens t war , das s de r Landbaue r kein e Arbeite r au f sein e Güter fan d al s i n eine m unmässi g theure n Lohn. « Doc h selbs t i n Phase n eine r konjunkturelle n Baisse änderte sic h dara n nichts , da die Heimarbeite r harte r Arbeit entwöhn t un d z u »verzärtelt « seien. Um s o schwerwiegender se i die »Verschwendungssucht« de r jungen Arbeite r un d Arbeite rinnen: «Of t wa r a m Monta g Morge n kei n Schillin g meh r von de m Gel d übrig , da s der Arbeite r oder die Arbeiterin am Samstag eingenommen .. . Wofür sollte n sie sparen? Waren si e doch gewiss, nächsten Samstag wieder Geld vollauf zu haben.« Absatzstockungen un d Preisverfall musst e sie um so härter treffe n al s »viele hunder t Mensche n warn , di e keine n Fu ß brei t Lan d besessen , dere n ganze Existenz einzig auf den Verkauf der fabrickarticul sic h gründete« , sieh e ebd., S. 4ff .

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te, Bäcker und Metzger bis hin zu den Bauern, die »ihre selbsgewachsne Producten be y der starke n Populatio n un d daher entstehendem Verbrauc h auc h theucr zu verkaufen« wussten un d »unter [deren ] Class es so gut reiche Leute wie unter den Fabrikanten« gab. 84 Im Mittelpunkt sowohl des stadtbürgerlichen wie auch des bäuerlichen Argwohns standen die Textilunternehmer, die Tüchler oder Fergger, die »mit dem mechanischen der Fabrick sich nicht abgeben, sonder solche dirigiren und unter dere n Aufsich t un d Anleitun g di e Waaren verarbeite t werden« , währen d Tagelöhner ihre Anwesen bestellten. Ihrer sozialen Herkunft nach unterschieden sic h dies e Landverlege r zunächs t keinesweg s vo n de n andere n Land bewohnern. Grundsätzlich galt, dass sie sich aus allen dörflichen Schichten und Berufen rekrutierten , zuvorders t aus den traditionel l wohlhabendere n Dorf genossen de r (Groß-)Bauern 85 ode r Gewerbetreibende n wi e Wirte n un d Händlern, die nebenbei i n das Verlagsgeschäft investierten . Auch eine aus der Not erwachsen e Hinwendun g zu m Verlagsgeschäf t wa r denkbar : Ulric h Β räker, der aufgrund von Erbschaftsteilungen keine n eigenen Bauernhof übernehmen konnte , ist eines der prominentesten, weltliterarisch verbürgte n Bei spiele.86 Eine weitere große Gruppe der Verleger entwickelte sich aus der Textilindustrie selbst: bei städtischen Unternehmern angestellte Träger (Fergger), die sich selbständi g machten , ode r Heimspinne r un d Weber , di e ihr e Produkt e selbst au f de n Märkte n darboten , Rohstoff e einkaufte n un d nu n ihrerseit s Heimarbeiter anstellten. 87 Als Parvenüs wurden sie von den regimentsfähigen Stadtzüricher n wie auch den reiche n Bauersleute n abschätzi g behandelt : Mi t Bezeichnunge n wi e »Steckliherrn«, »Langpfeifler« ode r »Rundhütler« verlachte man ihre Imitation städtischer Moden. 88 Als eine solche Imitation des städtischen Vorbilds galten 84 Orcll i betonte , das s trot z diese r Prosperitä t di e Landbauer n de r Lebensweis e ihre r Väte r ziemlich tre u gebliche n seien . Wenn si e etwas von de n Fabrikante n übernahmen , s o war die s der »Hcrrentitel«, sieh e ebd., S. 6f . 85 Wi e di e Elter n de s berühmten Bauerndichter s Jakob Stutz, vgl. Stutz, S. 23ff . 86 Ulric h Bräke r (1735-1798 ) au s Näbisweile r vo n Wattwi l i n St . Gallen , anfang s Hirten junge, dan n Weber . Sein e »Lebensgeschicht e un d natürlich e Ebentheue r de s Armen Manne s i m Tockenburg« (1789 ) gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autobiographien . Als Kleinbauer un d Garnhausiere r versucht e e r i m Garnhande l aufzusteigen , scheitert e aber . Trot z de s Widerstands einiger standesbewusster Bürge r wurde der einfache Baue r 177 6 Mitglied i n der »Moralischen Gesellschaf t z u Lichtensteig« , w o er Gelegenheit fand , sic h durch ausgedehnt e Lektür e weiterzubilden. Sein e Autobiographie, zusammengestell t aus seinen umfangreichen Tagebüchern , wurde i m gesamten deutschsprachige n Rau m gelesen. Er gilt als der erste »plebejische Schriftstel ler« (Han s Mayer ) de r deutschen Literatur . 87 Vgl . Kuster , S . 12 . 88 »Di e Fabrikante n unterschiede n sic h wie durc h ihr e Arbeit, s o auch i n ihre r Lebensweis e auffallend vo n de n Landbauern ; be y ihre m wöchentlichen , of t tägliche n Verkeh r mi t de r Stadt , brachten si e von dort her städtische Mode n un d Gebräuc h un d gierigen nac h Städterart gekleidet . Weil di e kleiner e Zah l vo n ihne n eign e Nahrungsmitte l pflanzten , s o war ih r Tisc h auc h ander s besetzt al s der de r Bauern . Si e nährte n sic h vorzüglich mi t frische m Fleisc h un d lehrnte n i n de n

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auch di e tägliche n Zusammenkünft e de r Landunternehme r i n de n örtliche n Wirtshäusern vo n Stäfa, Richterswi l ode r Wädenswil, di e Orelli mi t der Igno ranz des Stadtbürgers lediglic h al s Stammtischrunden beurteilte. 89 Tatsächlic h aber hatte sich aufgrund de r neuen beruflichen Anforderunge n ei n Kreis überaus ambitionierter Autodidakte n i n diesen Abendgesellschaften zusammenge funden, u m sich auszutauschen. 90 Die gesamte Spannbreite betriebswirtschaft licher Kosten - un d Organisationsplanun g bi s hin zu r Entscheidun g übe r di e Stoffdesigns gehört e zum Berufsalltag dieses neuen Verlegertypus; die Schreibund Lesefähigkei t ware n dabei ebenso unabdingbar wi e Grundkenntnisse de r höheren Mathematik . Den Schulbestrebunge n de r Volksglückseligkeitslehre r allei n wa r e s dem nach nicht zu verdanken, dass der Pfarrer Nüschele r von Horgen fü r das Seengebiet feststellen konnte , dass, während noch um 176 0 »blos ungefähr die Hälfte der Leut e Gedruckte s lesen « un d da s Schreiben »ein e Seltenheit « war , u m 1790 »es einmal drübe r bekanntermasse n gan z anders « aussah. 91 Bereit s 178 2 hielt der Stadtzüricher Landschreibe r Han s Konrad Kelle r für Wädenswil fest : »Dass es unter leuthen von gering scheinender Extractio n auch solche, obwoh l in geringe r anzah l gebe , di e ihre n natürliche n Beobachtungssin n un d -Geis t durch ein e Besser e Cultu r au f reise n un d durch s lese n gute r Bücher , da s Besonders i n unsere r gegen d ga r nich t selte n ist , gern e übe n un d schärffen , dünkt mic h ausser allem Widerspruch z u seyn.« 92 Wirthshäuscrn i n der Stadt, wo sie ihre Einkehr hatten, Lekerbissen kene n und appretieren; durc h bürgerliche Kleidung und Lebensart von dem Landbauer unterschieden, dünkten si e sich wirklic h vornehmer als diese, doch wurden sie von ihnen deswegen nicht sehr respectiert«, siehe Orelli, S. 7f. 89 »Di e Stckliherre n hatte n zu Wädenschwyl i m Wirthshaus eine täglich e Abendgesellschaft , wo gekannegiessert un d denn ein e Partie Karte n gespielt ward. Richtenschwy l un d Stäfe n dünkt e das etwas nachahnumgswehrte s un d thaten s auch. A b und z u war d auc h ein e gebratn e daub e .. . aufgetischt un d dabey das Wol un d Weh des Vaterlands beherzigt, die Regierung in Zürich un d di e Landvögt un d Obervögt zurechtgewiesen« , sieh e ebd. 90 Braun , Industrialisierung , S . 43. 91 Diese r Eindruc k wir d durc h di e empirisch e Studi e vo n Marie-Louis e vo n Wartburg Ambühl bestätigt , wonac h di e Lesefähigkei t vo n de r Jahrhundertmitt e bi s 177 4 i n de n See gemeinden vo n 59,6 % auf 74,8% zunahm . Di e Schreibfähigkei t stie g i n de n Seegemeinde n vo n 12,5% auf 22,5%, also immerhin konnt e danach jeder fünfte Seebewohne r schreiben . Di e anfang s zitierten negativen Berichte der Pfarrherren von Kloten und Pfäffikon werde n dagegen nicht durch die Ergebnisse von Wartburg-Ambühls verifiziert. Si c konstatiert für die Ackcrbaugcmcinden ein e Lesefähigkeit vo n 69,3% und i m Züricher Oberland soga r von 73% im Zeitraum vo n 1750-1774 . Siehe die tabellarische Darstellunge n in : von Wartburg-Ambühl, S . 31, S. 76. 92 Fretz , S. 43f, sieh e auch die Einschätzung Heinrich Pestalozzis : »Vor altem ward der Bürge r von Züric h s o allgemein durc h sein e Erziehun g übe r de n Punk t de r Erleuchtun g de s Landvolk s erhaben, dass der Unterschie d zwüsche n Bürge r un d Landman n ei n reale r innere r Unterschie d war; der Landman n stun d allgemei n i n der Cultu r unte r de m Bürger . Dies e Realitä t de s Unter schieds ist in Gottes Nahmen b y weitem nicht mehr allgemein .. . Wir dürfen e s uns nicht verheh len, die Cultu r i n den Fabrikgegende n ha t den Landman n vielseiti g de m Bürge r un d soga r de m Pfarrer nah e gebracht« (Ebd. , S. 36).

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Eigenständige Lektüre , Studienreisen , oftmal s verknüpf t mi t eine m Aus landspraktikum,93 wi e vo n Kelle r angesprochen , ode r di e bekannt e »Welsch landgängerei«94 i n ein französischschweizerisches Pensiona t als Pendant weiblicher Ausbildung un d schließlich Privatunterrich t be i städtischen Exspektante n stellten durchaus gängig e Wege der Aus- und Weiterbildung i n den ländliche n Unternehmerfamilien, wi e überhaupt unte r der Dorfoberschicht, dar. 95 Es gehört zu r Eigendynami k diese s aufstrebende n geistig-intellektuelle n Niveaus , dass sich immer weitergehende Bildungsbedürfniss e entwickelte n - Bedürfnis se, di e zu r Gründun g vo n Lesegesellschafte n drängte n un d gleichzeiti g de n ständischen Untertanenstatu s de r Landschaft imme r fragwürdige r erscheine n ließen. Die berufsständisch e Organisatio n de r Landärzte al s Vorläufe r de r Lesegesellschaften . Schließlich sin d al s dritte s nebe n de n Musikgesellschafte n un d de n Unter nehmerzirkeln di e Landärzt e un d ihr e Berufsorganisatio n al s Initiatore n de r Lescgesellschaften z u nennen. Außer den Pfarrern ware n auch die Ärzte nich t zuletzt wege n ihre r öffentliche n Arbei t al s Vermittle r neue r Geselligkeits formen un d neuer Gedanken prädestiniert . Bekann t geworden is t das Beispie l des Dokto r Hotz e au s Richterswil , desse n Privatbibliothe k bi s in de n Nach barkanton Schwy z berühm t wa r und der ganz offensichtlich innerhal b seine s großen Patientenkreise s Buchempfehlunge n aussprach. 96 Entscheiden d fü r 93 Ei n solche s Beispie l un d di e empört e Reaktio n de s junkerlichen Stadtbürger s fördert de r Bericht de s Johann Kaspe r Hirze l vo n de n Verhandlungen de s Kleinen Rat s vom 29 . Novembe r 1794 zu m Memorialhande l zutage : «Junke r Sekelmeiste r eröfnet , e r hab e gester n auc h de n .. . Hirzel vo n Wezikon z u sic h beschieden . Da s seye ein ansehnliche r wolgepuzte r Herr , der hoch deutsch spreche und nich t abseyn könne , letzen Sonnta g nach Pfäffikon gercise t zu seyn, um vo m Chirurgus Staub daz Memorial zu verlangen. Zum Grund hab er angeführt, dass, da der Staub ihm als ein wackerer Mann angerühmt worden, er Lust gehabt, mit ihm in Bekanntschaft z u treten. Auf Befragen, o b er nich t i m Auslan d gewesen , ha b er gesagt, ja, unte r ander n Orte n auc h z u Strass burg. Da , sagte Junker Sekelmeister , hab e ic h genug gehabt«, zitiert nach : ebd., S. 171 , Anm. 39. 94 Ei n Hinwei s au f die Welschlandgängcrei finde t sic h be i Orelli, S. 9f. E r berichtet vo n de m Onkel Kaspa r Billeters, der »seinen Töchtern in einer Pension im Wälschland die Politur zu geben die Speculation gemacht , di e er in ihrem Geburtsor t z u erreichen unmöglic h glaubte , aber sie als ein Mittel ansah, die Mädchen an wer weiss, was für vornehme Männer zu bringen. Sie klimperte n Tänze un d ei n paa r französisch e Liede r au f de m Ciavier ; da s war genug , u m andere , di e nich t minder sey n wollten , z u ermuntern, ebenfalls Musi c z u lernen, u m sic h hören z u lassen« . 95 Da s Beispie l de s Seedorfe s Wädenswi l i m Jahre 177 5 ma g diese Entwicklun g illustrieren : Außer den vier Hauptschulen verzeichnete man sechs ganztägige Privatschulen sowi e zwei Haus lehrer. Vgl . Fretz , S . 152f. , Anm. 46 . Fret z berichte t vo n eine m Johann Konra d Usteri , de r nac h 1770 bei dem Schützenmeiste r Blattman n beschäftig t wa r und zwische n 8 bis 1 0 Stunden täglic h um di e 2 5 Schüler i n Latein , Lese n un d Schreibe n unterrichte t habe . 96 »Di e lectu r gute r büchere n nihm t star k überhand , wora n Hr . Docto r Hoz vo n Richten schweil schul d ist. « So Pfarrer Schin z i n seiner Reisebeschreibun g von 1773 , zitiert nach: ebd. , S . 61. Un d Landschreibe r Han s Konra d Kelle r berichtete 178 2 über di e kulturelle n Verbindunge n des Dr. Hotz e i n den Nachbarkanto n Schwyz , dass »das geschlecht der Hozen z u Richtenschwei l und de r Schuler n a m Rohtcnthur n .. . vortheilhafft bekannt « (S . 62).

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diese Entwicklung waren die sehr engen Verbindungen der Landärzte zu ihren städtischen Kollegen. 1782 hatte der Züricher Stadtarzt Johann Heinrich Rah n die »Gesellschaft von Ärzten und Wundärzten« gegründet, die als völliges Novum ausdrücklic h auc h Landärzt e aufnahm. Zu r Verbesserung der medizini schen Ausbildun g wurd e zusätzlic h da s »Medizinisch-Chirurgische Institut « eingerichtet, dem ein spezielles »Scminarium zur Bildung geschickter Landärzte« angegliedert war, in dem mittellose Stipendiaten von der Landschaft ausgebildet wurden . Z u ihne n gehört e auc h Johann Kaspa r Pfenninger , eine r de r Köpfe de r Stäfner Unruhe n un d Mitverfasser de s Memorials, weshalb Rah n und seine Kollegen verdächtigt wurden, revolutionären Geis t gefördert zu haben, und gezwungen waren, die Unterrichtsanstalt z u schließen. 97 Durch die Integration der Landärzte in die städtische Vereinskultur kame n sie i n Berührun g mi t der Aufklärungsliteratur, den n zu m Studienprogram m gehörten auch historische, philologische und allgemeinbildende Kurse. Außerdem bestand parallel zu der Gesellschaft der Lehrenden des Medizinisch-Chirurgischen Institut s ein e »Sonntäglich e Abendgesellschaf t de r studierende n Jünglinge«, deren Teilnahme für jeden Stipendiate n obligatorisch war. Neben fachbezogenen Themen stand das gesellige Beisammensein, »der freundschaft liche Umgang« , i m Mittelpunkt . Mi t besondere r Intensitä t sorgt e sic h dies e eigentliche »Studentengesellschaft« u m den Kontakt zu Ehemaligen, die nach Abschluss ihrer Studien auf das Land zurückgekehrt waren und, wie Rahn 1786 feststellte, der Sozietät in großer Zahl treu blieben. 98 Die Möglichkeit der Publikation i n Rahns »Gazette de Santé« und die Chance, über die Bibliotheks gesellschaft günsti g an neueste Fachliteratu r z u gelangen, ermöglichte e s den Landärzten, auch nach ihrer Rückkehr ins ländliche Milieu i n den Fachdialo g eingebunden zu bleiben. Das galt für sämtliche im Stäfner Handel hervorgetretenen Mediziner.99 Man hielt aber nicht nur die Verbindung zur Stadt aufrecht, sondern transportierte ihr Sozietätenmodell in die eigene Umgebung. An mehreren Orten entstanden engere Zirkel, die sich zuvorderst mit fachlichen Problemen auseinandersetzten. Mi t diesem städtische n Model l eine r berufsorien tierten Standesorganisation importierte man jedoch weit mehr als einen bloßen institutionellen Rahmen. Von großer Bedeutung war die an der eigenen Person erfahrene Überwindun g des ständischen Gegensatzes von privilegierter Stad t und untertänigem Lan d und die dem Vereinsmodell innewohnende n gesamt 97 Seine m Soh n i n Jena schrie b er, dass er »in der besten Absich t direet e Gute s z u bewirken , indirecte ein e Aufklärung unte r unser m Landvolk e bewirkte , di e nachtheili g wirke n könnte , di e übrigens aber gekommen wäre , und kommen wird, auch ohn e Scminarium«, zitier t nach : Erne, S. 96. 98 Vgl . ebd., S . 129 . 99 Ebd. , Anm. 4. In der »Gazette de Santé« publizierten sowohl Chirurg Stau b aus Thalwil un d Spöri au s Kempten als auch Pfenninge r au s Stäfa. Zum Teil hiel t Rah n auch de n brieflichen Kon takt z u seinen ehemalige n Schüler n aufrecht .

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gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen . Beide s hatt e maßgebliche n Ein fluss auf die zunehmende Politisierung der Landschaft. Deshalb soll im folgenden ausführlicher au f das Selbstverständnis der Medizinalvereine eingegangen werden, wie es in den Vereinsklauseln bzw. in den programmatischen Äußerungen eine s ihre r berühmteste n Protagonisten , Johann Heinric h Rahn , auf scheint: »Wenn man bedenkt, von wie grossem Nutzen für ein Land eine brüderliche Übereinkunft der Ärzte desselbigen sey,... wo jedes einzelne Mitglied zum Wohl des Ganzen ei n möglichste s redlich beyzutragc n such t .. . so muss man sich billig wundern, dass für die Schweiz .. . bis dahin noc h keine solche gesellschaftliche Verbindung der Ärzte zu Stande gekommen ist - u m so mehr, je begründeter die allgemeinen Klagen über die Beschaffenheit des öffentlichen Medicinalwesens i n de r Schwei z sind , di e i n eine m republikanische n Staa t wohl kaum durch ein kräftigeres Mittel, als durch brüderliche Vereinigung seiner Ärzte selbst, gehoben werden können.« 100 In de r Gründungsred e Rahn s zu r gesamtschweizerische n »Helvetische n Gesellschaft correspondierender Ärzte und Wundärzte« von 1791/92 treten die drei Säulen eines gewandelten Gesellschaftsverständnisses hervor : die erstmalige Einbindung des Partikularinteresses i n das gesellschaftliche Gemeinwoh l und die Überwindung einer ständischen Sozialordnung von »Stadtbürger« und »Landmann« zugunste n eine s übergeordnete n berufsständisch-korporative n Bürgerbegriffs, beides eingebettet i n die Republik als »brüderlichem« Zusam menschluss von Gleichen. Die stete Betonung, sich am allgemeinen Nutze n zu orientieren, entsprach dem gängigen utilitaristische n Denken ; hier zeichnete sich jedoch eine Argumentation ab, das Gemeinwohl mit dem Individualinteresse zu verknüpfen, die in de n politisch-soziale n Bewegunge n de s 19 . Jahrhunderts genutz t werde n sollte. Innovativ war der Ansatz, durch eine Berufsorganisation gesellschaftli chen Nutze n stifte n z u wollen . Dami t war ei n Weg geschaffen worden , di e partikularen Interessen einer Standesorganisation mit Hilfe ihrer (zu erwartenden) Verdienst e u m da s Gemeinwoh l z u sanktionieren . Tatsächlic h ginge n Rahns Überlegunge n abe r viel weiter : Di e Zweckklauscl de r vorngenannte n Helvetischen Korrespondierende n Gesellschaf t vo n 179 1 betonte zuallerers t »den Privatnutzen für jedes Mitglied«, ohne jedoch den Hinweis zu vergessen: «und da s alles nu r i n Beziehun g au f den Nutze n de r Gesellschaft ohn e Anmaßung«.101 De r Vorstoß, Eigeninteresse un d Nutzenkalkü l i n das ständische Wertesystem de s Gemeinnutzen s einzubinden , beschränkt e sic h demnac h keineswegs au f di e Korporation , sonder n fasst e bereit s da s Individuu m in s 100 Johan n Heinric h Rahn , Vorbericht, in: Museum de r Heilkunde, hg. von der Helvetische n Gesellschaft correspondierende r Aerzt e und Wundaerzte, Bd . I, Zürich 1792 , zitiert nach : Brändli, Geselligkeit, S . 59. 101 Eme , S . 42 .

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Auge. Der legitimierende Imperativ , das Einzelinteresse immer den gemeinen Interessen i n dienender Funktio n unterzuordnen , wurd e zusätzlic h gestärkt , indem ma n den Muster-Arzt aufgrund seine r Nützlichkeit zu m Muster-Bür ger stilisierte. 102 Als Effekt entstand ein neuer Gleichheitsbegriff unter den ärztlichen Kollegen, der - gemessen an Leistung und Wissenskritcricn - aus ihrem Beitrag zum gesellschaftlichen Nutze n resultierte . Durc h dies e neu e Bezugsgrundlag e konnte Rahn auch in einem revolutionären Schritt die ständische Unterschei dung von Stadt- und Landarzt negieren und die Einrichtung des Seminars für Stipendiaten vo m Lan d dami t begründen , dass : »de r Landarz t di e gleiche n Kenntnisse bedürfe und in eben dem Masse wie der Stadtarzt, da zwischen dem Leben und der Gesundheit des Landmanns und des Städters nicht der geringste Unterschied sey; es gebe nur zweyerlei Ärzte: denkende und mit gründlichen Kenntnissen versehen e nemlich , un d unwissend e Empirike r ode r Schlend rianisten«.103 Der abgeleitete Gleichheitsbegriff war entsprechend kein egalitärer, sondern ein korporativer: In der Vereinigung mit Kollegen wurden Städter und Ländler gleiche Ärzte und Bürger. Diese korporative Vergemeinschaftung de r Ärzte im Verein stellte Rahn zudem in einen engen Zusammenhang zu der republikanischen Staatsform Zürichs. Der Verein schien die komplementäre gesellschaft liche Untereinhei t innerhal b eines republikanischen Gefüges . Die s galt zu m einen aus pragmatischen Gründen, denn die föderalen Strukturen der Republik bedurften de r Selbstinitiative ihrer Bürger, um gesellschaftsrelevante Bereich e zu strukturiere n un d z u organisieren , hie r da s Medizinalwese n i n de r Schweiz.104 Darüber hinaus gehörte »die brüderliche Vereinigung« in der Sozietät, in der »jedes Mitglied zu m Wohl des Ganzen sei n möglichste s redlic h beyzutrage n sucht«, d. h. die Bildung einer solidarischen Gemeinschaft, z u den Konnotati onen des hier vorgestellten Republikbegriffs. Entscheiden d war, dass in dieser Vorstellung eine r republikanische n Solidargemeinschaf t ei n exklusive s Mo ment von Mitgliedschaft respektiv e Bürgerschaft inkorporier t war. Der Verein versinnbildlichte eine Republik im kleinen, in der der einzelne dem Ganzen zu dienen hatte, die Zugehörigkeit zum Ganzen aber aus einer - hie r fachbezogen definierten - korporative n Mitgliedschaft resultierte . Die Betonung kollegialer Gleichheit unterstrich paradoxerweise bereits wieder den Anspruch einer Monopolisierung i m eigenen Berufsfeld. 105 Di e Republik, di e Rah n 179 2 so em102 Eröffnungsansprach e Rahn s a m 10 . Juni 1791 : »Lass t un s nich t ruhen , bi s wi r unser n engen Kreiss geläutert, gesichtet und vervollkommnet habe n .. . zu Mustern eine s rechtschaffenen , der Wissenschaft un d dem Vaterland nüzliche n Arztes!« , zitier t nach : ebd . 103 Ebd. , S . 96. 104 Ebd. , S . 42. 105 Entgege n de r Interpretation vo n Sebastian Brändli , der in diesen Vorstellungen Rahn s das

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phatisch in die Nähe der Ärztevereinigung rückte, wies demnach zum einen die korporativ-exklusiven Züg e de r gemeindlich-genossenschaftliche n Alltags crfahrung de r Akteure auf , spiegelt e abe r zudem di e Rezeptio n eine s bürger schaftlich-korporativen Verständnisse s vo n re s publica i m klassische n Sin n wider. Sie unterschied sich damit fundamental vo n der kurz zuvor in Paris ausgerufenen egalitäre n Republi k der Girondisten. Damit ist aber auch die These der Sozietätenforschung, das s es einen direk ten Zusammenhang zwischen der Auflösung des überlieferten genossenschaft lichen System s und der Entstehung der Vereine gibt, 106 fü r die Züricher Ent wicklung zu modifizieren. Da s relativ frühe Auftreten von ländlichen Vereinen im Vergleich zu Deutschland etwa bestätigt die These insoweit, als die strukturellen Veränderungen im Züricher Gebiet zu neuen Verbindungsformen führ ten. Es lässt sich allerdings nicht automatisch daraus schließen, das genossenschaftliche Syste m ode r Prinzi p sei obsolet geworden . I m Gegenteil, di e von Rahm und seinen Kollegen als natürlich angenommene Analogie von Vereinswesen un d Gesellschaf t dokumentiert e di e Vitalitä t de s genossenschaftlich korporativen Prinzips. Das zeigt sich auch darin, dass der revolutionäre Schrit t der Ärztegesellschaft Zürichs , die traditionelle ständische Kluft zwischen Stadt und Landschaf t z u überbrücken , nu r durc h ei n andere s korporative s Bezie hungsgcflecht durchführba r war , hier die Berufsorganisation . Einkaufsgenossenschaft oder politischer Debattierzirkel: die Wädenswiler Lesegesellschaft und die »Lesegeseltschaft am See« als Beispiele ländlicher Lesegesellschaften. Aus den drei Vereinsorganisationen, de n Musikgesellschaften , de n Unternehmerzirkel n und dem ländlichen Ableger der Medizinisch-Chirurgischen Gesellschaf t von Zürich, entwickelten sic h um 179 0 zwei Typen von Lesegesellschaften: di e aus wirtschaftlichen Nützlichkeitserwägunge n gegründete n Lesegemeinschafte n in Wädcnswil un d Stäfa einerseits und die kritisch-räsonnierende »Lesegesell schaft am See« mit historisch-politischer Ausrichtun g andererseits. Erstere galten als eigentliche »Einkaufsgenossenschaften«: Nich t die Diskussion der Lektüre , sonder n einzi g die gemeinsame Einkaufspoliti k bestimmt e ihr Wesen. Prinzipiell stan d der Beitritt zu r Lesegesellschaft jedem offen , wi e das Beispiel der im Oktober 1790 gegründeten Lesegcsellschaft von Wädenswil zeigt. Zu de n insgesam t achtzeh n Gründungsmitgliedern , darunte r auc h ei n »Aufenthalter« au s Deutschlan d sowi e sech s weiblich e Leserinnen , zählte n Angehörigen der neuen und alten ländlichen Oberschich t sowi e Vertreter des frühliberale Konzep t der »bürgerlichen Gesellschaft « hervortrete n sieht , i n dem dan n Ausnahnie regelungen de r eigenen Privilegierun g geschaffen werden , soll hier von einem tradierten genossen schaftlich-korporativen Verständni s von Bürgergesellschaf t ausgegange n werden , da s Exklusivitä t nicht als Ausnahme, sonder n al s konstitutives Elemen t behandelt . Vgl . Brändli, Geselligkeit, S . 74.

106 Jeggle. S .223f.

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Landhandwerks.107 Auffälli g wa r zudem, dass kein Geistlicher de r Gesellschaf t angehörte, wie es sonst in den Nachbarkantonen fü r die Entwicklung de r ländlichen Sozietäte n üblic h war. Erstmals entstand dami t i m gesamten ländliche n Gebiet de r Zentral- un d Ostschwei z ein e rein e Laiengesellschaft , dere n Mit glieder außerde m wede r durch Beru f noch Stand der Stadt verpflichtet waren . Der Gründungsimpul s de r Wädcnswile r Gesellschaf t gin g au f de n Wunsc h zurück, sic h von den städtischen Leihbibliotheke n un d ihre m Angebo t unab hängig zu machen.108 Jedem Mitglied stan d aufgrund seine r Vereinsbeiträge da s Mitspracherecht bei m Ankau f de r Büche r zu . Au s Buchkatalogen , di e unte r den Leser n zirkulierten , wählt e jeder sein e Wünsche, übe r di e monatlic h pe r Mehrheitsentscheid abgestimm t wurde . Ei n eigen s gewählte r ständige r Aus schuss (Vorstand) setzt e sich mit der Abfassung bzw . Abänderung de r Vereinsstatuten auseinander, di e in erstaunlichem Maß e an die Regelungen de s modernen Genossenschafts- un d Vereinsrechts erinnern. 109 Betrachtet ma n die Einkaufsliste bzw . den Buchbestand i n den ersten Jahren der Lesegesellschaft , fäll t der mit 10 % im Vergleich z u anderen Schweize r Lesegescllschaften hoh e Antei l moralische r Erbauungsliteratu r auf. 110 Typisch e Beispiele diese r Literaturgattun g ware n Pestalozzi s »Lienhar d un d Gertrud « sowie Johann Heinric h Jung-Stillings »Häusliche s Leben . Ein e wahrhafte Ge schichte«. Beid e Werke beleuchteten da s Verhältnis des einzelnen zu r Gemein 107 Di e Mehrheit der Mitglieder entstammte Fabrikantenfamilien . Näher e Angaben sind in ihrem Fal l nich t möglich , d a hie r nu r auf den Beru f des Vaters verwiesen wird . D a die Altersstruktur der männlichen Lesegesellschafte r zwische n 2 3 und 30 Jahren lag , ist anzunehmen, dass sie mehrheitlich im Geschäft ihres Vaters tätig waren. Daneben gehörten Besitzer von Ehehaften ein Wirt und eine Metzgerstochte r - sowi e mehrere Handwerke r (Gerber , Geschirrfaßer , Hut macher), ein Schiffer , de r Kirchpfleger un d die Tochter eines Landrichters zu den Gründungsmitgliedern. Siehe die Auflistung alle r 31 Mitglieder zwische n 179 0 und 179 6 in: Moll/Pellens, S. 68-74. Vereinzelt - allerdings nicht in der Wädenswiler Lesegesellschaft - gehörten auch Angehörige der Unterschichten zu den Mitgliedern der ländlichen Lesegesellschaften. Legendär geworden sind der Volksdichter aus dem Züricher Oberland Jakob Stutz und der »arme Mann aus Toggenburg« Ulrich Bräker , dessen unstandesgemäßer Bildungsdrang zu erheblichen Problemen führte : »Meine Nachbar n un d andr e alt e Freund e un d Bekannte , kur z meinesgleichen , sahe n mic h überzwerch an. Hier hört ich ein höhnisches Gezisch, dort erblickt ich ein verachtendes Lächeln ... Meine Fra u vollends speit e Feue r un d Flamm e übe r mic h au s un d gewan n nu n ga r Eke l un d Widerwillen gege n jedes Buch«, zitiert nach: Spörri, S. 118. 108 »Wen n e s möglich wäre , ein e Gesellschaf t vo n Liebhaber n de r Lektu r z u errichten , s o könnte man eben so wohlfeil oder vielleicht noch wohlfeiler seine Leselust... befriedigen als wenn man aus den Lehnbibliotheken von Zürich lisst, und hätte über das noch den Vortheil, dass man die neuen Bücher gerade, wenn sie die Press verlassen, bekäme, da man sie aus den Lehnbibliotheke n entweder gar nicht oder manch mahl nach langer Zeit bekommt.« Nach dem Protokoll der Lesegesellschaft Wädenswil, in: Milstein. S. 89. 109 Ausführlic h i n Fretz, S. 67ff. 110 Sieh e die von Milstcin, S. 151, gegebene, allerdings undifferenzierte prozentuale Verteilung der Buchbestände auf Sachgebiete und Aufstellung aller Bücher im Besitz der Lesegesellschaft (S. 224-233); Fretz, S. 86-91. S. 96-98; zu den Lescstoffkategorien vo n Wartburg-Ambüh l bes . S. 132 143, S. 193.

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schaft der Familie und der des Staates. In Anknüpfung an Rousseaus pantheis tisches Erziehungskonzept , wi e e r es in »Émile o u de l'Éducation« vo n 176 2 entwickelt hatte, zeichnete Pestalozzi die Entwicklung eines Dorfes nach, dessen Bewohne r durc h die erzieherischen Werte der Famili e und der Schulbil dungjenseits aller Standeserziehung zu einer sittlich-religiösen Gemeinschaf t fanden, in welcher der einzelne »zu einem auf erleuchteter Selbstsorge gegründeten Staatsdienst« erzogen wurde. Offenkundige Möglichkeiten zur Identifi kation bot in ähnlicher Weise die Autobiographie Jung-Stillings.111 Daneben interessierte ma n sich für historische und zeitpolitische Themen . Selbstverständlich erstan d man einen gewissen Fundu s patriotischer Literatu r über die Schweiz wie »Arnold von Winkelriedt oder die Schlacht bei Sempach, ein Eidgenössische s Trauerspie l i n 5 Aufzügen vo n Ludwi g Kaiser« . I n de r Masse - da s gil t gan z allgemei n fü r all e Literatursparte n - kauft e ma n abe r vornehmlich Werke ausländischer Autoren. 112 Dieses große Interesse an den Vorgängen jenseits der eigenen Grenzen dokumentierte sic h auc h i m Abonnement de r »Zürche r Zeitung« , di e i m Un terschied z u Bürkli s »Zürche r Freitags-Zeitung « ei n politische s Blat t mi t Auslandsberichten war. Den größten Zuspruch fanden jedoch die reine Unterhaltungsliteratur111 un d Reisebeschreibunge n sowi e populärwissenschaftlich e Kompendien z u diverse n naturwissenschaftliche n un d technische n Sachbe reichen wie etwa der »Volksnaturlehre«. Da s breite thematische Spektrum der Erwerbslisten bestätig t de n Gründungszwec k de r Wädcnswile r Lesegesell schaft al s wirtschaftlicher Einkaufsgenossenschaft . E s ging den Wädenswilern offensichtlich nich t primär , wie den städtischen Gesellschafte n z u Schuhma chern ode r Gerwi , u m di e Formierun g eine r politische n Sozietät . Dennoc h reflektieren di e Bucheinkäuf e ei n erstaunliche s Ma ß a n gesellschaftspoliti schem Interesse. 111 Mi t star k pictistische r Prägun g schildert e e r seine n Aufstie g vo m DorfschuHehre r zu m Arzt, Professor fü r Staatswissenschaf t un d schließlich Berate r des Markgrafen vo n Baden als Folg e von gottgewollte n Fügungen . Besonder s breiten Rau m nah m die Darstellun g seine r Kindhei t i m bäuerlich-handwerklichen Milie u de s Siegerlandes i n stetem Kontak t mit der Natur ein, wohlbe hütet vo n eine r Familie , i n de r der patriarchalisch e Großvate r ebens o positiv herausstac h wi e di e feinsinnige Mutter . Natürlich e Gläubigkei t un d unbändige r Wissensdurs t führte n de n junge n Mann z u autodidaktischen Studien , die ihn letzten Endes nur konsequent seinem instinktiv erahn ten, gottgewollten Zie l unbeirrba r näherbrachten : de m Staatsdienst ! 112 Christia n Friedric h Danie l Schubart s »Ode n vo n Tyrannenhas s un d Freiheitsdrang« , di e ihn zu einem Vorläufer der deutschsprachigen politische n Lyrik machten, fanden ebenso begeister te Leser wie Johann Pezzl s Biographie Josephs II. mit »Aussichten« übe r die Regierung Leopol d II., der just di e Staatsgeschaft e übernomme n hatte . 113 Beispielsweis e Friedric h Schlcnkcrt s »Friedrich mit der gcbissnen Wange, eine dialogisier te Geschichte « ode r Anthologie n wi e »Romantische , komische , rührend e un d moralisch e Ge schichten«. Diese r Trend z u Trivialromancn sollt e sich in den folgenden Jahren verstärken; Auto ren wie Car l Gottlo b Cramcr ode r Christian Vulpiu s mi t ihren Abenteuer- un d Schauerromane n wurden vermehr t angekauft .

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Einen intellektuellen Diskutierzirkel stellte dagegen die »Lesegcsellschaft am See« vo n 179 0 dar. Dies e i n ihre r Art erste historisch-politische Sozietä t de r Züricher Landschaf t rekrutiert e ihr e Mitgliede r au s de n Dörfer n Horgen , Meilen, Männedorf , Stäfa und Wädenswil run d u m den mittleren See . Ohne festen Versammlungsort wechselten die Treffpunkte unte r den genannten Seedörfern. Nach Aussage des Chirurgen Johann Kaspar Pfenninger in dem späteren Finalverhör umfasste die »Lesegesellschaft a m See« elf Mitglieder, die sich gleichzeitig in den vorngenannten lokalen Zirkeln engagierten. Wenngleich es Usus war , di e öffentliche n bzw . militärische n Dienstgrad e stat t de s Berufe s aufzuführen, lasse n sich unter den Mitgliedern al s dominante Berufsgruppe n Textilunternehmer, Landärzte und Wirte bestimmen.“4 Wie bei den städtischen Vorläufern oblag es den Mitgliedern, neben der kritischen Lektüre auch eigene Abhandlungen abzufassen und vorzutragen. Vergleicht man die Themen dieser Vorträge »Von den Handlungs- und Professionsfreiheiten fü r das Land und die Möglichkeiten de r Loskaufung« de s Landrichters Stapfer oder »Über das Verhältnis der Obrigkeit gegen die Angehörigen« des Chirurgen Pfenninger 115 mi t denen de r städtische n Jugendbewegung, zeigt e sic h hie r ei n realpolitische r Zug, der wenige Jahre nach Gründung der Gesellschaft wirksam werden sollte. Die Französische Revolution - ein »Vorbild« der Stäfner Unruhen? Die vorangegangene Darstellung der Entwicklung des ländlichen Vereinswesen hat als wichtiges Ergebnis gezeigt, dass auf unterschiedlichen Ebene n neu e »Erfahrungsforen « entstanden waren, in denen sich Teile der Landbevölkerung aus dem traditionellen Fremd- und Selbstbild als hörige Untertanen herauslösten. Ohne Zweifel war die s die entscheidende Voraussetzun g fü r di e zunehmend e Politisie rung. Welche Bedeutung kam darüber hinaus den aktuellen Entwicklungen i m Nachbarland Frankreic h zu? Waren die revolutionären Ereigniss e tatsächlich , wie gemeinhin angenommen , der entscheidende Katalysato r fü r die späteren Protestbewegungen? Zur Beantwortung dieser Frage soll im folgenden nach gezeichnet werden , welch e Informationskanäl e existierte n un d au f welch e Weise die Geschehnisse der Französischen Revolutio n rezipiert wurden. Der erste direkte Kontakt mit den neuen Idee n ergab sich im Jahr 1792 , als die Züriche r Landleut e di e eidgenössische n Grenze n be i Base l un d Genf 116 114 Nac h Aussagen Pfenningers gehörten der Gesellschaft an: Landrichter Stapfer und Haupt mann Höh n au s Horgen , Lieutenan t Hube r vo n Wädenswi l (Kanzleisubstitu t un d Soh n vo m Kronenwirt), Hauptman n Baumann , Landrichter Brändli (Sonnenwirt ) un d Chirur g Pfenninge r aus Stäfa; Adjutant Wunderli un d Löwenwir t Dolder sowie Landrichter Dolder im Fel d aus Mei len, Hauptmann Zuppinge r und Lieutenan t Billete r (Chirurg ) au s Männedorf. Vgl . Hunziker, S . 250-263. 115 Ebd. , S. 250f. 116 I m Frühjahr 179 2 waren französische Truppen i n das nördliche Bistum Base l eingedrun gen, woraufhin zu m Schut z der eidgenössischen Neutralitä t die eidgenössische Tagsatzun g ein e allgemeine Grenzbesetzun g organisierte . I m Septembe r 179 2 fiele n französisch e Truppe n i n

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gegen di e anstürmende n französische n Revolutionstruppe n sicherten . Au s dem Umfel d de r Wädenswiler Lesegesellschaf t is t ein aufschlussreicher Hin weis überliefert, der beleuchtet, dass und wie französische Revolutionsliteratu r unter der einfachen Bevölkerun g verbreitet wurde. Von Johannes Gattiker, einem der Initiatoren der Lesegesellschaft, wir d berichtet, er habe aus Basel ein »Taschenbuch der Franken oder Geschichte der französischen Revolution nebst der Konstitutionsakte von Rabaut de St. Eticnne« mitgebracht und der Gesellschaft vermacht . Ei n ähnliche r Fal l erga b sic h während de s eidgenössische n Rückzugs aus Genf, als die französische Arme e massenhaft Kopie n von Con dorcets »Die Republik der Franken an die freien Menschen« unter den Schweizer Soldate n verteilte . De r Geheim e Ra t von Züric h fühlt e sic h dan n auc h bemüßigt, i n eine m Tagesbefeh l vo m 25 . Novembe r 179 2 Oberstlieutenan t Landolt dazu anzuhalten, » dass er nebst den übrigen Officiers, sobal d sie von Gcnff weg, de n Bedach t nehmen , di e vom französische n Residen t Chateau neuf in Genff unter unsere Trupen ausgestreute Schrifft... sovie l immer möglich wieder aus ihren handen [z u nehmen].« 117 Obwohl die Züricher Soldaten »diese schrift gutwilig zurükgegeben« haben, das Interesse an den Vorgängen in Frankreich brach nicht wieder ab. Salomon von Orell i macht e dafü r wiederu m di e aufgeklärte n Kreis e de r Stadtbürge r mitverantwortlich, die mit ihrer Lesewut nur zu bald die Landschaft angesteckt hätten: »Gleich beym Anfang der französischen Revolutio n ward die Schweiz von allen Winden her mit Revolutionsschriften übersträut , die von vielen Leuten i n de r Stad t mi t Vorlieb e gelese n wurden , al s enthielte n si e verborgen e Schätze der tiefsten Weisheit; au f die Landschaft kame n sie nur zu frühe un d wurden al s der sicherst e Weg, de n Stei n de r Weisen z u finden , betrachte t .. . Paynes Schrift über die Menschenrechte 118 und alle andere, welche Gleichheit und Freyheit predigten, erhielten an den Seeufern einen unbegränzten Beyfal l ... Die, welche diese Schriften lasen, predigten ihren Inhalt auch denen, welche Savoyen ein und bedrohten Genf. Nochmals wurde ein eidgenössisches Aufgebot an Berner und Züricher Truppen entsandt, die allerdings als Gegenleistung für die Schonung Genfs abgezogen werden mussten. Unmittelbar darauf kam es in Genf zum inneren Umsturz. Siehe als Überblick zu de n zahlreiche n innere n Unruhe n de r Alte n Eidgenossenschaf t sei t 178 9 Im Hof, Ancie n Régime, S. 765-772. 117 »da s beste [sei], dieser Piece Keinen wichtigen werth aufzuleggen und darvon grosses aufsehen zu erweken, sondern den Soldaten blos vorzustellen, dass wenn eine solche Schrift, in welcher so anzügliche Stellen, besonders gegen das Haus Oestreich und auch gegen Preussen enthalten, in unserem Land ausgestreuet wurde, solches für das Vatterland nachtheilige folgen und auch auf das frey c fruchtverkeh r mi t de n benachbarte n Teutsche n Lande n Einflus s habe n könnte. « Zitiert nach : Fretz, S. 1(X) . Dass dieses strategische Vorgehen nich t durchgängig erfolgreich war , belegen die zahlreichen Privatexemplar e in der Züricher Zentralbibliothek. 118 Gemein t ist das Werk Thomas Paines »The Rights of Man« (1791/92), in dem er im Geiste Rousseaus die Revolutio n i n Frankreich gege n Burkes »Reflections o n the revolution i n Franc e 1790« verteidigte.

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nicht lese n konnten ; ih r Inhal t ward der Gegenstand de r Gespräch e i n alle n Schenken un d Gesellschaften.« 119 Zu eine m de r populärsten Propagandiste n de r französische n Revolutions ideologie a m Se e wurde de r volkstümliche Kaspa r Billeter , Soh n de r Land schreiberfamilie de r Kanzle i vo n Stäfa , de r 179 8 i m Straßburge r Exi l sein e Erinnerungen niederschrieb . Billeter hatte 179 0 in Wädenswii eine n Theaterverein gegründet. 120 Schon bald stellte sich das Schauspiel al s ideales Medium heraus, um der Landbevölkerung neue Bildungsinhalte und politische Ideen zu vermitteln, so dass «die Antheilnehmer an dieser für das Landvolk ganz neuen Errichtung unter die lebhaftesten Betreibe r der politischen Neuerungen« ein zureihen waren. 121 Theateraufführungen, ein e große Zahl an kursierenden Flugschriften , Zei tungen, politisch e Schriften , di e auc h öffentlic h vorgelese n wurden , un d schließlich di e enorm e Beliebthei t de r französische n Frciheitslieder , di e au s »allen Werkstätten und Weinbergen« schallten, - al l dies spricht für eine breite Popularisierung un d Rezeption der Revolutionsereignisse i n den Gemeinde n am See und bestätigt die Stimmungsbilder, wie sie Orelli und Billeter als politische Gegner zeichneten. »Dazumal war bey uns die französische Revolutions Sache de r Gegenstan d allgemeine r Tagesgespräche . Ma n kannengiessert e a n allen Wirthstischen un d selbst bey der Kunkel wurde für und wider die Nation oder wider und für den König geeifert und jeder schwatzte, wie er es verstund und ihm der Schnabel gewachsen war oder vielmehr je nachdem er etwa eine Zeitung gelesen oder lesen gehört und seine Ide e nach dem Geist e derselben gemodelt hatte.« 122 Außer diese r volkstümliche n Ar t de r Popularisierun g vo n revolutionäre n Ideen, zeigte sich die wachsende Politisierung ab 1793 auch an der Veränderung der bestehende n Lesegesellschaften . Gattiker s Vorstoß , di e mitgebracht e Darstellung de r Revolutionsereigniss e de r Lescgesellschaf t Wädenswi i z u vermachen, folgt e ein e insgesam t stärker e Ausrichtun g a n de r politische n Tagesliteratur. Dabei zeigte sich aber keineswegs eine einseitige politische Festlegung.123 Die Liste der bezogenen Zeitschriften reich t von den antirevolutio119 Orelli , S . 1 1 f. 120 Bereit s für das Jahr 179 0 wurde im Protokoll des Wädenswiler Stillstand s festgehalten, das s es Theateraufführungen i n der Krone gegeben habe. Orelli bestätigt dies: »Zu Wädenswil waren di e schönen Künst e un d di e Aufklärun g scho n s o weit gedeyen , das s di e jungen Leut e daselbs t au f einem dazu eingerichtete n Theate r Comoedi e spielten« , sieh e ebd., S. 12 . 121 Ebd . Orelli weist darüber hinaus auf das besondere Engagement der Frauen hin: »die Weiber verfochten mi t Nägle n un d Zunge n unbedingt e Freyhei t un d Gleichhei t un d we m a n ihre r Gunst gelegen war , der musste zugleic h ei n gute r Freun d de r Franke n seyn. « 122 Billeter , S . 63. 123 Sieh e die Bestandsliste bei Milstein, S. 224-233. Dagegen sieh t Fretz, S. 104 , nicht nu r ein e allgemeine Politisierung , sonder n »rech t eigentlich eine Vorliebe fü r da s neue Frankreich« entste hen.

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nären »Politische n Annalcn « de s Journalisten Christop h Girtanne r übe r di e moderate »Minerva « Johan n Wilhel m vo n Archenholz ' bi s hi n z u de n revolutionsfreundlichen Blätter n vo n Geor g Friedric h Rebman n un d de m »Strassburger Courier« , de r wegen de s großen Interesse s auch außerhal b des Kreises bal d nu r noc h i n Schutzhülle n gege n da s Zerlese n zirkulierte. 124 Joachim Heinric h Campc s »Brief e au s Pari s zur Zeit der Revolution « (1790 ) und Konra d Engelber t Oelsncr s »Lucifer , ode r gereinigt e Bcyträg e zu r Ge schichte der französischen Revolution « (1797 ) wurden ebenso gelesen wie die »Briefe eine s preussische n Augenzeuge n übe r de n Feldzu g des Herzog s von Braunschweig gege n di e Neufranke n i m Jahre 1792 « von Friedric h Heinric h Bispink und Friedrich Christian Laukhard . Deutschland und Frankreich wurden, wi e e s scheint , al s Repräsentante n zweie r unterschiedliche r System e studiert und diskutiert, die eigene Geschichte positionierte man in dieser tagespolitisch gefärbte n Auseinandersetzun g bezeichnenderweis e abe r durc h An käufe wie Johann Ludwi g Ambühls Freiheitsepos »Wilhelm Tell«. Die wachsende Politisierung führte bald zu Konflikten innerhalb der Lesegesellschaft. 179 3 wandten sich neun der siebzehn Mitglieder energisch gegen die neue Ausrichtung und klagten ein Jahr später ihre Forderung nach »entschädigtem Austritt « »wege n bisherige r Anschaffun g vo n unverständlichen , zwek widrigen un d ärgerlichen Büchern« 125 vor dem Herrschaftsgericht Wädenswi l ein. In dieser Umstrukturierungsphase der Jahre 1793/9 4 schrumpfte die Zahl der Mitglieder von achtzehn auf zwölf, von denen nur noch die Hälfte z u den Gründungsmitgliedern zählte . I n de r beruflich-soziale n Zusammensetzun g veränderte sich nichts, auch die neuen Mitglieder des Jahres 179 4 rekrutierten sich aus Fabrikanten, Gewerbetreibenden un d Landärzten , die außerdem oft mals ein kommunales Amt einnahmen.126 Auffallend war dagegen, dass sämtliche weiblichen Mitgliede r de r Lesegesellschaf t de n Rücke n kehrten , obwoh l gerade Orell i sic h übe r di e allgemein e »Franzosenbegeisterung « de r Fraue n mokiert hatte. 127 Darüber hinau s bildete n sic h u m 179 3 eigentlich e Politisch e Lesegesell schaften i n Stad t un d Land . Besonder s argwöhnisc h wurd e vo n Seite n kon servativer Stadtbürge r di e Gründun g de r »Patriotische n Lesegesellschaft « i n Pfäffikon beobachtet. 128 Erstmal s entstan d abseit s de s Sees , i n de n bäuerlic h geprägten Regione n des oberen und untere n Teils der Grafschaft Kyburg , der 124 Fretz , ebd. 125 De r gesamt e Vorgan g is t detailliert geschilder t in : ebd., S . 74—82, hier S . 77. 126 Seckelmciste r Jakob Blattmann , Schützenmeiste r un d Gesellenwir t Heinric h Hauser , Jakob Diezinger, Teilhabe r der Baumwollspinnere i Blattmann , Johann H . Blattmann, Metzge r un d Müller, Johannes Stapfer , Seidenindustrielle r i n Morgen , Heinric h Hauser . Sieh e Moll/Pellens, S . 73f. 127 Sieh e obe n Anm . 58 . 128 Sieh e Fretz , S. 107f. , sowie Erne , S . 158 . Di e umfassendste , negati v eingefärbt e Beschrei bung der Lesegesellschaf t be i Orelli , S . 20f .

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Herrschaft Greifense e und dem unteren Teil des Grüninger Amts, eine Vereinigung, di e weniger di e Züg e eine r Lesegesellschaft , den n eine s politische n Klubs trug . Ihr e zweiunddreißi g Mitgliede r au s »Trölern , müssige n Raison neurs, unbeschäftigten Schärern , Schulmeistern , Tüchler n usw. « - wi e Orelli polemisierte - verfolgte n unte r Leitun g des Chirurgen Staub , »einem Dema gogucn nach dem neuen Schnit«,129 die aktuellen politischen Ereignisse anhand des »Strassburge r Couriers« ; persönlich e Kontakt e Staub s mi t Straßburge r Patriotenzirkeln versorgte n de n Krei s mi t de r neueste n Literatur . Z u de n Erwerbungen de r Lesegesellschaf t i m Jahre 179 3 gehörte n deshal b zentral e Dokumente de r französischen Revolutionsentwicklun g wi e di e Verfassungs urkunde von 1793. 130 Reden von Barrère, Fahadaire und Robespierre, der Menschen- und Bürgerrechtskatechismus von Bouche sowie die 25 Gebete der Vernunft. Di e Ablehnung bei Stadtbürger n wi e Salomo n von Orelli tra t deshal b um so entschiedener hervor . Den selbstbewussten Berufsstan d de r Landärzt e sah er in der Rolle gefährlicher Aufrührer, eifrig bemüht, »das Volk in Gährung« zu bringen, indem man es »über seine Gerechtsamen«(!) aufkläre un d ihm demonstriere, »wie es sich zu benehmen habe, seine angebohrne Menschenrechte wieder zu erlangen.« 131 Die offiziell e Reaktio n vo n seite n de r Züriche r Obrigkei t wa r dagege n erstaunlich gelassen . Ma n schie n wede r durc h da s lebhaft e Interess e a n de r Entwicklung i m westlichen Nachbarlan d noc h durc h di e einsetzend e breit e Diskussion der Geschehnisse auf der Landschaft seit 1790 beunruhigt. Die wiederholten Warnunge n de s Nachbarkanton s Solothurn , da s Landvol k werd e durch die Nachrichten von der Französischen Revolution aufgewiegelt, nah m man nur insowei t ernst, als der Geheime Ra t 179 0 beschloss, Postämter un d Gasthöfe sowi e reisend e Buchhändle r un d Agitatore n aufmerksa m z u beob achten.132 Sicherlic h nich t ohn e Einflus s wa r auc h di e tolerant e Haltun g de r Landeskirche, als deren Repräsentant beispielsweise der Diakon Nüscheler in einer Predigt im Großmünster 179 2 die breite öffentliche Anteilnahme an den Revolutionsereignissen guthie ß un d sic h darübe r hinau s da s Recht , vo n de r Kanzel herunter zu politisieren, ausdrücklich vorbehielt.133 Selbst die 1793 ver129 Ebd. , S . 21. 130 Wahrscheinlic h handelt e es sich um den girondistischen Verfassungsentwur f unte r Feder führung Condorcets, der nie Rechtskraft erlangte . Statt dessen wurde die Montagnard-Verfassun g am 24. Juni 179 3 als erste republikanische Verfassung Frankreich s vom Nationalkonven t un d dan n per Volksabstimmung angenommen . 131 Orelli. S . 2 0 . 132 Sieh e Meister, Ηelvctische Geshichte , S . 7 f. 133 Predig t vom 21. Oktober 1792 : »Wenn sic h i n der Welt solch e Begebenheite n un d Verän derungen zutragen , welch e nich t nu r di e Regente n z u ausserordentlic h vielen , ernsthafte n Berathschlagungcn un d Maassnehmunge n bewegen , sonder n jede m nich t völli g Gedankenlosen , selbst dem gemeinste n Man n .. . s o interessan t werden , das s er sic h nich t hinterhalte n kann , be y jeder Gelegenheit nachzufragen,.. . Wen n das bey allen Zusammenkünften au f offener Strass e un d

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stärkt einsetzende Rezeptio n von revolutionärem Gedankengut und die kommunikative Vernetzung auf der Landschaft zogen keine offen repressiven Maßnahmen nach sich.134 Offensichtlich sah die Obrigkeit in den ländlichen Gesellschaften kein e wirklichen Gefahrenquelle n eine s revolutionären Umsturzes . Tatsächlich durchzo g di e zeitgenössische n Stellungnahme n unterschiedli cher politischer Couleur stets die Betonung einer eigenen freiheitlichen Tradi tion, der man den französischen Kamp f um Freiheit und Gleichheit lediglich an die Seite stellte. Es konnte in der Auseinandersetzung mit der Revolution demnach nicht darum gehen, das französische Beispie l nachzuahmen, sondern als »Brüder im Geiste« wurde eine geschichtliche Parallele der aktuellen Geschehnisse zum Befreiungskampf der eigenen Vorväter beschworen. Man begeisterte sich für die Französische Revolution aus der bewussten Distanz, einen anderen Weg beschritten z u haben . Diese s Bewusstsei n eine r originären republikani schen Freiheitstradition , entstanden aus dem Kampf um Freiheit und Gleichheit i m republikanische n Gemeinwesen , bildet e da s Kernstüc k de s gesamt eidgenössischen Selbstverständnisses , da s auc h vo n stadtbürgerliche r Seit e nicht i n Frag e gestell t wurde . »Freund e un d Liebhabe r de r alte n Schweizer geschichte un d de r Revolutionsgeschicht e i n Frankreich « konnte n dahe r al s potentielle Mitgliede r de r »Patriotischen Lesegesellschaft « i n einem Atemzu g genannt werden. Die Französische Revolution war primär ein Impuls zur Rückbesinnung auf den eigene n Republikanismus , wi e au s der Zweckklause l de r »Patriotische n Lesegesellschaft« abzuleiten ist: »Unsre Absicht ist keine andre als wahre Vaterlandsliebe, Geschmakan ächter Freundschaft, alte Schweizertreu und Redlichkeit, Erkenntlichkei t de s Glüks unsere r eignen Republikanische n Verfassun g und reinen Patriotismu s in unserm Kreise zu erweken und zu unterhalten.« 135 Auch die massiv e Rezeptio n de s französischen Liedgut s resultierte deshal b für Kaspa r Billete r gan z selbstverständlich au s der »Brüderschaft i m Geiste« : »Und wenn eine Marseilianer Hymne, ein Réveil du Peuple und anderes mehr ... Kraft hatten, das französische Volk so zu fanatisiren,... so lässt sich von selbst vermuthen, dass Gesänge dieser Art, von Dichtern und Tonkünstlcrn im Geiste der Frcyheit und Vaterlandsliebe mi t gleichem Feue r und Energie geschaffen , von Schweizer n i m Stolz e au f ihr e Vorväter , i m Hochgefüh l ihre r Freyheit , in geschlossenen Gesellschaften gemeiniglich und mit vollem Recht einer der ersten und der lezten Gegenstände der Unterredung ist... da, meyn ich, seys Christlichen Lehrern wohl erlaubt, auch in der Kirche von der Sache zu reden«, zitiert nach: Frctz. S. 109f 134 Stat t desse n verlegt e ma n sic h au f Spitzeleinsätze ode r Verwarnungen i n de r Art , das s Untervogt Dietric h al s engagiertes Mitglie d de r obengenannten Lesegesellschaf t vo n Pfäffiko n offiziell zu m Mittagessen auf die Kyburg des Landvogts Escher geladen wurde. Dietrich, so berichtet Orelli, S. 26,«zitterte be y der Tafel wi e ein armer Sünder, entschuldigte seine Empfelung des Catéchisme |su r les droits de I'homnie] mit seiner guten Absicht«. 135 Frez . S. 105.

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ihrer Kraft und ihres Muthes gesungen, mehr als bey irgend einer andern Na tion besonder e lebhaft e Empfindunge n de s Mitleids und der Theilnahme er wecken mussten.« 136 Die beschworen e Eintrach t negiert e ebe n ni e di e völlig unterschiedliche n traditionellen Bezüg e und ideologischen Inhalte . Deshalb herrschte auch, wie Billeter berichtet, »kein eigentlicher Partheygeist«. 137 Von all jenen Leuten , die durch die Revolutionslieder Frankreich s für eine »neue Ordnung alter Dinge« mehr ode r weniger eingenomme n wurden , hätt e »a m allerwenigsten jemand den Revolutionsgeist damit in unserm Vaterlande zu erwecken oder Ruhe und Friede i n demselbe n z u stören« versucht. Billete r untermauert e di e Behaup tung, e s hab e kein e einseitige , parteiisch e »Revolutionsbegeisterung « vorge herrscht, inde m e r zu m eine n au f die Woge de s Mitleid s hinwies , di e sic h angesichts der Hinrichtung Ludwigs XVI. am Zürichsee erhob, und zum anderen auf das differenzierte Spektrum an sowohl kritischen als auch befürworten den Druckschriften , di e i n de n Seegemeinde n zirkulierten. 138 E s herrscht e demnach keine subversive Stimmung im Land. In diesem Sinn berichtete auch Oberstlieutenant Korrod i i m Novembe r 179 4 über di e Stäfne r Verhältnisse , »dass zwa r scho n sin t de m Aufbruch de r französische n Revoluzio n übe r di e Ereignisse und Grundsäzc derselben mehren teils von bemittelten und angesehenen Leuten in den Abend-Zusamenkönften bey der Sonne vieles gesprochen worden seye, jedoch immer in beyseyn von jedermann un d in der gewohnten Wirtsstube.«139 Der Auftakt des Stäffier Handel von 1794/95 : Die Memorialbewegung vo n 1794 . Es war denn auch eine moderate Haltung, fernab von dem Willen zum Umsturz, der die Gruppe von Mitgliedern der »Lesegesellschaft am See« verband, die sich am 19 . November i n Meilen versammelte, u m ein umfangreiche s Memoria l des Kachelsetzers Heinrich Nehrachcr 140 aus Stäfa zu beraten, wenngleich die an die Obrigkeit gerichtete Denkschrif t mi t dem devoten Titel »Ein Wort zur Beherzigung an Unsere theuersten Landesväter« in mehr als einer Hinsicht von revolutionärer Qualitä t war . Di e Autore n meinte n jedoch, etwa s organisc h 136 Billeter, S. 65f. 137 Ebd. . S. 67. 138 »Nich t weniger als alle Broschüren und Flugblätter, welche für und wider die französische Revolution herausgekommen,... auch die Menge fränkischer Frcyheitsliede r (wurden) öffentlic h verkauft un d von Hand zu Hand herumgebotten«, siehe ebd., S. 65f. 139 Zitier t nach : fretz, S . 176 , Anm. 74. Erst später, nac h Erlas s eines Zusatzes zu m Jägermandat und eines weiteren i n Sachen eine r Kupferschmiede , di e beide als Angelegenheiten de r Gemeinden angesehe n wurden , hätt e sic h lau t Korrod i Unmu t übe r di e Regierun g i n Züric h ausgebreitet. 140 Heinric h Nehrache r gehörte zur gebildeten ländlichen Mittelschicht , er hatte sich in seiner Umgebung, aber auch in der Stadt einen Namen als Dichter, insbesondere einer Elegie auf den Tod Salomon Gessners, gemacht. Vgl. Orvlli, S. 22, und von Wartburg-Ambühl, S. 184.

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Gewachsenes in Anpassung an die sich wandelnden Zeitbedürfnisse z u entwickeln, inde m si e da s altständisch e Ordnungsmodel l mi t einige n de r neue n Ideen zu einem eigentümlichen Gesellschaftsentwur f verwoben . Bereits mit der Intitulation des »Memorials«, eines bis dahin selten gebrauchten Rechtsbegriffs, der das »Sich Erinnern« (memoria ) an alte Rechtszustände suggerierte, setzt e man bewusst ein Zeichen, das in die eigene Vergangenheit verwies.141 In der Einleitung der Denkschrift baute n die Memoralisten diese n Gedanken kunstvol l aus , inde m si e fü r sic h di e Roll e de s Erbverwalter s de r eidgenössischen Freiheitstraditio n beanspruchten. Auf diese Weise versuchten die geistigen Väter des Memorials, ihr Tun in zweifacher Hinsicht zu legitimieren: Einerseits betonten sie die scheinbar objektive Position des »Verteidigers«, der - nachdem e r die Klage n de r Landleut e gewissenhaf t gesammel t un d auf ihre Rechtmäßigkei t geprüf t hab e - al s Teil eines rechtlichen Prozedere s sein Plädoyer einreichte. Die Einhaltung eines normativen Rechtswegs implizierte automatisch ei n legale s un d vernunftgeleitete s Vorgehen . Andererseits berie f man sich auf das traditionell verbürgte Widerstandsrecht des Untertanen, seine Freiheit gege n Übergriff e de s »Despotismus « z u schützen . I m Geiste diese s traditionellen kommunalistische n Freiheitsdenken s wurde deshalb neben der »Vernunft« al s zweite Kategorie, um die Forderungen der Landbevölkerung zu beurteilen, die der »Billigkeit« eingeführt, als Synonym für ein überkommenes Gerechtigkeitsempfinden.142 Rationale s Kalkü l un d verbürgtes Gemeinwohl , nicht aber irrationale »Revolutionssucht« un d gewalttätigen Umsturz nahmen die Memoralistcn für sich in Anspruch. Selbstverständlich spielten hier strategische Überlegungen , di e städtisch-obrigkeitlichen Ängst e zu zerstreuen un d die Solidarität de r Landbevölkerun g z u gewinnen, eine wichtige Rolle . Doch steht dahinter auch die im vorangegangenen umrissen e Haltung, »jener Nation, die gegenwärtig auf dem politischen Schauplatz die Rolle im Grossen spielt, die weiland unser e Väter im Kleine n spielten«, eben nicht nachzueifern, son dern das Erbe der Väter wieder anzutreten: «Von freien Vätern erzeugt, sollen wir freie Söhne sein.«143 Dieses Erbe einer eigenen republikanischen Freiheitstradition ruht e nich t au f der modern-individualistische n Vorstellun g vo n liberté, égalité und fraternité, sondern auf altständischen Fundamentalprinzipie n gemeindlich-genossenschaftlichen Denkens , di e ma n al s republikanisc h be griff »Republik« - das war der genossenschaftliche Bürgerverband, in dem nach dem bürgerlichen Prinzi p der Entsprechung von Rechten und Pflichte n de m Vollbürger ein e Reih e vo n Grund - un d Freiheitsrechte n sowi e de r Bürger gemeinde korporative Partizipationsrechte zustanden . 141 Vgl . Schmid, Memorial, bes. S. 144. 142 Ei n Wort zur Beherzigung an Unsre theuersten Landesväter 1194, S. 234.[im folgenden : Memorial] 143 Memorial , S. 233.

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Diese altständischen Ordnungsvorstellungen bildete n den ideellen Hinter grund, aus dem heraus im zweiten Teil der Denkschrift insgesam t sieben Forderungen abgeleite t wurden. Als verlorene »Freiheiten « richtete n si e sich all e gegen di e eine oder andere Form städtischer Privilegierung ; i n ihrer Gesamt heit zielten sie aber auf die Wiederherstellung der eigentlichen »Freiheit« , und das hieß die Überwindung des Untertanenstatus. Es erscheint daher unzutref fend, di e Zusammenstellun g diese s Forderungskatalog s ausschließlic h unte r dem Gesichtspunkt von möglichen Allianzen zu beurteilen und entsprechend als mehr oder weniger willkürlich un d disparat anzusehen, wie dies allgemein in der Forschung geschieht. 144 I m Gegenteil, zieht man die im dritten Teil der Denkschrift dargelegte n Begründunge n de r Postulat e heran , ergib t sic h ein e ganz andere Lesart. Dann wird ihr innerer Zusammenhalt al s Eckpfeiler eine s neuen gesellschaftliche n Ordnungsentwurf s deutlich , desse n Fundamen t i n der traditionellen gemeinderepublikanische n Bürgergesellschaf t de r Stadt lag. Ansatzpunkt war entsprechend die Verfassung der Stadt respektive des Staates Zürich, die »für eine Republik ... die beste und zweckmässigste [ist] ... , weil sie dem Bürger alle Rechte des Erwerbs zugesteht und ih n vor willkürlicher Re gierung un d drückende n Auflage n sicher t un d all e Ständ e i n Gleichgewich t setzt.«145 Hier tauchen jene drei genannten Kern bestände gemeindebürgerlicher Ordnungsvorstellungen auf , deren verfassungsrechtliche Garantie , wie sie bislang nur für die Stadtgemeinde galt, sich nun gemäß dem ersten Punkt des Memorials auf das gesamte Staatsgebie t erstrecke n sollte . Dies e territorialstaatlich e Transformation der städtischen Verfassung hatte weitreichende Konsequenzen, denn unter dem legitimierenden Schutz altständischer Denktraditionen unterminierte si e di e wirtschaftliche, politisch e un d kulturell e Vorherrschaf t de r Stadt. Der Forderungskatalog illustriert , wie die Memoralisten a m konkrete n Fall zentrale Kategorien gemeindlich-genossenschaftlichen Denken s zur Forderung soziale r Gleichstellun g de s Individuum s wi e auc h de r untertänige n Landschaft i n Gänze nutzten. 144 Bereit s Orelli wertet e di e Aufnahme bäuerliche r Forderunge n al s strategischen Zug , u m die Bauernschaft fü r die Reformbewegun g z u gewinnen: »Besonders schien es wichtig, die eigent lichen Landbaue r dahin z u bringen, dass sie mit den Fabrikante n gemeinschaftlich e Sach e mach ten: zu dem Ende suchte man sich ihnen zu nähern, wozu sich bei Gemeinde-Anlässen, Musterun gen u.s.w. leicht Gelegenheit fand. Das Verbot, Reben nach Belieben einzuschlagen .. . ward als eine wahre Tyrannei verschrieen . Die Beschwerde des Zehnten und des Grundzinses ward mi t starke n Farben ausgemalt.. . Mitunte r lis s man woh l auc h fallen , di e Welt würd e nich t untergehen , wen n schon kein e Ober - un d Landvögt e d a wären ; ein e vo n de m Vol k selbe r gewählt e Munizipalitä t könnte Recht e un d Gerechtigkei t .. . besse r handhabe n .. . I n diese m To n war d de m Vol k vor gepredigt un d ih m weisgemacht, e s wäre sklavische r gehalte n al s wenn e s von eine m Monarche n regiert würde« (Orelli , S . 17f.) . Vgl. die Aufnahme diese r These i n der wissenschaftlichen Literatu r bei Custer, S. 66; Kuster, S. 16 , S. 32; Böning, S . 70. 145 Memorial , S. 235 (Einleitung) .

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Breiten Raum nahm die wirtschaftliche Benachteiligung der Landbewohner ein. Hierzu zählten einerseits die vielfältigen Erwerbsbeschränkungen , die das Verlagssystem de m ländliche n Fabrikante n un d da s städtisch e Zunftsyste m dem Handwerke r un d Gewerbetreibende n auferlegten : »Da , wo der grösst e Despotismus willkürlic h herrscht , dar f doch da s Geni e Handwerk , Gewer b und Handclschaf t treiben ; abe r hier , i n dem Land e der Freiheit , sol l de r geschickteste Kopf mehr nicht als der Taglöhner sein.« 146 Darüber hinau s verwies ma n au f das überkommene Steuersystem , da s die bäuerliche Bevölkerun g der Landschaft einseiti g belaste: »Unter allen Bauer n in Europa war vielleicht nur der Schweizer in einem erträglichen Zustand und genoss eine gewisse Freiheit und Sicherheit; allein, wie sehr ist er dennoch allen anderen Ständen nachgesetzt, wie vieles muss er aufopfern?« 147 Handelsmonopol, Zunftzwang und bäuerliches Abgabensystem - gegen diese drei Hauptquellen der Prosperität des Züricher Stadtstaates, die auf der Benachteiligung de r Landschaf t beruhten , setzt e ma n die verfassungsrechtlich e Festschreibung tradierte r korporativer Grundrechte für das gesamte Staatsgebiet. Dazu zählt e an erster Stelle die Garantie der Rechtssicherheit al s funda mentaler Voraussetzung fü r da s gewerbliche un d kommerzielle Wirtschafte n des Bürgers. Vor diesem Hintergrun d wird nachvollziehbar , warum die territorialstaatlich erweiterte Konstitution erklärtermaßen eben »nicht nur in Ansehung de r Regierung , sonder n auc h i n Hinsich t au f den Erwer b alle r Volksklassen [als ] notwendig« 148 erachtet wurde. Sie sollte sicherstellen, dass die im zweiten Punk t gefordert e Handels - un d Gewerbefreihei t fü r de n Landbe wohner vor willkürlichen Übergriffe n de r Stadtbürger geschützt würde. Traditionell gehörte auc h da s Recht , fre i übe r sei n Eigentu m verfüge n z u können, zu m Bestan d stadtbürgerliche r Grundrechtspositionen ; ne u war in des, dieses in einem individualistischen Sin n dynamisierbare Besitzverständni s auf das grundherrliche (! ) Abgabensystem der Züricher Landschaft anzuwen den. Da s war nur möglich, weil i n der Eidgenossenschaf t kei n Lehenssyste m existierte und deshalb die ›»Feudal‹-Rechte als Ausfluss des Privateigentums« 149 angesehen wurden. Anders wäre die Entwicklung von dem zwischen Grund herrn und Bauern geteilten Besitzrech t zu einer individuellen Auffassung von Eigentum, das entsprechend auc h finanziel l ablösba r und kommerzialisierba r war, wie im fünften Punk t gefordert, nich t denkbar gewesen. 150 146 Ebd. , S. 236 (ZweiteHauptklage: Handels- und Gewerbefreiheit). 147 Ebd. , S. 240 (Fünfte Hauptklage : Steuergerechtigkeit und Ablösbarkeit von Zehnten un d Grundzins). 148 Ebd. , S. 235 (Erste Hauptklage: Terntorialstaatliche Verlängerung der Stadtverfassung) . 149 Kölz , Verfassungsgeschichte, Bd . 1 , S. 12f . Sieh e ausführlich daz u Kap . 3.3. 1 . 150 Da s Besondere der schweizerischen Entwicklung wird im Vergleich mit den Niederlanden deutlich, w o e s al s einzige m andere n Fal l i n de r Theori e de s niederländische n Regentenrepub likanismus Mitt e de s 17 . Jahrhunderts z u eine r Dynamisierun g des städtischen Besitzrechte s in Richtung auf ein individuelle s allgemeines Grundrecht gekommen ist . Dieses schloss jedoch nu r

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Der hie r angedeutet e Weg zur Individualisierun g bäuerliche n Kleineigen tums wurd e ergänz t durc h di e Forderun g nac h eine m reformierte n Steuer system, wonac h stat t de r bisherige n bäuerliche n Naturalabgabe n »ei n jeder, ohne Ansehe n seine s Standes, Amts und Gewerbes« 151 z u einer progressive n Vermögenssteuer herangezoge n werde n sollte . De n mentalitätsspezifische n Hintergrund liefert e wiederu m ei n i m gemeindlich-genossenschaftliche n Denken fest verankertes Ordnungsprinzip: Spiegelbildlich zu den beanspruchten Grundrechten stand das altständisch-bürgerliche Grundprinzip der Beteiligung aller an den Lasten und Pflichten. Dieser überlieferten For m von sozialer Gerechtigkei t innerhal b de s Bürgerverband s widersprac h au s Sich t de r Memoralisten der stadtbürgerliche »Eigennutz«, wie er sich etwa in dem pro tektionistischen »Despotismus der Zünfte« und des Kaufmännischen Direkto riums niederschlug 152 oder in der Steuerfreiheit, di e der »reiche Kapitalist oder der ein einträgliches Amt hat, auch derjenige, der sich von einer fetten Pfründ e nährt«,153 sprich : de r stadtbürgerlich e Rentier , Pfarre r ode r Beamt e au f de r Landschaft, genoss . Auch de r zweit e Kernbestan d gemeindlich-genossen schaftlicher Ordnungsvorstellungen , da s bürgerlich e Prinzi p de r Entspre chung vo n Laste n un d Rechten , wurd e als o argumentati v genutzt , u m di e Vorherrschaft de r Stad t z u brechen , inde m ma n diese s Fundamentalprinzi p ständischen Rechtsdenkens auf das gesamte Staatsgebiet übertrug . Das Axio m de r unterschiedslose n Teilhab e a n de n Pflichten bezo g sic h keineswegs nu r auf Steuern un d Abgaben, sonder n erfasst e - verstande n al s Mitverantwortlichkeit eine s jeden für das Funktionieren des gemeinen Beste n - nahez u jeden Lebensbereich. Hier setzte ein zweiter Block von Forderungen an, der die kulturelle Hoheit der Stadt und damit gleichzeitig eine der wichtigsten Karrierepfründen der Stadtbürger attackierte. Diese Kulturhoheit umfasst e im engeren Sinn die städtischen Bildungsprivilegien, weshalb in Punkt Drei die allgemeine »Studierfreiheit« fü r Ländler gefordert wurde. Gemeint war damit das Anrecht auf eine theologische Ausbildung, die es auch Landleuten erlauben sollte, die bisher den Stadtbürger n vorbehaltene n Pfarrstelle n au f der Land schaft z u besetzen. Di e Rechtfertigung kreist e immer wieder u m den Begrif f des »Genies«, dessen Talente - hier zeigt sich der Einfluss des Sturm und Drang - nich t nu r aus Erziehung und Lehr e resultierten, sonder n angebore n seien . »Daher treffen wir auf dem Lande auch in den weniger kultivierten Gegende n die grössten Genies an, die erstaunliche Anlagen zeigen und denen nichts als die Entwicklung fehlt, um dem Vaterland damit nützlich z u sein«. 154 die nicht grundherrlich (! ) gebundene n Landbewohne r ein . Vgl. Schilling, Städtischer »Republika nismus«?, S. 105f , sowi e ders., De r libertär-radikale Republikanismus . 151 Memorial , S . 240 (Fünfte Hauptklage) . 152 Ebd. , S . 235-238 (Zweit e Hauptklage) . 153 Ebd. , S . 240 (Fünft e Hauptklage) . 154 Ebd. , S. 238 (Dritte Hauptklage: Studierfreiheit). Siehe zur Rolle Bodmers und Breitinger s als Wegbereiter de s späteren Gcniekultc s J. Schmidt , S . 46-60 .

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Die argumentativ e Verknüpfun g de r Forderun g nac h soziale r Chancen gleichheit mi t Hilf e de s altständischen Grundsatze s gleicher Recht e bei glei chen Pflichten un d den utilitaristischen Ideale n der Aufklärung zeigt die innovative Art, mit der neue und überlieferte Vorstellungen miteinander zu einem schlüssigen Argumentationsstrang verbunden wurden. Aus der Pflicht des einzelnen, dem Ganzen nützlich zu sein, - un d das hieß nach altständischem Verständnis auch, dass das Genie sein naturgegebenes Talent als Fachkönnen fü r das Allgemeinwohl einzusetze n hatte , - resultiert e im Umkehrschluss fü r die Memoralisten da s Recht auf entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten. Da s Gebot der Nützlichkeit gal t für den Dorfpfarrer u m so mehr, als »nächst den Regenten de r Volkslehre r di e nützlichst e un d unentbehrlichst e Perso n de s Staates ist , weil e r Religio n un d Tugen d un d durch dieselbe n di e allgemein e Glückseligkeit am wirksamsten befördern kann.« 155 In seiner Funktio n als »Volkslehrer« galt der Pfarrer demnach grundsätzlic h als Garant dafür , das s republikanische Tugendhaftigkei t un d Mitverantwort lichkeit in dem Gemeinwesen herrschte n stat t des grassierenden Eigennutze s der vielen, »denen die Eigenschaften eines guten Prediger mangeln und denen man ansieht , das s si e nu r au s Bequemlichkeit , durc h Gelegenhei t ode r au s Familien-Ursache Geistlich e geworden sind.« 156 Natürlich gal t das Prinzip der unterschiedslosen Teilhab e an den Pflichte n insbesondere i m Fall e der Verteidigung des Gemeinwesens. Dem standen jedoch nicht die gleichen Recht e gegenüber, da auch hier das Privileg des Stadtbürgers zum Zug e kam , unabhängig von Befähigung un d Qualifizierung di e prestigeträchtige Offizierslaufbahn einschlage n zu können. Der Anspruch zur gleichberechtigten Teilhabe an der »Ehre« für Landbewohner wurde wiederum aus dem gemeindlich-genossenschaftlichen Mutualitätsgrundsat z von Rechten und Pflichten herau s begründet, den man als Bestandteil der eigenen republi kanischen Traditio n begrif f »Di e Errichtung einer Landmili z is t für ein e Republik vo n de r grösste n Wichtigkeit , wei l durc h si e das Eigentum derselbe n verteidigt und sie vor allen feindlichen Eingriffen geschützt werden kann. Jeder Republikaner hat desnahen gleichen Zweck und gleiche Pflicht, sein Vaterland mit den Waffen zu verteidigen. Warum soll er aber auch nicht gleicher Ehre und gleicher Belohnun g teilhaftig sein?« 157 Hier zeig t sic h di e geistig e Näh e de s gemeindlich-genossenschaftliche n Denkens und des republikanischen Tugenddiskurses , dessen Topoi man sich, 155 Memorial , S. 238 (Dritt e Hauptklage). 156 Ebd . 157 Ebd. , S . 23 9 (Viert e Hauptklage : Offizierslaufbah n fü r Landbürger) . Di e Allgemein verbindlichkcit diese s republikanische n Selbstverständnisse s stan d völli g auße r Frage , denn : »Stehet die Republi k in Gefahr, un d es sollen die Truppen an die Grenzen detaschiert werden, so erscheint mi t einma l de r allgemein e Ru f von Gleichhei t au f unsern Sammelplätzen ; wir heisse n Söhne der Freiheit , Rette r des Vaterlandes!«

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wie das Zitat illustriert, gerne bediente, um die allgemein verpflichtend e Ver bindlichkeit eine r (scheinbar ) tradierte n republikanische n Freiheitsideologi e zu betonen . Darübe r hinau s dienten di e republikanische n Topo i al s Vehikel, um unte r dem Signum des Gemeinwohls die individuelle Leistungsfähigkei t statt ständische r Privilegie n al s neue s soziale s Beurteilungskriteriu m cinzu bringen. Individuelle s Nutzenkalkü l wurd e demnac h durc h seine n Beitra g zum Allgemeinwohl legitimiert. Die Brisanz dieses Vorgehens ist nachvollziehbar: Aus der betonten Verbindlichkeit altständische r un d korporative r Hand lungs- und Argumentationsmuster rechtfertigte ma n gleichzeitig ein sie transzendierendes, individualistische s Leistungs - un d Interessendenken . Dies e Dynamisierung altständischer Ordnungsvorstellungen i n Richtung auf ein individualistisches Verständni s macht e di e Befähigun g de s Landmann s zu m Dorfpfarrer ode r zum Offizier überhaup t erst »denkbar«. Individuelle Leistun g un d kollektive r Gemeinsin n wurde n gleichermaße n als argumentative Speerspitzen offen gegen die kulturelle und soziale Vormacht der Stad t in s Fel d geführt. Wenige r offensichtlich ware n di e weitreichende n politischen Implikatione n gerad e dieser Forderungen, den n ohn e Frag e nah men die Pfarrherren un d Offiziere wichtige Schlüsselpositionen innerhal b des stadtstaatlichen Herrschaftsapparats ein. Eine Brechung dieser professionelle n Monopole bedeutet e deshal b auch de n Verlus t direkte r staatliche r Kontroll e über di e Untertanen , wi e auc h indirekte r übe r di e pfarrherrlich e Sozial disziplinierung. Die beiden das politische System unmittelbar betreffenden Postulat e bildeten den Schluss. In Punkt Sechs forderte man die einheitliche Aufhebung de s sogenannten Totenfalls, wonach an manchen Orten dem Landvogt als Vertreter der städtischen Grundherrlichkeit im Fall des Todes eines seiner Amtsleute ein Teil des Erbes zustand.158 1762, während der Affäre des Landvogts Grebel, hatte bereits Bodmer eine Untersuchungskommission z u den Todfallabgaben ange regt und damit ein e Flu t von ländliche n Klageschrifte n hervorgerufen : »Di e Bauern sin d nich t unser e Heloten. * Zu r Zei t de r Reformatio n hatt e ma n Kyburg, Andelfingen, Eglisau , Neuamt und selbst Grüningen, die alle damals den Leibfal l zahlten , denselben schlechtwe g nachgelasse n un d geschenkt . Er blieb auch bis auf diesen Tag den anderen nachgelassen, nur im Amt Grüningen ist er wieder eingeführt; be i welcher Gelegenheit, mi t welchem Recht , durch welche Verschuldung weiss kein Mensch und kein Archiv.« 159

158 De r »Fall« oder das »Besthaupt« wa r ein Überbleibse l de s grundherrlichen Erbrechts , da s im 14 . und 15 . Jahrhundert s o weit eingeschränkt worde n war , dass dem Grundherr n nich t meh r die gesamte Habe, sondern nur noch das beste Stück Fahrhabe oder Vieh bzw. das beste Kleidungs stück zustand. Sieh e J .K Blurttschli , Geschichte de r Republi k Zürich , Bd . 1 , S. 304 . * Staatssklav e i m alten Soarta . 159 Zitier t nac h Graber , Bürgerliche Öffentlichkeit , S . 92f .

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In diesem und anderen Relikten der »Leibeigenschaft« manifestiert e sich der ständische Untertanenstatus wohl am deutlichsten, bezeichnenderweise reichte den Memoralisten ein e rein rechtspositivistische Beweisführun g nich t aus. Wichtiger war ein politisches Verdikt über die Leibeigenschaft als Verstoß gegen das »allgemeine Menschenrecht« und gegen die »republikanische Verfassung« 160 mit Grundsätzen, wie sie die eigene Freiheitstradition zwingend vorgab. Deutlich tritt hier das Verständnis von der Republik als korporativ definierter »Ge meinschaft von Freien und Gleichen« hervor, wie es sowohl dem altständischen genossenschaftlichen Bürgerverban d als auch dem antiken Ideal der res publica im Tugenddiskur s zugrund e lag , außerhal b de r abe r di e »Heloten« , Hörige , Nichtbürger im Zustand der Versklavung ihr Leben fristeten . Auffallend ist , wi e en g hie r Naturrech t un d Bürgerrepubli k zusammen gedacht wurden.161 Offensichtlich sa h man kein Problem darin, an sich gegensätzliche individuell e un d korporativ e Rechtsvorstellunge n miteinande r z u verbinden. Die Berufung auf das allgemeine Menschcnrecht, in dessen Namen zur selben Zeit in den amerikanischen Kolonie n un d in Frankreich ein völlig neuer individualistischer Freiheits - und Gleichheitsbegriff politisch umgesetzt wurde, führt e hie r z u andere n Ergebnissen : I n de r Verquickun g mi t de r tugendhaften Bürgerrepubli k legitimiert e un d wertete es korporative Gesell schaftsvorstellungen au f Abe r mehr noch, die Vorstellung vom Naturzustan d wurde so weit mit der eigenen jahrhundertealten Freiheitstraditio n i n eins gesetzt, das s diese r Urzustan d i m Sin n altständische n Rechtsdenken s rechts positivistische Qualitä t bekam un d der Verlust bestimmter Recht e sowie ihr e Wiederherstellung aus der schmerzhaft spürbare n Entfernung von ihm anzumahnen waren . Aus dieser konstruierte n Realitä t de r eigenen Vergangenhei t war e s möglich , ei n individuelles , naturgegebene s Rech t au f Freihei t un d Gleichheit i m Rahme n de r Teilhabe an einer exklusiv-korporativen Gemein schaft zu postulieren. Dass letztere im Mittelpunkt des Reformdenkens stand, wird deutlich an der Forderung nac h Aufwertung de r politische n Bürgergemeinschaft . Di e siebt e Hauptklage zielt e au f di e Wiederherstellun g un d Garanti e de r politische n Partizipationsrechte der Gemeinden, wie sie in »Dokumenten der Vorzeit«, den »Gemeinde- un d Hofrödel« 162 (Verfassungen) , nachzuweise n waren . Freihei t im politischen Sinn bezog sich danach nicht auf die Einzelperson als Individualrecht, sonder n au f die Bürgergemeind e al s genossenschaftlichem Schwur 160 Memorial , S . 24 1 (Sechst e Hauptklage : Aufhebun g de s Totentalls) : »D a di e Klage n übe r diesen Punk t nich t nu r durc h di e Strenge , mi t welche r si e an einige n Orte n erhobe n werde n ... . sondern auc h hauptsächlic h dadurc h gerechtfertig t werden , dass sie der republikanischen Verfas sung un d dem allgemeine n Menschenrecht e entgege n is t [sind]« . 161 Die s zeig t sic h auc h a n de r Formulierun g de s Memorials : »Natürlicherweis e mus s di e Leibeigenschaft de m freie n Republikane r s o verhasst sein , wie der Despotismus« , ebd . 162 Ebd. , S. 242 (Siebte Hauptklage : Wiederherstellung de r alten Recht e der Gemeinden un d ihrer Gerichte).

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verband. Der hier formulierte korporative Partizipationsanspruch der Gemeinde war gleichbedeutend mi t der Festschreibung ihre r politischen Autonomie , und innerhal b diese r Sphär e kommunale r Selbstverwaltun g vollzo g sic h di e politische Freihei t des einzelnen. Di e Wiederherstellung diese s gemeindlich genossenschaftlichen Urzustand s hiel t ma n fü r historisc h un d rechtsposi tivistisch abgesichert . Ander s al s bei de n vorhergehende n Reformpostulate n wurde das Alte Recht, d. h. die »durch alte Dokumente erweisliche[n] Recht e und Freiheite n de r Gemeinden un d ihre r respektive n Gerichte«, 163 eingefor dert. Dere n schrittweise n Verlus t sei t de m 17 . Jahrhundert lastet e ma n de r Unwissenheit der Landbevölkerung an, aber auch, ganz im Sinne des Tugenddiskurses, dem Eigen-»Interesse« der städtischen Land- und Obervögte in ihrer Gier nach Macht, Ansehen und Reichtum. Der dritte Teil des Memorials stellte die »Klagen des Landmannes« in einen größeren Erklärungs - un d Legitimationszusammenhang . Dre i miteinande r korrespondierende Argumentationsstränge zielten darauf ab, nicht nur vordergründig di e eingeforderten Recht e z u rechtfertigen , sonder n auc h di e ihne n implizit zugrundelicgende Gleichheit von Stadt und Landschaft . Den ersten Argumentationsstrang un d die eigentliche Basi s der Darlegun g bildete das Göttliche Naturrecht. Die Gleichstellung von Stadt und Land wurde danach abgeleitet aus der »natürlichen Ordnung« als Synonym für jene tradierte Vorstellung des göttlichen Naturzustand s menschliche r Gleichheit . S o wie Got t al s Vater de r Menschheitsfamili e übe r di e gleich e Verteilun g vo n Rechten un d Pflichte n unte r seine n Kinder n wache, 164 s o müssten auc h i m Staat - verstanden »unter dem Bild einer Familie« - »all e Söhne vom Vater gleiche Recht e un d Freiheite n gemesse n könne n sowi e hingege n gleich e Oblie genheiten haben«. 165 Hieran knüpft e die zweite Argumcntationslinie de s »Alten Rechts « nahtlo s an. Traditionell wurden die positivrechtlich verbrieften Recht e und Freiheiten als Ausfluss göttlichen Willens und somit Bestandteil der göttlichen Ordnun g gleicher Rechte und Pflichten betrachtet . In einem ausführlichen historische n Abriss der »Verdienste des Landvolks um das Vaterland«166 seit dem 14. Jahrhundert gemahnten die Memoralisten a n die treue Erfüllung ihre r »Obliegenhei ten« gegenüber der Stadt, in deren Folge sie sich den jeweiligen Zeitumstände n angemessene »vorteilhaft e Bedingungen « un d »schön e Freiheiten « verdien t 163 Ebd. , S. 241. 164 Ebd.,S . 246 »Ursprünglich gehöre n alle Menschen Got t an; sie alle zusammen mache n di e grosse Familie auf Erden aus, sowie Eltern und Kinder die bürgerliche Familie ausmachen. Da nun ohne usurpatorisch e Gewal t kei n Vate r übe r Lebe n un d Eigentumsrecht e de r Kinde r willkürlic h verfügen kann,.. . ebensowenig darf ein Herrsche r ohn e usurpatorisch e Gewal t sein e Untertane n willkürlich behandeln , di e eine n mi t ausschliessende n Rechte n versehen , de n ander n ihr e ur sprünglichen Recht e entziehen« . 165 Ebd. , S. 243 (Punkt 1 : Das Verhältnis de s Staat s unter de m Bil d einer Familie) . 166 Ebd. , S. 244-246 .

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hätten. An die Stelle der ländlichen Waffenbrüderschaft se i nun ihre landwirtschaftliche un d industrielle Produktivkraft , »di e die Handelschaft vo n Zürich möglich macht e un d de m Staa t sein e Reichtüme r gab« , getreten, was zu der Frage berechtige:»wie billig ist es dann, dass ihnen [de n Landbewohnern] ihre uralten Privilegien von neuem garantiert und dasjenige nachgelassen oder zugestanden werde, was das jetzige Bedürfni s erfordert?« 167 Die Memoralisten brachte n damit einen dynamischen Zug in den altrechtlichen Begründungsmodus , inde m si e di e gewandelte n Aufgabe n de r Land schaft, ihre wirtschaftliche Produktivität , mit einer an den neuen Bedürfnisse n orientierten Ausweitung der Rechte und Freiheiten beantwortet wissen woll ten.168 Di e ökonomische n Veränderungen , vo n dene n di e Stad t profitierte , wurden s o als Hebel fü r di e Durchsetzun g ländliche r Erwerbsfreihei t einge setzt. Den Ursprung dieser »neuen« Rechte schrieb man wiederum der göttlichen Gleichheitsordnun g zu : Verbrieft e Privilegie n un d ne u eingefordert e Freiheitsrechte konnte n s o als Wiederherstellung eine s verlorenen Rechtszu stands legitimiert werden. Während die beiden ersten Argumentationsstränge traditierte Legitimations mustcr darstellten , tra t mit der dritten Argumentationsfigu r de s aufgeklärte n Naturrechts da s eigentlich e Novu m hinzu . Da s »allgemein e Menschen recht«169 und die daraus abgeleitete Volkssouveränität stande n im Mittelpunk t der Gedankenführung, derzufolge der historisch verbürgte Ankauf der Züricher Landschaft durch die Stadt und mit ihm die willkürliche Benachteiligung der Landbewohner fü r nichtig erklärt wurde: »Staaten mögen Länder gekauft ha ben; konnten sie aber zugleich das Volk und seine natürlichen Rechte erkaufen ... und ihrer Willkür unterwerfen? Wie können republikanische Städte sich die Souveränität übe r das Volk eines Lande s anmassen, das sie einmal von einem verarmten Grafen um einen unbedeutenden Wert erkauft haben, dessen wahres Eigentum es nie war und der es nur als Usurpator besass und der sich auch nie als Vasall eines höhern Hauses die Souveränität anmassen durfte?« 170 167 Ebd. , S.245f . 168 Überdie s tra t i n de m Do-ut-des-Prinzi p da s traditionell e Vertragsdenke n hervor . Dabe i zeichnete sic h wiederu m ein e eidgenössisch e Besonderhei t ab . De r herkömmlich e ständisch e Herrschaftsvertrag sa h vor , das s di e Obrigkei t fü r Wohlfahr t un d Schut z ihre r Untertane n z u sorgen hatte , um dafür Gehorsa m zu erhalten. Allein, die Schutzklausel gal t für sämtliche Kanton e der Eidgenossenschaf t i n umgekehrte r Akzentuierung : E s waren di e Untertanen , di e fü r de n Schutz de r Obrigkei t sorgte n un d darau s bestimmt e Autonomierecht e ableiteten . Darau s erga b sich ein e völlig ander e Vertragsbasis. E s war die Einhaltun g der in Anerkennung ihre r Verdienst e den Untertane n verliehene n Recht e un d Freiheiten , sprich : di e Gesetzestreue de r Obrigkeit, di e zur Vorbedingun g fü r untertänige n Gehorsa m wurde . Ander s al s bei m herkömmliche n ständi schen Herrschaftsvertra g existiert e bei m ständische n Gesellschaftsvertra g (pactu m unionis ) au f diese Weise ein e wirklich bindend e Mutualität , di e z u einer Machteinschränkun g de r Herrschaf t führte. 169 Memorial , S . 246-248 . 170 Ebd. , S . 246.

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Nachdem auf diese Weise die rechtspositivistische Grundlage des ländlichen Untertanenstatus aufgehobe n war , drang ma n i m weiteren z u der Kernfrag e vor, wie dem Volk unter diesen Umständen »die bürgerlichen Rechte « versagt werden könnten. Zu diesen Rechten zählte man, »den Namen freier Bürger« zu tragen, an den sich die Rechte des freien Erwerbs und des freien Gebrauchs der Talente sowie das Anrecht auf öffentliche Achtung knüpften. 171 War demnach zunächst die »Gleichheit« als naturgegeben aus dem modernen Naturrecht abgeleitet worden , wurde der Gleichheitsbcgriff nachfolgend , wi e di e konkret e Aufzählung zeigt, inhaltlich traditionell un d eng begrenzt verstanden, nämlich als mit dem stadtbürgerlichen Status identisch. Das galt auch, obwohl eine Formulierung wie der »freie Gebrauc h der Talente« auf die Berührung mi t Con dorcets Menschenrechtskatalog hinweist . Diese pragmatische und bedürfnisorientierte Erweiterun g von gemeindlichgenossenschaftlichen Ordnungsmuster n stadtbürgerlichen Denken s um neue Argumentationsfiguren un d Forderunge n zeigt e sic h auc h i n de m Entwur f einer übergreifende n staatliche n un d gesellschaftliche n Ordnung , di e Stadt bürger un d gleichberechtigt e Landbürge r umfasste . Wi e konnt e da s gesell schaftspolitische Vakuum, das durch die Auflösung der ständischen Ungleich heit zwische n Stad t un d Landschaf t entstehe n musste , gefüll t werden ? Di e angestrebte Ablösung des ständischen Obrigkeitsstaat s konfrontiert e di e Memoralisten mi t de m Grundproblem , ein e neue , forma l staatlich e un d ideel l gesellschaftliche Entitä t z u kreieren, di e nu n Stad t un d Lan d gleichermaße n umfasste un d i n deren Binnenrau m ma n Gleichheit postuliere n konnte . Di e wiederholte Betonung, man wolle die bestehende Grundverfassung des Staates keinesfalls verändern un d damit Rechte der Bürger von Zürich beschneiden , sondern sie nur auf das ganze Land ausweiten, wiesen neben dem Zweck, besänftigend z u wirken, einen gangbaren Weg. Die Lösung lag darin, die stadt bürgerliche Gesellschaft auf den Gesamtstaat zu transformieren, d. h. die städtische res publica zur staatlichen res publica auszudehnen. 172 Indem man auf ihren Kern, den ständischen Gemeindebürger, zurückgriff , konnte man städtischen Gemeindebürger und ländlichen Gemeindebürger i n dem neueingeführten »Staats-Bürgerbegriff « verschmelzen . Es war eben nicht der egalitäre »citoyen«, der als Staatsbürger an die Stelle des ständisch privilegierten Stadtbürgers trat, sondern der weiterhin exklusive Gemeindebürger in Stadt und Land , dessen Status auf der Teilhabe an ständischen Grundrechte n beruhte, die bedürfnisorientiert erweiter t wurden . Wurde damit de r egalitär e 171 Ebd. . S . 248. 172 Dafü r spricht die Formulierung: «d a die Grundverfassung de s Staates immer dieselbe blei ben kann. Sie leide t keine Veränderung, si e wird nu r allgemeiner un d übe r das ganze Lan d ausge breitet. Auch verlier t de r Bürge r von Zürich keine s seine r Rechte ; e r teil t si e nu r mi t de m Land mann un d befolg t dadurc h jenen evangelische n Grundsatz : Alles , wa s ih r wollet , das s euc h di e Menschen tun , da s tut auch ihnen«« , ebd., S . 249.

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Staatsbürgerbegriff seine s ursprüngliche n Sinngehalt s entkleidet , zeig t auc h die Formulierung, ma n erhebe als »Mensch und Bürger der Republik« 173 Anspruch au f die Recht e de s ständisc h begriffenen , nicht-untertänige n »freie n Bürgers«, wie zwanglos und selbstverständlich Argumentationsmuster kontradiktorischer Provenienz miteinander verbunden wurden. Anders war die Berufung au f das universale un d egalitär e Menschenrech t i n einem Atemzug mi t dem es prinzipiell wieder einschränkenden korporativen Bürgerverständnis gar nicht möglich . Die Vorstellung eine r exklusive n Staats-Bürgergemeinschaf t verwie s deut lich au f ihr e Herkunf t au s de r gemeindlich-genossenschaftliche n Denktra dition. Wie sollte aber ihre organische Ausweitung auf die Staatsebenc jenseits des altständischen Obrigkeitsstaat s legitimier t werden ? Ein e solch e Begrün dungmeinte man im naturrechtlichen Kontraktualismus, namentlich in Rousseaus »gesellschaftlichem Vertrag«, 174 zu finden . Die ländlichen Memoraliste n knüpfte n dabe i zum einen an das von Rousseau entwickelte Prinzi p der Volkssouveränität an . In den städtischen Zunft unruhen war bereits unter dem Einfluss von Althusius der Grundsatz politisch wirksam geworden, dass die Souveränität eines Staates unteilbar beim Volk verbleibe.175 Sie bereiteten dami t den Bode n fü r die Rezeption der in Rousseau s »Contrat social« entwickelten Vorstellung vom Volk als Kollektivwesen, dessen unteilbare Staatshohei t sic h i m »volonte generale« bekundet. Folgerichti g betonten die Memoraliste n de n Ker n des »Contrat social« , wonach »ei n Bürge r von de m andern , ei n Glie d de r Gesellschaf t vo n de m ander n Glied« 176 ein e bestimmte soziale und moralische Verpflichtung fordern könne. Grundlage des Gesellschaftsvertrags war ja eben nicht die vertragliche Vereinbarung zwischen der Staatsführun g un d de n Untertanen , de r Herrschaftsvertrag , sonder n de r Staat kam allein durch freiwilligen Vertrag eines jeden mit jedem zustande, d. h. der Herrschaftsvertrag wurd e im Gesellschaftsvertrag konsumiert . Der Ursprung des Gesellschaftsvertrags la g für Roussea u in der Familie als einzig natürlicher Gesellschaft. Hier offenbarte sich ein zweiter Anknüpfungspunkt zwischen ältere n Vorstellungen, di e im Göttlichen Naturrech t wurzel ten, und dem aufgeklärten Naturrecht . Wie gezeigt, hatten die Memoralisten in ihrem ersten Punk t die Metapher von Gottvater und der Menschheitsfamili e als natürlicher Ordnung beschworen und unter dem Titel »Das Verhältnis des 173 Ebd. , S. 244. 174 Ebd. , S. 249. 175 E s wäre aber theoriegeschichtlich falsch , eine direkte Beziehung zwischen Althusius und Rousseau herzustellen. Althusius verblieb in der calvinistischen Denktradition, dass die Souveränität des Volkes immer der obersten Souveränitä t Gotte s untergeordnet war. Die gesellschaftlich e Ordnung entstand nicht - wi e bei Rousseau - au s einem menschlichen Willensakt, sondern entsprang der göttlichen Fügung . 176 Memorial , S. 249.

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Staats unte r de m Bil d eine r Familie« 177 au f den Staa t übertragen . Rousseau s Darlegung, wonach auch die Familie nur auf der willentlichen Übereinkunf t ihrer Mitgliede r beruhe und so »Urbild der politischen Gesellschaften« 178 sei , fügte sich hier ein. Die Gemeinsamkeit des Leitbegriffs der »Familie« als Urzel lc de r natürliche n un d der politischen Gesellschaf t liefert e de n Opponente n offensichtlich ei n Bindeglie d zwische n göttliche m Naturrech t un d natur rechtlichem Kontraktualismus . Aber wie lie ß sich die hier entwickelte exklusiv e staatlich e Bürgergemein schaft aus dem Gesellschaftsvertrag legitimieren ? Musst e nicht Rousseaus berühmte Einleitung: «Der Mensch is t frei geboren , und überall lieg t er in Ketten«,179 einer Gesellschaftsordnung diametra l entgegengesetzt sein, die auf der politisch-sozialen Entitä t eine r korporative n Bürgergemeinschaf t beruhte ? Hier zeigt e sic h ei n dritte r Anknüpfungspunkt , den n tatsächlic h hatt e sic h Rousseau auf den nicht minder exklusiven aristotelischen Bürgerverban d de r Antike gestützt, um seine ideale Gesellschaftsform z u bestimmen. Das sittliche Kollektivwesen des Gesellschaftsvertrages entsprach danach der klassischen res publica: »Diese öffentliche Person, die aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis , heute trägt sie den der Republik.«180 Sein klassisches Verständnis des Bürgerbegriffs wurde in der Folge noch eindeutiger. Der Begriff der Polis, so Rousseau, sei zunehmend seines eigentlichen Wortsinns entkleidet worden. Fälschlicherweise werde als Bürger der Polis der Stadtbewohner (bourgeois ) verstanden , währen d di e eigentlich e Bedeutun g des Bürgerbegriff s al s politisch aktive s Mitglie d de r Poli s (citoyen ) verlore n gehe. Aus diesem exklusiven (Gemeinde- ) Bürgerverständni s herau s betonte Rousseau also am Beispiel seiner Heimatstadt Genf, dass von den vier Klassen von Menschen in der Stadt nur zwei die Republik bildeten. 181 Klassischer Re 177 Ebd. , S . 243f. 178 Rousseau , Gesellschaftsvertrag I, Kap. 2, S. 7. 179 Ebd . I, Kap. 1 . S . 5 . 180 Ebd . I, Kap. 6, S. 18 . 181 Ebd . I, Kap. 6, S . 18f : »D'Alember t ha t sie h nich t getäusch t un d i n seine m Artike l Gen f genau die vier (fünf sogar, wenn ma n die einfachen Fremde n dazuzählt) Klasse n von Menschen i n unserer Stad t unterschieden, von denen nu r zwei die Republik bilden. Kei n anderer französische r Autor ha t meines Wissens den wirkliche n Sin n de s Wortes Bürger verstanden.« Vollbürge r ware n nur di e »citoyens « un d di e »bourgeois« . Dagege n nich t di e »Habitants« , d . h . all e nich t i n Gen f geborenen Bewohne r un d dere n i n Gen f geborene n Kinder , di e »natifs« . Wi e star k Rousseau s Bürgcrbcgriff an den ständische n angebunde n war , wird auc h deutlic h i n seinem »Entwur f eine r Verfassung fü r Korsika« . Hie r entwickelt e e r dre i Klasse n vo n Mitglieder n de s Gemeinwesens , deren Einteilun g sic h nich t meh r (entsprechen d de r feudale n Städteordnung ) a n »Sipp e ode r Wohnort« orientierte , sonder n a n dem Ma ß de r persönliche n Freihei t un d de n Banden , di e de n einzelnen mit dem Gemeinwesen verknüpften. Di e erste Klasse war dem einheimischen, selbstän digen Ackerbauer n ode r Handwerke r vorbehalten , di e durch de n Schut z ihre r Perso n un d ihre s Eigentums, letzteres »der wahre Bürge der Verpflichtung de r Bürger«, am engsten an das Gemeinwesen gebunden waren . Sieh e Rousseau, Sozialphilosophische un d Politisch e Schriften , S . 530ff .

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publikanismus und gemeindlich-genossenschaftliche Realitä t des Jahres 1762 , in de r nu r di e vollberechtigte n Gemeindebürge r al s stimmberechtigt galten , flossen in der Konstruktion des gesellschaftlichen Gesamtwillen s bei Rousseau zusammen un d boten damit den Stäfner Memoralisten di e ideelle Grundlag e ihres bürgergesellschaftlichen Entwurfs . Einen letzten und besonders interessanten Anknüpfungspunkt fü r die Landführer stellt e die von Rousseau beabsichtigte Vermittlung von Kollektivismu s und Individualismu s dar. Gleich zu Beginn des Contrat social frag t Roussea u nach dem Zweck des Gesellschaftsvertrages, d. h. warum sich die freien Men schen überhaupt zusammenschlößen. Ziel sei es, so Rousseau, zwischen »allgemeiner Gerechtigkeit « un d »einzelnem Vorteil« Nutze n z u vermitteln. Selbs t innerhalb de r Famili e »veräußer n si e [di e Mitglieder ] ihr e Freihei t einzi g z u ihrem Nutzen«. 182 Deutlich tritt an dieser Stelle das dem Interessendiskurs zugehörige Nutzenkalkü l de s Gesellschaftsvertrag s hervor . Gleichzeiti g setzt e Rousseau sich jedoch mi t dem Übergan g vom Naturzustand i n den bürgerli chen Stand , wi e ih n de r Gesellschaftsvertra g hervorbrachte , übe r ein e rei n funktionale Sich t de s Staate s hinweg, inde m e r die Versittlichung de r neue n Körperschaft ableitete . Tugend un d Interesse , Gemeinwohl un d Eigennut z diese beiden Pole miteinander zu verbinden war sein Ziel, wie Rousseau gleich zu Beginn des Ersten Buches postulierte: »Ich werde mich bemühen, in dieser Untersuchung, das, was das Recht zulässt, stets mit dem zu verbinden, was der Vorteil vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Nutzen nicht getrennt gefunde n werden. «183 Die Vermischung der beiden divergierenden Diskurse, wie sie Rousseau vornahm,184 ermöglicht e de n Memoraliste n ihrerseits , da s Nutzenkalkü l i n di e Bürgergemeinschaft mi t ihre r Gemeinwohlverpflichtun g einzubauen . Di e Forderungen nach wirtschaftlichen Freiheitsrechten , die das Memorial durch zogen, werden vor diesem Hintergrund verständlich und enthüllen gleichzeitig ihre wahrhaft revolutionär e Qualität : Si e unterminierte n nich t nu r di e öko nomische Privilegierun g de r Stadt , sonder n gabe n auc h Zeugni s vo n eine m neuen, stärker individualisierten Erwerbsdenken , das eklatant gegen den traditionellen Gemeinnutz-Gedanken verstieß. Dieser Dualismus wurde aufgefangen durc h die Ordnungsvorstellung einer Einheit von Staat und Gesellschaft, wie sie der Gesellschaftsvertrag konstruier 182 Rousseau , Gcsellschaftsvertrag I, Kap. 2, S. 7. Er formulierte das Anliegen des Gcsellschaftsvertrages wie folgt: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, inde m e r sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht un d genauso frei bleib t wie zuvor.« Ebd. , I, Kap. 6, S. 17 . 183 Ebd. , I, Einleitung, S . 5. 184 Sieh e zu r Definitio n vo n Interesse - un d Tugenddiskur s sowi e ihre r Vermengun g be i Rousseau Münkler, Die Ide e der Tugend, S. 388.

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te. Da anders als im Herrschaftsvertrag die Sicherung von Wohlfahrt un d dem gemeinen Beste n nicht an den Staat abgetreten wurde, war jeder als Glied der Gesamtheit diese n Ziele n verpflichtet , sein e wirtschaftliche n Bestrebunge n kamen entsprechend dem Gesamtwohl zugute . Die Vorstellung der politisch sozialen Entitä t von Staa t und Gesellschaf t beruht e darübe r hinau s au f dem gemeindlich-genossenschaftlichen Traditions - un d Erfahrungshintergrund , der besonders greifbar wird in der Forderung nach Wahrung der korporativen Partizipationsrechte. A n keiner Stelle des Memorials finde n sic h individuell e Partizipationsrechte, denn der Entwurf einer »korporativen Staatsbürgergesell schaft« schloss folgerichtig auch nur korporative politische Teilhaberechte ein. Der Gewinn »bürgerliche r Freihei t un d das Eigentum a n allem, was man besitzt«,185 wie Roussea u das Resultat der Vergesellschaftung umschrieb , konnte so sowohl Forderungen im Sinne altständischer bürgerlicher Freiheit umfassen als auch neue Eigentumsansprüche an wirtschaftlichen Erwerbsrechte n postulieren, überform t durc h di e weiterhin verpflichtend e Orientierun g a m Ge meinwohl. Die Wirkung des Memorials: Die Entstehung einer attrechttichen Volksbewegung 1795. Die besondere Bedeutung des Stäfner Memorials liegt demnach in seiner beispielhaft vorgeführten Verknüpfung traditioneller Denkmuster und neuer Vorstellungen, mi t de m Ziel , ein e organisc h gewachsen e »korporativ e Staats bürgergesellschaft« z u stiften , wi e si e bereit s i n de n berufsständische n Gesellschaften de r Arzte vorgedacht gewesen war. Nicht von ungefähr gehör ten zwei der wichtigsten Memoralisten, die Chirurgen Pfenninge r und Staub, zu einer solchen Vereinigung. Es zeigt sich, dass das aufklärerische Naturrech t und einzelne daraus abgeleitete Postulat e der französischen Revolutionsideo logie, etw a de r frei e Gebrauc h de r eigene n Talente , i n de m Maß e rezipier t wurden, wie sie erstens den Bedürfnissen entsprache n un d zweiten s aus dem überlieferten Denke n heraus »verständlich« waren, d. h. in traditionelle Denk figuren eingebunde n werde n konnten . Mit großer Selbstverständlichkei t be schwor ma n di e Forme l vo n »Freiheit un d Gleichheit«, u m nachfolgen d di e Missbräuche gege n die »natürlichen und zugestandenen Recht e un d Freihei ten« anzuklagen. Die »alte Schweizer Freiheit« war so unmerklich naturrecht lich erweiter t worden , si e wurd e jedoch nich t durc h di e französisch e Re volutionsideologie aufgeladen un d zum französischen Exportgut . Wie stark die Memoralisten i n überkommenen Denkstrukture n verwurzel t waren, spiegelte sich in den Verhörprotokollen, die nach ihrer Verhaftung i m November 179 4 angefertig t wurden . Al s Grun d fü r di e Anfertigun g de s Schriftstücks ga b einer der Hauptinitiatore n un d Koautore n de s Memorials , der Chirurg Pfenninger aus Stäfa, die obrigkeitliche Missachtung der »Volksan185 Rousseau , Gesellschaftsvertrag I, Kap. 8, S. 22.

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frage« an. Die Entsendung von Züricher Truppen nach Genf, um einen jakobinischen Staatsstreic h z u unterdrücken , se i ohn e di e Befragun g de r Landge meinden, wi e si e i n den Waldmannschen Briefe n vo n 148 9 bzw. dem Kapp lcrbrief von 153 2 festgeschriebe n waren , angeordne t worden. 186 De r Bäcke r Hans Heinrich Ryffel, der für den historischen Teil des Memorials verantwortlich war, ging sogar so weit, das Memorial lediglic h al s aktualisierte For m der Spruchbriefe vo n 148 9 zu sehen. 187 Doch die Memoralisten ware n ja gerade , wie ih r Gesellschaftsentwur f deutlic h machte , übe r ein e rei n rechtspositi vistische Ableitung ihrer Forderungen hinausgegangen. In der Folge zeigte sich allerdings, dass zwar der Kerngedanke des Memorials, die Benachteiligung der Landschaft aufzuheben, von breiten Bevölkcrungsteilen aufgenommen wurde, nicht aber als Teil einer korporative n Staatsbürgergesellschaft . E s entwickelte sich vielmehr eine altrechtliche Volksbewegung, die sich in ihren Forderungen auf die alten Freiheitsbriefe berie f Der entscheidend e Ansto ß ka m überraschenderweis e vo n obrigkeitliche r Seite, als Obervogt Irminger vor der aufgebrachten Gemeind e Stäfa das leichtfertige Versprechen abgab, er selbst werde für die Wiederherstellung verlorener Rechte einstehen, sollten diese urkundlich belegbar sein. 188 Irminger reagiert e damit au f die Unruhe n i n den Seegemeinden , di e im Anschluss an die erste Verhaftungs- un d Verhörwcll e gege n di e Memoraliste n entstande n waren . Nachdem das nur als erster Entwurf gedachte Memorial von den Mitglieder n der »Lesegesellschaft a m See« in Abschriften hauptsächlic h i n der Seegegend , aber auc h i m Züriche r Oberlan d (Mönchaltorf , Wald , Pfäffikon , Fehraltorf) , im Knonaueramt , ja soga r i m benachbarte n Bernergebie t verbreite t worde n war,189 hatten sich am 19 . November Vertreter aus den Gemeinden Küsnacht , 186 E s sei i n de r »Lesegesellschaf t a m See « »au f den Auszu g de r Genfe r Truppe n di e Red e gekommen un d de r Wunsch geäusser t worden , dass bei dergleichen Anlässe n de r Landschaf t de r nährere Grund der Truppensendung eröffne t werde n möchte« . Siehe sein Verhör bei Hmtziker. S. 250. 187 Ebd. , S. 260ff., hie r S . 261. Dies lediglich al s strategischen Schachzu g z u werten, u m ein e möglichst breit e Zustimmun g »i m Volk « z u erreiche n ode r durc h di e Betonun g rechtmäßige n Vorgehens di e Schwer e de s obrigkeitliche n Vorwurf s abzuwiegeln , wi e Orelli , S . 29 , die s unter stellt, erscheint nich t befriedigend. E s kann als gesichert gelten, dass tatsächlich der eidgenössisch e Truppenauszug respektiv e die unterlassene Volksanfrage al s Impuls für die Lesegesellschaft wirkte . Ferner bezeuge n mehrer e Aussagen, dass sich die Memoraliste n all e dem intensive n Studiu m de r betreffenden alte n Dokument e gewidme t hatten . Sieh e etw a di e Aussag e Pfenningers , e r hab e Auszüge de r alte n Brief e i n seine m Besitz , oder de r Hinwei s Staubs , »bei Anlas s einiger i n sein e Begangenschaft einschlagende n Geschäft e hab e e r den Pfenninge r u m di e Brief e vo n Ann o 148 9 und 153 2 bitten lassen« , siehe Hiwziker, S . 255 (Pfenninger), S. 262 (Staub). Schließlich is t auf die prominente Stell e der Waldmannschen Brief e innerhal b des Memorials {Memorial , S. 245) i n dem von Ryffe l verfasste n historische n Tei l hinzuweisen . All dies spricht gegen einen ers t nachträglic h zurechtgelegten Rekur s auf die Urkunden . 188 Darstellun g au s der Zeitschrif t Helveti a 5 (1829), abgedruckt in : Orvll i S . 28f . 189 Ebd. , S. 23 u. S. 35. Danach unterhiel t Chirur g Stau b eine entsprechende Korresponden z mit eine m Aidemajo r au s dem Langental , außerde m spielt e auc h di e Doppelmitgliedschaf t viele r

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Erlenbach, Herrliberg , Stäfa , Meilen , Oetwil , Richterswi l un d Horge n sowi e aus den Ämtern Grüningen und Knonau getroffen, u m den Entwurf zu beraten und anschließen d zu r Unterschrif t i m Lan d herumzureichen . Di e Obrigkei t verhaftete daraufhi n di e fün f »Rädelsführer « de s Memoria l Handels : nebe n Nehracher un d Ryffel, di e beide nicht zum Krei s der Lesegesellschaft zählten , deren Mitgliede r Landrichte r Stapfe r aus Horgen sowi e die beiden Chirurge n Staub aus Pfäffikon un d Pfenninger au s Stäfa . Diese Behandlung hochangesehener gemeindliche r Würdenträger sorgt e für erheblichen Aufruh r unte r de r Seebevölkerung . Di e zeitgenössisch e Darstel lung de r Barbar a Hess-Wegman n schildert e a m Fal l de s Landrichter s un d Baumwollfabrikanten Stapfe r di e öffentliche Empörung : »Die s macht e unte r den Leute n a m Se e am meisten Aufsehe n un d Unwillen , das s ein Man n vo n dem Ansehen, dem Reichtum un d der Gemeinnützigkeit, inde m er durch sei ne Baumwollenfabrikatio n be i 200 Arbeiter ernährte , .. . wie ei n Halunk e be handelt un d ins Gefängnis de r Diebe und Verbrecher gesetz t wurde.« 190 Wie etwa aus der Gemeinde Stäf a berichtet wurde, 191 kam es in der Folge zu spontanen Versammlunge n i n den beiden Wirtshäusern, au f denen man neue ste Nachrichten übe r die Tätigkeit der städtischen Untersuchungskommissio n austauschte, die nun systematisch de r Verbreitung des Memorials nachforscht e und Dutzend e Verdächtiger verhörte . Hier wurde auc h der Entschluss gefasst , ein übergemeindliches Treffe n vo n Gemeindevertretern i n Küsnacht z u orga nisieren, um einerseits eine Deputation i n die Stadt zu entsenden, mit der Bitte Lesegesellschafter, wi e etw a i n de r »Chirurgische n Gesellschaf t z u Altorf « ode r de r »Musik gesellschaft von Stäfa«, eine wichtige Verteilerrolle. Siehe die Beschreibung der Verbreitung ζ. Β. in den Aussagen von Pfenninger in: Hunziker, S. 251 f. Die beiden von Staub und Nehracher angefer ­ tigten Auszüge des Memorials, die in Umlauf gebracht wurden, finde n sic h ebd., S. 265ff. Nebe n den kollegiale n un d Vereinskontakte n erga b sic h außerde m ein e wichtig e Vernetzun g übe r di e Verwandtschaftsbeziehungen. Landvog t David von Orell gibt ein Beispiel, wie auf diesem Weg die Nachricht von dem Memorial un d das Schriftstück selbs t zu zirkulieren begannen. So fürchtete er, die Leder-Händle r Husere n hätte n sic h »vo n ihre m Schwage r Landrichte r Stapfe r zu r Unter stüzung und Beyhilfe seiner gefährlichen Entwürfe n un d im Finstern genommenen Massregie n .. . hinreissen un d verführe n lassen« . Kanzleiverwalte r K . Billete r nutzt e stat t desse n di e Verlobun g mit de r Tochte r de s Kronenwirt s i n Wädenswil , u m »unte r de m schikliche n Vorwand , seine n Schweher, den hiesige n Kronenwir t Hubcr , z u besuchen, seinen hiesige n Mitconsorte n all e Ent würfe und Massregeln der Stäfner und Horger mittheilen und ihre diesfälllige Gesinnung hierübe r vernehmen konnte« , zitiert nach: Fretz, S. 130 . 190 Hess-Wegmann t S.53. 191 Unruhe n gab es auch in der Herrschaft Knonau, wo »von Stäfa aus viel Ungutes eingewirkt worden und dass auch daselbst das Memorial herumgeboten worden«, siehe Orclli, S. 32. Die starke Erregung der Stäfne r wurde auc h am 26. November deutlich, al s sich die beide n Obervögt e dor t einfanden. Während der Verhandlungen hatte sich beinahe die ganze Gemeinde vor dem Gasthof , der Krone , versammelt , un d »leich t hätte n Exzess e begange n werde n können , wen n nich t di e einflussreichsten Gemeindebüge r solches verhinderten.« Aus der Hclvetia 5 (1829), abgedruckt in : ebd., S. 28. Folgt man Orellis Bericht, dann hatten die Dorfbewohner soga r überlegt, die abgesandten Obervögte i n Stäfa z u behalten, um si e gegen di e Gefangenen auszutauschen .

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um Gnad e fü r di e Inhaftierten . Andererseit s sollte n Kopie n de r Waldmann schen Spruchbrief e eingesehe n un d beratschlagt werden, wie ma n am besten gemeinschaftlich zu r Wiederherstellung jener Freiheiten vorgehe. Das Memorial war also zu diesem Zeitpunkt, kaum das seine Existenz bekannt geworden war, nur noch mittelbar Grundlage der Überlegungen. 192 Da s gleichzeitig fol gende Zugeständnis von selten des Obervogts musste die Gemeindemitglieder von der Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens überzeugen, so dass hierin neben dem Memorial Hande l ein weiterer wichtiger Impul s zur Entstehung jener Volksbewegung des eigentlichen »Stäfne r Handels « z u sehe n ist , di e sic h nac h der Verurteilung der Memoralisten193 und rund 70 ihrer Sympathisanten im Januar 1795 entwickelte. In mehreren Landgemeinden begann nun eine fieberhafte Such e nach den in Vergessenheit geratenen Originalen der Spruchbriefe.194 Als man schließlich im März 179 5 i n Küsnach t fündi g wurde , gelangt e di e Volksbewegun g zu m Durchbruch. Umgehend schickten benachbarte Gemeinden Vertreter, um die Briefe zu kopieren und öffentlich in der Gemeindeversammlung zu verlesen.195 Parallel dazu kam es zu mannigfachen Bekundunge n kommunale r Unabhän gigkeit, angeführt von den Gemeindevorgesetzten, wie in Horgen, wo man die Ersatzwahl fü r Landrichte r Stapfer , der wegen seine r Tätigkeit i n der Memo rialbewegung von der Obrigkeit abgesetzt worden war, verweigerte. Anlass zur Beunruhigung de r Obrigkei t bo t auc h da s sogenannt e Freiamtslied , da s i m Knonauer Am t herumgereicht wurd e un d di e ursprüngliche n »Freiamtsbau 192 I n diesem Sin n äußerte n sic h auc h di e Memoraliste n Chirur g Bodme r un d Hauptman n Schulthess von Stäf a bei den spätere n Verhören. Si e berichten dari n vo n dem gemeinsame n Gan g der vo r di e Geheim e Ratskommissio n Zitierte n i n di e Stadt : »D a nu n se i unte r ihne n di e Red e geworden, da s Memorialgesehäf t se i nu n ein e abgetan e Sache ; abe r di e Brief e müsse n ma n nich t liegen lassen .. . Einmal habe n die Küssnachter laut geredet: sie werden jetzt aus den Urkunden ein e Gemeindssache machen . Diese n Gedanken hätte n dan n auc h di e Stäfner aufgefasst. « Zitier t nach : Hess-Wegmann, S . 94, Anm. 1 . 193 Di e ausgesproche n hart e Bestrafun g kommentiert e de r Stadtarz t Pau l Uster i i n eine m Brief an seinen Kollege n Albrecht Rcngger: »Sie haben heute in zwölfstündiger Sitzun g den Redak teur des Memorials fü r sech s Jahre, die Chirurge n Stau b von Pfäffiko n un d Pfenninge r vo n Stäf a für vier Jahre bannisiert und werden morge n vermutlich noc h mehrere bannisieren. Solche Schrit te bereiten Greuelszene n künftige r Revolutionen« , zitier t nach : Böning, S. 73. Andere Angeklagt e wurden z u hohe n Geldstrafe n verurteilt , si e verloren ihr e Amtswürden, wi e etw a der Landrichte r Stapfer, un d wurde n vo n de n Gemeindebürgerrechte n ausgeschlossen . Sieh e z u de n Urteile n Hess-Wegmann, S . 55f . 194 D a di e Waldmannsche n Brief e nebe n allgemeine n fü r di e ganz e Landschaf t geltende n Rechten auc h noc h bestimmt e Privilegie n fü r einzeln e Ämte r oder Gemeinden umfassten , ga b es entsprechend viel e Abschriften . Bekann t geworde n is t da s Beispie l de r Gemeind e Bäretswi l i m Züricher Oberland , w o nac h tumultartige n Gemeindeversammlunge n beschlosse n wurde , eine n Fundamentstein au s der Kirche herauszuheben, unter dem man die alten Dokumente eingeschlos sen vermutete. Orelli , S . 34 sowi e dor t Anm. 1 . 195 Daz u gehörte n Vertrete r au s Stäfa , Erlenbach , Meilen , Thalwil , Horgen , Hirzel , Wald , Bubikon un d Dürnten .

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ern« angesichts des Verlusts ihrer Freiheit zum Zusammenschluss mit den Seegemeinden aufrief. 196 Immer wieder griff man dabei zur Artikulation des im Inhaltlichen traditionell geprägten Protests auf die neuen Ausdrucksformen - Rituale , Symbole und Sprache der Französischen Revolution - zurück . Besonders deutlich wird dies in Küsnacht und Stäfa, wo mit Bekanntwerden der in Küsnacht aufgefundene n Urkunden i m März 179 5 Freiheitsbäume, mi t roter Mütze und einem Agitationsgedicht geschmückt , aufgestell t wurden. 197 Zwe i Monat e späte r steuert e die Bewegung ihrem Höhepunkt zu , als aus Anlass der jährlichen Maien-Ge richte trotz obrigkeitlichen Verbots die Stäfner eine außerordentliche Gemein deversammlung konstituierten , u m di e alte n Freiheitsbrief e vo r de r ganze n Gemeinde zu verlesen. »Einhellig abgeschlossen« wurde laut Gemeindeprotokoll198 die Wahl eines 40köpfigen Ausschusses - de r sich später bezeichnenderweise »Komit é« ode r »Konvent« 199 nannt e - un d eine s neunköpfige n Gremi ums, dem die Gemeindeleitung übertragen wurde. Diesen Ausschüssen obla g es, eine Gesandtschaft a n die Obrigkeit z u schicken, um die Gültigkeit der Urkunden abzuklären, und gleichzeitig den Kontakt z u de n andere n Gemeinde n aufrechtzuerhalten , u m »gemeinschaftlic h sachen zu machen«.200 Darüber hinaus schwor die Gemeinde, »Einer für all und all fü r Einer « zu stehen. Jeder Versuch der Obrigkeit, Einzelpersone n haftba r machen und damit die gemeindliche Geschlossenheit aufzubrechen, sollt e im Keim erstickt werden. »Private Zitationen« waren entsprechend nicht mehr zu befolgen, sonder n nu r noch offizielle »Deputiert e de s Hofs Stäfa« z u entsen den, der damit als gleichberechtigter Partne r der Stadt auftrat . Diese denkwürdig e Gemeindeversammlun g vo m 16 . Mai 179 5 illustrier t eindrucksvoll, wie sic h alte Widerstandsmuster, etw a der genossenschaftlich e Schwur oder die Bildung von Gemeindeausschüssen, mi t neuen Handlungs mustern verwoben , namentlic h i n de r Umbenennun g de r Ausschüss e i n 1 % Da s Freiamtslie d wurd e verfass t vo n de m Quartiermeiste r un d Kanzleisubstitu t Han s Kaspar Syz, der deswegen außer Landes fliehen musste . Das Freiamtslied spielte in erster Linie auf die vielfachen Auflagen un d Abgaben der Freiamtsbauer n an, um die namentlich verbürgte Freiheit der Väter dagegenzustellen. «O schade für den Freiamts-Namen/Den Ihr blos trägt als VaterAhnen/Und nicht mit Grund als Kindestheil/Zu wahrem Nut z und Eurem Heil.« Abgedruckt als Beilage VII, in: Htmziker, S. 282f. 197 Hess-Wegmann , S. 5 8 »Z u Stäf a war d ei n sogenannte r Freiheitsbau m errichte t un d ei n Zeddel daran geheftet des Inhalts: › Wenn jemand sic h unterstehe diesen Baum umzuwerfen, solle derselbe seines Lebens nicht mehr sicher sein und werde man selbige m das Haus anzünden.‹« 198 Sieh e das Protokoll der Gemeindeversammlung in linnziker, S. 284f (Beilag e VIII), sowie die Beschreibung bei Hess-Wegmatm, S. 97f. Di e Ernennung eines neunköpfigen Aktionskomitees wird dabei in dem nachträglich und summarisch erstellten Protokoll nicht erwähnt. 199 Al s sich in Meilen Deputierte aus vierzehn Dörfern trafen, begab sich der Rappenwirt von Hcrrliberg mi t de n Worte n z u diese r Versammlung . »E r gehe jetzt noc h in s Nationalconvent« , zitiert nach: Guster, S. 47f . 200 Hunziker . S. 285 (Beilage VIII).

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»Komités«; un d weitergehend: wi e der Rückgrif f auf Altes Recht in Form der Freiheitsbriefe beispielsweis e di e Entsendun g von Deputierte n (vordergrün dig) forma l z u legitimiere n vermochte , tatsächlic h jedoc h di e bestehend e Rechtsordnung durchbrach und revolutionäres Recht setzte. Auch andere Gemeinden wählte n »Komit és« al s neue Gemeindebehörden , wi e Thalwi l ode r Horgcn, un d e s zirkulierte n zwische n de n Gemeinde n Stäfa , Küsnach t un d Horgen sogenannte Anschließungsscheine, mi t denen man sich schriftlich z u einem gemeinsamen Vorgehen gegenüber der Obrigkeit verpflichtete. 201 Dieser förmliche Zusammenschluss verfehlte in der Stadt Zürich seine Wirkung nicht. Umgehen d wurde n ein e Bürgerwach e eingerichte t un d Vorkehrungen zur Verteidigung der Stadt getroffen.202 Als schließlich am 27. Juni 179 5 der Aufforderung des Geheimen Rats, bei ihm vorstellig zu werden, nicht Folge geleistet wurde, sondern eine Stäfner Gesandtschaft erschien, die sich zukünftige Zitationen verbat, drohte die Obrigkeit, ei n Exempel z u statuieren. Ma n stellte de r Gemeindebürgerschaf t vo n Stäf a ei n Ultimatum , wonac h umge hend die Gemeindebeschlüsse aufzuheben , di e Komitees aufzulösen un d die interkommunalen Aktivitäte n einzustellen seien , sonst würde der Ort militä risch besetzt. Da die Gemeinde mit Mehrheitsbeschluss an ihren früheren Entscheiden festhielt , sandt e di e Obrigkei t de n Mobilmachungsbefeh l a n di e Landsmannschaften, woraufhi n i n mehrere n Gemeinde n i n de n Ämter n Knonau und Grüningen sowie rund um den See spontan Gemeindeversamm lungen einberufen wurden, in deren oftmals stürmischem Verlauf entschieden wurde, de m Aufstellungsgebo t de r Piket t nich t z u folgen. 203 I n Meilen etw a mussten sic h die Offiziere unverrichtete r Ding e wieder zurückziehen , d a die Gemeindebürger ihne n entgegneten, »si e hätten nicht s gegen die Stäfner. Si e fänden, di e Stäfne r hätte n kei n Unrecht , un d si e (di e Meilener ) dächte n i m Grund ebenso. Sie wüssten von keinem Feind etwas, der Feind müsste von der Stadt herkommen.« 2**4 Besonders aufgewühlt war die Stimmung auch in Horgen. Hier wie in anderen Gemeinde n wa r e s de m Geschic k de r Obervögt e überlassen , mi t eine r Mischung vo n Einschüchterun g un d Versprechunge n di e Versammelte n z u beschwichtigen. Wiederholt betonte man, die Stäfner würden nicht wegen ihres Eintretens für die alten Freiheitsbrief e verfolgt , sonder n wegen ihrer Un botmäßigkeit gegenüber der Obrigkeit. Nach und nach gaben alle Kommunen ihren Widerstand auf und entsandten ihr Mannschaftskontingent, wenngleic h oftmals nur, um nicht den Vorwurf der Befehlsverweigerung au f sich zu laden,

201 Sieh e ebd., S. 286f. (Beilage IΧ). 202 Zu r Abwehrfront de r Stadtbevölkerung siehe Hess-Weqmann, S. 63f. 203 Sieh e ebd., S. 70-74, 102-104 . 204 Ebd. , S. 73.

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- »au f die Stäfner schiessen werde man allerdings nicht«.205 Zur großen Überraschung der Stäfner marschierten tatsächlich am 5. Juli die aufgebotenen Miliz mannschaften de r Landschaft mi t 2000 Mann in ihr Dorf ein. Die nächsten zwei Monate blieb die Gemeinde Stäfa militärisch besetzt, und im Zuge einer breitangelegten Untersuchun g wurde n insgesam t vierhunder t Personen überprüft . Währen d einig e de r Hauptakteur e wi e Stapfer , Billete r oder Nehrache r in s nahegelegene Elsas s flohen, wurde n i m September sech s Hauptangeklagte, darunte r a n erste r Stell e de r Seckelmeiste r de r Gemeind e Bodmer, sowi e weiter e 26 1 Angeklagte verurteilt. 206' Darübe r hinau s belegt e man die beiden Gemeinden Stäfa und Horgen mit einer Sonderstrafe; ein deutlicher Hinweis , dass man auch von scite n de r Obrigkeit de n Stäfne r Hande l nicht al s das Anliegen vo n einzelne n Akteuren , sonder n al s eine traditionell e Form kommunalen Protest s ansah. Neben einer hohen Geldstrafe untersagt e man beiden Gemeinden die Wahl ihrer Maiengerichte, zudem hatten alle beteiligten Gemeinde n vo r Vertreter n de r Obrigkei t de n Huldigungsei d abzule gen.207 In einem nächsten Schritt wies der Große Rat in einer Proklamation das Hauptanliegen der Stäfner Bewegun g zurück, indem er die alten Spruchbrief e für ungültig erklärte, da sie »mit einer nicht lange gedauerten, unordentliche n Gewalt errichtet« bzw. im Fall des Kappler Briefs »nur auf die damaligen Zeiten, Personen, Sitten und Umstände gerichtet waren«. 208 Damit fand die ländliche Reformbewegung, di e mit dem Memorial Hande l begann, ih r vorläufiges Ende . Eine übergreifende Oppositionsbewegun g wa r 205 S o di e Jäger vo n Horgen . Ähnliche s wir d berichte t vo n de n Wädenswile r Reitern , de m Knonauer Reiterkontingen t u.a. , ebd . 206 Bodme r tra f die weitaus härteste Bestrafung. Al s Zeichen einer symbolischen I linrichtung ließ der Scharfrichte r öffentlic h ei n Schwer t übe r ih m kreisen . Danac h wurd e e r zu r Verbüßun g einer lebenslangen Haf t i n das Gefängnis überführt , al l sein Besit z wurde konfisziert . Di e übrige n Angeklagten erwartet e ebenfall s ein e hoh e Haftstraf e un d der Verlust ihre s Besitzes . 207 Wi e bereits während des Memorial Handel s ware n in der Beurteilung der Vergehen inner halb der Stadtbürgerschaft Gegensätz e aufgetreten . »Di e Opinion publiqu e unsere r Stadtbewoh ner is t für s Köpfen« ; «Züric h lechz t - gan z eigentlic h lechze t Blut« , s o Pau l Uster i i n Briefe n a n Rengger vo m 28 . Juli 179 5 un d 1 . September 1795 , zitier t nach : Kustcr , S . 38 . Nu r ein e klein e Gruppe von Ärzten, Professoren , Kaufleute n un d Geistlichen , namentlic h Lavater , setzt e sich fü r eine milde Bestrafun g un d einige sogar für die Einführung de r Handels- und Gewerbefreihei t au f der Landschaft ein. Dieser Vorschlag kam überraschenderweise u.a . von dem Zweiten Bürgermeis ter J. H . Kilchsperger , vo n Beru f Kaufman n un d Präsiden t de s Kaufmännische n Direktoriums ! Eine ähnliche Positio n hatt e i m Memoria l Hande l de r Konstaffelher r un d Junker J. Werdmülle r vertreten: »sovie l e r vernommen , habe n di e Stäfne r i n geziemende r Ordnun g M . G . HH . u m Erklärung der alten Freiheitsbriefe gebeten , seien aber unfreundlich zurückgewiese n worden . Die s dünke ih n nicht recht . Di e Hauptsache betreff e woh l di e Freigebung des Handels , die die Stäfne r begehren, und da die eine Sache wäre, die bald in allen Winkeln de r Welt eingeführt sei , besonder s aber in allen andern Orte n der Schweiz, so werden wi r uns das wohl auc h müsse n gefallen lassen ; denn hätte n die Väter der Landleut e da s Joch getragen , s o folge daraus noc h nicht , dass die Söhn e es auch trage n müssen« , zitier t nach : Hess-Wegmatm, S . 68, sowie z u Lavate r S . 90f . 208 Htmziker , S . 300-31 1 (Beilag e XIII).

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nicht zustand e gekommen , z u leich t wa r Stäf a z u isoliere n gewesen , d a die Bewegung nich t au f da s bäuerlich-agrarisch e Züriche r Unterlan d überge sprungen war . Wie bereitwilli g ma n mancherort s de m Mobilisierungsbefeh l folgte, berichtet e Landvog t Esche r mi t Blic k au f di e Quartier e Laufe n un d Andelfingen, di e mit ihrer umgehenden Waffenhilfe di e Situation gerettet hätten.209 Die Gründe dafür sah der Hüntwangener Untervogt J. H . Rutschmann, wie er dem Züricher Ratsherrn J. K . Hirzel am 4. Dezember 179 5 mitteilte, in der materiellen un d geistige n Selbstgenügsamkei t de r Herrschaftsleute: »Be i un s herrscht, Gott seie gelobt, lauter Friede. Jener Geist der Unruhe und der Empörung ist noch nicht in unsere Leute gefahren. Sie raisonieren oder viellmehr sie deraisonieren freylic h ei n langes und ein breittes über die Vorfälle unsere r Zeit, aber dabcy bleibt es dan auch und niemand wagt, weiter etwas zu unternehmen .... Die meisten oder beinahe alle sind mit ihrer Regierung, ihren besitzenden Freiheite n un d ihre r Erwerbsar t zufrieden . Si e habe n weniger e un d einfachere Bedürfniss e al s ihr e vornehme n Mitlandleut e dor t a m See , des nahen sie nicht auf so gefährliche Quelle n denken müssen, um sie zu befriedigen ... Solange also reichen und fruchtbare Zeite n bei uns herrschend sind ... , aber auch nicht eine gefährliche Art von Wohlstand einreisst, der auf der andern Seite Übermu t un d verderbliche n Stol z erzeugt , solang e is t ma n gewis s vor einer Empörun g un d eine r schwärmische n Freiheitsbegierd e abseit e unsere r Herrschaftsleuten sicher.« 210 Immer wieder wurde die »altväterische Wirtschaft« des Unterlandes, ein von ökonomischen un d soziale n Veränderunge n unberührte s gemeindliche s Sozialgefüge211 zur Erklärung herangezogen, gegen die man die von Handel und Industrie geprägte n Seedörfe r un d Heimarbeitergebiet e de s Züricher Ober lands negativ absetzte. Deren allgemein verbreiteter Wohlstand wurde als Ursache diese r geographische n Verteilun g de r Protest - un d Reformbewegun g angesehen. Di e Gleichun g vo n de m frühindustrielle n al s »fortschrittlich aufständischem« Gebie t wi e auc h di e vo n wirtschaftliche r Prosperitä t un d Emanzipationsdrang wurd e demnac h bereit s vo n de n Zeitgenosse n aufge 209 »Dies e beiden Quartiere kann ic h nicht anders als vor unsere Erretter angesehen, nicht nu r gaben si e gerne ih r Pikett , sonder n sozusage n Man n vo r Mann wa r nac h ihre m schriftliche n Ver sprechen ihre r Obrigkeit z u Hilf e geeilt« , zitier t nach : Kuster, S. 26. 210 Zitier t nach : Fretz . S. 123 . 2t 1 Anhan d eine r Studi e übe r ei n traditionelle s Ackerbaugebie t i m Züriche r Unterlan d ha t Lukas Meye r di e wechselseitig e Abhängigkei t i m Austausc h vo n Arbeitskraft , Zugtiere n un d Allmendnutzung al s Mittelpunk t de r Gemeinschaf t herausgearbeitet . Trot z de r »Dissoziation « aufgrund de r ungleiche n Verteilun g de r Besitzgüte r wa r wege n diese s Abhängigkeitssystems de r dörfliche Zusammenhan g s o gefestigt , das s di e soziale n Unterschied e kei n systemsprengende s Konfliktpotential entwickelten . Vo n de n i n Schöflflisdor f untersuchte n »Dorfkönigen « agiert e bezeichnenderweise keine r im Stäfner Handel . Vor diesem Hintergrun d konnt e sich die Obrigkeit auf die Milizsoldate n de s Unter- un d Weinlandes verlassen. Vgl. L. Meyer .

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stellt.212 Tatsächlich finden sich mehrere Hinweise dafür, dass die neu aufgestie genen Unternehme r z u de n führende n Akteure n de r beide n Bewegunge n zählten. Unter den elf Mitgliedern de r »Lesegesellschaft a m See« waren mit den Horgenern Heinric h Stapfe r un d Johannes Höh n sowi e de n Stäfner n Han s Jakob Baumann un d Jakob Brändlin mindestens vie r Textilfabrikanten vertre ten. Der Mousseline-Verleger Johan n Diezinger , de r als Gründungs- un d Vorstandsmitglied de r Lesegesellschaf t Wädenswi l bereit s erwähn t wurde , hatt e sich äußers t eifri g a n de r Verteilun g de s Memorial s beteiligt , währen d de r Seidenfergger Fier z aus Küsnacht als Seckelmeister de r Gemeinde die Frage der Rechtmäßigkeit de r alten Urkunde n mi t besonderer Zähigkei t verfolg t hatte . Auch Bodme r is t z u nennen , de r wege n seine r Präsidentschaf t i m Stäfne r Komité z u lebenslange r Haf t verurteil t wurde . Danebe n trate n al s besonder s aktive Gruppe die der Landärzte hervor sowie die übrigen Mitgliede r de r dörflichen Elite , etwa di e Besitze r de r Ehehafte n (Wirte , Bäcker , Müller) , Hand werker wi e di e »berühmten Leder-Händle r Huseren« 213 und , wen n auc h nu r vereinzelt, reich e Bauern . Di e Großbauer n Johan n Dändlike r un d Johan n Bühler au s Stäf a ware n beispielsweis e i n ihre r Funktio n al s Landrichte r a n führender Stell e in der Bewegung tätig, wirkten jedoch eher bremsend, wie die Tatsache beweist, dass ihnen ein Teil ihrer recht hohen Geldbuße erlassen wur de.214 Sicherlich verweis t di e Interessenlag e de r ländliche n Oberschich t au f ihr e dominante Roll e in der Reformbewegung. Di e Erlangung de r Handelsfreihei t war für die ländlichen Unternehme r un d Gewerbetreibende ei n ebenso starkes Motiv wie die Ausweitung der Lokalautonomie, u m die eigene politische Herr schaft vor Ort auszubauen.215 Doc h ging die Zielrichtung de r Memorialbewc 212 Dies e Interpretation findet sich in einschlägigen Untersuchunge n de s Stäfner Handels , so der vo n Annemari e Custer . Diese r Gleichun g is t abe r da s traditionell e Moti v de r kommunale n Autonomie a n die Seite z u stellen. Gerade die i n de n Stäfne r Hande l involvierte n Gebiet e galte n traditionell al s revoltenintensiv , d a si e sei t Gedenke n übe r eine n seh r hohe n Gra d a n Lokal autonomie verfügten , de r - wi e i m Fal l de r »Grebclaffäre « Grüningcn s (sieh e obe n Kap . 2. 1. ) stets gegen Einschränkungen verteidigt werden musste. Die geographische Verteilung der Akteure kann ebe n auc h au s traditionellen Aspekte n herau s verstanden werden , wodurc h di e Gleichun g zwar nich t aufgehoben , abe r die vermeintlich e Eindeutigkei t de r Klassifizierun g al s »fortschritt lich« relativier t werde n soll . Sieh e zu r geographischen Verteilun g de r Akteur e di e Auflistun g be i Kuster, S. 25 (Memorial Handel ) un d S . 27 (Stäfne r Handcl) . 213 Fretz , S. 130 . Die Zahl der beteiligten Gerber war erstaunlich hoch . Von den sechs Haupt angcklagten zählten Rudolf Pfenninger, der Bruder des Johann Kaspar , sowie die beiden genannte n Brüder Hause r (Husercn ) un d der Horgcne r Untervog t Heinric h Hün i z u diese r Berufsgruppe . Vgl. dazu Kuster , S. 29 f 214 Kuster , S. 23, S. 34, sowie vo n Wartburg, Zürich un d di e französisch e Revolution , S . 320. 215 De r wirtschaftlich e Stadt-Land-Gegcnsatz , insbesonder e di e Beschränkun g de s textile n Großhandels auf die Stadt, und daraus folgend die Führungsrolle der Unternehmer, stand sowoh l bei zeitgenössischen wie nachfolgenden Untersuchunge n zur Erklärung der politischen Auseinan dersetzung i m Mittelpunkt . I n di e zeitgenössische n Stellungnahme n konservative r Stadtbürge r mischte sich dabei die im Tugenddiskurs verankerte Kritik an Eigennutz und Ehrgeiz. Siehe Oretli,

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gung nicht in diesen Einzclinteressen auf, sondern griff sehr viel weiter voraus, indem si e das gemeindlich-genossenschaftliche Prinzi p i n Richtun g au f den Umbau de r bestehenden Ordnun g z u einer korporativen Staatsbürgergesell schaft transzendierte . Nich t zuletz t deshalb traten Stapfer , Hüni , Pfenninger , Bodmer u.a. nicht als Interessenvertreter einer sozialen Gruppe auf, sondern in ihrer Funktio n al s gemeindliche Würdenträger , d . h. als Landrichter, Unter vogt, Kirchenpfleger ode r Seckelmeister. 216 Der regierende Bürgermeister von Zürich von Wyss hatte diese eigentlich revolutionär e Dimensio n des Handels durchaus erkannt: »Wäre es ihnen nur um die alten Briefe z u tun - ic h wollte ihnen die darin bewilligten Sache n gern gönnen, aber es ist nicht das, sondern das Memorial is t ihnen noc h i m Kopf! ... Dass sie eigenmächtig ein e Art Rat wählten, das s si e übe r eingeschlichn e Missbräuch e un d Neuerunge n i n de r Regierungs-Verwaltung klagten , un d das s sie begehrten , di e Obrigkei t sollt e mit ihne n übe r ihr e Begehre n i n Unterhandlun g eintrete n - die s war mehr ; dies schien zu zeigen, dass sie nicht mehr wie bisher regiert werden wollten, wie dies auch schon im Memorial gelege n war.« 217 Für von Wyss stand demnach die Verbindung zwischen dem Stäfner Hande l und dem Memoria l Hande l al s dessen Auslöser außer Frage. Diese Verknüpfung wa r möglich , wei l de r korporativ e Grundzu g de s Memorialentwurfs i n seinem Ursprung auf die altständische Denktradition kommunaler Autonomie zurückging. De r »antifeudale« Protes t der Memoralistcn konnt e sich mit dem »traditionellen«218 Protes t der Gemeindekorporation verbinden . Eben deshalb übernahmen einig e de r nich t inhaftierte n Memoraliste n auc h i m Stäfne r Handel führende Positionen , obwohl der »transformatorische Gehalt« des Memorials, das erstmalig eine aus dem gemeindlichen Gefüg e herausentwickelt e Staatsgesellschaft konturier t hatte , nich t vo n breitere n Bevölkerungskreise n aufgenommen worde n war; die zweite Konfliktphas e de s eigentlichen Stäfne r Handels blie b au f dem traditionelle n Fundamen t kommunalistischen Auto nomiestrebens stehen . Doc h di e al s »Democraten« 219 bezeichnete n Memo S. 19 ; Hess-Wegmann, S. 53; Meyer von Knonau, S. 82 f.; Kuster . Vgl. auch jüngst Brätulti. Wirtschaftlicher Umbruch , de r fü r ein e stärker e Verknüpfung inentalitätsgeschichtliche r Aspekt e mi t der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte plädiert . 216 Lau t einer Statistik von 71 im Memorial Hande l Angeklagten bekleideten 1 7 den Poste n des Offiziers, 1 3 den des Seckelmcisters, vier den des Landrichters oder des Geschworenen (5) . Es folgten a n Berufsgruppen Wirt e (4) sowie Ärzte (3). Siehe Kuster, S. 22. 217 Hess-Wegmann , S. 76. Interessant ist auch die Einschätzung von Meyer von Knonau, S. 82ff, der das korporative Element sehr wohl verstanden hatte und deshalb meinte, mit einer neuerlichen Öffnung de s Stadtbürgerrechts könnte der Konflikt gelöst werden. Tatsächlich wurden nac h Beendigung des Stäfner Handels zehn besonders obrigkeitstreue Landleute in das städtische Bürgerrecht aufgenommen. 218 Dies e Unterscheidun g nimm t di e Differenzierun g auf , di e Guzzi, Widerstand, fü r di e nachfolgende Period e der Helvctik entwickelt hat. 219 S o sprach Landvogt David von Orell in seinem amtlichen Schriftwechsel mi t der Stadt von »unsrc[n] sogenannten Dcmocraten und Beaux Esprits«, zitiert nach: Fretz, S. 117f.,S. 121 f.. S. 127.

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ralisten waren trotz (und wegen) ihrer Verwurzelung in der Vergangenheit ihrer Zeit wei t voraus, denn sie legten den visionären Grundstein , au f dem i n den 1860er Jahren die Demokratische Bewegung ein neues Staatsgebäude errichtete. Die Ursache alle n Übels , das war für di e Obrigkeit eindeutig , stellte n di e Lesegesellschaften dar . I n der Meistertagsred e de s Statthalter s Han s Konra d Hirzel zur »Lescgesellschaft am See« wird noch einmal in aller wünschenswerten Klarheit , wen n auc h i n polemische r Absicht , di e außerordentlich e Syn theselcistung de r Memoraliste n dargelegt : »Unte r geborgte n Kunst-Name n entstehen geschlossen e Zirkel, wo auf der Geschichte de r Zeitaltern, i n wel chen der Regierung etwas abzutrozen war, abgerissene Bruchstüke und daraus scharf abgezogene, der Neuerungs-Sucht zuträglich e Grundsätz e zusamme n getragen un d damit die Gemüther z u dem unbesonnensten Nachspie l erhiz t werden!«22“ Die Obrigkeit beschloss deshalb das Verbot der Lesegesellschaften; bestehe n blieb nur die Wädenswiler Lesegesellschaft , nich t zuletzt in der Absicht, einen mit Hilf e vo n Spitzel n gu t zu kontrollierende n Sammelplat z oppositionelle r Kräfte z u schaffen. Wie die steigenden Mitgliede r zahlen de r Lesegesellschaf t und ihr vergrößertes Einzugsgebiet in den Jahren 1796/9 7 beweisen, ging dieses Kalkül de r Obrigkei t tatsächlic h auf . Währen d einig e de r ehemalige n Wä denswiler Lesegcsellschafte r wege n ihre r Verwicklung i n den Stäfne r Hande l hart bestraft wurden, blieben andere unbehelligt und lasen dort weiterhin den »Strassburger Courier « un d ander e Revolutionsschriften , sprache n sic h mi t »Bürger« an und verteilten zu m Jahrestag des Stäfner Handel s 179 6 Billeters »Geschichte vo n de n politische n Bewegunge n i m Kanto n Züric h vo m Jahr 1795«.221 Die Lesegesellschaf t nah m nu n imme r stärke r di e Züg e eine s politische n Clubs nach jakobinischem Muster an;222 ein eigener Weg in die »neue Zeit«, wie das Stäfner Memorial ihn entworfen hatte, scheint dagegen nicht mehr gesucht worden z u sein. Es war der Vorstoß der französischen Revolutionsarme e u m die Jahreswende 1797/98 , der den oppositionellen Gruppierungen neue Kräfte und den bisher versagten Erfol g bescherte. 223 Die militärische Zwangslage, i n 220 Ebd. , S . 112 . 221 Dies e Ungleichbehandlung tra f konkret auf die Brüder Diezinger , Johann Blattman n un d den Landschreibe r Heinric h Eschman n zu , di e trot z ihre s Engagement s nu r ein e landvogtlich e Ermahnung erhielten, während Heinric h Hauser , de r gegen die Mobilmachung de r Wädenswile r protestiert hatte , z u Haft , Geldbuß e un d de r Aberkennun g seine s militärische n wi e gemeinde bürgerlichen Statu s verurteilt wurde . Siehe dazu ebd.. S. 12()ff. , S . 132 . 222 Vgl . ebd., S . 125 . 223 S o wurden 1797/9 8 erneut Gemeindeversammlunge n i n de r Seegegen d abgehalten , au f denen man Deputierte wählte und per Petition die Freilassung der Stäfner forderte . Siehe dazu von Wartburg, Zürich un d die französisch e Revolution , S . 417.

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der man dringlichst auf die ländliche Waffenhilfe gege n die Grande Armee angewiesen war, führte zur Amnestie der Stäfner Gefangenen und Exilierten. Ihre Freilassung markiert e de n erste n Schrit t zu m Zusammenbruc h de s Ancie n regime noc h vo r de m Einmarsc h de r französische n Truppen. 224 Di e Stäfne r wurden au f diese Weise z u Vorkämpfern eine r zentralistische n Staatsbürger republik nach französischem Vorbild stilisiert. Das traf am ehesten auf jene zu, die wie Billeter oder Pfenninger die französische Revolutionsliteratur sehr breit - wenngleic h mi t Blic k au f einen eigenen , de n historische n Gegebenheite n angemessenen Weg- rezipiert hatten; sie nahmen in der neugeschaffenen Hel vetischen Republi k wichtig e Staatsämte r ein. 225 Fü r di e Mehrzah l de r in den Stäfner Handel Verwickelten galt das dagegen nicht, denn für den Aufbau einer egalitären Einheitsrepubli k waren sie ganz sicher nicht eingetreten.

224 Di e Weigerun g de r Landschaft , Truppenkontingent e z u stellen , führt e i m Februa r zu r Einrichtung einer »Zürcher Landeskommission«, i n der die ländlichen Deputierte n jedoch weiter hin unterrepräsentier t waren . I m Mär z wurde n deshal b au f Anweisung eine s überkommunale n Komitees in Meilen Amtshäuser, Schlösser, Kanzleie n und Pfarrhäuser auf dem Lande besetzt un d die provisorische Regierun g i n Zürich auf diese Weise gezwungen, allen Forderunge n zu r Gleich stellung de r Landschaf t nachzugeben . Sieh e daz u Böning , S . 85f . 225 Brätidli , Di e Helvetisch e Generation , bes . S. 195ff .

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Unser Vol k is t nicht von de r Art dass man i n dessen Mitt e ein doctrinäre s Staatsgebäude aufführe n un d ih m dan n ei n beschränktes Ma ß an Freihei t gleichsa m octroyire n kann. 1

3. Die »Regeneration« de s Züricher Gemeinwesens : Von der Entstehung einer liberale n Reformbewegun g u m 182 0 bis zur Gründung des liberalen Verfassungsstaats vo n 183 1 Dreißig Jahre später erhielten die Ereignisse des Stäfner Handel s noch einmal eine aktuell e politische Brisanz , als eine liberal e Bewegun g au f der Züriche r Landschaft entstand, die sich erneut die Aufhebung der ländlichen Benachtei ligung zum Ziel setzte . Im Unterschied z u den Reformwünschen de r Stäfne r Unruhen löst e sich die ländlich-liberale Bewegun g mit ihren politischen Vorstellungen jedoch aus dem kommunalen Rahmen, indem sie mit der Schaffun g einer Repräsentativdemokrati e auc h ein e politisch e Gleichstellun g vo n Stad t und Lan d anstrebte. Wie erfolgreich si e die Landbevölkerung zu mobilisiere n vermochte, zeigte sich am 22. November 1830, als sich in dem Dorf Uster etwa 10.000 Männer aus dem gesamten Kanton zu einer »Landsgemeinde« versam melten, um über einen liberalen Reformkatalog, das sogenannte Memorial von Uster, abzustimmen . Unte r de m Eindruc k dieser Volksdemonstration lenkt e der amtierend e Groß e Rat , di e Legislative , ei n un d schrie b Neuwahle n aus . Während der Restauration von 1814-1830 hatten sich im Großen Rat 133 Städter und 79 Vertreter der Landschaft gegenübergestanden, obwohl die Stadt nur 11.000, die Landschaft aber 180.000 Einwohner zählte. Nun erfolgten die Wahlen nac h de m i m Memoria l geforderte n Vertretungsschlüssel , wonac h de r Landschaft zwe i Dritte l de r Großratssitz e stat t de r bislan g nu r knap p zwe i Fünftel zugestande n wurden . A m 6 . Dezembe r 183 0 konstituiert e sic h de r neue Groß e Ra t un d began n sogleic h mi t de r Revisio n de r Restaurations verfassung von 1814 . Initiiert un d getrage n wurd e di e ländlich-liberal e Bewegun g mehrheitlic h von leibliche n Nachkomme n de r Protagoniste n de s Stäfne r Handels . Ihr e Bezeichnung als »Söhne von Stäfa« meinte aber weit mehr als eine bloße biographische Kontinuität. Vielmehr stellte man sich bewusst in die zweifache Kon tinuität der zwar eng miteinander verflochtenen, abe r qualitativ unterschiedli chen politischen Bewegungen des Memorial- und des Stäfner Handels. Beiden 1 Meye r von Knonau, S . 311.

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Bewegungen gemeinsa m wa r di e Verwurzelung i n eine r vormoderne n poli tisch-sozialen Mentalitä t gewesen. Im altrechtlichen Stäfne r Hande l von 1795 äußerte sich die Opposition noch primär in Form des traditionellen Gemeindeprotests um »verlorene Rechte und Freiheiten«. Dagegen stellte das Memorial von 179 4 bereits eine originelle Verknüpfung mi t naturrechtlichen Denkmo dellen her , die ein e Dynamisierun g altständische r Fundamentalprinzipie n i n Richtung au f individualrechtliche Positione n andeutete . Vor diesem Hinter grund dräng t sic h die Frage auf, inwiewei t auc h die sich als »liberal« bezeich nende Bewegung der Züricher Landschaf t i m Zeichen frühneuzeitlicher Tra ditionalität stand, gleichzeitig aber naturrechtlich-individualistische Positione n des Liberalismus verarbeitete. Entstand hier ein eigener Typus des »ländlichen Liberalismus«? Die Betonung des ländlichen Ursprung s der liberalen Bewegun g lässt weitergehend nach der städtischen Entwicklung fragen. Auch hier kam es zu einer politischen Formierung von Liberalen, denen sogar im Urteil der Zeitgenossen wie der historischen Forschun g die Rolle des intellektuellen »Schrittmachers « zugesprochen wird. Diese Bewertung ist zu überprüfen, denn tatsächlich sin d unterschiedliche stadtliberal e Partciunge n z u unterscheiden , di e auf ihr Verhältnis zu r ländliche n Bewegun g befrag t werde n sollen . I m Mittelpunk t de s Interesses steht jene Stadtzüriche r Gruppierung junger Juristen u m Friedric h Ludwig Keller , di e nac h de r Verfassungsrevisio n vo n 183 1 maßgeblic h de n gesetzlichen Ausba u eine s liberale n Rechtsstaat s vorantrieb , dami t abe r ei n Krisenpotential schuf , das sich acht Jahre später im »Züri-Putsch« entlu d un d zu ihre m Stur z führte . Di e Charakterisierun g diese r Gruppierun g i n bezu g auf ihr geistiges Herkommen und die Darlegung ihres ambitionierten Projekt s des bürgerlichen Rechtsstaat s sollen hier dazu dienen, die Konturen der ländlich-liberalen Bewegun g i m Sinn e de r vorausgegangene n Fragestellun g z u schärfen. Darüber hinau s werden Zeugniss e de r ländlich-liberale n Bewegun g selbs t untersucht. Aufschluss bietet zum einen das Selbstbild der Bewegung, wie es sich i m autobiographische n Schrifttu m sowi e de r reichhaltige n zeitgenössi schen Pamphletpublizistik widerspiegelt. Dreh- und Angelpunkt der ländlichliberalen Selbstdarstellun g war naturgemäß die Legitimation ihre s Vorgehens. Das Ziel, eine breite Massenbasis für die eigenen Reformpläne i n der Landbevölkerung zu finden, zwang die ländlich-liberale Publizistik dazu, nicht nur die Rechtmäßigkeit einzelne r Forderungen , sonder n auc h di e de r anvisierte n Gleichstellung der Landschaft im Züricher Staatswesen darzulegen. Die Chronik des Gastwirts Johannes Braendlin, eines der führenden ländliche n Libera len, liefert hierzu wichtige Erkenntnisse. Braendlin stellte die ländlich-liberal e Bewegung in die Kontinuität des jahrhundertealten ländliche n Freiheitskampfes gegen die Stadt. Mit Hilfe dieser Historisierung des Liberalismus wurde der liberal-parlamentarische Verfassungsstaat, wie ihn Braendlin propagierte, zum 144 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

modernen Gehäus e de r tradierte n Schwurgenossenschaf t un d di e vo n ih m postulierten liberale n Gleichheitsrechte z u »Alten Rechten« . Zum zweite n sol l di e verfassungsrechtliche Programmati k de s ländliche n Liberalismus analysiert werden. Sic ist auf das engste mit der Person des deutschen Flüchtlings Ludwig Snell verknüpft. Snell gilt in der heutigen Rechtsgeschichte al s Vertreter eine s »Fundamentalliberalismus« , de r »verlorengegan genes naturrechtliches Gedankengut« aus der französischen un d helvetische n Revolutionszeit »wiedererzeugt[e]«. 2 Völlig unbeachtet blieb daneben aber der maßgebliche Einfluss der altdemokratischen Strukturen der Schweiz auf Snells staatstheoretisches Denken , die ihn zu dem Entwurf einer »staatlichen Volksgemeinde« liberale r Prägung inspirierten. In dieser eigentümlichen Konstruk tion scheint eine zum Verständnis der ländlich-liberalen Bewegun g notwendi ge ander e Facett e auf , di e den liberale n Verfassungsstaa t i m Unterschie d z u Braendlins altrechtlicher Begründung zwar naturrechtlich fundierte , abe r unter der besonderen Berücksichtigun g altständischer Traditionen un d Struktu ren. Zu fragen ist, wie sich das hier entworfene staatstheoretische Gebäude des liberalen Repräsentativsystems mit Handlungs- und Deutungsmustern, die im Horizont frühneuzeitliche r Traditional i tät standen, vereinbaren lie ß un d w o sich »Schnittstellen« ergeben konnten. Ob und in welchem Maße die Projektion eines liberalen Verfassungsstaate s aus den lebensweltliche n Erfahrunge n de r Züricher Bevölkerun g herau s verständlich war, soll i n einem dritten Tei l untersucht werden, i n dessen Mittel punkt die Auswertung der dem Züricher Verfassungsrat eingereichte n Volkspetitionen von 1830/3 1 steht. Der analytische Zugriff auf den Quellenfundu s konzentriert sich demnach auf die Frage: Inwieweit konnte der Entwurf einer liberalen Bürgergesellschaf t - durc h Traditione n vermittel t - interpretierba r sein und einem überkommenen Wertesystem entsprechen, zur selben Zeit aber auch einer gewandelten Bedürfnislag e de r Bevölkerung gerech t werden? Di e rund 300 Petitionen liefern einen einmaligen Überblic k darüber, was tatsächlich von der Bevölkerung in Stadt und Land an liberalen Ideen rezipiert wurde bzw. auf welche Weise die Verknüpfung mi t überlieferte n Denkmuster n a m konkreten Gegenstan d erfolgte . Dies e Bittschrifte n zeige n gleichzeiti g »di e subjektive Seite von sozialen Prozessen« (Götz von Olenhusen), da »das Volk« nicht ausschließlic h al s Kollcktivsubjek t auftritt , sonder n auc h individuell e Sichtweisen deutlich fassbar werden. Die Tatsache de r erfolgreichen Mobilisierun g de r Züriche r Gesamtbevöl kerung, die in die liberale Verfassungsrevision vo n 183 1 mündete, bestärkt die Annahme, dass, anders als die Memorialbewegung de s ausgehenden 18 . Jahrhunderts, die liberal e Programmati k eine n »transformatorischen « Gehal t be reitstellte, de r dieses Mal erfolgreic h di e altständisch geprägte , gemeindlich 2 Zitier t nach: Kölz, Verfassungsentwurf, S . 317.

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genossenschaftliche Autonomiekultu r z u dynamisieren verstand. Diesen Per zeptionsweg nachzuvollziehe n is t das Ziel de r nachfolgende n Ausführunge n und nicht eine ereignis-, sozial- oder verfassungsgeschichtliche Darlegun g der liberalen Wende im Kanton Zürich. Auf diese Weise sind Aufschlüsse darüber zu erwarten, inwieweit die ländlich-liberale Bewegung von 1830 eine Antwort auf jene Fragen und Bedürfnisse gebe n konnte, die mit der schrittweisen Auflösung ständischer Ordnungsmuster aufbrachen. Die Einbeziehung von Wünschen un d Hoffnunge n de r Bevölkerun g i n die Untersuchung stell t darübe r hinaus da s Mittel eine r Gegenkontroll e zu r Verfügung. E s ergibt sic h s o die Möglichkeit, sowohl den Aufbruchs- und Übergangscharakter der Zeit, wie er sich in der lebensweltlichen Perspektiv e des gemeinen Mannes spiegelte, her auszufiltern al s auc h di e Vitalitä t tradierte r kommunalistische r Freiheitsvor stellungen als Motor der Reformbewegung zu bewerten. Eine Beurteilung der ländlichen Bewegun g als primär traditional-defensiver Protestbewegun g - da s mag vorausgeschickt sein - greif t z u kurz. 3.1. Gemäßigt e Liberal e un d »Jung e Juristen«: Liberale Strömunge n i n der Stadt Züric h Als Sammelplattfor m de r frühliberale n Oppositio n i n Züric h fungiert e di e im Mär z 181 8 gegründete »Historisch-politisch e Gesellschaft« , di e sic h aus drücklich in die Tradition der Gesellschaft zu r Gerwi stellte, jener berühmte n politischen Gesellschaf t u m Bodmer , di e maßgebliche n Einflus s au f die Jugendbewegung de r 1760e r Jahre ausgeüb t hatte . Der Charakter eine r Nach folgeorganisation erga b sich um so mehr, als mit Meyer von Knonau als Präsident, Oberschreibe r Fäsi , Stadtschreibe r Hofmeiste r un d de m Ratsherr n Escher vier illustr e ehemalig e Mitgliede r de r Gerw i auc h de r neue n Gesell schaft angehörten . Di e Heranbildung sittlic h un d politisc h gebildete r junger Staatsmänner au f de r Grundlag e de s politische n Ethizismu s de r Zei t wa r Bodmers Vereinsziel gewesen . Ein e verbesserte praxisorientiert e Ausbildun g junger Staatsaspiranten gehörte nun, rund fünfzig Jahre später, wiederum zum erklärten Ziel.3 Auffällig war zudem die Hinwendung zu Themen der Schweizer als nationaler Geschichte. Besonders Fragestellungen, die sich mit der konfessionellen respektiv e politische n Spaltun g de r Eidgenossenschaf t beschäf tigten, bestimmte n di e Vortragsreihen . Theme n wi e Meye r vo n Knonau s 3 Diegcwachsene n Anforderunge n de r Staatsverwaltung bedingten nebe n historische n auc h stärker praxisorientiert e Kenntniss e au s Verwaltung , Wirtschaf t un d Gesetzgebung . »Nebe n de r Geschichte de s Vaterlandes werde n als o Gesetzgebung , Verwaltung , ihr e Hülfsquellen , Geogra phie un d Statistik , di e finanziellen , cameralistische n un d ander n Verhältniss e di e Gegenständ e unserer nich t i n ängstlich e Schranke n eingegränzte n Thätigkei t sein« , s o Meyer vo n Knona u i n einem Vortra g vor der Vaterländisch-historischen Gesellschaft , zitier t nach : Büchi, S . 31.

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Einführung »Wi e sol l de r Schweize r Geschicht e studieren? « wurde n dabe i durchaus genutzt , u m ein e Brück e z u aktuelle n politische n Probleme n z u schlagen. Allerdings blieben di e kritischen Untertön e verhalten . Deutlicher e Worte wagte man dagegen über den Umweg, ausländische Entwicklungen ei ner kritische n Stellungnahm e z u unterziehen. Zwe i Monat e nac h Erlas s der Karlsbader Beschlüsse 181 9 geißelte Konrad Melchior Hirzel in einem Vortrag die Demagogenverfolgung un d Pressezensur im nördlichen Nachbarland . Die Ausrichtun g de s städtische n Vereinszirkel s unterschie d sic h dami t grundsätzlich von der der ländlichen Lesegesellschaften , di e sich zur gleichen Zeit neu bildeten. Die auf grundlegende Reformen ausgerichtete Politisierun g bildete de n Schwerpunk t de r ländliche n Vereine . Ih r Blic k wa r dahe r »nac h innen« - au f die eigene politische Geschichte der Landschaft, di e Regierungs tätigkeit de s Züriche r Stadtstaate s un d di e vergleichend e Betrachtun g de r Kantonsnachbarn - gerichtet . Der Blick »nach außen«, auf die nationale Ebene und di e außenpolitisch e Situatio n de r Eidgenossenschaf t i m europäische n Kräftefeld, wa r dagegen die vorherrschende Perspektiv e der städtischen Intel lektuellen, die , getre u de m Vorbil d de r Gesellschaf t zu r Gerwi , al s Tei l de r staatstragenden Elite im Tenor ihrer innerkantonalen Kriti k moderat blieben. 4 Diese Einschätzung teilte auch ihr Präsident Meyer von Knonau: »Die zürcherische Oppositio n wa r inde ß de r Regierun g noc h ungefährlic h un d reicht e wenig über die Thüre des Versammlungszimmers hinaus.« 5 Mittelbar wirkt e di e städtisch e Opposition allerding s i n erstaunliche m Maße, nämlich durch das liberale Pressewesen der Stadt. Heinrich Nüscheler s seit 182 8 publizierter »Schweizerischer Beobachter « ode r die von Pau l Uster i herausgegebene gemäßigter e »Neu e Zürche r Zeitung « kursierte n zwische n Stadt und Landschaft; ländliche Lesegesellschaften, wie die in Stäfa, zählten zu ihren Abonnenten. Gerade aus Sicht städtischer Systemkritiker knüpfte sich an die oppositionelle Presse die Hoffnung eine r Interessenallianz der Gebildeten von Stadt und Land . Dabei erschie n ihne n nicht s natürlicher , al s dass sie al s Stadtbürger die Führungsrolle innerhal b der Bewegung übernähmen un d die Landbevölkerung zu befriedigen sei , wenn man die Privilegien beseitigen un d den gebildeten Männern vom Lande einen »gewisse[n] Zutrit t zu Politik und Verwaltung« einräumen würde.6 Angesichts dieses stadtbürgerlichen Selbstbewusstseins kann es nicht verwundern, dass auch die erfolgreiche Lockerung der 4 Die s ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass sich aus diesem Krei s einige der namhaf testen Politike r der Regenerationperiode a b 1831 rekrutierten. Von den später gemäßigt konserva tiven Liberale n der Regeneration gehörten de r Gesellschaft Konra d von Muralt , Ferdinan d Meye r sowie der Historiker Johann Jakob Hottingcr an. Zur radikal-liberalen Mehrheitsparteiun g zählte n Ludwig Meye r vo n Knonau , Konra d Melchio r Hirzel , de r späer e Bürgermeiste r Johan n Jako b Heß sowi e Staatsanwal t Davi d Ulrich , Oberrichte r Heinric h Schulthe ß un d de r Regierungsra t Eduard Sulzcr . Sieh e ebd., S. 35f . 5 Meye r von Knonau, S. 285. 6 Sieh e ebd. , S . 291.

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Pressezensur i m Jahr 1829 , die jedoch keinesweg s zur völligen Pressefreihei t führte,7 trotz ländlicher Kooperation in erster Linie als eigener Erfolg gewertet wurde. Dies e Stilisierun g zu m »intellektuelle n Schrittmacher « de r liberale n Bewegung zeitigte spätestens mit dem Ausbruch der Französischen J ulircvolution 183 0 un d de r dami t aufkommende n Politisierungswell e i n de r ganze n Schweiz wie i m Kanto n Zürich Konsequenzen . Exemplarisc h se i dies an der Person Nüschelers gezeigt. »Die schwül-drückende Stille auf der Landschaft« im Gefolge der revolutionären Ereignisse in Frankreich war-wie Meye r von Knonau in seinen Erinnerungen berichte t - Nüschele r ei n Zeichen , das s die politisch e Verbesserun g nahe sei: »Er und seine Freunde hätten die Leitung der Sache in ihren Händen«. Wie wenig das den Tatsachen entsprach, entdeckte Nüscheler bei einer Reise auf di e Landschaft , w o euphorisc h di e bevorstehend e »Befreiun g au s Scla venketten« gefeiert wurde. 8 Seine offensichtliche Erschütterung steigerte sich in massive Abwehr, als mit dem »Küsnachte r Memorial « de s Staat s theoretischen Kopfes de r ländliche n Bewegung, des deutschen Flüchtling s Ludwig Snell, ein umfassendes, i n sich konsistentes Grundsatzprogram m zu m anvisierte n Staatsumba u vorgeleg t wurde.9 Die Eigenständigkeit der ländlichen Bewegung, ihre ausgereifte politische Kontur - all das musste einer gemäßigt-reformerischen städtische n Opposition i n höchste m Maß e gefährlic h erscheinen . Nüscheler un d viele ander e der bisherigen städtischen Oppositionellen verloren in der Folge den Anschluss an die Bewegung der Landschaft und vertraten zunehmend konservative Positionen. So wollten si e der Landschaft nu r die Hälfte der Sitze im Großen Rat Zürichs zugestehen , womi t si e weiterhi n kras s unterrepräsentier t gewese n wäre.10 Damit schwand der Einfluss dieser gemäßigten städtischen Opposition noch vor der entscheidenden Wend e von 1830 . Zeitgenossen un d Historike r bemühten i n ihre r Beurteilun g Nüscheler s un d seine r Anhänge r dennoc h immer wieder gerne das Bild des »Mentors«,11 der von seinem gelehrigen Schü7 Di e vielfältigen Ausnahme n und Umschreibunge n in dem Pressegesetz von 182 9 setzten letztlich der Pressefreiheit so enge Grenzen, dass von einer eigentlichen Abschaffung keine Rede sein kann . Da s Pressegesetz wurde veröffentlich t i n der NZ Z Nr . 4 8 vom 17 . Juni 1829 . Die liberale Stadtpress e feierte di e Aufweichung de r Zensur dennoch als durchschlagenden Erfolg , während die radikalere »Appenzeller Zeitung« verhalten reagierte: »Wir kommen nicht in Versuchung, in der Appenzeller Zeitung einen Nachdruck desselben vorzunehmen« (AppZ Nr. 25 vom 20. Juni 1829) . 8 Meye r von Knonau, S. 309-311. 9 Nüschele r beantwortete das liberale Küsnachter Memorial Snells mit einem polemischen Angriff auf dessen Flüchtlingsstatus. Siehe dazu Kuster, S. 65f 10 Bi s zum Jahr 182 9 war das Vertretungsverhältnis für die Stadt Zürich sogar noch günstiger, indem ihren 13 7 Vertretern 75 Großräte von der Landschaft gegenüberstanden, siehe den Regie rungs- und Adresskalender des Kantons Zürich, zitiert nach: Nabliolz·, S. 7. 11 I n diesem Sinn äußerte sich Meyer von Knonau, als er von seiner Begegnung mit Nüscheler im ländlichen Richterswi l berichtet : »Von dieser Stunde an suchte er den gegebenen Anstoß zu

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ler - de m Volk - überrundet worden sei. Diese Einschätzung erscheint in mehr als einer Hinsich t fraglic h angesicht s der Tatsache, dass sich die Vereinsgründungen al s politische Plattformen i n Stadt und Land zeitgleich vollzogen, von einer städtische n Vorbildfunktio n demnac h kein e Red e sei n kann . Auch di e Bedeutung de s Stadtzüricher Pressewesen s fü r die Landschaf t mus s insowei t relativiert werden , als auch andere liberal e Druckerzeugniss e un d auswärtig e Zeitungen wi e die radikalere »Appenzeller Zeitung« regelmäßi g gelesen wur den. Au s Sich t de r ländliche n Reforme r stan d ohnehi n auße r Frage , das s es aufgrund de r sehr weitgehenden Mobilisierun g un d Politisierun g de r ländli chen Bevölkerung in den Vereinen eines städtischen Anstoßes nicht bedurfte. 12 »Weit wichtiger« als die gemäßigten Frühliberale n wurde dem restaurative n Staatsregiment, wi e Meyer von Knonau urteilte, eine »ganz andere Oppositi on«.13 Es war dies eine junge Garde von Juristen, die Anfang der zwanziger Jahre nach Abschluss ihrer Ausbildung in Deutschland in ihre Heimatstadt zurück kehrten.14 Al s ehemalig e Zögling e de s »Politische n Instituts « i n Zürich , da s 1807 zur praktischen Ausbildung von Verwaltungsbeamten un d zu r Studien vorbereitung gegründe t worde n war , waren si e mi t de m nu r bruchstückhaf t kodifizierten Züriche r Rechtswesen vertraut. Stark geprägt von der Lehre der Historischen Rechtsschule, 15 di e sie als Schüle r Friedric h Kar l vo n Savigny s beschränken und erkannte, dass ein lebendiges, von einer großen Idee ergriffenes Volk diese selbst entwickeln un d nich t meh r au f den Mento r höre n will « (S . 311) . Auch ei n andere r berühmte r Stadtbürger aus patrizischem Geschlecht, Johann Kaspa r Bluntschli, meinte die »Wurzel de r Op position« allein i n der Stadt suchen z u dürfen, nu r »zaghaft folgte n einzeln e einflussreiche Land bürger«. J.K. Blutschli . Revolution . S . 597 . Später e Darstellunge n de s 19 . Jahrhunderts wi e Feddersen gingen davo n aus , dass es keine selbständige politische Bewegun g de r Landschaf t gege ben, sondern man sich lediglich den Stadtliberalen angeschlossen habe (S. 36). In ähnlicher Weise betonte Α. tum Murali, S . 8 , de n überragende n Einflus s de r Stadtzüriche r Liberalen : I m »freie n Entschluss einiger Persönlichkeiten« lag »eine der letzten Endes ausschlaggebenden Ursache n der liberalen Umwälzungen« . Selbst Kuster, S. 67, der deutlich auf die Grenzen de r liberalen Opposi tion de r Stad t aufmerksa m macht , streich t ihr e »wertvolle n Schrittmacherdienste « fü r di e Regenerationsbewei;ung heraus. 12 Sieh e Braendli n Chronik , S . 2‹)5f; FSW . 13 Meye r von Knonau, S . 285 : »Wei t wichtige r wurd e ein e ander e Opposition , di e gan z au s jüngeren Männern bestand«. 14 Büch i S.36 . 15 Die Historisch e Rechtsschul e setzte sich gege n di e »ungesclnchtliche « Naturrechtsschul e ab, indem sie die Entstehung des Rechts an seine geschichtlichen Voraussetzungen gebunden sa h und als aus dem innersten Wesen der Nation, dem Volksgeist, organisch gewachsen betrachtete. In der Praxis sollte jedoch de r historische Stoff von allen geschichtlichen Einzelheiten gereinigt un d systematisch durchdrunge n werden . Mi t Geor g Friedric h Puchta , de m Schüle r un d Nachfolge r Savignys, entwickelt e sic h de r Gedank e de r Systematisicrun g zu r sogenannte n Begriffsjuris prudenz, die die Rechtsordnung als ein in sich geschlossenes, hierarchisch strukturiertes und rei n juristisches Begriffssystem auffasste. De n Juristen ka m hierbei als legitimen Vertretern des Volkes bzw. des Volksgeistes eine Schlüsselrolle zu, ihnen oblag die Rechtsentstehung. Im Ergebnis wurden damit die organische Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule aufgegeben un d die historische Ableitung der Rechtsordnun g wie ihr e Anwendung z u stren g rationale n Akten . Vgl. daz u

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studiert hatten, zielte diese Gruppe der »Jungen Juristen« um Friedrich Ludwig Keller au f eine grundlegend e Refor m de s gesamten Rechtswesens . Da s Züricher Amtsgericht sollte in der Folge der Hauptsitz der neuen Richtung werden. Als Keller 182 9 in das Amt des Bezirksrichters von Zürich aufrückte un d sein Kollege Johann Geor g Finsler in das des Gerichtsschreibers, zeigten sich die ersten konkreten Einflüsse der Jungen Juristen. »Eine unbekannte Selbständigkeit«,16 s o Meyer vo n Knonau , began n da s Bezirksgericht auszuzeichnen . Ziel von Keller und seinen Mitstreitern war es, die enge Verflechtung von richterlicher un d exekutive r Gewalt , di e sic h unmittelba r darau s ergab, dass der Präsident des Obergerichts gleichzeitig Mitglied des Kleinen Rate s war, zu lösen, um das Gerichtswesen vo r Zugriffen de r Regierungsgewalt z u schützen. Ihr couragiertes Vorgehen, insbesondere bei Verstößen gegen das Pressegesetz nicht nach den Interesse n der Regierung zu urteilen, führte dazu, dass sich in den Gerichten bis zum höchsten Obergericht Zürichs eine geschlossene Macht gegen den Kleinen Ra t formierte. Obwohl diese richterliche Opposition keine echte Gefahr bildete, wendete sich die öffentliche Stimmun g doch allmählich unter de r stete n Kriti k de r J ungen J uristen a n nahezu »alle n Maßregel n un d Beschlüssen de s Kleine n Rathes , dene n si e Unwissenschaftlichkei t un d ei n gänzliches Zurückbleiben hinte r den Forderunge n de r Zeit vorwarfen«, 17 ge gen die Kantonsregierung. Nu r so ist zu erklären, warum im Dezember 182 9 die Mehrhei t de r Regierungsrät e selbs t eine r Kompetenzverschiebun g zu gunsten des Großen Rats zustimmte.18 Tatsächlich gingen die Reformziele der Jungen Juristcn jedoch sehr viel weiter, wie sich am besten a n dem Prototypu s des neuen homo juridicus, Friedrich Ludwig Keller, verfolgen lässt. Als Keller 182 5 den Lehrstuhl für Zivilrecht am Politischen Institut annahm, gab er als Lehrprogramm die Systematisierung des Züricher Privatrecht s an . Ei n revolutionäre s Unterfangen , den n bislan g be stand dies zum einen Teil aus Satzungen des 18. Jahrhunderts, zum anderen aus partikulärem Gewohnheitsrecht und zum dritten Teil aus Usancen des bürgerlichen Privatlebens . Wissenschaftlich e Literatu r zu m Privatrech t existiert e Deutsches Rechts-Lexikon, Bd. 1 . Die enge Verbundenheit Friedrich Kellers zeigte sich nicht zuletzt darin, dass er 184 4 als Nachfolger Puchtas nach Hall e ging . 16 Meye r von Knonau, S. 286. 17 Ebd . 18 Nac h einer Änderung seines Reglements stand es dem Großen Rat nun frei, alle Gesetzesvorschläge der Regierung beliebig zu verändern bzw. ganz zu verwerfen sowie das Budgetrecht zu kontrollieren. Äußerer Anlass waren zwe i kur z aufeinander folgende Fälle von Korruptio n unter den Regierungsräten , die fü r gan z erhebliche n Unmu t insbesonder e innerhalb »de r gebildete n Classc« Zürichs gesorgt hatten. Siehe dazu die Beschreibung ebd., S. 293-301. Di e hohen Wellen, die di e beide n Korruptionsfäll e de r Regierungsrät e Finsle r un d Hirze l schlugen , spiegelte n di e Bedeutung de s klassisch-republikanische n Denken s wider , wonac h i n de r Habgie r un d Kor rumpierbarkeit der politisch Verantwortlichen die Hauptfeinde der Republik bzw. ihrer Tugendhaftigkeit gesehe n wurden.

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überhaupt nicht. Kellers erstmaligem Versuch, dieses Konglomerat auf gemeinrechtlicher Basi s zu systematisieren, war großer Erfolg beschieden. Nich t nur Studenten, sonder n auc h Beamt e un d Geschäftsleute besuchte n sein e Vorlesungen, un d sein e Kollegienheft e wurde n bal d zu m inoffizielle n Handbuc h des Züriche r Privatrechts . Kelle r selbst formulier t i n eine m Brie f an Johann Kaspar Bluntschl i di e eigentlich e Stoßrichtun g seine s Bemühens : »Da s Wesentliche dieser Verbesserung besteht mir in Wegschaffungdes alten väterlichen (auf Gnade und Ungnade, besser gesagt auf individuellen Willen und die individuelle Güt e der Regente n basirten ) Regimente s un d i n Substituierun g de r Herrschaft de s Grundsatzes , de s Gesetzes , de r Wissenschaft . Ein e solch e durchgreifende Veränderung halte ich für nöthig, weil ic h - getre u der Schule der wir angehören - eben fand, dass bei uns der Buchstabe um ein Jahrhundert hinter den Ideen ... zurückgeblieben sey.« 19 Keller spielte hiermit auf die Rechtsprechung im alten Kanton Zürich an, die nicht festgelegte n Grundsätze n folgte , sonder n »al s Sache der Willkür .. . bald nach dieser , bal d nac h jene r Ansicht , j a soga r of t nac h Persone n un d Konvenicnzen«20 gesprochen wurde. Der alte Patrimonialstaat mit seiner Patrimonialgerichtsbarkeit sollt e dem konstitutionellen Rechtsstaa t mit Gewaltenteilung un d einer wissenschaftlichen Rechtspfleg e weichen , de r Patrimonial richter mit seiner »Billigkeitsjustiz« durch den studierten Berufsrichte r ersetz t werden. Die Verwissenschaftlichung de s Rechts und die Professionalisierung de r Juristen - ei n größerer Bruch mit den bisherigen Traditionen war kaum vorstellbar. Die Gegner dieser Reformvorhaben setzten die »Volkstümlichkeit« des bisherigen Rechtswesen s mi t seine n altrepublikanischen , altfreiheitliche n Grundsätzen positiv gegen die neue »Wissenschafts- und Theoriegläubigkeit« 21 ab. Zu dieser Volkstümlichkeit zählte man das Laienrichtertum, das traditionell jedem »ehrsamen Bürger« ohne jede Vorbildung grundsätzlich den Weg auf den Richterstuhl eröffnete und in nahezu allen Gebieten der Schweiz bestand. Die 19 J.K. Bluntsehli, Denkwürdiges, S. 21 f. 20 Da s Zitat in Gänze: »Man war siehgewohnt, das Rechtsprechen mehr oder minder als Sache der Willkür , de r Gnad e ode r Ungnad e z u betrachte n .. . Dahe r komme n di e viele n Urteile , insbesondere in Zivilsachen, welche eher als Ausflüsse de r Willkür, al s Polizeimaßregeln erschei nen, als dass man si e für Rechtserkenntnisse , die von Gründe n ausgehe n un d vo r denselben Re chenschaft ablegen. halten könnte; eben daher kommt es, dass bisher oft bald nach dieser, bald nach jener Ansicht , ja soga r of t nac h Persone n un d Konvenienze n gesproche n wurde« , zitier t nach : Ebener, S. 370, Anm. 27. 21 Meye r von Knonau, S.287. Die akademisch anmutende Verabsolutierung einer wissenschaft heh-systematisierenden Herangehensweis e illustriert e Meye r vo n Knona u a m Beispie l eine s Streitgespräches mi t eine m de r Mitgliede r de s Kreises . Nachde m e r au f di e insgesam t positiv e Bilanz des bestehenden städtischen Erbrecht s hingewiesen hatte , denn »dasselbe veranlasse weni ger Processe, als manches andere Gesetzbuch«, wurde ihm entgegengehalten, »wir sollten nur ei n wissenschaftliches Gesetzbuc h einführen , s o würden auc h mehrer e Process e entstehe n un d c m größeres Feld fü r die Wissenschaft eröffne t sein« .

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Mehrheit der früheren Züricher Richter hatte nur eine allgemeine Ausbildung zum Staatsdienst erhalten, kaum einer hatte eine wissenschaftliche Ausbildung an eine r auswärtige n Universitä t absolviert . »Gebildet e Juristen,« s o Orelli . »galten als etwas in unsern volksthümlichen Tribunale n Fremde s und Abnormales, [die ] eher mit misstrauischem Auge betrachtet wurden.« 22 Als volkstümlich un d sprechende r Bewei s der Sittlichkeit eine s republika nischen Gemeinwesen s galt auch die Einfachheit de r Gesetze, die es dem gemeinen Mann nach altrepublikanischer Manier erlaubten, sich selbst als freier Bürger ohne Rechtsbeistan d vo r Gericht z u verteidigen. 23 I n ähnlicher Weise rechtfertigte ma n schließlich auch die tradierte Praxis der Urtcilsfindung. Ein zig der gütlich e Ausgleic h se i imstande , di e Gefahre n de r Prozesssuch t un d Habgier, wie sie durch einen juristischen Berufsstand zwangsläufig erschienen, erfolgreich z u bannen. »Dank sey also der göttlichen Vorsehung, dass wir jene so zahlreichen un d drückende n Rechtsformeln , welch e beynah e alle r Orte n das schädlichste Werkzeu g i n den Hände n verschmitzter Sachverwalte r wer den, nicht vonnöthen haben! Dieser wahre Segen des Landes hat... wiederu m in der glücklichen Regierungsfor m seine n wichtigsten Grund.« 24 Die Kritik kulminierte in dem Vorwurf, ohne Rücksicht auf die Gewohnheiten und Bedürfniss e de s Landes eine fremdländische Rechtskultu r z u importieren, inde m ma n de m organisc h gewachsene n Züriche r Rechtswese n da s Römische Recht förmlich überstülpte.25 Die Angst vor einer Verwissenschaftlichung des Rechts, die dazu führen würde, eine juristische Expertenkultur mit Sonderrechten auszubilden , entwickelt e sic h z u eine m Stereotyp , da s kei neswegs nur interessengeleitete konservativ-patrizische Kreise benutzten, sondern als Ausdruck des verletzten Rechtsgefühls auch von weiten Bevölkerungskreisen verwand t wurde. 26 Kelle r sa h sic h 182 8 schließlich genötigt , i n eine r 22 Vgl . Elsener, S. 372. 23 De n Zusammenhan g vo n Tugen d un d Rechtsordnun g reflektierte n auc h Montesquie u und Rousseau. Montesquicus Satz: »Wenn ein Volk gute Sitten besitzt, werden die Gesetze schlicht und einfach« (Montesquieu, Esprit des lois, XIX, Kap. 22), wurde von Rousseau zugespitzt: »Wenn man mich fragt , welche s Volk am lasterhaftesten ist , so würde ich ohne Zögern antworten: Das Volk mit den meisten Gesetzen«, zitiert nach: Münkler, Die Idee der Tugend, S. 399. 24 Vgl . von Wyss d.J., S. 148 f I n der Folge fasst von Wyss nochmal die ganze Bandbreite der massiven Vorbehalte gegen die Verrechtlichungs- und Professionalisierungsprozesse zusammen : »deswegen haben wir weder Richter noch Advokaten, die sich mit dem Vermögen prozesssüchtiger Leute bereichern, oder auch nur von Sportein leben müssten. Eine zahllose Menge von Rechtsanständen, die man anderwärts nach kostbaren Umtreiben , richterlich entscheiden würde, werden bey un s gütlic h au f ein e Weis e beseitigt , di e de n Parteye n beynah e ga r nich t zu r Las t fällt . Überhaupt sin d die Unkosten, die zu Stadt und Land mit Prozessen verknüpft sind , die Anzahl dieser letztern und der Personen, welche sich damit beschäftigen, in Vergleichung mit der Rechtspflege Grösserer unnd kleinerer Staaten,- verhältnismäßig zum Erstaunen klein«. 25 De r Hauptgegner Kellers war der Züricher Regierungsrat und Mentor der gemäßigt-liberalen Oppositio n u m Nüschele r Heinric h Escher , der sich gegen den neuen Formalismu s i n der Rechtspflege wandte . Vgl. Ebener, S. 379. 26 Selbs t der aufgeschlossene Meyer von Knonau lehnte eine Übertragung des Römischen Rech-

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Broschüre »Die neuen Theorien i n der Zürcherischen Rechtspflege « di e Vorwürfe z u entkräften. Diese Schrif t gil t al s Markstei n i n der Schweizerische n Rechtsgeschichte . Anschaulich trit t aus ihr hervor, wie tief Keller und seine Studienfreunde au s Berlin und Göttingen - i m Gegensatz zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen in ein historisch-organisches Rechtsdenken eingebunden waren. Mit den Worten seines Lehrers Savigny legte Keller darin gleich zu Beginn ein Bekenntni s zur Historischen Rechtsschule ab. Ziel der Jungenjuristen sei es, die »Nationalität des Rechtes« zu wahren und »zu diesem Zwecke unsere Gesetze in ihrem geschichtlichen Zusammenhange zu studieren, das Leben und Treiben unsers Volkes, seinen gesammten Verkehr, seine Uebungen und Bedürfnisse zu beobachten«, um so mit Hilfe allein der Methodik des Römischen Rechts eine »Theorie des Zürcherischen Rechtes« zu erarbeiten.27 Auf diese Weise hoffte er, das fatale Missverständni s aufzulösen, ma n wolle »a n di e Stell e unser s einfache n Rechtes und Rechtsgange s jenes fremde, verwickelte Syste m de s Römische n oder gemeinen Rechtes drängen«.28 Die Kluft , di e sich hie r auftat , lie ß sich nu r fü r de n Augenblick durc h di e gemeinsame Oppositio n gege n das restaurative Regimen t i n Züric h überde cken. Längerfristi g verlo r de r Führungsanspruc h de r jungen Rechtswissen schaftler, »nu r Juristen taug[t]e n fü r de n höhere n Staatsdienst , namentlic h auch fü r die politische Seite desselben«, 29 rapide an Rückhalt, je stärke r in der Öffentlichkeit di e Erbitterung über den neuen »Formalismus« im Staatswesen wuchs.30 Nur acht Jahre später endete der ehrgeizige Reformplan der Jungen Juristen um Keller, einen modernen liberalen Rechtsstaat zu formen, abrupt. Auslöser war allerdings nicht der kritisierte Formalismus in Politik, Justiz und Bürokratie, wohl aber der neue Geist des Rationalismus, aus dem heraus nun auch das Kirchenwesen reformier t werde n sollte . Mi t de m Kampfruf , »di e Religio n tes ab, da »bei aller Nützlichkeit eines gelehrten Studium s des Römischen Rechte s und ungeachte t der Wünschbarkeit,dass mehrere seiner Lehren auch auf unsre Gesetzgebung übergehe n möchten , es höchs t nachtheili g fü r unse r kleine s Ländche n sei n würde , wen n unse r zersplitterte s Grund eigenthum und unser mannigfaltiger Verkehr nach den Rechtsgrundsätzen behandel t werden soll ten, die au f die große n römische n Besitzungen , eine n gan z andere n Verkehr , ander e Gebräuch e und ei n andere s Klim a berechne t waren « (S . 287). I n den Petitione n vo n 183 9 tauchte n oftmal s Klagen darüber auf, »das s man sich nun vor Gericht notgedrungen durc h einen studierten Advoka ten vertreten lasse n müsse , wollte ma n nich t übe r die Förmlichkeiten de r Prozessordnun g strau cheln«, zitier t nach : Elsener, S. 379. 27 F.L . Keller , Theorien, S . 10f. 28 Ebd. , S. 5. 29 Meye r von Knonau, S. 286. 30 Al s eine Reaktion darau f wurde bereits 183 3 ein absoluter Lai e an das Obergericht gewählt , was einen deutliche n Affron t gege n di e Jungen Juristen darstellte . Al s 183 7 erneu t nich t Keller s Kandidat, sonder n ei n gelernte r Setze r vo m Große n Ra t zu m Obergerichtspräsidente n gewähl t wurde, bewertete Kelle r dies als »Sieg der Rohei t übe r die Cultur« , zitier t nach : Elsener, S. 379.

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[der] Väter« zu verteidigen, zog am Morgen des 6. September 183 9 ein Strom von ungefähr 400 0 Landleuten de s Züricher Oberlandes, mit Gewehren un d Stöcken bewaffne t un d Kirchenliede r singend , auf die Stadt zu . Nac h eine m kurzen Feuergewecht auf dem Züricher Münsterhof gab die liberale Regierung nach und trat zurück. Dieses Ereignis, als »Züri-Putsch« in die Geschichte eingegangen, wurde von den Konservativen als »gerechte Sache« gefeiert, dagegen von den liberale n un d radikale n Zeitgenosse n sowi e der freisinni g geprägte n Historiographie al s konservativ-reaktionär e »Septemberschande « gebrand markt.31 Äußerer Anlass des Züri-Putsches war die Berufung des deutschen Theologen David Friedrich Strauss auf den Lehrstuhl für Dogmatik in Zürich. Strauss hatte Deutschland verlassen müssen, nachdem er 1835/36 unter dem Titel »Das Leben Jesu kritisch betrachtet« das Neue Testament erstmalig einer historischkritischen Analyse unterzogen hatte. Als Ergebnis seiner rationalistischen Un tersuchung »entzauberte« Strauss nicht nur die Evangelien als Mythenberichte, sondern beurteilt e darübe r hinau s die Vorstellung eine s menschgewordene n Gottessohnes als vernunftwidrig.32 Di e Berufung von Strauss an die Züricher Universität musste von den Pfarrern als offene laizistische Kampfansage aufgefasst werden. Tatsächlich sollte nach der Vorstellung vieler liberaler Führer um Keller die »Wirkungsstätte Zwingiis« zum zweiten Mal in der Geschichte Ausgangspunkt einer nunmehr »freisinnigen Kirchenreform« 33 werden. Als echte Bedrohung »des Glaubens ihrer Väter« verstand auch die Masse der Landleute de n rationalistische n Ansat z de s Württemberger Theologen . De r prominenteste Vertreter der konservativ-liberalen Gruppierung, die 1839 kurzzeitig di e Regierungsführun g al s »Septemberregiment « übernahm , Johann Kaspar Bluntschli, hatte bereits 1832 in einer »Ermahnung an die deutsche liberale Bewegung« in Rankes »Historisch-politischer Zeitung« vor den Folgen der Kirchen- un d Schulpoliti k de r Jungen Juristen gewarnt . De r »neue Geist der Verneinung und flachen Verstandesrichtung« sei der »Feind alles Alten, Wurzelhaften un d Organischen«. Ma n verkenne damit, dass die »Religion de m Zürcher Volk ein Bedürfnis« sei, der Sieg der Liberalen könne daher nur momentan sein.34 31 Sieh e den sprechenden Titel der Jubiläumsschrift der Antiquarischen Gesellschaft Pfäffiko n und der Paul-Kläui-Bibliothck Uste r von 1989 : Züriputsch 6. September 1839 . Sieg der gerechten Sache oder Septemberschande? 32 Davi d Friedrich Strauss (1808-1874), geboren in Ludwigsburg, Württemberg, wurde nach dem Theologiestudium 183 2 Dozent an der Tübinger Universität, musste jedoch mit Erscheinen seines Werkes seine Universitätskarriere i n Deutschland beenden. 183 9 folgte er dem Ruf an die Universität Zürich, aufgrund der öffentlichen Auseinandersetzungen pensionierte man ihn jedoch bereits nach sechs Wochen. 1848/4 9 gehörte er dem württembergischen Landta g an. Siehe Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 36, S. 538-550. 33 Elsener , S. 380, Anm. 51. 34 J.K. Bluntschli, Revolution, S . 621 f. Johann Kaspa r Bluntschli (1808-1881 , wie Kelle r aus

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Ungleich schärfe r fiel di e Kriti k eine s Exponente n de r ländlich-liberale n Bewegung an den Jungen Juristen aus . Für Johannes Braendlin , Gastwir t der »Sonne« in Stäfa, waren »dieÜbertreibungen« un d »Tollhaiten« der Jungen Juristen fü r de n Züri-Putsc h verantwortlich . «Diese n meisten s wissenschaftli chen Bösewichten « macht e er den Vorwurf, »un s mit einer herrlichen Verfas sung i n den Rache n de r Aristokratie« geworfen z u haben. 35 De r Züri-Putsc h war also Ausdruck einer tiefen Krise der liberalen Eliten im regenerierten Staat, vor allem aber spiegelte er die Kluft zwischen den ländlichen Liberalen und den »Radicalen« (Braendlin ) der Stadt wider. Die Wurzeln dieser Kluft reichten bis in die Formierungsphase der Regenerationsbewegung zurück . 3.2. Di e Entstehun g einer liberale n Bewegun g auf der Landschaft : Der Typus des »ländlichen Liberalismus « Wichtiges Bindeglied zwischen den »Söhnen von Stäfa« und ihren Vätern und Großvätern von 1794/9 5 war die 1819 wiedergegründete Lesegesellschaf t vo n Stäfa. Nachde m der Stäfner Hande l die Auflösung de r ländlichen Lesegesell schaften nac h sic h gezoge n hatte , setzte nac h de r Jahrhundertwende erneu t eine wenn auc h bescheiden e Anknüpfun g a n die Lesecgesellschaftsbewegun g der Landschaf t de s ausgehenden Ancie n r égime ein. 36 Wie direk t ein e solch e Anknüpfung erfolgen konnte, zeigt das Beispiel des Gründungsprotokolls von 1819, das zahlreiche »Männer der älteren Klasse« auflistete, die bereits der ersten Lesegesellschaf t vo n 179 3 angehör t hatten . Nebe n einige n de r Haupt protagonisten des Memorial- und Stäfner Handels -Johann Kaspa r Pfennin altem Züriche r Hurgergeschlech t stammend ) wa r ebenfall s Anhänge r de r Historische n Rechts schule. Auc h e r wandt e sic h de m Zürichensche n Rech t zu , entwickelt e sic h dabe i abe r imme r stärker vom Römische n Rech t weg und dem »nationaldeutschen Recht « zu , das er als Urquelle de s Züricherischen Recht s erkannte . E r wurde s o zu eine m entschiedene n »Germanisten « i m Sinn e Karl Friedric h Eichhorns . E s ist bezeichnend, dass Bluntschli nac h Keller s Sturz 183 9 die Redak tion des Zivilgesetzbuches, des späteren Zürcherischen Privatrechtliche n Gesetzbuchs , vom Gro ßen Ra t übertrage n bekam . Sein e Abkeh r vo n de r »unnatürliche n un d unleidliche n Fremdherr schaft« de s Römische n Recht s und Hinwendun g z u den »wahren , volkstümliche n germanische n Wurzeln« tra f sich mi t der allgemein herrschende n Auffassung , volkstümlich e un d historisc h ge wachsene Rechtsnormen z u berücksichtigen. Aus diesem Grund behielt Bluntschli auc h nach dem politischen Umschwun g i n Züric h de n Redaktionsauftra g fü r da s PGB . Sieh e J.K. Bluntschli , Denkwürdiges, S . 151f . 35 Braendli n Chronik , S . 283f.; FSW . 36 Noc h i m Jah r de r Proklamatio n de r Helvetische n Republi k ware n i n Richtcrswi l un d Wollishofen Lesegcscllschafte n gegründe t worden . 180 2 folgt e Morgen , 181 0 Talwi l un d 181 6 Schönenberg, kur z vor dem Usterta g 183 0 schließlich Hombrechtikon . 181 8 entstand außerde m in Bülac h di e erst e Lescgesellschaf t außerhal b des Seegebictes . Auße r fü r di e Gesellschafte n vo n Stäfa und Wollishofen sin d jedoch kein e Quellen dieser frühen Zei t überliefert. Vgl. Bachmann, S. 209f, sowi e zu r Einteilung i n unterschiedliche Entwicklungsphase n S . 180f .

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ger, Hans Heinrich Ryffel un d Heinrich Nehracher u.a.37 - setzt e sich der jüngere Teil der Gesellschaftsmitglieder größtenteil s aus ihren leiblichen Söhne n zusammen, di e sich darüber hinau s als »Söhne i m Geist« bestimmten politi schen Vorstellungen ihrer Väter verbunden fühlten. Diese jüngere Generation war e s schließlic h auch , di e maßgeblic h a n der liberale n Regenerationsbe wegung de r Züricher Landschaf t mitwirkte . Mi t Benjamin Ryffel , Heinric h Braendlin und dem als Redner auftretenden Dr. Johannes Hegetschweiler fanden sich sogar drei Mitglieder der Lesegesellschaft von Stäfa im Organisationsausschuss de r berühmten Volksversammlun g vo n Uster a m 22. Novembe r 1830, des sogenannten Ustertags , der die liberale Umwälzung brachte. Wie löste man den Anspruch auf Kontinuität mit den ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Stäfne r Ereignisse n ein ? Di e Vereinsstatuten gebe n keine n Aufschluss, da jede Erwähnung einer politischen Zielsetzung vermieden wurde, eine angesicht s de s restaurativen Stadtregiment s verständlich e Vorsichts maßnahme. I n den Gesellschaftsprotokollen zeig t sic h jedoch ei n deutliches politisches Engagement. 38 Di e Auseinandersetzung mi t aktuellen politische n Ereignissen stand deutlich im Mittelpunkt der Vereinstätigkeit. Die Lektüre der wichtigsten liberale n Zeitunge n wi e der »Aarauer Zeitung« , de s »Schweizerboten« sowie der »Neuen Zürcher Zeitung«, vor allem aber die von den beiden Stäfner Regierungsräte n Rebman n un d Pfenninger kommentierte n Ratsver handlungen und ihre politischen Stellungnahmen sorgten für eine stete Politisierung des Vereins. In dieselbe Richtun g zielte zudem die umfängliche Auf arbeitung de r eigenen Geschichte , i n deren Zentru m di e Geschehnisse von 1794/95 standen. Die Archivierung des Nachlasses von Heinrich Nehracher , aus dem immer wieder i m Vereinskreis vorgelesen wurde, is t hierfür ebens o symptomatisch wi e die Erstellung einer Stäfne r Ortsgeschichte , di e sich ins besondere mi t der »wichtige[n] Zei t von 1794 « und der »ausserordentliche n Geschichte von 1795« auseinandersetzen sollte. 39 Diese Aktivitäte n stande n eindeuti g i m Diens t de s liberalen Reformvor habens: Das Wissen um den eigenen, historisch verbürgten Kampfgeis t sollt e unmittelbar für die bevorstehenden politischen Auseinandersetzungen genutzt werden. Doch die Beschwörung der Kontinuität ging weit über eine rein funk tionale Bedeutung hinaus; die Verknüpfung der historischen mit der aktuellen politischen Perspektiv e war auch Ausdruck eines Selbstverständnisses, das die liberale Bewegung der Züricher Landschaft charakterisierte . 37 Daz u gehörten auch der ehemalige Landschreiber Johann Heinrich Billeter sowie der damalige Untervog t Rudol f Rebmann. Diese personelle Kontinuitä t politisch aktive r Mitgliede r läss t sich auch an anderen Vereinsbeispielen i n dieser ersten Entwicklungsphase des 19. Jahrhunderts aufzeigen. Sieh e di e »Literarisch e un d unterhaltende Gesellschaft « i n Morgen . Vo n den acht Gründungsmitgliedern gehörte n vier der Familie Hüni an und als Kopf der Vereinigung fungiert e der Großfabrikant Heinric h Stapfer. Vgl. ebd., S. 197. 38 Sieh e ebd., S. 226f. 39 Ebd. , S. 224.

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3.2.1. De r ländliche Liberalismus in der Tradition des kommunalistischen Freiheitskampfes: Die Chronik des Johannes Braendlin Mit seinem »Bericht aus 36 Jahren über die politischen Ereignisse von 1794 bis 183()«40 i m Kanto n Züric h verfasst e Johannes Braendli n (1783-1860 ) ein e ebenso lebendige wie parteilich gebundene Darstellung der Regeneration, mit deren Hilf e di e Eigentümlichkei t de r ländlich-liberale n Bewegun g au s de r Sicht eine s ihre r Protagoniste n kla r hervortritt : S o waren ihr e Forderunge n klassisch-liberal, ihr e Begründunge n jedoch altrechtlich . Angereg t durc h di e intensive ortsgeschichtliche Forschun g der Lesegesellschaft Stäfa , dere n Mit glied er war, arbeitete Braendlin auf über tausend Manuskriptseiten überliefert e wie zeitgenössische Dokumente (Urkunden, Briefe, Flugschriften etc. ) in die eigenen Notize n ein. Die Entstehungszeit der Chronik fiel i n den Anfang der 1840er Jahre,41 jene Phase des erneuten politischen Umschwungs, als die Liberalen di e Hälft e de r Ratssitz e wiedergewannen . Ursprünglic h nich t fü r di e Öffentlichkeit bestimmt , hab e der »Septemberputsch« (Züri-Putsch ) ih n bewogen, so der Autor, seine Aufzeichnungen zu r Geschichte des Verhältnisses von Stadt und Landschaft als Beilage im »Landbothen« zu publizieren, die sonst »als blose Notizen i m Schreibtische de s Verfassers liege n geblieben« 42 wären . Ziel der Veröffentlichung sei es, »dem Volk die wahre Quelle seines armseligen Bildungszustands, der alles Gefühl fü r wahr e Freyhei t .. . darnieder zuhalte n geeignet ist , so klar als möglich vor Augen« z u stellen , dami t e s »seine selbs t gemachten Missgriffe« , insbesonder e die Schmähung der Männer des Stäfner Handels, erkennen lerne. 43 Als einer der leibhaftigen »Söhn e von Stäfa« fühlt e sich Braendli n daz u i n besondere m Maß e berufen. 44 Sei n Vater , Han s Jakob Braendlin (1752-1814), Fabrikant und Wirt der »Sonne«, war wegen seiner aktiven Teilnahme sowohl im Memorial- als auch im Stäfner Handel als »Fehlbarer der ersten Classe« 45 mi t einer hohe n Geldstraf e beleg t worden . Johannes und seine Brüde r Heinric h un d Jakob gehörten z u de n Männer n de r erste n Stunde in der Formierungsphase der Regenerationsbewegung. 46 40 S o die Einleitung des Manuskripts, Braendlin Chronik, S. 1; FSW. An dieser Stelle möchte ich Frau S. Loch von der Forschungstelle für schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich für die zeitweilige Überlassung des verfilmten Manuskript s danken. 41 Braendli n datiert den Abschluss des hier untersuchten Teil s mit »Amen. End Febr. 1842« , ebd., S. 29*0. 42 Ebd. , S. 273, S. 279. 43 Ebd. , S. 273f. 44 Sieh e z u Braendlin s Vita de n Artike l vo n Stauber . Braendli n gehört e z u eine r typische n Undlichcn Unternehmerfamilie. Seine drei Brüder Jakob, Rudolf und Heinrich betätigten sich alle in der von Jakob gegründeten Spinnerei in Jona. Auch der Chronist trat nach 1815 in das Familienunternehmen ein. 45 Leuthy , S. 74. 46 Welche r der beiden Brüder Mitglied der berühmten Siebener-Kommission de s Ustcrtags vom November 183 0 war, ist umstritten. Der Historiker Johann Jacob Leuthy, S. 84, der sich in

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Ihre Darstellung ließ Braendlin bezeichnenderweise mi t dem Stäfner Han del beginnen, bettete sie aber in einen großen, im Mittelalter ansetzenden historisch-politischen Entwicklungsboge n de s Verhältnisses von Stadt und Landschaft Zürich ein. Die Geschichte des Züricher Stadtstaates präsentierte sich in dieser Perspektiv e al s ei n jahrhundertelanger Freiheitskamp f de r Landschaf t gegen städtische Unterdrückung un d Ausbeutung. De n Höhe- und entscheidenden Wendepunkt dieser Entwicklung stellte der erfolgreiche liberal e Um sturz von 183 0 dar, dessen Errungenschaften aber , wie der Züri-Putsch zeigte, stets gege n di e Gefah r städtische r Herrschsuch t verteidig t werde n mussten . Die ländlich-liberale Bewegun g reihte sich auf diese Weise in die gemeindlichgenossenschaftliche Freiheitstraditio n der Landschaft ein. Stäfner Hande l und Regeneration wurde n solchermaße n al s heldenhafte Befreiungsversuch e de r Väter und ihrer Söhne nicht nur historisch legitimiert, sondern aufgewertet zu Akten eines unsterblichen ländliche n Autonomie- und Freiheitsgeistes. Dieses Selbstbild des ländlichen Liberalismu s als Teil einer jahrhundertealten urwüchsigen Oppositionsbewegung gegen die Stadt ermöglichte weitergehend, sic h al s die einzi g originär e un d dami t legitim e liberal e Bewegun g z u verstehen. Ein städtischer Liberalismus war aus dieser Sicht ein Widerspruch in sich. Der Universalanspruch , de r einzig ›wahre Liberalismus ‹ z u sein, schlug sich konkret in Braendlins Planung nieder, zu Ehren der imposanten Volksversammlungvon Uster im November 1830 einen Gedenktag einzuführen. Diese Usterfeiern sollten das Wissen um den ausschließlich ländlichen Ursprung der liberalen Bewegun g tradieren , inde m sic h hie r nu r »Abgeordnete de r ländli chen Gemeinden und die Großräthe der Landschaft« 47 zusammenfänden . Beanspruchte man demnach den Begriff des Liberalen für sich selbst und die Väter von Stäfa, grenzte man sich gleichzeitig gegen die beiden »Extremiteten« der Stadt ab. Dazu zählten neben den »Radicalen« um Keller, die leichtfertig die Erfolge der ländlichen Liberalen gefährdet hatten, als traditionelle Hauptfeinde die Mitgliede r de r städtischen »Aristokratie«. 48 Diese n »Oligarchien « un d »Ty rannen«49 legt e Braendli n »siebe n Raubthate n a n unseren heiligste n Rechte n und Freiheiten« 50 im Laufe der Züricher Historie zur Last. Sein Entwicklungsseiner Darstellung eng an Braendlins Chronik hielt, allerdings ohne seine Quelle anzugehen, benennt Johannes Braendlin. Dagegen weist die jüngste Studie von Bachmann, S. 227, auf Heinrich Braendlin. Dieser stieg mit dem liberalen Umschwung politisch auf, im Dezember 1830 wurde er zum Kantonsra t un d 183 2 zum Regierungsra t gewählt . Dazu auch Der Ustertag im Spiegel, S. 63, Anm 1 , Der dritte Bruder schließlich, Jakob Braendlin, wird als Autor des Pamphlets »Gespräch zwischen zwei Landbürgern des Kantons Zürich« ausgewiesen. Siehe Bachmann, S. 226. 47 De r Tag von Uster sollte als Tag der »gänzlichen Befreyun g vo m Aristokraten-Druk de r Städter« gefeiert werden. Siehe Braendlin Chronik, S. 281f; FSW . 48 Ebd. , S. 289. 49 Dies e tradierte n Begriff e ländliche r Oppositio n durchziehe n da s Manuskript, sieh e bei spielsweise ebd., S. 251, S. 274. 50 Ebd.,S.2 .

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bogen setzt e mi t de r erfolgreiche n Wiedereroberun g ländliche r Freihei t i m Spätmittelalter ein, als mit dem Sturz des diktatorischen Bürgermeisters Waldmann 148 9 und dem »Verkommnis« (Vertrag ) von 153 2 den Landbewohner n ihre frühere n Recht e schriftlic h zugestande n wurden . Dies e Freiheitsbrief e von 148 9 un d 1532 51 bildete n i n Braendlin s Gesamtargumentatio n di e ent scheidende Rechtsgrundlage, von der ausgehend er eine dritte »Raubthat« konstatierte, di e den Grundstein fü r die spätere ländlich e Unterdrückun g geleg t habe. Gemeint war der »Wädenswyler Handel « des Jahres 1646 , als sich die Ge meinde Wädenswil unte r Berufung auf uralte Privilegien weigerte, eine ihnen neu auferlegte Gutssteuer aufzubringen, »es sei denn, dass man sie für Mitbürger de r Stad t Züric h erken n un d alle r derselbe n Freyheite n genieße n lasse , vermög ihre r Brie f un d Siegeln , di e ihne n selbige s Bürgerrech t zugeben«. 52 Diese Forderun g wurd e vo n de r Stad t mi t de r militärische n Besetzun g de s Dorfes und der Hinrichtung ihrer Gemeindeoberen beantwortet. Zwar bewertete Braendlin das Anliegen der Wädenswiler auch als überzogen, da ohne eindeutige Rechtsgrundlage ; entscheiden d fü r ih n wa r aber , das s die städtisch e Obrigkeit die Unbotmäßigkeit nutzte, um die positivrechtlich festgeschriebe nen Rechte der Landbewohner in den Freiheitsbriefen vo n 148 9 und 153 2 zu annullieren. Von diesem klaren Rechtsbruch, der laut Braendlin das Schicksal ländlicher »Knechtschaft« 53 besiegelte , zeichnet e e r konsequenterweis e ein e weite Linie zum Stäfner Handel von 1795, als-wiederum unte r Berufung auf die alte n Freiheitsbriefe n - di e festgeschriebene n »bessere n Freyheiten « de r Landleute eingeklagt wurden. Diese altrechtliche Bewegung war demnach sein Bezugspunkt und nicht etwa die Memorialbewegung . Eine zweite, vergleichbar wichtige Zäsur , die den Statu s ländlicher Unter tänigkeit festschrieb , stellt e au s Braendlin s Sich t di e Reformatio n dar . De m Gewinn der »Gewißensfreyheit« stellte er den Verlust der »allgemeinen Studierfreyheit« gegenüber , al s infolg e de r Aufhebung de r Klöste r di e einzig e auc h Landsöhnen offenstehend e Bildungsmöglichkei t verschwand. 54 Mi t diese m Schachzug sei es den Städtern binnen kürzester Zeit gelungen, ihr Monopol auf höhere Bildung un d Wissenschaft auszubauen . Ih r Herrschaftswissen schlu g sich scho n bal d i n wirtschaftliche r Prosperitä t nieder , den n »mi t diese r Be 51 Gemein t sin d di e Waldmannsche n Spruchbrief e vo n 1489 , abgedruck t in : Leuthy , S . 8 7 101, sowi e da s Verkommnis zwische n de r Stad t un d Landschaf t Zürich , de r sogenannt e Kappe lerbrief, S . 101-108 . 52 Sieh e zu r Darstellun g Braendli n Chronik , S . 3-46, Zita t S . 4; FSW . 53 Ebd. , S . 46. 54 »s o schön und lieb uns Protestanden i m Canton Zürich durch die Reformation de r Gewin n der Gewißensfreyheit (! ) sei n muß , so schön un d lie b war un s vor derselben alle s dasjenige s o die Städter un s mi t de m Einziehe n de r Klöste r de m Lan d entrieße n (Klöste r ware n di e einzige n Pflegstätten de r Wissenschaften auc h fü r Landleute) , das frühe r di e Slusdierfreyhei t allgemei n war , beweist das der letzt e katholische Pfarre r ei n geborene r Bürge r von Stäf a war« , ebd. , S . 121.

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schränkung durc h di e Einziehun g de r eigentliche n Schule n wa r e s einer s o mächtig gewordenen Bürgerschaf t ei n leichtes, so bald auf der Landschaft alle Wissenschaft verdräng t war, das Monopol übe r Handel un d alle besseren Erwerbsquellen sich auf die Dauer zubegründen.« 55 Aber nicht nur die Wahrung ihrer ökonomischen Interessen , sondern ihres politischen Herrschaftsanspruch s überhaup t lie ß es der Stad t angeraten sein , die Landbevölkerung i n ihrem Dämmerzustand »wissenschaftliche r Verwahr losung«56 zu halten. Reichtum und Vormacht der Stadt Zürich - s o Braendlins Fazit - beruhte n i n ihrem Ursprun g wie i n ihrer steten Befestigung au f dem »planmäßigen Syste m de r Verdummung« 57 de r Landbewohner . Braendli n zeichnete hie r da s Bild de s gutgläubigen, leich t z u blendenden ungebildete n Volkes, welches »Lug und Trug sowie Lis t und rohe r Gewalt der Städter un d ihrer unter uns gefundenen Verräter « ausgeliefert war. Dieses Bil d bestimmt e auc h i n besondere r Weis e di e Darstellun g de r fü r Braendlin entscheidenden politische n Ereignisse vom Memorial- und Stäfne r Handel 1794/9 5 bis zu r Regeneratio n vo n 1830 , eines Zeitraums, den er als geschlossene Einheit der Geschichte der ländlich-liberalen Bewegun g auffasste. Besonders drastisch wurde das an der Schilderung des Stäfner Handels deutlich.58 Im Mittelpunkt seine r Darlegun g der »fünften Raubthat « stand das betont gesetzestreue Handeln des Stäfner Kreises, dieser »liberalen Männer« und »ächten Patrioten«, 59 die auf Grundlage des Studiums älterer Geschichten und der aufgefundenen Freiheitsbrief e - und nicht etwa auf der Basis revolutionärer Lektüre - sic h entschlossen hatten , die Obrigkeit in gemäßigtem To n um die Wiederherstellung ihre r Recht e z u bitten. 60 Um s o krasser stac h hiervo n da s Vorgehen de r Obrigkei t ab , dere n Zusage , be i Nachwei s verbriefte r Recht e diese auch anzuerkennen, einzig dem Zweck diente, die alten Urkunden »dem Volk zu entreißen und zu vernichten«.61 Doch damit nicht genug, hetzte sie das Volk, vor allem das des Züricher Unterlandes, gegen die Liberalen auf, inde m sie - wie 183 9 erneut - da s Gerücht streute, man wolle mit den »angrenzenden Katholiken die Stadt Zürich erstürme n un d zur katholischen Religion « über treten.62 Nur so sei zu erklären, dass die östlichen und westlichen Gegenden des Kantons 179 5 »der despotischen Stadt « glaubten un d sich zu »elenden Werk zeuge[n]« bei m »fünfte n Rau b an unseren Rechte n un d Freiheiten « mache n ließen.63 Doch auch die Proklamation der Helvetischen Republi k 179 8 erfüllte nich t die Erwartungen der ländlichen Patrioten auf allgemeine Freiheit und persön55 Ebd . Braendli n illustrier t di e wirtschaftlich e Benachteiligun g a n der eigene n Familien geschichte. Siehe auch S. 272. 56 Ebd. , S. 275. 57 Ebd. , S. 206. 59 Ebd. , S. 51ff, S . 105. 58 Ebd. , S. 46-104, passim. 61 Ebd. , S. 51. 60 Ebd. , S. 47, S. 273. 62 Ebd. , S. 115f . 63 Ebd. , S. 47.

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liche Rehabilitation . I n einer (selbst)kritischen Analys e der Helvetischen Re publik führt e Braendli n dere n Scheiter n zu m eine n darau f zurück , das s di e Befreiung nich t »aus unserer eigenen Kraft hervorgegangen oder bewirkt worden ist«, sondern durch die Invasion der Franzosen, die trotz aller Anerkennung »als Gewaltthat mehr ihren eigenen Zwecken als uns im Canton Zürich unterdrückten Landvol k galt«. 64 Zu m andere n sa h Braendli n erneu t di e Machen schaften de r »in Republikaner Gewänder gekleideten Aristokraten« am Werk, die mit ihren Gesinnungsgenossen, den »Aristokraten der großen Mächte« und »den geldgierige n Magnate n de r kleine n Kantone« , de n Stur z de s Einheits systems planten und darauf zuarbeiteten, die ländlichen Liberalen für den französischen Einmarsch und »alles Ungemach« der Besetzung verantwortlich z u machen.65 Die Volksaufstände, di e im Jahre 180 2 in der gesamten Schwei z gege n di e zentralistische Republi k losbrachen , kaum dass Napoleo n sein e Truppen au s der Eidgenossenschaft abgezogen hatte, interpretierte Braendlin so als Resultat einer großangelegte n Verschwörun g de r aristokratische n Reaktion . Di e Zü richer Städter machte n sic h damit der »sechsten Raubthat« , »de s Meineides« , schuldig, indem sie »den 1798 geschworenen Eid, uns als gleichberechtigte und hierzu von Gott gleich wie sie freygescharffenen Mensche n und Brüder anzusehen,« brachen und viele Liberale wie Pfenninger einkerkern ließen . Der Vorwurf des offenen Eides - bzw. Verfassungsbruchs durc h di e Stadt bürger galt ebenso für die »siebente Raubthat«, der Abschaffung der von Napoleon 1803 eingeführten föderalistischen Mediationsverfassung.66 »Dieses Meisterstück, mit dem 7/8 der Bevölkerung der Schweiz völlig zufrieden gewese n wäre«67 hatte eine von Braendlin euphorisch gefeierte Phase ländlicher Gleichberechtigung i n Gestalt der Handels- und Studierfreiheit sowie einer ländli chen Repräsentation bewirkt. Aus eben diesem Grund versuchten di e Aristokraten und die »Spießbürgerschaft, dene n es nie und nimmer munden wollte, sich mit un d nebe n un s i n Hande l un d Beruffe n fre y gewordene n .. . Land bürgern bewegen zu sollen« 68 die missliebige Mediationsverfassungabzuschaf 64 Ebd. , S. 11 7 und S . 119 . 65 Ebd.,S . 118 , S. 134ff . 66 »Fü r die Söhne Wilhelm Teil s dürfen kein e Fessel n geschmiedet werden« , s o Napoleon i n seiner Ansprache an den Ausschuss der helvetischen Consulta 1802 . Interessant ist, dass Napoleo n die mentalitätsgeschichtlichen Eigentümlichkeite n der Schweiz in den Vordergrund stellt, um ein e föderalistische Verfassun g z u begründen: »Ic h selbst bi n ein geborener Bergbewohner ; ic h kenn e den hieraus entspringenden Geist . Nur keine Einheit , keine Truppen, kein e Zentralfinanzen, kei ne Zentralabgaben , kein e diplomatische n Agente n be i de n ander n Mächte n .. . Di e Kantonal organisationen - ic h wiederhol e e s - müsse n au f die Sitten , di e Religion , di e Interesse n un d di e Meinungen eines jeden einzelne n Kanton s gegründet sei n .. . Die Gemeinden i n den kleinen Kan tonen möge n ihr e Alpstreitigkeite n nac h Beliebe n unte r sic h ausmachen« , zitier t nach : Oechsli , Quellenbuch, S . 640. 67 Braendli n Chronik , S . 146 ; FSW . 68 Ebd. , S. 175 .

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fen.69 Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, der »ersten städtisch-aristokratischen List«, habe man die schweizerischen Grenztruppe n abgezogen, um den Alliierten de n rasche n Durchzu g zu m Elsas s zu ermöglichen. I m Gegenzu g hätten die dreizehn alte n Kanton e unter dem Schutz der Alliierten i n Züric h die Mediationsverfassung fü r aufgehoben erkläre n können. Da aber selbst den Aristokraten eine völlige Rückkehr zu den Zuständen vor 1798 nicht möglic h erschiene n sei , setzten si e »Lug und Betrug « weiter fort , ausgeführt von niemand Geringerem als Lavater. Mit der Schimäre, es stehe ein städtischer Staatsstreich bevor, konnte Lavater die ländlichen Vertreter im Großen Rat davon überzeugen, »si e sollten das kleinere Übe l wählen,« inde m si e »statt des Zustands von 1798 « der Stadt eine größere Repräsentation zubillig ten.70 Wie aber war es möglich gewesen, so fragte sich Braendlin, die ländlichen Räte »über den Staatslöffel s o zu barbieren, dass denselben zur ewigen Schande kein männlicher Barth mehr wachsen konnte«? 71 Auch hier betonte Braendlin wiederum di e mangelnd e Schulbildun g de r ländliche n Repräsentanten , di e sich »vom Glanz der herrschenden Stadt blenden ließen und so viel von Staatssachen verstanden wie heute ein Knabe in der Primarschule davon weiß«.72 Mit der Entstehung des ländlichen Vereinswesens änderte sich das. Bereits 1825 bildete sich laut Braendlin um die Liberalen eine ländliche Oppositionsbewegung, di e vor allem au s dem Umfel d de r Schützen- und Singverein e s o rasch a n Zulau f un d Unterstützun g gewann , das s nach seine r Einschätzun g bereits i m Novembe r 182 8 oder Mai 182 9 eine Massenversammlun g wi e i n Uster möglich gewesen wäre.73 Mit ihr wurde, so Braendlins Fazit, der Schlusspunkt unter eine Entwicklung gesetzt , i n deren Verlauf »man uns unsere von Gott ererbten Rechte und Freiheiten unter mancherley Wechseln der Zustände und Zeiten s o wie auc h de r Religiöse n un d politische n Verhältniss e unsere r 69 Sieh e zu m folgende n ebd. , S . 172-184 . 70 Ebd. , S . 176-184 . Braendli n verwie s dami t au f den Beschlus s vo m 11 . Juni 1814 , al s de r Stadt 3/5 und der Landschaft nicht ganz 2/5 der Sitze im Großen Rat zugestanden wurden. Bi s 182 9 hatte sich das Missverhältnis sogar noch weiter verstärkt.»1829«, s o Braendlin, »saßen 13 7 meistens wissenschaftliche Bürge r de r Stad t nebe n 7 5 meisten s nich t wissenschaftliche n Bürger n a b de r Landschaft. Von den 25 Mitgliedern de s Kleinen Rate s waren beständig 20 aus der Stadt und auße r dem zweite n Staatsschreibe r Herr n Stafe r au s Horge n ware n all e Staatsbeamtete n au s de r Stad t ebenso unter den 1 1 Oberamtmännern ware n 1 0 aus der Stadt ebenso die meisten ihre r Schreiber . Ebenso mi t de n Oberst - un d Oberstlicuth.-Stelle n be i alle n Waffengattungen , weite r al s zu m Hauptmann, höchsten s zum Majo r konnte es kein Landmann bringen .. . Überall waren wir Land bürger geworden Nul l un d Nichts « (S . 185f) . 71 Ebd. , S . 184 . 72 Ebd.,S . 147 . 73 Ebd. , S . 187 , S. 205 und S . 206: »wäre ma n i n Fall gewesen, den Zeitraum vo n 179 8 à 1813 in Druk in einigen tausen d Exemplare n unte r das Volk unentgeltlich zuwerffen , die s hätte unfehl bar dahi n geführt , da s i m Novembe r 182 8 oder Ma i 182 9 di e obe n angeführte n Oberämte r i n Masse und ebenfalls in Uster, mit den zwei einzigen Hauptwünschen bessere r Representation un d besserer Schule n fü r di e ausgetreten Primarschüle r zusammengetrette n wären. «

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Landbevölkerung i n einem Zeitrau m vo n 325 Jahren 148 9 bis und mi t 181 4 zum siebenten male berauben und durch Einziehung und Daniederhalten der Schulen au f dem Land und der sorgfältigsten Pfleg e derselbe n i n der Stadt... , uns wie kein anderes Volk der so geheißenen freyen Schweiz unterdrückt halten konnte.«74 Ziel der ländlich-liberalen Bewegung müsse es sein, diese geraubten Rechte und Freiheiten , kost e es, was es wolle, zurückzufordern un d Garantien dafü r auf alle Zukunft i n einer besseren Verfassung aufzustellen. 75 Die »Regeneration« der tradierten Schwurgenossenschaft im modernen Gewand des liberalen Verfassungsstaats . Braendlin s Argumentationslinie , Alte s un d Göttliche s Recht im Rekurs auf einen verlorenen »Ur-oder Naturzustand« z u verweben, zeigte offensichtlich e Parallele n z u der des Memorial- un d Stäfne r Handels . Die betonte Anbindung a n die »Stäfner Väter « war damit au f doppelte Weise sinnfällig: Braendli n nahm den traditionellen Argumentationsrahmen de s altrechtlichen Stäfne r Handel s von 179 5 auf, u m auf diese Weise - wi e die Memoralisten vo n 179 4 - eine n gesamtgesellschaftliche n Ordnungsentwur f z u legitimieren. Der entscheidende Unterschied war, dass anders als im Memorial nicht nur die an die Gemeinde gebundenen korporativen Partizipationsrecht e eingefordert wurden, sondern mit dem Repräsentativsystem nun direkt auf die Staatsebene zugegriffe n wurde . Er benutzte den Rekurs, um die »Wiederher stellung« einer gesamtstaatlichen politischen Ordnung zu rechtfertigen: die tradierte Schwurgenossenschaft i m modernen Gewand des liberalen Verfassungsstaats. Hie r erschließ t sic h de r Sinngehal t de r »Regeneration « al s liberale r Epochenbezeichnung. Die Einbettung der ländlich-liberalen Bewegun g in einen historischen Entwicklungsprozess, de r durc h wiederholt e »städtisch e Raubthaten « gekenn zeichnet war, verwies auf einen diesen »Raubthaten« notwendi g vorausgegangenen Freiheitszustand. 76 Diese r Urzustand war keineswegs abstrakt gedacht , sondern wurde von Braendlin auf die Zeit des Ersten Bundesschwurs der drei Urkantone Uri , Schwy z un d Unterwaide n vo n 1291 , der Gründun g de r schweizerischen Eidgenossenschaft , datiert. 77 Der Rückgriff auf das Göttliche Recht verstärkte zusätzlich die Konstruktion dieser genossenschaftlich-egalitä ren Vergangenheit. Braendlin bediente sich hier eines weiteren tradierte n Topos der Eidgenossenschaft als gottgewollter freiheitlicher Ordnung. Indem die ländlich-liberale Bewegung den Gründungsmythos für sich vereinnahmte, ge74 Ebd. , S . 272. 75 Ebd. , S. 251. 76 S o siehe etwa die Formulierun g Braendlin s zur Ersten Raubtha t von 1489 , »weil folgerech t ohne dies [de n Raub ] iennc s document nich t nothwendi g geworde n wäre« , ebd., S . 1 . 77 Sieh e zu m Rütlischwu r von 1291 , der den Ursprun g schweizerische r Staatlichkei t un d da mit ihrer Unabhängigkei t markiert , Marchail , Ursprünge, S . 109-214 .

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wann sie der »Heilsvision« des auserwählten Schweize r Volkes 78 eine konkrete politische Stoßrichtung ab. Der Kampf um den liberalen Verfassungsstaat legi timierte sich somit nicht nu r als Wiederherstellung frühere r Rechte , sondern auch aus göttlicher Berufung. Verbürg t war der unmittelbare Wahrheitsgehal t des Gründungsmytho s al s eine s positivrechtlic h verankerte n Naturzustand s für Braendlin in den »Ur«-Kantonen, wo sich die »Nachbarn und Eidgenossen« »seit ewigen Zeiten [! ] diese r Heiligthümer« erfreuten. 79 Dagegen tra t das moderne Naturrech t al s Legitimationsgrundlage völli g in den Hintergrund. Braendlin übernahm zwar liberale Positionen, nicht aber ihr (vom Individuum au s gedachtes) rechtsphilosophisches Fundament . Die beiden Kernforderungen de r ländlichen Liberale n - di e verfassungsmäßig garan tierte Repräsentatio n un d ein verbessertes Schulwese n - wurde n stat t dessen soweit historisiert, dass sie als aus dem Mittelalter überlieferte Rechte und Freiheiten galten . »Alte Rechte « un d liberal e Freiheite n fiele n zusammen , Volks souveränität un d Individualrecht e konnte n auf dieser Legitimationsbasis Ein gang in die traditionale Autonomiekultur der Landschaft finden , wurden aber aus diese r Perspektiv e primä r kollektivistisc h interpretiert . Daru m fasst e Braendlin sozial e un d politische Ungleichhei t nich t individuel l auf , sonder n band seine Forderungen durchgängig in den Stadt-Land-Konflikt ein . Deutlich wurde dies bei der Frage der Repräsentation i m Großen Rat , in deren Mittel punkt di e Aushandlun g eine s fixe n Verteilungsschlüssel s fü r di e Landschaf t stand und nicht etwa eine Proporzberechnung. Entsprechen d fehlte auch jede Erwähnung de s Rousseausche n Gesellschaftsvertrage s bzw . de s naturrecht lichen Kontraktualismus , wi e ih n di e Mcmoraliste n al s dritte n Argumenta tionsstrang genutzt hatten. Vielmehr tauchte der Vertragsgedankc bei Braendli n in der tradierten For m des sakralisierten Eidschwurs80 auf. Insbesondere der rechtssymbolische Gehalt 78 Sieh e zu diesem Selbstbild etwa aus der Streitschrift des Dominikaner Winckels: »Wir sind jene auserwählte Völkerschaft , di e in jenem Vol k Israe l präfiguriert wa r und die der allmächtig e Gott als Hüterin seine s Gesetzes und seiner Gerechtigkeit gege n König e und Fürste n i n Schutz nahm«, zitiert nach: Wechsler, S. 130f. Di e Vorstellung der »gottgewollten Umkehrun g der christlichen Ständeordnun g i n der Eidgenossenschaft « un d de r Schlach t al s Gottesurteil, wa s einmal mehr die Bedeutung der arglistigen Täuschung der Grenztruppen 181 4 bei Braendlin erklärt, betont auch Marchal, Neue Aspekte, S. 325-338, hier S. 337f, sowie Weishaupt. 79 Braendli n Chronik , S . 168 ; FSW . Z u de n dor t tatsächlic h herrschende n oligarchische n Strukturen siehe Kälin, S. 171-190 . 80 Vgl . zur Bedeutung des Eidschwures als Teil des »Gründungs- und Begründungsmythos « der eidgenössischen Republi k de n wichtigen Artike l vo n Mörke, Bataver , hie r bes . 112ff , sowi e Wechsler. In dieser bemerkenswerte n Untersuchun g beton t Wechsler di e eng e Verbindung von Ehrhaftigkeit und Eid, die sich u.a. in der Bezeichnung von dem »Biedermann« als einem ehrbaren, eidgetreuen Man n niederschlug (S. 132) . Ausführlich wir d auf die Instrumentalisierung des Eidschwures zu r Herrschaftsausübun g eingegange n (S . 52f), wobe i sei t de m 16 . Jahrhundert di e Bedeutung der schriftlichen Vereinbarun g gegenüber der mündlichen des Schwurs stetig wuchs. Andre Holenstei n begründe t di e breit e Verankerun g de s Eide s i n de r Vormoderne mi t desse n

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des Eide s nahm eine zentrale Stellun g i n seiner Argumentation ein . Meinei d oder Eidesbruch seitens der Obrigkeit waren gleichbedeutend mi t »Tyrannenherrschaft« un d rechtfertigte n traditionel l de n offene n Widerstand . Plastisc h stellte deshalb Braendlin di e Eidestreu e der ländlichen Freiheitskämpfe r hin sichtlich der Schwurbriefe dem wiederholten Meineid der »städtischen Oligarchien« gegenüber . Entsprechen d stan d i n Braendlin s Darstellun g de s Stäfne r Handels das rechtswidrige Verhalten der Obrigkeit beim Auffinden de r alten Freiheitsbriefe i m Mittelpunkt der »fünften Raubthat « und nicht etwa die Verfolgung un d Inhaftierung de r Memoralisten. Umgekehrt setzt e de r legitimatorisch e Gehal t de s Eidschwure s auc h de n ländlichen Liberale n fes t definiert e Grenzen . Di e Sammlun g eine r große n Reformbewegung musst e sich - s o Braendlin - unbeding t vollziehen, solange das »Elend e Machwer k vo n 1814« , d . h. di e Restaurationsverfassung , noc h nicht vom Volk beschworen worden war. Spätestens dieser Huldigungsakt sollte das Final zum liberalen Aufstand geben, da sonst »das Volk, durch Eid an die Verfassung gebunden, nicht zu gewinnen« sei.* 1 Braendlin bedient e sic h demnac h i n seine r Argumentatio n eine s Werte kanons, de r au f di e Wurze l de r kommunale n Autonomiekultu r - de n Ur sprungs- und Befreiungsmythos der Eidgenossenschaft - zurückging , und verband ihn mit der liberalen Programmatik . Danach ergab sich eine Lesart, nach der di e ländlich-liberal e Bewegun g di e letzt e Etapp e de s erneuten Freiheits kampfes darstellte, mit dem Ziel, den Wiedergewinn »verlorener Rechte« durch die Trias der Verfassung, der Volksrepräsentation und der (politischen) Bildung vor einem »achten Raub« in Zukunft zu schützen. Als die den Zeitläuften angepasste Version des überkommenen Freiheitsverständnisses transformierten der Liberalismus und seine Programmatikdie »besseren Freiheiten« in die »zeitgemäß entwickelte Gestalt« 82 de s Verfassungsstaates. Dies e Dynamisierun g de r genossenschaftlichen Autonomietradition , wi e sie in den Gemeinden weiter Eigenschaft, Defizit e be i der Durchsetzung an Norme n un d Pflichten un d bei rechtlichen Verfah ren der Wahrheitsfindung durc h Einführung eine r göttlichen Sanktions- und Kontrollgewalt wett machen z u können . De r Ei d dient e einerseit s de r Sicherun g de r Legitimitä t vo n Herrschaf t un d andererseits der Gewährleistung de s Rechts. Siehe Holenstein , S . 11-63 . 81 »jahrelan g .. . hatten di e vorerwähnten Söhn e un d andere Freund e de r Männe r vo n 179 5 ... besprochen un d allseitig gefunden, das s solange das Elende Machwerk vo n 181 4 nicht vom Volk e beschworen, e s ihr e Aufgab e se i un d bleibe , jeden geeignete n Zeitpunk t zu r Bekämpfun g de r Aristokraten zu benutzen un d inzwischen ei n jeder auf seine Art,... die vertrautesten seine r Freun de zu prüfen un d ihr e diesfallige Gesinnun g z u erforschen, dami t i m entscheidenden Augenblic k eine Mass e de s Volkes .. . de n Hauptschla g de r Schlang e beizubringe n [berei t sei , und ] .. . dahi n arbeiten, dass wie die Verfassung beschwore n werde n sollte, es dann unfehlba r losbreche n un d der vorbereitete Schla g vorhe r vollführ t werde , bevo r da s Vol k durc h Eid e gebunden , vo r solche n Unternehmen zurückbebe n leichte r geneigt sei n würde« , Braendli n Chronik , S . 204f; FSW . 82 Ebd. , S . 271 . Aus Braendlin s Aufru f z u de n Wahle n i m Dezembe r 1830 : «Daru m erheb e dich aus deinem Schlumme r freie r Bürge r des Cantons Zürich! Freie r Eidgenosse ! Auf der eine n Seite kanst du erwählen , da s Gut gesetzlicher Freyhei t i n zeitgemäß entwickelter Gestalt« .

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lebte, setzt e an die Stell e de r Schwurbrief e ein e - ebenfall s durc h Bürgerei d beschworene - Verfassung, die das »Gut gesetzlicher Freyheit« garantiere. Welche konkreten Rechte er darunter verstand, ließ Braendlin offen, entwarf aber eine Gesellschaftsutopie, wonach »dieses Gut den Talenten die Pfade ebne, der Armut neue Quellen eröffne und dem Ungleich Beladene n Erleichterung verschaffe«. Der Reichtum werde nicht mehr durch »hemmenden Neid « verdunkelt, das »gemeine Wesen« gestützt und »jegliche Willkür« abgewehrt.83 In dieser Vision eines sozial gerechten und freien Gemeinwesens spiegelte sich die überkommene Idee der egalitär-assoziativen Schwurgenossenschaft, di e im modernen Gehäus e de s liberal-parlamentarischen Verfassungsstaat s Wiederauflebe n sollte. Braendli n strebt e als o kein e rein e »Wiederherstellung « de r genossen schaftlichen Urdemokrati e an . Ausdrücklich verwar f er die Errichtun g eine r »Volksregierung« i n Gestal t eine r Landsgemeindedemokratie. 84 Di e Grenze n der Transformation des schwurgemeinsechaftlichen Gedanken s definierten sich für ihn danach, die Vertretung »der wägsten und der besten« sicherzustellen. 85 Die Bedeutung der Braendlinschen Chronik für das Verständnis des ländlichen Liberalismu s lieg t dahe r i n de m hie r deutlic h hervortretende n Span nungsverhältnis zwischen klassisch-liberalen Forderunge n un d ihrer altrechtlichen Begründung . Die Rezeption der Vorstellung vom bürgerlichen Verfassungsstaat steh t außer Frage, entscheidend is t jedoch seine vom klassischen Liberalismu s abweichende ideelle Fundierung. Nich t das moderne Naturrech t bildete den legiti mierenden Kontext , aus dem di e liberale n Gleichheitsforderunge n abgeleite t wurden, sonder n di e Berufun g au f rechtspositivistisch verbürgt e Historizitä t und da s göttlich e Naturrecht . Folglic h interpretiert e Braendli n di e Regene rationsverfassung vo n 183 1 als ei n Wer k Gottes. 86 Das von ih m gezeichnet e Selbstbild de r ländliche n Liberale n knüpft e a n Denkbilde r de r gemeind lich-genossenschaftlichen Autonomietraditio n an , ga b ihne n abe r ein e neu e Stoßrichtung. De r überkommen e Sozialkonflik t zwische n Stad t un d Land , Obrigkeit und Untertanen wurde insofern »dynamisiert«, als dessen antiobrigkeitlicher, antistaatlicher Impetus überwunden und auf der Grundlage der liberalen Programmati k ei n alternative s Staatskonzep t entwickel t un d propagier t wurde. Dies e Konzep t umfasst e auc h ökonomisch e Kriterien , di e zwa r i n 83 Ebd . 84 Ebd. , S. 150. 85 Ebd. , S. 282. 86 Ebd.,S . 1 und S. 274. Siehe auch die enge Verbindung von göttlicher Gleichheit und gesetzlicher bürgerlicher Gleichheit in seiner Äußerung zu den Schulen, »wo das Gefühl für unsre geläuterte herrliche Religion gewekt und gepflegt wird. Und diese uns lehrt, dass wir alle sündige Menschen und eines Vaters Kinder, die hier schon wie einst vor demselben alle gleich sein werden, soll und muss das Gefühl fü r unsere politische Freyheit neben dem Religiösen ob der Jugend gewekt und gepflegt werden , damit der Grundsatz in unsrer freien Verfassung , w o alle Bürge r vor dem Gesetze sich gleich sind, in seiner wahren Bedeutung aufgefasst un d erkant werde« (S. 279).

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Braendlins Darstellun g nu r mittelba r i n de r Forderun g eine s verbesserte n Bildungswesen hervortraten , doch nie ausgeklammert waren.87 Die Projektion eines sozia l gerechte n un d wirtschaftlich prosperierende n Gemeinwesen s i m Gehäuse des liberalen Verfassungsstaats reflektierte den »Gemeinnutz« als zentrale Kategorie gemeindlich-genossenschaftlichen Denkens , dynamisierte aber diese Kategorie gleichzeitig auch in Richtung auf ein individuelles Verständnis. 3.2.2. Die populären Pamphlete der ländlich-liberalen Bewegung Dass Braendlins Darstellung tatsächlich repräsentati v fü r das ländlich-liberal e Selbstverständnis gewese n ist , beleg t di e zeitgenössisch e Pamphletliteratur . Insgesamt vier Flugblätter sowie das berühmte »Memorial von Uster« ließ die ländliche Oppositionsbewegung i n der kurzen Zeitspanne zwischen Septem ber 183 0 und der Volksversammlung von Uste r am 22. November a n einem geheimen »Grütli« drucken und auf der Züricher Landschaft verteilen. Anstoß, aber nicht Vorbild, aktiv zu werden, war erneut das Nachbarland Frankreich . Unter dem Eindruck der französischen Julirevolution entschied die Lesegesellschaft Stäf a au f ihrer Septembersitzung , de n »geschichtliche n Auftrag « anzu nehmen un d »vo n Stäf a entschiede n vorzugehen , d a man überal l i m Kanto n dies erwarte, um sich Stäfa anzuschliessen, damit irgendwo eine grosse Volksversammlung durchgeführt werden könne«. 88 Mitte September verbreitete man 6000 Exemplare der ersten Schrift mit dem Titel »Bürgerwünsch e be i der jetzigen Lag e der politischen Ding e im Canto n Zürich«.89 I m Unterschie d z u de n dre i folgende n Flugschriften , di e sic h i n Sprache und Argumentation an die breite Landbevölkerung wandten, richteten sich di e »Bürgerwünsche « a n di e »Besseren « de r Landschaft , abe r auc h de r Stadt. In dieser ersten Phase der Formierung musste es zunächst darum gehen, ein über den Kanto n verteiltes Net z an Führungspersonen z u knüpfen , wes halb mit dem Flugblat t gleichzeitig eine Einladung an alle übrigen Söhn e der Männer von 1794/9 5 erging, sic h zu r weiteren Vorberatung i m Stäfner Gast haus »Zur Krone« zu versammeln. 87 Braendlin s Darstellun g der wirtschaftlichen Benachteiligun g de r Landschaf t konzentriert e sich, wie bei dem Spros s einer bedeutenden Textilunternehmerfamili e naheliegend , au f die histo rische Darlegun g des städtischen Handelsmonopol s fü r industriel l gefertigt e Produkte . D a dieses erstmals währen d de r Helvetische n Republi k aufgehobe n wurd e un d auc h späte r - ander s al s i n den Bereiche n de r Agrarproduktio n un d de s Landhandwerk s - sei t de r Mediatio n aufgehobe n blieb, erübrigt e sic h fü r Braendli n di e aktuell e politisch e Problematisierun g de r Handels - un d Gewerbefreiheit fü r di e Legitimierun g de r Regenerationsbewegung . Sieh e sein e Beschreibun g ebd.,S. 272f . 88 Zitier t nach : Bachmatm, S . 226. 89 Bürgerwünsche , abgedruck t in : Leuthy, S . 29-33 .

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Wer ware n dies e »Besseren« , di e al s Wortführer de r angestrebte n Volks bewegung di e Gefah r de s ungestümen, anarchistische n Demo s bannen soll ten?90 Unte r Rückgrif f au f den republikanische n Tugenddiskur s de r Aufklä rungszeit appellierte das Flugblatt an den »guten«, d. h. politischen Bürger, der sich, dem Gemeinsin n verpflichtet , fü r di e politische Freihei t un d Wohlfahrt des Ganzen einsetzte. Diesen »ächten Patrioten« wurden die »Indifferentisten« , die »egoistischen Menschen« , di e »Privaten, aber nicht Bürger « gegenüberge stellt.91 Öffentliche s politische s Engagemen t stat t Rückzu g in s Privat e - hie r trat erneut das Bild des Staates als politische und soziale Einheit hervor, während nahezu zeitgleich Hegel in den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (1821) seine Definitio n de r bürgerlichen Gesellschaf t au s der Trennung von Staat als Inbegriff des Politischen un d Gesellschaft, reduzier t auf das Soziale, entwickelte. Anders die ländlich-liberalen Autoren des Flugblatts, denen es nicht in erster Linie darum ging, die Rolle des Staates in dem zu schaffenden Ordnungssyste m zu umreißen, sondern die aktive Rolle des Bürgers bei der zukünftigen Gestal tung de s Staatswesen s z u verankern. Freiheitsrecht e wurde n demnac h nich t dem Staat abgetrotzt, sondern von ihm in dienender Funktion garantiert: «Vergessen wi r nicht , das s die Verfassung fü r da s Volk und nich t das Volk für di e Verfassung ist«. 92 Dies e Staatside e formt e entsprechen d auc h ihr e konkret e Forderung der Volksrepräsentation, di e sich keineswegs nur auf die ländliche Vertretung im Großen Rat bezog, sondern allgemein auf die Teilhabe in Kirche und Staat . Grundvoraussetzun g eine r solche n Bürgergesellschaf t wa r di e Gleichheit ihre r Mitglieder . Si e z u rechtfertigen diente n erneu t di e seit dem Stäfner Memoria l bekannte n Argumentationsfiguren. Di e natürlich gegeben e Gleichheit wurde sowohl göttlich wie auch vernunftrechtlich abgeleite t sowie mit de m Hinwei s au f den gemeindlich-genossenschaftliche n Grundsat z de r gleichen bürgerliche n Pflichte n un d Recht e als altverbürgtes Rech t eingefor dert. Konkret niederschlagen sollt e sich das Postulat bürgerlicher Gleichhei t vor allem i n einer nicht näher erläuterten »angemessene n politische n Vertretung« der Landbewohne r i m Große n Rat . Nur auf dieser »Grundlage zu m stabile n Bessern« sei die Gefahr der ländlichen Unterdrückun g dauerhaft gebannt und könnten die physischen, intellektuellen und politischen Kräfte dem Ziel »Aller 90 »Wehe , wen n nich t di e Tugen d un d di e Besonnenhei t de r Bessere n o b der Gluth wache n und de n Anlas s leiten« , ebd. , S . 33. 91 Ebd. , S. 32. Der Begriff des Patriotismus hatte hier einen politische n Grundzug , wie er sich in de r Schwei z währen d de r Aufklärung ausgebilde t hatt e un d vo n dem Züriche r J. G . Zimmer mann i n seine m wei t übe r di e schweizerische n Grenze n hinau s bekannte n Wer k vo n 175 8 »Vo n dem Nationalstolze « formulier t worde n war. Vgl. Prignitz, der die besondere Bedeutun g Zimmer manns fü r di e Entwicklun g de s deutschen Patriotismus-Begriff s betont . 92 Leuthy , S . 32 .

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Wohlfahrt« dienen. 93 Gemeiner Nutzen, politische Tugendhaftigkeit un d utilitaristische Wohlfahrtsüberlegungen de r Aufklärung verschränkten sich, wobei die allgemein e Bildun g als zweiter »Bürgerwunsch « di e Roll e des ›Moderni sierungsagenteiK zugesproche n bekam. 94 Einen Mona t später, Mitte Oktober, erschien die zweite Flugschrif t »Jako b und Konra d - Gespräc h zwische n zwe i Landbürger n de s Kanton s Zürich«, 95 verfasst vo n dem Fabrikante n Jakob Braendlin, de m Brude r de s Chronisten . Auch diese Schrift wurde in 6000 Exemplaren gedruckt und durch »eine Menge vertraute Reitende , Fahrend e un d Fussgänger « i n der Nach t i m Kanto n verteilt.96 Braendlin wählte die Form des Lehrgesprächs, das bereits in der politischen Jugendbewegung de r 1760e r Jahre bevorzug t al s Mediu m politische r Agitation verwende t worde n war. 97 Dies e Unterredun g zweie r Landbürge r zielte darauf ab, eine schichtenübergreifende Solidaritä t der Landschaft herbeizuführen. Stat t des abstrakt-philosophischen Tons der »Bürgerwünsche« wur de nun in einer »biedermännischen Sprache« mit handfesten Bezügen zur ländlichen Lebenswelt gesprochen. In der Figur des Konrads trat ein vermögender Landmann auf , de r wahrscheinlich al s Schuldenbüttel ode r Amtsschreiber i n städtischen Dienste n unte r de r bestehende n Ordnun g seh r auskömmlich , wenn nicht sogar profitabel lebte . Ihm stan d mi t Jakob ei n Landman n vo n »schlichte m Menschenverstand « gegenüber, der die akute sozialökonomische Benachteiligung der Landbewohner plastisc h aufzeigte : di e ungerecht e fiskalisch e Mehrbelastun g de s ländli chen Bauern - un d Gewerbestandes , di e ruinöse n Auflage n de s städtische n Zunftsystems für die ländlichen »Professionisten« (Handwerker ) und die städtischen Ämtermonopole in der gesamten Verwaltung sowie beim Militär.98 Als Verstoß gegen das göttliche Gleichheitsgebot kleidete Jakob diese Missstände in die bekannte historische Entwicklungsabfolge ländliche r Unterdrückun g un d Täuschung seit dem Mittelalter, um daraus letztlich die Notwendigkeit eine r 3/4-Mehrheit de r Landschaf t i m Großen Ra t als Hauptforderung de r ländli chen Liberalen abzuleiten. Eindringlich warnte Jakob deshalb den gutgläubig naiven Konrad davor, den »Einflüsterungen« der gemäßigt-liberalen Städter um Nüscheler un d Uster i Glaube n z u schenken, deren Ziel e s nicht nu r sei, das Repräsentationsverhältnis von Stadt und Land auf 1/2 zu 1/ 2 zu drücken, son93 Ebd. , S. 30. 94 Ebd. , S.31: Der zweite Wunsch zielt e auf die Vermittlung von Bildun g als »Gemeingut fü r jeden Talentvollen« . 95 Gespräc h zwischen zwe i Landbürger n de s Kantons Zürich. Vom Züricher Se e im Octobe r 1830. 96 »U m der Polizey Mühe z u ersparen, erhielt dieselbe 25 Exemplare mi t der Bemerkung : au f edes Mitglied des Kleinen Kathe s ein Stück!« Bemerkungjohannes Braendlin s in seiner Chronik , zitiert nach : H. Frey, Der Usterta g (I). 97 Sieh e Kap . 2. 1 . 98 Gespräc h zwische n zwe i Landbürgern , S . 4f .

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dern auc h mi t einseitige n Versprechunge n eine n Kei l zwische n di e See gemeinden un d di e übrige n Gebiet e z u treiben. 99 Au f dies e Weis e wurd e schließlich de r anfänglich ungläubig e Konra d überzeugt , das s die Landschaf t geschlossen fü r di e vorgeschlagen e 3/4-Vertretun g i m Große n Ra t eintrete n müsse, damit man nicht, »wie 1814 mit der Restaurationsverfassung«, getäusch t werde.100 Die Stoßrichtung dieser Schrift war eine doppelte: Grenzte sich die ländlichliberale Bewegun g zu m eine n vo n de r gemäßigte n liberale n Strömun g de r Stadt ab, suchte sie zum anderen die Kluft zwischen den reicheren und ärmeren Landregionen und -bewohnern, zwischen See und Mittelland zu überbrücken. Das Pamphlet endet e mi t der Zukunftsvision eine s friedliche n Miteinander s von Stadt und Landschaft, wenn die Stadt den Anspruch ihres ländlichen »Miteidgenossen« anerkenne, »seinen gerechten Antheil« an den »von unsern Vorvätern« »errungenen Freiheiten « einzufordern. 101 Die Resonanz auf das »Gespräch zwische n zwe i Landbürgern « war beachtlich; d a die Flugschrif t i n den meiste n Dorfwirtshäuser n auslag , bestimmte n Jakob und Konra d das Tagesgespräch. Meyer von Knonau berichtete über die allgemeine Politisierung der ländlichen Gebiete: »In unserm Kanton vernahm ich (ma n war mitten i n der Ernte) von Männern, die noch niemals politische Regsamkeit gezeigt hatten, die Worte: Wenn einer jetzt bis in die Nacht gearbeitet hat, so muss er noch die Zeitungen lesen , ehe er sich zu Bette legen kann.‹ Diese Wahrnehmung konnte man aller Orte machen.« 102 Die ländlich-liberale Bewegun g ließ sich nun nicht mehr die politische Ini tiative aus der Hand nehmen. Der Versuch der ländlichen Vertreter im Großen Rat, ei n Reformangebo t z u initiieren, 103 führt e zwa r tatsächlic h Anfan g No vember zu einem Kommissionsvorschlag, der die Sitze zu gleichen Teilen zwischen der Landschaft un d den Städten Zürich un d Winterthur aufteilen woll te.104 Doc h sei n Ziel , de r Bewegun g di e Spitz e z u nehmen , verfehlt e da s halbherzige Angebot dieser sogenannten XXI-Kommission. Stat t dessen ver sammelten sich in Meilen 60 Gemeinderepräsentanten der Seedörfer und wiesen in einem »Zuruf an das biedere Volk des Cantons Zürich« 105 den Entwurf 99 Ebd. , S . 7, S . 9 . 100 Ebd.,S . 11 . 101 Ebd. , S . 12 . 102 Meye r von Knonau, S . 309. 103 A m 13 . Oktobe r trate n wahrscheinlic h au f Anregun g de r Stadtliberale n di e 3 1 Land großräte im »Kreuz « i n Uster zusammen, u m i n einer Denkschrif t de n Großen Ra t aufzufordern . von sich au s eine Verfassungsrevision z u initiieren . 104 De n beide n städtische n Gemeinde n Züric h un d Winterthu r wurde n nac h diese m Vor schlag 9 2 (Z ) bzw . 1 4 (W ) Sitz e zugeteilt , de r Landschaf t ebenfall s 106 . Abgedruck t in : Vogel , Memorabilia Tigurin a 1841 , S. 402 . 105 Abgedruck t in : Leuthy, S. 51-54. Sieh e zu r Verbreitung de r Flugschrift , di e in den Nach barkantonen Glaru s un d St . Galle n gedruck t un d »durc h Reite r i n di e fernere n un d durc h Fuss -

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der Kommissio n al s neuerlichen Versuc h de s Betrugs zurück. 1“6 Gleichzeitig verständigte ma n sich auf ein Vertretungsverhältnis von 2/3 zu 1/ 3 zugunsten der Landschaft und beschloss, am 22. November in Uster eine große Volksversammlung abzuhalten , au f der diese r Vorschlag förmlich abgesegne t werde n sollte. In den nächsten Tagen und Wochen musste es somit darum gehen, diese politische »Landsgemeinde « vorzubereiten . I m Vordergrun d stan d da s Pro blem, tatsächlich di e erhoffte Massenmobilisierun g z u erreichen. Aus diesem Grund wurde ein zweites fingiertes Bauerngespräch erarbeitet, das man zusammen mi t der Einladung nach Uste r i n mehreren tausen d Exemplaren verteil te.107 In dem Dialo g der beiden einfachen Landleut e »Jonathan un d David « legt e David di e gesamt e Problemati k de s Kommissionsentwurf s lehrhaf t dar , de r eine umgehende Verständigung unter den Landbürgern erfordere, damit ihnen nicht der bestehende Große Rat mit seinen Kommissionen zuvorkomm e un d man erneut »im Pflug« stehe, während die Städter die »Scheunen und Früchte« hätten.108 De r Ton des Pamphlet s war insgesam t drängender . Di e ländliche n Liberalen waren sich im klaren darüber, dass sie den Unmut in der Bevölkerung rasch ausnutzen mussten, bevor die Bewegung aufgrund attraktiverer Angebote des Großen Rats an Dynamik verlor. Gefahr drohte auch von den ländlichen Autoritätspersonen, die ihrer Herkunft oder ihrer Interessen wegen an die Stadt gebunden waren. Um ihren Einfluss au f die Landbevölkerung zu schwächen, warnte die Figu r des David deshalb vor den Ober- un d Unterbeamte n sowi e den stadtbürgerlichen Pfarrern, die »über Zürich das Evangelium«, welches die ländlichen heilige n Recht e stütz e un d weihe, vergäßen.,109 Wie i n dem erste n Bauerngespräch griffe n di e ländliche n Liberale n au f di e tradierte n Argu mentationsmuster des Göttlichen und Alten Rechtes zurück. Der Hinweis auf die historisc h verbürgt e Unterdrückungsgeschicht e de r Landschaf t sei t de m Wädcnswieler Hande l vo n 164 6 fehlt e ebens o weni g wi e de r rechtspositi vistische Verwei s au f di e 179 5 aufgefundene n Freiheitsdokument e un d di e städtische Hinterlist. Neu war der Vergleich mit anderen Kantonen. Hatte das erste Bauerngespräc h di e aktuelle n Missständ e de r ländliche n Bevölkerun g gänger i n die naher liegende n Gemeinde n verbreitet wurde « (S . 50f.), auch Braendli n Chronik , S. 217-221; FSW . 106 Folg e man dem Vorschlag, so stünden insgesamt 12.00 0 rechtlichen Bürgern (Gemeindebürgern) der beiden Städte ebenso viele Sitze zu wie der 200.000 Bürger zählenden Landschaft . Angesichts der historisch bewiesenen Servilität vieler Landräte wäre es der Stadt Zürich zudem ein leichtes, die Parität zu ihren Gunsten zu verändern und weiterhin ihre städtische Intecressenpolitik, vor allem im Bildungsbereich, zu betreiben. Siehe Leuthy, S. 53. 107 Jonathan und David, Landleute im Canton Zürich, reden über das, was jetzt noth ist und Alle wissen müssen. Allen Cantonsbürgern geweiht, welche ihre Zeit und ihre Pflichten kennen , abgedruckt in: Leuthy, S. 55-61. 108 Ebd. , S. 58f, S . 60. 109 Ebd. , S. 60.

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angesprochen, s o führt e di e Erwähnun g de r erfolgreiche n liberale n Volks bewegungen i m Thurgau und in St. Gallen der Leserschaft die möglichen Alternativen vor Augen. Schließlich enthielt der Dialog eine Anspielung auf das moderne Naturrecht, wenn Jonathan die Rechte der Landleute damit begründet: »Wir sind Menschen un d Bürger des Cantons, wie die Züricher«. l 1 0 Alle diese Legitimationsfiguren verdichtete n sic h aber förmlich i n dem Topos des »freien Schweizerbürgers«. 111 Damit war kein von der Masse abgehobener Heroe gemeint, sondern der gemeine Mann, wie er dem Leser in der Gestalt des Jonathan entgegentrat . I n ihm, de m biedere n Hausvate r gesetztere n Alters mi t Wei b un d Kindern , Hau s un d Gut , sollt e sic h de r einfach e Ge meindebürger der Landschaft wiedererkennen un d an seine politische Bürgerpflicht erinner t werden . De m Zerrbild de s zwar gebildeten, abe r dekadente n und eigennützigen Städters wurde Jonathan als glaubensfest, rechtschaffen un d brüderlich de m Gemeinwoh l zugeta n gegenübergestellt . I n diese n Charak terisierungen zeigt e sich, dass zentrale Werte sowohl dem politischen Tugend diskurs de r Aufklärun g al s auc h de n tradierte n Vorstellunge n gemeindebür gerlichen Korpsgeiste s gemeinsam waren. Ein ähnlicher Kunstgriff spiegelt sich in dem synonymen Gebrauch der »bürgerlichen Rechte « und der »Volksrechte«. Di e Gleichsetzung liberale r Grund und Menschenrechte mi t dem ausschließlich kollektivistisc h gebrauchten Idi om der Volksrechte eröffnete den Weg, das liberale Prinzip der Volkssouveränität und das Leitbild der genossenschaftlichen Urdemokrati e i n der Forderun g nach einer Versammlung des Volkes, des »Ursouverains«, zu synthetisieren. Als entscheidendes Bindeglied fungierte der Topos des »freien Schweizerbürgers« , der eine Brücke schlug von dem korporativ gesetzten alten Eidgenossen zu dem (ebenfalls korporati v gedachten ) liberale n Staatsbürger . Di e liberal e Oppo sitionsbewegung konnte so aus der Perspektive Jonathans wiederum zum traditionellen Befreiungskamp f werden : »Auc h da s Ausland sol l wissen , das s di e alten Schweizer nicht nur in der Geschichte seien, dass sie noch leben«.112 Dieser Befreiungskampf bezog sich aber nur auf das kantonale Gemeinwesen, »die kantonale Familie«. 113 Ein e unmittelba r nationalpolitisch e Stoßrichtun g ka m ihm nicht zu. Sein Protagonist, der freie Schweizer, hatte allerdings eine immanent national e Funktio n al s traditionelle Leitfigu r eidgenössische n Selbstver ständnisses, in dessen Mittelpunkt der egalitär-korporative Eidgenosse , der Jedermann, der Normalbürger, stand. 114 Am 19 . Novembe r trate n di e Vorbereitunge n i n di e entscheidend e letzt e 110 Ebd. , S . 56 . 111 Ebd . 112 Ebd. , S . 59 . 113 Ebd . 114 Sieh e zu r Interpretatio n de s Wilhel m Tel l al s Sinnbil d de s politische n Normalbürger s Mörke, Bataver , S . 13 1 f.

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Phase. Stäfa wurde erneut Mittelpunkt der Opposition. Auf Einladung von J. K. Pfenninger, Johanne s Braendli n un d Benjami n Ryffe l trafe n übe r hunder t Gemeindevcrtreter au s dem ganze n Kanto n i n de r »Krone « zusammen . Be sonders zahlreic h vertrete n waren di e Oberämter run d u m de n Se e Horgen , Uster, Meilen , abe r auc h di e Mittellandgebiet e Grüninge n un d Greifensee . Zweck de r Versammlung sollt e zu m eine n sein , ei n genaue s Stimmungsbil d der Bevölkerung auf der Landschaft z u ermitteln. Pfenninger forderte deshalb in seine r Ansprache di e Anwesenden auf , übe r das politische Klim a i n ihre n Gegenden zu berichten, bevor man »den Kampf der Väter von neuem« begänne. Nur so könnten die Bewohner der beiden Seeufer entscheiden, sich mit den übrigen Kanto n steilen »Han d i n Hand « zu erheben, oder - sic h mi t ihnen i n alles z u fügen , wa s ein e »aristokratisch e Bürgerschaft « noc h ferne r mi t de m Landvolk, als »besserer Freyheit unwürdig«, zu machen für gut befände.115 Zum zweiten wurde über die geplante Volksversammlung beraten. Da die Diskussion überaus kontrovers verlief- stat t einer Landsgemeind e wurde n auc h Vorschläge gemacht, gewählte Gemeindeabgeordnete ode r die Gemeinderäte mit einer Denkschrif t a n die Regierun g z u entsenden - , überantwortet e ma n di e Entscheidung einer gewählten Siebenerkommission, zu der auch der Chronist Johannes Braendli n gehörte . Schließlich beschäftigt e ma n sic h mi t de m For derungskatalog, der in Form eines weiteren fingierte n Lehrgespräch s der Versammlung vorgelesen wurde. Dieses Gespräch des »Dr. Freimann von Bürgerhain«1l6 mit einer Anzahl von Landleuten war in Wortwahl, Argumentation und Szenario eines der ausgcfeil testen Beispiele ländlich-liberaler Propaganda der Regenerationszeit. Es zeugte von dem Bewusstsein der ländlichen Liberalen um das Problem, die abstrakten politischen Forderungen der breiten Landbevölkerung zu vermitteln. Am Vorabend des Treffens von Stäfa trifft der Arzt Dr. Freimann bei einem Krankenbesuch auf mehrere Weber, Bauern, Professioniste n un d Krämer , die gerade die drei bereits verteilten liberalen Pamphlet e lesen. Ihnen gibt er sich als liberaler Gewährsmann z u erkennen , de r beauftrag t se i z u prüfen , o b dieses Ma l di e äußeren Ämte r de s Kanton s di e Seeleut e i n ihre m Kamp f unterstützten . Herrscht zunächst Gleichgültigkeit , änder t sich das, als Felix, ein aufgeklärte r Landmann, der Rund e beitritt. E r erklärt dem Arzt, dass vor allem di e unverständliche Sprach e de r liberale n Flugschriften , di e viele n Fremdwörte r un d französischen Ausdrücke , wie »Repräsentation«, »Privilegien« ode r »Conjunc tionen« u.a., bei vielen Landleutcn auf Unverständnis stoße: »so haben sie, weil sie es selbst nicht lesen können, keinen Glauben. Darum ist der gemeine Mann so misstrauisch, und um so mehr noch, weil kein Wort von dem, was diese und meines Gleichen eigentlich drückt, frisch herausgesag t wird.« 117 115 Braendli n Chronik , S . 231f.; FSW . 116 Abgedruck t in : Latthy , S . 66-75 . 117 Ebd. , S. 68 .

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Daraufhin erklärt de r Dokto r de n Anwesenden de n Zusammenhan g zwi schen eine r bessere n Repräsentatio n de r Landschaf t i m Große n Ra t un d der Erleichterung ihre r Beschwernisse . »Wi e ein Vater« , s o Freimann , wollte n e r und »andere Reichere oder Erfahrenere« sic h der Sorgen und Nöte des gemeinen Mannes annehmen. Aus diesem Grund habe er mit einigen Freunde n in Vorbereitung des Stäfner Treffens am folgenden Tag ein Beschwerdememoria l entworfen, da s er nun den Versammelten vortrage. Laut diesem Memorial wurd e grundsätzlich de m bestehenden Große n Rat das Rech t abgesprochen , ein e Verfassungsänderun g vorzunehmen . Ers t ei n Rat, de r nac h de m neue n Repräsentationsverhältni s vo n 2/ 3 zu 1/ 3 gewähl t worden war, sollte dazu befugt sein. Entsprechend sollten auch die andere Gremien, der Kleine Rat und das Obergericht, neu bestellt werden. Diesem neuen Großrat oblag es, sich umgehend mit den insgesamt siebzehn Bewerdepunkte n zu befassen, die nun erstmalig in dieser detaillierten For m in einer Flugschrif t auftauchten. Die erste n dre i Punkt e beschäftigte n sic h mi t de m Militär - un d Polizei wesen. De r Wehrdienst sollt e dezentralisiert un d verkürzt, di e obrigkeitlich e Polizei- und Ordnungsgewalt, da s sogenannte Landjägercorps , abgebaut werden. De r zweit e Bloc k vo n Forderunge n betra f Einzelheite n de s ländliche n Wirtschaftssystems. Kostspielig e Zuchtbestimmungen sowi e Jagd- und Fisch patente sollten aufgehoben, Binnenzöll e gelockert und der Zunftzwang abge schafft werden. Es folgten mehrere Bestimmungen, die den Staatsaufbau betrafen. Die Forderung nach der Gewaltentrennung auf allen Stufen wurde ergänzt durch eine Ausweitung des Wahlrechts auf der Bezirks- und Gemeindeebene . Amtsrichter sollte n danac h durc h Vorschlagsrech t mitbestimm t werden , die staatliche n Vollziehungsbeamte n i n de n Gemeinde n soga r durc h direkt e freie Wahlen . Di e Vereinfachun g de s Rechtswesen s durc h Aufhebun g de r Advokatenordnung sowi e di e Erleichterun g de s Zehntenloskauf s un d de s Grundzinses schlosse n sic h an . Darübe r hinau s wurden Verbesserunge n de s Schulwesens und die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen, die Pressefreiheit un d das Petitionsrecht eingeklagt . Der Katalog endete mit der Forderung nach einem Verfassungsreferendum , in dem die geänderte Verfassung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden müsse. An die Erfüllung diese r »billigen und gerechten Wünsche« knüpfte die Person des Dr. Freimann schließlich wiederum die Vision der genossenschaft lich-egalitären Schutz- und Trutzgemeinschaft, fü r deren Verteidigung Städter wie Landleute nach »alter freier Schweizersitte« bereitwillig ihr Leben gäben. 118 In einer Schlussabstimmung wurde dieses vierte Flugblatt von den in Stäf a Versammelten angenommen , un d i n eine r 6 7 Name n umfassende n Unter schriftenliste bestätigt , fü r die Kosten des Drucks und der Verbreitung aufzu 118 Ebd.,S . 74f .

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kommen. Darübe r hinau s billigten di e Unterzeichne r mi t ihre r Unterschrif t den Entscheid der Siebenerkommission fü r eine Volksversammlung. Noc h in derselben Nach t bildet e ma n ei n Organisationskomitee , de m di e Schluss redaktion de s Beschwerdekatalogs, der der Volksversammlung vorgelegt werden sollte , überantwortet wurde . Diese s sogenannt e Ustermemoria l 119 folgte im großen und ganzen dem Entwurf des Flugblattes, blieb aber insgesamt gemäßigter. Außerdem formulierte das Organisationskomitee eine Einladung, die in kürzester Zeit - wi e Braendlin berichtet e - zusamme n mi t dem »Gespräc h zwischen Jonathan und David« im ganzen Kanton verteilt war.120 Der gesamte Ablauf der Organisation der Volksbewegung zeugt von demokratischen Spiel regeln, wie ma n si e i m Verei n ode r i n de r politische n Gemeind e einstudier t hatte. Bevor der Ustertag selbst un d die weitere Entwicklun g dargestell t werden , soll die für die Vielschichtigkeit des ländlichen Liberalismus notwendige andere Seite - ihr e staatstheoretische - betrachtet werden. Wie sah das Staatsgebäude aus, i n das die »wiedergewonnenen Freiheite n un d Rechte« eingegossen wer den sollten ? I n der Selbstbeschreibun g de r ländlich-liberale n Bewegun g de s Johannes Braendlin war das moderne Naturrecht als Legitimationsgrund völlig zurückgetreten. Und auch in den untersuchten Flugschriften wurde die politische Gleichberechtigun g de r Landschaf t i n erste r Lini e göttlich , historisch , rechtspositivistiseh abgeleite t un d nich t au s de m individualistische n Natur rechtsdenken, wie e s das Stäfher Memoria l 3 6 Jahre zuvo r bereits fü r seine n Gesellschaftsentwurf verarbeitet hatte. Gleichwohl waren die Anleihen aus der Naturrechtstheorie unverkennbar, d. h. Repräsentativsystem, Gewaltenteilun g und Grundrechte als Säulen eines liberalen Verfassungsstaats. Wie fanden diese staatstheoretischen Vorstellunge n Eingan g i n die ländlich-liberal e Bewegun g und wie ließe n si e sich mi t den tradierte n gemeindlich-genossenschaftliche n Denkmustern vereinbaren, wo konnten sich Gemeinsamkeiten ergeben ? Zur Beantwortung dieser Fragen soll im folgenden der wohl einflussreichste The oretiker der deutschschweizerischen und besonders der Züricher Regeneration vorgestellt werden, der deutsche Emigrant Ludwig Snell. 32.3. Di e Verfassungsprogrammatik de s ländlichen Liberalismus: Der Architekt der »staatlichen Volksgemeinde « Ludwig Snell Snell, 178 5 im Herzogtu m Nassa u geboren , wuchs unte r de m Eindruc k der französischen Fremdherrschaf t auf und engagierte sich in dem lokalen Ableger 119 Da s Ustermcmorial . Ehrerbietig e Vorstellun g de r Landesversammlun g de s Kanton s Zürich, abgehalte n z u Uster , Montag s de n 22 . Novembe r 1830 , in : Dändliker , Ustertag , Beilage , S. 1-8 . 120 Braendli n Chronik , S . 250f.; FSW .

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der von Ernst Morit z Arndt 1814/1 5 initiierten »Deutsche n Gesellschaft « al s Präsident aktiv in der frühen bürgerlichen Nationalbewegung. 121 Daher teilte er den Ruf nach einem modernen Verfassungsstaat mit erweiterten Partizipationsrechten, wi e er sich mi t dem deutschen Nationalismu s verband . I m Unter schied jedoch z u der von der Mehrheit gewünschte n konstitutionelle n Mo narchie träumt e Snel l vo n der (demokratischen ) Republik . Währen d seine s Studiums hatte er sich sowohl mit den Klassikern der Antike als auch intensiv mit den politischen Schriften Rousseau s auseinandergesetzt, die seine republikanische Gesinnun g i n spezifische r Weis e formten . Nachweisba r wurd e ih r Einfluss bereit s während seine r Lehrtätigkei t a n den Gymnasien vo n Idstein und Wetzlar . Snel l führt e ei n Selbstverwaltungssyste m de r Klassenverbänd e ein, durch das der solidarische Gemeinschaftszusammenhang de r Schüler, ihr Gemeinsinn, geweck t werde n sollte . Hinte r diese m sittliche n Erziehungs konzept lie ß sic h Snell s politisch e un d national e Zielsetzun g ablesen : da s klassische Ideal eines politisch-sozialen Gemeinwesens, gegründet auf die Tugendhaftigkeit seine r Bürger, d. h. auf ihre Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten un d ihre Verpflichtung au f das Gemeinwohl. U m diese Vision einer tugendhaften Republi k umzusetzen, bedurfte es jedoch zunächst der Anleitung. In Snells pädagogischem Modellversuch hatte deshalb der Bessere dem schulisch Schwächeren zu helfen. Snell offenbarte sich damit als Anhänger der zeitgenössischen idealistisch-humanistische n Bildungsbewegung, 122 di e anders als die Rezeption der Rousseauschen Staatslehr e - typisc h für den frühen deutschen Nationalismu s war. In Abkehr von der utilitaristischen Staats pädagogik de s aufgeklärten Absolutismu s stan d hie r de r Gedank e vo n der Entfaltung de s Individuums zu r Selbständigkeit, zu r Selbsttätigkeit un d zur Selbstverantwortung i m Mittelpunkt . I n diesem Zusammenhan g ka m dem Gebildeten ein eigentlicher »Bildungsauftrag « zu ; seine Aufgabe musst e sein , dem Ungebildeten, dem Volk, aus seiner Unmündigkeit zum Gebrauch seiner Rechte zu verhelfen. Die Volksbildung, verstanden als breitenwirksame politi sche Bildung mit Hilfe des staatlichen Schulwesens, einer staatlich geförderten Lehrerausbildung un d der Förderung der Wissenschaften, bildet e folglich ei nen der wichtigsten Grundpfeiler der politischen Ordnungsentwürfe Snells . Das Spannungsverhältnis zwischen Gemeinsinn und Entfaltung der Individualität, römische m Republikanismu s un d Griechen-Mythos, 123 politische m 121 Sieh e z u Ludwig Snell : [Stiefel] , S. 14 , S. 21 f, sowi e Däruiliher, Ustertag , S . 48ff, un d den biographischen Überblic k i n Kölz, Verfassungsentwurf, S . 302f. 122 Sieh e daz u Vierhaus , S. 508-551, sowi e ζ. Β . Landfester, hie r bes . S. 212. 123 De r Tugenddiskurs bezo g sich auf die römisch-republikanische Traditio n de r Unterord nung unte r da s salus re i publicae, währen d de r deutsch e Philheltenismus , vo n Johann Joachi m Winckelmann begründet , die griechische Antike idealisierte und die römische Kultu r lediglic h al s schlechte Kopi e derselben bewertete . De r politische Hintergrun d fü r die Ablehnungeines repub likanisch ausgerichtete n Römermytho s la g natürlich i n dessen Rezeptio n i m Nachbarland Frank reich sei t de r Französische n Revolutio n begründet , da s im Zuge de r aufkommenden deutsche n

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Egalitarismus, wie er in Rousseaus Volkssouvcränität verankert war, und (wenn auch nur vorläufig) politische r und gesellschaftlicher Supremati e des Gebildeten sollte sich in den späteren Verfassungsentwürfen Snell s als eigentümliche Ambivalenz wiederfinden, i n ihrer Verbindung umrisse n si e aber gleichzeiti g die Originalität seines Denkens. Als Opfer de r Demagogenverfolgun g musst e Snel l Deutschlan d verlasse n und siedelte schließlich 1827 in die Schweiz über, wo sein Bruder Wilhelm den Basler Lehrstuhl für Rechtswissenschaft innehatte . Für die Entwicklung seiner politischen Ideen sollte die Emigration von entscheidender Bedeutung werden. In den Landsgemeindedemokratien de r Innerschweiz, die Snell ebenso intensiv studierte wie später auch die Autonomietradition de r Züricher Landschaft , schien sich für Snell der Gesellschaftsvertrag Rousseau s zu bewahrheiten. Für sein staatstheoretisches Denken hatte dies weitreichende Folgen: Nicht zuletzt aufgrund seine r Distanz als NichtSchweizer löste Snell die historisch gewach senen altdemokratischen Strukture n aus ihrem korporativen Zusammenhang , um si e mi t de r individualistische n Naturrechtslehr e i n eine m Verfassungs entwurf z u verbinden . Sei n politische s Leitbil d wurd e di e liberal e Reprä sentativdemokratie unter Einschluss direktdemokratischer Volksrechte, wie er sie in den Landsgemeindedemokratie n praktisc h erlebt un d aus der Souvcrä nitätslehre Rousseau s theoretisch adaptier t hatte. I n ihr schie n sic h Snel l da s klassische Ideal der republikanischen Bürgergemeinschaf t ne u zu begründen. Schon bald, nachdem er sich im Kanton Zürich niedergelassen hatte, begann Snell als politischer Journalist zu arbeiten; er schrieb für das radikalste Blatt der damaligen Schweiz , di e »Appenzelle r Zeitung« , wi e auc h fü r Nüscheler s »Schweizerischen Beobachter«. Überhaupt stand er zunächst in engem Kontakt mit der gemäßigt liberalen Bewegun g der Stadt Zürich. Gemeinsam kämpft e man fü r di e Lockerun g de r Pressezensur , di e 182 9 erfolgreich durchgesetz t werden konnte. Snell hatte daran maßgeblichen Anteil, denn seine Publikation zur »Beherzigung bei der Einführung der Pressfreiheit in der Schweiz«124 sorgte für großes Aufsehen. Diese Schrift wies Snell eindeutig als Anhänger des französischen Vernunftsrecht s aus . Die freie Gedankenäußerun g gehörte danac h für ih n z u de n angeborene n »Urrechten « de s Menschen . Dies e seie n kein e Geschenke des Staates, sondern umgekehrt erhalte der Staat erst in der Aufgabe, diese Rechte zu schützen, seine Existenzberechtigung. Neben ihrer Bedeutung als »persönliches, jedem Mensche n eigenes Recht« betonte Snell die Bedeutung der Pressefreiheit als eines der wichtigsten »politischen Bürgerrechte « in eine r »volksgemäße n Regierung« , sicher e si e doc h di e notwendig e aktiv e Nationalstaatsbewegung zu m »Erzfeind « stilisier t un d i n jeder nu r denkbare n Weis e al s negati v besetzter Widerpart herhalte n musste . 124 Ludwi g Snell , Beherzigun g be i de r Einführun g de r Preßfreihei t i n de r Schweiz , Züric h 1829, abgedruckt in : Leuthy, S . 18-23 .

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Teilnahme des einzelnen un d damit Freiheit und Gemeingeist des Ganzen.125 Entsprechend negativ beurteilte er die bestehende »starre Sonderung von Volk und Regierung«, verursacht durch deren »Geheimes Regiment«. Sollte deshalb die Pressefreihei t nich t vo n vornherei n di e »Todesfarb e de r Auszehrung i m Antlitz tragen«, 126 müssten di e Verhandlungen de r Gerichte un d der Räte öf fentlich gemacht werden. Die Pressefreiheit war also nur die Vorhut, die eigentliche Stoßrichtung zielte auf das Prinzip der Öffentlichkeit . Das Recht auf freie Gedankenäußerung durch Reden, Schreiben oder Drucken al s Garantie n eine r politisc h fungierende n Öffentlichkeit , i n de r da s räsonnicrende Publikum als Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten teil nahm -was Snell hier formulierte, galt als klassisches Organisationsprinzip des liberalen Rechtsstaates . Wie konnt e sic h abe r eine »Anschlussfähigkeit « zwi schen der vernunftrechtlichen Theori e des politischen Liberalismu s einerseits und de n tradierte n Vorstellunge n bzw . der Praxi s eine r kommunale n Auto nomiekultur andererseit s ergeben? 127 Tatsächlic h wa r de m Schweize r Kom munalismus wede r di e Vorstellun g noc h di e Praxi s eine r politisierende n Öffentlichkeit gänzlic h fremd . S o dient e etw a da s öffentlich e Verlese n de r Gemeindelade be i der jährlichen Hauptgemeind e sei t altersher zur Kontroll e der Gemeindeoberen durch die Bürgergemeinde und konstituierte gleichzeitig förmlich di e Gemeind e al s genossenschaftliche n Schwurverband. 128 Über haupt waren de r politischen Kultu r der gemeindlichen Selbstverwaltung , de r »kommunalen Öffentlichkeit«, 129 Ansätz e eine s kritische n Räsonnement s ei gen. Di e Gemeindeversammlung bildet e das Forum, Interessenkonflikt e de r dörflichen Gemeinschaf t öffentlic h auszutragen . Angesichts der Autonomietradition de r Gemeinde n is t die Bedeutun g de r kommunale n Öffentlichkei t für die Schweiz (nich t nur in den Landsgemeindedemokratien) außerordent lich hoch einzuschätzen. 130 125 Ebd. , S. 20. 126 Ebd. , S. 21 , S . 23. 127 Wichti g erscheint, an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Komnuinal ismus eben nicht nur als ein Protestpnnzip verstanden wird, sondern umfassender als Autonomiekultur. Insofern zeigen sich solche Affinitäten ebe n nicht nur während akuter Protestbewegungen, wenn auc h dort besonders konturiert. 128 Di e Hauptgemeinde , die mi t de r rituelle n Erneuerun g des Bürgereid s die Geschäfte de r Gemeindeoberen sanktionierte , wurde entsprechen d oftmal s Artikulationsforu m gemeindebür gerlichen Protests , der sic h vo r alle m i n de r Eidverweigerun g manifestierte . Sieh e daz u Würgler , Modernisierungspotential, S. 204f. 129 Erns t Manhei m ha t diese n Begrif f anhan d de r Stadtgemeind e entwickelt , e r gil t abe r grundsätzlich auc h fü r di e Dorfgemeinde . Manheim , S . 71 : »Au s de r erfolgreiche n Eidverbrü derung de r Stadtbürgerschaf t geh t di e Stadtautonomi e un d di e selbstgesatzte , paktiert e Stadt verfassung hervor . Auf ihr beruht die kommunale Öffentlichkeit« . 130 Wi e zentral das öffentliche Verlesen als Bestandteil der politischen Kultur der kommuna len Öffentlichkeit war , zeigte sich gerade in den Momenten, wo es um außergemeindliche Herr schaftskonflikte ging . Hier diente der öffentliche Vortrag der Gemeindedokumente dazu, den Pro test zu legitimieren und die gemeindlich-genossenschaftliche Schwurgemeinschaft, d. h. »Gut und

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Die groß e Bedeutun g de s Öffentlichkeitsprinzi p spiegelt e sic h zude m i n dem Widerstand der Gemeinden gegen die obrigkeitliche Geheimpoliti k wider , die z u den zentrale n Impulse n ländliche r un d städtische r Protestbewegunge n zählte.131 Gegen die sogenannte Arkanpolitik der Regierenden, di e sich seit dem 17. Jahrhundert auc h institutionel l i n de r Entstehun g vo n Geheime n Räte n niederschlug, setzt e die Gemeindebürgerschaft da s Prinzip der Öffentlichkeit , indem di e Offenlegung de r Freiheitsbrief e ode r andere r Fundamentalgesetz e sowie oftmal s de r obrigkeitlichen Rechnungsbericht e geforder t wurde. 132 O b als Druckschrift, handschriftlich e Kopi e oder über das periodische Verlese n i n den Gemeindezusammenkünften , i n allen Fälle n gin g es um die Herstellun g von Öffentlichkeit , di e de n Protes t legitimiert e un d Kontroll e ermöglichte . Prominente Beispiel e ware n di e Züriche r Zunftunruhe n vo n 171 3 ode r di e Forderung de r Basler Zünfte 1691 , »alle Ordnungen .. . zu jedermanns Nach richt in Truckh zu befürdern«, d . h. die Wahlverfassung, di e Gerichtsordnung , das Stadt- und Polizeirecht, die Bürgereidformel un d die bürgerlichen Freihei ten.133 Dass die Publikationsforderung kei n rein städtisches Phänomen darstell te, bewiesen die Toggenburger Unruhe n 171 2 , als die Bauern das herrschaftli che Archi v aufbrache n un d de n aufgefundene n Landrechtsvertra g drucke n Blut« fü r di e Gemeind e einzusetzen , z u erneuern . Di e Verlesun g de r aufgefundene n Freiheits briefe während de s Stäfner Handel s 179 5 führte i n diesem Sinn e ein e Tradition fort . 131 Rudol f Braun ha t als erster am Beispie l de r städtischen Zunftunruhe n de s Ancien r égime darauf hingewiesen, da s Phänomen eine r politischen Öffentlichkei t jenseits de r herkömmliche n Sicht eine r schrittweise n Politisierun g de r Sozietäte n auc h au s de n vorausgegangene n Protest bewegungen abzuleiten: »Es ist symptomatisch, dass die Obrigkeit daran interessiert ist, den Nicht regierenden di e Einsicht in die Verfassungs- und Verordnungsgrundlagen sowi e i n die Gerichts- , Verwaltungs- und Regierungstätigkei t nac h Möglichkei t z u verweigern , währen d umgekehr t di e Opposition .. . au f vermehrte Öffentlichkei t pocht . Auc h wen n die s nu r Nebenwirkunge n un d Nebenprodukte der Konflikte sind (was keineswegs überall der Fall ist), müssen si e gleichwohl al s Ansätze und Teil dessen bewertet werden, was man als die Entwicklung eines öffentlichen Räson nement* bezeichnet hat« , Braun, Das ausgehende Ancie n Regime , S . 258. 132 Sieh e Würger, Unruhen und Öffentlichkeit, Kap . 5.3.2. Ideell e Kontinuitäten, S. 318-328, hier bes. S. 319f. Z u den medialen Mitteln , die der Artikulation de s »öffentlichen Räsonncments « dienten, gehörte zum einen die wachsende Zahl an Druckschriften, di e seit der zweiten Hälft e de s 17. Jahrhunderts die politischen Auseinandersetzungen begleiteten . Auch das Medium de r Press e nahm sic h frü h de r Protestbewegungen a n und wurde so als Forum genutzt, u m politische Diffe renzen öffentlich auszutragen. Dies geschah seltener in direkter Auseinandersetzung mi t dem eigenen Staatswese n als vielmehr übe r die Reflexio n ausländische r ode r innereidgenössische r Oppo sitionsbewegungen. Diese literaten Formen sollten jedoeh nicht vorschnell zu dem Schluss führen , die Ausbildung politischer Öffentlichkeit se i -ähnlich den Ergebnissen der Sozietätenforschung sozial eingeschränkt gewesen . Eine ebenso große Roll e spielte die mündlich e Vermittlung politi scher Auseinandersetzung, übe r die breitere sozial e Schichten erreich t wurden. Wirtshäuser ode r aber die »Gemeindestuben«, i n denen ein lesekundige s Gemeindemitglied - oftmal s de r Pfarre r den Versammelte n politisch e Neuigkeite n vorlas , galte n vo n jeher al s Kommunikationszentre n auch dörfliche r Gebiete . Sieh e zu r Bedeutun g de r Gemeindestube n i m öffentliche n Lebe n de s Dorfes Cordes, S. 116ff ; z u der der Wirtshäuser Hürlimann, S . 237ff . 133 Zitier t nach : Würgler , Modernisierungspotential, S . 202.

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ließen, »auf dass jeder Ehrliche r Landman n selbsten lesen und wüssen möge, was eyentlic h de r Inhal t de r Toggcnburggerische n Landt-Rechts-Brief e seye.«134 Die Publikationsforderung wurde demzufolge eingesetzt, um konkrete Forderungen rechtspositivistiseh zu legitimieren und um darüber hinaus ein Kontrollrecht der Rcgierungsgeschäfte, insbesondere im Bereich der Finanzen, zu etablieren. Nicht di e Pressefreihei t al s Grundrecht , woh l abe r di e dahinte r stehend e Vorstellung eine r politische n Öffentlichkeit , di e sic h gege n di e Herrschafts praxis der geheimen Staatsverwaltun g richtete , bildete demnach ein wichtiges Scharnier zwischen den Positionen des politischen Liberalismus und den überkommenen Vorstellungen kommunalistische r Autonomie. 135 Snells programmatischer Vorsto ß stan d somi t nich t i n de r Gefahr , al s abstrakte , politisch philosophische Doktri n nu r eine m kleine n Krei s von Gesinnungsgenosse n verständlich z u sein . Di e kurze Phas e der Helvetische n Republi k von 1798— 1802 und di e Mediatio n vo n 1803-1813 , während de r man di e Wirkung de r Pressefreiheit bereit s erfahren hatte , möge n wichti g gewese n sein , entschei dend war jedoch, dass sich liberale Grundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit a n zentral e Deutungs - un d Handlungsmuste r eine s tradierte n Au tonomieverständnisses anschlosse n un d vo r diese m Hintergrun d auc h de m einfachen Man n nachvollziehba r waren. Im Kampf um die Pressefreihei t hatt e sich Snel l noc h in Einklang mit den gemäßigten Stadtliberale n u m Nüschele r wi e auc h de n Jungen Juristen u m Keller befunden. Je stärker allerdings die liberalen Bewegungen in den Kantonen Aargau, Thurgau, Luzcrn und Basel während des Jahres 1830 wurden, um so deutlicher zeigte n sich grundsätzliche Differenzen . Ker n dieser Divergen zen war Snells Auffassung, jedwede Umgestaltung des Staatswesens müsse getragen sei n vo n de n Prinzipie n de r Rechtsgleichhei t un d Volkssouveränität . Dem akute n Bildungsdefizi t de r Landbevölkerun g al s Paramete r politische r Reife wollte er zwar Tribut zollen, indem er statt des Proporzprinzips eine 2/3Vertretung der Landschaft im Großen Rat vorschlug, doch war diese Regelung nur als »Übergangsschöpfung« gedacht . Die Reform des Schulwesens und eine schrittweise Erweiterun g de r Partizipationsrecht e übe r eine n Zeitrau m vo n dreißig Jahren - wi e später auch ähnlich verfassungsrechtlich veranker t - soll 134 Ebd . 135 U m diese öffentliche Sphär e herzustellen, forderte ma n die Publikation der Rechtsnormen und führte i n der politischen Praxi s die »Federkriege« der Pamphlete und Presse. Auch die teilweise institutionalisierte mündliche Weitergabe politischer Informationen und -als eigentliche Basis offentlicher Auseinandersetzung-die kommunale VersammlungsöfTentlichkeit diente n diesem Zweck. Als weitere Konstitutiven von politischer Öffentlichkeit verweist auf bildliche Medien und aktionale Artikulationsformen Würglvr , Politische Öffentlichkeit. S. 34-39, sowie ders., Unruhen und Öffentlichkeit. Kap . 3.2.3. Formen des politischen Protests: Eidverweigerungund symbolische Aktion, S. 169-184 .

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ten die Voraussetzung schaffen, um zu einer »gebildeten Volksherrschaft« über zugehen.136 Dari n sahe n beid e Fraktione n de r Stadtliberale n di e Inthronisie rung einer »Pöbelherrsehaft«, eines »Bauernregiments«, dem die jahrhundertealte städtisch e Kultu r un d de r Wohlstan d geopfer t würden . Grundsätzlic h traten sie für eine fortdauernde Wahrung der städtischen Vormacht im Großen Rat ein. Die Erhöhung der ländlichen Vertreter könne nur den Zweck verfolgen - s o David Ulrich, Mitstreiter Kellers und Verehrer Snells -, den Liberalen der Stadt als Stütze für ihre Reformideen z u dienen. Eine eigenständige ländli che Reformpoliti k ode r gar ein theoretische s Verständnis fü r die Bedürfniss e eines Staatsorganismus sprach er dem Volk ab.137 Nicht zuletz t dies e Äußerun g Ulrich s führt e dazu , das s sic h Snel l i n de r Folge entschieden der Sache der ländlich-liberalen Bewegun g zuwandte. Dass alle bisher erschienenen Flugschriften Ansätze organischer Verfassungsgrundsätze vermissen ließen , schien Ulrich s Urteil z u bestätigen. Es müsse deshalb darum gehen, so Snells Überlegungen, dass die Landbürger »mit dem aufrich tigen Programm der wesentlichen Grundbedingungen eines gebildeten republikanischen Staatsorganismus « da s Vertrauen de r Fraktio n de r Stadtliberale n um Kelle r gewännen. 138 Anders ließe sich keine die Kluf t zwische n Stad t und Land überbrückende Reformallian z der liberalen Kräft e entwickeln . Es ist unzweifelhaft Snell s Verdienst, dass die ländlich-liberale Bewegung zu diesem Zeitpunkt eine qualitativ neue Form und Richtung bekam, indem er die Notwendigkeit erkannte , über die bis dato singuläre Forderung einer verbesserten Repräsentation der Landschaft hinaus ein umfassendes konstitutionelle s Ordnungsprogramm zu entwerfen. Offenkundig hatte n auch die Vertreter der ländlichen Liberalen dieses Manko verspürt, denn bei einem Besuch Snells am Zürichsee im Oktober 1830 begrüßte ihn sein Freund Dr. Sträuli aus Küsnacht mit den Worten: »Nun, liebe r Alter, hat Dich der Himme l gerad e z u rechte r Zeit hierher geführt; diese Forderungen musst Du uns formuliren; das verstehen wir, Seebuben , nicht.« 139 Trotz der Gefahr, di e ih m als Ausländer drohte , insbesondere seitdem Nüschele r ihn als ausländischen Agent provocateur öf fentlich diffamierte, entwar f Snell unte r Mithilfe von Sträuli, Brunner , Land schreiber Bleuler und anderen in zwei Tagen ein Verfassungsprogramm, das als »Memorial vo n Küsnacht « zunächs t i n mehrere n Abschrifte n sofor t verteil t sowie später unter dem Titel »Ansichten und Vorschläge in Betreff der Verfassung und ihre r Veränderung « gedruck t wurde . Diese s Memoria l fan d durc h 136 [Stiefel|,S . 56. 137 Ebd.,S . 55f. 138 Ebd. , S. 61. 139 Zitier t nach : ebd., S. 60. Diese Wiedergabe wir d indirek t gestütz t durc h eine Äußerun g Nüschelers auf der Zunft zur Saffran. wo er mit Besorgnis feststellte, dass »die Radicalen leider nun doch ihren Organisationsimann gefunden haben; denn er habe Snell getroffen, der nach Küsnacht gegangen«, zitiert nach: H. Frey. Der Ustcrtag (II).

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Sträuli und Brunner Eingang in die Vorberatungen der ländlichen Liberalen in Meilen un d Stäfa un d diente als Vorlage für das auf der Volksversammlung i n Uster a m 22 . Novembe r sanktioniert e »Ustermemorial« . Auc h nac h seine r Flucht von Zürich nac h Basel ließ Snells politisches Engagement für die ländliche Bewegun g i n Züric h nich t nach . Auf sein Anrate n hi n wurde au f dem Ustertag die Gründung eines eigenen Publikationsorgan s beschlossen, dessen erste Numme r noc h i n der gleichen Woch e erschien . Mi t de m »Schweizeri schen Republikaner « fan d Snel l nebe n de r »Appenzeller Zeitung « ei n ideale s Forum, um seine Vorstellungen einer volksnahen Verfassungsreform übe r die Grenzen Zürich s hinau s z u verbreiten . Demzufolg e sa h e r di e Wah l eine s neuen, von den herrschenden stadtbürgerliche n Majoritäte n gereinigte n Ver fassungsrates durch das Volk vor, ein amtliches Petitionsverfahren, mi t dem die Bevölkerung ihr e Reformwünsch e kundtu n konnte , sowie die abschließend e Volksabstimmung über den neuen Verfassungsentwurf 140 Dieses Regenerationsverfahren übt e einen enormen Einflus s au f die liberalen Reformbewegunge n de r Schwei z aus . Allein di e Forderun g nac h eine m Verfassungsrat wurde, wie Snells Biograph Heinric h Stiefe l festhielt , zu m Losungswort alle r populäre n Schriften , alle r demokratische n Zeitungen , alle r Volkspetitionen in allen Teile der Schweiz, in denen seitdem eine Staatsrefor m angestrebt wurde. 141 Noc h vor Ablauf des Jahres 183 0 fand diese r Revisions modus Eingan g i n die erfolgreiche n Regenerationsbewegunge n de r Kanton e Zürich, Luzern, Thurgau, St. Gallen, Aargau, Solothurn, Freiburg, Waadt und Bern. Nicht minder erfolgreich war Snells eigentliches Verfassungsprogramm, das al s Beilag e de s »Schweizerischen Republikaners « i m Januar 183 1 a n all e Abonnenten de r Zeitung versandt wurde und damit rasch e Verbreitung fand . Auch hier lieferten di e ländlichen Liberale n vom Zürichsee den entscheiden den Anstoß , als sie Snel l mi t Blic k au f die bevorstehende n konstitutionelle n Arbeiten der Verfassungskommission u m die Ausarbeitung eines Verfassungstextes baten . Snell s »Entwur f eine r Verfassun g nac h de m reine n un d ächte n Repräsentativsystem, da s keine Vorrechte noc h Exemptionen kennt , sonder n auf der Demokrati e beruht« 142 ist als sein »politisches Glaubensbekenntnis« 143 tituliert worden. Angefüllt mi t ausführlichen Kommentare n z u den einzelnen Paragraphen gewährt die Schrift weitgehende Einblicke in das politische Denken Snells. In ihrer Vorbildfunktion nich t nur für die Züricher Kantonsverfas 140 Ansichte n und Vorschläge, S. 5. 141 Snel l hatt e diese n Vorschla g bereit s i m September/Oktobe r 183 0 in eine m Artike l de r »Appenzeller Zeitung« unter dem Titel »Reflexionen übe r die Verhandlungen in Lenzburg« dargelegt. Anlass war de r (erfolglose ) Versuc h de r liberale n Bewegun g des Aargau gewesen , i n eine r Petition an den Kleinen Rat eine gesetzliche Regelung der Verfassungsrevision durchzusetzen . So bei [Stifel], S . 57f. 142 Snell , Entwurf 143 [Stiefel],S . 66.

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sung von 1831 , sondern auch für die übrigen elf Regenerationsverfassungen 144 liefert sie darüber hinaus ein elementares Segment des politischen Liberalismus vornehmlich der Deutschschweiz. 145 Zwischen »Selbstgesetzgebung « un d »übertragener Demokratie« : Snell s Verfassungs entwurf einer »staatlichen Volksgemeinde«. Die Chronik Braendlins visierte den liberalen Verfassungsstaat als zeitgemäße Transformation der genossenschaftliche n Schwurgemeinschaft an , ohn e dami t ei n umfassende s staatsrechtliche s Pro gramm zu verbinden. Braendlin ging es vielmehr darum, diese Transformation zu legitimieren, inde m man sich in die Kontinuität der überkommenen Autonomietradition stellte . E s blieb dagege n Snell s Verdienst , ei n verfassungs rechtliches Konzep t formulier t z u haben , wi e diese r projektiert e liberal e Verfassungsstaat auszugestalte n war . Es soll hier nicht darum gehen, den Entwurf in Gänze darzulegen, sondern seine Eckpfeiler gezielt unter der Fragestellung zu untersuchen, wie sich der Ordnungsentwurf einer egalitären Staatsbürgergesellschaft mi t jener überkommene n genossenschaftlich-korporative n Autonomiekultur verbinden ließ, sowohl ideell als auch am konkreten Gegenstand. Entscheidend war - s o die These - Snell s Rezeption des Rousseauschen Gesellschaftsvertrages, de r i n seh r weitgehende m Maß e mi t zentrale n Deu tungs- und Handlungsmustern der tradierten Autonomiekultur vereinbar war. Vor diesem Hintergrun d gewinn t Braendlin s Grundargumentation , das s die ländlich-liberale Bewegung auf die Wahrung überkommener Rechte und Freiheiten in aktualisierter Form zielte, eine weitergehende konkrete Ausgestaltung, Snell selbst knüpfte in der Präambel des Entwurfs an die historisierende Argumentation an, indem er an die »fast 400 Jahre« währende aristokratische Bedrohung der »persönlichen und politischen Rechte aller Bürger« erinnerte. Im Unterschied zu Braendlin leitet e er die Rechte jedoch nich t altrechtlich-gött lich, sondern naturrechtlich au s der Menschenwürde ab. Diese Rechte in Zukunft z u schützen, sei Zweck der Verfassung, z u der »sich alle freien Männe r des Kanton s Züric h vereinigen«. 146 Inde m Snel l hie r da s Grundmuste r de s Gesellschaftsvertrages adaptierte, übernahm er gleichzeitig das dem Prinzip der radikaldemokratischen Volkssouveränitä t zugrund e liegend e Verhältni s vo n Freiheit un d Gleichheit . Danac h fäll t e s in einem politische n Gemeinwesen , das zur Sicherung der Freiheit des einzelnen aus dem freiwilligen Zusammen schluss freie r Mensche n entsteht , de r Gemeinschaf t de r Bürge r zu , fü r di e Garantie der bürgerlichen Freiheit zu sorgen, da sie selbst den Staat konstituie144 E s waren die s i n zeitliche r Reihenfolg e di e Kanton e Tessin, Zürich , Bern , Luzern , Frei burir, Solothurn, Schaffhausen, St . Gallen, Aareau, Thurgau, Waadt un d Baselland . 145 Alfre d Köl z hat auf das Phänomen der »unité de doctrine«, zum Teil bis hin zu wörtlichen Übernahmen, i n de n Regenerationsverfassunge n hingewiese n un d vo r alle m fü r di e deutsch e Schweiz den Einflus s Ludwi g Snells hervorgehoben, vgl. Kölz, Verfassungsentwurf, S . 299-322. 146 Snell, Entwurf , S . 1 .

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ren. Diese Aufgabe ist nur über die gleichberechtigte politische Teilnahme aller am Gemeinwesen zu lösen, da sonst infolge der selbstsüchtigen Leidenschafte n der menschlichen Natu r die Aristokratie herrscht, in der die bürgerliche Freiheit des einzelnen den Interessen weniger Bevorrechteter zwangsläufig geopfert wird. 147 Folglich unterschie d Snel l zwische n de n bürgerliche n al s den natürliche n (Freiheits-)Rechten einerseit s (§2) und den politischen (Gleichheits-)Rechte n als deren Garantie andererseits (§3). Erstere umfassten die »Sicherheit der persönlichen Freiheit, des Eigenthums, der Ehre und der freien Entwicklung aller menschlichen Kräft e .. . un d de s Widerstandes gege n Unterdrückung« . Snel l lehnte sich hier an die Vorbilder der französischen Erklärun g der Menschen und Bürgerrecht e (Art . II)14* von 178 9 und der amerikanischen Bil l of Rights von 179 1 an . Zwei Punkt e truge n jedoch stärke r de n Charakte r vo n Sozial rechten, die bereits im Stäfner Memoria l auftauchten. Dort hatte der Hinweis auf die »Ehre « di e sozial e Öffnun g de s militärischen Führungsapparat s um schrieben und der auf die »freie Entfaltung der Kräfte« das städtische Bildungsmonopol attackiert . Zu r nähere n Umschreibun g folgt e be i Snel l unte r de m Titel »Bürgerliche Freiheit« ein Katalog von Grundrechten, der neben Bestimmungen zur Rechtssicherheit das Prinzip der Rechtsgleichheit sowi e die Mei nungs-, Presse- , Versammlungs- und Kultusfreiheit umfasste . De n Abschluss bildeten wirtschaftlich e Individualrechte , s o das Recht auf Unverletzlichkei t des Eigentum s un d ein e Umschreibun g de r Handels - und Gewerbefreiheit , wonach jedem Bürge r - mi t expliziter Wendung gegen den Zunftzwang - au f gleiche Weise der Zugang zu jedem Erwerb und Beruf offenstehe. Snell durchbrach den Kanon der Grundrechte überraschend mit seiner letzten Forderun g nach Aufhebung der Binnenzölle . Die Freiheit des einzelnen durch, aber auch vordern Staat zu schützen, gal t die anschließende Auflistung der »Politische[n ] Rechte der Bürger«. Snell löste hier ganz i m Sinne Rousseau s das Grundproblem de s rationalistischen Kon traktualismus durc h di e radikaldemokratisch e Wende , de n Schut z de s ein zelnen gegen jede For m der Staatswillkür durch seine gleichberechtigte Teil nahme am Gemeinwesen z u sichern. Entsprechend verwarf der erste Artikel ausdrücklich »all e Privilegie n de r Geburt , de s Standes , ode r de r Familien « ebenso wie der Glaubenzugehörigkeit.150 Jedem Bürger sollte das Recht zustehen, an der »Bildung und Erhaltung des Staates« mitzuwirken, darin, so Snell, bestünden sein e politische n Rechte . Di e Mitwirkun g a m Gemeinwese n 147 Vgl . Handbuch Politischer Theorien, S. 108-117. 148 »De r Zweck jedes politischen Zusammenschlusses ist die Bewahrung der natürlichen und unverlierbaren Menschenrechte . Dies e Recht e sin d Freiheit , Eigentum , Sicherhei t un d Widerstand gegen Bedrückung«, zitier t nach: Markov u.a., S. 66-69. 149 Roussea u hatt e dies zu der Unterscheidung zweie r Arten von Freiheit geführt: de r vorstaatlichen des natürlichen Mensche n und der des politisch mündigen Bürgers. 150 Snell , Entwurf, Erster Theil, §3 Politische Rechte der Bürger, hier §3a), S. 4.

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beschränkte sic h keinesweg s au f di e politisch e Partizipation . Leitbil d wa r vielmehr da s klassisch e Idea l de r politische n Bürgerrepublik , wi e e s auc h Rousseaus Contrat socia l zugrund e lag , wonach Staa t un d Gemeinschaf t de r Bürger zusammenfielen. Es kann daher nicht verwundern, dass Snell unter den politischen Rechte n ein e ganz e Reih e klassisch-republikanische r Topo i vo n Rechten und Pflichten des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft subsumier te. De r obligatorisch e Wehrdiens t un d di e allgemein e Steuerpflich t galte n danach ebenso als politische Rechte wie das Recht auf politische Repräsentation und die Amterfreiheit. 151 Auf der Grundlage des demokratischen Gleichheitsgrundsatze s drang Snell zur Begründun g de r Volkssouveränität (§4 ) vor, die e r synony m zu r »Volksfreiheit« gebrauchte. Das Sinnbild eines freien Volkes, das seinen Willen direkt umsetze, war fü r Snel l di e Landsgemeindedemokratie , i n der die Bürge r di e Staatsgewalten unmittelbar ausübten. Wie Rousseau lehnte er jedoch die reine Demokratie in der Praxis ab und bekannte sich zum Prinzi p der Gewaltenteilung, die er auf allen drei Verwaltungsstufen de s Kantons, der Kreise und der Gemeinden verwirklich t sehe n wollte. 132 Di e Trennung de r Gewalte n folgt e jedoch nich t de r Lehr e Montesquieus , sonder n legt e di e Supremati e au f die Legislative, de n Große n Rat , i n de m sic h de r Volkswill e ausdrücke n sollte . Rousseau hatte diesen Gedanken zur Begründung des als normativ begriffene n republikanischen Verfassungsstaat s verdichtet : »Tou t Gouvernement legitim e est républicain«153 ho b darauf ab, dass jeder Staat , unabhängi g von seiner Re gierungsform, legiti m sei , wenn e r durch Gesetz e als Ausdruck de s Gemeinwillens regier t werde. Voraussetzung se i allerdings , s o Rousseau i m Contra t social, das direkte Bürgervotum, 154 damit sich der Volkswille ungetrübt niederschlagen könne.155 In Snells Rezeption zeigte sich nun eine eigentümliche Ambivalenz. Grundsätzlich wa r auc h fü r ih n di e »Selbstgesetzgebung« 156 da s leitend e Prinzi p de r 151 Ebd. , Erster Theil, §3,§3d (Grundsat z gleicher Besteuerung) un d §3e (Kriegsdienst), S. 4f . 152 Ebd. , II. Spezieller Theil, Kap . II. Oe ffentliche Gewalten , S . 18ff . 153 Rousseau , Gesellschaftsvertrag II, Kap. 6, S . 41. 154 »Di e Souveränitä t kan n au s de m gleiche n Grund , au s de m si e nich t veräußer t werde n kann, auch nich t vertreten werden ; si e besteht wesentlic h i m Gemeinwillen , un d de r Wille kan n nicht vertreten werden. Er ist derselbe oder ein anderer; ein Mittelding gibt es nicht ...Jedes Gesetz, das das Volk nich t selbs t beschlosse n hat , is t nichtig; e s ist überhaup t kei n Gesetz . Da s englisch e Volk glaubt fre i z u sein, es täuscht sich gewaltig, e s ist nur fre i währen d de r Wahl de r Parlaments mitglieder; sobal d diese gewählt sind , is t es Sklave, is t es nichts .. . von dem Augenblic k an, wo ei n Volk sich Vertreter gibt , is t es nicht meh r frei ; e s ist nicht mehr « Ebd . III, Kap. 15 , S. 103 , S. 105 . 155 Au s diesem Grun d komm t Roussea u z u de m bekannte n Schluss , e r »seh e nicht , das s e s dem Souverä n i n Zukunft möglic h sei n wird , sein e Recht e auch weiterhi n unte r un s auszuüben , wenn die Polis nicht sehr klein ist«, ebd. III, Kap. 15, S. 105 , siehe in diesem Zusammenhang sein e Hinweise au f die Schwei z ebd. IV, Kap. 1 , S. 112 . 156 Snell , Entwurf , Erste r Theil , § 4 Uebe r Souverainetä t un d Verfassung , §4b) : »Freihei t de s Volkes (oder Volkssouveränität) un d Selbstgesetzgebung sind gleichbedeutend .. . denn sowi e der ein -

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Volkssouveränität. »Da s Gesetz« , s o lautet e de r letzt e Punk t de s politische n Rechtekatalogs, »ist der Ausdruck der Gesammtheit aller Bürger oder des allgemeinen Willens«. Analog forderte er für die Annahme der Verfassung al s den »ersten Hauptakt der Selbstgesetzgebung« ausdrücklich die Sanktion durch den Willen des Volkes in Landsgemeinden und Urversammlungen, dies galt ebenso bei jeder Verfassungsänderung. 157 Danac h gin g Snel l jedoch vo m direkte n Bürgervotum ab : Für die später folgenden Gesetz e sei der Gemeinwille auc h vertretungsweise durch die Volksrepräsentanten auszudrücken . Die Motive fü r Snell s Einschränkung au f das Repräsentativsystem werde n weniger durch die theoretischen Zirkelschlüss e des Verfassungsentwurfes of fenbar als vielmehr durch eine Artikelserie im »Schweizerischen Republikaner« vom Dezember 1830. 158 Trotz seiner unverhohlenen Bewunderung für die direkte Demokratie als unverfälschter Regierung des Volkswillens und damit des Volksinteresses überwoge n i n der Praxi s für Snel l di e Nachteile. Di e permanente Selbstgesetzgebung in Landsgemeinden werde nicht nur Arbeit und Industrie schaden , sonder n durc h »Leidenschaft « un d »Irrthum « stat t ruhige r Überlegung gekennzeichne t sein . Dies e Umschreibun g beschwo r dieselb e Gefahr wi e di e vo n Roussea u getroffen e Feststellung , das s der Gemeinwill e aufgrund von Sonderinteressen fehlgehen könne. »Leidenschaft« im Sinne ungezügelten Eigeninteresses , Habgie r un d Ehrgeize s bedroh e di e bürgerlich e Tugendhaftigkeit de s Volkes, das zwar das Gute wolle, es aber aufgrund seine s Bildungsstandes nicht immer zu erkennen vermöge.159 Rousseau zog daraus den Schluss, jede Parteiung als Teilgesellschaft z u verbieten und die Figur des »Gesetzesautors«, eines übernatürlich weisen Mannes, »celui, qui redigé les lois«, einzuführen. 160 Anders dagegen Snell: Er leitete aus der grundsätzlichen Gefährdung des öffentlichen Wohls die Einrichtung einer zelne Mensch nu r dann einen freie n Willen hat , wenn er sich selbst seine Gesetze für sein I landein gibt un d kein Anderer; so hat auch ein Volk und jeder Einzeln e in ihm dann einen freie n Wille n i n der Staatsverbindung, wann er sich selbst seine Gesetze gibt - di e Selbstgesetzgebung ausübt«, S. 6. 157 Ebd. , sowie § 5 Grundsätze de r Repräsentativ-Republik , §5a , S . 8. 158 Leitartikelseri e »Wa s will unser e Zeit? « (Nr . 2) , in: S R Nr . 4 vom 17 . Dezember 1830 . 159 Roussea u ha t dies e beide n zentrale n Topo i de s Tugenddiskurse s - di e Leidenschaf t al s Feind de r Tugendhaftigkeit un d die Sittlichkei t de s Volkes - i m Gesellschaftsvertra g II, Kap. 3 u . Kap. 6 ausführlich dargelegt ; Snell folg t ihm auch hier in beiden Punkten, wie der oben angeführt e Artikel i m »Schweizerischen Republikaner « zeigt . Darüber hinaus äußerte sich Snell i n einem Ge spräch mit Davi d Ulric h au f dem Rig i zu r natürlichen Sittlichkei t des Volkes: »Ihr müßt i m allge meinen au f das Volk vertrauen, das , mag es jetzt noc h so roh und ungebildet sein , doch unverdor ben genu g ist , u m da s Gute z u wollen , abe r die Wege noc h nich t kennt , di e dazu führen« , zitier t nach: [Stiefel] , S. 56 . Zu de n Topo i de s Tugenddiskurses sieh e Münkler, Di e Ide e der Tugend, S . 384f., S . 394 . 160 Sieh e Rousseau , Gesellschaftsvertra g II, Kap. 3 »Ob der Gemeinwill e irre n kann« , un d II, Kap. 7 »Vom Gesetzgeber« . Dies e Formulierun g de s »legislateur« is t insofern irreführend , al s ih m nur die Abfassung der Gesetzestexte zustehen sollte, das Legislativrecht sollt e aber weiterhin i n der alléinigen Souveränitä t de s Volkes liegen .

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»übertragenen Demokratie« , de r Repräsentativdemokratie, 161 zunächs t unte r dem Vorrang höherer Bildung ab. Über einen Zeitraum von insgesamt dreißig Jahren sollte n di e Stadtbürge r aufgrun d ihre r Bildun g un d Kultu r überpro portional hoch in der Legislative vertreten sein. Snell nahm demnach die zeitlich begrenzt e Verletzung de r vorgehend postulierte n politische n Gleichhei t solange in Kauf, bis ein tüchtiges Erziehungswesen un d eine freie Gemeinde ordnung in Verbindung mit der Pressefreiheit di e notwendige politische Reif e des Volkes für die »reine Repräsentativrepublik« gewährleiste. 162 Er verwies damit auf das dynamische Grundelemen t seine s Ordnungsent wurfs, den er selbst stets nur als »Übergangsordnung« bezeichnete. Die politische Erziehung des Volkes erhoffte sic h Snell u.a . von der praktischen politi schen Tätigkeit, die sich auf Kreis- und Gemeindeebene i n besonderer Weise entfalten sollte . Hier sah Snell di e Möglichkeit, reindemokratisch e Element e zu verankern . Au f beiden Stufe n gal t grundsätzlic h da s Prinzi p de r »Volks verwaltung«. Snel l rückt e entschieden vo n einem zentra l istischen Präfektur system ab, das den Staat zu einer »Bevogtigungsanstalt« mache , in der die Bürger administriert un d i n ewige r Unmündigkei t gehalte n würden . Sämtlich e Institutionen163 sollten deshalb durch die direkte Wahl der Kreis- bzw. Gemeindegenossen besetz t werde n un d de r Rechenschaftspflich t unterstehen . I n »wichtigen Dingen « wurde aber das Repräsentativsystem durchbrochen , un d die Gemeinden oder Kreise übten selbst die Gesetzgebung aus. Mehr noch als in den Kreisen sah Snell in der Gemeinde den Ort der lebendigen Selbstgesctzgebun g un d de s wichtigsten Garante n eine s freiheitliche n Staatswesens. Innerhal b ihre r autonomen Herrschaftssphär e bild e sic h nich t nur »der Geist der Freiheit«, der den Staat als »Volksgemeinde« beseele, sondern sie stelle auch eine »treffliche Vorschul e zur Bildung von Repräsentanten un d Staatsleuten« dar . Eine frei e Gemeindeverfassun g se i dahe r de r Grund - un d Eckstein einer freien Staatsverfassung. 164 De r politischen Schulun g des Volkes in der Gemeinde stellte Snell jene im öffentlichen Räsonnemen t an die Seite. Die Publizitätspflicht sämtliche r Zweige der Staatsverwaltung un d die Presse161 Direkt e un d allgemein e Volkswahlen , häufig e Erneuerungswahle n un d kurz e Amts perioden sowi e das imperative Manda t sollte n dabei di e Hindun g der Volksrepräsentanten a n de n Volkswillen sicherstellen . Di e gewaltenteilige Ordnung , i n der de r Groß e Ra t da s Aufsichtsrech t über di e andere n Gewalte n führte , stellt e ein e zweit e Garanti e dar . Sieh e Snell , Entwurf , Erste r Theil, § 5 Di e Grundsätze de r Repräsentativ-Republik , S . 7 ff.; de r Begrif f der »übertragene n De mokratie« in : »Wa s will unser e Zeit?« (Nr . 2) , SR Nr . 4 vom 17 . Dezember 1830 . 162 Snell , Entwurf, Erste r Theil, § 3 Politisch e Recht e de r Bürger , §3b , S . 4 . 163 Daz u gehörten analog der kantonalen Organisation: Kreisrat , Krcisammann, Kreisgericht , Kreisschulrat, Kreiskirchenrat . Snel l wandte sich bewuss t von dem i n der Restauratio n gebräuch lichen Titel des »Oberamtes« ab , da dieser Nam e in Anlehnung a n das oberamtliche Verwaltungs system Österreichs und mithin zentralistisc h geprägt war. Auf der Gemeindeebene finden sic h di e entsprechenden Behörden . Sieh e ebd., II. Spezieller Theil , Kap . II Oeffentliche Gewalten , S . 19 . 164 Ebd. , Erster Theil, § 5 Grundsätze de r Repräsentativ-Republik , §5e ) 1) , S. 12 .

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Freiheit sollten die Voraussetzungen fü r eine politisierte Öffentlichkeit schaf fen, die als unmittelbarer Ausdruck des Volkswillens die Staatsgewalten kon trollieren un d stets an die Interessen und den Willen des Volks binden könne. Auf diese Weise würde nicht nur der Wahrheit zum Sieg verholfen, sondern der »Volksgeist« veredelt un d »der Staat zu immer größerer Vollkommenheit« ge führt werden. 165 Vorstufe de r politische n Bildun g wa r nac h Snel l schließlic h - paralle l zu r eingangs vollzogenen Trennung zwischen politischer und bürgerlicher Freiheit - di e bürgerliche oder menschliche Schulung, die ein öffentliches Erzichungs system z u gewährleiste n habe. 166 Insbesonder e ei n wesentlic h verbesserte s Primarschulwesen, aber auch die Einrichtung von höheren wissenschaftliche n Bildungsstätten (Sekundarschule n »a n mehreren Orten des Landes« sowie die Gründung eine s Gymnasium s un d eine r Industrieschule ) unte r de r Leitun g eines im Schullehrerseminar geschulte n Personal s sollten das Volk für die hohen sittlichen un d geistigen Anforderunge n de r republikanischen Staatsfor m vorbereiten. Die Bestimmung über das kantonale Schulwesen zielte besonders auf die Landbevölkerung, der auf der Grundlage gleicher Bildungschancen der Weg in die politische Gleichberechtigung, etw a durch ihre proportionale Vertretung im Großen Ra t oder die Vergabe von Staatsämtern an höher gebildete Landbürger, geebne t werde n sollte . Dies e au f di e nachfolgend e Generatio n projizierte Entwicklung war für Snell allerdings nur möglich, wenn das Schulwesen auf einer vernünftigen, d . h. laizistischen Basi s stehe. Dem anvisierte n Repräsentativsyste m blie b aber stets die »Volksgemeinde « übergeordnet. Wenn sich die Mehrheit des Volkes als Souverän versammle und Beschlüße fasse , »sind dann diese Beschlüsse nicht an sich Gesetze?« fragte un d bejahte Snell, »denn vor dem Souverain verschwinden alle konstituierten Ge walten, auch der Körper der Repräsentanten«.167 Dieser Fall trat für ihn nur im Ausnahmezustand eine r Verfassungsrevisio n ein , fü r di e e r zu m radikalde mokratischen Prinzip der Volkssouveränität zurückkehrte. Die Volksversammlung vo n Uste r legitimiert e sic h dami t al s höchste r Ak t de s Volkswillens . Implizit hatt e Snel l abe r auc h da s Rech t de s Volkes formuliert , ein e Verfassungsrevision z u initiieren. Snell zeichnet e somi t das Grundgerüst der demokratischen Repräsentativ republik, da s sic h offensichtlic h seh r en g a n di e staatsphilosophisch e Lehr e Rousseaus anlehnte, bis hin zu wortwörtlichen Übernahmen. 168 Unmittelbarer 165 Ebd. , Erste r Theil, § 5 Grundsätze der Repräsentativ-Republik, §5d) , S. 1lf . 166 Ebd. , Erster Theil , § 5 Grundsätze der Repräsentativ-Republik , §5f) , S . 13 . 167 Ebd. , Erster Theil , § 5 Grundsätze de r Repräsentativ-Republik , §5g ) 3), S. 14 . 168 Konkret e verfassungspolitisch e Vorbilde r ware n ih m zude m di e Helvetisch e Verfassun g und di e französische n Revolutionsverfassunge n de r Girond e un d Montagnards . Z u nenne n is t auch di e amerikanisch e Verfassungsdiskussion ; ma n denk e a n da s Wer k Thoma s Paine s »Th e Rights of Man« 1791/9 2 (1792/9 3 in deutscher Sprach e erschienen), in dem er erstmals die Staats-

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wirkte jedoch di e Anschauun g de r altdemokratische n Landsgemeinde n de r Innerschweiz, die wie für seinen Spiritus rector Rousseau so auch für Snell das Ideal de r »rei n demokratischen Republik « versinnbildlichte n un d wiederhol t als direkter Bezugspunkt in seinem Entwurf genannt wurden. Das Innovative des Snellsehen Verfassungsprojektes ergab sich damit aus der Verknüpfung von radikaldemokratischer Souveränitätslehr e nac h de m Vorbil d de s klassische n Republikanismus un d altgermanische r Urdemokratie , di e e s grundsätzlic h über da s deutsche frühliberal e »bürgerlich e Sozialmodell« 169 mi t seine r Bin dung an die konstitutionelle Monarchie hinaustrug . Zu den Besonderheiten seines Konstrukts gehörte erstens als unabdingbarer Bestandteil von Freiheit die politische Gleichheit, die Snell über das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht, die Direktwahl der Abgeordneten und das Verhältniswahlrecht verankern wollte. Letzteres sollte sich allerdings erst im Rahmen eines weitgespannten Modernisierungsprogramms erfüllen . Der Entwurf zeichnete sich zweitens durch seinen evolutionären Charakte r aus. Volksbildung, kommunale Selbstverwaltung und politische Öffentlichkei t sollten eine n sittliche n wi e politische n Erziehungseffek t erzielen , de r nac h Snells Überzeugun g de m Gemeinwesen stet s neue dynamisch e Impuls e zu r Vervollkommnung liefer n werde . E s wa r diese r Übergangscharakter , de r letztlich die erfolgreiche politische Umgestaltung der Jahre 1830/31 überhaupt ermöglichte. Ländlich e Liberal e einerseit s un d städtisch e Liberal e u m Kelle r andererseits konnten über diese Interimslösung einander angenähert werden die einen i n der Hoffnung, de n Status quo der Überrepräsentation möglichs t lange aufrechtzuerhalten, di e anderen in der Aussicht auf mittelfristige Verän derung. Die dritte Besonderheit stellte das Postulat der »Selbstgesetzgebung« dar, die Snell mit dem Verfassungsreferendum un d der in Ansätzen erkennbaren Verfassungsinitiative sowie dem direkten Bürgervotum auf Kreis- und Gemeindeebene »übe r wichtig e Dinge « gewährleiste n wollte . Dies e gan z konkret e Verknüpfung von Rousseauscher Radikaldemokratie und schweizerischer Altdemokratie besaß ein zukunftsweisende s Potential . Inde m Snel l hie r das Repräsentativsystem durchbrach , eröffnete e r eine Entwicklungsperspektive au f die modern e »halbdirckt e Demokratie« , verstande n al s Einbindun g direkt demokratischer Volksrechte in das Gehäuse der repräsentativen Demokratie. Er zeichnete dami t ei n Regierungsmodel l vor , das infolg e de r Demokratische n form der »Repräsentativ-Republik« entwickelte , und zwar als »Repräsentation, gepfropft au f Demokratie ... Wenn wir Repräsentation auf Demokratie pfropfen, s o gelangen wir z u einem Regierungs system, welches all e verschiedenen Interesse n z u verbinde n un d jeden Umfan g de s Gebiets un d der Volksmeng e z u umfasse n fähi g ist« . Nordamerik a schie n ih m al s Idealmodel l eine r solche n »wahrhaft republikanische n Verfassung« , vgl . Mager, Artikel »Republik« , S . 627 . 169 Sieh e Wehler , S. 237.

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Bewegung der 1860e r Jahre auf kantonaler und nationaler Ebene verfassungsrechtlich verankert werden sollte. Die von Snel l angelegt e Überwindun g de s Repräsentativsystem s wa r nu r möglich au f der Grundlag e de r vierten Besonderheit : sei n dem Entwur f zugrundeliegendes Staatsverständnis . Di e Erneuerun g de s klassische n Demo kratiebegriffs durch Rousseau hatte auch Eingang in die Konzeption Snells gefunden. Al s Orga n de s Gemeinwillen s stat t al s Herrschaftsmitte l baut e de r Staat auf einer kollektivistischen Vorstellung der Identität von Regierenden und Regierten auf Diese s klassische Politikverständnis der bürgergesellschaftlichen res pulica durchdrang de n Republikbegriff Rousseau s und Snells, obwohl ih r Vergesellschaftungsprozess au s dem modernen Naturrecht , d. h. individualistisch un d nich t korporativ , gedach t wurde . Roussea u benutzt e dahe r fü r di e »sittliche Gesamtkörperschaft « bzw . da s »gemeinschaftlich e Ich « de s Gesell schaftsvertrags die Begriffe »Republik « und »Polis« synonym170, während Snell den Begriff der »Volksgemeinde« fü r den republikanischen Staa t entwickelte. Dieser Begriff war Programm. 171 Er rekurrierte auf das klassische politische Verständnis der Republik als Aktivbürgergemeinschaft, wobe i die »Gemeinde« eine gängig e Germanisierun g vo n re s publica darstellte . Di e Benennun g de s Staatskorpus als Volksgemeinde verdeutlicht e darübe r hinau s die signifikant e Verengung des Republikbegriffs auf die Demokratie mit einer entschieden antimonarchischen wi e antiaristokratische n Stoßrichtung. 172 »Republik « konnt e eben nicht wie bei Rousseau auc h die Regierungsformen de r Monarchie un d Aristokratie bezeichnen. Aus dem demokratischen Verständni s des Republik begriffs setzte Snell völlig unproblematisch »Bürger « und »Volk«, »bürgerliche Rechte« un d »Volksrechte « gleich . Bürge r se i - s o die Präambe l -jede r frei e Mann des Kantons. Meinte Snel l demnac h de n egalitäre n »Staatsbürger« , wi e e r ih n i n de n Wahlrechtsbestimmungen mi t scharfer Wendung gegen jede Form des Zensus und de s Ausschlusse s vo n »i n Kos t un d Lohn « Stehende n benannte ? Ode r umschrieb er den exklusiven Gemeindebürger, wie es die Metapher vom Staat als großer »Gemeinde « der »Burger«, 173 hier verwendete Snel l di e altständisch e Bezeichnung des Gemeindevollbürgers, nahelegt? In der Beantwortung dieser wichtigen Frag e blieb Snell vage. Offensichtlich wünschte er beides zu verbinden, indem er das Staatsbürgerrecht auf dem historisch gewachsenen kommu170 Rousseau , Gesellschaftsvertra g I, Kap. 7. 171 »Di e Gesammthei t .. . diese r Mensche n [di e sic h z u eine r Staatsverbindun g zusammen schließen ] nennen wir: die Gemeinde (im weiteren Sinn e des Worts) und ihre einzelnen Mitgliede r Burger«, in : »Wa s will unser e Zeit? « (Nr . 2) , SR Nr . 4 vom 17 . Dezember 1830 . 172 »In Monarchie n un d Aristokratie n regiere n di e höher n un d privilegirte n Ständ e un d da s Volk ist Sklave, in einer Republik regiert das Volk«, Snell, Entwurf, Erster Theil, §5 Grundsätze de r Repräsentativ-Republik, §5f) , S . 13 . 173 Sieh e vor n An m 171 .

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nalen Bürgerbegriff aufbaute. Staatsbürger war, wer das Gemeindebürgerrecht besaß. De n delikate n Punk t de r Definitio n de s Bürgerrechts , de r tie f i n di e kommunale Autonomie eingriff, ließ Snell bezeichnenderweise, auße r dass er eine generell e Erleichterun g de r Einbürgerun g befürwortete , unberücksich tigt· Neben seinen politischen Konnotationen beschwor der Ausdruck der »staatlichen Volksgemeinde« auch die Vorstellung einer sozialen Gemeinschaft. Da s Bild der Republik von tugendhaften Bürgern , deren Engagement auf das Wohl des Gemeinwesens gerichte t war , und da s der genossenschaftliche n Solidar gemeinschaft überlagerte n sich. Mit dem derart betonten Primat des Gemeinwohls war es laut Snel l zude m möglich , individualistisch e Interesse n grund sätzlich einzubinden , bliebe n si e doc h - s o sein e Vision - imme r a n de n Gemeinwillen gebunden . Wirtschaftlich e Freiheit , Bildungsgleichhei t un d Eigentumssicherung arbeitete n danac h nich t de m verpönte n Eigennut z zu , sondern konnte n al s vom Souverä n sanktioniert e »Volksinteressen « bewerte t werden. Dahinter stand das Zukunftsbild einer auch sozialökonomisch homogenen Gesellschaft, de r klassenlosen Gemeindebürgcrgesellschaft , i n der sich das von Snell angestrebte »Glück aller Bürger« verwirklichen könnte. 175 Diese Vorstellung einer in Besitz annähernd gleichen Bürgergemeinschaft hatte ihren Ursprung wiederum i n gemeindlichen Strukturen , die für die klassische Polis ebenso galten wie zumindes t anfänglich fü r die altständische Markgenossen schaft.176 In der konkreten Ausgestaltung wirtschaftlicher Freiheitsrecht e blieb Snell zwar vage, jedoch nicht so unbestimmt wie der süddeutsche Frühlibera lismus, de m e s a n eine r »konsistent e [n] ›Wirtschaftsgesinnung‹ « gebrach. 177 Stärker war die sozialreformerische Komponente , die Snell insbesondere über das Bildungssystem z u erreichen suchte. Der aufklärerische Bildungsimpetu s zielte nicht nur auf die politische Erziehung, sondern implizierte mit der »Entwicklung aller menschlichen Kräft e (oder : der freien vernünftige n Thätigkei t nach alle n Richtungen)« 178 außerde m di e Hoffnun g au f wachsend e sozial e Mobilität. Liberaler Verfassungsstaat und tradierte Autonomiepraxis der »kommunalen Öffentlich keit«. Ohn e Zweife l wa r es in erster Lini e diese r kollektivistisch e Ansat z de s Snellschen Ordnungsentwurfs , de r ih n i n di e Näh e gemcindlich-genossen 174 Sieh e Snell, Entwurf, II. Spezieller Theil, §2 Bürgerrecht, S. 17 : »Die Ertheilung desselben darf nicht erschwert werden; überhaupt sollen die hierüber bestehenden Gesetze und Verordnungen einer Revision unterworfe n werden. « 175 Ebd. , Erster Theil, §3 , S. 4. 176 Sieh e Rousseau, Gesellschaftsvertrag I, Kap. 9, S. 24, sowie H.H. Frey , S. 4ff . 177 »De r badische Liberalismu s des Vormärz war vo r allem ein e politische Ideologie, die ein e konsistente ›Wirtschaftsgesinnung ‹ i n viele r Hinsich t ga r nich t entwickelte« , Nolte , Gemeinde bürgertum un d Liberalismus , S. 199 , siehe auch S . 244, S . 286, S. 290, S . 350f., S . 427. 178 Snell , Entwurf, Erste r Theil, § 1.S. 1 .

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schaftlicher Denkbilde r rückte . Dies e Näh e resultiert e nich t zuletz t au s der bewussten Perzeptio n de r demokratischen Traditione n der Innerschweiz und der vitalen kommunalistischen Struktur der Züricher Landschaft, die für Snells Vision einer von der Gemeinde aus konzipierten modernen Bürgergesellschaf t leitend waren . E r »regenerierte« demnac h keinesweg s nu r - wi e die s i n de r heutigen Rechtsgeschicht e gedeute t wird 179 - da s naturrechtliche Staatsrech t der Französischen und Amerikanischen Revolution, sondern stellte nach eigenem Bekunden einen »seit fast 400 Jahren« verlorenen Zustand wieder her und verschmolz s o die rationalistische Naturrechtslehr e mi t historisch gewachse nen altständischen Traditionen und Strukturen. Eine solch e Zusammenführun g wa r abe r nu r möglich , wen n ideell e An knüpfungspunkte zwische n de r liberalen Programmati k un d der kommuna listischen Autonomiekultu r existierten , wi e si e am Beispie l de r frühneuzeit lichen Publizitätsforderun g un d de r liberale n Meinungs - un d Pressefreihei t bereits erörtert wurden. Das Postulat der Öffentlichkeit parlamentarischer Verhandlungen oder das Recht auf freie Meinungsäußerung standen so nicht ohne historischen Bezug . Weitere Beispiel e sin d zu nennen: S o zeigte die pseudoreligiöse Verehrun g de r liberale n Verfassun g al s »Bürgschaft « de r »heilige n Wahrheiten« un d sakrosankt e Garanti e gegen staatlich-herrschaftlich e Über griffe ebens o deutliche Parallele n z u den überkommenen »Schwurtagen « wi e das darau s abgeleitet e Widerstandsrech t i m Fall e de s »Verfassungsbruchs«. 180 Auch di e liberal e Versammlungsfreihei t konnt e a n ein e älter e Traditio n an knüpfen, den n i m Fall e obrigkeitlicher Rechtsbrüch e versammelte n sic h die Gemeinden z u Beratunge n ode r gar übergemeindlich z u Volksversammlun gen, den Landsgemeinden. Oftmals entzündeten sich sogar die Proteste an einem herrschaftlichen Versammlungsverbot . Ziel de r Protestversammlunge n wa r grundsätzlich , di e »Domestizierung « der Regierungsgewalte n wiederherzustellen . I m Fall der ländlichen Unterta nen konnte das nur bedingt gelten; ihnen musste es darum gehen, die Obrigkeit zur erneute n Einhaltun g de r Freiheitsbrief e z u zwingen . Ander s di e nicht untertänige Züriche r Stadtbürgerschaft , di e danach trachtete , die Ratsgewal t wieder a n sic h z u binden . De r Gedank e eine r Kontroll e de r Exekutiv - un d Legislativgewalten im Repräsentativsystem hatte also durchaus Vorläufer in den frühneuzeitlichen zunftdemokratische n Grundsätze n de r Stadt . Diese r Kontrolle dienten - ähnlic h de n Forderunge n Snell s - di e Direktwahl un d kurz e Amtszeiten, ein allgemeines passives Wahlrecht und ein besonderes Aufsichtsgremium der Räte in Gestalt der Obristzunftmeister. Obwohl die Realisierung 179 Dies e Auffassung vertritt insbesonder e Kölz, Französische Revolution . 180 Sieh e Snell, Entwurf , Präambel , S. 1 und Erste r Theil, § 5 Grundsätze der Repräsentativ Republik, §5g) , S . 14f , sowi e z u de n Schwurtage n Schilling , Städtische r »Republikanismus«? , S. 110.

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der zunftdemokratische n Bestimmunge n ein e bekanntermaßen wechselvoll e Geschichte durchlebte, blieb bis zum Ende des Ancien régime ein Grundstock von bürgerlichen Kompetenze n bestehen. Berücksichtigt ma n darüber hinau s die Forderungen , di e etw a i n den Zü richer Zunftunruhe n vo n 171 3 oder 177 7 unter Berufun g au f die »Souverä nität« de r Bürgergemeind e gestell t wurden , verstärkt sic h de r Eindruc k seh r weitgehender Gemeinsamkeiten i n der kommunalistischen wie liberalen Vorstellung von bürgerlicher Partizipation und Kontrolle.181 In ihrem Mittelpunkt stand als Kernstück des Zunftsystems das bürgerliche Direktvotum in Form der »Gemeindeanfragen«, d . h. die öffentliche Abstimmung vor allem über Fragen der stadtstaatliche n Wehr - un d Finanzpolitik . Snell s Postula t de r »Selbst gesetzgebung« de s Volkes fand hier , ebenso wie i n den »Volksanfragen«, 182 di e man an die ländlichen Untertanen richtete, einen altdemokratischen korpora tiven Vorläufer. Die Ausweitung der direktdemokratischen Volksrechte bis hin zu einer gemeindlichen Beteiligun g an der Gesetzgebung, gefordert i m städtischen Libell von 1713, gehörte zu den virulenten Konflikten zwischen der städtischen Bürgerschaf t un d den Räten . Analog dazu kämpfte n di e untertänige n Gemeinden de r Landschaf t u m di e Wahrung bzw . Ausweitun g ihre r Auto nomierechte gegen den territorialstaatlichen Zugriff Auc h an diesem Punkt ist die Ähnlichkeit zu Snells Überlegungen einer sehr weitgefassten, direktdemokratische Elemente einschließenden Gemeindefreiheit frappant. 183 Wechselt man auf die Ebene der Legitimationsmuster der Rechtsansprüche, zeigen sic h weiter e Gemeinsamkeiten . E s wurde bereit s aufgezeigt , das s die erstaunlich weitreichende n Autonomierecht e de r Gemeinde n i m Züriche r Stadtstaat und das Partizipationszugeständnis an die untertänige Landschaft i n Gestalt der Volksanfragen i n erster Linie aus dem Milizsystem resultierten, das den Züricher Stadtstaat von dem Wehrwillen seine r Landbewohne r abhängi g machte. Di e Kopplun g des Rechts auf politische Teilhab e a n di e allgemein e Wehrpflicht nahm bei Snell ebenfalls einen prominenten Platz ein. Die Selbstverteidigung de s Gemeinwesens durc h sein e Bürge r stellt e eine n i n hohe m Maße identitätsstiftenden Topo s dar, der dem klassischen Republikverständni s Snells genauso eigen war wie der genossenschaftlichen Schwurgemeinschaft . Die Machtfragilität des Züricher Stadtstaats hatte überdies dazu geführt, dass die Appellations - un d Petitionspraxi s de r Kommune n al s Instrumentariu m ländlicher Interessenwahrun g obrigkeitlic h anerkann t wurden. Zumeis t ziel 181 Sieh e ausführlic h Kap . 1 . 2. un d Kap . 2. 2. 182 Sieh e ausführlic h Kap . 1 . 2., und Bierbrauer, Freihei t un d Gemeinde , S . 232ff . 183 D a im Züricher Stadtstaat der Frühen Neuzeit obrigkeitlicher Staat und städtische Bürger schaft zusammenfielen, ka m dem Direktvotum der Bürgerschaft ein e staatliche Dimension zu . Ein Gedanke, de n Snel l nac h Aufhebun g de r regional-ständische n Scheidun g zwische n Stad t un d Landschaft fü r den beide Teile umschließenden Gesamtstaa t Zürich zunächs t nu r für den Akt de r Verfassungsgebung zulasse n wollte .

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ten di e Gesuch e au f die Ahndung vo n Amtsmissbräuchen städtische r Land und Untervögte . Ihr zwar nicht durchgängiger, abe r doch respektabler Erfol g lässt durchaus den Schluss zu, dass den untertänigen Gemeinden eine mittelbare Kontrolle der ihnen vorgeordneten Exekutivbeamten zustand. In jedem Fall ging es in den Petitionen um eine politische Willensartikulation, die - selbs t bei dem auf Gnadenrecht beruhenden Supplike n - eine n Anspruch auf Einflussnahme dokumentierten . Frühneuzeitlich e Quelle n lasse n soga r die tradiert e Vorstellung eine s »Grundrechtes « au f Beschwerde n un d Supplike n vermu ten.184 Die lange Tradition der kollektiven Petitionen , Appellationen und Suppliken erwies sich deshalb als besonders »vermittelbar« mi t dem liberalen Postulat des Petitionsrechts. Erga b sich demnach gerad e im Bereic h der Grund und Freiheitsrechte eine besondere Anschlussfähigkeit trotz ihrer unterschiedlichen, d. h. korporatistischen versus individualistischen, Herleitung ? Tatsächlich wird in der Frühe-Neuzeit-Forschung der Standpunkt vertreten, dass die Freiheitsgarantien de r ständischen Gesellschaft ihre m materiellen In halt nac h teilweis e di e spätere n Grund - un d Menschenrecht e vorwegnah men.185 Vorzüglich a m Beispie l stadtbürgerliche r Ordnunge n is t die positiv rechtliche Festschreibun g de s Persönlichkeitsschutze s gege n willkürlich e Übergriffe nachgewiese n worden. 186 Aber auch im ländliche n Bereic h ga b es eine vergleichbare grundrechtsähnlich e Auffassun g vo n Rechtssicherheit , di e jedoch i n besondere r Weis e a n da s korporativ e Freiheits - un d Autonomie verständnis der untertänigen Gemeinden gekoppelt war. Die »Freiheit der Person« meinte deshal b vordringlich di e Befreiung vo n der Leibeigenschaft , wi e sie sic h generel l i m schweizerische n Mittellan d aufgrun d demographische r und wirtschaftliche r Entwicklunge n währen d de s 14 . un d 15 . Jahrhunderts vollzogen hatte. 187 De r Hinwei s au f diesen Rechtsstatu s des »freien Mannes « gehörte zur Topik ländlich-gemeindlicher Protestnote n und Klageschriften . Die Wahrung einer selbständige n kommunalen Gerichtsbarkei t mi t gewissen strafrechtliche n Kompetenze n (Twin g un d Bann ) kennzeichnet e eine n weiteren Bereic h ländlich-kommunaler Rechtssicherheit . Hierz u gehörte der Schutz vor »willkürlicher« Verhaftun g durch die Obrigkeit, wobei sich der ei184 Helmu t Neuhau s hat in seiner Untersuchung der Supplikationen des 16 . Jahrhunderts in der Landgrafschaft Hesse n daraufhingewiesen, dass die Beschränkun g der Supplik ausschließlich auf das Gnadenrecht , als o ohne Rechtsanspruch , s o eindeutig nich t ist . Rechtssprichwörte r wi e »Supplizieren un d Wassertrinke n is t jedem gestattet « deute n vielmeh r au f ihr e gewohnheits rechtliche Bewertun g als »Grundrecht«. Neuhaus, bes. S. 113f , S . 137 . 185 Wobe i di e Einschränkun g z u mache n ist , dass ein naturrechtliche r Begründungszusam menhang fehlte ; vgl. von Keller; Schulze, Bäuerlicher Widerstand; ders., Ständische Gesellschaft . 186 Sieh e Schilling, Städtischer »Republikanismus«?, S. 103-107 . Vgl. zur Sonderentwicklun g der persönliche n Freihei t i n de r Eidgenossenschaf t sei t de m Spätmittelalte r de n Aufsat z vo n B. Meyer, der die besondere Anschlussfähigkeit der »neuen Rechte des Bürgers« seit der Helvetischen Republik »an alte Erscheinungen eidgenössischer persönlicher Freiheit« betont (S. 156). 187 Morard , S.219 .

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gentliche Willkürak t au f di e Nichtbeachtun g de r Gemeindekompetenzen , nicht etw a notwendigerweis e au f die Unschul d de s Delinquente n bezog . I n diesem Sinn weigerte sich 1476 das DorfSaanen im Berner Oberland mit Hinweis auf die eigenen Strafrechtskompetenzen, einen Gefangenen an den Berner Vogt herauszugeben. l88 Zentrale s Anliege n de r Gemeinde n wa r zudem , di e volle Verfügungsgewal t übe r ihre n Besit z gege n obrigkeitlich e Übergriff e rechtlich zu schützen. Das Bemühen ländlicher Gemeinden oder ganzer Landstriche, sic h von sämtlichen Grundlaste n selbsttäti g auszukaufen , ei n fü r di e Eidgenossenschaft keineswegs ungewöhnlicher Vorgang, illustriert in besonderer Weis e da s Bestreben , da s »freie Eige n a n den Gütern « z u erlangen . Hie r entstand ei n de r Ide e nac h individuelle s Eigentumsrecht , da s jedoch durc h seine Rückbindun g a n di e gemeindliche n Interesse n i n de r Praxi s innerge meindlich stark eingeschränkt wurde, etwa durch das Verbot der Veräußerung u.a.189 Wenngleic h e s sich verbietet, ein e direkte Kontinuitätslini e z u ziehen , zeigt sich doch, dass den korporativ geforderten Schutzrechte n ein individueller Zug inhärent war. Das Ziel, sich aus der persönlichen Unfreiheit zu befreien und die Feudalrechte abzulösen, betraf naturgemäß den Freiheitsstatus des einzelnen Gemeindebürger s un d seine n wirtschaftliche n Verfügungsfreiraum . Am deutlichste n tra t ei n tendenziel l individualistische s Rechtsverständni s beim Schutz gegen willkürliche Verhaftung hervor. Das vorn geschilderte Vorgehen der Gemeinde Saanen erwuchs beispielsweise keineswegs aus dem Motiv, eines ihrer Gcmeindemitglieder zu schützen; ein Indiz mehr, hier ein generelles Verständnis subjektiver Freiheit , »ein e Art Grundrechtsbewusstsein«, 190 abzuleiten. Doch prinzipiell gal t der Vorrang des korporativen Rechts , individuelle Recht e un d Interesse n ware n stet s dene n de s Gemeinwesen s nach geordnet. Deshal b ware n nur , wen n i m Rahme n de r gemeindliche n Auto nomicrechte der Schutz der Person und ihres Besitzes berührt wurden, Ansätze grundrechtsähnlicher Rechtsvorstellunge n i n de r kommunale n Freiheitstra dition angelegt. Dieser Überblick dokumentiert, dass eine ganze Reihe von Kernpunkten im liberalen Verfassungsentwurf Snell s (bzw. liberaler Programmati k überhaupt ) an eine tradierte politische und soziale Praxis der »kommunalen Öffentlichkeit « anschließen konnte . Da s zeigt e sic h nich t zuletz t i n de r Vorstuf e de r Re generationsbewegung, de r Artikulatio n de s ländlich-liberale n Reformvor habens, die sich in den traditionellen Forme n kommunalen Protest s vollzog. 188 Bierbrauer , Freihei t un d Gemeinde , S . 22 1 ff. Dabe i weis t Bierbraue r explizi t darau f hin , dass sic h di e Eidgenossenschaf t i n bezu g au f da s Ausma ß de r Schwäch e dynastisch-feudale r Herrschaftskomplexe vo n anderen Regione n des Reiches im späten Mittelalter unterschied, diese r Unterschied abe r quantitativer Ar t gewesen se i un d nich t rechtfertige , di e Schwei z al s Sonderfal l im Vergleich zu m Westen un d Südweste n de s Reiches zu isoliere n (S . 188) . 189 Daz u ausführlic h ebd. , S . 121f.,225tY . 190 Z u diese m Urtei l gelang t völlig zu Rech t Bierbrauer , a n anderer Stell e sprich t e r von de r »korporativen Kehrseit e der grundrechtsartigen Freiheitsgarantien« , ebd. , S . 222f.

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3.2.4. Di e Mobilisierung der Landbevölkerung: Die Volksversammlung von Uster am 22. November 1830 »Wenigstens zwölftausend Cantonsbürger« strömten laut dem »Uster-Memori al« a m Morge n de s 22 . November s 183 0 aus alle n Teile n de r Landschaf t i n Uster zusammen, selbst - wie Meyer von Knonau verwundert festhielt 191 - aus sonst unpolitischen Gegende n wie dem Ackerbaugebiet Bülach. Obwohl Züricher Stadtbürger eine rege Korrespondenz über die Ereignisse in Uster führten und i m gesamten Gebie t der schweizerischen Eidgenossenschaft , auc h in der von der Regenerationsbewegung wenig berührten welschen Schweiz, ausführliche Pressebericht e erschienen , sin d eigentlich e Augenzeugenbericht e vom Ustertag nur spärlich überliefert . Außer de n Aufzeichnungen Johannes Braendlin s als Mitglied de s Organisationskomitees von Uste r is t es vor allem der anonyme Berich t eine s Landbewohners an einen Züricher Stadtbürger, der von Ablauf und Stimmung der Volksversammlung Zeugnis gibt. Nahezu alle anderen Darstellungen basieren letztlich au f diesen beide n Primärquellen ; nachweislic h zirkuliert e de r Brie f des Anonymus i n Abschrifte n unte r de r Stadtbürgerschaft. 192 Offensichtlic h verfügte de r unbekannt e Auto r übe r eine höher e Bildung , wi e sic h au s dem Sprachgebrauch schließe n lässt , un d sein e Verweis e au f die innerschweize rischen Vorgänge, aber auch Anspielungen auf die radikale Wahlrechtspolitik in England un d Irlan d illustrieren , das s er politisc h au f dem laufende n war . In seiner Haltung zu den Geschehnissen in Uster beurteilte er sich selbst als typischen Vertreter des Juste-milieu, der »Gemäßigten«. Stimmte er prinzipiell der politischen Gleichberechtigun g de r Landschaft zu , die ihm zude m mi t Blic k auf die rechtlic h bessergestellte n ehemalige n Untertanenlände r Aarga u un d Thurgau dringend nöti g erschien, teilte er doch die Angst vieler Gebildeter in Land und Stadt vor dem »grossen Haufen«, der sich dort »in bunter Mischun g des Alters, des Standes, der Kleidune« zusammenfand. 193 Die Sorge vor einer Massenhysterie hatte auch das Usterkomitee dazu bewogen, Sicherheitsmaßnahme n z u ergreifen . Oberste s Gebo t musst e sein , de r Volksversammlung durch einen disziplinierten Ablauf einen gesetzlichen Anstrich z u verleihen . Au s diesem Grun d hatt e ma n auc h a m Morge n de s 22. Novembers dem Oberamtmann Ott von Greifensee die Versammlung offiziel l angezeigt.194 Au f dem Vers a mmlungsfeld selbs t richtet e Johannes Braendlin , 191 »Ebe n so wie es hingegen auffallend war , dass aus Gegenden, die den grösseren politische n Fragen bisher ganz fremd geschiene n hatten , grosse Züge von Menschen sic h schnell au f den Weg gemacht, al s sie kau m di e Einladun g erhalte n hatten« , Meyer von Knonau, S . 318-321, hie r S . 321. 192 Anonymus , Schreibe n eine s Bürger s de r Landschaft , in : Der Ustertag im Spiegeh S . 16-24 . Zur Provenien z un d Zirkulation de r Quelle sieh e dort Anm. 14 . 193 Anonymus , Schreiben , in : ebd., S. 18 , S. 20f . 194 Sieh e dazu die Aufzeichnungen de s Regierungsmitgliedes Christop h Kaufman n übe r den

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seines Zeichens Major, »ein Polizeyartige s Aufsehen«, d . h. einen Ordnungs dienst aus ländlichen Militärs, ein. Zudem wurde ein gedrucktes »Billet« an die Ankommenden verteilt, das bei Strafandrohung zu r Disziplin aufrief. 195 Doch folgt ma n de m Stimmungsbild , da s ein so unverdächtiger Kommentato r wi e Johannes Hegetschweile r zeichnete , de r sic h nu r unte r de n größte n Vorbe halten berei t erklär t hatte , al s offizieller Redne r i n Uste r aufzutreten , dan n herrschte ohnehin eine ernste und ruhige Atmosphäre. In einem Brief an seinen Züricher Freund, den gemäßigten Liberalen Paul Usteri, schrieb er, es habe den ganzen Tag eine Stille geherrscht, wie wenn ma n zum Gottesdienst e zu sammengekommen wäre. l96 De r von Hegetschweile r gewählt e Vergleic h er scheint um so treffender, als sich auch andere Hinweise auf die traditionell enge Verknüpfung religiöse r Motive mit der politischen Praxi s finden lassen . Wie bis heute in den Landsgemeindedemokratien üblich, galt es, die religiösgöttliche Fundierung der Versammlungsdemokratie herauszustellen . So besaß der Ablauf des Ustertages eine deutlich sakrale Prägung, indem sich die Menschenmenge unter Absingen geistlicher und freiheitlicher Liede r formierte, um dann i n di e Kirch e von Uste r einzuziehen , bi s ma n au s Platzgründe n unte r Glockengeläut aufs freie Feld auswich. Auch inhaltlich findet sich an ganz zentraler Stelle die Berufung auf die »von Gott ererbten Rechte« des Volkes, ob in der Red e de s Müller s Guje r vo n Bauma 197 ode r i n de r Argumentatio n de s Ustermemorials. Heinrich Gujer, im Volksmund wegen seiner autodidaktischen Studien »der kluge Müller« genannt, eröffnete da s Rednerprogramm; ih m folgten der Arzt und bekannte Naturforsche r Johannes Hegetschweile r un d der »Director der Kunzischen Fabrik in Uster«198 Steffan. Alle drei gehörten zur neugewachsenen ländlichen Elite. Gujer hatte wiederholt gegen das Züricher Kornmonopol verstoßen, das ihm verbot, günstigeres Kor n direkt von den Bauer n ode r in den benachbarten Kantone n z u kaufen. 199 Sein e Beurteilun g durc h Zeitgenosse n mündlichen Berich t des Regierungspräsidenten eine n Ta g nach der Usterversammlung , in : ebd. , S.51f. 195 Braendli n Chronik , S . 250-255, hie r S . 252; FSW , sowi e H . Frey , De r Ustcrta g (III). 1 % Brie f von Johannes Hegetschweiler an Paulus Usteri vom 23. November 1830 , abgedruckt in: Der Ustertag im Spiegel, S. 24f . 197 Vo n de n dre i au f de m Usterta g gehaltene n Rede n is t bislan g nu r di e Heinric h Gujer s aufgefunden worden . Sieh e Glaettli. 198 Gemein t is t der sogenannte Spinnerköni g Heinric h Kun z (1793-1859 ) al s zu seine r Zei t größter Spinnereibesitzer de s Kontinents . 199 Sieh e Dändliker , Ustertag , S . 58, und H. Frey , De r Ustcrta g (I). Die mi t de r Restauratio n nach 181 5 wiederhergestellte Monopolisierun g de s Agrarhandels durch di e Stadt sah vor, dass die Bauern ih r Korn nicht frei verkaufen , sonder n nac h Zürich auf den Mark t bringe n mussten . Ana logdurften di e Müller ebenfalls nicht direkt, sondern nu r über den städtische n Kornmark t Getrei de beziehen. Die je nach Entfernung von der Stadt sehr hohen Transportkosten un d die städtische n Zölle trieben die Preise entsprechend i n die Höhe. Interessant ist der Fall des Müllers Guggcnbüh l von Küsnacht , de r i m Hungerjah r 181 6 vor seine r Gemeind e erklärte , e r könn e nich t di e vo m

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war zumeis t positiv , de r ausgeprägt e Geschäftssin n macht e abe r ih n un d sein e Familie »nich t al s uneigennützi g berühmt« , wi e de r damalig e Oberamtman n von Grüninge n Heinric h Esche r ironisc h bemerkte. 200 Hegetschweiler , de r über enge Kontakt e z u den Stadtliberale n u m Uster i verfügte , gal t als hochge bildet un d politisc h überau s moderat. 2m Sein e Plazierun g al s zweite r Redne r sollte in doppelter Hinsicht, auf die Stadtbürger wie die Versammelten, beruhi gend wirken . Umstritte n wa r dagege n di e Nominierun g de s dritte n Redner s StefTan, der für die einen »originelles Genie«, für die anderen ein »überspannte r Kopf« war , un d da s gesamt e Reformprojek t durc h sein e »Etourderie« , wi e Braendlin missbilligen d urteilte , i n höchste m Maß e gefährdete. 202 Währen d sich die beiden Vorredner immer wieder u m einen mäßigende n Ton bemühten und demonstrati v nich t di e Regierung , sonder n di e Verfassun g fü r di e Miss stände verantwortlich machten , löst e StefTa n mi t seiner abschließende n Frage , was die Versammelten fü r Forderunge n hätten , ein e heftig e Reaktio n aus . Seine Aufgabe wa r e s gewesen, de n Entwur f des Ustermemorial s vorzutra gen. Nebe n de n beide n Hauptforderunge n de s veränderten Repräsentations verhältnisses un d de r Direktwah l tauchte n jene politische n Forderunge n auf , die bereit s i n de n Flugschrifte n popularisier t worde n waren : Verfassungs revision un d Verfassungsreferendum , Pressefreiheit , Öffentlichkcitsprinzi p und Petitionsrech t sowi e Gewaltentrennun g au f alle n Staatsebenen . Nu r i n puncto Wahlbeamtentum blie b das Memorial überraschenderweis e hinte r den sogar von Guje r i n seine r Ustertagsrcdc 203 formulierte n Forderunge n zurück . Letzterer hatt e di e einprägsam e Forme l entwickelt , das s all e höhere n Amte r vom Große n Rat , all e niedrige n Stelle n abe r vo m Volk direk t au f jeweils nu r drei Jahre z u wähle n seien , fü r di e Wahl de r Amtsrichte r gal t ei n Vorschlags Zollamt i n de r Stad t vorgeschrieben e Meng e a n (Züricher ) Getreid e bezahle n un d müsst e stat t dessen i m Aargau einkaufen. De r Gemeinderat stimmt e unter der Bedingung zu , dass das aus dem auswärtig gekauften Kor n gewonnen e Meh l auc h i n der Gemeind e verkauf t werde n müsse . 200 IL Escher , S. 327-333, hier S. 333, sowie die Charakterisierung be i Anonymus, Schreiben , in: Der Ustettag im Spiegel, S . 19: »Gujer ... ist der Soh n eine s Landmüllers , de r di e Kuns t reic h z u werden vollkomme n inn e hatte« . 201 Was H . Escher , S . 332, allerdings nich t dara n hinderte , darau f hinzuweisen , das s He getschweiler »be i Gelegenhei t ei n bische n Charlataneri c (betrieb] , indem e r sic h seine r Wunder kuren rühmte«, auch berichtet er davon, es seien an ihm »Merkmale von Monomanie wahrgenom men worden , d a e r [Hegetschweiler ] e s fü r ein e Beleidigun g hielt , wen n Jemand sic h i n seine r Gegenwart räusperte« . Escher s Beschreibun g ma g Aufschlus s darübe r geben , warum e s kur z vo r Beginn de r Rede n z u heftige n Wortgefechte n zwische n Hegetschweile r un d Steffa n kam . Sieh e dazu di e Beschreibun g be i Braendli n Chronik , S . 252; FSW. 202 »StefTan wa r ei n originelle s Genie , mitunte r - wie diese s nich t selte n be i solche n eigen thümlich organisirte n Gehirnkasten vorkommt - etwas überschnappend un d rapplig« , H. Escher, S. 333; »Auf Hegetschweiler folgt e Steffen, i n dem man , auch ohne ihn gekannt zuhaben , den Enthu siast, de n überspannte n Kop f von weite m scho n erkennne n konnte« , Anonymus , Schreiben , in : Der Ustertag im Spiegel, S . 20, sowie Braendli n Chronik , S . 251; FSW. 203 Siehe Glaettli .

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recht durch Volksausschüsse. Zie l war es, den oberste n stadtstaatliche n Beam ten auf der Bezirksebene, den Oberamtmann, a n das Parlament z u binden un d sein umfassende s Ernennungsrech t zugunste n eine r stärkere n kommunale n Selbstverwaltung einzuschränken . Zu r Freihei t de s Volke s gehör e auch , s o Gujer, dass gesetzliche Mittel un d Wege vorhanden seien , »Beamtete zu entfer nen«, di e »of t noc h ein e weit größer e Las t sind al s alle Abgaben zusammen« . Aufschlussreich is t da s i m Vergleic h zu r deutsche n Traditio n grundsätzlic h andere Verständnis von Beamtentum. Eine Verbeamtung auf Lebenszeit schie n Gujer unvorstellbar , d a sic h dan n »di e Gefah r vo n Nachteile n ergibt , di e un s Beamtete zufüge n können , die , wen n si e einma l a m Platz e sind , de m Vol k nichts mehr nachzufragen glauben« . De r im deutschen Sprachgebrauc h gängi ge Begriff des »Staatsdieners« erhiel t hie r i m republikanischen Verständni s de r politisch-sozialen Einhei t vo n Staa t un d Gesellschaf t automatisc h ein e direk t auf die Gesellschaf t bezogen e dienend e Funktion ; di e Einführun g de s Wahl beamtentums mi t kurze r Amtsdaue r auc h i m judikativen Bereic h wa r dahe r nur konsequent. De r ZugrifFauf die beiden wichtigsten staatliche n Schlüssel positionen - den Oberamtman n bz w Amtsstatthalte r i m Bezir k sowi e de n Untervogt oder Gemeindeammann i n der Kommune - fehltejedoch i m Uster memorial. Dor t blieb es weiterhin be i der Wahl durch den Kleine n Ra t bzw i m Falle des Gemeindebeamten be i einem Dreier-Vorschlagsrech t de r Gemeinde . Offensichtlich erregt e diese Zurücknahme kein e Kriti k bei den Versammel ten. Bewegun g ka m ers t i n da s Publikum , al s sic h Steffa n de n »allgemeine n Wünschen«, d . h . de n mehrheitlic h materielle n Forderungen , zuwandte . Di e Ermäßigung de r Steuer n sowi e Herabsetzun g verschiedene r Laste n un d de s Zinsfußes, di e Aufhebun g de s Zunftzwang s un d di e Umstrukturierun g de s Wehrdienstes, di e Verbesserun g de s Schulwesens , di e Veröffentlichun g de s Staatshaushalts, di e Änderun g de r Advokatenordnung un d di e Wahl de s Seel sorgers nac h Prob e ρ red igt durc h di e Kirchgemeind e - insgesamt fünfzeh n Punkte listet e da s Ustermcmoria l auf , di e bereit s i n de r Flugschrif t de s »Dr . Freimann« weitau s radikale r formulier t worde n waren . Steffa n kommentiert e den Berichten nac h die einzelnen Punkte mit »schlagendem Witz« und in eine r volkstümlichen Sprache , die sicherlich gege n die eher abstrakten Darlegunge n vom Wesen de r Freihei t de s Vorredners Hegctschweile r un d selbs t Gujer s ab stach.204 Mit seiner Aufforderung a n die Versammelten, weitere Beschwerde n einzu bringen, löste Steffan schließlic h eine Woge von Zurufen aus. Sie finden sic h i m dritten Forderungstei l de s Ustermcmorials al s »von einzelne n Seite n nachfol gend ausgesprochene speziell e Bemerkunge n un d Wünsche«. Dies e insgesam t fünf Punkte vermitteln in ihrer Heterogenität plastisch das Nebeneinander tra ditioneller un d neue r Bedürfnislage n sowi e de n tatsächliche n soziale n un d 204 Anonymus, Schreiben , in : Der Ustertag im Spiegel, S. 20.

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wirtschaftlichen Druck , de r auf dem einzelne n lastete . Stat t der diplomatisc h umschriebenen »Berücksichtigun g allz u lästige r Zehntenbezüge « i m zweite n Teil des Memorials wurd e hie r konkre t di e Revision de s Loskaufgesetzes un d die Verzinsung des Loskaufkapitals durc h die Korporationen gefordert. Sozial e wie eigentumsrechtlich e Aspekt e berührt e de r zweit e Punk t eine r Abmil derung de r Forstordnung . Di e dritte Forderun g nac h staatliche r Übernahm e des Straßenwesen s sollt e einerseit s di e Gemeind e entlasten , andererseit s di e Kommerzialisierung begünstigen . Das Begehren, die jährlich von den Niedergelassenen i n einer Gemeind e z u zahlenden Gelder , die »Ansässengelder«, ge setzlich festzulegen , reflektiert e di e wachsenden soziale n Spannungen , wie sie sich aufgrun d de r gesteigerten Mobilitä t i n vielen Gemeinde n entwickel t hat ten. »Hinweg mi t den Webereyen! Hinwe g di e Seidenspinnerey! « - es war unzweifelhaft dies e letzt e Forderun g de r Oberlände r Heimarbeiter , di e bei der großen Mehrhei t de r ländlichen Liberale n trot z grundsätzlicher Zustimmun g zur politischen Reform einen bitteren Nachgeschmack hinterließ und mit dazu führte, das s im engsten Führungskrei s u m Braendlin der Stab über Steffa n gebrochen wurde . ^ Nur durc h di e Zusicherung, i n allen Punkten Abhilfe z u schaffen, lie ß sic h die Meng e beruhigen . Nachde m da s Memorial i n offene r Abstimmun g pe r Handzeichen von den Versammelten gebilligt und anschließend von rund 3000 Personen unterschriebe n worde n war , löste sich die Volksversammlung fried lich un d ohn e weiter e Vorkommniss e auf. 2'*' Nebe n euphorische n Stimme n wurde vielfach Besorgni s geäußert, wie sich die Stadt angesichts der von vielen als überspannt empfundene n Forderunge n verhalte n werde , abe r auch die Eigenmächtigkeit, mi t der die Versammelten sic h zu Worte gemeldet hatten , ver schreckte viele. Wären die drei Volksredner, so der anonyme Augenzeuge, gan z »einfach be y de r Forderun g eine r verhältnismässige n Repräsentation , eine r freyen Wahl , de r Pressfreyhei t un d de s Petitions-Rechte s stehe n geblieben« , hätte man sich »zu diesem Tage und seinen Folgen Glückwünschen können«. 207 So aber, fuhr er an anderer Stelle fort, bedürfe es »nur noch einen einzigen, nur 205 Braendlin kritisierte an StefTan, dass er »anstatt darüber wegzugchen, oder zu thun als hörte er es nicht, mehrere n solche n Schreyer' n antwortete , auc h da mus geholfen werden. « (Braendli n Chronik, S. 252; FSW). Das Paradoxe der Situation, dass ausgerechnet eine Führungsperson i n der Textilfabrikation ein e solche Forderung begünstigte, fand überraschenderweise kein e Erwähnung . 206 Friedrich Ludwi g Kelle r gibt an, es seien insgesam t 2 6 % Unterschriften geleiste t worden , von dene n 1262 allein au s de m östliche n Kantonsteil , spric h de m heimindustrielle n Züriche r Oberland, stammten . Sieh e F.L. Keller, Brandstiftung , S . 166. 207 Anonymus, Schreiben , in : Der Ustertag im Spiegel, S. 21. Bei Braendlin Chronik , S . 254f ; FSW, finde t sic h der Hinweis, ein neben ih m Stehender hab e gesagt, »es seye vollkommen genu g an demjenigen s o die ersten zwe y Spreche r der Vcsamlung vorgetragen! Diese r Hr . [StefTan] ver spreche mehr, als er zu halten im Stande seye, es wäre gut, wenn er zum Schluss seiner Red e eilte , weil e r ohne ander s dem vor ihm gesprochenen Schade n thueü« .

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Einen Schritt , s o ist der Tige r de r Annarchie entfesselt ; Empörung , Volksauf stand sin d ohn e Zweife l vo r de r Thüre , un d di e nächste n Tag e werde n ent scheiden, ob die Furien über uns losstürzen, oder nicht«. 20K Dass die befürchte ten Furie n nich t losstürzten , la g auc h a n de r Ohnmach t wi e Einsich t de r Züricher Räte . Au f di e Nachrich t vo n de r Versammlun g i n Uste r erlie ß de r Züricher Staatsra t eine Instruktion a n die betroffenen Oberämter , alle s zu tun , damit durch »milde Einwürkung dieselbe unschädlich ablaufe.« 2m Konkret hieß das, die Geschehniss e zwa r z u beobachten, abe r nich t einzugreifen . Diese erstaunlich e Zurückhaltun g wir d au s Briefzeugnisse n verantwortli cher Regierungsmitgliede r bestätigt . Selbs t tie f i m alte n Syste m verwurzelt e konservative Rät e wi e Han s Conra d vo n Muralt , de r i n de n Ereignisse n vo n Uster das Ende der Republik Zürich wie auch der ganzen Schwei z sah, wollten unter alle n Umstände n eine n Bürgerkrie g verhinder n un d weigerte n sich , Waffengewalt einzusetzen , den n »fantastische n Idee n z u gefalle n wollt e ic h nicht Hunderte , vielleicht Tausende morden lassen«. 210 Ob ein solches gewalt sames Vorgehen jedoch überhaup t Erfol g haben könne , bezweifelte de r Groß rat David Hes s in seinem Brie f an einen Winterthurer Freund . Wie hätt e man , fragte er , de m »Unfug « frü h genu g Einhal t tu n können , d a »thätlich e Re pressionsmittel« de m Kleine n Ra t nicht zu Gebote stünden. 211 Zwa r hatt e sic h umgehend ein e Bürgerweh r von etwa 400-500 Personen gebildet , die Bewaff nung sollt e aber lediglich, wie Johann Kaspa r Bluntschli al s Augenzeuge erin nerte, zu m Schut z de r Persone n un d de s Eigentum s dienen . Angesicht s de r Schwäche des stadtstaatlichen Machtapparat s machte sich zunehmend Nieder geschlagenheit un d Entmutigun g unte r de r Stadtbürgerschaf t breit , un d zwa r quer durch alle Lager. 212 Über die unheilbringende Wirkung der »politische [n] Cholera-morbus« ode r de r »l'epedemi e demoeratique « bzw . de r »l'anarchie complcttc« und des »übelsten Terrorismus« war man sic h in den aristokratisch reaktionär gesinnten Kreise n bis zu den gemäßigt Liberale n einig. 213 Di e Stim 208 Anonymus, Schreiben , in : ebd. 209 So der Bürgermeister Han s von Reinhar d vor dem Große n Ra t am 24. November, zitier t nach: ebd., S . 13. Auch H . Uscher , S. 330, erinnerte sic h a n di e »Instruction , >u m mittelbar s o viel möglich einzuwirken , das s di e Volksversammlun g kein e schädlich e ode r gefährlich e Richtun g nehme««. 210 Zitiert aus dem Brief Muralts an Johann Caspar Zellweger vom 28. November 1830, abgedruckt in : ebd., S. 34, und dem Brie f an den Züricher Gesandte n Josef Karl Amrhyn vo m Vortag , S. 33. 211 Siehe Davi d I less an Ulrich Hegne r vom 30. November 1830, abgedruckt in : ebd., S. 4 1 43, hier S . 42. 212 J.K. Bluntschli, Denkwürdiges , S . 122. 213 Diese Äußerungen finde n sic h in dem Briefwechse l de r beiden revolutionären Heroe n de r Helvetischen Republik , de s Waadtländers Frederi c d e L a Harp c un d de s Züricher s Pau l Usteri , abgedruckt in : De r Ustertag im Spiegel, S . 28-32. Zu de n ultrakonservative n Stimme n zählt e jene David Hess' , der mi t de r Ausbreitung de r »politischc[n ] Cholera-morbus « eine n neue n europä ischen Krie g heraufziehe n sa h un d eine n Vergleic h zu m Stur z de s Bürgermeister s Waldmann s

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mulig wurd e zusätzlic h gedrück t durc h di e tiefverwurzelte, uralt e Angst vor einer ausländische n Interventio n i m Momen t de r innereidgenössische n Schwäche.214 Di e Bedrohun g de r schweizerische n Unabhängigkei t - dieser Kerntopos de r eidgenössische n Geschicht e - wurde nu n wiederu m aktuell , nachdem die traumatischen Erfahrungen der napoleonischen Koalitionskriege, die zum Gutteil auf schweizerischem Bode n ausgetragen worden waren, noch nicht zur Vergangenheit zählten . Die resignative Stimmun g unte r den Stadtbürgern wurd e noc h weiter geschürt, als Bürgermeister Reinhard berichtete, wie die sieben gewählten Deputierten de s Ustertage s das redigierte Memoria l überreich t hatten . Mit deutli chen Worte n warnte n si e vor de n Folgen , sollte n sic h di e Rät e uneinsichti g zeigen. Tiefen Eindruck machte zudem das solidarische Verhalten der Bürgerschaft vo n Wintert hur. Anders als in der Vergangenheit hatt e ma n sic h nicht durch Vergünstigungen au f die Seite Zürichs ziehen lassen . Die Überbringe r des Memorials schiene n rech t z u haben - dieses Mal hatt e die Landschaft z u politischer Geschlossenheit gegenüber der Stadt gefunden. 215 In dieser Situation waren es laut Bluntschli die »liberalen ›Jungen‹« u m Keller, zu denen er sich auch selbs t zählte , die da s Hef t a n sich rissen . Entschieden trate n si e fü r di e Verständigung mit der Landschaft ein, wollten sich allerdings nicht die Initiative aus der Hand nehmen und »so lasch wegdrengen lassen«. 210 Deshalb hielten sie daran fest, die Verfassungsrevision durc h den bestehenden Großen Rat und nicht etw a durc h eine n neugewählte n Verfassungsra t vorzunehmen . Offen sichtlich wollte die Mehrheit des Großen Rats aber kein Risiko eingehen un d entschied sic h fü r Neuwahle n au f der Grundlage der geforderten 2/3 Vertretung der Landschaft und per Direktwahl am 6. Dezember 1830. Statt der bisher nur 56 Großräte (einschließlic h de r 5 Winterthurer) wi e unte r de r Restau rationsverfassung wählten die ländlichen Wahlzünfte nun 141 Großräte direkt. An den Wahlrechtsbedingungen ändert e sich dagegen nichts . Weiterhin stan d 1489 zog, vgl . ebd. , S . 41-43. Oberamtmann H . Lischer , S. 327-333, schließlich erkannt e zwa r grundsätzlich einige Ansprüche der Landschaft an, verurteilte aber den »Terrorismus des Ustertages mit seinen Illegalitäeten und theoretischen Übertreibungen« . 214 So sah Hess die konkrete Gefahr einer Wiederauflage der 11 eil igenAllianz von 1Η14, die zu einem russischen Einmarsch führen würde, siehe David Hess an Ulrich Hegner vom 30. November 1830, abgedruckt in: Der Ustertag im Spiegel, S. 42. 215 Braendlin berichtet e al s einer der Deputierte n von der Unterredung mit Bürgermeiste r Reinhard. Dabei habe man auf die Gefahr hingewiesen, sollte die Regierung nicht den Wünschen entsprechen, könne man nicht für die Bewegung garantieren. Sicherlich ließe sich aber nicht, wie in der Vergangenheit, die Landbevölkerung gegeneinander ausspielen. Siehe Braendlin Chronik, S. 268; FSW. 216 Diese Äußerung bezo g sic h woh l au f die Abstimmung i m Großen Ra t am 25. und 27. November über die weitere Vorgehensweise, als Keller, Oberamtmann Hirzel, Oberrichter Hess und Ferdinan d Meye r mi t einigen andere n ein e Minderheitspositio n vertraten . Die s berichtete Josef Karl Amrhyn an Josef Franz Amrhyn am 30. November 1830, abgedruckt in: Der Ustertag im Spiegel, S. 27.

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das aktive Wahlrecht jedem selbständigen, d. h. nicht in Kost und Lohn stehenden, Gemeindebürger zu; für das passive Wahlrecht galt ein Vermögenszensus von 5000 Franken.217 Die Fülle der Wahlaufrufe un d Ermahnungen an die »Eidgenossen« zeigen , wie beunruhigt die ländlichen Liberalen waren, Korruption und alte Ressentiments, hier als »Parteienzwist« bezeichnet, könnten die Wahlen bestimmen. 2,H Das Misstrauen gegen das einfache Volk leistete zudem der Sorge Vorschub, es könne zu einem weitgehenden Elitenaustausch kommen , i n dessen Folg e die anspruchsvolle Aufgab e de r Verfassungsrevisio n eine m i n politische r Arbei t unerfahrenen Gremiu m überantworte t würde . Wie sic h zeige n sollte , ware n diese Befürchtunge n unbegründet . Di e Neuwahlen stande n ganz unter de m Signum der Personenwahl, so dass einerseits eine große Anzahl der bisherigen Großrätc wiedergewählt wurde, andererseits aber auch die jüngeren Kräft e in Stadt un d Land , die bisher wegen de s Kooptationsverfahren s ausgeschlosse n blieben, ein Mandat erhielten.219 Diese Durchmischung des Großen Rats spiegelte sich in der nun gebildeten Oköpfigc n Revisionskommission , die in etwa zu gleiche n Teile n au s Stad t un d Landschaf t zusammengesetz t wurde . Prä sident wa r de r gemäßigt e Stadtliberal c Usteri , de r vo n viele n Landbürger n geschätzt wurde und für die Verständigung eingetreten war, allerdings jede direkte Volksbeteiligung ängstlich ablehnte und den Ustertagals »desastre« 220gefürchtet hatte. Mit Meyer von Knonau gehörte der Kommission auch ein aufgeklärter Vertreter des patrizischen Junkergeschlechts an. Keller, der schon bald die Führung des neuen Rats übernehmen sollte, gehörte ebenso dazu wie seine Mitstreiter, de r Oberrichte r Johann Jakob Hess , de r gemäßigt e Ferdinan d Meyer und der Oberamtmann von Knonau, Conrad Melchior Hirzel. Als Vertreter de r Landschaf t gehörte n u.a . de r Ustertagsredne r Heinric h Gujer , Eduard Sulzer aus Winterthur, der sich mit seinem Wahlaufruf einen Name n gemacht hatte , un d Heinric h Bracndli n de r Kommissio n an. 221 Mi t Konsti tuierung de r Kommissio n tra t die Verfassungsrevision i n ihr e entscheidend e Phase. Am 18. Dezember 1830 erging eine Proklamatio n de s Großen Rat s an die Bürge r des Kantons, die i n allen Pfarrkirche n de s Kanton s verlesen un d zusätzlich i n allen Dörfern öffentlich ausgehäng t wurde und die Bevölkerun g dazu aufforderte, innerhal b von drei Wochen »ihre Wünsche bezüglich auf die bevorstehende Verfassungsrevision zu r Kenntniß der zuständigen Behörd e zu bringen«.222 217 Proklamation de s Große n Rat s vom 27. Dezember 1830, abgedruckt in : Leuthy , S . 115— 119. 218 Siehe dazu i n Bracndlin Chronik , S . 271; FSW den von ih m verfasste n Wahlaufruf , sowi e den Aufruf Eduar d Sulzcrs , abgedruckt in : Leuthy, S . 121-123. 219 Siehe ausführlic h zu m Ergebni s der Wahlen Leuthy , S . 125-134, sowie Weitstem , S. 7ff.

220 Brief an Frédéric de La Harpe vom 25. November 1830, in: Der Ustertag im Spiegel, S. 29. 221 Das Verzeichnis der Konunissionsmitgliede r be i Leuthy , S. 144f . 222 Abgedruckt in : ebd., S . 146.

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3.3. Der »Freystaat« al s Verheißung: Di e Volkspetitione n des Winters 1830/31 zur liberalen Verfassungsrevisio n Die Resonanz au f die Aufforderung de s ncugewählten Große n Rat s war beachtlich: Fast 300 Petitionen gingen im Dezember und Januar 1830/31 aus allen Teilen des Kantons bei der Verfassungskommission ein. 223 Übe r 4000 Einzelforderungen wurde n erhoben , teilweise zusammengestellt z u komplett abgeschlossenen Verfassungsentwürfen, wi e die 141 Artikel umfassende Vorlage des Hans Jakob Furre r au s Bubikon. 224 Nahez u all e Petente n sprache n nich t nur verfassungsrechtliche Problemkreis e an, sondern nutzten die Gelegenheit, alle sie berührende n Beschwerde n aufzuführen . I m allgemeine n enthielte n di e Eingaben deshalb 40 und mehr Punkte . Neben bloßen Auflistungen erschei nen in einer ganzen Reihe von Petitionen ausführliche Begründungen , die den außerordentlichen Wer t diese r Quelle n ausmachen . Entsprechen d umfang reich ware n viel e Petitionen , einig e Schriftstück e belaufe n sic h au f übe r 50 Seiten. Angesichts dieser Füll e beauftragte di e Verfassungskommission de n Staatsanwalt Davi d Ulric h damit , ein e systematische Zusammenstellun g alle r Eingaben z u erstellen , »i n s o fer n dieselbe n sic h nich t zunächs t au f die Staats verfassung, sonder n au f di e verschiedene n Zweig e de r Verwaltung , de r Justizpflege und der Gesetzgebung beziehen«.225 Diese Zusammenschau liefert - neben den Primärquellen - einen wertvollen Überblick über die Art der Beschwerden und ihre Häufigkeit . Als Verfasser traten in der Mehrzahl (Zivil-, Kirch- oder Schul-) Gemeinden, Gemeindebünde ode r gemeind e interne Bürgergemeinschafte n auf. 226 Nach dem in öffentlichen Versammlunge n übe r die Beschwerden entschieden wor223 Staatsarchiv Zürich (StAZH) , Κ III 258.3 (Petitionen Nr . 201-270); Κ III 258.3a (Nr. 175); Κ III 259.1 (Nr. 133-200); Κ III 259. la (Nr. 76-132). Im folgenden erfolgt die Zitation unter Angabe der Herkunft un d der Nummer der Petition, die mit großer Wahrscheinlichkeit vo n der Katskanzlei vergeben wurde. Ein Klammerzusatz gibt die Bezirkszugehörigkeit an. Folgende Kürzel werden verwendet: (Z) = Zürich; (W) = Winterthur; (D) = Dielsdorf; (M) = Meilen; (H = Hinwil. Die Zuordnung der Bezirke richtet sich nach der heute geltenden amtlichen Bezirkse i η teilung. 224 Nr. 216, Bubikon (H). Küster, S. 52, schätzt die Gesamtzahl der erörterten Sachpunkte auf 4(M)0-4500. 225 Vgl. [Ulrich]. 226 Als überkommunale Absende r lassen sich benachbarte Gemeinden, Talschalten, Zünft e — ( Wahlbezirke) und Oberämter finden; sie alle waren aber von der Gemeinde her als Grundeinheit strukturiert. Etwa 186 Eingaben lassen sich als Gemeinde- oder anderweitig körperschaftlich e Petitionen klassifizieren, 65 Petitionen gingen von Einzelpersonen ein und 23 von Berufs verbänden. Zur quantitativen Auswertun g vgl . Kuster, S. 52f., der die 1S 6 Petitionen nochmal s i n 119 Petitionen öffentlicher Körperschafte n un d 67 Eingaben von Bürgerinitiativen unterscheidet . Da diese Bürgerinitiative n abe r jeweils a n eine Gemeindestruktu r gebunde n waren , is t eine solche Differenzierung nich t zwingend.

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den war , unterzeichnete n zumeis t de r Gemeindeamman n un d ander e Ge meindevorsteher »Im Namen der versammelten Gemeinde « oder »sämtlicher Bürger«.227 Oftmal s folgte n abe r zusätzlic h Unterschriftenlisten , besonder s eindrucksvoll ist die von rund 770 Züricher Stadtbürgern unterschriebene Petition gegen die Schleifung der Stadtmauern. Auffällig sind auch vier Eingaben aus dem Heimarbeitergebie t de s Züricher Oberlands mit bis zu 300 Namen, die sich u.a. gegen die Einführung mechanischer Webmaschinen wandten. 228 Andere Gruppenpetitionen - 2 3 an der Zahl - stammten vo n Berufs - und Interessenverbänden wi e de n Huf - un d Waffenschmieden de s Kantons , den Viehbesitzern der Strahlcgg, den Handeltreibende n un d Stadtzüriche r Weinwirten oder etwa den Züricher Geistlichen und den Ansässen (Niedergelasse nen) des Kantons. Eine letzte Gruppe umfasste die Einzclpetitionen. Insgesamt 65 Privatpersonen meldeten sich zu Wort, wobei die Hälfte von ihnen persönliche Anliegen vorbrachte. 29 dieser Petitionen geben keine Auskunft über die berufliche un d soziale Stellun g ihre r Autoren, die übrige n weise n abe r au f ein rech t breite s sozioprofessionelles Spektru m hin. Außer Honoratioren de r alten un d neue n Züricher Stadt- und Staatselite, wie dem Oberst Escher von Berg, Junker Meiß sowie Kantonsprokurator Schinz und Advokat Furrer aus Winterthur, äußerten sich der Müller Hotz von Hinwil, der Zimmermann Dändlike r von Stäfa und andere Handwerker und Gewerbetreibende sowie mehrere Ärzte. Die Einzel227 Nr. 269, Necrach un d Lind t (D) : »Hoch-Ehrerbietigc Wünsche , welch e i n de r de n 17. Januar 1831 abgehaltenen Gemein d Neerac h &Lind t mi t Einmuth abgeschlosse n wurde« ; Nr . 11, Ucgcnsberg (D) : »versammelte sich auf diese Bekanntmachung hi n die unterzeichnete Gemeinde , um sic h sowoh l übe r die Angelegenheiten de s ganzen Canton s al s auch übe r ih r eigenes Vol k z u berathen«. Di e Eingab e schloss mit der Formulierung : »I m Nahme n de r Gemeindcbürgergesell schaft«. Di e Abfassung de r Petitionen folgt e zumeis t dem Proceder e des Ustermemorials, d . h., es wurde im voraus ein Text vorbereitet, über den man abstimmte. Zusätzliche Forderungen wurde n während de r Versammlung al s Nachträge hinzufüg t un d di e redigiert e Petitio n abschließen d zu r Unterschrift ausgelegt . Sieh e de n Schlus s be i Nr . 64, Uingwil (H) : »Der o ergeben e Mitbürger . Jenseits folge n di e Unterschrifte n sämtliche r Presenten. « Andere Gemeinde n versammelte n sic h aber offensichtlic h zunächs t öffentlich , u m Wünsch e un d Beschwerde n z u sammel n un d dan n eine eigene Kommissio n zu wählen, die den Forderungskatalog i m Namen der Gemeinde erstellte . Vgl. Nr . 133, Waisenrichter Knech t u.a . (H) : »s o habe n sic h di e unterzeichnente n Bürge r de r Gemeinde Dünne n versamelt . un d al s beauftragte Männe r ihre r Gemeind e folgend e Ansichte n und Wünsch e theil s einmütig un d theil s mit Mehrhei t fü r gu t befunden« ; Nr . 49, Dällikon (D) : »So haben di e Vorsteher der Kirchgemeind e Dällikon , i n Beystimmun g de r Bürge r nac h versam melter Gemeind e beschlossen , ein e Comissio n zusetzen , di e da s Verfassungs-Geset z vo n 1814 prüfen un d hernach ihre n Antrag der versammelten Bürgerschaf t z u eröfnen«; sieh e auch Nr . 80, Niederglatt un d Nöschiko n (D) : »Nach vielfache r un d sorgfältige r Anhörun g de r Wünsche un d Ansichten der meisten Bürge r unsere r Gemeinde nehme n di e Unterzeichnete n sic h die Fre y hei t, dieselben vo n sich aus an eine respektiv e VerfassungsCommission gelange n z u lassen. « 228 Nr. 204, Stadtrat un d Majo r Nüscheler . Zürich-Stad t (Z) ; Nr . 40, Wetzikon (H) , 288 Unterzeichnende: Nr . 56, Oberhittnau (Pfäffikon) . 109 Unterschriften; Nr . 123, Thal un d Ho f (H), mi t 218 Unterzeichnern; Nr . 270, Bäretswil (H), mit 127 Unterschriften sowi e au s de m Seebezirk Meile n Nr . 246, Männedorf (M) . mit 259 Unterschriften.

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petentcn gehörte n offensichtlic h z u den - allerdings sozial breit gestreuten gebildeten Schichten , unte r ihne n nahme n di e Stadtbürge r vo n Winterthur und Zürich insofer n ein e zusätzliche Sonderstellung ein, als einzelne von ihnen ihre Überlegungen i n ausführliche philosophisch-politisch e Reflexione n einbetteten. Das niedrigere Bildungsniveau, aber auch die Tatsache, dass bäuerliche Interessen - wie etwa die Ablösung des Zehnten - an die Gemeinde gebunden waren, führten dazu, dass bäuerliche Petenten die gemeindliche Gruppenpetition bevorzugten . Einige der Petitionen, wie die »sämtliche[r] Bürge r der Zunft Schöfflistorf « oder die Gemeinden des Wehntals, legten ihrer Eingabe die Kantonsverfassung von 1814 zugrunde, di e si e artikelwcise ergänzte n ode r modifizierten. 229Die überwiegende Zah l de r Petitione n verwie s abe r i n ihre r Einleitun g au f das Ustermemorial. Oftmal s bildete das Ustermemorial soga r die direkte Vorlage für die ausführliche Auseinandersetzun g mi t der zukünftigen Gestaltun g de s politischen Apparats , trotz , wi e di e Bürgergemeind e Meyac h betonte , »un sere[r] schwachen Kenntnisse in Staatssachen«. 230 Andere Petitionen schlössen sich einfach pauschal den staatspolitischen Forderungen des Memorials an, um dann weitergehende Begehre n aufzuführen, di e »als Nachtrag des Memorials von Ustcr , als Zusatz dieser Hauptgrundsätze« , s o etwa die Gemeindebürge r von Hinwil, verstanden werden sollten.231 Diese zusätzlichen Forderungen lassen sic h i n dre i Themcnbercich e gliedern : wirtschafts - un d sozialpolitisch e Anliegen, Fragen der Gemeindeautonomie sowie Forderungen zum Kirchen und Schulwesen. 232 Das s dies e Punkt e teilweis e al s die eigentlic h wichtige n angesehen wurden , enthüll t beispielsweis e di e Eingab e de r Gemeinde n de s Wehntals, die freimütig bekannten : »Wenn alle diese Verfassungspunkte meh r und wenige r uns nah e angehen , s o ist es aber besonders der 4., nämlich di e Gewerbe- und Handelsfreiheit, di e uns nahe am Herzen liegt.« 233 229 Vgl. de n Tite l vo n Nr . 149, Zunft Schöfflistor f (D) : »Revisions-Entwur f de r Staats verfassung de s Kanton s Zürich vo n 1814«; Nr. 268, mehrere Gemeinde n de s Wehntals (D).. 230 Nr. 213, Meyach (D) . 231 Vgl. Nr . 63, Hinwil (H) , Einleitung ; sieh e auc h Nr . 66, Regensdorf un d Adliko n (D) : »Allervorderst gehen die Wünsche aller Bürger unserer Gemeinden (dafü r herrsch t nur eine Stim me) dahin, das ... in Uster verlesene Memoria l i n allen seinen Zeilen zu unterstützen un d nachfol gende Wünsch e insbesonder s vorzutragen. « E s is t auffällig , das s dies e Forderunge n häufi g al s gemeindespezifisch betrachte t wurden , obwoh l si e tatsächlic h vo n eine r ganze n Reih e vo n Ge meinden eingeklag t wurden . Auch hieri n zeigt e sich der stark kommunal geprägt e Denkhorizon t vieler Petenten . 232 David Ulrich hat in seiner Zusammenstellung die Forderungen stärker systematisiert nac h den Verwaltungsbereichcn : Auswärtiges , Inneres , Militärwesen , Justizpflege un d Gesetzgebun g sowie Kirche und Schule. Ulric h selbs t wies auf die Schwierigkeit hin , die einzelnen Forderunge n klar z u klassifizieren , zuma l - wie e r ausdrücklich betont e - oft schwer z u entscheiden ist , ob ei n Gegenstand überhaup t de r Verfassungsgesetzgebung zuzuordne n ist . Siehe [Ulrich] , S. 3 f 233 Litt. B , Gemeinden de s Wehntals.

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Die einzelnen Forderungskatalog e wirken häufig ähnlich heterogen wie das Ustermemorial selbst . Aus allen Bereichen der dörflichen Lebenswel t stammten die Begehren , die sich durchaus - im streng liberalen Sin n - auch wider sprechen konnten , wenn etw a nebe n de r Handels - und Gewerbefreihei t di e Abschaffung de r mechanische n Webstühl e eingeklag t wurde . Dies e Koin zidenzen spiegel n dami t de n Spaga t zwische n de n unterschiedliche n Inte ressenlagen innerhalb der Dorfgesellschaft un d der geltenden Prämisse kollektiver Interessenartikulatio n wider . Vereinzel t lasse n sic h abe r auc h deutlich e Parteiungen innerhalb der Gemeinden feststellen. Einige Petitionen enthalte n beispielsweise i m Unterschriftentei l gesondert e Nachträg e einzelne r Perso nen, die sich offensichtlich mit ihren Wünschen im größeren Kreis nicht hatten durchsetzen können . Johannes Suter und Dr. Müller aus Gossau fühlten sic h wohl aus diesem Grund bemüßigt, der Gemeindepetition eine n Zusatz beizufügen, mi t de m si e sic h gege n di e Einmischun g de r Geistliche n i n di e Ge meindeangelegenheiten aussprachen. 234 Aus anderen Gemeinden gingen sogar zwei unterschiedliche Petitione n ein . Grundsätzlich andere r Meinun g al s die Mehrheit de r Gemeinde ware n offenkundi g di e Gebrüde r Hochstrasse r au s Gircnbad. In einer Einzelpetition verteidigten sie den Schutz ihrer Patentrechte, der sogenannten Ehehaften , während die Girenbader Kollektivpetitio n di e Handels- und Gewerbefreiheit »soviel als möglich« gefordert hatte.235 In einem Fall kam es zu mehreren Eingaben aus einem Wahlbezirk, hier Zunft genannt , die sich demonstrati v voneinande r abgrenzten . Di e Gemeinden Elliko n un d Dorlikon fühlte n sic h nicht nur übergangen, sonder n regelrecht diskreditier t durch ein e im Name n de r Zunft Dorliko n verfasste Petition . Einig e der Gemeindemitglieder hatte n wohl diese Petition eingesehen un d unterschrieben , die Gemeindevorsteher machten aber in nachträglich eingereichten Petitione n geltend, si e un d ihr e Gemeindegenosse n hätte n di e Eingab e ni e z u Gesich t bekommen. Man verwahrte sich ganz entschieden gegen den Eindruck, diesen Wünschen zugestimm t z u haben un d beteuerte , »das s unsere Gemeind e mi t Ausnahme einiger Bürger nicht unter diejenigen zu zählen seye, die übermäßige Freyheit verlangen oder von der Regierung etwas fordern, was dem Naturgesetz zuwider läuft.« 236 Dieser Vorfall is t insofern besonder s interessant, da er einerseits widerspiegelt, wie fes t verwurzel t de r Gedank e de r kollektive n Meinungsartikulatio n war, indem die Gemeindebürgerschaften sic h besorgt zeigten, die Unterschrif234 Nr. 143, Gossau (H) . Siehe auch die Eingabe von Johannes Hunzinger , H . Honegger un d R. Steiger (Nr . 189) aus Uetikon als gesonderter Nachtra g zu der Gemeindepetition Uctiko n Nr . 188 (M). Die drei Petente n hatte n offensichtlic h di e Aufnahme ihre r Forderun g nac h einem ver besserten Schulwese n i n die offizielle Gemeindepetitio n nich t durchsetzen können . 235 Nr. 93, Gircnbad (H) , §29, und Nr . 102, Gebrüder Hochstrasse r (H) . 236 Nr. 22, Nachträge Dorliko n vo m 2. 2. 1831 , und Ellikon , 8. 3. 1831 , auch i m Name n de r Gemeinden Rickenbac h un d Altikon (Andclfingen/Winterthur) .

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ten einiger ihrer Mitglieder könnte n den Eindruck erwecken, es handele sich um die Meinung der Gemeindemehrheit; andererseits zeigte ihre heftige Reaktion erste Ansätze eines Meinungspluralismus. Die verärgerten Gemeindevorsteher sahe n i n de m Vorfal l ein e Verletzun g ihre s Recht s au f Meinungsäu ßerung und pochten auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln . Viele Petitione n weise n ein e sehr große Übereinstimmun g i n sprachliche r Hinsicht au f Offenkundi g wurde n ganz e Textpassagen bzw. Forderungskataloge voneinander abgeschrieben oder komplett kopiert. In allen Landbezirke n lassen sich solche »Musterpetitionen« ausmachen, die unter benachbarten Dörfern zirkulierten. Ein eindrucksvolles Beispiel dieser »interkommunalen« Vernetzung ist die Eingabe der Bürger von Wctzikon, die sich, abgestuft von vollständiger wörtlicher Wiedergabe bis zu passagenweiser Kopie, in fünf weiteren Petitionen des Züricher Oberlandes wiederfindet.237 I n den städtischen Eingaben lässt sich hingegen ein deutlicher Zug zur »Individualisierung« ablesen. 238 Aus diesem umfangreichen Quellenfundu s wurde ein repräsentatives Quel len-Sample zusammengestellt, um der Ausgangsfrage nachzugehen, inwiefer n traditionelle un d neue , korporativ e un d individualistisch e Denkmuste r mit einander vereinbar waren, wie Neues rezipiert und überkommene Werte kommunaler Autonomie - in »zeitgemäße Form« transformiert - eingefordert werden konnten. Dass eine besondere »Anschlussfähigkeit« liberale r Positionen an Denkmuster de r Frühe n Neuzei t bestand , di e durc h di e weitgehende kom munale Freiheitstraditio n begünstig t wurde , ha t da s vorhergehende Kapite l anhand einer ganzen Reihe von Beispielen verdeutlicht. Die Analyse des Quellen-Samples zeig t nu n zusätzlic h auf , welche n Einflus s di e aktuellen lebens wcltlichcn Erfahrunge n de r Petente n au f die Modifikatio n de r überlieferte n Ordnungsmustcr hatten . Di e grundrechtsähnliche Auffassun g vo n persönli chem Besitz, das korporativ gegründete Recht auf politische Partizipation sowie das altbürgerliche Prinzi p der gleichen Verteilung der Lasten und Pflichte n diese dre i wechselseiti g aufeinande r bezogene n Fundamcntalprinzipie n ge meindlich-genossenschaftlichen Selbstverständnisse s bestimmen deshalb fol gerichtig den analytischen Zugriff auf das Quellenmatcrial. 237 Alle im Bezirk Hinwil (H) : Nr. 40, Wctzikon, 30. Dezember 1830; Nr. 176, Adentswi], 7. Januar 1831; Nr. 143, Gossau, 8.Januar 1831; Nr. 184, Böndler, 10.Januar 1831; Nr. 185, Ottikon, 10. Januar 1831; Nr. 123, Thal un d Hof , 31. Januar 1831. Vgl. auchvo n Arb, S . 92-97. Für de n Agrarbczirk Dielsdor f siehe u.a. di e Eingab e aus Oberhasli (Nr . 38) vom 4. Januar 1831 in ihre r Vorbildfunktion fü r die bis auf einen Punk t komplett identische Petition der Gemeinde Nieder hasli (Nr . 41) vom 6. Januar 1831 und der Petition aus Dielsdorf (Nr. 74) vom 6. Januar 1831 (bis auf die Schlusspassage) . Fü r den Seebezir k Meilen lasse n sich nu r partielle Übereinstimmungen finden, ζ. Β . im Einleitungsteil zwischen Nr. 165, Gemeinde Stäfa, vom 10. Januar 1831, und Nr . 188, Uetikon vom 8. Januar 1831. 238 Aus der Stadt Zürich gingen mit zwölf Eingaben die meisten Einzel initiativen ein, es folgte Winterthur mit acht Einzclpetenten.

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Ausgewählt wurde n di e Eingabe n vo n insgesam t fün f Züriche r Bezirken : Dazu zähle n wegen ihre r Stellung als ehemalige Herrschaf t di e Stad t Züric h und Winterthur als einzige größere, mit eigenem Stadtrecht privilegierte Stadtgemeinde des Kantons.239Von den Landbezirken wurde stellvertretend fü r die wirtschaftlich un d kulturel l prosperierende n Seebezirk e de r Bezir k Meile n herangezogen, als agrarischer Bezirk Diclsdorf und als heimindustriell gepräg t der Oberländer Bezirk Hinwil. 240 Mit Hilf e de r dre i Untersuchungsfelde r wir d de r Blic k geziel t au f jene Sachgegenstände gerichtet, die die Gemüter besonders bewegten und zu denen konträre Standpunkt e bezoge n wurden. I n dem Neben - un d Gegeneinande r der Meinunge n un d Forderunge n lasse n sic h unterschiedlich e Stadie n de s »Dynamisierungs-Prozesses« de r gemeindlich-genossenschaftlichen Autono miekultur herausfiltern , inde m gefrag t wird , i n welche n fassbare n Lebens bereichen sich ein »individualistischer« Wandel von Deutungsmustern feststel len lässt, auf welches Ziel hin eine solche Dynamisicrung verlief und wo sie an ihre Grenzen stieß. 3.3.1. Individuelles Erwerbsstreben zum Wohl des »gemeinen Nutzens«: Altständisches Besitzdenken und liberales Eigentumsrecht Einen besonders brisanten Schnittpunkt zwischen korporativem und individualistischem Denke n bildet e da s Rech t au f Besit z mi t entsprechende r Verfü gungsgewalt. Zwar gehörte dieses Recht zum Kanon ständischer Freiheitsrechte, doch die Entwicklung des liberalen Eigentumsbegriff s berührt e wie kau m eine ander e direk t di e Problemati k vo n Gemeinwoh l un d Eigennutz . Wi e konnte das moralische Verdikt, das traditionell übe r das individuelle Erwerbs streben gefällt wurde, aus Sicht der Petenten aufgehoben werden ? Das Spektrum der Petitionen, die sich mit Besitzansprüchen beschäftigten , war denkbar breit. Es umfasste sowohl die Zurückweisung von Eigentumsansprüchen, etwa i m Abgabenwesen, al s auch di e Forderun g nac h bestimmte n Verfügungsrechten, zu m Beispiel des freien Handel s mit eigenen Gütern, und es bezog kollektive wie auch individuelle Forme n von Eigentum mi t ein. Of 239 Siehe alsjüngerc Darstellun g der Geschichte Winterthurs die Studie von M. Stiter, Winterthur, der auch auf den Umbruc h korporative r Wertvorstellungen eingeht . 240 Die Auswah l de r Landbezirk e au s de r jeweiligen sozioökonomisc h definierte n Grupp e richtete sic h nac h de r Höh e de r eingesandte n Petitionen , u m au f einen möglichs t reichhaltige n Quellenfundus zurückgreife n z u können . S o stammte n etw a di e meiste n de r Eingabe n au s de n heimindustriell geprägte n Bezirke n de s Züricher Oberlande s aus Hinwil (run d 30 Eingaben) vo r Ustcr mi t 24 und Pfäffiko n mi t 23 Eingaben. De r landwirtschaftlich orientiert e Bezir k Dielsdor f lag mit insgesamt 24 Petitionen vor Andcl fingen un d Bülac h mi t jeweils 19 und ArToltern mi t nu r 10 Eingaben. Morge n un d Meile n al s merkantil ausgerichtet e Seebezirk e gabe n jeweils u m di e 20 Petitionen ein .

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fensichtlich wa r e s z u eine r weitgehende n Fortentwicklun g de s ständische n Besitzverständnisses gekommen. Um diesen Wandel, wie er sich in den Eingaben von 1830/31 niederschlug, richti g einschätzen z u können, ist es unerlässlich, den Petitione n eine n kurze n Entwicklungsabriss de s Besitz- und Eigentumsverständnisses i n Züric h (respektiv e de r Schweiz ) voranzustellen , ein e Entwicklung, di e sic h grundlegen d vo n der in anderen europäische n Gesell schaften unterschied. Erst vor diesem Hintergrund ist zu beurteilen, inwieweit es sich in den Petitionsforderungen u m alte Konfliktlagen handelte, die nun mit Hilfe der liberalen Eigentumslehre auf neue Art argumentativ fundiert wurden. Die Entwicklung des Besitz- und Eigentumsdenkens in der Schweizer Eidgenossenschaft bis·in die Zeit der Helvetischen Republi k von 1798. Schon frü h lasse n sic h i n der Schweizer Eidgenossenschaf t Ansätz e eine s breit verankerte n Verständnisse s von Privatbesitz nachweisen. Voraussetzung hierfür war, dass sich kein lehensrechtlich begründetes Feudalsystem mit adligen Vasallen hatte ausbilden können. Die patr i zischen Stadteliten verdankte n ihr e Stellun g ebe n nich t eine m Va sallenstatus im Lehensverhältnis, sondern ererbter wirtschaftlicher Macht , Bildung un d Familienzugehörigkeit. 241 Zwa r existiert e ei n umfangreiche s Leis tungs- und Abgabensystem, das etwa dem des Deutschen Reich s ähnlich war und in den Quellen allgemein als »Feudallasten« tituliert wurde. In ihrem Ur sprungwaren diese »Feudalrcchte« aber keineswegs Ausdruck einer übergeordneten staatlichen Hoheitsgewalt, sondern wurden als »Ausfluss des Privateigentums, des dominium, aufgefasst«.242 Di e Folgen dieser Entwicklung können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Es kam zu einer besonders tiefen un d frühen Verwurzelun g de r Auffassung vo n Privatbesitz , der zudem i m Unter schied zum erblichen Lehe n beschränkt veräußerlich war. Hoheits- und Nut zungsrechte einerseits, Grund und Boden andererseits waren, wie der Aufbau der Züricher Landeshohei t durch Ankauf der Grund- und Vogteigewalt während des 15. Jahrhunderts nachweislic h dokumentierte, bereits im Mittelalter bedingt »kommerzialisiert« . Dami t bestande n grundsätzlic h günstig e Vorbe dingungen, u m da s Besitzverständni s de s gemeindlich-genossenschaftliche n Denkens zu individualisieren. Da s galt primär für das stadtbürgerliche Besitzrecht, da neben de m Stadtstaa t viele Züriche r Bürge r als Privatpersonen de n 241 Siehe Kölz , Verfassungsgeschichte, Bd . 1, S. 12. 242 Ebd., S. 12f. : »E s existierte also kein Lehensrecht, das Imperium begründete, und es gab auch keinen eigentlichen Adel. Vielmehr wurden i n der Schweiz die»Feudal«-Rechte vor der Revolutio n als Ausfluss de s Privateigentums , de s dominium, aufgefasst.« Köl z unterscheidet zwische n de n ei gentlichen Fcudalrechtc n al s Ausdruck eine s staatlichen Lehenssystems , eine m Lehensrecht , da s folglich Imperiu m (= BefehlsVStaatsgewalt) begründete , un d den schweizerischen Feudalabgabe n als Teil des dominium (= absolute Verfügungsgewalt übe r das Eigentum). Er lehnt sich damit offen sichtlich a n di e Traditio n mittelalterliche r Lehre n an , die Staatsgewal t (imperium ) un d Eigentu m (dominium) al s »strukturverschieden e Herrschaftsformen « begriffen . Sieh e Schwab , S . 65—115, S. 95f.

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Aufkauf vo n Grund - un d Gcrichtsherrschafte n al s Invcstitionsanlag c nutz ten. Diese Praxis führte wiederum auf der untertänigen Landschaf t dazu, Abgaben und Leistungen nicht als Ausfluss persönlicher Unfreiheit, sondern primär als rein vermögensrechtliche Größe n aufzufassen. Sei t Ende des 15. Jahrhunderts war die Leibeigenschaft bis auf wenige Relikte verschwunden, so dass das Verhältnis zu m Grundherr n wenige r al s Abhangigkeits-, den n al s Vertragsverhältnis gedeute t wurde . Dies e Einstellun g musst e noc h verstärk t werde n durch di e zumindest potentielle Möglichkei t de r Gemeinden, übe r Loskäuf e selbst als Eigner dieser Rechte auftreten z u können. In de r Konsequen z ka m es seit dem Spätmittelalte r z u eine m Anstie g de r Eigentumskonfliktc zwische n Grundherr n un d Bauern , wie a m Beispie l de s Klosters Rüti im Züricher Oberland untersucht wurde. 243 Mit den durch Erbleihe verbesserten Besitzverhältnissen der Bauern bildete sich ein persönliches Eigentumsverständnis heraus, 244 das sich etwa in dem eigenmächtigen Verkauf von Liegenschaften bzw. dem Handel mit ihnen äußerte oder in den Schwierigkeiten de r klösterliche n Grundherrin , eine m Bauer n di e einma l urkundlic h zugesicherten Nutzungsrecht e wiede r z u entziehen. 245 Bezeichnenderweis e waren e s diese »Gottesleutc « de s Kloster s Rüti , di e währen d de r Bauernun ruhen von 1525 den Vorschlag machten, sich von Zürich loszukaufe n un d einen eigene n Zwergstaa t au f Gemeindebasis z u gründen. 246 Di e Tendenz zu r 243 Siehe Zangger, Spätmittelalterliche Grundherrschaft ; ders. , Grundherrschaft un d Bauern . 244 Innerhalb der Gemeinden bliebe n dagegen die individuellen Besitzrecht e dem gemeindli chen Kollekti v unbedingt untergeordnet, u m dessen Geschlossenheit un d damit das ökonomisch e Überleben z u sichern . Pete r Bierbraue r zähl t ein e ganz e Reih e vo n Beispiele n dafü r auf , das s Gemeinden de s Berne r Oberlande s ihre n Geineindemitglicder n jed e Ar t de r Verschuldun g be i Auswärtigen ode r etwa die Übernahm e vo n Ewigzinse n zugunste n de r Kirch e be i strenge r Straf e verboten, da diese finanziellen Verpflichtunge n al s Bedrohung un d Minderung des gemeinschaft lichen Einkommen s betrachte t wurden. Sieh e Bierbrauer, Freihei t un d Gemeinde , S . 225ff . 245 Vgl. Zangqer, Spätmittelalterlich e Grundherrschaft , S . 46ff. , un d ders. , Grundherrschaf t und Bauern , S . 608-617, S. 642f. Als weitere Indizie n diese s bäuerlichen Emanzipationsprozesse s führt de r Auto r unte r andere m di e u m sic h greifend e Praxi s an , di e bäuerliche n Leihurkunde n durch mehrere Zeugen beglaubigen zu lassen, wodurch die bäuerliche Rechtspositio n als Vertragspartner erheblic h gestärk t wurde . Überraschen d is t außerdem, wi e seh r de r Einflus s de r Grund herrin au f die Art der bäuerlichen Abgabe n zurückgeht . Eine n letzte n Hinwei s liefer t schließlic h der für die gesamte Züricher Landschaft geltende Anstieg des kommunal finanzierte n Kirchenbau s im Spätinittelalter. Offensichtlic h eroberte n sic h hie r die Gemeinden ei n traditionell herrschaftli ches Betätigungsfeld. Di e Entwicklungeines bäuerlichen Verständnisses von persönlichem Besitz recht und Eigenwirtschaft sin d einschlägige Forschungsfeldc r de r Agrargeschichte. Schutze, Bäuerlicher Widerstand , S . 70ff . ha t i n diese m Zusammenhan g au f di e ursächlich e Bedeutun g de r »individualisierten For m de s agrarischen Produzieren s un d ... ihrer Absicherun g durc h Erbrech t und Nutzeigentum « de r bäuerlichen Familienwirtschaf t aufmerksa m gemacht , un d R . Blickte , S . 176f., hat , weite r zugespitzt , i n de r Grundkonstellatio n eine s zwische n bäuerliche n Unter - un d grundhcrrlichem Obereigentüme r »geteilte n Eigentums « eine n entscheidende n Impul s zu r Aus bildung eines Eigentumsverständnisses erkannt . 246 Nach dem Stur m au f das Kloster Rüt i äußerte n die aufständischen Bauern , man wolle di e

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Verselbständigung der Gemeinden von der Grundherrschaft wurden durch die Säkularisierungswellen de r Reformatio n un d die territorialstaatliche Formie rung des Züricher Stadtstaates noch weiter begünstigt. Die Aufkäufe der vogtund grundherrlichen Gewalte n durch den Stadtstaat gingen einher mit der urkundlichen Bestätigung , di e Alten Recht e der Gemeinden z u wahren. Dem zufolge verschob sich die Konfliktlinie des »geteilten Eigentums« in der Hauptsache au f de n Antagonismu s vo n Baue r bz w Gemeind e un d städtische r Obrigkeit - nicht Adel, Geistlichkeit oder anderen Privatpersonen - und trug so wesentlich zu der Vitalität des kommunalen Frei hei tsimpetus gegenüber staatlichen Eingriffe n bei . Unter diesen Voraussetzungen - einer ansatzweisen privatrechtlichen Eigentumstradition un d eine m zwische n staatliche m Obereigentüme r un d bäuer lichem Nutzungsberechtigten geteilten Eigentum - setzte in der Helvetischen Republik a b 1798 die Diskussio n u m die Aufhebung de r Feudallasten ein , in deren Mittelpunkt die Frage der Entschädigung stand.247 Grundsätzliche Einigkeit bestand zwischen den Lagern der »Republikaner« und »Patrioten« darüber, die Eigentumsansprüch e vo n Privatpersone n unbeding t anzuerkennen , trot z unterschiedlicher Beurteilun g de r Feudallasten al s echter »Schuld« einerseits, erpresster »Auflage « andererseits . Bemerkenswer t is t dabe i di e Haltun g de r Patrioten als Vertreter bäuerlicher Interessen. 248 Zwar wurde in starken Worten die Habgier de s grundherrlichen »Raubvogels « angeprangert, di e Enteignun g eines private n Grundherre n wa r abe r offensichtlic h tabu . Wer seine Rechts ansprüche überzeugen d nachweise n konnte , sollt e mi t eine r Entschädigun g rechnen können. Allerdings musste nicht der Bauer selbst für diese Entschädigung aufkommen, sonder n unter dem Diktum der ausgleichenden Gerechtig keit die neugeschaffene Natio n als langjährige Nutznießerin bäuerlicher Abga8000 fl., di e Züric h eins t fü r da s Amt Grün ingen bezahl t habe , zurückzahlen un d ei n eigene s Gemeinwesen mit dem Hauptort Egg bildenVgl.Dändliker, Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich, Bd . 2, S. 341. Auf die Korrelatio n zwische n verbesserte n Besitz - un d Erbrechte n un d einem wachsende n Freiheitsimpetu s verweis t eindrücklic h auc h Bierbraue r i n seiner Untersu chung des Berner Oberlandes und bestätigt insofern die Untersuchungsergebnisse Zanggers. 247 Siehe zum Thema der Feudalablösung in der Helvetik als Standardwerk für die gesetzlichen Grundlagen Schenkel . An neueren Arbeite n sin d zu nennen: Manz, Basler Landschaft, un d Stark, Zehnten, sowie ders., »Schlechter Hausvate r oder nachlässiger Beamter« mit einem kurzen Überblick über die dramatische Finanzsituation der Republik. 248 In der Charakterisierung der ländlichen Patriote n bahnt sich eine Umwertung an. In der schweizerischen Historiographi e herrscht e bislang das Bild ungebildeter, politisch unerfahrene r und/oder radikal-dogmatischer Akteur e vor, wie es schon von den zeitgenössische n politische n Gegnern, allerdings auch von Gesinnungsgenossen, wie die Äußerung Peter Ochs, sie seien »à peu près nuls«, zeigte, popularisiert worden war. Sebastian Brändli hat dagegen in einem ersten Vorstoß am Beispiel von drei ländliche n Patriote n (Egg , Billeter , Nät) das Bild der Ignoranten konterka riert. Alle drei gehörten der gebildeten ländlichen Oberschicht an und erwiesen sich während ihrer politischen Arbeit in den Helvetische n Gremie n als Realpolitiker. Siehe Brätidli, Die Helvetische Generation, S . 191-207.

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ben.249 Ganz anders beurteilten di e Patrioten hingege n di e Frage, ob auch die grundherrlichen Recht e des Züricher Stadtstaate s zu entschädigen seien . Ein Punkt, der ganz unmittelbare Konsequenze n fü r die finanzielle Situatio n de s eben aus der Taufe gehobenen Staatswesens barg, denn Zehnt, Grundzins und Kapitalzins hatten bislang zu den wichtigsten staatlichen Einnahmequellen gezählt.250 Währen d di e Republikane r auc h hie r da s Eigentumsgebo t gelten d machten, forderte n di e Patrioten die entschädigungslose Aufhebun g de r aus drücklich als »feudal« titulierten Lasten. Nicht formaljuristische Überlegunge n bestimmten ihr e Argumentation , sonder n da s traditionel l antiobrigkeitlich c Autonomieverständnis der Landschaft, aus dem heraus die Grundlasten als Inbegriff einer durch List und Gewalt eingeführten Ausbeutun g des Landmanns durch die »tyrannischen Oligarchen« der Stadt erschienen.251 Ei n Grund für das Scheitern der Helvetischen Republik lag darin, dass die sogenannte bäuerliche Mehrheit im Großrat ihr Versprechen, die Auflagen entschädigungslo s aufzu heben, nich t halte n konnte. 252 Tatsächlic h kehrt e di e Helvetisch e Regierun g angesichts ihre r fatale n Finanzsituatio n bereit s 1801 zum Zehntenbezu g zu rück. Von bäuerlicher Seite als Wiedereinführung der Feudallasten empfunden , lieferte die Zehnten frage Zündstoff für die bürgerkriegsähnlichen Wirren jener 249 Siehe z u den Voten i m Helvetischc n Parlament : P . Bucher , S . 3-7. 250 Vgl. Kiigi, S. 33. Danach speist e sich der Züricher Staatshaushal t i m Jahre 1830 zu 17% aus dem Zehnte n un d Erbzinse n (162.000 Fr) , dem zweithöchste n Einnahmeposte n nac h de r Salz steuer mi t 18% (169.000 Fr). 251 Siehe Votu m de s Abgeordneten Schneider . Besonder s interessan t is t di e Stellungnahm e Bodmers, eines der Protagonisten des Stäfner Handels . In seiner Ablehnung des Zehnten als ungerechter, da einseitiger un d mi t Lis t un d Gewal t eingeführte r Las t verwies e r auf das altständisch e Diktum, all e Unkoste n müsste n al s gleiche Laste n verteil t werden , un d verknüpft e die s mi t de n Signata de r Revolution : Freihei t un d Gleichhei t seie n schön e Worte , abe r wen n ma n ein e »Ein e und untheilbare Republik « habe , warum sollte n dann die einen de n Zehnten zahle n un d die anderen nicht ? Hie r zeig t sic h ein e Überlagerun g überkommene r un d moderne r Vorstellunge n vo n »Gleichheit«, wie sie auch in den Petitionen der Regeneration wieder auftauchten. Voten zitiert bei: P. Bucher, S. 9f.; Simon , S. 174-178, betont die partiellen Überschneidunge n zwische n de m tradi tionellen ländlichen Protestpotentia l un d den (früh-)liberalen Prinzipie n der Helvetik . Di e Aufhe bung der Abgaben lie ß sich dahe r unte r de n moderne n Freiheitsbegrif f subsumiere n un d schie n aus der ländlichen Perspektiv e eine »Gemeinderevolution« z u meinen, mit dem Ziel eines »kostenlosen Gemeindestaates« . Hie r zeichne n sic h deutlich e Parallele n z u de r Problemsituatio n de r re publikanischen Bewegun g Baden s 1848/49 ab. Welche enorme Bedeutun g die Frage der finanziel len Entlastun g tatsächlic h al s Ursach e fü r de n »autonomistischen , antibürokratische n Reflex « ländlicher Schichte n spielte , dokumentiert di e Untersuchung vo n Manz, Basler Landschaft , S . 33. 252 Siehe daz u da s anschaulich e Bil d vo n Rufer , S . 169ff. , da s Versäumnis , di e Feudallastc n abzuschaffen un d allgemein e politisch e Partizipatio n z u ermöglichen, hab e »di e Kluf t aufgerisse n zwischen de n Behörde n un d dem Landvolk , in welcher die Republik ih r Grab finden sollte« . Hol ger Bönin g sieh t da s Scheiter n nich t primä r al s Folg e de r Trennun g vo n Staa t un d Gesellschaft , sondern hebt stärker den dahinterstehenden klassenspezifische n Konflik t hervor , wonach mi t de r Durchsetzung de s Loskaufprinzips di e »von den Vertretern de r Bauer n un d de r bürgerlichen Ra dikalen angestrebte Agrarrevolution« scheiterte zugunsten des »Eigennutzes des nun herrschende n Bürgertums«. Sieh e Böttittg , S . 131; die fehlend e kommunikativ e Vernetzun g de r Akteur e beton t dagegen Brändli. Die Helvetisch e Generation , S . 203f f

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Jahre.253 Diese Virulenz resultierte nicht zuletzt aus der - entgegen dem helvetischen Zentralismusmytho s - de facto gewachsenen Selbständigkei t de r Gemeinden währen d de r Helvctik , di e di e erneute n Gemeindebelastungc n al s obrigkeitlichen Eingrif f in ihre autonome Herrschaftssphäre begriffen. 254 Der Eigentümer ah »Souverän« : Staa t un d Gemeinde ah kollektiv e Eigentümer. I m Ustcrmemorial wi e auch in den Petitionen des Winters 1830/31 gehörten der Große Zehnte und die Grundzinsen wieder zu den prominentesten Themen . Die Reformwünsch e bezoge n sic h i m einzelne n darauf, den Loskau f durch einen au f 3% gesenkten Zinssat z sowi e eine n niedrige r angesetzte n Durch schnittspreis fü r da s Getreide z u erleichtern , un d gleichzeiti g ein e »Kapitali sierung« de r Schul d vorzunehmen , d . h . di e Naturalabgabe n durc h Kapital leistungcn z u ersetzen. 255 Vo n eine r entschädigungslosc n Aufhebun g diese r Hauptgrundlasten wi e noc h zu r Helveti k wa r dagegen i n keine r Petitio n di e Rede. Kritiklo s erkannte ma n nu n di e grundherrlichen Eigentumsansprüch e des Staats an. Wie lässt sich dieser grundlegende Wandel erklären? Offensicht lich wa r ein e individualistisch e Auffassun g vo n Eigentu m un d Eigentüme r zum Durchbruc h gelangt , di e i n jener tie f verwurzelte n privatrechtliche n Traditionslinic de s dominium angeleg t wa r un d durc h di e individualistisch e 253 Rückblickend schildert der Bericht der Regierung vom 14. Dezember 1801 ausführlich die dramatische Finanzsituatio n der Republik , wonach i m Jahre 1799 den vorgesehene n Einnahme n von 13,5 Mio. F r tatsächlich e Einnahme n vo n 3,8 Mio. F r gegenüberstanden ! Diese s eklatant e Defizit wurde i n der Hauptsachc der Abschaffung vo n Zehnten un d Grundzinsen angelastet. Vgl. Das Werden der modernen Schweiz, S. 31. Es kam daraufhin i n verschiedenen Kantone n der Schwei z zu bewaffnete n Aufständen , wi e de m Basclbietc r Bodenzinsstur m (Oktobe r 1800) und de m Züricher Bockenkrie g von 1804, dargestellt bei Koller; zum Tessi n Guzzi, Widerstand. 254 Zu de r Thes e eine s i m helvetische n Einheitsstaa t geschaffene n Gemeinderoderalismus . die von der neueren Heivetik-Forschung vertreten wird, siehe Manz, Zentralismus, sowie Kutter, S. 47f 255 Diese Vorstellungen tauche n al s »Standard-Forderungen« i n nahez u alle n Petitione n de r Bezirke Diclsdor f un d Hinwi l auf , si e fehle n dagege n i n de n städtische n Bezirke n Züric h un d Winterthur sowie im Seebezirk Meilen. Di e Reduzierun g der Loskaufmodalitäte n wurd e mi t den viel z u hohe n Durchschnittswerte n be i de n Getreidepreise n ode r de n Zehntenerträge n fü r di e Berechnung de r Loskaufsumm e begründet . Vor alle m Eingabe n au s de m agrarische n Diclsdor f wünschten de n Getreideprci s pro Mütt an »de n Lau f der Zeit als auch der Billigkei t un d Gerech tigkeit« anzupassen (Nr . 67, Gemeinde Bach , §9). Als Hauptargumen t fü r die Kapitalisierung der Zchntenlast un d ihre r Verzinsung wurden imme r wiede r di e hohe n Einzugs - und Vcrwaltungs kosten angeführt. Nac h Berechnungen der Gemeinde Wetzikon (Nr . 40, [ Η ], §26 ) verschlang der Verwaltungsaufwand insgesam t 47% der Zehntenabgabe, so dass sich eine Kapitalisierung auch fü r den Staat lohnen würde. Die Gemeinde Hinwil (Nr . 63, [ H ] , §1,2) verwies auf die großen Einspa rungen alle r beteiligte n »Vcrwaltungszweigc« , da »di e Amtshäuser, Amtlcuth e un d Zehnden-In spektoren überflüssig« würden. In ähnlicher Weise forderten mehrer e Petitionen, den Zinsfuß fü r das Loskaufkapital a n de m gesetzlic h festgelegte n Zin s z u orientieren. Nac h Auffassun g de r Gemeinde Bäretswi l (Nr . 270, [H]) würd e sic h darau s auc h fü r de n Kredito r de r Grundzinse n ei n großer Vorteil ergeben, müsste er doch nicht »als wie bisanhin mit Kosten von Amtsknechten große Abrechnungen stat t haben«.

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Eigentumslehre de s Liberalismu s weitergeführ t wurde . Beid e begünstigte n einander i n de r Konstruktio n eine s Kollektiveigentum s nac h individualisti schen Vorstellungen . Entsprechen d gal t nu n nich t meh r allei n di e natürlich e Person al s Eigentümer i m Sinn e de s Privatrechts, sondern auc h »überindivi duelle« Personengemeinschafte n - in diesem Fal l der staatliche Fisku s - wurden al s juristische Perso n des Privatrechts konstruiert. 256 Diese Anerkennun g eines staatlichen Eigentumsanspruchs stellte allerdings eine Ausnahme dar, sie bezog sich ausschließlich au f die beiden Hauptabgabe n de s Großen Zehnte n und des Grundzinses.257 Im allgemeine n verschärft e sic h vielmeh r de r tradiert e Sozialkonflik t u m herrschaftliche Abgaben . Di e Rechtsfigu r de s Kollektiveigentümer s ermög lichte den Gemeinden, nun ihrerseits alte Autonomieforderungen (unabhängi g von Rechtspositivismus und göttlichem Naturrecht) in eine neue Argumentation einzubinden , dere n Eigentumsbegrif f di e absolute Verfügungsgewalt de s Eigentümers konstituierte. Analog zum staatlichen Eigentumsanspruch forder ten jetzt auch die Gemeinden und Korporationen die Garantie ungeschmäler ter Verfügung übe r ihr Eigentum i m Sinn e des privatrechtlichen Vermögens rechts. Das spiegelte sich beispielsweise i n den zahlreichen Petitione n aus den drei ländlichen Bezirken Dielsdorf, Hinwil und Meilen wider, die sich mit den Gemeindewaldungen, de r wohl wichtigsten gemeindliche n Ressource , sowie der staatlichen Forstordnung von 1822 beschäftigten.258 Die autonome Verwaltung ihrer Wälder gehörte ganz zentral zum kommu nalen Freiheitsverständnis , entsprechen d hatt e der landesherrlich e Anspruc h eines »Obereigentums « i m Ancic n r égime stet s eine n Konflikther d gebildet . Mit der staatlichen Aufforstungspolitik sei t dem ausgehenden 18. Jahrhundert gewann diese r Punk t erneu t Brisanz . Di e Abwehr staatliche r Eingriffe i n die 256 Auf diese Weise konnte das staatliche Obereigentumsrecht des Anden regime (dominium directum) zu einem den bürgerlichen Grundsätze n entsprechenden Privateigentu m mutieren . Alternativ wäre die Anerkennungeines »öffentlichen Eigentums « denkbar, begriffsgeschichtlich is t jedoch eine solche Umschreibung i m deutschsprachigen Rau m erst für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisbar. Siehe Schwab, S. 87f 257 Statt des Herrschaftskonflikts zwischen Obrigkeit und Untertan scheint in diesem Fall ein Analogiedenken von Gemeinde und Staat vorzuherrschen, und Vorstellungen von gemeinschaftlichem Eigentum, wie sie konstitutiv für die Gemeindekorporation waren , wurden auf den Staat übertragen. 258 Die Revision der Forstordnung wurde in insgesamt 65 Petitionen gefordert (Küster, S. 95). Die Bedeutung des Gemeindewalds für den kommunalen Haushal t in der 1. I lälfte des 19. Jahrhunderts ist kaum z u überschätzen. Fas t die gesamte Finanzierun g de r Gemeindeausgaben, di e Ablösung der Feudalabgaben und sonstige Schuldentilgung speisten sich aus Holzverkäufen. Siehe dazu z . B . Hauser. U m 1830 stellten sic h nac h Angab e de r NZ Z Nr . 35, (1837] , die Besitz verhältnisse des Waldbestandes im Kanton wie folgt dar: Gemeinde- und Korporationswald 50.000 Jucharten, Staatswaldungen 6000 Jucharten, Privatwaldungen um 16.000 Jucharten. Zur Züricher Forstpolitik siehe das einschlägige Werk von Grossmamil Krebs. Siehe darüber hinaus allgemein zur Bedeutung de s Waldes zwische n »mittelalterlichem Nutzungsdenken « un d »moderne r Eigen tum sauffassung« de n Aufsatz von P. Blickte, Wem gehörte der Wald?.

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Autonomiercchte der Gemeinde konzentrierte sich dabei insbesondere auf die Person de s staatliche n Forstmeisters . Gewöhnlic h ginge n di e Forderunge n dahin, unter Berufung auf das kommunale Eigentumsrecht Eingriffe des Forstmeisters nur mit Zustimmung der Gemeinde zuzulassen oder aber generell in Korporationswäldern z u verbieten un d diese Beamtenstelle n a m besten ganz abzuschaffen.259 Besonders stark machten sich die Petenten, an deren (ererbten oder gekauften) Höfen bestimmte Nutzungsberechtigungen hingen , die sogenannten Gerechtigkeiten. Di e Gerechtigkeitsbesitzer der Gemeinde Wielikon etwa wandten sich nicht nur gegen staatliche Eingriffe i n die Verwaltung ihres Privateigentums, sonder n beanspruchte n gleichzeiti g al s staatlich e Schutz maßnahme ein Strafrecht gege n Holzfrevel. 260 Innergemeindlich e Nutzungs konflikte wie diese, die auf eine besitzindividualistischc, auf den Markt orientierte Vorstellung der Holzressourcen rekurrierten, standen jedoch in dem hier ausgewählten Quellenfundus noc h isoliert. 261 Es überwog die Verteidigung von Autonomierechten der Gemeinden gegenüber dem Staat, wie sie aus der individualistischen Interpretatio n einer absoluten Verfügungsgewalt de s Eigentümers floss. Immer wieder wurde deshalb auf die forstmeisterliche »Bcvogtigun g übe r unser wahres Eigenthum« hingewie sen und die Absurdität, dass ein Eigentümer für seinen Besitz auch noch »Auf259 Die Gemeinde Wind lach (Nr. 230, [D]) wollte-»für unse r Eigentum«-jährlich mi t dem Forstmeister zusamme n da s abzuschlagend e Holzkontingen t bestimmen . Dagege n sa h di e Ge meinde Gossa u (Nr . 143, [ H ] , §50) ein generelle s Verbo t de s forstnieisterliche n Eingriff s i n Corporations- und Privathölzer sowie eine Gehaltskürzung für Forstbeamte vor, während die Gemeinde Stade l soga r wünschte , das s »dies e Stelle n abgeschaff t werde n möchten « (Nr . 130, [D], §7). 260 Nr. 186 (M). Es wurden zwe i Nutzungssystem e unterschieden, das »persönliche«, an das Gemeindebürgerrecht gekoppelte Nutzungsrecht und die »realdingliche«, an Hof und Grundstück gebundene Nutzungsberechtigung, die »Rechtsamc«. Mit dem Übergan g zur individuellen Nut zung der extensiv genutzten Allmendeflächen sei t Ende des 18. Jahrhunderts pochten die Inhaber von Rechtsamen nich t nur auf die Privatisierung der Landflächen, sondern auch auf die der Holz ressourecn. Dort , w o beid e Nutzungssystem e nebeneinande r bestanden , ka m e s z u Ausschei dungskonflikten zwische n Gemeindegu t (Bürgergut ) un d Gerechtigkeitsgu t (Korporationsgut) . Daneben wurde n abe r auc h traditionell e Hol z rechte de r Nichtberechtigte n un d Besitzlosen , i n denen sic h di e sei t de m Mittelalte r vorherrschend e Auffassun g vo m Wal d al s herrenlose m Gu t niederschlug, nu n negiert . Überliefert e sozia l motiviert e Nutzungspraktike n de r Kommune n wurden damit zum Strafrechtsdelikt des Holzfrevels als Form »sozialer Kriminalität«, siehe Mooser. Furcht, S . 81. Zur Züriche r Situatio n vgl . C. Weber ; Möri. I n einer interessante n Fallstudi e zeig t Treuisatt auf, wi e di e liberal e Eigentumsichr e i n dem spezielle n Interessenkonflik t zwische n Ge rechtigkeitsbesitzern und Nichtberechtigte n nach 1831 instrumentalisiert wurde. 261 Tatsächlich kann man unter den Petitionen der ausgewählten Untersuchungsbezirk e keine Eingab e kleine r Rechtsamebesitze r un d Rechtlose r finden, di e da s traditionell e Benutzungs recht eingeklagt hätte. Wahrscheinlich ist, dass die volle Tragweite der sozialen Konsequenzen, die der privatrechtliche Anspruch der Gerechtigkeitsbesitzer nach sich zog, erst nach der Machtübernahme de r Liberale n deutlic h wurde . Dafü r sprich t da s bereit s i m Septembe r 1833 erlassene Bürgergesetz, da s die Ausscheidun g beider Güterforme n durc h Realteihin g oder Auskauf zwin gend vorschrieb. An anderen Orten i m Züricher Weinland und Teilen des Unterlandes stellte sich dagegen die Ausseheidungsfrage ga r nicht.

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seherkosten« zu zahlen habe. 262 Tradiertes und neues Vokabular, individualistische Eigentumslehr e un d altrechtliche Legitimatio n vermischte n sic h wie i n der Eingab e der Gemeinden Adlikon und Regensdorf: »Die Hoffnung beleb t uns, di e Forstordnung , wei l si e die Gemeinden , di e Vorsteherschaf t wi e di e Bürger mi t ihre m theue r erkauften, au f Häusern beruhende n Eigenthümer rechten gleichsam unter Vormundschaft [Hervorhebun g d. Vf.] setzt, werde aufgehoben, es sey denn, dass alle Bürger als minoren- oder als Verschwender zu betrachten seyen , so ist die gegenwärthige gan z zweckmäßig, un d wir wolle n freiwillig unte r Vormundschaf t bleiben . - In diesen Fälle n glaube n wi r un s nicht zu befinden! Doch will es uns scheinen als wären wir in einem dieser Fälle gezählt, weil uns das wohl 200 Jahre bestandene Recht [Hervorhebung d. Vf.] ›das benöthigte Hol z durc h di e Vorsteher auszuscheide n genomme n un d i n di e Hände de r Forstmeiste r geleg t wurde ... das Anschlagen de s obrigkeitliche n Waldhauers soll gänzlich unterbleiben und das Holzabschlagcn soll wie frühe r einzig den Gemeindevorstehern überlasse n seyn und bleiben.« 263 Der Eigentümer als absoluter »Souverän« - immer wieder tauchte diese Auffassung al s schärfste argumentative Waffe gegen jede Art von staatliche n Ein griffen auf , gleichgülti g o b es um gesetzliche Reglementierunge n etw a in der Forstwirtschaft, Abgabe n (wi e de n Kleinen Zehnten ) ode r die unterschiedli chen staatliche n Regalie n (Jagd - un d Fischereirechte ) ging . Handelt e e s sich um kollektive s Eigentum , wi e be i de n obe n genannte n Waldungen , bean spruchte die Kommune die alleinige Verfügungsgewalt. Di e Gemeinde Ober rieden leitet e s o ihr Rech t ab , im Gemeindewal d nac h eigene m Gutdünke n jagen zu dürfen, ohne staatliche Jagdpatente zahlen zu müssen, und drohte in ihrer Petition mit dem Rechtswcg. 264 Die Fischer von Erlenbach am Zürichsee wandten sic h gege n di e »Fischenzen« , di e Fischrechte , inde m si e forderten , man soll e e s mit dem Se e ebenso halten wie mi t de r de m Dor f gehörende n Allmende undjedem, d. h.jedem Gemeindemitglied, gestatten, im ganzen See zu fischen, wa s und wie er wolle. Ebenso meinten di e Mitgliede r de r Diels dorfer Gemeind e Oberhasli , di e Fisch e de s Dorfbache s seie n Eigentu m de r Gemeinde.265 262 Nr. 130, Gemeinde Stadel (D), §7: »Wir gestehen es denn ferner offen, dass wir uns von Anfang an , sei t di e Forstrncisterstelle n organisier t wurden , gekränk t fühlte n durc h dies e Bevogtigung über unser wahres Eigenthum ... Daher wünschen wir als mündige und rechtlich e Männer un d Vorsteher diese r Bevogtigun g de r Forstmeiste r entlassen , un d dies e Stelle n abge schafft werden möchten«; Nr. 211, Gemeinde Ottikon (H) , §3, forderte die Aufhebung, »inde m jeder Bürge r sein e Gerechtigkei t verzinse n mus s un d deshal b betrachte t al s sei n wahre s Eigenthum, nicht gerne noch Aufseherkosten auf sich legen läßt; besonders, weil wir den Schaden und den Νuzen am beßten kennen, und sich jederzeit Vorsteher vorfinden, die dem Nachtheil des Holzes steuern und den Vortheil zu befördern wissen« . 263 Nr. 66, (D), §9. 264 Nr. 79, Oberrieden (Morgen) , zitiert nach: Nabholz, S. 38. 265 Nr. 193, Fischer aus Erlcnbach (M). Hier ging es ebenfalls nicht nur um die Aufhebun g der patentierten Fischere i rechte. Man verwahrt e sic h auc h wi e i m Fal l de s Forstwesen s gege n

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Es deutet sic h demnach ei n Übergang vom »antiobrigkeitlichen« zu m »anti staatlichen« Refle x an , der durch di e liberale Eigentumslehr e star k begünstig t wurde. Die Einforderung bestimmte r kommunaler Eigentumsrechte , di e prinzipiell dem staatlichen Zugrif f entzogen sei n sollten, mit Hilfe des Privatrecht s förderte natürlich die gemeindliche Autonomie un d stärkte den antiherrschaft lichen Impetu s de r Gemeinden . Mocht e sic h einerseit s de r autochthone Im puls der Gemeinden mi t der liberalen Auffassung bürgerliche r Selbststeuerun g im Gehäus e de r Privatrcchtsgesellschaf t treffen , wa r andererseit s ei n erhebli ches Konfliktpotentia l fü r di e konkret e Interessenausscheidun g zwische n Staatsgewalt un d Privateigentum, zwische n öffentliche m un d privatem Recht , vorprogrammiert.266Dabei zeichnet e sic h ein e Tenden z ab , imme r dan n di e Gemeinde al s Kollektiveigentümerin »vorzuschicken« , wen n e s um die Ablösung obrigkeitlicher Privilegie n ging . »Mehrere Jagdliebhaber« de r Gemeind e Oberrieden plädierte n fü r die Aufhebung eine s Jagdbanns, der in ihrem Bezir k bislang nur einer kleinen Grupp e von Stadtbürgern z u jagen erlaubt hatte. Die Petenten argumentierte n dabe i nich t - wie denkba r gewese n wär e - aus de r Perspektive de r Einzelperson , sonder n betonte n di e Recht e alle r beteiligte n »Landleute un d Eigenthümer«.267 I n der Auseinandersetzung mi t der überkommenen obrigkeitlichen Privilegienstruktu r wurd e eben in traditioneller Ar t die Gemeinde un d nich t die Einzelperson al s Gegenpart verstanden . Der Eigentümer als Souverän: Die Rechte des Einzeleigentümers. Di e tief e Verwur zelung korporative r Protest - ode r Intcressenartikulatio n zeigt e sic h zude m darin, das s auc h di e Recht e de s einzelne n mehrheitlic h au f de m Weg e de r weitergehende staatlich e Reglementierunge n i n der jeweiligen Nutzungspraxis , die ma n al s Verstoß gegen den eigenen professionelle n Sachverstan d wertete. Die Fischer wiesen etwa das staatliche Verbot des Fischfang s währen d de r Laichzei t mi t der Begründun g zurück , si e wüssten selbs t am besten, wie der Fischbestand gepflegt werde n muss. Dieser Topos des bäuerlichen Sachverstan des spielt e auc h be i de r Zurückweisun g de s Zuchtstiergesetzes ein e bedeutend e Rolle . E r deutet ebenso auf ein gewisses »modernes« Leistungsdenken wie auf ein extraordinäres bäuerliches Sclbst bewusstsein. 266 Natürlich berührte die Frage der Gemeindewaldungen den Nerv der liberalen Eigentums lehre: das Verhältnis von Staatsgewal t un d Privateigentum . Auch die Regencrationsregierun g vo n 1831 behielt sic h ein e Oberaufsich t übe r di e öffentliche n Waldunge n vor , u m ein e weiter e Aufsplittcrung un d rigoros e Abhutzun g de r Gerechtigkeite n z u verhindern , einzi g Privatwälde r waren ausgenommen . Darübe r hinau s stande n hinte r ihre m Zugrif f au f Gemeinde - un d Kor porationswälder handfeste volkswirtschaftliche Interessen , da »der bedeutenden holzverzehrende n Industrie des Kantons durch möglichste Erleichterung in Befriedigung des Holzbedarfs beigestanden« werden sollte. Siehe das Reglement über die theoretische und praktische Prüfung für Aspiranten zu m Oberförste r un d Forstmeister , zitier t nach : Grossmann/Krehs. S. 229. Allerdings musste n die Gemeinden kein e Holzbedarfslisten meh r einreichen, und die Anzeichnungspflichtder bewil ligten Schläg e durc h di e Forstmeiste r wurde gelocker t (S . 118f.). Sieh e i m Unterschie d daz u di e völlige Zurückhaltung de r liberale n Regierun g i n Solothurn be i Trevisan , in deren Folg e der lang währende »Rechtsamestreit « überhaup t erst diese Dimensionen annehme n konnte . 267 Nr. 136, Drei Jagdliebhaber au s Oberrieden (Bezir k Horgen) .

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Gemeindepetition (un d nicht etwa in Einzelpetitionen) eingeforder t wurden . Im Mittelpunkt standen dabei wiederum Jagd und Fischerei, deren Freigabe zu den älteste n Forderunge n überhaup t zählte , wi e noc h i n di e Zei t vo r de n Bauernkriegen zurückverfolg t werde n kann. 268 Besonders umstritten war u.a . die Frage, ob Bauern, durch deren Gut ein Fluss lief, berechtigt seien, darin zu fischen. Entsprechend e Forderunge n wurden von bäuerlicher Seit e im ersten Beschwerdememorial de s Waldmannhandels von 1489, während der Bauern unruhen vo n 1525 und i m Schweizerische n Bauernkrie g 1653 formuliert.269 Man bediente sich dabei des Rekurses auf die göttliche Gerechtigkeit un d die Pertinenz bäuerliche r Nutzungsrechte . Solch e Begründunge n finde n sic h auch in den Petitionen von 1830/31. Neu aber war, dass ihnen nun der Schutz des Privateigentums an die Seite gestellt wurde. Dieser Schutz galt sowohl gegenüber den Pächtern als auch gegenüber anderen Gemeindemitgliedern, wie die Eingaben der Gemeinden Bach und Bäretswil illustrieren. Deren Gemeindemitglieder beanspruchten das freie Fischrecht auf ihrem Eigentum. Vor allem wollte man sich aber gegen jene Dritte wehren, die »als obrigkeitliche Pächter zu allem sich berechtigt glaubt[en]« und »seye es in Saat oder Erntezeit Ihren Weg über Felder und Wiesen nehmen«, so dass dem Grundstückseigentümer erhebliche r Schade n entstünde . Deshal b soll e de r Staat au f di e Pachtrecht e verzichten , durc h di e »nich t nu r de m Landcigen thümer sein Recht entzogen, sondern [er] sogar an seinem Eigenthum geschädigt wird«.270 Dieser Eigentumsanspruch wurde zusätzlich durch eine Vielzahl 268 Die jahrhundertelange Kontinuität vieler bäuerlich-gemeindlicher Forderunge n von den Bauernunruhen bis zur Regeneration ist auffallend. Als Auswahl seien neben der Freigabe der Jagd und Fischere i sowi e der Waldnutzung genannt: die Aufhebung des staatlichen Salzmonopols, die Aufhebung diverse r Zölle un d de r frei e Verkau f von Wein, geschlachtete m Vieh , Zwilch , Han f etc., die Abschaffung de s Kleinen Zehnten und Ablösbarkeit der Grundzinsen, die freie evangeli sche Predig t un d Pfarrwah l sei t der Reformation , da s Verbot de r willkürliche n Verhaftun g un d Türmung, die Stärkung der politischen undjudikativen Gemeindeautonomie (freie Gemeindeversammlung, Wah l de r Untervögte , Besetzun g der Gerichte). Aus de m Gesamtfundu s de r Forde rungen entsteht das Bild einer föderal strukturierten Republik weitgehend autonomer Gemeinden. Siehe dazu Dietrich,A. Suter, Forschungsbericht, S. 69-103; ders., Der schweizerische Bauernkrieg von 1653; Dändliker, Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich, Bd. 2, S. 224-234, S. 340ff. Di e Bauernunruhen vo n 1525 wurden aufgrun d de r Kontinuitä t de r Forderunge n zu m Waldmann Konflikt 1485 auch i n de r Forschun g al s Fortführun g jenes Stadt-Land-Konflikt s bewerte t un d weniger in direkte Beziehung mit dem deutschen Bauernkrie g gesetzt. Die deutlichen Unterschiede zwischen den »Zwölf Artikeln« der schwäbischen Bauern und den weit radikaleren Beschwerdepunkten de r Züricher Bauer n beton t Dietrich , S. 230-234, S. 245-252. Zu Deutschlan d sieh e P . Blkkle, Revolution , S. 23-30. 269 Dietrich, S. 45f. Anin . 151, S. 230f. 270 Zitiert aus: Nr. 67, Gemeinde Bach (D), (»obrigkeitlicher Pächter« , Verzicht des Staates), sowie Petition Nr. 123, Schulgemeinden Thal und Hof der Zunft Bäretswi l (H), §37: »Aufhebung der Fischerrechte. Das bisher bestehende und aus den uralten Zeiten der tyrannischen Herrschaf ten nachgetragene Fischerrecht, besonders in unserer Gemeinde wünschen wir aufgehoben, nich t nur weil einerseits solche Rechte sich mit einer republikanischen Verfassung un d i n einem freye n Staate nicht vertragen und andererseits von Recht und Billigkeit wegen demjenigen dessen Eigen-

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älterer Legitimationsmuster bestärkt. Die Gemeinde Regensdorf etwa rechtfertigte di e Aufhebun g de r Pachtrecht e zugunste n de r Grundstücksinhabe r al s Wiederherstellung Alte n Rechtes. 271 Zahlreiche Petente n rekurrierte n außer dem auf das überlieferte Gebot der »Billigkeit«, hier verstanden als Balance von Schaden un d Nutzen , von Pflichten un d Rechten. Di e Gemeindebürger von Schönenberg wiesen deshalb auf die Unterhaltspflicht de s Bachanliegers hin, der entsprechend auch die Fangrechte für sich beanspruchen dürfe. 272 Die Aufhebung de r staatlichen Patent e bedeutete also keineswegs die allgemeine Freigabe für jedermann. In erster Linie sollten die Interessen der einzelnen Grundstückseigentümer geschütz t werden. Aus dieser Perspektive wurde auch das staatliche Bergwerksregal al s unrechtmäßig verworfen. Di e Gemeinden Dürnten und Gossau sahen einzig die jeweiligen Grundstückseigentüme r für berechtigt an, die vorhandene Schieferkohle abzubauen. 273 Offensichtlich stärkt e das liberale Dogma von der Unantastbarkeit des Privateigentums jenes älter e Verständnis eines persönlichen Besitzrechtes , das wie bei den Klosterleuten von Rüti - zur schrittweisen Emanzipatio n der Bauern von der Grundherrschaft geführ t hatte . War es damals um die Ablösung persönlicher durch sachenrechtliche Bindungen gegangen, so stand jetzt deren generelle Annullierung im Mittelpunkt. Das zeigte sich in der Frage der unzähthum ei n solche r Bac h etc . is t un d ungeachte t demselbe n ei n solche s Gewässe r keine n Nutze n bringt, gleichwohl verzinse n muss , das Recht angehört Fisch e zu fangen, sonder n auc h besonder s weil diejenige n dene n dies e Recht e zugegebe n worde n sey e e s i n Saa t ode r Erntezei t Ihre n We g über Felder und Wiesen nehmen un d bey der Ausübung dieses Rechts selbst, nicht unbedeutende n Schaden demjenige n zuführen , welche r Eigenthu m a n den Gewässern besitzt. « 271 Nr. 66, Gemeinde Regensdor f (D) , §8: »Die jünsthi n i n unsere m Bach e verlehnte n Fi schlingen, di e de m Miete r eine n kleine n unbedeutende n Nutze n gewähre n un d dagege n de n Besitzern vo n Grundstücke n Schade n zugeführ t wird , ihne n ihr e früheren Recht e entzogen wer den, wünsche n wi r aufgehobe n z u sehen. « 272 Nr. 104, Gemeinde Schönenber g (H) : »das s di e Eigenthüme r un d Ansäße n a n solche n Bachen, welche dieselben z u unterhalten verpflichte t sind , auch das ausschließliche Recht , auf die darin sic h vorfindenden Fisch e und Krebse , sonst aber niemand kein e Ansprüche hieraufmache n möge«; siehe auch Nr . 123, Thal un d Ho f (H). Aus dem eigentlichen Scebczir k Meile n ga b es nur eine einzig e Petitio n vo n Fischer n au s Erlenbac h (sieh e obe n Anm . 265), die sic h mi t der staatli chen Politik gegen Überfischun g auseinandersetzte . Offensichtlich existiert e hier keine vergleichbare Problemlage . 273 Der katastrophal e Zustan d große r Züriche r Waldgebiet e durc h Übernutzun g sowi e de r wachsende Bedar f an Holz als Brennstoff in der Industrie steigerten zugleich den Wert alternative r Brennmaterialien. 1805 hatte sich der Kanton den Abbau der Schiefer- und Steinkohlevorkomme n auch au f Privatbesit z vorbehalten . Sieh e vo n Arb, S. 52. Darauf beziehe n sic h vie r Petitione n au s einem Schieferkohlengebie t i m Oberland , da s seit dem 18. Jahrhundert abgebau t wurde. Sieh e z. B. Nr. 143, Gemeinde Gossau (H) , §47: «Die Producte welche in der Erde liegen ζ. Β. Steinkohlen, Schieferkohlcn etc . wess Ν ah mens und Werths sie immer sein mögen, soll dem Besitze r von de m Grundstüke angehöre n un d keinem Staat e mehr«. Im Unterschied daz u argumentierte i n Petitio n Nr. 133, o. O. , §25, die Gemeind e al s Eigentümerin , wen n si e wünscht, »di e au f unserm Eigen thum befindend e Schiferkohl e al s ein fü r un s wichtiges Brandbedürfni s willkürlich « benutze n z u dürfen.

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ligen Abgaben des Kleinen Zehnten: Hirse-, Stroh- und Obstzehnter, Bohnen und Flachszehnter , Eier- , Hühner- , Wachs - un d Nüsseabgaben , Vogt - un d Rauchsteuer. Viel e Petitione n lehnte n dies e Abgaben wie auch die Jagd- un d Fischrechte schlichtweg als Willkürakte gegen das Privateigentum, eingekleidet in ein e tradierte Protestrhetorik , ab . Auf bloße Gewalt gegründet, entbehrte n diese Relikten aus »den uralten Zeiten der tyrannischen Herrschaften«jegliche r Rechtsgrundlage.274 Dies e Sichtweise markier t eine n fundamentale n Wandel , denn augenscheinlich erachteten die Petenten - soweit kein Rechtstitel vorgelegt werden konnt e - die Rechtskraft dieser grundherrlichen Verpflichtunge n prinzipiell fü r erloschen zugunsten des bäuerlichen Eigentumsanspruchs. 275 »Eigentum durch Arbeit«: Die Legitimation von Eigentum. Die Anbindung der individualistischen Eigcntumslehre an das traditionelle Besitzdenken galt in ähnlicher Weise fü r eine n weiteren Topos , den de s Erwerbs von Eigentu m durc h Arbeit. Bezeichnenderweis e forderte n mehrer e Eingabe n di e Aufhebung de s Zehnten auf sogenannten Neugrüt , d. h. Abgaben auf vormaliges wüstes oder Brachland, »das durch Täthigkeit der Besitzer desselben uhrbahr gemacht worden«.276 Der Neugrüt-Zehnt gehörte traditionell zu den Konfliktpunkten zwi schen Baue r und Grundherr, die Forderung nach seiner entschädigungslose n Aufhebung i n den Regenerationspetitione n deckt e sic h mi t der überlieferte n Auffassung von Gerechtigkeit.277 Auch in den Ablösungsdebatten der Helvetik waren diese Abgaben von bäuerlichen Vertretern noch als Inbegriff herrschaft274 Vgl. Nr . 123, Schulgemcinden Tha l un d Hof der Zunft Bäretswi l (H) , §37: »Tyrannische Herrschaften«; Ausnahme n würden nu r anerkannt, wenn de r Staat »durch Brie f und Siegel« eine n Rechtstitel nachweise n könne . In diesem rechtspositivistische n Sin n begründet e auc h Gemeind e Otclfmgen (Nr . 148, (D|, §§10, 11 ) sowohl die Aufhebung de r Heugarbe a n den Ortspfarre r wi e auch di e des sogenannten Vogthafer s damit, dass alle Ansprüche »unte r alle n Staate n un d Völker schaften au f Rechtstitte 1 gegründet seyn « und der Staat ebenso wie der Partikular eine n solche n al s Beweismittel vorlege n müsse . 275 Nr. 66, Gemeinde Regensdor f und Adlikon (D) , § 11: «Dass der wieder alle Begriff e bisan hin von dem Amte Regensdorf geforderte Vogtsteuern-Grundzin s ohne Loskau f erlassen werde, indem dasselb e mit dem Verschwinden de r ehemaligen Untervögtliche n Tite l vo n rechteswege n erloschen wäre, ... da der Staat mit keinen DOC H meinen denselbe n rechtmäßi g z u forder n vermö gend ist , so horten wir dieser Wunsch werde erfüllt«. Noc h traditioneller dagegen di e Argumenta tion i n de r Sammelpetitio n mehrere r Gemeinde n au s de m frühere n Am t Grüningen , di e sic h ausschließlich z u der Vogt- und Rauchsteue r äußerte. Die Amtsleute rechtfertigten sic h aus jenem überlieferten Eigentumsverständni s viele r Bauern , das die Grundherrschaft al s Vertragsverhältni s zwischen Grundher r un d Baue r wertete. Si e lehnte n e s ab, weiterhin di e Abgaben z u zahlen , di e ursprünglich de m Landvog t al s Gegenleistung fü r da s Halte n vo n Zuchtvie h un d di e nächtlich e Beleuchtung bestimmte r Fußweg e entrichte t worde n waren . Mi t de m End e de r landvogtliche n Leistungen nac h 1798 jedoch, seie n e o ips o - st) die Petente n - auch ihr e Verpflichtunge n erlo schen; siehe Petition Nr. 255 der Gemeinden Binzikon , Izikon, Gossau,Ottikon, Bertschiko n (H) . 276 Diese Forderunge n bezoge n sic h sowohl au f die Abgabe n fü r urba r gemachte s Land , de n sogenannten Ncugrüth , wi e auc h au f die fü r de n »Neuaufbruch« , d . h . Land , da s nac h längere r Brachzeit nutzba r gemacht wurde . Her zitier t aus : Nr. 185, Gemeinde Ottiko n (H) , §20. 277 Siehe dazu Dietrich , S. 146.

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licher Willkür und schlagender Beweis eines Unrechtsregimes deklariert worden.278 Die Vorstellung der individuellen Aneignung von Eigentum durch Arbeit liefert e nu n ein e zusätzlich e Argumentationsgrundlage . Darübe r hinau s eröffnete dies e Legitimatio n individuelle n Eigentum s abe r auc h de n Weg in eine stärker gewinnorientierte Wirtschaftsgesinnung, wi e sie sich im liberalen Grundsatz de r Handels - un d Gewerbefreihei t manifestierte . Dami t warf sie gleichzeitig andere Probleme auf, denn die Thematik der Handels- und Gcwerbefreiheit berührte einen neuralgischen Punkt, an dem sich das Grundproblem von Gemeinnut z un d individuelle m Erwerbsstrebe n zwangsläufi g i n alle r Schärfe stellte . Zude m kollidierte n hie r vital e Interessen , d a di e vielfältige n Handelsbeschränkungen umgekehr t di e Existen z bestimmte r gewerbliche r Patentrechte, de r »Ehehaften« , sicherten . Z u diese n Patente n gehörte n da s Müllereiwesen, die Metzgerei, die Bäckerei, die Schankwirtschaft, di e Ziegelbrennerei und die Schmiede. Absolut neu war die Forderung der Bauern, den Handel mit ihren landwirtschaftlichen Produkte n freizugeben , wiederu m nicht . Di e Waldmannsche n Spruchbriefe vo n 1489 hielten etw a ausdrücklic h da s Recht der Weinbauern fest, ihren Wein selbst »über die Gasse«, d. h. ausschließlich auf die eigene Gemeinde beschränkt , z u verkaufen. Auch die Züricher Bauernprogramm e de s Jahres 1525 enthielten weitgehende Forderungen nach Erleichterung des Handels durch Aufhebung alle r Binnenzölle und speziell jene nac h freiem Wein verkauf279 All dies findet sich ausführlich i n den Petitionen der ländlichen Bezirke Dielsdor f un d Hinwi l vo n 1830/31: Man verlangte di e Aufhebung de r Porten- und Kaufhauszölle, die Minderung der Getränke- und Handelsabgabe, die Senkung des Salzpreises zur Förderun g der Viehzucht und vor allem - in nahezu allen bäuerlichen Eingaben - das Recht des Bauern, seine Erzeugnisse direkt selbst zu verkaufen. Stets wurde auf die Eigenleistung verwiesen, um die freie Verfügungsgewal t z u rechtfertigen . Da s Vieh, da s ma n selbs t gemäste t hatte, wollte ma n auc h selbs t schlachte n un d verkaufen dürfen , de n »eigen thümlichen« Wein selbst ausschenken und das eigenhändig angebaute Getreide überall und nicht nur auf dem Kornmarkt in Zürich verkaufen.280 Die Bauern 278 So legt e de r Baue r Augsburge r vor de m Große n Ra t i n Aara u dar : «Ic h hab e ei n Lan d gekauft, wo so lange die Welt steht, keine Sense noch Sichel darüber gezogen worden. Zwei meiner Vorfahren habe n schon daran gearbeitet, ich war der Vollender ... Sobald die Arbeit vollendet war, kam der Raubvogel und forderte Frucht- und Heuzehnten ... Ich will beweisen, dass die gerechtesten Processe sind verloren gegangen, wo grosse und andere Zehnten auf die ungerechteste Art mit Gewalt sind aufgedrungen worden.« Zitiert nach: P. Bucher, S. 8. 279 Zur bedingte n Freigab e des Weinhandels u.a. Handelsfrage n i n de n Spruchbriefe n von 1489 siehe Dändliker , Geschicht e de r Stad t un d de s Kanton s Zürich, Bd . 2, S. 228f . Di e Be schwerdebriefe der Züricher Bauern vom Mai 1525 finden sich als Quellen abgedruckt in: E. Εgli, Nr. 702 und Nr . 703, Art. 4 (Zoll) und Art. 8 (Aufhebung des sogenannten Umgelds) . 280 Den »freyen Verkau f aller Landes Producten« forderten u.a. Nr. 33, Gemeinde Necrach (D), und Nr. 49, Kirchgemeinde Dällikon (D), mit dem Hinweis auf »die nähmlichen Frcyheiten«

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von Bac h wünschte n sic h deshal b vo n eine r Revision , »1. dass das künftig e Gesetz jeden Landeigentüme r berechtige , seine Erzeugnisse bestehen si e in Frucht, Wein oder Vieh im Kleinen oder im Großen ohne einige Abgaben fre y und ungehinder t i n oder außert seiner Gemeind e verkauften könn , wie un d wan er wolle oder könne!«281 Besonders erbitter t ware n viel e Bauer n darüber , gegenübe r de n Stadtbe wohnern, den zunftfreien (heim-)industrielle n Produzenten und den merkantilen Seeleuten handelsrechtlich benachteiligt zu sein. Die eigentumsrechtliche Argumentation hatt e offensichtlich einen breiten Konsens über eine allgemeine Kommerzialisierun g ermöglicht . Vo n hohe m legitimatorische n Wer t wa r überdies die argumentative Anbindung der wirtschaftlichen Liberalisierun g an den traditionellen Stadt-Land-Konflikt . Di e bäuerlichen Petente n konnten so ihre Erwerbswünsche i n den Kontex t der traditionelle n Benachteiligun g de r Landschaft durch die Stadt stellen. Stellvertretend für viele bäuerliche Petitionen schilderte die Eingabe der Gemeinde Stadel im Agrarbczirk Dielsdorf die Hemmnisse des bäuerlichen Kornverkaufs: »Während die Bewohner der Stadt wie die i n den gewerbtreibenden Theillc n de s Landes für all e ihr e Produkt e und Fabrikat e freyen Hande l un d Wandel haben , einzig nu r de r vielgeplagt e Bauer für die Produkte seines mühseligen und manchmal sonst schon so wenig belohnten Fleißes und Schweißes gebunden sein [soll], an einem einzigen Platze, und wenn er auch noch so weit entfernt wäre, und bei Hause noch so günstigverkaufen könte , sie herzuführen un d wen ihm der Marktpreis nicht gefällt, sein Eigenthum nicht einmahl mehr mit sich fortnehmen z u dürfen, sonder n stehen lassen und ein zwei Mahl wiederkomen, un d dan seine Ware geben zu müßen, wi e de r Käufe r will , we n auc h di e Preis e noc h meh r gesunke n wären. «282 Ausführlich lie ß man sich außerdem über die Zusatzkosten für die Verköstigung, die Fuhrkosten und den Zeitverlust aus. Hier zeichnete sich ein Bild vom Bauern al s »selbständige m Unternehmer « ab , der sic h vehemen t gege n all e Maßnahmen wehrt, die seine Gewinnspanne beschneiden . Dazu gehört e auch die Ausschaltung unliebsame r Konkurren z vo n außen. Entsprechend wurden höhere Importzölle gefordert, während die eigenen Eraller Kantonsbürger; Nr . 66, Gemeinde Regensdorf (D), forderte i n §4 das Schlachtrecht, »wa s mit dem einma l aufgestellte n Grundsat z »freye r Verkehr « gan z übereinstimmen d ist« . Ein e Auswah l anderer Beispiele in: Nr. 63, Gemeinde Hinwil (H) , §24: sclbstgemästetes Vieh; Nr. 269, Gemeinden Ne e rach un d Lind t (D) , §§2-6: Kornhandel, Vieh , »eigenthu m liehen« Wein ; Nr . 270a , Oberhasli (D) : Korn , Wein, Vieh , Aufhebun g de r Porte n un d Kaufhauszölle ; Nr . 213, Meyach (D): u.a. Aufhebung de s Kornhauszwanges. Siehe daneben auch die Forderunge n nac h einer Frei gabe de s Vie h handeis: Nr . 269, Zusatz Gemeind e Neerac h (D) , §3, äußerte de n Wunsc h nac h einem »Jahr - un d Vichmark t zweima l jährlich«, u m nich t meh r Vie h i m Auslan d einkaufe n z u müssen, da häufig au f diese Weise Krankheite n eingeschlepp t würden . 281 Zitiert aus : Nr . 67, (D), Wünsche, §1 282 Nr. 130, Gemeinde Stade l (D) , §3.

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Zeugnisse, vor allem de r Wein, von Abgaben entlastet werden sollten. 283 De r Schutz des selbst erwirtschafteten Eigentum s beherrschte auch zahlreiche Petitionen aus den städtischen Gemeindebezirken Zürich und Winterthur sowie aus dem stärker kommerzialisierten ländliche n Seebezirk Meilen. Hier sprach man sich für ein Verbot von »fremden Hausierern « und namentlich jüdischen Händlern aus dem Badischen, Württembergischen un d Österreichischen aus. Diese tradierte n antisemitische n un d protektionistische n Züg e wurde n nu n eindrucksvoll i n de n größeren Kontex t volkswirtschaftliche r Überlegunge n eingebettet, u m da s Rech t auf Eigentum nac h außen z u verteidigen. Als Beschneidung diese s Anrechts wurden di e niedrigen Portenzöll e un d Patentabgaben fü r ausländisch e Händle r betrachtet , di e e s ihne n ermöglichten , ihr e Waren günstig anzubieten, während für Züricher Händler kein entsprechendes Gegenrecht existierte. Darüber hinaus wurden aber auch der stete Kapitalabzug ins Ausland und damit die Kapitalverknappung im Inland bemängelt sowie die Folgen de s Verkaufs von qualitativ schlechte r Ware zu Dumping-Preise n au f den inländischen Lohn - und Arbeitsmarkt scharfsichtig analysiert. 284 Ein ganz anderes Motiv stand dagegen hinter der aus bäuerlichen Kreisen des Wehntals i m Bezir k Dielsdor f vorgebrachten Forderun g nac h Handels - un d Gewerbefreiheit. Diese n meh r al s 350 Petenten gin g es nicht u m Frage n de r Gewinnmaximierung, sondern um die Sicherung ihrer Existenz. Entsprechend drängend war der Ton ihrer Eingabe: »so ist es aber besonders der 4., nämlich die Gewerbs- und Handelsfreyhcit, di e uns nahe am Herzen liegt ... Mit Sorg und Müh und magerer Kost muss sich der bedrängte Landmann vermittels des Verkaufs seiner kleinen Vorräthe oft mit Entbehrung des Notwendigen durchbringen. Wer sollte uns daher nicht freyen Verkehr mit unseren Früchten und unserem Vieh wünschen un d gönnen mögen! ... Wie lästig sind solche Hem 283 Nr. 66, Gemeinde Regensdor f (D), §5: »Besonders wünschbar wäre, dass dem Weinbaue r bessere Rechnun g al s bis anhin getragen , auf fremde Wein e einen wei t höhere n Eingangszol l ge legt, selbst eigenes Gewächs ohne Abgaben auszuschenken billi g gefunden un d anerkannt werde. « 284 Nr. 253, Sammelpetition mehrere r Seedörfe r mi t insgesam t el f Unterschriften (M) , be schäftigte sic h vor allem mi t den schädlichen Folge n der Konkurrenz für das Lohnniveau, i n deren Folge imme r meh r Arbeite r verelendeten . Nr . 240, Ehrerbicthige Eingab e un d Vorstellun g eine s Theils de s handeltreibende n Publikum s au f der Landschaf t betreffen d di e Abschaffung de s Mis brauchs der fremden Hausiere r bes. der Juden - gerichtet und mit Gründen beleg t an den Kleine n Rat des Hohe n Stande s Zürich, Winterthur (W) , mi t circa zwanzi g Unterschriften : Si e forderte n sogar, dass es jedem »rechtliche n Bürger « erlaubt sei, durch ihre n Gemeindebürgermeister »eine m fremden Krämer « seine Ware zugunsten des Staates wegnehmen z u lassen. Unter den Unterschrif ten finde t sic h di e Bemerkun g Heinric h Stahel s von Lettenberg , de r darau f hinweist , das s e r al s Fabrikant 100 Arbeiter beschäftige. Sollt e aber diesem Begehre n entsprochen werden, so könnte er auch 10.000 Menschen i m Kanto n beschäftigen . Nr . 135, J . J . Hube r zu r Tiefe n Schmitt e i m Namen sämtliche r Gewerbeleut e de s Kanton s Zürich (Z) , klagte vo r alle m da s fehlende Gegen recht Züricher Kräme r ein, i n den angrenzende n Kantone n die Wochen märkte besuche n z u dür fen, geschweige denn i n fremden Staaten . Zudem wandte sich die Petition ausdrücklich gegen den möglichen Einwand , das verbraucherfreundliche Konkurrenzprinzi p würde Schaden nehmen , mi t dem Hinwei s au f das betrügerische Geschäftsgebahre n de r ortsfremden Krämer .

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mungen ... gegen den ohne dicß gedrückten Landman und auf seine Erzeugnisse, die er mit seinem Schweiß seinem verschuldeten Boden mühsam abgewonnen hat!« 2*5 Einerseits ähnelte diese Eingabe einem traditionellen Gravamen; die dahinterstehende soziale Not ist ebenso vernehmbar wie tradierte Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Andererseits trat am Schluss der Petition eine sehr selbst bewusste eigentumsrechtliche Argumentation hervor, in der die Petenten den Topos de s »Eigentum s durc h Arbeit « mi t de n folgenden Frage n verbanden : »Wie verträgt es sich aber mit freyem Verkehr, wenn wir gezwungen sind, unsere Landprodukte ... mit bedeutenden Zukosten nach Zürich zu führen, die wir in höhrem Preise auf der Schütte verkaufen könnten ? Wie verträgt es sich mit freyem Verkehr, wenn nur dem armen Mann verbothen ist , sein selbstgemästetes Schwein... unter seinen Mitbürgern verwägen und verpfündeln z u laßen? Wie verträgt es sich, ... wenn wir unsere Weine ... nur im Große n ode r vom Zapfen weg veräußern dürfen?« Augenscheinlich lieferte die liberale Eigentumslehre ein weiteres argumentatives Rüstzeug, das sich mit überkommenen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit vereinbaren ließ und den teilweise jahrhundertealten Forderunge n neuerlich Legitimität verlieh. Auf dieser Grundlage konnte das liberale Prinzip der Handels - und Gewerbefreiheit al s Garantie bäuerlicher Eigentumsrecht e an seinen Produkten interpretiert und verfochten werden. 286 Gleiches Recht für alle oder Schutz des Privateigentümers: Das Problem der gewerblichen Patentrechte (Ehehaften). Wie stand aber das Eigentumsrecht des Bauern an seinen Erzeugnissen, das ihm den freien Handel erlauben sollte, zu den Eigentumsansprüchen der Ehehaften a n ihren Gewerbepatenten? Wem kam vorrangig die staatliche Garantie des Eigentums zu? Die vorn zitierten Petente n des Wehntals hatten durchaus mitbedacht, dass die Forderung nach weitgehender wirtschaftlicher Freiheit , die den Interessen der Bauern entgegenkam, mit der überkommenen Privilegienstruktur der Ehehaften kollidieren musste. Sie betonten deshalb ausdrücklich, die Gewerbefreiheit nich t au f Kosten der Besitzer von Ehehafte n verlange n z u wollen. Ma n erkenne ihre Eigentümerrechte an und hoffe au f eine angemessene staatlich e 285 Litt. B, Die Gemeinden des Wehntals (D), §8. 286 Siehe auch die Interpretation der Handels- und Gewerbefreiheit durch die Heimarbeiter, die sie wortwörtlich als »Freiheit, ihr Gewerbe auszuüben« verstanden und für ein Verbot mechanischer Webmaschinen anführten. In einem Fall wurde sie gleichgesetzt mit einer »seit Menschengedenken besessenen Freiheit des Handels und der Fabrikation«, die es gegen die Mechanisierung zu verteidige n gelt e (Nr . 56, Gemeinde Oberhittnau , Bezir k PfärTikon) . Di e inner e Logi k de s Maschinensturms von Ustc r 1832 führte ungewoll t F.L . Kelle r aus: »Gewerbsfreiheit is t fü r de n Handwerker die Freiheit zu weben. Diese verliert er, wenn ihm niemand Arbeit gibt. Da nun eben die Webmaschinen ihm die Arbeit entziehen, so ist für ihn Gewerbsfreiheit ohne Verbot der Webmaschinen eine Unmöglichkeit« , siehe F.L. Keller , Brandstiftung, S. 3.

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Entschädigung.287 Al s Inhaberi n eine r Metzgergerechtigkei t sprac h sic h di e Gemeinde Regensber g fü r di e obligatorisch e staatlich e Entschädigun g aus , nicht nur weil die Ehehafte als Gemeindeeigentum eine n der Pfeiler ihres Aktivvermögens bildete, sondern weil die Aufhebung de r Ehehaften al s massiver staatlicher Eingriffin di e Sphäre des Privateigentums nach Wiedergutmachung verlange.288 Die Frage der Ablösung von Privilegie n musst e zu r immanente n Problematik der liberalen Eigentumslehre gehören, galt es doch, einerseits die Rechte des Privateigentümers zu schützen und andererseits aus dem Gebot der Rechtsgleichheit herau s das Recht eines jeden, Eigentum zu erwerben, zu garantieren. I n den Petitionen spiegelt e sich dieses Spannungsverhältnis, inde m individualistische Eigentumsvorstellungen sowoh l für als auch gegen die Beibehaltung der Ehehaften in s Feld geführt wurden . Für die Beibehaltung sprachen sich die Gebrüder Hochstrasser aus Gircnbad aus. Als Besitzer von drei Ehehaften insistierten sie auf dem Schutz ihres Privateigentums.Vielen der in der letzten Zeit öffentlich geäußerten Wünsche könne unmöglich entsprochen werden, »dieweil diese nach Meinung der weitaus größeren Menschenklasse der Gegend zu stark in das Eigentumsrecht« eingriffen . Darüber hinau s hab e ma n »di e Rechtstite l nich t zuletz t deshal b s o teuer er kauft, um zu allen Zeiten und von allen Regierungen geschützt« zu werden.289 Die doppelt e Rechtfertigun g mi t Hilf e liberale r Rechtsstaatlichkei t un d alt ständischem Rechtspositivismu s wurde auch von anderen Ehehaftenbesitzer n geltend gemacht und im Sinne einer harmonischen, d. h. antikapitalistisch akzentuierten Wirtschaftsgesellschaft aufgeladen . S o wies man au f die Negativ folgen ungehemmte r Konkurren z hin, die die Ehehaftenbcsitzer i n den Rui n stürzen und wachsende Immoralität, »Pfuscherei« und »Säumerci« begünstigen würden.290 Aus der Fülle der Petitionen zu r Ehehaftenproblematik lasse n sich dabei unterschiedlich e »Entwicklungsstufen « de r Beeinflussun g lebenswelt licher Veränderungen au f überlieferte Denk - un d Artikulationsformen erfas sen. Ganz im Horizont ständischen Privilegiendenken s stande n die Gebrüder Spöri aus Niederglatt. In traditioneller Art suchten sie bei der Regierung um die

287 Litt. B, Die Gemeinden des Wehntals (D). 288 Nr. 11, Gemeinde Regensberg (D), §2: »Es wäre aber so ungerecht, ihnen [alle n Gemeinden, Corporativc n oder Privatleuten ] dieselben [Ehehaften ] ohn e Ersat z zu entziehen , als wenn der Staa t einem Privatman n irgendei n andere s Recht absprechen wollte, ohne ih n z u entschädigen.« 289 Nr. 102, Girenbad bei Hinwi l (H) . 290 Die Wiederherstellung bzw. den Schutz ihrer althergebrachten Rechte verlangten die Eingaben Nr . 161 der Gerbe r vo n Elg g (W ) - »unsern i n frühere n Zeite n vo n unser n Vorfahre n erkauften un d ererbten Ehehaften der Gerbercyen, falls die anderen sollen geschützt bleiben, auch wieder z u ihre n ehemahlige n Rechte n verhelfen mögen« , - sowie Nr . 65, Müller H . J. Klot z aus Hinswil (H) , und Nr . 130, Gemeinde Stadel (D) , §5. Letztere warnten vor dem Sittenverfal l be i Freigabe der Ehehaftengewerbe.

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erneute Vergabe des Privilegs nach, Saatgut verkaufen zu dürfen.291 Ebenfalls im Stil eine r untertänige n Petitio n bate n di e Neerache r u m di e Vergab e eine r »Metzg[er]gerechtigkeit« a n die Gemeinde, da bei über hundert Bürgern, vier Müllergewerben, zwe i star k besuchten Schmiede n un d einer großen Zahl an Professionisten un d Bauer n ein e Metzgere i notwendi g sei. 292 Überlieferte s Privilegiendenken und sozioökonomischer Wandel der dörflichen Gesellschaf t wurden hie r problemlos miteinander in Beziehung gebracht. Anders stellte sich die Situatio n bereit s in der Oberländer Gemeind e Wald dar. De r dortig e Pächte r de r Metzgergerechtigkei t plädiert e aufgrun d de r wachsenden Kommerzialisierun g dafür , di e Ehehafte n generel l aufzuheben . Die Lage der Gemeinde im Grenzgebiet zu St. Gallen beschere ihm durch den Metzger des Nachbarkantons eine gefährliche Konkurrenz , da dieser ohne die kostspieligen Ausgaben für das Gewerbepatent zu niedrigeren Preisen anbieten könne. Angesichts dieser Situation bringe ihn die Beibehaltung der Ehehaften um seine Existenz.293 Dieses Plädoyer eines Ehehaftenbesitzers gege n die Beibehaltun g de r Ehehaften wurde von den Petenten, die keine Patentrechte besaßen, geteilt. Diese stellten eindeutig die Mehrheit. Für sie musste es grundsätzlich darum gehen, die prinzipielle »Freiheit des Eigentums« als unterschiedslosen »Zugang zu Eigentum« gegen die privatrechtlichen Ansprüche der Ehehaftenbesitzer durch zusetzen. Die Petenten griffen hie r auf eine eigentumsrechtliche Argumentation zurück, wie si e bereits in dem Topos des Eigentumserwerbs durc h Arbeit angelegt war: den Zusammenhang von Eigentum und persönlicher Freiheit . Es gehörte zur inneren Logi k der liberalen Eigentumslehre , dass einzig das »Eigentum an der eigenen Person« 294 - die persönliche Freiheit also - den Ur sprung von Eigentum überhaupt erst ermöglichte. In dem Maße, in dem materielles Eigentu m deshal b al s Ausfluss persönliche r Freihei t gewerte t wurde , mussten i m Umkehrschlus s monopolisiert e Eigentumsansprüche , wi e di e ständischen Gewerbeprivilegien, al s Freiheitsbeschränkungen betrachte t wer291 Nr. 55, (D). Sie baten um den freien Verkauf von Klee- und Luzernesamen »au f der oberen Brücke« i n Zürich , wi e ihne n dre i Jahr e zuvo r zugebillig t worde n war . Ebenfall s i m Geis t de r überkommenen obrigkeitliche n Privilegienvergab e ba t der Ziegelhüttenbesitzer Heinric h Wolfe n Strogcrvon Dünne n (Nr . 152, [H]) um die Erlaubnis, für Reparaturen die nötigen Baumaterialie n verfertigen z u dürfen . 292 Nr. 269, Neerach (D) , § 2 . 293 Nr. 263, Metzger Bözzl e au s der Gemeinde Wal d (H) . 294 Siehe dazu di e von John Lock e begründete VorstaatlUhkei t des Eigentums al s Basis für de n liberalen Eigcntumsbegriff. Danac h gewinnen di e im Naturzustand lebende n Menschen als Eigentum, was sie durch ihr e Arbeit hervorbringen . Voraussetzun g dafü r is t zunächst da s Eigentum a n der eigenen Person : «Man (b y being maste r o f himself, an d proprietor o f his own person , an d th e actionsor labourof it) has still in himself the great foundation o f property ... The labourofhisbod y and th e work o f hi s hands , w e ma y say , ar e properl y his. « Tw o Treatise s o f Government, zitier t nach: Schwab, S. 79f .

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den. So folgerte die Gemeinde Erlenbach, dass »wenn schon ein Jüngling Lust und Talent hätte eine Meetzger-Schmied oder eine andere Profession z u erlernen, und kein Vermögen geben würde eine Ehehafte anzukauffen, so müsste er immer als Knecht in der Knechtschaft verbleiben«. Die Ehehaften müssten deshalb unbeding t abgeschaff t werden , denn sons t »gelangt da s allgemeine Volk niemals zu r Freyheit , sonder n bleib t wege n de n Ehehaftcnbesitzer n imme r unter de m Joch de r Knechtschaft , i n dem di e Ehehafte n Besitze r fü r nicht s anderes als für Zwingvögte anzusehen sind.« 295 Konkret umschrie b de r Freiheitsbegrif f hie r da s Recht , sein e Talent e un d Kräfte z u entfalten . Jedem müss e e s zustehen, formuliert e di e Seegemeind e Erlisbach zugespitzt, »sein köstlichstes Produkt, - seine Fähigkeiten - das Einzige das seinen Wohlstand ausmacht, zu seinem und seiner Familie Besten so gut als möglich z u verkaufen un d zu veräußern«.296 Ein solch klares Plädoyer für das individuelle Erwerbsstreben war insgesamt eher eine Ausnahme. Die Mehrzahl der Petitionen begründete die Aufhebung der Ehehaften mi t dem allgemeinen Verständnis von Freiheit, das in liberale r wie korporative r Sich t de n Anspruc h au f »bürgerliche Gleichheit « meinte. 2“7 Ersteres, ein liberal akzentuiertes Verständnis von individueller Freiheit als persönlichem Rech t de s einzelnen , stan d i m Mittelpunk t de r Begründun g de r Gemeinde Ottikon, die sich wortwörtlich i n einer ganzen Reihe anderer Peti295 Nr. 57, Gemeinde Erlenbac h (M) , §1,2, sah fü r di e private n Inhabe r ein e Entschädigun g vor, e s sei denn, dies e hätte n mehrer e Ehehafte n aufgekauft , u m ein e Monopolstellun g z u erlan gen. Di e Ehehaften i n Gemeindebesitz sollte n dagegen aufgehobe n werden , denn »wenn alle s auf Freyheit strebt , s o wird doc h auch jedem selbs t einleuchten, das s so lange das Zwingvogtsreeht i n seiner Gemeinde bestehe, er zu keiner Freyhei t gelangen könne« . Als weiteres Argument wir d de r Vergleich z u andere n Gegende n gezogen : »Waru m existiere n dies e Zwingvogtstelle n nich t auc h mehr i n de r ehemalige n Herrschaft Wädenschwei l un d waru m ka n i n dem Canto n Aarga u jede r Bürger, der die Metzger oder Schmied Professio n gesetzlic h erlernt hat, seine Profession ungehin dert i n jeder Gemeind e de s Cantons ausüben , wo es ihm beliebt? « 296 Nr. 34, Erlisbach (M) , betonte auch an anderer Stelle »das menschliche Recht , seine Fähig keiten fü r sich oder zum besten seiner Famili e anzuwenden«. Dagege n berief sich dezidiert au f das Gemeinwohl Nr . 103, Gemeinde Küsnach c (M) . Zwar steh e ma n grundsätzlic h zu m Schut z jeglichen Eigentum s von Gemeinden, Corporatione n un d Privaten , »jedoch möchte n die Ehehafte n zum Wohl e de s Ganzen nac h eine r billige n un d ihre m wahre n Wert h angemessene n Entschädi gung fre y gegebe n werden« . 297 Siehe auc h Nr . 201, Gebrüder Kappeie r (Z) . Die Brüder verwiesen darauf , »dass in eine m freyen un d auf rechtlichen un d billigen Grundlage n regierte n Staat « für alle Bürger gleiches Rech t walten solle , so dass weder Persone n noc h Ständ e irgendwelch e Vorrecht e vor anderen genössen . Nr. 149, Schöfflistorf (D) , §3, meinte: »Di e Gleichhei t de r bürgerliche n Recht e wir d alle n Kan tonsbürgern i n demjenige n Sin n zugeführt , das s darunte r freye r Hande l verbunde n mi t jede r Gewerbsart... verstanden sey. « Nr . 49, Dällikon (D) , §3, forderte: »in allen Beziehunge n au f Han del un d Gewer b solle n alle Bürge r de s Cantons die nähmliche n Freiheite n genießen« . Sieh e daz u Stiel!, Entwurf , I. Theil, Art . 1: »Der Zwec k de r Staatsverbindun g is t die Sicherhei t de r persönli chen Freiheit ... In diesen Rechte n besteh t die bürgerliche Freiheit , oder die bürgerlichen Rechte , woran all e Bürge r gleic h sind . Au s ihne n fließen di e politische n Rechte. « Zu m korporative n FreiheitsbegrirTvgl. z . B . Schlumbohm, S . 20ff .

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tioncn des Bezirks Hinwil fand: »Gehört die Gewerbefreyheit nich t in die Verfassung eine s republikanische n Staate s aufgenomme n z u werden ? Un d is t derselben Hintertreibung nicht gerade dem Sinn und Geist einer freyen Volksverfassung zuwide r und entgegen? Und beeinträchtigt dieselbe nicht die Ausübung jedes persönlichen Rechtes [ Hervorhebung d. Vf.]?« 298 Dagegen lie ß sich aus der Eingabe der Gemeindebürger vo n Erlisbac h ei n stärker korporatives Denken herauslesen. Ihnen ging es nicht um die Ausübung eines Individualrechts als vielmehr um die unterschiedslose Teilhabe am bürgerlichen Gemeinwesen. Sie hofften deshalb, dass »der republikanische Staatsgrundsatz ›Die Gleichheit der bürgerlichen Rechte‹ durch die zuverordnenden Gesetze aufrecht erhalten werde. Dass keiner Gemeinde, keiner Corporation, keinen Bürgern solche Vorrechte füterhin vor andern Gemeinden, vor anderen Corporationen, vor anderen Bürgern durch die neuen Gesetze mehr garantirt werden.« Ihre Argumentatio n gipfelt e i n de m altständische n Topo s der Korrelatio n von Rechten und Pflichten, der im späteren gesondert betrachtet werden soll : »dass fürterhin sich niemand mehr auf diese Art [durch den Kaufeines Patent rechts] von der Regierung u. Gesetzen begünstiget, sich auf allgemeine Kosten bereichern ... [kann]: da doch ville Bürger die gleichen Laste n und Verpflich tungen für ihre Gemeinden, für den Canton und für den Staat haben.« 299 Die Argumentationslinie, die Abschaffung der Ehehaften respektive die Einfuhrung de r Handels- und Gewerbe frei he it aus einem libera l oder korporativ fundierten Freiheits - und Gleichheitsverständnis zu begründen, wurde offen sichtlich weite r verstärkt durc h de n Hinwei s au f die republikanisch e Staats form. Als ideales Gehäuse von Freiheit un d Gleichheit wurd e der häufi g be nutzte Begrif f des »Freystaates« ode r »freye n Staats « zu m Programm . I n de r Eingabe der Otelfinger gerie t der Verweis auf die »Grundsätze« un d »Völker rechte«, wie si e »in allen republikanische n Staate n existieren« , ga r zu r sakro sankten Legitimationsforme l fü r alle Forderungen. 300 Deutlicher sin d die Ge298 Nr. 185, Gemeinde Ottiko n (H) , identisch i n Nr . 40, Gemeinde Wetzikon (H) , und Nr . 123, Thal un d Ho f (H), Nr . 176, Gemeinde Adcntswil be i Bäretswi l (H) , Nr. 184, Zivilgemeinde Böndler(H). 299 Nr. 34, Erlisbach (M) . Di e stark e Verwurzelun g de r Petente n i m korporative n Denke n erschließt sic h au s ihren weitere n Ausführungen , w o di e Erlisbachc r al s eigentliches Moti v ihre r Gleichheitsforderung ein e handfeste , 27 Jahre wahrend e »Unbilligkeit « angeben . Danac h verlo r ihre Gemeind e mi t der Mediationsverfassun g vo n 1803 eine ganze Reih e von Ehehafte n un d an derweitigen Vorrechten , di e si e »vo r Ann o 1798 vor viele n andere n Gemeinden « gehab t hatten , während ander e - wie di e Ehehafte n bewiese n - ihre Privilegie n bewahre n konnten . I n Nr . 197 wünschten die Züricher Pintenwirte vom Rindermarkt, dass auch sie ein Speiserecht bekämen, u m warme Speise n ausgebe n z u dürfen. Ih r Gesuch stützte sich »auf den allgemeinen Grundsatz , das s in dieser Beziehun g kei n Bürge r vor dem andere n wi e bi s anhin mi t solche n Vorrechte n begüns tigt, sondern jeder unte r den gleiche n Verpflichtunge n gleich e Recht e z u genießen habe« . 300 Nr. 148, Gemeinde Otelfinge n (D) , hie r speziel l §1, gesetzlich garantierte r Verkau f de r eigenen Frucht , des eigenen Weins und des Viehs, sowie in §2 die allgemeine Erlaubnis, »am Fute r

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meindcbürger vo n Ottikon , die die Handels- und Gewerbefre i he it als »frey e Schweizer« un d Angehörig e »eine r Republi k ode r Freystaates « einforderten . Die jahrhundertealte republikanisch e Traditio n der Eidgenossenschaft schie n sich i m liberale n »Freistaat « z u regeneriere n un d di e überliefert e (Ide e der ) Schweizerfreiheit i n de r Gleichhei t de r bürgerliche n Recht e de s Kantons bürgers. Di e Ottikone r schluge n dami t - ganz i m Sinn e de s Chroniste n Braendlin - die Brücke zwischen altständischer Schwurgemeinschaft bzw . res publica und liberalem Freistaat. 301 3.3.2. Die Kottservierung der Gemeindebiirgergesellschaft und di e Demokratisierung der Staatsbürgergesellschaft: Korporative und individuelle Partizipationsvorstellungen Konstitutiv fü r den Begrif f der alte n »Schweizerfreiheit « wa r sein politische r Kern.302 Politische Partizipatio n wurd e dabe i stet s korporativ gedacht , e s war nicht de r einzelne , sonder n di e genossenschaftlich e Bürgergemeinde , de r bestimmte Teilhaberecht e zukamen , se i die s die Stadtgemeinde, di e Landge meinde oder die kantonale »Landsgemeinde«. Entsprechend genoss man seine politische Freiheit auch nicht als Individuum, sondern nur innerhalb des Verbandes. Um jedoch zu m Bürgerkollektiv z u gehören, war der Nachweis von Eigentum nötig . I n Realrechtsgemeinde n wa r da s offenkundig : Nutzungs berechtigung un d Teilnahm e i n de r Gemeindeversammlun g ware n a n de n Besitz eine r Liegenschaf t geknüpft . Abe r auc h i n Personalrechtsgemcinde n stellte sich die Situation nicht viel anders dar. Die Teilhabe an den Gemeindegütern und den Gemeindeangelegenheiten wa r an das Bürgerrecht gebunde n und dieses setzte, auf alle Fälle für Neubürger, irgendeine Form von Eigentum voraus, ob in Form von Grundeigentum, Geldvcrmögen, einer »eigenen Wohnung« oder einer selbständigen Tätigkeit. 3“3 Der korporative Partizipationsan spruch der Gemeinde einerseits und der nachgeordnete, an Besitz geknüpft e Teilhabeanspruch de s einzelnen Gemeindebürgers andererseits sind demnach zu unterscheiden. Nicht anders sah auch das frühliberale Staatsmodel l Eigen tum als Voraussetzung für politische Teilhabe des Staatsbürgers an. Die Eigengehaltenes Vieh« schlachte n z u dürfen: »I n allen republikanische n Staate n existieren diese Völker rechte, und auch wir dürfen di e frohe Hoffnun g nähren , das der Ausdruck republikanisch nich t in einem gebundene n Si n verstanden werde. « 301 Nr. 211, Gemeinde Ottiko n (H) , §8: »Aufhebung de r Zünfte , Einführun g vo n freye m Handel un d Gewerb e i m Handwer k un d dass jeder, se y er zu diesem oder jenem Wer k fähig , sei n Gelerntes treibe n könne , wie e r wolle, betrachten d al s freyer Schweize r un d einer Republi k ode r Freystaates angehörend. « 302 Zum BegrifTdc r »Schweizerfreiheit « un d seiner Rezeptio n i n Europa vgl. den Ausstellungskatalog ›Zeichetu . 303 Siehe z . B . Nauer, S . 9ff., S . 22ff, S . 31 ff.

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tumsproblematik verweist so auf das zweite Untersuchungsgebiet der korporativen und individuellen Partizipationsvorstellungen . Angesichts der vitalen gemeindlichen Autonomietradition kann es nicht verwundern, dass es vor allem die korporativen Teilhaberechte waren, die breiten Raum i n de n Petitione n einnahmen . Hie r wurd e de r Einflus s de r Bürger gemeinschaft au f die Landesregierung un d Verwaltung, di e Ausgestaltung des Verhältnisses vo n Staa t un d Gemeind e un d vo r alle m di e Organisatio n de r kommunalen Selbstverwaltung angesprochen. Im Mittelpunkt der Forderungen zu den individuellen Partizipationsrechte n stand die Definition de s Kantonalwahlrechts. Wer gehörte demnach nach Ansicht der Petenten zu der Aktivbürgergemeinschaft, spielt e Eigentum respektive Selbständigkeit eine Rolle oder welche anderen Kriterien wurden zur Um schreibung de s kantonale n Wahlrecht s benannt ? Gerad e i n diese m Bereic h hatten - wie zu zeigen ist - lebensweltliche Veränderungen die Vorstellungen von politischer Teilhabe beeinflusst . Die Petitionsfordertmgen zu r Ausgestaltung vo n Staat un d Gemeindeautonomie. Di e Petitionen zur politischen Gestaltung des Staatsorganismus folgten dem Ustermemorial bzw . den Vorschlägen Snell s weitgehend: Di e strikte Trennung der Gewalten, die 2/3-Vertretung der Landschaft i m Großen Ra t sowie der Abbau indirekter Wahlen gehörten zu den häufigsten Forderungen . Die Pressefreiheit und das Publizitätsprinzip fü r Parlamentsverhandlunge n un d die Staatsrech nung sollten es der Öffentlichkeit zude m erlauben , die Tätigkeit des Großen Rats z u kontrollieren. 304 Al s politische s Volksrech t wurd e da s Verfassungs referendum i n den Gemeindeeingaben genannt . Di e Volksabstimmung übe r die Verfassung verlagerten, wie schon das Ustermemorial vorgeschlagen hatte, zahlreiche Petenten in die »Urversammlungen« der Gemeinden. Lediglich die Gemeinde Wal d schlu g besonder e »Volks - ode r Landesgemeindsversamm lungen« vor. Ein erster Ansatz, direktdemokratische Elemente in die staatliche Gesetzgebung einzubauen , finde t sic h i n de r Überlegung , da s Petitioniere n z u eine r regelmäßigen Einrichtun g zu machen . Jede Vollversammlung de r Gemeind e im Mai (»Maiengemeinde«) konnte nach Ansicht der Stäfner dazu genutzt werden, de n Volksvertreter n di e Beschwerde n un d Wünsch e mitzuteilen . Di e Gemeindebürger vo n Küsnach t löste n sic h bereit s au s de m gemeindliche n 304 Beispielsweise alle drei Forderungen in Nr. 131, Eingabe der Donncrstags-Gcsellschaft, der Mittwochs-Gesellschaft und der Montagsgescllschaft von Wädenswil (Horgen); die Gemeinde Oberhasli im Bezirk Dielsdorf (Nr. 38) forderte, »von jedem Mitglied des Großen Raths solle es in Druck gefaßt der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, wie er gestirnt, welche Vorschläge und Meinungen er ausgesprochen habe«. Nr. 186, Gemeinde Herrliberg (M), §3: Öffentliche Bekanntmachung der Staatsverfassung; Nr. 246, Männedorf (M), §2: Öffentliche Staatsrechnung zu Händen der Gemeinden.

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Rahmen, indem sie zweimal jährlich auf der Zunft- bzw. Wahlkreisebcne Versammlungen abhalten wollten, auf denen die Berichte des Großen Rats besprochen und Petitionen formuliert werden sollten. Möglicherweise schwebt e den Fischenthalern Ähnliche s vor , wenn si e ohn e näher e Erläuterun g forderten , alljährliche Bürgerversammlungen gesetzlic h zu gestatten. 305 Auf der Amts- oder Bezirksebene zeigte sich die gleiche Stoßrichtung, übe r die Gewaltentrennung di e Allmacht des Oberamtmanns z u brechen, der seit der Restauration als oberster Vollziehungsbeamte auch den Vorsitz des Amtsgerichts führte: »Die schärfere Absonderung der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalten ist eben so ein dringendes Bedürfnis, welche endlich einmal der furchtbaren Gewalt der Oberamtmänner oder Landvögte Schranken setzen wird; die im Großen Rath sitzen, willkürliche Arrestationen und Züchtigungen verfügen (wege n unterlassener Begrüßung!), Recht (?) sprechen im Amts- und Waisengerichte i n eigener Sache , Bericht e eingeben un d aburtheile n un d das gutmüthige Volk wie kleine Satrapen, herrisch, launig und verächtlich behandeln.«306 Beide Ämter sollten also nach Wunsch der Petenten wieder getrennt und den Bürgern des Bezirkes stärkerer Einfluss auf die Besetzung des Oberamtmanns und der Amtsrichter zugestanden werden. 307 Dabei ging die Mehrzahl der Petitionen weit über die Vorstellungen des Ustermemorials hinaus, das die Wahl des Oberamtmanns (ode r Amtsstatthalters, wie es im Memorial hieß ) weiterhin dem Kleinen Rat, die des Amtsrichters einem »Wahlcorps« überlassen wollte. Statt dessen fanden sich in den Petitionen von der direkten Volkswahl über gemeindlich verankerte Wahlmodi (Wahlkollegie n ode r Dreiervorschläge) bi s hin zur Wahl durch den Großen Rat alle Möglichkeiten. 308 305 Ustermemorial, Tei l II, Nr. 3 (»einmüthigbeschlossene Punkte«) , in: Dändliker, Ustertag , Beilage, S . 5; Petition Nr . 257, Gemeinde Wal d (H) , §4; Nr. 165, Gemeinde Stäf a (M) ; Nr . 103, Gemeinde Küsnach t (M) ; Nr . 167, Gemeinde Fischentha l (H) , §3. 306 Nr. 7, P. S. aus Winterthur (W) . Diese anonym eingereicht e Schrif t gehör t aufgrund ihre r Polemik zu den interessantesten Petitionen . Der Autor prangerte die extreme Ämterhäufung i n der Person de s Oberamtmannes an : »Kann ma n sic h eines Schaucrns vo r einem Man n erwehren , de r zu gleiche r Zei t Cantonsrath , Obrist , Gcmeinderaths- , Schulraths - (horribil e dictu!) , Waisen commissions- un d (sic! ) Zunftpräsiden t ist , s o wi e Beysitze r i m Amts - un d Waisengerichte! ! Möchte ma n d a nich t mi t de m Psalmiste n ausrufen : ›Wohi n sol l ic h mic h wende n vo r deine m Grimm, ο Herr! Geh e ic h zu r Hölle , so bist D u da!‹ « 307 Beispielsweise sa h di e Nr . 38, Gemeinde Obcrhasl i (D) , fü r di e Amtsrichterstelle n ei n Wahlkollegium i n den Gemeinde n vor , wobei au f 50 Bürger ei n Wahl mann komme n sollte . Di e Gemeinde Herrliber g Nr . 186, (M), fordert e schlich t di e Trennun g de s Amtsgericht s vo n de r Stadt! Für das Amt des Gerichtspräsidenten wurd e dagegen di e Ernennung durch das Obergericht - w i e i m Ustermcmorial vorgeschlage n - allgemein anerkannt . Andere Forderunge n bezoge n sic h auf die Amtsdaucr, die zumeist wie im Memorial au f drei Jahre beschränkt werden sollte . Auch di e Praxis des Kleine n Rats , trotz Ämterfrcihei t be i de r Besetzun g imme r wiede r Stadtbürge r fü r da s Amt de s Oberamtmannes z u bevorzugen , wollte n manch e Petitione n dadurc h unterbinden , das s der Kandida t notwendigerweis e au s dem jeweiligen Wahlbezir k stamme n musste . 308 Für di e Amtsrichtcrstelle n wurd e zumeis t de r traditionell e Wahlmodu s de s Dreiervor -

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Warum dürfe das Volk, hatten die Gemeindebürger von Gossau in ihrer Petition für eine Volkswahl der Bezirksbeamten argumentiert, die Mitglieder der höchsten Landesbehörd e wählen und seinen Amtsstatthaltcr und Amtsrichter nicht.309 Wieviel stärker musste da die Gestaltung des unmittelbaren gemeind lich-genossenschaftlichen Lebensrau m die Gemüter bewegen. Mit Abstand die meisten und ausführlichsten Forderunge n wurden in bezug auf die Organisation der Gemeindebehörden gestellt. Eindeutig zielten die Eingaben daraufhin, die Selbstverwaltungskompctenzen de r Gemeinden auszubauen. Folglich konzentrierten sic h di e Refor m forde rungen zum einen au f die Perso n de s »Gemeindeammanns«, de n frühere n Untervogt , i n seine r Zwitterfunktio n al s staatlicher und kommunaler Beamter vor Ort. Mit der Restaurationsverfassun g von 1814 war über diese Position der staatliche Einfluss konsequent ausgebaut worden, inde m der Gemeindeammann gleichzeiti g zu m Präsidente n des Gemeinderats ernann t wurde . Darübe r hinau s stan d der Ammann de m Unter waisenamt vor und gehörte dem Stillstand der Kirchgemeinde an. Seine Ernennung behielt sich der Kleine Rat vor, wobei er sich zwar - wie zum Ausgang des Ancicn regime - bei einer Ersternennung an den Dreiervorschlag der Gemeinden halte n musste , übe r die Wiederwahl konnt e e r unte r de r Restaurations verfassung indes bereits ohne offizielle Befragun g der Gemeinden entscheiden. Hatte das Ustermemorial noc h zaghaf t di e vor 1814 übliche Ämtertrennung von Ammann und Gemeinderatspräsident gefordert, dafür aber den bestehenden Wahlmodus des Ammanns beibehalten, so zeigten die Petitionen aus allen Landbezirken jetz t ein e weitau s radikaler e Gangart . Mi t überwältigende r Mehrheit wurde die Trennung der beiden Stellungen gefordert, um auf diesem Wege den staatlichen Zugriff aus der Gemeindeexekutive, de m Gemeinderat , zu verdrängen. Darüber hinaus sollten beide Positionen zukünftig durch frei e Wahl der Gemeinde bestimmt werden. 310 schlags der Gemeinden vorgesehen , aus denen dann der Kleine Rat (Nr. 80, Niederglatt | D\) oder der Groß e Ra t (Nr . 33, Neerach [D] ) ode r da s Obergerich t (Nr . 23, Wizlingen [Z] ) auswähle n sollten. Einige sahen dagegen die Beteiligung des Volkes vor: über spezielle Amtswahlkollegien mi t einem Wahlman n au f hunder t Aktivbürge r (Nr . 176, Adentswil be i Bäretswi l [H| ) ode r »Aus schüsse au s de m Volk « (Nr . 167, Fischenthal [H] ode r durc h nich t nähe r gekennzeichnet e »Volkswahl aller « (Nr . 250, Bubikon |H]) . Fü r di e Wah l de s Oberamtmanne s finde n sic h di e gleichen Vorschläg e de r Volksbeteiligung : vgl . etw a Nr . 132, Hinwil, Nr . 176, Adentswil be i Bäretswil, Nr . 211, Ottikon (all e H) . Nu r Nr . 165, Gemeinde Stäf a (M ) sa h di e indirekt e Wah l durch de n Große n Ra t vor . Insgesam t fäll t auf , das s di e Petitione n au s de m Seebezir k Meile n häufiger de n politische n Vorschläge n de s Ustermemorial s folgte n al s andere , rekrutierte n sic h doch di e Initiatore n un d Autoren de s Memorials vo n dort . 309 Petition Nr . 143, Ciossau (H) , §8. 310 Vgl. etw a Nr . 154, Seegräben be i Wetziko n (H) ; eine genauer e Spezifizierun g de r Wah l durch di e absolute geheim e Stimmenmehrhei t z . B . i n Nr . 38, Oberhasli (D) ; durch di e relativ e Stimmenmehrheit u.a . in Nr . 143, Ciossau (H), §11. Die Petition Nr . 133, o. O., forderte-paralle l zur Aufteilung der Kompetenzbereiche - ausdrücklich die Trennung von Gemeindeammann un d Gemeinderatspräsident, inde m si e dem ersten di e zivilen Gegenständ e un d dem letztere n das Ge-

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Mit diese r Forderun g zeichnet e sic h de r zweit e Kernbereic h de r Retbrm wünsche ab, die Stärkung der Bürgergemeinde. Daz u zählte an erster Stelle die Erweiterung ihre r korporativen Partizipationsrechte . Ware n währen d de r Restauration nu r die Gemeinderäte au s dem direkten Votu m de r Gemeindever sammlung hervorgegangen , sollte n zukünfti g »all e Gmeindsbeamte« 311 nac h dem Willen de r Bürgergemeinde n besetz t werden . Da s galt - außer fü r Am mann un d Gemeinderatspräsidente n - insbesondere fü r de n Friedensrichte r (bislang vom Amtsgericht au s einem Zweiervorschlag de r Gemeinden ausge wählt), aber auch fü r de n Schullehrer , de r durch di e Schulgemeind c gewähl t werden sollte . Ein e bi s i n di e Zwinglianisch e Reformationszei t zurückrei chende Tradition wurde wiederbelebt mi t der Forderung, di e Kirchgemeinde n müssten ihre n Seelsorger 112 nac h vorherige r Probepredig t selbs t bestimme n können. Auc h di e Besorgun g de r gemeindeinterne n Kirchen - un d Armen pflege wollte man durch direkte Gemeindewahlen de s Stillstands stärker an den Gesamtwillen zurückbinden . Direktwahle n au s de m Krei s de r Gemeinde bürger wurden schließlic h auc h in einigen Petitione n fü r die Position des Notars verlangt.313 Diese r Vorstoß war durchaus radikal, da bislang für einen gan zen Bezir k nu r wenige Notariatskanzleie n existierten . Beschwerde n übe r di e weiten Anfahrtswege nahme n breiten Raum in den Petitionen de r Landbürge r ein, ebens o wie übe r di e mangelnd e Dienstbeflissenhei t de r Notare , di e sic h meinde- und Corporationswesen übertrug . Di e Wahlen sollte n wie bei den Gemeinderäten durc h die Gemeindebürgerschaft vorgenomme n werden . 311 Zitiert aus : Nr . 63, Gemeinde Hinwi l (H) , §7. Für da s Folgend e sieh e ζ. B.: Nr . 211, Ottikon (H) , sah die Volkswahl de s Friedensrichters , de r Genieinderät e un d de s Gemeinderats präsidenten vor. Nr. 249, Fischenthal (H), forderte die Wahl des Gemeindegerichts »wi e auch alle r Genieindebeamten, ohn e das s solch e Wahle n noc h irgen d eine r Bestättigun g unterworfe n sey n sollen, aber nur auf drei Jahre« sowie die Wahl des Stillstands und des Pfarrers durch die (ieineinde, des Lehrers durch die Sehulgemeinde; Nr. 250, Bubikon (H) , bevorzugte direkte Volkswahlen be i allen Gemeindestellen un d dem Bezirksgericht . 312 Siehe etwa die Forderung der Gemeinde Wald (Nr . 257, [ Η ], »ein Geset z für di e Exami natoren be y de r Prüfun g de r Aspirante n au f geistliche Stellen , mi t Bedachtsnahm c Untauglich e hierfür abzuweise n un d Tauglich e z u befördern« . Wi e wichti g Probepredig t un d Pfarrwah l au s Sicht de r Petente n war , zeig t di e Tatsache , das s si e allei n 64ma l geforder t wurde ; sieh e Kuster , Stäfnerhandel, S . 58. Die emanzipatorische n Ankläng e diese r Forderunge n sin d zwa r deutlich , liefern aber keine Hinweise auf laizistische Strömungen. Eingaben wie die zweier Gemeindebürge r aus Gossau (Nr . 143) auf einer gesonderten Beilag e im Unterschriftentei l bildete n di e Ausnahme . Sie beschwerte n sic h darüber, dass sich »di e Herr n Geistlichen , besonder s i n den unkultivierte m Bereich unser s Cantons allzustark i n die Gemeindsachen mische n un d soga r als Oberaufseher i n den weltlic h un d politische n Rechte n angesehe n werde n könten . Wi r glaube n nun , das s diese s nicht z u ihrem Stan d gehöre«. Vgl. für die Bedeutun g de r Pfarrwahl da s Konzept der »Gemeinde reformation« von P. Blickte, Gemeindereformation, un d ders., Soziale Dialektik, sowie Conrad, bes. S. 143. Zur Praxi s der Pfarrwah l i n der Alten Eidgenossenschaf t sieh e Fuhrmann . 313 Siehe i n Auswahl : Nr . 34, Erlisbach (M) ; Nr . 143, Ciossau ( H ) ; Nr . 15, Birmensdorf, Aesch, Urdorf , Schlieren , Dietikon , Uitiko n (Z) ; Nr. 49, Dällikon (D) . Die Mehrzah l de r Petiti onen verlangte jedoch nur , den Einzugsbereic h de r Notariat e z u verkleinern .

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offensichtlich nich t darüber im klaren seien, dass sie lediglich für die »Sicherheit un d Bequemlichkei t de s Publikum s aufgestellt « seie n un d demselbe n »jederzeit zu Diensten« zu stehen hätten.314 Dass nun, wie von der Seegemeinde Erlenbach, soga r fü r jede Gemeind e ei n eigene s Notaria t begehr t wurde, is t zweifelsohne ei n deutlicher Hinwei s auf die wachsende Kommerzialisierung . Noch meinte n di e Erlenbache r allerdings , ihre Forderung zusätzlich mi t der altrechtlichen Tradition legitimieren zu müssen, wonach es bereits von 1400 bis 1812 in ihre r Gemeind e ein e solch e Kanzle i gegebe n habe. 315 Wie fü r all e Beamtenstellen wünschte man auch für die Notariatsstellen eine kurze Amtsdauer; di e Gemeinden Otelfingen , Boppelse n un d Hüttiko n wollten zude m die Möglichkeit der Wiederwahl begrenzen, da diese Stellen »möglichst Vielen zutheil« werden sollten. 316 Wie wichti g de n Gemeindemitgliedcr n vo n Adentswi l di e demokratisch e Kontrolle sämtlicher Gemeindeinstitutionen durch die Bürgerschaft war, wird aus ihre m Votu m deutlich , ma n soll e speziel l di e Gemeinderät c durc h di e Schulgemeinde wählen lassen, da in den großen Zivilgemeinden die Leute sich kaum dem Namen nach, geschweige denn den Kenntnissen nach kennen würden.317 Un d di e Wetzikoner drängte n darauf , institutionalisiert e Forme n von Machtmissbrauch un d gemeindeinterne m Klientelismu s z u beseitigen , di e bereits im Ancien régime Anlass zur Klage gegeben hatten. Ausdrücklich sollten deshal b Wirte vo n alle n Positione n de r Gemeindevorsteherschaft ausge schlossen werden . Di e Erfahrun g hab e gelehrt, s o die Gemeindebürger, wi e nachteilig es besonders für »die Mittelklasse« sei, wenn solche Stellen von Wirten besetzt seien. 318 Neben der Wahl sämtliche r gemeindlicher Funktionsträge r sollte der Bür gergemeinde nac h Auffassung de r Petente n auc h eine stärkere Kontroll e der Gemeindefinanzen zustehen . Gerad e bei der Verwaltung der Gemeindeökonomie wollten sich viele Gemeinden gänzlich aus der staatlichen Machtsphärc lösen und die Verantwortung allein in die Bürgergemeinde verlegen. Gemein314 Zitiert nach: (Ulrich) , S . 29f . 315 Siehe Nr. 57, Erlenbach (M). Die altrechtliche Legitimation eines Rechtsanspruchs auf ein eigenes Gemeindenotaria t benutzten auc h Nr . 34, Erlisbach (M) , und Nr . 182, Weiningen (Z), sowie Gemeinden aus dem Agrarbezirk Andelfingen: Nr . 31, Trüllikon, und Nr. 73, Marthalen. 316 Nr. 148, (D), §5. Die maximale Amtszeit sollte auf 12 Jahre beschränk t bleiben. 317 Nr. 176, Adentswil be i Bäretswi l (H) , §10. 318 Nr. 40, Wetzikon (H) . Dre i weiter e Petitione n wünschte n ebenfalls , Wirte un d Wein schenken von allen Beamtungcn in den Gemeinden auszuschließen. Diese drei stammten aus dem Agrarbezirk Andelfinge n (Nr . 16; Nr. 73; Nr. 121). Jakob Μ anz aus Marthale n beschrie b di e Gründe des Verbots plastisch: »Ein armer Mann, der bey einem solchen Beamten Geschäfte habe, dürfe nicht anders als ein Schöppl i trinken, durch künstliches Geschwätz werde er dazu gebracht, ein zweytes zu fordern; und wenn er kaum genug Geld habe, den Rechtstrieb abzustellen, so borge man ihm, und kauf e ih m fü r di e Schul d i m Winter den Burgerha u ab, wodurch der arme Man n genöthigt werde, dass unentbehrliche Holz zu stehlen, und die ganze Gemeinde geschädigt werde.« (Nr . 16).

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de-, Kirchen- und Armengutsrechnungen wäre n demnach nur noch von den Gemeinden selbst zu prüfen und abzusegnen, ohne sie einer höheren Behörde - wie den Oberwaisenämtern etw a - vorlegen zu müssen. 319 Aber nicht nur die Bürgergemeinde , sonder n auc h der Gemeinderat sollt e aufgewertet werden. 120 Die s wir d insbesonder e be i de r Dorfgerichtsbarkei t deutlich. Nac h de n gültige n Gesetze n besa ß de r Gemeindera t bereit s ein e Strafkompetenz fü r Buße n bi s zu zwanzi g Batzen. Einige Petitionen wollte n die richterliche n Befugniss e de s Gemeinderat s nu n beträchtlic h erweitern , während andere Eingaben ein separates Gemeindegericht - zumeist unter Leitung de s Friedensrichter s un d zweie r Beisitze r - wünschten.321 Da s Gericht bzw. der mit richterlichen Aufgaben betraut e Gemeinderat sollten sich vor allem mit »Local & Schuldstreitigkeiten« sowie »minder wichtigen policey-Verge hen«, häufig durch eine bestimmte Streitwerthöhe spezifiziert, beschäftigen. 22 Vorschläge wie di e de s Züricher Ratsherr n Hotz , der bei Streitgegenstände n über zehn Franken der Gemeindeversammlung direkt den Entscheid überantworten wollte , bildete n di e Ausnahme. 323 Anders als bei de r Niedergerichts barkeit des Ancien régime sollte demnach kein staatlicher respektive obrigkeitlicher Beamte r di e Leitun g de s Gericht s übernehmen ; di e hie r projektiert e dörfliche Gerichtsbarkei t war mit von der Gemeinde gewählten Richtern und Beisitzern eine völlig autonome Herrschaftssphäre. Ungeachtet der Vielfalt der Forderungen in bezugauf die Kompetenzen und die Zusammensetzung dieses kommunalen Gericht s wird deutlich , wi e seh r kommunal e Autonomie übe r 319 Diese Forderung wurde i n allen hie r untersuchten Bezirke n gestellt. Siehe beispielsweise Nr. 33, Neerach (D) : Die Kirchen- und Armenrechnungen sin d durch die Gemeinden abzuneh men un d dere n Verwalte r durc h di e Gemeind e z u wählen, die Gemcindcrechnimg is t nur durc h die Gemeinden prüfen d abzunehmen . Di e Gemeinden Oberhasli (Nr . 38), Niederhasli (Nr . 41) und Dielsdor f (Nr . 74) aus de m Bezir k Dielsdor f sahe n darübe r hinau s fü r di e Wah l eine s Gemeindegüterverwaltcrs vor, dass er mit keiner Gemeinderatsstcll e verbunden sei n sollte. 320 Für die Aufwertung sprich t auch die Forderung , die Oberwaisenämter ganz abzuschaffe n und di e Regelun g der Vormundschaftsangelegenheiten allei n de m Gemeindera t z u überantwor ten. Die s wa r ei n direkte r Angrif f au f di e staatlich e Administration , den n diese m Am t sa ß de r Oberamtmann vor . 321 Vgl. etw a Nr . 186, Wiclikon (M) . Nr . 250, Bubikon (H ) sprac h sic h dagege n dafü r aus , Gemeindegerichte zu wählen, zu denen fall s nötig Sachkundige hinzugezogen werde n könnten . 322 Zitiert aus: Nr. 249, Fischenthal (H) . Die Gemeinde Bachs (Nr. 67, [D|) richtete sich mit ihrer Forderun g dezidiert gegen die de n Landjäger n »allzugroß e ertheilte Vollmacht un d de r vo n ihnen ausgeübte n Policey-Aufsich t i n de n Gemeinden« . Di e Erlisbache r (Nr . 34, [ M j ) ginge n recht weit, wen n si e die Kompetenze n de r Zunftgericht e i n die Händ e der Vorsteherschaft jede r Gemeinde lege n wollten . Danebe n zeigt e sic h ein e Kompetenzzuweisun g entwede r nac h de m Streitwert, wie etwa Nr. 143, Gossau (H), oder nach dem Bußenwert, so Nr. 33, Neerach (D) . Die Bußen sollte n jeweils an die Gemeindegüter fallen . 323 Nr. 4, §5 , Ratsherr Hot z au s Zürich, de r soga r noc h weite r gin g un d di e Gemeindever sammlung fü r diese Fäll e zur letzten Instan z erheben wollte. Zumindest sa h die Petition Nr . 133. o. O. vor, dass das Gemeindegericht für Schuldstreitigkeiten bis zu einer Summe von 8 Fr als letzte Instanz entscheiden könne . I m allgemeinen wurd e das Appellationsrecht an die nächsthöhere In stanz des Amtsgerichts gefordert .

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den Bereic h der Rechtssprechung definiert wurde . Ziel war es, die Unabhän gigkeit eines lokalen Rechtsraums zu sichern, in dem die gemeindlich-genossenschaftlich geprägt e Rechtskultu r de s gütliche n Ausgleichs , wie si e i n de r Person des Friedensrichters ihren sprechendsten Ausdruck fand, dominierte. In diesem Sin n verbanden di e Gemeindebürger de r Talgemeinde Bäretswi l mi t der Forderun g nach einem durch drei Friedensrichte r gebildeten Dorfgerich t die Hoffnung, »das s diese Anordnung von sehr großen Ν uzen für das rechtsbedürftige Publiku m wäre, denn auf der einen Seite werden die Geschäfte der Herrn Friedensrichter erleichtert und in Folge dessen haben Sie mehr Zeit auf die Bittigante n z u wirken un d auf der anderen Seit e werden dadurc h gewis s eine Menge minderwichtige Prozess e beseitiget, sei es nun durch Vermittlung oder Spruch des erstinstanzlichen Friedensrichters.« 324 Vor diesem Hintergrund wird auch der allseitige Wunsch, keine Advokaten zu den Gemeindegerichten zuzulassen, erhellt. Bekanntermaßen brachte nicht nur die bäuerliche Bevölkerung der Schweiz den Advokaten als Rcchtsagentcn des neue n liberale n Rechtssystem s stark e Vorbehalt e entgegen. 325 Of t galte n gerade sie als Inkarnation ungezügelten Gewinnstrebens, dem nicht zuletzt die ländliche Bevölkerun g zu m Opfe r fiel. I n den Petitione n tra t abe r noc h ei n zusätzlicher Aspekt hervor. Als professioneller »Interessenvertreter « stan d der Anwalt nac h Meinung vieler Petente n de m genossenschaftlichen Prinzi p gemeindeinterner Konfliktregelun g entgegen. 326 Besonder s viel e diese r Petiti onen gingen aus dem Bezirk Hinwil mit seiner heim- und fabrikindustrielle n Beschäftigungsstruktur ein . Es ist zu vermuten, dass hier das Nebeneinande r des traditionel l gebundene n Rechtsdenken s de r Arbeite r un d eine s »privat rechtsakzessorischen« (D . Grimm ) de r Unternehme r seh r star k ausgepräg t war. Daneben ergaben sich aus der fabrikindustricllen Tätigkei t neue Konflikt 324 Zitiert aus: Nr. 123, § 9. 325 Vgl. die komparatistischen Studien von Siegrist ,Advokat, sowie ders., Advokaten auf dem Land, bes. 176f., ders., Rechtsanwälte. Die feindlich-misstrauische Haltung bäuerlicher Schichten betone Gagliardo , während Schneide r (ebenfall s a m deutsche n Beispiel ) au f neu e Forme n de r Instrumentalisierung bürgerlicher Anwälte für die Interessenartikulatio n im frühe n 19. Jahrhundert hinweist. 326 Die Änderung der geltenden Advokaturordnung hatte auch das Ustermcmorial in seinem elften Punk t verlangt. Die meisten Petitionen gingen allerdings in diesem Punkt ebenfalls weiter als das Memorial und verlangten ihre gänzliche Aufhebung. »Jedem rechtliche n Mann [soll ] gestattet werden, vo r allen Behörde n al s Mandatoriu s Rechtsstreitigkeite n sowoh l i n Civilrechtliche r al s polizeilicher Gestal t zu verfechten«, sieh e Nr . 123, Talgemeinde Bäretswil (H) , § 29. Dieses altgenossenschaftliche Prinzip der Selbstverteidigung wurde gegen die Professionahsierung der Advokaten i n eine r Vielzahl vo n Eingabe n au s alle n Bezirke n eingeklagt , vgl . ζ. Β . Nr. 2, Ratsherr Hotz, un d Nr . 15, Birmensdorf u.a. (beid e Z) . Di e Näh e vo n altgenossenschaftliche r un d alt republikanischer Argumentatio n zeig t sic h a n de r Eingab e de s gebildete n Züriche r Ratsherr n Leonhard von Muralt (Nr. 2), wonach jeder Man n berechtigt sei, als »Fürsprech für seine Angelegenheiten« aufzutrete n wi e be i de n »alte n Grieche n un d Römern « un d wi e e s »i n Englan d un d Frankreich fortgeübt « werde.

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lagen, wie indirekt aus einer Eingabe des Nachbarbezirks Uste r hervorgeht, die ein Gesetz gegen untreu e Weber und Spinner forderte. 327 Gemeindeintern wünscht e man auch die Schuldstreitigkeiten z u regeln. Mit besonderer Verv e behandelte n di e Petitione n diese n Gegenstand , de r gleich zeitig noch aus anderer Warte die Bedeutung der gemeindlich-genossenschaft lichen Lebenswel t fü r de n einzelne n illustriert . Bislan g war die Schuldenein treibung, de r sogenannt e Rechtstrie b - »für di e arm e Menschhei t ein e de r drückendsten Lasten«, 328 - zentral organisier t gewesen . Si e unterstan d de m Schuldenschreiber i n Zürich, i n dessen Auftra g di e »Botten« ode r »Rufe« de n Schuldnern au f der Landschaf t überbrach t wurden . Letzter e hatte n di e enor men Koste n fü r dies e Zahlungsaufforderungen z u tragen. Aus allen Bezirke n erklang deshalb der Ruf, den Rechtstrieb zu dezentralisieren, u m die Kosten zu senken. Der Gemeindeammann sollt e nach Meinung vieler Petenten zukünfti g den gesamten Betreibungsvorgang regeln. 329 In ihren Begründungen ginge n die Gemeinden abe r weit über das unmittelbare pekuniär e Motiv hinaus: »Wie oft lernte un s die Erfahrung , das s ein arme r Mann , wen n e r auch noc h mi t alle r Anstrengung un d Mühseligkeit sein e Zinse oder laufende n Schulde n zusam men bringe n konnte , u m sein e bürgerlichen Recht e und Ehre [Hervorhebun g d . Vf.] als dem edelsten Kleino d z u bewahren, es ihm erst noch an den sehr übertriebenen Rechtskoste n gebricht , ohn e welch e ih m ja kein e Recht e gestell t werden.«330 Schuldner z u sein konnte demnac h übe r den Ausschluss au s dem (gemein de-)bürgerlichen Umfel d entscheiden . De r Verlust de s politischen Aktivbür 327 Nr. 231, Gemeinde Ho f be i Eg g [Uster] . Ei n weitere s Indi z fü r da s erhöht e Konflikt potential is t die Vielzah l a n Eingabe n au s dem Bezir k Hinwil , di e fü r ein e Reduzierun g de r Ad vokaten-Taxen plädierten , wie etwa Nr . 123, Thal un d Hof . Di e lebensweltlichen Veränderunge n des ländlichen Züriche r Oberlandes unter dem Einflus s der Industrialisierung ha t einschlägig un tersucht: Braun, Industrialisierung , sowi e ders., Sozialer Wandel . 328 Nr. 40, Wetzikon (H) , §30: »Die Rechtstriebkosten sin d wahrlich für die arme Menschhei t noch eine der drückendsten Laste n ... und gewiß halte n wir es für [unsere ] Pflich t Hochderselbe n diesen Punk t al s eine n de r wichtigste n i n de r neue n Verfassun g a n da s Her z z u legen. « Dies e Formulierung taucht e identisc h au f i n de n Petitione n Nr . 123, Schulgemcinden Tha l un d Hof , §30, Nr. 184, Zivilgemeinde Böndler , Nr . 185, Ottikon (H) , §28. 329 Siehe z. B. aus dem Bezir k Dielsdor f Nr. 33, Neerach un d Lindt , Mehrer e Wünsche, §15: »Der Rechtstrie b übe r lauffend e Schulde n sol l de n Gemeindeammännern , i n minderen Rechte n den Notariat s Canzeleyen , fü r Zin s un d Capita l de m Schuldcnschreiber , Erstreitun g de r Zech e aber de n Canzleye n z u kommen. « Ein e gröber e Aufteilun g nahme n di e Petente n vo n Küsnach t (Nr. 103, [M]) vor, indem die höheren Schulde n i n jedem Bezirk , die niederen in jeder Gemeind e »in billigen Taxen besorgt « werden sollten . Andere forderten zumindes t di e Verlegung der Schul de η boten i n di e Bezirke , sieh e z . B . Nr . 15, Gemeinden Birmensdorf , Aesch , Urdorf , Schlieren , Dietikon, Uitiko n (Z) . Nr. 101, Wülflingen, Veitheim , Töß (W), §29, forderte zudem die Wahl de r Schulde η boten au s de n jeweiligen Bezirksbürgern , di e bisherig e Besetzun g durc h Stadtbürge r müsse abgeschafft werden . 330 Nr. 40, Wetzikon §30, identisch i n Nr . 123, Thal un d Hof , §30, Nr. 184, Zivilgemeinde Böndler, Nr . 185, Ottikon, §28 (alle Hinwil) .

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gerrechts und der entsprechende soziale Abstieg, der einem »Falliten« , eine m Zahlungsunfähigen, drohte , bildete n da s eigentlich e Schrecknis . Nich t vo n ungefähr stammten Appelle wie der obige aus dem Bezirk Hinwil im industrialisierten Züricher Oberland. Die Verelendung der Heimarbeiterschaft mi t der ersten Mechanisierungswell e Anfan g des 19. Jahrhunderts, die bis etwa 1820 die Handspinnere i i m Züriche r Oberlan d vollständi g verdräng t hatte, 331 la g noch nich t lang e zurüc k un d di e drohend e Einführun g vo n mechanische n Webstühlen schürte die Ängste vor erneuter Massenverarmung. Man hatte die Folgen sozialen Abstiegs bereits hautnah erlebt . Vor diesem Hintergrun d vo tierte die oben zitierte Gemeindebürgerschaft von Wetzikon zwar ausdrücklich dafür, den Rechtstrieb als Mittel zur »Gewährleistung des Eigenthums und des öffentlichen Credits « z u wahren , meint e jedoch i m Interess e de r Gemein schaft, das höher zu veranschlagen sei als das Einzelinteresse, Erleichterunge n einklagen zu dürfen. Die drohende Deprivation einer breiten Masse von Menschen verstieß offenkundig gege n ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit : »gewiß ist es, daß ... ohne den Creditor nur im geringsten an seinen Rechten zu schwächen, Erleichterungen statt finden könne n und wem kommen diese Erleichterungen z u theil un d wer könnt e alllmählic h darunte r z u leide n kom men? In der ersteren Beziehung kämen sie zum theil der ärmsten Classe unserer Menschheit, welche mit saurem Schweiße un d körperlicher Anstrengun g ihr Stü k Bro d verdienen muß ; in der letztere n Beziehun g hingege n wäre n 5 Subjecte [die Schuldenboten] ..., die vielleicht Klaggeschrey erheben könnten; welches nun besser gethan ist, wenn man vielen tausenden von Armut gedrükten MitMenschen Erleichterungen verschafft oder aber das Interesse einzelner im Auge behält, dürfen wir Hochdero Klugheit zutrauensvoll überlassen.« 332 Zusammenfassend lässt sich das Bestreben der ländlich-dörflichen Petente n konstatieren, die Kompetenzen von Bürgergemeinde, Gemeindeexekutive und dörflicher Jurisdiktio n auszubauen . Ähnlich e Bestrebunge n verfolgte n auc h die städtischen Gemeinden Winterthurs und Zürichs. Hier verlief die Konfliktlinie zwischen Bürgergemeind c un d Ra t als deren »Vertretung« . Di e Ausweitung der genossenschaftlichen Partizipationsrecht e musst e gege n di e Oligar chisierungstendenzen des Stadtrats durchgesetzt werden. Folglich fühlten sich die städtischen Bürgergemeinden Winterthurs und Zürichs in besonders drastischer Weise zurückgesetzt, da es ihnen i m Gegensatz zu den ländlichen Gemeinden seit der Restauration nicht gestattet war, ihren Gemeinde- oder Stadtrat selbst z u wählen. »Wa s hat man verfehlt«, s o ein anonyme r Verfasser au s 331 Dieser Vcrdrängungsprozess galt zumindest für grobe Baumwollgarne; ein geringer Teil der Handspinner konnte sich auf das Spinnen feinerer Garne für die Musseline-Weberei spezialisieren, der Hauptteil der Heimarbeiter verlagerte sich aber auf die Handweberci. Vgl. die Fallstudie von Menzd, bes. S. 39-47. 332 Nr. 40, Wetzikon (H), §30.

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Winterthur, dass man »urplötzlich mundtot und bevogtet worden, weil es von Westen her geheißen habe : ›Tel est notre bon plaisir!‹« 333 Die radikale Beseitigung städtischer Privilegien seit der Helvetik und speziell die Einführung von sogenannten Wahlcollegien seit 1814 hatte nach Meinung vieler städtischer Petenten zu neuer Ungerechtigkeit geführt. Nun versage man ihnen, »wasjeder Dorfgemeinde« un d »dem niedrigsten Landmann« zugestanden werde, die Wahl der eigenen Vorsteherschaft. 334 De r Bezirksarzt Hess aus Zürich wie s besonders au f ein vo n 230 Bürgern unterschriebene s Memoria l zur Revision der Züricher Gemeindeverfassung hin , dem entsprochen werden müsse, wenn man für die Stadt Zürich »die gleichen Rechte« und »Fundamentverordnungen« geltend mache, wie bei den Landgemeinden des Kantons.33* Die Reformforderungen richtete n sich analog zu denen der ländlichen Kommunen au f die verstärkte Mitsprach e de r Bürgerschaf t insbesonder e i n wirtschaftlichen Fragen . Zu r Debatt e stande n di e Wah l eine s gesonderte n Gemeindcgutverwalters, di e Aufhebung de r zunftgerichtliche n Kompeten z de s Stadtrats sowi e desse n Oberaufsich t übe r da s Hypothekarwesen , »wohe r e s kommt, dass wir in dieser Hinsicht nicht einmal die Rechte der ärmsten Dorfgenossen genießen«.336Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den Eingaben von Stadt und Land bleibt festzuhalten, der als Ausdruck der überlieferten stadtbürgerlichen Souveränitä t gewerte t werde n kann : Anders al s die Land gemeinden, die durchweg einzelne Sachfragen un d Begehren auflisteten, for derten di e städtische n Petitione n da s Rech t de r Bürger , ihr e Stadtverfassun g selbsttätig zu revidieren, um sie dann erst der Staatsregierung zur Bestätigun g vorzulegen.337 Ungeachtet diese s Unterschiede s verfolgten abe r Stadt- und Landgemein den generell dasselb e Ziel. Statt der traditionellen Hierarchisierun g von herr333 Nr. 7, P.S. aus Winterthur (W). 334 Nr. 19, Wünsche betreffend eine künftige freisinnige Gemeindeverfassung mit besonderer Rücksicht aufWinterthur vo n Jonas Furrcr. Zur Entwicklung der Organisation des Stadtrats siehe Nauer, S. 3f 335 Nr. 113, Bezirksarzt Hess aus Zürich (Z). Das erwähnte Memorial von 230 Stadtbürgern befindet sic h nich t i n diese m Archivbestand . Zu r verfassungsgeschichtlichen Entwicklun g de r Stadt Zürich siehe Dünki, S. 41-47. 336 Zitiert aus: Nr. 19, Jonas Furrer (W), des weiteren Nr. 7, P. S. (W); Nr. 243, Dr. Hegner (W); Nr. 113, Bezirksarzt Hess u.a. (Z). Erwähnenswert ist schließlich eine von über 700 (!) Stadtbürgern unter der Ägide des Stadtrats Nüscheler unterzeichnete Petition »Für die Beibehaltung der Befestigung der Stadt Zürich« (Nr. 204). Man protestierte damit eindrucksvoll gegen die von der Landschaft dringen d gefordert e Schleifun g de r Stadtschanzen . Fü r die Landschaf t ware n dies e sichtbarer Ausdruck jahrhundertealter städtische r Unterdrückung ; die Städter umgekehrt sahe n sich mi t de r drohende n Schleifun g schutzlo s ländliche r Willkür ausgesetzt . Diese r schwelend e Konflikt brac h schließlich in der ersten Staatskrisc des März 1832 offen auf . 337 In diesem Sinn Nr. 151, Im Namen der Bürgerschaft von Winterthur in der gestern abgehaltenen Privatversammlung, unterzeichnet vom Stadtpräsidenten (W); Nr. 113, Bezirksarzt Hess aus Zürich (Z) : »2. dass den Bürger n Zürichs gestattet seye, ... sich ihre Gemeindeverfassung z u revidieren un d den Ortsverhältnissen anzupassen.«

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schaftlich-obrigkeitlichen Rechte n un d kommunale n Rechte n strebt e ma n eine i m Ansat z moder n föderalistische Lösun g a n i n eine m Nebeneinande r autonomer, klar abgegrenzter Rechtsbereiche. Dabei zeigte sich komplementär zu der angestrebten politisch-institutionellen Stärkun g des Gemeindeorganismus auch der dominante Einfluss genossenschaftlicher Deutungs - und Handlungsmuster. Beide Beispiele gemeindeinterner Konfliktregelung , di e Rechtspraxis de s gütliche n Ausgleich s un d di e Schuldeneintreibung , postulierte n implizit den Vorrang des Gemeinwohls vor dem Einzelinteresse. Sie müssen als Teil einer politischen Ethik verstanden werden, die »Gesellschaft« im Sinn einer genossenschaftlichen Solidargemeinschaf t definiert e un d späte r genaue r be trachtet werden soll. Die individuellen Partizipationsrechte: Das Kantonalwahlrecht und die »Ansässenfrage«. Offensichtlich gehört e z u dem Bil d einer solche n Solidargemeinschaf t auc h das des ökonomisch unabhängige n Aktivbürgers . Da s »Falliment«, di e Pfän dung, war es, die den Gemeindebürgern von Wetzikon und anderen Gemeinden ihr »edelstes Kleinod der bürgerlichen Rechte und Ehre« zu rauben drohte. Die finanzielle Selbständigkeit , au s eigener Kraf t seine n Unterhal t bestreite n zu können, war also ein entscheidendes Kriterium des Aktivbürgerstatus. Doch wie wurde »Selbständigkeit« umschrieben, wer gehörte nach Meinung der Petenten und ihrer liberalen Führer zur Bürgergemeinschaft un d wer nicht? Unterschied man , wie etw a i n der süddeutschen liberale n Bewegung , zwische n den allgemei n gültige n »bürgerliche n Rechten « un d de r au f Besitzend e un d Gebildete beschränkten »politischen Freiheit«? 338 Die Führungsriege der ländlichen und städtischen liberalen Bewegun g Zürichs war für ein Primat der Bildung eingetreten. »Aufgrund de r höheren Kultur«, wie Snel l formulier t hatte , sollte die Stad t überproportiona l i m Große n Rat vertreten sein , wen n auc h nu r temporär , bi s ei n allgemei n verbesserte s Volksschulwesen das Bildungsniveau der Gesamtbevölkerung angehoben hätte. Eine Bevorzugung von Vermögenden wurde dagegen nich t propagiert. I m Gegenteil, Sncll hatte die Wahlrechtsbestimmung der Restaurationsverfassun g von 1814 in alle r Schärf e verworfen , di e di e Wählbarkeit a n ein bestimmte s Vermögen band und jene, die »in Kost und Lohn stehen«, vom aktiven Wahlrecht ausschloss.339 Unter Berufun g au f den preußische n Staatsministe r Frei 338 Siehe z. B. den führende n süddeutsche n Liberale n Kar l von Rotteck , der betonte, dass auf die «politisch e Freihei t ... den Bürger n wede r ei n s o allgemeine r noc h s o unbedingte r Anspruc h zusteht al s auf die rei n menschlich e un d bürgerliche«, zitier t nach : vo n Rotteck, Artikel »Freiheit« , S. 70. 339 Wie radikal dieser demokratische Vorstoß war, wird im Vergleich zu den Vorstellungen de r deutschen Frü h liberalen klar . Selbständigkei t wurd e nac h Rottec k al s »Unabhängigkei t vo n de r Gunst andere r Personen « definiert , s o das s jeder, de r »eine s bestimmte n Herr n Diene r (ode r Client, Grundhol d u.s.w.) « sei , vom aktive n Wahlrech t ausgeschlosse n werde n müsse . Sieh e von Rotteck, Artikel »Census« , S . 381 f. Diese r Gedank e de r »independance « finde t sic h auc h be i de m

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herr vom Stein erklärte Snell den Vermögenszensus für das passive Wahlrecht als unrechtmäßig, jeder Republik gebe er eine »aristokratische Färbung«.340 Regelrecht absur d erschie n ih m de r Wahlrechtsausschlus s derjenigen , di e aufgrund eines »rein privatrechtlichen Verhältnisses« als Hauslehrer, Kommis, Handwerksgeselle oder Dienstbote angestellt seien. Schließlich hätten sie nicht weniger als jeder andere die Staats lasten zu tragen.341 »Selbständigkeit« im Sinne der eigenen Haushaltung , wie die liberale Theorie sie definierte, war also für Snell keineswegs entscheidendes Kriterium, wohl aber die Teilhabe an der allgemeinen Steuerpflicht . Spiegelbildlic h definiert e sic h di e Grupp e de r au s wirtschaftlichen Gründe n Ausgeschlossenen: »Almosengenössige, die, welche durch eigen e Schuld Fallite n geworden«, un d diejenigen, die sich einem gerichtlichen Vergleichsverfahre n unterziehe n mussten. 342 Dagege n hatt e das Ustermemorial di e Umschreibun g de s Aktivwahlrechts ga r nich t erwähnt , sondern nur einen Vermögenszensus für das passive Wahlrecht abgelehnt.343 Wie stellten sich nun die Petente n zu dem Dogma von der ökonomischen Selbständigkeit respektiv e persönliche n Unabhängigkei t al s Voraussetzung politischer Partizipation , das dem klassische n Liberalismu s ebenso eigen war

gebürtigen Waadtländer Benjamin Constant, dessen politischer Liberalismus desjuste-milieu das politische Denken in der Regeneration stark beeinflusste. Constant forderte für das passive Wahlrecht einen Zensus, da ein Volksvertreter zum Wohle des Ganzen über einen Fundus an Bildung verfügen müsse . Bildung aber setze Eigentum voraus, die allein die nötige Muße verschaffe, sich Wissen anzueignen. Snell, Constants einflussrcicher Gegenspieler, der den Vorrang der Gebildeten ja nu r al s vorübergehendes Phänome n innerhal b eine s volkstümlichen politische n Maturitäts prozesses befürwortet hatte , verurteilte den elitären Zu g des Constantschen Denken s scharf als »von oben herab aufgenöthigte Zivilisation« und »aufgeklärten Despotismus« ; siehe Snell, Schweizerisches Staatsrecht, Bd. II, 1844, S. 721. Zum Einfluss Constants auf die Schweizer Regeneration siehe Kölz, Verfassungsgeschichte, Bd . 1, S. 235-246; Schcfold, S. 12 und passim; für den deutschen Vormärz Gall,Constant. 340 Snell, Entwurf, Kapite l III, §lf), S . 23. Dabei ging es nicht um die völlige Negierun g des Eigentums, gerad e Freiher r vo m Stei n hatt e bekanntermaße n Eigentu m (zunächs t soga r nu r Grundeigentum) als Voraussetzung für Unabhängigkeit un d Gemeinsinn propagiert. Di e Wählbarkeit des einzelnen Aktivbürgers sollte vielmehr unabhängig von Höhe und Art des Eigentums sein. Zu der Verbindung vo n politischer Mündigkei t un d Eigentu m bei m Freiherr n vo m Stei n siehe Schwab, S. 84. 341 Snell, Entwurf, Spezieller Theil H, Kapitel I, §3b), S. 17f: »Es läßt sich in der That aus dem rein privatrechtlichen Verhältnis, in welchem ζ. Β. ein Hauslehrer, ein Kommis, ein Handwerks­ geselle, ei n Dienstbot e z u seine m Herr n steht , ei n vernünftige r Grun d nich t ableiten , waru m dieser Vertrauen genießende und verdienende Theil von Staatsbürgern, welcher nicht weniger als jeder ander e di e Staatslasten z u trage n hat , von de r Ausübung irgen d eine s politischen Rechte s ausgeschlossen sein soll.« 342 Daneben galten als ausgeschlossen die Volljährigen unter Vormundschaft, die in Kriminaluntersuchung Befindliche n un d diejenigen , welch e ih r Aktivbürgerrecht durc h eine n Richter spruch ganz oder für eine gewisse Zeit verloren hatten . Ebd. 343 Ustermemorial Punk t 3: »Die Wählbarkeit soll vom Vermögen gänzlich unabhängig seyn und bleiben«, in: Dändlilter, Ustertag, Beilage , S.S.

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wie (vermeintlich ) de n Ursprünge n de r Markgenossenschaft? 344 Auffälli g is t zunächst, dass aus allen fünf untersuchten Bezirken Stellungnahmen zur Wahlrechtsfrage einginge n un d für ein e Demokratisierun g vo n passive m un d ak tivem Wahlrech t plädierten . Mieri n wir d sic h auc h di e Entrüstun g darübe r spiegeln, das s noc h di e Wahle n zu m verfassungsgebende n Große n Ra t i m Dezember 1830 die »i n Kos t und Loh n Stehenden « vo m aktive n Wahlrech t ausgeschlossen hatten und für das passive Wahlrecht ein Vermögenszensus von 5000 Franken gefordert wurde. Durch diese Regelung der Wählbarkeit, so die Gemeinden Wülflingen, Veltheim und Töß, sei bislang der so wichtige »Nährund Wehrstand« als »Hauptstütze und Grundpfeiler des Vaterlandes« in seinen Rechten beeinträchtigt , eine r »andere n Klass e von Staatsbürger n nachgeord net« und damit auf das »schmerzhafteste beschimpft« worden. Sie beriefen sich dabei explizi t au f das Gleichheitspostulat, da s auc h si e al s Synony m fü r di e »wahre« Schweize r Freiheit begriffen. Ei n Vermögenszensus fü r die Wählbarkeit stand entsprechend mi t den »Begriffen rei n schweizerischer Freihei t und mit der Gleichheit der politischen und staatsbürgerlichen Recht e in grellstem Widerspruch«. Di e Verknüpfun g vo n alttradiertc r Freihei t un d aktuelle r Demokratisierung wurde noch enger gezurrt, indem die Petenten daran erinnerten, dass die »glorreichen Vorelter n gewiss ni e fü r ein s o unwürdiges un d verächtliches System Gut, Blut und Leben gewagt« hätten. 345 Mit dem Gleichheitsgrundsatz argumentierten auch mehrere Gemeinden des Bezirks Hinwil, die in de r Freigab e de s passiven Wahlrechts di e ersehnt e Möglichkei t sahen , »die Geldaristokratie« zu vernichten.346 344 Allgemein wir d davo n ausgegangen , das s der Ursprun g de r Markgenossenschaf t i n de m Zusammenschluss vo n Siedler n lag , di e sic h Lan d aneignete n un d au s wirtschaftliche n Nütz lich keitserwägungen eine n Persone n verband konstituierten . Grundeigentu m wa r i n diesem Sin n Voraussetzung fü r di e Ausbildun g gemeindlich-genossenschaftliche r Siedlungsformen . Di e Fi nanzierung der diversen Gcmeindelasten, insbesondere mit Entstehung des kommunalen Armen wesens, erfordert e späte r die ökonomisch e Selbständigkei t de r Vollbürgcr . Jtistus Möse r ha t au s dem Ursprun g de r Markgenossenschaf t ein e Staatstheori c entwickelt , wonac h de r Staa t analo g einem Zusammenschluss von Landeigentümern z u einer »Aktiengesellschaft« sei , denen di e poli tischen Mitspracherechte zustünden . Eine solche historische Merleitungder liberale n Verbindun g von politischer Freihei t un d Eigentu m au s der Tradition eine r »Alte n deutschen Freiheit« , di e i m Grundeigentum veranker t gewesen sei n soll, lehn t dagege n Schwab , S. 83, strikt ab . Zur Markge nossenschaft sieh e H.H. Frey , S. 4ff., sowi e z u Möse r Aeppli, S . 52 f 345 Nr. 101, (W), Präambel. Aus ihrem Freiheits - un d Gleichhcitsverständm s leitete n si e i m zweiten Tei l de r Petitio n i n §3 ab: »Sämtlich e Bürge r de s Kanton s genieße n di e gleiche n un d nämlichen bürgerliche n Rechte , u. es sollen weder Orte, Personen , Familien , Vermögensverhält nisse derselben irgendwelch e Vorrechte o. Privilegien haben« ; §7: »Jeder Wehrfähige, Dienstpflich tige oder sonst rechtliche Aktivbürger ist stimmfähig, ohn e die geringste Rücksicht , ob er irgendw o in Lohn und Kos t stehe oder nicht. « 346 Nr. 40, Wetzikon, §1c : »das s bei Wahlen kei n Vermöge n in s Auge gefaßt werde , sonder n jeder rechtlich e Bürger , wen n e r da s 29. Lebensjahr zurückgeleg t hat , ka n gewähl t werden . Wi r glauben voraussetzen zu dürfen, dass nirgens Männer gewählt werden, welche nicht den allgemei nen Ruff der Rechtlichkeit un d Klugheit genießen, wohl aber wird dan die Geldaristokratie, als eine

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Besonders intensi v un d mi t spitze r Fede r setzt e sic h de r bereit s erwähnt e anonyme Verfasser au s Winterthur mi t der Frage des Vorrangs von Vermögen und Bildun g auseinander. De r Zensus schien ih m »barer Unsinn « angesicht s der großen Umwälzungen, die man »im Gebiete Ihro Exzellenz des Mammon« in kurze r Zei t erleb t habe . Kometenhafte r Aufstie g un d jäher Abstie g - die neue, al s rasant erlebt e sozialökonomisch e Mobilitä t lie ß nac h Meinun g de s Verfassers de n Besitzstan d nich t mehr al s verlässliche Größ e erscheinen. Be sonders großen Schaden, so fuhr er fort, richte ein Zensus auf dem Land an, da er zur ausschließlichen Wah l der »Dorfmagnaten« zwinge . Tatsächlich ginge n die Beweggründe des Autoren aber über diese funktionalen Überlegunge n hinaus. Als Verfechter de s politischen Tugenddiskurse s gal t ih m die Verbindung des politischen Ehrenamtes des Volksrepräsentantcn mit purem Materialismu s schlichtwegals moralisch verwerflich: »Kein Geld, kein Volksrepräsentant!! Ein Pestaluzzi wär e vielleich t be y un s daz u nich t wä g [wert ] gewesen! « Ebens o unsinnig seien die Vorbehalte, bei Ämterfreiheit würde n ganz rohe und ungebildete Menschen politisch e Positionen einnehmen: »Was für Leute brauchen wir i m Cantonsrath ? Juristen, Oekonomen , Kaufleute , Philosophen , Haus und Brauchverstand , vo r allem abe r solche, die den Kop f nicht nur, sonder n auch da s Her z a m rechte n Flec k habe n ... Unser Glaub e ist , das s auc h de r Handwerker, der Baue r recht tauglich sey n könne , wenn e r nur sein Fac h als Meister versteht und er sonst einen hellen Kopf hat... Wenn aber der Gelehrte vom Handwerk nur Den als gebildet anerkennt, der die Universität besucht hat ...ja, dann wird die Bürger- und Bauernsaame hinten ab ziehn müssen!«347 Mit großer Mehrhei t wurde auch die Demokratisierung de s aktiven Wahlrechts gefordert, inde m man das Kantonalwahlrecht fü r die in Kost und Lohn Stehenden verlangte. 348 Di e Wahlrechtsfrag e spiegel t dami t i n erstaunliche r Klarheit die lebensweltlichen Veränderungen wider, denn neben den von Snell genannten Hauslehrern , Handlungsgehilfe n un d Handwerksgesellen , di e i m Haushalt ihres Arbeitgebers lebten, waren natürlich in erster Linie die Dienstboten als traditionelle Unterschich t un d die wachsende Zahl der Fabrikarbeiter349 al s neu e Unterschich t angesprochen . Ein e Eingab e au s dem Arbeiter Wurzel de s Verderbens will s Got t vernichte t werden. « Sieh e ζ. Β . auch Nr . 64, Uingwil, §4. Nr. 176, Adentswil be i Härctswil , § l c . 347 Nr. 7, P. S . au s Winterthur . Ander s verhiel t e s sic h jedoch mi t de r Umschreibun g de s aktiven Wahlrechts. I m Unterschie d z u der betont demokratisch gehaltene n Ännerfreihei t schie n dem Winterthure r di e persönlich e (durc h wirtschaftliche ) Unabhängigkei t fü r da s Aktivbürger recht vo n s o eminente r Bedeutung , das s e r a n de r bestehende n Ausschlussregelun g festhalte n wollte. Mehr noch, ausdrücklich sollte n nun auch Beamte, »Bureaudiener i n Kanzleyen un d Zahl stuben«, unte r die i n Kos t und Loh n Stehende n fallen . 348 Ohne weitere Begründunge n sieh e Nr. 133, o. O. (H) ; Nr. 167, Fischenthal (H); Nr. 250, Bubikon (H) ; Nr . 149, Dällikon (D) ; Nr. 165, Stäfa (M) . 349 Die Angaben übe r die Beschäftigte n i n der Textilindustrie un d speziell übe r die Fabrikar beiter differieren i n der Literatu r ganz erheblich. Nac h Berechnunge n vo n Menzel, S. 84f., Tab . 7,

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bezirk Hinwi l betont e den n auch , »Arbeiter un d ehrlich e Dienstbotte n solle n nicht vo n de m Wahlrecht ausgeschlosse n sein«. 350 Dies e Forderun g wurd e i n anderen Petitione n i n differenzierten Begründunge n untermauert . I m Vordergrund de r Argumentatio n stan d dabe i gemä ß altständische r un d altrepubli kanischcr Denktraditio n di e Pflichterfüllun g de s einzelne n gegenübe r de m Gemeinwesen, womi t di e Teilhabe a n den Staats - und Gemeindelaste n sowi e der Wehrdienst gemein t war. Auch Sncll hatt e die allgemeine Wehr- und Steu erpflicht al s politische Recht e aufgeführt, s o dass sich hier im Inhaltlichen ein e deutliche Anschlussfähigkei t a n liberale Positione n zeigte . Jeder Bürger , der den »Dägen für Gott und Vaterland trägt«, sollte nach Mei nung des Männedorfer Arzte s Georg Zuppinger a m See, der Gemeindebürge r von Wetzikon i m Züricher Oberlan d un d anderer das Recht haben, seine bür gerlichen un d politische n Recht e auszuüben. 351 Nich t ander s hatt e etw a de r deutsche radikal e Liberalismu s währen d de r Befreiungskrieg e di e allgemein e Wehrpflicht mi t der Idee staatsbürgerlicher Egalisicrun g verknüpft . Eine ander e Akzentuierun g nahm , stellvertreten d fü r viel e Petenten , de r Ratsherr Hot z au s Züric h vor . Wer sic h a n de n Gemeinde - un d Staatslastc n beteilige sowi e Hau s und Eigentu m nachweise n könne , soll e auch al s unselbständig Tätige r stimmfähi g sein. 352 Hot z formuliert e hiermi t di e alttradierte n waren u m 1830 im Kanto n Zürich insgesam t 23.000 Personen i n der Baumwollindustri e beschäf tigt sowie 11.300 in der Seidenindustrie. 300 Arbeiter in der Wollindustrie un d 350 im Maschinen bau. Von diesen in gesamt in der Industrie Tätigen, so die früheste Berechnun g von 1827/30, waren schätzungsweise 5000 Personen i n Fabriken tätig , fast die Hälfte davon Kinde r unter 16Jahren. Bi s 1855 stieg ihr e Zahl au f 13.765 Personen ode r ca. 20% der i n der Industri e Tätigen . Vgl . Geschichte des Kiwiotis Zürich, S . 60. Wegen de r erhebliche n Differen z se i zusätzlic h au f die Angabe n be i M . Salzniann hingewiesen , de r unte r Rückgrif f auf die Volkszählungsstatistik i m Jahre 1850 für de n gesamten Kanto n Zürich nu r rund 7100 Fabrikarbeite r i n der Textilindustrie nennt , die etwa 14% aller um 1850 in der Textilindustrie Beschäftigte n (50.300 Personen) stellten . Auf jeden Fal l über wog die Heimarbeit noch deutlich: In dem hier ausgewählten Bezir k Hinwil stande n beispielsweis e rund 4700 Heimarbeiter etw a 1000 Fabrikarbeitern gegenüber . Sieh e Salzmatin , S . 199, Tab. 18, sowie S . 2()4f., Tab. 19f . Wie unterschiedlich sic h di e Fabrikarbei t allerding s von Kleinstregio n z u Kleinstregion entwickelte , zeigt e sic h i n bestimmte n Gebiete n de s Züricher Oberlandes , etw a i n den Aabachgemeinden, w o zur Jahrhundertmitte bereit s nahezu di e Hälfte de r industriell Tätige n in Fabriken beschäftigt waren ; 1870 waren es über 60%. In den südlichen Gemeinde n ware n e s im selben Zeitrau m nu r run d 3%. Vgl.Jäger/Lemmenmcivr/Rohr/Wiher, S . 103. Tab. 9a, Tab. 9b. 350 Nr. 167, Fischenthal, §11. 351 Zitiert aus: Nr. 40, Wetzikon (II), §11, des weiteren ζ. Β. Nr. 224, Zuppinger aus Männe dorf (M) , §1; Nr. 246, Männedorf (M) , §1. 352 Nr. 4, Ratsherr Hot z (Z), leitete die Berechtigun g au s der offenkundigen Praxi s ab, wie e r in § 3 beschrieb: »Es gibt abe r eine nich t gering e Anzah l solch e (di e in Kos t und Loh n stehen) , di e Haus und Eigenthu m besitzen , dere n Weiber , Kinder , Söhn e ode r Töchte r solche s unte r seine m des Manns oder Vaters Name n besorgen , di e auch all e Laste n un d Beschwerde n eine r Gemeind e so wie di e allgemeinen Steuer n mittrage n helfen , un d diesseit s vo n nicht s ausgeschlossen sin d ... Wünsche deswegen : das s de n Worten : »s o in Kos t un d Loh n stehen «: beygefüg t würde : sofehr n solche in der Gemeinde oder Zunft kei n Eigenthum besizen , und nichts weder an die Gemeindcs noch allgemeine Laste n beytragen. «

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Kriterien des Gemeindebürgerrechts un d stellte sie über jenes liberale ökonomische Selbständigkeitsideal, das die in Lohn und Kost Stehenden kategorisc h ausschloss.353 Mit seine r Definitio n de s Kantonalwahlrechts vollzo g Hot z im Grunde nur eine ungebrochene Rechtstradition nach: die Ableitung des Staatsbürgerrechts au s de m Gemeindebürgerrecht , d . h. , nu r we r prinzipiel l da s Gemeindebürgerrecht besaß, unabhängig davon, ob angeboren oder angekauft, konnte auch über staatsbürgerliche Recht e verfügen. Hotz' Standpunkt kan n stellvertreten d fü r viel e Fetente n gelten . Folglic h waren es in erster Linie gemeindebürgerliche un d genossenschaftliche Kriteri en, di e i n de r Mehrzah l de r Petitione n di e Umschreibun g de r kantonale n Aktivbürgerschaft prägten. Offensichtlich entschie d eine unselbständige Tätigkeit nicht über den Ausschluss vom Wahlrecht, wer aber war ausgeschlossen? Allen voran wurde der Besitz eines »eigenen Rauchs« genannt, womit traditionell keinesweg s ausschließlich ei n eigenes Haus gemeint war, sondern, wie Gemeindeverfassungen de s 18. Jahrhunderts dokumentieren , auc h di e Füh rung eines eigenen Haushalt s in einem Untermietverhältnis zählen konnte.354 Dazu trat das genossenschaftliche Prinzi p der Korrelation von (Steuer-) Lasten und Rechten, - eine Argumentation, die wiederum bedingt anschlussfähig an den liberale n Grundgedanke n de s Stcuerzcnsu s war . Da s Kantonswahlrech t war damit a n wirtschaftliche Kriterie n gebunden , wie si e für das Gemeindebürgerrecht galten. Deren Ursache lag in der überkommenen Organisation des Armenwesens, für das die Gemeinden zuständi g waren. Jede Kommune hatte für ihr e armengenössige n Vollbürge r aufzukommen . Ker n de s Bürgerstatu s war deshalb die Fähigkeit, selbständig für seinen Unterhalt (und den der Familie) aufkommen z u können. Von hier aus erschließt sich der von den Petenten stillschweigend akzeptiert e Ausschluss all derjenigen, die nicht für ihren Un terhalt sorgen konnten: die Armengenössigen un d die Falliten. Während für Hotz und andere »Selbständigkeit« noch mit dem überkommenen Kriterium von Grundeigentum verknüpft war, zeigte sich in anderen Petitionen der Reflex auf die zunehmende Zahl von Erwerbstätigen ohne Grundeigentum, wie sie die Fabrikarbeit hervorbrachte. Sie fassten Selbständigkeit als die Fähigkeit auf, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten und der Heimatgemeinde nicht zur Last zu fallen. Das Kriterium der Selbständigkeit hatte also 353 Zur Definitio n diese s Selbständigkeitsideal s al s »Verfügungsgewal t übe r Ort , Stof f un d Werkzeug de r Produktion« , derzufolg e Diens t boten, Handwerksgesellen, Fabrikarbeite r un d Ta gelöhner aufgrund ihre r abhängigen Stellun g von den Besitzern der Produktionsmittel vo m Wahlrecht ausgeschlosse n waren , sieh e Riedel, S. 712. 354 Siehe da s Beispie l de r Gemeind e Höngg , di e i n ihre r Satzun g vo n 1703 den Taunern , di e durch Gebur t da s Gemeindebürgerrecht innehatten , abe r kein e eigen e Wohnstätt e besaße n un d zur Untermiet e wohnten , al s stimm- un d nutzungsberechtig t ansahen . Di e I tandhabung konnt e allerdings von Gemeind e z u Gemeinde differieren , aufgrun d de r bereits in Kap . 1. 3. dargelegten Wahrung de r überkommene n Dorfrecht e i m Zug e de r historische n Entwicklun g de s Züriche r Territorialstaats. Vgl. Steinemann, S . 97f., S. 108ff .

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eine ebenso fundamentale Bedeutun g wie i n der liberalen Theorie , aber eine andere (nicht in der Verwirklichung persönlicher Freihei t verankerte) Wurzel. Unter Betonung des Gedankens der Selbstversorgung argumentierten deshal b auch eine Reihe von Gemeinden aus dem Bezirk Hinwil: »Is t es ein Schimpf , wenn ei n junger ode r alter Man n mi t Got t un d Ehre n sein Brod zu verdiene n sucht? Is t es vor Gott und den Menschen billi g un d gerecht, dass ein solche s Individuum um deswillen seine bürgerlichen Rechte verliere?«3-““ Am Beispiel de r beiden Petitione n des Ratsherrn Hot z und der Gemeind e Wetzikon lässt sich somit eine bemerkenswerte Verschiebung von der eigenen »Haushaltung« zu m bloße n Nachwei s eine s »Nahrungszweiges « al s Moder nisierungsreflex festmachen . Bürgerliche Pflichterfüllun g un d Selbständigkei t i m vor n beschriebene n Sinn als Entree zur Partizipation mussten, konsequent verwirklicht, auch Auswirkung au f die Gemeindeebene selbs t und damit eine andere große Gruppe von Ausgeschlossenen haben , die Niedergelassenen oder »Ansässen«. Die Ansässenfragc war besonders brisant, weil sie den gemeindlichen Lebensraum und das gemeindebürgerliche Prinzi p ganz unmittelbar berührte. Mit de n Mobilitätsschübe n de r Industrialisierun g hatt e di e Ansässenfrag e quantitativ wie qualitativ eine neue Dimension erreicht . Insbesonder e i n den industrialisierten un d merkantile n Gebiete n de s Kantons, d. h . im Oberlan d und um den See, hatte der Zustrom an Arbeitskräften da s soziale Gefüge de r Gemeinden verändert. Das politische Gefuge, der institutionelle Rahme n der Bürgergemeinden, wa r jedoch völli g unveränder t geblieben . De r Ausschlus s der Niedergelassenen musste , je größer ihre Zahl und damit ih r Beitrag zu m Gemeindehaushalt i n For m de r jährlichen »Ansässengelder « wurd e un d j e mehr die Zahl derjenigen wuchs, die wirtschaftlich prosperierten , immer frag würdiger werden. 356 Ratsherr Hotz hatte allen Kantonsbürgern, die Eigentum und kommunal e Steucrpflich t nachweise n konnten , da s Kantonswahlrech t 355 Nr. 40, Wetzikon, §11, wie auc h Nr . 123, Thal un d Ho f (H) ; Nr . 184, Zivilgemeinde Böndler (H) ; Nr. 185, Ottikon (H) . Die soziale Durchschlagskraf t de s Sclbständigkcitstoposwir d an de r Eingab e au s Wülflingen, Volthei m un d Tö ß (Nr . 101, [W]) deutlich , di e di e i n Kos t un d Lohn Stehende n unbeding t vo n de n Unterstützungsbedürftige n abgegrenz t wisse n wollte , d a sonst «ei n achtenswerte[r ] Thei l vo n sons t biederen, rechtliche n un d wackere n Cantonsbürger n und Millitairdienstptlichtige n Männer n de r Ausübun g de s wichtigste n Theil s de s Activbürgcr rechts unwürdi g erklär t [wird ] - und de n selbe n i n di e gleich e Cathegori e vo n Falite n un d ge brandmarkten Criminalverbrecher n sezt« . 356 Die Zahl der Bürger ihre r Wohngemeinde san k durchschnittlich i m Kanto n Zürich von im Vergleich z u Deutschland imme r noch beachtlichen - 65 % im Jahr 1850 auf rund 50% im Jahr 1870 und schließlich 33,7% um 1900 stetig ab. Hinter diesen Durchschnittswerte n verbirg t sich die Tatsache, dass in den agrarischen Bezirke n weiterhin mi t einem Bürgeranteil vo n über 80% nahezu vollständig geschlossen e Bürgergemeinde n existierten . Sieh e H.H. Frey , S. 25, Tab. 1, S. 26, Tab. 3. Dabei kam es nicht selten vor, dass wohlhabende Hintersässe n bewuss t au f eine Einbürgerung , die ihne n finanziel l möglic h gewese n wäre , verzichteten , da si e höher e Gemeindesteuer n al s i n ihrer bisherigen Heimatgemeind c hätte n zahle n müssen . Sieh e Kunz, S. 115.

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nicht vorenthalten wollen. Mussten analo g dann nicht auch die in einer Gemeinde Niedergelassenen, die in der betreffenden Kommun e Eigentum besaßen bzw . selbsttäti g ihre n Unterhal t bestritte n un d z u de n Gemeindelaste n beitrugen, ebenfalls in Gemeindeangelegenheiten stimmfähi g werden? Überraschenderweise wurde dieser Schluss von den Petenten nicht gezogen, eine gleichberechtigt e Teilhab e de r Ansässe n a n de n Gemeindeangelegen heiten stand nicht zur Debatte. Im Mittelpunkt der Eingaben von Gemeinden, aber auch von Gruppenpetitionen der Betroffenen selbst , die mehrheitlich aus dem Seebezir k Meilen un d dem industrialisierte n Hinwi l stammten,357 stand die Forderung, das Kantonswahlrecht am Wohnort ausüben zu dürfen. Bislang konnte ei n Niedergelassene r sei n Wahlrech t nu r i n seine r Heimatgemeind e ausüben, d. h. er musste unter Umständen einen langen Weg und mehrtägigen Aufenthalt in seiner Heimatgemeinde auf sich nehmen, um seine Stimme abzugeben.358 Dies sei weniger »Wahlfreyheit«, so die Gemeindebürger von Uetikon, als vielmehr »Wahlbcschränktheit«. Wie könne unter diesen Bedingungen die »Aufforderun g z u de n bürgerliche n Pflichten « Verbreitun g finde n un d wozu dann überhaupt so eine Aufforderung.359Mehrere Gemeinde n im Oberland mi t hohe m Ansässenanteil bezoge n das gemeindebürgerliche Kriteriu m des »eigenen Rauchs« mit ein, wonach ein Ansässe dort sein Wahlrecht ausüben könne, wo er auf Grundeigentum säße.360 Nur zwei Petitionen argumentierten dagegen explizit mit der politischen und bürgerlichen Gleichheit aller Kantonsbürger; beide Eingaben stammen von Einzelpersonen, die sich in den Städten Zürich bzw. Winterthur niedergelassen hatten. Eine »ächt republikanische und vaterländische Begründung « de s Wahlrechts , s o de r Winterthure r Ansäss e Werdmüller, sei der »große Ruf der Zeit«. Deshalb müsse man zwischen zwei 357 Nur wenige Petitionen zur An süssen frage gingen aus den städtischen Bezirken Winterthur und Zürich ein. Keine einzige Petition kam aus dem agrarischen Bezirk Dielsdorf, der offensichtlich noch unberührt von den demographischen Umschichtungsprozessen war. Noch im Jahr 1850 wies Dielsdorf einen Anteil der Bürger an der Einwohnerschaft von 83% auf, der bis 1889 mit 76% nur unwesentlich abnahm. Vgl. ebd., Tab. 3 »Bürger in Prozenten der Einwohner in einigen typischen Landbezirken«. 358 Siehe Ustermemorial , Zweiter Punkt , Nr . 6, in: Dändliker, Ustertag, Beilage , S. 5. Als Auswahl beispielsweise in Litt. B, Gemeinden des Wehntals (D), §4; Nr. 23, Wipkingen (Z); Nr. 93, Girenbad (H); unter besonderem Verweis auf die Militärpflicht der Ansässen etwa Nr. 246, Männedorf (M), §1; Nr. 257, Wald (H), §17. Häufig wurde außerdem da rauf verwiesen, dass ein Ansässe nach langjähriger Abwesenheit aus seiner Heimatgemeinde die Kandidaten nicht mehr kenne, dafür aber die seiner Wohngemeinde. Vgl. Nr. 4, Ratsherr Hotz (Z); Nr. 232, Meilen und Uetikon (M); Nr. 13, Ο. Werdmüller aus Winterthur (W): »gleich seinen Ansäßgenossen zürnt es auch ihn [den Petenten], an seinem Wohnort, im gleichen Kanton zu den vaterländischen Angelegenheiten keine Stimme zu haben, sondern dahin gewiesen zu seyn, wo individuell uns entfremdet ist«. 359 Nr. 232, Gemeinde Meilen und Uetikon (M), S. 8. 360 Nr. 40, Wetzikon, §11; Nr. 44, Bäretswil, §2; Nr. 123, Thal un d Hof , §11; Nr. 132. Hinwil, §4; Nr. 143, Gossau, §16; Nr. 184, Zivilgemeinde Böndler, §12; Nr. 185, Ottikon, §12 (alle Hinwil).

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Bürgerrechten unterscheiden, dem Ortsbürgerrecht, das an die Gemeinde gebunden se i einerseits und dem Kantonalbürgerrecht andererseits , das überal l gültig sei, so weit der Staat reiche. »Politisch betrachtet ist es höchst sonderbar, ja inconsequent , das s der Staa t bestimmt, di e Staatslasten , Abgaben , Militai r Dienste usf leiste ein jeder da, wo er wohnhaft sey, des Staateswohlthaten, seine billigen Recht e als Bürger genieße und übe er aber da, wo das Erbtheil seine r Väter, oder besondere Convenienten ih m ein Ortsbürger Rech t zukommen ließen.«361 Darum soll e di e Ausübun g de s Kantonsbürgerrecht s a n di e »Scholl e de r Erde«, die bewohnt wird, und nicht an alte, zu anderen Zwecken bestehend e Rechte - gemeint war das Heimatprinzip des Armenwesens - gebunden sein . Trotz seine r Kriti k rüttelt e Werdmüller demnac h nich t a n de m Gemeinde bürgerprinzip, sondern erkannte die Existenz zweier Bürgerrechte an, obwohl seine Argumentation eigentlich auch den Anspruch des Niedergelassenen au f gemeindliche Partizipatio n legitimierte . Da s galt für all e diese Eingaben, aus nahmslos bezogen sie sich jedoch ausschließlich auf die kantonalen Großratswahlen. »Für die Wahlen aber so auf die Oeconomische Verwaltung einer Gemeinde Bezu g haben« , s o noc h einma l de r Ratsher r Hotz , »üb t jeder sei n Stimmrecht aus, wo er Bürger ist.«362 Die Unverletzlichkei t de s Gemeindebürgerprinzips, di e de r Ratsher r hie r nochmal klargestellt wissen wollte, wurde in den anderen Petitionen als selbstverständlich erachtet . E s scheint daher symptomatisch , das s sich nu r wenig e Petitionen mit der Abschaffung des »Einzugs« beschäftigten, d. h. der Einkaufssumme für das Gemeindebürgerrecht, denn solch ein Schritt hätte den Über gang von der Bürger- zur Einwohnergemeinde bedeutet. 363 Ebenfalls symptomatisch für die unumstrittene Dominanz des Bürgerprinzips war, dass auch der zweite Beschwerdepunkt in der Ansässenfrage - die finanziellen Aufwendun gen, die die Ansässen an ihre Niederlassungsgemeinde zu zahlen hatten, - nicht mit dem Anspruch au f politische Partizipatio n i n de r Kommun e verbunde n wurde. Ursprünglich als pauschale Entschädigung für die Teilhabe an Gemeindeleistungen eingeführt, wurde n die Ansässen mit der Zeit ungeachtet diese s 361 Zitiert aus: Nr. 13, (W)· Dieandere Eingabe stammte von dem in Zürich ansässigen Buchhändler Mesfour, der mit einem Seitenhieb auf die kostspielige Einbürgerungspraxis der Gemeinden fragte, »oder soll der Angesessene das Bürgerrecht seines Wohnortes nur deshalb erwerben, um thatsachlich sein Stimmrecht nicht einzubüßen? Diese Zumutung wäre unbillig und dem Grundsatz der Verfassung, dass alle Bürger gleiche bürgerliche und politische Rechte genießen, schnurstracks zuwider.« (Nr. 163, [Z]). 362 Nr. 4, (Z), §2. 363 Eine Abschaffung de r Einzugsgelder forderte n Nr . 250, Bubikon (H) ; Nr. 99, Schmied Beck in Wiedikon (Z); Nr. 228, Ansässen der Kirchgemeinde Grüningen (H); Nr. 133, ο. Ο. (Η). Eingeschränkt au f Bewerbe r au s der gleichen Kirchgemeind e Nr . 184, Böndlcr, un d Nr . 185, Ottikon (beid e H) . Andererseits machte n einig e Gemeinde n ih r angestammte s Rech t au f das Einbürgerungsgeld al s wichtige kommunale Finanzressource geltend. So forderte die Gemeinde Ottikon (Nr. 211, [H]) eine Erhöhung ihrer Einkaufssumme .

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Tributs der jährlichen »Ansässengelder« nochmals gesondert zur Finanzierung der kommunalen Leistungen herangezogen . Die Ansässe n schilderte n detailliert , i n welche r Weis e ma n trot z de s Ansässengeldes alle Laste n wie der Gemeindebürger z u bestreiten hab e und zusätzlich auch noc h i n der Heimatgemeind e zu m Unterhal t de r Armen sowi e der Kirchen - und Schulbauten angehalten werde.364 Besonders erbittert zeigten sie sich über die Willkür der Gemeinderäte, die jährliche Abgabesumme je nach de n akute n Bedürfnisse n de s Gemeindehaushalt s festzulegen . Diese r Missbrauch wurde offensichtlich i n allen Bezirken betrieben. Die Forderungen der Ansässen zielten deshalb in der Hauptsache auf materielle Erleichterungen: ob in Form einer gesetzlichen Regulierung der Ansässengelder, wie sie auch das Ustermemorial aufführte, um kantonsweit eine einheitliche Gebühr sicherzustellen, oder einer Senkung der Gebühren bis hin zu ihrer gänzlichen Abschaffung.365 Auffälli g ist , das s di e Ansässen , u m ihre n materielle n Forderunge n mehr Nachdruck zu verleihen, auf das Postulat der »Gleichheit« im ständischen wie liberalen Sin n verwiesen. Das göttliche Naturrecht rie f beispielsweise der Züricher Ansässe J. L . Kuffebam an, »denn der Menschen geht frey von seinem Schöpfer aus und keinem ist von dem großen Werksmeister ein Vorzugsrecht, den andere n z u behandel n eingeräumt«. 366 De r Schuste r Conra d Städcl i au s Basscrsdorf, ansässig in Zürich, verwies dagegen auf die rechtliche Gleichstel lung von Stadt und Land, aus der eine Vereinheitlichung der Gebühren folge . Da ein ih m bekannte r Her r Gessne r al s Ansässe i n Lindau/Am t Kybur g aber eine sehr viel niedrigere Summe als er zu bezahlen habe , müsse folglich auc h die Ansässengebüh r i n Züric h gesenk t werden. 367Es geh e nich t an , s o die 364 Beispielsweise Nr . 228, Im Name n vo n 30—35 Ansässen au s de r Kirchgemeind e Grü ningen (H) ; Nr . 174, Ansässen de r Gemeind e Seebac h (Z) ; Nr . 25, Amtliche Ansässe n de r Civilgcmeinde Wylhof Russikon (M) ; Nr. 232, Ansässen aus der Gemeinde Meilen , aus der CGemeinde Uetikon (M). 365 Der Ruf nach einer gesetzlichen Regelun g findet sich bezeichnenderweise in den von der ganzen Gemeinde (als unmittelbarer Nutznießerin) verabschiedeten Petitionen. Die große Mehrzahl der Eingaben ging aber weiter und forderte die Reduzierung oder gänzliche Abschaffung der Gebühren. Dabe i zeichnet e sic h die Tendenz ab, dass jene Eingaben , die im Name n eine r oder mehrerer Gemeinden mi t wahrscheinlich hohe m Ansässenantcil abgefass t waren, dann Reform bereitschaft erkennen ließen, wenn sichergestellt wäre, dass die Ansässen wie die Gemeindebürger alle Gemeindelasten trügen. Eine Ausnahme bildete nur das Armenwesen, von dem die Niedergelassenen nich t profitiere n konnten , d a es weiterhin de r Heimatgemeind e oblag . Ein e generell e Aufhebung de r Ansässengelde r sahe n u.a . vor : Nr . 91, Ober- un d Untcrstras s (Z) ; Nr . 93, Gircnbad (H) ; Nr. 132, Hinwil (H) ; Nr. 196, Höngg (Z) ; nur fü r Ansässen derselben Kirchge meinde u.a . Nr . 40, Wetzikon (H) ; Nr. 123, Thal un d Ho f (H); Nr. 143, Ciossau (H) ; nur fü r Ansässen der jeweiligen Gemeinde u.a. Nr. 25, Wylhof (M); Nr. 81, Aussersihl (Z). Die Ansässen selbst plädierten verstandlicherweise mehrheitlich für die völlige Abschaffung der Ansässengelder. Vgl. Nr. 85, Ansässen von Wipkingcn (Z) ; Nr. 99, Schmied Beck in Wicdikon (Z) ; Nr. 144, J . L . KufTebam (Z) ; Nr. 174, Seebach (Z). 366 Nr. 144, (Z), §2. 367 Nr. 48, (Z).

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Ansässen von Uetikon, dass im »Land der Freiheit« ein Kantonsbürger den anderen mit Abgaben belästige. Eine solche Strafe verrate keine »Billigkeitsliebe« und a m allerwenigste n ei n »Gefüh l vo n RechtsFrcyheit« . Betracht e ma n da s Ansässengeld als »Schutz- und Schirmgeld«, dann könne der Ansässe auch auf den gleichen Schut z wie der Bürger Anspruch erheben . »Aber sind wir nich t Bürger eine s Staates , genießen wi e nich t all e gleiche Recht e un d Freyheitcn , stehen wir nicht alle unter dem gleichen hoheitlichen Schutz? Wozu dann noch die Bestimmun g eine s besonder n Schirmgelde s vo n eine r untergeordnete n Beamtung.«368 Die Uetikoner nahme n also die zentrale Rechtsfigu r de s frühneuzeitliche n Vertragsdenkens auf, d . h. die Gewährleistung von Schut z und Schirm gege n entsprechende Gegenleistung . Allerdings beließen si e es nicht bei der Einfor derung des do-ut-des-Prinzips auf der kommunalen Ebene , sondern transfor mierten e s au f di e staatliche . Di e neu e Staatsbürgergesellschaf t bildet e de n übergeordneten hoheitlichen Rahmen, der seinen Bürgern Schutz und Schirm bot. Und Bürge r war jeder, der die Gegenleistung de r Staatssteuern wie auch aller anderen kommunale n Abgabe n entrichtete . Hie r wurde nu n tatsächlic h der Staatsbürger gegen den Gemeindebürger ausgespielt , wobei in exemplarischer Weis e tradiert e Rechtsforme n mi t neue n Vorstellunge n vo n Rechts gleichheit synthetisier t un d ein tradiertes Gerechtigkeitsdenken vo n der »Billigkeit« mi t de m neue n vo n de r bürgerliche n »RechtsFreiheit « respektiv e Rechtsgleichheit verknüpft wurden. Das Ziel dieser bemerkenswerten Synthese, die Abschaffung der Ansässengelder, war aber vergleichsweise bescheiden, der politische Status der Ansässen in der Gemeinde blieb tabu. Offenbar wurde der nachgeordnet e Statu s de r Ansässe n z u diese m Zeitpunk t soga r vo n de n Betroffenen selbs t nich t grundsätzlic h i n Frag e gestellt , ein e derartig e Auf weichung des gemeindebürgerlichen Prinzips zugunsten der Individualfreihei t stand überhaupt nicht zur Diskussion. Nur drei Ausnahmen sin d aus den hier untersuchten Bezirke n z u nennen , die tatsächlich politische Teilhaberechte in den Gemeinden forderten . Sie alle bezogen sich nicht auf das abstrakte Prinzip naturrechtlicher Gleichheit , son dern leitete n ihre n Anspruc h au f Mitsprach e au s de m tradierte n gemeinde bürgerlichen Grundsatz der Korrelation gleicher Rechte und Pflichten ab . Wie könne es angehen, so die »Bewohner« von Zürich Aussersihl, dass wenn es um Auflegung »außergewöhnliche r Lasten « gehe, sie die Laste n mitzutragen hät ten, es ihnen aber nicht gestattet sei, an deren Verabschiedung in der Gemeindeversammlung teilzunehmen. 369Es war dies der Kern eines gemeindlich-gc368 Nr. 232, (M), S. 4. 369 Zitiert aus: Nr. 81, Zwölf »Bewohner« von Aussersihl (Z) . Die Ansässen von Wylhof beschwerten sich darüber, dass die Gemeindevorsteher die Ansässen nicht über die Abhaltung einer Gemeindeversammlung informierte n (Nr . 25, [M]). Di e dritt e Ausnahm e stammt e bezeich nenderweise von einem Refugié, der mit seiner Petition nach eigenen Angaben zeigen wollte, dass

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nosscnschaftlichen Gesellschaftsdenkcns , da s alle Vorstellungen de s Zusammenlebens und dessen konkrete Umschreibungen prägte und in der genossenschaftlichen Solidargemcinschaf t seine n institutionelle n Niederschla g fand . Abschließend sol l ausgeleuchte t werden , wi e diese s Gesellschaftsverständni s das Bild de s neu z u schaffende n Regenerationsstaate s au s Sicht der Petente n bestimmte. Wie stellte man sich die Übertragung des gemeindlich-genossenschaftlichen Modell s auf die kantonale Eben e vor und welche Anknüpfungs punkte konnt e die liberale Programmati k i m Sinn einer »zeitgemäßen« For m der staatlichen Solidargcmeinschaft bieten ? 3.3 .3. Die »gerechte« Bürgergesellschaft: Genossenschaftliche Solidargemcinschaft und liberaler Interventtonsstaat »Und so wird unsere Forderung als billig und gerecht anerkannt werden«, 370 als Beschwörungsformel durchzieh t der Appell an die »Billigkeit« und die »Gerechtigkeit« di e Petitionen . Leiten d war die Vorstellung von einer »gerechte n Ordnung«, unter der man die unterschiedslose Teilhabe aller Bürger an Rechten und Pflichten verstand . Diese ethische Normierung richtete sich dezidiert gegen jede For m von Privilegierung , un d sie postulierte die Verpflichtung au f das »Allgemeine Beste « un d di e direkt e Mitverantwortlichkei t de s einzelnen Bürgers füres. Diese Umschreibung der genossenschaftlichen Solidargemcin schaft als gerechter Ordnung findet sic h in den Petitionen in der Verknüpfung mit der republikanischen Staatsform als ihrem idealen Gehäuse. Sie könnten es, so beispielsweise di e Gemeindebürge r vo n Wetzikon, wede r fü r billi g noc h gerecht halten, dass in einem »freien Republikanische n Staate « die in Kost und Lohn Stehenden von der Ausübung ihrer bürgerlichen und politischen Rechte ausgeschlossen sein sollten.371 Die Republik erschien hier nicht nur als freiheitliche, vielmehr al s eine höherwertig e moralisch e Ordnung . Offenba r ware n Topoi de s politische n Tugenddiskurses , de n di e gebildet e liberal e Führun g führte, a n di e Basi s diffundier t un d mi t gemeindlich-genossenschaftliche n ihm das »Wohl un d Wehe« der neuenHeimat a m Herze n lag . Offensichtlich besa ß der Buchhänd ler Mesfou r da s Bürgerrech t de r Seegemeind e Erlenbac h (M) , lebt e aber i n Zürich-Stadt. Dahe r schrieb er: »Betrifft di e Landbürger, die in Zürich wohnen und kein Anteil an der Repräsentanz der Stadt erlaub t ist . Auch de r Ausbürge r is t Städter , e r ha t gleiches Interess e mi t der übrige n Stadt bürgerschaft, auc h e r träg t seine n Antei l a n den Laste n de s Gemeinwesens, auc h e r will vertrete n sein!« (Nr . 163, Buchhändler Mesfou r [Z/M]) . Di e Ansässen vo n Seebac h forderte n zwar , das s zukünftig ein e Gemeinde nich t meh r mi t ihre n Ansässe n nac h Beliebe n verfahre n dürfe , sonder n ihnen die Ausübung der bürgerlichen Recht e und Freiheite n wie einem Bürge r in Seebach gestat ten solle . Allerdings bezog sich dieses Begehren nich t auf die politische Partizipation , sonder n au f die missbräuchliche Veranlagung der Ansässen z u einem Schulhausfonds, (Nr. 174, Seebach |Z]) . 370 Nr. 64, Ringwil (H) , §33. 371 Nr. 40, (11) , §11, wie Nr . 143, Gossau (H) , oder Nr . 185, Ottikon (H) , u.a .

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Denkbildern verschmolzen. Eine solche Diffusion wa r um so leichter, als die Schweiz mit ihrer altrepublikanischen Tradition einen unmittelbaren Bezugspunkt bot , republikanisch e Freihei t wurd e gleichgesetz t mi t »de r wahre n schweizerischen Freiheit«. 372 So ergab sich eine Bedeutungstrias von Schweiz Freiheit - Republik, die, nunmehr ethisch aufgeladen, zu m Inbegriff einer gerechten Ordnung avancierte. Die Republik wurde nicht nur zum Synonym für Gerechtigkeit, sondern zur zeitgemäßen staatlichen Form der gemeindlich-genossenschaftlicher Solidargemeinschaft . Dies e Vorstellung schien sic h zu decken mi t de r von Snell entworfene n Visio n de s liberalen Freistaat s al s eine s sozial gerechten und freiheitlichen Gemeinwesens . Folglich erwarteten die Petenten eine Reihe von Reformen, die sich aus dem Prinzip der unterschiedslosen Beteiligun g aller Bürge r an den Lasten ableiteten. Vordringlich bezog sich dies auf die gleichmäßige Verteilung der Steuer n und Abgaben. Bereits das Ustermemorial hatt e fü r ein e erhebliche Reduzie rung der indirekten Steuern und die Einführung einer »gerechten und richtigen Vermögensbesteuerung« plädiert. 373 E s sollte Schlus s sei n mi t de r bisherige n Willkürpraxis mancher Gemeinderäte bei der Umlage von Steuerauflagen au f die einzelnen Gemeindebürger, aber auch die Möglichkeiten zu r Steuerunterschlagung sollten durch eine gesetzliche Regelung zur Ermittlung der Vermögensverhältnisse verhindert werden.374 Angesichts de r gewandelte n Einkommensstruktu r erschie n de n Petente n zudem da s vornehmlich au f die ohnehi n star k verschuldet e Landwirtschaf t ausgerichtete Steuersystem ungerecht und anachronistisch. Gerade die erheblichen in Handel und Industrie erwirtschafteten Erträg e blieben danach von der Steuer verschont . Nich t nu r die Gemeindebürger vo n Hinwi l meinte n des halb, die Billigkeit erfordere es, dass der »Rentier«, der »mit seinen Capitalie n bis dato im freien Genuss geblieben« sei, auch eine Abgabe zu zahlen schuldig sei, so wie der Landökonom, der alljährlich den Zehnten als eine Abgabe an den Staat zu entrichten habe. 375 Immer wieder tauchte in diesem Zusammenhan g 372 Beispielsweise Nr . 101, Gemeinde Wülflingen, Veithei m un d Tö ß (H) . Die historisc h abgeleitete Ineinssetzungder Schweiz mit den Begriffen de r Republik und der Freiheit ist besonders deutlich in der Eingabe der Uetikoner (Nr. 232, [M]). Die Ansässengelder erschienen ihne n »bey uns im Land der Freiheit« als besonders schmachvoll. 373 Ustermemorial, Allgemeine Wünsche, §4, §14, in: Dänäliher, Ustcrtag, Beilage , S. 6. Zur allgemeinen Forderun g nach einer Vermögenssteuer vgl. auswahlsweise Litt . B, Gemeinden de s Wehntals (D) ; Nr . 4, Ratsherr Hot z (Z) ; Nr . 40, Wetzikon (H) ; Nr . 89, Elgg (W) ; Nr . 224, Zuppinger aus Männcdorf (M). 374 Beispielsweise Nr. 101, Wülflingen, Veitheim, Töß (W), §35, forderte, dass »für zweckmäßige Mittel gesorgt werde, dass bey Angab und Ausmittlung der Vermögensverhältnisse all e Un richtigkeiten und Verheimlichungen vermieden bleiben«; Nr. 246, Männedorf (M), §18, wollte die Unterschlagung von Vermögen, das zur Gemeindesteuer veranlagt sei, bestrafen. Di e Gemeinde Wind lach (Nr. 230, [D]) bat darum, dass zukünftig der Staat die Steuer nicht auf die Gemeinden verlegen solle, wobei Willkür und Ungleichheiten nicht zu vermeiden seien, sondern er solle sich an den Einzelnen halten, vgl. [Ulrich], S. 23. 375 Nr. 63, (H), §25.

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der ständische Topos von der Bauernschaft als dem edlen und unentbehrlichen Nährstand, »Hauptstütz e un d Grundpfeile r de s Vaterlandes«, »staatstragend e Kraft« auf, der im Vergleich zu den »Reichen« und den »Capitalisten« unverhältnismäßig geplag t sei. 376 Zie l wa r deshal b di e Einführun g eine r progressive n Vermögenssteuer nach Maßgabe der sozialen Gerechtigkeit. 377 Daneben traf der Vorwurf, sic h der Teilnahme an den bürgerlichen Pflichte n zu entziehen, die ländlichen Pfarrer. 378 Die Schulgemeinde Bäretswi l mahnte an, auch die Pfarrherr n sollte n künfti g z u den Gcmeindelasten beitrage n hel fen, und die Waldner Gemeindebürger fügte n hinzu, dass die »Herren Geistlichen« auch ihr Vermögen in den Gemeinden zu versteuern hätten. 379 Spiegelbildlich rechtfertigt e di e Teilhab e namentlic h a n de n Steuerlaste n auch de n Genuss bestimmter Recht e un d Vergünstigungen. Dara n erinnert e etwa de r bereits erwähnte Metzge r Bözzl e aus Wald eindringlich, der sich als Kantonsbürger mi t alle n Laste n beladen , schutzlos der Konkurren z kantonsfremder Fleische r ausgesetzt sah.380 Benachteiligt fühlten sich auch die Bauern der Gemeinde Regensdorf und Adlikon, die auf dem Züricher Kornmarkt ihre Ware unabhängig von der Witterung unter freiem Himme l anbieten mussten . »Ohngeachtet de r Landman n an alle Staatslastcn sei n Schärflein beizutragen « habe, werde er »in Beziehung eines guten Lokals wie ein wildfremder Ausländer« betrachtet. 381 U m s o bemerkenswerter is t die Übertragun g de s Prinzip s der Entsprechung von Rechten und Pflichten auf die Staatsebene, wie sie in der 376 Nr. 112, Einige Güterbesitzer von Hirslande n (Z) , forderte eine progressive Besteuerun g zugunsten de r »unentbehrliche n Erwerbsciasse« , u m »nich t meh r i n einseitige r Weis e wi e bishe r aus de n schwache n Quelle n de r Minderbemittelte n un d Gewerbetreibende n di e Standesbelas tungen z u schöpfen, während dem die Reichen sovie l als Nichts« dazu beitragen mussten; Nr. 101, Gemeinde Wülflingen, Veltheim, Töß (Z): »Nähr- und Wchrstand«; Nr. 34, Erlisbach (M): »staatstragende Kraft« ; Nr . 270a , Gemeind e Oberhasl i (D) , § 15 : »Sollen di e Statslastc n nich t nu r allei n vom Gütterbesizer , sonder n auc h au f die Capitalisten antheili g genommen , verleg t werden«; Nr . 31, Stammheini un d Trülliko n (Andelfingcn) : »das s auch di e Kapitalisten , welch e bi s anhin seh r begünstigt waren , da s ihrig e a n di e Staatsausgabe n z u bezahle n (haben ] un d nich t de r ohnehi n gedrückte Landwir t allein« ; Nr . 224, Zuppingcr von Männedorf (M), §2: progressive Besteuerun g des Vermögen s al s »natürlichst e Ar t de r Quellen « de r Staatseinnahmen , »welch e nich t einzel e Bürgerklassen star k treffen soll , während ander e vielleicht ebenso erträgliche Berufsarte n lee r ausgehen«. 377 Siehe ζ. Β . Nr. 112, die Forderung des Pflegers Wehrli von Hirslanden un d einiger Güter besitzer mit ausführlichem Zahlenbeispie l (Z) : «Allgemeiner Grundsatz soll sein, dass mit steigendem Vermöge n einzelne r auc h di e Abgabenverpflichtung i n einem gewisse n steigende n Verhält nisse stehe. « Indirek t Nr . 101, Gemeinde Wülflingen , Veitheim , Töß (W), §35: Berechnung nac h dem Vermögen a n Kapital und Liegenschaften; Nr . 224, GeorgZuppinger aus Männedorf (M), §2: »Jeder Staatsbürge r ha t die Pflich t nac h Maßgab e seine s Vermögens, auch seines mehr oder weni ger erträglichen Einkommen s a n die Staatslasten beitragen. « 378 Nicht nur in den Züricher Landgemeinde n gehört e dieses Ressentiment z u den tradierte n Sozialkonfliktcn. Sieh e Schilling , Städtische r »Republikanismus«? , S . 107 f 379 Nr. 44, Schulgemcinde Bäretswi l (H) ; Nr . 257, Gemeinde Wald (H) , §17. 380 Nr. 263, (H). 381 Nr. 66, (D), §5.

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Eingabe der Zivilgemeinden Thal und Hof vorgenommen wird. Diese leiteten aus den Steuerkontributione n de n Anspruch ab , dass zukünftig da s aus dem Staatshaushalt finanzierte Kriegsgerät bzw. die Munition anteilig auf Stadt und Land verteilt werden müsse und nicht wie bisher einzig im Züricher Zeughaus liegen dürfe. 3*2 Weitreichende Konsequenzen zeitigte das gemeindlich-genossenschaftlich e Leitprinzip der Verpflichtung de s einzelnen wie der Gesamtheit auf das allgemeine Wohl, das auf die Kantonsebene übertragen wurde. Offenbar konnte das Modell des genossenschaftlichen Solidarverband s einer wohlfahrtsstaatliche n Entwicklung Vorschub leisten, denn aus Sicht der Petenten entstand der Staatsgewalt als Korpus der Bürgergemeinschaft nu n die Verpflichtung auf das allgemeine Interesse. Es zeigte sich eine über die traditionelle Form sozialer Grava mina hinausgehende Anspruchshaltung gegenüber der öffentlichen Hand . Zu den drängendsten Fragen , die die Interessen der Gemeinschaft berühr ten, gehörten der Ausbau und die Unterhaltung der kantonalen Infrastruktur . Ihre Bedeutung hatte im Zuge der wachsenden Kommerzialisierung stetig zugenommen, wie nicht zuletzt auch die Behandlung dieses Punktes im Uster memorial zeigte. 383 Gemeinde n a n wichtige n Verkehrswege n wehrte n sich , weiterhin allei n fü r de n Unterhal t aufzukommen , mi t de m Hinweis , dies e dienten der Gesamtheit und insofern sei es zukünftig Aufgabe de s Staates, die Kosten ganz oder anteilig zu tragen.384 Sicherlich waren die Kommunen durch das wachsende Verkehrsaufkomme n un d di e neue n Bedürfniss e finanziel l überfordert. Doch nicht diese Umstände führten sie an, sondern verwiesen auf das allgemeine Interesse , da s eine Finanzierun g durc h di e öffentlich e Han d rechtfertige. Diese Haltung bestimmte auch die stärker »sozialpolitisch« moti vierten Begehre n i m Bereich der nationalen Verteidigung, wie etwa die Frage der Montierung und Bewaffnung. 385 Jeder Dienstpflichtige musst e eine Kopf382 Nr. 123, (H), §43: »dass die Landbürger gewiß mehr oder doch eben so viel Staatssteuern als die Bürger der Stadt Zürich geliefert und ja die sich in dem Zeughause befindlichen Waffen aus der Staatskasse angeschafft im Staatseigenthum ist und so werden Hochdieselbcn unser Ansuchen um verhältnißmäßige Vertheilungder Munition in Stadt und Land und zwar 1/3 der Stadt Zürich und 2/3 der Landschaft nicht unbillig finden.« 383 Unter de n »spezielle n Bemerkunge n von einzelne n Seiten « listet e das Memoria l unte r Punkt 3 die Forderung auf: »Ei n durchgreifendes Gesetz, bezüglich auf Anlegung und Unterhaltung der Straßen und Fußwege.« Dändliker, Ustertag, Beilage, S. 6. 384 Vgl. zur vollständigen oder teilweise staatlichen Unterhaltung der Heer- und Landstraßen etwa Nr. 23, (Z), § 4: »In Vertheilungder Lasten des Straßen Unterhaltes soll ein billigeres Verhältnis eintreten und besonders auch diejenigen Gemeinden von staatswegen erleichtert werden, die bedeutende Lasten an den Hauptstraße n zu tragen haben«; siehe auch u.a. Nr. 84, Rutschwil (W), §40; Nr. 34, Erlisbach ( M ); Nr. 40, Wetzikon (H), §15. 385 Das Militärwese n spielt e überhaup t ein e groß e Roll e i n de n Petitionen . Anlass zu Be schwerden und Forderungen lieferten vor allem die Frage der Dienstpflicht, die erneute Verlegung der Übungen in die Gemeinden statt des städtischen Kasernendienstes, der Wunsch nach Schleifung der städtischen Festungswerke, die Zulassung von Landbürger n zu höheren StabsofTiziers stcllen sowie die Direktwahl vom Offizier bis zum Hauptmann durch die Kompagnien.

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Steuer zur Finanzierun g der Militäruniformen, di e sogenannte Montierungs steucr, entrichten und darüber hinaus Lederzeug und Waffen selbst anschaffen. Eine große Anzahl vo n Petitione n verwarfe n dies e Regelun g - vor alle m di e reine Kopfsteue r - als sozial ungerecht , da der Arme auf diese Weise genauso viel z u tragen hab e wie der Reichere (bzw . die Gemeinde, die gegebenenfall s einspringen musste).386 Statt dessen sollte auch in dieser Frage des allgemeinen Interesses zukünfti g de r Staa t aufkommen . Di e Bürge r vo n Tha l un d Ho f schlugen darübe r hinau s vor , di e ungenutzte n Waffenvorrät c de r Züriche r Zeughäuser einem »wohlthätigen Zweck« zuzuführen un d diese »der ärmeren Classe Mitbürge r di e bey den i n Bezu g auf Verdienstlosigkcit sons t schon s o sehr bedrängten Zeitumstände n kau m den nöthigen tägliche n Bedar f zu verdienen, geschweige die so kostspielige Armatur als Eigenthum anzuschaffen i m Stande sind, so lange dieselben Militairdienste zu verrichten aufgefordert wer den, zu übergeben«. 387 Gerade dieses Beispiel des Umgangs mit den traditionellen Ikone n des städtischen Herrschaftsmonopols - den Zeughäusern - verdeutlicht, wie sich eine Übertragung des Prinzips der Solidarkorporation auf die staatliche Ebene konkret auswirke n konnte . Di e wohlfahrtsstaatlich e Entwicklun g wa r demnac h Ausdruck einer sozialen Verpflichtung des kantonalen Bürgerverbands auf das allgemeine Wohl, deren Wurzel auch im altständischen Gemeinwohlgcdanke n zu suchen ist. Offenbar war man bereit, die sozialen Bedürfnisse des kantonalen Bürgerverbands gemeinschaftlich, und das hieß auf dieser Ebene über staatliche Interventionen, aufzufangen . Die Forderung der »gerechten« Ordnung nach Maßgabe der »Moral«, der »Gleichheit« und des »Volkswillens«: Die Eingaben des städtischen Zunfthandwerks und der Heimarbeiter. Die vorhergehenden Beispiel e habe n gezeigt , wie seh r di e Petente n i n ihre r Argumentation traditionellen Denkmustern des genossenschaftlichen Solidar verbands verhaftet waren . Gleichzeitig wurde deutlich, wie Forderunge n de r liberalen Bewegung, etwa die progressive Vermögenssteuer, aus diesen tradierten Wertvorstcllungen herau s interpretierbar waren, in diesem konkreten Fal l aus dem altständischen Grundsatz der unterschiedslosen Teilhab e aller an den Lasten und Pflichten . Abschließend sollen zwei besondere Sozialgruppen behandelt werden, deren Petitionen aus dem Quellenfundus hervorstechen. Es waren dies zum einen die 386 Insgesamt lehnten 41 Petitionen aus allen Bezirkein wenn auch aus dem reichen Scebezirk Meilen nu r eine, die Montierungsabgab e ausdrücklich ab. Siehe etwa Litt . C, Buch s (D); Nr. 15. Birmcnsdorf u.a. (Z); Nr . 27, Mittcl-Schncit (W) ; Nr . 40, Wctzikon ( H ) ; Nr. 246, Männedorf (M). Di e Petitione n gehe n dami t erneu t übe r di e Forderun g des Ustermemorial s hinaus, da s in Punkt 2 der »allgemeinen Wünsche« die »Aufhebung des bisherigen Kasernendienstes und rechts und zweckmässiger e Verlegun g de r Montierungssteuer « verlangte. Dändliker, Ustertag , Beilage , S. 6. 387 Nr. 123, Thal un d Ho f (H), §43.

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städtischen Zunfthandwerker und zum anderen die Heimarbeiter des Züricher Oberlandes. Beide Gruppierungen sahe n sic h angesichts der wirtschaftliche n und politischen Entwicklung in besonderer Weise - durch die Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit bzw. die Mechanisierung der Textilfabrikation in ihrer Existenz bedroht. Entsprechend nachdrücklich appellierten sie in ihren Petitionen an die Wahrung ihrer Interessen, die ersteren mit Erfolg, die Heimarbeiter dagege n vergeblich . Anhan d ihre r Eingabe n sol l genaue r dargeleg t werden, wie di e Petente n zentral e Prinzipie n de s liberalen Gesellschaftsmo dells mi t ihre r tradierte n gemeindlich-genossenschaftlic h geprägte n Vorstel lung einer »gerechten Ordnung« verknüpften . Während sich die Handwerker auf das liberale Gleichheitspostulat beriefen , zogen die Heimweber das Prinzip der Volkssouveränität, des »Volkswillens«, zur Rechtfertigung ihre r Forderun g heran . Dies e Verknüpfun g vo n tradierte n Denkmustern mit neu rezipierten erfuhr eine zusätzliche delikate Zuspitzung dadurch, dass sie genutzt wurde, um einen - dem wirtschaftlichen Liberalismu s diametral entgegengesetzte n - Protektionismus z u untermauern . Di e städti schen Handwerker zielten auf eine zumindest partielle Aufrechterhaltung de s Zunftsystems, di e Heimweber de s Züricher Oberlande s versuchten di e Einführung mechanische r Webstühle zu verhindern. »Ein Drittheil der Kantonseinwohner«, so die Eingabe der Huf- und Waffenschmiede de s Kanton s Zürich, 388 werde durc h di e Beseitigun g de s Zunft systems an den »Bettelstab« gebracht, schlimmer noch , sie bedeute »das Grab des Bürgertums«, den »Untergangjener ehrbare n Mittelklasse«. 389 Die Handwerke r griffe n dami t eine n Topo s auf , de r ihne n ein e fü r da s Gemeinwohl entscheidend e Puffer - un d Stützfunktio n innerhal b des gesellschaftlichen Gefüge s zusprach . Bi s i n die Antike reicht e de r Topo s der mesoi zurück, der das republikanische Mittelstandsideal umschrie b und auch das auf Homogenität un d Konformitä t ausgelegt e korporativ e Denke n de r Frühe n Neuzeit maßgeblich bestimmte. Danach verkörperte der Mittelstand den Kern eines Gemeinwesens. 390 Republikanische r Tugenddiskur s un d korporative s Gemeinwohldenken ginge n gleichermaße n vo n de r korrumpierende n Wirkung von Reichtum aus. Aus diesem Grund wurde vor allem die sozialökonomische Mittelstellun g zwische n de n Extreme n de r Armut un d de s Reich tums al s i n entscheidende r Weis e systemstabilisieren d angesehen . Wirt schaftlich unabhängi g un d saturier t stan d di e Mittelklass e al s Sinnbil d moralischer und damit politischer Stabilität gegen die durch Habgie r und Ge388 Nr. 75, Handwerk der Huf- un d Waffenschmiede (Z) , mit 83 Unterschriften, S . 4. 389 Zuschrift des Handwerkerstandes an den Grossen Rat des Kantons Zürich vom 12. Februar 1831, nebst Copia des Memorials vom 6. Januar 1831, S. 2. 390 Vgl. zur Herkunft des Topos aus der attischen Polis des 4./5. Jahrhunderts Spahn; Koselleck/ Schreiner, Conze, speziell Wirsdüng, S. 184; für Baden siehe Nolte, Gemeindebürgertum und Liberalismus, S.214f.

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winnstreben sittlich-politisc h verdorben e »Geldaristokratie« . Dies e Schutz funktion al s Garant eines auf das Gemeinwohl ausgerichtete n Gemeinwesen s betonte auch das von dem gesamten Züricher Handwerkerstand verabschiedete Memorial: »Wi r erlauben uns , Sie au f die Wichtigkeit de r Erhaltun g eine r Klasse aufmerksam zu machen, die im Freistaate der Kern der Bevölkerung sein soll; in deren Wohlstand die moralische Stütze des Vaterlandes [liegt], in deren Untergang eine Mittelklasse zerstör t wird, durch die unser engeres Vaterland sich immer vorzugsweise ... ausgezeichnet hat.« 391 Die Beibehaltun g de s Zunftwesens , s o ergänzt e di e Petitio n de r Hand werkerschaft vo n Winterthur, sei deshalb unabdingbar, weil es die »Grundlage einer solide n Mittelclaße« , eine s »gleichmäßige n un d allgemei n verbreitete n Wohlstandes« sei. 392 Wirtschaftliche un d soziale Homogenität des Gemeinwesens erachteten si e insbesondere mi t Blic k auf den inneren Friede n kleinere r Freistaaten als existentiell. I n großen Monarchien mi t unbedingter Gewerbe freiheit sehe man statt gleichmäßigem Wohlstand einzelne Mächtige und neben ihnen »Tausende in trauriger Abhängigkeit und Armut«. Sollten durch gefährliche politische »Conjunkturen« solche Mächtigen gestürzt werden, drohe - wie der Fall Englands zeige - dem Staat von seiten jener Tausend Gefahr. Die Einführung de r unbeschränkte n Gewerbefreihei t i n kleine n Republike n müss e deshalb unfehlbar »des Staates Wohlfahrt« untergraben und ins Verderben führen. Indem der Handwerkerstand also für sich beanspruchte, das sittliche Prinzip de s republikanische n Gemeinwesen s z u verkörpern , verknüpft e e r sei n Schicksal mi t de m de s Gesamtwohls , da s mit de r klassenlose n mittelständi schen Gesellschaft umschriebe n wurde. Zu dieser Rechtfertigun g de s Zunftsystems, di e sich aus den traditionelle n Denkmustern eine r »gerechte n Ordnung « speiste , trat als zweiter Argumen tationsstrang der liberale Gleichheitsgrundsatz. Mustergültig führt die Eingabe der »vo n sämtliche n Abgeordnete n de r Handwerk e verordnet e engerefn ] Commission« vor , wi e ma n di e liberal e Programmati k gan z au f die eigene n konkreten Bedürfniss e zugeschnitte n und ungeachtet der sich ergebenden inneren Widersprüch e rezipierte : Ma n vertrau e darauf , das s die hoh e Verfas 391 Nr. 106, im Name n un d mi t Zustimmung de r Deputate n alle r Ε. Handtwerke vo n Stad t und Lan d vom 8. 1 . 1831 . Wie umtriebi g das Stadthandwerk war , zeigte sich bereits am 9. Dezem­ ber 1830, als sic h unte r Einschlus s vo n Land h and wer kern de r Handwerkerbot t vo n Züric h traf . um eine Versammlung des gesamten Handwerkerstand s am 22. Dezember zu organisieren un d das weitere Vorgehen z u koordinieren. Eine Kommission von 15 Mitgliedern wurd e damit beauftragt , ein Memoria l auszuarbeiten , da s am 6. Januar 1831 von der Gesamtversammlung gebillig t wurde . Nur di e Huf - un d Waffenschmiede bestande n i n einer gesonderten Petitio n darauf, ih r Gewerb e weiterhin al s Ehehafte auszuüben . Ihne n waren di e Zugeständnisse der kantonalen Handwerker bott z u weitgehend . U m di e Zunftordnun g grundsätzlic h wahre n z u können , hatt e diese r unte r anderem vorgeschlagen, die strenge Trennung zwische n den Gewerben teilweise aufzuheben, da s Ausbildungswesen z u verbessern, de n Zugan g zu r Meisterschaft allgemei n z u erleichtern usw . 392 Nr. 215, Winterthur, i m Namen de r Seiler, Schuster, Zuckerbäcker, Male r und Gold- und Silberarbeiter un d de s Stadtrat s der Stad t Winterthur, S . 4f .

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sungskommission in der neuen Verfassung »jedem Bürger die gleichen Rechte und Ansprüche auf Schutz und Sicherung seines Gewerbes (sowie gleiche Freiheit fü r alle!) als Grundlage« aufstellen werde.31*3 Ausführlicher setzte sich die Eingabe der Handwerksvertreter von Stadt und Land mit den liberalen Prinzipien auseinander.394 Darin rekurrierte man auf die »viele[n] neue[n ] Theorien«, die das »Ideal der höchsten Freiheit im bürgerlichen un d politischen Leben « zu verwirklichen suchten . Dieser Einsicht wolle man sic h nicht verschließen und deshalb alle dem Wohl und Interesse der gesamten Kantonsbevölkerun g zuwiderlaufende n Bestimmunge n abschaffen . Diese Formulierung bezog sich auf die traditionelle Benachteiligung der Landhandwerker, di e in unzählige n Petitione n bezeichnenderweis e nich t di e Abschaffung de s Zunftsystems, sonder n ihr e gleichberechtigt e Teilhab e dara n gefordert hatten. 395Um da s Idea l de r Freihei t abe r auc h tatsächlic h z u ver wirklichen, gelte es in der neuen Verfassung, »die Gewährleistung für die Rechte und Freiheiten aller Bürger auszusprechen«, weshalb auch die Interessen der Handwerkerschaft gewahr t bleiben müssten . Jede ihre n Wünschen zuwider laufende Bestimmun g würde folglich von »einer [nur ] scheinbare n allgemei nen Freiheit und Gleichstellung der Rechte« zeugen. Man schlug deshalb einen Vcrfassungsartikel vor, wie er auch später in der Kantonsverfassung aufgenom men wurde: »Die Freyheit des Handels und der Gewerbe sind gewährleistet, so weit sie mit den wahren Interessen der Handel- und Gewerbetreibenden Klasse und denjenigen der gesamten Staatsbürgerschaft vereinba r ist.« 396 Offensicht 393 Nr. 268a , (Z) , Die von den sämtliche n Abgeordnete n de r Handwerk e verordnet e enger e Commission. 394 Nr. 106, (Z), Im Name n un d mi t Zustimmung de r Deputate n alle r E . Handtwerke vo n Stadt un d Land . 395 Wenn auch seit dem Handwerksgesetz von 1804 formal Stadt - und Landhandwerk gleich gestellt waren, so eroberten sic h die Stadthandwerker übe r Marktrestriktionen, die Bildung zweie r Meisterklassen un d erschwerte Prüfungsbedingunge n ihr e privilegierte Stellun g des Ancien r égime zurück . Z u de n Beschwerde n de r Landhandwerke r sieh e beispielsweis e di e Eingab e dreie r Zimmerleute au s Dällikon, Buch s und Dielsdorf , die sic h gegen di e Bestimmun g de r städtische n Meisterprüfung wendeten , ein e Zeichnung abgebe n z u müssen , d a ma n solche s ni e gelernt hab e (Nr. 220, |D]). Mehrer e Steinhauc r beschwerte n sic h übe r »da s mi t Intrige n un d Umtreibe n begleitete Verfertige n eine s Meisterstücks « un d di e hohe n Koste n vo n fün f Loui s d'O r fü r da s Zunftmahl. Nr . 153, Eingabe aus Richterswil (Horgen) , Männcdorf und Stäf a (M) . De n Wunsc h nach Beibehaltun g de s Zunftsystems unte r Ausschaltun g de r städtische n Handwerkerdominan z illustriert eindrucksvol l die Eingabe der Zimmerleute, Schmiede, Wagner, Schuhmacher, Schnei der un d Leinwebe r des äußeren Amtes . Sie sprachen sic h prinzipiel l fü r di e »treu e Wahrung alle r unserer altherkömliche n ... zugesicherten Freiheiten , Recht e un d Ordnungen « aus . Andererseit s wünschten si e aber, »dass es jedem unsere r I landwerke vo m äusser n Am t durch die neu e Verfas sung gestattet werde, in Zukunft eigene , von jedem ander n Handwcrksladen völlig ... unabhängige Handwcrksladen bilde n z u dürfen. « Bishe r se i ma n de n städtische n Handwerkslade n nich t nu r angeschlossen, sondern in den meisten Beziehungen untergeordnet , zukünfti g wolle man aber nu r von dem Geset z und der Obrigkeit abhängi g sei n (Nr . 87, Marthalen [Andelfingcn]) . 396 Staatsverfassung 1831, Titel I, Art. 7. Dieser Artikel stellte offenkundig eine n Kompromis s dar, um die Unterstützung der Handwerkerschaft z u sichern. Nach den Ausführungsgesetzen vo n

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lich bot das liberale Glcichheitspostulat de n Petenten Anknüpfungspunkte, u m ihr tradierte s Gesellschaftsbil d au f den Staa t z u übertragen , inde m da s über kommene Verständni s vo n de r »Mittelclaße « al s Ker n de s Bürgertum s durc h den Grundsatz bürgerliche r Gleichhei t gestütz t wurde . Der erfolgreichen Interesse n w ährung de r Handwerker stan d u m s o krasser der Misserfolg der Heimarbeiter au s dem Oberland gegenüber. Auch die Weber argumentierten i n ihrer Forderung nach einem Verbot der mechanischen Webmaschinen einerseits sehr traditionell - aus Denkmustern de r moral economy 397 heraus, verbanden dies e aber andererseits mi t dem Prinzip der Volkssouveräni tät, wie di e Eingab e de r 109 Unterzeichner vo n Oberhittna u illustriert : »Wi r fordern als o die Hinterhaltung de r mechanischen Webereie n bestimm t al s anerkanntes Bedürfnis un d fragen da gar nicht, ob sich solches mit den Grundsät zen der Staatsklugheit ode r Politik vertrage ode r nicht, sonder n wi r forder n e s auf moralisch e Grundsätz e un d allgemeine n VolksuHlle n [Hervorhebun g d . V] gestützt.«398 Man erwarte nun, dass diejenigen »bemelten Wortführer«, gemein t waren die Redner de s Ustertages, die seither al s Repräsentanten fungierten , di e Aufgab e treu lösten . Der tradierten Vorstellun g vo n Gerechtigkeit, di e sich auf »Moral« und »Bedürftigkeit« gründete , ordnete man also ein radikaldemokratisches Ver ständnis de r Volkssouveränität al s des »allgemeinen Volkswillens « bei , den z u verkörpern die Heimarbeiter fü r sich beanspruchten. Synony m tauchten in den Petitionen entsprechend Selbstbezeichnungc n wi e »die allgemeine Menschen classe«, »di e Allgemeinheit « ode r »da s Volk « auf.399 Historisch verbürg t wa r 1832 wurde da s Zunftsyste m grundsätzlic h beibehalten, allerding s gehörte n ih m nu r noc h 20 Handwerke an, die anderen 20 1 landwerke, die bereits fabrikmäßig betrieben wurden, setzte man frei. Für die Zukunft sah die Regenerations-Regierung einen weiteren Abbau der noch verbliebenen zünftigen Handwerke vor, um auf diese Weise schrittweise in die vollständige Gewerbefreihei t überzuleiten. Siehe zur liberalen Handwerks- und Gewerbepolitik nach 1831 u.a. Wettstein, S. 301317. Dass man den Widerstand der Handwerker von Stadt und Landschaft unterschätzte, zeigte der »Züri-Putsch« von 1839, der auch als Protest gegen die im September 1837 verabschiedete Freigabe aller Handwerks zweige verstanden werden muss. 397 Appelle wie die der Girenbader a n die »gerechte n Landes-Väter , ihr e Landsuntergeben e nicht Hungers sterben zu lassen«, wirkten jedoch in extremer Weise anachronistisch un d blieben die Ausnahme (Nr. 93, [H], §30). Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Thornpson, hier besonders S. 124f. Vor diesem Denkhorizont ist denn auch die Äußerung eines Brandstifters von Uster 1832 zu verstehen, »es wäre besser, ma n hätte noch die alten gnädigen Herre n i n der Stadt, es würde dann jedenfalls besser gehen und überhaupt sei für die untere Klasse besser gesorgt worden«. Zitiert aus: G. Εφ, S . U . 398 Nr. 56, (Pfäffikon), §38. Siehe auc h Nr . 133, Dürnten (H) , §24: »Denn wa s nüz t de r armmen und mitel klass die Freyheit, wenn sie dadurch eines tägliches Verdiensts & broderwerb beraubt werden ... Eine vernünftige Freyheit, soll auch vernünftig geregelt werden, und nicht in ein schädliches Unding ausarten.« 399 Entsprechend ermahnten die Gemeindcbürger von Wald (Nr. 257, [H], §21) die Verfassungskommission: »dasjenig e i n di e Verfaßun g al s Verhinderun g aufzunehme n ..., was durc h

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ihnen da s Prinzi p de r Volkssouvcränität i n de r kommunalistische n Freiheits tradition, al s stete r Kamp f de s Volkes gege n »Regierungsaristokratie , Kasten Herrschaft un d Zunftzwang« . Nu n droht e mi t de r Einführun g de r Web maschinen ein e neu e »Raubtat« : Si e könnten , meinte n di e Oberländer , mi t ihrem »bissche n Menschenverstan d (ohn e ebe n Juristen un d Philosophe n z u sein) dennoch berechnen, ... dass zugleich unse r Publiku m de r seit Mensche n Gedenken besessene n Freyhei t de s Handelns un d de r Fabrikatio n durc h Lis t und Gewalt beraubt« würde. 400 Dies wolle man aber »nie zugeben«. Noch deut licher mahnten die Gemeindebürger von Ringwil an : »Bedenket besonders diejenigen, Geehrt e Her n Representente n welch e au f der Tribüne i n Uste r hierfü r ihr Wort gegeben - welche[r] Müh e u . Zusicherung e s damahls bedurfte, u m die viele n Tausend e nu r u m diese s Gegenstande s Wille n dahi n gekome n z u beruhigen ... Nun abe r zeige n sic h aussage n i n Öffentliche n Blätter n un d Ausserungen ... selbst grosse[r] Männer, ... aus denen man böse Folgen entneh men muss . Glaube n Si e denn diese s Volk lass e mi t sic h wi e mi t eine r Pupp e spielen. Dan n würden si e sich sehr theuschen«. 401 Die Drohung ist unüberhörbar. Tatsächlich kam es, nachdem ihre Forderun g nicht erfüllt worde n war , zwe i Jahre späte r zu m erste n un d einzigen Maschi nensturm i n der Geschichte Zürichs , dem sogenannten Usterbrand . Währen d der Jubiläumsfeierlichkeiten z u Ehre n de s Ustertag s vo n 1830 stürmte ein e aufgebrachte Menschenmeng e da s Fabrikgebäude de r Weberei Corrodi & Pfister in Oberuster un d brannte es bis auf die Grundmauern nieder. 402 freyen Betrie b dem Verdiens t des Allgemeinen [ Hervorhebung d. Vf. ] nachteilig oder gar wohl entzo gen, und s o mit dasselbe entärmt werde n köntc« . 400 Nr. 56, Oberhittnau, nahez u wortgleic h Nr . 64, Ringwil, §33. Auf die zweit e Eben e de s Verständnisses von Gewerbefreiheit al s »Schutz« ihres Gewerbes wurde bereits hingewiesen (Anm . 286). 401 Nr. 64. Ringwil (H) , §33. 402 Zum Usterbran d sieh e V.L . Keller , Brandstiftung , di e e r 1833 als amtierende r Gerichts präsident veröffentlichte mi t dem Ziel, die überaus harten Urteile zu rechtfertigen; des weiteren G . Η φ . Aus kommunistische r Sich t vgl . di e Artikelseri c »De r Bran d vo n Uster« . Ein e proletarisch e Verzweiflungsrevolte vo r 1(X)Jahren« , in : Volksrecht vo m 14.-18. November 1932. E. Bücher, Ein sozio-ökonomischer Aspekt , bes . S . 102ff , versuch t sic h trot z de s Aufsatztitel s ehe r a n eine r mentalitätsgeschichtlichen Analys e de r Vorgänge, inde m e r auf ein bekannte s Theaterstüc k übe r den Usterbran d de s Volksdichter s Jakob Stut z zurückgreif t (vgl . z u Stut z Bünzli-Lüscher) . Nach Bucherwaren di e Kleinfabrikantcn un d ländlichen Verleger, selbst aus dem Krei s der Heimarbeite r stammend, die eigentlichen Initiatore n des Maschinensturms, da auch sie mit der Einführung de r mechanischen Webstühle u m ihr e Verdienstmöglichkeiten bangten . Der Autor wendet sich dami t explizit gegen die Interpretation de s Usterbrands als Ausdruck des Klassenantagonismus zwische n Fabrikant un d Arbeiterschaft , wi e be i Kuster , S . 110-119, und deute t ih n al s Konflik t zwische n ländlichem Kleinverlege r un d städtische m Kaufmann . Dies e Thes e erschein t überzeugend , e s muss aber daraufhingewiese n werden , das s unte r de n angeklagte n Brandstifter n nebe n Weber n (28) auch Wirte , Krämer , Handwerke r (insgesam t 20) und Güterarbeite r (12), Tagelöhner (2), Fabrikarbeiter (1) und Bettle r (1) beteiligt waren, abe r keine Tüchler. Da s könnte allerding s auc h an einer unscharfe n Umschreibun g de r Berufsbezeichnun g de s »Webers « ode r de n insgesam t 10

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Die Verbindung eines tradierten Gerechtigkeitsdenkens mit dem Prinzip der Volkssouveränität legitimiert e i m Bewusstsei n de r Brandstifte r de n Maschi nensturm als Akt des »Volkswillens«. Dies geht mit aller Klarheit aus der Äußerung eines der Brandstifter a m Vorabend des Usterbrandes hervor: »e r wolle verflucht un d verdammt sein, wenn die Maschine nicht verbrannt sein müsse, er halte deshalb an allen Gemeinden an, auch wolle er mit der Verfassung zeigen, dass dieses nichts Strafbares sei, indem diese nichts verbiete, was im Willen eines grossen Teils des Volkes liege.«403 Auch der Pflichtverteidiger Johann Heinrich Schinz erklärte im Prozess gegen die Brandstifter ih r Verhalten daraus, dass das Volk es von jeher gewohn t gewesen sei , »unter dem Name n ›Volk ‹ einen meh r oder minder starken Zusammenfluss einzelne r Männer und folglich auc h unter dem Name n Volks wille‹ den ausgesprochenen Willen einer gewissen Anzahl zusammengetretener einzelner Männe r zu verstehen«.404Es war deshalb für Schin z selbstverständlich, dass eine unglückselige »Verwirrung der Begriffe« die Angeklagten ermu tigt habe, zur Selbsthilfe z u greifen. Insbesondere der Ustertag vom Oktober 1830, in dessen Folge die ehemalige Regierung widerstandslos abgetreten sei, aber auch der kurz vor dem Usterbran d hoh e Wellen schlagende Protes t der Gemeinde Bauma, die sich der Beerdigung eines Selbstmörders auf geweihtem Boden erfolgreic h widersetzte, 405 wäre n i n der Bevölkerun g al s rechtmäßig e Akte des Volkswillens verstanden worden. Für Schinz folgte daraus, dass man den »zu r fixen Idee gewordenen Rechtsirrthu m übe r di e Befugnisse , seine n Willen i n Tha t z u übertragen « strafmildern d berücksichtige n müsse . Ei n Wunsch, der allerdings nicht im mindesten Berücksichtigung fand. 406

fehlenden Berufsangaben liegen (Siehe die Berufsliste der Angeklagten in F.L. Keller, Brandstiftung, S . 45-51). Siehe zuletzt für Deutschlan d Spehr. Seine neue Bewertung der »Maschinenproteste« al s Verbindung von traditionelle m Denken mit neuen Erfahrunge n un d Deutungsmustern liefer t eine wertvolle Bestätigung der hier vertretenen Grundthese einer schrittweisen Dynamisierung der ständischen Gesellschaft in Richtung auf die modern-kapitalistische Bürgergesellschaft. 403 Zitiert nach: F.L. Keller, Brandstiftung, S. 92. 404 Die Rede Schinz' ist abgedruckt in: G. Ξghi, S.42f. 405 Zwischen 400 bis 5(X) Männer hätten sich zusammengefunden und offen über »Widersetzlichkeit« gesprochen, berichtete der Statthalter Gujcr nach Zürich, so dass schließlich die aufgebotenen Ordnungskräfte abgezogen wurden und man den Baumer Bürgern nachgab. Dass dieser Vorfall tatsächlich große Bedeutung für die Akteure des Usterbrandes haben sollte, zeigte sich an der Aussage eines der Hauptangeklagten, Hans Heinrich Kündig. In seinem Verhör gab er zu Protokoll, »Bauma sey eine kleine Gemeinde, allein sie habe der Regierung nichts nachgefragt. Die Regierung sei damals auch nicht Meister geworden, man solle sich nur nicht abwendig machen lassen«, zitiert nach: M. Suter, Bauma, S. 244. 406 Die sechs Hauptangeklagten wurden zu Kettenstrafen zwischen 14 und 24 Jahren verurteilt, 16 weitere zu hohen Zuchthausstrafen. Als »Opfer des liberalen Systems« wurden sie nach dem Septemberputsch von 1839 von der neuen konservativen Regierung amnestiert.

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3.3.4. Freiheit - Gleichheit - Bürgerlichkeit: Der liberale Verfassungsstaat in gemeindlich-genossenschaftlicher Perspektive Der Maschinensturm blieb eine völlig vereinzelte Erscheinung, er konnte keinen Flächenbran d i n Gan g setzen , de r di e liberal e Regierung , wi e 1839 im »Züri-Putsch«, wirklic h i n Frag e gestellt hätte . Das Erstaunen darüber zeigt e sich in der Aussage des Angeklagten Johannes Bünzli, der davon ausgegangen war, »die ganze östliche Gegend werde sich vereinigen, damit man obsiege und die Regierung nicht Meister werde«.407 Die Ursache hierfür lag sicherlich auch in de r spezifische n »Qualität « de s Interessenkonflikte s zwische n ländliche n Unternehmern un d Heimarbeiterschaft . Obwoh l sic h di e Heimarbeite r de s tradierten antiobrigkeitliche n Ressentiment s bedienten , de r Regierun g »de n Meister z u zeigen« , wa r de r Sozialkonflikt , de r hie r ausgetrage n wurde , ei n moderner und ein sozial eng begrenzter. Die Heimweber waren somit isoliert, nicht zuletzt auch, weil ihre Gewaltaktion den Eigentumsschutz verletzte. Die Stimmung de r übrige n Landbewohne r kehrt e sic h soga r sowei t gege n di e Brandstifter, dass die bäuerliche Bevölkerung selbsttätig gegen Verdächtige vorging.408 Vor allem aber zeugte das Verhalten der Kantonsmehrheit von einem breiten Rückhalt, den der liberale Regenerationsstaat zu diesem Zeitpunkt besaß. Offenkundig hatt e das Konzept der liberale n Staatsbürgergesellschaf t fü r groß e Bcvölkcrungstcilc i n gan z wesentlichen Grundprinzipie n a n ältere Wcrtvor stcllungcn un d Denkmustcr anschließen können . Es sollen deshalb abschließend anhand der Erklärungen in den Petitionen die drei »Grundpfeiler« nachgezeichnet werden , mi t dere n Hilf e gemeindlich-genossenschaftlich e un d liberale Bürgergesellschaft zusammengedach t werden konnten. Die Dynamisierung des altständischen Besitzrecht s in Richtung auf ein individuelles Verständnis von Eigentum war - wie die Petitione n zeigte n - am weitesten fortgeschritten . Di e eigentümlich e »privatrechtliche « Traditio n i m Wechselspiel mit den Ansätzen eines Grundrechtsdenkens, wie sie in der Gemeindeautonomie und dem Freiheitsverständnis angelegt waren, ergaben eine besonders günstige Perzeptionsvoraussetzung. Di e wirtschaftlichen un d sozialen Umbrüche seit dem ausgehenden 1 S.Jahrhundert wirkten darüber hinaus beschleunigend. Zwei »Denkfiguren « de r liberalen Eigentumslehr e waren e s im speziellen , die sich in den Argumentationen der Petenten wiederfanden un d aus den altständischen Vorstellungen der »Freiheit de r Person« und seines Besitzrechtes ableitbar waren . Di e absolut e Verfügungsgewal t de s (Privat-)Eigentümer s einerseits un d der Eigentumserwer b durc h Arbei t andererseit s öffnete n de n 407 F.L. Keller , Brandstiftung, S. 102. 408 Siehe zur Schilderung der völlig willkürlichen Verhaftungen, die eher Züge einer Volks hatz trugen, G.Egli, S . 18f .

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Weg zum Postula t de r Gewerbe - un d Handelsfreiheit . Diese r Übergan g zur wirtschaftlichen Individualisierun g wa r besonder s konfliktträchtig , stellt e e r doch einen Verstoß gegen das zentrale Motiv des Gemeinnutzens dar. Zudem warf die Prämisse des Privateigentums dort Konflikt auf, wo sie genutzt wurde, um althergebracht e Privilegie n gege n di e Handels - un d Gewerbefreihei t z u verteidigen. Am Beispiel der Ehehaften zeigt e sich diese konträr ausgerichtete Instrumentalisierung des Rechts auf Privateigentum einerseits und des Rechts auf Erwerbsfreiheit andererseits , ein Dualismus , auf den die Gesetzgeber mit einer Kompromisslösun g reagierten , di e offensichtlic h darau f abgestellt war, einen allmählichen Übergang zur Gewerbefreiheit z u schaffen.409 Das Beispiel der Ehehaften illustriert e jedoch noch mehr: Es spiegelte eine der »Verständigungs-Brücken« wider, die es den Petenten erlaubten, aus den tradierten Denkmustern herau s neu e individualistisch e Positione n z u rezipiere n respektiv e einzufordern. Dieser Vermittlungsfunktion diente erstens der Begriff der »Freiheit«, inde m di e Gegne r de r Ehehafte n di e liberal e Auffassung persönliche r Freiheit aufgriffe n un d a n ein überlieferte s Verständni s von schweizerische r Freiheit anbanden. Letzteres war korporativ gesetzt, d. h. nur als Mitglied der Bürgergemeinschaft genos s man auch Freiheit , die sich aus der Gleichheit der Bürger untereinander definierte. Freihei t im altständischen Sinn meinte demnach Gleichheit, und zwar eine an die Korporation gebundene Gleichheit ihrer Mitglieder. »Dass niemand Herrschaft übe r den anderen ausüben soll« -dieser Gleichheits-Topos wurde entsprechend in mehreren Petitionen gegen die Ehehaften in s Fel d geführt . Di e Dynamisierun g de s altständischen Besitzrecht s zum liberalen Eigentumsrecht gelang, weil man es als Freiheitsrecht interpretierte, das sich aus dem altständische n bürgerliche n Freiheitsbegrif f ableitete, und damit korporativ begrenzt war und innerhalb dieser Grenzen dem Gleich heitsdiktum unterlag. Auf diesem Wege ließ sich weitergehend das individuelle Eigentums- und Erwerbsstreben mit der Wertvorstellung des Gemeinen Nut zen aussöhnen. Beschränkt auf eine korporative Bürgergemeinschaft wurde das Gewinnstreben de s einzelne n zurückgebunde n a n di e Gemeinschaf t un d 409 Siehe die Formulierun g in Artikel 7 der Staatsverfassung 1831: »Das bisherige System, hinsichtlich de s Erfordernisses obrigkeitlicher Bewilligung für einige an bestimmte Lokalitäten gebundene Gewerbe , als Tavernewirthschaftcn, Metzger n u.s.f., sol l fortbestehen , jedoch den Zeitumständen gemäß modifiziert werden. Insbesondere soll ein beförderlich zu erlassendes Gesetz Vorsorge treffen, dass den Forderungen des Gemeinwohls und den vorhandenen örtlichen Bedürfnissen durch Ertheilungdcr erforderlichen Bewilligungen, vorzugsweise an Gemeinden, in freiem Sinne Genüge geleistet, und dass die ausschließliche Befugnis der bereits vorhandenen oder noch entstehenden Gewerbe dieser Art nicht auf eine drückende Weise ausgedehnt, sondern mit der Freiheit der Einzeln, besonders der Landwirtschaf t treibenden Klasse, möglichst vereinbart werde.« Danach wurden in der Ausführungsgesctzgebung von 1832 für bestimmte Gewerbe die Ehehaften beibehalten, gleichzeitig aber die Bcwilligungspraxis erleichtert sowie die zeitliche Dauer der Erteilung verkürzt, um den Übergang zum allgemeinen Patentsystem 1834 vorzubereiten. Siehe Weitstem, S. 311-317.

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konnte somit als Beitrag zu dem auch von den Liberalen propagierten Gemeinwohl verstanden werden. Von hier aus, der Vorstellung des gleichberechtigten Korporationsmitglieds , erschließt sich die zweite Verständigungsbrücke, der BegrifFdes »Bürgers« und seiner Rechte. Das Eigentumsrecht als naturrechtlich begründetes Individual recht konnte auf der Grundlage des korporativen Gleichheitsbegriff s auc h als »bürgerliches Recht « i m überlieferte n Sin n legitimier t werden . E s gehört e mithin zu m Fundus der Rechte des altständischen Bürgers , d. h. des Gemeindebürgers. Der liberale Staatsbürger wurde demnach aus Sicht vieler Petenten identifiziert mi t dem ständische n Gemeindebürge r Wi e problemlo s de r tra dierte Bürgerbegrif f un d de r neue Staatsbürgerbegrif f verschmolze n werde n konnten, zeigt e sich besonder s deutlich i m Bereic h de r Partizipationsrechte . Die Dynamisierun g de r ursprünglic h ausschließlic h genossenschaftlic h ver standenen Partizipation in Richtung auf ein individuelles Wahlrechtsverständnis wa r erneu t nu r möglich , wei l ma n vo n eine m korporative n Bürger verständnis ausging . Wi e tie f die Verwurzelun g de s gemeindebürgerliche n Denkens war, belegt die Tatsache, dass selbst die ländlich-liberal e Bewegun g den Status des Staatsbürgers an den des Gemeindebürgers knüpfte. Es war der Gemm/A'bürger, der zum Staatsbürger wurde und nicht umgekehrt. Auf kantonaler Ebene konnte folglich da s egalitäre Staatsbürgerkonzept, s o wie es Snell vorschwebte und in der Kantonsverfassung niedergeleg t wurde, realisiert werden, denn ein Gemeindebürgerrecht besaß infolge des Heimatprinzips nahezu jeder männlich e Kantonseinwohner(!). 410 Auc h a n andere r Stell e lasse n sic h begünstigende Moment e nachweisen , i n dere n Folg e sic h di e Vorstellunge n staatsbürgerlichen Egalitarismu s einerseit s un d herkömmliche r korporative r Bürgerlichkeit andererseits in der politischen Praxi s decken konnten. Das illustrierte beispielsweise die breit abgestützte Petitionsforderun g nac h erweiterten kantonale n Aktivbürgerrechte n ohn e Bindun g a n ein e eigen e Haushaltung ode r einen Vermögenszensu s bzw . eine Mindeststeuerleistung . Während de r klassische europäische Liberalismu s mi t de m Zensuswahlrech t einem abgestufte n Interess e de r Bürge r a m Gemeinwoh l Rechnun g trage n wollte, spiegelte sich in den Petitionen das (gemeinde-)bürgerlichc Prinzi p einer korporativen Pflicht zum Gemeinwohl. Wichtig war deshalb die allgemeine und gleich e Beteiligun g alle r Bürge r a n de n allgemeine n Laste n de r Steuer pflicht un d de r Landesverteidigung . Entscheiden d fü r di e Zugehörigkei t zu r Staatsbürgergcsellschaft abe r war, Gemeindebürger z u sein. Praktisch lief dies auf eine sehr weitgehend egalitäre Stimmberechtigung auf Kantonsebene hinaus, während sich auf der gemeindlichen Ebene an den politischen Verhältnissen gerade nichts änderte. Der Ansässe, der in den staatlichen Angelegenheiten als stimmfähig erachtet wurde, war und blieb in seiner Niederlassungsgemein 410 Ausnahmen bildete n nich t eingebürgerte Ausländer un d die sogenannten Heimatlosen .

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de von der Gemeindeversammlung ausgeschlossen. Hier, in der Ansässenfrage, zeigte sich die absolute und unumstrittene Dominanz des altständischen Bür gerbegriffs eindrucksvoll. Trotz ihrer finanziellen Beteiligun g an den Gemein delasten wurde das - nach altständischem Billigkcitsdenken - daraus resultierende Rech t de r Mitbestimmun g (noch ) zugunste n de r Geschlossenheit de s gemeindebürgerlichen Prinzip s verweigert. Di e überwiegende Mehrhei t de r Forderungen zielt e nur auf die materielle Seite der Ansässcnproblematik, de r politische Status der Ansässen in der Gemeinde blieb unangetastet. Neben der Erweiterung der kommunalen Autonomie, die sich mit den liberalen Vorstellungen einer freien Gemeindeselbstverwaltung deckte, führte die Ausweitung der individuelle n Partizipationsrecht e paradoxerweis e dazu , das tradierte ge meindebürgerliche Prinzi p zu befestigen. Es war schließlich der letzte Untersuchungspunkt, die Frage nach der Dynamisierung des altständischen Prinzip s der gleichen Recht e und Pflichten, de r die entscheidend e dritt e Verständigungsbrück e veranschaulicht : da s Postula t der »bürgerlichen Gleichheit« . Di e unterschiedslose Teilhab e aller Bürge r an den Pflichte n un d Rechte n begründet e al s Ker n des gemeindlich-genossen schaftlichen Gesellschaftsdenkens einen Gleichheitsanspruch, der immer wieder in den Petitionen gefordert wurde. Vor diesem Hintergrund wird die eigentümliche Petitio n vo n 29 Züricher Pintenschcnkwirte n verständlich , di e da s Recht, warme Speisen servieren zu dürfen, mit dem Hinweis forderte, »dass in dieser Beziehung kein Bürger vor dem anderen wie bis anhin mit solchen Vorrechten begünstigt, sondern jeder unter den gleichen Verpflichtungen gleiche Rechte [Hervorhebung d. Vf.] zu genießen habe«. 411 Hier konnten sich naturrechtliches Gleichheitspostulat und korporativ verstandener bürgerlicher Gleichheitsgrundsatz überlagern. Entsprechend wurde auch der Anspruch auf eine »gerechte Ordnung«, wie sie die genossenschaftli che Solidargemeinschaf t verkörperte , au f den liberale n Freistaa t übertragen . Die ersten Ansätze eines gemäßigten Staatsinterventionismus in den Petitionen sind ein Indiz für eine ähnliche ethisch-normative Aufladung des Begriffs des »Freistaats«, begünstig t durc h de n Einflus s de s republikanischen Tugenddis kurses in der liberalen Bewegung. Die tugendhafte Republik und die genossenschaftliche Solidargemeinschaf t lage n eng beieinander, gingen doch beide von dem Leitbild der Identität von Regierten und Regierenden aus. Die Republik, wie sie in den Petitionen immer wieder als Garant einer »billigen« und »gerechten« Ordnung propagiert wurde, schien die verstaatlichte Form einer gemeind411 Nr. 197, Eingabe de r Pintcnschcnkcnwirt e i m Rindermark t Züric h (Z) . Auch di e Ge meindebürger von Erlisbach sahen den »republikanischen Staatsgrundsatz ›die Gleichheit der bürgerlichen Rechte‹« , de r e s ihne n konkre t erlaube n sollte , freien Agrarhande l z u betreiben , darin begründet, »da doch viele Bürger die gleichen Lasten und Verpflichtungen für ihre Gemeinden, für den Canto n un d de n Staa t haben« . Ein e Bevorrechtigun g einzelner Gemeinden , Korporationen und Bürge r sollte deshalb zukünftig nicht meh r möglich sein (Nr . 34, [ M ] , §2).

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lich-genossenschaftlichen Bürgergemeinschaf t bzw . de s gemeindlich-genos senschaftlichen Prinzip s z u sein . Freiheitsverständnis , Bürgerbegrif f un d Gleichheitsgrundsatz - sie bildeten das Fundament eines, anders als im Stäfner Handel, zeitweis e erfolgreiche n Entwurf s de r »korporative n Staatsbürger gesellschaft«.

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Der Schweizer ist von Gott hingestellt worden in die Völker Europas als ein Muster und Bild freier Volksentwicklung. Wir sind am Alpengebirge die Hüter, die Priester dieser heiligen Flamme auf dem Hochaltar Europas. Welcher Eidgenosse kann nun auch nur einen Schatten vo n Zweifel darübe r hegen, ob wir nicht das heiligste Recht, die unerlässliche Pflicht haben, dies Erlueil zu bewahren und vor allem aus - und unter jeden Umständen, vor aller Welt zu zeigen, dass wir unbevogtet und eigenen Rechtens, dass wir Hausherr sind im eigenen Hause?]

C. Die Transformation der gemeindlich-genossenschaftlichen Bürgergesellschaf t 4. Auf dem Weg in die »andere Bürgergesellschaft« : Vom »Züri-Putsch« 1839 bis zur Demokratische n Bewegun g der 1860erJahr e »Freiheit«, »Gleichheit« und »Bürgerlichkeit« -diese drei Grundprinzipien alt ständischen Denkens waren es, an die die ländlich-liberale Bewegung anknüpfen konnte. Mit der überwältigenden Mehrhei t von 40.503 Ja-Stimmen gege n 1721 Nein-Stimmen nah m am 20. März 1831 das Züricher Volk eine liberal e Repräsentatiwerfassung au f der Grundlage der Volkssouveränität mi t Gewal tenteilung, Rechtsgleichhei t sowi e Individualrechte n an , di e e s al s »regene riert«, als o erneuer t un d wiederhergestellt , bezeichnete . De r Schlüsse l zu m Verständnis des liberalen Erfolgs von 1830/31 lag einerseits darin, dass die zentralen tradierte n Wertesysteme konservier t bzw . verstärkt wurden, inde m di e neue Staatsbürgergescllschaft au f den rechtlichen Grundlagen der traditionellen Gemcindebürgergcsellschaft aufgebau t un d die gemeindliche Autonomi e erweitert wurde. Andererseits bot die liberale Freisetzung des Individuums eine adäquate Antwor t au f di e lebensweltliche n Veränderunge n zunehmende r Kommerzialisierung. Nur in der Verschränkung des korporativen und des individualistischen Moments , d . h . de r Rückbindun g de s Einzelstreben s a n da s Gemeinwohl, ergab sich ein aus überlieferten Denk - und Handlungsmuster n legitimierter Übergan g von der ständischen in die moderne Gesellschaft . 1 So einer der führenden Politike r der katholischen Schwei z im Jahr 1843: Siegwart-Müller, S. 737.

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Doch barg diese Verschränkung ein enormes Konfliktpotential. Je weiter der forcierte Ausbau einer modernen rechtsstaatlichen Ordnung mit ihrem zentralistischen Grundzu g unte r der Ägide der Jungen Juristen voranschritt, u m so mehr verstärkte sic h diese s Potential , bi s es sich 1839 im sogenannte n Züri Putsch entlud . Di e amtierend e liberal e Regierun g wurd e zu m Rücktrit t ge zwungen, und für kurz e Zeit trat nun ein e liberal-konservative Regierun g an die Spitze des Kantons. 2 In der freisinnigen Historiographi e der Schweiz wird der »Septemberputsch « deshal b al s Ak t eine r defensiv-antimodernistische n Protestbewegung der Landschaft bewertet. Dieses Bild gilt es zu revidieren. Zu diesem Zwec k solle n nebe n de n religiöse n un d soziale n Motive n de r ZüriPutschbewegung ihr e bislan g völlig unterbewertete n politische n Zielsetzun gen herausgearbeite t werden . Au s diese r Perspektiv e erschließ t sic h ihr e Bedeutung als primär politische Bewegung, die mit der Forderung des direktdemokratischen Vetorecht s erstmals den Versuch unternahm, das Modell de r gemeindlich-genossenschaftlichen Bürgergesellschaf t auf die Kantonsebene zu übertragen. Dass dieser Versuch misslang, ist keineswegs nur auf die mangelnde Reform freude de r liberal-konservative n Septemberregierun g zurückzuführen . Ent scheidend wa r vielmeh r di e vermeintlich e Bedrohun g de s religiöse n Fun daments de s gemeindlich-genossenschaftliche n Ordnungsmodells , eine s Fundaments, dem - wie z u zeigen is t - ein unmittelbar politischer Zug innewohnte. Die Verteidigung des »Glaubens der Väter«, die bereits 1839 zur Konflikteskalation geführ t hatte , wurde Anfang der vierziger Jahre erneut aktuell . Die wachsende konfessionspolitische Polarisierun g auf eidgenössischer Ebene bewirkte zunächs t au f kantonale r Eben e de n Begin n eine r »zweite[n ] libe rale [n] Ära«,3 indem eine neue, wirtschaftsliberal geprägt e Elite unter Führung des Industriemagnaten Alfre d Esche r diesen zentralen Topo s für sic h vereinnahmte. Es folgte der politische Umschwung auf gesamtschweizerischer Ebe ne, in dessen Verlauf sich eine Phalanx der protestantischen Kantone gegen die katholischen Ständ e bildete , di e 1848, nach de m Sie g übe r die katholische n Kantone im »Sonderbundskrieg«, zur Gründung des schweizerischen Bundesstaats liberaler Prägung führte . Erst zwei Jahrzehnte späte r brac h di e de r Synthes e von korporative n un d individualistischen Elemente n immanent e Konflikthaftigkei t i n alle r Massi vität auf , al s di e Verschränkun g gelös t un d di e korporativ e Grundlag e de r 2 In anderen Kantonen zeigte sich eine ähnliche Entwicklung. Besonders folgenreich für die weitere gesamtschweizerische Entwicklung sollte der konservative Umsturz in Luzern im Jahr 1841 werden, der zur Berufung des Jesuitenordens an die dortige Universität führte. Daneben kam es auch i n de n Kantone n Aargau, Solothurn, Wallis, St . Gallen, Bern, Tessin z u Verfassungskämpfen, in denen sich letztlich die Liberalen bzw. Radikalen behaupten konnten. Siehe beispielsweise Kotz, Verfassungsgeschichtc, Bd. 1, S. 409-449. 3 Geschichte des Kantons Zürich, S. 144.

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Staatsbürgergesellschaft i n Frage gestellt wurde. In den Mittelpunkt des Interesses rückt entsprechend der Prozess der kommunalen »Dekorporierung«. Die autonome Gemeind e als volkstümliche Lehrstätt e de r staatsbürgerliche n Er ziehung hatte in der Programmatik der ländlichen wie der städtischen Liberalen 1830/31 einen zentralen Platz eingenommen. Snell und die ländlichen Liberalen hatten dabei an ihrer korporativen Struktur festgehalten. Da s traditionelle Bürgerprinzip, da s sukzessiv e durc h ei n erleichterte s Einbürgerungsrech t geöffnet werde n sollte , bildet e di e Grundlag e ihre s evolutionäre n Gesell schaftsmodells de r modernen »Schwurgemeinschaft« ode r »staatlichen Volks gemeindc«. Dagege n zielte , wi e noc h gezeig t werde n soll , di e liberal e Kommunalpolitik der Jungen Juristen auf die schrittweise Ablösung des Bürgerprinzips im Übergang zur egalitären Staatsbürgergesellschaft. Mi t der politischen Vorherrschaft de r wirtschaftsliberal orientierte n Elit e sei t Begin n de r 1840er Jahre wurde dieser Trend noch verstärkt, um i n der Gemeindegesetzgebung von 1866 zu gipfeln. Es war dieses Krisenmoment der 1860er Jahre, als mit der Einführung der politischen Einwohnergemeinde erneut eine ländliche Volksbewegung - die »Demokratische Bewegung « - entstand, die den letzte n entscheidenden Schritt zur »Transformation« de s dynamisierten gemeindlich genossenschaftlichen Ordnungsmodell s auf die Kantonsebene vollzog. 4.1. Der vergebliche Versuch einer Transformatio n der gemeindlich-genossenschaftlichen Bürgergesellschaf t auf den Staat : De r »Züri-Putsch« vom 6. September 1839 Seine erste schwere Erschütterung erlebte der junge liberale Freistaat bereits im zweiten Jahr seines Bestehens. In der Märzkrise 1832 traten sämtliche konservativen Stadtbürge r au s dem Regierungsra t zurück , nachdem ei n vo n ihne n favorisiertes Vereinsgesetz abgelehnt worden war, das den verfassungswidrige n »demokratischen Despotismu s von unten« unterbinde n sollte. 4 Gemeint wa r damit die Gründungswelle liberaler Schutzvereine, die u.a. als Plattformen von Petitionskampagnen zu r Beseitigun g bestimmte r Residue n städtische r Herr schaft fungierten. Das politische Klima heizte sich deshalb noch stärker auf, als die liberal e Großratsmehrhei t - nicht zuletz t i n Erfüllun g vo n Petitions 4 Der Anlass war die Gründung des »Basserdorfer Vereins« im Februar 1832 durch die städtischen Liberalen um Keller, der den »Schutz« der liberalen Verfassung zum Ziel hatte. Neben der Bildung von Zunft- und Gemeindevereinen gehörte es zu den ersten Tätigkeiten dieses Kantonalvercins, einen Petitionssturm zur Aufhebung bestimmter städtischer Privilegien zu organisieren. Die Gründung des Basserdorfer Vereins löste eine allgemeine Diskussion über die Vercinsfreiheit aus, in deren Verlauf im März auf einen Schlag acht städtische Regicrungsräte und bald darauf zehn der höchste n Offizier e zurücktraten . Siehe Wettstein , S. 125ff. , S . 164ff. , S . 193ff. , S . 204ff. , S . 220ff.

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Forderungen - beschloss, die Stadtschanzen z u schleifen, was die Stadtbürge r als »Vernichtung des städtischen Prinzips« und Degradierung von der »Bürgergemeinde zu einer Einwohnergemeinde«5 beklagten. Zusätzlich verhärtete die Auflösung des städtischen Chorherrenstifts sowie des Kaufmännischen Direk toriums die Opposition der konservativen un d gemäßigt liberalen Stadtbürge r gegenüber dem neuen Staat und seinem »Juristenregiment«. De r Versuch, die alten Elite n politisch einzubinden , wa r damit gescheitert, di e Kluf t zwische n Stadt und Landschaft schie n selten größer gewesen zu sein. 6 Aber auch die Koalition der Ländlich-Liberalen und der städtischen liberalen Elite um Keller wurde brüchig. Ein tiefer Riss entstand durch die sehr freizügige Asylpolitik der Regierung als Reaktion auf die Flüchtlingswelle, die 1834 die liberalen Kanton e de r Schwei z erreichte . Ernsthaft e diplomatisch e Verwick lungen und gewisse xenophobe Strömungen, nicht zuletzt aufgrund des plötzlichen Überangebots an akademisch gebildeten Arbeitskräften, waren die Folge.7 Viele de r gemäßigte n ländlich-liberale n Exponenten , wi e di e Usterredne r Johannes Hegetschweile r un d Heinric h Gujer , wandten sic h enttäusch t von der Regierun g ab , groß e Teil e de r Landbevölkerun g ebenso. 8 Wichtige For derungen vo n 1830 waren ga r nich t ode r nich t befriedigen d erfüll t worden , während umgekehrt Reformvorstöße wie die liberale Schulpolitik i m »Stadler Handel« 1834 sogar eine n gewaltsame n Protes t provozierten. 9 »Allgemeine n Missmut« konstatiert e deshal b Heinric h Weiss , ei n Parteigänge r Kellers , i m Vorfeld de s Züri-Putsches angesicht s de r Politi k eine s Große n Rats , der mi t dem Volk mitunter »z u hart, strenge und rücksichtslos« umgeh e - »zu konsequent nac h seine n Grundsätzen , z u inkonsequen t nac h seine m Ursprung«. 10 5 Außerdem sollten die schweren Kanone n auf der Landschaf t verteil t un d die militärisch e Ausbildung von der Stadt in die Gemeinden verlegt werden. Votum Hans von Reinhard auf einer Bürgervcrsammlung, zitier t nach: ebd., S. 209. 6 Siehe zur Einschätzung der Situation den Aufsatz vonJ.K. Blutttschti, Denkwürdigkeiten, S. 19: »Es hat sich vielmehr, theil s durch di e Verfassung selbst , theil s noch i n weit höhern i Grad e durch die darauf folgenden Ereigniss e der Gegensatz zwischen Stad t und Lan d immer schroffe r ausgebildet. Gegenwärtig [ 1833] betrachtet sich die Stadt als unterdrückter und unaufhörlich an gefeindeter Theil, die Landschaft sich als mächtiger Sieger, dessen Willen jene sich zu unterwerfen hat. Es ist das umgekehrte Verhältniß vom Jahr 1815«. 7 Hier ist vor allem der sogenannte Savoyerzug zu nennen, als mehrere tausend Flüchtling e von Gen f aus bewaffne t i n Savoye n einfiele n un d dami t di e Neutralitä t de r Schwei z ernsthaf t gefährdeten. 8 Siehe Gubler, 18-47, hier bes. S. 24.u 9 Nachdem auf einer eigens einberufenen Landsgemeind e der Wehntalgemeinden ein e von vierhundert Männer n unterzeichnete Petition gegen die teuren Lehrmitte l von dem Großen Rat aufgrund eine s Formfehlers abgelehnt worden war - Kollektivpetitionen wurden laut Verfassung nicht gestattet (!) - kam es im Mai 1834 zu einer erneuten Volksversammlung der Gemeinden in Stadel, in deren Verlauf eine aufgebrachte Menge in das Schulhaus der Gemeinde Stadel eindrang und die neuen Lehrmittel zerstörte . 10 Zitiert nach: Gubler, S. 26.

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Stellvertretend fü r viele Züricher kommentierte die »Neue Zürcher Zeitung« 1835 die Reformpoliti k de r radikale n Gard e al s »ungermanisch e un d un republikanische Juristerei«, die von dem 1830 herrschenden »Geis t der Volkstümlichkeit« und der »Emanzipation« weggeführt habe. 11 Im Kern richtete sich die Kritik gegen den forcierten Ausbau der Staatsmacht, der sich, wie Bluntschli schon 1832 beobachtet hatte , i n eine m »ungeheure n Trieb , Gesetz e z u ma chen«, niederschlug. 12 Dazu gehört e a n erste r Stell e di e bereit s erörtert e Vereinheitlichun g de r Rechtsordnung, die etwa in dem 1835 verabschiedeten Strafrecht einen Formalismus in die Rechtspflege einbrachte , der laut Gujer dem »Gemeinen Mann e zu fremd, z u kalt, z u rücksichtslos« war. 13 Daneben zeigt e sich ein deutliche r Zug zu r Zentralisierun g de r Verwaltung , o b i m Steuerwesen , i m Straßen- , Schul-, Forst- oder Armenwesen. Die Gesetzgebungstätigkeit des Großen Rats griff damit nicht nur massiv in kommunale Autonomierechtc ein, sondern belastete die Gemeinden in nie dagewesener Höhe. Ganz erhebliche Frondienstleistungen i m Straßenbau, Schulneubaute n un d die Verlagerung de r Armenunterstützung au f di e Kirchgemeinde n bedrückte n di e Gemeindebürger . Unmut erregte auch die 1832 eingeführte Vermögen-, Erwerbs- und Einkommenssteuer, die weiterhin in erster Linie ländlichen Grundbesitz besteuerte. Dass das ambitionierte Reformprogram m un d rasant e Tempo dieses »Formalliberalismus« die vielfältigsten Interesse n verletzte, illustriert exemplarisch die Schulreform unter der Führung des Württembergers Ignaz Thomas Scherr. Die Säkularisierung des Schulstoffs degradierte die ländlichen Pfarrer, die von der Schulpflegc entbunde n wurden, und verletzte die religiösen Gefühle großer Teil e de r Landbevölkerung; di e Einführun g de r obligatorische n Schul pflicht bracht e die Heimarbeiterfamilien u m wichtigen Zuverdienst und entzog den Fabrikanten billige Arbeitskräfte; die Neubauten der Schulhäuser und die Anschaffung de s neue n Lehrmaterial s belastete n da s Budge t de r Schul gemeinden, un d die staatliche Leitung des Schulwesens entzog den Gemein den, wie sie meinten, ihr Recht, selbst über die Übernahme der neuen Schul einrichtungen zu entscheiden. 14 11 NZZ Nr . 126 vom 21. Dezember 1835. 12 J.K. Bluntschli, Revolution, S. 593-623. 13 Statthalter Gujer in der Dezember-Session des Großen Rat s 1836, zitiert nach: Wettstein, S. 552. 14 So betonte die NZ Z Nr . 41 vom 21. Mai 1834, die Gerichtsverhandlung über den Stadle r Handel hab e auc h ih r Gute s gehabt, inde m si e »di e vielerort s herrschende , aber durchau s irrig e Ansicht widerlegte , al s o b e s vo n de n einzelne n Gemeinde n abhinge , di e neue n Schuleinrich tungen annehme n z u wolle n ode r nicht« . Di e Verletzung von kommunale n Autonomi e rechten unterstreicht auc h Fran z Wirth i n seiner Darstellung des Stadler Handels . Traditionell verfügte n die Wehntalgcmeinden aufgrund ihre r geographischen Lage über sehr weitgehende Selbstverwaltungskompetenzen, die durc h de n Regenerationszentralismu s empfindlich beschnitte n wurden. Siehe Wirth , Treichler, S. 52f .

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Es gärte demnach lange bevor am 6. September 1839 - wie im dritten Kapitel dargelegt - die liberale Regierung um Keller zurücktrat, nachdem sich ein Zug von etw a 4000 Landleuten au f di e Stad t zubeweg t un d au f de m Züriche r Münsterplatz eine blutige Auseinandersetzung mit dem Militär geliefert hatte. Als rückwärtsgewandten Aufstan d eine r dumpf irrationalen Mass e von »Septemberkälbern« hatte der zeitgenössische Chronist Braendlin den Putsch verurteilt,15 hervorgerufen durc h die mangelnde »Verwurzelung des Rechtsstaatsgedankens i m allgemeine n Bewusstscin« , wi e di e Jubiläumsschrift vo n 1989 betont.16 Doch trifft diese Beurteilung des gewaltsamen Septemberumsturze s als antimodern, antirationalistisch un d nicht zuletzt antidemokratisch tatsächlich zu? Aus de r hie r verfolgte n gemeindlich-genossenschaftliche n Perspektiv e er gibt sich eine andere Lesart, die die Geschehnisse in einen umfassenderen Kontext einbettet: De r Züri-Putsch zeig t sich dann als eine immanen t politisch e Reformbewegung, di e erstmals versuchte, das Modell eine r gemeindlich-ge nossenschaftlichen Bürgergesellschaf t au f den Staat zu übertragen. Sicherlich stellt e di e Putschbewegun g auc h ein e sozial e Protestbewegun g dar, die sich gegen eine als zu radikal empfundene Fortschrittlichkeit auflehnte. In ihr sammelten sich die Benachteiligten un d Zurückgesetzten, zu denen sowohl die bedrängten Heimarbeiter und Bauern gehörten als auch die degradierten alten Eliten der Pfarrer oder der Stadtbürger, welche 1838 mit dem Über gang zur reinen Proporzvertretun g de r Landschaf t i m Großen Rat 17 die letzte Bastion ihre r politische n Vorherrschaf t falle n sahen . Dies e Bewertun g de r Septemberereignisse herrscht e verständlicherweise gerade unter den liberalen »Opfern« des Putsches vor. Einige, wie der Sekundarlehrer in Bauma, Heinrich Grunholzer, gingen sogar so weit, den religiösen Gehal t des Züri-Putsches als bloßes Mitte l zu m Zwec k de s Regierungsumsturze s z u werten ; »schamlos « hätten, kommentiert e e r de n Zu g au f di e Stad t i n eine m Brie f a n Thoma s Scherr vom 15. Oktober, di e Geistliche n un d ein großer Teil der Bürge r de s Bezirks Pfäffiko n »de n Deckmante l de r Religion « zurückgeschlagen. 18Ganz ohne Frag e wa r abe r de r Züri-Putsc h auc h ein e religiös e Protestbewegung , gerichtet gegen einen theologischen Rationalismus, wie er in der Berufung des Württembergischen Theologieprofessor s Davi d Friedrich Strauss nach Zürich greifbar wurde. 19 15 Braendlin Chronik , S . 277; FSW. 16 Schmid, Geleit, S . 8. 17 In der Kantonsverfassun g vo n 1831 war festgeleg t worden , nac h Ablauf von siebe n Jahren zum Proportionalwahlrcch t überzugehen . 18 Zitiert nach : Gubler, S. 34. Grunholzer gehört e als junger Sekundarlehre r zu r Gefolgschaf t des Erzichungsdirektors Scherr, er wurde später Seminardirektor i n Münchenbuchsee, Fabrikher r in Uste r un d a b 1860 liberaler Nationalrat . 19 Siehe Kapite l 3. 1 .

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Doch trete n dies e Motiv e de s Putsches hinte r sein e politisch e Zielsetzun g zurück, welch e i n den Petitione n aufscheint , di e dem neugewählten , konser vativ dominierte n Großra t eingereich t wurden . Kernstüc k de s projektierte n Transformationsprozesses de s gemeindlich-genossenschaftlichen Ordnungs modells au f die Staatsebene wa r das Einspruchsrecht de r Stimmbürger gege n die vom Großen Ra t verabschiedeten Gesetze , das Gesetzesveto. 20 Dieses Ein spruchsrecht wa r in altdemokratischen, i n der kommunalen Autonomiepraxi s verankerten Traditione n begründet , di e nu n unte r Berufun g au f die radikal demokratische Volkssouveränitä t au f die staatliche Eben e ausgeweitet werde n sollten: »die verfassungsmäßige Bestimmung , das s das Volk souverän sei, müsse in gewisse r Beziehun g i n di e Wirklichkei t gesetz t werden ; diese s geschehe , wenn ma n de m Volke die von de m Grosse n Rath e behandelte n Gesetz e zu r Annahme ode r Verwerfung vorlege.« 21 Erstmals wurde dami t de r Anspruch eine r direkte n Beteiligun g de r Staats bürgergemeinschaft a n de r Gesetzgebun g gestellt. 22 Diese r Zu g zu r Basis Demokratisierung zeigt e sic h noch i n anderen Forderungen , etw a i n der Abschaffung de r indirekten Wahlen , d a man di e Wahlmänner al s »Bevogtigung « empfand, un d i n de r Verschlankun g de s Staatsorganismus , inde m beispiels weise die Zahl der öffentlichen Stelle n reduziert und lebenslängliche Beamten stellen abgeschafft werde n sollten. 23 20 Aufgetaucht wa r di e Vetofrag e ei n Jahr vo r de m Zuri-Putsc h i m Zug e de r turnusmäßi g festgelegten Verfassungsrevisio n vo n 1838, als es darum ging , de n 1831 vorgesehenen Übergan g zur politische n Oleichstellun g de r Landschaf t i m Große n Ra t einzulösen . E s war bezeichnen derweise die konservative »Freitagszeitung«, die anstelle des Kopfzahlprinzips die Einführung de s Vetorechts propagierte, in der Annahme, dass dieses direkte Einspruchsrecht des Volkes sich gegen die liberale Politik des von Keller dominierten Großen Rats wenden würde. Während die liberale n Abgeordneten de s Großen Rat s aus eben diese m Grun d verhinderten , das s der Vorschlag i n di e Revisionsdebatten aufgenomme n wurde , tra f er sowoh l i n de n konservative n stadtbürgerliche n Kreisen als auch in der Landbevölkerung auf positive Resonanz. Die ablehnende Haltung des Großen Rat s von 1838 gegenüber der Volksrechtsfrage musst e also die Missstimmun g zusätzlich ver stärken. Siehe Wettstein , S. 594-608, bes. S. 5%. 21 Eingabe Nr . 3483, Gemeinde Elg g von 1839, zitiert nach : Schmidt Gesetzgebung , S . 186f . 22 Die Regenerationsbewegung, die seit 1830 die deutschschweizerischen Kantone des Mittel landes erfasst hatte, war in den Aufbau von Repräsentativdemokratien gemündet. Einzige Ausnahme bildete die Verfassung St. Gallens von 1831, die von Anfang an ein Vetorecht vorsah, das es den Stimmbürgern erlaubte , Gemeindeversammlungen abzuhalten , u m übe r einen Einspruc h abzu stimmen. Wirkungsmächtig wurde ein solches Veto nur dann, wenn di e votierenden Gemeinde n zusammengenommen die Mehrheit aller stimmfähigen Kantonsbürge r ausmachten. Ein Jahr später folgt e de r Kanto n Basellan d mi t de r Einführun g de s Vetos. Vgl. Kölz, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 309-318, sowie Wink , Protodemokratisch e Bewegung , S . 131-151, hier bes. 133ff . 23 Zu den Petitionen sieh e Kölz, Verfassungsgcschichte, Bd . 1, S. 412ff. Einig e Forderungen , wie da s frei e Wahlrech t de r Pfarre r durc h di e Gemeinde n un d di e periodische n Erneuernngs wahlcn fü r Lehre r und Pfarrer , ware n bereit s i n de n Regencrationspctitione n vo n 1830/31 (und früher) formulier t worden und offensichtlich nich t befriedigend erfüllt worden. Andere Postulate, wie die Aufhebung des Verbots von Kollektivpctitionen, resultierten unmittelbar aus der liberale n Gesetzgebung nach 1831, während da s Vetorecht al s erstes direktdemokratisches Volksrccht ei n tatsächliches Novum darstellte.

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Auch die wirtschaftlichen Postulat e lassen sich vor dem Hintergrund einer Transformation des gemeindlich-genossenschaftlichen Modell s auf die staatliche Ebene verstehen. Unverkennbar ist hier der Trend zu stärkcrem Protektionismus und Staatsinterventionismus al s Reflex von tradierten Vorstellungen des Gemeinwohls un d der sozialen Gerechtigkeit: De r rigideren Abgrenzun g nach auße n übe r Eingangszöll e un d Fremdcnerlass e sollt e durc h Abgaben verringerung, höhere Staatsbeteiligung, etwa im Straßenbau, und der Vergabe von günstigen staatlichen Krediten , gerade auch für den »Landoeconom«, eine stärkere Umverteilun g de r Laste n i m Innere n entsprechen . Eine n weitere n Schwerpunkt der Petitionen bildete , wie nicht anders zu erwarten, die Schul und Kirchenpolitik. Dies e Gruppe von Forderungen stellte allerdings, obwohl sie nac h auße n hi n de r Protestbewegun g ih r Gepräg e vermittel t hatte , di e zahlenmäßig kleinste dar.24 Dieser kurz e Überblic k übe r di e Petitionswünsch e de r Putschbewegun g führt zu dem Schluss, dass es keinesfalls nur um eine »Kursbegradigung« ging, die die Entwicklung de s regenerierten Gemeinwesen s wieder stärker an jene Vorstellungen zurückbinden sollte , für die breite Bevölkerungskreise 1830/31 eingetreten waren. Vielmehr ging man über die früheren Ziel e hinaus, indem nun - im Unterschied zu 1830/31 - erstmals eine direkte Beteiligung der Bürger am Gesetzgcbungsprozess gefordert wurde. Der wahre politische Gehal t de r ländliche n Umsturzbewegun g erschließ t sich jedoch erst , wen n ma n da s religiös e un d politisch e Momen t de s ZüriPutsches in seiner historisc h gewachsenen Verklammerung, wie sie vor allem für die reformierte Schwei z typisch war, versteht. Die Volksfrömmigkeit besaß danach einen originären politisch-freiheitlichen Grundzug , der für die Entstehung und Vitalität der kommunalistischen Autonomiekultur von entscheidender Bedeutung war. Diese Verklammerung war zum eine n aus dem göttlichen Naturrech t ent standen,25 das traditionell die Legitimationsbasis für die Einforderung und Behauptung von kommunalistischer Freihei t darstellte. Zudem fußte sie auf der politischen Sonderentwicklung der Eidgenossenschaft, i n der seit Ende des 14. 24 Gefordert wurde wieder eine stärker e Vermittlung religiöser Inhalt e im Schulwesen , u.a. durch di e Aufstockung des Religionsunterrichtes in der Volksschule, und die Verminderung der neuen Schulbücher. 25 Zur Aufnahme des Natur rechts in die kirchliche Sozial lehre seit der römischen Spätantike siehe Bierbrauer, Freiheit und Gemeinde, S. 44—65. Daraus folgte jedoch nicht die Übertragung des Naturrechts au f di e weltlich e Ordnun g durc h di e offiziell e Kirchcnlehrc . Di e Bedeutun g de r naturrechtlichen Fundierun g der kirchliche n Soziallehre lag vielmehr darin, dass: »de r Schlüssel zum Verständnis dafür, dass sich überhaupt Ansätze einer egalitären Gesellschaftskritik ... in breiteren gesellschaftlichen Kreisen ausbilden konnten, letztlich darin zu finden [ist) , das s die Kirch e über Jahrhunderte ei n Rechtsverständni s propagierte, das den Absoluthcitsanspruc h des positi v geltenden Recht s negierte und das zumindest in seinen Grundannahmen auf egalitären Positionen aufbaute« (S . 51).

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Jahrhunderts aufstrebend e Städt e un d Talschaften , Bürge r un d Bauer n di e Rechte und Stellung des Adels usurpiert hatten. Diese offenkundige un d einzigartige Umkehrung der Ständepyramide erhielt im breiteren Geschichtsbe wusstsein ein e hcilsgeschichtlichc Dimension , indem ma n die altfreiheitlich e Grundordnung de r Eidgenossenschaf t al s gottgewollt e Ordnun g begriff 26 Durch di e reformatorisch e Lehr e Zwingii s wurd e de r politisch e Grundzu g weiter verstärkt.27 Egalitäre Rechtsvorstellungen diffundierten a n die Basis des gemeinen Mannes , aus denen heraus seit der Reformation »ein e egalitäre Gesellschafts- und Sozialkritik« formuliert werden konnte 28 und die darüber hinaus eine entscheidende Prädisposition (abe r nicht mehr) zur Annahme indivi dualistischer Positione n de s Naturrechts 29 darstellten . Da s republikanisch e »Gemeindeprinzip«30 der Kirchenlehr e Zwingii s tra t hinzu . Nich t meh r di e kirchliche Hierarchie , sonder n di e »Kilchhöri« , di e Kirchgemeinden , sollte n der rechtmäßige Repräsentant der Kirche sein, deren Mitgliede r ihr e Verhältnisse weitgehend selbständig regelten. Konkrete Forderungen wie die freie Predigt, die Pfarrerwahl durch die Gemeinden oder die innergemeindliche Handhabung der Kirchenzuch t hatte n hier ihre n Ursprun g un d wurden zu m Teil noch von der Demokratischen Bewegun g der 1860e r Jahre darau s abgeleitet. Durch diese religiös legitimierte Durchbrechun g des kirchlichen Hierarchie prinzips zugunste n de r Gemeindcsclbstverwaltung erhielte n da s Prinzi p de r politischen Gemeindeautonomie ebenso wie der Status des politisch mündigen Gemeindebürgers ganz maßgebliche, die Zeit überdauernde Impulse. 31 26) Sieh e Marchai, Antwort, S. 757-790. Zu dem Phänomen der mit der Republik verbundenen Heilsmythen sieh e auch Mörke, Bataver, S. 116ff. 27 Siehe Bierbrauer ,Freiheit und Gemeinde, S. 62f., sowie die Aufsatzsammlung zum Thema: P. Blickte u. a.,Zwingli un d Europa; und die Aufsatzsammlung Bäuerliche Frömmigkeit. Im Unterschied z u Luthe r gin g Zwingli vo n de r Verbindlichkei t de r Bibe l (de m Schriftprinzip ) fü r di e weltliche Ordnung aus. Daraus ergaben sich direkte Konsequenzen für die Legitimität des positiv geltenden Rechts , das nur dann als gültig zu betrachten war, wenn es dem Göttlichen Naturrech t entsprach. Ältere, vorreformatorische naturrechtliche Vorstellungen wurden durch diesen theologischen Ansat z aufgewertet un d erhielten ein e neue politische Durchschlagskraft , inde m i n den folgenden Bauernbewegunge n da s Göttliche Recht zur Begründung naturrechtliche r Forderun gen in Anspruch genommen wurde. Siehe dazu P, Blickte, Revolution, S. 237-244, bes. S. 243f. 28 Siehe Bierbrauer, Freiheit und Gemeinde, S. 51. 29 Vgl. Btaschke, S. 237-257. 30 Siehe dazu das Konzept der »Gemeindereformation« vo n P. Blickte, Soziale Dialektik, bes. S. 79ff., sowie ders., Revolution, S. 242f.: »jene Staatsform hält Zwingli für optimal, in der kirchliche Gemeinde und politische Gemeinde in eins zusammenfallen« . 31 Dies gilt, auch wenn sich unter der Bedrohung der Reformation durch die altgläubigen Orte einerseits un d de n große n Erfol g de r radikale n Täuferbewegun g au f de r Züriche r Landschaf t andererseits ei n staatskirchliche s Regimen t i n Züric h entwickelte . Tatsächlic h ginge n vo n de r Täuferbewegung sogar ungleich stärkere Impulse zur Gemeindeautonomie aus, weshalb sie auch dem Züricher Staatskirchentum gefährlich wurde. Die Täufer waren in ihrer Bibelexegesc sozial revolutionär, indem sie eine neue Form der sozialen Gemeinschaft nac h dem Vorbild der »staatsfreien christlichen Urgemeinde« errichten wollten. Gerade in den engen Talschaften des Oberlandes fand ihre Bewegung trotz Verbots rasche Verbreitung. Von dort aus führt eine Traditionslinie

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Vor diesem Hintergrun d gewann der Züri-Putsch zwangsläufi g ein e politische Dimension, musste doch die Verletzung dieser religiösen Anschauungen durch di e Berufun g de s Rationalisten Davi d Friedrich Straus s einem Angrif f auf das tradierte Freiheitsverständni s gleichkommen . Di e sich hier äußernd e Volksfrömmigkeit war daher nicht nur vordergründig Ausdruck des Beharrens auf traditionellen Forme n von Religiosität und lokaler Kultüberlieferung . Die enge Verschränkung von Religion und Politik spiegelte sich auch in der gesamten Formierungsphas e de s Protests. 12 Gan z bewuss t grif f di e Oppo sitionsbewegung - wie schon die liberale Bewegung 1830/31 - auf die direktdemokratische Versammlun g de r »Landsgemeinde « al s »Manifestatio n de s Volkswillens gegenüber der Regierung«- 33 zurück. Am 2. September 1839 folgten etwa 10.000 Menschen de m Aufruf de s sogenannten Glaubenskomitees , sich i n de r Gemeind e Klote n einzufinden , u m gege n di e Gefährdun g vo n »Glauben« un d »Freiheit« , wi e si e der Vorsitzende, der Textilfabrikant Hürli mann-Landis, in seiner Eröffnungsrede beschwor , zu protestieren. Hürlimann-Landis spielte damit nicht nur auf die Bedrohung der »ideellen« religiösen Grundlage von Gemeindeautonomie und Volksrechten an, sondern auch auf die Bedrohung ihres »materiellen« rechtspositivistischen Fundaments. Angesichts des starken Zulaufs der »Glaubensbewegung« hatte sich nämlich der Große Rat zu einer repressive n Vorgehensweisc entschlossen. Auf seine Weisung hin war gegen das Komitee Anklage wegen konspirativer Umtriebe erhoben und sogar Militär aufgeboten worden. Darüber hinaus wurde ein allgemeines Versammlungsverbo t fü r di e kirchliche n Gemeindeverein e erlassen , di e sich i m Zusammenhang mi t dem »Straussenhandel « gebilde t hatten. 34 Dieser massive Eingrif f i n di e Gemeindeautonomi e bestätigt e di e tradiert e Vorstel lung, dass religiöse Rechtgläubigkei t un d politische Freiheit einander beding ten: Der vermeintliche Verlust der angestammten Glaubenslehre war begleitet von einer Zerstörung der politischen (Gemeinde-)Frcihcit. Insbesonder e das Verbot der gemeindlichen Glaubensvercin c wurde deshalb in Kloten als eklatante »Verletzung der Volksrechte« angeprangert und eine sofortige Aufhebun g gefordert.35 Als kurz darauf Gerüchte kursierten, die Regierung habe zur Durchsetzung ihres Erlasses »fremde Truppen« aus anderen radikal und liberal geführten Kanzu de n pietistische n Strömunge n de r Landschaf t sei t de m 17. Jahrhundert, die mi t de r »Erwe ekungsbewegung« die Regeneration der 1830e r Jahre als Freisetzung des einzelnen von kirchlicher und staatliche r Bevormundung zunächst unterstützte. Siehe dazu Litidt. 32 Eine ausführliche Darstellun g der Formierun g und des Ablaufs der Protestbewegun g bei Gubler; Aerne. 33 Zitiert nach: Aerne, S. 90; als Beispiel einer positiven zeitgenössischen Kommentierung der Anrede von Hürlimann-Landi s Höfliger, S. 1, S. 9f . 34 Siehe den Regierungserlas s vom 23. August 1839, abgedruckt in: Peter, S. 227f. 35 Siehe Hürlimann-Landis, S. 12f., sowie die Petition der Kloten Versammlung bei Aerne, S. 91.

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tonen angefordert, war der Moment zur Verteidigung von Glaube und Freiheit gekommen.36 I n dieser angespannte n Atmosphär e lie ß de r Pfarre r Bernhar d Hirzel i n Pfäffiko n i n de n Morgenstunde n de s 6. Septembers di e Glocke n Sturm läute n und gab damit das Signal zum Zug auf Zürich. Das Motiv der äußeren Bedrohung des Gemeinwesens durch fremde Truppen und das der inneren Bedrohung des Glaubens und der Schweizer Freiheit verdichteten sich zu einem »Verschwörungstopos«, de r weit i n den Ursprun g der Eidgenossenschaf t al s Wehrverband un d di e Geschicht e ihrer religiöse n Spaltung zurückreichte. Dieser Topos deckte sich inhaltlich wiederum mit dem zyklischen Krisendenke n de s republikanischen Tugenddiskurses , de n Hürli mann-Landis in seiner Eröffnungsrede au f der Landsgemeinde in Kloten aufnahm. Darin entwarf der Redner ein von wachsender Genuss- und Selbstsucht gezeichnetes Bild der Züricher Republik. Sittliche Zügellosigkeit, Habgier und Korruption - als stete Bedrohun g einer Republi k un d ihre r Bürgerfreihei t hatten nac h Hürlimann-Landi s jenen kritische n Funk t erreicht , a n dem di e Tugend zu einem »hohlen Gespenst« verkommen und dadurch der Fortbestand des Gemeinwesens ernsthaft gefährdet sei. 37 Es war dieser Momen t de r Krisis , der de n entscheidende n Impul s fü r di e Mobilisierung der Massen lieferte, um ihre Gesellschaftsvorstellungen aus dem engen kommunale n Rahme n au f das staatliche Ganz e z u übertragen . Noc h aber waren bei diesem ersten Versuch die Kräfte nicht i n der Weise gebündelt und kanalisiert wie in der Demokratischen Bewegung von 1867, in der bezeichnenderweise viele der Petitionsforderungen vo n 1839 wiederauftauchten. Ei n Grund hierfür lag in der nun dominierenden liberal-konservativen Führungs elite unter der Leitung von J. K . Bluntschli, der nach eigener Aussage »das Prinzip de r Volkssouveränität niemal s anerkannt « hatt e un d »nich t di e geringst e Lust« verspürte, dies nun zu tun.38 Diese Elite dachte nicht im mindesten daran, die liberale Staatsordnung in ihren Grundfesten zu verändern. Die Kantonsverfassung von 1831 blieb unangetastet und die zentrale Forderung nach Einfüh rung de s Vetorechts unerfüllt. 39 Di e Politi k de s Septemberregiment s musst e 36 Im Name n de s Vizepräsidenten des Glaubenskomitees erging ei n Sendschreibe n an all e Bezirkskomitees, die »Feind e drohten das Vaterland mit fremde n Truppen « z u überziehen , alle sollten sic h deshalb in Bereitschaf t halten, zitiert nach: Gubler, S. 32f . 37 Siehe Hürtimann-Landis, S. 4ff. 38 Zitiert nach: Kölz, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 448. 39 Vgl. al s Überblic k über di e Gesetzestätigkei t des konservativ-liberale n Großen Rat s de n Aufsatz von Schmid, Gesetzgebung. Die Behandlung der Vetofrage im konservativ-liberale n Großen Rat wurde nach 1839 zunächst herausgezögert. Erst 1842, als sich die Verhältnisse im Großen Rat bereits wieder verändert hatten, kam es zu einer ausführlichen parlamentarische n Auseinandersetzung, die als »Zürcher Vetodebatte« in die Literatur eingegangen ist. Letztlich zeigte sich, dass keine de r liberale n Strömunge n di e Einführun g de r direkte n Demokrati e wünschte. Di e neu e liberale Elite machte vor allen Dingen geltend, dass Zürich als industrialisierter Kanton nicht die Gesetzgebung »eines Hirtenlandes« gebrauchen könne. »Je grösser und je gewerbsamer« ein Staat sei, dest o weniger taug e »ein e demokratisch e Verfassung«. A m 29. September 1842 wurde di e

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enttäuschen, es gab keine einschneidenden Veränderungen, wie sie der gewaltsame Umbruc h de s 6. Septembers hatte vermuten lassen . Nur in einer Hin sicht - der Aargauer Klosterfrag e vo n 1841 - vertrat di e konservativ-liberal e Regierung eine n profilierte n Standpunkt . Ebe n diese r erlaubt e i n de r Folg e einer neuen »neoliberalen« Parteiung , das vorngenannte »Verschwörungstrau ma« nu n umgekehr t fü r di e eigene n Ziel e einzusetzen : di e Übernahm e de r politischen Mach t im Kanton und die bundesstaatliche Einigung unter liberalen Vorzeichen. Die Gründung des schweizerischen Bundesstaat s von 1848. Den Auftakt de r Bun desstaatsbewegung40 bildete 1841 die Auflösung der Aargauer Klöster durch die radikale Kantonsregierung , di e einen eindeutigen Bruc h des Bundesvertrage s von 1815 darstellte. Das gesamtschweizerische Vertretungsorgan der Kantone, die eidgenössisch e Tagsatzung , nah m dennoc h de n Beschlus s nu r teilweis e zurück, da die Gesandten der liberal und radikal regierten Kanton e die Mehrheit stellten. 41 I m weiteren Verlau f zeigte sich eine zunehmende konfessions politische Aufladung, die die Eidgenossenschaft in ein konservativ-katholisches Lager un d ei n liberal-protestantische s Lage r spaltete. Das erste hing der her gebrachten staatenbündisch-föderalistische n Staatsstruktu r an , währen d da s Einführung mi t 115 gegen 54 Stimmen verworfen . Sieh e zu r Darstellun g de r Debatt e Kölz, Verfassungsgeschichte, Bd . 1, S. 445—448, sowie W . Zimmermamu Geschichte des Kantons Züriet), S.135ff 40 Ein erster Versuch der regenerierten Kanton e vom Juli 1832, den staatenbündischen Vertra g von 1815 zu revidieren , scheitert e a n de r massive n Gegenweh r de r konservativen Kanton e (Uri . Schwyz, Unterwaiden , Baselstadt . Neuenburg) , di e u m ihr e kantonal e Souveränitä t fürchteten , aber auc h a n de n enttäuschte n libera l un d radika l dominierte n Kantonsparlamenten , dene n de r Entwurf nicht weit genug ging. Siehe als ältere Gesamtdarstellung der Bundesstaatsgründung Die rauer, zu r verfassungsgeschichtliche n EntwicklungHis , Bd . II, S. 98ff., 187ff, Kaiser/Strickler , S . 103ff., S . 216ff. , un d al s jüngste Publikatio n mi t umfassende m Quellenban d Kölz , Verfassungs geschichte. Ein e Sammlun g de r derzeitige n Forschungsansätz e un d -kontroverse n biete n Hild brand/Tamier, sowi e Emst/Tatwer/Weishaupt . Die hie r vorgelegte Interpretatio n stimm t grundsätz lich dem Fazi t der aktuellen Forschungsdiskussio n i n der Schweiz, den Sonderbundskrieg nicht als Konfessions-, sondern al s Bürgerkrieg z u beurteilen, zu. Sie weicht aber insofern entschiede n vo n ihm ab, als die hier betonte Verklammerung von Politi k und Religion, wie sie die tradierten Denk und Handlungsmuste r bestimmte , eine r solche n Trennun g vo n religiöse r oder politischer Bewe gung widerspricht . 41 Anlass de r Klosterfrag e wa r di e Entstehun g eine r katholisch-konservativ e η Oppositions­ bewegung in dem konfessionell gemischte n Kanto n Aargau. Nach einer bewaffneten Auseinander ­ setzung zwischen Landstur m und Regierungstruppen i m Januar 1841 beschloss die radikale Regie ­ rung, all e aargauische n Klöste r aufzuheben , di e ma n al s Anstifte r de s Aufstand s ansah . Di e aargauische Regierun g verstie ß hiermi t gege n de n Klosterartike l de s Bundesvertrage s un d rie f die Tagsatzung auf den Plan , die die Entscheidung fü r ungesetzlic h erklärte, sich aber per Mehrheits entscheid mit der Wiederherstellung der vier Frauenklöster 1843 begnügte. Die unterlegene Mino rität hatt e dagege n au f die generell e Wiederherstellun g alle r Klöste r bestanden un d grundsätzlic h Protest gege n da s Mchrheitsprinzi p de r Tagsatzun g i n religiöse n wi e bundesrechtliche n Frage n geäußert.

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zweite eine bundesstaatlich-zentralistische Lösun g anstrebte. Beide Seiten entwarfen eindrucksvoll e Untergangsszenarien , wonac h Religio n un d Freihei t von der jeweils anderen Parteiung aufs äußerste bedroht schienen. So wurd e vo n katholisch-konservative r Seit e de r Mehrheitsbeschlus s de r Tagsatzung zu r Klosterfrag e al s »doppelte Gefahr « eine s neue n Heidentum s und des Verlusts der kantonalen »Souveränitäts- und Territorialrechte« begrif fen.42 Auf der Gegenseite beschwor man das Stereotyp des Jesuiten als »inneren Feind«. Anlass war die Lehrberufung de s ultramontanen Orden s i m katholi schen Luzern.43 Dieses überkommene Feindbild verfehlte seine Wirkung nicht: In de n reformierte n Kantone n bahnt e sic h ei n Stimmungsumschwun g zu gunsten de r Liberale n un d Radikale n an . Be i ungewöhnlic h hohe r Stimm beteiligung verloren 1842 die Konservativen in Zürich nahezu die Hälfte ihrer Sitze im Großen Ra t an liberale Vertreter der Landschaft. 1845 gewannen di e Züricher Liberale n di e Mehrheit i m Regierungsra t zurück , un d sei t de n Er neuerungswahlen des Großrats im Frühjahr 1846 sank die konservative Vertretung endgültig auf 30 bis 40 der insgesamt 212 Großratssitze.44 Große Volksversammlungen, di e di e Ausweisun g de r Jesuiten au s de r Schwei z verlangten , peitschten die Stimmung weiter hoch.45 Als im Juni 1846 zudem die Gründung eines militärische n Sonderbund s de r katholisch-konservative n Kanton e be kannt wurde, der mit ausländischer Hilfe eine großangelegte territoriale Um gestaltung der Schweiz plante, schien sich das Trauma der »doppelten Gefahr « von innen und von außen zu erfüllen. Auf die Weigerung der katholisch-kon servativen Kantone , ihren Bun d aufzulösen , reagiert e di e libera l un d radika l 42 So betont e eine r ihre r Exponenten , de r ehemal s liberal e Luzerne r Staatsschreibe r Kon stantin Siegwart-Müller, »jetzt , wo das Recht des Stärkeren zum Bundesstaatsrecht « erhoben wor den un d »de r Religionsfncde « dahi n sei , hab e »di e Auflösung de r Eidgenossenschaft « begonnen : »Eine Ausscheidung in eine bundestreue, in eine katholische Schwei z is t das notwendige Ergebni s alles bisher Vorgegangenen , di e Bedingun g zu r Rettun g unsere r Freihei t un d unsere r Religion« , zitiert nach : Das Werden der modernen Schweiz, S. 89 f 43 Es setzte ein e massiv e radikal-liberal e Propagand a ein , di e nu n ihrerseit s apokalyptisch e Visionen heraufbeschwor . »De r Rubiko n is t überschritten ! Di e Punie r sin d vo r de n Toren ! Da s Vaterland is t i n Gefahr!« , mi t diese n starke n Worte n vo r de r Tagsatzun g 1844 versuchte de r Aargauer Augustin Keller , die Ausweisung der Jesuiten z u erreichen. Si c schiene n ih m al s Draht zieher einer großangelegten Verschwörun g mi t dem Ziel, die Weltmacht z u erlangen, zitiert nach : Siegwart-Müller, S . 546. 44 Vgl. Vogel , Memorabilia Tigurin a 1852, S. 91. In rasche r Folg e kame n 1845 in de r Waad t sowie 1846 in Gen f un d Ber n radikal e Strömunge n a n di e Macht . De r liberal e Sie g be i de n Großratswahlen i m »Schicksalskanton« St. (lallen vom Mai 1847 brachte schließlich die notwendi ge Kantonsmehrheit i n der Tagsatzung fü r die Auflösung de s Sonderbundes un d die Ausweisun g des Jesuitenordens zusammen . 45 Von der wachsenden Aggressivität des Konflikts geben die beiden radikalen Freischarenzüg e im Dezembe r 1844 und Mär z 1845 gegen di e Luzerne r Regierun g Zeugnis . Sieh e Marchi z u de n Ereignissen de s Dez . 1844; zum zweite n Freischarenzu g Bühlmann , de r anhand de r Prozessakte n die dumpf-abergläubischen Vorurteil e de r protestantischen Bevölkerun g gege n di e Jesuiten her ausarbeitet.

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dominierte Tagsatzun g i m Oktober 1847 mit der allgemeinen Mobilmachung . Hier wie dort fühlte ma n sich »zur Verteidigung der politischen un d religiöse n Freiheit« verpflichtet. 46 I n dem nur wenige Wochen dauernden »Sondcrbunds krieg« de s November s 1847 siegte das Tagsatzungsheer übe r die zahlenmäßi g unterlegenen Truppe n de s Sonderbunds, 47 ei n Sieg , der nich t zuletz t deshal b möglich war, weil die Regierung Großbritanniens eine gemeinsame Interventi on der Großmächte bewuss t vereitelte. 48 Als daraufhin i n dreien de r ehemali gen Sonderbundskantonc (Wallis , Freiburg , Luzern ) liberal-radikale Parteiun gen di e Mach t übernahmen , wa r de r We g i n ein e Bundesrevisio n endgülti g geebnet. Während i n Paris, Berlin un d Wien i m Februar/März 1848 die ersten Barrikadenkämpfe aufflackerten , arbeitet e i n Bern eine Revisionskommissio n der Tagsatzung , unte r Einschluss de r Abgesandte n de r ehemalige n Sonder bundskantone,49 de n Entwurf einer liberale n Bundesverfassun g aus. 50 Im August un d Septembe r 1848 wurde di e neue Bundesverfassun g i n de n einzelnen Kantone n zu r Volksabstimmun g vorgelegt : 15 Kantone un d ei n Halbkanton nahme n si e an, 6 Kantone un d ein Halbkanton lehnte n si e ab.51 46 Nach Philip p Anto n Segesser , de m konservative n Staatsman n Luzerns , sal i da s Vol k de r sieben Sonderbundskantone i n dem Bündni s »einfach un d lediglich einen I landschlag der ältesten und gesinnungsverwandten Eidgenosse n zu treuer Hülfe gegen die Anmaßung der grossen Kanto ne, die Kantonalsouveränitä t un d den Bestan d de r katholische n Konfession« , sieh e PhA. Scgesser , Bd. 2: Monographien, Reccnsionen , Nekrolog e 1847-1877, S. 492. 47 Tatsächlich dauert e der Sonderbundskrieg vo m 3. bis 29. November 1847. 1 hindert Men schen verloren währen d de r Kampfhandlunge n ih r Leben, um die fünfhundert Persone n wurde n verletzt. Di e Kriegskoste n vo n run d 6,5 Mio. Franke n wurde n de n Sonderbundskantone n aufge bürdet, bi s zum Somme r 1852 hatten diese 3,6 Mio. Franken a n Reparationen entrichtet , der Res t wurde auf Bcschlussder Bundesversammlun g erlassen. Allgemein wurde das Verhalten der Siege r 1847 als nachsichti g beurteilt , ein e ander e Sich t liefer t dagege n di e Darstellun g vo n Bortier . A m Rande se i hie r au f ei n weitere s Indi z fü r da s alt-»bürgerliche « Selbstbewusstsci n de s einfache n Soldaten verwiesen . I n dem Berich t de s Züricher Regierungsrats , der zwar den guten Einsat z de r Züricher Truppen lobte , wurde u.a . der Umstan d bemängelt , es sei zur »demokratischen Diskus sion« von militärische n Weisunge n gekommen . Vgl . Geschichte des Kantons Zürich, S. 142. 48 Siehe zur Sonderbundspolitik der Pcntarchiemäcluc und Palmerstons Bemühungen u m di e Wahrung de r schweizerische n Neutralitä t Bonjour , S. 122ff . 49 Eine Ausnahme bildeten lediglich die Kantone Appenzell-Innerrhoden un d Neuenburg, di e während de s Sonderbundskrieges neutra l gebliebe n waren . 50 Das Ergebnis der Verfassungsverhandlungen wa r erwartungsgemäß ei n Kompromis s zwi schen föderalistischen un d zentralistische n Elementen . Weder der lockere Staatenbun d vo n 1815 noch die zentralistischc Einhcitsrepubli k de r Helvetik , so lautete die Reformdevise de r Revisions kommission de r Tagsatzung : »Ei n Föderativsystem , welche s di e beide n Elemente , welch e nu n einmal i n der Schweiz vorhanden sind , nämlich das nationale oder gemeinsame und das kantonale oder besondere, achtet,... das ist's was die jetzige Schwei z bedarf... So grosse Fortschritt e nu n de r nationale Geis t gemach t hat , s o is t doc h auc h de r Kantonalgcis t noc h tie f eingepräg t i n de r Schweiz«, Kern/Druey , Berich t übe r de n Entwur f eine r Bundesverfassun g vo m 8. April 1848, erstattet von der am 16. August von der Tagsatzung ernannten Revisionskommission , zitier t nach : Das Werde n der modernen Schweiz, S. 112f. Sieh e zu r Darstellun g der Verhandlungen ζ. Β . Rappard, 51 Bei einer Wahlbeteiligung von durchschnittlich 55% stimmten insgesam t 73% der Votanten mit Ja, wenngleic h diese s Abstimmungsergebni s aufgrun d de r unterschiedliche n Auszählungs -

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4.2. Der »machiavcllian momcnt « de r Züricher Republik : Die Bedrohung des »Mittelstandes« al s Kern des Gemeinwesen s Mitte der sechziger Jahre 4.2.1. Die Formierung der demokratischen Opposition gegen die neue liberale Elite der »Bundes- und Eisenbahnbarone« im Vorfeld des Krisenmoments Der politisch e Stimmungsumschwung , de n di e konfessionspolitische n Aus einandersetzungen der frühen vierziger Jahre ausgelöst hatten, brachte in mehreren Kantone n ein e neu e liberal e ode r radikal e Elit e i n di e Regicrungsver antwortung.52 In Zürich ging damit eine erste liberale Ära zu Ende, die geprägt gewesen war von einem staatsrechtlich orientierten »Juristenliberalismus« , z u dem sowohl die Jungen Juristen um Keller als auch die Liberal-Konservative n um Bluntschl i zählten . Ihr e Führungsköpf e verließe n Züric h i n Richtun g Deutschland.53 Stat t desse n dominierte n nu n di e Exponente n eine s unter nehmerischen Wirtschaftsliberalismu s vo n Stad t un d Landschaft , al s desse n Prototyp - weit übe r Zürichs Grenze n hinau s - der Industriemagna t Alfre d Escher54 gelten kann. Die Gründung des Bundesstaats von 1848 war demnach an einen Elitenwechsel geknüpft und stand unter dem bestimmenden Einflus s einer überkantonalen wirtschaftsliberalen Führungselite , die die bundesstaat liche Einigun g nich t zuletz t unte r dem Aspekt de r wirtschaftlichen Binnen integration anstrebte . Diese r bald bundeswei t vernetzten Elit e de r »Bundes und Eisenbahnbarone« erstand mit Beginn der 1860e r Jahre in mehreren Kantonen der Deutschschweiz in der »Demokratischen Bewegung« ein neuer politischer Gegner ländlicher Provenienz.

modi - so wurden etw a i n Luzcr n all e Wahlenthaltungcn al s Ja-Stimmen gerechne t - relativiert werden muss . Eine ausführliche Darstellun g bei'J.Segesser. Di e Verfassung is t u.a. abgedruckt in : Nabhoiz/Kläui, S. 299ff. 52 Dass die Jesuiten frage z u diese m Zwec k bewuss t vo n liberal-radikale r Seit e hochgespiel t worden war, galt unter in- wie ausländischen Beobachter n und Kommentatore n al s sicher. Gott fried Kelle r etw a nannt e di e Jesuiten »di e vollendete n Lückcnbüsse r de r Geschichte« , die , »al s handliche Schachfiguren « benutzt , ausgereich t hätten , eine n kräftige n un d höchs t produktive n Hass und Groll zu erregen. Keller hatte allerdings zunächst selbst an der antijesuitischen Kampagne tatkräftig mitgewirkt . 1843 publizierte er sein Schmähgedicht »Jesuitenzug« , zude m reiht e er sic h in einen de r radikale n Freischarenzüg e gege n Luzcr n ein . Zeh n Jahre späte r distanziert e e r sic h jedoch öffentlic h vo n seine m frühere n Verhalten ; zitier t nach : Das Werde n der modernen Schweiz, S. 92f . 53 F.L. Kelle r kehrt e al s erste r seine r Heima t de n Rücken , 1844 nahm e r eine n Ru f a n di e Universität Hall e a n un d macht e i m folgende n ein e eindrucksvoll e Karrier e al s konservative r Politiker. J.K. Bluntschli folgte ihm nur wenige Jahre später, 1848 verließ er die Schweiz und wurde Professor für deutsches Privat- und Staatsrecht in München . 54 Siehe zu Escher: Gagliardi, sowie zur liberalen Führungselite im allgemeinen Tanner, Arbeitsame Patrioten ; ders., Bürgertum , bes. S. 200ff.; B. Wehrii .

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Obwohl es sich um »räumlich getrennte , zeitlich verschobene un d qualitativverschiedenartige Erscheinungen « handelte , dere n Entstehungsimpuls c soga r gegensätzlich sei n konnten, wurden dies e kantonalen Bewegunge n bereit s von Zeitgenossen unte r dem Sammelbegriff de r »Demokratischen Bewegung « zusammengefasst.55 Ausschlaggeben d dafü r wa r die alle n gemeinsam e Ausrich tung auf sozialpolitische un d direktdemokratische Forderungen , vor allem aber ihr Charakter als »Volksbewegung«. 56 Dieses Kennzeichen grenzt die Demokra tische Bewegun g vo n andere n politische n Strömunge n ab , namentlic h de m Radikalismus un d den katholisch-konservativen Oppositionsbewegungen , di e sich bereits vor 1861 in Luzern, Aargau un d St. Gallen für die Einführung vo n Volksrechtcn eingesetz t hatten. 57 Im Fall e Zürich s läss t sic h de r Vorlau f de r Volksbewegung au f die frühe n sechziger Jahre datieren, als sich im Umfeld de s sogenannten Savoye r Handel s von 1860 der spätere Führungskader de r Demokratischen Bewegun g sammel te. Zunächst wa r de n Demokrate n allerding s kau m Erfol g beschieden . Nu r wenige Züricher konnt e ih r Hurra-Patriotismus daz u bewegen, i n die martia lischen Tön e u m de n französisch-schweizerische n Zankapfe l Nordsavoye n einzustimmen. Trotzde m konturiert e sic h hier auf der Kantonsebene ein e politische Opposition , di e fü r di e Wahlen de s Bundesparlaments, de s National rats, eigen e Kandidate n aufstellte . Z u diese r neue n Führungselit e gehörte n beispielsweise de r Sekundarlehrer Johann Kaspa r Sieber aus Uster, der Tierarzt Hans Rudolf Zangger au s Zürich, der Winterthurer Stadtpräsiden t Johann Jakob Sulzer und Kommandant Kar l Walder aus Unterstrass; sie alle wurden lei tende Köpf e i n der Demokratischen Bewegun g 1867/69. Einige vo n ihne n ware n bereit s i n de r »sociale n Bewegung « de s Heim 55 Zitiert nach : Schaffner , Demokratisch e Bewegung , S . 23. Sie umfasst e ei n Neben- , Nach und Gegeneinander »regionale r Protestaktionen , Kämpf e zwischen Parteie n um die Herrschaft i m Kanton, Verfassungsrevisionen unterschiedliche r Tragweite und revolutionsähnliche Umwälzun gen« in den Kantonen Baselland , Aargau, Luzern, Bern, Genf, Zürich und Thurgau zwischen 1860 und 1870 (ebd.). Eine Kurzdarstcllung der Bewegungen außerhalb Zürichs und eine vergleichende Betrachtung finde t sic h ebd. , S . 147-154. 56 Den Begrif f verwendete al s erster Gilg , S . 24. Eine weitergehend e Definitio n de s Begriff s der »Volksbewegung « al s affektiv e Beteiligun g eine r überdurchschnittlic h hohe n Anzah l vo n Stimmbürgern eine r Regio n ode r eine s Kanton s a n de n politische n Auseinandersetzunge n de r 1860er Jahre liefert e Schaffner , Di e Demokratisch e Bewegung , S . 25f . 57 Zur Geschichte der Volksrechte siehe die Darstellunge n aus dem 19. Jahrhundert von Curti, und Vogt . In einigen Kantone n de r welschen Schwei z bestanden dagege n scho n wesentlich länge r direktdemokratische Partizipationsrechtc : Di e Waad t kannt e da s Gesetzesreferendu m un d di e Gesetzesinitiative sei t 1845, das Wallis verankerte 1844 bzw. 1852 das Gesetzesreferendum, un d i n Neuenburg gal t sei t 1858 das obligatorisch e Referendu m fü r Finanz - un d Kirchenangelegen heiten. Dies e »Sonderentwicklung « de r französische n Schwei z hatt e sich mi t de r extreme n Aus formung de s welschen Radikalismu s i n den dreißiger un d vierziger Jahren angedeutet . Sieh e daz u von Greyerz, S. 1056ff . Di e welsche Schwei z war entsprechen d schwac h vo n der Demokratische n Bewegung berührt , dies galt natürlich ebens o für di e von der Demokratischen Bewegun g als Vorbilder zitierten altdemokratische n Landsgemeindekanton e de r Innerschweiz .

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arbeitersohns un d Junglehrers Johann Jakob Treichle r engagier t gewesen. 58 Treichler hatte im März 1846 ein politisches Programm mit dem Titel »Was wir wollen«59 publiziert, dessen Kern forde rungen auch später von den Demokraten propagiert wurden; seine Reformbewegun g de r vierziger un d fünfzige r Jahr e gilt deshalb als »protodemokratischer«60 Vorläufer der Demokratischen Bewe gung. Nebe n dem direktdemokratischen Umba u des liberalen Repräsentativ systems61 sah Treichler umfassende Sozialreformen zu r Verbesserung der sozialen Lage des Mittelstands, aber auch der Arbeiterschaft vor.62 So trat er erstmals für die gesetzliche Verankerung des Arbeiterschutzes ein. Kurzfristig war seiner Reforminitiative beachtlicher politischer Erfolg beschieden: Bei den Großratswahlen vo n 1854 erzielten di e »Sozialdemokraten«, wi e di e Oppositionelle n um Treichle r nu n genann t wurden, ei n Ergebni s von 15 Sitzen.63 Dennoc h blieben si e mi t knap p ach t Prozen t nu r ein e Splittergruppierung , di e breit e 58 Siehe zu r Geschicht e de r »sociale n Bewegung « di e einschlägig e Darstellun g vo n Wirth , Treichler, dari n zu r Perso n S . 68ff.. sowie Scheurer , S . 765ff . Zu r personelle n Kontinuitä t beide r Bewegungen vgl . Wirth, Protodemokratische Bewegung , S . 145-147. 59 Zu seine n programmatische n Schrifte n vo n 1846 und 1851, die die konsequent e Verwirk lichung von Volkssouveränität un d Gleichheit zu m Zie l hatten , siehe Treichler, S. 319ff., sowie di e Darstellung be i Wirth , Treichler , S . 84-107. Treichler (1822-1906) war z u diese m Zeitpunk t bereits als Gründer des Züricher »Gegenseitigen Hülfs - und Bildungsvereins « bekann t geworden . Dieser Verein , de r auße r Handwerker n un d Selbständige n rasc h Zulau f au s de r Fabrikarbeiter schaft erhielt, gilt in der Historiographie als die erste sozialistische oder sozialdemokratische Parte i der Schweiz . Zu r Vereinsgeschicht e sieh e ebd. , S . 118-131; seine Interpretatio n al s »Partei « be i Grüner, Arbeiter, S . 443. 60 In diesem Sin n interpretier t von Wirth , Protodemokratische Bewegung , S . 145ff . Treichle r selbst beanspruchte i n seinen »Autobiographischen Notizen « vo n 1902 die geistige Urheberschaf t für die demokratische Verfassungsrevision vo n 1869. Von den insgesamt 27 Forderungen, die er in seinen programmatische n Schrifte n 1846 und 1851 aufführte, realisiert e di e neu e Kantonsverfas sung immerhin 17. Treichler kündigte diese geistige Vaterschaft i n den Verfassungsverhandlunge n von 1869jedoch auf, inde m er nun wegen der politischen Unreif e des Volkes massiven Widerstand gegen di e Einführung direktdemokratische r Institutione n leistete . Siehe daz u Wirth , Treichler, S . 252, sowie die vergleichende Auflistung de r Treichlerschen Postulat c un d der Kantonsverfassun g von 1869 (S. 249). 61 So vertrat Treichler zunächst das Vetorecht, später propagierte e r die Gesetzes- und Verfassungsinitiative. Darübe r hinau s sollten indirekt e Wahlen generel l abgeschafft , Fallite n nich t ihre s Wahlrechts beraubt un d Parlamentarie r durc h da s Stimmvolk abwählba r werden . 62 Neben eine m verbesserte n Bildungssysten i tra t e r fü r di e Gründun g eine s staatliche n Kreditinstituts sowie eine Reform des Steuerrechts ein, um vor allem den Mittelstan d z u entlasten. Darüber hinau s versprac h e r sic h vo n de r Einrichtun g staatlic h subventionierte r Selbsthilf e projekte, wie Sozialwerkstätten, Warenhallen un d Produktionsgenossenschaften , ein e wesentlich e Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft. Sein e Näh e z u den Idee n des französischen Sozialiste n Louis Blanc und der »republique sociale« ist unverkennbar. Wirth weist jedoch au f die individuell e Verbindung von direktdemokratischen un d sozialen Postulate n bei Treichler hin , die ihn »als ersten autochthonen deutschschweizerische n Sozialisten « ausweist . Sieh e ders. , Treichler, S . 117. 63 Dieses Ergebnis beruhte nicht zuletzt auf dem breite n Net z von vierzig Konsumgenossen schaften, die sich nach dem Vorbild des von Treichler mitinitiierten Züriche r Konsumvereine s von 1851 auf der Landschaf t gegründe t hatte n un d di e organisatorisch e Plattfor m fü r de n Großrats Wahlkampf von 1854 bildeten. Zu de n Züricher Konsumvereine n sieh e Heeb, S. 19ff. , S . 83ff.

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Unterstützung de r Bevölkerung fehlt e ihnen . Zudem hatte die »sociale Bewe gung« mit diesem Wahlergebnis ihre n Zenit erreicht; es setzte eine rückläufig e Entwicklung ein . Spätesten s de r Eintrit t Treichler s i n de n Züriche r Regie rungsrat 1856 signalisierte sein e Anpassung a n das vormals verhasste »Syste m Escher«. Aus diesem politischen Umfel d stammte n neben Sieber und Zangger als der prominenteste unte r ihnen Kar l Bürkli, 64 de r bis zur Abspaltung eine r eigene n Züricher Arbeiterpartei 1878 den linken Flügel der Demokraten repräsentierte . Zu ihnen traten Salomon Bleuler-Hausherr , Herausgebe r de s demokratische n Blattes »Der Landbote«/0 sowie der Arzt Friedrich Scheuchzer au s Bülach, Verleger der »Bülach-Regensberger Wochen-Zeitung« 66 un d Leitfigur de r Demo kratischen Bewegun g de s agrarische n Züriche r Unterlandes . Al s führende r Demokrat de s industriell geprägte n Züriche r Oberland s is t Hartmann Utzin ger au s Wal d z u nennen , de r da s »Schweizerisch e Volksblat t vo m Bachtel « publizierte.67 Auffällig wa r demnach di e Präsenz der »Redaktoren«, di e in ganz anderer Weise als 1830 mit ihren Presseorganen di e Politisierung au f der Land64 Karl Bürkl i (1823-1901), Sohn eine r alte n Züriche r Patrizierfamilie , gil t heut e nebe n Treichler als einer der Väter der Züricher Arbeiterbewegung. Sieh e Gnmer, Arbeiter, S. 465. Als begeisterter Anhänger der Genossenschaftsideen von Charles Founer gründete er 1851 zusammen mit Treichler den Züricher Konsumverein. Nach dem Wahlsieg von 1854 wanderte Bürkli nac h Texas aus, um dort eine sozialistische Großkommune aufzubauen. Nach seiner Rückkehr spielte er in der Demokratischen Beweeun e als Repräsentant der Stadt Zürich eine bedeutende Rolle. 65 Der »Landbote« sollte eine vergleichbar wichtige Roll e in der Demokratischen Bewegun g spielen wie der »Schweizerische Republikaner« während der Regeneration. Allerdings unterstützte bis End e 1854 das Blat t zunächs t di e liberal e Regierun g unte r Esche r gege n Treichler s sozial e Bewegung. Erst durch die Übernahme der Redaktion durch den früheren Pfarrer Salomon Bleuler 1861 änderte sich die Ausrichtung des Landboten entscheidend, wobei Bleuler selbst während der Verfassungsrevision vo n 1865 noch eine sehr gemäßigte Position vertrat. Nac h 1866 trat er aber entschieden fü r direktdemokratisch e Recht e un d sozialpolitisch e Reforme n ein , de r Landbot e avancierte zur Leitstelle der demokratischen Revisionisten . Siehe zu Bleuler die Biographie seines Mitstreiters Scheuchzer, sowie zur weiteren Entwicklung des »Landboten« Renschier, S. 199ff. 66 Die »Bülach-Regensberger Wochenzeitung«, 1849 gegründet und 1872 in »Bülach-Diels dorfer Wochen-Zeitung« umbenannt, fungierte bis 186() in erster Linie als ländliches Nachrichtcn blatt. Mit der Übernahme durch Scheuchzer, einen Vetter Gottfried Kellers , bekam das Blatt seit 1859 eine reformorientiert e Ausrichtun g un d wurd e wichtigste r Verbündete r de s »Landboten « während der Demokratischen Bewegung . Das Hauptaugenmerk blieb auch langfristig immer auf die Interesse n de r bäuerlich-handwerkliche n Kliente l de s Züricher Unterlande s gerichtet , nu r kurzzeitig öffnete man sich den Belangen der Arbeiterschaft. Vgl. Renschier, S. 203ff. 67 Siehe Schaffner, Demokratisch e Bewegung , S . 31. Das 1860 gegründete »Volksblatt« unte r Hartmann Utzinge r vertrat als typisches Landblatt wie auch die »Bülach-Regensberger Wochenzeitung« einen antizcntralistischen, gegen die Hauptstadt Zürich gerichteten Standpunkt . Dane ben beschäftigt e sic h Utzinger s Blat t ausführlic h mi t der Lag e der Fabrikarbeiterschaft , wi e e s angesichts der industrialisierten Landgemeinde n de s Züricher Oberlandes kaum anders denkbar war. Wie die meisten demokratischen Führer wandte sich Utzinger scharf gegen die Heranbildung eines proletarischen Klassenbewusstsein s der Arbeiter. Statt dessen plädierte er für das genossenschaftliche Selbsthilfeprinzi p al s Möglichkeit, di e Arbeiterschaft i n eine klassenlos e bürgerlich e Mittelstandsgesellschaft z u integrieren. Vgl. ebd., S. 206ff.

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schaft beförderten . Auc h di e andere n Mitgliede r de r demokratische n Führungselite zählte n ihrem beruflichen Herkomme n nac h mehrheitlich zu r ländlichen »bourgeoisi e de s talents« von Lehrern , Ärzten, Veterinären, Kom munalpolitikern un d Pfarrern. 68 Der überragend e politisch e Einflus s de s ländliche n Pressewesens , z u de m neben den drei genannten Zeitungen noch eine ganze Reihe weiterer Regional und Lokalzeitungen gehörte, zeigte sich bereits im Herbst 1862. Nachdem man allgemeine Missstände in der Bezirksverwaltung publik gemacht hatte, wuchs der öffentlich e Druc k au f die liberal e Regierun g dermaßen , das s sie sich i m Frühjahr 1863 für eine Partialrevision der Verfassung entschied. Es wurde ein Fragenkatalog an die Bezirksstatthalter verschickt, mit der Aufforderung, auc h die Meinung der Gemeinderäte z u den aufgeworfenen Revisionsvorschläge n einzuholen.69 Die Resonanz auf das Rundschreiben fiel unerwarte t star k aus, nicht nur die Gemeindevorgesetzten, sondern auch die Presse und viele Bürger selbst nahmen die Reformfragen au f Allei n während der Monate Februar und März 1863 wurden 30 öffentliche Versammlungen anberaumt, um den Fragenkatalog zu diskutieren. Als Organisatoren der Revisionszusammenkünfte tra ten auße r de n Gemeinderäte n nu n Lesegesellschaften , Landwirtschaftlich e und Gewerbevereine , Gemeindeverein e un d Gemeinnützig e Gesellschafte n hervor.70 Hie r deutet e sic h nebe n de m Pressewese n ei n zweite r markante r Unterschied zu r Regenerationsbewegun g vo n 1830 an: ein e nunmeh r wei t aufgefächerte Vereinskultur , die anders als in den zwanziger Jahren nich t nu r der Sammlun g de r (ländlich-liberalen ) Führungskräft e diente , sonder n de r breiten Mobilisierung , wi e sic h i n de r Hochphas e de r Demokratische n Be wegung 1867/69 zeigen sollte . Z u diese m Zeitpunk t noc h vergleichsweis e bescheiden besuchten etwa 2000 Stimmberechtigte - »Männer aus allen Ständen«, wie es in der Presse hieß71 - die Versammlungen, die sich auf Zürich und den Züricher See, Winterthur und das Züricher Oberland konzentrierten. 72 68 Erstaunlicherweise existiert m. W. keine prosopograhische Untersuchung der demokratischen Elite. Die wenige Literatur zur Demokratischen Bewegung bzw. ihres Vorläufers in Zürich von F. Wirth, M. Schaffner, P . Gilg und, als jüngste Publikation , Decurtins, S. 293-305, beschränkt sich auf allgemein gehaltene Hinweise. 69 Das Rundschreiben enthielt die Fragen, ob eine Totalrevision vorgenommen werden sollte, ob di e Kreisgericht e un d di e indirekt e übe r Wahlmänne r vorgenommen e Wah l de r Bezirks beamten beseitig t werde n sollten , o b die Gewerb e (einschließlic h de r Metzge r un d Tavernen ) freizugeben seie n und schließlich, welche Abänderungen in Hinsich t auf das Gemeindewesen in Vorschlag gebracht würden. Vgl. Schaffner, Demokratisch e Bewegung, S. 34. 70 Beispielsweise die Sonntagsgesellschaften von Wald und Fischenthal, die Lescgesell Schaften von PfäfFikon, Trüllikon und Einbrach, der Landwirtschaftliche Verein von Hinwil , die Gemeindevereine im Furtthal, der Zunftverein Schöfflistorf, di e Gemeinnützige Gesellschaft Wipkingen, der Gewerbevcrcin Zürich usw. , siehe ebd., S. 32. 71 Oder auch: » Leute aus allen Kreisen« , »alle Klassen«, zitiert nach: ebd., S. 30, S. 44. 72 Siehe die graphische Darstellung ebd., S. 76, Anhang I, Karte 1 »Die geographische Verbreitung der Revisionsversammlungen im Frühjahr 1863«.

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Überall wurde die Gelegenheit genutzt, um die Traktandenliste der Regierung durch andere Forderungen zu erweitern. Zwei thematische Schwerpunkte zeichneten sich ab: die Abwehr eines Verwaltungszentralismus bei gleichzeitigem Ausba u de r gemeindliche n Autonomierecht e un d di e Einforderun g finanz- un d sozialpolitische r Maßnahmen , di e beispielsweis e übe r steuer politische Reforme n ein e Umverteilun g der Lasten zum Ziel hatten . Direktdemokratische Postulat c nahme n s o gut wi e überhaup t keine n Rau m ein . Gefordert wurde neben dem bestehenden Verfassungsreferendum di e Verfassungsinitiative, wonach auf Begehren von 8000 Stimmbürgern die Frage einer Verfassungsrcvision zu r Volksabstimmung gelangen musste. Jene Volksrechte, die später zum Signum der Demokratischen Bewegun g werden sollten, standen dagegen nicht zur Diskussion: das Gesetzesreferendum, das entweder »obligatorisch« alle verabschiedeten Gesetze der Volksabstimmung unterwarf oder »fakultativ«, d. h. auf Begehren der Stimmbürger, nur bestimmte Gesetze einer Volksabstimmung unterzog , sowie die Gesetzesinitiative, wonach auf Verlangen einer festgesetzten Zah l an Stimmbürgern ein entweder von ihnen selbst oder auf ihre Anregung hin vom Parlament erarbeiteter Gesetzesentwurf zur Volksabstimmung gebracht werden musste. Auffällig war auch, dass nur wenige für das Gesetzesveto eintraten, das doch während des Züri-Putsches im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gestande n hatte. Tatsächlich wurde in dieser Phase das Repräsentativsystem selbst nicht in Frage gestellt, sondern seine vollständige Verwirklichung angestrebt. Das zeigte sich in der Forderung, die letzten Überbleibsel der indirekten Großratswahlen - noch immer konnten zwölf Abgeordnete vom Großen Ra t bestimmt werden, selbs t wenn dies e i n ihre n Wahlkreisen durchgefallen waren - endgültig abzuschaffen . Die schließlich offiziel l vo m Regierungsra t präsentiert e Revisionsvorlage 73 reflektierte i n erster Linie das Bestreben, grundlegende Strukturreformen au f den nachgeordneten Verwaltungsebenen von Bezirk und Gemeinde durchzuführen. Die Kritik an der Bczirksverwaltung sollte durch eine Ausdehnung der Partizipationsrechte au f der Gemeinde- und Bezirksebene befriedigt werden . Die Vorlage enthielt deshalb die Volkswahl de s Gemeindcammanns, des frü heren Untervogts , sowi e de r Bezirksbeamte n un d di e Abschaffung de r un geliebten Kreisgerichte . Daneben sollten mit der Einführung der Einwohnergemeinde die Gemeinden zu staatlichen Gebietskörperschaften gemach t wer73 Die Partialrevisio n de r Verfassun g sa h insgesam t vor : 1. Einführung de r Einwohner gemeinde mit besonderen Garantien fü r die Bürger bei der Vertretung in den Behörden und für di e Verwaltung de r Bürgergüter ; 2. Gleichstellung de r Kantons - und Schweizerbürger fü r alle staats bürgerlichen Rechte ; 3. Direkte Wahl de s Gemeindeammanns: 4. Trennung de s Pfarramte s vo n dem de s Schulpflegepräsidentcn ; 5. Einführung vo n Handelsgerichten ; 6. Abschaffung de r Be zirkswahlversammlungen un d Einführun g de r direkten Wahl fü r di e Statthalter, Bezirksrät e un d Bezirksrichter; 7. Einführung de r Verfassungsinitiative (10.00 0 Stimmberechtigte) . Sieh e Sträuli , S. 23ff .

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den, ei n überau s folgenschwerer Schritt , wie sic h später herausstelle n sollte . Aufgenommen wurd e zude m di e Verfassungsinitiative, di e drei Jahre späte r den Weg in die demokratische Totalrevision ebnete. Die erhofft e Beruhigun g tra t jedoch - trotz der massiven Ausweitung der kommunalen Autonomierecht e - nach de r Abstimmun g i m Oktobe r 1865 nicht ein . Offensichtlic h hatt e ma n da s Krisenpotential , da s aus de r Elimi nierung der politischen Grundlage der tradierten Gemeindebürgergesellschaf t entstand, unterschätzt . Daz u traten Faktoren , die die Erfahrung de r soziale n Deprivation großer Bevölkerungsteile verstärkten. Nach 1863 wurden die Auswirkungen einer schweren Agrarkrise und Industrierezession immer spürbarer, die durc h eine n neuen populistische n Journalismus aufgegriffe n wurden . In schillernden Farbe n stellte man der drohenden Verarmung der Kantonsmehrheit Reichtum , Habgie r un d Korruptio n de r liberale n Führungselit e gegen über. In dieser Situation bot sich - als weiterer Katalysator der oppositionellen Formierung - mit de r demokratische n Politikergard e ei n alternative r Füh rungstrossan. 4.2.2. Das Schreckgespenst der Deprivation: Wirtschaftskrise und populistischer Journalismus Die Krise der Züricher Wirtschaft (1865/67). Betroffen vo n der Rezession, die in den Jahren 1865 bis 1867 einen Höhepunkt erreichte, waren in erster Linie die bäuerliche un d kleingewerblich e Bevölkerun g wi e auc h di e Textilarbei terschaft. Da s quantitative Ausma ß der Miser e wir d deutlic h angesicht s de r Tatsache, dass zwischen 1860 und 1870 etwa 35% der Erwerbstätige n i n der Landwirtschaft, 18% im Gewerbe und um die 30% in der verlags- und fabrik industriellen Produktion ihr Auskommen fanden, d. h. allein in Landwirtschaft und Industri e (ohn e Gewerbe ) konzentrierte n sic h 60% der erwerbstätige n Bevölkerung.74 Bauern un d Gewerbetreibend e sahe n sic h insbesonder e mi t Begin n de s Eisenbahnbooms in den fünfziger Jahren mit einem gewandelten Investitionsverhalten konfrontiert . A n die Stell e de s Privatgläubiger s trate n zunehmen d

74 Diese Angaben stammen aus den Volkszählungen von 1860 und 1870. Neben dem Primärsektor mit 34,5% der Erwerbstätigen wurden Industrie und Gewerbe zusammen als Sekundärsektor angesprochen, so dass ihr Anteil an der aktiven Bevölkerun g 48,2% (1860) bzw. 48,5% (1870) ausmachte. Die gesonderte Sparte der »Fabrik- und Manufakturgewerbe« wies einen relativen Beschäftigungsanteil von 29,5% (1860) bzw. 29% (1870) auf. Trotz insgesamt abnehmender Bedeutung bewegte sich der Beschäftigungsanteil im Agrarsektor selbst in den industrialisierten östlichen Kantonsgegenden um rund 30%. Siehe die tabellarische Auflistung bei Schaffner, Demokratische Bewegung, S. 88f., Tab. 1 und Tab. 2.

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Banken mi t andersgeartete n Zahlungsmodalitäten. 73 Zude m ga b es statt de r vertrauten grundversicherten Schuldbrief e nun neue profitablere Anlagemög lichkeitcn i n der Industri e un d dem Verkehrswesen; Staatspapiere , Bankobli gationen un d Eisenbahnaktie n verdrängte n da s Hypothekarwesen au s seiner traditionell dominante n Stellun g au f de m Kapitalmarkt . Darübe r hinau s verteuerte de r erhöht e Investitionsbedar f de r inländische n Eisenbahngesell schaften un d Industrieunternehme n zwangsläufi g di e Kredite. 7^ Die sinkende Lukrativität hypothekarische r Kredit e be i gleichzeiti g steigende m Zinsfu ß machte zwische n 1860 und 1866 das der Landwirtschaf t zufließend e Kapita l daher immer knapper und teurer. Verschärfend ka m ein ab 1861 einsetzender Preisverfall des Getreides durch Importe aus Deutschland und Osteuropa hinzu, die infolg e de s forciert ausgebaute n Eisenbahnnetze s un d strikte n Agrar freihandels de n Binnenmarkt überschwemmten. 77 Mochte n sic h die Weizenpreise u m di e Mitt e de s Jahrzehnts auc h wiede r stabilisieren , konnte n di e Landwirte aufgrund von wetterbedingten Missernten in den Jahren 1865-1867 selbst daraus keinen entscheidenden Nutze n ziehen. 78 Insgesamt ergaben sich so sieben Jahre sinkender Roherträge bei steigenden Hypothekarzinsen, in deren Folge viele der hochverschuldetcn Kleinbauer n i n eine schwere Existenzkrise gerieten. Auch die Züricher Textilindustrie als führender Industriesekto r befand sich infolge de s nordamerikanische n Sezessionskriege s mi t Begin n de r sechzige r Jahre i n eine r wechselhaften , krisengeschüttelte n Periode . Betroffe n ware n insbesondere di e Seidenfabrikatio n al s wichtigste r Beschäftigungszweig , i n dem rund 16% aller Erwerbstätigen noch vorwiegend i m Verlagssystem arbeiteten, sowie die Baumwollindustrie, i n der rund 6% der aktiven Bevölkerun g vor alle m i n Fabrikproduktio n ihre n Loh n verdienten. 79 Al s erste gerie t di e Baumwollbranche i n eine schwere Absatzkrise. Nachdem di e Rohstoffpreis e infolge der kriegsbedingten Baumwollverknappung zunächst sprunghaft angestiegen waren, fielen sie mit Beendigung des nordamerikanischen Bürgerkrie 75 »Es ist im Allgemeinen eine Thatsache, dass Privatleute ihr Geld lieber Bankinstituten anvertrauen, gleichvie l ob solche ... dasselbe unmittelbar, aber auf eigene Gefah r und unte r Mehr bezug von einem halben bis zu einem ganzen Procent Zins an die einzelnen Grundbesitzer wieder ausleihen, al s dass sie direetc mit diesen verkehren«, Gottfried Farner , Das Zürcherische Bodenkreditwesen unte r den Anforderungen der Gegenwart, Zürich 1863, zitiert nach: ebd., S. 190. 76 Außerdem hatten viel e Landwirte , in Erwartun g einer ähnlic h günstige n Zins- un d Ein kommcnslage wi e i n de n 1850e r Jahren weitere s Lan d gekauft. Si e saße n nu n überschulde t auf überteuert gekauftem Land und vermochten angesichts einer rückläufigen Ertragsentwicklungdie wachsende Zinslast nicht abzutragen. 77 Vgl. Übersich t Weizenpreis e 1845-1864, S. 156 f Ein e ausführlich e Darstellun g liefer t zudem Schaffner, Demokratisch e Bewegung, S. 102ff . 78 »Die hohen Getreidepreise des heurigen Jahres vermögen den Minderertra g an Frucht in keiner Weise auszuwiegen«, Bericht des Vereins für Landwirtschaf t 1866, S. 221-225. 79 Statistik der Berufsarte n 1870, S. 76.

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ges 1865 in sich zusammen, was zu massiven Exporteinbrüche n führte . Lau t des Geschäftsbericht s de s Eidgenössische n Handels - un d Zolldepartement s von 1867 kam es zu einem »beinah e gänzlichen Stillstand « i n der Baumwoll industrie, wofür das »fortwährende Sinke n der Baumwollpreise und der damit verbundene Mangel an Absatz zu lohnenden Preisen« wie auch die stete Ungewissheit der zukünftigen Entwicklun g verantwortlich gemach t wurden. 80Die Seidenindustrie, die zunächst einen gewissen Vorteil aus der kurzfristigen Verteuerung der konkurrierenden Baumwollprodukte zu ziehen vermochte, hatte seit 1864 mit de r nu n umgekehr t einsetzende n Verbilligun g de r Baumwoll waren be i gleichzeiti g steigende n Rohstoffpreise n fü r Seid e z u kämpfen . I n dem kurze n Zeitrau m zwische n 1863 und 1869 fiel da s Exportvolume n de r Seidenindustrie um mehr als die Hälfte.81 Diese konjunkturellen Rückschläg e der beiden wichtigsten Industrie - und Exportzweige der Züricher Wirtschaf t schlugen auf die Beschäftigungslage de r Heim- und Fabrikarbeiter durch. Der Züricher Regierungsrat vermerkte bereits für das Jahr 1864 in seinem Rechenschaftsbericht: »De r Druc k ... auf unsere Baumwoll - un d Seidenindustri e ... bestand fort, hemmt die industriellen Gewerbe und Unternehmungen, brachte in einzelnen derselben etwelche Stockung und veranlasste hie und da verminderte Beschäftigung der Arbeiter oder theilweise Entlassung derselben.« 82 Arbeitslosigkeit ode r Kurzarbeit bestimmten da s Bild. 83 Zusätzlich wurde n die Haushalte der Fabrik- und Heimarbeiter durch steigende Nahrungsmittelpreise belastet. Das galt vor allem fü r die Grundnahrungsmittel. S o stieg beispielsweise in den Jahren 1866/67 der Brotpreis um 28%, der Kartoffelpreis um 63%; seit dem Spätsommer 1867 schössen zudem die Preise für Butter und Eier in die Höhe. 84 Weite Teile der industriell Beschäftigten ohn e agrarische Selbst80 Zitiert nach: SBB , Jg. XX (1868), Bd. 2, S. 183, S. 193. 81 Der jährliche Exportumsatz der Seidenindustrie betrug 1863 1.442.214 Pfund, während das Jahr 1869 nur ein Total von 583.786 Pfund aufwies. Siehe zudem die enormen Schwankungen des Seiden-Exportvolumens i n Prozen t gegenübe r de m Vorjahr : 1864 (-)77,2%; 1865 (-)14,1%; 1866(-)6%; 1867 (-) 20,2% ; 1868(+) 10,2%; 186 9 (-)38,6%, zitiert nach: Schaffner, Demokratische Bewegung, S. 111, Tab. 6. 82 Rechenschaftsbericht 1864, S. 48. 83 Die Schweizerische Handelszeitun g berichtete seit 1863 immer wiede r übe r Fabrikstille gungen in der Seidenindustrie: »Die Nothwcndigkeit einer Einschränkung der Arbeit hat sich noch stärker fühlbar gemacht« (Oktober 1864), »die Fabrication reduciert ihre Thätigkcit immer mehr « (März 1865), »die hiesige Fabrikthätigkeit wurde imme r geringer« (Juni 1866). Im Juni 1867 widmete sic h di e demokratisch e Zeitun g »De r Unabhängige « de r wachsende n Pauperisierun g de r Tcxtilarbeitcrschaft: »Di e Folgen der Stockungen in unsern zwei hauptsächlichsten Fabrikationszweigen konnte n auch die durch sie beschäftigten Arbeite r nicht unberührt lassen. Zuerst in de r Baumwollindustric und später im Seidengewerbe mussten ihrer Viele entlassen werden. Sie waren genöthigt, andere Beschäftigung zu suchen, und wenn sie solche bei der grossen Zahl der feiernden Arbeitskräfte nich t fanden, aus den Ersparnissen der frühem Tag e leben, oder mit Not h un d Armut kämpfen« , zitiert nach: Schaffner, Demokratisch e Bewegung, S. 117ff. 84 Bertschinger, S. 125ff. , sowi e fü r die Gesamtschweiz Grüner, Arbeiter, S. 32, Tab. 11.

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versorgiingsmöglichkcit geriete n daher wegen der sinkenden Einkommen bei steigenden Lebenshaltungskoste n i n arge Bedrängnis. Einblick in die sozialen Folgen der Rezession gewährt die Statistik der wegen Zahlungsunfähigkeit eröffnete n Verfahre n des Züricher Obergerichts aus den sechziger Jahren.85 Nach einer steten Aufwärtsbewegung sei t 1859 schnellte die Zahl de r gegen Schuldne r geführte n Prozess e von 268 im Jahr 1864 auf 430 Verfahren im Jahr 1865; ein zweiter Schub wird 1867 mit insgesamt 675 aktenkundigen Fällen , i m Vergleic h z u 449 ein Jahr zuvor , deutlic h ablesbar . De r Höhepunkt der Krise fiel nac h der Gerichtsstatistik i n das folgende Jahr 1868, während Landwirtschaf t un d Industri e bereit s eine erst e Erholungsphas e er fuhren. Di e Höchstrat e vo n übe r 6000 eröffneten un d 689 durchgeführten Verfahren reflektierte mit einer natürlichen zeitlichen Verzögerung das Krisenjahr 1867, als die Textilfabrikation gan z besonders unter Absatzschwierigkeiten und die Landwirtschaft unter der zweiten Misserntc litten. Dabei konzentrierte sich die Konkursdichte 1865/67 keineswegs auf bestimmte Regionen , alle Gebiete des Kantons waren ausnahmslos von der doppelten Kris e gleichermaßen betroffen.86 Eine Aufschlüsselung der betroffenen Berufsgruppen 87 für die Jahre 1867 bis 1869 bestätigt, das s in erster Lini e Handwerker , di e bis zu einem Dritte l de r sogenannten Konkursite n stellten, und Bauern, die im Jahr 1868 mit maximal 25,4% etwa ein Viertel der Falliten ausmachten, sowie Wirte und andere kleinere Gewerbetreibende mit durchschnittlich 15% zu den Hauptopfern der Krise zählten. Nahezu drei Viertel aller in Zahlungsunfähigkeit geratene n Personen rekrutierten sich demnach aus dem bäuerlichen und gewerblichen Klein- bzw. Mittelstand. Fabrikarbeiter , Tagelöhner , Dienstbote n un d Geselle n gehörte n ebenfalls z u den Verlierern. Ih r Anteil a n den Schuldner n la g zwischen 7,4% (1867) und 9,6% (1868). Tatsächlich muss die Zahl wie der Verelendungsgrad dieser Unterschichten weit höher eingeschätzt werden, da in den überwiegenden Fällen erst gar kein Verfahren eröffnet wurde . Auch auf seiten der Arbeitgeber, de r Fabrikante n un d Handelskaufleute , schlu g sic h di e Wirtschafts rezession nieder . Ih r prozentuale r Antei l a n de n Konkursite n schnellt e vo n 1867 bis 1869 um die Hälfte auf 7,1%.88 In absoluten Zahlen bildeten sie mit 27 Personen 1867, 36 Personen 1868 und 35 Konkursiten 1869 aber die kleinste Berufsgruppe. 85 Geschäftsberichte des Obergerichtes ab 1867: «Statistik der Rechtspflege de s Kantons Zürich«, abgedruckt in: Schaßher, Demokratische Bewegung , S. 124, Tab. 9. 86 Siehe ebd., S. 141f, Anhan g III »Die Anzahl der im Kanton Zürich von 1855-1869 durchgeführten Konkurs e nach Bezirken«. 87 Siehe ebd., S. 128f., Tab. 11 »Berufsverteilung der im Kanton Zürich in den Jahren 18671869 in Konkurs geratenen Personen« . 88 Einschränkend muss allerdings bemerkt werden, dass dieser relative Anstieg auch der Effekt insgesamt sinkender Konkurse im Jahr 1869 war.

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Vor diesem Hintergrund verstärkte sich der latente Unmut, der sich seit den fünfziger Jahren in breiten Teilen der Bevölkerung gegen die wirtschaftsliberale Führungselite um Alfred Escher gebildet hatte.89 Ihrer rücksichtslosen Interessenpolitik lastete man die Hauptverantwortung fü r die wirtschaftliche Miser e an. Als ambitionierte Verfechter einer exportorientierten Wirtschaft hatten diese industriebürgerliche n Kreis e beispielsweis e nich t nu r de n strikte n Agrar freihandel durchgesetzt , sonder n durc h den Ausbau de s privaten Eisenbahn netzes sei t 1852 zudem de n bäuerliche n Verlus t de s Entfernungsschutze s billigend i n Kauf genommen. Aber auch dem Kapitalrückzug aus Grund und Boden90 zugunste n vo n Eisenbahn - un d Aktiengesellschafte n wa r durc h di e Gründung der Schweizerischen Kreditanstal t im Jahre 1856 durch Escher tatkräftig zugearbeitet worden. »Die Demokratie der ehrlichen Leute« - die Pamphlete Friedrich Lochers. Das Gefühl wachsender Benachteiligung zugunsten weniger, das in breiten Bevölkerungsschichten de s Kanton s vorherrschte, wurd e zusätzlic h verstärk t durc h eine n neuen populistische n Journalismus. Unte r de m Reihentite l »Di e Freiherre n von Regensberg« 91 veröffentlichte de r Rechtsanwalt Friedrich Locher im April 1866 die erste von insgesam t siebe n Broschüren , di e unbestätigte n Angabe n Lochers zufolg e insgesam t ein e Auflag e vo n 30.000 Stück erreichten. 92 De r vierte Teil mit dem Titel »Der Prinzeps und sein Hof « rechnet e dezidiert mi t Alfred Esche r und seinen »Günstlingen« ab . Erneut begegnet man in Lochers Groteske Versatzstücke n de s republikanische n Tugenddiskurses , alle n vora n der Beschwörungjenes Krisenmoments, in dem die Tugendhaftigkeit un d Stabilität des republikanischen Staates durch die Herrschsucht und Habgier einer moralisch degenerierten Oligarchie ernsthaft gefährdet seien. Am Beispiel seines eigenen beruflichen Werdegang s illustrierte Loche r das ganze Ausmaß an Korruption und Vetternwirtschaft, wurde ihm doch im Jahre 1847 von Escher persönlich bei entsprechender Loyalität eine steile Beamtenkarriere in Aussicht 89 Im Rückblick meinte man zudem, an den materiellen Segnungen der vorgängigen Wachstumsphase, die 1852 die ganze Schweiz erfasst hatte, nur ungenügend partizipiert zu haben: »Während sich seit 10 bis 20Jahren eine Menge Industrieller emporgeschwungen hätten zu Millionären und noc h weiter ..., sind [es ] die Fabrikarbeite r ..., die je längcrj e ärmer werden«, Äußerung des Spinnerciarbeiters Jakob 1 luber aus Oberuster, zitiert nach: Geschichte des Kantons Zürich, S. 147. 90 Hier ist im besonderen das sogenannte Aufkündigungsgesetz von 1853 zu nennen, das den Eigentümern der bisher unkündbaren Hypotheken die rechtliche I landhabe gab, ihr Geld zurückzuziehen un d anderweitig zu investieren . Tatsächlich kam es danach z u eine r Welle von Kündi gungen grundversicherten Kapitals . 91 Locher, Freiherren. In zeitliche r Reihenfolg e erschienen Teil I: Einst. Di e Freiherre n der älteren Linie , Tei l II: Die Freiherre n de r Gegenwart , Ber n 1866, Teil III: Die Freiherre n vo r Schwurgericht, Teil IV. 1: Othello, der Justizmohr von Venedig, Teil IV. 2: Der Prinzeps und sein Hof, Ber n 1867, Teil V: Die Prozesshexe, Bern 1868, Teil VI: Die neuesten Freiherren, Bern 1869, Teil VII: Die kommunen Freiherren, Bern 1872. 92 Locher, Republikanische Wandclbilder, S. 370.

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gestellt. Ein Besuc h i n der bekannten Züriche r »Mittwochsgesellschaft« hab e ihm jedoch nu r z u bal d di e Konsequenze n eine r solche n Protektio n klar gemacht. Wie eine »Min ister ialsitzung«, auf der Escher seine »Direktiven« verteilt habe, sei die Vereinssitzung abgelaufen, so dass er seinen Freund Karl Walder gefrag t habe , o b si e »Republikane r ode r Leibeigene « seien. 93 Nachde m Locher als »Anwalt der kleinen Leute « einen Betrugsskandal i m Regensberger Waisenamt aufgedeckt hatte , sei es mit seiner staatlichen Karriere am Ende gewesen, während sich gleichzeitig Escher zum Oberrichter habe wählen lassen. Nach dem Motto Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!‹ sei auch mit anderen verfahren worden , die sich nicht mit dem »System Escher« arrangieren woll ten.94 Auf diese Weise hätten der »Prinzcps, das System und seine Creaturen« ihre Stellung zwanzi g Jahre lan g nac h jeder Richtun g z u »exploitieren « gewusst : »Bei jedem Beamte n de s Staates , sowohl al s der Nordostbahn , Creditanstal t und dere n Filiale n is t de r rot e Fade n gan z gena u nachzuweisen«. 95 Diese m Generalangriff au f Escher selbst gingen i m April 1866 kurz vor den Erneue rungswahlen de s Großen Rat s scharfe Attacken gegen eben jene »Creaturen « Eschers, »di e Freiherre n de r Gegenwart « (s o auch der Titel des Pamphlets)96 voraus, wo immer sie auch saßen, in den politischen Räten oder den kantonalen Verwaltungs- und Justizbehörden, den Verwaltungsräten de r Banken und Eisenbahngesellschaften oder den Redaktionsstuben. »Despotismus« und »Servi lität«, »Selbstsucht « un d »Geiergier«, mi t diesem Verdikt belastete Loche r die gesamte kantonale Führungsschicht . Eingehend beschäftigte sich Locher außerdem mit der (vermeintlichen) sittlichen Verwahrlosung der »Herren«. In seiner Schrift »Othello, der Justizmohr von Venedig « au s de m Herbs t 1867 versuchte e r etwa , de m Obergerichts präsidenten Ullme r nebe n diverse n Fälle n vo n Rechtsbeugun g mehrfache n Ehebruch nachzuweisen. Diese s Ausmaß an moralischer Verkommenheit wi dersprach nicht nur dem Bild des tugendhaften Republikaners, sondern musste auch bei einer strenggläubigen, pietistischen Leserschaf t fü r einige Aufregung sorgen. Locher ging es aber nicht nur um die Ächtung einer korrupten Plutokratie , sondern auch ihres autoritär-zentralistischen Führungsstils , wie er sich aus der engen Vernetzung der Staats- und Wirtschaftselite un d ihrer einseitigen Inte ressenpolitik entwickelt hatte. Das republikanische Staatsprinzip selbst, das sich 93 Locher, Freiherren, Teil IV. 2, S. 7 f. (De r Prinzep s und sein Hof) . 94 Während er , Locher , sic h nich t hatt e vereinnahme n lassen , nenn t e r hie r ausdrücklic h Treichler al s Gegenbeispiel , de r au f Eschers Weisung hi n schließlich , wie viel e ander e auch , durch »Staatsstellen « un d »einträglich e Pöstchen « etw a be i de r Nordostbah n - mit de m Sit z i m Regierungsrat neutralisier t worden sei, siehe ebd., S. 32. 95 Ebd., S. 29. 96 Locher, Freiherren, Teil II. (Die Freiherre n der Gegenwart) .

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nur in der uneigennützigen Selbstverwaltung der Bürger verwirklichte, schien zur Disposition zu stehen. Nicht von ungefähr griff Locher immer wieder auf Metaphern de r römischen Antike zurück, wenn e r dem »Prinzeps« Esche r an anderer Stelle »römische Cäsaren« 97 an die Seite stellte. Leidtragender diese r Entwicklun g wa r de r Mittelstand . »Di e Soliditä t de s Mittelstandes wurde an das Glücksrad des Aktienschwindels gebunden«, 98statt sich u m di e Belang e de r rechtschaffene n Bürge r z u kümmer n un d etw a i n Handel und Ackerbau zu investieren, habe man »in spanischen und türkischen Papierchens gemacht«. 99 Wo aber anders als in diesem Mittelstan d seie n »Tugendhaftigkeit« und »Rechtschaffenheit« verankert? Und was könnte das besser unter Bewei s stellen, al s die Tatsache, dass sein e Gesellschaftskriti k vo n de n höheren, gebildeten, aber »politisch blasierten Ständen« abgelehnt worden sei, während e r i n dem »kleine n Mittelstand « - dem Bauern , de m Handwerker , dem Arbeiter - einen »ungleich empfänglicheren Boden « vorgefunden habe. 100 Hier erwuch s der Gegenpo l z u den verhasste n »Systemlcrn« : »unabhängige , charakterfeste Ehrenmänner« galt es zu sammeln, »Patrioten« und »Republikaner« waren aufgerufen, di e »Demokratie der ehrlichen Leute « zu errichten. 101 Zu dieser Demokratie zählte Locher wie selbstverständlich auc h die Arbeiterschaft. Nebe n der grundlegenden personelle n Erneuerun g des Justizapparats, die ihm sicherlich aus beruflichen Gründen besonders am Herzen lag, und der Einrichtung einer Kantonalbank zugunsten bäuerlich-gewerblicher Belan ge, betonte Locher in »Der Prinzeps und sein Hof« ausdrücklich die Notwen digkeit, die soziale Lage der Arbeiterschaft zu verbessern. Die Gefahr des Kommunismus hiel t e r fü r ei n Hirngespinst ; di e Arbeiterschaft , s o Locher , se i gebildet un d »denk t nich t an s Teilen, sonder n an s Verdienen!« 102 Mi t diese r Einschätzung entsprach Locher dem Mainstream der führenden Demokraten , die auf die Integration der Arbeiterschaft i n das zu reformierende demokrati sche System setzten. Folglich ordnete Locher auch die Arbeiter dem »kleine n Mittelstand« zu. Es war demnach kein klassenkämpferischer Impetus , der sich in den von ih m so häufig benutzte n Schlagwörter n de r »neue n Herren« , de r 97 »Die Entfernun g vo m Meridia n de r Cäsaren« se i nich t meh r groß , wo wie i n Zürich »da s offizielle Staatsjourna l fü r die Sklaverei Parthc i nehme n darf , wo mi t den fü r ›Handc l un d Acker bau bestimmte n Kapitalie n i n spanischen un d türkische n Papierchen s gemach t wird , wo die hei lige Justizia anstat t der Bind e eine Brill e trägt , durch welch e si e aus den Gesetzestafel n di e sakra mentalen Worte : ›Gibs t d u mi r c n Wurst, s o lösch ic h di r den Durst ‹ herausdifielt« , ebd. , S . 178. Auch die Anleihe bei Shakespeare, die in die venezianische Stadtrepublik de r Renaissance zurück führte, reflektiert e - ähnlich wie der Rückgriff auf die Antike - eine bestimmte Traditionslinie de s klassischen Republikanismus . 98 Locher, Freiherren, Teil VI , S. 6 (Die neueste n Freiherren) . 99 Locher, Freiherren, Tei l II, S. 178 (Die Freiherre n de r Gegenwart) . KX) Locher , Freiherren, Tei l IV.2 , S. 34 (Der Prinzep s un d sei n Hof) · 101 Locher, Freiherren, Tei l III, S. 167 (Die Freiherre n vo r Schwurgericht) . 102 Locher, Freiherren, Teil IV.2 , S. 52f. (De r Prinzep s un d sei n Hof) .

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»Aristokratie der Bundesbarone und Oligarchien«, der »Geldprotzen« Ausdruck verschaffte. Locher griff vielmehr auf traditionell gebräuchliche Kampfbegriff e zurück. Gerad e da s Stigm a de s »Neuherrentums« bezo g seine Kraf t au s den überlieferten Oppositionsbewegunge n gege n die »Alten Herren « de s Ancien regime. Diese r Rekur s au f überkommen e Konfliktmuste r zeigt e sic h schließlich auc h in Locher s Wiederaufnahme de r Figuren Wilhelm Teils bzw. Arnold von Winkelrieds. 103 Dies e beiden Idol e eidgenössischen Freiheitsstre bens erwartete i n Lochers Szenario der Züricher Zustände im Jahre 1867 ein Prozess wegen »Insubordination un d Meuterei«.104 Locher zeichnete so ein Zukunftsbild, in dem der Mittelstand eliminiert und eine vollständige Durchherrschungder Gesellschaft durch das korrupte »Neuherrentum« Plat z greifen würde . E r traf damit di e Ängste de r von der Wirtschaftskrise besonder s betroffenen Bevölkerungsschichten . Diese r Masse von Unzufriedenen liefert e e r eine erneut traditionel l eingefärbt e Kampfrhetorik , die von der demokratischen Presse und auf den Volksversammlungen des Jahres 1868 ausgiebig verwendet wurde. Auch seine politischen Gegner sahen deshalb in Lochers Enthüllungsjournalismus einen wichtigen Antriebsmotor fü r die demokratische Revisionsbewegung. 1“5 4.2.3. Vom »exklusiven Gemeindebürger« zum »deklassierten Kleinbürger«: Die Auflösung der traditionellen politischen Gemeindebürgergesellschaf t Der letzt e un d entscheidend e Impul s zu r Entstehun g de r demokratische n Volksbewegung ging von der liberalen Gemeindegesetzgebun g aus . 1866 trat ein Gemeindegesetz in Kraft, das mit der Einführung der politischen Einwohnergemeinde di e politisch e Grundlag e de r traditionelle n Gemcindebürger gesellschaft zerstörte . Es setzte damit de n Schlusspunkt hinte r eine Entwick lung, di e bi s i n di e Helvetisch e Republi k vo n 1798 zurückreichte, al s ma n erstmals mi t de r Einführun g vo n Munizipalgemeinde n versuch t hatte , da s Gemeindewesen z u vereinheitlichen . Diese r Vorstoß war jedoch kläglic h a n dem Widerstand der überkommenen Bürgergemeinden gescheitert, die sich in politischer un d materielle r Hinsich t bedroh t fühlten . Zwe i Problemkreis e 103 Arnold von Winkelried gilt als der Held der Schlacht von Scmpach (1386), der durch seine Opferbercitschaft den Sieg der Eidgenossen über die Habsburger ermöglichte und damit den endgültigen Rückzug Österreichs aus dem später schweizerischen Territorium einleitete. 104 Locher, Freiherren, Teil III, S. 160 (Die Freiherren vor Schwurgericht). 105 186 7 veröffentlichte Leonhar d Tobler anonym ein Pamphlet gegen Locher, in welchem dem streitbaren Rechtsanwalt die Züge eines dämonischen Demagogen angedichtet wurden: «Es leidet keine Zweifel, dass die gegenwärtige Bewegung ohne die Pamphlete nicht entstanden wäre; ohne diese hätte die Schaar der Missvergnügten und Ehrgeizigen an den gegenwärtigen Zuständen noch lange vergeblich rütteln können ... Locher ist sich dessen wohl bewusst, er ist der Leiter und Herr der ganzen Bewegung«, Anonymus, o. S.

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standen dabei im Mittelpunkt, die auch später alle Bestrebungen zur kommunalen Vereinheitlichun g behinder n sollten : di e Frag e de s Eigentum s a n de n Gcmeindegütern un d die politischen Recht e der Niedergelassenen. Di e Aussicht einer radikalen Gleichstellung von Gemeindebürgern und Niedergelassenen führte zu einer massiven Petitionsflut a n die Helvetischen Räte . Vor allem aber begannen viele Bürgergemeinden, ihre Gemeindegüter unter den bisherigen Bürgern aufzuteilen, um so ihrer Vereinnahmung durch die neugeschaffene Einwohnergemeinde zuvorzukommen. Die helvetischen Gesetzgeber hielten diesem Druck nicht stand und revidierten aufgrund der »unserem Vaterland ganz eigene[n ] Schwierigkeit « 1799 zumindest teilweis e di e Einebnun g de r Bürgergemeinden, um weitere Güterausscheidungen zu verhindern.106Neben den politische n Munizipalgemcinde n wurde n nu n di e frühere n Bürger gcmeinden wieder eingerichtet, denen die autonome Verwaltung der Gemeindegüter zustand . Di e althergebracht e innergemeindlich e Hierarchi e vo n Anteilsbercchtigten un d Nichtberechtigten, von Gemeindebürgern un d Niedergelassenen existierte somit weiter. Dies galt um so mehr, als die Amtsgewalt der altbürgerlichen Gemeindekammer bei weitem die der Munizipalgemeinde übertraf, wodurc h di e politisch e Bedeutun g de s einheitliche n helvetische n Bürgerrechts minimiert war.107 In der Folgezeit schwenkte das Pendel sogar wieder vollends zugunsten der Bürgergemeindc zurück . Während der Mediation von 1804 wurde die politische Mitbestimmung in Gemeindeangelegenheiten nur noch solchen Nieder gelassenen zuerkannt , di e Grundeigentum besaße n un d de n Nachwei s eine r selbständigen Erwerbstätigkei t erbringe n konnten . Di e Restaurationsver fassung vo n 1814 kehrte schließlich vollständig zu r Bürgergemeind e zurück . Allen Niedergelassenen , auc h de n Grundeigentümern , wurd e di e Stimm berechtigung i n Gemeindeangelegenheiten aberkannt . Zudem war ihnen die Ausübung de s kantonale n Stimmrecht s nu r i n ihre r Heimatgemeind e un d nicht a n ihre m Wohnor t erlaubt. 108 Letztere s hatt e i n de n obenbehandelte n Petitionen zur Ansässenfrage 1830/31 eine prominente Rolle gespielt. 106 Siehe das Gesetz vom 13. Dezember 1798, das die Schaffung einer doppelten Gemeindeorganisation festschrie b und das eigentliche Ausführungsgesetz vom 15. Februar 1799, dargelegt bei Kunz, S . 128f . 107 Siehe dazu in diesem Sinne am ausführlichsten H. Weber , S. 151 (Bürgerrecht), S. 161-171 (Gemeindekamnier), S . 260: «Wo sich abe r die gesetzlichen Bestimmunge n nicht einigermaßen auf die bisherigen Gemeindeverbände anwenden ließen, lebten die alten Gemeindeformen prak tisch unberühr t weiter. S o überdauert e das Mittelalte r denn auc h i n viele n Dorfgemeinde n de s Kantons Zürich die helvetische Revolution«; Kunz,S. 117ff.,bes.S. 130f.;Liver, S. 145-147. Übereinstimmend wir d i n der Forschungsliteratu r die beachtlich e Kontinuitä t der überlieferte n For men lokale r Selbstverwaltung , nicht zuletz t auch i n personelle r Hinsicht , während de r Helveti k betont. 108 Siehe H.H. Frey, S. 200ff. Für einen Vergleich der kantonalen Entwicklung des Gemeinderechts siehe von IVyß, Die schweizerischen Landgemeinden.

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Auch die Väter der Züricher Regenerationsverfassung fügte n sich in Abkehr von klassisch-liberalen Gleichheitspostulate n de n gewachsenen kommunale n Strukturen un d verankerte n 1831 das Bürgerprinzi p i n de r Kantonsverfas sung.109 Zu r Gemeindeversammlun g zugelasse n waren danach nu r die in das gemeindliche Bürgerbuc h eingetragene n Stimmfähigen . Gleichzeiti g hatt e man aber in Artikel 8 der Verfassung die Niederlassungsfreiheit fü r Kantonsbürger festgeschrieben. Auf diese Weise wurde ein schleichender Integrations prozess in Gang gesetzt, denn infolg e de r fortschreitenden Industrialisierun g und den damit verbundenen Mobilitätsschüben einerseits, des stetig wachsenden Aufgabenfeldes respektiv e Finanzbedarfs der Gemeinden andererseits gewann automatisch die Niederlassungsfrage imme r größere Bedeutung. In Reaktion darauf setzte eine schrittweise Ausdehnung der Mitbestimmungsrechte für Niedergelassen e ein . Leiten d war dabe i der Grundsatz der Entsprechun g von Rechte n un d Pflichten , wi e er sowoh l i m altbürgerlichen Billigkeits - als auch i m liberale n (Eige n tu ms-) Denken verankert war. 110 Gemäß dieser Prä misse erhielte n di e Niedergelassene n mi t Grundeigentum 1833 das Stimm recht in der Gemeindeversammlung für diejenigen Sachentscheide, »an welche sie beizutragen haben«. 111 Zwei Einschränkunge n galte n demnac h weiterhin : Berücksichtig t wurd e einzig der Niedergelassene, de r Grundeigentum besaß , und sein Mitsprache recht bezog sich nur auf Gemeindeangelegenheiten, an deren Finanzierung er beteiligt war.112 Davon ausgenommen blieben ausdrücklich das aktive und passive Wahlrecht fü r di e Gemeinderatsstellen 113 un d di e Behandlun g de r »rei n bürgerlichen Angelegenheiten«, die allein der Bürgergemeinde zustehen sollte, worunter da s gesamte Armenwesen , di e Verwaltung von Gemeindegut , Kir chen-, Schul- und Armengut sowie Entscheidungen über den Bau und Unterhalt von Gemeinde- und Armenhäusern und die Bürgerrechtsvergabe fielen.114 109 Staatsverfassung 1831, Art. 80: »Jede politisch e Gemeind e hat eine Gemeindeversamm lung, bestehend aus ihren in das Bürgerbuch eingetragenen Bürgern. « 110 Diesen Grundsatz betonte der Züricher Regierungsrat in der Rückschau zu seinem Gesetzesprojekt 1865 ausdrücklich: »Die zürcherische Gemeindegesetzgebung hat bisher die Verhältnisse der Niedergelassenen niemal s nur nach der Seite der Pflichten, sondern immer auch nach derjenigen de r Recht e hi n ausgestaltet , d . h . si e hat , wen n si e den Niedergelassene n neu e Laste n gegenüber der Niederlassungsgemeinde auferlegte , denselben gleichzeiti g auch das Stimmrecht bei Behandlun g de r betreffende n Gegenständ e eingeräumt« , Weisun g de s Regierungsrat s zu m Entwurf des Gemeindegesetzes von 1866, in: Abl. 1865, S. 2034. 111 Gesetz vom 20. September 1833 »in Betref f des Aufenthaltes von Personen i n einer Gemeinde, wo sie nicht Bürger sind«, §18, in: OS 3, S. 174ff. 112 Niedergelassene ohn e Grundeigentu m bliebe n dagegen grundsätzlic h vo m Stimmrech t ausgeschlossen. Siehe Nauer, S. 46. 113 Sowohl das Niederlassungsgesetz von 1840 wie auch die erste Kodifikation desZürichcr ischen Gemeinderecht s i m Geset z vo n 1855 bestimmten, das s nur Bürge r i n di e Gemeinde vorsteherschaft un d Gemeindegutsverwaltung gewähl t werden konnten. 114 Gemeindegesetz 1833 §20, in: OS 3, S. 174ff .

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Zumindest in bezug auf diese »bürgerlichen Angelegenheiten« hatte die Praxis vielerorts di e Gesetzgebun g vo n 1833 soweit überholt , das s sei t 1855 (wiederum nur ) di e Grupp e de r Niedergelassene n mi t Grundeigentu m i n alle n Fragen de s Gemeindehaushalt s steuerpflichti g un d dami t stimmberechtig t geworden waren ; einzig e Ausnahm e bildet e weiterhi n da s Armenwesen. 115 Grundsätzlich bestand das Bürgerprinzip aber weiter, nicht zuletzt mit Rück sicht au f de n äußers t sensible n Punk t de r Gemeindegüter. 116 Nutzungsbe rechtigt waren demzufolge nur die Bürger der Gemeinde. Das Gesetz zur Verwaltung der Gemeindegüter von 1838 erklärte, wie auch das Gesetz von 1855, die Gemeindegüte r zu m »ausschließliche[n ] Eigentu m de r Bürgergemein den«.“7 Dieses Bürgerprinzi p sollt e nu n mi t de r Einführun g de r politische n Ein wohnergemeinde durchbroche n werden. 118 I n seinem Berich t zu m Entwur f der Verfassungsänderung begründet e der Regierungsra t 1864 ausführlich di e beabsichtigte politisch e Gleichstellun g de r Niedergelassenen , di e sic h nun , unabhängig von der Frage des Grundeigentums, auf alle beziehen und auch das passive un d aktiv e Wahlrech t umfasse n sollte . Di e Notwendigkei t diese s Schritts führt e de r Regierungsra t vo r alle m au f da s veränderte Mobilitäts verhalten zurück, das vornehmlich in den städtischen Zentren Winterthur und Zürich sowie in deren Einzugsgebieten tiefgreifende Veränderungen der innergemeindlichen Bevölkerungsstruktur 119 bewirk t hatte. I n vielen Gemeinde n 115 Weiterhin ausgeschlosse n bliebe n die Niedergelassenen ohn e Grundeigentum. Si e muss ten sich an Baute n von Kirchen, Friedhöfen , Gemeinde-, Schul- und Armenhäuser ihre r Heimat und nich t ihre r Niederlassungsgemeind e beteilige n un d bliebe n entsprechen d i n ihre r Nieder lassungsgemeinde vo n de r betreffende n Verwaltun g ausgeschlossen . Sieh e Weisun g de s Regie rungsrats vom 21. Juli 1853, zitiert nach : Nauer, S . 44, sowie da s Gemeindegesetz 1855 §22, §3 1 und §90, in: OS 10, S. 121f f 116 Mit der Beibehaltun g der Bürgergemeind e scho b man der Aufteilung un d Privatisierun g der Gemeindegüter mi t der entsprechenden finanzielle n Entkräftungde r Gcmcindehaushalt e ei nen Riegel vor und konservierte den Status der Gemeindegüter als ein öffentliches Gut. Siehe dazu Liver,S. 147f . 117 Siehe Gemeindegeset z 1855 §155 , in: O S 10, S. 121ff . E s legt e gleichzeiti g i n §167 die Ausscheidung vo n Gemeindegu t al s Bürgergu t un d Gerechtigkeitsgu t al s Korporationsgu t fest . Hierin zeigt e sic h da s deutlich e Bemühen , di e Recht e vo n Privateigentümer n z u schützen , al s welche die Korporationsmitgliede r angesehe n wurden . 118 Diese Gcsetzesvorlage hatte den Status eines Verfassungsgesetzes, da zu seiner Einführun g eine Veränderung der Verfassung nöti g war, un d unterla g der Volksabstimmung. Zusamme n mi t sechs anderen Verfassungsgesetzen wurde die Vorlage deshalb in der Partialrevision 1865 dem Volk vorgelegt. 119 In de r Stad t Züric h un d ihre n ehemalige n Vorortsgemeinde n wa r beispielsweis e de r Bürgeranteil ander Einwohnerschaft 1860 auf 10% bis 18% geschrumpft. Doc h diese strukturelle n Veränderungen müsse n regiona l en g auf die städtischen un d industrielle n Zentre n begrenz t ver standen werden, denn u.a . aufgrund de r weitgehenden Geschlossenhei t de r Bürgergemeinde n i n den ländliche n Bezirke n la g der durchschnittlich e Antei l de r Gemeindebürge r i n ihre n Wohn gemeinden i m Kanto n 1850 bei 64,9% und 1860 bei 57,8%. Siehe H.H. Frey , S . 25f .

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bilde infolgedesse n di e Bürgerschaf t di e Minderheit , s o dass die »Steuerkraf t derselben unte r derjenige n de r Niedergelassene n steht« . Di e wachsende n Selbstverwaltungsaufgaben de r Gemeinden - nun eigentliche Gebietskörper schaften - könnten überdies nicht mehr allein von den Gemeindebürgern bewältigt werden.120 Darüber hinaus bestand - umschrieben als Anpassung an die »modernen Bedürfnisse« 121 - ein ausgeprägtes Interesse der tonangebenden li beralen Führungselit e u m Escher , die Vereinheitlichung de s wirtschaftliche n Binnenraums nich t zuletz t mi t Blic k auf die Arbeitskräftemobilität voranzu treiben. Doch war man sich der Brisanz des eigenen Vorgehens soweit bewusst, dass die ökonomischen Recht e der Bürgergemeinden unangetaste t bleiben sollten. Eine Untersuchung der Direktion des Inneren von 1863 hatte gezeigt, wie viele Gemeinden imme r noch die öffentlichen Ausgabe n aus den Gemeindegüter n und nicht über eine Gemeindesteuer bestritten. Es schien deshalb dem Regierungsrat z u gewagt , de n »Bürgernutzen « z u beseitigen , d a die s »da s Rechtsgefühl eine s beträchtlichen Teile s der Bevölkerun g tie f verletzen un d große n Unmut erzeugen würde«. 122 Tatsächlich rie f die Ankündigung einer Gemeindereform umgehen d di e gemeindebürgerlich e Oppositio n au f den Plan . S o zirkulierte etwa ein »blaues Flugblatt«, unterschrieben von über 50 Abgeordneten, Gemeinderäten, Gemeinderatspräsidenten sowie Gemeinderatsschreibern aus zwölf Gemeinden, di e sic h gege n di e Aufhebung de r Gemeindenutzun g wandten, di e de m Bürge r »vo n Got t un d Rechtswege n gehört«. 123 I n seine r Weisung zu m Gemeindegeset z 1866 wurde de r Regicrungsra t deshal b nich t müde zu betonen, die angestrebte Gesetzeslösung werde »die verschiedenartigen Interessen aller Landesteile und Gemeinden berücksichtigen un d die hergebrachten Anschauunge n un d Einrichtunge n möglichs t schonen«. 124 Ein e vollständige Nivellierung des Prinzips der Bürgergemeinde kam angesichts der starken bürgerliche n Mehrheite n i n vielen ländliche n Gemeinden 123 nicht i n Frage. Stat t desse n beschrit t ma n de n Weg , ökonomisc h definiert e Bürger gemeinde und politisch definierte Einwohnergemeind e von ihren Kompeten zen he r z u trennen , nich t abe r institutionell : »Di e vorgeschlagene Gleichbe rechtigung der Niedergelassene n mi t den Bürger n kan n nu n allerding s nich t geschehen ohne prinzipielle Einführung der sogenannten Einwohnergemein de. Dies e Einwohnergemeind e sol l abe r keinesweg s gan z a n di e Stell e de r Bürgergemeinde treten, d. h. diese soll in jener nicht auf- un d untergehen un d 120 Zitiert »ach : Abl. 1864, S. 673ff. 121 Weisung des Regierungsrats zum Gemeindegesetz 1866, in: Abl. 1865, S. 1984. 122 Zitiert nach : Kunz, S. 134. 123 Ebd., S. 133. 124 Weisung des Regicrungsrats zum Gemeindegesetz 1866, in: Abl. 1865, S. 1984. 125 In typischen Landbezirke n wie Pielsdorf, Andelringen, Pfafhko n un d Inilach stellten die Gemeindebürger 1860 noch über 80% der Bewohner einer Gemeinde. Vgl. H.H.Frey, S. 26.

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ebensowenig soll die Bürgergemeinde von der Einwohnergemeinde gan z getrennt und neben derselben selbständig organisiert werden.« 126 Der Bürgergemeind e wurd e deshal b weiterhi n da s ausschließlich e Rech t eingeräumt, übe r die Verwaltung des Armengutes, der bürgerlichen Separat und Nutzungsgüte r sowi e di e Bürgerrechtserteilun g z u bestimmen. 127 Dies e Aufgaben sollte n allerdings - anders als während der Helvetik - nicht von gesonderten Vertretungsorganen geregelt , sondern im Rahmen de r allgemeinen Gemeindeversammlung behandelt werden.128 Auf diese Weise hoffte man , die Ängste de r Bürgergemeinde n vo r de m Verlus t ihre r exklusive n Nutzungs rechte zu zerstreuen. Diese Ängste beschränkten sich keineswegs auf die bürgerdominierten Bauerngemeinden , wie der Regierungsrat in seiner Erklärung suggerierte, sondern bestanden gerade auch in jenen städtischen und industriell-gewerblichen Gemeinden , in denen der Gemeindebürger infolg e des starken Zustroms an Niedergelassenen seine überkommenen ökonomischen Pri vilegien bedroht sah. Im Gegenzug hielt man aber an der Einebnung der politischen Privilegien im engeren Sin n fest. Grundsätzlich all e niedergelassenen Schweizerbürge r soll ten bei der Regelung der allgemeinen Gemeindcangelegenheitcn un d der Bestellung der Gemeindevorsteher stimm- und wahlberechtigt sein.129 Die Regierungserklärung versucht e auc h hier , mi t Blic k au f di e Landgemeinde n di e Auswirkungen der politischen Egalisierung auf die tradierten Machtstrukture n zu bagatellisieren: »Durch die Umgestaltung des Gemeindewesens [wird ] di e Mehrzahl de r züricherischen Landgemeinde n weni g berührt werden. D a wo die Bürger nac h Zahl un d Vermögen da s Uebergewicht haben , wird di e Gemeindeverwaltung ferner wesentlich in den Händen der Bürger bleiben und es wird sich das Element der Niedergelassenen i n diesen Gemeinden wenig Geltung zu verschaffen wissen.« 130 Offensichtlich vermocht e dies e Argumentation sowi e da s Versprechen de r Konservierung de r wirtschaftliche n Nutzungsrecht e zunächs t durchau s z u überzeugen. Tatsächlich wurde die Gesetzesvorlagc jedenfalls i m Rahme n ei nes umfassenden Pakets 131 am 15. Oktober 1865 in eine r Volksabstimmun g 126 Weisung des Regicrungsrats zum Verfassungsgesetz, in: Abl. 1864, S. 659. 127 Verfassungsgesetz betreffend Abänderung des Titels V (Art. 80-92) der Verfassung, enthaltend die Bestimmungen über die Gemeindebehörden vom 28. 8. 1865, Art. 80 Abs. 1 und 2, in: OS 13, S. 509. 128 Bis in das Jahr 1941 konnte sich diese Regelung des »Bürgernutzens« im Kanton Zürich halten, in einigen anderen Kantonen existieren bis heute neben den politischen Gemeinden sogenannte Burgergemeinden, die über beträchtliche Gemeindegüter verfügen. Siehe Kunz, S. 134. 129 Abl. 1864, S. 673ff. Damit wurde das Einwohnerprinzip in der Kantonsverfassung Zürichs verankert, während das Bundesrecht erst mit der Totalrevision von 1874 das Einwohnerprinzip einführte. 130 Weisung des Regierungsrats zum Gemeindegesetz 1866, in: Abl. 1865, S. 1995. 131 Siehe vorn Anm. 73.

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gebilligt. Die niedrige Stimmbeteiligung von nur 30% lässt allerdings auf eine erhebliche Indifferen z de r Mehrhei t de r Stimmberechtigte n schließen . E s bleibt fraglich, ob sich die breite Bevölkerung der fundamentalen Veränderun gen, die der überkommene Gemeindeorganismus und seine Herrschaftsstruk turen erfahren sollten, zu jenem Zeitpunkt bewusst war.132 Gerade in Gemeinden mit bürgerlicher Mehrheit im Züricher Unterland bestand kein Interesse, das Gemeindegut zwecks gesonderter Verwaltung auszuscheiden und die zahlenmäßig unterlegenen Niedergelassene n an der Gemeindepolitik teilnehmen zu lassen. 133Und i n de n gewerblic h geprägte n städtische n Agglomeratione n und den Industriegemeinden de s Züricher Oberlandes mit bürgerlicher Min derheit mochte die Konservierung der Ökonomischen Bürgerrechte willkommen sein, die politische Egalisierung hingegen musstc die eigene Minoritätenposition endgültig festschreiben. 134 Die Einführung de r politischen Einwohnergemeind e markiert e damit den Abstieg des privilegierten Gemeindebürger s zum »deklassierten Kleinbürger« . Das Konzept der liberale n Führungselit e hatt e vorgesehen, den Übergan g in die Einwohnergemeind e möglichs t vorsichti g z u gestalten , inde m si e über kommene Eigentumsverhältnisse wahrte und den neugeschaffenen politische n Gemeindekörperschaften meh r Autonomierechte, etwa die Wahl der Bezirksbehörden, zugestand . Au f diese Weise sollt e de r Verlust de r politischen Vor rechte, die seit Jahrhunderten zu dem exklusiven Wesen des Gemeindebürgerrechts gehört hatten, abgepuffert werden. Dass dies so nicht gelang, zeigten die Ereignisse der folgende n Jahre 1867 bis 1869, als sich eine wiederum primä r ländliche Reformbewegung formierte, die der kommunalen »Dekorporierung« eine kantonale »Inkorporierung« entgegenstellte .

132 Die amtlich e Abstimmungstabcll c is t abgedruck t in : O S 13, S. 527. Das Ausführungs gesetz tra t a m 25. April 1866 in Kraf t (O S 13, S. 591). 133 Vgl. die Umfrage de r Direktion des Innern, die die Widerstände der Landgemeinden gege n eine Ausscheidung der Bürgernutzungen verdeutlicht . Beispielsweis e argumentierte di e Gemein de Groß-Andelfingcn, «ein e Ausscheidung hätt e zur Folge, dass der Eigennutz und die Begehrlich keit den Gemeinsin n überwucher n würden« , zitier t nach : Abl. 1865, S. 2023f. 134 Selbst unter den Niedergelassene n ga b es kritische Stimmen, die sich gegen die Ausschei dung des Bürgergutes richteten . Die s zeigt das Beispiel der Gemeinde Fluntern , in der bislang den Niedergelassenen imme r dan n auc h de r Zutritt z u jenen »rei n bürgerlichen « Gcmeindevc r Handlungen betr . die Gemeindegüter gestattet gewesen war, wenn die anstehenden Gemeindeausgabe n nicht allei n durc h dere n Ertra g finanzier t werde n konnten . Ein e Ausscheidun g hätt e konse quenterweise diese Option der Mitbestimmung ausgeschaltet . Siehe zu dem Gesamtvorgang H .H. Frey, S . 28.

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Das is t mei n un d meine r Freund e größte r Wunsc h un d Ehrgeiz , de m heutigen Staa t un d unser n Brüder n etwa s Rechte s erstelle n z u helfen , aber nicht durch mich und nichtfür mich, sondern durch das Volk undfü r das Volk.135

4.3. Der Schritt in die »andere Bürgergesellschaft« : Die demokratische Volksbewegung von 1867/68 und die Verfassungsrevision vo n 1869 4.3.1. Der Staat als bürgerliche »Selbsthilfegenossenschaft«: Konteren der »anderen Bürgergesellschaft« i n der demokratischen Presse Welches waren die Reformzielc de r demokratischen Führungsköpfe , wi e sah ihre Vision einer erneuerten Bürgergesellschaft aus und - so ist erneut zu fragen - inwieweit deckt e sich diese mit den Vorstellungen de s einfachen Volkes , in dessen Name n ma n antrat? Nur unter Vorbehalt kann überhaup t von einem demokratischen »Programm « gesproche n werden . Ei n vergleichbarer Verfas sungsentwurf, wi e e r von Ludwi g Snel l fü r di e Züriche r Rcgencrationsbe wegung entworfen worden war, existierte nicht. Der als programmatisch deklarierte demokratische Aufruf zu einer Volksversammlung i m Novembe r 1867 mutet eher als Konglomerat diverser Reformwünsche an. 136 Aus diesen Forderungen lasse n sic h jedoch di e Konture n eine s Gesellschaftsgebäude s nach zeichnen, wie es in der demokratischen Publizisti k sei t den frühen sechzige r Jahren entwickel t wurde. Dieses Gesellschaftsgebäude wa r das Resultat eine r ebenso bemerkenswerten wi e eigentümliche n Synthetisierun g gesellschafts politischer Vorstellungen , di e e s erlaubt , vo n de m Entwur f eine r »andere n Bürgergesellschaft« z u sprechen. Kennzeichnend fü r di e früh e publizistisch e Auseinandersetzun g wa r di e jeweils stärker e Akzentuierun g vo n politische n ode r sozialen Reformzielen . Dieses Merkmal galt für alle Kantone, in denen sich eine Demokratische Bewegung entwickelte.137 Engagierte Verfechter einer weitgehenden Basisdemokra tisierung des politischen Systems verwarfen di e Idee umfassender sozialstaat licher Eingriffe, während auf der Gegenseite nach einer staatlichen Lösung der 135 Aus der Bülachcr Landsgemeinderede Friedrich Scheuchzers, zitiert nach: Bleuler, Aktenstücke, S. 19. 136 Aufruf des kantonalen Komitees »An die Mitbürge r des Kantons Zürich« vom 8. Dezember 1867, abgedruckt in: ebd., S. 5ff . 137 Vgl. Gilg, S . 103. Insgesamt überwo g abe r durchgängi g di e Auseinandersetzung mi t de n Problemen des agrarisch-handwerklichen Mittelstands, und zwar nicht nur in den schwach industrialisierten Kantone n Luzern , Thurgau , Ber n un d Baselland , sonder n auc h i m Industrickanto n Zürich.

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»sozialen Frage« gesucht wurde und man sich direktdemokratischen Forderungen gegenüber distanziert zeigte. Analog dazu trat auf der einen Seite die Betonung mittelständischcr Interessen in den Vordergrund, während auf der anderen Seit e angesicht s de r wachsende n Fabrikarbeiterschaf t di e »Arbeiterfrage « intensiv diskutier t wurde . Fü r das demokratische Pressewese n Zürich s seien stellvertretend de r »Landbote « Salomo n Bleuler s un d di e »Bülach-Rcgens berger Wochenzeitung « Friedric h Scheuchzcr s genannt . Al s Sprachroh r de s agrarisch geprägten Züricher Unterlandes propagierte Scheuchzcrs »Wochen zeitung« 1863 als erste die Gesetzesinitiative un d das obligatorische Referen dum, di e Lag e de r Fabrikarbeiterschaf t blie b dagege n ausgeklammert. 138 I m Gegensatz dazu beschäftigte sich der Winterthurcr »Landbote«, seitdem Bleuler Ende der fünfziger Jahre die Leitung übernommen hatte, intensiv mit der »sozialen Frage«, beschränkte sich aber in politischer Hinsicht 1862 noch auf eine weitergehende Demokratisierun g de s Repräsentativsystems , d . h . di e Volkswahlen der Bezirksbehörden. l39 Diese unterschiedliche Ausrichtung schlug sich auch in der Frage des Kreditwesens nieder, an dessen Reformierung man die Überlebensfähigkcit des ländlichen Mittelstand s knüpfte. Di e Positionen, die sich innerhalb der folgende n Auseinandersetzung herauskristallisierten , habe n europäische n Zuschnitt , denn si e spiegel n de n i n ganz Europ a entbrannten Prinzipienstrei t zwische n Selbsthilfe oder Staatshilfe wider. Dieser Grundsatzstreit bestimmte die gesamte Formierungsphase der Demokratischen Bewegung und führte schließlich zu den synonyme n Schlüsselbegriffe n de r anvisierte n demokratische n Bürger gesellschaft al s »Genossenschaft « bzw . »Assoziation« . Scheuchze r setzt e sic h 1863 vehement für die Einrichtung privater Regionalbanken ein: »Politisch und wirthschaftlich huldige n wir fest dem englischen Prinzi p der Selbsthülfe, dem seifgovemment und wollen nicht s wissen von Staatshülfe i m französischen Sin ne. Sonderbar aber ist's, dass man im Kanton über Zentralisation klagt und auf Steg und Wegen dieselbe befördern will.« 140 Scheuchzer vertrat damit die Gegenposition zu Hartmann Utzingeraus dem Züricher Oberland , der sich zum Hauptverfechte r de r Staatsbank machte. In seinem »Schweizerische n Volksblat t vom Bachtel « befürwortet e Utzinge r die Errichtung einer Kantonalbank, da er »eine Abhängigkeit vom Staat als Gläubiger«, dessen Repräsentante n doc h der Volks wähl unterstünden , einer solchen »gegenüber private n Geldmächten « vorzöge. 141 Auch Salomo n Bleule r sprach sich im März 1863 im »Landboten« für die staatliche Einrichtung einer Hypothekarbankaus. Diese Entwicklung war bemerkenswert, denn mit Blick auf die »Arbeiterfrage« hatt e Bleuler noch im November 1862 die genossenschaftliche 138 139 140 141

BRW Nr. 7 vom 14. Februar 1863. Der Bund Nr. 318 vom 18. November 1862, zitiert nach: Gilg, S. 56. BRW Nr. 17 vom 25. April 1863. SVvB Nr. 38 u. Nr. 39 vom 10/14. Mai 1863.

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Selbsthilfebewcgung vo n Schulze-Delitzsc h euphorisc h gefeiert . Bleuler s publizistische Äußerunge n lohne n ein e näher e Analyse, d a er in der Auseinandersetzung mi t Fran z Herman n Schulze-Delitzsc h einerseits , Ferdinan d Lassalle andererseits schrittweise ein für die gesamte Demokratische Bewegung symptomatisches Staats- und Gesellschaftsverständnis gewann . Bereits im Jahre 1859 legte Bleule r au s Anlass des ersten Züricher Fabrik gesetzes eine Schrift vor, die sich ausführlich mi t der Lösung-der »sozialen Frage« beschäftigte. 142 Möglicherweis e durc h di e Lektür e de s ein Jahr zuvo r er schienenen Werkes von Schulze-Delitzsc h »Di e arbeitenden Klasse n un d das Assoziationswesen i n Deutschland « inspiriert , stellt e Bleule r di e Selbsthilfe organisation de r Arbeiterschaf t i n de n Mittelpunk t seine r Ausführung . U m diese Selbsttätigkei t de r Arbeiter anzuleiten , bedurft e e s nach Bleule r jedoch vielschichtiger, vor allem aber staatlicher Maßnahmen, mit denen er weit über die Vorschläge von Schulze-Delitzsch hinausging. De r gemeinnützigen Tätig keit insbesonder e de r Unternehme r stellt e Bleule r zu m eine n di e staatlich e Unterstützung von Selbsthilfcprojekten wie Kranken- und Vorsorgekassen sowie die praktische Anleitung von Genossenschaften durc h staatliche Inspektoren an die Seite. Während der Deutsche das Assoziationswesen ausschließlich auf der Finanzkraft seine r Mitgliede r errichte n wollte , schlos s Bleule r di e finanziell e Un terstützung von Seite n des Staate s durchaus mi t ein . Bedenkenswer t sin d al lerdings sein e Einschränkungen , di e da s durchgängig e antizentralistisch e Moment der Demokratischen Bewegung dokumentieren: Die Einrichtung der Kranken- un d Sparkasse n sollt e de r freiwillige n Initiativ e de r Arbeiterschaf t überlassen bleiben und nicht einer obligatorischen Gesetzesregelun g unterliegen. Ein zweiter markanter Unterschie d z u Schulze-Delitzsch bestan d i n der nach Bleule r unabdingbare n geistigen un d politische n Bildun g de r Arbeiter schaft. Anders als der deutsche Liberale, der die »soziale Frage« nicht als politische Frag e verstand, plädiert e Bleule r fü r ein e weitergehende Demokratisie rung der Gesellschaft al s Station au f dem Weg zur Selbständigkei t alle r ihre r Mitglieder. Zu diesem Zeitpunkt verstand er darunter die politische Gleichberechtigung der Niedergelassenen sowie die Aufhebung des seit 1844 geltenden Koalitionsverbots fü r Fabrikarbeiter, 143 nich t etwa die Einführung vo n direktdemokratischen Volksrechtc n ode r - als äußerst sensible r Punk t - das Streikrecht. 142 Bleuler, Drei Gesetzesentwürfe, S . 8. 143 Das »Polizeigesetz betr . Handwerksgesellen , Lehrlinge , Fabrikarbeiter , Taglöhne r un d Dienstboten« vom 16. Dezember 1844 untersagte alle Verbindungen von Gesellen, »welche in der Absicht versucht oder vollzogen werden, Zugeständnisse irgen d welcher Art zu erzwingen, den Behörden zu trotzen, die Meister in ihren Rechten zu beeinträchtigen oder ihnen Schaden zuzufügen oder überhaupt unsittliche oder ordnungswidrige Zwecke zu erreichen«. Aus Bleulers Eintreten für die Aufhebung dieses Gesetzes ist jedoch nicht zu folgern, er habe einen gewerkschaft lich organisierten Arbeits kampf befürwortet. Vgl . Scheurer, S. 752.

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Geistige Bildun g un d politisch e Betätigung , Genossenschaftswese n un d wohlfahrtsstaatliche Unterstützun g sowie soziales Pflichtbewusstsein de r Gebildeten un d Begüterten , all e diese Ansätze Bleuler s verdichteten sic h i n der Vision eine s klassenlose n Gemeinwesens . Di e Arbeiterschaft, aufgrun d ihre r politischen un d geistigen Betätigun g zu »wahrer bürgerlicher Freiheit« , zu einem »bürgerlichen Bewusstsei n gekommen« , sollte als gleichberechtigter Teil integriert werden.144 Diesem Bild der klassenlosen Gesellschaft entsprang auch seine scharf e Abkeh r von einem proletarische n Klassenbegriff 145Für Bleule r bedeutete »Klasse« Berufsgruppe. In ähnlicher Weise gebrauchte er häufig alternierend di e Begriff e »sozial e Frage « un d »sozial e Fragen« . Di e »Theori e de s sogenannten vierten Standes« sah Bleuler als Ausgeburt eines »krankhaften, unreifen französische n Sozialismu s der Jahrhundertmitte mi t seinen Nachklän gen«.146 Zwar geb e e r »eine n sozialistische n ›Tic‹ « zu , insofer n e r die »sozial e Frage« ernst nehme , lehn e abe r die französische n sozialistische n System e ab, die nicht bloß die Arbeit regulieren, sondern die ganze Gesellschaft organisie ren wollten. »Der Schweizermagen« - so Bleuler pointiert - »verdaut die französischen Systeme am schwersten.« 147 In dieser frühen programmatische n Standortbestimmun g 1859 deutete sich bereits der entscheidende Gedankenschritt an , den Bleuler Ende 1864 tat, um jene Grundsatzpositionen, die in Deutschland zu einem erbitterten Prinzipienstreit zwischen Schulze-Delitzsch un d Lassalle führten, für die Schweizer Verhältnisse zu synthetisieren: »der Schweizer [soll ] das Gute und Praktische von der einen und der andern Seite dankbar verwerten. Auf der Seite von Schulze sehen wir eine Entwicklung des Genossenschaftswesens, die einen gesunden und soliden Kern voraussetzt. Auf der Seite Lassalles ... die Energie der Forderung, dass der Staat die Interessen der arbeitenden Klasse n nicht ignoriere, sondern schütze, verbunde n mi t de m ... hochwichtigen ... Satz von der Erziehung des Arbeiters zum Bürge r und zu m gebildeten, ebenbürtigen Mitglie d de r Gesellschaft.«148 144 Entsprechend definiert e Bleule r da s Ziel , »di e Arbeiterklasse au s ihre r dumpfen Apathi e und Gleichgültigkeit , nich t z u Aufruhr un d Brand , wohl abe r zu geistigem Leben , zum bürgerli chen un d soziale n Bewusstsei n un d einige n Versuche n vernünftige r Assoziatio n z u bringen« , Bleuler, Drei Gesetzesentwürfe , S . 38. Dieses Ziel se i »Grundpfeiler de r Demokratie«, »geschicht liche Mission « un d »Stützpunk t wahrer , bürgerliche r Freiheit« , L B Nr . 270 vom 12. November 1862. 145 Bezeichnend auc h di e Äußerunge n de s Scharffhausc r Arzte s Wilhelm Joos, der die kom munistischen Bewegunge n al s »Albernheiten« bezeichnete. »Solange die Welt stehen wird, werde n ... Arme und Reiche untereinander sein müssen ... Gesundheit und Zufriedenheit un d ein beschei dener Mitgenu ß de r Wohltate n de r gesellschaftliche n Vervollkommnun g kan n rech t gu t nebe n Armut bestehen« , zitier t nach : Gilg, S . 68. 146 LB Nr . 273 vom 15. November 1862. Mit diese n »Nachklängen « meint e Bleule r woh l Johann Jakob Treichlcr . 147 Bleuler, Dre i Gesetzesentwürfe , S . 8. 148 LB Nr . 313 vom 31. Dezember 1864.

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Im Zu g eine r solche n »Verwertung « zeichnet e sic h ein e gewiss e Radika lisierung seiner Positionen ab. 149 1865 öffnete Bleule r erstmals mit einem Artikel Kar l Walders sein Blat t jenen Stimmen , di e fü r ein e Ausweitung de r Re präsentativdemokratie durch Volksrechte plädierten. Bleuler knüpfte somit an das Konzep t Lassalle s an, über eine weitgehende Demokratisierun g z u eine r aktiven staatlichen Sozialpolitik zu gelangen, ging aber gleichzeitig mit der Einforderung direktdemokratischer Rechte weit über den deutschen Sozialdemokraten hinaus. Daneben sprach er sich nun fü r die Gründung von Produktiv genossenschaften150 aus . Seine großen Vorbehalte gege n ein e zu weitgehende staatliche Reglementierung ließen ihn aber wie bislang vehement für das private - und nich t wie Lassall e das staatliche - Assoziationswesen eintreten . De r Staat als Ordnungs- und Sicherheitsmacht zu r freiheitlichen Selbstbetätigun g seiner Mitglieder, diese Position verband ihn weiterhin mit Schulze-Delitzsch. Es blieb abe r andere n demokratische n Landblätter n vorbehalten , di e vo n Bleuler angedachte Lösung weiterzuentwickeln, u m die konträren Positione n von genossenschaftlicher Selbstbetätigun g einerseits und staatsinterventionis tischer Eingriff e andererseit s miteinande r z u verbinden. Nich t di e Arbeiter frage stand dabei im Mittelpunkt, sondern die Probleme des bedrängten Mittelstands führten namentlic h Scheuchze r dazu, freiheitlich e Selbstbestimmung , staatliche Sozialreform und Direktdemokratie in der Vorstellung einer sozialen Bürgerdemokratic zu verknüpfen. Scheuchzer, der sich als erster der demokratischen Führer für direktdemokratische Reformpostulate ausgesprochen hatte, wollte das Prinzip der aktiven Selbstbetätigung des Bürgers auch auf wirtschaftlichem Fel d verwirklicht wissen . Von staatlichen Eingriffe n hiel t e r entspre chend wenig, wie seine massive Kriti k in der Diskussio n u m eine Staatsban k 1863 gezeigt hatte. Im Sommer 1865 revidierte Scheuchzer jedoch seine Position, nun plädierte er für die Einrichtung einer Kantonalbank , verstanden al s »Ausdehnung de r Schulzc-Delitzsch'e n Selbsthilfevorschusskasse n au f da s ganze Volk«.151 Das Neue an diesem Vorschlag war die Übertragung de s genossenschaftli chen Selbsthilfeprinzips auf den Staatsorganismus selbst: der Staat als bürgerli149 Neben Lassall e ist auch der Einfluss von Bleuler s Schulfreund, de s deutschen Sozialiste n und Philosophe n Friedric h Albert Lange , zu nennen, den er 1866 schließlich i n die Redaktio n de s »Landboten« holte . Lange vertrat eine pragmatische Sozialreform , di e mi t »republikanisch organi sierten Fabriken« , Genossenschaften un d Konsumvereine n auße r der materielle n auc h die mora lisch-intellektuelle Situatio n de s Arbeiters verbessern sollte . Vgl. Kalischeuer, S. 557f. 150 Die antietatistisch e Grundhaltun g Bleuler s zeigt e sic h erneu t i m Augus t 1865, als e r i n einem Berich t zu den Glarner Fabrikinspektoren anmahnte , man solle »möglichst sorgfältig unter scheiden zwische n dem , was naturgemäß Sach e des Staate s und Gesetze s sei n kan n un d soll , un d dem, was weit besser und glücklicher auf dem Weg der... freien Verständigung zwische n Fabrikan ten un d Arbeiter angestrebt wird . Da , wo ihre Interesse n en g verflochten sind , is t die polizeilich e Reglementiererei kei n Segen« , L B Nr. 1 % vom 16. August 1865. 151 BRW Nr . 33 vom 19. August 1865.

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che Selbsthilfegenossc ηschaft. Hie r zeig t sich , wie wirkungsmächti g da s tradierte gemeindlich-genossenschaftliche wi e republikanische Leitbild der politisch-sozialen Einhei t alle r Bürge r war. 152 Scheuchze r selbs t verwie s au f den altschweizerischen Republikanismus , wenn er ausführte, das s in Preußen der Aufruf zur Selbsthilfe am Platze sei, weil der monarchische Staat dem Bürgerstand nicht zu r Selbständigkeit helfe ; de r schweizerische Staa t werde aber als Sache des Volkes betrachtet, das den Beitritt aller zu einem Kreditverei n - gemeint ist die Staatsbank - so gut obligatorisch erklären könne wie die Brandversicherung ode r de n Schulbesuch. 153 Scheuchze r löst e demnac h de n Grund widerspruch zwische n Staats - un d Selbsthilfe , zwische n Staatszentralismu s und freiheitlicher Autonomie, indem er das staatliche Gemeinwesen als gesellschaftliche Assoziation auffasstc . Wie lie ß sich aber die hier projektierte Identitä t von Staa t und Gesellschaf t konkret verwirklichen? Wie konnte der Staat zur »Bürgergenossenschaft« um gebildet werden , s o das s staatsinterventionistisch e Maßnahme n al s Ausrlus s gesellschaftlicher Selbstbestimmun g gelte n konnten ? Di e Antwort au f diese Fragen lag nach Scheuchzer in der direktdemokratischen Fundierung des staatlichen Systems. Die gesellschafts- und staatspolitische Dimension dieses Konzepts wird einmal mehr deutlich im Vergleich mit Lassalles Vorstellungen. Lassalles beschränkte Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht lässt sich nicht allein aus der relativen Rückständigkei t de s demokratischen System s in Preußen erklären. Die Demokratisierung sollte der Arbeiterschaft da s Mittel an die Hand geben , Einflus s au f den »Sozialismu s von oben « z u nehmen , der Staa t blieb damit abe r eine der Gesellschaft übergeordnet e Größe . I m Hegelsche n Sinn verstand Lassalle ihn als Träger der sittlichen Aufgabe, »die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zu r Freiheit« zu gestalten. 154Scheuchzer setzte mit der Forderun g nach der Gesetzesinitiative un d dem obligatorischen Gesetzesreferendu m de n Staa t al s politisc h konzipiert e Bürgergesell schaft dagegen. 155 152 Auch Clilg y S . 340, betont de n Einflus s de r »i m schweizerische n Volkscharakte r nach wirkende! [n]genossenschaftliche[ n ] Tradition de r vorliberalen Zeit « au f die Entwicklun g de s demokratischen Gcscllschaftsvcrständnisscs . 153 Ebd. 154 Zitiert nach : Bambach, S . 402. Der große Einflus s de r Hegelschc n Staatskonzeptio n zeigt e sich auc h i n Bleuler s frühe r Schrif t vo n 1859, als e r bezeichnenderweis e di e Einführun g vo n direktdemokratischen Partizipationsrechte n noc h ablehnte : »De r Staa t is t nicht blo ß Rechtsinsti tut, er ist Träger de r Sittlichkeits - un d Wohlfahrtsideen ... Wo der Staa t bestimmte sittliche , wirt schaftliche un d rechtlich e Interesse n gefährde t ode r neu e Interesse n sic h gestalte n sieht , di e de s Schutzes bedürfen, d a legt er Han d a n und ordnet, gleichviel, ob er die Zeit seiner Bürge r oder da s Eigentum beansprucht« , Bleuler , Dre i Gesetzesentwürfe , S . 32f. 155 Noch weiter ging der Sekundarlchrer Johann Caspa r Sieber i n Ustcr, der im Juni 1865 im »Unabhängigen« al s »ein enthusiastischer Bekenne r direkter Volksherrschaft... die Landsgemeind e an de r Seit e un d a n de r Spitz e de r Gesetzgebun g un d Verwaltun g mi t unmittelbare r Initiative , Beratungs-, Abstimmungs- un d Wahlrecht« wünschte . I n gleichberechtigten Rcgionalgcmeinde n

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Das von Scheuchzcr, aber auch anderen propagierte Staatskonzept traf nach der Partialrevision vo n 1865 auf fruchtbaren Boden ; erst jetzt entwickelt e di e demokratische Volksbewegung ihre eigentliche politische Kraft. Auf Seiten der demokratischen Führungselit e vollzog sich eine Synthese der politischen un d sozialen Reformziele. Während sich Vertreter wie Scheuchzer sozialstaatlichen Forderungen, auch mit Blic k auf die Arbeiterschaft, öffneten , tra t umgekehr t etwa Bleule r nu n fü r di e Übernahm e direktdemokratische r Fostulat e ein . Gleichzeitig setzt e i n de r Züriche r Bevölkerun g ein e zunehmend e Politisie rung ein. Im Moment der Eliminierung de r überkommenen politische n Ge meindebürgergesellschaft ga b de r demokratisch e Entwur f eine r staatliche n Bürgergenossenschaft ein e Alternative vor, mit der das tradierte gemeindlich genossenschaftliche Ordnungsmodel l au f die staatlich e Eben e transformier t werden konnte. 4.3.2. Die Verteidigung der »Volksfreiheit«: Die demokratische Volksbewegung und die Revision der Verfassung Ein wichtiges Indi z fü r di e Impulse , di e von de r Dekorporierun g de s politi schen Gemeindebürgers auf die nun einsetzende Massenmobilisierung ausgingen, liefert die schlagartig beginnende, breit artikulierte Forderung nach direktdemokratischen Rechten. Während vier Jahre zuvor Referendum und Initiative gar kein Ech o gefunden hatten , wurden sie seit dem Herbs t 1867 als probates Mittel, die gefährdete Volksfreihci t z u sichern , i n alle r Mund e geführt . Ein e kleinbürgerlich-mittelständische Kliente l macht e sic h z u Tausenden au f den Weg zu einer der »Landsgemeinden«: Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende, aber auch Arbeiter, die auf den öffentliche n Versammlunge n vo n 1863 überhaupt nicht in Erscheinung getreten waren.156 Die noch kurz vorher zu konstatierende politisch e Indifferen z gerad e der ländlich-agrarischen Regione n wa r vorbei. Nahezu gleichmäßig über den gesamten Kanto n verteilt fanden i n der kurzen Zeit zwischen November 1867 und Januar 1868 rund 80 politische Versammlungen zu r Frag e eine r Verfassungsrevisio n statt. 157 Di e Mehrzah l de r (Zürich, Seegebiet, Oberland, Wcinland, Unterland) sollte einmal im Jahr über die Staatsgeschäfte entschieden werden. Sieber war allerdings realistisch genug, um auch das Referendum oder Veto als Kompromiss zu akzeptieren. Vgl. Der Unabhängige Nr. 24 vorn 9. Juni 1865 (Landsgemeinde) und Nr. 47 vom 17. November 1865 (Referendum), zitiert nach: Gilg, S. 172. 156 Auf der Versammlung i n Morgen wurde ausdrücklich bedauert , dass »der Arbeiter- und Handwerkerstand nu r schwac h ode r ga r nich t repräsentier t war « un d di e Gründun g eine s all e Stände umfassenden Revisionsvercin s angeregt. Vgl. LB Nr. 43 vom 19. Februar 1863. 157 Siehe auch für das Folgende Schaffner, Demokratisch e Bewegung , S. 44, sowie Anhang I, Karte 2 »Die geographische Verbreitung de r Rcvisionsversammlunge n i m Herbst/Winte r 1867/ 1868«, S. 77.

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Kundgebungen war demokratisch ausgerichtet, nur auf 28 Veranstaltungen vertraten die Versammelten eine n regierungsfreundliche n Standpunk t und sprachen sich gegen eine Totalrevision der Verfassung aus. Bezeichnenderweise konzentrierten sich diese auf Zürich-Stadt und die Seebezirke, jene Gegenden , die 1863 für eine gemäßigte Teilrevision eingetrete n waren und vor allem die liberale Niederlassungspolitik der Regierung begrüßt hatten. Die Stützpunkte der nun radikalisierten oppositionell-demokratische n Bewegung befande n sic h dagege n i n de n agrarische n Bezirke n Βülach un d Andelfingen sowi e im industrialisierten Oberlan d un d im Bezirk Wintcrthur. Die Teilnehmerzah l sprengt e alle s bishe r Dagewesene : mindesten s 15.000 Menschen - rund ein Viertel der Stimmberechtigten - nahmen an den Kundgebungen teil , während e s im Februa r un d Mär z 1863 nur etwa 2000 Bürger gewesen waren . De n Auftak t de s Versammlungsmarathons bo t die jährliche Feier des Ustertages am 22. November 1867. Geschickt nutzte die demokratische Opposition das politische Andenken an den legendären Volkstag des Jahres 1830. Den Höhepunkt erreichte die Bewegung am 15. Dezember 1867, als über 10.000 Menschen zu einer der vier großen Landsgemeinden in Bülach, Zürich, Winterthur un d Ustc r strömten . Diese r fulminant e Erfol g resultiert e vornehmlich au s de r Aktivitä t unzählige r Vereine , di e al s Organisatore n de r Versammlungen fungierten . Sei t Beginn der sechziger Jahre zeichnete sich gerade auf der Landschaft eine Gründungswcllc von Vereinen und Gesellschaften ab.158 Just in dem Moment, in dem der tradierte korporative Rahmen der Gemeinden aufzuweichen begann, zeichneten sich in den ländlichen Kommunen neue Formen soziale r Zusammenschlüss e ab . Da s Spektru m wa r ungemei n viel schichtig; Sonntags-, Montags-, Lcscgcsellschaften sin d neben Niedergelassenen-, Alters- und Gewerbevereinen z u nennen, Militär-, Kranken-, Konsum-, Knaben-, Turn- und karikative Vereine neben Gemeinde- und Kreisvereinen. 159 Das von den Demokrate n propagiert e staatlich e Assoziationswesen wa r demnach auf der lebcnsweltlichen Ebene vieler Kommunen bereits kulturelle Praxis geworden. Waren während de r Regenerationszeit di e Gemeindebehörde n für die Mobilisierung der Gemeindebürger bestimmend gewesen, traten jetzt 158 Vgl. Schaffner , Vereinskultur , S . 422f. , Tab . 1 »Volks- un d Gcmcindeverein e i m Kanto n Zürich nac h Bezirke n un d Gründungsjahr « un d Tab . 2 »Lesegesellschaftcn i m Kanto n Züric h nach Bezirken und Gründungsjahr«. Während für die erste Gruppe in dem Jahrzehnt 1850-59 ein Anstieg von sechs auf 23 Vereine zu vermerken war, stieg die Zahl der Lesegesellschaftcn im selben Zeitraum von 13 auf 25. Martin Bac h mann kommt aufgrund einer erweiterten Quel lengrund lage sogar z u eine m noc h höhere n Ergebnis . Im direkte n Vergleic h mi t Schaffne r weis t e r auf eine n Anstieg der Lesevereinsgründungen zwischen 1850 und 1860 von 19 auf 33 hin, Bachmann, S. 176, Tab. 2. Eine genau e Auflistun g alle r Lesegesellschafte n de s Kanton s Zürich i m 19. Jahrhundert findet sic h i m Anhan g I, S. 337-355. 159 Schaffner, Vereinskultur, S. 426f.

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zunehmend dies e Vereine a n ihre Stelle . Obwohl di e meiste n vo n ihne n ur sprünglich eine kulturelle Ausrichtung hatten, übernahmen sie in diesem Stadium de r Volksbewegun g politische Funktionen . Gerad e i m Frühjah r 1867 häuften sic h Vortragsreihen un d Diskussionsrunden z u aktuellen wirtschaftli chen und politischen Fragen. Die Lesegesellschaft Bülac h etwa lud im Februar 1867 zur Besprechun g de s Kantonalbankprojekts ein , nich t anders der Land wirtschaftliche Verei n Gossau-Grüningen , di e Gemeinnützig e Gesellschaf t Winterthur und andere. Mit Begin n de r demokratischen Revisionskampagn e wandt e ma n sic h sei t dem Herbs t verstärkt den politischen Reformpläne n zu . Dezidiert »Politische Vereine« oder »Gemeindevereinc« traten nun in den Vordergrund; im November rie f de r Gemeindeverei n Wald-Fischentha l z u eine r Besprechun g de r Verfassungsrevision auf, ebenso wie der Politische Verein Wetzikon-Seegräben, der Gemeindeverein Wädenswil oder die (liberal orientierten) Politischen Vereine Züric h un d Winterthur, u m nu r einig e z u nennen . Danebe n versucht e man, zielgerichtet Einfluss au f das unmittelbare politische Wahlgeschehen z u nehmen. Wen n etw a de r Gemeindeverei n Winterthu r wi e auc h de r dortig e Niedergelassenenvercin sic h zu den anstehenden Wahlen des Stadtrats äußerten, spiegelte sich hierin ein e Entwicklung, di e diese »politischen Vereine« zu Vorläufern der späteren Parteien machte. 160 Ein eindrückliche s Beispie l de r Politisierun g ursprünglic h nich t politisc h ausgerichteter Gesellschafte n lieferte n di e Gesangsvereine : »Sänger-Mitbür ger! Sind nicht die Sänger die besten Bürger, die den Ton angeben können und sollten, wie es im Kanto n laufe n soll ? Ihr kommt mir vor wie eine kleine Landsgemeinde [Hervorhebung d . Vf.]. Und wie steht es denn eigentlich u m Eure n Staatswagen? Er ist halt geflickt, durchlöchert, gekittet und in Unordnung wie ein Geschirrflickcrfuhrwer k ... kurzum, kei n Stüc k pass t meh r zu m ande ren«.161 Dies waren überraschende Töne, will man meinen, für die Eröffnung eine s Sängerfestes, das im August 1865 in Hinwil stattfand. Die pathetischen Worte des Bezirksrichter s un d Unternehmer s Keller , de r fü r ein e demokratisch e Totalrevision eintrat, geben wichtige Hinweis e auf das offensichtlich leich t zu politisierende Selbstbild der Vercinsmitglieder. Der patriotische Sänger als verantwortungsbewusster, de m Gemeinwese n verpflichtete r Bürger , de r Verein respektive das Gesangsfest al s Miniaturabbild de r bürgerlichen Urversamm 160 Ebd., S. 428. 161 Tatsächlich benutzte Keller den Züricher Dialekt: »Sänger-Mitbürger! Sind nüt d'Sänge r grad au die besten Bürger, wo chönncd und setted de Ton ageh , wies im Kanto n umme sett laufä . Ihr chönd mir vor wien e chlini Landsgemeind. Und wie stahts denn eigetli um eusere Staatswage? Er ist halt pläzet und verlöcheret und verchittc t un d verchriemlet wie e s Gschirrlütafuhrwerk ... und kurzum es paßt keis Stückli meh recht zum andere«, Der Unabhängige vom 18. August 1865, zitiert nach : ebd., S. 429f.

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lung: Es wurden Leitbilder beschworen, die tief in dem gemeindlich-genossenschaftlichen Freiheitsdenke n verankert waren. Der legitimatorische Gehalt der politischen Vereinstätigkeit, aber auch die Verpflichtung des einzelnen zur Teilnahme, konnten kaum größer sein. Insofern war die von Vcrcinspräsident Keller ausgesprochene Drohung , »wen n Alle s nicht« helfe , fänd e ja i m nächste n Jahr ein Kantonalsängerfest in Uster statt,162 ernst zu nehmen. Keller sollte sich11 nur um ein Jahr irren. Noch ei n weiterer Aspek t prädestiniert e di e Gesangsvereine , al s politische Artikulationsorgane zu fungieren. Ihnen kam die pseudoreligiöse Inszenierung der Volksversammlungen zu , die aus dem überkommenen, religiös fundierte n Freiheitsdenken resultierte. Wie bereits 1830 in Uster gehörte das einer Liturgie nicht unähnliche Absingen einer bestimmten Folg e von Liedern , die weniger zum Kirchen-, als zum Freiheitsliedgut gehörten, zur Umrahmung der Veranstaltungen. Während i n der Regeneration abe r noch schlicht die Menge sang, traten 1867 einige der rund 250 Laienchöre Zürichs auf Di e demokratischen Führer setzten ganz bewusst auf die Möglichkeit der Sakralisierung des Politischen. Z u de n große n Landsgemeinde n i m Dezembe r 1867 rief Bleuler s »Landbote« dazu auf, es möchten »unsere zahlreichen Sängervereine sich auch recht zahlreic h un d vercinsweis e einfinden , dami t ermöglich t werde , de n Volksakt mit einem kräftigen Lied e einzuleiten und zu schließen«. 163 Die Stimmungsberichte von den Großversammlungen bezeugen , dass viele Vereine diese m Aufru f folgte n un d gemeinsa m mi t Tausende n vo n Bürger n etwa in Bülach die Versammlung mi t »Stehe fest, ο Vaterland« und »mit unse­ rem Nationalliede« »Rufst du mein Vaterland« einrahmten.“*4 Das gemeinsame Singen war Teil eines Procederes, in dem sic h patriotische un d religiöse Mo mente mischten. Bleuler selbst berichtete beispielsweise von der Landsgemeinde in Uster , wie sic h ein eindrucksvoller Zu g von »Kadetten, Musik, Fahne n und mehr denn 6000 Männer[n] unte r Kanonendonner und Glockengeläute« zum »geheiligte n Bode n de r Landsgemeind e bewegte , wo am 22. November 1830 die Väter dem Aristokraten-Regimen t ... das Rech t de r Selbstregierun g abzwangen«.165 Dem Singen folgte die Wahl eines Präsidenten, dann erläuterten 162 »Und wen n Alle s nü t hilft , s o henime r über s Jahr e s Kantonalsängerfes t öpp a z Uste r ummc«, zitier t nach : ebd . 163 LBvom 11. Dezember 1867. 164 »Die Versammlung began n ers t um zwe i Uh r ... Ein artiger Zug, Musi k voran und Rafze r Fahnenträger rückte n u m jene Zei t i n di e Kirche , di e jetzt bereit s gefüll t war . Di e Rafze r ware n nämlich besonder s zahlreic h i n eine r Reih e vo n Wage n aufgezogen , dere n jeder ein e Tafe l mi t einer Inschrif t trug , di e ein e › Referendums di e ander e ›Staatsbank ‹ usw . Nationa l rat Scheuchze r eröffnete di e Verhandlungen mi t einer kurzen Ansprache... Die Versammlung ihrerseit s eröffnet e dann ihr e Aktio n mi t de m schöne n Lied : Steh e fest , ο Vaterland!« Di e Landsgemeind e endete , »nachdem si e da s Program m angenommen , mi t unsere m Nationallied e un d gin g ruhi g aus ­ einander«, LBvo m 18. Dezember 1867. 165 LBvom 18. Dezember 1867.

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mehrere Redne r da s demokratisch e Revisionsprogramm , un d nac h de r Schlussabstimmung pe r Handzeiche n wurd e erneu t gemeinsa m gesungen , bevor man auseinanderging. Auffällig ist , wie sehr die Stimmungsberichte von allen politische n Veranstaltunge n diese r Phas e denen de s historischen Uster tags ähnelten. Di e feierlich-ernste Still e de r Menschenmenge , da s geduldig e Zuhören über Stunden hinweg bei schlechter Witterung, die Akzeptanz divergierender Standpunkte und schließlich die geordnete Auflösung der Versammlung - das sind Formulierungen un d Stimmungsbilder, di e ununterscheidba r für beide Ereignisse wiederkehren. »Es ist eine von allen Seiten ... konstatierte Thatsache, dass die vier Landsgemeinden in musterhafter Ruh e und Ordnung verliefen, dass keine störende Ausschreitung, keine Verletzung der republikanischen Ehre und Würde vorkam, dass alle Teilnehmer unverdrossen ausharrten, mit gespannter Aufmerksamkeit de n Vorträgen folgten und ihr lebhaftes Interesse bald durch ernsten, bald durch launigen Zuruf kundgaben.« 166 Während knap p dreißig Jahre zuvo r i m Züri-Putsc h ei n bewaffnete r Zu g gegen die Stadt marschiert war, um Glaube und Vaterland zu verteidigen, verliefen di e entscheidenden Volkserhebunge n zu r Verteidigung de s politische n Gemeinwesens unter strenger Einhaltung demokratischer Regeln . Dieses Phänomen lässt sich erneut auf die kommunale Autonomietraditio n zurückführen, die die Gemeinde zum traditionalen »Ort der politischen Sozi alisation«167 machte. Die Schweizer Historiographie hat dagegen immer wieder die besonder e Roll e de s Vereinswesen s fü r di e Einübun g demokratische r Verhaltensregeln betont . Mi t Blic k au f di e Demokratisch e Bewegun g wir d konstatiert, hier habe man die »formalen Regel n der Vereinsdemokratie« ken nengelernt un d sic h a n die »informelle n Regel n de r Versammlungsdisziplin « gewöhnt.168 De r sprunghaft e Anstie g de r Vereinsgründunge n i n de n 1860e r Jahren bestätigt zweifellos diese Auffassung. Wie aber lässt sich aus dieser Perspektive de r geordnete Ablau f des große n Vorbilds , des Ustertag s vo n 1830, erklären, al s man noc h von eine r vergleichsweis e bescheidene n (ländlichen ) Vereinskultur sprechen muss?169 166 Zitiert nach: Scheuchzer, S. 150. 167 Schaffner, »Volk« gegen »Herren«, S. 44ff. 168 Ebd., S. 46. Auch Rudolf Braun ha t auf die pädagogische Leistung der Vereine hingewiesen, indem das Vereinswesen und Vereinsieben dazu beigetragen hätten, »die Spielregeln unseres Staatslebens auszubilden und einer weiteren Öffentlichkeit ein entsprechendes Verhalten zu die sen Spielregeln einzupflanzen ... Hier lernte das Mitglied, sich Mehrheitsbeschlüsse n zu fügen« , Braun, Sozialer Wandel, S. 360. 169 Martin Bachmann konstatiert für die 1820e r Jahre eine »praktische Gründungsabstinenz« von Lesegesellschaften. Bis 1830 betrug die Anzahl der Lesegescllschaften mit Schwerpunkt in den beiden Städten Winterthur und Zürich sowie den Seebezirken nach Bachmann zwölf, nach Schaff ner sogar nur acht Lesevereine und nur ein Genieindeverein in Zürich. Es gilt aber zu bedenken, dass neben die Lesegesellschafte n zahlreiche Gesangs-, Schützen- und Turnverein e traten. Vgl. Bachmann, S. 17, S. 176, sowie Schaffner, Vereinskultur, S. 422.

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Nicht de r Verein , sonder n di e politisch e Gemeind e stan d a m Anfang de s Lernprozesses politischer Sozialisation.170 Hier, in der Gemeindeversammlung, lernte da s stimmberechtigte Gemeindemitglie d partizipatorisch e Verhaltens regeln, hier wurden gemeinhin i n der Auseinandersetzung um entscheidende lebensweltliche Sachfrage n di e erste n politische n Erfahrunge n gemacht . Di e grundlegende Voraussetzung für das Funktionieren demokratischer Entschei dungsfindung, nämlic h Mehrheitsbeschlüss e anzuerkennen , wurd e traditio nell zuers t durc h di e Gemeind e vermittelt . Di e Roll e de r Vereine al s demokratischer Lehrmeiste r steh t auße r Frage , doc h bestan d danebe n mi t de r Gemeindeversammlung ei n u m viele s ältere r Rahmen , i n de m - mochte e r auch auf den Kreis der Gemeindebürger beschränkt sein - über Generationen hinweg die Regeln politischer Partizipation eingeübt wurden. Wie sind dann aber die so konträren Verhaltensmuster im Züri-Putsch 1839 zu erklären ? Auc h hie r is t au f di e Wirkungsmach t gemeindlich-genossen schaftlicher Denk - un d Handlungsmuste r z u verweisen, wi e si e sic h insbe sondere in dem Leitbild der »Landsgemeinde« ausdrückten. Die Landsgemeinde gal t al s Inbegrif f vo n Volksfreiheit. 171 Imme r wiede r hatte n sic h au f den Höhepunkten der Herrschaftskonflikte de s Ancien régime solche »Urgemein den« gebildet, wenn die Stadtbürgerschaft vor der zentralen Kirche, die ländliche Gemeindebürgerschaft i n der Gemeindeversammlung zusammenkamen , um ihr e Anliege n z u legitimieren . Inde m di e liberal e Regierun g 1839 den legitimatorischen Gehal t der Volksversammlung von Kloten negierte und ihre Organisatoren unte r strafrechtlich e Verfolgun g stellte , verletzt e si e ei n tiefverwurzcltes Rechts- und Freiheitsverständnis und rechtfertigte damit den gewaltsamen Aufstand. Ganz bewuss t bediente n sic h auc h di e Liberale n un d Demokrate n diese s Leitbildes. Nicht nur strategische Gründe waren hierfür ausschlaggebend, sondern auch ihr e Auffassung vo n der Volkssouvcränität, di e sich mit jenem tra dierten Rechts - und Freiheitsverständni s traf. Urgemeinde - Landsgemeinde, in ihnen vollzog sich schließlich das altgenossenschaftliche wie republikanische Ideal de r Verschmelzun g de r einzelne n z u eine m politisch-soziale n Körper . Eine Vergemeinschaftung, di e politische Interessengegensätz e aufhob und soziale Antagonismen nivellierte . Di e Sakralisierun g de s »Volksaktes« (Bleuler ) übte darüber hinaus eine enorme sozialdisziplinierende Kraft aus.172 Vor diesem Hintergrund is t die euphorische Beschreibung der Landsgemeinde von Uster 1867 durch Bleule r zu verstehen: »Ich muss gestehen: Dieser Anblick war ge170 So auch Schaffner, »Volk « gegen »Herren« , S. 45. 171 Siehe zum Leitbild der »Landsgemeinde« als Bestandteil einer «spezifisch schweizerischen politischen Mentalität « ebd., S. 46ff. 172 Das Beispiel eine s Besuchers der Züricher Demokratcnvcrsammlung , der durc h Zürnt e die Versammlung störte und daraufhin »sofort hinausspediert (grosser Tumult)« wurde, spricht für sich. Zitiert nach : Schaffner, Demokratische Bewegung, S. 44.

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eignet, de n Verächte r de r Volkssouveränitä t bebe n z u machen ! Ja, e s is t ei n Anderes, das ganze Volk, versammelt zu r Landsgemeinde wie ein Mann, un d das Volk, zerstreu t i n seinen Werkstätten, au f dem Felde , im Webkeller. Ma n hüte sich, des Volkes ›Majestät‹ zu beleidigen!« 173 Der Landsgemeind e al s politischem un d soziale m Schmelztiege l stan d ei n komplementäres Feindbil d gegenüber . »Günstlings - un d Interessenherr schaft«, »ägyptische Kaste«, »Hofschranzenthum« und viele andere nicht zuletzt von Loche r popularisierte Schlagwörte r konterkarierte n da s Idea l des mittel ständisch-homogenen »Volks«-Begriffs . »Vol k gegen Herren« , »Bürge r gege n Aristokratie« lautet e erneut die den Konflik t strukturierend e Dichotomie , deren Anfäng e wei t i n di e Herrschaftskonflikt e de r Frühe n Neuzei t zurück reichten. E s war keine klassenkämpferische Akzentuierung , di e sich i n dieser Dichotomie Ausdruc k verschaffte . Da s Feindbil d de s »neue n Herrentums « knüpfte vielmeh r a n den traditionelle n Sozialkonflik t de r Gemeinde n gege n einen Herrschafts- respektive Staatszentralismus per sc an. In ähnlicher Weise nährte sich das Schimpfwort de r »Geldaristokratie« aus überkommenen Denk mustern soziale r Gerechtigkeit . Gleiche s gal t au f seite n de r demokratische n Führer. Wen n Kar l Walde r i m Somme r 1866 davon schrieb , »di e materiell e Ausbeutung der Kleinen durch die Grossen, der Feudalismus der Geldaristokratie« müssten aufhören, war sein ideeller Bezugsrahmen nicht die proletarische Klassenkampfideologie, sonder n die republikanische Tugendlehre . Soll e die Republik ein e »Wahrheit« bleiben , dürfe, warnte Walder, das »Hofschran zenthum, die Apostasie und Charakterlosigkeit« nicht mehr als Verdienst angesehen un d belohn t werden , e s gelte de n »Triump h de r Eigensucht « z u bre chen.174 Der politische Erfolg der demokratischen Landsgemeinden war durchschlagend: Run d 27.000 Stimmbürger unterzeichnete n i n de r Folg e ein Initiativ begehren, die Kantonsverfassung einer Totalrevision zu unterziehen. Im Januar 1868 wurde diese s Begehre n wi e auc h di e Bestimmung , di e Revisio n durc h einen neuzuwählende n Verfassungsra t durchführe n z u lassen , mi t große r Mehrheit in einer Volksabstimmung befürwortet. 175 Das demokratische »Volksprogramm« und die Revisionspetitionen an den Verfassungsrat von 1868/69. Die Eindämmung des Staatszentralismus einerseits und Maßnahmen zur sozialen Gerechtigkeit andererseits waren bestimmend für den demokratischen Revisionskatalog und beherrschten die 1868 bei dem neugewählten 173 Zitiert nach : ebd., S . 42. 174 LB vom 2. Mai 1866. In diesem Teno r auc h Salomo n Bleuler , de r i n Alfre d Esche r ein e »persönliche Macht entstanden [ sah), von deren Gunst und Laune mehr abhängt, als eine Republi k ertragen kann« , zitier t nach : Decurtins , S. 299. 175 Knapp 51.000 Stimmberechtigte stimmte n a m 26. Januar 1868 für das Begehren, nur 7300 Bürger lehnt e die Totalrevision ab . Vgl.Allen, S . 72.

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Verfassungsrat eingereichte n Petitionen. 176 Nac h der gedruckten Zusammen stellung des Kanzleisekretär s Ludwi g Forre r gingen allei n zwische n Ma i un d September 165 Eingaben bei m Verfassungsra t ein . Eine zweite größere Peti tionswelle von 240 Eingaben folgte im Februar und März 1869 nach der Beratung des Verfassungsentwurfes.177 I m folgenden sol l nur die erste Gruppe der Petitionen nähe r betrachte t werden , d a si e noc h nich t vo n eine r konkrete n Verfassungsvorlage, sondern ausschließlich von dem demokratischen Reform programm beeinflusst war. 178 Unter der Federführung Bleulers hatte ein kantonaler Exckutivausschuss im Dezember 1867 einen Reformkatalo g formuliert , de r au f de n vie r Lands gemeinden »mi t jubelnder Einstimmigkeit« 179 genehmig t worden war. Unte r dem erste n Tite l de s demokratische n »Volksprogramms « wurd e gefordert : »Schwächung des Einflusses de r Regicrungsgewalt , de r Beamten - und Geldherrschaft auf die Gesetzgebung durch die Erweiterung der Volksrechte«.180 Es folgte das gesamte Instrumentariu m zu r Schwächung des Staatszentralismus: Gesetzesreferendum, Gesetzesinitiative , Abberufungsrech t un d Beseitigun g der indirekten Wahlen des Großrats sowie das Verbot der Ämterkompatibilität für Beamte. Der gesamte Staatsorganismus von Parlament, Regierung und Verwaltung sollt e eine r plebiszitäre n Kontroll e unterworfe n werden . Zusätzlic h forderte man in Titel III die »Vereinfachung des Verwaltungsorganismus«, worunter der Abbau des Beamtenapparats und Ausbau der Gemeindefreiheit ge 176 Der nac h de r positive n Volksabstimmun g i m März/Apri l 1868 gewählte, demokratisc h beherrschte Verfassungsrat hatt e die Bürger aufgefordert, ihr e Wünsche für die Revision einzurei chen. 177 Uebersicht de r be i de r Kanzle i de s Verfassungsrathes eingegangene n Vorschläg e betref fend di e Verfassungsrevisio n Tite l I-IV , S . 1-34, sowie Eingabe n au s de r Zei t nac h vollendete r erster Berathun g de s Verfassungsentwurfes , S . 35-70. M. Schaffne r ha t au f di e groß e Fehler haftigkeit de r List e des Kanzleiführers Ludwi g Forrcr s hingewiesen; da aber nur 81 der Original e (StAZH B X 188.2 und 188.3 »Schriftliche Nachlässe« ) erhalten sind, bleibt man in der Hauptsach e auf diese Liste angewiesen. Di e folgenden Ausführungen stütze n sich deshalb auf Forrers gedruckte Übersichten, ein e grobe Sichtung der verbliebenen Original e sowi e die von Schaffner angefer tigte Analys e de r Eingabe n diese r erste n Phase . Sieh e Schaffner , Demokratisch e Bewegung , Kap . 2.3.2., S. 47-65, zur Quellcnlag e S . 48. 178 Viele Petitione n nahme n ausdrücklic h Bezu g au f da s Volksprogramm : S o unterstützt e beispielsweise di e Petitio n Nr . 54,J.J. Kelle r i n Fischentha l (Hinwil ) »das Programm der 4 Volksversammlungen«, Uebersich t Vorschläge , S . 15. Daneben wurd e abe r auch versucht , di e Verfas sungsarbeiten mi t Einzelwünsche n bi s hi n z u eigene n Entwürfe n z u beeinflussen : Kar l Walde r (Nr. 81, Unterstraß [Zürich] ) legt e etwa einen vierteilige n Verfassungsentwur f vor , siehe Ueber sicht Vorschläge , S . 19f . 179 LB vom 18. Dezember 1867. Zur Entstehung des Revisionsprogramms siehe Scheuechzer, S. 133 ff. 180 Das demokratisch e Program m erschie n zusamme n mi t de r Einladun g z u de n Lands gemeinden: »A n di e Mitbürge r de s Kanton s Zürich« , Aufru f de s kantonale n Komitee s vo m 8. Dezember 1867, abgedruckt in : Bleuler, Aktenstücke, S . 5-7, hier S. 6f Di e Programmpunkte, di e im folgende n nich t erörter t werden , betreffen : Tite l IV »Verbesserung de s Gerichtswesen s un d Vereinfachung de s Justizganges« un d Titel V I »Freie Press e und uneingeschränktes Vereinsrecht« .

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fasst wurden . Beid e Artike l zeuge n vo n de r Absich t allumfassende r gesell schaftlicher Selbstregulierung . Die Petente n folgte n diese n demokratische n Vorschläge n weitgehend. 181 Nur in bezug auf die Staatsbeamten gingen zahlreiche Petitionen - wie bereits während der Regeneration - weiter: die Beschränkung von Amtszeit und Wiederwahl, di e Kürzun g de r Gehälter , ei n Verantwortlichkeitsgeset z sowi e di e Möglichkeit, die Wahlbeamten abzuberufen, überdeutlich trat hierin der traditionelle Antibürokratismus der Bevölkerung zutage. Auffällig war zudem, dass man es offensichtlich fü r wichtiger erachtete, das Parlament zügeln zu können als ih m eine n Gesetzgebungsauftra g z u erteilen. S o wurde da s Gesetzesrefe rendum weitaus häufiger gefordert als die Initiative. Nur wenige Petitionen enthielten-im Unterschied zu denen von 1830/31 eingehende Begründunge n de r Forderungen. 182 Am Beispie l de r Volksrechte lässt sich dennoch erneut zeigen, wie ältere Argumentationsmuster mit modernen, au s de r lebensweltliche n Erfahrun g geschöpfte n Begrifrlichkeite n un d Vorstellungen verbunde n wurden . Hie r finde n sic h wichtig e Beleg e fü r di e Dynamisierung althergebrachter Denkmuster, in deren Folge sich eine demokratische Umgestaltun g de s Systems überhaup t nu r vollziehe n konnte . De r Gemeindeammann Meier aus Uetikon (Bezirk Meilen) etwa forderte Referendum und Initiative, denn »die bisher in der Verfassung enthaltenen Worte: ›die Souveränität beruht auf der Gesamtheit des Volkes‹ sollen nicht mehr blosser Schein sein, sondern Wahrheit werden ... Unser Volk ist mündig und vollkommen befähigt , di e ihm vorzulegenden Gesetz e z u prüfen un d darüber abzu stimmen, und es wäre ein Unrecht, wenn man ihm dieses ihm von Gott gehörende Recht [Hervorhebung d. Vf.] entziehen wollte«. 183 18 lList e der häufigsten Themenkomplex e in den Eingaben Mai/September 1868: Absolut 39 Referendum 24 Gesetzesinitiative Abberufungsrecht gegenübe r der Legislative 12 Staatsbeamte 30 Betreibungs- und Konkursverfahren 4t) Stellung der Falliten 20 24 Kantonalbank 39 Steuerwesen Schulwesen 44

in % aller Eingaben (158= 100) 24,7 15,2 7,6 19,0 25,3 12,7 15,2 24,7 27,8

Quelle: Schaffner, Demokratische Bewegung, S. 55. Die Gesamtzahl von 158 Eingaben im Gegensatz z u de n 165 nach de r List e Forrer s ergib t sic h au s der Einfachzählun g vo n Petitione n de s gleichen Absenders. 182 Die von Forrer erstellte Übersicht gibt außer den jeweiligen Forderunge n keine näheren Erläuterungen wieder. Die folgenden Ausführungen stütze n sich auf ebd., S. 58-64. 183 Nr. 47, Gemeindeammann Meie r aus Uetikon (Meilen) , Uebersicht Vorschläge, S . 14, ausführlich zitier t nach: Schaffner, Demokratische Bewegung, S. 58.

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Begriff un d staatsrechtlich e Vorstellun g de r Volkssouveränität hatte n Ein gang in das politische Denken gefunden, wurden aber letztlich zurückgeführ t auf das göttliche Recht, eine Argumentationsfigur, wie sie älter nicht sein konnte. Dieses Beispiel stellt keine Ausnahme dar, im Gegenteil, es gibt den in vielen Petitionen und der Presse geführten Argumentationssti l wieder . Eine andere Kontinuitätslini e zeichnete sic h i n der Forderun g nac h eine m Finanzreferendum ab , das von run d eine m Vierte l de r Petitione n gewünsch t wurde. Die horrenden Staatsausgaben für die Eisenbahnerschließung und den Ausbau ihre s Knotenpunktes , der Hauptstad t Zürich , lieferte n de n aktuelle n Zündstoff, di e Praxi s de r (gemeinde-)bürgerliche n Mitbestimmun g übe r Haushaltsfragen de s Gemeinwesens reicht e dagege n wei t i n di e kommunal e Selbstverwaltung des Ancien régime zurück . Das Gefühl, gegenüber der Hauptstadt benachteiligt z u sein, wie es sich im obigen Fal l ausdrückte, resultiert e wiederu m au s einem tradierte n Stereotyp . Die Reaktivierun g de r antizentralistische n Konfliktlini e wurd e demnac h zu sätzlich überformt von dem Stadt-Land-Konflikt, de r die Züricher Geschichte seitjeher durchzog. In diesen doppelten Sozialkonflikt war die unter Titel II des Programms aufgeführte Forderun g nach einer Staats- oder Kantonalbank eingebunden. Das ist erklärungsbedürftig, den n wie ließ sich die Forderung nach einer staatlich geförderten Ban k mit der antizentralistischen Stoßrichtun g der Demokraten un d de n fes t verankerte n Ressentiment s weite r Bevölkerungs kreise vereinbaren? Die Antwort lieg t i n den unterschiedlichen Ordnungskonzepte n vo n Staa t und Gesellschaft. Einer Staatsführung unte r liberaler Elitenherrschaft, die den Staat aus der Aufgabe definierte, den passenden Rahmen für die Entfaltung des einzelnen i n eine r moderne n Marktgesellschaf t z u liefern , stan d di e demo kratische Vorstellun g de s Staat s al s politisch-soziale r Einhei t gegenüber . Scheuchzers Bild vom Staat als genossenschaftlichem Kreditverei n aller Bürger hob die Gefahr des Zentralismus auf U m so schärfer war die Kritik an privaten Geldinstituten wi e namentlic h de r »Schweizerische n Kreditanstalt « Alfre d Eschers. Da infolge de r engen Verflechtung vo n Politi k und Wirtschaft sämt liche politische n Spitze n i n de r eine n ode r andere n For m mi t de m Institu t verbunden waren, wurde die Kreditanstalt sowohl als hauptstädtisches Machtmonopol wie auch als staatliches Machtkartell wahrgenommen . Di e Einrichtung einer Kantonalbank gehörte spätestens seit dem Züri-Putsch 1839 zu den populärsten Forderungen. 184 Di e »Beseitigung der angemaßten Privilegie n jener Herreninstitute , di e nu r da s Verderben de s solide n Bürger - un d Mittel stands sind«,185 dieser Topos beherrschte die demokratische Presse, die öffentli184 Dagegen wa r die Einrichtun g einer Kantonalban k 1830/31 völlig unpopulä r gewesen , nu r eine Petition merkt e sie an: Nr. 170, Gemeinden Eg g und Hinteregg (Uster ) vom 10.Januar 1831. 185 Aus der Landsgemeindered e de s Arztes Honegge r i n Zürich , zitier t nach : Bleuer, Akten stücke, S . 10.

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chen Versammlungen un d auch die Petitionen. Fü r den Landwirtschaftliche n Verein Pfäffikon-Hittna u wa r di e Bankfrag e soga r Auslöse r de r Volksbewe gung, denn: »gerade weil si e nicht vom Grossen Rath e gelöst worden, is t die Unzufriedenheit de s Volkes bis auf den Grad gestiegen, dass es zum Mittel der Verfassungsrevision gegriffe n hat.« 186 Insbesondere Bauer n un d Handwerke r verlangte n mi t Vehemen z di e Be rücksichtigung ihrer Interesse n au f dem Kapitalmarkt . Di e frühneuzeitlich e Vorstellung de s Bauern - un d Handwerkerstande s al s »Ker n de s Gemeinwe sens«, vo n de n Demokrate n al s republikanische s Mittelstandsidea l mi t alle r Macht erneut propagiert, berechtigte sie nach ihrem Selbstverständnis, auf ihre Note aufmerksam z u machen. Sollten noch länger »den Schwindel fordernd e Anstalten un d Geldinstitute « Gewin n »au s de n Schweisstropfe n de s arme n Mannes« ziehen können, dann sei die »Existenz eines grossen Theiles der Landwirte« gefährdet.187 Aber auch die Arbeiter meldeten sich zu Wort. Die Arbeiterschaft als Bestandteil des Mittelstands und urwüchsiges Element des »Volkes« diese Integrationsstrategi e vo n Bleuler , Loche r un d andere n zeigt e Wirkung . Anders als noch 1863 rief das Prinzip der (unternehmerischen ) Selbstorgani sation der Arbeiterschaft ein Echo hervor. Der politische Verein Uster wie auch eine Sammelpctition mehrerer Arbeiter aus Wintcrthur wünschten eine Staatsbank zur Unterstützung von »produktiven Arbeitergenossenschaften«. 188 Die Kapitalmarktfrage mach t deutlich: E s ging nicht generell u m die Um kehrung des marktwirtschaftlichen Entwicklungsprozesses . Di e Gründungs hilfe fü r Produktivgenossenschafte n un d di e Absicherun g de s Hypothekar wesens standen vielmehr für den Willen, gleichberechtigt a m wirtschaftliche n Wachstum teilzunehmen. Von dieser Haltun g zeugte auch der Titel II des demokratischen Volksprogramms, unter dem die Staatsbankforderung aufgeführ t wurde: »Hebung der Intelligenz und Produktionskraft de s Landes«. Chancengleichheit war das Diktum der materiellen Forderunge n von 1867. Nicht das kapitalistische Erwerbsstreben als solches stand vor dem Richterstuhl, sondern die Entgleisungen eines auf wenige Mächtige beschränkten, ungezügelten Ei gennutzes. Folglich warf der demokratische Aufruf vom Dezember 1867 »den Männern von 1830« vor, der »schöpferische Gedank e des Ustertages« habe »in ihnen seine Triebkraft verloren«, denn sie »richteten ihr Thun lediglich auf das materielle Gebiet der Eisenbahnen, Industrie- und Geldgesellschaften, die ihre volle Berechtigung [Hervorhebun g d . V] unbestritten haben , i n denen abe r die 186 Nr. 36, Landwirthschaftlichcr Verei n Pfäffikon-Hittna u (Pfäffikon) , Uebersich t Vor schläge, S. 10, ausführlich zitier t nach : Schaffner , Demokratisch e Bewegung , S . 63. 187 Nr. 47, Gemeindeammann Meie r au s Uetiko n (Meilen) , sowi e Nr . 97, Gemeinde Mönchaltorf (Uster), Ucbersich t Vorschläge, S. 14 und S. 24, ausführlich zitier t nach : ebd., S. 63f . 188 Nr. 25, Politischer Verei n Uste r (Uster) , un d Nr . 102, »einige Arbeite r i n Wintcrthur « (Wintcrthur) (Origina l nich t vorhanden), Uebersicht Vorschläge, S. 9 und S. 25, ausführlich zitier t nach:ebd.

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geistig-ideale Seite der Staatsaufgabe ohn e höchste Gefahr um so weniger aufgehen darf , al s ungezügelte r Geldmaterialismu s un d einseitige r Prozent schwindcl dem Volke nimmer aufzuhelfen vermoch t hat.« 189 Hier schein t wiede r di e zentrale Kategori e des Gemeinwohls al s Sinnbild eines gerechten ebenso wie tugendhaften Gemeinwesens auf. Um seine erneute »Regeneration« musste es gehen. Gemeinwohl durch Chancengleichheit war das Motto. Wie anders ließe sich erklären, dass außer der Staatsbank die Umverteilung de r Staats - un d Gemeindelasten , di e Beseitigun g de r indirekte n Abgaben, di e Reformierung de r Erbschaftssteuer, di e kostenlose Militäraus rüstung, de r staatliche Ausba u de r Infrastruktu r un d die Verbesserung der Volksschule unte r de m Programmtitel de r »allgemeinen Förderun g der Pro duktionskraft« geforder t wurden. Alle diese Punkte fanden in den Petitionen großen Widerhall. Exemplarisc h sei der Komplex des Steuerwesens herausgegriffen . 41 der 158 Eingaben beschäftigten sic h mit Fragen des Fiskus, allgemein forderte n di e Petenten ein e »gerechtere Verteilung der Steuerlast nach Massgabe der Steuerkraft. Gedrückte sollen erleichtert , gross e Reichthüme r meh r belaste t werden«. 190 Wie auch das demokratisch e Volksprogram m zielte n di e Eingabe n nich t nu r auf eine angemessenere Veranlagun g der Privatpersonen, sonder n vor allem auc h der Aktiengesellschaften. Ausdrücklic h wurd e i n diese m Zusammenhan g di e Nordostbahn - Eschers Privatbahnunternehmen - genannt.191Die Vorschläge reichten von einer progressiven Einkommens- und Vermögenssteuer über die Einführung eine r Luxussteue r fü r Vermögende bi s hin zu einem Steuerfrei betrag und Kindergeld.192 Der kurze Überblick verdeutlicht, dass das Gros der Reformwünsche älteren Datums war. Viele Punkte - zum Militär- und Steuerwesen, zum infrastrukturellen Ausbau und zur Staatsverwaltung - wurden bereits 1830/31 formuliert, waren abe r unberücksichtig t geblieben . Ein e regelrecht e Verkehrun g de r Standpunkte stellte hingegen die »Aufhebungder infamierenden Folgen unver189 »An die Mitbürger des Kantons Zürich«, abgedruckt in: Bleuler, Aktenstücke, S. 5. 190 Nr. 25, Politischer Verein Ustc r (Uster) , Uebcrsich t Vorschläge, S. 9, ausführlich zitier t nach: Schaffner, Demokratisch e Bewegung, S. 61 mit weiteren Beispielen. 191 Nr. 48, Dr. Meister aus Bubikon (Hinwil) , Uebcrsicht Vorschläge, S. 14, ausführlich zitiert nach : ebd. 192 Beispielsweise Nr . 25, Politischer Verei n Uste r (Uster ) forderte : »Gross e Rcichthüme r sollen meh r belaste t werden; denn diese gehen mit einer Progressio n von zum Beispiel ½bis 2% nicht z u Grunde«. Die bisherige Steuerprogression sei nicht ausreichend, denn si e »fängt gegen wärtig zu früh an und hört viel zu früh auf; indem sie die grossen Einkommen gar nicht beschlägt«. Nach Ansich t des Lehrers H. Bosshardt (Nr . 648, [Winterthur], Original nich t erhalten) sollten die Einkomme n bi s zur Höh e de r Lebenshaltungskoste n steuerfre i bleiben . De r Monatsverein Furtthal (Nr. 108, [Dielsdorf], Original nicht erhalten) forderte eine Erbschafts- und Luxussteuer, während Vermögen bis3000 Franken steuerfrei sein sollten. Drei Züricher Bürger setzten sich für Steuerabzüge für Kinder ein (Nr. 85, W. Ehrenberg, B. Lips,J. Hardmeycr) , Uebcrsicht Vorschläge, S . 9, 17 , 23 und 26, zitiert nach: ebd.

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schuldetcr Zahlungsunfähigkeit« dar, wie sie unter Titel V des Volksprogramms aufgeführt un d von rund 13% der Petenten eingeklagt wurde. Gemeint war der entehrende Verlust des Aktivbürgerrechts. Die vormalige Usterbewegung hatte sich der Situation der Falliten überhaupt nicht angenommen. Sie hatte in erster Linie unter dem Zeichen der Sicherung von Eigentumsansprüchen gestanden. Die zahlreiche n Reformvorschläg e zu m Verfahre n de r Schuldeneintreibun g waren ausschließlic h präventi v ausgerichte t gewesen . Zie l wa r es , den unte r Druck geratenen Schuldne r so lange wie möglich vor dem Bankrott zu schützen. War dieser eingetreten, wurde der Verlust der Bürgerrechte als legitim akzeptiert. Ganz ander s stellt e sic h di e Situatio n knap p vierzig Jahre späte r dar . Da s meiste Interesse, so berichtete der »Landbote« von der Bülacher Landsgemein dc, rie f di e Red e de s Handwerker s un d Kreisrichter s Neukom m au s Raf z hervor, de r den u m sein e Aktivrechte beraubte n Fallite n mi t eine m »Zücht ung«, d . h . eine m Zuchthäusler , verglich. 193 Di e soziale n Hintergründ e fü r diese Forderun g sin d angesicht s de r wirtschaftliche n Kris e klar ; hinte r de n funktionalen Zusammenhängen stand jedoch eine notwendig gewordene Weiterentwicklung überkommene r Denkmuster . De r unehrenhaft e Ausschlus s des Zahlungsunfähigen au s der politischen Bürgergemeinschaft gehört e traditionell zur gemeindlich-genossenschaftlichen Praxi s und fußte auf der Auffassung der Korrelatio n vo n Pflichte n un d Rechten . Hatt e sic h demnach unte r dem Einflus s de r lebensweltliche n Erfahrunge n diese s tradierte Wertesystem aufgelöst? Eine solch e Schlussfolgerun g wär e eindeuti g überzogen . Grundsätzlic h bleibt zu bedenken, dass sich die geforderte Revisio n betontermaße n nu r auf die »unverschulde t Zahlungsunfähigen « bezog . Diejenigen , di e ihre n wirt schaftlichen Rui n dagegen schuldhaft, d. h. durch Leichtsinn, unsittlichen Lebenswandel ode r Spekulatione n herbeigeführ t hatten , sollte n weiterhin vo m Verlust der Bürgerrechte betroffen sein. 194 In dieser Ausschlusspraxis, die 1869 in die neue Kantonsverfassung einging, wirkten tradierte Leitbilder fort, indem mangelnde Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen durch Habgier oder Leichtsinn weiterhi n bestraf t wurde . Dami t sin d di e wichtigste n Reform postulate der ersten Petitionswell e vo n Mai bi s September 1868 genannt. Si e tauchten alle auch in den 265 Petitionen des Februar und März 1869 wieder auf, die nach Vorlage eines Verfassungsentwurfs eingesandte n wurden . Inhaltlic h gab es demnach kein e markante n Unterschied e zwische n de r Phase vor un d nach der Vorlage des Verfassungsentwurfs, i n bezug auf das Verhalten der Petenten zeichneten sich dagegen grundlegende Veränderungen ab. Dazu zählten etwa die Differenzen i n der Autorenschaft de r Petitionen. In der erste n Phas e dominierte n eindeuti g di e Petitione n vo n Einzelpersonen . 193 Vgl. Bleuler, Aktenstücke, S. 20. 194 Vgl. Sträuli, S. 75f.

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Sammelpetitionen informelle r Gruppen , etwa »mehrere[r ] Bürge r von Stadt und Land«, l95 und Vereinseingaben folgten, die Gemeinden und andere öffentliche Körperschaften bildete n den Schluss.196 Der politische Alleingang, wie er sich 1830/31 nur bei wenigen Vertreter n der »bourgeoisic de s talents« gezeig t hatte, setzte sich nun stärke r durch . Di e Vertreter de s Bildungsbürgertum s Ärzte, Pfarrer, Lehrer, Journalisten, Professoren, Juristen - stellten die meisten Einzclpctenten, doc h auch au s Handel un d Gewerbe , von Geschäftsagenten , Kommissionären, einem Bäcker, Buchdrucker und Grobschmied, gingen Reformwünsche ein. Bauern, Handwerker und Arbeiter traten dagegen nicht namentlich hervor . Möglicherweise reichte n Mitgliede r diese r Gruppen anony me Eingaben ein. Darauf deutet zumindest jene Petitio n hin, die die singuläre Forderung nac h einer Revisio n de s »Gesetzes betreffend di e Verhältnisse de r Fabrikarbeiter« vertrat. 197 Ganz anders dagegen die Petitionen des Februar und März 1869: Nun dominierten eindeuti g di e Eingabe n öffentliche r Körperschaften , alle n vora n di e Gemeindepetitionen. Offensichtlic h präferiert e ma n jetzt, i n de r konkrete n Auseinandersetzung mi t eine m Verfassungsentwurf , di e etablierte n Forme n der Versammlungsdemokratie. S o fanden sic h di e »Genossen « eine s Bezirks, eines Wahlkreises, der »Gesammtkirchenpfleg e Sitzberg«, 198 mehrerer Nach bargemeinden bis hinunter auf die Ebene der einzelnen Gemeinde , vor allem der Kirchgemeinde , zusammen . Di e große Bedeutung , di e die Kirchgemein den nu n spielten , reflektiert e i n bemerkenswerte r Weis e di e Umbrüch e de r traditionellen gemeindebürgerliche n Strukturen . Weitau s häufige r al s de n Rahmen de r neuen Einwohner- oder der altenBürgergemeindc bevorzugte n die Stimmfähigen den immer noch stabilen korporativen Rahmen der Kirchgemeinden. Hier wurden keineswegs nur religiöse Forderungen wie die Kultusfreiheit oder die Demokratisierung der Kirchensynode formuliert, sondern das gesamte Spektrum der politischen Fragen erörtert. Eigentliche »Massenpetitionen « beherrschte n nu n da s Gesamtbild ; hatte n während de r Regeneratio n bestimmt e Talschafte n de s Oberlande s mehrer e hundert Unterschrifte n zusammengetragen , reichte n nu n fün f Gemeinde n 195 Nr. 106, [Original nich t erhalten), Uebersicht Vorschläge, S. 25, ausführlich zitier t nach: Schaffner, Demokratisch e Bewegung , S. 52. Dort auch andere Beispiele. 1 96 Siehe die Auszählung der 158 Eingaben bei Schaffner, wonach die Einzelpersonen 36,5%, Gruppen 23,3%, Vereine 15,7% und öffentliche Körperschafte n 10,7% der Absender ausmachten, ebd., S. 49, Tab. 5. 197 Nr. 43, N. N. [o. O.], Uebersicht Vorschläge, S. 14. Schaffner verweist au feinen einzigen Fabrikarbeiter unter den Einzclpctenten, allerdings fehlen näher e Hinweise auf die Eingabe. Das gilt auch fü r die Hinweis e be i Jäger/Lemmenmeier/Rohr/Wiher, S . 171, die fü r ihr Untersuchungs gcbiet des Oberen Glatttal s sogar insgesamt von vier Petenten au s der Fabrikarbeiterschaft spre chen. Anhand der Liste Forrers können diese Angaben nicht verifiziert werden . 198 Siehe Petitione n Nr . 390-409 (nachträglich handschriftlic h geänder t i n Nr . 385-404), Uebersicht Vorschläge , S . 69: »namens de r Gesammtkirchenpfleg e Sitzberg « mi t insgesam t 19 Gemeindekörperschaften.

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zusammen ein e Petitio n mi t 14.438 Namen ein. 199Hierin zeichnete sic h ein spezifischer Wandel in der politischen Praxis ab, der über die traditionelle Form der Gemeindedemokrati e hinauswies . Letzter e hatt e keinesweg s ausgedient , aber di e Stimmbürger, di e zu diesem Zeitpunk t übe r ihr e direkt e politische Teilnahme auf Kantonsebene diskutierten, suchten folgerichtig bereits im Vorfeld Foren der interkommunalen Willensbildung . Dieser Wande l i n der politischen Willensbildun g un d -äußerung spiegelt e sich zudem in der durchgängig hohen Stimmbeteiligung: Run d 90% der Aktivbürger gaben bei der Volksabstimmung über eine Totalrevision im Januar 1868, der anschließende n Wah l de s demokratisch dominierte n Verfassungsrat s i m März/April 1868 und der Schlussabstimmung über die neuausgearbeitete Verfassung am 18. April 1869 ihr Votum ab.200 Dabei handelte es sich nicht nur um kurzfristige Politisicrungsspitzen , die Wahlbeteiligung an den Kantonswahlen lag auch nach 1869 dauerhaft be i 80% bis 90%. 201 Auffällig wa r überdie s di e überproportiona l hoh e Zah l vo n politische n Amtsträgern, die 1868 in den Verfassungsrat eintraten. 202165 von insgesamt 222 Verfassungsräten hatte n eine politische Stellun g inne. Unter ihnen dominier ten Mitglieder des Großen Rats (96 Personen), weitere 69 Verfassungsräte nahmen Positionen auf der Bezirks- oder Gemeindeebene ein. Man wählte also im liberalen wie im demokratischen Lage r vornehmlich »Politprofis« . Alle dre i vorngenannte n Punkt e - die wachsende Bedeutun g de r über kantonalen Versammlungsdemokratie, die extrem hohe Stimmbeteiligung und die Bevorzugun g politisc h erfahrene r Abgeordnete r - können al s Teil eine s politischen Modernisierungs- und Professionalisierungsprozesses gelesen werden. Dazu gehörte auch das gewandelte Wahlverhalten der Stimmberechtigten. Offensichtlich meinten viel mehr Bürger als noch 1830, eine Revision in ihrem Sinn würde durch die Wahl eines bestimmten Abgeordneten bereit s gewähr leistet. Diese stärkere »parteiliche« Bindung der Abgeordneten war erst möglich geworden, nachdem mit den Demokraten erstmals eine wirkliche »Oppositi onspartei« in den Wahlkämpfen angetreten war Obwohl noch nicht von Parteien im eigentlichen Sin n gesprochen werden kann, zeichnete sich so doch eine 199 Nr. 349, (handschriftlich geänder t i n Nr . 346), unterz. J. U . Zellweger-Wäffler [Win terthur]: Eingab e betrefTen d artikelweis e Abstimmung übe r di e Verfassung vo n zusamme n 5 Gemeindsversammlungen un d 14.430 (geändert in 14.438) Einzelunterschriften, Uebersich t Vorschläge, S . 65, sowie beispielsweis e Nr . 259, Eingabe [o . O.] von zusammen 37 Gemeindeversammlungen un d mit 2988 Einzelunterschriften, Uebersich t Vorschläge, S. 48. 200 »Zusammenstellun g de s Ergebnisses der Volksabstimmung vo m 26. Jenner 1868 über die Vornahme eine r Verfassungsrevision« , abgedruck t in : Bleuler , Aktenstücke , S . 23ff., sowi e Scheuchzer, S. 163f. , und Schaffner, Demokratisch e Bewegung , S . 65. Zur Abstimmung übe r die neue Kantonsverfassung sieh e Allen, S. 73, sowie Peyer, Verfassungsrevision , S. 55. 201 Vgl. Schaffner, Demokratisch e Bewegung , S . 67f., Tab. 8. 202 Siehe ebd., S. 71, Tab. 10, sowie Bleuler, Aktenstücke, S. 28-31, »Mitglieder des Zürcherischen Verfassungsrathcs« .

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im Unterschie d z u 1830/31 stärkere Formierun g der politischen Parteiunge n ab. Die Züricher Kantonsverfassung vom 31. März 1869, die mit mehr als 35.000 Ja-Stimmen gege n run d 22.000 Nein-Stimmen angenomme n wurde, 203 spiegelte de n Triump h de r Demokratische n Bewegung . All e obengenannte n Hauptpostulate wurde n verfassungsrechtlic h verankert : a n erste r Stell e da s Gesetzes- und Finanzreferendu m sowi e die Gesetzesinitiative. 204 S o mussten zweimal jährlich - wie i n den Gemeinden - im Frühjahr un d i m Herbs t alle Gesetze un d Verordnunge n de r Volksabstimmung unterzoge n werden . Die s galt in gleicherweise für regelmäßige Staatsausgaben über 20.000 Franken jährlich un d einmalig e Ausgabe n übe r 250.000 Franken. Au f Wunsch vo n 5000 Aktivbürgern oder einem Dritte l des Parlaments konnte außerdem ein Gesetz zur Vorlage , Aufhebun g ode r Abänderun g zu r Volksabstimmun g kommen . Sämtliche politische n Ämter wurden durc h direkt e Volkswahl bestimmt un d Neu- bzw. Bestätigungswahlen unterworfen, außerdem war die Regelamtszeit für Beamte - Richter, Professoren, Pfarrer und Lehrer eingeschlossen -generell verkürzt.205 Deutlic h gege n di e »Eisenbahnbarone « richtet e sic h di e Klausel , dass ei n Regierungsmitglie d vo r de r Übernahm e eine s Posten s al s Direkto r oder Verwaltungsrat die Genehmigung des Parlaments einzuholen hatte.206 Auf die Übernahme der Fallitcnforderung (Art . 18.3) wurde bereits hingewiesen. Unter de m Tite l »Volks - un d Staatswirthschaftlich e Grundsätze « fande n sämtliche vorngenannten wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen Eingang i n da s Verfassungswerk : Reforme n de s Steuerwesen s sowi e staatlich e Unterstützung des Kreditwesens, des infrastrukturellen Ausbaus und des Militärwesens.207 Besondere Beachtun g verdient de r Artikel 23, der die staatliche Förderung des Genossenschaftswesens sowie die Revision der Arbeiterschutzbestimmungen garantiere n sollte . Tatsächlic h bliebe n beid e Bestimmunge n toter Buchstabe ; entsprechend e Ausführungsgesetz e konnte n nich t verab schiedet werden. So fiel beispielsweise 1870 ein von den Demokraten verfoch tenes neues Fabrikgesetz, das die Maximalarbeitszeit für alle Arbeiter auf zwölf 203 Bcschluss betreffend die Annahme der Verfassung des eidgenössischen Standes Zürich Anhang zur Verfassung des eidgenössischen Standes Zürich vom 18. April 1869. 204 Verfassung 1869, Art. 29 (Vorschlagsrecht des Volkes), Art. 30 (Volksabstimmung), Art. 31.5 (Finanzreferendum). 205 Verfassung 1869, Art. 11 (Erneuerungswahlen), Art. 37 (Direktwahlen des Kantons- und Regie rungsrats), Art. 44 (Direktwahl der Bczirksbeaintcn), Art. 64 (Wahl der Lehrer und Geistlichen). 206 Verfassung 1869, Art. 39. 207 Die Einführung der Steuerprogression auf Einkommen und Vermögen und ein steuerfreies Existenzminimum, die kostenlose Abgabe der Militärausrüstung und die von den Bauern dringend geforderte Senkung der Umsatzsteuer auf das Viehsalz fanden ebenfalls endlich Eingang in das Verfassungswerk. Verfassung 1869, Art. 19 (Steuerwesen), Art. 24 (Kantonalbank), Art. 25 (Straßenwesen), Art. 26 (Eisenbahnen), Art. 27 (Militärausrüstung).

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Stunden senken wollte, in der Volksabstimmung knapp durch 208 ; ein Ergebnis, das die großen Vorbehalte der Liberalen gegenüber den Volksrechten in Wohlgefallen auflöste und sie das Referendum als »wesentlichen Fortschritt in unserem republikanischen Staatswesen« 209 feiern ließ. Die fundamentale Zäsur der demokratischen Revisio n erschließt sich in der Einleitungsformel sowi e de m erste n »Staatsbürgerliche n Grundsatz « (Art . 1) der Verfassung: »Da s Volk des Kantons Zürich gibt sich kraft seine s Selbstbestimmungsrechts folgende Verfassung... Art. 1. Die Staatsgewalt beruht auf der Gesammthcit des Volkes. Sie wird unmittelbar [Hervorhebung d. Vf.] durch die Aktivbürger und mittelbar [Hervorhebung d. Vf.] durch die Behörden und Beamten ausgeübt.« Dagegen hatte die Regenerationsverfassung i n ihrem ersten Artikel die Ausübung de r Souveränitä t durc h de n Große n Ra t al s Stellvertrete r de s Volkes betont.210 An die Stelle der repräsentativdemokratisch verstandene n Volkssouveränität tra t ein e repräsentativ - un d direktdemokratisch e Element e verbin dende Volksdemokratie. Der Widerspruch, der sich vor dem Hintergrund eines überlieferten Antizentralismus bzw. Antibürokratismus einerseits und den Bedürfnissen staatsinterventionistischer Umverteilungsmaßnahme n andererseit s ergab, wurde aufgelöst durch einen plebiszitär kontrollierten Ausbau des staatlichen Machtmonopols. Diese Lösung speiste sich sowohl aus dem traditionellen gemeindlich-genossenschaftlichen wi e auc h de m republikanische n Idea l der Identität von Regierenden und Regierten .

208 Diese Gcsetzesvorlage hatt e das 1859 verabschiedete erst e kantonale Fabrikgeset z ablöse n sollen, welches im wesentlichen Bestimmunge n zu m Kinderschut z enthielt. Die gleichzeitig insti tutionalisierte »Fabrikkommission« , de r di e Einhaltun g de r gesetzliche n Bestimmunge n oblag , monierte jedoch erheblich e Verstöße . De r Versuch vo n 1870, alle Fabrikarbeite r unte r Gesetzes schutz zu stellen, misslang zwar, aber schon 1874 wurde eine entsprechende Schutzbestimmung i n die revidierte Bundesverfassun g aufgenommen . Dre i Jahre späte r stimmte di e Schweizer Bürger schaft für das erste eidgenössische Fabrikgesetz, das nicht nur auf dem Papie r äußerst fortschrittlic h war, sonder n dan k dreier eidgenössische r Inspektore n auc h umgesetz t wurde . Sieh e zu r Fabrik gesetzgebung Grtmer , Arbeiter , S . 238ff. , sowi e speziel l Dättenbach . Fü r de n spätere n Zeitrau m Gruner, Arbeiterschaft, Bd . 1, S. 214ff., S . 445-463. 209 Der Freisinnige vo m 30. Juli 1870, zitiert nach : Geschicht e des Kantons Zürich, S . 149. 210 Staatsverfassung 1831, Art. 1: »Der Kanto n Züric h is t ei n Freistaa t mi t repräsentative r Verfassung un d al s solche r ei n Glie d de r schweizerische n Eidgenossenschaft . Di e Souveränitä t beruht au f der Gesammthcit de s Volkes. Sie wird ausgeüb t nac h Maaßgab e de r Verfassung durc h den Großen Rat h als Stellvertreter de s Volkes«.

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4 3 3 . Die Demokratische Bewegung: Wiederherstellung der »alten Schweizerfreiheit « oder Fortentwicklung auf der »Bahn des Fortschritts«? Die Verfassung von 1869 war das Ergebnis einer Synthese aus demokratischen und gemeindlich-genossenschaftlichen Vorstellungen , wie si e sich im Verlauf der Demokratische n Bewegun g i n de n Jahren 1861-1869 entwickelt hatte . Kennzeichnend für diesen Entwicklungsprozess war die Verknüpfung des genossenschaftlichen Selbsthilfeprinzip s un d de s staatsinterventionistische n Prinzips, die die demokratische Führungselit e unte r Bezugnahme au f die republikanische Prägun g der Schweiz vollzog. De r schweizerische Staat »als Sache de s Volkes«, gegenübe r de m monarchische n Staa t al s von »de m Bürger stand« getrennte Größe , hatte es Scheuchzer formuliert . Ers t in diese r Phas e um 1865 perzipierten di e Züriche r Demokrate n au f breiter Eben e da s klassisch-republikanische Konzep t bürgerliche r Selbstregierun g un d dami t di e Volksrechte. Ein vergleichbarer Prozes s lief auf der volkskulturellen Ebene ab, wo erst nach der Verfassungsrevision vo n 1865 die Propagierun g de r Direkt demokratie ein lautes Echo hervorrief Entscheidend e Voraussetzung für diesen Umbruch wa r di e Eliminicrun g de r traditionelle n politische n Gemeinde bürgergesellschaft. Die Freisetzung des politisch definierten Gemeindebürger s zeitigte gerade fü r die Mittel- und Unterschichte n de r Bauern , Handwerker , Gewerbetreibenden un d Arbeiter um so einschneidendere Konsequenzen , als sie in besonderer Weise von den wirtschaftlichen Rückschläge n sei t Mitte des Jahrzehnts betroffe n wurden . Nich t zuletz t di e agitatorisch e Polemi k eine s Friedrich Loche r verdichtet e da s Stimmungsbild eine r fundamentale n Kris e bei de n demokratischen Führer n ebens o wie be i große n Teile n de r Bevölke rung. De r kritisch e Momen t de r akute n Gefährdun g de r Züricher Republi k schien gekommen. Die Landsgemeinderede n de s Dezembers 1867 spiegeln dies e atmosphäri sche Zuspitzung eindrucksvoll wider. Wiederum dienten zum einen Topoi des republikanischen Tugenddiskurses zur Umschreibung der Gefahr, - eine Kontinuität, die hier bis in die Aufklärung zurückverfolg t wurde . »Eigennutz un d Selbstsucht« versu s »allgemein e Wohlfahrt«, 211 »korrumpierend e Günstlings und Interessenherrschaft « versu s »solide[r] Bürger - un d Mittelstand« , »über wuchernde Beamten - un d Geldaristokratie « versu s »Selbstregierung« , »Prin ceps und Sklavenhalter« versus »Republikaner und Mitbürger« - alle diese aus der Tugendlehre bekannten Gegensatzpaarc lassen sich aus den Landsgemeindereden herausfiltern. Sie trafen sich mit den normativ gesetzten gemeindlich211 »Mitbürger! Jeder soll heute und an dieser Stelle Eigennutz und Selbstsucht von sich werfen, heute gilt's dem Volke und nur dem Volke, zu dem Alle gehören, nicht dem Einzelnen gilt's heute, sondern der allgemeinen Wohlfahrt... Ich fordere von dem einzelnen Unterdrückung des Eigennutzes und der Selbstsucht«, aus der Bülacher Landsgemeinderede Friedrich Scheuchzers, zitiert nach: Bleuler, Aktenstücke, S. 19.

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genossenschaftlichen Vorstellunge n von Gemeinwohl un d Gerechtigkeit, von Autonomiestreben un d dem korporative n Leitbil d der Einheit von Regierte n und Regierenden , abe r auc h mi t de r konkrete n lebcnsweltliche n Erfahrun g sozialer Deprivation . Daneben wurde n abe r auc h tradiert e Leitbilde r de r schweizerische n bzw . züricherischen Freiheitstraditio n beschworen . Daz u gehört e a n erste r Stell e der Rekurs auf den Gründungsmythos der Eidgenossenschaft un d ihren jahrhundertelangen Freiheitskamp f gegen Unterdrückun g un d Fremdherrschaft . Karl Bürkli ging in seiner Züricher Landsgemeinderede bis in die Burgunder kriege (1474—1476) zurück, u m di e Versammelten a n die siegreiche Schlach t von Murte n gege n de n Herzo g von Burgund z u erinnern. Nu n stünd e ma n selbst auch »im Kampfe« und werde hoffentlich ebens o den eigenen »Herzog« schlagen,212 gemeint war selbstverständlich Alfred Escher. Noch weiter zurück reichte die Kontinuitätslinie , i n die Scheuchzcr die Landsgemeinden de s Dezember 1867 stellte; sie schienen ihm Kopie des Ersten Bundes auf dem »Grüt li«, wo die damaligen drei Repräsentante n des Volkes getagt hätten. Und auch der Freiheitshcld Tell wurde als Gewährsmann für die integeren Ziele der Demokraten ins Feld geführt . In die historisierende Betrachtung der Demokratischen Bewegung fügte sich zudem ihre Einbettung in das Autonomiestreben der Züricher Landschaft gegenüber der privilegierten Hauptstadt. Symbol dieses Freiheitskampfes war der Ustertag vo n 1830, an de m di e »Väter « »de r Stadtaristokrati e ih r Rech t de r Selbstregierung abzwangen«.213 So wie die ländlichen Liberalen die Versammelten i m Novembe r 1830 als »Söhn e vo n Stäfa « aufgeforder t hatten , da s Erbe ihrer Väter anzutreten , beanspruchte n di e Demokrate n 37 Jahre späte r jenes der Väte r vo n 1830. Die demokratische n Landsgemeinde n de s Dezember s 1867 standen so in doppeltem Sinn ganz im Zeichen der »Regeneration«, wenn Scheuchzer der Landsgemeind e zurief : »Erneuern wir doch miteinander de n Ustertag«.214 Was meinte aber der Begriff der »Erneuerung«, zielt e man auf eine Wiederherstellung verlorengegangener , unveräußerliche r Recht e gemä ß dem Teno r der ländlichen Volksbewegung von 1830, oder ging es um eine Weiterentwicklung de s damal s Erreichten ? Tatsächlic h durchzoge n beid e Deutunge n di e Landsgemeindeansprachen. Jen e bekannte n dre i Argumentationsmuste r waren es, mit denen der Direktor der Tierarzneischule Zangger die Wiederherstellung »alter« Recht e legitimierte : de r naturrechtliche Hinwei s auf die »un veräußerlichen Menschenrechte« , di e rechtspositivistisch e Einforderun g de r verfassungsrechtlich verankerte n »Gleichberechtigun g aller Staatsbürger« von 212 Rede Karl Bürklis auf der Landsgcmeind e in Zürich, zitiert nach: ebd., S. 11. 213 Rede Zanggers auf der Landsgemeind e in Uster, zitiert nach: ebd., S. 11. 214 Rede Scheuchzers, zitier t nach: ebd., S. 19.

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1831 sowie das Göttliche Recht, das er bewusst als Handlungsmaxime der Väter seinen Erläuterungen voranstellte: »Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last - greift er hinauf getrosten Muthes, in den Himmel, und holt herunter seine ewigen Rechte, die droben hangen, unveräußerlich un d unzerbrechlich, wie die Sterne selbst.« 215 In gleicher Weise wie die Verfasser des Stäfner Memorial s von 1794 und die ländlichen Führe r der Regenerationsbewegung von 1830 rekurrierte auch der Demokrat Zangge r i m Jahr 1867 auf eine n verlorengegangene n originäre n Freiheitszustand, de r aber nu n ander s als zuvor i n der direktdemokratische n Selbstregierung des Volkes Wiederaufleben sollte . Die Sakralisierungdes Politischen, wie sie sich in der Formel »Usterboden ist heiliger Boden, Usterzeit ist heilige Zeit« 216 niederschlug, korrespondiert e dabei direkt mi t den überliefer ten Handlungs- und Deutungsmustern eine s im Göttlichen Rech t fundierte n Freiheitsbewusstseins. Also Reaktivierung un d Fortentwicklun g i n einem? Ebe n dieses Selbstbil d beherrschte die demokratischen Aufrufe, Reden und Artikel und wurde auf den Versammlungen mi t dem Jubel der Zuhörer bedacht. Als das kantonale Komitee im Januar 1868 alle stimmberechtigten Einwohne r de s Kantons fragte, ob sie wollten, »das s Zürich au f der Bah n de r Freiheit , de s Fortschritt s un d de r Volkssouveränität wiede r einma l entschiede n vorangehe«, 217 beantwortet e di e Mehrheit de r Bürge r dies e Frag e durch ih r Votum mi t eine m klare n Ja. Vor diesem Hintergrun d is t die Interpretation de r Demokratischen Bewegun g als Folge eine s »Modernisierungskonflikts« , wi e si e i n de r jüngeren schweize rischen Historiographi e vorherrscht , z u hinterfragen. 218Die demokratisch e Volksbewegung entzieh t sic h eine r Bewertun g nac h de m modernisierungs theoretischen Schema von Traditionalität oder Modernität. Zutreffend ist , dass 215 Rede Zanggers, zitiert nach : ebd., S . 12. 216 Sinngemäß nac h der Äußerung Scheuchzer s au f der Landsgemeind e i n Bülach , die in de r dortigen Kirche stattfand: «Hier also ist doppelt heiliger Boden : der dem Allvater geweihte Tempe l und Usterboden . Usterzei t auc h is t eine heilig e Zeit«, zitier t nach : ebd. , S . 19. 217 »An die stimmberechtigte n Einwohne r de s Kantons Zürich«, zitier t nach : ebd. , S. 21, wie auch i n de r Einleitun g zu m Demokratische n Programm : »Mi t diese r nac h un d nac h erfolgte n Wandelung un d Klärun g de s politisch-bürgerliche n Selbstbewußtsein s wa r da s rein e Repräsen tativsystem der Dreißigerverfassun g überwunden , s o dass es nun galt , neue Lebensforme n aufzu finden fü r di e direkt e Selbstregierun g durc h da s Volk«, ebd. , S . 5. 218 In diese m Sin n Schaffner , Demokratisch e Bewegung . I n seine n spätere n Aufsätze n zu m Thema beton t Schaffne r allerding s das Doppelgesicht de r Demokratischen Bewegun g »einerseit s ... den Modernisierungsprozess z u bremsen, andererseits ... spezifische Interesse n vor allem bäuer licher, kleingcwerbliche r ode r regiona l definierte r Gruppe n durchzusetzen« , ders. , »Volk« gege n »Herren«, S . 50, wie auc h ders. , Di e Demokratisch e Bewegung , in : Le s origines, S. 155-161, hier bes. S . 155f. ; Decurtins, S . 293, interpretiert dieselb e ebenfall s i n erste r Lini e unte r de m Aspek t modernisierungsbedingter soziale r Ungleichheit . Di e Bewegun g hatt e danac h ihr e Ursach e wi e ihr Ziel i n de r Lösun g vo n »Verteilungsfrage n au f Verfassungsebene« un d de r »Neubestimmun g der Roll e des Staates in der freie n Marktwirtschaft« .

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sich in der Volksbewegung von 1867/69 all jene Grundsatzprobleme bündelten, die den Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft charakterisierten: die Spannungen zwische n Individualismu s un d Korporatismus , Eigennutz un d Gemeinwohl , Staatszcntralismu s un d partikulare r Autonomi e sowie kommunale r Dekorporatio n un d staatliche r Integration . Di e Antwor t auf diese Probleme bestand nicht etwa in einem defensiven Zurückschauen auf bessere Zeiten . Angestrebt wurd e vielmeh r di e Entfaltun g de s Individuums , seiner freiheitlich-politische n Autonomi e un d seine s individuelle n Erwerbs strebens, und dies aber zurückgebunden a n einen korporative n Rahmen , der im Sinn e de r Korrelatio n vo n gleichen Rechte n un d gleiche n Pflichte n de m überkommenen Idea l einer »gerechten Gesellschaft« entsprach . Nur diese Berücksichtigung von tradierten gemeindebürgerlichen Wertemustern, liberalem Individualismus un d demokratische m Sozialrcpublikanismu s mach t erklär lich, dass sich im Gefolge der Revision von 1869 in Zürich und nach der Totalrevision 1874 im gesamte n Schweize r Bundesstaa t ei n allgemeine r Konsen s über die Legitimität der neuen Staatsordnung durchsetzte. Der innovative Ker n der Züricher Antwort auf den »Modernisierungskon tlikt« war die Modernisierung des gemeindlich-genossenschaftlichen Prinzips . Die Transformation des Gemeinderepublikanismus auf das staatliche Gemeinwesen, ausgelöst durch di e Eliminierung des traditionellen gemeindebürger lichen Rahmens, rechtfertigt es, diesen Ordnungsentwurf einer »korporativen Staatsbürger gesell schaff« vo n de r bürgerliche n Gesellschaf t al s di e »ander e Bürgergesellschaft« abzuheben .

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Schluss Die utopisch e Hoffnun g wa r ein Anliegen, da s die europäisch e Kultu r woh l immer schon, am deutlichsten aber ohne Zweifel seit dem Beginn der Neuzeit gehegt hat. 1 Im Mittelpunkt dieser Zukunftsvision stande n Projektionen einer nachständischen, bürgerlich-freiheitliche n Gesellschaftsordnung . De r Emanzipation der Gesellschaft vom Staat und der Freisetzung des Privatindividuums als moderner Begrif f der »bürgerliche n Gesellschaft « stan d mi t der »andere n Bürgergesellschaft« die Vision einer gerechten sozialen und politischen Bürgergemeinschaft gegenüber . Zie l diese r Untersuchun g wa r es , anhand de r Zü richer Entwicklung i n die Konsensdemokratie eine n erfolgreichen We g in die »andere ΒürgergeSeilschaft« aufzuzeige n un d die konstitutiven Merkmal e dieses Entwicklungsprozesses herauszuarbeiten. 2 Erstens wurden di e historische n Traditionszusammenhäng e rekonstruiert , aus denen sich der ideen- und mentalitätsspczifische Entwicklungskontex t des Konzepts der (genossenschaftlichen ) Bürgerrepubli k ergab . Zwei Traditions stränge politische n Denken s un d Handeln s wurde n benannt : einerseit s ei n Freiheits- un d Autonomiebewusstsein , wi e e s sich au s de r genossenschaftli chen Selbstorganisatio n mittelalterliche r Gemeinde n tradier t hatte ; anderer seits ein in der Tradition des Bürgerhumanismus stehender Republikanismus , der sich - in der Aufklärung wiederentdeckt - mit vernunftrechtlichen Positi onen verband. Voraussetzung der Konservierung kommunaler Autonomie war die strukturelle Schwäch e des Züricher Territorialstaates. Finanziell e Transaktione n wa ren da s Mittel de r prosperierenden Stad t Zürich gewesen , schrittweis e ihre n Machtbereich auszudehnen, eine Strategie, die den verschuldeten Adel bereits 1 Schwarz,S. 411. 2 Der Erfol g schein t sic h übe r das ausgehende 19. Jahrhundert hinau s z u bestätigen . Wenn gleich die schweizerische Eidgenossenschaf t i n der Folge keineswegs von klassenbedingten Sozial konflikten völli g verschon t blieb , stellt e di e sogenannt e Sozialpartnerschaf t zwische n Gewerk schaften un d Arbeitgeberverbände n 1937 eine Besonderhei t de r friedliche n Konfliktregclun g i m Europa jener Zei t dar. Sieh e dazu beispielsweis e Degen , Abschied; ders. . Von »Ausbeutern« . Auc h die bemerkenswerte politisch e Stabilitä t de r Schweiz au f hohem Partizipationsnivea u un d di e all gemeine Prosperitä t spreche n fü r di e Wirkungsmacht diese s bürgergescllschaftlichcn Konsenses . Schließlich wird das sogenannte Helvetisch e Model l angesicht s seiner Integrationsfähigkeit plura listischer Gesellschaftsstrukture n imme r wiede r al s Vorbil d etw a de r Europäische n Integratio n oder als Muster zu r Konfliktlösun g au f dem Balka n diskutiert .

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frühzeitig verdrängte. Für die Landgemeinden ergab sich daraus nicht nur der Vorteil, dass sich keine adlig-gutsherrschaftlichen Strukture n entwickeln konnten, sondern die Stadt wurde zudem oftmals vertraglich verpflichtet, die bestehenden kommunalen Ordnungen weitgehend zu wahren. Prägend war zudem das Bewusstscin , Objek t eine s Vertragsgeschäft s un d nich t etw a eine r gott gewollten Entscheidun g z u sein . Di e vielfältigen Versuch e der Landgemein den, sich von der Hauptstadt loszukaufen, und der Hinweis auf die erbrachten Abgabeleistungen, di e den ursprüngliche n Kaufprei s be i weitem überstiegen , zeugen von dem Gefühl eigene r Unabhängigkeit. Das Beispiel der benachbarten bäuerlichen Landsgemeindekantone erweiterte überdies das Wissen um alternative Entwicklungsmöglichkeiten . Die solchermaße n bestehend e Vitalitä t de s kommunale n Autonomieden kens schlug sich in einer nicht minder vitalen Widerstands- und Protestkultu r nieder. Alle Versuche der Stadt, ihre Territorialherrschaft übe r eine Bürokratie und ein stehendes Heer auszubauen, scheiterten an dem zähen Widerstand der untertänigen Landgemeinden . Angesicht s de s Fehlen s eine s effiziente n Re pressionsmittels un d de r Abhängigkei t vo n de n ländliche n Abgabe n konnt e sich in der Stadtrepublik Zürich kein autoritär-arbiträrer Herrschaftsstil entwi ckeln. Nich t minde r vita l wa r da s Freiheitsbcwusstsei n de s städtische n Ge meindebürgertums, das sich nicht nur als Mitglied des gemeindlich-genossenschaftlichen Verbandes, sondern in dem sich der einzelne zudem als Bürger der Republik Züric h verstand . Da s kommunalistisch e un d altrepublikanisch e Selbstverständnis eine r sic h autono m regierende n Bürgergemeinschaf t hatt e die politische und soziale Praxis nachhaltig geprägt. Wenngleich sich langfristi g patrizische Abschließungstendcnzen abzeichneten , war die kollektive Erinne rung an Phasen relativer Demokratisierung des Zunftsystems - auf seiten der herrschenden Familien wie der gemeinen Stadtbürger- lebendig. Das Beispiel der »gemeine n Herrschaft « etw a spiegelt e da s allseit s anerkannt e Rech t au f herrschaftliche Teilhab e der niederen Zunftbürgerschaft wider , die jährlichen Schwurtage ware n Ausdruc k gegenseitige r Verpflichtung , un d di e häufige n Zunftrebellioncn gege n den Verlust angestammter Partizipationsrecht e dokumentierten das politische Bewusstscin des Stadtbürgertums. Nicht zuletzt die schrittweise Loslösun g der Eidgenossenschaf t au s dem Verband des Heilige n Römischen Reichs, das stete Bemühen um eigene Souveränität zeitigten außerdem wichtig e Konsequenze n nac h innen . Bodin s Konzep t der Souveränität , mit dem ma n i m Westfälischen Friede n 1648 die Unabhängigkeit vo m Reic h erstritt, entfaltet e i n den Zunftunruhe n vo n 1713 in einer bemerkenswerte n Synthese vo n tradierte n altrechtliche n un d neue n naturrechtliche n Denk mustern ei n bedeutsame s politische s Emanzipationspotential . Entscheiden d war, das s di e altrepublikanisch e Traditio n Zürich s trot z eindeutige r Oligar chisierungstendenzen während des Ancien regime einen Konsens über das tradierte Leitbild der politisch-sozialen Bürgergemeinschaf t konservierte . 332 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Die Wurzel n de s bürgerhumanistischen Republikanismu s reichte n i n di e oberitalicnischen Stadtstaaten des 15. Jahrhunderts zurück, die unter Rückgriff auf die antike polis die Tugend zum politischen Leitbegrif f erhoben hatten. Sie begründeten damit eine Tradition des politischen Denkens, wonach das öffentliche Engagemen t de r Bürger , ihr e aktiv e politisch e Teilhab e a n de n Ent scheidungsprozessen un d ihre Bereitschaft, da s Gemeinwesen z u verteidigen, über die Freiheit und Stabilität eines republikanischen Staates entschieden. Die Konnotationen de s Tugendbegriffs ware n demnac h ursprünglic h zuallerers t politischer Natur , moralisch-sittlich e Moment e flosse n nachgeordne t i n de r scharfen Wendun g gegen Eigeninteress e un d Korruptio n al s stete Gefahr fü r die bürgerliche Tugendhaftigkeit ein . Für die Züricher Rezeption ist indes auf eine Besonderheit hinzuweisen, denn unter dem Einfluss der Zwinglianischen Landeskirche war der Tugenddiskurs nachhaltig von der christlichen Morallehre geprägt. Außerdem fanden mit der Aufklärung vernunftrechtliche Argumentationen i n den Tugenddiskur s Eingang , di e dessen kollektivistische s Dogm a durchbrachen. Dies e spezifische republikanisch-naturrechtlich c Synthes e des »klassischen Republikanismus « de r Deutschschwei z prägt e maßgeblic h di e politischen Strömungen seit dem 1 B.Jahrhundert. Das galt für die protodemokratische Bewegung der Memoralisten u m 1794/95, den ländlichen Liberalis mus de r Regenerationszei t u m 1830 und di e genossenschaftlich-demokrati sche Bewegung von 1867/68. Zweitens lasse n sic h zwische n de n Traditionsstränge n de s klassischen Re publikanismus un d de r gemeindlich-genossenschaftliche n Autonomietradi tion au f unterschiedliche n Ebene n Affinitäte n ausmachen , zuvorders t hin sichtlich de s Staats- und Gesellschaftsverständnisses. Beide n gemeinsa m wa r das Leitbild der Identität von Regierenden und Regierten. Dieses Modell bür gerlicher Selbstregierun g speist e sic h einerseit s au s de r bi s i n di e Antik e zurückreichenden Theori e eine r rechtlic h geordnete n Gemeinschaf t vo n gleichberechtigten un d sic h selbs t bestimmende n Bürgern . E s speiste sic h andererseits au s de r Praxi s sic h selbs t organisierende r Gemeinde n sei t de m Mittelalter, die als genossenschaftliche Wehr- und Schwurverbände ein ähnliches Politikverständnis hervorbrachten. Die Teilhabe an der bürgerlichen Gemeinschaft trug in beiden Fällen exklusive Züge. Die waffenfähige, wirtschaft lich wie politisch unabhängig e Existenz war entscheidende Voraussetzung fü r den republikanische n wi e de n gemeindlich-genossenschaftliche n Bürger status. Umgekehrt leiteten sich aus dem republikanischen wie dem genossenschaftlichen Bürgerbegrif f bestimmt e korporative , a n da s Gemeinwese n gebundene Freiheits - und Gleichheitsrecht e ab , wobei Unterschied e i n Vermögen und politischem Einfluss allgemein akzeptierte Grundzüge der Sozialordnung darstellten. Ob eine Sozialordnung als gerecht akzeptiert wurde, entschied sic h vielmeh r danach , inwiewei t di e prinzipiell e Entsprechun g vo n 333 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Rechten un d Pflichten fü r alle Mitglieder der bürgerlichen Gemeinschaf t ge währleistet war . De r gleichmäßige n Teilhab e a n de n Rechte n i m Sin n de r Chancengleichheit entsprac h analo g di e gleichmäßig e Teilnahm e a n de n Pflichten. Fluchtpunk t diese r Korrelatio n wa r imme r da s Gemeinwohl ode r der gemeine Nutzen der Gesamtheit, der der einzelne seine Interessen nachzuordnen hatte. Gemeinwohl vo r Eigennut z lautet e di e zentral e Devise , deren Verletzung i m gemeindlich-genossenschaftliche n Kontex t da s Feindbil d de r »Tyrannei« heraufbeschwor, i m republikanischen da s der habgierigen, korrupten und dekadenten Oligarchie. Der solchermaßen drohende Verlust kommunaler wi e republikanische r Bürgerfreihei t - von Pococ k al s »machiavcllia n moment« bezeichnet - zog zwangsläufig di e politische Gegenwehr der Bürger nach sich und lieferte damit die wesentliche Legitimation für Widerstands- und Reformbewegungen. Hüte r de r Freihei t de s Gemeinwesen s wa r i n beide n Denktraditionen de r Mittelstand, d. h. die kleinen Handwerker , Händle r und Bauern als Kern der Bürgerschaft, subsumier t unter dem Begriff des »Volks«. Affinitäten bestande n auch auf der Ebene institutioneller un d verfassungsrechtlicher Vorstellungen . Di e Teilhab e de r Gemeindebürge r a n de r Herr schaftsausübung i n de r Gemeindeversammlun g un d a n de r Verwaltun g de s Gemeinwesens, die prinzipielle Offenheit der Eliten (trotz Oligarchisierungs tendenzen), der öffentliche Charakter der kommunalen Herrschaftsgewalt, die Akzeptanz de r gewählte n Herrschaftsträger , abe r auc h ihr e Kontroll e sowi e beschränkte, korporati v gebunden e Grund - un d Freiheitsrecht e wi e Rechts sicherheit un d Besitzrech t gehörte n zu m überlieferte n Fundu s kommunale r Autonomie. Zu r Wahrun g diese r Freiheitssphär c de r untertänige n Landge meinden gegenüber der obrigkeitlichen Hauptstadt bzw. der Stadtbürgerschaf t gegenüber den Räten existierte eine lange mittelalterlich-frühncuzeitliche Tra dition de s Versammlungsrecht s de r Gemeinde n sowi e di e Supplizier - un d Petitionspraxis. Eine Besonderheit stellte schließlich die umkämpfte Praxis der »Volksanfrage« dar, die auch der Landschaft i n Grundsatzentscheidungen, etwa bei kriegerischen Auseinandersetzungen, eine Einflussnahme einräumte . An diese Denk- und Handlungstraditionen konnte n sowohl die Vorstellungen eines republikanischen Verfassungsstaate s ländlich-liberale r Prägung , wie bei Ludwi g Snell s »staatliche r Volksgcmcinde« , al s auc h da s direktdemokra tische Republikverständni s de r Demokratische n Bewegun g anknüpfen . Da s galt zunächst für das Verfassungsprinzip selbst, welches mit dem altrechtlichen Rechtsverständnis von der absoluten Verbindlichkeit der Fundamentalgesetze, symbolisiert in der Eid- oder Schwurgenossenschaft, korrespondierte . Aktives und passive s Wahlrecht , Versammlungsfreihei t un d Petitionsrecht , Öffent lichkeitsprinzip durch Presse- und Meinungsfreiheit un d Publizitätspflicht de r staatlichen Organe : Diese s Instrumentariu m staatsbürgerliche r Partizipatio n und Kontrollkompetenzen zeigte deutliche Parallelen zu der politischen Praxis mittelalterlich-frühneuzeitlicher Gemeindedemokrati e ode r zumindest eine s 334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

tradierten Leitbilde s davon . Inhaltlich e Überschneidunge n existierte n schließlich auch zwischen den naturrechtlich fundierte n liberale n Individual rechten der Rechtsgleichheit un d des Eigentumsrechts und den korporative n Grundrechten. E s waren dies e Überschneidungen , au s denen de r gewalten teilig-repräsentativc Verfassungsstaa t de r Regeneratio n zunächs t sein e breit e Legitimation bezog . Selbs t di e direktdemokratisch e Teilhab e de r Bürge r a n Grundsatzentscheidungen, wi e si e i n de r Gemeindeversammlun g un d de r Volksanfrage al s Teil gemeindlich-genossenschaftliche n Politikverständnisse s praktiziert wurde, hielt, wenn auch nur in Gestalt des Verfassungsreferendums, Einzug i n die liberalen Verfassungspläne. A n diesem Grundsat z der Teilhab e des Bürgerverbande s a n de r Bestimmun g de s »gemeine n Besten « setzte n schließlich die verfassungsrechtlichen Vorstellunge n eines plebiszitär fundier ten Repräsentativsystems der Demokratischen Bewegung an. Als weitere Affinität zwische n beide n Denktraditionen is t die Berufung au f naturrechtliche Vorstellungen als zentrale Handlungslegitimatio n z u nennen. Traditionell stellt e das Alte Recht als Ausfluss des Göttlichen Naturrecht s das wesentliche Legitimationsmuste r gemeindlich-genossenschaftliche n Frei heits- und Autonomiestrebens dar. Zu de n Charakteristika de s bürgerhuma nistischen Republikanismus, wie er sich während der Züricher Aufklärung zur Reformideologie entwickelte, gehörte die Einbindung des Vernunftrechts. Gewiss bestand zwischen diesen beiden naturrechtlichen Auffassungen ein Spannungsverhältnis: Die eine war in der göttlichen Ordnung begründet, die andere in der Rechtsphilosophi e de r Aufklärung, welch e darau f abzielte, das Natur recht aus seiner ursprüngliche n theologische n Einbindun g z u löse n un d be stimmte Individualrechte als vernunftnotwendig abzuleiten . In der Praxis ließ jedoch der beiderseitige Rekurs auf einen originären Freiheitszustand des Menschen eine gewisse Annäherung zu. Am deutlichsten zeigte sich dies im Stäfner Memorial, i n dem altrechtlich-göttlich e Legitimationsmuste r un d vernunft rechtliche Vorstellungen des Rousseauschen Gesellschaftsvertrage s nebenein ander gebraucht wurden. Zukunftsweisend war , dass durch diese prinzipiell e Affinität individualistisch e Denkfigure n i n das traditionelle Denke n eindrin gen konnten. Drittens ermöglicht e di e Verwurzelun g beide r Denktraditione n i n natur rechtlichen Begründunge n wiederholt di e Formierung politisch-sozialer Pro testbewegungen ländliche r Provenienz . Zwar wa r da s Reformpotential , da s sich aus der Synthese beider Denktraditionen ergab, keineswegs auf die Landschaft begrenzt . Di e Züriche r Zunftunruhe n vo n 1777 hatten ein e vo n de r breiten Mass e de s Züriche r Stadtbürgertum s getragen e Verfassungsrefor m zum Ziel gehabt. Doch ging es um einen auf die städtischen Verhältnisse begrenzten Konflikt. Die Züricher Landschaft hatte dagegen einen anders dimensionierten Fluchtpunk t - die Gleichberechtigung vo n Stadt und Land . Kom335 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

munale Freiheitstraditio n un d vernunftrechtliche r Republikanismu s entwi ckelten hie r ihr e eigentliche Reformdynamik , d a sie an den überkommene n Herrschaftskonflikt zwische n Hauptstad t un d Landschaf t anknüpfte n un d zwangsläufig da s gesamte Staatswesen anvisierten. Diese Reformdynamik wa r eine Folge lebenswcltlicher Veränderungen, die in wachsendem Maße mit den überkommenen Denk- und Handlungsmustcrn kollidierten. Das galt in erster Linie für das individuell-kapitalistische Erwerbsdenken, welches im Zuge der rasanten wirtschaftlichen Entwicklun g seit dem späten 18. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Die Synthese beider Traditionsstränge ermöglichte in dieser Übergangsphase, dass individualistische Positionen mit den überlieferte n korporative n Denkmuster n unte r dem Dach eines gemeinsamen staatlich-gesellschaftliche n Leitbilde s verbunden wurden . Au f diese Weis e konnt e ein e sukzessiv e Dynamisicrun g gemeindlich-genossen schaftlicher Denk - un d Handlungsmuste r einsetzen , i n deren Verlau f erstens überkommene Norme n modern-individualistisch e Qualitä t erlangte n un d zweitens das gemeindlich-genossenschaftliche Model l aus dem engen kommunalen Rahme n gelös t un d au f den Staa t transformier t wurde . Dre i Zäsure n innerhalb dieses Prozesses der »doppelten Dynamisicrung« wurden benannt. (I) Die erste Entwicklungsstufe stan d ganz im Zeichen der Züricher Aufklärung. Zwei Aspekte waren es, welche die hier vertretene Aufwertung der Blütezeit des »Limmat-Athens« für die politische Entwicklung der Schweizer Demokratie rechtfertigen. Zum einen erfuhr die altrepublikanische Tradition der Hauptstadt eine Revitalisierung, als in den zahlreich gegründeten Zirkeln eine bürgerliche Öffentlichkeit di e Tradition des klassischen Republikanismus aufgriff, um eine Erneuerung des Gemeinwesens zu fordern. In dieses Reformvorhaben wurde zu m andere n nu n auch bedingt die ländliche Untertanenschaf t mit eingeschlossen. Zwar richtete sich die Kritik in erster Linie auf die oligarchischen Herrschaftsstrukture n innerhal b der Hauptstadt , Machtmissbrauc h und Korruption der städtischen Amtsträger öffneten jedoch erstmals den Blick für die untertänige Landschaft. Di e Affäre u m einen korrupten Landvogt , der zur Zielscheibe aufgeklärt-stadtbürgerlichc r Kriti k wurde, reflektiert e diese n fundamentalen Wandel . Nicht nur die sittliche Tugendhaftigkeit obrigkeitlicher Herrschaft stand hier auf dem Prüfstein. Hinter der aufgeklärten Opposition zeichnete sich vielmehr ein erweiterte s Verständni s vo n de r Republi k ab , das nich t meh r allei n di e Hauptstadt, sondern auch die Landschaft umfasste. Republikanische Topoi wie die Wehrhaftigkeit de r Landbewohner , vo n dene n di e Verteidigung de s Ge meinwesens abhing , verstärkte n di e Aufwertung de r ländlichen Untertanen schaft. Aufklärerisches Bildungsideal, Rousseaus Bauern- und Hirtenidyll, die Lehren de r Physiokraten , si e all e bereitete n de n Bode n fü r ein e gewandelt e Sicht auf den bäuerlichen Untertanen, die in der ganz Europa erfassenden Eu336 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

phoric fü r den »klugen Bauern « Kleinjog g ihren sprechenden Ausdruc k fand . Die neugegründeten Gesellschaften wurden - verstanden als Republik im kleinen - die Aktionsforen, in denen gebildete Landbewohner und Städter im öf fentlichen Räsonncmen t das Ideal der republikanischen Gemeinschaft mit Leben füllte n un d etw a i n sogenannten Bauerngespräche n ihr e Lehre n au f die Landschaft z u tragen versuchten. Di e Emanzipationsimpulse, di e s o von de r Stadt ausgingen , bliebe n au f der Landschaf t nich t ungehört , wenngleic h si e zunächst au f die Züriche r Seeregio n al s de m prosperierende n merkantile n Gürtel begrenz t waren . Am Beispie l de r Landärzteschaf t wurd e gezeigt , wi e Landbewohner nac h ihre r Rückkeh r aus der Stad t das Vereinsmodell au f die Landschaft transferierte n un d zusammen mi t Mitgliedern eine r neuen unter nehmerischen Elit e sowie Angehörigen de r traditionellen Elit e von Pfarrern , Beamten, Wirte n un d reiche n Bauer n ein e wenn auc h bescheiden e Vereinskultur entwickelten. De r entscheidende Impul s ging demnach ganz im Sinne einer Strömun g de r deutsche n Bürgertumsforschun g vo n Teile n de s Stadt bürgertums aus. 3 Aufgrund de r Sorg e vor eigendynamischen Reformprozes sen, die sich auch später immer wieder zeigen sollte, verlor sich allerdings das Interesse und die Unterstützung für die Lage der ländlichen Untertanen rasch. Der Politisierungsprozess, der in Teilen der Landschaft eingesetzt hatte, ließ sich jedoch nich t meh r aufhalten. Di e Leseliste n de r Lesegesellschafte n un d Diskussionszirkel i n de n 1790e r Jahren vermittel n ei n anschauliche s Bil d davon, wi e sic h di e Präferenze n ihre r Mitgliede r vo n de r reine n Unterhal tungs- und Erbauungslektüre zur politischen Literatur und aktuellen Zeitungslektüre hi n verschoben . Di e Ereigniss e i m Nachbarlan d Frankreic h spielte n dabei eine große Rolle. Nachweislich kursierten Revolutionsschriften, di e von einer gebildete n Leserschaf t de r Landschaf t rezipier t wurden. Offensichtlic h zeigte sich auch in der breiten Bevölkerung eine gewisse Begeisterung für den Freiheitskampf der Franzosen, bereitwillig übernahm ma n Lieder und andere Symbole der Französischen Revolution . Doch entscheidend blieb, dass selbst spätere Protagonisten des Stäfner Handels wie Billete r stet s einen eigene n schweizerische n We g zu r Freihei t un d Gleichheit betonten. Der zu allen Zeiten »frei geborene Schweizer« zollte dem Sansculotten als »Bruder im Geiste« Beifall, nicht jedoch als Vorbild eines revolutionären Umbruchs . E s zeigte sic h hie r ein e Kontinuitätslinie , wonac h bisweilen scharf antifranzösisch -von seite n der ländlichen Volksmänner stets die autochthon c Entwicklun g de r Schwei z hervorgehobe n wurde , o b vo n Billeter im Jahre 1794, Snell im Verfassungsentwurf von 1830, von Hürlimann Landis im Züri-Putsch von 1839 oder dem Demokraten Bleuler, der den fran3 Siehe dazu die Ergebnisse der Frankfurter Forschungsgrupp e unter Leitung von Lothar Gall. z. Β. ders., Stadt und Bürgertum; ders. (Hg.), Vom alten zum neuen Bürgertum; ders. (Hg.), Stadt un d Bürgertu m i m Übergang , sowi e die Studie n z u einzelne n Städte n vo n Schambach; Wekhel; Roth; Zerhack; Möller; Mettele; Kill; Schuh.

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zösischen Sozialismus als für den »Schweizer Magen« unbekömmlich bezeichnete.4 Diesen eigenen Weg einer grundlegenden Umgestaltun g einzuschlagen versuchte jene kleine Gruppe rund um den Züricher See 1794/95 im Stäfner Handel, de r sic h i n seine r zweite n Phas e 1795 zu eine m Volksaufstan d de r See region entwickelte . De r Stäfne r Hande l nimm t i n mehrfache r Hinsich t ein e entwicklungsgeschichtliche Schlüsselpositio n ein . Da s gil t zunächs t fü r da s Reformmemorial, da s i m Umfel d de r Lesegesellschafte n formulier t wurde . Sein Fundament bildeten die drei Kernbereiche gemeindlich-genossenschaftli cher Ordnungsprinzipien - altständische Grundrechte, korporative Partizipa tionsrechte und das Leitmotiv gleicher Rechte und Pflichten -, wie sie namentlich i n de r Züriche r Stadtverfassun g veranker t waren . Erstmal s wurd e de r Versuch unternommen , gemeindlich-genossenschaftliche Ordnungsprinzipi en au f de n Territorialstaa t auszuweiten , u m di e sozial e un d wirtschaftlich e Gleichstellung de r Landbewohne r gegenübe r de n Stadtbürger n z u erlangen . Die politischen Vorstellungen des Memorials blieben jedoch dem Vorbild entsprechend traditionell , d . h. gemeindlich-korporativ geprägt . I m Mittelpunk t stand di e Erweiterun g bzw . Wiederherstellun g kommunale r Selbstverwal tungsrechte. Es wäre kurzsichtig , diese n Forderungskomple x al s bloik s Instrumen t z u deuten, u m di e bäuerlich e Bevölkerun g z u mobilisieren . Vielmeh r wa r de r Horizont politische r Mitbestimmun g i m gemeindlich-genossenschaftliche n Denken au f die Teilhabe an der Regelung von gemeindeinternen Sachfrage n begrenzt. I m territorialstaatliche n Gefüg e musst e sic h da s al s Stärkun g de r überlieferten ländliche n Gemeindcautonomi e ausnehmen . Die Gleichheit aller Bürger, auf die man sich berief, rekurrierte auf das altständische Verständnis der Korrelation von gleichen Ptlichte n und Rechten. Sie meinte nicht die Forderung nach gleichberechtigter Mitbestimmun g de r Landbewohner auf Kantonsebene, d. h. egalitäre kantonale Partizipationsrechte, und ebensowenig die politische Teilhabe aller Einwohner in den Gemeinden. Die angestammten politischen Herrschaftsstrukture n vo n Stad t un d untertänige r Landschaft , abe r 4 Die grundsätzliche Ambivalen z von Teilen der Bevölkerung gegenüber der Helvetische n Republik aufgrun d de r konkreten Besat z ungserfahrung betont e zuletzt Schaffner, »Direkte « oder »indirekte« Demokratie?. Des weiteren wendet er sich gegen die historiographische »Konstruktion, welche die Geschichte des politischen Systems in der Schweiz mit der Französischen Revolutio n (oder de r Julirevolte vo n 1830) verknüpft« (S . 277). Besonders bemerkenswer t sin d Schaffner s Beispiele aus der politischen Ikonographi e der Helvetik. S o entschied sich das helvetische Parlament für die Darstellung Wilhelm Teils auf dem Staatssiegel und nicht für den französisch inspi rierten Geniu s de r Freiheit . Auc h da s französisch e Revolutionssymbo l de s republikanische n Liktorenbündels al s Münzemble m wurd e abgewandelt , inde m ma n e s mi t de m dreifedrige n Teilenhut versah . Schließlich verweis t Schaffner au f die Fahne der Republik, di e mit eine r rot grün-gelben Trikolore die Standesfarben der drei Urkantonc zeigte und so bewusst in die Tradition des Rütlischwurs gestellt wurde (S 272f. ).

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auch gemeindeintern blieben unangetastet. Das Memorial war keineswegs eine wirre Aneinanderreihung unterschiedlicher Forderungen, wie zeitgenössisch e und histomographische Urteil e behaupten. Im Gegenteil, dem Reformkatalo g lag ein eigenes gesellschaftliches Leitbil d zugrunde, das im Ansatz eine »korporative Staatsbürgergesellschaft « konturiertc . Di e bürgerliche n Gleichheits rechte, di e ma n mi t Blic k au f die staatlich e Eben e forderte , bliebe n a n de n bestehenden korporative n Rahme n gebunden . De r exklusive Gemeindebür ger, nicht etwa der egalitäre Staatsbürger, war die Bezugsgröße aller Forderungen. Dieser Rahme n korrelliert c mi t den konkrete n Gemeindeverhältnissen . Aufgrund de s Heimatprinzip s be i de r Armenfürsorg e besa ß nahez u jede r männliche Kantonsangehörig e da s Gemeindebürgerrecht , da s ih n allerding s nur i n seine r Heimat- , nich t seine r Niederlassungsgemeind e zu r politische n Partizipation berechtigte. 3 Darüber hinaus hatte die rigide Bürgerrechtspoliti k der Gemeinde n sei t de m Spätmittelalte r z u eine r weitgehende n Geschlos senheit der Bürgergemeinden geführt. Noc h 1860 machten die Bürger in den agrarischen Bezirke n übe r 80% der Einwohnerschaf t aus . Un d währen d i n deutschen Städte n de s 18. Jahrhunderts de r Anteil de r Vollbürger be i 5-15% angesetzt werde n muss , zeigte sic h i n de r Stad t Züric h 1790 ein Antei l vo n 59,3%, der erst i n der zweiten Hälft e de s 19. Jahrhunderts au f unter zwanzi g Prozent sank. 6 Bürgerliche Rechte, bürgerliche Gleichheit-diese Begriffe gingen selbstverständlich von dem traditionellen Verständnis gemeindebürgerlicher Freiheite n aus. Folglic h blie b zu diesem Zeitpunk t da s wichtigste Momen t de s Bürger status, das Stimmrecht, auf den kommunalen Raum beschränkt. Die Auflösung des ursprünglichen Widerspruch s zwische n egalitäre m Gleichheitsanspruch , den man zu r Überwindung de s Untertanenstatus gegenübe r de r Hauptstad t ins Fel d führe n musstc , un d korporative r Exklusivitä t bilde t da s innovativ e Moment diese s Ordnungsentwurfs . E r spiegel t da s Bedürfnis , individualis tische Ansprüch e nac h Erwer b bzw . soziale r Mobilitä t z u formuliere n un d gleichzeitig de n Versto ß gege n di e zentral e Kategori e de s traditionelle n Ge meinwohls durc h di e Rückbindun g a n de n überlieferte n politisch-soziale n Rahmen der Gemeindekorporation aufzufangen . Die eigentümliche Mischun g von individuelle n un d korporativen , moder nen un d traditionelle n Elemente n schlu g sic h auc h i n de m ausführliche n Rechtfertigungsteil de s Memorials nieder. Sein Ziel musst e es sein, ein neue s gesamtstaatliches Konzep t jenseits de r traditionelle n Herrschaftsdichotomi e 5 Vor diese m Hintergrun d wir d deutlich , waru m sic h mi t de r Einführun g de r Einwohncr gemeinde in den 1860erjahrcn die Auseinandersetzungen au f die Stimmberechtigung der Nieder gelassenen i n Angelegenheite n ihre r Wohngemeinde un d di e Ausübung ihre s kantonale n Wahl und Stimmrechts in ihrer Wohn- und nicht ihrer Heimatgcmcind e konzentrierten . Vgl. Kap. 4.2.3. 6 Vgl. Walter , S. 231 und H.H . Frey , S . 25f. I m Kantonsdurchschnit t ware n noc h 1850 64,9% der Kantonsbürger Bürge r ihre r Wohngemeinde .

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von obrigkeitliche r Stad t un d untertänige r Landschaf t z u begründen . E s ist daher die Verknüpfung unterschiedlicher Argumentationsstränge, die aus einer weiteren Perspektiv e die Schlüsselposition de s Stäfner Handel s rechtfertigen . Ihnen begegnet man i n der einen ode r anderen Weise während der gesamten politischen Entwicklungsgeschicht e de s 19. Jahrhunderts. Z u diese n Argu mentationssträngen gehörte zum einen die Berufung auf das »Alte Recht«. Sein Gebrauch zielte zunächst in einem unmittelbar rechtspositivistischen Sinn darauf, »uralte Privilegien« bestätigt zu bekommen. Darüber hinaus bezog sich der altrechtliche Begründungsmodus auf einen verlorenen freiheitlichen Naturzu stand, der sich in der Absichtserklärung, »die Freiheit des Volkes wiederherzustellen«, niederschlug . Eine solch e generalisierend e Erweiterun g de s Alten Recht s wa r möglic h durch sein e Verbindun g mi t de m Göttliche n Rech t al s zweite m Argumen tationsstrang. So wie die Dorfverfassungen, Weistüme r und Freiheitsbriefe als »geoffenbarte Konkretisierun g göttliche n Willens« 7 interpretier t wurden , konnte auc h jener Naturzustan d au s de m Göttliche n Rech t herau s rechts positivistische Qualität erlangen. Beide Argumentationslinien hatten demnach ein utopische s Moment , da s i n de r eidgenössische n Gründungsgeschicht e einen vermeintlic h reale n Bezugspunk t hatte . Di e besonder e Traditio n de r zwinglianischen Reformatio n i n Züric h verstärkt e zusätzlic h ein e konkret e politische Aufladung diese s Moments. Zwingiis Gebot, das Gotteswort höher zu veranschlage n al s obrigkeitlich e Weisungen , sanktioniert e nich t nu r da s Widerstandsrecht. Di e gefordert e Selbstorganisatio n de r Gläubige n i n de n Kirchgemeinden, di e Zwingl i betontermaße n i n Parallel e z u der politische n Bürgergemeinschaft setzte , förderte nachhaltig das Autonomie- und Freiheits bewusstscin in den kommunalen Verbänden. Diese enge Verbindung von Religion und Politi k ist für die Massenmobilisierung de r Folgezeit von immense r Bedeutung. Der Rekur s au f einen Naturzustan d öffnet e prinzipiel l de n We g zu r Anbindung de s dritte n Argumentationsstranges , de s aufgeklärte n Naturrechts . Namentlich de r Rousseausch e Kontraktualismu s offeriert e ei n staatsrechtli ches Modell, welches das FIerrschaftsVerhältnis vo n Stadt und Landschaf t z u überwinden vermochte . I n Rousseau s Entwicklungsgeschicht e zu r bürgerli chen Gesellschaft stand die Familie als die einzig »natürliche Gesellschaft« un d als »Urbild der politischen Gesellschaft« am Anfang. Von hier aus konstruierte Rousseau seine n Gesellschaftsvertrag . Di e Memoralisten , di e sic h au f de n Contrat socia l beriefen , nahme n da s Bild der Familie auf, u m die Auffassun g des Göttliche n Recht s (»di e Menschhei t al s Famili e Gottes« ) un d di e natur rechtliche Vertragsiehrc (»der Staat als Familie«) in ihrem Reformvorschlag z u verschmelzen. I n eine staatsrechtliche For m gegossen, war es das republikanische Idea l de r Bürgergemeinschaft , di e der Metapher de r Hausgemeinschaf t 7 Suter, »Troublen«, S. 376.

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entsprach. Di e Republik avancierte so zu einem Leitbil d mi t sakralen Zügen , sakralisiert durc h das tradierte Göttliche Naturrecht , konkretisier t durc h da s aufgeklärte Naturrecht . Vor diesem Hintergrun d nimm t der Stäfne r Hande l schließlic h ein e dritt e Schlüsselposition ein , d a sic h i n de r Verschmelzun g diese r dre i Argumen ta tionsstränge die ideelle Nähe des Republikanismus und des genossenschaftlichen Denken s i n de r politische n Praxi s dokumentierte. Di e Transformatio n gemeindlich-genossenschaftlicher Ordnungsprinzipie n au f di e Staatseben e unter Einbindun g von sowohl altständischen wie naturrechtlich-republikani schen Argumentationsmuster n verdeutlich t di e Affinitä t beide r Denktradi tionen, ohn e di e di e später e massenmobilisierend e Verbindun g vo n volks kultureller und hochkultureller Eben e nicht möglich gewesen wäre. Zunächst jedoch gelang die politisierende Synthese beider Traditionsstränge nur bedingt. Di e eigentliche Volksbewegung, di e sei t dem Herbs t 1794 rund um Stäf a entstand , gründet e sic h nich t au f den Versuch , ein e neu e bürger gesellschaftliche Ordnung einzuführen, sondern rekurrierte allein auf die Wiederherstellung alte r Rechte . De r Fun d eine s alte n Freiheitsbrief s setzt e ein e altrechtlich geprägte Protestbewegung in Gang, die sich primär als Teil des jahrhundertealten Freiheitskampfe s de r Landschaf t gege n di e obrigkeitlich e Hauptstadt begriff. Derselben vormodernen Mentalität entsprang die Abwehrhaltung der agrarischen Regionen des Unterlandes, die bereitwillig dem obrigkeitlichen Aufru f zu r Niederschlagun g de s Stäfne r Handel s Folg e leisteten , anstatt sich dem Aufstand anzuschließen. Unter diesen Vorzeichen scheiterte letztlich auch das großangelegte Projek t der egalitären Helvetischen Republik. Mochte die Helvctik einerseits vor allem mit der Gleichstellung von Stadt und Landschaft ode r der Zehntablösung auf breite Zustimmung gestoße n sein , provozierte n doc h andererseit s ihr e Zen tralisierungsmaßnahmen, insbesonder e di e (geplante ) Einführun g de r Ein wohnergemeinde, und schließlich die kleinmütige Rücknahm e der unentgeltlichen Zehntablösung das Ende der Einheitsrepublik. De r Befreiung von den »Alten Herren« des Ancien régime folgte eine neuerliche Episode des Freihei tsund Unabhängigkeitskampfe s de r Gemeinden gege n machtstaatlich e Bevor mundung. (II) Die zweite Entwicklungsphase innerhal b des Dynamisierungsprozesse s gemeindlich-genossenschaftlicher Denkmuste r is t a n di e Entstehun g eine r ländlich-liberalen Bewegun g i n den 1820e r Jahren gebunden . De r erste Reformanstoß war, wie auch im Vorfeld des Stäfner Handels, von der Stadt Zürich ausgegangen. Eine kleine Gruppe gemäßigter Stadt liberaler hatte sich gegen das restaurative Regimen t nac h 1814 aufgelehnt un d erfolgreic h fü r ein e Locke rung der Pressezensu r eingesetzt . Vo r weitergehenden Reforme n schreckt e man jedoch zurück. Erneut sprang damit ein politischer Impul s auf die Land341 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

schaft über, der nun auf grundlegend andere Rahmenbedingungen als 1794/95 traf I n dem naussauischen Flüchtlin g Ludwig Snell fan d die ländliche Bewegung ihren Spiritus rector. Das rege Pressewesen und das - wenn auch quantitativ bescheiden e - Vereinswesen führte n z u eine r Zirkulatio n de r liberale n Programmatik, und zusammen mit der alle Kantonsregionen erfassenden wirtschaftlichen Modernisierun g schufen sie den Nährboden zur Formierung der ländlich-liberalen Bewegung . Zwei Protagonisten dieser Bewegung wurden vorgestellt, die verdeutlichen, wie sich aus dem Neben- und Miteinander beider Traditionsstränge ein eigener Typus de s »ländliche n Liberalismus « entwickelte . Al s einer de r »Söhn e vo n Stäfa« stellte sich Johannes Braendlin bewusst in eine Linie mit den Ereignissen von 1794/95, die er als Teil eines jahrhundertealten Freiheitskampfes der Landschaft gegen die städtisch-obrigkeitliche Unterdrückun g feierte. In einen weiten Bogen spannte Braendlin die Stationen des gemeindlich-genossenschaftlichen Widerstands der Landschaft gegen die »sieben Raubtaten der Stadt« vom Spätmittelaltcr bi s in die Gegenwart, der mit der liberalen Umgestaltun g de s Staatswesens endlich von Erfolg gekrönt werden sollte. Der ländliche Liberalismus wurde in dieser Perspektive zu einer Reform Ideologie, die darauf abzielte, eine altrechtlich wie göttlich verankerte Freiheit wiederherzustellen, allerdings in »zeitgemäßer Form«. Im liberalen Verfassungsstaat schien sich für Braendlin das überkommene Idea l der genossenschaftlichen Schwurgemeinschaf t z u erneuern. Die begriffliche wi e ideelle Nähe der Verfassungsvorstellungen de s zweiten ländlich-liberalen Protagonisten , Ludwig Snell, zu Braendlin zeigte sich in seinem Entwur f de s liberale n Verfassungsstaat s al s einer »staatliche n Volk s gerne i n de«. I n diese m Verfassungsentwur f verknüpft e Snel l altdemokratisch e bzw. kommunalistische Strukturen und Traditionen der Schweiz, in denen sich ihm die radikal demokratische Souveränitätsichre Rousseau s zu bewahrheiten schien, mit vernunftrechtlichen Prinzipien , um auf diese Weise das klassische Ideal der republikanischen Bürgergemeinschaft neu zu begründen. Das Originäre seine s Entwurf s la g demnac h i n de r Verbindung kollektivistische r un d individualistischer Positionen , wodurch sowohl zentrale Elemente der traditionellen Autonomiekultu r i n ein moderne s Staatsgebäude umgesetz t al s auch neuentstandene Bedürfniss e individuelle r Freihei t befriedig t wurden . Snell s Projektion eine r republikanisch-urdemokratische n Volksgcmeind e sollte sich allerdings zunächst im Sinne einer ersten Entwicklungsstufe nu r auf Gemeinde- und Bezirksebene verwirklichen, auf der Kantonsebene votierte er für das liberale Repräsentativsystem . Wenngleic h vo m Grundkonstruk t de r »Selbst gesetzgebung« au s radikaldemokratisch , is t deshal b sei n Ordnungsentwur f dennoch als »liberal« zu klassifizieren: der liberale Verfassungsstaat, verstanden als ei n evolutionäre s Entwicklungsmodel l i m Übergan g z u eine r staatliche n Volksgemeinde. 342 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

In seiner Verschmelzung republikanischer Politiktheori e un d gemeindlich genossenschaftlicher Autonomietraditio n unterschie d sic h de r ländlich e Li beralismus grundlegend von jenem städtische n Liberalismus , wie ih n die sogenannten Junge n Juristen u m Friedric h Kelle r vertraten . Ih r Zie l wa r de r forcierte Aufba u eine s modern-individualistische n Rechtsstaats , weshal b si e von den Zeitgenossen als »Radikale« bezeichnet wurden. Tatsächlich aber waren sie Vertreter eines klassischen Liberalismus, der mit der Trennung von Staat und Gesellschaft au f die Entfaltung individuelle r Freihei t abzielte. Der Politisierung der Landbevölkerung stande n sie aus Furcht vor einem »Bauernregi ment« ablehnend gegenüber: »Man lasse den Pöbel nur so lange von der Kette, bis es Zeit hat, ihn wieder anzubinden«, diese Äußerung Kellers dokumentiert, inwieweit man die offenkundig mobilisierende Wirkung des ländlichen Liberalismus fü r di e eigene n Ziel e z u instrumentalisiere n gedachte . Aufgrund de s Primats de r kulturelle n Überlegenhei t de r Hauptstad t gewan n dies e staats rechtlich geschulte Elite ganz entscheidenden Einflus s au f die Gestaltung des Regenerationsstaates von 1831. Eine besonder e Transparen z gewinn t de r hie r nachgezeichnet e Dynamisierungsprozess tradierter Denk- und Handlungsmuster, ohne den der Erfolg der Regenerationsbewegun g nich t erklärbar wäre, aus der Analyse der Volkspetitionen, di e i m Winte r 1830/31 der Verfassungskommissio n eingereich t wurden. Anhan d de r dre i Fundamentalprinzipie n gemeindlich-genossen schaftlichen Ordnungsdenkens , altständische r Grundrechte , korporative r Partizipationsrechte und des Leitmotivs gleicher Rechte und Pflichten, wurd e veranschaulicht, inwiewei t di e liberal e Programmati k sowoh l au s eine m traditionell geprägten Wertehorizont als auch den Erfahrungen einer gewandelten Lebenswelt rezipiert wurde. Letzteres wird besonders deutlich an der Übernahme des liberalen Eigentumsrechts. Offenkundig hatt e hier eine individualistische Dynamisierun g de s altständische n Besitzrechte s stattgefunden , i n deren Folg e unte r de n Bedingunge n vo n Industrialisierung , Agrarmoderni sierung und Kommerzialisierung dem einzelnen nu n das Recht nicht nur der Sicherung, sonder n vor allem des Erwerbs und der Mehrun g von Eigentu m zugestanden wurde. Die gleichzeitige Konservierun g korporative r Ansprüch e zeigte sich am auffälligsten bei den Partizipationsforderungen, die ganz klar von den tradierte n Vorstellunge n gemeindlich-genossenschaftliche r Autono mie geprägt waren. Offensichtlich wurd e weiterhin primä r die Gemeinde als wichtigster politische r Aktionsrau m begriffe n un d entsprechen d ei n breite s Spektrum kommunale r Selbstverwaltungsrecht e eingefordert . Dafü r sprich t auch, dass die Petenten an der überlieferten Exklusivität gemeindebürgerliche r Partizipation strik t festhielte n un d da s Gemeindebürgerprinzi p zu r Voraussetzung des Staatsbürgerrechts gemacht wurde. Das liberale Prinzip der staatsbürgerlichen Egalisierun g hatt e sic h trot z eine r faktisc h seh r weitgehen den Demokratisierun g de s Kantonswahlrechts , da s i n Reaktio n au f di e 343 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

sozioökonomischcn Umbrüch e auc h Nichtsclbständig e umfasste , nich t durchgesetzt. Der zweite Bedeutungsaspekt des hier verwendeten Dynamisierungsbegriff s - die Transformatio n gemeindlich-genossenschaftliche r Norme n au f di e Staatsebene - trat besonder s i n bezug auf das überkommene Gerechtigkeits denken hervor An dieses Leitbild gemeindlich-genossenschaftlichen Denkens , verstanden al s Korrelation gleiche r Pflichte n un d Recht e für all e Gemeindebürger, knüpften sic h traditionell divers e Forderungen, etwa die nach Steuergerechtigkeit. I n den Petitione n zeigt e sich aber insofern ein e lebensweltlich e Aktualisierung, al s sich de r Zor n gerad e de r bäuerliche n Steuerzahle r gege n »die Kapitalisten« bzw. neue Körperschaften wie die Aktiengesellschaften rich tete. Eine eigentliche Transformation des Prinzips gleicher Rechte bei gleichen Pflichten au f das Verhältnis von Staa t un d Gesellschaf t reflektierte n di e For derungen nac h staatliche n Subventionsleistunge n bzw . interventionistische n Maßnahmen. Die Pflicht des Bürgers, sein Vaterland zu verteidigen, sollte ihm entsprechend da s Recht einräumen, dem Staat die unentgeltliche Militäraus rüstung abzuverlangen. Einen weitere n Aspek t de s zugrundegelegte n Gerechtigkeitsdenkens , di e Bindung alle r an das Gemeinwohl, spiegelt e di e Forderun g der Gemeinden , den infrastrukturelle n Ausba u staatlic h z u subventionieren . D a der gesamt e Kanton von einem verbesserten Verkehrswesen profitiere, könnten nicht einige Gemeinden aufgrun d ihre r Lag e besonders belastet werden, andere hingege n gar nicht . Di e zentral e Kategori e de s Gemeinen Nutzen s bzw. des Gemein wohls gebo t di e gleichmäßig e Beteiligun g aller . Diese s Handlungsprinzi p wurde nu n au f den Staa t als Gesamtkörperschaft de r Bürger übertragen. Di e Petitionen spiegel n de n zentrale n Perzeptionsvorgan g wider , wi e liberal e Leitbegriffe des Gemeinwohls, der bürgerlichen Gleichheit oder der Volkssouveränität au s eine r spezifische n mentalitätsgeschichtliche n Prädispositio n heraus aufgenommen un d handlungslegitimierend genutz t wurden. Gemeinwohl un d Gemeine r Nutzen , bürgerlich e Gleichhei t un d altständische s Gerechtigkeitsdenken al s Äquivalenz von Rechten und Pflichten, Volkssouveränität un d gemeindebürgerliche r Korpsgeis t bildete n ei n ideelle s Grund gerüst, das dem liberalen Verfassungsstaat 1831 zunächst die breite Unterstützung der Bevölkerung sicherte. Doch di e Synthes e korporati v altständisc h un d individualistisc h geprägte r Deutungs- und Handlungsmuste r musst e labi l sein. Grundsätzlich galt , das s die Freisetzung des Individuums als Signum des vernunftrechtlichen Liberalis mus de n Kontrapunk t z u eine r altständisc h wi e klassisch-republikanische n Auffassung von der Suprematie der Gesamtheit, die sich in der staatlichen Einheit von Regierenden un d Regierten manifestierte, bildete. Für den Erfolg der liberalen Programmati k sprach , das s si e de n Landbewohner n innerhal b de r Umbruchphase zur Moderne einen Ordnungsentwurf offerierte, der die jahr344 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

hundertelange Benachteiligun g de r Landschaf t aufhob . Di e wirtschaftlich e Freisetzung de s einzelnen befriedigt e zude m ein e gewandelt e individualisti sche Bedürfnislag e i n eine r zunehmen d kommerzialisierte n Gesellschaft . Durch di e Verankerun g de r liberale n Bürgergescllschaf t i n de r tradierte n Gemeindebürgergescllschaft ließe n sic h darübe r hinau s dies e individualis tischen Ansprüch e i n ein e altbekannt e kollektivistisc h geprägt e Lebenswel t integrieren. Di e Gefahr der Dekorporierung durch die Nivellierung von tradierten Sozialhierarchie n zugunste n sozioökonomische r Kriterien , d . h . au s heutiger Sich t di e Koste n de s westeuropäischen Modernisierungsprozesses , schien so minimiert. Aus der Perspektive der geistigen Führe r der ländlich-liberalen Bewegung , namentlich Ludwi g Snells, war es vor allem die Sorge vor der Unmündigkei t der Landbevölkerung, die sie dazu bewog, das liberale System der »übertragenen Demokratie« als befristetes Zwischenstadium z u akzeptieren. Di e Suprematie der Gebildeten als Ziehväter des Volkes sollte mit zunehmender geistiger und politischer Maturität des gemeinen Mannes enden. Zunächst galt aber die Vorherrschaft der Gebildeten als anerkannt, und auf diese Weise traf man sich mit jener jungen Gard e von städtischen Liberale n u m Keller . Für die weitere Entwicklung musst e jedoch der grundsätzliche Unterschie d zwische n eine m bürgergesellschaftlichen Verständni s bestimmend sein, wie es aus den Vorstellungen gemeindlich-genossenschaftliche r un d klassisch-republikanische r Denktraditionen einerseit s un d de m eine s moderne n Rechtsstaate s liberale r Prägung andererseits floss. Der Erfolg des liberal-individualistischen Ordnungsentwurfe s gelan g 1830/ 1831 »nur« unte r spezifischen Voraussetzungen . Daz u gehört e au f Seiten de r traditionell geprägte n Landbevölkerun g di e teilweise Dynamisierun g altstän discher Grundwert e i n Richtun g au f eine individualistisch e Auffassung , di e besonders deutlic h a n de r Entwicklun g eine s private n Eigentumsrecht s ab lesbar war. Auf der Seite der intellektuellen Führungsschichten der ländlichen Bewegung stand die Bevorzugung eines evolutionär gedachten Gesellschafts modells, un d di e Stadtliberale n sahen , au s de r Historische n Rechtsschul e Savignys kommend , di e Notwendigkeit , altrechtlich e Strukture n i n ihre m langfristig angelegten Modernisierungsprogramm z u berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine gänzlich andere Perspektive auf die vermeintliche »Siegesgeschichte« des schweizerischen Liberalismus. Die Entstehung des liberalen Regenerationsstaat s von 1831 gründete letztlic h i n seine r vo n alle n Akteuren geteilten Bewertung als Interimslösung- für die einen auf dem Weg in die individualistisch-egalitäre Staatsbürgergesellschaft, fü r die anderen in die neokorporativ gedachte Bürgerrepublik. Die Konfliktlinien der Zukunft waren gleichsam vorgezeichnet .

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(III) Die dritte Entwicklungsphase stand unter dem Signum der vermeintlichen Bedrohun g de s politisch-soziale n Gemeinwesens , di e 1839 im Züri Putsch und mit der Demokratischen Bewegun g der sechziger Jahre erneut zu einer Massenmobilisierung der Landbevölkerung führte. Gerade die ersten Jahre des jungen Staatswesens waren beherrscht von dem tradierten Stadt-Land-Konflikt . De r forcierte Abbau hauptstädtischer Privile gien führt e i n Teile n de s städtische n Bürgertum s z u massive m Widerstand , bedingte damit aber auch eine Allianz breiter Teile der ländlichen Bevölkerun g mit der liberalen Führun g und sicherte in einer Zeit äußerster Instabilität auf gesamtschweizerischer Ebene das Überleben des Regenerationsstaates. Es war eben dieser antiherrschaftliche, antistaatliche Impetus, der, je weiter der Aufbau eines zentralisierten Rechts - und Verwaltungssystcms gedieh, sich schließlich gegen den »Juristenliberalismus« selbs t richtete. Mochte der Auslöser aus der Säkularisierungspolitik der Liberalen resultieren, hinter dem ländlichen ZüriPutsch des Jahres 1839 stand weit mehr. Modernisierungstheoretische Ansätze, wie si e bisher zu r Erklärung genutzt wurden, ebenso wie die zeitgenössisch tendenziösen Urteil e eine r reaktionär-defensive n Volksbewegun g greife n z u kurz. Die Gesamtheit der Petitionen, die die Putschisten an den neuen, rechtsliberalen Rat einreichten, zeugten deutlich von eben jenem klassisch-republi kanisch wie auch gemeindlich-genossenschaftlichen Leitbil d der politisch und sozialen Identität von Regierenden und Regierten. Das eigentliche Novum der Züribewegungwardie Forderun g nach Einführung des Volksvetos. Dieser erste Vorstoß zur direkten Beteiligun g des Volkes an der Gesetzgebung hebt den Putsch von 1839 in der hier nachgezeichneten Entwicklun g als ersten Versuch hervor, altdemokratische Muster, wie sie in der kommunalen Autonomiepraxis verankert waren, und radikaldemokratischc Postulat c des klassischen Republi kanismus der Deutschschweiz auf die staatliche Ebene zu transformieren. Fes ter Bestandtei l diese s andere n Gesellschaftsverständnisse s wa r da s religiös e Moment, das zur Konflikteskalation führte . Die Gefährdung des »Glaubens der Väter« hatt e aus der gemeindlich-genossenschaftlichen Denktraditio n herau s eine eminent politische Bedeutung. Bis in die Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft wurd e di e Verschränkun g vo n altrechtliche r Schweizerfreihei t und Göttliche m Naturrech t zurückverlagert . Entsprechen d musst e sic h de r Versuch de r liberale n Säkularisierungspoliti k al s Angriff au f das überliefert e Frciheits- und Demokratieverständnis darstellen. Die Säkularisation hätte das Legitimationspotential de r Freiheitstradition untergraben . Analog finde t sic h au f sciten de r ländliche n Führe r de r Putschbewegung , namentlich i n de r berühmte n Klotenred e de s Unternehmer s Hürlimann Landis, die Topik der akuten Gefahr, in der das politisch-soziale Gemeinwesen zu unterliegen drohte . In der Sprache des republikanischen Tugenddiskurse s wurde hie r di e Degeneratio n de r Züricher Republi k i n sittlicher, materielle r und politische r Hinsich t plastisc h umschrieben . Konstituti v un d handlungs346 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

legitimierend fü r beide hier untersuchten Traditionssträng e war demnach ei n Moment der Angst, das jedoch nich t zwangsläufig au f die Konservierung alt hergebrachter Zuständ e ausgerichte t war, sondern - wie de r direktdemokra tische Vorstoß der Petenten verdeutlicht - evolutionär auf gesamtstaatliche Veränderungen hin gedacht wurde. Dieser Verschwörungsangs t verdankt e de r schweizerisch e Liberalismu s letztlich sogar die erfolgreiche Gründung des Bundesstaates von 1848, als mit der Beschwörung der doppelten Gefährdung der Freiheit des republikanischen Gemeinwesens vo n auße n un d de s altväterliche n Glauben s i m Inner n di e Volksmilizen der protestantischen Kantone gegen die katholisch-konservativen Stände auszogen. Die Krisentopi k de s Verlustes (gemeinde)bürgerliche r Freiheit , wi e si e i n beiden Denktraditione n existierte , bo t in ihrer massenmobilisierende n Kraf t die Voraussetzun g fü r di e letzt e Phas e der tatsächliche n Verwirklichun g de r »anderen Bürgergesellschaft« . De r Erfol g de r freiheitlich-individualistische n Grundordnung von 1831 wie auch die Tatsache, dass bereits sieben Jahre nach dem Züri-Putsch erneut eine wirtschaftsliberal orientiert e städtische und ländliche Elite Regierung und Parlament dominierte, resultierten aus der liberalen Verknüpfung, neugewachsen e individualistisch e Bedürfniss e z u befriedige n und dabe i zunächs t a n de n traditionelle n gemeindebürgerliche n Strukture n festzuhalten. Da s Ziel der liberalen Staatsrechtler von 1831 war allerdings ein anderes: Die schrittweise Ablösung des traditionellen Bürgerprinzips sollte von einer Umorientierung auf die egalisierte Staatsbürgergcscllschaft begleitet werden. Kernstüc k diese s angestrebte n Wandlungsprozesse s wa r di e Niederlas sungsfreiheit, wie sie in der Regenerationsverfassung veranker t wurde. Über dies sollte über eine stufenweise einzuführende Handels- und Gewerbefreihei t der Gefahr eines sozialökonomischen Gefälles innerhalb der Kommunen ent gegengewirkt werden : Überlegungen , wi e si e auch i m Volkswirtschaftliche n Ausschuss der Paulskirche 1848 angestellt wurden, allerdings primär unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Modernisierung. 8 Im Unterschied zu Deutschland kann a m Beispie l Zürich s di e Umsetzun g diese s Konzept s verfolgt werden . Tatsächlich führten die Niederlassungsfreiheit mi t der in ihrer Folge gesteigerten Mobilität und die mit Rücksicht auf den gewerblichen Mittelstand nur peu à peu durchgesetzt e Handels - und Gewerbefreihei t vo r alle m i n de n städti schen Agglomerationen, de n kommerzialisierten Seegebiete n un d beding t i n den industriellen Regionen des Oberlandes zu einer Aushöhlung der gemeindebürgerlichen Strukturen . Zude m gewan n mi t de r politische n Machtüber nahme de r industriebürgerliche n »Bundes - un d Eisenbahnbarone « sei t de n 1840er Jahren ein an den Bedürfnissen eine r Industricgesellschaft orientierte s S Sieh e dazu Koch, Staat oder Gemeinde?, S. 90ff.

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zcntralistisches System der Staatsherrschaft zunehmend an Bedeutung. Es war daher symptomatisch , das s da s liberal e Syste m unte r de r Führun g Alfre d Eschers 1863 auf erste wirtschaftliche Krisenphänomen c mi t der Einführun g der vollständige n Handels - un d Gewerbefreihei t un d de r politische n Ein wohnergemeinde bei gleichsam kompensatorischem Zugewinn an kommunalen Autonomierechten antwortete . Die Nivellierung der politischen Gemeindebürgergesellschaft brac h jedoch jene Integrationsklammer auf, welche die breite Masse der ländlichen Bevölkerung und die liberale Führungsschicht zusammengehalten hatte. Binnen weniger Jahrzehnte hatt e der alte Mittelstand ein e sukzessive Aufweichung seine r vormals hohen , vo n Geldbesit z un d Einkomme n weitgehen d unabhängige n sozialen un d normative n Geltun g i n seine r Heimatgemeind e hinzunehmen . Die politisch e Gleichstellun g de r Niedergelassene n i m Jahr 1866 setzte de n Schlusspunkt hinter eine Entwicklung, in deren Verlauf der exklusive Gemeindebürger nun zu einem politisch vor Ort deklassierten Kleinbürger zu werden drohte. Die Gefahr der sozialen Deprivation schien um so realer, als Mitte der 1860er Jahre ein Konjunkturrückgang einsetzte, der Agrarsektor und industrielle Produktion gleichermaßen traf Erneu t tauchte die Krisentopik auf, vorgetragen von einer Reformbewegung wiederum ländliche r Provenienz , der Demokratischen Bewegung . De r Mittelstand al s Kern des Volkes und damit das republikanische Gemeinwese n i n Gänz e schiene n i n akute r Gefahr . Früh neuzeitliche und klassisch-republikanische Denkweise n flossen wieder mühelos zusammen. Das zeigte sich nicht zuletzt an dem enormen Publikumserfol g der Pamphlete des Rechtsanwalts Locher. Mag auch in der politischen Ideengeschichte da s Ende de s Tugenddiskurses au f das ausgehende 18. Jahrhundert terminiert sein, in der politisch-sozialen Praxi s lebte er fort. In drastischen Bil dern beschwor Locher den »machiavellian moment« der Züricher Republik, in der das Ideal des sich selbst verwaltenden bürgerlichen Gemeinwesens gegen eine von Materialismus und Egoismus beherrschte Oligarchie zu verteidigen sei. Erst in diesem Augenblick der politisch-sozialen Dekorporierun g und wirtschaftlichen Baisse , in dem die gemeindebürgerliche Gesellschaft auseinanderzubrechen drohte , konturierte sich das Programm de r Demokraten. Bewuss t setzte man dem Gespenst der bürgerlichen Klassengesellschaft ein klassenloses Integrationsmodell entgegen, das betontermaßen neben dem alten Mittelstand auch di e Heim - un d Industriearbeiterschaf t - subsumiert unte r dem Begrif f des »Volkes« - umfasste. Seine Wurzeln gingen erneut auf das in beiden Denk traditionen verankert e Leitbil d de r bürgerliche n Selbstregierun g zurück , da s sich an der Norm sozialer Gerechtigkeit orientierte. Konkrete Impulse ergaben sich aus dem vornehmlich deutschen Genossenschaftswesen. I m Unterschied zu dem Prinzipienstrei t zwische n Schulze-Delitzsc h un d Lassall e um Selbst hilfe oder Staatshilfe vollzogen die schweizerischen Demokraten eine Synthese beider Konzepte. 348 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Diese Synthese war nicht denkbar ohne die Ausrichtung an dem klassisch republikanischen Idea l der Identität von Staat und Gesellschaft un d erschloss ein enorme s politisch-soziale s Innovationspotential . Di e Selbständigkei t de s Bürgerstandes, so hatte Friedrich Schcuchzer konstatiert, gehöre anders als im monarchischen Preuße n zwangsläufi g zu r republikanische n Schweiz , da hier der »Staat als Sache des Volkes« betrachtet werde. 9 In der Konsequen z war es möglich, da s Genossenschaftsprinzip au f den Staa t z u übertragen . Übe r di e Einführung direkte r Volksrecht e be i gleichzeitige r Stärkun g staatsinterven tionistischer Kompetenze n sollt e sic h der Staa t zu r bürgerlichen Selbsthilfe genossenschaft entwickeln . Die Verknüpfung von individualistischen Ansprüchen, die sich aus dem Postulat de r Selbständigkeit herleiteten , un d kollektivistische n Ansprüchen , wi e sie dem staatlichen Unterstützungsprinzi p innewohnten , musste sich mit den Deutungsmustern de s gemeindlich-genossenschaftlichen Denken s in beson derer Weise treffen. Da s überkommene Idea l der wirtschaftlich un d politisc h unabhängigen bürgerlichen Existenz in der kommunalen Gemeinschaft schien sich i n de r Visio n eine s plebiszitä r regulierte n Wohlfahrtsstaate s nac h de r Einebnung der kommunalen Herrschaftsstrukture n au f der kantonalen Ebene erneut zu erfüllen. Bürgerliche Selbstregierung und soziale Gerechtigkeit, aber auch die Gewährleistung individueller Freiheitsrechte in Reaktion auf eine gewandelte Bedürfnislag e wurde n gleichermaße n befriedigt . Di e Verfassungs revision von 1869 war damit Antwort auf eine Herausforderung traditionelle r Handlungs- und Deutungsmuster korporativer Autonomie durch lebenswelt liche Veränderungen . Ih r gin g ein e schrittweis e Dynamisierun g korporati v gebundener Werte un d Norme n i n Richtun g auf ein individualistische s Ver ständnis voraus. Mit der kommunalen Dekorporierung trat schließlich die entscheidende Voraussetzun g ein , da s Modell de r gemeindlich-genossenschaft lichen Bürgergesellschaf t au s dem kommunale n Rahme n z u löse n un d - in modernisierter Form - auf das staatliche Gemeinwesen zu transformieren. Die in diesem Sinn gemeindlich-korporativ gedacht e Staatsbürgergesellschaf t be dingte letztlich, dass die Liberalen weder die Errungenschaften der individuellen Autonomierechte noc h ihr e politische Einflussnahm e i m plebiszitär um gestalteten Syste m gefährde t sahen . S o konnt e ei n Konsen s übe r di e neu e Staatsordnung entstehen, die bezeichnenderweise als »halb-direkte« Demokratie direktdemokratische Volksrecht e und liberales Repräsentativsystem fusio nierte. Die erfolgreiche Verwirklichun g eine s bürgergesellschaftlichen Ordnungs entwurfs, de r au f de r Identitä t vo n Staa t un d Gesellschaf t gründete , öffne t gleichzeitig de n Blic k fü r ander e politisch-sozial e Bewegungen , di e be i de m 9 Gilg. 193.

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nämlichen Versuch scheiterten. Dazu gehörte der Frühliberalismus im Großherzogtum Baden , dessen Stärk e und Zuspruch ebenfalls auf der Verbindung einer kommunalen Autonomietradition und klassisch-republikanischer Denkweisen beruhte . Di e Entstehungsbedingunge n diese r Symbiose , di e ih r zu grundeliegende Konzeptualisierun g vo n Bürgergesellschaf t un d de r Versuch ihrer Realisierun g i n de r republikanische n Mairevolutio n 184910 beleuchte n aus einer anderen Perspektive die Frage, an welche Voraussetzungen der Weg in die »andere Bürgergesellschaft« geknüpf t war. Anhand der vergleichenden Be trachtung vo n Gemeinsamkeite n un d Unterschiede n sol l abschließen d da s Phänomen des hier nachgezeichneten »Dynamisierungsprozesses« traditionel ler Denk- und Handlungsmuster reflektiert werden, das eine neue Sicht auf die Beurteilung der Defensivität kommunalistisch geprägter Volksbewegungen auf dem Weg in die Moderne bzw. auf das Spannungsverhältnis von Traditionalität und Modernität erlaubt. 1) Der Impul s zu r liberale n Politisierun g gin g i n Bade n von de r Reform bürokratie aus. Die Notwendigkeit zur staatlichen Integration, wie sie sich aus den territorialen Umgestaltungen nac h 1803 ergab, hatte man nicht zuletzt auf Druck Frankreich s mi t de r stufenweise n Einführun g eine r egalitäre n Staatsbürgergescllschaft beantwortet . Zie l de r badische n Reformpoliti k de r ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts war die rechtliche Egalisierun g innerhalb des Staatsverbandes, die traditionellen Herrschaftsstrukture n inner halb de r Gemeindekorporatione n wurde n dagege n nich t berührt . Ma n tru g damit eine r vitale n kommunale n Autonomietraditio n Rechnung , di e sic h i n einem starke n antibürokratischen , antizentralistische n Impetu s niederschlug. Mit de r Einführun g vo n gemeindliche n Bürgerausschüsse n i m Jahre 1821, denen di e Kontroll e de r Gemeindebehörde n oblag , stärkt e da s Ministeriu m von Berstet t vielmeh r di e gemeindlich e Selbstregierung . Dies e Maßnahme n vermochten de n prinzipiel l vorhandene n freiheitliche n Selbstbehauptungs willen der Gemeinden gegen den bürokratischen Egalisierungsdruc k zurück zuhalten. Das änderte sich allerdings mit der Gemeindegesetzgebung von 1831. Mittelbar ausgelös t durc h di e französisch e Julirevolution, unmittelba r ausgelös t durch di e Thronübernahm e durc h Großherzo g Leopol d un d di e Berufun g Ludwig Winter s zu m Innenminister , gewan n ei n etatistische r Beamtenlibe ralismus die Oberhand, der auf die Vollendung der Staatsbürgergesellschaft au f Gemeindeebene drang . Durc h die Gemeindeordnung un d das Bürgerrechts10 Die folgend e vergleichend e Diskussio n erfolg t i n unmittelbare r Auseinandersetzun g mi t den Forschungsthese n vo n Pau l Nolt e fü r di e badisch e Entwicklung : sieh e ders. , Gemeinde bürgertum un d Liberalismus ; ders. , Gemeindeliberalismus ; ders. , Südwestdeutsch e Frühlibera lismus.

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gesetz von 1831 wurden die vielfältigen Abstufunge n de s Rechtsstatus in den Gemeinden eingeebnet. Zwei bedeutsame Neuerunge n sin d zu nennen: Erstens wurd e da s badisch e Gemeindebürgerrech t durc h staatlic h definiert e Bestimmungen vereinheitlicht , di e zu r Bürgerrechtsvergab c verpflichteten . Keinem Niedergelassene n konnt e nunmeh r de r Antra g au f da s Gemeinde bürgerrecht abgelehn t werden . Dami t wa r da s tradiert e Rech t de r Bürger aufnahme aus der Kompetenz der Gemeindekorporation gelöst und zur administrativen Verfahrensfrage geworden . Noch bedeutsamer als die Egalisierung der Gemeinde n untereinande r wa r zweiten s di e Egalisierun g innerhal b de r Gemeinden. Di e Niedergelassene n ode r Schutzbürge r wurde n al s politisc h gleichberechtigt i n den Bürgerverban d eingegliedert , di e ökonomischen Vorrechte der Ortsbürger am Bürgernutzen blieben dagegen wie in Zürich bestehen. Obwohl di e Kategorie der Niedergelassenen keinesweg s mit der der jeweiligen lokalen Unterschicht übereinstimmte, erlangten doch auf diese Weise viele Tagelöhner und Fabrikarbeiter, da sie als formal Selbständig e das bürgerrechtliche Kriterium des »eigenen Nahrungszweiges« erfüllten, das Gemeindestimmrecht. Damit war ein entscheidender Schritt zur politischen Einwohnergemeinde gemacht : Zwe i Dritte l de r männliche n Einwohne r Baden s ware n nun stimmberechtigt e Gemeindemitglieder . Einschränkunge n galte n jedoch weiterhin fü r die jüdischen Schutzbürger . Die Demokratisierung de r Gemeindepolitik wurd e zu r Initialzündun g fü r die liberale Bewegung. War sie bisher auf Teile der Reformbürokratie un d des städtischen Handels- und Bildungsbürgertums beschränkt geblieben, bot sich nun in den Gemeinden ein institutionell-politischer Rahmen , in dem sich li berale Ideologi e un d tradiert e gemeindlich-genossenschaftliche Denkmuste r verbinden konnten . De r Liberalismu s wurd e a n de r kommunale n Basi s zu r eigentlichen Oppositionsideologie, die sich zunächst gegen gewachsene oligarchische Strukturen innerhalb der Gemeinden wandte. Die ersten Gemeindewahlen nach neuem Modus von 1832/33 wurden zum Schlagabtausch konkurrierender Lokaleliten, in deren Folge sich rasch entlang alter Konfliktlinie n innergemeindlich e Parteie n bildeten . Besonder s folgen schwer sollt e die andere Stoßrichtun g de s popularisierten Liberalismu s wer den, die sich gegen die Reformbürokratie un d ihre n engagierten Ausba u von Zentralstaat und Staatsbürgergesellschaft richtete. Auch hier knüpfte der Liberalismus a n eine n überkommene n Konflik t zwische n kommunale m Selbst behauptungswillen und obrigkeitlicher Bevormundung an, der - ohnehin seit der Reformzeit zunehmend virulent - mit der politischen Egalisierung weitere Nahrung erhalten hatte. Die Voraussetzungen zu r liberale n Politisierun g i n Zürich ware n dagege n grundsätzlich ander e gewesen. Hie r ging der Impul s fü r di e Entstehun g de r ländlich-liberalen Bewegung nicht »von oben« aus, sondern im Gegenteil »von unten«, aus den Gemeinden selbst. Die Politisierung vollzog sich damit erstens 351 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

innerhalb de s bestehenden traditionel l geprägte n Gemeindeverbands , dessen Geschlossenheit entsprechend gewahrt blieb. Zweitens formierte sich die ländlich-liberale Bewegun g nich t nu r vo r de r Ausbildun g eine r liberal-rechts staatlichen Ordnung, sondern hatte dieselbe zum Ziel Dami t ging einher, dass sich alte Lokalelite und neugewachsenes ländliches Bildungsbürger- und Unternehmertum nich t al s konkurrierend e Parteiunge n i n de n Kommune n gegenüberstanden, sonder n zusamme n di e ländlich-liberal e Führungsrieg e bildeten. De r politische Fluchtpunk t ihre r Bestrebunge n wa r di e Gleichbe rechtigung von Stad t und Landschaft . Zwa r waren durc h di e Aufhebung de s Untertanenstatus seit der Helvetik von 1798 beide formal gleichgestellt , doch faktisch blieb die Landschaft mi t der Restaurationsverfassung vo n 1814 in den politischen Gremien krass unterrepräsentiert. Vor diesem Hintergrund gewann der ländlich e Liberalismu s vo n vornherei n ein e gesamtstaatlich e Reform ausrichtung. E s ging als o weder u m Reforme n innerhal b eine s bestehende n liberal-rechtsstaatlichen System s wi e i n Bade n noc h u m di e Politisierun g gemeindeinterner Konflikte . Ihr e bürgergesellschaftlich e Reformprojek tion bezogen viele der ländlichen Liberalen aus dem überkommenen Rahme n ihrer politische n Sozialisation , de r Gemeindekorporatio n un d ihre r Auto nomietradition. Wie eng diese Bindung war, zeigte sich eindrücklic h a n dem von Braendli n skizzierte n Selbstbil d de r liberale n Bewegun g al s Fortsetzun g des überlieferte n gemeindlich-genossenschaftliche n Freiheitskampfe s gege n die Stad t sowi e der Vision de s liberalen Verfassungsstaate s al s »regenerierter« Schwurgemeinschaft. Der ländlich e Liberalismu s fungiert e demnac h auc h i n Züric h al s Oppo sitionsideologie, die , anknüpfen d a n die Autonomietradition, di e Landschaf t breitenwirksam z u mobilisieren verstand. Anders als in Baden bewirkte sie jedoch auf diese Weise die Politisierun g de r geschlossenen Gemeindekorpora tionen und nicht einzelner Faktionen innerhalb derselben. Der eigenständige Typus de s »ländliche n Liberalismus « i n Züric h un d de r de s badischen »Ge meindeliberalismus«11 sin d danach voneinander z u scheiden. Di e Einebnung der traditionelle n gemeindebürgerliche n Herrschaftsstrukture n vo n obe n 11 Mit dieser Begriff sbildung verweist Nolte, Gemcindebürgertum und Liberalismus, S. 424, zum einen auf die Verbindung des Liberalismus mit einem »traditionellen Lokalismus«, welcher sich gegen die »zentralstaatliche Obrigkeit und andere ›Herren‹« richtete und zum anderen auf seine enge Verknüpfung mit »lokale [n] Konfliktkonstellationen im Inneren der Gemeinden ...; die liberale Partei einer Gemeinde ging häufig aus einer oppositionellen Elitefaktion hervor«. In der Konsequenz führt e di e einseitig e Bindun g a n gemeindeintern e Sozialkonflikte dazu , das s de r Gemeindeliberalismus, wie sich 1849 zeigte, »zum Regieren jenseits der Gemeindepolitik strukturell unfähig war« (S. 414). Problematisch erscheint sowohl vor dem Hintergrund der von Νolte betonten »politischen Kultur der Parteilichkeit seit 1831« als auch vor dem der Züricher Entwicklung seine Begriffsdefinition des Gemeindeliberalismus als Liberalismus derGemeinden im Unterschied zu einem Liberalismus in den Gemeinden nach 1860 (S. 11).

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führte in Baden dazu, dass der Liberalismus eine politische Ausdifferenzierun g in den Kommunalverbänden und damit eine rasche Parteienbildung begünstigte. Die fortwirkende Geschlossenheit der Gemeinden in Zürich bedingte dagegen, das s der ländlich e Liberalismu s i n de n traditionelle n Konflik t vo n Stad t und Land eingebunden blieb. Ein erste r markante r Unterschie d erga b sic h als o dadurch , das s i n Bade n durch ein e Refor m vo n obe n institutionell e un d rechtlich e Rahmenbedin gungen vorgegebe n wurden , i n dene n sic h ers t nachfolgen d liberal e Ideologi e und gemeindebürgerliche Freiheitstraditio n miteinande r verbanden. Entsprechend blie b de r badisch e Frühliberalismu s i n besondere r Weise au f die Ge meinden verwiesen , älter e Sozialkonflikt e wurde n politisier t un d führte n z u gemeindeinternen Parteibildungen. Komplementär zu der Politisierung in den Gemeinden verstärkt e di e Synthes e ihre n traditionelle n antibürokratische n Affekt nac h außen , de r sic h gege n da s bestehend e etatistisch-liberal e Ord nungssystem richten musste. In Zürich führte dagegen die Opposition gegen städtisch-obrigkeitliche Be vormundung zu einer gemeindeübergreifenden Geschlossenhei t und gesamtstaatlichen Stoßrichtung der ländlichen Bewegung , in deren Folge der liberale Regenerationsstaat von 1831 zunächst über eine breitfundierte Legitimitä t verfügte. 2) Welches bürgcrgesellschaftliche Gegenmodel l setzt e der badische Früh liberalismus nun gegen den zentralstaatlichen Beamtenliberalismus ? Auch für Baden ist neben der gemeindlich-genossenschaftlichen Autonomietraditio n als zweiter Traditionsstrang politischen Denken s der klassische Republikanismu s benannt worden. Die Affinität zwische n beiden Denktraditionen, die im vorhergehenden fü r Züric h ausführlic h dargestell t wurde , ermöglicht e auc h i n Baden ein Zusammengehen von Eliten- und Volksideologie mit entsprechender massenmobilisierende r Wirkung . Offensichtlic h beantwortet e ma n de n Prozess der Dekorporicrung, der sich im vormärzlichen Baden nahezu schlagartig mit der Gemeindeordnung von 1831 ergab, in Zürich dagegen bis in die 1860er Jahre zog, hier wie dort mit einem kollektivistischen Entwur f der politisch-sozialen Bürgergesellschaft. Di e Adaption des klassischen Politikbegriff s und seine Verbindung mi t dem gemeindlich-genossenschaftlichen Freiheits verständnis sind demnach als weitere grundsätzliche Gemeinsamkei t z u nennen. Die konkrete Ausformung beide r Traditionsstränge sowi e die daraus erwachsenen Ordnungsmodcllc zeigen jedoch tiefgreifend e Unterschied e auf Hierfür ware n i n erste r Lini e verschieden e strukturell e Entwicklungsbe dingungen verantwortlich. In Reaktion auf die Ablösung der rechtlichen Kategorie des Gemeindebürgers suchte der badische Frühliberalismu s die Entstehung eines sozialökonomisch definierte n Bürgerbegriff s abzuwehren , inde m er einen politische n propagierte , de r i m Sinn e de r klassische n Politiktheori e 353 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

normativ-ethisch aufgelade n wurde . Bürge r z u sein meint e danach die aktive Teilnahme des einzelnen an den öffentlichen Angelegenheiten und sein Engagement für das normativ gesetzte Gemeinwohl, dem das wirtschaftliche Privatinteresse unterzuordnen war. Hierin zeigte sich ein antiindividualistischer wie auch anti kapitalistischer Zug in der früh liberalen Bewegun g Badens, der dem tradierten gemeindlich-genossenschaftliche n Denke n entsprach . Inde m da s Ökonomische auf diese Weise dem Primat der Politik strikt nachgeordnet wurde, konnte der Frühliberalismus zunächst seine breitenwirksame Integrationskraft entfalten und die unterschiedlichsten wirtschaftlichen Interessengruppe n vereinen. Ganz anders stellte sich die Entwicklung in Zürich dar Charakteristisch fü r die Züricher Variante des klassischen Republikanismu s war die Einarbeitun g des aufgeklärten Vernunftrechts. Auf diese Weise synthetisierte er individualistische und kollektivistische Positionen. Individuelles Erwerbsstreben konnte so - an die Korporation zurückgebunde n - zum Ausdruck des Engagements für das Gemeinwohl werden. Mit der rasanten wirtschaftlichen Dynami k seit Ende des 18. Jahrhunderts gewann dieses Erklärungsmuster imme r größere Bedeutung, da es den lebenswcltlichen Veränderungen in den Gemeinden entsprach. Es war also gerade die »Ökonomisierung der Politik«, die zum Erfolg des ländlichen Liberalismus 1831 führte, indem es gelang, zentrale gemeindlich-genossenschaftliche Wert e i m individualistische n Sin n z u dynamisieren . Voraus setzung war aber, dass der korporativ e Rahmen , di e rechtliche Kategori e des Gemeindebürgers, bestehcnblieb . Di e Einbindun g de s wirtschaftliche n Handelns und der Ökonomie in den Primat der Politik stand zudem in einer bis in di e Früh e Neuzei t zurückreichende n Kontinuität . De r Kamp f gegen di e jahrhundertealte wirtschaftlich e Benachteiligun g de r Landschaf t gegenübe r der Stad t gehörte al s fester Bestandtei l z u der gemeindlich-genossenschaftli chen Freiheitstradition. Die Forderungen nach wirtschaftlicher Liberalisierun g folgten also der tradierten Konfliktlini e vo n Stadt und Landschaft, Herrschaf t und Gemeinde. Die Verabsolutierung des klassischen Bürgerbegriff s verwies den badisehen Frühliberalismus einma l meh r au f die Gemeinde. Nu r dort ließ sich das der Antike nachempfundene Leitbil d der bürgerlichen Selbstregierun g verwirkli chen, nur dort ließ sich die Einheit von Regierenden un d Regierten, von Bürgertum und Herrschaftsordnung herstellen. Der Staat wurde dagegen nicht als Einheit gesehen . Di e konstitutionell e Monarchi e interpretierte n un d akzep tierten die badischen Liberalen i m Sinn der klassischen Verfassungstheorie al s »Mischverfassung«, gepräg t durc h de n Dualismu s vo n Volksvertretun g un d Regierung. In der Konsequenz war die bürgcrgesellschaftliche Vision des badischen Frühliberalis.nus von vornherein an die Gemeinde gebunden, verstanden als Republik im kleinen. Diese Auffassung wurde noch verstärkt durch die dualistische Staatsauffassung, di e die ideelle Grundlage für die Fortsetzung des 354 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

althergebrachten Konflikts von Landschaft und Herrschaft, von Gemeinde und Regierung bzw. Bürokratie bildete. Auch i n der ländlich-liberalen Bewegun g Zürichs war da s republikanische Leitbild bürgerliche r Selbstregierun g zunächs t au f die Gemeinde beschränk t geblieben, allerding s nu r i m Sin n eine s Übergangsstadiums . Partizipations rechte wie das Verfassungsreferendum wiese n bereits auf die staatliche Ebene. Diese Entwicklung wurde maßgeblic h durc h die altrepuhlikanische Traditio n des Kantons Zürich begünstigt, die sich von jeher aus dem Gegensatz zur Monarchie definierte hatte . Ein zweite r markante r Unterschie d is t demnach , das s de r badisch e Früh liberalismus auf die Einebnung des gewachsenen Gemeindebürgerrecht s un d die beginnende wirtschaftliche Modernisierun g mit dem Konzep t einer kommunal verankerten politische n Bürgergcsellschaf t antwortete . Der Primat der Politik zielte darauf ab, die sozialökonomischen Umbrüch e zu überformen. In Zürich stellt e sich die Situation durc h di e frü h einsetzend e heimindustriell c Produktion anders dar. Die lebensweltlichen Veränderungen schufe n hier andere Bedingunge n fü r ein e Einbindun g des Ökonomischen i n das politische Modell bürgerliche r Selbstregierung . Di e Beibehaltun g de r gemeindebür gerlichen Strukturen bei gleichzeitiger Einbindung individualistischer Positionen ermöglichte, dass das tradierte gemeindlich-genossenschaftlich e Leitbil d des politisch und wirtschaftlich unabhängigen Aktivbürgers in Richtung auf ein individualistisches Verständnis dynamisiert werden konnte. 3) Um die Mitte der 1840e r Jahre begann die Integrationskraft des politischmoralischen Bürgerbegriffs in Baden nachzulassen. Die kapitalistisch induzierte soziale Ungleichheit schlug nun in den Gemeinden dureh und konnte innerhalb de r rechtlic h egalisierte n Kategori e de s Gemeindebürgertum s imme r weniger durch den politischen Liberalismu s normativ überbrück t werden. In der Folg e kam es in den Gemeinden zu r Aufsplitterung de r liberale n Bewe gung, ein e bürgerlich-konservativ e Strömun g formiert e sic h betontermaße n als Repräsentan t de s besitzenden Bürgertum s i n einer konstitutionellen , re gierungsloyalen Partei . In Reaktion auf die Quasiparlamentarisierung de s Ministeriums Bek k 1846/47 zeigte sic h au f staatlicher Eben e ein ähnliche r Anglcichungsprozess: Eine wachsende Zahl der liberalen Parlamentarier war zur Zusammenarbeit mit der Regierung bereit. Diese Fraktionierung der liberalen Bewegung i n den Gemeinden un d au f Staatsebene war gleichbedeutend mi t der Auflockerung jenes Gegensatzes von Staat und Gemeinde, von Beamtem und Bürger, der konstitutiv für den badischen Frühliberalismu s gewesen war. Im Gegenzug setzte eine Radikalisierung des Gemeindcliberalismus ein . Der »machiavellian moment« des badischen Gemeindeliberalismus schien gekommen, indem die vielbeschworene bürgerliche Eintracht des guten Gemeinwesens sich in einer dualistischen Parteienstruktur auflöste . 355 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Kern de r einsetzende n Radikalisierung , di e schließlic h folgerichti g i n de r republikanischen Mairevolutio n 1849 ihren Höhepunkt fand , war die weitere Zuspitzung de s kommunale n Autonomiewillcn s gegenübe r de m bürokrati schen Anstaltsstaat. Jede zentralistisch-bürokratische Ordnun g wurde nun per se in Frage gestellt und das kommunal verankerte und geübte Modell bürgerli cher Selbstregierung dagegengesetzt. Die gesamtstaatliche Vision, die der badischc Gemeindeliberalismu s i m Momen t seine r Bedrohun g entwickelt e un d 1849 zu realisiere n versuchte , wa r di e eine s föderalistisch-horizontalen Ver bundes unabhängiger Gemeinderepubliken unter dem Dach einer parlamentarischen Monarchie; eine »entstaatlichte Bürgergesellschaft« mithin , die das tradierte Prinzi p de r gemeindlich-genossenschaftliche n Autonomi e i m Sinn e eines gemeinderepublikanisc h organisierte n Flächenstaat s verabsolutierte . Nicht nur sollte jede staatliche Aufsichts- und Bestätigungsfunktion eliminier t werden, sonder n di e staatlich e Verwaltungsbürokrati e überhaup t zugunste n freier Selbstverwaltung aller Körperschaften durch ein Wahlbeamtcntum abgeschafft werden , s o die Offenburge r Landsversammlun g de r Volksvereine a m 12. Mai 1849. Im Augenblick seiner Realisierung mussten sich jedoch Grenzen und Widersprüche dieses Ordnungsmodells zeigen. Die Vorstellung einer politisch inte grierten un d dami t homogenisierte n Bürgergesellschaf t hatt e sic h bereit s i n den 1840e r Jahren al s brüchig erwiesen. Vollends musste der Gemcindelibe ralismus seinen Universalitätsanspruch i n der kurzen republikanischen Phas e aufgeben. Di e Gemeindewahlen de s Sommer s 1849 markierten deutlic h di e parteilichen Trcnnungslinien, die mitten durch das Gemeindebürgertum ver liefen. Doch konnte nun nicht mehr das Stereotyp der bürokratischen Wahlbeeinflussung zu r Erklärun g de r Wahlergebnisse dienen . Überhaup t sollt e di e einseitige Fixierung auf den Gegensatz zwischen Bürokratie und Gemeinde im Moment seine r Überwindun g de r Revolutio n un d ihre m republikanische n Traum zu m Verhängni s werden . Di e Notwendigkei t eine r zentralgeleitete n Administration gerad e angesicht s de r akute n Bedrohun g durc h preußisch e Truppen führt e de n Entwurf einer kommunalistisc h strukturierte n Republi k ad absurdum . Republikanisch e Revolutio n au f de r lokale n Ebene , da s hie ß nicht zuletzt die Absetzung der verhassten Bezirksbeamten und Steuereinnehmer sowie die Verweigerung von Steuer- und Militärdienstleistungen. Dagegen sah sich die provisorische Regierun g Brentan o in der Krisensituation drohen der auswärtige r Interventio n daz u genötigt , eine n administrative n Verwal tungsstab vo n Zivilkommissäre n einzusetzen , de r sowoh l di e Bereitstellun g einer Volkswchr als auch deren Finanzierun g durch Steuereinnahme n sicher zustellen hatte. Zudem verhinderte die strikte Dezentralisierung dringend notwendige staatlich e Regulierungsmaßnahmen , u m au f die drängenden sozial ökonomischen Probleme in den Gemeinden zu reagieren und den Übergang in die moderne Erwerbsgesellschaf t z u steuern. Di e Ausklammerung sozialöko 356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

nomischer Problemlagen zugunsten einer rein politischen Sozialutopie erwies sich dami t al s »Entwicklungssackgasse«. De r bürgergesellschaftliche Entwur f einer dezentral-kommunalistischen Republi k trug den Keim seines Scheiterns bereits in sich. Vieles spricht deshalb für die These Pau l Noltes , dass der Einmarsch de r preußische n Truppe n da s endogene Scheiter n de r badischen Ge meinderepublik letzte n Endes nur kaschierte. 12 Auch i n Züric h wa r mi t de r Nivellierun g de s exklusive n politische n Ge meindebürgerrechts 1866 die bestehende soziale Ungleichheit auf die kommunale Sozialhierarchi e durchgeschlagen . Wirtschaftlich e Krisenmomente , wi e sie auch in Baden 1846/47 zu konstatieren waren, aktualisierten die Gefahr der sozialen Deprivatio n de s deklassierten Kleinbürgers . De r »machiavellian moment« des Züricher Republikanismu s führte jedoch dazu, dass sich republikanische und gemeindlich-genossenschaftliche Denktraditio n in der Demokratischen Bewegun g z u eine r politisch-soziale n Bewegun g formierten , u m da s Leitbild der Identität von Regierenden un d Regierten auf der Staatsebene umzusetzen. Ander s al s i n Bade n wurd e de r Übergan g zu r reine n Einwohner gemeinde durch den Gesellschaftsentwurf der Demokratischen Bewegung beantwortet, der sich von den Gemeinden abgelöst hatte. Während i n Baden ein staatlich überformter Verband von Gemeinderepubliken anvisiert wurde, zielte man in Zürich auf eine Transformation des gemeindlich-genossenschaftliche n Modells auf den Kanton selbst. Die Verquickung de s klassische n politische n Bürgerverständnisse s mi t ei nem kommuna l begründete n Freiheitsverständni s erfuh r i n de r plebiszitä r kontrollierten Staatsbürgergescllschaf t ein e zeitgemäß e Erneuerung , ohn e wie in Baden- den Zentralstaat a n sich zu negieren. Infolgedesse n erwie s sich hier de r bürgergesellschaftlich e Entwur f der politisch-soziale n Identitä t vo n Staat und Gesellschaft al s tragfähig. Di e Vereinnahmung des Staates durch das Volk bedingte nicht nur die Anerkennung bestimmter bürgerlicher Teilnahmepflichten etwa im Steuer- und Militärwesen. Sic eröffnete zudem Optionen für eine staatliche Wirtschafts- un d Sozialpolitik unter dem Signum des Gemeinwohls, die im badischen Radikalismus als staatlich-bürokratische Reglementie rung von oben abgelehnt wurde. Schließlich ermöglichte die der kommunalen Dekorporation kompensatorisc h entgegenwirkend e »Inkorporation « i n di e staatliche Volksgemeind e di e Einbindun g individualistische r Freiheitsrechte , die den Bedürfnislage n sowoh l de r Bevölkerung al s auch der kapitalistischen Dynamik entsprachen. Die besondere Leistun g der »anderen Bürgergesellschaft « wa r demnach di e Überführung von traditionellen Gemeinschaftsidealen i n den modernen Individualismus und Pluralismus, wie Patrice Higonnet mit Blick auf den amerika12 Ebd., S . 414.

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nischen Republikanismu s formulier t hat. 13 Di e Züricher Entwicklun g is t als ein weiteres und andersartiges Beispiel einer solchen Überführung anzufügen , die damit ein e weit übe r den kantons - und nationalgeschichtlichc n Rahme n hinausgehende Bedeutung gewinnt. In Anknüpfung an die eingangs formulierten Arbeitshypothesen is t festzuhalten: Erstens gewann die »andere Bürgergesellschaft« ih r Fundament aus der vernunftrechtlichen Erweiterung des klassischen Republikanismus und der Dynamisierungsfähigkeit altständische r Traditione n de s gemeindlich-genossen schaftlichen Prinzips . Zweitens verkörpert e si e i n Gestal t de r halbdirekte n Demokrati e ein e moderne For m de s republikanische n Ideal s eine r schichtenübergreifende n Bürgergesellschaft als politisch-sozialer Einheit, wie sie heute in der politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussio n u m die Erneuerung der Zivilgesellschaft als «Beteiligungsstaat«14 wieder propagiert wird. Drittens stellte si e den Versuch eine s alternativen Urngang s mi t der nach ständisch-vormodernen Umbruchssituatio n dar , inde m si e neugewachsen e Bedürfnisse nac h individuelle r Betätigun g und überlieferte Bedürfniss e nac h kollektiver Inkorporatio n i n eine r genossenschaftlich-demokratische n Ge meinschaftsvision verschmolz . Der hier eingeführte Begriff der »korporativen Staatsbürgergesellschaft«, de r zunächs t al s Widerspruch i n sic h erscheine n muss, will dieser Syntheseleistung kollektivistischer Traditionen und individualistischer Positione n Rechnun g tragen . Da s Model l de r »andere n Bürger gesellschaft« steht somit für das Bemühen um einen -jenseits von Kapitalismus und Marxismus - »dritten Weg« in die Erwerbs- und Industriegesellschaft de r Moderne.

13 Higonnet, S . 3f., S . 274-280 hat die Thes e aufgestellt, wonac h der Misserfolg des französi schen Republikanismu s in de r rückwärtige n Entwicklun g vom Individualismu s des Jahres 178 9 zum korporatistische n Tugenddogma der Jakobiner begründet war, während umgekehrt der Er folg des amerikanischen Republikanismus auf der Überführung von traditionellen Gemeinschaftsidcalen i n den modernen Individualismu s und Pluralismu s beruhte. 14 Siehe dazu die Festrede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum 50jährigen Jubiläum de s Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Zusammenhang ist außerdem erneu t auf die aktuelle Kommunitarismus-Debatte zu verweisen, siehe vorn Einleitun g

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Abkürzungsverzeichnis Abl. Amtsblat t des Kanton Zürich AFK Archi v für Kulturgeschicht e Aß Archi v für Sozialgeschicht e AfSG Archi v für Schweizerische Geschicht e AppZ Appenzelle r Zeitung BRW Bülach-Rcgcnsberge r Wochenzeitung BZGA Basle r Zeitschrift fü r Geschichte und Altertumskund e Fs. Festschrif t GG Geschicht e und Gesellschaft GWU Geschicht e in Wissenschaft un d Unterrich t HJbL Hessische s Jahrbuch für Landesgeschicht e HPT Histor y of Political Though t HPZ Historisch-politisch e Zeitun g HZ Historisch e Zeitung JAH Journa l of American History JIH Journa l of Interdisciplinary Histor y JbSG Jahrbuc h für Schweizer Geschichte LB De r Landbote MEW Marx-Engels-Werk e NZZ Neu e Zürcher Zeitung NpL Neu e Politische Literatur OM Osnabrücke r Mitteilungen OS Offiziell e Sammlun g de r seit Annahme de r Verfassung vo m Jahre 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen PVS Politisch e Vierteljahresschrif t SBB Schweizerische s Bundesblatt SBWS Schweizerisch e Blätter für Wirtschafts- und Sozialpoliti k SR Schweizerische r Republikane r SVvB Schweizerische s Volksblatt vom Bachtel SZG Schweizerisch e Zeitschrift fü r Geschichte WMQ Th e William and Mary Quarterly ZAA Zeitschrif t fü r Agrargeschichte und Agrarsoziologie ZfGS Zeitschrif t fü r die gesamte Staatswissenschaf t ZGO Zeitschrif t fü r die Geschichte des Oberrheins ZHF Zeitschrif t fü r Historische Forschun g 359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

ZSG Zeitschrif t fü r Schweizerische Geschicht e ZSR Zeitschrif t fü r Schweizerisches Recht ZSS Zeitschrif t für schweizerische Statisti k ZSSR (GA) Zeitschrif t de r Savigny-Stiftun g fü r Rechtsgeschicht e (Germaa nistische Abt.) ZTB Zürche r Taschenbuch (Neue Folge)

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellen 1.1. Ungedruckte Quellen Staatsarchiv Zürich (StAZH ) Κ III 258.3, Petitionen des Zürcher Volkes 1830/31 Nr. 201-270 Κ III 258.3a, Petitionen des Zürcher Volkes 1830/31 Nr. 1-75 Κ III 259.1, Petitionen des Zürcher Volkes 1830/31 Nr. 133-200 Κ III 259.1a, Petitionen des Zürcher Volkes 1830/31 Nr. 76-132 Β X 188.2, Eingaben an den Zürcher Verfassungsrat von 1868 Β Χ 188.3, Eingaben an den Zürcher Verfassungsrat von 1868 Forschungsstelle für schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich (FSW ) Johannes Braendlin von Stäfa, Chronik der Familie Bracndlin, Mikrofilm eines Manuskripts in 2 Bänden

1.2. Gedruckte Quellen 1.2, 1.Amtliche Publikationen Amtsblatt des Kantons Zürich 1864-1865 (StAZH III AA f 2) Beschluss betreffend die Annahme der Verfassung des eidgenössischen Standes Zürich. Anhang zu r Verfassung de s eidgenössischen Stande s Züric h vo m 18. April 1869 (StAZH III Aa 3) Eingaben au s der Zei t nac h vollendete r erste r Berathun g de s Verfassungsentwurfe s (StAZH III Aa 3/3) Offizielle Sammlun g der seit Annahme der Verfassung vom Jahre 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen, Zürich 1831-1866 Rechenschaftsbericht de s Regierungsrates des Kantons Zürich über 1864, Zürich 1865 Staatsverfassung für den eidgenössischen Stand Zürich vom 10. März 1831 (StAZH III Aa 2) Staistik der Berufsarten des Kantons Zürich nach der Volkszählung vom 1. Dezember

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1870, bearbeitet vo n de m Statistische n Burea u de r Direktio n de s Innern , Züric h 1875 Uebersicht der bei der Kanzlei des Verfassungsrathes eingegangenen Vorschläge betreffend die Verfassungsrevision Tite l I-IV (StAZH III Aa 3/3) [Ulrich, D.], Uebersicht der der Verfassungs-Commission gemachte n Eingaben, in so fern dieselben sich nicht zunächst auf die Staatsverfassung, sonder n auf die verschiedenen Zweig e de r Verwaltung , de r Justizpflegc un d de r Gesetzgebun g beziehen. , Zürich 1831 (Stadtbibliothek Zürich 4 1831/4) Verfassung des eidgenössischen Standes Zürich vom 31. März 1869 (StAZH III Aa 3/4') 1.2.2. Zeitungen

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Register Orte Aargau 180, 182, 196, 228, 280, 284 Affoltern 209 Andelfingcn 209 Appenzell-Innerrhodcn 282 Basel 56, 111, 180 Baselland 275,284 Bauma 45, 262 Bern 182,281,284 Bülach 209,310,312,321 Deutschland 347 Dielsdorf 209 Frankreich 89, 124, 237, 306 Freiburg 182 Genf 88, 1 lf., 129, 132,281,28 4 Glarus 170 Glattfelden 33 Graubünden 30 Greifensee 32, 34 Großbritannien 185, 196, 237, 258, 282 Grüningen 30, 34f Hinwil 209,311 Höngg 246 Horgen 134, 136f., 209 Irland 196 Kloster Rüti 211,220

Kloten 278, 279 Küsnacht 70,97, 133ff. Kyburg 33, 44, 67f. Luzern 180, 182, 270, 282, 284 Meilen 117, 170,20 9 Neuenburg 282, 284 Niederlande 120 Ottenbach 39,42 PfäfFikon 114,209 Preußen 308,349 Saanen 195 Solothurn 182 St. Gallen 170, 172, 182, 275, 281, 284 Stadel 272 Stäfa 132f. , 135-138,155f., 167,173f.,341 Thurgau 172, 180, 182, 196,28 4 Uster 196f , 209, 310, 312, 314 Waadt 182,281,284 Wädenswil 71, 99, 103f, 108, 113f., 228 Wallis 30, 284 Winterthur 202, 206, 208f., 239, 299, 310 Zürich 26, 284 Zürich, Stadt 58, 206, 209, 239, 299, 310, 327,331

385 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Namen Lange, Friedrich Albert 307 Lassalle, Ferdinand 305-308, 348 Lavater, Johann Kaspar 87-91, 13 7 Bekk, Johann Baptist 355 Leopold, Großherzog von Baden 350 Berstett, Wilhelm Ludwi g Frhr. v. 350 Billeter, Kaspar 113, 116f, 132,137,141f., Locher, Friedrich 293-296, 319, 326, 348 337 Lockejohn 14,227 Blanc, Louis 285 Bleuler, Salomo n 286, 304ff., 309 , 312, 314ff.,319,337 Manheim, Ernst 178 Marx, Karl11f. Blickle, Peter 17, 19 Bluntschli, Johann Kaspa r 148, 151, 154, Meyer von Knonau, Ludwig 48, 63, 146f., 151f., 170 , 196,20 3 201f.,273,279,283 Montesquieu 25,85, 152 Bodin,Jean 56,332 Bodmer, Johann Jakob 77, 82-86, 94, 123 Braendlin, Johannes 154, 157-167 , 173 , Nehracher, Heinric h 117, 132f., 137, 156 Nolte, Paul 357 196, 200, 202, 274,342 Nüscheler,Heinrich 147f. , 169,177, 180f., Bräker, Ulrich 102, 109 240 Brentano, Lorenz 356 Bürkli, Karl 286, 327 Paine, Thomas 85,87, 112 , 188 Pestalozzi, Johann Heinric h 88f. , 24 4 Constant, Benjami n 241 Pfenninger, Johann Kaspar 105, 111,131134, 142, 155f., 173 Engels, Friedrich 11 Eschcr, Alfred 270, 283, 293ff., 300, 315, PocockJohnG.A. 13f. , 17 Puchta, Georg Friedrich 149 318,320,327,348 Eschcr, Johann Kaspa r 33, 44, 67, 69, 71 Rahn, Johann Heinric h 105-108 Friedrich II von Preußen 97 Rotteck, Kar l von 241 Rousseau, Jean Jacques 25, 80, 82, 85, 88, 97, 128-131 , 152 , 176 , 184ff, 188fT. , Gujer, Heinrich 197ff. , 203, 272f. 336, 340, 342 Hegel, Georg Wilhelm Friedric h 12, 168, Schcrr, Ignaz Thomas 273 308 Hegetschweilcr, Johannes 156, 197ff.,272 Scheuchzcr, Friedric h 286, 303f., 307ff., 318,326f,349 Higonnet, Patric e 357 Hürlimann-Landis,Η.J. J. 278f. , 337, 346 Schilling, Heinz 18 Schulze-Delitzsch, Fran z Hermann Jefferson, Thoma s 15 305ff., 348 Sieber, Johann Kaspa r 284, 286 Simler, Josias 55 Kant, Immanuel 75, 97 Smith, Adam 15, 75 Kaschuba, Wolfgang 19 Keller, Friedric h Ludwi g 149-153, 158 , Snell, Ludwig 148, 175-178, 180-192 , 241,337,342,345 180f., 189, 200, 202f., 225, 271f., 274f., Stanyan, Abraham 72 283, 343, 345 Althusius,Johannes 56, 128

386 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Steffan 197-200 Stein, Karl Frhr. vom 242 Strauss, David Friedrich 154, 274, 278 Stutzjakob 102, 109,26 1 Sulzer, Johann Jakob 284 Toqueville 25 Treichler, Johann Jakob 285f. , 294, 306 Tschudi, Ägidiu s 55

Utzinger, Hartmann 286, 304 Voltaire 97 Walder, Karl 284,294,307,315 Waldmann (Bgm. ) 49ff. , 69,159, 201, 219 Weber, Max 72 Winter, Ludwig 350 Wolff, Christian 98

Usteri, Paul 134, 137,147, 169, 197f.,201, Zangger, Hans Rudolf 284, 286, 327f. Zwingli, Ulric h 277, 333, 340 203

Begriffe Aargauer Klostcrfrage 280 Abgaben, Steuern 81, 120f, 210, 212-215, 221, 253f., 273, 320, 341 Adel 48, 53, 62, 65f, 277, 331 Altes Recht 125, 136, 163 , 168, 171, 327, 340 Ansässen, Hintersassen , Niedergelassen e 43, 45 , 247-251 , 265f., 297-302, 305 , 348 Anschlußfähigkeit vo n Liberalismu s u . Kommunalismus 23, 178 , 180 , 192 195, 208, 245f, 252, 256, 260, 263-266, 343f. Arbeiterschaft-, Integratio n 286, 295 , 305f, 319,348 Aristokraten 29, 47 Aristokratie 52, 155, 158, 161f., 173, 183, 243, 258, 312, 315, 326f. Armenwesen 44, 246, 250, 299 -, Heimatprinzip 45, 246, 249, 339 Arnold von Winkelried 296 Assoziation 304, 308 Aufgeklärtes Naturrech t 126, 128 , 164 , 168, 172, 183,327,34 0

Bedrohungs-, Verschwörungstopo s 56, 160f.,202,270,279ff.,347 Berufsbeamtentum 67 Bundes- u . Eisenbahnbaron e 283, 293, 296, 324, 347 Bundesrevision 1874 32 9 Bundesstaatsgründung 1848 280,282,34 7 Bürgergemeinde 249, 251 , 265f, 271 f., 296-301,322,326,339,347 bürgerliche Gesellschaft 12, 96, 107, 168, 329, 331

Demagogenverfolgung 147, 177 Demokratische Bewegung 141, 189, 277, 279, 284-288 , 302-305 , 309ff., 313, 326-329, 346, 348 -, Begriff 283 f -, Kantonsverfassung 1869 324f, 349 -, Partialrevision 1863/65 287ff.,301 -Programm 303, 315f., 318-321, 348 -, Selbstbild 328 -, Verfassungsrevision 1869 285 , 315 , 323 Direktdemokratie 231, 285, 303, 307ff.,, 326, 328, 349 Bauernunruhen, Bauernkrie g 22, 71f, -, Finanzreferendum 284,318,324 -, föderatives Referendum 69 219,222,277 387 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

-, Gesetzesinitiative 284, 288, 304, 308f, 316f,324 -, Gesetzesreferendum 284, 288 , 304 , 308f.,316f,324f -, Gesetzesveto 275f. , 279, 285, 288, 308, 346 -, Kreis-/Gemcindeebene 187, 189 -, Verfassungsinitiative 188f , 285, 288f., 315 -, Verfassungsreferendum 174,186,188f, 231,288 Eidschwur 135, 164f, 178 Eigentumsrecht 120, 195, 209-228, 263ff., 343 Einwohnergemeinde 271f , 288, 296f, 299f., 302, 322, 339, 341, 348 Eisenbahnboom 289f. , 293, 318, 320 Fabrikarbeiter 244, 246, 285f., 290f., 293, 322 Fabrikgesetz 305, 324f Feudallasten 210 Flugschriften, ländlich-liberal e 167-174, 181, 198f. Französische Julirevolution 148,167,338, 350 Französische Revolution 11ff., 115ff., 131, 135 , 141, 176, 188.337f. Freiheitsbaum 135 Freiheitstradition/-mythos 55, 60, 67, 81, 85, 116 , 118f., 122, 124 , 131 , 135, 163, 165, 170 , 172 , 230, 243, 253, 264, 278, 327f.,337 -, der freie Schweizerbürger 77ff.,87, 161, 172, 230, 243, 264, 296, 337f. -, der Landschaf t 73, 158 , 165 , 173 , 261, 318,327,341f. -, eidgenöss. Grundungsmythos 73, 163ff.,327,340,346 -, Heilsvision 164, 277

-, Loskauf 36, 38, 73, 195. 211, 332 Gemeindeanfrage 48, 50 , 53f, 57ff , 61, 70,90 Gemeindeausschüsse, Komitee s 135f , 142, 175,20 5 Gemeindeautonomie b. z. Ende des Anden régime -, Landgemeinden 45f.,331f . -, Stadtgemeinde Zürich 60-63, 332 -, Züricher Stadtstaat 65-69, 71f Gemeindebehörden, Gemeindebeamt e 40, 233, 239 -, Geschworene 38f. , 41 -, Säckelmeister 36 f -, Untervogt 31-36,68 Gemeindebürgerrecht 230, 246, 249, 277, 339, 348 - u. Staatsbürgerrech t 127, 190f, 238, 241, 246, 251, 265, 271, 321, 339, 343, 345 -, Einbürgerung 43f. , 54 , 249, 339 -, Personalrechtsgemeinde 230 -, Realrechtsgemeinde 230 Gemeindegericht 40f. , 67 , 236f. Gemeindegesetzgebung, badisch e 350 f Gemeindegüter 36, 216, 297, 299, 300ff. Gemeindeverfassung, Satzung , Ordnun g 38f., 42 , 66f., 124 , 240 Gemeindeversammlung 37, 42f, 230, 234ff., 239f., 247, 251, 298, 301 Gemeinwohl, Gemeinnutze n 84, 106 , 121ff., 130f. , 167ff. , 172, 176 , 191 , 209, 222, 228, 241, 252, 255-258, 264f, 269, 276, 302, 320, 327, 334f., 339, 344 Genossenschaftsbewegung 304-308, 348 Gerechtigkeit 42, 216ff., 299 Gesellschaftsvertrag, Gontra t socia l 25, 128ff., 164, 177, 183, 185f, 190,340 Gesellschaftsvertrag, ständische r 126 Göttliches Naturrecht 125, 128, 163, 168, 171, 276f., 318, 328, 340

Halbdirekte Demokratie 189, 349, 358 Gemeinde Handels- u . Gewerbefreihei t 120, 126 , - u. politische Sozialisatio n 313 f 137, 139 , 161 , 167 , 206f, 222-225, -, Austausch unte r d . Gemeinde n 133f , 228ff, 257-261, 264, 266, 347f 370, 173,208,32 3

388 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Handelsmonopol, städtische s 52, 54 , 100f., 120, 139, 167, 197 Heimarbeiter 52, 54, 101f., 200, 225, 239, 244, 256f., 260f., 263, 290f. Helvetik 22, 142,155,160f., 167,188,201, 212ff., 221, 240, 282 , 296f., 301, 338, 341 Helvetisches Modell 331 Herren 53, 55, 58 , 71 , 89 , 102f, 260, 294ff.,315,318,341 Historische Rechtsschule 149, 153f.,345

Liberale Volksbewegunge n i . d . Nach barkantonen 172, 180, 182f., 196 Luxusdebatte 84

machiavellian momen t 14, 293, 326, 334, 348, 355 Markgenossenschaft 191, 243 Maschinensturm von Uster 225, 261 ff. Mediation 161f. , 167, 229, 297 Memorial -, Küsnachter Memorial 148, 181 -, Stäfner Memoria l 117ff. , 121f. , 124128, 130ff., 134, 140f., 184, 335, 338f. Jesuiten 270,281,283 Journalismus, populistische r 293-296, -, Uster Memoria l 167, 174f., 182, 196 200,202,205ff., 214,231-234,242,250, 348 253, 255f Junge Juristen 150, 153ff., 180, 272f, 283, mesoi 257 343, 345 Mittelstand 257f., 260 , 295f., 304, 307 , 318f.,326,334,348 Kantonalwahlrecht 231, 241-246, 248f, moral economy 260 265, 297 klassischer Republikanismus 13ff , 17,24, 26, 80, 82,85ff., 129,189,295,331,333, Niederlassungsfreiheit 298, 347 336, 358 klassischer Republikanismu s u . Kommu- Öffentlichkeit 23, 91, 178ff., 188, 231 Ökonomische Kommissio n 77ff . nalismus Ökonomischer Patriotismu s 77, 81ff., 89 -, Affinitäten 333ff.,341 Kleinjogg 79ff. , 337 Paulskirche 1848 34 7 Koalitionsverbot 305 Kommunalismus 17-20, 22ff., 26, 123 , Petitionen 178, 209, 263, 265, 317, 331, 336, 341 , - von 1830/31 204-209 , 214-229 , 231240, 242f., 245-253, 255-260, 263-266, 343f, 349, 358 275, 297, 320ff., 343f. Kommunitarismus 15,358 - von 1839 152, 275f.,279,346 Konstaffel 48-53, 57f. korporative Staatsbürgergesellschaft 131 f., - von 1868/69 316-32 2 Polis 25, 129, 185, 190f., 333 140,267,329,339,358 Populismus, amerikanischer 16 Pressefreiheit 148, 150 , 177f, 180, 231, Land-/Obervogt 67ff . 341 Ländlicher Liberalismus-, Selbstbild 158, Pressewesen, demokratisches 286f. , 303f., 163, 165f. 307 Landsgemeinde, Landsgemeindedemo kratie 25,34, 166 , 172, 177, 185f, 189, Pressewesen, liberales 147, 149, 342 197, 272, 284, 308, 31 lf., 314f., 332 Reformation 52, 54 , 66 , 159 , 212 , 234 , Lehenswesen 120,210 276f,333,340 Leibeigenschaft 194, 211 Liberale Bewegung in Baden 20,191, 213, Regeneration -, Begriff 145, 163, 192 , 269, 327f. 241,350-357 389 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

-, Kantonsverfassung 1831 166 , 182, 259, 265, 269, 279, 298, 325 -, Verfassungsentwurf L . Snel l 177, 182ff, 187, 189 , 191 , 231, 241 f., 245, 253, 342 -, Verfassungsrevision 182, 202f. Regentenrepublikanismus 120 Reichsstädte 48, 50, 60, 63 Reichszugehörigkeit 50, 55f., 62f., 332 Repräsentativdemokratie-, Vertretun g der Landschaft 143, 148 , 162ff., 168-171, 174, 180 , 231,274f. Republik, Republikanismu s 21, 25f., 51, 53, 56f, 59, 63, 65, 81, 83, 85f, 93, 98, 106ff., 116, 118f., 122ff. , 126-129, 142 , 152, 164, 176 , 181, 190, 219, 229f., 237, 242, 248 , 252f., 258, 266 , 277 , 294f., 313, 315 , 325f., 332, 336f., 341, 348f., 358 Restauration 162, 165 , 170 , 197 , 206 , 232ff., 239ff., 272, 280, 282, 297, 341 Rütli, Rütlischwu r 30, 163 , 327, 338 Selbstgesetzgebung 185ff. , 189, 342 socialeBcwegung 284ff . Sonderbund, Sonderbundskrieg 280ff . Souveränitätslehre (Bodin ) 56f. , 59 , 332 soziale Frage , Sozialpolitik , Sozialstaa t 285, 295, 304-307, 309 Sozietäten, Gesellschafte n i n de r Aufklä rung -, berufsständ. Organisatione n 104-108, 131,337 -, Landschaft Zürich 97-104 -, Lesegescllschaften 97, 108-117 , 132 , 139, 141,33 7 -, Stadt Zürich 77, 82-85, 336 Sozietäten, Gesellschafte n i n de r Demo kratischen Bewegun g 287,310 -, Lesegesellschaften 310 Sozietäten, Gesellschaften i n der Regeneration -, Lesegesellschaften 147, 155ff., 167 -, Stadt Zürich 146 f Spruchbriefe 1489 49f., 132, 134-137 , 140, 159f, 165, 178,222,34 1

Staat als-, 187f. , 190f., 308, 342, 349 -, genossenschaftliche Solidargemein schaft 241,252f,255ff.,266,34 4 -, Schwurgenossenschaft 163, 166,342 -, staatliche Volksgemeind e 187f. , 190f. , 342 Stadler Handel 1834 272f Stäfner Hande l 131f , 134f , 137, 139ff., 155f, 158ff , 163, 165 , 178 , 213 , 267, 337, 340f. Stäfner Handel- , Memorialbewegun g 1794 104 , 117, 134, 137 , 139,33 8 Stillstand 35f. , 43ff. Studierfreiheit 121, 159,161 System Eschcr 286, 294f Täuferbewegung 277 Toggenburger Unruhen 1712 17 9 Tugend, Tugenddiskurs 13, 50, 80f., 84f., 87, 122 , 124f, 130, 139, 150, 152, 168f, 172, 176 , 186 , 191 , 244, 252, 257, 266, 279,293ff., 315,320,326,333,336,346, 348 Unternehmertum, ländliche s 100-104, 109, 139 , 157,261,263,33 7 Urkantone 163 f. Vereinsgesetz 271 Vereinswesen, ländliche s 162, 271 , 278, 285,287,310-314,342 Verlagsindustrie 52, 100, 102, 120,29 0 Volksanfrage 69fT , 131 f Volksfrömmigkcit 276, 278 Volkssouveränität 56f. , 59 , 82 , 92f, 95, 126, 128 , 185f., 188, 257, 260ff., 275, 279,285,314f,317f,325,328 Volksversammlung, Landsgemeind e -, von 1863 28 7 - von 1867/68 309f, 312-316, 321, 326f -, von Kloten 1839 278f., 314, 346 -, von Uster 1830 156 , 158, 167, 171, 173 , 175, 196-201, 203, 312f., 319, 327 Wahlbeamtentum 198f , 232-235, 240 , 275,317,324

390 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8

Wehrwesen 67ff. , 72, 122 , 136 , 142 , 245, 255, 34 4 Wilhelm Tel l 87, 161 , 172, 296, 327, 338 Wirtschaftskrise 1865/67 289-293 , 326 , 348 Wirtshäuser 70, 91 , 103 , 113 , 115 , 117 , 133, 167 , 170 , 173 , 179,23 5

Züri-Putsch 154f , 260, 274ff., 278ff, 288, 313f, 318, 34 6 Zunfthandwerk 256-259 Zunftunruhen - , Basel 1691 56f, 179 - , Zürich 1713 58ff, 73, 179 , 332 - Zürich 1777 89-9 4 Zunftverfassung, Zünft e 47-53, 55 , 90f, Zentralismus 270, 273 , 288 , 304-308 , 93, 33 2 315f., 318, 325, 346, 348 Zunftzwang 120

391 Bayerische Staatsbibliothek München © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35169-8