Homo ridens: Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens 9783495861059, 9783495488294, 9783495486023

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Homo ridens: Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens
 9783495861059, 9783495488294, 9783495486023

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Irritierende Lacherlebnisse
1.2 Grundriß einer Phänomenologie des Lachens
1.3 Im Anfang war die Tat?
Anmerkungen
2 Historischer Teil: Das Nachdenken über das Lachen in seiner historischen Entwicklung
2.1 Methodologische Vorbemerkung
2.1.1 Zur Geschichtlichkeit des Lachens
2.1.2 Gelotologische Traditionen
Anmerkungen
2.2 Platon oder: Die Frage nach der Ambivalenz
2.2.1 Attische Lachkultur I: Die Alte Komödie
2.2.2 Die Verlagerung der Gefühle in die Seele
2.2.3 Das Besonnenheitsideal
2.2.4 Platons Unbehagen an Gelächter aller Art
2.2.5 Gemischte Gefühle
2.2.6 Gespannte Beziehungen
2.2.7 »Verkenn’ dich selbst, und mach’ dich lächerlich!«
2.2.8 Die Tücke der Situation
2.2.9 Bilanz
2.2.10 Kritik und Ausblick
Anmerkungen
2.3 Aristoteles oder: Die Frage nach dem proprium hominis
2.3.1 Umriß der Fragestellung
2.3.2 Lachen als natürliches Phänomen
2.3.2.1 Aristoteles als Naturphilosoph
2.3.2.2 Das Zwerchfell als der natürliche Ort des Lachens
2.3.2.3 Kitzel, Lachen, Niesen, Stottern
2.3.2.4 Lachen, Bewegung, Wärme, Resonanz
2.3.2.5 »Auch hier sind Götter.«
2.3.3 Lachen als ästhetisch-poietisch organisiertes kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis
2.3.3.1 Die affektive Basis der performativen Künste
2.3.3.2 Aristoteles als Ästhetiker
2.3.3.3 Attische Lachkultur II: Die Mittlere Komödie
2.3.3.4 Der Ort des Lachens in den performativen Künsten
2.3.3.5 Vergnügen an tragischen Gegenständen: phobos und eleos
2.3.3.6 Zur Räumlichkeit theatraler Affekte
2.3.3.7 Mimetische Resonanz
2.3.3.8 Der uroborische Impuls
2.3.3.9 Katharsis moralistisch, magisch, medizinisch, uroborisch
2.3.3.10 Katharsis tragisch und komisch
2.3.4 Lachen als ethisches Problem und gesellschaftliche Praxis
2.3.4.1 Grenzen der Verfügbarkeit
2.3.4.2 Grenzen ethischer Relevanz
2.3.4.3 Das Eutrapelie-Ideal: pro und kontra
2.3.5 Bilanz
Anmerkungen
2.4 Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder: Die Frage nach der Selbstbehauptung
2.4.1 Diogenes als Gestalt und Typ
2.4.2 Demokrit als Gestalt
2.4.3 Demokrit als Typ
2.4.4 Philosophisches Narrentum als Rollenfach
2.4.5 Grenzen der Selbstbehauptung
2.4.6 Bilanz
Anmerkungen
2.5 Die Stoa oder: Die Frage nach den Affekten
2.5.1 Der heitere Weise
2.5.2 Grenzen der Verfügbarkeit
2.5.3 Der stoische Weise
2.5.4 Pneuma und Tonos
2.5.5 Bilanz
Anmerkungen
2.6 Die christlichen Kirchenväter oder: Die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des lachenden Menschen
2.6.1 Die Grundlagen
2.6.1.1 Die alttestamentliche Sicht auf das Lachen
2.6.1.2 Die neutestamentliche Sicht auf das Lachen
2.6.2 Die Anthropologen: Clemens und Laktanz
2.6.2.1 Der Traktat des Clemens über das Lachen
2.6.2.2 Antikes Erbe in christlichem Gewand
2.6.2.3 Das Lachen der Auferstandenen
2.6.2.4 Bilanz Clemens
2.6.2.5 Laktanz
2.6.3 Der Bußprediger: Ephräm der Syrer
2.6.4 Der Exorzist: Johannes Chrysostomus
2.6.5 Der Mythologe: Aurelius Augustinus
2.6.5.1 Gnostische Erblasten
2.6.5.2 Reduktionistische Vorentscheidungen
2.6.5.3 Die Wonnen der Eitelkeit
2.6.5.4 Das Lachen Isaaks
2.6.5.5 »Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!«
2.6.5.6 Die beiden Reiche
2.6.6 Mönche und Klöster
2.6.6.1 Das Askese-Ideal
2.6.6.2 Wendepunkte in der Geschichte der frühen Christenheit
2.6.6.3 Die Apophthegmata Patrum
2.6.6.4 Die Vita Antonii
2.6.6.5 Die Engelsregel des Pachomius
2.6.6.6 Die beiden Basilius-Regeln
2.6.6.7 Die Pflichtenregel des Ambrosius
2.6.6.8 Kassians Regelwerk
2.6.6.9 Die Regel Benedikts
2.6.6.10 Zweimal Trauer: akedia und contritio
2.6.7 Der ungehörte Vermittler: Gregor der Große
2.6.8 Bilanz
Anmerkungen
2.7 Die Scholastiker oder: Die Frage nach der christlichen risibilitas
2.7.1 Überblick
2.7.2 »Zurück zu Benedikt!«
2.7.3 Bernhard von Clairvaux oder Die Frage nach der Hydraulik der ventositas
2.7.4 Anselm von Canterbury oder Die Frage nach der Relativität von Sünde und Buße
2.7.5 Wilhelm von Conches und Alain de Lille oder Die Frage nach der Heiterkeit der Schöpfung und dem vollkommenen Menschen
2.7.6 Hildegard von Bingen oder Die Frage nach dem Gewoge der windhaften Erregungen
2.7.7 Der Lachtraktat des Strickers
2.7.8 Alexander von Hales oder Die Theologie des Lachens
2.7.8.1 Überblick
2.7.8.2 Die theologische Kritik der scurrilitas
2.7.8.3 Die theologische Kritik der ioculatio
2.7.8.4 Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung
2.7.8.5 Die theologische Kritik der derisio
2.7.8.6 Bilanz
2.7.9 Thomas von Aquin oder Die christliche Rettung der Eutrapelie
2.7.10 Umberto Ecos Rosenroman oder: Scholastische Gelotologie anachronistisch, spätmarxistisch und postmodern
2.7.10.1 Bachtins Entwurf einer mittelalterlichen Lachkultur als Gegenkultur
2.7.10.2 Ecos Rosenroman
2.7.10.3 Bilanz
2.7.11 Das Osterlachen oder: Die Frage nach den Grenzen der Eutrapelie im liturgischen Raum
2.7.11.1 Ein christliches Lachritual
2.7.11.2 Zur Ätiologie des Osterlachens
2.7.11.3 Die Polemik gegen das Osterlachen
2.7.11.4 Bilanz
Anmerkungen
2.8 Die frohe Botschaft des Philosophen oder: Die Frage nach der ars iocandi et ridendi
2.8.1 Überblick
2.8.2 Die ars ridendi als medizinisch-therapeutisches Programm
2.8.3 Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung: Die Geloiasten-Palette
2.8.4 »Unser Lachen« als Ziel der ars iocandi et ridendi
2.8.5 Die ars iocandi als ästhetisch-poietisches Programm
2.8.5.1 Philologisches Narrentum: Die makkaronische Poesie
2.8.5.2 Philosophisches Narrentum: Das Selbstlob der Torheit
2.8.6 Die ars iocandi et ridendi als performatives Programm
2.8.6.1 Der Hofnarr
2.8.6.2 Der Hofmann
2.8.6.2.1 Von Pontano zu Castiglione oder Das Ideal des homo facetus
2.8.6.2.2 Das Paradox der sprezzatura
2.8.6.2.3 Von Castiglione zu La Rochefoucauld oder Das Ideal des stoischen sapiens bei Hofe
2.8.6.2.4 Grenzen höfischer Lachkultur
2.8.7 Ausblick
Anmerkungen
2.9 Laurent Jouberts Traité du Ris oder: Die Frage nach dem Phänomen selbst
2.9.1 Überblick
2.9.2 Laurent Joubert, Person und Werk
2.9.3 Staunen über Signaturen
2.9.4 Die Beschaffenheit risibler Objekte, Sachverhalte und Situationen
2.9.4 2.9.4.1 Das Kriterium der Ambivalenz
2.9.4.2 Das Kriterium der Ferne
2.9.4.3 Das Kriterium der enttäuschten Erwartung
2.9.5 Die Wahrnehmung risibler Objekte, Sachverhalte und Situationen
2.9.5.1 Das Kriterium der Perspektivität
2.9.5.2 Das Kriterium der Einleibung
2.9.5.3 Das Kriterium der Sympathie
2.9.5.4 Das Kriterium der Herz-Gestik
2.9.6 Die Lebensgeister
2.9.7 Die Ambivalenz risibler Anmutungen
2.9.8 Verschiedene Definitionen des Lachens
2.9.9 Defiziente Formen von Gelächter
2.9.10 Jouberts Lachpalette
2.9.11 Ergänzungen und Korrekturen
2.9.12 Bilanz und Ausblick
Anmerkungen
2.10 René Descartes oder: Die Frage nach dem Gespenst in der Maschine
2.10.1 Überblick
2.10.2 Die psychophysische Aporie
2.10.3 Transitstelle Zirbeldrüse
2.10.4 Das Spiel der Körpermaschine
2.10.5 Lachen als Reflex?
2.10.6 Die Explosion der Lebensgeister
2.10.7 Bilanz und Ausblick
Anmerkungen
2.11 Thomas Hobbes oder: Die Frage nach dem Plötzlichen
2.11.1 Der Zwillingsbruder der Angst
2.11.2 Lach-Szenarien
2.11.3 Ein Blick auf Spinozas Ethik
2.11.4 Plötzlichkeiten
2.11.5 Die Lebensgeister
2.11.6 Bilanz
Anmerkungen
2.12 Heitere Aufklärung oder: Die Frage nach dem Anderen der Vernunft
2.12.1 Überblick
2.12.2 Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung
2.12.2.1 Die Aufrichtung zur Mündigkeit
2.12.2.2 Der metaphysische Optimismus
2.12.3 Shaftesbury als Anwalt Heiterer Aufklärung
2.12.4 Die Misere einer »verspäteten Nation«
2.12.5.1 Pietistische Innerlichkeit
2.12.5.2 Das Modell Halle
2.12.5.3 Das Modell Abdera
2.12.5 Grenzen Heiterer Aufklärung
2.12.5.1 Elitäre Vorurteile
2.12.5.2 Fundamentalistische Enthusiasterey
2.12.5.3 Dogmatisch verengte Vernunft
2.12.5.4 Der Schock von Lissabon
2.12.6 Die Aufklärung des Heiteren als Erbe von Aufklärung, Pietismus und physiologischer Theorie
2.12.6.1 Überblick
2.12.6.2 Britische Vorgaben: Die Emanzipation von Hobbes
2.12.6.3 Wolffs Apologie des Witzes
2.12.6.4 Meiers Apologie eutrapelistischer Praxis
2.12.6.5 Explodierende Intensitäten oder Die Frage nach der Pointenstruktur krisenhafter Prozesse
2.12.6.5.1 Methodologische Vorüberlegung
2.12.6.5.2 Zuspitzungen
2.12.6.5.3 Spannungen
2.12.6.5.3 Durchbrüche
2.12.6.5.5 Ekstasen
2.12.6.6 Gelotologie zwischen psychophysischem Dualismus und leiblicher Synergetik
2.12.6.6.1 Überblick
2.12.6.6.2 Von Hoffmann zu Nicolai oder Die Aporien des mechanistischen Dualismus
2.12.6.6.3 Von Wolff zu Lange oder Das Lachen des homo duplex im Duett mit sich selbst
2.12.6.6.4 Von Haller zu Poinsinet oder Das Lachen als Krise
2.12.6.6.5 Von Stahl zu Kant oder Das Lachen als Versöhnung der Aufklärung mit dem Anderen der Vernunft
2.12.7 Bilanz
Anmerkungen
2.13 Charles Baudelaire oder: Die Frage nach dem Lachen jenseits des Heiteren
2.13.1 Überblick
2.13.2 »Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!«
2.13.3 Das satanische Lachen
2.13.4 Das gnostische Lachen
2.13.5 Problemgeschichtlicher Rückblick auf das schwarze Lachen
2.13.6 Das verächtliche Lächeln des Dandys
2.13.7 Bilanz
2.13.8 Ausblick
Anmerkungen
2.14 Im Irrgarten der Energetik oder: Die Frage nach den Metamorphosen organischer Energie
2.14.1 Überblick
2.14.2 Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts
2.14.2.1 Friedrich Casimir Medicus oder Die Lebenskraft als organisches perpetuum mobile
2.14.2.2 Christoph Wilhelm Hufeland oder Die Lebenskraft als organische energeia
2.14.2.3 Johann Christian Reil oder Die Lebenskraft als Eigenschaft der Materie selbst
2.14.3 Der moderne Mythos vom Elementenkind Hans Dampf
2.14.4 Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts
2.14.4.1 Alfred Wilhelm Volkmanns Vorbehalte
2.14.4.2 Hermann Lotzes mechanistische Kritik
2.14.4.2 Der Energie-Erhaltungs-Satz
2.14.4.4 Emil du Bois-Reymonds energetische Kritik der Lebenskraft
2.14.4.5 Rudolf Virchows vitalistische Kritik der Lebenskraft
2.14.5 Herbert Spencer oder Die Physiologie des Lachens als Frage nach den Metamorphosen der nervösen Energie in der Körpermaschine
2.14.6 Kritik und Selbstkritik der Biophysik
2.14.6.1 Arthur Schopenhauer oder Die Metaphysik des Lachens als Rehabilitation der Lebenskraft
2.14.6.2 Ewald Hecker oder Die Physiologie des Lachens als Rehabilitierung der organischen Vernunft
2.14.6.3 Ignoramus. Ignorabimus: Die Selbstkritik der mechanistischen Biophysik durch Emil du Bois-Reymond
2.14.6.4 Die Kritik der mechanistischen Biophysik durch Henri Bergson als Rehabilitierung der Lebenskraft
2.14.6.4.1 Der élan vital als evolutionäre Lebenskraft
2.14.6.4.2 Das kalte Lachen diesseits des Komischen
2.14.7 Die Neohydrauliker
2.14.7.1 Sigmund Freud oder Lachen als Hydraulik psychischer Energie
2.14.7.1.1 Witz- und Lach-Szenarios
2.14.7.1.2 Die energetische Basis: Ökonomie-Prinzip und kathartische Abfuhr
2.14.7.1.3 Lachen als Regressionsphänomen
2.14.7.1.4 Zur Kritik der energetischen Hydraulik
2.14.7.2 Von Freud zu Reik oder Vom Ablachen zum Abzittern
2.14.7.3 Von Reik zu Leroy oder Vom Abzittern zur Wiederauferstehung
2.14.7.4 Konrad Lorenz oder Lachen als Hydraulik aktionsspezifischer Energie
2.14.8 Bilanz
Anmerkungen
2.15 Charles Darwin oder: Die Frage nach dem phylogenetischen Erbe
2.15.1 Überblick
2.15.2 Von Lamarck zu Darwin
2.15.3 Darwins Ausdrucks-Buch
2.15.3.1 Die drei Prinzipen
2.15.3.2 Ausdruck und Interaktion
2.15.4 Von Darwin zu Haeckel
2.15.4.1 Sullys Evolutionsgeschichte des Lachens
2.15.4.2 Das Lachen der Kinder und »Wilden«
2.15.5 Von Haeckel zu Lorenz
2.15.5.1 Grenzen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten
2.15.5.2 Aggressionsrituale
2.15.5.3 Die Mär vom Aggressionstrieb
2.15.6 Vom Trieb zum Programm
2.15.7 Reflexe und Luxusreflexe
2.15.8 Bilanz
Anmerkungen
2.16 Alfred Stern oder: Die Frage nach Wert und Wertung
2.16.1 Überblick
2.16.2 Werte und Wertungen
2.16.3 Lachen als Wertung
2.16.3.1 Das Lachen über das Komische und Lächerliche
2.16.3.2 Lachen und Weinen
2.16.3.3 Das performativ wertende Interaktions-Lachen
2.16.3.4 Wertendes Lachen und Lächeln jenseits des Komischen
2.16.4 Bilanz
Anmerkungen
2.17 Helmuth Plessner oder Die Frage nach dem Spiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe
2.17.1 Überblick
2.17.2 Grenzen der Gemeinschaft oder Die Frage nach Grenzen und Krisen eutrapelistischer Geselligkeit
2.17.3 Stufen und Grenzen des Organischen oder Die Frage nach der Positionalität und deren Signatur
2.17.4 Lachen und Weinen oder Die Frage nach den Grenzen ambivalenten Verhaltens
2.17.4.1 Lachen als Signatur einer Krise der Personalität
2.17.4.2 Der utopische Standort und der unendliche Umweg zu sich selbst
2.17.4.3 Die Expressivität des Lachens
2.17.4.4 Methodologische Zwischenbemerkung
2.17.4.5 Lach-Anlässe und Lach-Arten
2.17.4.5.1 Überblick
2.17.4.5.2 Lachen und Lächeln
2.17.4.5.3 Das geloiastische Lachen als Echo des Komischen
2.17.4.5.4 Lachen als hinhaltende Hingabe an eine erhebende Situation
2.17.4.5.5 Lachen als gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation
2.17.4.5.6 Lachen als Ausdrucksbild und Handlungsbild
2.17.4.5.7 Lachen und Weinen
2.17.4.5.8 Plessners Gelotologie im zeitgenössischen philosophisch-anthropologischen Kontext (Jünger, Gehlen, Bollnow, Ritter, Kadner)
2.17.4.5.9 Das Echo des Lebens im Werk
2.17.5 Bilanz
Anmerkungen
2.18 Hermann Schmitz oder Die Frage nach dem Spiel von personaler Emanzipation und personaler Regression
2.18.1 Überblick
2.18.2 Von Goethe zu Schmitz
2.18.3 Der zentripetale Impuls der Bedrängnis
2.18.4 Die antifaustische Tendenz oder Im Anfang war das Widerfahrnis
2.18.5 Gegenwärtigkeit oder Der zentripetale Impuls als Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich
2.18.6 Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes
2.18.6.1 Körper und Leib
2.18.6.2 Die Dynamik der Leiblichkeit
2.18.6.3 Leibliche Kommunikation
2.18.7 Personalität oder Der zentripetale Impuls als Vereinzelung
2.18.8 Lachen oder Der zentripetale Impuls als Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase
2.18.8.1 Die Paradoxie des Lachens
2.18.8.2 Lachen in gemeinsamen Situationen
2.18.8.3 Das Lachen als Korrelat des Komischen und Lächerlichen
2.18.8.4 Die Lebensfunktion des Humors
2.18.9 Bilanz und Ausblick
Anmerkungen
2.19 Rückblick und Ausblick
3 Systematischer Teil
3.1 Zur Ontologie des Lachens als Frage, was das Lachen sei
Anmerkungen
3.2 Zur Ätiologie des Lachens als Frage, wodurch das Lachen das ist, was es ist
3.2.1 Verhaltensweisen und Einstellungen
3.2.2 Aspekte des Lachens
3.2.2.1 Ekstatik
3.2.2.2 Ambivalenz
3.2.2.3 Regressivität
3.2.2.4 Kathartik
3.2.2.5 Atmosphäre
Anmerkungen
3.3. Zur Ethologie des Lachens als Frage, warum das Lachen so ist, wie es ist
3.3.1 Konstitutive Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens als Signatur entfalteter Personalität und deren Privation beim Lachen
3.3.1.1 Methodologische Vorbemerkung
3.3.1.2 Das normative Kriterium beherrschter Körperspannung als Eutonie
3.3.1.3 Das normative Kriterium der Vertikalen als aufrechte Haltung
3.3.1.4 Das normative Kriterium der Stetigkeit als gleitender Gestus
3.3.1.5 Das normative Kriterium der souveränen Übersicht als gezielter Blick
3.3.1.6 Das normative Kriterium rhythmischer Symmetrie als geregelte Atmung
3.3.1.7 Das normative Kriterium der Wachheit als Präsenz
3.3.1.8 Das normative Kriterium beherrschter Sprachlichkeit als satzförmige Rede
3.3.1.9 Das normative Kriterium der Regeneration des ausgezeichneten Verhaltens als uroborischer Impuls
3.3.2 Die konstitutiven und regulativen Kriterien des Lachens
3.3.2.1 Methodologische Vorbemerkung
3.3.2.2 Konstitutive Kriterien
3.3.2.2.1 Das Kriterium räumlicher Gerichtetheit
3.3.2.2.2 Das Kriterium zeitlicher Gerichtetheit
3.3.2.2.3 Das Kriterium ambivalenter Gerichtetheit
3.3.2.3 Regulative Kriterien
3.3.2.3.1 Das Kriterium synergetisch-synästhetischer Zugleichheit
3.3.2.3.2 Das Kriterium situativer Stimmigkeit
3.3.2.3.3 Das Kriterium situativer Verfügbarkeit
3.3.2.3.4 Das Kriterium der Intensität
Anmerkungen
3.4. Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit
3.4.1 Überblick
3.4.2 Thesen zur personalen Lachmündigkeit
3.4.3 Der vertikale Impuls oder Die Fremdelphase
3.4.4 Das prä-personale Lachen
3.4.4.1 Das Aha-Lachen des Säuglings
3.4.4.2 Das Interaktions-Lachen des Säuglings
3.4.4.3 Das »selige« Lächeln des Säuglings
3.4.5 Das personale Lachen auf minderen Stufen der Lachmündigkeit
3.4.6 Das para-personale Lachen
3.4.6.1 Übersicht
3.4.6.2 Das para-personale Lachen bei sekundärer Infantilität
3.4.6.3 Das para-personale Lachen als soziales Rollenfach
3.4.6.4 Das para-personale Lächeln der Entrückten
3.4.6.5 Das para-personale Pseudo-Lachen als akutes pathologisches Phänomen
3.4.7 Das post-personale Pseudo-Lachen
3.4.7.1 Das post-personale Pseudo-Lächeln als perennierendes pathologisches Phänomen
3.4.7.2 Das post-personale Pseudo-Lächeln der Toten
Anmerkungen
3.5 Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens
3.5.1 Methodologische Probleme bei der Erstellung von Lachpaletten
3.5.2 Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen
3.5.2.1 Thesen zum Bekundungs-Lachen
3.5.2.2 Einige Varianten des Bekundungs-Lachen
3.5.2.2.1 Das vielsagende Lächeln
3.5.2.2.2 Das erfüllte Lächeln
3.5.2.2.3 Das alberne Lachen
3.5.2.2.4 Das irritierte Auflachen
3.5.2.2.5 Das Lachen der Erleuchtung
3.5.2.2.6 Das Strahlen
3.5.2.2.7 Das euphorische Auflachen
3.5.2.2.8 Das Triumph-Lachen
3.5.2.2.9 Das erleichterte Auflachen
3.5.2.2.10 Das empörte Auflachen
3.5.2.2.11 Das verzweifelte Auflachen
3.5.2.2.12 Das Phobos-Lachen
3.5.2.2.13 Bilanz
3.5.3 Lachpalette II: Das geloiastische Lachen
3.5.3.1 Thesen zum geloiastischen Lachen
3.5.3.2 Rekapitulierende Vorbemerkung
3.5.3.3 Einige Varianten des geloiastischen Lachens als mimetisches Korrelat von Pointen-Komik
3.5.3.4 Einige Varianten des geloiastischen Lachens als mimetisches Korrelat komischer Gestaltverläufe
3.5.3.5 Das geloiastische Verlachen des Lächerlichen
3.5.3.6 Bilanz
3.5.4 Lachpalette III: Das Interaktions-Lachen
3.5.4.1 Thesen zum Interaktions-Lachen
3.5.4.2 Zur Ätiologie gemeinsamer Situationen
3.5.4.3 Die Räumlichkeit des Interaktions-Lachens in gemeinsamen Situationen
3.5.4.4 Interaktions-Lachen als Akt performativer Wertung
3.5.4.5 Der Blickkontakt
3.5.4.6 Einige Varianten des Interaktions-Lachens
3.5.4.6.1 Das wohlwollende Anlachen auf Augenhöhe
3.5.4.6.2 Das mißgünstige Verlachen auf Augenhöhe
3.5.4.6.3 Das entwertende Verlachen von oben
3.5.4.6.4 Das entwertende Verlachen von unten
3.5.4.6.5 Das Verlegenheits-Lachen
3.5.4.6.6 Das Kitzel-Lachen
3.5.4.7 Bilanz
3.5.5 Lachpalette IV: Das Resonanz-Lachen
3.5.5.1 Thesen zum Resonanz-Lachen
3.5.5.2 Überblick
3.5.5.3 Varianten der Einleibung
3.5.5.4 Zur Ätiologie des Resonanz-Lachens
3.5.5.5 Die Leere des Resonanz-Lachens
3.5.5.6 Bilanz
Anmerkungen
3.6 Grenzbereiche des Lachens
3.6.1 Akute Lach-Blockaden
3.6.2 Verfügte und unverfügte akute Lach-Tabus
3.6.3 Perennierende Lach-Phimosen
Anmerkungen
3.7 Die Lebensfunktion des Humors
3.7.1 Thesen zum Verhältnis von Lachen und Humor
3.7.2 Humor als Grundlage eutrapelistischer Lachkultur
3.7.3 Die Grenzen von Vertrauen und Verfügen
3.7.4 Clown und Pikaro oder Das Spiel von Regression und Emanzipation
Anmerkungen
Glossar
Personenregister
Sachregister

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Lenz Prütting

Homo ridens

Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495861059

.

B

NEUE PHNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Diese phänomenologische Studie bietet im historisch orientierten ersten Teil eine umfassende mentalitätsgeschichtliche Analyse der Deutung und Bewertung des Lachens von der europäischen Antike bis zur Gegenwart. Kritisch analysiert werden die vier wichtigsten und folgenreichsten Argumentationsmodelle: – die ethisch orientierte platonisch-stoisch-augustinische Argumentationstradition, die dem Lachen misstrauisch bis feindlich gegenübersteht; – die anthropologisch orientierte Argumentationstradition, die von Aristoteles über Joubert und Kant bis herauf zu Plessner und Schmitz reicht und die das Lachen als ein proprium hominis deutet und rechtfertigt; – die physiologisch-mechanistisch-energetische Argumentationstradition, die mit Descartes beginnt und mit Freud immer noch nicht beendet ist; – die evolutionsgeschichtlich-ethologische Argumentationstradition, die von Darwin begründet wurde und heute die wohl dominanteste ist. Der zweite, systematische Teil führt die anthropologisch orientierte Argumentationstradition auf der Grundlage der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz fort und beschreibt das Lachen in seinen drei Grundtypen als Bekundungs-, Interaktions- und Resonanz-Lachen auf den verschiedenen ontogenetischen Stufen von Lachmündigkeit als Spiel von personaler Emanzipation und personaler Regression wie auch als synergetisch-synästhetisches Gesamtverhalten bei verschiedenen Einstellungen und in verschiedenen Situationen. Der Autor: Lenz Prütting, Jahrgang 1940, studierte in Erlangen und München Philosophie, Literatur- und Theaterwissenschaft. Nach seiner Dissertation und nach zehn Jahren Arbeit am Institut für Theaterwissenschaft der Universität München ging er in die Theaterpraxis und wirkte dort an verschiedenen Theatern als Dramaturg und Regisseur sowie als Übersetzer dramatischer Texte (Shakespeare, Molière, Synge).

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Lenz Prütting

Homo ridens

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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 21

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Lenz Prütting

Homo ridens Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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4. Auflage als erweiterte Neuausgabe 2016 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48829-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86105-9

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Vorwort

Eigentlich wollt’ ich ja nur einen Aufsatz schreiben, einen Aufsatz über das in der Theorie des Komischen völlig übersehene Phänomen der Prozeß-Komik, weil man in der praktischen Theaterarbeit neben der Pointen-Komik immer auch die Komik von Gestaltverläufen zu organisieren hat, und so wollte ich mir eigentlich nur etwas mehr Klarheit über die eigene Arbeit verschaffen. Doch dies ist mir erst mal gründlich mißlungen, denn durch die traditionell enge Orientierung der Theorie des Komischen an der Rhetorik hat man seit der Antike immer nur die Pointen-Komik thematisiert und zur Komik schlechthin verallgemeinert. Selbst Aristoteles und Bergson, die von ihrem Ansatz her das komische Potential von Gestaltverläufen noch am ehesten hätten entdecken und deuten können, haben dies nicht getan, obwohl sie das Komische als unschädliche und ungefährliche Deformierung des normativ guten Gestaltverlaufs sehr wohl erkannt hatten. Also mußte ich mir selbst Klarheit verschaffen. In der Konsequenz dieser strikten Unterscheidung zwischen Prozeß- und Pointen-Komik lag es dann auch, nach den jeweils dadurch provozierten Formen von Gelächter zu fragen und diese Formen genauer zu bestimmen und zu benennen, und hier zeigte sich dann der tief irritierende Sachverhalt, daß die traditionelle Gelotologie vom Lachen viel zu allgemein sprach und keine tragfähigen Kriterien anbot, verschiedene Formern von Gelächter deutlich voneinander zu unterscheiden. Es zeigte sich also, daß die Lücken in der traditionellen Gelotologie von Platon bis Plessner mindestens genauso groß waren wie die in der Theorie des Komischen. Dem unbefangenen Blick auf die Phänomene muß sich doch sofort offenbaren, daß Pointen-Komik durch ein Gelächter beantwortet 7 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Vorwort

wird, das explosionsartig aus uns herausbricht und sich dann uroborisch selbst wieder verzehrt, wohingegen das Lachen, mit dem wir auf Prozeß-Komik reagieren, sich als synchrones Echo des komischen Geschehens bei tendenziell gleichbleibender Intensität manifestiert. Daß beide Formen von Komik durch Einleibung im Sinne von Hermann Schmitz wahrgenommen werden, war mir von Anfang an klar. Mir war aber auch bald klar, daß ein bloßer Aufsatz nicht genügen würde, um all diese Lücken zu schließen, und deshalb mußte der programmatische Rahmen erst mal drastisch geweitet werden, und die Frage nach dem Wesen des Komischen mußte der Frage nach dem Wesen des Lachens weichen. Damit aber rückte zugleich auch die Frage nach dem Komischen eher an den Rand, weil das Lachen über das Komische nur ein winziger Teilbereich auf der Palette des Lachens ist, die aus den drei Grundtypen des Bekundungs-, Interaktions- und Resonanz-Lachens besteht, die zu sehr unterschiedlichen Einstellungen und Situationen gehören und sich auf sehr unterschiedlichen ontogenetischen Stufen von Lachmündigkeit manifestieren. Da aber Lachen ein synergetisch-synästhetisches Verhalten ist, war mir bald auch klar, daß mein Thema auch nicht mehr bloß das Lachen war, sondern der lachende Mensch selbst. Aus einer zunächst rein ästhetischen Fragestellung war durch diese verschiedenen ruckartigen Erweiterungen des Rahmens eine philosophisch-anthropologische geworden, die dann auch zwingend in eine Könnens-Ethik einmünden mußte, die mit der tradierten Ideologie »faustischer« Selbstermächtigung hart ins Gericht geht und das Vertrauen in den tragenden Grund der Leiblichkeit anheimstellt. Entstanden ist Homo ridens zwischen 2001 und 2012, nachdem ich von allen beruflichen Pflichten entbunden war und mich ganz auf meinen Einödhof in der Holledau zurückgezogen hatte. Und entstanden ist dieses Buch im Alleingang, weil es außer meiner Frau in meinem Umfeld niemanden gab, mit dem ich dieses Thema auf Augenhöhe hätte durchdiskutieren können. Der einzige Gesprächspartner, der diese Situation intellektueller Einzelhaft durchbrach, war Hermann Schmitz, mit dem ich über Jahre hinweg einen intensiven und äußerst anregenden Briefwechsel 8 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Vorwort

führen durfte, wofür ich ihm hier »auf den Knien meines Herzens« in aller Form danken will. Zu danken habe ich auch der Gesellschaft für Neue Phänomenologie für die Aufnahme meines Buches in ihre Schriftenreihe und für den gewährten Druckkostenzuschuß, sowie Herrn Lukas Trabert und Frau Julia Pirschl vom Alber-Verlag für ihre liebevoll sorgsamen Hebammendienste bei der Drucklegung meines Manuskripts. Und gewidmet ist Homo ridens natürlich meiner Frau.

9 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Für Doris

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Einleitung

1.1 Irritierende Lacherlebnisse . . . . . . . . . . 1.2 Grundriß einer Phänomenologie des Lachens 1.3 Im Anfang war die Tat? . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

7

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33 45 61 65

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69 69 75 83

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz . . Attische Lachkultur I: Die Alte Komödie . . . . Die Verlagerung der Gefühle in die Seele . . . . Das Besonnenheitsideal . . . . . . . . . . . . . Platons Unbehagen an Gelächter aller Art . . . . Gemischte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . Gespannte Beziehungen . . . . . . . . . . . . . »Verkenn’ dich selbst, und mach’ dich lächerlich!«

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85 85 98 102 105 110 115 120

Historischer Teil Das Nachdenken über das Lachen in seiner historischen Entwicklung

2.1 Methodologische Vorbemerkung 2.1.1 Zur Geschichtlichkeit des Lachens 2.1.2 Gelotologische Traditionen . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7

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Inhalt

2.2.8 Die Tücke der Situation 2.2.9 Bilanz . . . . . . . . . . 2.2.10 Kritik und Ausblick . . Anmerkungen . . . . . . . . . 2.3 2.3.1 2.3.2

2.3.3

2.3.4

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Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umriß der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . Lachen als natürliches Phänomen . . . . . . . . . 2.3.2.1 Aristoteles als Naturphilosoph . . . . . . . 2.3.2.2 Das Zwerchfell als der natürliche Ort des Lachens . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3 Kitzel, Lachen, Niesen, Stottern . . . . . . 2.3.2.4 Lachen, Bewegung, Wärme, Resonanz . . . 2.3.2.5 »Auch hier sind Götter!« . . . . . . . . . . Lachen als ästhetisch-poietisch organisiertes kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis . . . 2.3.3.1 Die affektive Basis der performativen Künste 2.3.3.2 Aristoteles als Ästhetiker . . . . . . . . . . 2.3.3.3 Attische Lachkultur II: Die Mittlere Komödie . . . . . . . . . . . 2.3.3.4 Der Ort des Lachens in den performativen Künsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.5 Vergnügen an tragischen Gegenständen: phobos und eleos . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.6 Zur Räumlichkeit theatraler Affekte . . . . 2.3.3.7 Mimetische Resonanz . . . . . . . . . . . 2.3.3.8 Der uroborische Impuls . . . . . . . . . . 2.3.3.9 Katharsis moralistisch, magisch, medizinisch, uroborisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.10 Katharsis tragisch und komisch . . . . . . . Lachen als ethisches Problem und gesellschaftliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.1 Grenzen der Verfügbarkeit . . . . . . . . . 2.3.4.2 Grenzen ethischer Relevanz . . . . . . . . 2.3.4.3 Das Eutrapelie-Ideal: pro und kontra . . . .

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124 130 135 136

. . . .

142 142 145 145

. . . .

149 152 160 163

. 165 . 165 . 171 . 175 . 179 . . . .

186 192 194 200

. 202 . 216 . . . .

221 223 227 235

Inhalt

2.3.5 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2.4

Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung . 2.4.1 Diogenes als Gestalt und Typ . . . . . . 2.4.2 Demokrit als Gestalt . . . . . . . . . . . 2.4.3 Demokrit als Typ . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Philosophisches Narrentum als Rollenfach 2.4.5 Grenzen der Selbstbehauptung . . . . . . 2.4.6 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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254 254 259 262 266 271 273 273

2.5 Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten 2.5.1 Der heitere Weise . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Grenzen der Verfügbarkeit . . . . . . . . . . 2.5.3 Der stoische Weise . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Pneuma und Tonos . . . . . . . . . . . . . . 2.5.5 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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277 277 280 287 293 296 297

Die christlichen Kirchenväter oder Die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des lachenden Menschen . . . . . . . . . . . . . Die Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1.1 Die alttestamentliche Sicht auf das Lachen . 2.6.1.2 Die neutestamentliche Sicht auf das Lachen Die Anthropologen: Clemens und Laktanz . . . . 2.6.2.1 Der Traktat des Clemens über das Lachen . 2.6.2.2 Antikes Erbe in christlichem Gewand . . . 2.6.2.3 Das Lachen der Auferstandenen . . . . . . 2.6.2.4 Bilanz Clemens . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.5 Laktanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bußprediger: Ephräm der Syrer . . . . . . . . Der Exorzist: Johannes Chrysostomus . . . . . . . Der Mythologe: Aurelius Augustinus . . . . . . . 2.6.5.1 Gnostische Erblasten . . . . . . . . . . . . 2.6.5.2 Reduktionistische Vorentscheidungen . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

300 302 302 312 323 325 327 333 337 339 343 348 357 357 360

2.6 2.6.1 2.6.2

2.6.3 2.6.4 2.6.5

. . . . . . . .

15 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Inhalt

. . . . 2.6.6 Mönche und Klöster . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.6.1 Das Askese-Ideal . . . . . . . . . . . . . . 2.6.6.2 Wendepunkte in der Geschichte der frühen Christenheit . . . . . . . . . . . . 2.6.6.3 Die Apophthegmata Patrum . . . . . . . . . 2.6.6.4 Die Vita Antonii . . . . . . . . . . . . . . 2.6.6.5 Die Engelsregel des Pachomius . . . . . . . 2.6.6.6 Die beiden Basilius-Regeln . . . . . . . . . 2.6.6.7 Die Pflichtenregel des Ambrosius . . . . . . 2.6.6.8 Kassians Regelwerk . . . . . . . . . . . . . 2.6.6.9 Die Regel Benedikts . . . . . . . . . . . . 2.6.6.10 Zweimal Trauer: akedia und contritio . . . . 2.6.7 Der ungehörte Vermittler: Gregor der Große . . . 2.6.8 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.5.3 2.6.5.4 2.6.5.5 2.6.5.6

2.7 2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.7.4 2.7.5 2.7.6 2.7.7 2.7.8

Die Wonnen der Eitelkeit . . . . . . . . Das Lachen Isaaks . . . . . . . . . . . . »Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!« Die beiden Reiche . . . . . . . . . . . .

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366 368 372 384 390 390

. . . . . . . . . . . .

399 404 409 410 417 419 422 425 430 435 437 442

Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Zurück zu Benedikt!« . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard von Clairvaux oder Die Frage nach der Hydraulik der ventositas . . . . . . . . . . . . . . . Anselm von Canterbury oder Die Frage nach der Relativität von Sünde und Buße . . . . . . . . . . . Wilhelm von Conches und Alain de Lille oder Die Frage nach der Heiterkeit der Schöpfung und dem vollkommenen Menschen . . . . . . . . . . . . Hildegard von Bingen oder Die Frage nach dem Gewoge der windhaften Erregungen . . . . . . . . . Der Lachtraktat des Strickers . . . . . . . . . . . . . Alexander von Hales oder Die Theologie des Lachens 2.7.8.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.8.2 Die theologische Kritik der scurrilitas . . . . .

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457 457 460 462 470

477 485 492 494 494 498

Inhalt

2.7.8.3 Die theologische Kritik der ioculatio . . . . 2.7.8.4 Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.8.5 Die theologische Kritik der derisio . . . . . 2.7.8.6 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.7.9 Thomas von Aquin oder Die christliche Rettung der Eutrapelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.10 Umberto Ecos Rosenroman oder Scholastische Gelotologie anachronistisch, spätmarxistisch und postmodern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.10.1 Bachtins Entwurf einer mittelalterlichen Lachkultur als Gegenkultur . . . . . . . . 2.7.10.2 Ecos Rosenroman . . . . . . . . . . . . . 2.7.10.3 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.11 Das Osterlachen oder Die Frage nach den Grenzen der Eutrapelie im liturgischen Raum . . . . . . . . 2.7.11.1 Ein christliches Lachritual . . . . . . . . . 2.7.11.2 Zur Ätiologie des Osterlachens . . . . . . 2.7.11.3 Die Polemik gegen das Osterlachen . . . . 2.7.11.4 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 2.8.1 2.8.2 2.8.3 2.8.4 2.8.5

Die frohe Botschaft des Philosophen oder Die Frage nach der ars iocandi et ridendi . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ars ridendi als medizinisch-therapeutisches Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung: Die Geloiasten-Palette . . . . . . . . »Unser Lachen« als Ziel der ars iocandi et ridendi . Die ars iocandi als ästhetisch-poietisches Programm 2.8.5.1 Philologisches Narrentum: Die makkaronische Poesie . . . . . . . . . 2.8.5.2 Philosophisches Narrentum: Das Selbstlob der Torheit . . . . . . . . .

. 506 . 514 . 516 . 519 . 521 . 529 . 531 . 542 . 548 . . . . . .

556 557 565 573 580 581

. 589 . 589 . 591 . 597 . 605 . 610 . 610 . 617

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Inhalt

2.8.6 Die ars iocandi et ridendi als performatives Programm 2.8.6.1 Der Hofnarr . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.6.2 Der Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.6.2.1 Von Pontano zu Castiglione oder Das Ideal des homo facetus . . . . . . . . . 2.8.6.2.2 Das Paradox der sprezzatura . . . . . . . . 2.8.6.2.3 Von Castiglione zu La Rochefoucauld oder Das Ideal des stoischen sapiens bei Hofe . . 2.8.6.2.4 Grenzen höfischer Lachkultur . . . . . . . 2.8.7 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurent Jouberts Traité du Ris oder Die Frage nach dem Phänomen selbst . . . . . . . 2.9.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2 Laurent Joubert, Person und Werk . . . . . . . . . . 2.9.3 Staunen über Signaturen . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4 Die Beschaffenheit risibler Objekte, Sachverhalte und Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.1 Das Kriterium der Ambivalenz . . . . . . . . 2.9.4.2 Das Kriterium der Ferne . . . . . . . . . . . 2.9.4.3 Das Kriterium der enttäuschten Erwartung . . 2.9.5 Die Wahrnehmung risibler Objekte, Sachverhalte und Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.5.1 Das Kriterium der Perspektivität . . . . . . . 2.9.5.2 Das Kriterium der Einleibung . . . . . . . . 2.9.5.3 Das Kriterium der Sympathie . . . . . . . . 2.9.5.4 Das Kriterium der Herz-Gestik . . . . . . . . 2.9.6 Die Lebensgeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.7 Die Ambivalenz risibler Anmutungen . . . . . . . . 2.9.8 Verschiedene Definitionen des Lachens . . . . . . . 2.9.9 Defiziente Formen von Gelächter . . . . . . . . . . 2.9.10 Jouberts Lachpalette . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.11 Ergänzungen und Korrekturen . . . . . . . . . . . . 2.9.12 Bilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

624 624 630 633 642 650 659 664 665

2.9

18 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

670 670 673 676 680 680 683 685 692 692 694 702 707 710 712 722 727 733 739 744 747

Inhalt

2.10

René Descartes oder Die Frage nach dem Gespenst in der Maschine 2.10.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.2 Die psychophysische Aporie . . . . . . . . . . . 2.10.3 Transitstelle Zirbeldrüse . . . . . . . . . . . . . 2.10.4 Das Spiel der Körpermaschine . . . . . . . . . 2.10.5 Lachen als Reflex? . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.6 Die Explosion der Lebensgeister . . . . . . . . 2.10.7 Bilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Hobbes oder Die Frage nach dem Plötzlichen 2.11.1 Der Zwillingsbruder der Angst . 2.11.2 Lach-Szenarien . . . . . . . . . 2.11.3 Ein Blick auf Spinozas Ethik . . 2.11.4 Plötzlichkeiten . . . . . . . . . . 2.11.5 Die Lebensgeister . . . . . . . . 2.11.6 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

751 751 755 760 765 767 773 776 782

2.11

2.12 2.12.1 2.12.2 2.12.3 2.12.4

2.12.5

. . . . . . . .

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786 786 795 803 806 814 817 818

Heitere Aufklärung oder Die Frage nach dem Anderen der Vernunft Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung 2.12.2.1 Die Aufrichtung zur Mündigkeit . . 2.12.2.2 Der metaphysische Optimismus . . . Shaftesbury als Anwalt Heiterer Aufklärung Die Misere einer »verspäteten Nation« . . . 2.12.4.1 Pietistische Innerlichkeit . . . . . . 2.12.4.2 Das Modell Halle . . . . . . . . . . 2.12.4.3 Das Modell Abdera . . . . . . . . . Grenzen Heiterer Aufklärung . . . . . . . . 2.12.5.1 Elitäre Vorurteile . . . . . . . . . . 2.12.5.2 Fundamentalistische Enthusiasterey . 2.12.5.3 Dogmatisch verengte Vernunft . . . 2.12.5.4 Der Schock von Lissabon . . . . . .

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821 821 827 829 848 864 875 877 882 890 897 898 901 909 917

19 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Inhalt

2.12.6 Die Aufklärung des Heiteren als Erbe von Aufklärung, Pietismus und physiologischer Theorie . . 2.12.6.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.2 Britische Vorgaben: Die Emanzipation von Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.3 Wolffs Apologie des Witzes . . . . . . . . . 2.12.6.4 Meiers Apologie eutrapelistischer Praxis . . . 2.12.6.5 Explodierende Intensitäten oder Die Frage nach der Pointenstruktur krisenhafter Prozesse 2.12.6.5.1 Methodologische Vorüberlegung . . . . . 2.12.6.5.2 Zuspitzungen . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.5.3 Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.5.4 Durchbrüche . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.5.5 Ekstasen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.6 Gelotologie zwischen psychophysischem Dualismus und leiblicher Synergetik . . . . 2.12.6.6.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.6.2 Von Hoffmann zu Nicolai oder Die Aporien des mechanistischen Dualismus . . . 2.12.6.6.3 Von Wolff zu Lange oder Das Lachen des homo duplex im Duett mit sich selbst . . . 2.12.6.6.4 Von Haller zu Poinsinet oder Das Lachen als Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.6.6.5 Von Stahl zu Kant oder Das Lachen als Versöhnung der Aufklärung mit dem Anderen der Vernunft . . . . . . . . . . 2.12.7 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.13 2.13.1 2.13.2 2.13.3 2.13.4 2.13.5

Charles Baudelaire oder Die Frage nach dem Lachen jenseits des Heiteren Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!« . . . . . Das satanische Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . Das gnostische Lachen . . . . . . . . . . . . . . . Problemgeschichtlicher Rückblick auf das schwarze Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

927 927 930 940 957 992 992 998 1007 1012 1018 1022 1022 1042 1053 1056

1073 1093 1095 1115 1115 1117 1125 1138 1146

Inhalt

2.13.6 Das verächtliche Lächeln des Dandys 2.13.7 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . 2.13.8 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.14 2.14.1 2.14.2

2.14.3 2.14.4

2.14.5 2.14.6

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Im Irrgarten der Energetik oder Die Frage nach den Metamorphosen organischer Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.14.2.1 Friedrich Casimir Medicus oder Die Lebenskraft als organisches perpetuum mobile . . . . 2.14.2.2 Christoph Wilhelm Hufeland oder Die Lebenskraft als organische energeia . . . 2.14.2.3 Johann Christian Reil oder Die Lebenskraft als Eigenschaft der Materie selbst . . . . . . Der moderne Mythos vom Elementenkind Hans Dampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.14.4.1 Alfred Wilhelm Volkmanns Vorbehalte . . . 2.14.4.2 Hermann Lotzes mechanistische Kritik der Lebenskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.14.4.3 Der Energie-Erhaltungs-Satz . . . . . . . . 2.14.4.4 Emil Du Bois-Reymonds energetische Kritik der Lebenskraft . . . . . . . . . . . . . . . 2.14.4.5 Rudolf Virchows vitalistische Kritik der Lebenskraft . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Spencer oder Die Physiologie des Lachens als Frage nach den Metamorphosen der nervösen Energie in der Körpermaschine . . . . . . . . . . . Kritik und Selbstkritik der Biophysik . . . . . . . . 2.14.6.1 Arthur Schopenhauer oder Die Metaphysik des Lachens als Rehabilitierung der Lebenskraft . . . . . . . . . . . . . . . . .

1149 1154 1157 1160

1164 1164 1167 1170 1174 1179 1182 1189 1189 1197 1204 1206 1211

1214 1224

1224

21 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Inhalt

2.14.6.2 Ewald Hecker oder Die Physiologie des Lachens als Rehabilitierung der organischen Vernunft . . . . . . . . . . . . 2.14.6.3 Ignoramus, ignorabimus: Die Selbstkritik der mechanistischen Biophysik durch Emil Du Bois-Reymond . . . . . . . . . . . . . 2.14.6.4 Die Kritik der mechanistischen Biophysik durch Henri Bergson als Rehabilitierung der Lebenskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.14.6.4.1 Der élan vital als evolutionäre Lebenskraft 2.14.6.4.2 Das kalte Lachen diesseits des Komischen . 2.14.7 Die Neohydrauliker . . . . . . . . . . . . . 2.14.7.1 Sigmund Freud oder Lachen als Hydraulik psychischer Energie . . . . . . . . . . . . . 2.14.7.1.1 Witz- und Lach-Szenarios . . . . . . . . 2.14.7.1.2 Die energetische Basis: Ökonomie-Prinzip und kathartische Abfuhr . . . . . . . . . 2.14.7.1.3 Lachen als Regressionsphänomen . . . . 2.14.7.1.4 Zur Kritik der energetischen Hydraulik . 2.14.7.2 Von Freud zu Reik oder Vom Ablachen zum Abzittern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.14.7.3 Von Reik zu Leroy oder Vom Abzittern zur Wiederauferstehung . . . . . . . . . . . . . 2.14.7.4 Konrad Lorenz oder Lachen als Hydraulik aktionsspezifischer Energie . . . . . . . . .

1231

1246

1253 1253 1261 1271 1272 1273 1284 1292 1295 1301 1305

1310 2.14.8 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1317 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1325

2.15

Charles Darwin oder Die Frage nach dem phylogenetischen Erbe 2.15.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.15.2 Von Lamarck zu Darwin . . . . . . . . . . 2.15.3 Darwins Ausdrucks-Buch . . . . . . . . . . 2.15.3.1 Die drei Prinzipien . . . . . . . . . 2.15.3.2 Ausdruck und Interaktion . . . . . .

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22 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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1341 1341 1342 1350 1353 1358

Inhalt

2.15.4 Von Darwin zu Haeckel . . . . . . . . . . . . . 2.15.4.1 Sullys Evolutionsgeschichte des Lachens . 2.15.4.2 Das Lachen der Kinder und »Wilden« . . 2.15.5 Von Haeckel zu Lorenz . . . . . . . . . . . . . 2.15.5.1 Grenzen zwischen tierischen und menschlichem Verhalten . . . . . . . . . . . . 2.15.5.2 Aggressionsrituale . . . . . . . . . . . . 2.15.5.3 Die Mär vom Aggressionstrieb . . . . . 2.15.6 Vom Trieb zum Programm . . . . . . . . . . . 2.15.7 Reflexe und Luxusreflexe . . . . . . . . . . . . 2.15.8 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

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1361 1363 1374 1376

. . . . . . .

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1377 1385 1390 1395 1399 1402 1405

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1410 1410 1412 1423

2.16

Alfred Stern oder Die Frage nach Wert und Wertung . . . . . . . 2.16.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.16.2 Werte und Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.16.3 Lachen als Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.16.3.1 Das Lachen über das Komische und Lächerliche . . . . . . . . . . . . . . . . 2.16.3.2 Lachen und Weinen . . . . . . . . . . . . 2.16.3.3 Das performativ wertende InteraktionsLachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.16.3.4 Wertendes Lachen und Lächeln jenseits des Komischen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.16.4 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 1423 . 1430 . 1433 . 1439 . 1443 . 1449

2.17 Helmuth Plessner oder Die Frage nach dem Spiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.17.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.17.2 Grenzen der Gemeinschaft oder Die Frage nach Grenzen und Krisen eutrapelistischer Geselligkeit . 2.17.3 Stufen und Grenzen des Organischen oder Die Frage nach der Positionalität und deren Signatur . . . . .

1453 1453 1458 1470

23 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Inhalt

2.17.4 Lachen und Weinen oder Die Frage nach den Grenzen ambivalenten Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.17.4.1 Lachen als Signatur einer Krise der Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.17.4.2 Der utopische Standort und der unendliche Umweg zu sich selbst . . . . . . . . . . . . 2.17.4.3 Die Expressivität des Lachens . . . . . . . . 2.17.4.4 Methodologische Zwischenbemerkung . . . 2.17.4.5 Lach-Anlässe und Lach-Arten . . . . . . . . 2.17.4.5.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 2.17.4.5.2 Lachen und Lächeln . . . . . . . . . . . 2.17.4.5.3 Das geloiastische Lachen als Echo des Komischen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.17.4.5.4 Lachen als hinhaltende Hingabe an eine erhebende Situation . . . . . . . . . . . 2.17.4.5.5 Lachen als gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation . . . . . . . . . 2.17.4.5.6 Lachen als Ausdrucksbild und Handlungsbild . . . . . . . . . . . . . . 2.17.4.5.7 Lachen und Weinen . . . . . . . . . . . 2.17.4.5.8 Plessners Gelotologie im zeitgenössischen philosophisch-anthropologischen Kontext (Jünger, Gehlen, Bollnow, Ritter, Kadner) 2.17.4.5.9 Das Echo des Lebens im Werk . . . . . . 2.17.5 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.18 2.18.1 2.18.2 2.18.3 2.18.4

Hermann Schmitz oder Die Frage nach dem Spiel von personaler Emanzipation und personaler Regression Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Goethe zu Schmitz . . . . . . . . . . Der zentripetale Impuls Bedrängnis . . . . Die antifaustische Tendenz oder Im Anfang war das Widerfahrnis . . . . .

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1483 1483 1487 1494 1505 1510 1510 1511 1522 1526 1536 1542 1548

1556 1578 1581 1584

1593 1593 1602 1605

. . . . . 1607

24 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Inhalt

2.18.5 Gegenwärtigkeit oder Der zentripetale Impuls als Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich . . . . . . . . . . . 2.18.6 Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.18.6.1 Körper und Leib . . . . . . . . . . . . . 2.18.6.2 Die Dynamik der Leiblichkeit . . . . . . . 2.18.6.3 Leibliche Kommunikation . . . . . . . . 2.18.7 Personalität oder Der zentripetale Impuls als Vereinzelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.18.8 Lachen oder Der zentripetale Impuls als Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase . 2.18.8.1 Die Paradoxie des Lachens . . . . . . . . 2.18.8.2 Das Lachen in gemeinsamen Situationen . 2.18.8.3 Lachen als Korrelat des Komischen und Lächerlichen . . . . . . . . . . . . . . . 2.18.8.4 Die Lebensfunktion des Humors . . . . . 2.18.9 Bilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 1611 . . . .

1617 1617 1623 1627

. 1636 . 1640 . 1641 . 1645 . . . .

1651 1656 1661 1661

2.19

Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . 1666

3

Systematischer Teil Wesen, Formen und Funktionen des Lachens

3.1

Zur Ontologie des Lachens als Frage, was das Lachen sei . . . . . . . . . . . . . . . . . 1673 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1678 3.2

Zur Ätiologie des Lachens als Frage, wodurch das Lachen das ist, was es ist 3.2.1 Verhaltensweisen und Einstellungen . 3.2.2 Aspekte des Lachens . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Ekstatik . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Ambivalenz . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Regressivität . . . . . . . . . .

. . . . .

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1679 1679 1683 1683 1685 1686

25 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Inhalt

3.2.2.4 Kathartik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1687 3.2.2.5 Atmosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . 1688 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1690

3.3

Zur Ethologie des Lachens als Frage, warum das Lachen so ist, wie es ist . . . . . . . . 3.3.1 Konstitutive Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens als Signatur entfalteter Personalität und deren Privation beim Lachen . . . . . . . . . . . . 3.3.1.1 Methodologische Vorbemerkung . . . . . . 3.3.1.2 Das normative Kriterium beherrschter Körperspannung als Eutonie . . . . . . . . . . . . 3.3.1.3 Das normative Kriterium der Vertikalen als aufrechte Haltung . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.4 Das normative Kriterium der Stetigkeit als gleitender Gestus . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.5 Das normative Kriterium der souveränen Übersicht als gezielter Blick . . . . . . . . . 3.3.1.6 Das normative Kriterium der rhythmischen Symmetrie als geregelte Atmung . . . . . . 3.3.1.7 Das normative Kriterium der Wachheit als Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.8 Das normative Kriterium beherrschter Sprachlichkeit als satzförmige Rede . . . . . 3.3.1.9 Das normative Kriterium der Regeneration des ausgezeichneten Verhaltens als uroborischer Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die konstitutiven und regulativen Kriterien des Lachens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Methodologische Vorbemerkung . . . . . . 3.3.2.2 Konstitutive Kriterien . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2.1 Das Kriterium räumlicher Gerichtetheit . 3.3.2.2.2 Das Kriterium zeitlicher Gerichtetheit . . 3.3.2.2.3 Das Kriterium ambivalenter Gerichtetheit 3.3.2.3 Regulative Kriterien . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.3.1 Das Kriterium synergetisch-synästhetischer Zugleichheit . . . . . . . . . . . . . . . 26 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

1692

1692 1692 1694 1696 1696 1697 1697 1698 1699

1700 1701 1701 1702 1702 1703 1704 1705 1705

Inhalt

Das Kriterium situativer Stimmigkeit . . 1706 Das Kriterium situativer Verfügbarkeit . . 1706 Das Kriterium der Intensität . . . . . . . 1708 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1710 3.3.2.3.2 3.3.2.3.3 3.3.2.3.4

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen zur personalen Lachmündigkeit . . . . . . . Der vertikale Impuls oder Die Fremdelphase . . . . Das prä-personale Lachen . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4.1 Das Aha-Lachen des Säuglings . . . . . . . 3.4.4.2 Das Interaktions-Lachen des Säuglings . . . 3.4.4.3 Das »selige« Lächeln des Säuglings . . . . . 3.4.5 Das personale Lachen auf minderen Stufen der Lachmündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6 Das para-personale Lachen . . . . . . . . . . . . . 3.4.6.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6.2 Das para-personale Lachen bei sekundärer Infantilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6.3 Das para-personale Lachen als soziales Rollenfach . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6.4 Das para-personale Lächeln der Entrückten . 3.4.6.5 Das para-personale Pseudo-Lachen als akutes pathologisches Phänomen . . . . . . . . . . 3.4.7 Das post-personale Pseudo-Lachen . . . . . . . . . 3.4.7.1 Das post-personale Lächeln als perennierendes pathologisches Phänomen . . . . . . . . . . 3.4.7.2 Das post-personale Pseudo-Lächeln der Toten Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Methodologische Probleme bei der Erstellung von Lachpaletten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen . . . . . . 3.5.2.1 Thesen zum Bekundungs-Lachen . . . . . 3.5.2.2 Einige Varianten des Bekundungs-Lachens 3.5.2.2.1 Das vielsagende Lächeln . . . . . . . .

1712 1712 1714 1715 1719 1719 1722 1734 1739 1743 1743 1744 1746 1749 1751 1760 1760 1763 1765

3.5

. 1771 . . . . .

1771 1781 1781 1782 1782

27 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Lachpalette II: Das geloiastische Lachen . . . . . . 3.5.3.1 Thesen zum geloiastischen Lachen . . . . . 3.5.3.2 Rekapitulierende Vorbemerkung . . . . . . 3.5.3.3 Einige Varianten des geloiastischen Lachens als mimetisches Korrelat von Pointen-Komik . 3.5.3.4 Einige Varianten des geloiastischen Lachens als mimetisches Korrelat komischer Gestaltverläufe . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3.5 Das geloiastische Verlachen des Lächerlichen . 3.5.3.6 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Lachpalette III: Das Interaktions-Lachen . . . . . . 3.5.4.1 Thesen zum Interaktions-Lachen . . . . . . 3.5.4.2 Zur Ätiologie gemeinsamer Situationen . . . 3.5.4.3 Die Räumlichkeit des Interaktions-Lachens in gemeinsamen Situationen . . . . . . . . 3.5.4.4 Interaktions-Lachen als Akt performativer Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.5 Der Blickkontakt . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.6 Einige Varianten des Interaktions-Lachens . . 3.5.4.6.1 Das wohlwollende Anlachen auf Augenhöhe . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.6.2 Das mißgünstige Verlachen auf Augenhöhe . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.6.3 Das entwertende Verlachen-von-oben . . 3.5.4.6.4 Das entwertende Verlachen-von-unten . . 3.5.2.2.2 3.5.2.2.3 3.5.2.2.4 3.5.2.2.5 3.5.2.2.6 3.5.2.2.7 3.5.2.2.8 3.5.2.2.9 3.5.2.2.10 3.5.2.2.11 3.5.2.2.12 3.5.2.2.13

Das erfüllte Lächeln . . . . Das alberne Lachen . . . . Das irritierte Auflachen . . Das Lachen der Erleuchtung Das Strahlen . . . . . . . . Das euphorische Auflachen Das Triumph-Lachen . . . Das erleichterte Auflachen . Das empörte Auflachen . . Das verzweifelte Auflachen . Das Phobos-Lachen . . . . Bilanz . . . . . . . . . . .

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28 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

1785 1787 1789 1792 1799 1801 1803 1805 1807 1809 1817 1819 1821 1821 1823 1831

1837 1847 1851 1852 1852 1853 1856 1857 1859 1862 1862 1865 1870 1873

Inhalt

3.5.4.6.5 Das Verlegenheits-Lachen . . . . . . . . 1878 3.5.4.6.6 Das Kitzel-Lachen . . . . . . . . . . . . 1882 3.5.4.7 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1886 3.5.5 Lachpalette IV: Das Resonanz-Lachen . . . . . . . 1887 3.5.5.1 Thesen zum Resonanz-Lachen . . . . . . . 1887 3.5.5.2 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1888 3.5.5.3 Varianten der Einleibung . . . . . . . . . . 1891 3.5.5.4 Zur Ätiologie des Resonanz-Lachens . . . . 1894 3.5.5.5 Die Leere des Resonanz-Lachens . . . . . . 1897 3.5.5.6 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1898 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1899

3.6 Grenzbereiche des Lachens . . . . . . . 3.6.1 Akute Lach-Blockaden . . . . . . . . . . 3.6.2 Verfügte und unverfügte akute Lach-Tabus 3.6.3 Perennierende Lach-Phimosen . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1906 1906 1916 1920 1925

Die Lebensfunktion des Humors . . . . . . . . . Thesen zum Verhältnis von Lachen und Humor . Humor als Grundlage eutrapelistischer Lachkultur Die Grenzen von Vertrauen und Verfügen . . . . Clown und Pikaro oder Das Spiel von Regression und Emanzipation . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1927 1927 1928 1935

3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4

. 1940 . 1946

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1949 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1959 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1987

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1 Einleitung

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Einleitung

Der Impuls, der mich dazu brachte, dieses Buch über das Lachen zu schreiben, geht ganz weit zurück, weil ich seit meiner Kindheit immer wieder in Situationen geraten bin, in denen ich Gelächter, fremdes wie eigenes, wie eine beglückende oder bedrückende, befreiende oder vernichtende Macht empfunden habe. Dies hat mich schon sehr früh zu der Überzeugung geführt, daß man das Lachen gar nicht ernst genug nehmen könne, weil mit dem Lachen nicht zu spaßen sei. Als ich dann eines Tages bei Jacob Burckhardt las, die alten Spartaner hätten überaus ernsthaft und hartnäckig einen Kult des Gottes Gelos gepflegt, erschien mir das sofort plausibel, weil mit diesem Kult wohl die Erfahrung mythologisch auf den Begriff gebracht werden sollte, daß man beim Lachen oftmals den Eindruck hat, von einer ungreifbaren Macht überwältigt zu werden, da bestimmte Formen des Lachens sich an uns und mit uns als unverfügbares Widerfahrnis vollziehen, dem wir fast wehrlos ausgeliefert sind. Aber, so sagten sich wohl die alten Spartaner in ihrer kriegerischen Mentalität, wenn man denn von einer Macht überwältigt wird, dann muß es schon ein Gott sein, und dann ist eben auch das Lachen so ein Gott, eben der Gott Gelos. Diese kultische Ritualisierung, mit einem irritierenden Phänomen zurecht zukommen, ihm einen Sitz im Leben zuzuweisen und es dadurch zu bannen, ist sicher ein möglicher Weg. Ein anderer ist die Kunst, und deshalb gibt es wohl auch eine so große Bandbreite an kulturellen Ritualen zur Organisation einer Lachkultur. Und ein wieder anderer Weg ist die Philosophie, die durch genaue Beschreibung und die Anstrengung der begrifflichen Analyse dieses irritierende Phänomen Lachen dingfest zu machen sucht. Und das soll hier geschehen. Wer aber glaubt, ein Buch über das Lachen müsse auch ein Buch zum Lachen sein und deshalb die Hoffnung auf eine heitere Lektüre hegt, braucht gar nicht erst weiter zu lesen. 1.1 Irritierende Lacherlebnisse Bei dem frühesten dieser irritierenden Lacherlebnisse dürfte ich knapp sieben Jahre alt gewesen sein, als eines Tages ein uns entfernt 33 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

bekanntes Ehepaar kam und meine Mutter fragte, ob es meinen jüngeren Bruder adoptieren könne, worauf meine Mutter empört rief, ihren Jüngsten könne und wolle sie nie hergeben. Dann schloß sie ihn fest in ihre Arme, packte mich an der Schulter und stieß mich vor: »Da, den da könnt ihr haben!« Ich stolperte auf das Ehepaar zu und schaute beide erwartungsvoll an, denn ich wäre sofort mitgegangen, doch die schüttelten bloß mit dem Kopf und meinten, ich sei ihnen wohl doch schon etwas zu alt. Und so stand ich denn dumm und orientierungslos da wie ein unverkäufliches Sonderangebot auf dem Sklavenmarkt. Die eigene Mutter wollte mich loswerden, die andere wollte mich nicht haben, und obwohl mir zum Heulen war, fing ich an zu lachen. Dieses grelle Gelächter war wohl die einzige Möglichkeit zur Flucht aus dieser demütigenden Situation. Hätte ich hier nicht diese grelle Lache anschlagen können, wäre diese ganze Szene wohl im gnädigen Dunkel einer weiteren Kindheitsamnesie versunken, denn deren gab es einige. Etwa drei Jahre später hatte ich wieder ein tief irritierendes Lacherlebnis, nun aber nicht als Lach-Täter, sondern als LachOpfer. Da ich damals jede freie Minute nutzte, um in der kleinen Werkstatt des Großvaters zu basteln, diese aber ziemlich dunkel war, weil man das Licht vom Eingang im Rücken hatte und man durch den eigenen Schatten den Werktisch noch weiter verdunkelte, hatte ich mir eine Möglichkeit ausgedacht, aus der daneben liegenden Waschküche eine elektrische Leitung in die Werkstatt zu legen und über dem Werktisch eine Neonröhre anzubringen. Ich machte also mit aller Sorgfalt eine Zeichnung, trug dem Großvater meinen Plan vor und wollte die Zeichnung überreichen. Aber da fing der schon an, schallend zu lachen und schrie, in seiner Werkstatt sei noch nie Licht gewesen, und er sei schon so lange ohne elektrisches Licht dort zurechtgekommen, und da käme ich daher, und wolle plötzlich alles ändern, und da könne ja jeder kommen, und das komme überhaupt nicht in Frage! Und bei all dem schüttelte er sich vor Lachen. Ich stand erst wie betäubt da, drehte mich dann auf dem Absatz um, verließ den Raum und zerriß unter Tränen des Zorns und der Scham meine Zeichnung in immer kleinere Fetzen. Es war meine erste bewußte Erfahrung mit der Arroganz der 34 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Irritierende Lacherlebnisse

Macht, die sich im höhnischen Auslachen-von-oben manifestiert, und so spürte ich in diesem Hohngelächter des Großvaters sofort auch, wie hemmungslos dieser seine Macht genoß, und wie wehrlos ich seiner Macht ausgeliefert war. Von diesem Tag an habe ich diesen Großvater gehaßt, mit einer Inbrunst gehaßt, wie nur ein wehrloses gedemütigtes Kind hassen kann. Als ich viele Jahre später bei Hesiod las, welch ein Hohngelächter der Göttervater Zeus über Prometheus anschlägt, der sich erlaubt hatte, den Menschen das Feuer zu verschaffen, stand mir sofort wieder diese Szene aus meiner Kindheit wie ein quälendes déjà vu vor Augen, weil sich mir auch hier wieder die Arroganz der Macht zeigte, diesmal als göttliches Auslachen-von-ganz-oben. Und sofort kochte mein Zorn wieder hoch. Einige Jahre später, ich dürfte ungefähr dreizehn gewesen sein, geriet ich wiederum in die Rolle eines Lach-Opfers, und auch dieses Lachen gellt mir heute noch in den Ohren. Ich hatte von einem Schulfreund ein Schachspiel und ein Schach-Lehrbuch geliehen bekommen und brütete nun daheim in unserer Wohnküche mit diesem blauen Reclam-Band und dem Schachbrett vor mir über bestimmten Eröffnungs-Varianten, als meine Mutter heim kam und mich fragte, was ich denn da treibe. Als ich antwortete, ich möchte auf diesem Weg Schachspielen lernen, fing sie derart an zu lachen, daß sie sich auf die Bank neben dem Herd setzen mußte, und dort im Sitzen lachte sie lauthals weiter und schrie: »Du willst wohl Weltmeister werden, was!? – Mein Sohn Weltmeister! – Mein eigner Sohn Schach-Weltmeister! – Mein Sohn, mein Sohohon!!« Ich war wie vor den Kopf geschlagen, und wollte aufbegehren, schluckte aber meinen Zorn weg, schlug das Buch zu, räumte mit zusammengebissenen Zähnen die Figuren wieder sorgsam in den Kasten und merkte, wie ich langsam auskühlte. Und dies erst verschaffte mir die Möglichkeit, meine Mutter kältesten Blickes zu beobachten, wie sie lachend und keuchend mit geschlossenen Augen den Kopf vor und zurück warf, sich auf die Schenkel schlug und in dieser »hackenden« Art ihren Niagara an Lachkotze über mich ausspie, weil sie den Hals offenbar nicht leer genug kriegen konnte, um all ihren Ekel vor mir und meinem für sie offenbar unbegreiflichen Tun loszuwerden. Diesmal war es nicht das Hohnlachen der Macht 35 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

von oben herab, das sich über mich ergossen hatte, sondern eine andere Art des Verlachens, eine Mischung aus Hohn, Ekel, Hilflosigkeit und vernichtungsbereiter Mißgunst 1, die mich noch viel tiefer traf, mich aber noch entschiedener zur Selbstbehauptung zwang. Seit diesem Tag war meine Mutter für mich eine fremde Frau, und sie ist es geblieben bis zu ihrem Tod. Wiederum einige Jahre später, ich dürfte achtzehn gewesen sein, arbeitete ich in den Ferien in einer Brauerei und wurde dabei Zeuge eines ganz unheimlichen und verstörenden Lachanfalls, dessen Opfer ein ansonsten sehr verschlossener und überaus ernster Arbeiter war, der nach dem Tod seiner Frau noch verschlossener und ernster geworden war, was seinen exzessiven Lachanfall besonders unheimlich erscheinen ließ. Als nämlich beim Herablassen eines neu einzubauenden Sudkessels dieser über der Öffnung im Boden zu pendeln anfing und wir den Kessel vom Rand fernzuhalten versuchten, damit er nicht beschädigt werden sollte, schwebte der Kessel plötzlich zurück und der Arbeiter hing am Kessel festgeklammert über dem Abgrund. Wir alle waren vor Schreck ganz starr, aber der Kranführer war so geistesgegenwärtig, daß er die Laufkatze vorsichtig wieder zurück fuhr, sodaß wir den Kollegen packen und in Sicherheit bringen konnten. Das war schwierig genug, denn der Kollege hatte sich in seinem Schreck derart fest am Kessel festgekrallt, daß wir ihm buchstäblich jeden Finger einzeln lösen mußten. Als er dann wieder auf festem Boden stand, fing er plötzlich an zu lachen, aber das Lachen, das da aus ihm herausbrach, war kein erleichtertes Auflachen, in das wir andern hätten einstimmen können, sondern ein ganz und gar unheimliches hysterisches Altweiber-Kreischen. Und so stand er minutenlang schwankend da, mit hohlem Kreuz nach hinten gebeugt, den Kopf im Nacken, Mund und Augen weit aufgerissen, die Arme nach hinten geworfen, sah mit starrem Blick ins Leere und gellte seinen Schreck mit diesem hemmungslosen Gelächter aus sich heraus. Wir mußten ihn sogar stützen, weil er sonst nach hinten umgekippt wäre, ganz so, als habe ihn eine gewaltige Macht wie ein Orkan mit voller Wucht im Gesicht getroffen und würde ihn immer noch zurückschleudern. Und so unvermittelt wie dieses Lachen begonnen hatte, brach es auch wieder ab, ging in Hecheln und 36 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Irritierende Lacherlebnisse

Keuchen über, bis er wieder zu sich kam und auch wieder ansprechbar war. Das Lachen hatte wieder einmal seine kathartische Macht bewiesen. Natürlich wurde dieses verstörende Geschehen noch wochenlang im Kollegenkreis erörtert, und man einigte sich schließlich auf die Formulierung: »Den Kaul hat der Schreck umgehauen.« Das trifft wohl auch zu. Aber warum er deshalb ausgerechnet gelacht hatte, und noch dazu auf diese seltsame Art und Weise, konnte sich niemand von uns erklären; ich natürlich auch nicht. Der Arbeiter selbst wich diesen Gesprächen immer konsequent aus und wurde noch schweigsamer als er eh schon gewesen war. Er genierte sich wohl vor uns und wohl auch vor sich selbst. Als ich viele Jahre später auf das Phänomen des metakritischen Phobos-Lachens stieß, in dem sich der Schrecken entlädt, den man empfindet, wenn man dem Tod ins Auge gesehen hat, hatte ich sofort wieder diese Szene aus der Forchheimer Brauerei vor Augen, in der dieser Arbeitskollege seine durchlittene Todesangst in einem irren Lachanfall aus sich herausschrie und sich damit wieder ins Leben zurücklachte. Die alten Griechen hätten sicher nicht gezögert, in diesem beklemmenden Lachanfall die Epiphanie des Gottes Gelos und die Manifestation seiner kathartischen Macht zu sehen, denn, wie Heraklit sagen würde: »Auch hier sind Götter.« Wieder einige Jahre später, ich war schon Student, stieß ich auf ein tiefsinniges Indianermärchen, in dem das Lachen eine zentrale und diesmal ganz und gar fatale Rolle spielt. Es erzählt, wie ein Indianer sich in den Wald auf die Jagd begibt, dort einen Hirsch verfolgt, sich anschleicht und zum Schuß ansetzt. Aber genau in dem Augenblick rührt sich auf der anderen Seite der Lichtung etwas im Gebüsch, der Hirsch schreckt hoch und springt davon. Diese Szene wiederholt sich nun einige Tage lang: Immer wieder setzt der Jäger zum Schuß an, immer wieder regt sich etwas in der Nähe im Gebüsch, und immer wieder springt der Hirsch auf und davon, sodaß der Jäger ihn einfach nicht erlegen kann. Eines Tages aber, als der Jäger wieder zum Schuß ansetzt und der Hirsch davon springt, tritt aus dem Gebüsch auf der anderen Seite der Lichtung ein Jaguar hervor, und nun wird dem Jäger klar, daß dieser Jaguar es gewesen war, der all die Tage genau wie er selbst 37 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

diesen Hirsch verfolgt hatte. Er tritt also ebenfalls auf die Lichtung hinaus, beide messen sich kurz mit Blicken und beginnen einen Kampf, der wieder einige Tage dauert, bis schließlich beide zu Tode erschöpft niedersinken und neben einander keuchend auf dem Boden liegen. Bis zu diesem Punkt betont das Märchen in vielen Details die Ebenbürtigkeit der beiden Jäger, aber nun wendet sich das Blatt, denn der Jaguar fordert nach einer Weile den Indianer auf, ihn zu kitzeln. Der tut das auch, bis der Jaguar vor lauter Behagen zu schnurren beginnt. Dadurch neugierig gemacht, fordert nun der Indianer den Jaguar auf, ihn ebenfalls zu kitzeln, worauf der Jaguar ihm mit der Schwanzspitze ganz sachte über die Haut fährt. Nun fängt der Jäger an zu kichern, steigert sich in immer lauteres Lachen, bis er sich schließlich vor Lachen schüttelt und krümmt, den Kopf in den Nacken wirft und sein wollüstiges Lachen in den Wald hinaus lacht. Und da richtet sich der Jaguar blitzschnell auf und beißt dem Indianer die Kehle durch. Ähnliche Geschichten fand ich später in den ethnologischen Arbeiten von Claude Lévi-Strauss, in denen er die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen roh und gekocht und zwischen Tier und Mensch zum Thema machte. Offensichtlich hatte sich die Erkenntnis des Aristoteles, das Lachen sei ein proprium hominis, bis zu den Indianern nach Südamerika herumgesprochen, denn Lachen erscheint hier sowohl im Sinne von Lach-Fähigkeit als auch von aktuellem Lach-Verhalten als spezifisch menschliche und kulturelle Fähigkeit, aber zugleich auch als existentielle Gefährdung, durch die der Mensch beim Konflikt mit dem Tier diesem unterlegen ist, denn nur weil der Mensch lachen kann, kann das Lachen ihn in bestimmten Situationen auch wehrlos machen. In etwa zur selben Zeit hatte ich zwei Lacherlebnisse, bei denen mich mein eigenes Gelächter in die gleiche Wehrlosigkeit versetzte, die diesem Indianer im Märchen zum Verhängnis geworden war. Im »Türkendolch«, einem typischen Münchner Studentenkino in der Nähe der Universität, konnte man an seinem Geburtstag die Spätvorstellung gratis besuchen, weshalb bei jeder Spätvorstellung immer einige Geburtstagskinder im Publikum saßen, die sich mit den entsprechenden Getränken eingedeckt hatten und um Mitter38 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Irritierende Lacherlebnisse

nacht ihren Geburtstag zu feiern begannen. Es herrschte also immer eine Stimmung gesteigerter Lachbereitschaft. Als ich nun an meinem eigenen Geburtstag in die Spätvorstellung ging, wurde eine Western-Parodie gezeigt, ein unendlich komischer Zeichentrickfilm, sodaß wir uns gar nicht mehr einkriegten vor Lachen. Und als nach dem Ende des Hauptfilms die Wochenschau folgte, die aus irgend einem Grund an diesem Tag nicht vor, sondern nach dem Hauptfilm gezeigt wurde, und dort über den Krieg in Vietnam berichtet wurde, lachten wir erst mal weiter, nun aber nicht mehr über Pferde, die im Kanon wieherten oder über Indianer und Cowboys, die im rasenden Galopp rückwärts ritten, sondern über explodierende Bomben und brennende Hütten. Natürlich erstarb dieses Gelächter alsbald wieder und wich einem betretenen Schweigen, und als das Licht anging und wir schlagartig ernüchtert dem Ausgang zustrebten, mied jeder den Blick des andern, weil er sich vor ihm schämte, und am meisten wohl vor sich selbst. Was war da mit uns geschehen? Hat also auch das Lachen so etwas wie einen »Bremsweg«, eine ihm immanente Zeitstruktur, die sich ihre Erfüllung mit aller Macht erzwingt und die Reaktion auf andere Anmutungen entsprechend verzögert oder gar verhindert? Welcher Automatismus hatte sich da an uns und in uns vollzogen, dem wir, zumindest zunächst einmal, so wehrlos ausgeliefert waren? Was hatte uns überwältigt? War es wieder einmal eine Epiphanie des Gottes Gelos? Mit diesen Fragen wurde ich kurz darauf noch mal konfrontiert, als ich zum ersten Mal den Olympiade-Film der Leni Riefenstahl sah, denn dort geriet ich in eine ganz ähnliche schizophrene Situation, aber nun war es nicht Scham, die ich wegen meines eigenen Lachens empfand, sondern hochofenhaft lodernder Zorn, und dieser Zorn richtete sich nicht nur gegen mich selbst, sondern viel mehr noch gegen die Riefenstahl. Der Film der Riefenstahl über die Olympiade von 1936 ist ja kein Dokumentarfilm, sondern ein Spielfilm, der ganz eng der Dramaturgie der sonstigen Nazifilme folgt und wie diese am Ende überdeutlich eine Moral verkündet, meist in Form einer pathetischen Rede, die der Held des Filmes hält. Hier im Olympiade-Film 39 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

wird die obligatorische Moral in stummen Szenen verkündet, und deshalb zeigen die letzten Sequenzen des Filmes zuerst Szenen vom Rudern, und zwar fast nur Szenen, in denen die Ruderer verdeckt beschleunigen und die Riemen nicht gleichmäßig durchs Wasser ziehen, sondern sie beschleunigt durchs Wasser reißen, und das wirkt derart suggestiv, daß man als Zuschauer gar nicht anders kann als im Mitgehen und Mitatmen eine große Körperspannung in sich selbst aufzubauen, die sich dann wieder entladen will. Dies geschieht auch sofort, denn in den nächsten Sequenzen sieht man Szenen aus dem Geländeritt des Military-Wettbewerbs, bei dem die Reiter einen Zaun zu überspringen und direkt danach einen Teich zu durchreiten haben; aber ausnahmslos alle Reiter stürzen vom Pferd und platschen unter mehr oder weniger grotesken Verrenkungen in den Teich. Und dann sieht man nur noch Turmspringer, die scheinbar schwerelos durch den Raum schweben, was die Stürze der Reiter im nachhinein noch grotesker erscheinen läßt. Ich weiß noch, wie ich damals wie alle andern Zuschauer auch im Kino brüllte vor Lachen, als ich all die Reiter stürzen sah, zugleich aber vor Zorn tobte, weil die Riefenstahl es geschafft hatte, mir gegen meinen Willen die Moral ihres Filmes aufzuzwingen und zugleich damit die Maxime ihrer faschistischen Ästhetik zu befolgen: »Vergöttere den Sieger; verlache alle Besiegten!« Was sich Tage vorher in der Wochenschau durch puren Zufall ergeben hatte, war hier bei der Riefenstahl mit höchster psychagogischer Meisterschaft eiskalt ästhetisch kalkuliert. Was mich so maßlos zornig werden ließ, war also der Umstand, daß ich das ästhetische Kalkül, mit dem die Riefenstahl mein Verhalten manipuliert hatte, zwar sehr wohl durchschaute, daß ihr diese Manipulation aber gleichwohl gelungen war. Sie hatte an etwas in mir appelliert, das stärker war als ich und dem ich wehrlos ausgeliefert war. Sie hatte, mythologisch formuliert, mit schwarzer Magie den Gott Gelos beschworen und ihn sich dienstbar gemacht, und mich dazu. Ich war also wieder einmal mit der Einsicht konfrontiert, daß mit dem Lachen nicht zu spaßen sei. Aber wenn das stimmt, dann ist mit diesem faschistischen Auslachen-von-oben am allerwenigsten zu spaßen, das man einem Publikum buchstäblich aufzwingen 40 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Irritierende Lacherlebnisse

kann, wenn man sein psychagogisches Handwerk beherrscht und mit der nötigen Skrupellosigkeit anwendet. In dieser Zeit, als mir mein eigenes Lachen so fragwürdig geworden war, stieß ich im Rahmen meines Studiums der Theaterwissenschaft und Philosophie auf Helmuth Plessners Werk Lachen und Weinen 2 und erlebte dieses Buch wie eine Offenbarung, denn ich hatte sofort das Gefühl, eine ganz wichtige Entdeckung gemacht zu haben, weil Plessner Lachen und Weinen als Ausdruck einer Krise im Selbst- und Weltverhältnis der Person deutet, bei der es den Menschen buchstäblich hin und her reißt. Aus diesem Grund stellt Plessner die Unverfügbarkeit des Lachens (oder genauer: die unverfügbaren Formen des Lachens) ins Zentrum seiner Studie und blendet die verfügbaren Formen des Lachens weitgehend aus. Nun hatte ich einen Deutungsansatz, der es mir erlaubte, das Lachen so ernst zu nehmen, wie ich glaubte, es ernst nehmen zu müssen, und las nicht nur dieses Buch mit heißen Ohren, sondern alles, was ich an Texten von Plessner selbst und über ihn erreichen konnte. Viel war das nicht, denn die Rezeption Plessners begann ja erst viel später in den achtziger und neunziger Jahren. Rund zehn Jahre nach der Bekanntschaft mit Plessners Philosophie, ich arbeitete mittlerweile als Assistent am Institut für Theaterwissenschaft, stieß ich auf die Philosophie der Leiblichkeit von Hermann Schmitz, die sich für mich wie eine Fortführung, Überbietung und Aufhebung der Plessnerschen Anthropologie las, denn dort wurde auch die Plessnersche Deutung des Lachens fortgeführt, überboten und aufgehoben, weil Schmitz Plessners Ansatz, Lachen sei immer Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe zugleich, zwar aufnimmt, aber in das sehr viel umfassendere Zusammenspiel von personaler Emanzipation und personaler Regression einbaut und damit sehr viel genauer anthropologisch verortet. Nun hatte ich endlich genau das gefunden, was ich brauchte, las mich mit aller Energie in das faszinierende riesige Denkwerk von Hermann Schmitz ein und ernannte ihn nach Wilhelm Kamlah und Helmuth Plessner zu meinem nunmehr dritten philosophischen Mentor, und das ist er bis heute geblieben. Die irritierenden Lacherlebnisse gingen aber weiter und wollten verstanden sein. So mußte ich eines Tages zum Orthopäden, weil 41 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

sich mein vierter Brustwirbel verschoben hatte und mir heftige Schmerzen bereitete. Beim Einrenken passierte es dann: Ich lag mit dem Bauch auf einer Liege, die Stelle am Rücken wurde punktiert, damit die verhärteten Muskeln sich wieder entspannen konnten, dann kam der Befehl: »Tief einatmen. – Und nun ausatmen. – Und bis zum Anschlag ausatmen!«, und am Anschlag drückte der Orthopäde den Wirbel wieder in die richtige Position zurück. Ich hörte ein lautes Krachen, spürte einen elektrischen Schlag bis in die große Zehe hinab und platzte mit dem sprichwörtlichen homerischen Gelächter heraus, wie man dies bei einer knallenden Pointe zu tun pflegt. Und so lag ich denn minutenlang auf dieser Liege auf dem Bauch und lachte, daß mir die Tränen herunterliefen. Aber worin bestand die Pointe, die diesen gewaltigen Lachanfall ausgelöst hatte? In den Worten des Arztes doch sicher nicht. Resultierte diese förmliche Lach-Explosion aus der plötzlichen Auflösung einer Anspannung, aber nicht, wie Kant meint, aus der Auflösung dieser Spannung in Nichts, sondern, wie Hermann Schmitz sagen würde, aus der Auflösung dieser Anspannung in plötzliche, privative Weitung, die einen förmlich explodieren läßt? Und so war es wohl auch, denn auch diese orthopädische Behandlung folgte dem Schema Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase, dem alle krisenhaften Prozesse folgen, und so spannte eben auch meine Seele dort auf der Liege des Orthopäden weit ihre Flügel aus, aber eben nicht sanft abhebend wie die Seele in Eichendorffs schönem Gedicht, um durch die stillen Lande zu schweben, denn in dem Fall hätte ich wohl eher selig gelächelt, sondern sie explodierte wie ein Knallfrosch in einem Katarakt gestotterter Explosionen. Franz von Baader nennt pointenhafte Durchbrüche dieser Art in einer äußerst glücklichen Formulierung das »Explodieren der Angstspitze« 3, und so war es wohl auch in dieser Situation. Gibt es also auch Pointen jenseits des Komischen, die ein genauso homerisches Gelächter auslösen können wie komische Pointen, die aber auf sprachliche Ausformung gar nicht angewiesen sind, weil sie außersprachlich, also durch »Verstehen mit dem Bauch«, wahrgenommen werden? Hier war der Punkt, an dem Plessners Theorie des Lachens nicht 42 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Irritierende Lacherlebnisse

mehr weiter half, die älteren Theorien sowieso nicht, und erst die Philosophie der Leiblichkeit von Hermann Schmitz die richtigen Stichworte liefern konnte. Das merkte ich in dieser Schärfe erst, als ich mit der praktischen Theaterarbeit begann und nun als Dramaturg und Regisseur vor der Situation stand, durch Übersetzen, Bearbeiten und Inszenieren von dramatischen Texten das Lachen des anvisierten Publikums auf den Proben mit theatralen Mitteln ästhetisch-poietisch zu organisieren. Besonders deutlich stellte sich dieses Problem bei der letzten Inszenierung vor meinem Abschied vom Theater. Es war das EinPersonen-Stück Heute weder Hamlet über einen miserablen Schauspieler, der am Theater nur katastrophale Mißerfolge geerntet hatte, vom Theater aber nicht lassen kann und deshalb Vorhangzieher wird. Als nun eines Tages eine Vorstellung abgesagt werden muß und das Publikum heimgeschickt wird, ergreift er die Gelegenheit, dem Publikum seine eigene tragikomische Lebensgeschichte zu erzählen und zugleich damit die überragende Bedeutung des Vorhangs für das Gelingen einer Vorstellung deutlich zu machen und dies anhand von Beispielen zu erläutern. Diese Inszenierung wurde sechzig mal vor ausverkauftem Haus gespielt, und die Zuschauer fielen geradezu aus den Bänken vor Lachen, obwohl auf der Bühne doch nicht sehr viel mehr geschah, als daß ein Vorhang auf die unterschiedlichste Weise geöffnet und geschlossen wurde. Wir wußten auf den Proben zwar genau, was zu tun war und was zum Lachen reizen würde, aber daß es gerade in diesem Maß zum Lachen reizte, hat uns dann doch etwas überrascht, aber natürlich auch gefreut. Ausführlich erörtert haben wir das jedoch nie. Das war aber auch nicht nötig, denn für den Theater-Praktiker genügt es, wenn das Publikum so reagiert, wie er es auf den Proben geplant hat, und da sind sechzig ausverkaufte Vorstellungen ein starkes Argument. Für einen Theater-Theoretiker und philosophischen Kopf genügt dies aber durchaus nicht, und deshalb ließ mir nach meinem Abschied vom Theater auch die Frage keine Ruhe, was Leute dazu bringen kann, vor Lachen vom Stuhl zu fallen, weil ein Stück Stoff sich mal so und mal so bewegt, und was erkenntnistheoretisch gesehen mit dem Jargon-Ausdruck »Verstehen mit dem Bauch« gemeint sein könnte. 43 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

Hier konnte nur die Philosophie der Leiblichkeit von Hermann Schmitz helfen, denn hier geht es ähnlich wie beim »Mitgehen« 4 im Theater um das Phänomen der »Einleibung«, einer Form vorprädikativer Wahrnehmung, bei der man das Wahrgenommene »am eigenen Leibe spürt und doch nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas Fremdes« 5, weil die Objekte unserer Wahrnehmung eben nicht, wie Descartes uns glauben machen wollte, dort draußen in der Außenwelt durch einen Abgrund von uns getrennt sind, sondern weil wir selbst immer schon immer auch dort sind. Und so ist eben auch der Zuschauer, sofern er bereit ist mitzugehen, im Theater nicht nur diesseits der Rampe, sondern immer schon und immer auch jenseits der Rampe mitten ins Bühnengeschehen eingeleibt. Daß auch alles irgendwie Risible wesentlich »mit dem Bauch« durch Einleibung wahrgenommen und mit dem entsprechenden Lachen »denotiert« werden kann, haben in der Ideengeschichte der Gelotologie allein Laurent Joubert und Jean Paul zum Thema gemacht. Laurent Joubert ging dieser Frage in seinem Traité du Ris (1579) nach, geriet aber bald wieder in Vergessenheit. Und Jean Paul bestand in seiner Vorschule der Ästhetik (1804) darauf, das Komische wohne gar nicht im komischen Objekt, sondern im Subjekt, das das Komische durch eigenleibliches Spüren wahrnehme. Aber auch Jean Pauls genialer Einfall wurde in der ästhetischen Theorie nie so recht ernst genommen. Deshalb ist das seltsame Phänomen, daß man etwas »am eigenen Leibe spürt und doch nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas Fremdes«, früher, in frömmeren Zeiten, vornehmlich dem religiösen Bereich zugeordnet und mit dem Wortfeld »Ekstatik«/ »Enthusiasmus«/»Ergriffenheit«/»Besessenheit« thematisiert und auf die Ausgießung des Heiligen Geistes oder auf das Wirken fremder Götter oder Dämonen zurückgeführt worden. Beispiele dafür finden sich in den Evangelien und in der Apostelgeschichte des Lukas zuhauf, aber auch in den Berichten über die Zusammenkünfte ekstatischer Sekten wie der Korybanten, Montanisten, Camisarden, Quäker und Shaker. In all diesen Fällen kommt es bei getrübtem Bewußtsein zu konvulsivischen Zuckungen und einem Gelalle und damit zu einem Verhalten, das dem exzessiven Gelächter verblüffend ähnlich sieht. 44 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Grundriß einer Phänomenologie des Lachens

Aus diesem Grund liegt es nahe, die Frage zu stellen: Ist das exzessive Lachen, insbesondere das kollektive exzessive Lachen, vielleicht die profane Variante dieser religiösen Ekstasen? Liegt hier vielleicht die Form von kollektiven Ekstasen vor, die trotz ihrer wilden und archaischen Form auch für heutige Menschen immer noch am leichtesten zugänglich ist? Vielleicht auch deshalb, weil es uns hier noch am leichtesten fällt, uns kurzfristig und in einer nicht tabuisierten Form auch mal besinnungslos in »primitive Gegenwart« (Schmitz) fallen zu lassen? Ist brausendes Gelächter also die profane Variante des Brausens vom Himmel, von dem in der Apostelgeschichte des Lukas die Rede ist, das die Menschen ergreift und zum Lachen als der profanen Form des Zungenredens bringt? Oder noch anders gefragt: Was hindert uns eigentlich, auch dem Gott Gelos seine Pfingstwunder zuzugestehen, sodaß man die Wirkung einer Aufführung auf die Zuschauer auch mal im Stil der Bibel beschreiben könnte: »Und siehe, der Geist des Gottes Gelos kam über sie und ergriff sie und warf sie hin und her in ihren Sesseln, bis daß ihnen die Sinne vergingen. Und ward ein Gelächter im Saal, laut schallend bis hinaus auf die Straßen der Stadt. Und siehe, alles Volk der Stadt strömte hinzu auch an den folgenden Abenden und der Geist des Gottes Gelos ward ausgegossen allzumal.«

1.2 Grundriß einer Phänomenologie des Lachens Wenn man die sehr umfangreiche Literatur über das Lachen sichtet, so fällt einem sofort auf, daß die allermeisten Autoren sich zwar ausgiebig mit den Lachanlässen beschäftigen, insbesondere den komischen und lächerlichen, mit dem Lachen selbst aber kaum. Das ist seltsam genug und führt dazu, daß die große Bandbreite des Lachens meist auf ganz wenige Formen oder gar nur auf eine Form des geloiastischen Lachens reduziert wird, was dann zum Lachen überhaupt verallgemeinert und in das Prokrustes-Bett eines reduktionistischen Theorieleins gezwängt wird. Diese Reduktion des Lachens kann in zwei unterschiedlich intensiven Schüben erfolgen: Der eine besteht darin, daß man aus 45 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

dem Gesamtphänomen Lachen das gesamte Feld des InteraktionsLachens ausblendet und den gesamten Bereich des BekundungsLachens zum Lachen überhaupt erhebt und dann systematisch zu ordnen sucht (oder umgekehrt). Das andere Verfahren ist noch rabiater reduktionistisch und reduziert das Lachen gar auf eine einzige Ausprägung, deren Charakteristika dann auf alles Lachen übertragen werden. Erkennbar ist dieses Verfahren an dem stilistischrhetorischen Leitfossil, alles Lachen sei »eigentlich nur«, »im Kern« oder »letztlich« »nichts anderes als«, und dieses »nichts anderes als« kann dann z. B. Ausdruck von Freude, Erleichterung, Aggression, von »sudden glory« oder von Jubel oder auch nur die Quittung für Komik sein oder gar nur ein »psychological shift«. Derartige reduktionistische Theorien gibt es zuhauf, und für sich allein betrachtet sind derartige Theorien auch nicht besonders erhellend und z. T. auch nur ärgerlich. Ihre genaue Analyse lohnt sich aber trotzdem, weil sie oft genug wichtige Einzelaspekte des Lachens auf den Punkt bringen, die sich dann mit anderen zusammen zu einem Gesamtbild des Lachens zusammenfügen lassen. Dies aber setzt voraus, daß man schon über ein Konzept verfügt, um all diese einzelnen Formen des Lachens auf plausible Weise systematisch zu ordnen und zu einer Lachpalette mit all ihren Schattierungen zu integrieren. Und genau dies ist eines der Ziele dieser Studie. Warnungen vor einem solchen Vorhaben gibt es allerdings genug, denn schon Cicero schreibt in seinem Traktat über Rhetorik, es habe zwar bei den Griechen viele Beispiele an Witzigkeit und Humor gegeben und es sei bei den Griechen immer auch viel gelacht worden. »Doch die, die eine Theorie und ein System davon zu geben suchten, zeigten sich so fade, daß man bei ihnen nur gerade über ihre Abgeschmacktheit lachen kann.« 6

Und dann warnt er ausdrücklich davor, auf diesem Gebiet Theorien aufzustellen. Da könnte einem der Mut schon sinken, aber man kann diese Skepsis auch mit Kant kontern, der in seinem schönen Aufsatz Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis 7 schreibt: 46 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Da lag es dann nicht an der Theorie, wenn sie zur Praxis noch wenig taugte, sondern daran, daß nicht genug Theorie da war, welche der Mann von der Erfahrung hätte lernen sollen; und welche wahre Theorie (auch dann) ist, wenn er sie gleich nicht von sich zu geben, und, als Lehrer, in allgemeinen Sätzen systematisch vorzutragen im Stande ist.« (VI,127 f.)*

Mit den Arbeiten von Plessner und Schmitz ist nunmehr wahrlich genug Theorie da, um das schwierige Problem einer Phänomenologie des Lachens anzugehen. Das alles entscheidende Stichwort hat Plessner geliefert, als er schrieb, das Lachen sei eine nur dem Menschen aufgrund seiner »exzentrischen Positionalität« mögliche Form momentaner Selbstentfremdung als Implosion der Personalität in einer krisenhaften Situation, in der es sonst keine andere angemessene Antwort gibt. Damit bestimmt er das Lachen als eine ambivalente Reaktion des Menschen, »die zugleich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe verrät. Indem er lacht, überläßt er seinen Körper sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn. Mit dieser Kapitulation als leibseelische Einheit behauptet er sich als Person. Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort; nicht mehr als Instrument für Handeln, Sprechen, Gesten, Gebärden, sondern in direktem Gegenstoß. Im Verlust der Herrschaft über ihn, in der Desorganisation bezeugt der Mensch noch Souveränität in einer unmöglichen Lage. Er zerbricht an ihr als geordnete Einheit von Geist, Seele, Leib, aber dieses Zerbrechen ist die letzte Karte, die er ausspielt. Indem er unter sein Niveau beherrschter oder wenigstens geformter Körperlichkeit sinkt, demonstriert er gerade seine Menschlichkeit: da noch fertig werden zu können, wo sich nichts mehr anfangen läßt.« (VII,363 f.)

Durch diesen anthropologisch orientierten Ansatz bestimmt Plessner sein gelotologisches Hauptwerk Lachen und Weinen als Beitrag zur Erforschung menschlicher Expressivität und damit menschlicher Selbsterkenntnis, weil in diesen Formen mimetischen * Seitenangaben in Klammern beziehen sich im folgenden – wenn nichts anderes angegeben – stets auf die zuvor zitierte und in Endnoten dargestellte Literatur.

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Einleitung

Strebens das spezifisch Menschliche besonders deutlich sichtbar wird: »Wir wollen Lachen und Weinen als Ausdrucksformen begreifen. Ihre Analyse steht nicht mehr im Dienste der Ästhetik des Komischen, des Witzes, der Tragödie, nicht der Psychologie des Humors und der Gefühle, sondern der Theorie der menschlichen Natur. Die Frage lautet: wie ist es zu verstehen, daß ein lebendiges Wesen aus Fleisch und Blut, das über Sprache und Zeichengebung verfügt – womit es sich von den Tieren unterscheidet –, das zugleich im mimischen Ausdruck seine vitale Gebundenheit und Verwandtschaft mit tierischem Wesen dokumentiert – wie ist es möglich, daß ein solches Doppel- und Zwischenwesen lachen und weinen kann? Wie ist es möglich, d. h. welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit derartige im Vollsinn jedenfalls nur dem Menschen vorbehaltene Reaktionen sich vollziehen können?« (VII,213)

Genau dies ist auch das Ziel, das sich die hier vorzulegende Studie gestellt hat, und aus diesem Grund gehen wir auf Phänomene wie das Komische und Lächerliche, auf Witz und Zote, Scherz und Humor und andere Formen kulturell ritualisierter Lachanlässe nur dann ein, wenn dies unbedingt nötig ist, weil bestimmte Lachanlässe auch bestimmte Formen von Gelächter ergeben, um deren Bestimmung es hier geht. Und wenn wir z. B. das Wesen der Pointe zu bestimmen haben, so dient auch dies nicht in erster Linie dazu, die Dramaturgie von Witzen zu analysieren, sondern die Pointenhaftigkeit krisenhafter Prozesse zu klären, deren Struktur durch Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase geprägt ist. Auch hier bewegt sich diese Studie also ganz in der von Plessner vorgegebenen Spur. Allerdings kann man eine ganze Reihe von Einwänden gegen Plessners Buch erheben, wenn man durch die Schule von Hermann Schmitz gegangen ist und sich dadurch den Blick hat schärfen lassen. Dies gilt insbesondere für die totale Ausgrenzung der verfügbaren Formen des Lachens und aller Formen von InteraktionsLachen aus dem Gesamtbereich des Lachens oder für seine Charakterisierung des Lächelns als einer »Ausdrucksform sui generis« sowie für die Reduktion der Lachpalette auf die Bekundung von Freude, Verlegenheit oder Verzweiflung und auf die Reaktion 48 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auf Komik und Kitzel sowie für die Verabsolutierung der überwältigenden Formen von Gelächter, was wohl aus Plessners Neigung resultiert, auch im Lachen v. a. den passivischen Widerfahrnischarakter ekstatischen Verhaltens zu sehen und zu betonen. Aber Plessners Hinweis auf die ambivalente Natur des Lachens durch die Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe war in der Tat epochemachend, gleichsam ein Quantensprung in der Gelotologie, weil erst dieser anthropologische Ansatz es möglich machte, die Analyse des Lachens aus der vermeintlich zwangsläufigen Verknüpfung mit dem Phänomen des Komischen und Lächerlichen zu lösen. Das Lachen über Komisches und Lächerliches ist ja nur eine Form des Lachens unter vielen möglichen und bei weitem nicht die wichtigste, und die häufigste schon gar nicht. Seltsamerweise verfolgte Plessner die Frage aber nicht weiter, in welch verschiedener Art und Weise sich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe verbinden können und wie diese höchst unterschiedlichen Kombinationen von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe das Lachen überformen und zu bestimmten Lacharten ausgestalten können. Diesen Weg hat erst Hermann Schmitz gewiesen, indem er Plessners Ansatz durch zwei Schritte entscheidend erweiterte. Der erste Schritt bestand darin, daß er das Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe in das umfassendere Zusammenspiel von personaler Emanzipation und personaler Regression einordnete, durch welches das menschliche Verhalten generell geprägt ist, und dieses Zusammenspiel auf verschiedenen Niveaus angesiedelt sieht, auf denen sich »Spielräume des Betroffenseinkönnens« 8 und eben auch höchst unterschiedliche Formen des Lachens ergeben. Schmitz selbst nennt einige, läßt aber offen, daß es noch viel mehr gibt, wenn er schreibt: »Ohne Grund orientiert sich die Vorstellung vom Lachen meist am heiteren oder lustigen Lachen über komische Szenen, Züge und Pointen oder über Witze; es gibt aber auch das höhnische, grausame, bittere, verzweifelte, nervöse, verlegene Lachen, sowie das metakritische, in dem sich die Spannung entlädt, nachdem der Lachende gerade noch an einer wirklichen oder scheinbaren Katastrophe vorbeigekommen ist.« 9

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Einleitung

Der zweite Schritt von Schmitz über Plessner hinaus besteht darin, das bei Plessner eher statisch gedachte Verhältnis von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung gleichsam zu dynamisieren. Somit deutet zwar auch Schmitz Lachen als paradoxe Verschränkung von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung, bzw. als paradoxe Verschränkung von »Preisgabe und Triumph«, fügt aber in deutlicher Anlehnung an Plessner hinzu: »Ich finde das gemeinsam Besondere des Lachens und Weinens auf dem Gebiet personaler Regression nicht in der Reaktionsweise und schon gar nicht in einer Bewahrung des erreichten Niveaus personaler Emanzipation vor dem Regressionsschicksal, sondern in einer teleologischen Tendenz, die durch die Regression hindurch deren Überwindung vorwegnimmt: Das Lachen ist Aufschwung in der Regression oder durch sie hindurch zum Triumph, das Weinen eine Ausweichreaktion des in die Enge Getriebenen, der durch Preisgabe seines Niveaus personaler Emanzipation, indem er in die Enge seines Leibes regrediert, dieser vielmehr in die Weite entkommt.« 10

Bei Plessner hieß es über den Verlust der Selbstbeherrschung beim ekstatischen Lachausbruch: »In der Katastrophe noch, die sein sonst so beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch. Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwangshaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt.« (VII,274)

Diese teleologische Tendenz bezeichne ich als den dem Lachen und Weinen immanenten uroborischen Impuls, weil dieser bewirkt, daß Lachen und Weinen sich gleichsam selbst verzehren und beiden Verhaltensweisen dadurch eine zur Beendigung drängende dramatische Verlaufsgestalt und zugleich damit ihre kathartische Funktion verleihen. Mit anderen Worten: Man bricht weinend zusammen, richtet sich aber getröstet wieder auf, wenn man sich sattgeweint hat. Man lacht sich krumm, lacht sich aber auch wieder gerade, indem man weiterlacht und sich eben dadurch wieder aufrichtet. Es gibt also nicht den geringsten Grund, den Verpanzerten, Verstiegenen 50 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und Blasierten zu folgen, die Regressions-Widerfahrnisse jeglicher Art fürchten und sie deshalb auch allen andern verbieten oder zumindest verekeln möchten, sondern man kann sich diesen Regressions-Erfahrungen im Vertrauen auf die Selbstregulierungskräfte der eigenen Leiblichkeit ruhig hingeben, denn sie gehören ja auch zu unserer Natur. Wie gewöhnlich erweisen sich auch hier die großen Dichter als die genauesten Schilderer und hellsichtigsten Deuter menschlichen Verhaltens, und so kann es nicht verwundern, daß sich in den Buddenbrooks eine geradezu paradigmatische Beschreibung des uroborischen Impulses und seiner kathartischen Wirkung findet, wenn der Tod des Senators Thomas Buddenbrook und die Reaktion seiner Schwester Tony beschrieben werden, denn dort heißt es: »Doktor Langhals (…) setzte sein schwarzes Hörrohr auf die Brust der Leiche, horchte längere Zeit und sprach dann nach gewissenhafter Prüfung: ›Ja, es ist zu Ende.‹ Und mit dem Ringfinger ihrer blassen, sanftmütigen Hand schloß Schwester Leandra behutsam dem Toten die Augenlider. Da warf sich Frau Permaneder an dem Bett in die Knie, drückte das Gesicht in die Steppdecke und weinte laut, gab sich rückhaltlos und ohne etwas in sich zu dämpfen und zu unterdrücken, einem dieser erfrischenden Gefühlsausbrüche hin, die ihrer glücklichen Natur zu Gebote standen … Mit gänzlich nassem Gesicht, aber gestärkt, erleichtert und vollkommen im seelischen Gleichgewicht, erhob sie sich und war sofort imstande, der Todesanzeigen zu gedenken, die unverzüglich und in höchster Eile hergestellt werden mußten, – ein ungeheurer Posten vornehm gedruckter Todesanzeigen …« 11

Natürlich sind Lachen und Weinen nicht die einzigen Verhaltensweisen, denen dieser uroborische Impuls immanent ist; wir sprechen ja auch davon, daß Zorn »verraucht« oder daß man vor Scham »vergeht«, und deshalb sind diese vier Verhaltensweisen Lachen und Weinen und Zorn und Scham kultur-anthropologisch gesehen die weitaus wichtigsten, weil sie sich durch den ihnen eigenen uroborischen Impuls und durch die ihnen eigene kathartische Funktion anbieten, zu kulturellen Ritualen erhoben zu werden, mit denen wir versuchen können, unser Leben zu meistern. Mit diesen beiden Schritten über Plessner hinaus ist nun ein 51 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

Rahmen abgesteckt, den es in den folgenden Ausführungen zu füllen gilt. Da es mir auf die Vielfalt der Lachpalette und auf die systematische Abgrenzung der einzelnen Lachgestalten ankommt, stellt sich für mich erst die Frage, auf welche Art und Weise sich Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung verschränken und in welchen »Mixturen«, auf welch unterschiedlichen Niveaus personaler Emanzipation und in welch unterschiedlicher Intensität sie sich aneinander abarbeiten können. Deshalb stelle ich also nicht Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe einander einfach nur gegenüber, sondern nehme den Hinweis auf die ambivalente Struktur des Lachens ernst und frage deshalb nach dem Ineinander beider Impulse bei wechselnder Intensität, frage also nach dem mehr oder weniger großen Rest von Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung und, analog dazu, nach dem mehr oder weniger großen Rest von Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe bzw. danach, in welcher Weise bei bestimmten Lachgestalten Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe sich gegenseitig steigern oder schwächen und dadurch den Intensitätsgrad des jeweiligen Lachens bestimmen Wenn man die Fragen so stellt, fächert sich das weite Feld des Lachens sofort in einzelne Lach-Gestalten auf und strukturiert sich zu einer systematisch geordneten Lach-Palette wie das Licht im Regenbogen. So steigern sich z. B. im hemmungslosen Auslachen von oben Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung gegenseitig zu maximaler Höhe, weil der hemmungslos Höhnende dem wehrlosen Verhöhnten in der Intensität seines Hohngelächters zugleich auch demonstriert, welches Maß an Selbstpreisgabe er sich angesichts der Wehrlosigkeit seines Lachopfers leisten kann. Im Auflachen aus Verlegenheit hingegen schwächen sich beide Impulse gegenseitig und dämpfen dadurch die Intensität dieses Lachens, weil Verlegenheit dazu tendiert, alle Lebensäußerungen defensiv zurückzunehmen. Im höhnischen Grinsen wiederum verbinden sich maximale Selbstbehauptung und minimale Selbstpreisgabe; beim oben geschilderten metakritischen Lachen nach überstandener Todesangst hingegen verbinden sich maximale Selbstpreisgabe mit minimaler Selbstbehauptung; ähnlich, wenn auch bei weit geringerer Intensität, beim Wollust-Lachen, wenn man sich dem Gekitzeltwerden mit wohliger Hingabe ausliefert. Tendieren die Reste von Selbst52 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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behauptung-in-der-Selbst-preisgabe gegen Null, so kann das Lachen, hier das Auflachen aus Verzweiflung, in Weinen übergehen, tendieren die Reste von Selbstpreisgabe-in-der-Selbstbehauptung gegen Null, erstirbt das Lachen ebenfalls, und der Mensch verirrt sich in der vertikalen Sackgasse wahnhafter Verstiegenheit und Selbstentfremdung und erstarrt dort zum entfremdeten Monument seiner selbst. Daß Selbstbehauptung-in-der-Selbstpreisgabe und Selbstpreisgabe-in-der-Selbstbehauptung überhaupt und noch dazu auf so unterschiedlichen Niveaus möglich sind, hat seinen Grund darin, daß die Begriffspaare »Selbstpreisgabe / Selbstbehauptung« und »personale Regression / personale Emanzipation« einen polarkonträren Gegensatz bilden, bei dem man beliebig viele Zwischenstufen oder Grade festsetzen kann. Deshalb wird sich hier zum einen immer ein grundsätzlich irreduzierbarer Rest an Beliebigkeit ergeben, und zum andern wird man an die Grenzen der Benennbarkeit stoßen und bestimmte Formen von Lachen und Lächeln aus Mangel an Vokabular eben als »vielsagend« bezeichnen müssen. Wie viele Stufen, Grade oder Niveaus man letztlich bestimmen und wie viele Lachgestalten man analog dazu auf der Lachpalette festlegen will, hängt davon ab, ob wir weitere, zusätzliche Kriterien finden, die uns die Möglichkeit bieten, bestimmte Lachgestalten von anderen zu unterscheiden und entsprechend zu benennen. Hierfür bieten sich vier Kriterien zur Charakterisierung des jeweiligen Lachens an: • sein Grad an Ausgeprägtheit (Intensität); • sein Grad an Verfügbarkeit; • seine Gerichtetheit und Adressiertheit, speziell durch Blickkontakt; • seine uroborische Struktur und sein damit verbundenes kathartisches Potential. Stellen wir uns vor, verschiedene Leute von sehr unterschiedlichem Temperament, Alter und sozialem Status werden Zeugen eines zum Lachen reizenden Vorgangs und lachen darüber. Der eine schmunzelt, der andere kichert, der dritte meckert laut auf, der vierte wirft den Kopf zurück und wiehert vor sich hin, der fünfte schlägt sich vor Lachen auf die Schenkel, der sechste krümmt und biegt sich vor 53 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachen, der siebte wälzt sich sogar vor Lachen, und der achte bekommt einen Lachkrampf. Wir sehen sofort: Je ausgeprägter das Lachen ist, desto lauter und unbeherrschbarer ist es auch und desto massiver ist die Überformung von Gestus, Vultus, Habitus und Respiration: Die Bewegungen werden ruckhaft und tendieren zur Wiederholung oder zur Bewegung-auf-der-Stelle oder gar zum Bewegungs-Chaos; das Gesicht verzerrt sich zur Grimasse und der Blick wird starr; die aufrechte Haltung geht mehr oder weniger verloren oder pendelt zwischen konvex und konkav. Auch die Überformung der Atmung ist nicht weniger gravierend, wenn das atmungsneutrale Schmunzeln bei den intensiveren Formen von Gelächter zur Asymmetrie von Aus- und Einatmung führt, zu einem Keuchen und Japsen, und das Ausatmen sich zu einem wilden Luftgekotze steigert, zu einem Katarakt gestotterter Explosionen. Mit einem Wort: Je ausgeprägter oder intensiver ein Lachen in seinen verschiedenen Aggregatszuständen ist, desto tiefer sinkt das durch Temperament, Alter, Lebensstil und sozialen Status vorgegebene Niveau personaler Emanzipation und desto größer ist dementsprechend auch die jeweilige Fallhöhe personaler Regression. Diese Regression endet jedoch nicht in einer Sackgasse, sondern, um im Bild zu bleiben, in einer Wendeschleife, weil der uroborische Impuls dafür sorgt, daß der Lachende aus der Regression wieder auf das ihm eigene Ausgangsniveau personaler Emanzipation und damit zum »ausgezeichneten Verhalten« im Sinne Goldsteins 12 als dem normativen Verhaltensideal zurückfindet. Das heißt nichts anderes, als daß man sich, sofern man einmal das Stadium personaler Lachmündigkeit erreicht hat, voller Vertrauen ins Lachen fallen lassen kann »wie in einen Heuhaufen«, weil man sicher sein darf, daß dieser Sturz kein Sturz ins Bodenlose ist, wie dies bei manch anderen Formen personaler Regression der Fall ist, sondern gerade der Regeneration als Person dient. Mythologisch formuliert wäre dies eine Wiedergeburt, resp. die Abfolge von Höllenfahrt und Wiederauferstehung. Damit gehört das Lachen zu den spezifisch menschlichen Fähigkeiten mit einem mächtigen kathartischen Potential, und das ist wohl auch der Grund dafür, daß es auf so vielfältige Weise kulturell 54 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ritualisiert worden ist. In diesem kathartischen Potential liegt aber zugleich auch das Skandalöse, das das Lachen für alle Erlösungsreligionen darstellt, weil kathartisches Lachen die Erlösungsangebote dieser Religionen als überflüssig erscheinen lassen kann, auch wenn diese Art von Erlösung »nur« von innerweltlicher Art ist. Ablesbar ist dieses Zusammenspiel von momentanem Selbstverlust und erneutem Selbstgewinn an den Intensitätskriterien Gestus, Vultus, Habitus und Respiration: Man lacht sich zwar krumm, lacht sich aber auch wieder gerade; das Gesicht verzerrt sich zwar zur Grimasse, findet aber auch wieder zu seiner normalen Form zurück; die Gesten werden zwar fahrig, werden aber auch wieder gemessen, und das Ungleichgewicht von Aus- und Einatmung regelt sich auch wieder zur ruhigen symmetrischen Atmung. Durch diesen dem Lachen immanenten uroborischen Impuls ist das Lachen ein strikt fixiertes Verhaltensschema mit einem vorgegebenen zeitlich strukturierten Ablauf, der sich seine Manifestation auch gegen den Willen des Lachenden erzwingt, und das heißt wiederum: Durch diese uroborische Struktur hat jedes Lachen, also auch das tendenziell verfügbare Interaktions-Lachen, einen grundsätzlichen und irreduzierbaren Mindestgrad an Unverfügbarkeit. Damit sind wir schon beim dritten Kriterium zur systematischen Einteilung des Gesamtphänomens Lachen in einzelne Lachgestalten und deren Positionierung auf der Lachpalette: dem Kriterium der Verfügbarkeit. Wie jeder weiß, gibt es Formen des Lachens, die uns übermannen, ob wir wollen oder nicht, und die sich auch beim besten Willen nicht unterdrücken lassen, sondern als unverfügbares Widerfahrnis sich an uns und mit uns vollziehen. Plessner hat diesen Aspekt des Lachens bekanntlich besonders herausgehoben, ebenso, wenn auch aus ganz anderen Gründen, Platon und die christlichen Kirchenväter, denn diese zumindest partielle Unverfügbarkeit des Lachens muß im Lichte der durch Platon inaugurierten Selbstermächtigungs-Ideologie als besonders skandalös erscheinen, weil wir als Lachende nie ganz Herr im eigenen Hause sind, und so kann man in gewisser Weise auch verstehen, daß vor dem Hintergrund dieser Selbstermächtigungsideologie das Lachen in manchen seiner Formen als nicht ganz geheuer erscheinen kann 55 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und daß sich deshalb z. B. bei den christlichen Kirchenvätern und im christlichen Mittelalter umfangreiche Überlegungen finden lassen, um die Formen von Gelächter genauer zu bestimmen, bei denen der Lachende sich noch ein Mindestmaß an Selbstbeherrschung bewahren kann. Deshalb unterschied man genau zwischen dem verpönten »körperlichen Lachen« und dem erlaubten »Lachen des Herzens« als der spezifischen Form christlicher Heiterkeit. Profan phänomenologisch entspricht dies z. B. der Unterscheidung zwischen dem völlig unverfügbaren explosionsartig herausplatzenden und uroborisch sich verzehrenden Bekundungs-Lachen als Antwort auf Pointen-Komik und dem nur tendenziell unverfügbaren und perennierendem Heiterkeits-Lachen von minderer Ausgeprägtheit als Antwort auf Amüsier-Komik. Neben den tendenziell unbeherrschbaren Formen des Lachens wie dem Loslachen über Komisches, dem Auflachen aus Verlegenheit oder Verzweiflung oder dem Wollustlachen des Gekitzelten (um nur einige zu nennen) gibt es aber auch eine ganze Fülle von Lachgestalten, die sehr wohl und auch ad hoc verfügbar sind, und dazu zählen alle Arten von Anlachen und Auslachen in den verschiedensten Graden von Intensität, und da diese Formen des Lachens, Lächelns und Grinsens im sozialen Leben eine so überaus große Rolle spielen als Signale positiver wie negativer Zuwendung, müssen diese ad personam adressierten Signale in Form von Gelächter aller Art so weit wie möglich jederzeit verfügbar sein, damit sie ihre soziale Funktion auch wirklich erfüllen können. Man denke nur an die verschiedenen Formen des Lachens, die wir zum Begrüßen, Beschwichtigen, Entschuldigen, Beleidigen oder Verhöhnen jederzeit abrufen und einsetzen können. Aus diesem Grund ist bei all diesen Formen des Interaktions-Lachens der Grad an Selbstpreisgabe-in-der-Selbstbehauptung relativ gering, auf jeden Fall aber weitaus geringer als bei all den Formen des tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Lachens. All diese Varianten des Interaktions-Lachens lassen sich auch deuten als performative Akte und bilden somit ein nicht-sprachliches Analogon zu den performativen Sprechakten im Sinne von John L. Austin, weil mit ihnen etwas vollzogen wird, das der zwischenmenschlichen Kommunikation dient. Man könnte also auch 56 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sagen, die verschiedenen Varianten des Interaktions-Lachens gehören zu den performativen Akten leiblicher Kommunikation, und weil dies so ist, ist jedes Interaktions-Lachen obligatorisch mit einem Blickkontakt verbunden, so kurz dieser auch sein mag, und dieser Blickkontakt bedingt zugleich auch den Verfügbarkeitsgrad des jeweiligen Interaktions-Lachens. Wird der Blickkontakt unterbrochen, z. B. weil der Blick gesenkt wird oder die Augen geschlossen werden, so geht auch sofort die tendenzielle Verfügbarkeit des jeweiligen Lachens verloren. Damit ist auch schon das vierte Kriterium benannt: die Gerichtetheit eines jeden Lachens. Lachen ist ja grundsätzlich immer gerichtet, insofern als es von innen nach außen geht, sei es, daß ein atmungs-neutrales Lächeln oder Grinsen auf dem Gesicht sich protopathisch ausbreitet, sei es, daß lautes Lachen als eine besondere, kataraktisch gestotterte Form des Ausatmens aus der Enge des Leibes in die Weite entweicht. Aber bestimmte Formen des Lachens sind nicht nur gerichtet, sondern darüber hinaus auch noch zielgerichtet, sind ad personam adressiert und zwar adressiert durch den obligatorischen Blickkontakt. Somit läßt sich Buytendijks grundsätzliche Unterscheidung zwischen »Ausführen« und »Ausdrücken«, zwischen »Handlung« und »Ausdruck« oder noch genauer: zwischen »zielgerichtetem Handeln« und »zielloser Ausdrucksbewegung« 13 auch auf das Lachen übertragen und kehrt hier wieder in der Unterscheidung zwischen ad personam adressiertem Interaktions-Lachen und unadressiertem Bekundungs-Lachen. Mit diesen wenigen Kriterien, von denen in der bisher vorliegenden Literatur über das Lachen seltsamerweise so gut wie nie die Rede ist, sind wir jetzt schon in der Lage, in die Vielfalt des Lachens eine erste systematische Ordnung zu bringen: Wir teilen also die verschiedenen oben schon angeführten Ausprägungen des Lachens zunächst einmal und ganz vorläufig in zwei große Gruppen ein, die beide durch den ihnen eigenen uroborischen Impuls geprägt sind und durch die oben angeführten Kriterien der Verfügbarkeit, der Gerichtetheit und der Ausgeprägtheit noch weiter differenziert werden können, und dies sind: • die tendenziell verfügbaren Formen des Interaktions-Lachens; • die tendenziell unverfügbaren Formen des Bekundungs-Lachens. 57 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Im Lachen als Echo des Komischen und Lächerlichen, das ich im folgenden als geloiastisches Lachen bezeichnen will, kehren diese beiden Formen wieder: im Lachen als Echo des Komischen das Bekundungs-Lachen, im Lachen als Echo des Lächerlichen das Interaktions-Lachen, das aber in bestimmten Fällen nicht unbedingt auf die Anwesenheit des Ausgelachten und den Blickkontakt mit ihm angewiesen ist, und schließlich können sich im indirekten Auslachen beide Formen auch überlagern, wie dies z. B. beim politischen Witz der Fall ist: die Komik des Witzes wird belacht, das abwesende und durch die Komik des Witzes lächerlich gemachte Witz-Opfer wird verlacht. Diese drei Gruppen zusammen bilden das Lachen, das wir als lachmündiges Lachen auf personaler Ebene bezeichnen wollen. Neben den beiden Verhaltensweisen »Handlung« und »Ausdruck« resp. »Interaktion« und »Bekundung« gibt es aber noch eine dritte Art von Verhalten, auf die Buytendijk leider mit keinem Wort eingeht, auf die wir aber ausführlich eingehen müssen, weil sie im allgemeinen menschlichen Verhalten eine wichtige Rolle spielt und weil sie sich auch in Form von Lachen manifestiert. Ich meine all die Formen vor-prädikativer Wahrnehmung, Interaktion und Kommunikation, die wir als Resonanz-Verhalten bezeichnen können, und hier sind es wiederum insbesondere die Formen mimetischer Resonanz, die bei jeder Form von rhythmisch geprägtem und gerichtetem Gruppen-, Meuten- oder Herdenverhalten eine zentrale Rolle spielen, z. B. beim gemeinsamen Singen, Tanzen, Musizieren, Rudern oder Marschieren, also bei allem Verhalten, das im Zusammenspiel mit anderen »Hand in Hand und Seit’ an Seit’« geschieht. Manifestiert sich das Resonanz-Verhalten in Form von Gelächter, so ist es ein Lachen, zu dem wir durch das Lachen anderer angesteckt werden bzw. zu dem wir uns anstecken lassen, und nennen es »Mitlachen«. Dieses Resonanz-Lachen steht, gemessen am Kriterium der Verfügbarkeit, in gewisser Weise zwischen Bekundungs-Lachen und Interaktions-Lachen, weil wir es mit anderen zusammen lachen und es insofern eine Art von Interaktion ist, die Hermann Schmitz, der als erster das Resonanz-Verhalten phänomenologisch auf den Begriff gebracht hat, als »solidarische Einleibung durch Bewegungs58 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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suggestion« 14 bezeichnet. In der anthropologisch orientierten Ethologie spricht man hier meist vom »Schrittmacher-Phänomen« oder von »Bahnung«15, im Theaterjargon von »Mitgehen«. Mit dem Bekundungs-Lachen teilt das Resonanz-Lachen die Eigenschaft, daß es zwar gerichtet, aber nicht durch einen Blickkontakt zielgerichtet ist, mit dem Interaktions-Lachen die Eigenschaft, daß es gezielt abrufbar ist, unterscheidet sich dann aber doch wieder von ihm hinsichtlich seiner Verfügbarkeit, weil wir in das Mitlachen gleichsam hineingleiten wie in jedes andere Resonanz-Verhalten auch, uns ihm aber auch wieder verweigern können, wenn wir mal partout nicht mitlachen wollen. Somit ergibt sich im Hinblick auf das Kriterium der Verfügbarkeit eine neue, ergänzte Unterteilung des Lachens in die Formen des • tendenziell verfügbaren Interaktions-Lachens; • tendenziell verweigerbaren Resonanz-Lachens; • tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Lachens. Und schließlich gibt es noch Formen von pathologisch bedingtem Lachen als einem bestimmten Krankheitsbild und Formen von präpersonalem Lachen wie dem Lachen des Säuglings vor der Fremdelphase bzw. von para-personalem und post-personalem Lachen wie dem Lachen der Epileptiker und der sanften Blöden, denen das Element der Lachmündigkeit jedoch fehlt, und all diesen Formen des nicht lachmündigen Lachens fehlt generell auch das Kriterium der Verfügbarkeit und vor allem auch der uroborische Impuls. Damit ergibt sich als endgültiger Gesamtbestand der Lachpalette folgendes Schema, das es im systematischen Teil dieser Studie detailliert zu entfalten gilt: 1) Unmündiges, prinzipiell unverfügbares Lachen ohne uroborische Struktur und ohne kathartisches Potential a) prä-personales Lachen b) para-personales Lachen c) post-personales Lächeln d) pathologisches Lachen

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2) Mündiges Lachen auf personaler Ebene mit uroborischer Struktur und kathartischem Potential als a) tendenziell verfügbares Interaktions-Lachen b) tendenziell verweigerbares Resonanz-Lachen c) tendenziell unverfügbares Bekundungs-Lachen d) tendenziell unverfügbares geloiastisches Lachen als Echo des Komischen und Lächerlichen. So wie sich unser gesamtes Leben in »exzentrischer Positionalität« (Plessner) und damit im Spielraum zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression auf der Grenze der Personalität mit all ihren körperlichen Manifestationen abspielt, die sich an der Überformung von Gestus, Vultus, Habitus und Atmung ablesen lassen, und eine dieser Manifestationen ist eben das Lachen, so wiederholt sich dieses Spiel wiederum im Lachen selbst als Spielraum zwischen dem tendenziell verfügbaren Interaktions-Lachen und dem tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Lachen, aber auch in jedem einzelnen aktuellen Lachen, denn jedes aktuelle Lachen ist ein ambivalentes Widerfahrnis von Regression, aber auch von Emanzipation, ist ein Sich-fallen-lassen und ein Sich-wiederaufrichten ohne Hilfe von außen, bewirkt durch den jedem mündigen Lachen immanenten uroborischen Impuls. Dies ist aber, wie gesagt, nur auf personaler Ebene möglich, weil nur der stürzen und sich wieder aufrichten kann, der den aufrechten Stand schon einmal errungen und sich zur lachmündigen Person emanzipiert hat. Alle Rituale der Lachkultur dienen dem Erhalt und dem immer wieder erneuerten Gewinn dieser Lachmündigkeit und sind deshalb genau hier angesiedelt, weil sie den freiwilligen partiellen Verlust und den alsbaldigen Wiedergewinn des »ausgezeichneten Verhaltens« (Goldstein) als dem normativen Sollbestand auch der Personalität durch kulturelle Rituale aller Art organisieren. Deshalb werden wir im systematischen Teil immer wieder darauf einzugehen haben, in welcher Art bestimmte Formen des Lachens kulturell ritualisiert werden. Die Unterteilung des Lachens in Bekundungs-, Interaktionsund Resonanz-Lachen und in verschiedene Grade von Lachmündigkeit allein genügt jedoch noch nicht, um bestimmte Varianten 60 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Anfang war die Tat?

des Lachens voneinander zu unterscheiden und sie zu verschiedenen Lachpaletten zusammenzustellen, weil man dann das Lachen allein als Lachen thematisieren würde und vom sonstigen Verhalten des lachenden Menschen in einer konkreten Situation absehen müßte. Aus diesem Grund gilt es durchgehend zwei methodologische Regeln zu beachten, die in der traditionellen Gelotologie immer übersehen worden sind: der Kuleschow-Effekt und das synergetisch-synästhetische Prinzip. Der Kuleschow-Effekt, den man auch als »Lichthupen-Prinzip« bezeichnen könnte, besagt, daß das Lachen an sich bedeutungsleer ist, sich aber situationsspezifisch semantisiert, sodaß es prinzipiell immer nur als Lachen-in-einer-Situation beschrieben, gedeutet, benannt und mit anderen Varianten verglichen und an einen bestimmten Ort in einer Lachpalette plaziert werden darf. Das synergetisch-synästhetische Prinzip besagt, daß jemand, wenn er lacht, mit allem lacht, was er ist und hat und kann und tut, und das heißt wiederum, daß das jeweilige Lachen immer nur als Teilaspekt eines umfassenden Gesamtverhaltens thematisiert werden darf, zu dem auch Gestus, Vultus, Habitus, Atmung, Wachheit und sprachliche Artikulationsfähigkeit als weitere Teilaspekte gehören, denn der lachende Mensch ist immer der ganze Mensch als homo ridens. 1.3 Im Anfang war die Tat? Jeder kennt die Szene: Faust ist nach dem Osterspaziergang wieder in seiner Klause und beginnt, das Evangelium des Johannes zu übersetzen, kommt aber schon beim ersten Satz – »Im Anfang war der logos.« – ins Stocken. Dann probiert er eine Reihe von Übersetzungsmöglichkeiten für »logos« durch, »Wort«, »Sinn« und »Kraft«, und entscheidet sich schließlich für die Formulierung: »Im Anfang war die Tat« (V. 1237). Und dann fängt der Teufel in der Ecke an zu knurren, weil er sich sicher ist, in dem Aktivismus-Ideologen Faust den Richtigen gefunden zu haben, da alle, die in ihrem Wahn die Welt restlos verfügbar machen wollen, in besonderem Maße verführbar sind. 61 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

Ich nenne diese Haltung bewußt »wahnhaft« und »ideologisch«, weil sie die Augen vor der Tatsache verschließt, daß unser Leben weit mehr von Widerfahrnissen als von Handlungen geprägt wird. Am Anfang steht also gerade nicht die Tat und nicht das autopoietisch sich selbst setzende Ich, sondern am Anfang steht das Widerfahrnis und damit das uns immer schon vorgegebene Gesetztsein, das Plessner als »Positionalität« bezeichnet und zum Schlüsselbegriff seiner Anthropologie erhoben hat. Diesen »Widerfahrnischarakter des menschlichen Lebens« (Kamlah) gilt es wieder zu entdecken, nachdem er durch die »faustische« Ideologie der Verfügbarmachung so lange verdeckt, verschüttet und verleugnet worden ist, und deshalb folge ich hier meinem Erlanger Lehrer Wilhelm Kamlah, der in seinem Spätwerk schreibt: »Unser aller Leben ist eingespannt zwischen der Widerfahrnissen Geburt und Tod. Gleichsam das erste und das letzte Wort hat für uns nicht unser eigenes Handeln. Aber auch, wenn wir handeln, widerfährt uns stets etwas. Es gibt Widerfahrnisse ohne Handeln, aber es gibt kein pures Handeln. Auch so ein mächtiges Handeln wie das ›schöpferische‹ ist doch stets auf vorgegebene Bedingungen angewiesen und Störungen ausgesetzt, so daß es mehr oder weniger ›gelingt‹. Handlungen führen zum Erfolg oder Mißerfolg oder auch zu unerwarteten Nebenerfolgen.« 16

Hier ist der Punkt, an dem diese Studie über das Lachen ihr philosophisches Anliegen ansiedelt, denn sie versteht sich als Kritik an der »faustischen«, selbstherrlich verfügenden imperialen Selbst- und Weltbemächtigungs-Ideologie und orientiert sich damit an einem Programm, das ich von meinen philosophischen Mentoren Wilhelm Kamlah, Helmuth Plessner und Hermann Schmitz übernehme, weiterführe und auf das konkrete Beispiel Lachen anwende. Für Schmitz resultiert die von Kamlah beklagte allgemeine Tendenz, den »Widerfahrnischarakter des Lebens« zu leugnen, aus einer alteuropäischen philosophischen Einstellung, die er als »dynamistische Verfehlung des abendländischen Geistes« 17 bezeichnet und als »einseitige Forcierung des Strebens nach menschlicher Selbstbemächtigung und Weltbemächtigung« 18 versteht. So gesehen verfolgt diese Studie über das Lachen eine ähnliche Tendenz wie die Studie der Brüder Hartmut und Gernot Böhme 19 über Das Andere der Vernunft. 62 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Anfang war die Tat?

Daß dies in einer Studie über das Lachen geschieht, liegt an dem Umstand, daß das Lachen gleichsam zwei Gesichter hat, weil es einerseits tendenziell verfügbare Formen wie das Interaktions-Lachen gibt, andererseits aber auch Formen des Bekundungs-Lachens, die sich als tendenziell unverfügbare Widerfahrnisse an uns und mit uns vollziehen und denen wir einigermaßen wehrlos ausgeliefert sind. Im Lichte der selbstherrlichen »faustischen« Verfügungs-Ideologie ist dies ein Skandal, ein peinliches, beschämendes und empörendes Erlebnis des »faustischen« Menschen, der sich, laut Descartes, zum »Herren und Eigentümer der Natur« 20 erheben möchte, dabei aber immer wieder erfahren muß, daß in bestimmten Situationen nicht einmal sein eigener Körper ihm ganz gehorcht. Im Lichte dieser dynamistischen Selbstherrlichkeit sind ja schon all die Formen des Resonanz-Verhaltens ein Skandal, weil man sich beim Mitgehen in gewisser Weise »gehen läßt« und somit, wenn auch nur befristet und unter Vorbehalt, auf ein gewisses Maß an Selbstbehauptung und Autonomie verzichtet. Brechts eifernde und geifernde Polemik gegen alle Formen des Mitgehens im Theater liegt, so gesehen, ganz in der Tradition dieser platonisch-stoischcartesischen Selbstermächtigungs-Ideologie des »faustischen« Menschenbildes. Wie soll dieser »faustische« Mensch hier reagieren? Soll er, um seine Ideologie zu retten, diese tendenzielle Entmachtung durch die eigene Natur schlichtweg leugnen? Oder soll er einen Schuldigen dafür suchen und haftbar machen? Oder soll er den verzweifelten Versuch wagen, das tendenziell Unverfügbare dennoch verfügbar zu machen? Oder soll er den Widerfahrnischarakter seines eigenen Verhaltens gelassen hinnehmen und sich ihm genauso vertrauensvoll anvertrauen, wie man sich in einen Heuhaufen fallen läßt? Oder soll er darin vielleicht sogar die Chance für Humor sehen? Wir werden im ideengeschichtlichen Teil dieser Studie sehen, daß die Zeugnisse für die Tendenz zum verbissenen imperialen Verfügenwollen über das tendenziell Unverfügbare im europäischen biblisch-platonisch-cartesisch geprägten Denken weitaus häufiger sind als die Zeugnisse für die andere, aristotelisch geprägte Tendenz, über das Verfügbare zwar freudig und dankbar zu verfügen, das Unverfügbare als »das Andere der Vernunft« hingegen gelassen 63 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Einleitung

und vertrauensvoll hinzunehmen, »denn auch hier sind Götter« (Heraklit). In beiden Fällen verfuhr man so, daß man das Verhältnis zum eigenen Lachen als Muster und pars pro toto für das Verhältnis zur Welt allgemein angesehen hat und einerseits das Lachen bekämpfte und durch allerlei asketische Rituale zu unterdrücken suchte, andererseits das Lachen zum ureigenen Besitz des Menschen erhob und es durch eine spezifische Lachkultur zu organisieren suchte. Somit hat eine Studie über das Lachen einen gewissen heuristischen Wert im Hinblick auf das Selbstverständnis des europäischen Menschen und den historischen Wandel dieses Selbstverständnisses, weil sie sichtbar macht, daß und wie bei der Thematisierung des Lachens immer zugleich beides zur Sprache kommt: das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zur Welt als ganzer. Der Titel dieser Studie darf jedoch auf keinen Fall so verstanden werden, als sollte die Ideologie des »faustischen« Menschenbildes nun durch die neue Ideologie des »homo ridens« ersetzt werden, die im lachenden Menschen die Idealform eines neuen Menschen zu propagieren sucht, wie Guillaume de Conches dies im Hochmittelalter mit seinem Entwurf eines sanguinischen Adams getan hat, der durch einen heiter lachenden Gott seine Seele eingehaucht bekam, sondern die Formel »homo ridens« beschreibt lediglich den Menschen beim Lachen oder als lachenden. Oder anders formuliert: Die Formel »homo ridens« ist nicht axiologisch-normativ, sondern phänomenologisch-deskriptiv 21 zu verstehen und bestimmt damit nur im Sinne von Aristoteles das Lachen als ein proprium hominis neben vielen anderen propria. Die ideologischen Eckdaten für den Impuls zum rücksichtslosen Verfügbarmachen des eigenen Leibes wie der gesamten Natur finden sich schon in der Genesis, wo die eben erst geschaffenen Menschen von ihrem Schöpfer den ausdrücklichen Auftrag erhalten, sich die Erde untertan zu machen (Gen.1,28), und ähnliche Passagen tauchen, wie wir sehen werden, bei Platon, bei den Stoikern, bei den Kirchenvätern und bei Bacon und Descartes in Hülle und Fülle auf, am deutlichsten aber in den überaus frommen Meditationen des Thomas von Kempen zur Nachfolge Christi, in denen zugleich auch deutlich gemacht wird, wie innig Selbstbemächtigung 64 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

und Weltbemächtigung miteinander verschränkt sind, weil Weltbemächtigung Selbstermächtigung zur Voraussetzung hat, denn dort heißt es: »Hast du dich gänzlich bezwungen, unterwirfst du unschwer alles übrige. Der Sieg (über die Welt) ist vollkommen, sobald man über sich selbst triumphiert. Wer sich im Zaum hält, so daß die Sinne der Vernunft in allem gehorchen, der hat sich selbst besiegt, und die Welt liegt ihm zu Füßen.« 22

Die Welt aber, die ihm hier zu Füßen liegen soll, ist die »LeonardoWelt« 23 des homo faber im Sinne von Jürgen Mittelstraß, in der sich vermeintlich alles Unverfügbare in Verfügbares und damit in Machbares auflösen läßt, die Welt des homo ridens ist sie jedenfalls nicht. Anmerkungen 1 Vgl. dazu Lenz Prütting: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus«. Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 17 (2006) 1/2, S. 123–136. 2 Ich zitiere Helmuth Plessner, wenn nicht anders angegeben, nach der Gesamtausgabe: Helmuth Plessner: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker unter Mitwirkung von Richard W. Schmidt, Angelika Wetterer und Michael-Joachim Zemlin, Frankfurt a. M. 2003. Die für uns wichtigsten Arbeiten Plessners, also »Lachen und Weinen« und »Das Lächeln« finden sich in Bd. VII: Ausdruck und menschliche Natur. 3 Franz von Baader: Über den Blitz als Vater des Lichts, in: Schriften Franz von Baaders, ausgewählt und herausgegeben von Max Pulver, Leipzig 1921, S. 46–59, hier S. 55. 4 Vgl. dazu Lenz Prütting: Über das Mitgehen. Einige Anmerkungen zum Phänomen transorchestraler Einleibung, in: Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, hg. v. Michael Großheim, Berlin 1995, S. 141–152. 5 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 149. 6 Cicero: De oratore. Über den Redner. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart 5/2003, S. 347. 7 Ich zitiere Kant nach der Ausgabe: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 6/2005. 8 Schmitz: Gegenstand, S. 157. 9 Schmitz: Gegenstand, S. 160. 10 Hermann Schmitz: Die Person, Bonn 1980, S. 116. 11 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt a. M. 1974.

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Einleitung 12

Vgl. dazu Kurt Goldstein: Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Haag 1934, S. 220 ff. 13 Vgl. dazu F. J. J. Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung als Verbindung und Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Betrachtungsweise, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956 mit dem Kapitel: Das Verhältnis von Ausführen und Ausdrücken., S. 206–213, hier S. 207. 14 Vgl. dazu Hermann Schmitz: Die Wahrnehmung, Bonn 1978, S. 37 ff. 15 Vgl. dazu Rudolf Bilz: Schrittmacherphänomene, in: Rudolf Bilz: Die unbewältigte Vergangenheit des Menschengeschlechts, Frankfurt a. M. 1967, S. 7–38, sowie Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, S. 197 ff. und S. 246 ff. 16 Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim/Wien/Zürich 1972, S. 35; vgl. auch das Kapitel »Naivität, Selbstsicherheit, Sucht« S. 153 ff. 17 Vgl. Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 37 ff. 18 Ebenda, S. 37. Wir werden sehen, daß auch zwei andere von Schmitz in diesem Werk monierte Verfehlungen des europäischen Geistes zu bestimmten Formen von Lachkultur (oder auch Lach-Unkultur) geführt haben. Ich meine damit die »autistische« und die »ironistische« Verfehlung, die sich in den verschiedenen Formen des Auslachens zeigen. 19 Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1985. Vgl. dazu die ergänzenden Bemerkungen in dem Aufsatz von Peter Bürger: Über den Umgang mit dem andern der Vernunft, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1983, S. 41–51, sowie die heftige Kritik von Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988, S. 352–358. 20 René Descartes: Discours de la méthode. Französisch/Deutsch, Hamburg 2/1997, S. 101. 21 Vgl. dazu das Kapitel »Menschenbilder« in der Studie von Friedrich Wilhelm Graf: Mißbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009, S. 133–176, hier S. 172 ff., wo Graf eine ganze Reihe von axiologisch-normativen und phänomenologisch-deskriptiven Menschenbildern aufzählt und dann die rhetorische Frage anschließt: »Wie sollten Menschenbilder als Normenquelle Handlungsgebote oder Verbote begründen können?« (S. 174) Sie können es natürlich nicht. 22 Thomas von Kempen: Nachfolge Christi, Solothurn/Düsseldorf 5/1995, S. 232. 23 Jürgen Mittelstraß: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1992.

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2 Historischer Teil Das Nachdenken über das Lachen in seiner historischen Entwicklung

Alles Gescheite ist schon gedacht worden; man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken. Goethe

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2.1 Methodologische Vorbemerkung

2.1.1 Zur Geschichtlichkeit des Lachens Die hier vorzulegende Studie gliedert sich in zwei große Teile. Der systematisch orientierte Teil hat die Aufgabe, eine Phänomenologie des Lachens zu entfalten und fragt deshalb nach Wesen, Formen und Funktionen des Lachens. Wie dies geschehen soll, habe ich in der Einleitung kurz umrissen. Der historisch orientierte Teil dient als Hinführung zum systematischen Teil und ist deshalb letztlich auch wiederum nach systematischen Aspekten ausgerichtet. Er stellt zwar zwangsläufig auch die Frage nach der Geschichtlichkeit des Lachens, will aber keine Geschichte des Lachens selbst bieten, sondern einen Abriß der gelotologischen Theorien in ihrer historischen Entwicklung und im Hinblick auf die historische Situation, in der sie entstanden sind. Mit einem Wort: Er versteht sich nicht als Geschehens-Geschichte, sondern als Ideen- oder Diskurs-Geschichte, und deshalb muß dieses Verfahren methodologisch sauber von einer lachgeschichtlichen Darstellung abgegrenzt werden. Hier hilft ein Blick auf Jacques Le Goff, denn Le Goff war, soweit ich sehe, der erste, der die Forderung erhoben hat, man müsse eine Geschichte des Lachens schreiben. Er schritt denn auch gleich zur Tat, um deutlich zu machen, wie dies geschehen könnte, und da das Mittelalter immer schon sein großes Thema war, schrieb er eine kurze, aber wegweisende Studie über das Lachen im Mittelalter. Seine Begründung dafür lautet: »Das Lachen ist ein kulturelles Phänomen. Die Einstellungen zum Lachen verändern sich je nach Gesellschaft und Epoche, ebenso die Art

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Methodologische Vorbemerkung

und Weise, wie gelacht wird; Anlässe und Formen des Lachens bleiben nicht dieselben.« 1

Das aber wirft sofort schwerwiegende methodologische Probleme auf, denn: »Eine Studie zur Geschichte des Lachens muß, wie ich glaube, von zwei Seiten her entworfen werden, denn beide trennt ein fundamentaler Unterschied: Die wissenschaftliche Vorgehensweise, die Fragestellungen und zunächst auch die Dokumentationen sind jeweils verschiedene auf der einen Seite, die sich mit den Einstellungen zum Lachen befaßt, und auf der anderen, die von den Ausdrucksformen des Lachens handelt. Auf herkömmliche Weise ausgedrückt, könnte man von der ›Theorie und Praxis des Lachens‹ sprechen. Was die ›Theorie‹ anbelangt, lassen sich relativ leicht mehr oder weniger, sagen wir: normative Texte finden, die nicht nur etwas über das Lachen aussagen, sondern die auch Empfehlungen darüber vermitteln, wie man lachen sollte (bzw. wie man nicht lachen sollte, was sehr viel häufiger empfohlen wird). (…) Was die Frage angeht, wie gelacht wurde, erweist sich die Situation schon als viel schwieriger. (…) Man müßte sowohl alle Texte, die über das Lachen urteilen, betrachten als auch alle Texte, die zum Lachen verleiten. (…) Geht es also um eine Geschichte des Lachens und des Anreizes zum Lachen?« (S. 13–15)

Vergleichbar mit Le Goffs Unternehmung ist die eindrucksvolle Studie von Eckart Schörle Die Verhöflichung des Lachens 2 von 2007, die in enger Anlehnung an Norbert Elias gleichsam den Zivilisationsprozeß des bürgerlichen Lachens im 18. Jahrhundert nachzeichnet. Allerdings versteht Schörle diese Entwicklung nicht als einen linearen Prozeß, »an dessen Ende das (bürgerliche) Lachen verschwindet, sondern eher als eine permanente Anstrengung zur Kultivierung des Lachens. Dieses verschwindet dabei nicht, sondern wird allenfalls in andere Bereiche oder geschützte Bezirke abgedrängt. Zum einen bedeutet dies einen Schutz für das Lachen, zum anderen aber auch einen Schutz der Mächtigen vor dem Lachen. Von zentraler Bedeutung ist damit auch die Trennung von Lachorten und solchen Räumen, in denen das Lachen nicht zugelassen wird.« (S. 18)

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Zur Geschichtlichkeit des Lachens

Damit ist also auch Schörles Studie über die Verhöflichung des Lachens keine pure Geschehens-Geschichte des Lachens, die ja voraussetzen würde, daß das Lachen selbst eine ihm immanente teleologische Entwicklung hat, sondern ist eher eine Diskurs-Geschichte des Lachens und eine Geschichte der Versuche, das bürgerliche Lachen irgendwie kulturell zu verorten und zu reglementieren, oder, wie Schörle es formuliert, »ein immer wiederkehrender Versuch zur Kontrollierung des Unkontrollierbaren« (S. 373), denn: »Die Geschichte des Lachens ist in erster Linie ein permanenter Aushandlungsprozess von Freiräumen und Begrenzungen des Lachens.« (S. 18)

Damit ist klar, daß eine pure Geschehens-Geschichte des Lachens von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muß, weil die Quellen allzu dürftig sind, und deshalb geht es Le Goff und Schörle in ihren exemplarischen Studien im wesentlichen um die Geschichte des Anreizes und der Einstellung zum Lachen im europäischen Mittelalter resp. im 18. Jahrhundert, weil die Quellenlage hier unvergleichlich viel besser ist, und so haben beide denn auch eine beeindruckende Fülle an einschlägigen Zeugnissen ausgebreitet. Aber eine Geschehens-Geschichte des Lachens haben beide nicht vorgelegt, auch wenn der Titel ihrer Studien dies suggerieren könnte, und dies hat bei einigen Autoren, die methodologisch viel unbedenklicher sind, leider Schule gemacht. 3 Deshalb stellt sich die Frage umso dringlicher, in welchem Sinn man denn auf plausible Weise von der Geschichtlichkeit des Lachens reden und eine Geschichte des Lachens erstellen könnte. Wenn man sie als Geschehens-Geschichte versteht und nach dem historischen Wandel der verschiedenen Ausdrucksformen des Lachens fragt, so wird man alsbald feststellen, daß eine solche historische Fragestellung gar nicht möglich ist ohne eine ihr vorausgehende systematische Klärung der Frage, welche Varianten des Lachens es denn überhaupt gibt und nach Maßgabe welcher Kriterien man sie voneinander abgrenzen kann. Also muß die systematische Orientierung der historischen immer schon vorausgehen, sodaß man eine Geschichte des Lachens ohne eine Theorie des Lachens grundsätzlich nicht schreiben kann, weil man ja sonst gar nicht weiß, was man wissen will und wonach man fragen soll. Aber selbst wenn 71 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Vorbemerkung

man dies wüßte, müßte man die Frage nach dem historischen Wandel der verschiedenen Lacharten etwas genauer stellen. Dies kann auf ganz verschiedenen Wegen geschehen, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die These, daß die Lachpalette als solche, also die Gesamtheit aller möglichen Ausprägungen des Lachens, ein in der Natur des Menschen verankertes und zusammen mit ihr fest vorgegebenes Repertoire verschiedenster Lacharten anbietet, das dem historischen Wandel nicht unterworfen ist. Deshalb kann der historische Wandel des Lachens nicht an der Lachpalette als ganzer festgemacht werden, sondern nur daran, in welcher Art man sich aus diesem fest vorgegebenen Repertoire der Lachpalette entsprechend dem Wandel der Zeiten jeweils bedient. Der historische Wandel des Lachens ist also nichts anderes als die historisch bedingte Auswahl aus einem fest vorgegebenen Bestand an Lach-Möglichkeiten, die durch die oben skizzierten Kriterien charakterisiert sind, insbesondere durch das Kriterium der Intensität, und durch den historischen Wandel des Niveaus personaler Emanzipation bei einzelnen Personen und ganzen Kollektiven. Die Geschichtlichkeit des Lachens ist demnach: • die Geschichtlichkeit der Anlässe und Anreize, die Lachen hervorrufen; • die Geschichtlichkeit der Situationen, an die bestimmte Formen des Lachens strikt gebunden sind; • die Geschichtlichkeit des als Norm verstandenen Niveaus personaler Emanzipation, auf dem gelacht wird. Der erste Fall versteht sich fast von selbst; man muß nur einmal einen Blick in alte Schwankbücher werfen, um zu erkennen, in welchem Maß das, was in einer bestimmten Epoche als komisch oder lächerlich gilt und schallendes Gelächter hervorruft, in einer anderen nur noch ein müdes Lächeln oder auch nur ein Achselzucken hervorruft oder manchmal geradezu ekelerregend wirken kann. Die Geschichtlichkeit des Lachens manifestiert sich hier also im historischen Wandel der Anmutungsmöglichkeiten und Peinlichkeitsgrenzen und dem daraus sich ergebenden historisch wandelbaren Grad an Intensität des Lachens. Aber das Auflachen über Komisches oder Lächerliches als solches bleibt sich in allen Epochen 72 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Geschichtlichkeit des Lachens

gleich, oder genauer: das Auflachen über das, was in bestimmten Epochen und Situationen als komisch oder als lächerlich empfunden wird. Etwas komplizierter ist der Sachverhalt, daß bestimmte Formen des Lachens strikt an einen bestimmten gesellschaftlichen Rahmen gebunden sind, in dem allein sie möglich sind, sodaß sie sofort absterben oder durch andere Formen des Lachens ersetzt werden, wenn die sie ermöglichenden Rahmenbedingungen durch den historischen Wandel wegfallen. So erstarb z. B. das am aristotelischen Eutrapelie-Ideal orientierte Scherzen und Lachen auf Augenhöhe, das von den Humanisten an den Fürstenhöfen der Renaissance als »unser Lachen« (Cicero) kultiviert worden ist, sofort mit dem Aufkommen der absolutistischen Königshöfe, weil der absolutistische Hof nur hierarchische Beziehungen kennt und deshalb auch nur das Auslachen-von-oben möglich macht. Die Geschichtlichkeit des Lachens manifestiert sich hier also als Geschichtlichkeit der Situation, die ein bestimmtes Lachen überhaupt erst ermöglicht, ein anderes aber strikt blockiert. Ähnlich komplex ist die dritte Möglichkeit, sinnvoll von der Geschichtlichkeit des Lachens zu sprechen. Wenn wir davon ausgehen, daß die große Vielfalt des Lachens auf dem höchst unterschiedlichen ambivalenten Ineinander von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, von personaler Emanzipation und personaler Regression beruht und außerdem davon, daß jeder Mensch auf einem bestimmten vorgegebenen Niveau personaler Emanzipation lebt, das durch Geschlecht, Alter, sozialen Status, historischem Ort etc. vorgegeben ist, aber mehr oder weniger großen Wandlungen unterworfen werden kann, und daß dies nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für Kollektive gilt, für die sich auf diese Weise ein System an mehr oder weniger stark verinnerlichten Verhaltensnormen bildet, das ebenfalls dem historischen Wandel unterworfen ist, so bleibt die Frage, was man tut und was nicht, was man sich erlaubt und was man sich verbietet, nicht immer gleich, sondern ändert sich mit der Zeit, manchmal sehr langsam und unmerklich, manchmal aber auch mit einem Schlag. Bei Einzelpersonen sprechen wir hier vom jeweils erreichten Grad der Reife oder vom Stand der Entwicklung, bei Kollektiven 73 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Vorbemerkung

vom Stand des Zivilisationsprozesses im Sinne von Norbert Elias oder von der Entwicklungshöhe einer Gesellschaft. Am deutlichsten lassen sich derartige Entwicklungsschübe bei kleinen Kindern ablesen, wenn sie in der Fremdelphase den Schritt vom prinzipiell unverfügbaren Resonanz-Lachen zum tendenziell verfügbaren mündigen Anlachen tun. Später ist der historisch bedingte Wandel des Lachens v. a. ablesbar an der Intensität des Lachens und am Bemühen, diese Intensität zu zügeln und es dadurch etwas verfügbarer zu machen, und dies gilt auch für kollektiv gültige Verhaltensnormen. So ist das hemmungslose homerische Gelächter, das die Recken Homers vor Troja anzuschlagen pflegen, am Hof des Sonnenkönigs schlecht vorstellbar, oder Kichermeuten, wie sie in Mädchenpensionaten bei den Englischen Fräulein denkbar sind, dürften in einem Kardinalskollegium oder im Vorstand der Deutschen Bank wohl eher selten sein. Die Geschichtlichkeit des Lachens manifestiert sich hier also in der Geschichtlichkeit von Ethos und Nomos, bestimmte Formen des Lachens in unterschiedlichen Graden der Ausgeprägtheit und Verfügbarkeit bei sich zulassen zu wollen. Für Charles Darwin und seine Gefolgsleute wäre mit all diesen Überlegungen das Maß an Geschichtlichkeit des Lachens jedoch noch lange nicht ausgeschöpft, weil sie die Lachpalette nicht als fest vorgegebenes, unwandelbares Repertoire von Lachmöglichkeiten verstehen, sondern lediglich als aktuelle Momentaufnahme im Prozeß der schon lange währenden und weiterhin ablaufenden Evolution, sodaß für sie das Lachen als solches und damit die ganze Lachpalette als solche selbst schon ein evolutionsgeschichtliches Phänomen, also ein Teil der menschlichen Stammesgeschichte ist. Mit anderen Worten: Für sie hat die Lachpalette selbst eine Geschichte, und diese Geschichte beginnt nicht erst beim Menschen, sondern schon bei seinen nicht-menschlichen unmittelbaren Vorfahren, und sie ist auch beim Menschen noch lange nicht abgeschlossen, sondern geht weiter. Die Geschichtlichkeit des Lachens ernst zu nehmen bedeutet dann, evolutionsgeschichtlich gesehen, nach den vor- und frühmenschlichen Ursprüngen des Lachens zu fragen und daraus das eigentliche Wesen des Lachens abzuleiten. Wir werden sehen, zu welch problematischen Ergebnissen ein solches Fragen führt. 74 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gelotologische Traditionen

Ein Prinzip ist dabei jedoch absolut unverzichtbar: die strikte Beachtung der jeweiligen Situation, in der gelacht und über das Lachen reflektiert wird, weil das Lachen, wie jedes andere Verhalten auch, immer im Rahmen einer Situation geschieht, aus der es seine Bedeutung überhaupt erst bezieht. Aus diesem Grund werden wir immer nach der historischen, politischen und gesellschaftlichen Situation fragen müssen, innerhalb derer eine Theorie des Lachens entwickelt worden ist, und auf die diese Theorie wieder sinnstiftend und ordnend zurückwirken wollte. So gibt es z. B. Lachtheorien, die deutlich die Spuren einer Bürgerkriegssituation aufweisen, wie dies bei Platon oder Hobbes der Fall ist, oder andere, die sich der entspannten Situation einer Pax Romana oder einer Pax Britannica verdanken und deshalb als Grundlage einer eutrapelistischen Lachkultur dienen. 2.1.2 Gelotologische Traditionen Eine Geschichte des Lachens unter diesen Aspekten soll der historisch orientierte Teil dieser Studie jedoch nicht sein; ich gehe allenfalls auf einige dieser Fragen in kurzen Exkursen ein, um bestimmte systematische Fragestellungen deutlicher zu entfalten und um bestimmte Argumentationstraditionen und deren Brüche und Kehren deutlich zu machen. Mein Anliegen im historisch orientierten Teil ist, mit Le Goff zu sprechen, die Geschichte der Theorie des Lachens, und damit zwangsläufig Ideen- oder Diskurs-Geschichte und nicht Geschehens-Geschichte. Allerdings soll diese Ideengeschichte nicht abgelöst vom realen, allgemein politischen Geschehen betrieben werden, sondern als integraler Teil des geschichtlichen Gesamtgeschehens. Wenn also z. B. der Mailänder Bischof Ambrosius im Jahr 391 eine Pflichtenlehre erscheinen läßt, in der er allen, die im Rahmen der Kirche irgendeine Funktion erfüllen, das Lachen strikt verbietet, so ist dieser Traktat De officiis ministrorum zwar ein bemerkenswertes Werk in der Ideengeschichte des Lachens und außerdem eine Station in der Rezeptionsgeschichte Ciceros, muß aber auch vor dem Hintergrund gesehen werden, daß im selben Jahr das Christentum zur 75 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Vorbemerkung

Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben worden ist und sich damit von einer verfolgten zu einer verfolgenden Institution gewandelt hat, die von nun an mit ihren Konkurrenten genauso imperial verfügend umgehen kann, wie der kirchliche Funktionär mit sich selbst, seinem Leib und seinen Affekten umgehen soll. Ob diese klerikalen Funktionsträger dies tatsächlich auch taten, können wir jedoch nicht wissen, denn hier stoßen wir sofort an die Grenzen der Möglichkeiten einer Geschehensgeschichte des Lachens. Daneben sind aber noch einige andere methodologische Probleme zu klären, da es nicht Ziel einer Ideen- oder Diskursgeschichte des Lachens sein kann, jeden zu erwähnen, der sich irgendwann einmal über das Lachen geäußert hat. Ein solches Unterfangen wäre genauso uferlos wie eine Geschehensgeschichte des Lachens. Deshalb gilt es, Kriterien zu benennen, um aus der Fülle der Zeugnisse nur die Äußerungen auszuwählen und zu präsentieren, die für unsere Fragstellung wichtig sind. Eines dieser Kriterien besteht darin, die Autoren vorzustellen, die einen Gedanken in die gelotologische Debatte geworfen haben, der als so schlagend empfunden worden ist, daß er immer wieder aufgegriffen wurde und sich somit wie ein roter Faden durch den gelotologischen Diskurs zieht. Ich denke z. B. an Platons überaus wichtigen Hinweis auf die ambivalente Natur des Lachens oder an die These von Aristoteles, das Lachen sei ein Vermögen, das spezifisch menschlich ist und den Menschen damit vom Tier unterscheidet. Ein solcher Gedanke muß aber nicht immer ein richtiger Gedanke sein, denn auch bestimmte Irrtümer ziehen sich wie ein roter Faden durch die Debatte über das Lachen. Ich denke da z. B. an die reduktionistische Verabsolutierung des geloiastischen Lachens über Komisches zum Lachen generell oder an die hartnäckig verfochtene These der Ethologen, jedes Lachen sei grundsätzlich aggressiv. Derlei reduktionistische Verabsolutierungen bestimmter Formen des Lachens zum Lachen allgemein gibt es in der Diskursgeschichte des Lachens leider allzu viele. Das andere Kriterium besteht darin, die Autoren zu Wort kommen zu lassen, die durch ihr Werk einen wichtigen Beitrag zum systematischen Teil dieser Studie geleistet haben, weil nur auf diese Weise der historische und der systematische Teil dieser Unter76 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gelotologische Traditionen

suchung sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Außerdem geht es mir natürlich auch darum, den Vorgängern, denen ich wichtige Anregungen verdanke, diesen Dank auch in aller Form abzustatten. Den Überblick über ein Themengebiet haben wir ja nur, wenn und weil wir auf den Schultern unserer Vorläufer stehen. Nach Maßgabe dieser beiden Kriterien lassen sich nun fünf wichtige Ansätze im gelotologischen Diskurs unterscheiden, die ausführlicher dargestellt werden sollen: • Die älteste, aber auch problematischste ist die ethisch orientierte platonisch-stoisch-augustinische Tradition, die über Thomas Hobbes bis zu Charles Baudelaire reicht und dem Lachen grundsätzlich mißtrauisch bis ablehnend gegenübersteht. • Eine zweite ist die anthropologisch orientierte Schule, die von Aristoteles begründet wurde und über Thomas von Aquin und Laurent Joubert bis herauf zu Helmuth Plessner und Hermann Schmitz reicht. Dieser Schule rechne auch ich selbst mich zu, und deshalb verdanke ich diesen Autoren auch die wichtigsten Anregungen. • Eine dritte, physiologisch-mechanistisch orientierte Schule geht von René Descartes aus und reicht herauf bis zu Herbert Spencer und Sigmund Freud. • Die vierte ethologisch-evolutionsgeschichtlich orientierte Schule ist die jüngste, geht auf Charles Darwin zurück, hat ihre deutschsprachigen Hauptvertreter heute in Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt und ist heutzutage im angelsächsischen Sprachbereich die dominante. • Ein fünfter, axiologisch orientierter Ansatz findet sich bei Alfred Stern, der damit allerdings keine eigene Argumentationstradition begründen konnte. Es wird sich zeigen, daß es bei einzelnen Autoren auch mancherlei Querverbindungen zwischen diesen fünf Schulen und ihren Argumentationstraditionen gibt, insbesondere bei den Autoren, die methodologisch einigermaßen unbedenklich vorgehen. Ich denke da besonders an Eklektiker wie den »lachenden Philosophen« Karl Julius Weber alias Demokritos. 4 Wenn man will, kann man noch eine weitere Schule im gelotologischen Diskurs hinzufügen, deren Vertreter das Lachen aber 77 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Vorbemerkung

nicht diskursiv, sondern performativ thematisierten. Ich meine damit die von Diogenes begründete, letztlich aber auf die sokratische Ironie zurückgehende kynische Tradition des philosophischen Narrentums, die sich auf vielfältige Weise mit den performativen Künsten berührt und überschneidet, wobei die Autoren entweder, wie Diogenes, selbst in die Rolle des philosophischen Narren schlüpfen und in ihr agieren oder irgendwelche Gestalten erfinden und diese in der Rolle des philosophischen Narren agieren lassen, wie dies z. B. Erasmus tut. Diese Form gelotologischer Argumentation reicht von Diogenes über Erasmus von Rotterdam bis herauf zu Friedrich Nietzsche. Hier geht es also nicht darum, das Lachen selbst diskursiv philosophisch auf den Begriff zu bringen, sondern andere zum Lachen oder auch nur zum Mitlachen zu provozieren, um ihnen dann als tatsächliches oder vermeintliches Lachopfer den Spiegel vorzuhalten. Lachen ist hier also nicht selbst das Ziel der Erkenntnisbemühung, sondern wird zu einem Mittel der Erkenntnis instrumentalisiert. Diese Schule werden wir aber nur kurz berühren, so faszinierend ihre Vertreter auch sein mögen, da ihre ausführlichere Darstellung eine eigene Untersuchung verlangt und deshalb den Rahmen dieser hier vorliegenden Untersuchung sprengen müßte. Die Aufteilung des hier zu bewältigenden ungeheuren Stoffes auf die einzelnen Kapitel soll unter dem Gesichtspunkt geschehen, daß ich erst die vier wichtigsten Stichwortgeber der Antike vorstelle: Platon und die Stoiker, die beide das Lachen nicht sonderlich schätzten, sowie Aristoteles, der es vorurteilslos untersuchte und es als ein spezifisches Vermögen des Menschen (proprium hominis) bewertete, und die Kyniker, die bestimmte Formen des Lachens zum Instrument der politischen und moralischen Erkenntniskritik erhoben. Diese vier Ansätze zur Thematisierung des Lachens werden rund tausend Jahre lang die Grundlage des gelotologischen Diskurses bleiben, denn auch die christlichen Kirchenväter und die Scholastiker des christlichen Mittelalters greifen immer wieder auf die Argumente dieser vier heidnischen Stichwortgeber zurück, um sie in ihrem Sinne einzusetzen. Was durch das Christentum neu hinzukommt, ist das Kriterium der Sündhaftigkeit, die Frage also, ob und wenn ja, in welchem 78 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gelotologische Traditionen

Maß Lachen eine Sünde sei. Als ausschlaggebend für die Beantwortung dieser Frage werden sich zwei Argumente erweisen: Zum einen der Umstand, daß nirgendwo in den Evangelien davon die Rede ist, daß Jesus gelacht habe, woraus man den Schluß zog, er habe zwar lachen können, aber nicht lachen wollen, denn dadurch erschien das Lachen sofort als etwas, das mit der Gestalt von Jesus selbst und deshalb auch mit der Nachfolge Christi unvereinbar sei. Außerdem gibt es eine explizite Verurteilung der aristotelischen Eutrapelie durch Paulus im Brief an die Epheser, die von Johannes Chrysostomus bis herauf zu den Pietisten immer wieder als schlagendes Argument gegen das Lachen instrumentalisiert werden konnte. Und schließlich hat der einflußreichste Kirchenvater Augustinus das Lachen geradezu als Manifestation der Erbsünde bezeichnet und damit die christlich-theologische Einschätzung des Lachens bis in unsere Tage weitgehend bestimmt, denn kaum ein Theologe konnte es wagen, die Autorität dieses Kirchenvaters in Frage zu stellen. Im vorchristlich-heidnischen Diskurs haben sich zwei ethische Idealgestalten herausgeschält, die für unsere Fragstellung von entscheidender Bedeutung sind: Zum einen die Gestalt des sapiens ridens, also die Gestalt des heiteren Weisen in der Tradition der aristotelisch-ciceronischen Eutrapelie, wie ihn Horaz mit dem Vers »Dulce est desipere in loco« charakterisiert, der dann, wenn die Situation es anbietet, sich auch mal scherzend und lachend gehen läßt. Zum andern gibt aber auch die Gestalt des strengen stoischen Weisen in der Tradition von Epiktet und Seneca, der sich völlig in der Gewalt haben will und das Lachen prinzipiell meidet. Dieser Typ des agelastischen stoischen Weisen konnte in christlichen Zeiten nach dem Wendejahr 391 problemlos zum gültigen Ideal christlichen Verhaltens hochstilisiert werden, weil er dem Bild Jesu, der angeblich nie gelacht hat, voll entspricht, und deshalb hat dieser Typ zuerst in Gestalt des benediktinischen Mönches und später in der Gestalt des stoischen Weisen am absolutistischen Hof eine eindrucksvolle Karriere gemacht, die auch noch in nachchristlich-bürgerlichen Zeiten in der Gestalt des Dandys und des Funktionärs weiterhin zum Ideal erhoben werden konnte. Die Verbindung zwischen der Stoa und dem frühen Christen79 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Vorbemerkung

tum dürfte der pseud-epigraphische Jakobus-Brief gewesen sein, in dem der Verfasser unter enger Anlehnung an das Bild vom Seelengespann in Platons Phaidros den Christen die totale Selbstermächtigung und Selbstverfügung abfordert und sie deshalb ermahnt, insbesondere die Zunge im Zaum zu halten: »Denn wir fehlen alle mannigfaltiglich. Wer aber auch in keinem Worte fehlet, der ist ein vollkommener Mann, und kann auch den ganzen Leib im Zaum halten. Siehe die Pferde halten wir in Zäumen, daß sie uns gehorchen, und lenken den ganzen Leib. Siehe die Schiffe, ob sie wohl so groß sind und von starken Winden getrieben werden; werden sie doch gelenket mit einem kleinen Ruder, wo der hin will, der sie regieret. Also ist auch die Zunge ein kleines Glied, und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet es an? Und die Zunge ist auch ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit. Also ist die Zunge unter unsern Gliedern, und beflecket den ganzen Leib, und zündet an allen unsern Wandel, wenn sie von der Hölle entzündet ist. Denn alle Natur der Tiere, und der Vögel, und der Schlangen, und der Meerwunder werden gezähmet, und sind gezähmet von der menschlichen Natur; aber die Zunge kann kein Mensch zähmen, das unruhige Übel, voll tödlichen Giftes. Durch sie loben wir Gott den Vater; und durch sie fluchen wir den Menschen, nach dem Bilde Gottes gemacht. Aus Einem Mund gehet Loben und Fluchen. Aber, liebe Brüder, es soll nicht also sein!« (Jakobus 3,2–10)

Die christliche Karriere des Gegentyps in Gestalt des heiteren Weisen war viel kürzer. Sie setzt bei Clemens von Alexandrien und beim Wüstenvater Antonius an, wird aber schon bei Johannes Chrysostomus unter Berufung auf Epheser 5,4 auf das schärfste bekämpft und bricht mit Ambrosius im Wendejahr 391 ab. Durch die Aristoteles-Rezeption im Hochmittelalter wird sie zwar bei Wilhelm von Conches, Alain de Lille, Alexander von Hales und Thomas von Aquin kurz aufgegriffen, bricht aber durch Reformation und Gegenreformation nochmals und jetzt endgültig ab. Danach verläuft die Karriere des heiteren Weisen nur noch außerhalb des christlichen Kontextes und in strikter Distanz dazu, manifestiert sich dann in der Gestalt des Cortegiano oder des Gentleman, und 80 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gelotologische Traditionen

wird schließlich in der Heiteren Aufklärung von Shaftesbury bis Kant endgültig zum Träger einer modernen eutrapelistischen Lachkultur. Wir haben also in der Geschichte des Lachens in Europa zwei Idealtypen vor uns, an deren Verhaltenspalette Wert und Unwert des Lachens thematisiert wird: • den agelastischen stoischen Weisen, der im Lauf der Kulturgeschichte immer wieder neue Metamorphosen erlebt und dann z. B. als christlicher Mönch, also absolutistischer Hofmann, als edler Wilder, als Dandy oder als Funktionär auftritt, in all diesen Rollen aber ein Elitenideal verkörpert; • den heiteren Weisen, der als Stifter und Träger einer eutrapelistischen Lachkultur fungiert und ebenfalls ein Elitenideal verkörpert. • Und dazu kommt noch der lachende und zum Lachen provozierende kynische Narr, der in der Tradition des Diogenes dieses Rollenfach bewußt auf sich nimmt und in dieser Rolle seine Narrenfreiheit genießt und ausagiert. Hand in Hand mit der Geschichte dieser drei maßgebenden Typen ändert sich auch die jeweilige Beurteilung des Lachens selbst. In den Kapiteln, die den Verlauf des gelotologischen Diskurses nach dem Ende der Antike darstellen sollen, wird deshalb zu zeigen sein, ob und wenn ja, in welcher Weise das Bild des lachenden Menschen sich mit der Leitidee der jeweiligen Epoche verträgt. Bei den christlichen Kirchenvätern der Westkirche ist dies das Bild des ernsten agelastischen Jesus, weshalb im Anschluß an Platon und die Stoiker der Christ, insbesondere der Elite-Christ in Form des Mönches oder Klerikers, ernst zu sein hat, und dadurch erscheint das Lachen als wider-christliches sündhaftes Phänomen und als omnimodo malus. Der entscheidende Impuls, der zu dieser Entwicklung geführt hat, ist die strikte Trennung von uti (gebrauchen) und frui (genießen) bei jeglichem Verhalten durch den Kirchenvater Augustinus, der auch hier wieder die Richtung vorgegeben hat. Im Mittelalter gerät diese christliche Lachfeindschaft etwas ins Wanken, weil sie durch die Aristoteles-Rezeption beträchtlich relativiert wird. Dies geschieht vor allem durch Wilhelm von Conches, der sogar das Bild eines heiter lachenden Adams entwirft, der aus 81 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Vorbemerkung

der Hand eines heiteren Schöpfers entsteht, und dadurch wird das Lachen sogar theologisch gerechtfertigt und führt u. a. dazu, daß es in Form des Osterlachens sogar ins christliche Ritual aufgenommen wird. Aber durch Reformation und Gegenreformation wird dieses Bild eines heiteren Christentums sofort wieder verdüstert und das Lachen wird im christlichen Kontext erneut als etwas Peinliches empfunden. Ablesbar ist dieser Wandel an der heftigen Polemik der Reformatoren gegen das Osterlachen. In der Renaissancezeit aber auf dem Höhepunkt der AristotelesRezeption, wird das Lachen erneut geadelt, weil die These, es sei ein zentrales proprium hominis, in ein umfassendes kulturelles Programm umgesetzt wird. Dies geschieht wiederum insbesondere bei den Eliten, diesmal aber allein bei den weltlich-höfischen Eliten, die allerdings auch wieder durch Absolutismus und Gegenreformation in einen Stoizismus und damit in einen neuen Ernst hineingetrieben werden. Nach dem Ende des Absolutismus manifestieren sich zwei Neuansätze in der gelotologischen Diskussion, die beide entschieden säkular ausgerichtet sind: Bei dem einen geht es darum, das Bild des lachenden Menschen im Lichte der neuen Naturwissenschaften zu untersuchen, und dies hat den Effekt, daß das Lachen als mechanisch-physikalisch-physiologischer Vorgang, also z. B. als Hydraulik der Lebensgeister oder als ein Prozeß der Energieumwandlung erscheint. Hier interessiert dann nicht mehr das Lachen als Erlebnis des lachenden Menschen, sondern nur noch das Lachen als Geschehnis an oder in einem Organismus. Der andere Neuansatz sucht das Lachen im Lichte der Heiteren Aufklärung zu bewerten, und jetzt geht es darum, den lachenden Menschen an den Forderungen der Vernunft zu messen, genauso wie man es in den christlich bestimmten Zeitläuften am Prinzip der Gottebenbildlichkeit und am Bild Jesu gemessen hatte: Das Lachen erscheint nunmehr als das Andere der Vernunft und will mit dieser versöhnt werden, so wie es bei den Scholastikern um die Frage ging, ob es mit dem Bild Jesu versöhnt werden könne, und deshalb wird diese Epoche für unsere Fragestellung die weitaus fruchtbarste sein, weil jetzt auch die alte und ewig neue aristotelische Frage nach dem proprium hominis immer noch beantwortet werden will. Deshalb entsteht 82 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

aus dem Schoß der Aufklärung die philosophische Anthropologie, die diese Frage als entschieden säkulare Wissenschaft aufs neue stellt, und wie schon bei Aristoteles ist auch hier die Frage nach Wesen, Formen und Funktionen des Lachens eine der zentralen Fragen der Anthropologie überhaupt. Die Antworten, die die philosophische Anthropologie seit den Zeiten Kants und später mit überraschend neuer Fragestellung seit Darwin bis herauf zu Plessner und Schmitz auf diese Frage gegeben hat, bilden Grundlage und Ausgangspunkt für die hier vorliegende Studie. Anmerkungen 1 Jacques Le Goff: Das Lachen im Mittelalter, Stuttgart 2004. Wichtig ist auch das dem Band angefügte Nachwort von Rolf Michael Schneider: Plädoyer für eine Geschichte des Lachens, S. 79 ff. Mentalitätsgeschichtlich orientierte Arbeiten mit dieser Themenstellung erschienen aber schon lange vor Le Goffs Aufforderung. Ich nenne als ein sehr typisches Beispiel dafür die Studie von Ludwig Ammann: Vorbild und Vernunft. Die Regelung von Lachen und Scherzen im mittelalterlichen Islam, Hildesheim 1963, wo Ammann ganz verblüffende Analogien zwischen dem mittelalterlichen Islam und dem mittelalterlichen Christentum aufweist, die sich v. a. in den Mönchsregeln äußern. 2 Eckart Schörle: Die Verhöflichung des Lachens. Lachgeschichte im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2007. 3 In den neunziger Jahren häufen sich solche Arbeiten, meist in Form von Sammelbänden, die Materialien zur Geschichtlichkeit des Lachens zusammentragen. Ich nenne bloß die wichtigsten: Günther Blaicher: Über das Lachen im englischen Mittelalter, in: DVJ 44,1970, S. 508–529; Thérèse Boucher/Hélène Charpentier (Hg.): Le Rire au moyen age dans la littérature et les arts, Bordeaux 1990; Maurice Lever: Zepter und Schellenkappe. Zur Geschichte des Hofnarren, Frankfurt a. M. 1992; Michael Kuper: Zur Semiotik der Inversion. Verkehrte Welt und Lachkultur im 16. Jahrhundert, Berlin 1993; Volker M. Tschannerl: Das Lachen in der altindischen Literatur, Frankfurt a. M. 1993; Siegfried Jäkel/Asko Timonen (Hg.): Laughter down the Centuries, 2 Bde, Turku 1994/95; Daniel Ménager: La renaissance et le rire, Paris 1995; Lothar Fietz/Joerg O. Fichte/Hans-Werner Ludwig (Hg.): Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, Tübingen 1996; Werner Röcke/Helga Neumann (Hg.): Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und früher Neuzeit, Paderborn 1999; Jan Bremmer/ Herman Roodenberg (Hg.): Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute, Darmstadt 1999; Marie-Laurence Desclos (Hg.): Le rire des grecs. Anthro-

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Methodologische Vorbemerkung

pologie du rire en Grèce ancienne, Grenoble 2000; das Sonderheft 641/642 des Merkur von September/Oktober 2002 mit dem Titel: Lachen. Über westliche Zivilisation mit rund zwei Dutzend Aufsätzen; Arnd Beise (Hg.): LachArten. Zur ästhetischen Repräsentation des Lachens vom späten 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2003. Ausgelöst wurde dieses neu erwachte Interesse am historischen Wandel des Lachens durch Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose« (1980, deutsche Ausgabe 1982), der wiederum entscheidend von den Arbeiten von Michail Bachtin angeregt wurde, die schon seit den siebziger Jahren bekannt sind. Die hier einschlägigen Titel lauten: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a. M. 1990, und: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M. 1987. Die Bachtin-Rezeption führte u. a. auch dazu, daß 1983 die für Bachtin eminent wichtige Studie von Florens Christian Rang: Historische Psychologie des Karnevals von 1909 nachgedruckt wurde. 4 Vgl. dazu auch die Anthologie von Hans-Georg Moeller/Günter Wohlfart (Hg.): Laughter in Eastern and Western Philosophies, Freiburg/München 2010.

84 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

2.2 Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

Der englische Philosoph Alfred North Whitehead, offenbar ein witziger Kopf, soll mal gesagt haben, die ganze abendländische Philosophie sei im Grunde nicht viel mehr als eine Reihe von Fußnoten zum Werk Platons. In der Tat gibt es kaum ein Gebiet, auf dem Platon nicht die wichtigen Stichworte geliefert hätte, und so bewegen sich unsere heutigen Diskussionen oft genug immer noch in den Bahnen, die Platon vorgezeichnet hat. Dies gilt vor allem auch für das Thema, das wir hier zu erörtern haben, weil das philosophische Nachdenken über das Lachen überhaupt erst mit Platon beginnt und in vielen Dingen seinem Denken bis heute verpflichtet geblieben ist. Deshalb ist es auch sinnvoll, daß wir den historisch orientierten Teil unserer Untersuchung mit Platon beginnen. 2.2.1 Attische Lachkultur I: Die Alte Komödie Aber natürlich steht auch Platon nicht am Anfang der Geschichte, sondern ist selbst wieder eingebettet in eine Argumentationstradition, die ihn geprägt und ihm bestimmte Fragestellungen nahegelegt hat. Diese aber ist keine philosophische, sondern eine künstlerische, in unserem Fall eine theatralische. Denn ehe mit Platon der erste Philosoph das Lachen zum Thema seines Nachdenkens machen konnte, hat es in Athen in Form der attischen Komödie schon lange eine ausgeprägte Lachkultur gegeben, um das öffentliche Lachen ästhetisch zu organisieren, und diese Lachkultur dürfte auch Platons Blick auf das Lachen entscheidend beeinflußt haben. Diese attische Lachkultur manifestierte sich zu Platons Zeit in 85 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

der sogenannten Alten und Mittleren Komödie, als deren Hauptvertreter Aristophanes gilt, der etwa eine Generation älter als Platon war und den Platon überaus geschätzt zu haben scheint, denn unter dem Kopfkissen von Platons Sterbelager soll sich, wie es bei Nietzsche 1 heißt, ein Band mit den Komödien des Aristophanes befunden haben. Die Alte und Mittlere Komödie Attikas war ein Kind der attischen Demokratie und nur in deren Medium denkbar und sinnvoll, auch wenn Autoren wie Aristophanes sie dazu benutzten, um gegen bestimmte demokratische Politiker und gegen die Demokratie als solche 2 zu agitieren. Die Alte Komödie war also ein Mittel im alltäglichen politischen Meinungskampf, um bestimmte politische Entscheidungen vorzubereiten und durchzusetzen, die für das Gesamtwohl der athenischen Polis von existentieller Bedeutung waren. Deren gab es wahrlich genug, denn Athen befand sich seit 431 im Peloponnesischen Krieg, bei dem es für Athen und den Attischen Seebund nicht nur um die Vorherrschaft in Griechenland und im östlichen Mittelmeer ging, sondern auch um die Durchsetzung einer bestimmten, historisch völlig neuen Lebensform, der engen Verbindung von Demokratie, Kapitalismus, Seemacht und Welthandel. Hauptgegner des von Athen dominierten Attischen Seebundes waren das stockkonservative altaristokratische Sparta und seine Verbündeten, aber auch die konservativen Kreise der alten Aristokratie in Athen selbst, und mit diesen Kreisen sympathisierte Aristophanes ganz offen, genau wie Platon selbst auch. So gesehen war Aristophanes gleichsam die selbsternannte Opposition gegen die demokratische Kriegspartei in Athen und somit etwas wie die »fünfte Kolonne« Spartas in Athen. Als Aristophanes seine ersten Komödien vorstellte, war der Krieg schon einige Jahre im Gang und durch die Schlacht um Pylon an einem Punkt angelangt, wo Athen und Sparta Frieden hätten schließen können, wenn Athen das Friedensangebot des durch die Niederlage bei Pylon entscheidend geschwächten Sparta angenommen hätte. Aber in Athen war nach dem Tod des Perikles ein klassischer Demagoge an die Spitze der Kriegspartei gelangt, und dieser Kleon, Besitzer einer Gerberei, hatte es offensichtlich verstanden, Athen durch seine demagogische Begabung in einen regelrechten 86 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Attische Lachkultur I: Die Alte Komödie

Kriegstaumel zu versetzen, der nur noch ein Ziel kannte: den totalen Krieg gegen den Erbfeind Sparta und dessen endgültige Vernichtung. Da aber Aristophanes sich eher zu den Freunden Spartas rechnete und diesen innergriechischen Krieg als ein verheerendes Unglück ansah, hatte er in diesem Kleon als dem Führer der Kriegspartei seinen Intimfeind gefunden, den es für Aristophanes innenpolitisch genauso erbarmungslos zu vernichten galt, wie Kleon Sparta vernichten wollte und zugleich damit auch alles andere, wofür Sparta stand. Der Ort, an dem dies zu geschehen hatte, war das Theater, und das Mittel dazu war die Komödie und damit eine bestimmte Möglichkeit, den politischen Gegner in aller Öffentlichkeit lächerlich zu machen, ihn also nicht mit der Waffe in der Hand niederzumachen, sondern ihn mit szenischem Witz niederzulachen, d. h. auslachen zu lassen. Dafür scheint den Athenern im Theater jedes Mittel recht gewesen zu sein, das außerhalb des Theaters streng verpönt war und streng geahndet werden konnte: Hetze, Schmähung, Parodie, groteske Übertreibung, gröbster unflätigster Spott, und all dies in einem analerotischen Wortschatz, der heute noch die Aristophanes-Übersetzer zwingt, ihre eigenen Peinlichkeitsschranken entschlossen zu überspringen. Ein Musterbeispiel für diese Art politisch instrumentalisierten Lachtheaters ist die Komödie Die Ritter von 424, in der sich Aristophanes über seinen Intimfeind Kleon und die attische Kriegspartei in einer derart rüden und bösartigen Art und Weise hermacht, wie sie heute im öffentlichen Leben völlig undenkbar wäre. Wie ernst Aristophanes dieser Kampf gegen Kleon gewesen sein muß, geht auch daraus hervor, daß er selbst die Rolle des Kleon spielte und sein Stück selbst einstudierte. Held der Komödie ist der »Paphlagonier«, wie Kleon ein gelernter Gerber und der neue Sklave im Hause des athenischen Herrn Demos (= »Volk«), der es in kürzester Zeit schafft, die alteingesessenen anderen Diener des Hauses Demos, hinter denen deutlich erkennbar die beiden athenischen Feldherren Demosthenes und Nikias stehen, mit allen Mitteln des Terrors, der Erpressung, der Schmeichelei, der üblen Nachrede, des Verrats und der Aneignung fremder Verdienste an die Wand zu spielen und die Macht im 87 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

Hause an sich zu reißen. Weil ihm diese Macht natürlich nicht zusteht, da er ja nur ein Sklave ist und ein Fremder dazu, versuchen die beiden entmachteten Diener, diesen demagogisch-demokratischen Teufel durch einen noch demagogischeren und noch demokratischeren Beelzebub auszutreiben und finden diesen idealen Helfer in einem Blutwursthändler vom Athener Markt. Beide, der Paphlagonier und der Blutwursthändler, werden nun aufeinander losgelassen und liefern sich die übelsten Schrei-, Prahl- und Anpöbelungs-Duelle, bis der Paphlagonier sich endlich geschlagen geben muß und das Weite sucht. Der strahlende Sieger aber entwirft seine politische Vision: Er steckt alle Welt in seinen Wurstkessel, rührt alles kräftig durch und kocht darin auch das Haus des Herrn Demos so lange, bis jeder aus diesem Gral wieder emporsteigt wie Phönix aus der Asche und in der ehrwürdigen Tracht eines Marathonkämpfers, aber zum Würstchen verjüngt. Die Pointe ist überdeutlich: Der Krieg gegen Sparta als Stahlbad, der demokratische Wurstkessel als Jungbrunnen, der Blutwursthändler als der neue Hoffnungsträger der athenischen Polis, als wiederauferstandener Solon, der als neuer euthyntér, d. h. als »Wieder-ins-Lot-Bringer« 3, das kriegsgeplagte Athen neuen strahlenden Zeiten entgegenführen soll. Demos aber, ganz als alter Depp gezeichnet, nimmt all dies für bare Münze 4 und sieht sich schon als Herr von ganz Griechenland. Nur die Ritter, die den Chor bilden, sind skeptisch und artikulieren all den Groll, den Aristophanes selbst gegenüber dem demokratischen und imperialistischen Athen seiner Zeit 5 hegte, weil es sich einem dahergelaufenen Demagogen wie Kleon unterworfen hatte, denn der Chorführer beginnt das letzte Standlied des Chores mit den Sätzen: »Schlechte Bürger zu verspotten, ist gewiß nicht tadelnswert, Hohn auf sie ist Lob der Guten, wenn man recht es will verstehn. Wäre nur der Mensch bekannter, den ich jetzo geißeln muß, Bräucht’ ich nicht an einen Namen guten Klangs ihn anzureihn! (…) Nie, wenn er ein ordinärer Schuft und Lump und Spitzbub wär’, Nennt’ ich ihn; doch neue Greuel hat die Bestie aufgebracht! Seine eigne Zunge schändet er mit ekelhafter Lust, In Bordellen leckt er züngelnd auf den geilen Hurenschleim,

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Attische Lachkultur I: Die Alte Komödie

Mit dem Abschaum wüster Wollust, pfui, beschmiert er sich den Bart, (…) Diesen Lotterbuben, dieses Scheusal – wer ihn nicht verflucht, Fluch ihm selbst! Aus einem Becher trinken soll er nie mit uns!« 6

Das dramaturgische Gegenstück zu dieser Verfluchungs-Arie findet sich im zweiten Bild, in dem der Chor das Lied anstimmt: »Tag der Freude, des Jubels für Alle, die hier versammelt sind, Alle, die erst noch kommen, wenn Kleon fällt, der Verhaßte!« 7

Noch drastischer drückt der Bauer Dikaiopolis in den Acharnern seine Haltung zum Krieg aus, indem er sich mit der Feder vom Helmbusch des athenischen Kriegshelden Lamachos im Hals kitzelt und dann dessen Helm vollkotzt, weil er diesen ganzen Krieg überhaupt zum Kotzen findet. Dieser Bauer mit dem sprechenden Namen Dikaiopolis, »der mit seiner Stadt so umgeht, wie es sich gehört«, fungiert hier ganz als Sprachrohr des Autors Aristophanes und erfüllt außerdem konsequent das Rollenfach des Bomolochos, also des unflätigen Possenreißers, der alles dürfen darf und in seinem rüden Verhalten und mit seinen analerotischen Späßen den Krieg der Athener auf seine Weise durch ein Wettsaufen überbietet und dadurch lächerlich zu machen sucht, und deshalb schließt er eben seinen eigenen privaten Frieden mit Sparta. Die athenischen Kriegstreiber Kleon und Lamachos sind für ihn nur Memmen, Schwuchteln und Tunten, also »Schwanzlutscher und Arschfotzen«8. Natürlich war Aristophanes kein Pazifist 9 im heutigen Sinn, also kein prinzipieller Kriegsgegner, sondern war nur entschieden gegen diesen bestimmten Krieg gegen Sparta, den er als innergriechischen Bürgerkrieg für ganz und gar verhängnisvoll hielt. Und damit hat er ja auch recht behalten. Im Lichte dieser hemmungslosen Polemik, die Aristophanes gegen die athenische Kriegspartei betrieb, ist es völlig unverständlich, wie Hegel in seiner Ästhetik 10 behaupten kann, Aristophanes habe seine Komik »zornlos, in reiner, heiterer Lustigkeit gehandhabt« (II,492), und dann das Kennzeichen der wahren Komödie daran mißt, 89 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

»ob nämlich die Torheit und Einseitigkeit der handelnden Personen nur für andere oder ebenso für sie selber lächerlich erscheint, ob daher die komischen Figuren nur von den Zuschauern oder auch von sich selbst können ausgelacht werden. Aristophanes, der echte Komiker, hatte nur dies letztere zum Grundprinzip seiner Darstellung gemacht.« (II,583)

Dann verweist Hegel voller Tadel auf die Nachfolger des Aristophanes bis herauf zu Molière und moniert an deren Intrigen-Komödien, sie würden ihre Helden nur lächerlich zeigen, aber nicht wirklich komisch 11, denn deren Helden könnten, »wenn sie am Ende (…) betrogen werden oder sich selbst zerstören, nicht frei und befriedigt (also mit sich selbst versöhnt) mitlachen, sondern sind bloß die geprellten Gegenstände eines fremden, meist mit Schadenfreude gemischten Gelächters« (II,583). »Eine so franke Lustigkeit aber, wie sie als stete Versöhnung durch die ganze Aristophanische Komödie geht, belebt diese Art der Lustspiele nicht.« (II,584)

Da möchte man schon gerne wissen, wie versöhnt Kleon mit seinem Portät in den Rittern gewesen sein dürfte und wie »heiter versöhnt« er darüber gelacht haben mag. Wer heute die frühen Komödien des Aristophanes liest, wird sich wohl schwer tun, diese auch nur annähernd so komisch zu finden wie Hegel sie gefunden zu haben scheint oder wie das zeitgenössische athenische Publikum sie wohl gefunden haben dürfte. Das liegt aber nicht an der Qualität der Übersetzungen, sondern daran, daß die dort behandelten Konflikte nicht mehr die unseren sind, denn wir befinden uns mit dem auftretenden Personal in keiner gemeinsamen emotional gespannten »tiefenhaften Situation«, und selbst wenn wir die historische Situation im damaligen Athen sehr genau kennen, stellt sie sich uns nur als »breitenhafte Sachlage« 12 dar, die sich vor uns entfalten läßt, ohne daß sie uns wirklich berühren oder betroffen machen könnte. Mit einem Wort: Die politischen Witze des Aristophanes wirken auf uns ähnlich schal wie die politischen Witze über einen Diktator im fernen Honduras, der uns genauso wenig angeht wie der Demagoge Kleon oder der Feldherr Lamachos. Beide haben keinen Sitz in unserem Leben, gegen keinen von beiden müssen wir uns wehren, und deshalb können wir gegen keinen von beiden auch nur einen Hauch von Scha90 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Attische Lachkultur I: Die Alte Komödie

denfreude empfinden, die uns dazu bringen könnte, sie auszulachen, wenn auf ihre Kosten Witze gemacht werden. Die Komödien des Aristophanes könnten uns hier und heute nur dann zum Lachen bringen, wenn man nicht nur deren Text auf uns übertragen könnte, sondern auch die damals aktuelle politische Situation, in der sie geschrieben, aufgeführt und belacht wurden. Dies erklärt z. B. den Umstand, daß ein Stück wie Büchners Leonce und Lena in der alten DDR regelmäßig schallendes Gelächter hervorrufen konnte, in der Bundesrepublik hingegen nicht, weil, wie ich selbst erlebt habe, das DDR-Publikum im Reich Popo die DDR, im dämlichen König Peter den allmächtigen Erich Honecker, im Staatsrat den eigenen Staatsrat, in den Proben zum VivatRufen die Akklamationsorgien des eigenen Regimes erkennen und verlachen konnte und bei dem Satz, die Welt sei doch so unendlich weit, immer an die Mauer denken mußte, hinter der man eingeschlossen war. Die Aktualität dieses Stücks als bissige Komödie konnte aber nur deshalb empfunden werden, weil in der DDR damals ähnliche Zustände herrschten wie in der Metternich-Zeit, auf die hin Büchner sein Stück geschrieben hatte, und die den entsprechend gespannten »Gefühlsstau« 13 lieferten, den eine Aufführung dieses Stücks braucht, um als Komödie wirken zu können, indem man sich den Gefühlsstau vom Hals lacht. Dies gelingt aber immer nur für Momente und nur während der Aufführung, denn die politischen Verhältnisse selbst ändern sich dadurch in keiner Weise, und der Gefühlsstau dem Regime gegenüber stellt sich sofort wieder ein, sobald man das Theater verlassen hat, und dies kann in Athen zur Zeit des Aristophanes auch nicht anders gewesen sein, denn Aristophanes ist es eben gerade nicht gelungen, seinen politischen Gegner Kleon politisch zu vernichten. Wenn man die Dramaturgie der aristophanischen Komödie mit der marxistisch orientierten Komödientheorie vergleicht, stößt man sofort auf verblüffende Analogien. So stellt z. B. Georgina Baum in ihrem Pamphlet Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik (1959) die These auf, »daß – im Gegensatz zu den idealistischen Entstellungen – das Komische seinem Wesen nach historisch-gesellschaftlich bedingt ist und parteilich kritischen Charakter trägt.« 14

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Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

Daraus leitet sie dann in engster Anlehnung an Marx und in strikter Absetzung von Hegel die weitere These ab, daß nur die Komödien ihrer Aufgabe gerecht werden, die als Mittel im Klassenkampf eingesetzt werden können, denn: »Die Anmaßung einer geschichtlichen Erscheinung kann in der Realität nicht zur Versöhnung führen, sie wird vielmehr als komisch (sie meint: als lächerlich) erkannt, sie wird verlacht, und dieses Lachen ist der Anfang vom Ende, die geschichtliche Erscheinung wird (durch Verlachen) vernichtet und lachend zu Grabe getragen.« (S. 20)

Ganz anders als die dogmatische Marxistin Georgina Baum beurteilt der Altphilologe Niklas Holzberg das Lachtheater des Aristophanes, denn die zentrale These seiner Studie lautet: »Die Bühne des Aristophanes bot sehr wahrscheinlich kein AgitpropTheater; vielmehr dürfte das Element des Beschimpfens und Auslachens von Mitbürgern als Mittel einer Komik eingesetzt worden sein, die, aus älteren Formen komischen Sprechens 15 entwickelt, allein der Belustigung des Publikums dienen sollten.« (S. 19 f.)

Denn: »Der Angegriffene ist nicht als Individuum, sondern als Typ gemeint.« (S. 19)

Ganz ähnlich argumentiert Isolde Stark, wenn sie in ihrer Studie über den szenischen Spott als soziale und mentale Kontrolle in der griechischen Komödie zu dem Ergebnis kommt: »Die erhaltenen Komödien des Aristophanes sowie die Fragmente, Titel und überlieferten Bemerkungen zu Inhalten seiner nicht vollständig überlieferten Komödien und zu denen anderer Dichter zeigen, daß die politisierte Komödie bestimmte Typen und Sujets immer wieder variierte: den feigen Strategen, den selbstsüchtigen Demagogen oder gar das politisch inkompetente Volk selbst. Auf den ersten Blick scheint es sich hier um eine unbeschränkte Selbstverspottung des demos von Athen zu handeln. Die Kriterien von Scham und Ehre, über die sich die Adelsgesellschaft und die Dorfgemeinschaft in der Archaik definierten, und die für die Politengemeinschaft der verfaßten Polis ebenso konstitutiv waren, scheinen in der politischen Satire der gewandelten Komödie außer Kraft gesetzt zu sein. In den politischen Komödien wurden Symbolgestalten des demos oder Figuren mit realen Vorbildern Handlungen unterstellt, die in der Wirklichkeit z. B. Atimierung (Ehr-

92 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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verlust) oder gar die Todesstrafe nach sich gezogen hätten. Das hieße, diese Komödienfiguren wären in asymmetrischer Weise ausgegrenzt (von oben aggressiv verlacht) worden, wie es in der asozialen Typenkomödie nur dem uneinsichtigen (sich selbst verkennenden) Mitbürger, dem sozialen Außenseiter mit Bürgerstatus oder auch den Figuren passieren konnte, die schon von ihrem Status her (Fremde und Sklaven) keine Symmetrie (also kein heiteres unaggressives Belachen auf Augenhöhe) beanspruchen konnten. (…) Die kollektive time (Würde und Selbstachtung) des demos als herrschende Elite setzte dem Spott über sich selbst offensichtlich enge Schranken.« (S. 317)

Hier stellen sich sofort zwei Fragen: Werden in den politischen Komödien des Aristophanes bestimmte komische Rollenfächer vorgeführt, die dann z. B. die Namen Kleon oder Lamachos bekommen, oder werden konkrete Personen des politischen Lebens wie Kleon oder Lamachos auf die Bühne gebracht und dort der Lächerlichkeit preisgegeben, indem man sie auf traditionell komische und lächerliche Typen und Rollenfächer festlegt und dementsprechend szenisch agieren läßt, also z. B. als Bramarbas-Typ, als ruhmsüchtigen Kriegstreiber und Kriegsheld, der sich bei Gefahr sofort in die Hosen scheißt? Oder anders formuliert: Ist die Bühnengestalt Kleon für Aristophanes und sein Publikum identisch mit dem Politiker Kleon, kann sie es sein und soll sie es sein? Für Niklas Holzberg und Isolde Stark sollte sie es offensichtlich nicht sein, doch kann ich beiden hier nicht so recht folgen, denn Aristophanes hätte ja auch einen Bramarbas-Typ mit einem frei erfundenen, eventuell auch mit einem sprechenden Namen erfinden können, hinter dem das Publikum eine konkrete Person des öffentlichen Lebens hätte erahnen können. Genau dies hat er aber nicht getan, denn die Dramaturgie seiner frühen politischen Komödien verfährt genauso wie der heutige politische Witz, der die lächerlich zu machenden politischen Akteure gnadenlos beim Namen nennt und ihnen all die Eigenschaften aus dem Repertoire der klassischen Typen-Komödie zuschreibt, die sie als besonders lächerlich wirken lassen, sodaß sie ebenso arrogant wie dämlich und ebenso ruhmsüchtig wie feige erscheinen. Und daraus ergibt sich schon die zweite Frage, welche Art von Gelächter hier wohl beabsichtigt ist. Die Antwort kann nur lauten: 93 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ganz wie beim politischen Witz wird auch in den politischen Komödien des Aristophanes die komische Situation und das komische Verhalten der Bühnengestalt belacht, die dahinterstehende und damit lächerlich gemachte konkrete politische Person hingegen verlacht. Trägt die Bühnengestalt aber außerdem auch noch den Namen einer konkreten politischen Gestalt des öffentlichen Lebens, so werden konkretes Vorbild und szenisches Abbild zugleich verlacht. Das war wohl auch das Ziel, das Aristophanes mit seinen politischen Komödien verfolgte. Doch damit ist er bekanntlich gescheitert, denn die Macht des Demagogen Kleon wurde durch ihn nie wirklich beeinträchtigt oder gar gebrochen. Aber warum nicht? Da die Alte Komödie des Aristophanes sich als Waffe im tagespolitischen Meinungskampf verstand und ihre Mittel darin bestanden, den verhaßten politischen Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben, mußte sie für diese Dramaturgie des Lächerlichmachens so viel an Witz und Komik investieren, daß mit und in dem Lachen über den lächerlich gemachten politischen Gegner zugleich auch der Zorn oder Haß auf ihn mit weggelacht wurde und gleichsam uroborisch »verrauchte«. Genau an dieser Paradoxie, an der jede Art von Theater scheitert, die eine direkte tagespolitische Wirkung erstrebt, scheiterte letztlich auch die aristophanische Komödie, da auch sie die gattungsimmanente Effektivitätsgrenze des politisch engagierten Theaters nicht überspringen konnte: Je vergnüglicher ein solches Theater ist und je komischer die lächerlich gemachten Gestalten wirken, desto durchschlagender ist auch die tagespolitische Wirkungslosigkeit einer solchen Art von Theater, und deshalb mag Kleon vielleicht doch über die Komödien des Aristophanes gelacht haben, mit dem man ihm den Prozeß machen wollte, wenn auch ganz anders als Hegel sich dies wohl vorgestellt hat. Daß Aristophanes selbst sich dieser Problematik bewußt gewesen sein dürfte, zeigt ein Blick auf seine Wespen von 422, mit deren Handlung er die damals in Athen wie eine Epidemie grassierende Prozessiersucht aufgreift, weil ihm die darin sichtbar werdende Streitsucht als innenpolitische Variante der athenischen Kriegslüsternheit erschien. In dem Stück versucht ein gewisser Bdelykleon (»Kleonhasser«), seinen Vater Philokleon (»Kleonfreund«) von sei94 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ner manischen Prozessiersucht zu heilen und dadurch wieder zur Vernunft zu bringen, und steckt ihn deshalb in seinem eigenen Haus hinter Schloß und Riegel. Doch dem Alten gelingt es immer wieder, sich zu befreien und weiter zu prozessieren, ja sogar selbst den Richter zu spielen. Nachdem er sich aber in einem grotesken Prozeß zwischen zwei Hunden als Richter kräftig blamiert hat und endlich bereit ist, das Prozessieren zu lassen, packt ihn aber schon wieder eine neue Sucht: Nun kann er das Tanzen nicht mehr lassen, das er natürlich genauso wenig beherrscht wie das Prozessieren, und mit dem er sich auch genauso lächerlich macht. Er kann einfach nicht vernünftig werden, eine Katharsis dieses grotesken Helden will und will nicht gelingen, weil er nur eine Sucht gegen eine andere vertauscht und deshalb keine von beiden los wird. Wäre er endlich mal geläutert, gäbe es für den Zuschauer aber auch nichts mehr zum Lachen und die Komödie wäre am Ende. Obwohl Aristophanes in der Komödie Die Wespen also deutlich anklingen läßt, daß er an die unmittelbare tagespolitische Wirkung seiner Komödien letztlich doch nicht so recht glauben konnte, ist dieses Stück keineswegs als ein Dokument politischer oder ästhetischer Resignation zu lesen, denn wenn in dieser Art von politischem Theater der Zorn auf den politischen Gegner im Lachen über ihn mit verraucht, so ist dies doch wohl ein expliziter Prozeß ästhetischer und politischer Katharsis, eine uroborische Abfuhr der auf den politischen Gegner gerichteten mörderischen Affekte Zorn und Empörung durch das Lachen auf Kosten eben dieses politischen Gegners. Und genau damit hatte die politische Komödie des Aristophanes trotz aller direkten tagespolitischen Wirkungslosigkeit sehr wohl eine politische Wirkung, aber nur sehr langfristig und sehr indirekt, indem sie in Athen eine Katharsis der politischen Atmosphäre bewirkte, ohne die eine Demokratie nicht existieren kann, da sie auf allerlei Formen öffentlicher, aber gewaltfreier Beratung existentiell angewiesen ist. So gesehen hat Aristophanes der athenischen Demokratie doch wieder einen Dienst erwiesen, obwohl er sie im Grunde wohl eher verachtete. Das Verdienst des Aristophanes bestand also darin, mit seinem politisch engagierten Lachtheater in Athen eine Atmosphäre zu schaffen, die genau dem entspricht, was Platon in seinem Phile95 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bos-Dialog als paidikos phthonos bezeichnet, als »Konkurrenzsorge« (Gadamer) diesseits oder jenseits von manifester Gewalt, als gleichsam »weichgespülte« beherrschte Aggressivität »mit angezogener Handbremse«. Denn wer in der politischen Komödie ein kulturelles Instrument zur Verfügung hat, mit dem er den politischen Feind oder Gegner mit allerlei theatralen Mitteln dem höhnischen Gelächter preisgeben kann, hat damit auch die Möglichkeit, die gesellschaftsimmanente Aggressivität zumindest einigermaßen einzudämmen und den allfällig drohenden Bürgerkrieg aller gegen alle zu vermeiden. Mit einem Wort: Wer den politischen Gegner verlachen kann, muß ihn nicht gleich töten, um ihn politisch zu vernichten. Der innerathenische Bürgerkrieg kam dann aber doch noch, als die athenische Kriegspartei vollends dem Größenwahn verfiel und mit dem sizilianischen Abenteuer von 415 den Griff nach der Weltmacht wagte. Euripides warnte davor mit seiner Tragödie Die Troerinnen, Aristophanes mit seiner Komödie Die Vögel, in der er zu dem resignierten Schluß kam, den Athenern sei einfach nicht mehr zu helfen. Und dann kam es in Sizilien tatsächlich zur Katastrophe, der Krieg gegen Sparta ging verloren, Athen mußte kapitulieren, die Machtverhältnisse in Athen wandelten sich mehrfach grundlegend, und mit diesem Ende der Demokratie war auch die Alte Komödie an ihrem Ende angelangt: Sie wurde einfach nicht mehr gebraucht, da die für Athens Schicksal entscheidende Politik nicht mehr in Athen selbst entschieden wurde, denn nun war Athen unter die Hegemonie auswärtiger Mächte geraten und das Theater konnte überhaupt keine politische Funktion mehr übernehmen. Die Komödie als Kunstform und Lachtheater gab es zwar noch, aber diese Mittlere Komödie nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges ab 404 hatte nun andere Themen, und auch ihr Ton hatte sich geändert: Sie wurde unpolitischer, privater, gemäßigter, weniger derb und obszön, aber auch komischer, weil es nun nicht mehr darum ging, in den politischen Meinungskampf direkt einzugreifen und den politischen Gegner lächerlich und dadurch wieder unschädlich zu machen, sondern »nur« noch darum, komische Konstellationen des alltäglichen Lebens darzustellen, über die jeder, und nicht nur der Parteigänger des eigenen Lagers, lachen konnte. 96 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Somit liegt im Werk des Aristophanes die Grenze zwischen der Alten und der Mittleren Komödie in etwa zwischen den Stücken Lysistrata von 411 und Ekklesiazusen von 392 und fällt somit in etwa zusammen mit dem Ende von Athen als regionaler Großmacht. In Lysistrata wird von den Athenerinnen der Ehestreik ausgerufen, sodaß die kriegslüsternen Männer weder auf dem Feld der Ehre noch im ehelichen Bett ihre Männlichkeit zu beweisen und deshalb vor lauter Hodenkoller nicht mehr ein noch aus wissen, weil sie nun vollauf damit beschäftigt sind, ihre allzu prallen Erektionen zu bekämpfen. Das ist nun wahrlich eine komische Situation, und da diese Situation auch noch allzumenschlich ist, konnte Aristophanes auch darauf verzichten, in diesem Stück konkrete Gestalten des öffentlichen Lebens auf die Bühne zu bringen. Es ist auch kein Zufall, daß gerade dieses Stück auch heute noch in den verschiedensten Übersetzungen und Bearbeitungen16 gespielt wird, weil diese Art von Komik in keiner Weise zeitgebunden ist und ohne jeden Bezug auf konkrete Personen des öffentlichen Lebens auskommt. In den Ekklesiazusen wird dargestellt, wie die Athenerinnen den Versuch unternehmen, Staat und Gesellschaft in ihre Hand zu bekommen und durch radikale Gleichmacherei nach dem »kommunistischen« Prinzip »alles für alle« umzustülpen, was ebenfalls eine Fülle komischer Situationen stiftet. Was in der Komödie des Aristophanes als Impuls erhalten bleibt, ist die strikte Unterscheidung zwischen Lach-Tätern und Lach-Opfern, denn szenisch organisiert wird auch in dieser Mittleren Komödie immer noch das Auslachen-von-oben. Hatte Aristophanes in den Rittern einst den demokratischen Demagogen Kleon aus der Sicht der alten Aristokratie von oben herab abgekanzelt und lächerlich gemacht, weil er sich anmaßte, im Namen aller Athener zu handeln und gegen Sparta Krieg zu führen, und hatte er in Lysistrata die athenischen Frauen gegen die radikale demokratische Kriegspartei als Verbündete seiner eigenen Politik zu gewinnen gesucht, so kanzelt er nun nach dem Ende des Krieges auch die ihm einst so willkommenen athenischen Frauen als wirrköpfige Emanzen ab, die in wahnhafter Selbstüberschätzung sich anmaßen, 97 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die »natürliche gottgegebene« Ordnung der Welt umzustürzen, und gibt sie dem parteiübergreifenden Gelächter aller Männer preis. Doch aus dem beißenden Auslachen ist ein fast schon heiteres geworden, weil der Geschlechterkampf eben doch nicht so erbittert geführt wird wie der politische, aber ein überlegenes Auslachenvon-oben ist es geblieben. Hier konnte Platon ansetzen und hat es auch getan, indem er seine Theorie des Lachens und der Lächerlichkeit in enger Anlehnung an die Komödie des Aristophanes entwickelt und Lachkultur als Streitkultur verstanden hat, durch die die Frage zu klären ist: »Wer wen?« 2.2.2 Die Verlagerung der Gefühle in die Seele Bevor wir jedoch auf Platons Ausführungen über das Lachen im einzelnen eingehen, ist es sinnvoll, erst auch die ideologischen Voraussetzungen aufzuzeigen, die Platons Blick auf das Phänomen Lachen prägten, denn Platons Auseinandersetzung mit dem Thema Lachen vollzog sich zu einer Zeit, in der das europäische Menschenbild tiefgreifenden Umdeutungen unterworfen wurde, und in diesem Prozeß nahm Platon eine Schlüsselstellung ein. Dieses neue durch Platon und die griechischen Tragiker entworfene Menschenbild, das das homerische Menschenbild ablösen sollte, könnte man als »aktivistisch« oder »faustisch« bezeichnen und beruht auf dem Glauben, am Anfang von Selbsterfahrung und Weltbezug stehe nicht etwa das Widerfahrnis, sondern allemal die entschlossene Tat als Umsetzung einer souveränen Entscheidung. Im Gegensatz dazu empfand sich der Mensch der homerischen Ilias als ergriffen und beherrscht und oft genug auch als geradezu überwältigt von Eingebungen, Gefühlen und Gelüsten, die ihm von Göttern, Dämonen und Atmosphären auferlegt waren und sein Verhalten bestimmten. Etwas überspitzt könnte man sagen, kein homerischer Held der Ilias sei im modernen Sinne »voll zurechnungsfähig« 17. Diese Durchlässigkeit für das Göttliche und Dämonische bezeichnet Hermann Schmitz, an dessen Ausführungen ich mich hier 98 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Verlagerung der Gefühle in die Seele

orientiere, als Folge einer »zentralen Ichschwäche« der homerischen Helden und beschreibt diese folgendermaßen: »So wie im Menschen Hunger und Schmerz aufsteigen und von der Person Besitz ergreifen, statt von ihr gesteuert zu werden, so steigt das Göttliche und sein Gebot im homerischen Menschen auf, wenigstens in manchen Situationen, neben denen auch Szenen einer mehr partnerschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Mensch und Gott vorkommen. (…) Die festgestellte zentrale Ichschwäche des homerischen Helden ist nämlich nicht einfach seine Idiosynkrasie, sondern ein Phänomen, das in freilich wechselnden Graden immer vorhanden ist und nur in moderner Zeit durch ›faustische‹ Wunschträume von Philosophen, Dichtern und anderen Menschen aus dem Bewußtsein verdrängt wird.« 18

Daß auch wir selbst, genau wie homerische Helden, in manchen Situationen von Jähzorn, Haßausbrüchen oder eben auch von Lachanfällen geradezu überwältigt werden können, wird jeder aus eigener Erfahrung wissen. Der Unterschied zwischen uns und den homerischen Helden besteht jedoch darin, daß wir, wenn wir von dergleichen leiblichen Regungen ergriffen werden, dies nicht irgendwelchen Göttern oder Dämonen oder gar dem christlichen Teufel oder sonst irgendwelchen Mächten zuschreiben, sondern bestimmten tief in unserem eigenen Inneren lokalisierten Gefühlen, die in solchen Situationen aus unserem Inneren nach außen durchbrechen und sich Ausdruck erzwingen. Das leitende Motiv für diese Verlagerung der Gefühle in unser eigenes Innere dürfte der Wunsch gewesen sein, die Gefühle, die man empfindet, auch als etwas Eigenes anzusehen und dementsprechend auch als etwas mehr oder weniger Verfügbares, letztlich also der Wunsch, Herr im eigenen Haus zu sein. Diese Entwicklung zur Ideologie der tendenziellen Verfügbarkeit emotionaler Regungen zeigt sich ansatzweise schon in der Odyssee 19, wenn z. B. der endlich heimgekehrte Odysseus, dem beim Anblick der Freier der im Herzen lokalisierte Zorn zu übermannen droht, sich Beherrschung und Besonnenheit verordnet, ganz im Gegensatz zum Achill der Ilias, der in einer vergleichbaren Situation sicher sofort drauflos geschlagen und nicht erst sein Herz beruhigt hätte: 99 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

»Im Innersten bellte sein Herz ihm: So wie die muthige Hündin, die zarten Jungen umwandelnd, Jemand, den sie nicht kennt, anbellt, und zum Kampfe hervorspringt; Also bellte sein Herz, durch die schändlichen Gräuel erbittert. Aber er schlug an die Brust, und sprach die zürnenden Worte: Dulde, mein Herz! Du hast noch härtere Kränkung erduldet. (…) Also strafte der Edle sein Herz im wallenden Busen; Und sein empörtes Herz ermannte sich schnell, und harrte Standhaft aus. Allein er wandte sich hiehin und dorthin, (…) bekümmert: Wie er den schrecklichen Kampf mit den schamlosen Freiern begönne, er allein mit so vielen.« (XX, 13–31)

Aber dann taucht sein »Schutzengel« Pallas Athene auf, erlöst ihren Schützling aus seinem Schwanken und gibt seinem Willen eine eindeutige Richtung. Dazu wieder Hermann Schmitz: »Diese Rationalisierung der Theologie in der Odyssee hängt offenbar eng mit dem beschriebenen Wandel der Anthropologie zusammen: Das Unberechenbare, Spontane der leiblichen und göttlichen Impulse und die ihnen entsprechende Durchlässigkeit der Person werden durch deren sich behauptende Selbstkontrolle verdrängt, und diese Selbstkontrolle wirkt sich gegen die impulsgebenden Mächte als Distanzierung aus, die diese Mächte in übersichtliche, gegenständliche Verfügbarkeit um sich herumstellt.« 20

Als Zentralinstanz und Organ eben dieser Selbstkontrolle fungiert in diesem neuen, heute noch weitgehend akzeptierten anthropologischen Modell die sogenannte Seele, die von den nachhomerischen Anthropologen allerdings erst eigens erfunden werden mußte: »Im 5. Jahrhundert vollzieht sich ein radikaler Wandel im Selbstverständnis menschlichen Erleben 21 ein Wandel, der der Folgezeit bis zur Gegenwart das Gepräge gegeben hat: Das bis dahin als vielstimmiges Konzert überwiegend leiblicher Antriebe und Weisen des Betroffenseins verstandene Erleben wird von jetzt ab viel strenger zusammengefaßt in eine einzige Heimstätte, die Seele oder psyche, die die Rolle des personalen Ich zu übernehmen beginnt, aber von sich aus nicht notwendig leiblichen Charakter und ein leibliches Lokal besitzt.« 22

Diese »tief innen«, aber »ganz oben« in uns thronende Seele, der Platon zudem auch noch Unsterblichkeit zuspricht 23, wird nun als 100 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Verlagerung der Gefühle in die Seele

»Heimstatt, Organ oder gar als eigenes Wesen der emanzipierten Person« 24 angesehen und dem sterblichen Körper als Herrscher und Zuchtmeister zu- und übergeordnet. Der Schlüsseltext für die Einpflanzung einer so verstandenen Seele in den Menschen ist Platons Politeia, ein Werk, das nicht nur als Staats- und Gesellschaftsmodell zu lesen ist, sondern zugleich auch als Entwurf einer neuen integralen Anthropologie, in deren Zentrum wiederum ein Modell der menschlichen Seele steht. Beide Denkmodelle, das politisch-gesellschaftliche und das psychologisch-anthro-pologische, sind strikt aufeinander bezogen und müssen somit immer zusammen gesehen und beurteilt werden. Bekanntlich besteht Platons hierarchisch aufgebautes Staatswesen aus drei Klassen, aus einigen wenigen Herrschern (Archonten), vielen Wächtern (Phlyaken) und der großen Masse der körperlich arbeitenden Bauern und Handwerker (Demiurgen). Das Vorbild für dieses Staatswesen ist, deutlich erkennbar, der Stadtstaat Sparta, also alles andere als eine Idylle. Deshalb entwirft Platon sein Staatswesen auch nicht als allseitig befriedete Utopie, sondern als eine Klassengesellschaft, die von starken Spannungen und latentem Aufruhr geprägt und ständig vor die Frage gestellt ist: Wer wen? Und das heißt: Wer beherrscht wen? Aber auch: Wer schüttelt wen ab? Und vor allem: Wer zieht die mittlere Klasse der Wächter auf seine Seite, die Archonten oder die Demiurgen? Genau analog ist laut Platon auch die menschliche Seele aufgebaut, die ebenfalls aus drei hierarchisch einander zugeordneten Teilen besteht, die Platon durch einen Menschen als Analogon zu den Archonten, durch einen Löwen als Analogon zu den Wächtern und durch ein Untier als Analogon zu den arbeitenden Massen versinnbildlicht, und die die seelischen Vermögen Vernunft (logistikon), gezügelte Leidenschaft (thymoeides) und ungezügelte Begehrlichkeit (epithymetikon) repräsentieren. »Die mündige Person wird durch das logistikon vertreten; dieser Seelenteil vollbringt die Aufsicht über die ganze Seele, und das thymoeides soll diesem Organ der Selbstkontrolle untertan und dienstbar sein. Beide gemeinsam sollen das epithymetikon – das Meiste in der Seele – leiten und bewachen, damit es nicht durch die den Körper betreffenden Lüste so stark wird, daß es sich die Herrschaft anmaßt.« 25

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2.2.3 Das Besonnenheitsideal In der von Platon so beschriebenen Seele herrschen also nicht weniger Spannungen zwischen den oberen und unteren Seelenteilen als in dem von ihm entworfenen Idealstaat zwischen den oberen und unteren Klassen, und immer treibt Platon die Frage um: Gelingt es dem »Menschen im Menschen« in Zusammenarbeit mit dem »Löwen im Menschen« das »Untier im Menschen« unter Kontrolle zu halten? »Unter diesen Voraussetzungen spricht Platon das Grundprinzip seiner Ethik folgendermaßen aus: Ungerechtigkeit, Zügellosigkeit, Feigheit, Unbelehrbarkeit und überhaupt jegliche Schlechtigkeit ist Aufstand eines von der Natur zum Dienst bestimmten, aber Herrschaft sich anmaßenden Teils der Seele gegen ihr Ganzes mit daraus entspringender Verwirrung.« 26

All dies gilt laut Platon auch für das Lachen, das er als ein Vermögen sieht, das sich der Verfügungsmacht des »Menschen im Menschen« ständig zu entziehen droht und das er dementsprechend fürchtet. Oder anders und weiter zugespitzt formuliert: Unbändiges Lachen ist für Platon der jederzeit mögliche und jederzeit drohende Aufstand des Ungeheuers aus der Tiefe der menschlichen Seele gegen die Herrschaft der Vernunft, der nur durch äußerste Wachsamkeit und Vorsicht gegenüber den eigenen Regungen und denen aller anderen Mitbewohner des Staates verhindert werden kann. Dieser Horror Platons vor all dem, was »von unten« droht, dieser Höhenschwindel27 eines selbsternannten Archonten als Angst vor dem ständig drohenden Zusammenbruch aller Daseinsordnungen 28, dürfte seinen Grund wohl darin haben, daß auf Platons Politeia noch der Schlagschatten des Peloponnesischen Krieges und der damit verbundenen innerathenischen Bürgerkriege und Klassenkämpfe liegt, in die Platons Familie als Feinde der athenischen Demokratie und als Parteigänger Spartas 29 intensiv verwickelt war. Wir werden sehen, daß eine ganz ähnlich geartete Bürgerkriegsatmosphäre später auch die Theorie des Lachens von Thomas Hobbes geprägt hat. Allerdings muß man ausdrücklich betonen: Die von Platon behauptete Verfügbarkeit, genauer: die von ihm behauptete tenden102 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das Besonnenheitsideal

ziell totale Verfügbarkeit der uns heimsuchenden leiblichen Regungen ist nicht etwa ein von jedermann überprüfbarer empirischer Befund, sondern ein normatives Programm, das Platon nicht nur seiner Anthropologie, sondern seinem gesamten Denkwerk zugrunde legt, und deshalb wird dieses Prinzip der Verfügungsmacht des Menschen (vielleicht genauer: der Verfügungsmacht des Mannes) über sich selbst und damit über die Natur, die wir als leibhaftige Wesen selbst sind, einschließlich seiner Gefühlswelt zum ethischen Imperativ der Besonnenheit erhoben, der später von der Stoa und den christlichen Kirchenvätern bereitwillig übernommen wurde und an dem auch unser eigenes Verhalten heute noch gemessen wird. Auch wenn nicht jeder von uns die Radikalität des jungen Brecht besitzt, der sich nicht scheute, in sein Tagebuch zu schreiben: »Ich kommandiere mein Herz!« 30, gefallen wir uns wohl alle ein wenig in der selbstgefälligen Vorstellung, wir seien letztlich doch »Herr im eignen Haus«, wenn wir dies nur wirklich ernsthaft wollten. Aber allzuoft sind wir dies eben nicht und können es in bestimmten Situationen auch gar nicht sein, und deshalb sollten wir uns eher an Herder 31 orientieren, der in seiner Abhandlung Ueber Bild, Dichtung und Fabel (1787) gegen das wahnhaft aktivistisch verfügende Besonnenheitsdogma aus platonischer Tradition das unmittelbare sinnliche Erleben und damit den Widerfahrnischarakter des Lebens rehabilitiert und dabei zu dem Schluß kommt: »Der Zustand unsrer kalten Besonnenheit ist ein künstlicher, durch Erfahrung, Lehre und Gewohnheit allmählich erworbener Zustand, dessen Besitz uns völlig unerwarteten Fällen zu erhalten oft schwer wird.« (Bd. 29, S. 20)

Hermann Schmitz drückt es noch deutlicher aus, indem er gemäß seiner Anthropologie phänomenologisch ganz analog zu Herder zwischen »entfalteter Gegenwart« in kalter Besonnenheit und »primitiver Gegenwart« bei der Erfahrung des Plötzlichen unterscheidet: »Der wache, erwachsene, besonnene Mensch lebt in entfalteter Gegenwart. Als personales Subjekt steht er über dem Hier und Jetzt, an die er leiblich gebunden ist. (…) Das elementar-leibliche Betroffensein, das ihn z. B. in heftigem Schreck, in Angst, Schmerz und katastrophaler

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Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

Scham, im Orgasmus und allen panischen Zuständen in die Enge treibt und dem Plötzlichen ausliefert, läßt diese Entfaltung der Gegenwart schwinden. (…) Das personale Subjekt sinkt dann in sein Hier und Jetzt ein, die mit einander und mit ihm verschmelzen, und die Wirklichkeit packt den Betroffenen unmittelbar, ohne ihm eine Distanzierungsfähigkeit zu lassen; alle Eindeutigkeit schrumpft auf die Spitze des Plötzlichen zusammen, dem er ausgesetzt ist. Das ist primitive Gegenwart, die in allen Erschütterungen, die affektives Bewußtsein mobilisieren, näherrückt, dramatisch z. B. im Lachen und Weinen.«32

Herder schreibt sogar, daß die plötzliche Betroffenheit durch Affekte aller Art, »in unvermutheten Augenblicken uns alle noch zu Wilden macht« (Bd. 29, S. 20) und fügt an andrer Stelle hinzu: »Vor solchem Abgrunde dunkler Empfindungen, Kräfte und Reitze graut unsrer hellen und klaren Philosophie am meisten: sie segnet sich davor, als vor einer Höhle (Hölle) unterster Seelenkräfte.« (Bd. 8, S. 18)

Vor genau diesen Abgründen in uns selbst fürchtete sich offenbar auch Platon, denn so schmeichelhaft dieses platonische Menschenbild durch die Betonung von Autonomie, Mündigkeit, Selbstbeherrschung und Selbstbehauptung auch sein mag, weil sie uns das alles zutraut, und so viel Elan und Kreativität jeglicher Art diese Sollens-Ethik auch zu entfesseln vermag, weil sie so streng mit uns verfährt, so zeigt sich doch auch, schaut man etwas genauer hin, welch eine Hypothek man sich mit diesem platonischen Menschenbild aufgeladen hat, denn die dunkle Kehrseite dieses Besonnenheitsideals ist ein psychosomatischer Dualismus, durch den der Mensch in ein äußerst gespanntes Verhältnis zu sich selbst gerät. Platons Frage »Wer wen?« wird nämlich auch in die Person selbst verlegt und erscheint nun als die Frage, ob der Körper die Seele oder die Seele den Körper beherrscht, und diesen Streit versteht man seit Platon nicht als Rivalität zweier gleichrangiger Mächte um den Vorrang, sondern als Klassenkampf zwischen »oben« und »unten«, als Verteidigung und Behauptung einer von der Natur vorgegebenen Hierarchie von »oben« resp. als Aufstand gegen diese Hierarchie von »unten«. Der verzweifelte Kampf der sexuell frustrierten Möchtegern-Helden gegen ihren Hodenkoller in Lysistrata ist ein recht drastisches Beispiel für einen solchen »Aufstand 104 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platons Unbehagen an Gelächter aller Art

von unten«, der für Aristophanes aber nur eine Quelle komisch heiterer Konflikte ist. Für Platon ist das aber schon nicht mehr so komisch, und für die christlichen Apostel und Kirchenväter wie Paulus und Augustinus wird dieser tendenziell unverfügbare »Aufstand des Fleisches« sogar zu einem qualvollen Konflikt, den sie dem Christentum als schlimme Hypothek aufbürden werden. Die für unsere Fragestellung wichtigste und folgenreichste Konsequenz aber ist ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Lachen, insbesondre gegenüber dem unbeherrschten und tendenziell unbeherrschbaren Lachen, das explosionsartig aus uns herausbricht und somit ebenfalls als ein solcher unverfügbarer »Aufstand von unten« verstanden werden kann. 2.2.4 Platons Unbehagen an Gelächter aller Art Platon äußert sich eingehender über das Lachen an drei Stellen seines Werks: Einmal in der Politeia und dann in den beiden Dialogen Theaitetos und Philebos. Wir haben gesehen, daß Platons Idealstaat keine friedliche Idylle ist, sondern von den zwei Fragen umgetrieben wird: »Wer wen?« und: »Was droht?« Und so zieht sich durch das ganze Werk der Horror davor, daß in diesem Staat irgendwo irgendwas der Kontrolle entgleiten und sich dem Selbstlauf anheimgeben könnte. Deshalb gilt das Verbot, sich in irgendeiner Form gehen zu lassen, um so strenger, je höher jemand in dieser Hierarchie steht, am strengsten natürlich für die Herrscherschicht der Archonten und die Polizisten- und Soldatenschar der Phlyaken, denn wie sollte, laut Platon, jemand über andere herrschen oder Aufsicht führen können, der nicht einmal sich selbst beherrschen kann. Über die körperlich arbeitende Unterschicht der Demiurgen macht sich Platon weiter keine Gedanken, und über das Verhalten der Frauen sowieso nicht, wahrscheinlich deshalb, weil er der Meinung war, auf deren Verhalten komme es sowieso nicht an. Das Besonnenheitsdiktat gilt in Platons Staatswesen natürlich auch für den Umgang mit den Künsten, die Platon deshalb unter dem Kriterium prüft, inwieweit sie den von ihm erstrebten und 105 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

vorgeschriebenen Grad von Besonnenheit mehren oder mindern und die je spezifische charakterliche Ausrichtung der Mitglieder der einzelnen Stände zum Schaden des Ganzen verändern könnten, und deshalb liest sich das dritte Buch der Politeia wie ein Katalog literarischer Sünden, die rigoros der Zensur verfallen. Zu diesen literarischen Sünden zählt insbesondre die Darstellung von Gestalten, die von Angst und Schrecken, Jähzorn und Rachsucht und eben auch von unbändigem Gelächter, dem sprichwörtlich gewordenen »homerischen« Gelächter, übermannt werden, denn all das wirke, laut Platon, auf Hörer und Leser ansteckend und könne verheerende Folgen nach sich ziehen, die den Bestand des ganzen Staatswesens gefährden: »In bezug auf dieses und alles Derartige werden wir Homer und die anderen Dichter bitten, nicht böse zu sein, wenn wir es durchstreichen (d. h. durch die Zensur verbieten), nicht, weil es nicht dichterisch und für die Menge angenehm zu hören wäre, sondern weil, je dichterischer es ist, um so weniger es Kinder und Männer hören dürfen, die frei sein müssen und die Knechtschaft mehr fürchten als den Tod. (…) Wir aber fürchten für die Wächter, sie möchten uns infolge dieses Schauders zu hitzig und zu weichlich werden.« (Staat, 387B–C) »Aber auch nicht lachsüchtig soll man sein; denn wenn man sich heftigem Lachen überläßt, so zieht es gewöhnlich auch eine heftige Umwandlung nach sich. (…) Weder also, wenn jemand bedeutende Menschen vom Lachen überwältigt darstellt, darf man es gelten lassen, noch viel weniger aber, wenn er Götter so darstellt.« (Staat, 388E– 389A)

Dann verweist er rügend auf das Ende des ersten Gesangs der Ilias, wo Hephaistos einen Ehekrach zwischen Zeus und Hera zu schlichten und Hera zu beruhigen sucht, indem er warnend auf sein eigenes Schicksal verweist. Er war nämlich von Zeus im Jähzorn schon einmal aus dem Olymp geworfen worden, als er ihm gegenüber nicht unterwürfig genug gewesen war, und hatte sich bei diesem Sturz auf die Erde so schwer verletzt, daß er seitdem als Krüppel umherhinken mußte. Und dann übernimmt er wieder seine Rolle als olympischer Hordenclown, wuselt krummbeinig auf goldenen Krücken durch den Saal und fungiert beim Göttergelage als Mundschenk. 106 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platons Unbehagen an Gelächter aller Art

»Doch unermeßliches Lachen erscholl den seligen Göttern, Als sie sahn, wie Hefästos im Saal so ›gewandt‹ umherging.« (I,599 f.) 33

Platon dachte wohl auch an die bekannte Szene aus der Odyssee, in der Hephaistos wieder einmal das Lach-Opfer der anderen Götter ist. Dort wird dargestellt, wie die Götter sich über den Krüppel Hephaistos krummlachen, der den Ehebruch seiner Gattin Aphrodite mit Ares in flagranti durch eine sinnreiche Falle ans Licht gebracht hatte und sich nun bei seinem Vater und Schwiegervater über seine untreue Frau beschwert und den Brautschatz einklagt: »Vater Zeus, und ihr andern, unsterbliche selige Götter! kommt und schaut den abscheulichen unausstehlichen Frevel: Wie mich lahmen Mann die Tochter Zeus Aphrodite Jetzo auf immer beschimpft, und Ares den Bösewicht herzet; Darum weil jener schön ist und grade von Beinen, ich aber Solche Krüppelgestalt! Doch keiner ist schuld an der Lähmung, Als die Eltern allein! O hätten sie nimmer gezeuget! Aber seht doch, wie beid’ in meinem eigenen Bette Ruhn, und der Wollust pflegen! Das Herz zerspringt mir beim Anblick! Künftig möchten sie zwar, auch nicht ein Weilchen, so liegen! Wie verbuhlt sie auch sind, sie werden nicht wieder verlangen, So zu ruhn! Allein ich halte sie fest in der Schlinge, Bis der Vater zuvor mir alle Geschenke zurückgiebt, Die ich als Bräutigam gab für sein schamloses Gezüchte!« (VIII, 305– 320)

Auf dieses Geschrei hin erscheinen denn auch die Götter, wenn auch nur die männlichen, machen ihre rüden Witze über die beiden Sünder in der Falle und den gehörnten Ehemann und schlagen das homerische Gelächter an. »Jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, im Vorsaal; Und ein langes Gelächter erscholl bei den seligen Göttern, Als sie die Künste sahn des klugen Erfinders Hephästos.« (VIII,325– 327)

Aber wohlgemerkt: Platon findet diese Passage nicht etwa deshalb anstößig, weil er diesen »Ur-Schwank schlechthin«34 obszön findet oder weil es ihn empört, daß über einen Krüppel gelacht wird. Anstößig scheint ihm wohl eher zu sein, daß die Götter über einen 107 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ihresgleichen in der Rolle des Gehörnten lachen, weil sie mit diesem frivolen Gelächter die Fundamente ihrer eigenen patriarchalischen Herrschaft gefährden 35, und noch anstößiger, daß sie so hemmungslos und unbändig drauflos lachen und sich in ihrem Lachen genußvoll suhlen. Deshalb rügt er streng: »Wir dürfen das nicht durchgehen lassen.« (Staat, 389B) Ethisch entscheidend ist für Platon also nicht so sehr, was jemand tut, sondern ob er dabei auch weiß, was er tut, ob er also Herr seines Handelns ist oder nicht. Diese Frage wird z. B. im kleineren Hippias-Dialog ausführlich erörtert, wo Odysseus und Achill miteinander verglichen werden und Odysseus als der eindeutige Sieger dasteht, weil er sogar seine Betrügereien weit vorausschauend plant und mit kaltblütiger Besonnenheit auszuführen versteht. Platons Vorbild war auch hier wieder sein Lehrer Sokrates, der in seinen Dialogen seine Dialogpartner mit der Frage nervte, ob sie denn auch wirklich wüßten, was sie da sagen, wenn sie so reden, wie sie eben reden. An den von Platon als paradigmatisch herangezogenen Szenen aus der Ilias und der Odyssee sind verschiedene Aspekte bemerkenswert: Da ist zunächst die Asymmetrie der Lach-Situation. Es gibt Lachende und Belachte, Lach-Täter und Lach-Opfer, also die lachenden Götter und die mehr oder weniger wehrlosen Opfer Hephaistos, Ares und Aphrodite, auf deren Kosten gelacht wird und die deshalb auch nicht in das Lachen der andern mit einstimmen können. Das Lachen der Götter ist ein Auslachen, und damit ein ad personam adressiertes und fokussiertes Lachen und darüberhinaus auch noch ein aggressives, hämisch-höhnisches, mitleidloses und schadenfrohes Auslachen-von-oben, das die in die Wehrlosigkeit verstrickten Lach-Opfer noch wehrloser macht und sie noch weiter demütigt und erniedrigt. Die platonische Frage »Wer wen?« wird also lachend, und zwar durch Auslachen-von-oben beantwortet und folgt der Maxime: Wer unten ist, soll durch dieses Auslachenvon-oben noch weiter nach unten gestoßen werden! Seltsamerweise ist diese nicht besonders humane Form des Lachens in der lachanalytischen Literatur besonders häufig behandelt und oft genug, z. B. bei Augustinus, Hobbes, Bergson, Freud, und den ethologisch 108 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platons Unbehagen an Gelächter aller Art

orientierten Untersuchungen sogar zum Lachen schlechthin verallgemeinert worden. Das Lachen der Götter bricht nicht mit einem Schlag los und verebbt dann wieder, sondern wird durch mehr oder weniger grobe Scherze wie ein Feuer aufrecht erhalten und immer wieder aufs neue entfacht und gesteigert. Es bildet sich also eine »Lach-Meute« in Sinne Canettis 36, deren Aufmerksamkeit sich konzentrisch auf die drei Lach-Opfer als dem Ziel ihrer Intentionalität ausrichtet und dadurch wiederum ihre Meutenstruktur stabilisiert und weiter steigert. Obwohl diese allzumenschliche Lachmeute der Götter sich durchaus als Herr der Situation fühlt, gibt es in der Szene, genau gesehen, nur Lach-Opfer, weil eben auch für die Lachenden ihr hemmungsloses Lachen ein sie überwältigendes Widerfahrnis ist, dem sie genauso wehrlos ausgeliefert sind wie die Ausgelachten. Genau dies macht Platon ihnen bzw. dem Dichter ja auch zum Vorwurf. Man kann die in der Falle gefangenen Ehebrecher und den zeternden gehörnten Ehemann natürlich zum Lachen finden, und dieses Motiv ist in der Komödienliteratur seit jeher auch tausendfach verwendet worden. Man muß dies aber nicht, denn schon bei Homer lesen wir, daß nicht alle Bewohner des Olymps dieses makabre Schauspiel genossen, denn die Göttinnen blieben alle »vor Scham in ihren Gemächern« (VIII,325) und Poseidon lachte ausdrücklich nicht mit, sondern versuchte mit allen Mitteln, die beiden Sünder wieder frei zu bekommen. Dies macht deutlich, daß es etwas objektiv und zwingend Lächerliches nicht zu geben scheint, sondern daß Lachen allgemein und auch Auslachen im besonderen nur in einem vorgegebenen und akzeptierten Erwartungs- und Zumutbarkeitsrahmen erregt werden kann. Ist dieser Rahmen nicht gegeben oder nicht allgemein akzeptiert, so kann ein bestimmtes Geschehen bei dem einen Zeugen einen Lachanfall, beim andern nur ein leichtes Schmunzeln, beim dritten ein Achselzucken und beim vierten vielleicht sogar Ekel hervorrufen. Auf diesen »perspektivischen« Charakter des Lachens und des Lächerlichen, auf dem die Geschichtlichkeit und damit der historische Wandel des Lachens und des Lächerlichern beruht, werden wir im folgenden immer wieder einzugehen haben. Auch wenn Hephaistos, Ares und Aphrodite alle Lach-Opfer 109 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

sind, so sind sie doch auf sehr unterschiedliche Weise Opfer, denn Ares und Aphrodite gehen durch Leichtsinn in eine Falle, die ihnen ein Dritter gestellt hat, wohingegen Hephaistos sich selbst in eine Falle ganz anderer Art manövriert, die ihn der Lächerlichkeit preisgibt. Hier dürfte ein weiterer Grund dafür liegen, daß Platon ausgerechnet diese Szene ausgewählt hat, denn Hephaistos ist für Platon deshalb eine lächerliche Gestalt, weil er in völliger Verkennung der eigenen lächerlichen Situation meint, Zeus gegenüber als Ankläger auftreten zu können, der Aphrodites Brautschatz zurückfordern darf. Damit folgt Hephaistos einem Verhaltensmuster, anhand dessen Platon im Philebos-Dialog das Wesen des Lächerlichen generell entwickelt. 2.2.5 Gemischte Gefühle Die entscheidende Anregung für seine Analyse des Lächerlichen gewann Platon durch die Dialogtechnik seines Lehrers Sokrates, die auf einem ausgeklügelt boshaften, ironisch fundierten und asymmetrisch aufgebauten Rollenspiel beruht, das alle Züge eines Dominanzduells aufweist. Bei diesem »Einklang von Lachen und Inquisition« 37 begibt sich der Ironiker Sokrates in die Rolle des angeblich Schwächeren oder Dümmeren und weist damit seinem Dialogpartner die Rolle des vermeintlich Stärkeren oder Gescheiteren zu. »Ironie« heißt ja auch wörtlich »Selbstverkleinerung« oder »Kleinmacherei«. Geht der Partner auf dieses Spiel ein, und dies tut er so gut wie immer, weil die Rolle des vermeintlich Überlegenen zunächst ja auch ganz schmeichelhaft ist, verwickelt Sokrates ihn in eine Argumentationsintrige, die sich allmählich gegen den Dialogpartner richtet, ohne daß dieser es merkt, und in deren Verlauf dessen vermeintliche Überlegenheit mehr und mehr in die Brüche geht. Damit ist das Dominanzduell denn auch entschieden: Wer zunächst als klein erschien, hat sich als Sieger erwiesen, und wer sich überlegen glaubte, hat sich lächerlich gemacht. Sokrates hat dabei alle Züge eines notorischen Verführers und Fallenstellers, wie wir dies aus dem Rollenfach des Intriganten in den Komödien aller Völker und Zeiten kennen, dessen Ziel darin 110 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gemischte Gefühle

besteht, sein Opfer dazu zu bringen, freudig bereit an der Falle mitzubauen, in die er am Ende tappen soll, und je höher er in diesem asymmetrischen Dialog empor gestiegen ist, desto tiefer sitzt er dann in der Falle. Je größer aber die Fallhöhe, desto größer ist auch der Grad seiner Lächerlichkeit. In den frühen Dialogen ist das Kräftespiel und dementsprechend auch der Dialoganteil zwischen Sokrates und seinen Partnern in etwa ausgeglichen; in den späteren Texten schwindet diese Nähe zum Komödiendialog so gut wie ganz: Der Dialogpartner schrumpft zur Ein-Mann-Claque eines notorischen Jasagers – »Ja freilich doch, wie recht du wieder hast, wie könnt’s auch anders sein!« – und der sokratische Dialog degeneriert zu einem Vortrag, der nur noch durch einige zustimmende Einwürfe rein formal an einen Dialog erinnert. So auch im Philebos-Dialog. Dieser späte Dialog handelt in den Passagen, die für unsere Fragestellung wichtig sind, von dem seltsamen Phänomen der »gemischten Gefühle«, insbesondre von der Mischung von Lust und Unlust. Genau genommen sind Lust und Unlust eigentlich gar keine Gefühle, sondern Meta-Gefühle 38, bezeichnen also die Art und Weise, mit der wir bestimmten Gefühlen, Anmutungen und leiblichen Regungen begegnen, sie z. B. als angenehm annehmen oder als unangenehm abzuweisen suchen. Im Gefolge der Verlagerung der Gefühle in das Innere des Menschen wurden für Platon aber auch Lust und Unlust zu echten und sogar zu ganz zentralen Gefühlen: »Deswegen paßt es zur Introjektion, die die Gefühle – atmosphärisch einbettende und ergreifende Mächte – in Zustände der menschlichen Innenwelt (der Seele oder des Bewußtseins) umdeutet, wenn das Gefühl auf Lust (hedone) oder die zu dieser konträren Unlust (lype, odyne, ponos) reduziert wird.« 39

Den Unterschied zwischen Lust und Unlust sieht Platon darin, daß wir Unlust empfinden, wenn wir irgendwo naturwidrige Zustände wahrnehmen; ändern sich diese Zustände hingegen wieder und kehren in den Zustand der Vollkommenheit zurück, weil dieser Zustand der ihrer Natur entsprechend einzig wahre ist, so empfinden wir Lust. Lust und Unlust sind für Platon also nicht nur Gefühle (oder Meta-Gefühle), sondern normativ orientierte 40 Zustandsbewertungen. 111 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

In einem anderen Spätwerk, dem Timaios-Dialog, fügt Platon diesem Unterschied zwischen Lust und Unlust noch ein weiteres Kriterium hinzu, wenn er schreibt: »Ein wider unsere Natur und in gewaltsamer Weise auf uns ausgeübter starker und plötzlich entstehender Eindruck ist schmerzlich, und derjenige, welcher, ebenfalls stark und plötzlich, unser naturgemäßes Befinden wiederherstellt, ist angenehm.« (Timaios, 64C–D)

Auf diesen Gedanken, den Platon übrigens nicht für die Analyse des Komischen oder des Lachens nutzt, werden wir später noch öfters einzugehen haben, wenn wir die Beiträge von Thomas Hobbes, Franz von Baader, Erwin Straus und Hermann Schmitz zur Analyse des Plötzlichen zu behandeln haben. Die beiden Hauptgefühle Lust und Unlust können nun, laut Platon, jede für sich rein und unvermischt auftreten und die Seele beherrschen, die dann, je nachdem, mit sich und ihrer Natur im Einklang lebt oder auch nicht, sie können sich aber auch mischen, und vor allem gibt es für Platon auch den Seelenzustand, der völlig frei ist von Gefühlen, die die Besonnenheit (phronesis) einschränken könnten. Dieser affektiv neutrale Zustand der Seele ist für Platon der anzustrebende Idealzustand, die »göttlichste Lebensweise« (vgl. Philebos, 33B), die aber nicht einmal für Götter die selbstverständliche ist, denn auch die unsterblichen Götter können, wie wir gesehen haben, die Besonnenheit verlieren, sich einem allzumenschlichen Übermaß an Lust hingeben, indem sie z. B. das sprichwörtliche homerische Gelächter anschlagen. Um so mehr gilt dies natürlich für die sterblichen Menschen, die die Besonnenheitsmaxime »Nichts zu sehr!« (Philebos, 45E) nur allzugern mißachten und sich dadurch in extreme, ja geradezu krankhafte Grade von Lustund Unlustgefühle stürzen können und im Sinne Herders zu »Wilden« werden: »Das Treiben der Unbesonnenen und Ausschweifenden dagegen hält die bis zum Wahnsinn heftige Lust dermaßen fest, daß sie sie zum Aufschreien bringt, (…) ebenso aber auch die größten Unlustgefühle.« (Philebos, 45E)

Mit diesem Hinweis auf die Besonnenheitsmaxime »Nichts zu sehr!« ist Platon bei seinem eigentlichen Thema der gemischten Ge112 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gemischte Gefühle

fühle angelangt, denn die Besonnenheitsmaxime läßt sich selber auch verstehen als ein gefühlsimmanentes hemmendes Prinzip, gleichsam als eingebaute Sicherung, die den Besonnenen davor bewahren soll, von seinen eigenen Gefühle übermannt zu werden, und dadurch ist Platon grundsätzlich jedes Gefühl, das ein Mensch im Zustand der Besonnenheit empfindet, ein gemischtes, weil dann jedes Gefühl, und auch das angenehmste Lustgefühl, mit einer obligatorischen Unlust am Übermaß untermischt ist und dadurch in Schranken gehalten wird. Im Hintergrund dieses Besonnenheitsideals steht natürlich wieder Platons Modell der Seele aus der Politeia, wo der besonnene Mensch im Menschen in Zusammenarbeit mit dem Löwen im Menschen die Bestie im Menschen an der Kandare hält, vor der es Platon so sehr graut. Was aber versteht nun Platon unter einer Mischung aus Lust und Unlust? Und, weiter gefragt: Lassen sich Gefühle aller Art überhaupt mischen, wie man z. B. heißes und kaltes Wasser mischt oder verschiedene Zutaten zu einem Cocktail mixt? Anders gefragt: Welche Art von Gegensatz bilden Lust und Unlust für Platon überhaupt: einen kontradiktorischen, einen polarkonträren oder einen konträren? Einen kontradiktorischen Gegensatz kann er nicht gemeint haben, weil ein kontradiktorischer Gegensatz jede Art von Mischung ausschließt: »tertium non datur.« Einen polarkonträren Gegensatz kann er auch nicht gemeint haben, weil er dann von mehr oder weniger hohen Graden von Lust oder Unlust sprechen müßte und beide stufenlos ineinander übergehen müßten. Solche Formulierungen finden sich bei ihm aber nicht, sondern er verwendet zur Illustration dessen, was er unter gemischten Gefühlen versteht, mit Vorliebe Beispiele wie »bittersüße Mischung« (Philebos, 46E) »verzweifelte Lustgefühle« (Philebos, 46E) oder er redet davon, daß und wie Lust und Unlust mal zu gleichen Teilen vorhanden sein können, daß manchmal aber auch ein Gefühl überwiegen könne (vgl. Philebos, 46D) und beschreibt damit das Phänomen der Lustin-der-Unlust bzw. der Unlust-in-der-Lust und damit das Gegeneinander-Wirken von Lust und Unlust. Erläutert wird dies in einer eindrucksvollen Beschreibung von Juckreiz und dem Versuch, diesen durch intensives Kratzen zu lindern: 113 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

»Was nun diejenigen Fälle betrifft, in welchen die Empfindungen der Unlust als die der Lust überwiegend erscheinen, so sage nur, es seien dieselben jene vorhin angeführten der Krätze und der juckenden Flechten, wenn es inwendig kocht und glüht und man es mit dem Kratzen und Reiben nicht bis hinein treiben kann, sondern nur die äußeren Hautteile zerreißt. Dann nämlich bereitet man sich, indem man diese zur Entzündung bringt und in das Gegenteil von Unleidlichkeit versetzt, zuweilen verzweifelte Lustgefühle, zuweilen aber im Gegenteil zu den äußeren Unlustempfindungen hinzu in den inwendigen Teilen noch solche, die mit Lustempfindungen zusammengemengt sind, möge das Übergewicht auf diese oder jene fallen, indem man durch gewaltsames Zerteilen des Verbundenen oder durch Zusammenschmelzen des Getrennten Schmerzen zu Lustempfindungen hinzufügt. (…) Andererseits nun, sooft in den bezeichneten Fällen die Beimischung der Lust größer ist, erzeugt zwar der untermischte Unlustteil ein Jucken und einen gelinden schmerzlichen Reiz; der in viel größerem Maße eingeströmte Lustteil dagegen regt auf und macht zuweilen, daß man aufspringt, bewirkt auch allerlei Wechsel der Gesichtsfarbe, der Gebärden, des Atmens, so daß der Mensch zuletzt in völlige Verzückung und unvernünftiges Schreien ausbricht. (…) Es macht sogar, daß er sowohl selbst von sich sagt als andere von ihm, er sei fast des Todes von der Wonne dieser Lustempfindungen; ja er jagt denselben auf jede Weise und immer nach, und zwar um so mehr, je zügelloser und unvernünftiger er ist.« (Philebos, 46D–47B)

Aus dieser intensiven Beschreibung der wechselseitigen Durchdringung von Schmerz und Wollust bei Juckreiz und hemmungslosem Kratzen 41 müßte deutlich geworden sein, daß Platon den Gegensatz von Lust und Unlust eindeutig als konträren Gegensatz und gemischte Gefühle als ein Ambivalenz-Phänomen versteht. Deshalb listet er gleich eine Reihe von Unlustgefühlen auf, die sich besonders leicht zu neuen, als ambivalent empfundenen Lust-UnlustGefühlen verändern können und nennt »Zorn und Furcht, Sehnsucht und Wehmut, Liebe und Eifersucht« (Philebos, 47E) und schließlich auch den Neid 42 als ein besonders starkes Unlustgefühl. Außerdem verweist er auf den Umstand, daß Zuschauer im Theater bei der Tragödie »sich freuen und weinen zugleich« (Philebos, 48A), daß sie aber auch in der Komödie bei allem Gelächter durchaus 114 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gespannte Beziehungen

gemischte Gefühle empfinden. Und damit ist er bei der Bestimmung des Lächerlichen angelangt, das er aus der Analyse einer bestimmten, ambivalenten Form von Neid ableitet. Aber was versteht Platon unter diesem ambivalenten Neid? 2.2.6 Gespannte Beziehungen Mit dem Wortfeld »Neid/Mißgunst/Schadenfreude/Scheelsucht« suchen die Platon-Übersetzer einen zentralen Begriff der platonischen Psychologie wiederzugeben, für den es im Deutschen offenbar keinen wirklich adäquaten Ausdruck zu geben scheint. Meist verwendet man leider das Wort »Neid«. Hermann Schmitz meint in seiner kurzen Darstellung der wichtigsten Gefühle in der griechischen Antike, das griechische Wort phthonos sei am ehesten mit »Mißgunst« zu übersetzen, da phthonos der Gegenbegriff zu charis sei, was man in etwa mit dem Wortfeld »Gunst/Huld/Gnade/Wohlgefallen/Zuneigung« 43 wiedergeben kann. Da es also kein wirklich angemessenes deutsches Wort für das griechische phthonos zu geben scheint, bietet es sich an, entweder eigens ein neues Wort zu erfinden oder Umschreibungen und Metaphern zu suchen. Den ersten Weg hat Hans-Georg Gadamer beschritten, der in Anlehnung an den Sorge-Begriff seines Lehrers Martin Heidegger phthonos mit dem Neologismus »Konkurrenzsorge« wiedergibt, und Michael Mader und Karl-Josef Kuschel 44 sind ihm hier willig gefolgt. Gadamer verweist zunächst darauf, daß Schadenfreude ein zentraler Aspekt der Mißgunst sei, weil man bestimmten Leuten eben ihr Unglück gönnt, die Schadenfreude aber wiederum sei »fundiert in der Konkurrenz«: »Und dieses Fundament ist nicht einfach dahin zu begreifen, daß wir ›sonst‹ (angesichts des Glücks eines Freundes) mißgünstig sind und so entsprechend jetzt bei seinem Unglück schadenfroh sind, sondern unsere Schadenfreude ist selbst eine Erscheinungsform derselben grundlegenden Konkurrenzsorge, die sich gegenüber dem Glück des Freundes als Mißgunst äußert. (…) Bei Plato findet diese für Schadenfreude und Mißgunst gleicherweise fundierende Struktur der Konkurrenzsor-

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Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

ge keinen positiven Ausdruck, aber es ist kein Zweifel, daß er eben diesen Grundaffekt im Auge hat (den er lediglich a potiori phthonos nennt), wenn er in der Schadenfreude selbst eine solche Untermischung von Schmerz behauptet. (…) phthonos bestimmt sich also im weitesten Sinne als: im Sein zum anderen auf sich selbst zurückzusehen und aus dieser besorgten Rücksicht sein (eigenes) Sein zu ihm zu bestimmen.« 45

An anderer Stelle schreibt Gadamer: »Für die Mißgunst ist es wesentlich, daß einem nicht an dem, was man dem anderen mißgönnt, als solchem liegt (daher es auch für die Mißgunst nicht wesentlich ist, ob man das, was man mißgönnt, selbst schon hat oder nur begehrt oder erstrebt, oder nicht einmal das; wenn man einem anderen etwas nicht gönnt, was man selbst gar nicht haben will), sondern daran, daß der andere einem durch solchen Erfolg nicht vorauskommt oder einen einholt. Mißgunst gibt es so vorzugsweise zwischen Konkurrenten (z. B. zwischen Angehörigen desselben Berufs). Allgemein ist es das Wesen der Konkurrenz, d. h. die Sorge um das Voraussein vor dem anderen, bzw. um das Nicht-Zurücksein hinter dem anderen, die das Miteinandersein charakterisiert und so die Möglichkeit der Mißgunst konstituiert.« (Bd. 5, S. 133)

Das klingt überzeugend, weil Gadamer nicht einen Seelenzustand als irgendwo »tief drinnen« lokalisiertes Gefühl beschreibt, das sich auf irgendwelchen geheimnisvollen Wegen dann auch noch »außen« manifestiert, sondern ein Szenario entwirft und dabei an dem besorgt wachsamen und mißgünstig mißtrauischen Blick auf den möglichen Rivalen als dem bewegenden und gestaltenden szenischen Impuls ansetzt. Gadamer hätte sich hier auch auf Johann Jakob Engels Mimik berufen können, wo im 19. Brief bei der Darstellung der »Affecten der Anschauung« ebenfalls eine Analyse von Neid und Mißgunst vorgetragen wird. Engel betont hier, man könne als Philosoph Neid und Mißgunst zwar sehr wohl unterscheiden und Neid auf Selbstsucht, Mißgunst aber auf Feindschaft zurückführen, als Mimiker und Theoretiker der Schauspielkunst hingegen könne man beide Affekte nicht recht unterscheiden, da sie sich beide im selben Verhalten manifestieren: »Beide Affecten verziehen das Gesicht zum Verdrusse; beide können ihren Gegenstand mit seitwärts geworfenen Blicken anschielen, beide

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Gespannte Beziehungen

dem Körper eine halbverwandte Haltung geben. Nicht einmal der stärkere oder geringere Grad, das Edlere oder Unedlere des Ausdrucks, kann hier zum Unterschied dienen: denn Mißgunst kann eben so heftig als Neid, und kann eben so unedel seyn. Zu geschweigen, daß auch Neid und Mißgunst zusammen in ihrem Ausdruck nichts Eigenes haben, wodurch sie sich vom Argwohn oder wenigstens vom Haß unterscheiden.« 46

Aber auch Engels Analyse muß in bestimmten Punkten ergänzt werden, insbesondere unter dem Aspekt, daß der Neid immer von unten hinauf grollt, Mißgunst jedoch immer von oben herab, da der Neider immer genau das haben will, was der von ihm beneidete Andere alles hat und kann und ist und gilt, er selbst aber all dies entbehren muß, obwohl es ihm doch eigentlich erst recht zustünde; wohingegen der Mißgünstige alles mögliche haben und können und sein und gelten kann, all dies jedoch keinem anderen gönnen will. So gesehen ist die Rede vom »Götterneid« ganz besonders unsinnig, denn worum sollten die Götter den Menschen beneiden. Sehr wohl aber kann man von göttlicher Mißgunst reden, die sich bis zum Sadismus steigern kann, was in Mythologie und Literatur auch oft genug beschrieben worden ist; man denke nur an den Prometheus-Mythos oder an das Buch Hiob. Ein weiterer und für unsere Fragestellung besonders wichtiger Unterschied zwischen Neid und Mißgunst besteht darin, daß der Neider im Bewußtsein seiner Unterlegenheit und seines Unwertes immer nur ohnmächtig untätig vor sich hin und in sich hinein grollt, wohingegen der Mißgünstige direkt tätig wird, um dem Anderen zu schaden, sei es durch manifesten Vandalismus oder »bloß« durch bösartige Intrigen aller Art, Schmähung, Verleumdung und den magischen Schadenzauber des bösen Blicks, und in diese Reihe gehört eben auch das vernichtungslüsterne böse Auslachen-vonoben. Der Mißgünstige kann sich also uroborisch-kathartisch erleichtern, der Neidische jedoch muß ewig in der Hölle seines Neides brüten. Aus diesem Grund gibt es zwar ein mißgünstiges Lachen, nicht jedoch ein neidisches, und dieses mißgünstig höhnische Gelächter der Schadenfreude nennt Schopenhauer mit Recht »das Gelächter der Hölle« (V,221). Also tun wir gut daran, im folgenden beim Reden über diese Art von Gelächter das Wort 117 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

»Neid« eher zu vermeiden, sondern weiterhin von »phthonos«, »Mißgunst« oder »Konkurrenzsorge« zu reden. Wenn wir nun die Beschreibung von Gadamers phthonos-Szenario fortsetzen, so lassen sich dessen Elemente noch etwas genauer bestimmen. Es sind dies im einzelnen: • ein gespanntes Verhältnis zwischen vergleichbaren Personen von latenter, aber nicht manifester Aggressivität; • der böse, mißtrauisch lauernde Blick; • der ständige wertende Vergleich mit dem Anderen; • die auf hohem Niveau gehaltene Wachsamkeit und nie erlahmende Reaktionsbereitschaft; • das Bewußtsein der Betroffenen, daß diese Konkurrenzsorge prinzipiell nie ein für alle mal gestillt werden kann, sondern nach einer vermeintlichen Stillung sofort wieder zu nagen beginnt, sodaß die Frage »Wer wen?« nie endgültig entschieden werden kann. Will man phthonos metaphorisch bestimmen, was wir ansatzweise ja schon getan haben, und dabei wieder das Augenmerk auf die szenischen Valenzen und Aspekte dieses Gefühls richten, so ist es sinnvoll, erst nach einem kleinen Umweg über Gustav Bally 47 wieder zu Platon zurückzukehren. Bally eröffnet seine Untersuchung über die Bedeutung des Spiels bei Tier und Mensch mit einem Kapitel über »Feld und Feldspannung«, in dem er darlegt, daß tierisches und menschliches Verhalten immer in ein szenarisch geprägtes ausgerichtetes Handlungsfeld eingebettet ist, und beschreibt dann dieses Verhalten von Tier und Mensch in einer Art, die ganz auffallend an das Verhalten der homerischen Helden erinnert: »Wir haben tatsächlich den Eindruck, daß das Lebewesen nicht handelt, sondern ›gehandelt wird‹ von einer Macht, die nicht in ihm, die aber auch nicht außerhalb seiner liegt, sondern die es durchströmt und mit seiner Umwelt zu einer dynamischen Einheit verbindet. Die Stimmung ist es, die das Feld bestimmt.« (S. 20)

Diese Gestimmtheit des Verhaltens kann aber sehr unterschiedlich sein, je nachdem ob das Ziel der Handlung in der unmittelbaren Nähe oder weiter entfernt liegt: »Die Nahkonzentration auf das Ziel aber spannt gleichsam die ›Züge‹ (Kraftlinien) des Feldes derart, daß sich das vorher weite Feld zu einer

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Gespannte Beziehungen

Laufbahn auf das Ziel hin verengt. Dadurch wird die dem gelockerten Feld entsprechende Leistung nicht mehr möglich.« (S. 22)

Diese Verengung der Intentionalität und Hand in Hand damit die Verengung der Welt zum »Tunnelblick« im »Aktionstunnel« (S. 29) macht ein liberales Verhältnis zur Welt unmöglich und kann v. a. dort auftreten, wo wir starken Erregungen ausgesetzt sind, also z. B. in akuter Lebensgefahr, im Jähzorn, in Paniken, bei Heißhunger und ähnlichen Situationen »primitiver Gegenwart« (Schmitz), und umgekehrt weitet sich unser Horizont und zusammen mit ihm die Welt, wenn wir uns Gelassenheit leisten können. »All diese Beispiele zeigen eine Bereicherung des Feldes an Einzelzügen, wenn es gelockert wird, eine Verarmung, wenn es gespannt wird.« (S. 22)

In dieser Amplitude zwischen mehr oder weniger »breitenhafter Sachlage« und mehr oder weniger »tiefenhafter Situation« (Lassen) spielt sich normalerweise das Verhalten ab. Es bietet sich deshalb an, Platons Konkurrenzsorge phthonos als Fall einer solchen eher hohen Feldspannung im Sinne Ballys zu sehen, z. B. als gespannte Beziehung zwischen Konkurrenten in einem Dominanzduell, in dem die Frage: »Wer wen?« als »Wer dominiert hier wen?« gestellt wird und plötzlich entschieden ist. Diese Analogie bietet sich vor allem deshalb an, weil Platon den phthonos als eine hochgradige Unlust bestimmt, die jedoch durch eine Beimischung von Lust entscheidend verändert und zu einem ambivalenten Gefühl modifiziert wird, das er als »paidikos phthonos« (Philebos, 49A) bezeichnet, und das ihm als eine der zentralen Bedingungen gilt, die erfüllt sein müssen, damit gelacht werden kann. So wie die Übersetzer sich schwer damit getan haben, phthonos angemessen zu übersetzen, so war es auch bei dem Ausdruck paidikos phthonos, weil die Bedeutung des Adjektivs paidikos schwer plazierbar irgendwo im Wortfeld »kindlich/kindisch/knäbisch/unernst/spielerisch/scherzhaft« liegt. In den meisten Übersetzungen ist man Schleiermacher gefolgt, der die ganz unglückliche Formulierung »scherzhafter Neid« 48 gewählt hat. Gemeint ist mit diesem so seltsam klingenden Ausdruck mit Sicherheit wieder ein Ambivalenz-Phänomen und damit ein intentions-immanenter Gegen119 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

impuls bzw. die vollzugs-immanente Zurücknahme eines Handlungsimpulses, durch den die aggressive Tönung des phthonos etwas gemildert wird. Eine letztlich durchaus negative Zuwendung bleibt dieser »scherzhafte Neid« aber immer noch. Salopp formuliert könnte man auch sagen, der platonische paidikos phthonos sei eine negative Zuwendung »mit angezogener Handbremse« oder, ernsthafter formuliert, eine etwas gelockerte Feldspannung in einem Dominanzduell. Dies bietet sich auch deshalb an, weil Bally noch hinzufügt, eine gelockerte Feldspannung fördere das Unterscheiden (S. 22), fördere also das Vermögen zur Distanz und damit auch das Vermögen, etwas als etwas wahrzunehmen und eben auch als etwas Komisches oder Lächerliches. Das würde heißen, daß für Platon Lachen und die Wahrnehmung des Lächerlichen und Komischen nur möglich ist im etwas entspannteren oder auch nur momentan etwas entspannten Feld, in das das menschliche Verhalten eingebettet ist. Das gilt es nun nachzuprüfen, und deshalb kehren wir noch mal zum Philebos-Dialog zurück. 2.2.7 »Verkenn’ dich selbst, und mach’ dich lächerlich!« Nachdem Platon im Philebos-Dialog ausführlich Lust- und Unlust-Gefühle und deren Mischungen zu ambivalenten Gefühlen untersucht hat, geht er zur Frage über, wie Situation und Verhalten von Lach-Täter und Lach-Opfer beschaffen sein müssen, damit Lachen oder genauer: damit Auslachen möglich ist. Dazu Maders Bilanz: »Der Affekt, der beim Rezipienten (d. h. beim Lachenden) durch das Lächerliche hervorgerufen oder aktualisiert wird, ist der phthonos, und zwar einerseits als Sorge angesichts der möglichen Überlegenheit des anderen, andererseits als Erleichterung angesichts der tatsächlichen Unterlegenheit des anderen. Das schadenfrohe Gelächter über eine komische Mangelhaftigkeit erweist sich somit als Ausfluß einer mit Unlust vermischten Lust.« (S. 22)

Dieser Versuch einer Zusammenfassung von Platons Theorie des Lächerlichen ist leider nicht sehr genau, denn Mader vermengt hier 120 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Verkenn’ dich selbst, und mach’ dich lächerlich!«

platonische und aristotelische Positionen und zugleich damit das Komische mit dem Lächerlichen, denn Platons Lach-Opfer muß nicht die »komische Mangelhaftigkeit« aufweisen, auf die Aristoteles so nachdrücklich hinweist, sondern muß der Selbstverkennung oder Selbstüberschätzung (anoia) verfallen sein, muß sich also so verhalten, wie sich die Dialogpartner des Sokrates in den frühen sokratischen Dialogen zu verhalten pflegten, und sich für größer, schöner, mächtiger, reicher und vor allem für klüger halten als sie tatsächlich sind, und sich auch dementsprechend aufführen. Dadurch wird die Spannung »Wer wen?« im Dominanzduell erst mal erhöht, denn es könnte ja sein, daß der andere tatsächlich größer, schöner, mächtiger, reicher und gescheiter ist, und dann wäre die Frage »Wer wen?« zu seinen Gunsten entschieden. Entpuppen sich seine Behauptungen jedoch als Selbsttäuschung und haltlose Angeberei, so ist sein Verhalten lächerlich und durch das erleichterte Auslachen-von-oben fällt die Feldspannung dementsprechend rapide ab. Je größer aber die Erleichterung ist, in der sich der Gefühlsstau löst, desto höher wird man als der lachend Überlegene gehoben, und je wahnhafter die Selbstüberhebung eines Angebers gewesen war, desto lächerlicher hat er sich gemacht und desto tiefer ist dann auch sein Sturz aus dieser angemaßten Höhe: Er wird gnadenlos hinuntergelacht! Hier wird später Augustinus ansetzen und diese Art von Gelächter als sündhafte superbia charakterisieren und sie dementsprechend als Sünde verdammen. Wir haben also ein Zusammenspiel von zwei gegenläufigen Vorgängen vor uns, die man mythologisierend als »Himmelfahrt« und »Höllensturz« bezeichnen könnte: Der Lachende wird im Lachen emporgehoben, der Verlachte stürzt ins Bodenlose, aber dieses Emporgehobenwerden geschieht nicht als sachtes Aufwärtsschweben, sondern als ein ruckhaft-plötzliches Emporgerissenwerden. Dazu Gadamer: »Die Maßlosigkeit des Gelächters ist in der Tat begründet in einer Unterstimmung von Schmerz, eben in der Sorge des Vorausseins vor dem andern. Gerade weil sich im schadenfrohen Gelächter diese Sorge erleichtert und vergißt, ist das Gelächter so maßlos.« (5,134)

Dieses Gelächter ist aber nur möglich, wenn die Feldspannung in diesem Dominanzduell nicht auf die wirkliche Vernichtung des 121 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

Gegners zielt, sondern nur den Charakter spielerisch-sportlicher Rivalität hat, denn Gegner kann man sogar noch als Freunde behandeln, Feinde hingegen vernichtet49 man. Und hat man tatsächlich einen Feind in dieser Art vernichtet, so lacht man auch nicht, sondern empfindet vielleicht grimmige Befriedigung. Ist die Werwen-Spannung jedoch von existentiellem Ernst, weil der lächerlich gemachte Gegner sich rächen und seinerseits aus einem momentan besiegten Gegner zu einem übermächtigen Feind werden könnte, so verliert laut Platon sein an sich lächerliches Verhalten schlagartig die Lächerlichkeit, auch wenn seine Selbstverkennung noch so wahnhaft sein sollte, und wirkt nur noch vermessen, aber eben zugleich auch gefährlich und bedrohlich. Das Feld zwischen ihm und dem potentiellen Verlacher kann sich also nicht entspannen: »Denn die Selbstunkenntnis der Mächtigen ist ebenso feindlich, als häßlich; auch ist sie und alles, was ihr gleich sieht, ihrer Umgebung schädlich, während die unmächtige (Selbstverkennung) für uns dem Gebiet und der Natur des Lächerlichen verfällt.« (Philebos, 49C)

Weil in diesem Fall die Feldspannung nicht sinken und der Gefühlsstau nicht lösen kann, da der Schwächere sich angesichts des lächerlichen Verhaltens des aktuell Mächtigeren nicht zu lachen traut, bleibt der phthonos in diesem Fall ein reines und massives Unlust-Gefühl, eine diffuse Mischung aus Angst, Groll, Haß und Selbstverachtung, das, weil es sich nicht im aggressiven Auslachen entladen kann, unerlöst vor sich hinbrodelt. Daß man die Mächtigen trotzdem und erst recht verlachen könnte, wie dies im politischen Witz als Form politischer Selbstbehauptung geschieht, wo das Auslachen-von-unten zu einer kynischen Lachkultur von höchsten Graden entwickelt worden ist, scheint für Platon undenkbar gewesen zu sein, da er offenbar streng hierarchisch nur »von oben nach unten« denken konnte. (Wir werden auf diese Form von Lachkultur ausführlich zurückkommen.) Damit etwas zum Lachen ist und in dieser Weise verlacht werden kann, müssen für Platon also folgende Bedingungen erfüllt sein: • Auf der Seite des Lach-Opfers ein Mindestmaß an wahnhafter Selbstverkennung und Selbstüberhebung (anoia); 122 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Verkenn’ dich selbst, und mach’ dich lächerlich!«

• Auf der Seite des Lach-Täters ein Mindestmaß an Rivalität und Konkurrenzsorge (phthonos), was jedoch nicht in faktische Aggression übergehen darf und deshalb zum ambivalenten Gefühl nicht-feindlicher Gegnerschaft (paidikos phthonos) gezügelt sein muß. • Die Lach-Situation darf nicht aktuell bedrohlich sein, d. h. beide, Auslachender und Ausgelachter müssen eingebettet sein in ein von beiden Partnern immer schon akzeptiertes Feld relativer momentaner Entspanntheit, sodaß keiner von beiden einen ernsthaften Schaden befürchten muß, obwohl ein Mindestmaß an Spannung immer bleibt. • Lachen wird von Platon auf Auslachen und zwar auf latent aggressives Auslachen-von-oben reduziert und damit als eine Form sozialer Interaktion in gespannten Verhältnissen gesehen; zugleich damit wird das Lächerliche auf lächerliches menschliches Verhalten reduziert. • Wegen der latent aggressiven emotionalen Unterfütterung dieses Auslachens-von-oben und seiner Einbettung in Dominanzduelle manifestiert sich in diesem Lachen Erleichterung und Triumph, weil die Frage »Wer wen?« vom Lachenden mit »Ich ihn!« beantwortet werden kann. • Da Platon das Lachen als Form sozialer Interaktion in gespannten Verhältnissen beschreibt und das Lächerliche an die wahnhafte Selbstverkennung bindet, verknüpft er das Auslachen sofort auch mit einer ethischen Fragestellung. • Für Platon ist das Lachen ein Ambivalenz-Phänomen, und damit hat Platon einen ganz zentralen Schlüsselbegriff für die systematische Analyse des Lächerlichen und des Lachens allgemein bereit gestellt. • Für Platon liegt das Lächerliche nicht offen zu Tage und kann auch nicht intuitiv und blitzartig wahrgenommen werden, sondern muß durch einen maieutischen Prozeß, meist im Rahmen eines Dominanzduells, eigens als solches enthüllt und bewußt gemacht werden, weshalb Neumann auch mit Recht vom »elenktischen Geist« 50 dieser Art von Lachen spricht. Als Modell hierfür dient der sokratische Dialog, sodaß die Enthüllung des Lächerlichen durch das Zusammenwirken zweier antagonisti123 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

scher Impulse vor sich geht: Der eine Partner sucht die Lächerlichkeit des anderen gezielt zu enthüllen, der andere sucht die eigene Lächerlichkeit zu verbergen und enthüllt sie gerade dadurch, wenn auch widerstrebend, erst recht, und durch diesen enthüllungs-immanenten Gegenimpuls hat auch die Offenbarung resp. die Selbstoffenbarung des Lächerlichen eine ambivalente Struktur. • Durch dieses Zusammenspiel von Enthüllen und Verdecken, Verdecken und trotzdem Enthüllen bekommt der maieutischelenktische Prozeß zur Enthüllung des Lächerlichen eine bestimmte Zeitstruktur, die dem Prozeß eine immanente, sich ständig steigernde Spannung verleiht, die sich am Ende im triumphalen und höhnischen Auslachen erleichtert verströmen kann. • Platon unterscheidet nicht zwischen dem Lächerlichen und dem Komischen, sieht wohl auch den Unterschied zwischen diesen beiden Anmutungen nicht und, analog dazu, bemüht er sich auch nicht darum, die verschiedenen Formen des Lachens über Komisches und Lächerliches zu unterscheiden, und das Lachen jenseits des Komischen und Lächerlichen interessiert ihn gleich überhaupt nicht. 2.2.8 Die Tücke der Situation Daß Platon auf den Unterschied zwischen Komik und Lächerlichkeit mit keinem Wort eingeht, ist um so seltsamer, als er in seinem Theaitetos-Dialog eine unerschöpfliche Quelle des Lachens erwähnt, durch deren Analyse er den Unterschied zwischen Komik und Lächerlichkeit hätte deutlich machen können. Gemeint ist die Tücke der Situation, die sich gegen einen Menschen verschworen zu haben scheint und ihn ohne Zutun eines anderen komisch resp. lächerlich erscheinen läßt. Ob auch ohne eigenes Verschulden, ist eine andere Frage. Erzählt wird hier von Sokrates die bekannte Anekdote vom Brunnensturz des Philosophen und Astronomen Thales von Milet, allerdings in einem etwas rätselhaften Zusammenhang. Sokrates re124 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Tücke der Situation

det nämlich erst ausführlich und sehr abfällig über einen bestimmten Typ von Philosophen und entwirft damit paradigmatisch das Bild des weltfremden, verstiegenen, lebensuntüchtigen und rein theoretisch orientierten Intellektuellen, der sich zu schade ist, in die Niederungen des profanen Alltags hinab zu steigen und sich den trivialen Forderungen des Tages zu stellen, ein Bild, wie es heute noch an allen Stammtischen und in allen Kantinen der Welt genüßlich ausgemalt wird: der Intellektuelle als tumber Tor, als zerstreuter Professor, als lächerliche Gestalt, als Zwilling des Don Quijote: »Denn er enthält sich dessen nicht etwa, um sich einen Ruf damit zu machen, sondern in der Tat wohnt nur sein Körper im Staate und hält sich darin auf, seine Seele aber, dieses alles für gering haltend und für nichtig, schweift verachtend nach Pindaros überall umher, ›unter der Erde‹ und was auf ihr ist messend, und ›über dem Himmel‹, die Sterne betrachtend und überall jegliche Natur alles dessen, was ist, im ganzen erforschend, zu nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich herablassend.« (Theaitetos, 173E) »Wegen alles dessen nun wird ein solcher von der Menge verlacht, indem er hier sich stolz zeigt, wie es ihnen dünkt, dort aber wieder unwissend in dem, was vor seinen Füßen liegt, und ratlos in allem Einzelnen.« (Theaitetos, 175B)

Und er wird laut Sokrates wegen seiner Selbstüberhebung und Selbstverkennung auch mit vollem Recht von der Menge verlacht. Dann aber heißt es: »So erzählt man sich von Thales, er sei, während er sich mit dem Himmelgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und vor den Füßen läge, verborgen bleibe. Derselbe Spott aber paßt auf alle diejenigen, die sich mit der Philosophie einlassen.« (Theaitetos, 174A) 51

Wenn man diese Thales-Anekdote als eine Philippika gegen die Weltfremdheit und Verstiegenheit eines bestimmten Typus von Intellektuellen liest, so verbleibt sie ganz im Rahmen dessen, was wir bisher über Platons Bestimmung des Lächerlichen gehört haben, 125 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

und deshalb kann Sokrates auch mit seinem Hohn fortfahren und mit gutem Gewissen behaupten, dieser Typ des Intellektuellen errege mit Recht Gelächter nicht nur bei den Thrakierinnen, »sondern auch im übrigen Volk, indem er aus Unerfahrenheit in Gruben und in allerlei Verlegenheit hineinfällt, und seine gewaltige Ungeschicktheit erregt die Meinung, seine Einfalt sei unverbesserlich.« (Theaitetos, 174C)

Aber, so wäre zu fragen, rechnet Sokrates Thales wirklich zu diesem Typ des wahnhaft verstiegenen Intellektuellen? Und muß das Lachen der thrakischen Magd wirklich ein Auslachen sein und noch dazu ein Auslachen-von-oben? Und ist der Sturz in den Brunnen wirklich so lächerlich und deshalb eine gerechte Strafe oder »bloß« komisch? Wir haben gesehen, daß Platon die Beziehung zwischen LachTäter und Lach-Opfer als gespannt bestimmt und deshalb auf den paidikos phthonos gründet, und den phthonos hatten wir wiederum als Gegenstück zu charis verstanden. Aber genau mit diesem Wortfeld »Anmut/Liebreiz/Charme/Freundlichkeit« wird die thrakische Magd von Sokrates charakterisiert, der sie als emmeles und chariessa, d. h. als »fleißig/artig/witzig/anmutig/hübsch/freundlich/charmant« bezeichnet. Aus all dem dürfen wir annehmen, daß zwischen dem Philosophen Thales und der Magd gerade keine gespannte Beziehung geherrscht haben dürfte. (Daß sie eine Magd von Thales selbst war, wird nicht gesagt, ist aber naheliegend.) Um das Lachen dieser Magd richtig zu beurteilen, wissen wir aber immer noch zu wenig; vor allem müßten wir wissen, ob Thales sich bei diesem Sturz verletzt hat und wenn ja, wie sehr. Genau das aber erfahren wir nicht, und deshalb können wir die Anekdote selbst und die Passage, in die sie eingebettet ist, sehr unterschiedlich auslegen. In der Aesopschen Vorlage der Anekdote ist davon die Rede, daß der Gestürzte – nicht Thales, sondern ein anonymer Astronom! – sich bei seinem nächtlichen Sturz in den Brunnen verletzte und nach Hilfe schrie und der zufällige Zeuge des Sturzes auch nicht lachte, sondern dem Gestürzten nur den milden Vorwurf machte: »Bist du also so einer, daß du sehen willst, was am Himmel ist, aber übersiehst, was auf Erden ist?« 52

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Die Tücke der Situation

Da wir aber nicht genau wissen, wie Platon sich die ominöse Szene wirklich vorgestellt hat, müssen wir einige mögliche Varianten der Szene durchspielen und dafür auch eine Ausgangssituation festlegen: Thales ist mit seiner Magd in tiefer Nacht unterwegs, sie mit einer Laterne in der Hand und den Blick auf den Boden gerichtet, er neben ihr und vielleicht sogar an ihrer Hand und den Blick nach oben zu den Sternen gerichtet, und natürlich muß ihr völlig unverständlich sein, was es da oben am Himmel zu entdecken geben könnte. Und dann entdeckt er tatsachlich etwas, stutzt und tritt staunend zurück, und dann passiert der Unfall. Nun ergeben sich ganz unterschiedliche Deutungen je nach Vorgeschichte und Verlauf des Unfalls: • Ist der Sturz gefährlich, Thales aber unverletzt, und hatte Thales seine nächtliche Exkursion gegen den Protest seiner Magd angetreten, so wäre das Lachen der Magd das schadenfrohe Auslachen eines als lächerlich empfundenen Verhaltens und die uns schon bekannte Mischung aus Lust und Unlust in einer momentan gespannten Beziehung. Die Charakterisierung der Magd als »fleißig und anmutig« würde dem auch nicht widersprechen. Die Pointe der Geschichte bestünde dann darin, daß ein weltbekannter Philosoph nach ganz großer Fallhöhe tief unten liegt und seine Magd – eine Frau und eine Sklavin dazu! – ihn vom Brunnenrand herab auslacht. Die Ordnung der Welt ist plötzlich auf den Kopf gestellt, allerdings auf eine Art und Weise, die für keinen der Beteiligten bedrohlich ist. • Ist der Sturz aber so schwer, daß der Philosoph verletzt im Brunnen liegt und um Hilfe wimmert, so wird der Magd, sollte sie überhaupt erst mal gelacht haben, das Lachen sofort wieder vergangen sein, denn dann war die Situation eben auch nicht zum Lachen, sondern ernst. • Hat sich der Sturz aber, so tief er auch war, bloß als ein unerwartetes und ungefährliches Mißgeschick herausgestellt, so ist die Situation des Philosophen auch nicht lächerlich, sondern komisch, und das Gelächter der Magd auch kein schadenfrohes Auslachen hoch oben vom Brunnenrand herab, sondern die heitere Quittung für das Komische der Situation, daß der große Wissenschaftler plötzlich mit den Beinen nach oben die Sterne 127 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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studiert. Vor allem aber ist es ein Lachen, in das der Gestürzte selbst auch einstimmen könnte, und damit ist die Situation die plötzliche, aber für alle Beteiligten ungefährliche und als unbedrohlich empfundene Epiphanie einer verkehrten Welt. Je genauer man also die Situation bestimmt, und je genauer man die Einstellung der Beteiligten zueinander bestimmt, desto genauer kann man auch bestimmen, welches Lachen hier gelacht wird. Da Platon die Thales-Anekdote nicht genutzt hat, um den Unterschied zwischen Komik und Lächerlichkeit zu klären, was sich ja angeboten hätte, bleibt die Funktion der Anekdote im Theaitetos-Dialog zunächst einigermaßen rätselhaft, es sei denn, Platon hätte Thales tatsächlich zu den lächerlichen Philosophen gerechnet, was sehr unwahrscheinlich ist, oder aber andeuten wollen, daß die Lebensform des Philosophen, des echten wie des angemaßten, zwar nicht an sich, aber doch für die große Menge der dumpfen Kerle grundsätzlich lächerlich sei, weil diese ja alles auslachen, was sie nicht verstehen. Damit hätte Platon, wie so oft, als erster ein Thema explizit angesprochen, das sich vom Streit zwischen Demokrit und seinen Abderiten bis herauf zu Hölderlins »Blödigkeits«-Ode 53 und zu Baudelaires berühmtem »Albatros«-Gedicht verfolgen läßt: Der Einzelne, der die dumpfen Köpfe seiner Umgebung intellektuell derart hoch überragt, daß diese ihn nur für einen Narren halten. Wenn man die Anekdote so liest, müßte es aber auch heißen: »So erzählt man sich sogar von Thales, daß er von seiner Magd ausgelacht worden sei, obwohl diese doch alles andere als ein Ausbund an Mißgunst und Bösartigkeit war.« 54 Hans Blumenberg scheint dieser Lesart zuzuneigen, wenn er schreibt: »Die Lächerlichkeit des Sternguckers für die thrakische Magd bestand in der Anekdote darin, daß sie einen über die niederen Realitäten vor seinen Füßen fallen ließ, der unerreichbar fernen Gegenständen zugewandt war, die er schlechthin niemals für sich haben konnte; im platonischen Kontext kennzeichnet das die Vertrautheit des Philosophen mit den Wahrheiten, auf die es ankommt, obwohl sie ihn in die Position der verlachten Weltfremdheit versetzen. Diese ist so etwas wie ein unvermeidlicher Nebeneffekt des theoretischen Erfolgs, dessen Symptom, nicht dessen Essenz.« (S. 28)

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Die Tücke der Situation

Liest man die Geschichte so, dann wäre Thales in dieser Anekdote eine Maske von Sokrates oder gar von Platon selbst und der ganze Dialog eine Abrechnung Platons mit der athenischen Demokratie, die Sokrates rund dreißig Jahre vor der Niederschrift dieses Dialogs zum Tode verurteilt hatte. Das Lachen der thrakischen Magd über den größten Gelehrten seiner Zeit vom Brunnenrand herab wäre dann genau wie die Intrige der Abderiten gegen Demokrit oder die Verurteilung des Sokrates durch die Athener ein Beispiel für den tiefsitzenden Haß des ungebildeten Pöbels auf alle Intellektuellen ohne Ansehen der Person, und dieses Auslachen-von-unten wäre zwar auch die Epiphanie einer verkehrten Welt, für Platon aber keine lächerliche oder gar komische, sondern eine empörende. Wie immer man die Thales-Anekdote auch deuten mag, so muß sie doch immer vor dem düsteren Hintergrund des Prozesses gegen Sokrates gesehen werden, denn aus den letzten Sätzen des Dialogs geht hervor, daß Sokrates sich auf dem Weg zur Königshalle befindet, um dort die Anklageschrift abzuholen, die Meletos und Anytos gegen ihn eingereicht hatten. Wie dieser Prozeß ausgegangen ist, muß jedem Leser bekannt gewesen sein, und so entpuppt sich die Darstellung der sokratischen Philosophie als Maieutik, d. h. als Hebammenkunst (vgl. 150C), und damit als besonders makabere Form sokratischer Ironie, da er durch diese philosophische Geburtshilfe letztlich seinen eigenen Tod gleichsam als Fehlgeburt herbeigeführt hat. Er deutet dies ja auch an, wenn er darauf verweist, daß er nur zusammen mit dem Gott Apoll diese Art von philosophischer Geburtshilfe leiste, und dann fortfährt: »Viele schon haben, dies verkennend und sich selbst alles zuschreibend, mich aber verachtend, oder auch selbst von andern überredet, sich früher als recht war von mir getrennt und nach dieser Trennung dann teils infolge schlechter Gesellschaft nur Fehlgeburten getan, teils auch das, wovon sie durch mich entbunden worden, durch Verwahrlosung wieder verloren, weil sie die mißgestalteten und unechten Geburten höher achteten als die rechten.« (Theaitetos, 150E)

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2.2.9 Bilanz Platons Analyse des Phänomens Lachen läßt sich in folgende Thesen zusammenfassen: • Lachen wird ausschließlich als Reaktionsverhalten gesehen. • Dieses Reaktionsverhalten wird weiter eingegrenzt auf die Reaktion auf Lächerliches. • Das Lächerliche ist begrenzt auf menschliches Verhalten. • Lächerliches menschliches Verhalten beruht auf Selbstverkennung und ist damit ein Verstoß gegen die zentrale ethische Norm: »Erkenne dich selbst!« • Lächerliches Verhalten ist ein Appell an die niederen Bereiche der menschlichen Seele, die sich im Lachen bzw. als Lachen äußern. • Damit ist Lachen eingegrenzt auf Interaktions-Lachen. 55 • Und Interaktions-Lachen wieder auf Auslachen. • Und Auslachen wieder auf Auslachen-von-oben. • Damit ist Lachen als Auslachen-von-oben immer auch zugleich ein Vollzug ethischer Normierung und Wertung. Platons Theorie des Lachens beruht damit auf zwei zentralen Verschränkungen: • auf der Verschränkung von Lachen und Lächerlichkeit; • auf der Verschränkung von Lachen und Ethik. Diese Verschränkung von Lachen und Ethik geschieht sogar in doppelter Weise: Einmal in der Form, daß das Lachen genau bestimmten ethischen Zwecken dient, nämlich der mehr oder weniger öffentlichen Verurteilung lächerlichen Verhaltens und damit der ethischen Normierung des Verhaltens in der Gesellschaft: Wer sich lächerlich gemacht hat, soll durch Auslachen gleichsam wieder »zurechtgelacht« und dadurch moralisch gebessert werden, ein Impuls, den wir aus der Komödie des Aristophanes kennen und der sich in der Komödientradition bis in die Zeit der Aufklärung gehalten hat. Diese Verschränkung von Lachen und Ethik geschieht außerdem dadurch, daß das Lachen selbst durch die Maxime »Nicht 130 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

zuviel!« ethisch gebändigt werden soll, damit es sich, wenn es denn mal angeschlagen worden ist, nicht selbständig macht und der Lenkung durch die Vernunft entgleitet. Damit hat Platon die erste Theorie des Lachens überhaupt vorgelegt, aber eben als eine strikt reduktionistische Theorie, die das weite Spektrum des Phänomens Lachen leider drastisch eingrenzt auf das geloiastische Lachen, im Gegensatz zu einer ideographischen Theorie, die sich bemüht hätte, die ganze Bandbreite des Lachens auszubreiten und systematisch zu klassifizieren. Aber durch die übergroße Autorität Platons ist diese Verfahrensweise leider für die Geschichte der gelotologischen Theoriebildung prägend geworden. Deshalb darf man auch nicht übersehen, daß durch diesen extrem reduktionistischen Zug von Platons Theorie des Lachens auch später immer noch viele zentrale Fragen einer ideographisch ausgerichteten Theorie des Lachens völlig ausgeklammert wurden, denn Platon stellt • keine Frage nach anderen Quellen, Gründen und Anlässen des Lachens durch die Reduktion der Lachanlässe auf das Lächerliche, thematisiert also ausschließlich das geloiastische Lachen; • keine Frage nach anderen Formen und Gestalten des Lachens durch die Reduktion des Lachens auf das Auslachen; • keine Frage nach dem Unterschied zwischen Komik und Lächerlichkeit; • keine Frage nach dem Lach-Geschehen selbst, also keine Frage danach, was beim Lachen mit dem Lachenden selbst vor sich geht. Dieser letzte Punkt scheint mir ganz besonders fatal, weil dadurch völlig aus dem Blick gerät, daß Lachen in all seinen Erscheinungsweisen ein höchst seltsames Geschehen ist, das sich am Körper, im Körper und mit dem Körper vollzieht und das so spektakulär ist, daß es eigentlich den Blick auf sich lenken müßte. Warum Platon all dies trotzdem ausblendete, könnte in dem Impuls zur Ausblendung des Leibes begründet liegen, der Platons gesamtes Werk so stark prägt, daß man schon von einem Ekel vor dem Leib 56 sprechen könnte. Leider hat aber auch hier die Autorität Platons dazu geführt, daß diese Ausblendung der leiblich-körperlichen Aspekte des Lachens in all den »Fußnoten zu Platon« bis 131 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

herauf zu Bergson und Ritter wie selbstverständlich übernommen wurde. Das ist um so unverständlicher, weil es schon seit Aristoteles eine zweite Argumentationstradition neben der von Platon begründeten gibt, die sich bemüht, das Lachen auch physiologisch-naturwissenschaftlich zu ergründen und deshalb den »Sitz des Lachens« irgendwo im menschlichen Körper sucht. So fand Aristoteles selbst den Sitz des Lachens im Zwerchfell; Laurent Joubert, René Descartes und Thomas Hobbes machten den Versuch, mit der Theorie der »Lebensgeister« die physiologischen Aspekte des Lachens auf den Begriff zu bringen, und die Energetiker von Herbert Spencer bis herauf zu Sigmund Freud und Konrad Lorenz postulierten sogar eine psychische Energie, die in Form von Lachen abgeführt wird. (Wir werden darauf eingehen.) Der reduktionistische Zug in Platons Theorie des Lachens und der Lächerlichkeit zeigt sich aber noch unter einem anderen Aspekt. Es findet sich bei Platon nämlich nirgendwo ein Hinweis darauf, daß das Auslachen, das als Interaktions-Lachen ja ad personam adressiert sein muß, zwangsläufig an einen Blickkontakt zwischen Lach-Täter und Lach-Opfer gebunden ist, der beide Partner des Auslachgeschehens miteinander verbindet, da man sich in einem Dominanzduell eben nicht nur mit Argumenten aneinander mißt, sondern auch mit Blicken um die Dominanz kämpft. Dieser offenkundige Mangel in Platons Darstellung ist um so erstaunlicher als in der Antike wegen des tiefsitzenden Glaubens an die Macht der Blicke die Themen »Ansehen«, »böser Blick«, »Auslachen« und »Neid/Mißgunst« (phthonos) 57 gern und eng miteinander verbunden worden sind und sogar den Göttern eine Art von Neid oder Mißgunst gegenüber den Menschen unterstellt wurde, weil dieser phthonos, anders als der reine, begehrliche Neid, als Mißgunst »auch gegen den schlechter Gestellten gerichtet sein kann.« 58. Paradigmatisch dargestellt ist diese göttliche Mißgunst in Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage 59, wo Hesiod erst erzählt, wie Prometheus durch eine pfiffige List für seine Schützlinge, die Menschen, das von Zeus zurückgehaltene Feuer aus dem Olymp schmuggelt, und Zeus daraufhin seinem Zorn auf Prometheus und die Menschen freien Lauf läßt: 132 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

»Du frohlockst, daß du Feuer entwandt, und den Sinn mir geteuschet: Traun, dir selber zum Weh, und den kommenden Menschengeschlechtern! Jenen geb’ ich für Feuer ein Unheil, dessen sich alle Sollen erfreun, herzinnig ihr eigenes Übel umfangend. Also sprach hohnlachend der Götter und Sterblichen Vater.« (V. 55–58)

Und dann muß Hephaistos wieder mal all seine Kunst aufbieten und die berüchtigte Büchse der Pandora verfertigen, die den Menschen als Strafe für den Diebstahl, den Prometheus zu ihren Gunsten begangen hatte, so viel Not und Elend bringen sollte. Und Prometheus wird zur Folter an den Kaukasus geschmiedet. Dieser olympische »Herrenzynismus« 60 als göttlicher böser Blick von ganz oben herab auf die leidende Menschheit und das damit gekoppelte hämisch-höhnische Auslachen-von-ganz-oben, das mit seinen ausgeprägt sadistischen Zügen schon in der Antike Kritik hervorgerufen hat 61, scheint Platon nicht gestört zu haben, da es ihm ja nur darum ging, daß das Lachen nicht gar zu unmäßig ausfällt, und deshalb hat Platon schlichtweg geleugnet, daß es den Neid der Götter überhaupt gibt. Im Phaidros heißt es deshalb kurz und bündig: »Der Neid steht draußen vor dem göttlichen Reigen«. (247A) 62 Er scheint aber auch nicht auf die Idee gekommen zu sein, daß hier im Blickkontakt ein ganz zentraler Aspekt aller Formen von Interaktions-Lachen aufscheint, der in eine Theorie des Lachens unabdingbar eingehen muß. Daß er aber nicht danach fragte, könnte daran liegen, daß er durch die Verlagerung der Gefühle in die Seele des Menschen den szenarischen Charakter von gefühlsbestimmten Situationen völlig übersah, für die beim InteraktionsLachen als einer Form leiblicher Kommunikation der Blickkontakt überhaupt erst den Boden bereitet. Durch die übergroße Autorität Platons haben dann leider alle, die in seinen Spuren gingen, diesen Aspekt der Adressiertheit des Interaktions-Lachens durch den Blickkontakt ebenfalls übersehen und deshalb nicht weiter thematisiert. Die Emanzipation von dieser fatalen Tradition war erst möglich, als sich die phänomenologisch orientierte philosophische Anthro133 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

pologie des Themas Lachen annahm und die entscheidenden Mängel von Platons Gelotologie korrigieren, aber auch seine wichtigste Erkenntnis, das Thema der Ambivalenz, aufgreifen und weiter verfolgen konnte. Da Platon die zentrale Bedeutung des Blickkontakts für eine Theorie des Lachens nicht erkannt hat, hat er auch nicht gemerkt, wie ungenau und fahrlässig seine Reduktion des Lachens auf das Auslachen ist, weil sich hier sofort die Frage erheben muß, welche Art von Auslachen er denn genau meint, denn auch die nähere Bestimmung als Auslachen-von-oben ist immer noch nicht genau genug und wird der Bandbreite des Phänomens Lachen nicht wirklich gerecht. Daß Platon das so überaus wichtige Moment des Blickkontakts beim Interaktions-Lachen so völlig übersehen hat, könnte vielleicht einen Grund in seinem eigenen Verhalten haben. So kolportiert z. B. Diogenes Laertius 63 die Überlieferung, der junge Platon sei so überaus wohlerzogen, schüchtern und gehemmt gewesen, daß man ihn nie schallend lachen sah. Dies könnte darauf hindeuten, daß der junge Platon die Verlegenheit zu seiner zweiten Natur, zu seiner gewöhnlichen »inneren Haltung« (Zutt) verinnerlicht hatte, zu einer Verhaltensweise also, bei der man den offenen Blickkontakt grundsätzlich zu vermeiden sucht. Da Platon immer wieder betont, der zu Verlachende müsse, um verlacht zu werden, sich erst explizit als lächerlich erwiesen haben, müsse sich also z. B. durch Selbstverkennung lächerlich gemacht haben, meint er wohl eine bestimmte Form des Auslachens, das Lachen auf Kosten eines Lach-Opfers, unabhängig davon, ob dieses Lach-Opfer aktuell anwesend ist oder nicht und unabhängig auch davon, ob es sich selbst lächerlich gemacht hat oder von einem anderen lächerlich gemacht worden ist. Der Lach-Täter muß seinem Lach-Opfer beim Auslachen also nicht in jedem Fall direkt und mit Blickkontakt ins Gesicht lachen, sondern kann dies auch indirekt tun, indem er über Witze über einen Dritten lacht, durch die das Lach-Opfer dem Gelächter preisgegeben wird. Da Platon immer wieder die Hemmungslosigkeit des Gelächters betont und dies entsprechend tadelt, meint er wohl eine der vielen Formen von unverfügbarem Lachen, denen wir uns in bestimmten Situationen lust134 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Kritik und Ausblick

voll überlassen. Genau diese Art von unverfügbarem Gelächter aber ist es, das bei solchen bösen Scherzen auf Kosten Dritter aus uns herauszuplatzen pflegt, und genau diese Art von aggressivem Lachen auf Kosten anderer war Zweck und Ziel der Auslach-Komödie des Aristophanes, deren Dramaturgie auf dem Prinzip des geschädigten Dritten beruhte und Platons Theorie des Lachens maßgeblich geprägt hat. 2.2.10 Kritik und Ausblick In der Philosophie unterscheidet man traditionell zwischen Könnens-Ethiken, die in der Regel empirisch anthropologisch orientiert sind, und Sollens-Ethiken, die präskriptiv-dogmatisch 64 ausgerichtet sind und normative Ideale verkünden, an denen dann jegliches menschliche Verhalten gemessen werden soll. Diese Sollens-Ethiken tendieren aber so gut wie immer dazu, ihre Normen so steil zu formulieren, daß sie vom normalen Sterblichen kaum erfüllt werden können. Auch Platons Besonnenheitsideal ist eine solche steil erhabene Norm, die außerdem auch noch den methodologischen Makel in sich birgt, daß sie nicht nach der Situation 65 fragt, in der sie auch tatsächlich erfüllt werden könnte. Obwohl sie dadurch reichlich weltfremd erscheint, hat das Ideal des in allen Situationen besonnenen Mannes schon in der heidnischen Antike und später auch noch in der Christenheit eine glänzende Karriere als Oberschichtenideal erlebt, weil schon die Stoa aus Platons Besonnenheitsideal die Idealgestalt des stoischen Weisen entwickelt und dieses Ideal dann an die Christenheit weitergegeben hat, wo es willig aufgegriffen und zum Ideal der weltlichen und geistlichen Oberschichten66 erhoben wurde und dann die mannigfachsten Metamorphosen erlebt hat, die vom benediktinischen Mönch über den absolutistischen Höfling bis zum kommunistischen Parteifunktionär reichen. Der für unsere Fragestellung wichtigste Grundzug des stoischen Weisen in dieser platonisch-stoisch-augustinischen Tradition besteht darin, daß dieser stoische Weise grundsätzlich nicht lacht, weil er alle Affekte, die ihn dazu verführen könnten, in sich ausgerottet 135 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

hat und durch diese Selbstdressur die uneingeschränkte Verfügungsmacht über sich und seinen Körper besitzt. So gesehen hat Platon uns allen ein eher fatales Erbe hinterlassen, das in den vielen »Fußnoten zu seinem Werk« (Whitehead) ständig präsent ist und immer wieder zu Versuchen geführt hat, das Lachen verächtlich zu machen oder es gleich ganz zu unterdrücken, um den Gefühlsstau konstant hoch zu halten. Aber schon bei Platons direktem Schüler Aristoteles finden wir die Alternative zu diesem agelastischen Rigorismus, weil Aristoteles das Lachen gerade zu einem proprium hominis erhoben hat, das es vorurteilslos und wohlwollend zu erforschen gilt, und so hat auch er eine Tradition begründet, die bis in unsere Tage reicht. Ein Verdienst muß man Platon aber trotz allem zuschreiben, das sich auch für die aristotelische Tradition der Gelotologie als unverzichtbar erwiesen hat, und dies ist der Hinweis auf die ambivalente Grundstruktur, die das Lachen in all seinen Ausformungen prägt. Anmerkungen 1

Ich zitiere Nietzsche nach der Ausgabe: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1966, hier: Bd. II, S. 594. 2 Vgl. dazu Thomas Gelzer: Aristophanes und die Alte Komödie, in: Gustav Adolf Seeck (Hg.): Das griechische Drama, Darmstadt 1979, S. 258–306, v. a. S. 272 ff., sowie Victor Ehrenberg: Aristophanes und das Volk von Athen, Zürich/Stuttgart 1968, und Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Stuttgart/Weimar 1993, Bd. I., S. 161–182, sowie die Studien von Otto Seel: Aristophanes oder Versuch über die Komödie, Stuttgart 1960; Hermann Lind: Der Gerber Kleon in den »Rittern« des Aristophanes, Frankfurt a. M. 1990; Andrea Ercolani: Spoudaiogeloion. Form und Funktion der Verspottung in der aristophanischen Komödie, Stuttgart 2002; Isolde Stark: Die hämische Muse. Spott als soziale und mentale Kontrolle in der griechischen Komödie, München 2004; Niklas Holzberg: Aristophanes. Sex und Spott und Politik, München 2010. 3 Christian Meier: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1995, S. 69 f. 4 Vgl. dazu Walther Kraus: Aristophanes – Spiegel einer Zeitenwende, in: Hans Joachim Newiger (Hg.): Aristophanes und die Alte Komödie, Darmstadt 1975, S. 435–458, hier S. 444 ff. Wichtige Anregungen entnahm ich auch den beiden Dissertationen von Hermann Lind: Der Gerber Kleon in den »Rittern« des Aristophanes. Studien zur Demagogenkomödie, Frankfurt a. M. u. a. 1990 und Peter von Möllendorff: Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin, Tübingen 1995.

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Anmerkungen 5

Vgl. Meier: Athen, S. 578 ff. Aristophanes: Sämtliche Komödie. Übertragen von Ludwig Seeger. Einleitung zur Geschichte und zum Nachleben der griechischen Komödie nebst Übertragungen von Fragmenten der Alten und Mittleren Komödie von Otto Weinreich, Zürich/München 1987, S. 113 (= V. 1273–1288). 7 Aristophanes, S. 99 (= V. 973–976); vgl. dazu auch das vernichtende Porträt Kleons als Großmaul und Feigling, das Thukydides von ihm entwirft, wenn er die Vorbereitung des Pylon-Feldzugs beschreibt: Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1966, S. 302 ff. 8 So die Übersetzung von Holzberg, S. 35. 9 Vgl. dazu Karl Reinhardt: Aristophanes und Athen, und Hellmut Flashar: Zur Eigenart des Aristophanischen Spätwerks, beides in: Newiger: Aristophanes, S. 55– 74, hier S. 70, und S. 405–437, hier S. 442. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Mit einer Einführung von Georg Lukács, 2 Bde, Frankfurt a. M. o. J. 11 Vgl. dazu Ästhetik, II,552 f.: Das Lächerliche provoziert laut Hegel ein hämischhöhnisches Auslachen voller Schadenfreude, das Komische ein humorvolles Lachen, in das der Belachte auch selbst mit einstimmen kann, ohne sich etwas zu vergeben. Diese Unterscheidung übernehme ich und setze sie im folgenden immer voraus. 12 Diese Unterscheidung übernehme ich aus Harald Lassen: Beiträge zur Phänomenologie und Psychologie der Anschauung, Würzburg 1939, S. 120 ff. 13 Diese Formulierung übernehme ich von Hans-Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990. 14 Georgina Baum: Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik. Zur Kritik ihres apologetischen Charakters, Berlin 1959, S. 6. 15 Gemeint sind Jambos und Komos; vgl. S. 19. 16 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 2/2009. 17 Vgl. Guido Rappe: Archaische Leiberfahrung. Der Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen, Berlin 1995, S. 24–94. 18 Hermann Schmitz: Der Leib, Bonn 1965, S. 444 f. 19 Ich zitiere die Odyssee nach der Ausgabe: Homers Odyssee übersetzt von Johann Heinrich Voß, hg. von Abraham Voss, Leipzig 1837. 20 Schmitz: Leib, S. 449. 21 Vielleicht sollte man etwas einschränkend sagen: »im europäischen und männlichen Erleben«. Wer jemals einen Blick in die Studie von Ute Gahlings: Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen, Freiburg/München 2006, geworfen hat, merkt erst, wie sehr die Beschreibung derartigen Erlebens männlich zentriert ist. 22 Schmitz: Leib, S. 457. 23 Vgl. Politeia, 608D. Ich zitiere Platon nach der Ausgabe: Platon. Sämtliche Werke in drei Bänden, hg. von Erich Loewenthal, Darmstadt 2004. 24 Schmitz: Leib, S. 463. 25 Schmitz: Leib, S. 480. 6

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Schmitz: Leib, S. 481. Vgl. dazu Caspar Kulenkampff: Entbergung, Entgrenzung, Überwältigung als Weise des Standverlustes. Zur Anthropologie der paranoiden Psychosen, in: Erwin Straus/Jürg Zutt (Hg.): Die Wahnwelten. Endogene Psychosen, Frankfurt a. M. 1963, S. 202–217. 28 Vgl. Jürg Zutt: Über Daseinsordnungen. Ihre Bedeutung für die Psychiatrie, in: Straus/Zutt: Wahnwelten, S. 169–192 und Paul Leroy: Angst und Lachen. Versuch zur Würdigung des Gleichgewichtes, Wien/Bad Bocklet/Zürich 1954. 29 Vgl. dazu K. R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I: Der Zauber Platons, Bern 2/1970, v. a. S. 126 ff.: Platons politisches Programm, und S. 228 ff.: Der zeitgenössische Hintergrund von Platons Angriff. 30 Am 21./22. 10. 1916 schreibt der 18-jährige Brecht in sein Tagebuch: »Jetzt werde ich gesünder. Der Sturm geht immer noch, aber ich lasse mich nimmer unterkriegen. Ich kommandiere mein Herz. Ich verhänge den Belagerungszustand über mein Herz. Es ist schön zu leben. – 22. 10. Nein. Es ist sinnlos, zu leben. Heute Nacht habe ich einen Herzkrampf bekommen, daß ich staunte, diesmal leistete der Teufel erstklassige Arbeit. Heute philosophiere ich wieder …« Zitiert nach: Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Journale 1, hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin/Weimar 1994, Bd. 26, S. 108 f. Ausgerechnet die zitierte Stelle wird (natürlich!) nicht kommentiert, und schon gar nicht durch einen Verweis auf die epochemachende Untersuchung von Carl Pietzcker: »Ich kommandiere mein Herz«. Brechts Herzneurose – ein Schlüssel zu seinem Leben und Schreiben, Würzburg 2/1988, in der aufgezeigt wird, in welch hohem Maß Brechts Kampf gegen sein Herz und gegen alles, wofür das Herz steht, sein Leben und Werk auf das tiefste geprägt hat. 31 Ich zitiere Herder nach der Ausgabe: J. G. v. Herders sämmtliche Werke, Carlsruhe 1820. 32 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 48 f. 33 Ich zitiere die Ilias nach der Ausgabe: Homer’s Ilias von Johann Heinrich Voß, Stuttgart und Tübingen 1842. Die Anführungszeichen habe ich als Ironie-Signal hinzugefügt. 34 Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 2/1994, S. 54; vgl. zu dem Thema auch das Kapitel »Das ›homerische Gelächter‹« bei Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, Tübingen 1992, S. 18–24. 35 Vgl. von Matt: Liebesverrat, S. 53–76, v. a. S. 54 ff. und S. 74 ff. 36 Vgl. dazu Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980, S. 101 ff. über verschiedene Typen von Meuten. Canetti beschreibt zwar u. a. die Klagemeute (S. 114 ff.), kennt aber seltsamerweise keine Lachmeute. 37 Frederick Neumann: Über das Lachen und Studien über den platonischen Sokrates, Den Haag 1971, S. 14. 27

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Anmerkungen 38

Vgl. dazu Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, S. 169 ff. und S. 479 ff. 39 Schmitz: Gefühlsraum, S. 483. 40 Vgl. dazu Philebos, 42E–D. 41 Vgl. dazu Schmitz: Leib, S. 329–334. 42 Schleiermacher ergänzt in seiner Übersetzung diese Aufzählung unter 47e durch den Neid, was ja auch sinnvoll ist, weshalb ich ihm hier folge. 43 Vgl. Schmitz: Gefühlsraum, S. 468. 44 Michael Mader: Das Problem des Lachens und des Komischen bei Platon, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977 und Karl-Josef Kuschel: Lachen. Gottes und der Menschen Kunst, Freiburg/Basel/Wien 1994. 45 Ich zitiere Gadamer nach der Ausgabe: Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke, Tübingen 1985, hier: Platos dialektische Ethik (1931), Bd. 5, S. 134. 46 J. J. Engel’s Mimik. Neu herausgegeben und eingeleitet von Theodor Mundt, 2 Bde, Berlin 1845, hier I,147. Zur Unterscheidung von Neid und Mißgunst vgl. auch die Studien: Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 5/1968, S. 210 ff.; Helmut Schoeck: Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, Freiburg/München 2/1968; Christoph Demmerling/Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007; Hilge Landweer (Hg.): Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007. Simmel, Demmerling und Landweer unterscheiden Neid und Mißgunst, und sehen Neid und Eifersucht als Varianten eines Gefühls an; für Schoeck unterscheiden sich Neid und Mißgunst kaum. 47 Gustav Bally: Vom Spielraum der Freiheit. Die Bedeutung des Spiels bei Tier und Mensch, Basel/Stuttgart 1966. 48 Vgl. dazu auch die Übersetzungsdiskussion bei Mader, S. 94, Anmerkung 69. 49 Vgl. dazu Lenz Prütting: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 17 (2006) 1/2, S. 123–136. 50 Neumann: Lachen, S. 14. Neumanns Ansatz zu einer Theorie des Lachens ist axiologisch orientiert, reduziert das Lachen auf das Interaktions-Lachen und unterscheidet hier wieder zwei Arten des Lachens: das »elenktische«, d. h. das ad personam adressierte Auslachen als Form negativer Zuwendung und das »humoristische« Lachen, d. h. das Anlachen als Form positiver Zuwendung: »Der Humor lacht nicht ein Schlechtes aus, sondern er lacht ein Gutes an.« (S. 23) 51 Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M. 1987, S. 13 f. Die zitierte Übersetzung des Theaitetos-Dialogs stammt von Martin Heidegger. 52 Blumenberg, S. 13. 53 »Blödigkeit« heißt zur Zeit Hölderlins soviel wie »Verlegenheit«, »Weltfremdheit« resp. »Weltungewandtheit«, »Unsicherheit in der Öffentlichkeit«. In der Aufbruchszene in »Faust I« wird der Übergang in der Wortverwendung deutlich, wenn Mephisto das ältere Wort verwendet und Faust rät: »Nun greift mir zu und seid nicht blöde!« (V. 1764), während Faust sein Zögern mit dem moderneren Wort artikuliert: »Vor andern fühl ich mich so klein / Ich werde stets verlegen sein.«

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Platon oder Die Frage nach der Ambivalenz

(V. 2060) Vgl. dazu auch Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989, sowie Jochen Schmidt: Hölderlins später Widerruf in den Oden »Chiron«, »Blödigkeit« und »Ganymed«, Tübingen 1978. 54 Ob der griechische Text eine solche Übersetzung und Interpretation zuläßt, kann ich selbst leider nicht beurteilen. Vgl. dazu auch die intensive und z. T. auch recht gereizte geführte Debatte über Blumenbergs Analyse der Thales-Anekdote in dem Sammelband: Das Komische. Poetik und Hermeneutik VII, hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München 1976, S. 429–445. Einige Anregungen zur Interpretation der Thales-Anekdote erfuhr ich von Peter M. Steiners Aufsatz »Das Lachen als sozialer Kitt. Über die Theorie des Lachens und des Lächerlichen bei Platon« in dem Sammelband: Siegfried Jäkel/Asko Timonen (Hg.): Laughter down the Centuries, 2 Bde, Turku 1994/1995, S. 65–78, in dem sich noch einige andere wichtige Aufsätze befinden, z. B. die von Wolfgang Kullmann: Die antiken Philosophen und das Lachen, Bd. II, S. 79–98, und von Hellmut Flashar: Aristoteles, das Lachen und die Alte Komödie, Bd. I. S. 59–70. 55 Den Ausdruck »Interaktions-Lachen« resp. »Interaktions-Lächeln« übernehme ich aus dem höchst anregenden Aufsatz von Volker Rittner: Das Lächeln als mimischer Stoßdämpfer, der sich in dem Sammelband: Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, hg. von Dietmar Kamper/Christoph Wulf, Frankfurt a. M. 1986, S. 322–337 findet. 56 Vgl. dazu Schmitz: Leib, S. 463 ff. 57 Vgl. dazu Ernst Milobenski: Der Neid in der griechischen Philosophie, Wiesbaden 1964, S. 21–58, und Thomas Rakoczy: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Auges in der griechischen Literatur, Tübingen 1996, S. 121–134. 58 Vgl. dazu Schmitz: Gefühlsraum, S. 469, Anmerkung 1226. 59 Ich zitiere Hesiod nach der Ausgabe: Hesiods Werke und Orfeus der Argonaut von Johann Heinrich Voß, Heidelberg 1806. Voß übersetzt Hesiods Titel Erga kai hemera mit »Hauslehren«. 60 In seiner Studie: Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1983, unterscheidet Peter Sloterdijk das »zynische« resp. »herrenzynische« Auslachen-vonoben vom plebejisch-»kynischen« Auslachen-von-unten. Diese Unterscheidung von »zynisch« und »kynisch« übernehme ich und setze sie im folgenden immer voraus. 61 Vgl. dazu Kuschel: Lachen, S. 34 f. mit Verweis auf Robert Muth: Die Götterburleske in der griechischen Literatur, Darmstadt 1992. 62 Vgl. dazu auch Milobenski: Neid, S. 25. Schleiermacher übersetzt die Passage: »Neid ist verbannt aus dem göttlichen Chor.« 63 Vgl. dazu Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1998, S. 161 (III,26). 64 Vgl. dazu Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim/Wien/Zürich 1972, S. 145 ff. 65 Vgl. Kamlah, S. 118 ff. über spezielle Handlungsnormen.

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Anmerkungen 66

Vgl. dazu Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde, Frankfurt a. M. 2/1977. Der erste Band über »Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes« ist für unsere Fragestellung besonders aufschlußreich.

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2.3 Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

2.3.1 Umriß der Fragestellung Wenn man die Behauptung Whiteheads ernst nimmt, die europäische Philosophie sei nicht sehr viel mehr als eine Folge von Fußnoten zu Platon, so wäre das Werk des Aristoteles wohl die erste und umfangreichste dieser Fußnoten. Allerdings erscheint Aristoteles unter diesem Aspekt nicht als Schüler oder gar als Epigone Platons, sondern als dessen weitgehend selbständiger Nachfolger, Gegenspieler und Überwinder, auch wenn er oft genug Fragestellungen Platons übernimmt. Dies gilt auch im Hinblick auf das Thema, das uns hier im wesentlichen interessiert, im Hinblick also auf die Frage nach Wesen, Form, Funktion und Wertung des Lachens, denn ganz anders als Platon, der sein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Lachen nie überwinden konnte, sah Aristoteles das Lachen nicht nur als ein vorgegebenes Phänomen an, das wie jedes andere Phänomen auch einer philosophischen Betrachtung würdig ist, sondern erhob es sogar zum proprium hominis, zu einem Vermögen also, über das einzig der Mensch verfügt und das deshalb in ganz besonderem Maße der Untersuchung bedarf, weil wir anhand einer Untersuchung des Lachens zugleich auch etwas über uns selbst erfahren. In Buch V seiner Metaphysik 1 schreibt Aristoteles, daß die menschliche Vernunft auf drei verschiedenen Wegen tätig werden kann, indem sie immer »entweder handelt oder schafft oder betrachtet« (1025b). Aus diesen drei philosophischen Tätigkeitsbereichen Praxis, Poiesis und Theorie leitet Aristoteles dann drei Aufgabenbereiche der Philosophie ab:

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Umriß der Fragestellung

• Zu dem Bereich der Praxis, also zum Gesamtbereich gesellschaftlicher Interaktion, die jedoch keinerlei körperliche Arbeit impliziert, gehört als philosophische Disziplin die Ethik, also die praktische Philosophie; • zum Bereich der Poiesis, dem Bereich aller handwerklichen und künstlerischen Produktion, gehört als philosophische Disziplin die Ästhetik; • und zum Bereich der Theorie gehören laut Aristoteles alle betrachtenden und beschreibenden, aber nicht selbst eingreifenden Wissenschaften, also die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Theologie. Diese in sich konsequente, aber für unseren heutigen Sprachgebrauch ungewöhnliche Aufteilung 2 ergibt sich für Aristoteles daraus, daß es in den beiden Bereichen Praxis und Poiesis um menschliche Zwecksetzungen und Leistungen geht, die in unserer Verfügungsgewalt liegen und wofür wir auch verantwortlich gemacht werden können, wohingegen im Bereich der (aristotelischen) Theorie sich der Blick auf Phänomene richtet, die einfach vorgegeben und damit unserer Verfügungsgewalt schlechthin entzogen sind. Hier kann es nur darum gehen, zu sammeln und zu sichten, zu beschreiben, zu analysieren und zu verstehen, aber nicht darum, zu werten und zu richten. Ganz konsequent ist Aristoteles selbst hier allerdings nicht, denn wir werden sehen, wie sich durch sein hierarchisierendes Denken gleichsam durch die Hintertür sofort wieder massive Wertungen in seine empirisch orientierten Beschreibungen einschleichen. Mit dieser entschlossenen Auflösung der bei Platon geltenden strikten Verschränkung von Ontologie und Ethik hat sich Aristoteles in der Ausrichtung seines Denkens weitgehend von seinem Lehrer Platon emanzipiert, und dies hat auch weitreichende Folgen für die Art und Weise, wie er das Phänomen des menschlichen Lachens angeht, denn auch hier bricht er die bei Platon vorgegebene strikte Verschränkung von Lachen und Ethik auf und bringt sich dadurch in die Lage, das Lachen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen aufzusuchen und dessen Analyse ganz unterschiedlichen Bereichen der Philosophie zuzuweisen. Aus diesem Grund gelingt es ihm auch, den reduktionistischen Blick auf das Lachen, den wir bei Pla143 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

ton und seinen Epigonen bis herauf zu Bergson finden und demzufolge Lachen eben Auslachen-von-oben ist und sonst nichts, zu vermeiden und zur Untersuchung des Lachens in der Vielfalt seiner Erscheinung anzusetzen. Somit ist für Aristoteles das Lachen • als natürliches Phänomen Thema der Naturphilosophie, also Thema der Theorie; • als ästhetisch organisiertes kulturelles Phänomen Thema der Ästhetik und gehört damit zum Bereich der Poiesis; • als ethisches Phänomen Aspekt einer gesellschaftlichen Verhaltensnorm und eines pädagogischen Programms, damit wiederum Thema der praktischen Philosophie und gehört zum Bereich der Praxis. Damit ist Aristoteles der Ahnherr aller ideographischen Theorien des Lachens, die das Lachen in seiner ganzen Bandbreite darzustellen suchen, und somit auch der früheste Wegbereiter der hier vorliegenden Untersuchung. Daß er, anders als Platon, fähig und willens war, das Lachen in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zu sehen und zu würdigen, verdankt sich vor allem dem Umstand, daß er den zentralem Impuls Platons zur bedingungslosen Selbstbemächtigung nicht blindlings und dogmatisch übernahm, sondern erst einmal fragte, welche der verschiedenen menschlichen Verhaltensweisen überhaupt dem Willen unterworfen sind und welche dies nicht sind, welche also von uns bewußt und gezielt als Handlung ausgeführt werden können und welche sich an uns und mit uns als unverfügbares Widerfahrnis vollziehen. Die Einführung dieses Kriteriums der Verfügbarkeit setzte ihn überhaupt erst in den Stand, die Frage nach der Natur des Lachens viel genauer und differenzierter anzugehen und Platons Verwerfung des Lachens durch seine strikte Verschränkung von Lachen und Ethik zu überwinden. Demnach ist das Lachen für Aristoteles • als unverfügbares Widerfahrnis ein natürliches Phänomen, damit aber ethisch irrelevant; • als steuerbares Widerfahrnis ein kulturelles Phänomen und damit zwar ästhetisch relevant, aber ethisch irrelevant; • als gezielt vollzogenes und eingeübtes Verhalten ein ethisch relevantes Phänomen, Gegenstand eines pädagogischen Programms und damit Thema der praktischen Philosophie. 144 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als natürliches Phänomen

Dieser Aufteilung wollen wir nun auch in unserem Argumentationsgang folgen. 2.3.2 Lachen als natürliches Phänomen 2.3.2.1 Aristoteles als Naturphilosoph Aristoteles gilt allgemein als der Begründer der empirisch orientierten und streng systematisch vorgehenden Naturwissenschaften, für die prinzipiell alles Vorfindliche in gleicher Weise der vorbehaltlosen Erforschung würdig ist. Deshalb hat man ihn auch schon in der Antike als den »Sekretär der Natur« bezeichnet, der seine Schreibfeder in die Tinte der Vernunft 3 tauche. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen in den naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles ein Zug, der uns bei einem zeitgenössischen Naturwissenschaftler durchaus befremden würde, weil sein Vorgehen uns eher an die Sicht eines Künstlers auf das Werk eines Kollegen erinnert oder an die Art der Naturbetrachtung, wie wir sie aus der teleologisch orientierten Physikotheologie des 18. Jahrhunderts als »irdisches Vergnügen in Gott« (Brockes) kennen. In den ersten Sätzen seiner Abhandlung Über die Glieder der Geschöpfe 4 schreibt er nämlich über das Studium der animalischen Natur: »Denn auch bei denjenigen Dingen, die ein für unser Auge weniger reizvolles Äußeres haben, gewährt die Natur dadurch, daß sie bei der wissenschaftlichen Betrachtung ihre Schaffenskraft enthüllt, denen, die die Struktur des Naturgeschehens zu erkennen vermögen, unbeschreibliche Freuden. Es wäre in der Tat widersinnig und unbegreiflich, wenn wir uns an bloßen Abbildungen davon erfreuen wollten, weil wir zugleich die Schaffenskraft des Künstlers erfassen – denn das ist ja der Fall in Malerei und Plastik – andererseits uns nicht noch mehr freuen sollten an der Betrachtung der Naturgebilde selbst, zumal wir imstande sind, uns einen Einblick in ihre Struktur zu verschaffen. Deswegen soll man nicht in kindischer Weise Widerwillen bei der Untersuchung der niederen Tiere hegen. Denn es liegt nämlich in allen Naturdingen etwas Wunderbares. Und wie Heraklit zu den Fremden, die ihn besuchen wollten, aber beim Eintreten ihn sich am Backofen wär-

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Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

men sahen und daher stehen blieben, gesagt haben soll, sie möchten ungescheut eintreten, denn auch hier seien Götter, ebenso soll man an die Untersuchung eines jeden Tieres herangehen, ohne die Nase zu rümpfen, vielmehr in der Gewißheit, daß in ihnen allen etwas Natürliches und Schönes steckt. Ich sage ›Schönes‹, denn in Werken der Natur und gerade in ihnen herrscht die Zweckbestimmtheit und nicht blinder Zufall. Der Endzweck aber, um dessentwillen etwas besteht oder geworden ist, ist an die Stelle des Schönen getreten. Wenn jemand sich wirklich einbildet, die Untersuchung der anderen Lebewesen sei etwas Niedriges, sollte er logischerweise diese Meinung auch von seiner eigenen Person hegen, denn man kann nicht ohne Widerwillen die Bestandteile eines Menschen betrachten.« 5

Dazu kommt bei Aristoteles noch ein anderer Zug, der uns bei einem zeitgenössischen Naturwissenschaftler ebenfalls befremden würde. Wenn er nämlich im gleichen Zusammenhang schreibt, von den Erzeugnissen der Natur seien einige »in aller Ewigkeit ungeworden und unvergänglich«, andere jedoch hätten »am Werden und Vergehen teil« und damit meint, die einzelnen Lebewesen seien sterblich, die Gattungen hingegen nicht und die unbelebte Natur sowieso nicht, so kommt uns diese Haltung heute deshalb so fremd vor, weil wir gar nicht mehr anders können, als alles grundsätzlich historisch zu verorten und deshalb auch die »Ereignisse der Natur«, so wie wir sie heute vor uns sehen, als Momentanzustand im Rahmen eines historischen Prozesses betrachten, der allerdings unendlich langsam abläuft. Ein Gebirge z. B. ist für uns eben kein ewiges Gebilde, sondern etwas, das irgendwann vor langer Zeit aufgefaltet worden ist und irgendwann auch wieder abgetragen sein wird. Diesen historisierenden Blick auf die Natur gibt es bei Aristoteles nicht, weshalb er auch durchwegs dazu neigt, auch aktuelle gesellschaftliche Zustände als naturgegeben, naturgemäß und naturnotwendig und damit auch als »ungeworden und unvergänglich« anzusehen. Dies führt z. B. dazu, daß er in seiner Politik 6 mit bestem Gewissen behaupten kann, bestimmte Leute seien »Sklave von Natur« (1254a), als ob es einen Schöpfungsplan gebe, in dem dies für alle Ewigkeit festgeschrieben sei. Allerdings muß man sich dessen bewußt sein, daß auch dieser für uns heute so selbstverständliche historisierende Blick selbst wie146 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als natürliches Phänomen

der ein Produkt der historischen Entwicklung ist, erst vor rund 200 Jahren entstanden ist und den Pfaffen aller Offenbarungsreligionen in langen und mühseligen Kämpfen abgetrotzt werden mußte, die auch heute noch nicht völlig beendet sind, wie der erbitterte Widerstand der christlichen Fundamentalisten gegen Darwins Evolutionstheorie zeigt. Wegen dieses frommen empathischen Blicks auf die Natur sah Aristoteles nicht nur überall eine durchgehende Zweckbestimmtheit walten, sondern auch Hierarchien aller Art und war bestrebt, für jedes Phänomen den ihm und nur ihm allein zukommenden »natürlichen Ort« innerhalb der jeweiligen hierarchischen Ordnung zu finden und es dort einzuordnen, weil er überzeugt war, nur dadurch auch das oikaion oder proprium eines Phänomens, also das Charakteristische einer Sache, benennen zu können. Dieser gleichsam »imperiale« Drang zum Ordnen und Systematisieren erscheint uns heute eher als naturphilosophisch denn als naturwissenschaftlich und eher als spekulativ denn als empirisch orientiert, und oft genug opfert Aristoteles denn auch die mögliche Empirie der Spekulation, weil der von ihm entfachte Drang zur Systematisierung ihn allzu leicht dazu verführte, seine Beobachtungen einer vorgefaßten oder von der Theorie geforderten Hierarchie unterzuordnen. So behauptet er z. B., die Körperwärme sei ein Kriterium für die Ranghöhe eines Lebewesens in der Hierarchie des Lebendigen oder eines Körperteiles im Rahmen des ganzen Körpers, und deshalb sei die rechte, wertvollere Körperhälfte wärmer als die linke und das Herz wärmer als das Gehirn, und deshalb hätten Männer eine höhere Körpertemperatur als Frauen, weil sie ja auch in der Gesellschaft einen höheren Rang einnähmen als Frauen. Eng mit dem Kriterium der Körperwärme ist für Aristoteles das Kriterium der Beweglichkeit verbunden, da Aristoteles sich eine Art von »Relativitätstheorie« zurechtgelegt hatte, derzufolge Bewegung und Wärme restlos ineinander überführbar sind, sodaß Wärme aus Bewegung entsteht, Bewegung aber auch wieder aus Wärme. Demgemäß ist für ihn nicht nur die Körperwärme ein Kriterium für die Ranghöhe eines Lebewesens im Ständestaat des Seienden, sondern auch dessen Grad an Beweglichkeit, und des147 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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halb nehmen die Pflanzen den niedrigsten Rang ein, weil sie nicht nur fest verwurzelt sind, sondern auch kalt, der Mensch hingegen (genauer: der Mann) als die Krone der Schöpfung den höchsten Rang, weil er nicht nur die höchste Körperwärme hat, sondern durch seine Hand, dem »Organ der Organe« 7, auch das höchste Maß an Beweglichkeit. Ähnlich wie Platon drei hierarchisch gegliederte Seelen oder Seelen-Teile postulierte und analog dazu drei hierarchisch gegliederte Stände in seinem Idealstaat, gibt es auch für Aristoteles drei Seelen resp. Seelen-Teile von unterschiedlicher Ranghöhe – die »Ernährungsseele«, die »Empfindungsseele« und die »Denkseele« –, die er allerdings nicht wie Platon in der menschlichen Gesellschaft wiederfindet, sondern im menschlichen Körper und darüber hinaus im Gesamtbereich des Lebendigen und zwar so, daß Pflanzen nur über die Ernährungsseele verfügen, Tiere aber zusätzlich noch die Empfindungsseele haben. Nur der Mensch als Krone der Schöpfung und Maßstab für alles Lebendige verfügt laut Aristoteles über alle drei Seelen resp. Seelen-Teile, die in seinem Körper in hierarchisch übereinander gelagerten Regionen ihren natürlichen Ort haben: die Ernährungsseele in den Eingeweiden unterhalb des Zwerchfells, die Empfindungsseele im Bereich des Herzens und die Denkseele 8 im Kopf. Der Widerspruch, daß die Denkseele als die ranghöchste eigentlich nicht im »kalten« Gehirn liegen dürfte, sondern im »heißen« Herzen, scheint Aristoteles nicht zu stören. Ein weiteres Kriterium, das Aristoteles in all seinen Schriften immer wieder anführt, ist das Kriterium der Mitte oder Mittellage als der wertvollsten und wichtigsten aller möglichen »natürlichen Örter« – »Denn Mitte ist nur eines.« (Glieder, 66a) –, weshalb z. B. das Herz als das wertvollste Organ bei allen Lebewesen danach strebt, die Körpermitte einzunehmen: »Es liegt um die Mitte, mehr oben als unten, mehr vorn als hinten. Denn die Natur hat das Edelste immer auch an die edlere Stelle versetzt, wo nicht ein wichtigerer Gesichtspunkt im Wege stand. Am besten zu erkennen ist das Gesagte beim Menschen, doch zeigt das Herz auch bei den andern Geschöpfen ganz ähnlich das Bestreben, die Mitte des Leibes, soweit er lebenswichtig ist, zu halten.« (Glieder, 65b)

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Lachen als natürliches Phänomen

All diese Kriterien, also Wärme, Bewegung, Ranghöhe, Mittellage und Drei-Seelen-Lehre, finden wir wieder, wenn wir nun nachprüfen, was Aristoteles über das Lachen zu sagen weiß. 2.3.2.2 Das Zwerchfell als der natürliche Ort des Lachens Über das Lachen äußert sich Aristoteles in seinen naturwissenschaftlichen Schriften ausführlicher nur an einer Stelle, wenn er in der Abhandlung Über die Glieder der Geschöpfe auf das Zwerchfell zu sprechen kommt. Dort schreibt er über Herz und Lunge bzw. über Leber, Milz und Nieren: »Diese Teile werden voneinander getrennt durch das Zwerchfell. Dieses Zwerchfell nennen manche (gemeint ist Homer) auch phrenes (als Sitz des Verstandes). (…) Alle Bluttiere besitzen es, genau wie Herz und Leber. Der Grund ist, daß es trennen soll den Bereich des Bauches und des Herzens, damit die Quelle der Wahrnehmungsseele (d. h. das Herz als Sitz des Gefühls) unberührt bleibe und nicht sofort in Mitleidenschaft gezogen werde durch die von der Nahrung ausgehenden Ausdünstungen und die Menge der zugeführten Wärme. Zu diesem Zweck nämlich hat die Natur eine Scheidung vorgenommen und einen Vorbau geschaffen und als Abkleidung das Zwerchfell gegeben, das den wertvolleren und geringeren Bereich zu trennen hat, soweit die Geschöpfe eine Trennung in Oben und Unten zulassen. Das Oben ist nämlich der Zweck und das Wertvolle, das Unten nur Mittel und Notwendigkeit zur Aufnahme der Nahrung. Das Zwerchfell ist nach den Seiten zu fleischiger und stärker, nach der Mitte häutiger. So ist es ja für Kraft und Spannung am geeignetsten. Daß das Zwerchfell gegen die von unten aufsteigende Wärme eine Art Vordach ist, beweisen die Vorgänge. Sobald es nämlich aus der Nachbarschaft warme Feuchtigkeit und Abscheidungsstoff angesogen hat, bringt es sichtlich Geist und Empfinden in Verwirrung, und darum eben heißt es auch Phrenes, weil es (laut Homer) mit dem Denken 9 zusammenhängen soll. Es hängt nun zwar nicht damit zusammen, aber da es den Teilen, die wirklich damit zusammenhängen, benachbart liegt, dient es als Anzeiger für die Wandlung des Denkvermögens. Daher ist es auch in der Mitte so dünn, nicht nur aus notwendigen Grün-

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den, weil sein fleischiger Bestandteil mehr nach den Seiten zu sitzen muß, sondern auch, damit es so wenig Säfte wie möglich enthalte. Denn je fleischiger es wäre, desto mehr und desto eher enthielte es und zöge es Säfte. Daß das Zwerchfell bei Erwärmung schnell die Empfindung anzeigt, beweisen die Vorgänge beim Lachen. Wenn man nämlich gekitzelt wird, lacht man sofort, weil die Bewegung schnell an diese Stelle gelangt und, obwohl sie nur ganz wenig erwärmt, denn doch die Gesinnung ans Licht bringt und erregt, und zwar gegen den Willen. Daß nur der Mensch kitzlig ist, liegt an der Feinheit seiner Haut und an dem Umstand, daß nur er von allen Geschöpfen lachen kann. Kitzel ist Gelächter durch Reiben einer geeigneten Stelle in der Gegend der Achselhöhlen. Man erzählt, es komme in Kämpfen vor, daß durch Schläge in der Gegend des Zwerchfells Gelächter verursacht werde, wohl wegen der durch den Schlag erzeugten Wärme. (…) Bei den Wilden (…) ist dies noch niemals vorgekommen. (…) Daß das Lachen bei einem Schlag gegen das Zwerchfell bei ihnen nicht eintritt, versteht man, weil sie überhaupt nicht lachen.« (Glieder, 69b–73a)

Ich habe Aristoteles so ausführlich zu Wort kommen lassen, weil die hier zitierte Passage über die Genese des menschlichen Lachens für die Art und Weise, in der Aristoteles zu argumentieren pflegt, durch die Mischung aus Spekulation und Empirie alle für ihn typischen Stärken und Schwächen deutlich macht. Da Aristoteles durch seine Tendenz, das jeweilige oikaion einer Sache aufzuzeigen, eine reduktionistische Argumentation im allgemeinen vermeidet, ist auch hier zu fragen, was das Besondere und Typische der Art von Lachen ist, die Aristoteles hier beschreibt und was von dieser Beschreibung auf andere Arten von Gelächter übertragen werden darf. Die von Aristoteles hier dargestellte Form von Lachen, das durch Kitzeln ausgelöste Lachen, ist laut seiner Beschreibung ein unverfügbares Widerfahrnis, das sich an uns und mit uns und auch »gegen unseren Willen« vollzieht, also eine Art von Automatismus oder Reflex. Es entsteht, laut Aristoteles, aus Wärme resp. aus Bewegung, sitzt im Zwerchfell und ist ein Verhalten, das ausschließlich dem Menschen, genauer: dem zivilisierten Menschen vorbehalten ist, nicht dem Wilden und schon gar nicht den Tieren. Es ist, 150 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als natürliches Phänomen

mit anderen Worten, ein oikaion oder proprium des zivilisierten Menschen. Mit dieser physiologisch orientierten Ätiologie des Lachens setzt sich Aristoteles ausdrücklich vom lange gültigen homerischen Menschenbild ab, demgemäß die phrenes nicht als Zwerchfell, also als anatomisch genau bestimmbares Organ zu verstehen sind, sondern als Regungsherd ohne scharfe Grenzen in einer auch nur ungefähr lokalisierbaren Körperregion. Außerdem haben im homerischen Menschenbild die phrenes und der thymos, der in der Herzgegend liegt, auch keine physiologisch bestimmbare Funktion, sondern sind Regungsherde, in denen gefühlsträchtige Entscheidungen fallen, weil die homerischen Helden ihre Entscheidungen »aus dem Bauch heraus« zu treffen pflegen: »›Gedacht‹ wird bei Homer eben nicht mit dem ›Kopf‹, sondern mit dem thymos, der die Aufgabe des Erwägens einer Situation anscheinend unabhängig von der Person übernehmen kann. Es denkt also nicht das Ich, sondern ein ›Es‹, der thymos, der diese Regung so für die Person oder an ihrer Stelle vollzieht, daß Odysseus fast befremdet fragt: ›Aber warum hat der thymos für mich so gesprochen?‹«10

Gleiches gilt bei Homer für die phrenes: »Kluges Denken ist für Homer eben kein rein geistiger Vollzug, sondern Leistung kraftvoller, vornehmlich in der Zwerchfellgegend spürbarer Spannung.« 11

Für Aristoteles gilt all dies nicht mehr, denn für ihn ist Denken und Fühlen säuberlich getrennt und im Körper an ganz unterschiedlichen, anatomisch genau bestimmbaren Stellen lokalisiert: Gedacht wird im »kalten Bereich« (Glieder, S. 104), also im Kopf bzw. im Gehirn, auch wenn die Wörter phrenes und phronesis (Einsicht/ Gesinnung/Besonnenheit) rein etymologisch noch so verwandt sein mögen, gefühlt aber wird im Herz: »Das Herz entsteht zuerst von allen Gliedern und ist von vornherein voller Blut. Auch gehen offenbar alle Regungen der Freude, des Schmerzes und überhaupt aller Empfindungen von dort aus und enden auch wieder bei ihm. So ist es auch durchaus sinnvoll. Denn wo dies möglich ist, soll der Ursprung einheitlich sein, und dazu ist der geeignetste Bereich die Mitte. Denn Mitte ist nur eines.« (Glieder, 66a)

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Mit dieser Lokalisierung des Lachens im Zwerchfell lokalisiert Aristoteles das Lachen weitab von jeglicher Geistestätigkeit und ganz nahe am Bereich der Gefühle, aber eben nicht im Zentrum der Gefühle. Das aber heißt, daß Aristoteles mit dem Lachen ein proprium des Menschen jenseits oder abseits seiner Intellektualität bestimmt, und zwar ohne jeden Anhauch von Bedauern. Für Platon eine geradezu skandalöse Vorstellung! 2.3.2.3 Kitzel, Lachen, Niesen, Stottern Gegen diesen von Aristoteles vorgelegten Versuch einer physiologischen Ätiologie des Lachens lassen sich einige Einwände schon bei immanenter Kritik erheben. Wenn nämlich das Kitzel-Lachen ein automatisch ablaufendes Reflexverhalten wäre und die aristotelische Theorie von der wechselseitigen Ersetzbarkeit von Wärme und Bewegung stimmen würde, dann müßte man auch dann lachen, wenn man sich selbst kitzelt, was bekanntermaßen nicht der Fall ist, und die Intensität des Lachens müßte direkt abhängig sein von der Intensität der Berührung und dem Maß der dadurch dem Zwerchfell zugeführten Wärme. Man müßte also auch lachen, wenn man gestreichelt, geschlagen, gekratzt oder massiert wird, und auch dies ist bekanntlich nicht der Fall. Ganz offensichtlich sind also beim Kitzel-Lachen ganz andere oder weitere Kriterien entscheidend, die Aristoteles aber übersehen zu haben scheint, denn man muß, um durch Kitzeln zum Lachen gebracht zu werden, • auf eine ganz bestimmte Art berührt werden; • man muß von fremder Hand in dieser bestimmten Art und Weise berührt werden; • man muß sich dieser Berührung willig hingeben; • und diese Berührung durch eine fremde Hand darf in keiner bedrohlichen oder auch nur als bedrohlich empfundenen Situation erfolgen. Wie jeder weiß, ist der Kitzeleffekt um so stärker, je leichter die Berührung ist, und am stärksten ist der Kitzeleffekt bei einem zarten Hauch von Berührung, bei einer Berührung also, die sich im aktuellen Vollzug gleichsam selbst wieder zurücknimmt, sodaß die152 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als natürliches Phänomen

se Berührung nicht flächig, sondern nur punktuell und als Folge momentaner winziger Hautkontakte erfolgt. Deshalb sind spitze, aber zugleich auch weiche Gegenstände die idealen Instrumente, um diesen ambivalenten Effekt des Kitzels hervorzurufen, also Fingerspitzen, Haare, Federn und ähnliches mehr. Mit anderen Worten und in entschlossener Vorwegnahme einer Begrifflichkeit, die im systematischen Teil dieser Untersuchung explizit erläutert werden soll: Kitzeln ist eine epikritisch pointierte Art der Berührung von ambivalenter Anmutung, und die Wahrnehmung von Kitzel ist Einleibung von epikritischen Berührungs-Pointen, die mit einer bestimmten Form von Lachen quittiert wird. Daß Aristoteles auf diese Besonderheiten des Kitzelns nicht weiter eingeht und sich mit dem Hinweis auf die Feinheit und Empfindlichkeit und damit auch auf die Nacktheit der menschlichen Haut als einem weiteren proprium des Menschen begnügt, ist schon verwunderlich, weil die höchst ambivalente Anmutung beim Gekitzeltwerden sich genau auf der Grenze zwischen Lust und Unlust bewegt und somit durchaus auch als ein Phänomen der »Mitte« im aristotelischen Sinn gedeutet werden könnte, das deshalb mit dem Sitz des Lachens in der Mitte des menschlichen Körpers notwendig und sinnvoll zusammenhängen müßte. Der »lachende Philosoph« Karl Julius Weber 12, der sich sonst sehr eng an Aristoteles anschließt, hat dies nicht übersehen, wenn er ausdrücklich darauf verweist, der Kitzel sei »der äußerste und letzte Grad des Vergnügens und der erste Grad des Schmerzes« (I,50). Ähnlich argumentiert Helmuth Plessner: »Kitzel ist ein ambivalenter Reizzustand von zugleich angenehmer und unangenehmer Färbung. In ihm halten sich lockende und lästige Momente die Waage. In diesem Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung, dieser Unausgleichbarkeit von Lust und Unlust, die ein beständiges Schwanken und Oszillieren darstellt, besteht das Wesen des Kitzels, einerlei, ob ich ihn an der Fußsohle oder beim Anblick eines Autorennens empfinde. Nicht die Intensität der Reize bzw. Eindrücke entscheidet über die Qualität des Kitzels, sondern die Ambivalenz.« 13

Und dann verweist Plessner mit Recht auf Querverbindungen und Analogien zwischen dem Kitzel und anderen Formen ambivalenten 153 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Verhaltens hin, v. a. auf das Flirten als Zusammenspiel von Locken und Flüchten, Einladen und Ausweichen. Daß man von fremder Hand gekitzelt werden muß, um zum Lachen gebracht zu werden und diese fremde Hand keine als feindlich oder bedrohlich empfundene Hand sein darf, ist ein Gedanke, den man auch schon aus der Definition des Komischen ableiten könnte, die Aristoteles in seiner Poetik 14 anbietet. Dort schreibt er nämlich, Lachen werde erregt durch allerlei Deformationen, die allerdings »keinen Schmerz und kein Verderben« verursachten, »wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz«. (1449a) Entscheidend ist der Hinweis darauf, daß Personen nur dann komisch wirken, wenn deren Deformation von Aussehen und Verhalten weder für sie selbst schmerzhaft noch für deren Betrachter bedrohlich ist, denn dies besagt, daß bestimmte Formen von Gelächter, insbesondere die als beglückend empfundenen, nur in unbedrohlichen, entspannten Situationen möglich sind. (Auf dieses Kriterium sind wir ja schon in Platons Philebos gestoßen.) Daß Kitzeln eine Berührung mit spitzen, aber weichen und also auch unbedrohlichen Gegenständen darstellt, ist ja geradezu Ausdruck einer entspannten, unbedrohlichen Situation, und daß die kitzelnde Berührung sich im aktuellen Vollzug gleichsam selbst wieder zurücknimmt, also, salopp gesprochen, »mit angezogener Handbremse« und als gleichsam »gehauchter Kontakt« geschieht, ist ebenfalls wiederum Ausdruck dieses koketten, flirtigen, lockend-neckenden, aber eben auch schonenden und vertrauensvollen Umgangs miteinander, bei dem allein dieses Zusammenspiel von zurückhaltender Zuwendung im Kitzeln und zurückhaltender Hingabe im Gewährenlassen möglich ist. Daß es nicht um das Kitzelgefühl als solchem gehen kann, geht auch aus dem Umstand hervor, daß wir das Kitzelgefühl, das eine Fliege verursacht, die uns über die Nase krabbelt, durchaus als ärgerliche Belästigung empfinden, die ganz und gar nicht zum Lachen reizt. Was Aristoteles bei seiner Analyse des Kitzel-Lachens also übersehen hat, ist letztlich der Umstand, daß das Gekitzeltwerden bzw. das Sichkitzelnlassen Teilaspekt einer entspannten »gemeinsamen Situation« (Schmitz) ist und nur in einer derart beschaffenen Situa154 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tion überhaupt möglich wird, und daß das Lachen des Gekitzelten nicht nur als Bekundungs-, sondern auch als Interaktions-Lachen gelacht und verstanden werden kann, das zwar verfügbar ist wie alle anderen Formen des Interaktions-Lachens, seine Verfügbarkeit aber sofort verliert, sobald der Gekitzelte die Augen schließt und sich dem Partner preisgibt. (Auf die Beschaffenheit gemeinsamer Situationen beim Kitzel-Lachen und bei allen anderen Formen von Interaktions-Lachen werden wir im systematischen Teil in Kapitel 3.5.4.6.6 ausführlicher einzugehen haben.) Dieser blinde Fleck der Erkenntnis ist bei Aristoteles auch deshalb so verwunderlich, weil er in anderen Zusammenhängen sogar sehr dezidiert auf die Geltung gemeinsamer Situationen verweist und als weitere propria des Menschen seine Sprachfähigkeit nennt, die ihn ja mit anderen Menschen verbindet, und darüberhinaus auch seine Begabung zur Vergemeinschaftung in Form von Politik. In den Problemata physica 15 allerdings, die nicht von Aristoteles selbst, sondern von irgendwelchen Schülern und Nachfolgern der peripatetischen Schule als Unterrichtsmaterial »im Sinne des Meisters« zusammengestellt worden sind und zu einem großen, aber schwer zu bestimmenden Maß auf Aristoteles zurückgehen dürften, finden sich allerdings einige Passagen, die ausführlich auf die Entstehung des »natürlichen Lachens« eingehen und manches zurechtrücken und präzisieren, indem sie das Lachen mit anderen leiblichen Äußerungen wie Stottern oder Niesen in Beziehung setzen. Auch hier wird das »natürliche Lachen« als automatisch erfolgendes Reflexverhalten verstanden, mit dem der menschliche Körper ganz von selbst auf bestimmte Reize reagiert, sofern diese plötzlich und überraschend auftreten, aber nicht als Bedrohung empfunden werden. Die Argumentation ist teils psychologisch, teils physiologisch ausgerichtet und interpretiert das Kitzel-Lachen zum einen als Reaktion auf einen unbedrohlichen, aber überraschenden Scheinangriff, zum anderen als physiologische Reaktion auf plötzlich zugeführte Wärme und Bewegung. So heißt es also in Kapitel XXXV,6: »Warum kann niemand sich selbst kitzeln (und dadurch zum Lachen bringen)? Doch wohl, weil man sich auch von einem anderen weniger (gekitzelt fühlt), wenn man es vorher merkt, mehr aber, wenn man es

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nicht voraussieht. Daher wird man sich am wenigsten gekitzelt fühlen, wenn dies nicht heimlich geschieht. Es besteht aber das Lachen in einer Art betrügerischem Anschlag und in einer Täuschung. Deshalb lacht man auch, wenn einem (unversehens) auf das Zwerchfell geschlagen wird. Denn es ist nicht eine beliebige Stelle, durch die man lacht. Das Heimliche aber geht darauf aus, uns zu täuschen. Auf diese Weise also entsteht das Lachen, und es entsteht nicht durch einen selbst.«

Daß die peripatetischen Verfasser der Problemata das Moment der Überraschung so stark betonen, ist ganz im Sinne des Meisters, denn Aristoteles hatte in seinen Schriften wiederholt 16 die Fähigkeit des Menschen zum Stutzen-und-Staunen und zur Verwunderung als Quelle jeglicher Art von Philosophie, Wissenschaft und Kunst bezeichnet. Und wenn er das Lachen ebenfalls aus dieser Quelle entspringen läßt, so macht er damit deutlich, daß sogar schon das »natürliche Lachen« jenseits aller expliziten Tätigkeit der Vernunft wegen dieser gemeinsamen Herkunft aus dem Aha-Erlebnis als Partner der Vernunft verstanden werden darf. In welcher Art und Weise das Wortfeld »Stutzen/Staunen/Überraschung/Verwunderung/admiratio/thaumazein« mit bestimmten Formen des Lachens auf das innigste verbunden ist, werden wir ausführlich zu erörtern haben, und werden dabei immer wieder darüber zu staunen haben, mit welch genialer Intuition Aristoteles die für uns immer noch entscheidenden Stichwörter geliefert hat. Die physiologisch orientierte Argumentation geht etwas über die hinaus, die wir schon aus der Abhandlung über die Organe der Lebewesen kennen, und so heißt es in Kapitel XXXV,8: »Warum lacht man, wenn jemand uns die Achselhöhle berührt, aber nicht, wenn man irgendeine andere Stelle 17 berührt? Oder: Warum niest man, wenn man mit einer Feder die Nase berührt? Es sind doch wohl dies die Stellen, wo die kleinen Adern liegen, die (die Stellen), wenn sie sie (die Adern) abkühlen oder die gegenteilige Verfassung annehmen, feucht werden oder sich aus Feuchtigkeit in (warme) Luft verwandeln. (…) Diese (Luft) aber lassen wir, wenn sie sich in größerer Menge angesammelt hat, auf einmal heraus. Ebenso lösen wir auch beim Niesen, wenn wir mit der Feder die Nase berühren und erwärmen, (Feuchtigkeit) in (warme) Luft auf. Und wenn es dann eine größere Menge (Luft) geworden ist, stoßen wir sie heraus.«

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Lachen als natürliches Phänomen

Diese herausgestoßene, aus Feuchtigkeit entstandene warme Luft ist dann als einmalige Explosion das Niesen, als wiederholte, gleichsam »gestotterte« Explosion das Lachen. Grundlage all dieser physiologischen Überlegungen zur Entstehung des natürlichen Lachens ist das anthropologische Modell der hippokratischen Schule, die Aristoteles schon seit seiner Jugend vertraut gewesen sein müssen, da er der Sproß einer Dynastie von Ärzten gewesen ist. Diesem hippokratischen Menschenbild zufolge besteht der Mensch aus vier Säften (Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle), die selbst wieder durch zwei Grundgegensätze (trocken und feucht, warm und kalt) gekennzeichnet sind. Somit besteht jeder Mensch aus warm-feuchtem Blut, kalt-feuchtem Schleim, warm-trockener gelber Galle und kalt-trockener schwarzer Galle, wobei einer dieser Säfte immer leicht dominieren darf und dadurch das Temperament des Menschen bestimmt, der dann z. B. ein Sanguiniker mit besonders viel warmem und feuchtem Blut ist und deshalb besonders anfällig für das Lachen ist. Befinden sich diese vier Säfte beim Menschen in einem ausgewogenen Verhältnis, so gilt der Mensch als gesund. Wird ein Mensch jedoch von einer Krankheit heimgesucht, so führt dies zu einer länger- oder kürzerfristigen übermäßigen und deshalb pathologischen Dominanz eines dieser vier Säfte und zu einer Unausgeglichenheit von Wärme und Kälte bzw. von Feuchtigkeit und Trockenheit im Körper, die durch entsprechende Gegenmaßnahmen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden müssen, wobei die Kunst des Arztes darin besteht, die aktuelle pathologische Verteilung dieser Säfte genau zu erkennen und die zur Korrektur nötigen Säfte angemessen zu dosieren. Ist das Ungleichgewicht der Säfte durch einen Affekt bewirkt und deshalb nur kurzfristig, kann sich der vom Affekt Getroffene i. a. selbst wieder ins Gleichgewicht des Normalzustandes bringen, indem er sich dem Affekt überläßt und dadurch den Affekt verarbeitet. Wer also z. B. vor einem schrecklichen Vorfall zurückschaudert, verspürt ein Übermaß an Kälte, ihn fröstelt und seine Haare sträuben sich, aber durch das Zittern, das ihn überläuft, und durch sein schnelles Zurückweichen vor dem Schrecklichen, also durch Bewegungen aller Art, erzeugt er in sich so viel Wärme, daß er das momentane Übermaß an Kälte wieder ausgleichen und 157 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

in den Normalzustand zurückkehren kann. Er gesundet also gleichsam durch sein Schaudern, oder, anders formuliert: er schaudert sich wieder warm und gesund. Wer z. B. von einem zwerchfellerschütternden Lachanfall heimgesucht wird, empfindet nach Maßgabe der humoralpathologischen Physiologie ein Übermaß an Wärme und Feuchtigkeit, und entledigt sich dessen durch die warme Atemluft, die er im Lachen von sich gibt und durch die Tränen, die ihm beim Lachen in die Augen treten, sodaß er sich durch dieses Lachen vom aktuellen Übermaß an Wärme und Feuchtigkeit selbst kuriert. So wie der Entsetzte sich also wieder in die Normalität und Ausgeglichenheit zurückschaudert, so lacht sich der Erheiterte wieder in die Normalität des ausgeglichenen Zustandes zurück. Wir könnten auch sagen: Er lacht sich zwar krumm, lacht sich aber auch wieder in die aufrechte Haltung zurück. So gesehen haben laut Aristoteles derlei Reaktionen auf affektive Anmutungen aller Art eine entspannende, ausgleichende, heilende, normalisierende, mit einem Wort: eine kathartische Wirkung, und die gezielte Auslösung solcher Reaktionen könnte man ohne Abstriche als homöopathische Behandlung oder auch als eine Art von Impfung bezeichnen, durch die die Selbstheilung oder Selbstkorrektur eines affektiv Betroffenen organisiert werden soll. Somit lautet das hippokratische Prinzip, das Aristoteles bereitwillig übernommen hat: Similia similibus, oder: Durch Erregung des Affekts Emanzipation vom Affekt. Wir werden sehen, wie Aristoteles dieses hippokratische Prinzip auch in seiner Poetik aufgegriffen und auf dessen Grundlage die Theorie der kathartischen Wirkung von Tragödie und Komödie ausgearbeitet hat. Daß die zur Erzeugung von Niesen nötige Wärme nicht unbedingt nur aus Bewegung stammen muß, sondern auch aus einem Blick in die Sonne stammen kann, wird dadurch erklärt, daß die Sonne durch ihre warmen Strahlen die Nase kitzelt und erwärmt, »wie wenn man mit Federn die Nase berührt«: »Denn in beiden Fällen tut man dasselbe: indem man durch die Bewegung Wärme erzeugt, macht man aus der Feuchtigkeit (im Innern des Körpers) schneller (warme) Luft. Der Austritt dieser Luft aber ist das Niesen.« (XXXIII,4)

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Lachen als natürliches Phänomen

Warum man aber, analog dazu, durch Sonnenstrahlen nicht auch Lachen müßte erzeugen können, wird uns nicht erklärt. Über das Stottern finden sich in den Problemata eine ganze Reihe von Überlegungen, weil die Peripatetiker offenbar ein großes Interesse an den Einbrüchen von Unverfügbarkeit ins menschliche Verhalten hatten, um anhand dessen die Grenzen des Verfügbaren und damit zugleich die Grenzen menschlichen Verhaltens überhaupt genauer zu bestimmen. Denn diese Grenzen zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren markieren zugleich auch das, was für die Aristoteliker zu den propria hominis gehört, zu dem also, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht. Und das Stottern ist für Aristoteles ein solches proprium hominis, genau wie das Lachen, die Sprache, der aufrechte Gang, die Nacktheit. Was aber zu diesem proprium hominis gehört, ist kein unverlierbarer, sondern ein ewig gefährdeter, ständigen Einbrüchen ausgesetzter Besitz. Zur Erklärung des Stotterns wird wieder die hippokratisch-aristotelische Wärmelehre herbeigezogen, derzufolge beim Stottern der Strom warmer Atemluft durch kurze, wiederholte Einbrüche von Kälte ins Stocken gerät: »Warum stottern (manche Menschen)? Es ist doch wohl der Grund eine Abkühlung der Stelle, mit der man Laute von sich gibt, und gleichsam eine Erstarrung dieses Gliedes (Körperteils/Organs). Daher können sie auch, wenn sie durch Wein erwärmt werden und dadurch, daß sie kontinuierlich reden (also dadurch, daß sie in Bewegung bleiben und sich dadurch erwärmen), leichter ihre Worte miteinander verbinden.« (XI,54)

So gesehen wäre für Aristoteles auch das laute Lachen als eine Folge gestotterter Explosionen von warmer Atemluft ein gehemmter, in sich selbst zurückgenommener, durch vorantreibende Wärme und zurückhaltende Kälte rhythmisch gegliederter und dementsprechend deformierter Gestaltverlauf, eine massive Defiguration und Asymmetrie von Einatmung und Ausatmung und somit auch ein »mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht«. Damit hat Aristoteles den schon von Platon im Philebos betonten ambivalenten Charakter des Lachens aufgegriffen, aber nicht mehr wie Platon psychologisch, sondern auf der Grundlage seiner Wärmelehre physiologisch begründet. 159 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

2.3.2.4 Lachen, Bewegung, Wärme, Resonanz Nun dürfte das, was ich oben etwas salopp als die hippokratischaristotelische Relativitätstheorie bezeichnet habe, derzufolge Bewegung und Wärme ineinander transformierbar sind, etwas deutlicher geworden sein. Wärme ist, so gesehen, gleichsam »Bewegung auf Sperrkonto« und Bewegung analog dazu »in Fahrt gebrachte Wärme«. Grundlage dieser Überlegung ist die von Aristoteles immer wieder verwendete Dialektik von Akt und Potenz, von Wirklichkeit und Möglichkeit, von energeia und dynamis. Laut Aristoteles trennt das Zwerchfell den animalischen Ernährungsbereich vom höher gelegenen und deshalb auch hierarchisch höherstehenden und wertvolleren Wahrnehmungsbereich und hält dadurch die bei der Verdauung entstehende Wärme und Feuchtigkeit im unteren Teil des Körpers zurück, damit man bei der Wahrnehmung nicht seiner eigenen Animalität verfällt. Daß das Zwerchfell ein dünnes und fleisch- und säftefreies Sehnengeflecht ist, ähnlich wie das Trommelfell im Ohr, ist für Aristoteles offenbar deshalb so, damit es wie eine empfindliche Membran in Schwingung versetzt werden kann, um dadurch jeden Wärmegrad und jede Wärmeschwankung unmittelbar in Resonanz umzusetzen. Mit anderen Worten: Das Zwerchfell ist für Aristoteles reines Resonanz-Organ ohne störendes Eigenleben, nichts als reiner »Anzeiger für die Wandlungen des Denkvermögens«, und damit es dies sein kann, ist es auch nicht dem Willen unterworfen. Aus diesen Gründen ist das Zwerchfell laut Aristoteles auch in der Lage, nicht nur derbe Schläge, sondern auch noch die geringsten Bewegungen wie z. B. einen Kitzel durch Resonanz aufzunehmen und als Lachen wieder sichtbar zu machen, und dies gilt auch für seelische Erschütterungen, d. h. für Affekte aller Art, sofern diese auf Wahrnehmungen reagieren, die als nicht bedrohlich empfunden werden, wie dies bei allen Arten von Komik der Fall ist. (Wir werden auf dieses Thema noch öfter zurückkommen.) Warum aber Aristoteles seine These der Ambiguität von Wärme und Bewegung nicht dazu genutzt hat, bestimmte Formen des Lachens voneinander zu unterscheiden, z. B. nach Maßgabe der dabei umgesetzten Art von Wärme und Bewegung, ist wieder einigerma160 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als natürliches Phänomen

ßen verwunderlich, weil dies doch seinem allgemeinen Hang zum hierarchisierenden Klassifizieren durchaus entsprochen hätte. So hätte er z. B. danach fragen können, inwiefern das kichernde KitzelLachen die Kitzel-Bewegung synästhetisch abbildet, weil dabei ja nur eine ganz geringe Menge an Bewegung resp. an Wärme umzusetzen ist, oder welche Art von Lachen ein derber Schlag aufs Zwerchfell erzeugt. Auch wenn uns dies heute noch so spekulativ erscheinen mag, hätte er doch mit solchen Überlegungen einen ersten streng systematischen Zugriff auf das Lachen in all seiner Vielfalt vorlegen können, der die Diskussion über das Lachen hinfort maßgeblich geprägt und auf ein weitaus höheres Niveau gehoben hätte. Vielleicht hat er dies in seiner verlorengegangenen Abhandlung über die Komödie ja auch tatsächlich getan, aber darüber kann man leider nur spekulieren. Es könnte aber vielleicht auch damit zusammenhängen, daß das Griechische keinen sehr ausgeprägten Wortschatz für das Wortfeld »lachen« hat, da man im Griechischen noch nicht einmal die Möglichkeit hat, »komisch« und »lächerlich« zu unterscheiden; beides ist »geloion« 18. Da das Zwerchfell laut Aristoteles in der Mitte am dünnsten ist und dort deshalb auch am resonanzfähigsten, liegt der natürliche und einzig angemessene Ort des Lachens in der Mitte des Menschen, gleichsam mitten in dessen Mitte, weil es als ein proprium hominis an diesen mehrfach ausgezeichneten Ort auch hingehört. Es sitzt damit zugleich aber auch an der Grenze zwischen Animalität und Sinnlichkeit, weit entfernt vom Sitz der Vernunft, die allein dem Menschen zukommt, und damit im Grenzbereich menschlichen Verhaltens überhaupt. Dieser tiefsinnige Gedanke, das, was den Menschen zum Menschen macht, an der Grenze des Menschlichen anzusiedeln, sein Zentrum also an die Peripherie zu verlegen, macht das Thema des menschlichen Lachens schlagartig zu einem überaus ernsten Thema, weil bei der Thematisierung des Lachens immer zugleich auch die Grenzen menschlicher Verhaltensmöglichkeiten zur Sprache kommen. In der Geschichte der Gelotologie ist dieser aristotelische Gedanke erst wieder von Helmuth Plessner explizit aufgegriffen worden, der sein berühmtes Buch Lachen und Weinen im Untertitel 161 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

ausdrücklich als »Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens« bezeichnet. Das darf uns aber nicht daran hindern, auch bei der Darstellung, Analyse und Kritik all der Werke, die sich über das Lachen geäußert haben, ohne diesen Gedanken selbst explizit aufzugreifen, diesen Gedanken immer vor Augen zu haben und als zentralen Gesichtspunkt mit zu bedenken. Aus diesem Grund werden wir im folgenden immer wieder nach Grenzen aller Art zu fragen haben. Von hier aus stellt sich die Frage, wie Aristoteles zu der Behauptung kommt, Wilde oder Barbaren würden »überhaupt nicht lachen«. Da er sich zu dem Thema nicht weiter äußert, bleibt zunächst unklar, ob er meint, Wilde könnten nicht lachen, selbst wenn sie wollten, oder ob er meint, sie könnten schon, würden es aber nicht tun. In seiner Politik geht er mehrfach auf den Unterschied zwischen Barbaren und Griechen ein und betont, die Griechen als Volk der »Mitte« (1327b) seien allen anderen Völkern, insbesondere aber den Barbaren Asiens »von Natur« und deshalb grundsätzlich überlegen, und die Barbaren seien »von Natur« und deshalb grundsätzlich »sklavischeren Sinnes als die Griechen« (vgl. 1285a). Deshalb sei es angemessen, daß die Griechen über die Barbaren herrschen (vgl. 1252b), weil die Wörter »Barbar« und »Sklave« eigentlich als Synonyme verwendet werden könnten. Er stellt sogar die rhetorische Frage: »Was ist eigentlich für ein Unterschied zwischen manchen (barbarischen) Völkern und den Tieren?« (1281b). Die Antwort kann für ihn natürlich nur lauten: Eigentlich keiner, denn genau wie die Tiere haben die Barbaren all das nicht, was als proprium hominis zu gelten hat: die Sprache (genauer: die griechische Sprache), die aufrechte, nur dem Freien zukommende und nur ihm mögliche stolze Haltung und eben auch das Lachen. Barbaren lachen also nicht, weil sie nicht lachen können, sie sind, genau wie die Tiere, »tierisch ernst«. Selbstverständlich denkt Aristoteles nicht daran, seinen reichlich naiven Ethnozentrismus und die historische Bedingtheit seines Barbarenbildes kritisch zu reflektieren und z. B. als Echo der aktuellen mazedonischen Polit-Propaganda zu erkennen, die Alexanders Rachefeldzug gegen die Perser 19 vorbereiten und begleiten sollte, sondern ihm gilt das aktuell gültige Vorurteil von der tierischen Ver162 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als natürliches Phänomen

faßtheit und sklavischen Bestimmung der asiatischen Barbaren als ein »in aller Ewigkeit ungewordenes und unvergängliches« Postulat, als ein von der Natur selbst geschaffenes unumstößliches Faktum. Ein Blick in den Herodot oder in die Perser des Aischylos hätte ihn wohl etwas nachdenklicher werden lassen, weil dort die persischen Barbaren durchaus als den Griechen ebenbürtig erscheinen. 2.3.2.5 »Auch hier sind Götter.« Im Zusammenhang mit dem Niesen findet sich in den Problemata auch die für uns heute etwas überraschende Frage: »Warum halten wir das Niesen für einen Gott, Husten und Schnupfen aber nicht? Doch wohl deshalb, weil es vom göttlichsten Teil in uns kommt, dem Kopf, von dem aus auch die verstandesmäßige Überlegung ausgeht. Oder, weil die anderen erwähnten Erscheinungen auf Grund von Krankheiten zustande kommen, das Niesen aber nicht.« (XXXIII,7)

Daß man das Niesen in der Antike für einen Gott bzw. für etwas Göttliches gehalten hat, geht aus den umfangreichen Anmerkungen hervor, die Hellmut Flashar seiner Übersetzung beigefügt hat (vgl. S. 744 f.), und es scheint wohl eher so gewesen zu sein, daß das Niesen seit alters her als etwas Göttliches galt und deshalb der Kopf als der göttlichste Teil des Menschen angesehen wurde. Aber warum galt das Niesen als göttlich oder gar selbst als Gott? Die Frage ist für uns deshalb wichtig, weil in der Antike, insbesondere in Sparta, auch das Lachen als Gott bzw. als etwas Göttliches 20 galt. Also wäre zu fragen, was beide Phänomene verbindet und was an ihnen dazu einlädt, in ihnen die Epiphanie eines Gottes zu erblicken. Es bietet sich an, dieses Göttliche am gewaltig herausplatzenden Lachen und Niesen in seiner Plötzlichkeit und Unverfügbarkeit, seiner überwältigenden, zugleich aber auch befreienden, kathartischen Wirkung zu sehen. Daß man laut Jacob Burckhardt neben dem Lachen und Niesen in Sparta auch die Todesfurcht als etwas Göttliches verehrte, wird jeder sofort nachvollziehen können, der einmal erlebt hat, wie jemand die Nähe des Todes gespürt und im 163 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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metakritischen Phobos-Lachen sich von diesem Schrecken wieder freigelacht hat. Ich habe in der Einleitung einen solchen Fall beschrieben und auf die Hilflosigkeit verwiesen, mit der alle Beteiligten diesem unheimlichen Phänomen gegenüberstanden, weil unsere heutige Kultur keinerlei Rituale anbietet, um mit derartigen Einbrüchen des Unheimlichen angemessen umzugehen. Durch eine explizite kultische Thematisierung aber würde man dem Unverfügbaren und Überwältigenden derartiger Affekte die existentielle Bedrohlichkeit ausdrücklich attestieren, sie ihnen aber gerade dadurch zugleich auch wieder nehmen können. Bei den Spartanern scheint dies so gewesen zu sein, sodaß sie nach der Maxime lebten: »Wenn uns etwas überwältigt, dann muß es schon ein Gott sein! Und wenn wir kapitulieren, dann nur vor einem Gott!« Mit anderen Worten: Die Vergöttlichung der überwältigenden Affekte ist auch ein Aspekt der Selbst- und Weltbemächtigung mittels der Religion. Hermann Schmitz schreibt dazu in seinem Werk Das Göttliche und der Raum: »Weil den Spartanern zwar nicht am Lachen, wohl aber an der personalen Zucht besonders gelegen war, waren sie die Ersten, die aus der verwirrenden, überwältigenden Macht, die im Lachen solche Zucht durchkreuzt, dank jener besonderen Sensibilität der Griechen ein Göttliches heraushörten, das nur durch die objektivierend-distanzierende Anbetung als Gott ins Leben eingeordnet werden konnte.« (S. 140)

Dieses Prinzip, das Unverfügbare und latent Bedrohliche durch kulturelle Ritualisierung zumindest etwas zu bannen, geschieht aber nicht nur in den Kulten, sondern auch in den Künsten, und somit wären auch Komödie und Tragödie als solche kulturellen Rituale zu verstehen, die zu dem Zweck erfunden wurden, die überwältigenden Affekte des Lachens und Leidens objektivierend-distanzierend ins Leben einzuordnen. Von hier aus wäre dann im Anschluß an die Poetik des Aristoteles und den pseudo-aristotelischen Tractatus Coislinianus die Frage nach der Katharsis in Tragödie und Komödie zu stellen, die das Leiden und das Lachen zur Mutter und Materie haben.

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Lachen als kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis

2.3.3 Lachen als ästhetisch-poietisch organisiertes kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis 2.3.3.1 Die affektive Basis der performativen Künste Ausgangspunkt für die Darstellung, Analyse und Bewertung des Lachens als einem ästhetisch-poietisch organisierten Phänomen muß die Theorie der Affekte sein, wie sie Platon in seinem Frühwerk entwickelt hat, weil sie auch für Aristoteles Grundlage und Ausgangspunkt seiner ästhetischen Überlegungen über die Wirkung von Theater, öffentlicher Rede und Epik-Vortrag war, denn in all diesen performativen Künsten von Schauspielern, Rhetoren und Rhapsoden beruht die Wirkung auf das Publikum entscheidend mit darauf, daß bestimmte Affekte angeschlagen und vom Publikum in Resonanz aufgenommen werden. Wie wir schon wissen, teilt Platon in seiner Politeia die menschliche Seele in drei Stockwerke ein und siedelt die Affekte in den beiden unvernünftigen unteren Stockwerken an, die er durch das Bild eines gezähmten Löwen und einer wilden Bestie charakterisiert. Im Phaidros-Dialog wird dieses Bild etwas abgewandelt: Hier erscheint die menschliche Seele als Gespann aus einem frommen weißen und einem wilden schwarzen Pferd, das der Fuhrmann als Verkörperung der Vernunft zu lenken und zu zügeln hat (Phaidros, 253D–254E), was ihm allerdings nur unter Aufbietung aller Kräfte gerade noch gelingt, denn so wie in Platons Idealstaat ständig die Rebellion der untersten Klasse und der Ungehorsam der Wächter drohen, und damit die Herrschaft der Bestie in Seele und Staat, so droht auch hier ständig der Aufstand des Gespanns gegen den Fuhrmann, denn von dessen Kampf mit dem schwarzen Pferd heißt es: »Das andere hingegen ist gebeugt, plump und schlecht gebaut, von dickem Nacken, kurzem Hals, stumpfer Nase, schwarzer Farbe, blauaugig mit Blut unterlaufen, ein Freund von Trotz und Anmaßung, um die Ohren zottig, taub, kaum der Peitsche und dem Stachel gehorsam.« (253E) »Der Wagenlenker aber (…) zerrt den Zaum des trotzigen Rosses mit noch stärkerer Gewalt aus dem Gebiß nach hinten, strengt ihm die

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schmähsüchtige Zunge und die Backen an bis aufs Blut und bereitet ihm Schmerzen, indem er ihm Schenkel und Hüften zur Erde niederzwingt.« (254E)

Da die Affekte für Platon in diesem vernunftfernen Bereich der Seele angesiedelt sind, läßt diese Schilderung in etwa ahnen, mit welchen Ängsten Platon der Macht der Affekte gegenüberstand, wie peinlich ihm diese Macht gewesen sein muß und mit welch hohem Einsatz hier jemand im Krieg mit sich selbst gelegen haben muß. So gesehen ist es auch kein Wunder, daß die christlichen Kirchenväter Platon so freudig als einen ihrer geistigen Ahnen willkommen heißen konnten. Die Affekte gehören zwar auch für Aristoteles zum unvernünftigen Teil der Seele, weil sie, wie er in seiner Nikomachischen Ethik 21 schreibt zum »sinnlich begehrenden und überhaupt strebenden Vermögen« (1102b Bien) gehören, aber für Aristoteles hat das affektive Verhalten trotzdem noch teil an der Vernunft, »insofern es auf sie hört und ihr Folge leistet« (1102b Bien). Aristoteles entdämonisiert also die von Platon so hemmungslos dämonisierten Affekte wieder, oder, wie man auch sagen könnte, ihm ist es gelungen, das schwarze Pferd in Platons Seelengespann zu zähmen und in seinem Verhalten an das weiße anzugleichen, aber eben nicht mit brutaler Gewalt wie Platons Fuhrmann, sondern mit Geduld und Empathie wie der antike Pferdeflüsterer Orpheus. Dieser Haltung sind wir ja schon in seinen naturwissenschaftlichen Schriften begegnet, denn wenn er dort betont, es sei ja kindisch, einen Widerwillen gegen die Untersuchung niederer Tiere zu hegen, weil in allen Naturdingen etwas Wunderbares liege, so muß es für ihn erst recht kindisch sein, die menschlichen Affekte und damit den gesamten vernunftfernen Bereich der menschlichen Seele als etwas Niedriges und Peinliches anzusehen, das man nicht ohne Naserümpfen untersuchen könne. Für ihn, wie für Heraklit, waren auch hier Götter. Wenn Aristoteles also Platons Affektenlehre übernimmt und zur Grundlage auch seiner eigenen Überlegungen zu den Wirkungsmöglichkeiten von Theater, Rhetorik und Rhapsodik macht, so ist diese Übernahme eines Denkmodells zugleich eine grundsätzliche Umwertung seiner Inhalte. Und das heißt, daß Aristoteles, für den die Affekte nicht der Feind, sondern 166 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Partner der Vernunft sind, auch im Lachen keinen Feind, sondern einen Partner der Vernunft sah. Hatte Platon seine Theorie der affektiven Basis der performativen Künste in seinem frühen Dialog Ion geradezu als philosophischen Schwank vorgeführt, wo er in der Gestalt des Ion einen eitlen Rhapsodik-Star von erlesener Dämlichkeit auftreten läßt, den Sokrates aufs Glatteis führt und dann entsprechend blamiert, indem er darlegt, daß dessen Vorführungen gerade keine Kunst sind, weil er nur ein Medium ist, ein »willenloses Werkzeug« »ohne klare Besinnung«, das beim Vortrag von einer »göttlichen Kraft« durchdrungen wird, die sich durch ihn hindurch auch im Publikum manifestiert 22, sodaß er letztlich auch gar nicht weiß, was er da eigentlich tut, so schlägt er im zehnten Buch der Politeia einen ganz anderen, viel ernsteren Ton an, indem er hier eine Kunsttheorie vorlegt, in der seine Ideenlehre, seine Seelenlehre, seine Mimesis-Theorie und seine Affekten-Theorie miteinander verbunden werden. Außerdem wird hier deutlich, was ihn dazu getrieben hat, eine explizit kunstfeindliche ästhetische Theorie auszuarbeiten. Der zentrale Punkt des Vortrags, den er hier wieder Sokrates in den Mund legt, ist die These, daß in einem Staat, der konsequent nach den Grundsätzen der Vernunft angelegt ist, die »Nachahmungspoesie«, also die Gesamtheit der performativen Künste, grundsätzlich nicht aufgenommen werden darf, weil diese »offenbar ein Grundverderben für den denkenden Geist aller« ist, die derlei poetische Produkte genießen wollen, »ohne ein Gegengift zu haben« (vgl. Staat, 595A–B). »Nachahmungspoesie« dieser Art ist also für Platon das pure Gift. Aber warum? Und woher diese Angst davor? Ausgangspunkt seiner Argumentation ist seine Ideenlehre, die These also, die Ideen oder Urbilder seien die eigentlichen und einzig existierenden Wesen und alle empirisch wahrnehmbaren Gegenstände seien nur Abbilder dieser Urbilder. Analog dazu sind für ihn künstlerische Objekte wiederum nur Abbilder dieser Abbilder, und, übertragen auf die performativen Künste, ist die Darstellung einer Rollengestalt, z. B. eines Königs XY, durch einen Schauspieler ebenfalls wiederum nur das Abbild der vom Autor erstellten Rollengestalt »König XY«, die wiederum nur das Abbild des Urbildes, 167 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Idee »König XY« ist. Das Ergebnis künstlerischer Gestaltung tendiert für Platon also immer weiter ins Schattenhafte, sodaß Sokrates die vernichtende Bilanz zieht: »Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, (…) nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen.« (600E)

Besonders gefährlich, ja geradezu skandalös ist für Platon das Theater, einmal weil dessen Darstellungen nur Abbilder vierten Grades und deshalb von der eigentlichen Wahrheit der Urbilder besonders weit entfernt sind, weil es aber gleichwohl ein besonders großes Potential an Verführung in sich birgt, da durch die Bereitschaft des Publikums zum Mitgehen dessen unvernünftige Seelenbereiche angesprochen werden und der Zuschauer dadurch nicht mehr weiß, was es tut, wenn er mitgeht 23 und selbstvergessen und gebannt dem Geschick der Bühnengestalten folgt. Und noch viel schlimmer ist für Platon, »daß wir daran unsere Freude haben, daß wir mit gänzlicher Hingebung ihnen mit unserem Mitgefühl folgen, daß wir ganz ernstlich denjenigen als einen guten Dichter loben, der uns am stärksten in solchen Gemütszustand versetzen kann.« (605D)

Und dabei genießt es das Publikum sogar noch, »daß der niedere Teil unserer Seele, der früher mit Gewalt niedergehalten wurde und einen Heißhunger hatte, sich einmal recht satt zu weinen, satt zu heulen und dran zu laben, weil er seiner natürlichen Beschaffenheit wegen hiernach verlangen muß, – daß er es dann gerade ist, der von den erwähnten Dichtern seinen Hunger und seine Lust gestillt bekommt.« (606A)

Doch das Allerschlimmste ist für Platon, wenn das Publikum sich auch noch so richtig satt lachen darf: »Dem niederen Seelenvermögen nämlich, welches bei seiner Lust zu Spaßmacherei du auch in dieser Beziehung durch die Vernunft niederhieltest, läßt du dann wiederum die Zügel schießen, (…) so daß du ein ganzer Komödiant wirst.« (606C)

Was Platon also fürchtet, ist wieder einmal der Aufstand der Affekte in Staat und Seele, wenn die »Nachahmungspoesie« die Rösser des Seelengespanns zum Durchgehen aufhetzt: 168 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis

»Denn sie füttert und tränkt diese Triebe, statt daß sie absterben sollen; sie macht sie zu unseren Gebietern, statt daß sie beherrscht werden sollen, auf daß wir besser und glücklicher statt schlechter und unglücklicher werden.« (606D)

Nachdem Platon noch mal auf die »uralte Feindschaft« zwischen Philosophie und Poesie verwiesen hat, scheint ihm aber aus alter Liebe zu Homer doch das Gewissen zu schlagen und er stellt die Frage, ob es eventuell doch noch eine Möglichkeit geben könnte, der »Nachahmungspoesie« eine Existenzberechtigung in seinem Vernunftstaat zuzugestehen. Aber dann schreckt er letztlich doch wieder davor zurück, weil er keine rechte Möglichkeit sieht, sich mit einem »Bannspruch« gegen die verführerische Macht der Poesie »unverwundbar« (608A) zu machen und läßt sein Sprachrohr Sokrates deshalb zu dem Schluß kommen, »daß man auf die Poesie der beschriebenen Art als einen Gegenstand von wahrer Wesenheit und von wirklichem Gehalte sich nicht verlegen soll, daß vielmehr der Zuhörer, der um die moralische Verfassung seines Inneren gewissenhaft besorgt ist, sich vor ihr wohl in acht nehmen muß.« (608A)

In seinem Spätwerk Nomoi, in dem er die Gesetze erörtert, die das Leben der Bürger in seinem Idealstaat regeln sollen, geht er noch mal auf das Theater und seine Gefahren ein und präsentiert eine kuriose Methode, die die Aufführung von Komödien zwar möglich macht, deren Wirkung aber zugleich wieder entschärft, damit man lernt, sich vor dem Theater und dem dort herrschenden Lachen »in acht zu nehmen«: Komödie als Gegengift zum Lächerlichen. Nachdem er erst bestimmte Friedens- und Kriegstänze und deren pädagogischen Nutzen erörtert hat, fährt er fort: »Solche Darstellungen aber, wobei unschöne Körper und Gesinnungen vorkommen und die Komödie nur auf das Lächerliche angelegt ist, so daß in Sprache und Gesang, in Tanz und sonstigen Darstellungsmitteln all dieser Dinge das Komische maßgebend ist: – die muß man allerdings auch näher ansehen und kennenlernen. Denn ohne das Lächerliche (zu kennen) ist es unmöglich, von dem Ernsten einen richtigen Begriff zu erlangen, wenn man’s verstehen lernen will. (…) Ja, gerade zu dem Zwecke soll man derartige Sachen kennenlernen, um nicht einmal in der Unwissenheit irgend etwas Lächerliches zu tun oder zu

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sagen, das ungehörig ist. Nur Sklaven und bezahlten Ausländern darf man solche Darstellungen auftragen und niemals in irgendeiner Weise sich eine ernsthafte Bemühung darum machen. Auch soll kein Freier sich blicken lassen, der diese Sache erlernt, weder Weib noch Mann, und bei jeder Vorstellung soll dabei immer etwas Neues gezeigt werden.« (Gesetze, 816A–E)

In diesen Ausführungen des alten Platon zeigt sich wieder einmal die tiefsitzende, geradezu pathologische Berührungsangst dem Lachen gegenüber, und deshalb mutet diese apotropäische Instrumentalisierung des Lachtheaters wie ein Desensibilisierungsverfahren an, dem sich ein Allergiker unterziehen muß. Genau genommen – und das macht die Sache noch komischer – ist es sogar eine Immunisierung durch Stellvertreter, denn nicht die Vollbürger dieses Staates dürfen sich hier den lächerlichen und komischen Situationen aussetzen und müssen sich dabei den Leib mit Komik besudeln, sondern es sind Sklaven und Metöken, die wie Minenhunde vorgeschickt werden, um die Last und die Risiken dieses Experiments zu tragen. Es könnte ja etwas von diesem verführerischen Gift haften bleiben und langfristig und unerkannt nachwirken! Daß Platon es letztlich also doch nicht übers Herz bringt, die Poesie vorbehaltlos zu rechtfertigen und ihr einen ehrenhaften Platz in seinem Idealstaat zu reservieren, und sich statt dessen lieber in die vermeintlich unverwundbare Festung eines steinernen Herzens hinter einer gepanzerten Männerbrust zurückzieht, läßt ahnen, daß wir es hier mit Zeugnissen eines äußerst qualvollen Prozesses der Selbstbestrafung zu tun haben, den Platon gegen sich selbst und seine eigenen poetischen Jugendsünden führte und in dessen Verlauf er sich seine Liebe zur Dichtung und zum Theater buchstäblich aus dem Herzen gerissen haben muß. Er hat, wie mir scheint, die Rechtfertigung der »Nachahmungspoesie« und ihre Ansiedlung in seinem Vernunftstaat wohl deshalb nicht wirklich ernsthaft versucht, weil er fürchten mußte, sie könnte ihm vielleicht sogar gelingen und dann sein kunstvoll errichtetes philosophisches und politisches Gedankengebäude und Hand in Hand damit auch sein eigenes Selbstverständnis zum Einsturz bringen. Genau diese Rechtfertigung der Künste und zugleich damit die Neudeutung der Affekte, des Mitgehens und der Mimesis aber legte 170 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis

Aristoteles vor und ist damit entschlossen und endgültig aus dem Schatten seines Lehrers Platon herausgetreten. 2.3.3.2 Aristoteles als Ästhetiker Der maßgebliche Impuls, der ihn dabei leitete, bestand darin, Platons kunstfeindliche Kunsttheorie im ganzen und in vielen ihrer Teile vom Kopf auf die Füße zu stellen und deshalb nicht deduktiv von einer wie immer auch gearteten Ideenlehre 24 auszugehen, sondern, wo immer dies sich anbot, von den »naturgegebenen Ursachen« (Poetik 1448b). Der erste und folgenreichste Schritt in die Richtung einer solchen neuen empirisch und anthropologisch ausgerichteten »Ästhetik von unten« (Fechner) war die entschlossene Ablösung von der platonischen Ideenlehre und die anthropologisch fundierte Neudefinition der Mimesis als einem proprium hominis: »Es scheint, daß die Dichtung zwei natürliche Ursachen hat. Einerseits ist den Menschen von Kindsbeinen an der Darstellungstrieb eingeboren, und dadurch unterscheidet sich der Mensch von allen andern Lebewesen, daß er diesen Trieb am ausgeprägtesten besitzt. Zweitens freuen sich alle an den Darstellungen.« (Poetik, 1448b)

So die Übersetzung von Hermann Koller (S. 187), dessen MimesisBuch 25 die Diskussion über die poetologischen Überlegungen des Aristoteles auf ein ganz neues Fundament gestellt hat. Manfred Fuhrmann, nach dessen Übersetzung ich im folgenden die aristotelische Poetik zitiere, übersetzt »mimesis« ganz stereotyp mit »Nachahmung«, wie sich dies im deutschen Sprachraum seit Schleiermachers Platon-Übersetzung leider eingebürgert hat. Analog dazu hat sich, vermittelt über das Lateinische, im romanischen und angelsächsischen Sprachraum die konsequente Wiedergabe mit »imitation« eingebürgert, was nicht weniger irreführend ist, weil man damit suggeriert, Mimesis sei eine ausschließlich reproduktiv wiedergebende Tätigkeit und obwohl man damit den viel enger gefaßten und an die Ideenlehre geknüpften Mimesis-Begriff Platons 26 über den viel weiter gefaßten aristotelischen Mimesis-Begriff stülpt und damit verzerrt. Seit der bahnbrechenden Arbeit von Hermann Koller dürfte dies eigentlich nicht mehr vorkommen, 171 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

denn Koller macht schon im Untertitel seines Werkes deutlich, was Mimesis bei Aristoteles alles ist: »Nachahmung, Darstellung, Ausdruck« 27. Mit dem Begriff »Mimesis« umfaßt Aristoteles also den gesamten Bereich der bewußt und gezielt vollzogenen bildhaft-statischen und performativ-transitorischen Vergegenwärtigung (oder Darstellung/Wiedergabe/Repräsentation), wie dies in den bildenden Künsten und der Literatur und deren Vortrag, sowie im Vortrag von Musik, Tanz und Theater geschieht. Zur Mimesis zählt aber auch der Bereich des mehr oder weniger unwillkürlichen Ausdrucks durch Gestik, Mimik und Körperhaltung, wozu dann auch das Mitgehen des Publikums 28 beim Vortrag von Dichtung, Theater, Musik und Tanz gehört. Da es im Deutschen leider kein Wort gibt, das all diese Bedeutungen umfassen würde, die Aristoteles dem Wort »Mimesis« auflädt, sind wir gezwungen, immer wieder andere, dem Satzkontext angemessene Wörter zu wählen wie z. B. »Vergegenwärtigung«, »Darstellung«, »Wiedergabe«, »Ausdruck«, »Repräsentation«, »Darbietung«, »Mitgehen« und manchmal eben auch »Nachahmung«. Den terminologischen Ladenhüter »Widerspiegelung« aus der marxistischen Tradition aber verwende ich jedoch nie. Mimesis ist für Aristoteles also ein in der Natur des Menschen vorgegebenes Vermögen ästhetischer Praxis und Poiesis zur sinnlich wahrnehmbaren Vergegenwärtigung von Dingen, Situationen und Sachverhalten, und zwar unabhängig davon, ob diese real oder fiktiv, vorgegeben oder erfunden sind. Faktische Kunstausübung und Mimesis als naturgegebene Anlage dazu stehen also zueinander im Verhältnis von Akt und Potenz, von Wirklichkeit und Möglichkeit, und die noch bei Platon behauptete Einwirkung übermenschlicher Mächte auf den Künstler, z. B. der von Göttern oder Musen aktivierte Enthusiasmus, der den Künstler erst zum Künstler macht, wird obsolet. Damit erweist dieser neue, aristotelische Mimesis-Begriff der freischwebenden schöpferischen Einbildungskraft des Menschen eine tiefe Reverenz, öffnet ihr Tür und Tor und ermutigt sie, diese angstfrei zu durchschreiten und sich in ästhetischen Werken und Verhaltensweisen aller Art zu manifestieren, ohne ihr jedoch be172 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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stimmte ästhetische Stile vorzuschreiben. Kunst, so verstanden, bildet also nicht mehr nur ab, sondern macht sinnlich erfahrbar, was überhaupt sinnlich erfahrbar gemacht werden kann, und der Künstler wird nicht mehr als Medium übermenschlicher Mächte verstanden, sondern als Nutzer und Verwalter 29 der in ihm selbst liegenden ästhetisch-poietischen Möglichkeiten. Die oben erwähnte Freude, die jedermann schon in der Kindheit an allen möglichen Formen von Mimesis empfindet, erklärt Aristoteles damit, daß jede Art von Mimesis uns die Möglichkeit bietet, Entdeckungen aller Art zu machen, und sei es auch »nur« die, daß wir in spielerischer Identifizierung etwas als etwas darstellen oder dies als das erkennen können. Selbstverständlich liegt in diesem mimetischen Vermögen auch eine unerschöpfliche Quelle für Komik aller Art. Dieser jedem mimetischen Akt innewohnende Aha-Effekt ist wohl der eigentliche Grund dafür, daß Aristoteles das mimetische Vermögen des Menschen so hoch einschätzt und es gleichsam zum Zwillingsbruder von Philosophie und Wissenschaft erhebt, da diese auch auf dem selbem Vermögen gegründet sind, über etwas staunen und sich dadurch Aha-Erlebnisse aller Art bereiten zu können. Mit diesem Gedanken steht Aristoteles wieder einmal in der Tradition Platons, der im Theaitetos Sokrates erklären läßt, das Staunen sei der Anfang jeder Philosophie (155D). In seiner Metaphysik greift Aristoteles diesen Gedanken auf (vgl. 982b) und führt ihn in der Rhetorik 30 weiter, wo er über die Wonnen des Staunens schreibt: »Da nun sowohl das Lernen als auch das Sich-Wundern lusterzeugend sind, so muß auch folgendes angenehm sein: wie z. B. die nachahmende Darstellung, ebenso auch die Malerei, die Bildhauerei und die Dichtkunst und überhaupt alles, was eine gute Nachbildung ist, auch wenn das, was nachgebildet wurde, an und für sich nicht angenehm ist. Denn nicht über dieses freut man sich, sondern es ist ein dialektischer Schluß, daß dieses jenes sei, so daß ein gewisses Lernen zustande kommt.« (1371b)

Auf diesen überaus erhellenden Gedanken des Aristoteles, daß Philosophie und Mimesis und damit auch Wissenschaft und Kunst und darüber hinaus auch die Freude an alledem aus der selben 173 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Quelle entspringen, die durch das Wortfeld »Stutzen/Staunen/Verwunderung/Überraschung/admiratio/thaumazein« wiederzugeben wäre, werden wir des öfteren zurückkommen müssen, weil aus der selben Quelle auch entscheidende Bereiche des Lachens gespeist werden, insbesondere wenn es darum geht, das Wesen einer Pointe zu klären. Bei der Klassifizierung der verschiedenen Formen von Mimesis im Bereich der Literatur und des Theaters – und nur die interessieren uns hier – orientiert sich Aristoteles ebenfalls wieder an Platon, insbesondere an dem von Platon entdeckten Redekriterium 31, demzufolge in bestimmten literarischen Gattungen Sachverhalte und Situationen berichtet werden, in anderen jedoch »alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche« (Poetik, 1448a) selbst auftreten. Gemeint damit sind die verschiedenen dramatischen Gattungen, die sich auf die performative Darstellung gründen und die uns hier besonders interessieren, weil sie besonders wirkungsmächtig und verführerisch sind und weil vor allem sie es sind, die das Lachen als kulturelles Phänomen praktisch und poietisch organisieren. Der zweite Schritt zur Emanzipation von Platons Kunsttheorie war für Aristoteles die Neubewertung der Affekte und deren Verbindung mit der neuen Mimesis-Theorie, also die Neubewertung des Mitgehens im Theater, beim rhapsodischen Vortrag von Epen und beim Anhören von öffentlichen Reden. Für Platon war, wie wir gesehen haben, das Mitgehen des Publikums skandalöse Selbstpreisgabe an das Regiment der unvernünftigen Seelenteile, dessen Verführungspotential entschieden bekämpft werden muß und mit dessen Verdikt Platon eine unselige Argumentationstradition begründet hat, die über die Stoa, die christlichen Kirchenväter, Puritaner und Pietisten bis herauf zu Brecht32 nachgewirkt hat. Für Aristoteles hingegen ist die Fähigkeit und Bereitschaft eines Publikums zum Mitgehen ein naturgegebenes proprium hominis neben anderen propria, das als moralisch wertfreies mögliches Material bei jedem normalen Menschen vorgegeben ist und sich dazu anbietet, als mimetische Resonanz kulturell instrumentalisiert zu werden, weil auch das Mitgehen eine weitere Form von Mimesis 33 ist. Deshalb stellt sich für Aristoteles auch nicht die Frage, ob man es ansprechen 174 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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darf oder nicht, da es als etwas natürlich Vorgegebenes ja ethisch neutral ist, sondern seine Frage lautet, im Hinblick auf welche ästhetisch-poietische Zielsetzungen man es in welcher Weise und mit welchen Mitteln ansprechen könnte und vielleicht auch ansprechen sollte. Seine Antwort ist einfach und geht dahin, daß man das MitgehPotential des Publikums so ansprechen sollte, daß der Zweck des Theaters, der eines rhapsodischen Vortrags und der einer öffentlichen Rede optimal erreicht wird. Dieser Zweck aber besteht im Theater und beim Vortrag der Rhapsoden im Vergnügen an tragischen und komischen Gegenständen und bei einer öffentlichen Rede darin, den Zuhörer von einer bestimmten Meinung zu überzeugen bzw. zu einer bestimmten Meinung hinzuführen. Diesen Zwecksetzungen hat sich für Aristoteles auch der Appell an bestimmte Affekte und die Erregung von Gelächter unterzuordnen, weshalb er seine Aufgabe als Ästhetiker darin sieht, Ort und Funktion der Affekte und des Lachens bzw. des Lächerlichen und Komischen in gut gebauten und gut vorgetragenen Reden, Epen und Theaterstücken so zu bestimmen, daß ihr Einsatz zu einer ästhetisch kalkulierbaren Kunstfertigkeit (techne) wird. Wir werden aber sehen, daß Aristoteles durchaus nicht alle Affekte unterschiedslos erregt wissen will und daß er auch beim Lachen nur bestimmte Formen für ästhetisch angemessen hält, und damit sind wir dann an dem Punkt angelangt, an dem für Aristoteles das ethisch irrelevante Lachen als ästhetisch-poietisch und ästhetisch-praktisch organisiertes Phänomen in ein ethisch relevantes Verhalten übergeht. 2.3.3.3 Attische Lachkultur II: Die Mittlere Komödie Wir haben gesehen, daß Platons Vorstellung vom Lachen entscheidend durch die Komödie des Aristophanes geprägt war. Ähnlich tief dürfte auch das Bild, das Aristoteles vom Theater und speziell vom Lachtheater hatte, vom Theater seiner Zeit geprägt worden sein. Dieses aber hatte sich mit dem Ende des Peloponnesischen Krieges, der Kapitulation Athens und dem Ende der klassischen Demokratie und der Polis als politischer Lebensform entscheidend 175 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gewandelt, da speziell die Komödie als Mittel des tagespolitischen Kampfes ausgedient hatte und nun, nach dem Ende der attischen Demokratie, nicht mehr als Instrument der politischen Meinungsbildung gebraucht wurde. Die für Athens politische Zukunft wirklich wichtigen Entscheidungen fielen ja auch nicht mehr in Athen selbst, sondern in Makedonien, das als die neue regionale Großmacht nunmehr auch die Hegemonie über ganz Griechenland ausübte. Aus diesem Grund wandelte sich im vierten Jahrhundert die attische Komödie tiefgreifend: Sie war nicht mehr tagespolitisch engagiert, sondern suchte ihre Stoffe in den alltäglichen privaten Sorgen, Nöten und Verrücktheiten der athenischen Bürger, obwohl es an brennend aktuellen politischen Themen wahrlich nicht gefehlt hätte, weil nach dem Ende der Polis als politischer Lebensform durch alle möglichen Formen öffentlicher Beratung die Frage zu klären und zu entscheiden war, von welcher Art die neue politische Lebensform denn sein sollte. Diese Fragen aber wurden nicht mehr auf dem Theater erörtert, sondern auf dem Markt, und das Mittel dazu waren nicht mehr das Theater, sondern die politische Rhetorik, wie sie z. B. von Rednern wie Isokrates 34 oder Demosthenes 35 ausgeübt und gelehrt wurde. Isokrates verfocht z. B. die panhellenische Idee, den Zusammenschluß aller Griechen unter makedonischer Führung. Dieses Bündnis aller griechischen Stadtstaaten propagierte auch Demosthenes, aber mit einem anderen Ziel, denn dieses Bündnis sollte gerade die Unabhängigkeit von Makedonien sichern. Nach der Schlacht von Cheironeia 338 und dem Sieg der Makedonen über die Griechen war jedoch die Partei des Demosthenes besiegt und die Idee der Polis hatte endgültig ausgedient und mußte dem Konzept großflächiger Imperien weichen. Von all diesen bewegenden Fragen hören wir in den Stücken der Mittleren Komödie, so weit man das aus den verbliebenen Textresten überhaupt erschließen kann, praktisch kein Wort, denn in diesen Stücken herrscht generell politische Windstille. Hand in Hand damit änderte sich auch die Haltung der Autoren ihren Gestalten gegenüber, die nicht mehr als Masken des politischen Gegners oder gar als persönlicher Feind des Autors dar176 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gestellt und öffentlich niedergemacht wurden, indem man sie der Lächerlichkeit preisgab, sondern sie wurden nunmehr quasi anonyme politisch unwichtige Privatpersonen, die zwar nicht mit demonstrativem Wohlwollen, aber doch mit einer gewissen Nachsicht mit all ihren Fehlern, Schwächen und Schrullen vorgeführt wurden. Mit einem Wort: Aus dem attischen Lachtheater als einem Instrument des tagespolitischen Meinungskampfes war eine Stätte der heiteren Unterhaltung geworden, und aus den politisch mächtigen und deshalb gefährlichen, aber lächerlich gemachten Gestalten der Alten Komödie wurden im »bürgerlichen Heldenleben« der Mittleren Komödie komische, aber ungefährliche und politisch farblose Privatpersonen 36, die aber auch eine ganz andere Art von Lachen erregten, das man bis dahin in kulturell organisierter Form nur beim rhapsodischen Vortrag komischer Epen 37 oder beim Satyrspiel 38 hatte vernehmen können. Diesen Wandel des öffentlich organisierten Lachens hat Aristoteles offenbar vor Augen, wenn er in seiner Nikomachischen Ethik die Eutrapelie als mittlere, ideale Haltung zwischen den Extremen der Witzelei um jeden Preis und dem tierischen Ernst benennt und dann fortfährt: »Dem mittleren Habitus in dieser Beziehung ist auch die Wohlanständigkeit eigentümlich. Es verrät den anständigen Menschen, nur solches zu sagen und anzuhören, was sich für einen gesitteten und vornehmen Mann paßt. Gewisse Scherze nämlich geziemt es sich wohl für einen solchen Mann zu machen und anzuhören: es ist eben ein Unterschied zwischen dem Scherz vornehmer und roher, dem Scherz gebildeter und ungebildeter Personen. Man kann das auch an den Lustspielen der Alten und Neueren sehen: jenen lag das Komische in der Zotenreißerei, diesen liegt es vielmehr in der Doppelsinnigkeit, was beides in bezug auf die Schicklichkeit nicht wenig verschieden ist.« (1128a)

Mit dieser deutlichen Distanzierung von der Komödie des Aristophanes und ihrer spezifischen Art, beim Publikum Lachen zu erregen, lag Aristoteles ausnahmsweise einmal auf einer Linie mit Platon, der in seiner Politeia die attische Demokratie voller Verachtung als »allerliebste Staatsverfassung« bezeichnet, »zügellos, buntscheckig, eine Sorte von Gleichheit gleicherweise unter Gleiche wie Ungleiche verteilend« (558C). 177 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Da aus dieser Theaterepoche keine einzige vollständige Komödie erhalten ist und uns deshalb die Namen dieser Autoren – Antiphanes, Alexis, Anaxandrides – auch nichts sagen, sind wir auf indirekte Zeugnisse angewiesen, um uns zumindest ein ungefähres Bild von der Mittleren Komödie zu machen. Die wichtigste Quelle hierfür sind die Charaktere 39 des Theophrast, eines Schülers und Freundes von Aristoteles und sein Nachfolger in der Leitung der Peripatetischen Schule in Athen, denn in diesem Werk taucht das Personal der Mittleren Komödie in repräsentativer Auswahl auf. Da aber Menander als der repräsentative Autor der nächsten Komödienepoche sich als Schüler von Theophrast verstand, kann man sich leicht vorstellen, wie unmittelbar sich dieser Katalog komischer Typen in der Neuen Komödie des Menander und seiner Autorenkollegen niedergeschlagen haben dürfte. Einige der dort angeführten dreißig Typen, z. B. der Schmeichler, der Bäuerische, der Nörgler, der Eitle, der Prahler, der Geizige, etc. sind denn auch als Rollenfächer zum festen Bestand der europäischen Typenkomödie geworden und von den Bühnen bis heute nicht mehr wegzudenken. Das Ziel der Mittleren Komödie war natürlich nach wie vor die Erregung von Gelächter, und nach wie vor war das dort erregte Gelächter ein Lachen auf Kosten anderer, also ein indirektes Auslachen. Aber da die belachten Dramenpersonen nicht mehr fiktive Gestalten waren, hinter denen deutlich erkennbar wohlvertraute Personen des aktuellen politischen Meinungskampfes hervor schauten, sondern völlig anonyme Gestalten, die ausschließlich als mehr oder weniger komische Typen interessierten, bewegte sich dieses Lachtheater auf einem ganz neuen, viel höheren Abstraktionsniveau als die Alte Komödie und verlangte vom Publikum auch eine viel höhere Bereitschaft, sich auf das fiktive Bühnengeschehen einzulassen, denn hinter einer komischen Person auf der Bühne wurde nun nicht mehr nur eine einzige, genau bestimmbare Figur des aktuellen politischen Geschehens sichtbar, sondern es konnten unbestimmt viele sein, die man in ihr wiedererkannte. Dieser Wiedererkennungseffekt für den Zuschauer war also längst nicht mehr so eng geführt wie in der Alten Komödie, und das Vergnügen, die typischen Züge eines Geizigen oder eines Prahlers im eigenen Bekanntenkreis zu entdecken, dürfte auch nicht geringer gewesen sein 178 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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als die grimmige Befriedigung, in der Komödie des Aristophanes den politischen Gegner zur politischen Unperson niederlachen zu können. Man kann diesen Paradigmenwandel vom politisch engagierten Theater der Alten Komödie zum Unterhaltungsinstitut der Mittleren Komödie, wenn man will, natürlich als eine Form politischer Resignation sehen. Man kann diesen Wandel aber auch, wenn man will, als Einsicht in die realen und äußerst begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des Theaters werten. Man kann in diesem Paradigmenwechsel aber auch einen Fortschritt im Prozeß der Zivilisation sehen, durch den und mit dem ganz neue Formen des Lachens kulturell organisiert und dem Theaterpublikum zur Verinnerlichung angeboten wurden, um dadurch die »mentale Infrastruktur« 40 Athens weiterzuentwickeln. Und so sehe ich es. Denn der Schritt in der Dramaturgie der Attischen Komödie vom exzessiven Lächerlichmachen bestimmter Personen zur Epiphanie des Komischen im Verhalten der dramatischen Gestalten und, Hand in Hand damit, der Wandel des öffentlich praktizierten Lachens vom hämisch-höhnischen »beißenden« Auslachen zum grollfrei-heiteren Belachen des Komischen war theatergeschichtlich wie mentalitätsgeschichtlich ein Schritt in Richtung auf eine atmosphärisch entspanntere Öffentlichkeit. Daß Aristoteles dies offensichtlich genau erkannt und mit seiner Poetik es unternommen hat, diesen Prozeß begrifflich zu erfassen und philosophisch zu begründen, ist sein großes Verdienst, das ihn als Ästhetiker hoch über Platon erhebt. 2.3.3.4 Der Ort des Lachens in den performativen Künsten Da unsere Untersuchung nicht poetologisch, sondern gelotologisch ausgerichtet ist und wir deshalb nur zu klären haben, welchen Ort Aristoteles dem Lachen in den performativen Künsten durch seine Poetik zuweist, können wir weite Bereiche dieses Werks hier völlig außer acht lassen und uns ausschließlich auf die Passagen konzentrieren, in denen Aristoteles sich über das Lachen äußert. Deren gibt es aber leider nur ganz wenige, weil all die Kapitel, in denen Aristoteles sich gezielt über Komödie und Komik und damit eben 179 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch über das Lachen geäußert hat, verloren gegangen sind. Dazu kommt noch, daß auch die Abhandlung seines Schülers und Freundes Theophrast Über das Lächerliche verloren gegangen ist, von der man sicher annehmen darf, daß sie »im Sinne des Meisters« geschrieben war und die aristotelischen Positionen getreu wiedergegeben haben dürfte. So sind wir also gezwungen, uns in die Denkweise des Aristoteles hineinzuversetzen und durch vorsichtige Analogieschlüsse zu erraten, was in all diesen verlorenen Passagen über das Lachen gestanden haben könnte. Daß dies zwangsläufig ein etwas riskantes Unternehmen sein wird, ist mir klar, weil die Gefahr und die Versuchung, die Lücken im Werk des Aristoteles durch eigene Positionen aufzufüllen und diese dann als aristotelisch auszugeben, doch sehr groß ist. Wir werden also ohne ein gerüttelt Maß an Spekulation nicht auskommen, und ich kann mich nur damit trösten, daß jeder Kritiker dieser Verfahrensweise genauso spekulativ vorgehen muß. Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen soll die These dienen, daß Aristoteles mit seinen poetologischen Überlegungen neben manch anderen, die uns hier nicht interessieren, folgende Ziele im Auge hatte: • Eine gegen Platon gerichtete Apologie des Lachens und seine Rechtfertigung als legitime und lebensbereichernde Praxis; • die Klassifizierung des Lachens in bestimmte Lach-Gattungen; • die Rechtfertigung der poetischen Gattungen, die das Lachen in bestimmten Formen ästhetisch-dramaturgisch organisieren; • den Aufweis der ästhetischen Gleichrangigkeit von Tragödie und Komödie durch den Aufweis der strukturellen Analogie von tragischer und komischer Erschütterung und Katharsis. Um dieses Argumentationsziel zu erreichen, werden wir immer wieder Querverbindungen zur aristotelischen Rhetorik und zur Nikomachischen Ethik herstellen müssen, aber auch zum Tractatus Coislinianus 41, aber diese Querverbindung stellt uns wieder vor neue Probleme, weil dieser Traktat lange nach Aristoteles und durchaus in peripatetischer Tradition entstanden sein muß, aber eine ganze Reihe von Passagen enthält, die durchaus nicht »im Sinne des Meisters« sind und entweder auf fundamentale Mißver180 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ständnisse oder auf schlichte Abschreibfehler zurückgehen dürften, weshalb die Meinungen über den Erkenntniswert des Traktats 42 weit auseinandergehen. Somit wiederholt sich hier in verschärfter Form dieselbe Problematik wie schon bei der aristotelischen Poetik, die ja auch nicht von Aristoteles selbst veröffentlicht worden ist, sondern wohl eher die Mitschrift einer Vorlesung ist, die ein Schüler von Aristoteles erstellt hat. Im elften Kapitel des ersten Buches seiner Rhetorik schreibt Aristoteles im Anschluß an die Fragestellung, was lusterzeugend sei und was nicht: »Und da in gleicher Weise das Spiel in den Bereich des Angenehmen gehört sowie jede Erholung (und auch das Lachen in den Bereich des Angenehmen gehört), so muß notwendig das Lächerliche (resp. das Komische) auch angenehm sein – sowohl Personen wie Worte als auch Werke. Eine nähere Definition über das Lächerliche wird besonders in der Poetik gegeben.« (1372a)

Das ist doch wohl so zu verstehen, daß das Lachen sowohl für den Lachenden als auch für den, über den gelacht wird, angenehm sein soll. Ich nehme an, daß Aristoteles in den Passagen der Poetik, auf die er hier verweist, die Unterscheidung zwischen lächerlich und komisch und, analog dazu, zwischen Aufdecken von Komik und Lächerlichmachen, zwischen wohlwollendem Belachen von Komik und aggressivem Auslachen von Lächerlichkeit vorgenommen hat. Damit aber scheiden für Aristoteles bestimmte Formen des Lachens aus dem Bereich des Angenehmen aus, und das sind all die Formen des aggressiven höhnisch-hämisch-spöttischen Auslachens, weil diese vielleicht für den Lachenden selbst angenehm und lustbringend sein mögen, nicht aber für den Verlachten, der dadurch gekränkt, beschämt, gedemütigt oder beleidigt werden soll. Im zweiten Kapitel des zweiten Buches geht er auf diese Frage noch einmal ein und leitet all diese Formen des Lachens, die eine negative, aggressive Zuwendung des Lachenden zum Verlachten verraten, aus dem Affekt der Verachtung ab, denn selbst gelinde Ironie »zeigt immer etwas von Verachtung« (1379b). Und im sechsten Kapitel, in dem er auf den Affekt der Scham eingeht, kommt er wieder auf diese Art des aggressiv verachtenden spöttisch-höhnisch-hämischen Auslachens-von-oben zurück, weil genau diese 181 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Art des Interaktions-Lachens das jeweilige Lach-Opfer in besonderem Maße verletzen, kränken und in Scham und Schande stürzen kann. Im Gegensatz zu Platon, der dieses spezielle spöttisch-höhnischhämische Auslachen-von-oben zum Lachen schlechthin verallgemeinert und deshalb das Lachen generell als unwürdig und moralisch verwerflich verdammt hatte, schaut Aristoteles etwas genauer hin und relativiert dieses spezielle Lachen zu einer bestimmten, genau eingrenzbaren Art von Lachen, die er zwar auch für verwerflich hält, der er aber mindestens eine weitere fundamental andere und moralisch unbedenkliche, ja sogar förderliche Form von Lachen gegenüberstellt, denn am Ende seiner Rhetorik schreibt er: »Was nun das Lächerliche (resp. das Komische, also ta geloia, ridiculum) betrifft, (…) so ist bereits in der Poetik dargelegt worden, wie viele Arten des Lächerlichen (und Komischen) es gibt, von denen die eine sich für den freien Mann schickt, die andere dagegen nicht. Man mag also auswählen, wie es zu einem jeden paßt. Es steht aber die Ironie dem freien Manne eher zu Kopf als die Possenreißerei.« (1419b)

Einige Zeilen vorher hatte Aristoteles auf den Unterschied zwischen der Komödie des Aristophanes und der Komödie seiner eigenen Zeitgenossen verwiesen und den Unterschied v. a. darin gesehen, daß die Alte Komödie das Lachen des Publikums durch »Zotenreißerei« (1128a), die rezente Mittlere Komödie dies jedoch durch »Doppelsinnigkeit« (1128a) hervorzurufen suche, also durch Wortwitz und doppeldeutige Anspielungen aller Art, die niemanden verletzen wollen. Zu dieser Unterscheidung paßt auch die Definition von Komik, die Aristoteles in seiner Poetik vorlegt: »Die Komödie ist (…) die Nachahmung (Darstellung) von schlechten Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche (d. h. Komische) am Häßlichen teil hat. Das Lächerliche (d. h. Komische) ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche (d. h. komische) Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz.« (1449b)

Cicero wird diese Formulierung später aufgreifen und von einer 182 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»nicht-häßlichen Häßlichkeit« (turpiditas non turpiter) sprechen, und dann haben die Ästhetiker ewig nach einem Prädikat gesucht, um dieses nicht-häßlich Häßliche angemessen zu benennen, bis man im 18. Jahrhundert schließlich den Ausdruck »ungestalt« gefunden hat, den ich auch bereitwillig aufgreife und in dieser Studie verwende. Mit dieser Definition des Komischen wird deutlich, daß Aristoteles die Gründe und Anlässe, die das Lachen über das Verhalten anderer Personen auslösen, ausdrücklich aus dem Bereich des Moralischen herauslöst und im Bereich des wertfrei Phänomenalen ansiedelt. Auch damit setzt sich Aristoteles wieder deutlich von der moralisierenden Argumentation bei Platon ab, der das Lachen auf das Auslachen reduziert und dieses Auslachen-von-oben als legitime Bestrafung für die lächerliche Selbstüberhebung verstanden hatte, die sogar verletzend sein soll. Terminologische Bestimmungen zur Unterscheidung zumindest dieser beiden Arten von Gelächter nennt Aristoteles nicht. Ob er dies in den verlorenen Passagen der Poetik getan hat, wissen wir nicht, ist aber anzunehmen, da er ja in all seinen Werken eine ausgeprägte Vorliebe für das Klassifizieren und Systematisieren verrät. Hier hilft uns eine Überlegung, die Jacob Bernays in seiner Abhandlung über den Tractatus Coislinianus vorträgt, wenn er auf die Paragraphen 5 und 6 des Traktats eingeht. In § 5 ist davon die Rede, daß der Spottende die seelischen und körperlichen Verunstaltungen (hamartemata) einer Person aufs Korn nehmen und ans Licht bringen will, und Bernays schreibt dazu unter Verweis auf die Nikomachische Ethik (1128a), »dass im Gegensatz zu einem solchen nur die Schwächen der Menschen blosslegenden, auf nichts als auf Ueberführen ausgehenden und daher unerfreulichen Spott, der wahrhaft komische Scherz sich mit den menschlichen Unvollkommenheiten heiter spielend, ›nie verletzend, ja in möglichst ergötzlichster Weise‹, zu befassen habe.« (S. 151)

Dann zitiert Bernays § 6 des Traktats und schreibt dazu als Kommentar: »›Wie in der Tragödie eine Symmetrie der Furcht so soll in der Komödie eine Symmetrie des Lächerlichen sein‹, nämlich wie in der Tragödie ein Ebenmaass von phobos zu eleos verlangt wurde, so muss die Komö-

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die ein Ebenmaass von gelos zu terpsis haben, sie muss das Lachen in die Grenzen des heiteren, eines Freien und Gebildeten würdigen Scherzes einschränken, weder in vernichtendes Hohngelächter ausbrechen noch eine brausende phallische Lache aufschlagen wollen.« (S. 151)

Bernays unterstellt dem Traktat also gleich zwei verschiedene aristotelische Forderungen nach Maß, Mitte und Symmetrie: Einmal eine ideale Symmetrie zwischen den beiden Einstellungen positiver und negativer Zuwendung, die im Lachen ihren Ausdruck finden sollen, und zum anderen das Ideal der Metriopathie, d. h. die Forderung nach maßvoller Hingabe an den jeweiligen Affekt, die die ideale Mitte zwischen teilnahmsloser Apathie und fassungsloser Hingerissenheit hält und sich beim Lachen in der Einhaltung einer bestimmten mittleren Lach-Intensität zeigt. Genau an diesem Punkt führt, wie wir sehen werden, Aristoteles seine Überlegungen hinüber in die praktische Philosophie und entwickelt aus diesem Ansatz das lebenspraktische Ideal der Eutrapelie. Mit dieser Unterscheidung von gelos und terpsis, von eher aggressivem Auslachen und eher heiter-wohlwollendem Belachen und, Hand in Hand damit, der Unterscheidung zwischen den beiden dazu gehörenden Lachanlässen Lächerlichkeit und Komik hat Aristoteles uns auch noch ein Kriterium an die Hand gegeben, bestimmte Komödiengattungen voneinander zu unterscheiden, je nachdem, welche Art von Gelächter und Gelächter erzeugendem Verhalten dort ästhetisch-dramaturgisch organisiert wird: • das eher spöttisch-höhnisch-hämische Auslachen der dramatischen Personen durch die dramaturgische Organisation von moralisch relevanter Lächerlichkeit im Rahmen einer Komödie, die den Zuschauer in irgendeiner Weise verändern, belehren oder verbessern will (Gelos-Typ); • das eher gutmütig-heiter-wohlwollende Lachen über das Verhalten der dramatischen Personen durch die dramaturgische Organisation von moralisch irrelevanter Komik im Rahmen einer Komödie, die den Zuschauer lediglich unterhalten will (TerpsisTyp). So groß die Unterschiede zwischen diesen beiden Komödiengattungen auch sein mögen, so haben sie doch beide gemein, daß sie immer ein indirektes Auslachen der Dramenpersonen in Szene set184 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zen und daß dieses indirekte Auslachen auch immer ein Auslachenvon-oben ist, weil grundsätzlich jedes Theaterstück so geschrieben ist, daß der Zuschauer immer entscheidend mehr weiß als die dramatischen Gestalten. Dieses »Privileg der Überschau« 43 ist also noch eine weitere Quelle für das Vergnügen des Zuschauers an dramatischen Gegenständen aller Art. Die von Aristoteles begründete Unterscheidung von Gelos- und Terpsis-Typ der Komödie hat Schule gemacht und zieht sich durch die dramaturgische Diskussion bis herauf zu Lessing, der in seiner Hamburgischen Dramaturgie 44 im 28. Stück darauf zurückkommt, wenn er sich mit dem Gelos-Typ der Aufklärungskomödie seiner Zeit auseinandersetzt und im Hinblick auf den Zerstreuten von Regnard schreibt: »Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig ausgelacht zu werden, als einer, der Kopfschmerzen hat. Die Komödie müsse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei, der lasse sich durch Spöttereien ebensowenig bessern, als ein Hinkender. (…) Doch (…) wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. (…) Wir lachen über ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schätzen seine übrigen guten Eigenschaften, wie wir sie schätzen sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal über seine Zerstreuung lachen können. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswürdigen Manne, und sehe, ob sie noch lächerlich sein wird? Widrig, ekel, häßlich wird sie sein; nicht lächerlich.« (S. 114 f.)

Da man zu Lessings Zeiten noch nicht scharf zwischen »komisch« und »lächerlich« unterschied, dies heute aber tut, dürfen wir wohl im Sinne Lessings den letzten Satz dahingehend ändern, daß er nun lautet: »Widrig, ekel, häßlich und vielleicht sogar lächerlich wird sie sein, aber nicht komisch.«

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Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

2.3.3.5 Vergnügen an tragischen Gegenständen: phobos und eleos Daß jede Art von Lachtheater dem Zuschauer Vergnügen bereiten will, liegt auf der Hand und muß nicht weiter begründet werden. Daß man aber, mit Schiller zu sprechen, auch »Vergnügen an tragischen Gegenständen« empfinden kann, bedarf schon eher der Begründung, und deshalb widmet auch Aristoteles diesem Problem eigens einige Überlegungen, die zum Kern seines Werkes gehören, und kommt zu dem Ergebnis, daß einzig in der kalkulierten Verschränkung der beiden Affekte phobos und eleos dieses spezifische Vergnügen an tragischen Gegenständen beim Zuschauer erzeugt werden kann, und nennt dies die oikeia hedone, die für die Tragödie typische und nur für sie spezifische Art von Vergnügen: »Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße. Da nun der Dichter das Vergnügen bewirken soll, das durch Nachahmung (szenische Darstellung) Jammer und Schaudern hervorruft, ist offensichtlich, daß diese Wirkungen in den Geschehnissen selbst enthalten sein müssen.« (1453b)

Aber warum gerade diese beiden Affekte? Und warum beide zusammen? Und worin besteht dabei das Vergnügen an tragischen Gegenständen? Und weiter: Was zeichnet diese beiden Affekte aus, das sie ästhetisch relevant und speziell für die Tragödie so überaus wichtig macht? Und vor allem: Was ist unter phobos und eleos überhaupt zu verstehen? Jahrhundertelang hat man phobos und eleos mit »Furcht« und »Mitleid« übersetzt, und dieses stark christlich überformte Verständnis hat sich im deutschen Sprachraum bedingt durch die Autorität Lessings 45 lange gehalten und ist erst im Zuge der von Henri Weil und Jacob Bernays um 1850 angestoßenen Debatte über das Wesen der tragischen Katharsis 46 in Frage gestellt und hundert Jahre später mit den Arbeiten von Wolfgang Schadewaldt, Hellmut Flashar und Max Pohlenz neu angefacht worden. 47 Den entscheidenden Anstoß gab Schadewaldt mit seinem Aufsatz Furcht und Mitleid? von 1955, in dem er die traditionelle Übersetzung mit »Furcht« und »Mitleid« mit überzeugenden Argumenten abwies und dafür »Schauder« und »Jammer« vorschlug. 186 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis

Laut Schadewaldt ist die Wiedergabe von phobos mit »Furcht« schon deshalb falsch, weil das jähe und schreckhafte Moment, das Gescheuchtwerden und Zurückschrecken und das Gefühl jäher, plötzlicher Bedrängung beim Erlebnis von phobos durch das Wort »Furcht« nicht angemessen wiedergegeben wird: »Entscheidend ist, daß phobos (…) jedenfalls eine Furcht ist, die entschieden zum Schrecken und Schaudern neigt. Was Aristoteles im Auge hat, wenn er in seiner Deutung der Wirkung der Tragödie das Wort phobos und phoberos gebraucht, ist (…) sichtlich ein aufrührender Elementaraffekt (tarache) von unmittelbarer Gewalt, hervorgerufen durch die Vorstellung unmittelbar bevorstehender Bedrohung durch ein schweres Leid oder die Vernichtung.« (S. 248)

Aus diesem Grund übersetzt Schadewaldt phobos mit »Schauder«, und die meisten Fachleute48 sind ihm hier auch willig gefolgt. Als viel schwieriger erwies sich die Übersetzung von eleos, vor allem deshalb, weil der überlieferte christliche Begriff Mitleid 49 den Blick auf das Phänomen eleos so massiv versperrte und verzerrte. Fragen wir also erst mal wieder bei Platon nach! Für Platon ist der eleos eine Versuchung, ja sogar eine Gefahr, weil er die von ihm geforderte allgemeine Selbstbemächtigung untergraben könnte, und deshalb sorgt er sich in der Politeia, ob die Kaste der Wächter hinter ihrer gepanzerten Männerbrust auch wirklich hart bleibe, und will sie deshalb vor allen Versuchungen des eleos bewahren, z. B. dadurch, daß die Wächter daran gehindert werden, Wehklage-Szenen anzuschauen, »damit sie uns nicht durch eben diesen Schauder (eleos) aufgelöster und weichlicher werden als billig«. (387c; Übersetzung von Schleiermacher) Ganz anders wieder Aristoteles, der in seiner Rhetorik den Affekt des eleos als das genaue Gegenstück zum gelos, dem spöttischhöhnisch-hämischen Auslachen-von-oben charakterisiert, und zwar »als ein gewisses Schmerzgefühl über ein in die Augen fallendes, vernichtendes und schmerzbringendes Übel, das man auch für sich selbst oder einen der Unsrigen zu erleiden erwarten muß, und zwar wenn es in der Nähe zu sein scheint; denn es ist offenkundig, daß der, der Mitleid (eleos) empfinden soll, sich in einer solchen befinden muß, daß er glaubt, entweder er selbst oder einer der Seinigen könne (ebenfalls) irgend ein Übel erleiden.« (1385b)

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Wichtig für Aristoteles ist also das Kriterium der Nähe und der Vergleichbarkeit der Situation, in der beide Eleos-Partner sich befinden und auf Augenhöhe begegnen. Deshalb schreibt Schadewaldt: »Drei Elemente konstituieren nach Aristoteles also die Struktur des eleos: einmal die Gegenwart eines über den andern hereingebrochenen vernichtenden und schmerzhaften Übels, sodann das Bewußtsein der eigenen entsprechenden Gefährdung, das voraussetzt, daß man sich in einer gleichen Lebenslage wie jener vom Übel Betroffene befindet und daß die Gefährdung nahe bevorsteht, und drittens, daß der andere sein Übel als anaxios (d. h. als unverdient und unangemessen) erleidet.« (S. 257 f.)

Dieses dritte Kriterium ist für Schadewaldt entscheidend, weil sich damit der griechische eleos vom christlichen Mitleid gründlich unterscheidet, das ja ohne Ansehen der Person wirksam zu werden hat, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lehren soll. Und daß sich jede Form von Genugtuung oder gar Schadenfreude und Hohn und Spott sowieso verbietet, versteht sich ja von selbst. Aus all diesen Gründen bietet Schadewaldt als Übersetzung für eleos das Wortfeld »Jammer/Ergriffenheit/Rührung« (S. 259) an, favorisiert aber entschieden das Wort »Jammer« und lehnt die Übersetzung mit »Mitleid« strikt ab. Diese Übersetzung hat sich mittlerweile auch durchgesetzt. Die klassische literarische Darstellung des eleos findet sich bei Homer im letzten Gesang der Ilias. Es ist die anrührende Szene zwischen Achill und Priamos. Patroklos, der engste Freund des Achill, ist im Kampf gegen Hektor vor Troja gefallen, und deshalb tritt Achill, rasend vor Schmerz und Zorn über den Tod seines Freundes, gegen Hektor an, besiegt ihn und schändet den Leichnam Hektors gegen Brauch und Sitte. Als nun Priamos sich heimlich in Achills Zelt begibt und ihn kniefällig und mit Handküssen bittet, ihm den Leichnam seines Sohnes auszuliefern, damit dieser rituell bestattet werden kann, verfällt Achill nicht etwa in Hohngelächter, sondern seine unmenschliche Raserei wird gebrochen und es kommt zu dieser klassischen Szene: Beide, Achill wie Priamos, sind in tiefer Trauer; Priamos trauert um seinen Sohn, den 188 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Achill getötet hat, und Achill trauert um seinen Freund, den Hektor getötet hat, und nun ergreift diese Atmosphäre von tiefer Trauer beide und läßt sie buchstäblich zerschmelzen, und jetzt gelingt es Priamos, auch in Achill den eleos 50 zu wecken und ihn dadurch zu besänftigen: »Ich unseliger Mann! die tapfersten Söhn’ erzeugt’ ich Weit im Troergebiet, und nun ist keiner mir übrig! (…) Doch der mein einziger war, der die Stadt und uns Alle beschirmte, Den jüngst tödtetest Du, da er kämpfte den Kampf für die Heimat, Hektor! Drum nun komm’ ich herab zu den Schiffen Achaia’s, Ihn zu erkaufen von dir, und bring’ unendlich Lösung. Scheue die Götter demnach, o Peleid’, und erbarme dich meiner, Denkend des eigenen Vaters! ich bin noch werther des Mitleids! Duld’ ich doch, was sonst kein sterblicher Erdebewohner: Ach, die die Kinder getödtet, die Hand an die Lippe zu drücken! Sprach’s, und jenem erregt’ er des Grams Sehnsucht um den Vater; Sanft bei der Hand anfassend, zurück ihn drängt’ er, den Alten. Als nun beide gedachten: der Greis des tapferen Hektor, Weint’ er laut, vor den Füßen des Peleionen sich windend: Aber Achilleus beweinte den Vater jetzo, und wieder Seinen Freund; es erscholl von Jammertönen die Wohnung. Aber nachdem sich gesättigt des Grams der edle Achilleus, Und aus der Brust ihm das Sehnen entfloh’n war, und aus den Gliedern; Sprang er vom Sessel empor, und hub den Greis an der Hand auf Voll Mitleids mit der Gräue des Haupts und der Gräue des Bartes.« (V. 493–516)

Wenn wir von hier aus wieder zu Aristoteles zurückkehren, können wir das Wesen des eleos noch etwas enger eingrenzen, denn Aristoteles hatte, wie wir wissen, in seiner Rhetorik den eleos als das genaue Gegenstück von gelos dargestellt, also als das genaue Gegenstück zum kalten, spöttisch-hämisch-höhnischen Auslachen-vonoben. Für diese spezifische Form des Lachens aber hat Henri Bergson 51 ein zentrales Kriterium entdeckt, das er sehr treffend als »Anästhesie des Herzens« (S. 15) bezeichnet. Ein in dieser Art anästhesiertes Herz wäre also ein kaltes, hartes, steinernes Herz in einer gepanzerten Männerbrust, die wie eine Festung 52 allen anrüh189 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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renden Attacken widersteht: das typisch zynisch-stoische Ideal. Demgegenüber wäre der Affekt des eleos an ein Herz gebunden, das sich erwärmen läßt, sich rühren und ergreifen lassen kann und sich dem anderen auch öffnen kann und gebunden ist an eine Person, die es sich erlaubt, in einer bestimmten Situation dieses Herz auch sprechen zu lassen und vor allem auch auf dieses Herz 53 zu hören. Genau dies geschieht in der oben zitierten Szene aus der Ilias, in der Achill sich von Priamos rühren läßt, dabei gleichsam ins Schmelzen gerät (man sieht es an den Tränen), den alten Priamos buchstäblich wieder aufrichtet und sich selbst zugleich mit ihm, und eben dies erlöst ihn aus seiner eigenen Verhärtung und Verblendung. Und deshalb spricht Achill in der Szene die »geflügelten Worte«: »Armer, fürwahr viel hast du des Weh’s im Herzen erduldet! Welch ein Muth, so allein zu der Danaer Schiffe zu wandeln, Einem Mann vor die Augen, der dir so viel’ und so tapfre Söhn’ erschlug! Du trägst ja ein eisernes Herz in dem Busen! Aber wohlan, nun setz’ auf den Sessel dich; laß uns den Kummer Doch in der Seel’ ein wenig beruhigen, herzlich betrübt zwar. Denn wir schaffen ja nichts mit unserer starrenden Schwermuth.« (V. 518–524)

Wie so oft bei Aristoteles ist es auch hier sinnvoll und erhellend, nach den medizinischen Hintergründen seiner Argumentation zu fragen, und zum Glück gibt es hier die überaus aufschlußreichen Ausführungen 54 von Hellmut Flashar. Als Symptome, in denen sich die beiden Affekte phobos und eleos manifestieren, nennt Flashar zusammenfassend »für phobos: Kälteschauer (phrike), Aufrechtstehen der Haare, Zittern des Herzens, ein schreckhaftes Außer-sich-geraten ohne eine eigentliche Bedrohung. Für eleos zeigte sich ein Tränen der Augen, ein Weinen ohne eigentlichen Grund zur Trauer, vermischt mit einem gewissen Gefühl der Freude als charakteristisch.« (S. 302)

Weil also »beim eleos kein tatsächlicher Grund zum Weinen gegeben ist und beim phobos keine reale, einen solchen Schrecken auslösende Bedrohung vorhanden ist« (S. 297) und dadurch diese beiden Affekte keine reinen, sondern ambivalente Gefühle sind, 190 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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können diese beiden eigentlich unangenehmen Affekte sogar genossen und dadurch kunstfähig gemacht werden. Ähnlich wie bei Platons Ätiologie des Auslachens aus dem paidikos phthonos der »Konkurrenzsorge« (Gadamer) gründet sich auch die ästhetische Verwendung von phobos und eleos auf die Einbettung beider Affekte in eine grundsätzlich entspannte, unbedrohliche Situation. Damit greift Aristoteles einen Gedanken wieder auf, den er schon bei der Analyse des Kitzel-Lachens dargelegt hatte. Dort hatte er das Kitzel-Lachen als Reaktion auf einen überraschenden, aber auch unbedrohlichen Scheinangriff beschrieben, und dieses wichtige Moment der Unbedrohlichkeit lag ja auch seiner Definition des Komischen zugrunde, das er als eine wie immer auch geartete phänomenale Verunstaltung ins Ungestalte (hamartema) verstand, die allerdings weder bedrohlich für den Verunstalteten noch peinlich für den Betrachter sein darf. Daß der Affekt eleos das genaue Gegenstück zu gelos ist, haben wir schon gesehen. Manfred Fuhrmann weist im Kommentar zu seiner Übersetzung der Poetik aber darauf hin, daß auch die Bestimmung des Komischen, das »keinen Schmerz und kein Verderben verursacht« (1449a), »das genaue Gegenstück zur Definition des tragischen Pathos« (S. 108) aus dem elften Kapitel der Poetik ist, wo Aristoteles die wesentlichen Elemente einer Tragödie auflistet und neben der Peripetie (peripeteia) und der Wiedererkennung (anagnorisis) das die tragische Erschütterung auslösende »schwere Leid« (pathos) nennt und dann hinzufügt: »Das schwere Leid ist ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr.« (1452b) 55

Aus diesen beiden evidenten Analogien ziehe ich den Schluß, daß Aristoteles in den verlorengegangenen Teilen seiner Poetik die strukturelle Analogie und ästhetische Gleichrangigkeit von Tragödie und Komödie darstellen wollte, indem er beide Arten von Theater als ästhetisch organisierte Kunstgattungen charakterisierte, in denen auf eine für den Zuschauer unbedrohliche und deshalb auch lustvolle Art und Weise tragische wie komische Erschütterung erfahrbar gemacht werden kann.

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2.3.3.6 Zur Räumlichkeit theatraler Affekte Um aber diese von Aristoteles anvisierte strukturelle Analogie von Tragödie und Komödie, von tragischer und komischer Erschütterung weiter verfolgen zu können, tun wir gut daran, noch etwas genauer zu klären, was es mit den beiden Affekten phobos und eleos bzw. gelos und terpsis auf sich hat, indem wir nicht nur nach deren ethischem und medizinischem Hintergrund fragen, sondern auch nach deren Räumlichkeit. Dazu noch mal Flashar: »Unter der unnormal starken Kälteempfindung, durch die der phobos medizinisch bestimmt ist, muß konkret ein Kälteschauer verstanden werden, der den Zuschauer als unmittelbares Schreckgefühl befällt; entsprechend muß unter der unnormal starken Feuchtigkeit, durch die der eleos bestimmt ist, konkret die Rührung verstanden werden, die dem Zuschauer die Tränen in die Augen treten läßt.« (S. 325)

Dieser Effekt stellt sich laut Aristoteles besonders an den Stellen einer Aufführung ein, wo die Handlung dem Zuschauer allerlei erschreckende Aha-Erlebnisse aufzwingt, und hier gibt es für ihn drei dramaturgische Möglichkeiten: »Die Handlung kann sich so vollziehen wie bei den alten Dichtern, d. h. mit Wissen und Einsicht des Handelnden, wie auch Euripides verfährt, wenn er Medea ihre Kinder töten läßt. Ferner kann man handeln, ohne die Furchtbarkeit der Handlung zu erkennen, und erst später Einsicht in das Naheverhältnis erlangen, wie es beim Ödipus des Sophokles der Fall ist. (…) Außerdem gibt es eine dritte Möglichkeit: Die Person beabsichtigt aus Unkenntnis, etwas Unheilbares zu tun, erlangt jedoch Einsicht, bevor sie die Tat ausführt.« (1453b)

Ob eine dramatische Person vor, während oder nach ihrer verhängnisvollen Tat über diese erschrickt (und der Zuschauer mit ihr), ist für Aristoteles nicht so entscheidend; entscheidend ist für ihn aber, daß die dramatische Person überhaupt erschrickt, weil ihr schlagartig aufgeht, in welch tragisches Verhängnis sie sich verstrickt hat. Das ganze Wortfeld, mit dem wir dieses Phänomen beschreiben (zusammenschauern/Verstrickung/Schreckstarre/Kälte/Frösteln/ zusammenschrecken/Ausweglosigkeit etc.) benennt das Phänomen zentripetaler Engung, die sich als langsam erstickendes, hoch mit 192 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Angst besetztes Würgen oder aber als plötzliches Zusammenfahren einstellen kann; aber immer ist es ein zentripetaler Impuls, der als Hauptvollzugsrichtung das Verhalten bestimmt. Genau entgegengerichtet ist der Affekt des eleos, bei dem die dramatische Person (und der Zuschauer mit ihr) vor Jammer vergehen, aufschmelzen und in Tränen zerfließen möchte. Das Wortfeld, mit dem wir dieses Situationen beschreiben (zerfließen/vergehen/weichwerden/schmelzen, etc.), benennt das Phänomen zentrifugaler Weitung, und zwar ist es Engung bzw. Weitung mit allem, was man ist, hat und tut, und das gilt für das dramatische Personal in gleicher Weise wie für das mitgehende Publikum. Aber auch dieses Phänomen zentrifugaler Weitung kann als langsame, gleichsam tastend-gleitende Erosion der Person »mit angezogener Handbremse« erfolgen, wie dies in Homers klassischer eleos-Szene geschieht, oder aber als plötzliche und explosive privative Weitung, bei der es uns fast zerreißt. So gesehen ist die von Bernays angesprochene und von Aristoteles wohl auch so gemeinte Symmetrie von phobos und eleos ein Wechselbad von zentripetaler Engung und zentrifugaler Weitung, und genau dies ist die Grundlage für das von Aristoteles angesprochene Vergnügen des Zuschauers an tragischen Gegenständen. Wenn wir die Räumlichkeit der beiden tragischen Affekte auch noch im Hinblick auf ihre Einwirkung auf den persönlichen Verfügungsraum des Zuschauers bestimmen wollen, so zeigt sich alsbald, daß der phobos nicht nur in zentripetaler Engung besteht, sondern auch in einem Zurückschrecken, einem Impuls zur Flucht, also einer negativ gestimmten Abwendung mit dem Impuls: »Bloß weg hier!« Analog dazu besteht auch der eleos nicht nur in zentrifugaler Weitung, sondern auch in einer Tendenz zur Abwendung, die allerdings, anders als beim phobos, durch Sympathie und Mitleid mit dem tragischen Helden geprägt und dadurch positiv gestimmt ist: »Man kann all den Jammer nicht mehr mit anschauen, und ausgerechnet dem Menschen muß das passieren!« Beide Arten von theatralisch relevantem Gelächter sind, räumlich gesehen, Formen intensiver Zuwendung, mit dem Unterschied allerdings, daß das Auslachen von Lächerlichem eine Form negativer, aggressiver Zuwendung mit »anästhesiertem Herzen« und das 193 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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terpsis-Lachen über Komik aller Art eine Form positiver, wohlwollender Zuwendung mit warmem Herzen ist. In beiden Fällen kann man sich gar nicht satt sehen, wenn auch aus etwas anderen Gründen. 2.3.3.7 Mimetische Resonanz Ich hatte mich oben etwas über Platons Sorgen mokiert, die schauspielerische Darstellung von moralisch minderwertigem Verhalten könne nicht nur auf die Darsteller, sondern auch auf die Zuschauer einer solchen Darstellung abfärben 56, sofern sie entsprechend mitgehen. Und das tun sie auch im allgemeinen, denn Platon fügt in seiner Politeia sofort mit einiger Zerknirschung hinzu: »Wenn die Besten von uns den Homer oder einen anderen Dramatiker hören, wie er irgend einen trauernden oder unter Wehgeklage eine lange Tirade hersagenden Helden nachahmend darstellt, oder wie er Helden eine Jammermusik machen und die Brust sich zerschlagen läßt, – so weißt du wohl, daß wir daran unsere Freude haben, daß wir mit gänzlicher Hingebung ihnen mit unserem Mitgefühl folgen, daß wir ganz ernstlich denjenigen als einen guten Dichter loben, der uns am stärksten in solchen Gemütszustand versetzen kann.« (605D)

Mit welcher Hingabe das Publikum zu Platons Zeiten den szenischen Darbietungen auf der Bühne und den Vorträgen der Rhapsoden zu folgen pflegte, können wir z. B. dem Ion-Dialog entnehmen (vgl. 535C ff ). Die Gründe für diese Sorgen vor moralischer Ansteckung durch das Mitgehen des Zuschauers mit dem Geschehen auf der Bühne liegen letztlich in Platons Theorie der Methexis (Teilhabe), einer Konsequenz der Ideenlehre, die besagt, daß mimetische Darstellung Teilhabe am Dargestellten sei, und dies gilt im Bereich des Theaters nicht nur für den Schauspieler, sondern auch für den Zuschauer, der, sofern er mitgeht, ebenfalls am Verhalten der dargestellten Bühnengestalten teilhat, weshalb Platon im Ion-Dialog auch von einer »magnetischen Kette« spricht, durch welche Dramengestalten, Darsteller und Zuschauer miteinander verknüpft werden (vgl. 353D). 194 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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All dies ist Mimesis, schon für Platon, und für Aristoteles erst recht. Und weil diese halb unbewußte Form von Mimesis, die man, reichlich ungenau, in der ästhetischen Theorie als »Identifizierung«, »freiwillige Selbsttäuschung« oder »ästhetische Illusion« und im Jargon der Theaterleute sehr viel genauer als Mitgehen bezeichnet, darauf beruht, daß man als Zuschauer bereit ist, auf spielerisch genußvolle Weise die eigene Selbstbehauptung zugunsten der Selbstpreisgabe etwas einzuschränken, ist diese Art von Mimesis für Platon eine überaus gefährliche Versuchung, ja sogar eine Gefahr, weshalb Koller mit vollem Recht schreibt: »Einzig diese auch bei Platon mächtige Furcht vor der magischen Wirkung der Mimesis erklärt die calvinistische Reinigungswut im Platonischen ›Staat‹.« (S. 57)

Worin besteht nun dieses Mitgehen, und wie läßt es sich angemessen beschreiben und deuten, ohne metaphysische Spekulationen wie Ideenlehre und Methexis-Theorie zu bemühen? Die genaueste und früheste Beschreibung, die ich kenne, stammt von Georg Christoph Lichtenberg, der dieses Phänomen bei einem Theaterbesuch in London an der eigenen Person studierte und in einem Brief ausführlich beschreibt. Dort heißt es über die Wirkung des Schauspielers David Garrick auf sein Publikum: »Man fühlt sich selbst leicht und wohl, wenn man die Stärke und Sicherheit in seinen Bewegungen sieht, und wie allgegenwärtig er in den Muskeln seines Körpers erscheint. (…) Seine Mienen sind bis zur Mitteilung deutlich und lebhaft. Man sieht ernsthaft mit ihm aus, man runzelt die Stirn mit ihm, und lächelt mit ihm; in seiner heimlichen Freude, und in der Freundlichkeit, wenn er in einem Beiseite den Zuhörer zu seinem Vertrauten zu machen scheint, ist so etwas Zutuliches, daß man dem entzückenden Manne mit ganzer Seele entgegen fliegt.« 57

Lichtenbergs Zeitgenosse Johann Jakob Engel, ein entschiedener Aristoteliker, beschreibt das Mitgehen in seinen Lehrbriefen zur mimetischen Theorie und Praxis ganz ähnlich als »nachahmende Malerei«: »Alle Mienen der Acteure, sogar manche ihrer Bewegungen, ahmt der so ganz illudirte Zuschauer, wenn auch schwächer, nach; ohne daß er noch weiß, was gesagt werden wird, wird er ernsthaft mit dem Ernst-

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haften, fröhlich mit dem Fröhlichen: sein ganzes Gesicht wird zum Spiegel, der alle die abwechselnden Gebehrden der auftretenden Personen, Verdruß, Spott, Neugier, Zorn, Verachtung, getreu zurückwirft.« 58

Und um zu zeigen, daß die Ansteckungsängste von Platon und seinem Gefolge völlig unbegründet sind, fügt Engel als echter Aufklärer sofort hinzu, daß der Zuschauer, so sehr er auch mitgehen mag, dem Geschehen auf der Bühne nie willenlos ausgeliefert ist, sondern immer mündiger Partner der Bühne bleibt: »Nur dann, wenn seine eigenen Empfindungen die von außen kommenden Eindrücke durchkreuzen und Ausdruck verlangen, wird diese nachahmende Malerei unterbrochen.« (I,50)

In diesen beiden Beschreibungen wird deutlich, daß das Verhalten eines mitgehenden Publikums eine Reaktion ohne Reaktionszeit ist, das strikt synchron mit dem Geschehen auf der Bühne abläuft, weshalb Engel auch das Bild eines Spiegels bemüht und weshalb man es auch nicht als »mimetisches Echo« bezeichnen kann, weil in einem Reiz-Reaktions-Geschehen das Echo immer mit einer gewissen Verzögerung auf den Reiz folgt, sondern als »mimetische Resonanz«. Und so wollen wir im folgenden das Phänomen des Mitgehens auch bezeichnen, denn es wird sich bald zeigen, daß es auch gewichtige problemgeschichtliche Gründe für die Wahl dieser musikalisch orientierten Terminologie gibt. Es wird sich aber auch zeigen, daß wir das nun zu lösende Problem der Katharsis ohne den Begriff der mimetischen Resonanz nicht sinnvoll diskutieren können, weil hierbei die Frage zu klären ist, wo denn die Katharsis eigentlich stattfindet: In den dramatischen Gestalten? Im dramatischen Geschehen? In den Schauspielern? Im Zuschauer? Oder aber auf der Bühne und im Publikum zugleich? Wie immer auch die Antwort ausfallen wird, entscheidend ist, daß wir grundsätzlich von einer konkreten Aufführungssituation ausgehen müssen. Deshalb folge ich gerne Burckhard Garbe, wenn er über die Definition der Tragödie bei Aristoteles schreibt, Sinn und Zweck, Wirkungsmöglichkeit und Endeffekt der Tragödie seien mit eleos und phobos identisch, »genauer: mit dem paraskenazein von eleos und phobos« 59, also mit dem In-Szene-Setzen und Auslösen 196 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dieser beiden Affekte in der jeweils aktuellen Aufführungssituation. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage nach dem Ort des kathartischen Geschehens nur so lauten, daß das kathartische Geschehen nicht nur im dramatischen Geschehen auf der Bühne abläuft, sondern zugleich damit auch im, am und mit dem Zuschauer. Vermittelt aber wird diese Zugleichheit durch das Mitgehen des Publikums, durch seine mimetische Resonanz. Wolfgang Schadewaldt, der die neuere Diskussion über das Katharsis-Thema mit seinem berühmten Aufsatz Furcht und Mitleid? eröffnet hat, den Ausdruck »mitgehen« aber nicht zu kennen scheint, schreibt dazu: »›Mitleid‹ ist eines der nicht eben seltenen deutschen Wörter, die in ihrer sprachlichen Grundstruktur griechisch sind, ihre besondere Bedeutungstönung aber durch das Christentum empfangen haben. Letztlich zugrunde liegt sympaschein, sympathein – ›Mit-Erleiden‹, ›in Mitleidenschaft gezogen werden‹, ›mit zugleich eine Einwirkung erfahren‹. In diesem Sinne wird das Wort von ›sympathetischen‹ Wirkungen jeder Art gebraucht, z. B. im Verhältnis Körper und Seele oder, später, der Gestirne zueinander, oder der Abhängigkeit von Ebbe und Flut von der Stellung des Mondes, und so bezeichnet es auch die allgemeine Wirkung der Musik oder auch von Nachwirkungen (mimeseis) ohne Rhythmus und Melodie auf das Gemüt des Zuhörers. Auch auf die Wirkung der Tragödie kann es gehen, aber dann keineswegs in dem speziellen Sinn des ›Mitleids‹, sondern der allgemeinen, durch die Handlung hervorgerufenen wechselnden ›Mitgestimmtheit‹ des Zuschauers.« (S. 248 f.)

Daß Schadewaldt bei seinen definitorischen Bemühungen alsbald in eine musikalische Metaphorik einmündet, resultiert hier durchaus nicht aus Sprachnot, sondern liegt in der Sache selbst begründet, denn Koller hat in seinem bahnbrechenden Mimesis-Buch nachgewiesen, daß musike als Einheit von Musik, Sprache und Tanz für die Griechen die eigentlich mimetische Kunst war 60, eine performative leibliche Versinnlichung, bei der der eigene Leib sowohl als Werkstoff als auch als Werkzeug 61 Verwendung fand. Deshalb hat Weidlé sicher recht, wenn er schreibt, man könne bei den Griechen eben so sehr von der »Geburt der Musik aus dem Geiste der Mimesis« sprechen wie von der »Geburt der Mimesis aus dem Gei197 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ste der Musik« 62. Ihre Berechtigung findet diese musikalische Metaphorik v. a. auch darin, daß in der griechischen Musiktheorie seit den Pythagoreern gerne strukturelle Analogien zwischen der Musik und der menschlichen Seele gesehen wurden, wie dies ja auch in dem deutschen Wort »Stimmung« zum Ausdruck kommt, und deshalb meint Koller: »Wie eine gleichgespannte Saite in Schwingung versetzt wird, mitklingt, oder, wie die Pythagoreer sagen, mitleidet, (sympaschei), wenn in einiger Entfernung eine gleichgespannte gezupft wird, so schwingt die Seele mit, wenn Musik ertönt, da auch sie eine Leier ist.« (S. 130)

Beim Musiktheoretiker Aristides Quintilianus wird dieser Gedanke noch etwas ausführlicher dargestellt, wenn er die Pythagoreer wie folgt wiedergibt: »Was Wunder also, wenn die Seele, da sie von Natur den Körper als wesensverwandt mit den die Instrumente bewegenden Sehnensaiten und Atemluftsäulen auffaßt, unter dem Eindruck der Instrumente in Erregung gerät, falls diese in Bewegung gesetzt werden? Wenn sie, sobald Atemluft in melodisch-rhythmischer Form zum Klingen gelangt, mit dem in ihrer Nähe sich äußernden lebendigen Atemhauch sympathisiert? Wenn sie, sobald eine Saite in harmonische Weise angeschlagen wird, mit ihren eigenen Sehnen, bzw. Nerven mitklingt und sie entsprechend einstimmt. Wo doch auf der Kithera etwas Derartiges zu beobachten ist. (…) Wie viel mehr muß also bei den in der Seele Erregten der Grund der Ähnlichkeit wirksam werden.« 63

Wenn man in der Art der pythagoreischen Schule die innige Analogie von Musik und menschlichem Empfinden betont, dann ist es auch konsequent, eine Ätiologie der performativen Künste aus dem natürlichen Vermögen und der Leiblichkeit des Menschen als proprium hominis abzuleiten, und das heißt dann laut Koller: »Weil dem Menschen Mimesis als natürliche Anlage gegeben ist, hat er eine Dichtung hervorgebracht. Aber auch Musik und Rhythmus sind ihm offenbar von Natur gegeben.« (S. 109)

Aber nicht nur das Vermögen, diese Künste auszuüben, sondern auch das Vermögen, diese Künste durch mimetische Resonanz als einem weiteren proprium hominis adäquat aufzunehmen und zu genießen, bildet eine weitere anthroponome Konstante, die bei jedermann vorausgesetzt und angesprochen werden kann. 198 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wenn dies aber so ist, so stellt sich sofort die Frage, wie man diese allfällige Fähigkeit und Bereitschaft zu mimetischer Resonanz bewertet: als Chance oder als Gefahr. Platon hat sie, wie wir mittlerweile wissen, eindeutig als Versuchung und als Gefahr gesehen, weil er in der Bereitschaft zum Mitgehen eine Schleuse für mentale Infektionen aller Art gesehen hat. Ganz anders Aristoteles: Er sah (um bei der medizinischen Metaphorik weiterhin zu bleiben) in der Bereitschaft zu mimetischer Resonanz durchaus nicht die Gefahr mentaler Infektion, sondern eine Chance für mentale Impfungen, und genau auf diesem Prinzip homöopathischer Impfung 64 beruht seine Theorie der Katharsis. Katharsis aber setzt Betroffenheit voraus. Und deshalb fordert Aristoteles, damit das Mitgehen des Zuschauers auch sichergestellt ist, vom theatralen Geschehen ein Mindestmaß an Wahrscheinlichkeit in Handlungsführung und Charakterzeichnung, sodaß im Idealfall der Zuschauer im Geschehen auf der Bühne auch sich selbst wiedererkennen kann. Denn wer mitgehen soll, muß folgen können; und nur wer folgen kann, kann auch betroffen sein: »1) Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben; dies ist weder schaudererregend noch jammervoll, sondern abscheulich. 2) Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen Qualitäten hat: sie ist weder menschenfreundlich noch jammervoll noch schaudererregend. 3) Andererseits darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt. Eine solche Zusammenfügung enthielte zwar Menschenfreundlichkeit, aber weder Jammer noch Schaudern. Denn das eine stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient, das andere bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer bei dem unverdient Leidenden, der Schauder bei dem Ähnlichen. Daher ist dieses Geschehen weder jammervoll noch schaudererregend. So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht.« (1453a)

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2.3.3.8 Der uroborische Impuls Bevor wir aber auf die aristotelische Theorie der Katharsis eingehen können, ist noch die Frage zu klären, warum Aristoteles die Wirkung der Tragödie (und, wie wir sehen werden, auch die Wirkung der Komödie) gerade auf eine bestimmte Art von Affekten gründet, und deshalb fragen wir, nachdem wir schon die Räumlichkeit der theatralen Affekte untersucht haben, auch nach der zeitlichen Struktur theatraler Affekte. Wenn wir die Affekte, die Aristoteles in seiner Rhetorik und in der Nikomachischen Ethik behandelt, durchgehen, so fällt auf, daß sie sich hinsichtlich ihrer zeitlichen Struktur in perennierende und uroborische Affekte aufteilen lassen. Zu den perennierenden Affekten zählen Liebe und Haß, Neid und Ehrgeiz, Groll und Selbstquälerei, Freundschaft und Feindschaft, Hochachtung und Verachtung, denn all dies sind Affekte, die, wenn sie einmal erregt sind, die Tendenz haben, ewig zu dauern. Sie sind also erfüllungsresistent. So liebt und haßt man jemanden auch noch über dessen Tod hinaus, denn nicht nur die Liebe höret nimmer auf, sondern auch der Haß. Dies gilt auch für den Neid. So sagt man zwar, der Neid »nage« an jemandem, oder der Ehrgeiz »fresse« jemanden auf, aber das mindert die Fortdauer von Neid und Ehrgeiz in gar keiner Weise, weil nur der Neider angenagt wird, nicht aber der Neid selbst, und nur der Ehrgeizige zerfressen wird, nicht aber der Ehrgeiz selbst. Und so können auch Selbstvorwürfe als Groll auf sich selbst ewig dauern, wie das Beispiel des Prometheus illustriert, der am Kaukasus hängt und ewig von seinen Gewissensbissen geplagt wird. Und wenn seine Leber Tag für Tag von Adlern angefressen wird, aber immer wieder nachwächst, sodaß sich die Adler jeden Tag daran laben können, so ist dies eine mythologische Illustration für diese Perseveranz perennierender Affekte. Im Gegensatz zu diesen perennierenden Affekten haben die uroborischen Affekte die Tendenz, sich wie die mythologische Figur der Uroboros-Schlange, die sich vom Schwanz her auffrißt, selbst zu verzehren und dadurch aufzuheben: Zorn durch Rache, Scham durch Selbstvernichtung, Empörung durch Protest, Jammer durch Weinen, Schaudern durch Abwendung, Häme durch Verlachen, 200 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Belustigung durch heiteres Gelächter. All diese Affekte sind also geprägt durch eine ihnen immanente finale, teleologische Tendenz; alle streben auf ein Ende ihrer selbst zu, sodaß sie nicht stetig verlaufen, sondern anfallartig beginnen und dann langsam wieder verebben. Die Sprache verrät es ja: Wenn der Zorn in uns »hoch kocht« und wir dann »hochofenhaft zornlodernd« lostoben, so erschöpft sich dieser Zorn irgendwann und »verraucht«. Dasselbe Bild der Lohe beschreibt die »flammende« Empörung, die sich in einem genauso »flammenden« Protest artikuliert und eben dadurch sich selbst ein Ende bereitet und sich wieder legt. Dasselbe Prinzip der Zurücknahme in sich selbst können wir an der »brennenden« Scham studieren, wenn jemand vor Scham »vergeht« und sich selbst vernichtet, oder wenn jemand vor Jammer »vergeht«. Da Affekte dieser Art ihr Ende nicht erwarten, sondern wegen der ihnen immanenten finalen Tendenz dieses Ende selbst herbeizuführen trachten, staut sich gleichsam für sie die ihnen vorgegebene Verfügungszeit, sodaß ihnen allen eine immanente Spannung eigen ist. Damit aber haben sie dieselbe zeitliche Struktur wie eine dramatische Handlung im ganzen, die ja auch zu ihrem Ende drängt und deshalb ihr Ende gezielt herbeizwingt. Sie sind also, so gesehen, in sich selbst schon dramatisch, sind dramatische Handlungen in nuce und eben deshalb so gut als theatrale Affekte geeignet. Hier liegt der Grund dafür, daß Aristoteles die Wirkung der Tragödie auf die beiden Affekte phobos und eleos gründet, weil auch ihnen beiden dieser uroborische Impuls innewohnt. Wer durch den eleos nasse Augen bekommt, wird nicht ewig gerührt sein, sondern kann sich »satt« weinen, so viel er immer will, und gewinnt gerade dadurch wieder seine Fassung, daß er sich dieser Ergriffenheit willig überläßt. Und wer sich vom phobos ergreifen läßt und vor dem fatalen tragischen Geschehen zurückschaudern möchte, wird gerade durch diesen zentripetalen Impuls sich wieder neu sammeln und erneut Fassung gewinnen können. Gleiches gilt für die Affekte, auf denen die Handlung einer Komödie beruht, denn auch die Belustigung (terpsis), die sich im heiteren Lachen ergeht, und der schon etwas aggressivere Spott (gelos), 201 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der sich im spöttisch-höhnisch-hämischen Verlachen austobt, sind durch diesen uroborischen Impuls gekennzeichnet: Niemand lacht ewig, denn man lacht sich zwar krumm, lacht sich aber auch wieder gerade, und am geradesten, wenn man bis zur Erschöpfung gelacht hat und sich dann wieder aufrichtet. Die den theatralen Affekten innewohnende finale Tendenz kann sich auf vielfältige Weise manifestieren. So können z. B. phobosSzenen zwar durch bange Erwartung vorbereitet werden, dann aber doch jäh über die dramatische Person hereinbrechen und sie (und den Zuschauer mit ihr) als plötzliche Implosion überfallen. Im Gegensatz dazu manifestiert sich der eleos-Affekt als langsames, gleichsam nagendes Übermanntwerden, als Erosion unserer Selbstbehauptung, die als Selbstpreisgabe in Form von Tränen zerschmilzt. 2.3.3.9 Katharsis moralistisch, magisch, medizinisch, uroborisch Der uroborische Impuls der hier in Rede stehenden theatralen Affekte begründet auch deren möglichen kathartischen Effekt, denn dieser kathartische Effekt ist strikt an den uroborischen Impuls zur Selbstverzehrung gebunden. Affekte dieser Art spielen nun nicht nur im Theater eine Rolle, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens, die der Selbstversicherung des Menschen dienen, und deshalb ist es sinnvoll, einen kurzen Blick auf die außer-theatralen kathartischen Affekte zu werfen, damit wir dann mit entsprechend geschärftem Blick auf das Wesen theatraler Katharsis eingehen können. Hermann Schmitz gründet z. B. seine phänomenologisch orientierte Rechtsphilosophie auf die beiden für das Rechtsleben relevanten uroborischen Gefühle Zorn und Scham und schreibt dazu unter Verweis auf die Tragödientheorie des Aristoteles: »Die Prägung des Rechts geht stets vom Unrecht aus, das Empörung (Zorn) und/oder Scham weckt, kathartische Erregungen, die, indem sie sich gegen das Empörende und Beschämende wenden, sich selbst auslassen.« 65

Denn: 202 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Zur Katharsis gehört Erregung, um die erregten Gefühle gründlich auszulassen und dadurch zu beruhigen.« (S. 400)

Aus diesem Grund bedarf es für die Rechtspflege einer Fülle genau geregelter Rituale, die geeignet sind, die uroborische Selbstverzehrung von Zorn und Scham kulturell zu organisieren, um dadurch das verletzte Rechtsgefühl wieder zu befrieden, damit der durch die Rechtsverletzung ausgelöste Zorn sich nicht selbständig macht und sich zum Schaden aller in blindwütiger Rache austobt. Schon in diesen wenigen Sätzen zeigt sich, welch eminent wichtige kathartische Funktion, und das heißt eben auch: welch eminent wichtige kulturelle Funktion gerade die uroborischen Affekte haben können, und deshalb ist an der Zeit, uns nun der aristotelischen Katharsis-Theorie selber zuzuwenden. Die Theorie der Katharsis gehört sicher zu den am heißesten diskutierten Themen der aristotelischen Philosophie. Katharsis heißt zwar wörtlich »Reinigung« und ist für Aristoteles ursprünglich ein medizinischer Begriff. Da er diesen Begriff aber auch in anderen Zusammenhängen verwendet, kann man auf den ersten Blick nicht immer gleich erkennen, ob er ihn direkt oder metaphorisch gebraucht. Dann kommt als weitere Schwierigkeit hinzu, daß der Katharsis-Begriff in der Poetik, so wie sie heute vorliegt, nur ein einziges Mal auftaucht, in den verlorengegangenen Teilen aber ausführlich erörtert worden sein muß, sodaß jeder, der sich über den aristotelischen Katharsis-Begriff äußert, sich zu mehr oder weniger kühnen Vermutungen gezwungen sieht. Durch all diese Umstände ergibt sich ein weites Feld an Deutungsmöglichkeiten, in das auch die eigenen Vorgaben und Erwartungen des Interpreten zwangsläufig mit einfließen. In unserem Fall ist dies nicht anders, ist es sogar noch in höherem Maße der Fall, weil wir ja überdies noch danach fragen, worin Aristoteles die kathartische Funktion des Lachens und des Lachtheaters gesehen haben mag. Wir müssen also mit noch längeren Stangen im Nebel stochern und mit noch kühneren Spekulationen ans Werk gehen. Dazu kommt als weiteres das rein philologische Problem hinzu, daß der vorliegende Text der Passage über die Katharsis zwei ganz unterschiedliche Lesarten ermöglicht, sodaß man sie zum einen mit 203 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Wendung »Reinigung von den Affekten«, zum andern aber mit der Wendung »Reinigung der Affekte selbst« wiedergeben kann. Und weil beide Übersetzungen nicht nur möglich sind, sondern auch einen Sinn ergeben, wenn man sie in einen darauf abgestimmten Gesamtzusammenhang stellt, ist die Diskussion über diese Passage auch so heftig. Damit ergeben sich für uns folgende Fragen, die nun zu klären sind: • Wer oder was wird wovon gereinigt? • Um welche Art von Reinigung geht es dabei? • Ist die kathartische Wirkung eine nachhaltige oder eine vorübergehende? Wenn man sich in die Geschichte der Katharsis-Deutungen einliest, so kann man vier verschiedene Deutungsansätze erkennen: einen moralistischen, einen kultisch-magischen, einen medizinischhumoralpathologischen und einen musikalisch-ethisch-therapeutischen. Die moralistische Interpretation, die sich schon in der Antike bei den Stoikern und Neuplatonikern findet und die Katharsis als asketisch ausgerichtete Unterwerfung der Affekte, ja als Mittel zur tendenziellen Ausrottung der Affekte und damit als Hinführung zum Ideal der apatheia, der völligen Freiheit von störenden Affekten, ansieht, fand ihren letzten und entschiedensten Vertreter in Lessing, der sein Verständnis von Katharsis in der Hamburgischen Dramaturgie ausführlich erläutert. Er sieht in der Katharsis den »moralischen Endzweck« (S. 303) der Tragödie und kommt deshalb zu dem Schluß: »Die Tragödie soll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaften bewirken.« (S. 301)

Denn: »Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie; es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln.« (S. 305)

Deshalb kann für Lessing der moralische Endzweck aller Kunst und damit ihre kathartische Funktion in nichts anderem bestehen als in der »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten« (S. 308). Mit dieser Forderung nach moralischer Applikation auch des 204 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Kunsterlebnisses aus dem Geiste pietistischer Hermeneutik beantworten sich für Lessing und für die stoisch-neuplatonisch-christliche Tradition, für die er steht, unsere drei Fragen dahingehend, daß nicht nur der Zuschauer durch seine »Besserung« von diesen Leidenschaften »gereinigt« wird, sondern auch die Leidenschaften gleichsam von sich selbst, weil sie in »tugendhafte Fertigkeiten« umgewandelt werden, und daß diese Bekehrung eine nachhaltige ist. Katharsis wäre, pietistisch gesehen, also der Durchbruch zur »Wiedergeburt« 66, der Durchbruch zum »neuen Menschen«. Wenn man will, kann man auch die Psychoanalyse 67 als die profane Variante dieses Verständnisses von Katharsis ansehen. (Wir kommen auf das Thema im Kapitel über Freud zurück.) Diese christlich-moralistische Interpretation der aristotelischen Katharsis-Theorie hat sich mit Recht nicht durchhalten lassen 68, da schon Goethe 69 sie vehement ablehnte, und die ganze neuere Katharsis-Diskussion läßt sich als entschiedene Distanzierung von Lessings Position verstehen. Sie begann 1857 mit Jacob Bernays 70, wurde von Max Kommerell 71 weitergeführt und hatte ihren ersten Schwerpunkt in den 50er Jahren mit Hermann Kollers MimesisBuch und den vielzitierten Aufsätzen von Wolfgang Schadewaldt, Hellmut Flashar und Max Pohlenz. Und als Matthias Luserke diese Diskussion 1991 in einem Sammelband zusammenstellte, fing die Diskussion noch mal an 72 und geht bis heute weiter. Jacob Bernays hatte sich auf das entschiedenste gegen die Interpretation verwahrt, Aristoteles habe die Absicht gehegt, das Theater im Sinne Lessings »zu einem Filial- und Rivalinstitut der Kirche, zu einer sittlichen Besserungsanstalt zu machen« (S. 9) und darauf verwiesen, »wie rücksichtslos er vielmehr bemüht ist, ihm den Charakter eines Vergnügungsortes für die verschiedenen Klassen des Publicums zu wahren« (S. 9). Aus diesem Grund muß Bernays den Katharsis-Begriff in diese »hedonische« (S. 10), auf Vergnügen zielende Unternehmung Theater einordnen, zu der er ursprünglich gar nicht gehörte, denn das Wort katharsis hat laut Bernays ursprünglich nur zwei Bedeutungen: »entweder eine durch bestimmte priesterliche Ceremonien bewirkte Sühnung der Schuld, eine Lustration, oder eine durch ärztliche erleichternde Mittel bewirkte Hebung oder Linderung der Krankheit« (S. 12)

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Das eine geschieht durch bestimmte »Räucherungen und Waschungen« (S. 13), das zweite durch eine bestimmte Behandlung, »welche kathartische, den Krankheitsstoff ausstossende Mittel anwendet« (S. 13), wobei dieser Krankheitsstoff aus schädlichen körpereigenen Säften oder körperfremden Miasmen bestehen kann. Wenn Aristoteles diesen zweideutigen Katharsis-Begriff nun in eine wirkungsästhetisch orientierte Ästhetik übernimmt, so stellt sich die Frage, ob er dabei den Begriff bloß metaphorisch gebraucht, oder ob er neben den medizinisch-physiologischen und kultisch-magischen einen weiteren, eigenständigen wirkungsästhetischen Katharsis-Begriff stellt, und wie er diesen beschreibt und begründet. Das gilt es nun zu klären. Fangen wir beim kultisch-magischen Katharsis-Begriff an! Bernays hatte in dem Zusammenhang von »Räucherungen und Waschungen« gesprochen, ohne dies jedoch weiter auszuführen. Diese Ausführungen hat Walter Burkert mehr als hundert Jahre später gleichsam nachgeliefert, der in einer breit angelegten religionsgeschichtlichen Arbeit in einem eigenen Kapitel verschiedene Formen ritueller Reinigung durch Wasser, Feuer und Rauch beschreibt und es nahelegt, »das griechische Wort für ›reinigen‹, katharein, überhaupt von dem semitischen Wort fürs kultische Räuchern ›qtr‹ 73 herzuleiten« 74. Was durch Räucherungen dieser Art vertrieben werden soll, sind Dämonen aller Art, die man als die Urheber der Krankheiten ansah und die es aus dem Körper, in den sie sich eingenistet hatten, durch den Gestank von verbranntem Harz oder Asphalt zu vertreiben galt. Katharsis, so gesehen, ist also ein Exorzismusritual. Diese Vorstellung, die sich zwar später bei den christlichen Kirchenvätern findet 75, und die Grundlage für das Rituale Romanum 76 bildet, findet sich aber bei Aristoteles nicht. Sehr viel näher liegt ihm eine andere Form der magisch-kultischen Reinigung, die Reinigung von Blutschuld, bei der das Blut, das dem Mörder an den Händen klebt, nicht etwa durch Wasser, sondern wiederum nur durch Blut abgewaschen werden muß. Man denke an Orest in Delphi. Was Aristoteles hier interessiert haben dürfte, ist das dabei angewandte homöopathische Prinzip similia similibus, demzufolge Gleiches durch Gleiches bewirkt wird, und 206 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das ihm als Arzt auch aus dem medizinischen Denken seiner Zeit wohlvertraut war. Aber trotzdem konnte Aristoteles dieses magische Reinigungsritual nicht als Argumentationsmodell für theatrale Katharsis übernehmen, einmal schon deshalb nicht, weil ihm daran gelegen war, die Wirkung von Theater von allen moralischen Implikationen wie Schuld und Sühne freizuhalten, und zum andern, weil Katharsis ein Prozeß ist, der auf den Zuschauer zielt und sich an ihm, in ihm und mit ihm abspielt. Anders ist dies beim medizinischen Katharsis-Begriff im engeren Sinn, der physiologisch-humoralpathologisch ausgerichtet ist, und den Aristoteles sowohl direkt als auch metaphorisch verwendet. Ursprünglich und bei nicht-metaphorischem Gebrauch ist unter Katharsis in einem medizinischen Kontext nichts anderes zu verstehen als die Ausscheidung bestimmter als störend oder als überflüssig empfundener Flüssigkeiten aus dem Körper, wie dies bei Purgationen oder Aderlässen, aber auch schon beim Schneuzen oder bei der Menstruation und bei jedem Stuhlgang geschieht. So gesehen ist es verständlich, daß man sich in prüderen Zeitläuften geniert hat, derartige als eklig empfundene Vorgänge mit der höchsten Kunstgattung überhaupt in Beziehung bringen zu lassen, aber genau hier setzt die durch Bernays angeregte neuere, von Lessing weit weg führende Katharsis-Debatte an. Katharsis, so gesehen, kann zwangsläufig allein als Reinigung von bestimmten Affekten verstanden werden, als ein Loswerden der aktuellen Affekte, als deren Abfuhr. Deshalb betont Schadewaldt: »Denn eben dies, das Ausscheiden, Beseitigen, Fortschaffen von störenden und beschwerlichen Stoffen (und Erregungen) aus dem Organismus ist ganz eindeutig der Sinn von Katharsis.« (S. 269)

In dieselbe Richtung geht die Argumentation von Flashar, der auf die Analogien zwischen der Poetik einerseits und den Problemata physica und dem Corpus hippocraticum andererseits verweist, demzufolge es sich bei dem medizinisch verstandenen KatharsisBegriff »um ein Ausscheiden, und zwar ein völliges Wegschaffen der schädlichen Stoffe handelt, bewirkt durch ein Mittel, das als solches keine qualitative Affinität zu den wegzuschaffenden Stoffen hat, das aber auf demselben Wege wie die Elemente, die die schädlichen Stoffe hervor-

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bringen, in den Körper eindringt und durch Ausscheiden eine Reinigung von den schädlichen Stoffen herbeiführt.« (S. 319 f.)

Medizinische Katharsis, so gesehen, ist also kein homöopathisches, sondern ein allopathisches Verfahren. Das politische Analogon zu dieser Art von medizinischer Katharsis wären die ominösen »Säuberungen«, wie sie seit den dreißig Tyrannen nach dem Peloponnesischen Krieg in Athen bis herauf zu Stalin von den Tyrannen jeder Couleur durchgeführt worden sind. Schon Platon verwendet hierfür sarkastisch den Ausdruck »Katharsis« (Staat, 567C). Das mythologische Paradigma für diese Art von Katharsis wäre die fünfte Arbeit des Herakles, der die Ställe des Augias dadurch reinigt, daß er zwei Flüsse hindurch leitet und sie dadurch ausspült. So gesehen wäre also Katharsis im medizinischen Sinn ein Transport von irgendwelchen körperlich gedachten Materialien aus dem Körperinneren nach außen. Aber, so muß man nun fragen, läßt sich diese Art von Transport von hier nach da, von innen nach außen, auch auf Affekte übertragen, da Schadewaldt in dem oben angeführten Zitat Stoffe und Erregungen in einem Atemzug nennt und an anderer Stelle explizit von »weggeschafften Affekten des Schreckens und der Rührung« (S. 275) spricht? Von wo nach wo werden diese Affekte denn »weggeschafft«? Und wenn sie »weggeschafft« sind, wo sind sie dann? Lassen sich Affekte wirklich nach den Kriterien der aristotelischen Physik wie Körperdinge durch Stoß und Schub, Sog und Zug bewegen? So kann es Aristoteles doch wohl nicht gemeint haben. Hier bietet Flashar eine Lösung an, indem er ganz hippokratisch unter Katharsis die Reduktion im Übermaß vorhandener Körpersäfte auf das ideale oder normale Maß versteht. Die Grundlage für diese Argumentation ist die antike Humoralpathologie, die besagt, daß ein Körper gesund sei, wenn die vier Säfte (humores) Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle sich in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander befinden, wobei einer etwas dominieren darf und damit das jeweilige Temperament als sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch oder melancholisch bestimmt. Gerät dieses ausgewogene Verhältnis jedoch aus den Fugen, wird der Körper krank und muß deshalb durch Zufuhr oder Abfuhr entsprechender Stoffe 208 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und Säfte wieder ins Verhältnis optimaler Säfteharmonie gebracht werden. Zugleich damit ist dann auch das optimale Verhältnis der vier Grundbeschaffenheiten der Elemente feucht und trocken, bzw. kalt und warm wieder hergestellt, weil die vier Körpersäfte jeweils durch zwei dieser Grundqualitäten gekennzeichnet sind: Blut ist feucht und warm, Schleim feucht und kalt, gelbe Galle trocken und heiß, schwarze Galle trocken und kalt. Dieses ideale Verhältnis der Körpersäfte und Grundqualitäten kann nun auch durch die Affekte phobos und eleos kurzfristig erschüttert werden, weil, wie wir schon wissen, durch phobos ein Übermaß an Kaltem und Feuchtem, durch eleos ein Übermaß an Feuchtem und Warmem erzeugt wird und nach Ausgleich durch Reduktion auf das normale Maß verlangt. Nachdem Flashar nun ausführlich die physiologischen Effekte der beiden Affekte phobos (Frösteln und kalter Schweiß) und eleos (warme Tränen der Rührung) beschrieben hat, fährt er fort: »Durch die medizinische Begründung dieser Auffassung erhält nun aber auch das Wort katharsis in der aristotelischen Tragödiendefinition einen tieferen und prägnanteren Sinn. Hier nur eine bloße Analogie zur Medizin zu sehen, scheint nicht auszureichen. Vielmehr ereignet sich nach der Auffassung des Aristoteles tatsächlich unter dem Einfluß der Tragödie eine Reinigung von einem Übermaß an Kälte und Feuchtigkeit, die die gesunde Ausgeglichenheit unter jenen Grundqualitäten wieder herstellt und durch das Ausscheiden der überschüssigen Stoffe ein Gefühl der Erleichterung herbeiführt.« (S. 325) 77

Diese Argumentation klingt für uns erst mal seltsam, aber nur deshalb, weil für uns die Humoralpathologie, die von der Antike bis ins 18. Jahrhundert 78 ungebrochen als Grundlage medizinischer Argumentation gegolten hat, obsolet geworden ist und genauso exotisch wirkt wie tibetanische oder afrikanische Medizin. Aber noch für den »philosophischen Arzt« Johann Georg Zimmermann (»Ritter Zimmermann«), dem wohl berühmtesten Arzt seiner Zeit und Leibarzt Friedrichs des Großen, war die Humoralpathologie selbstverständliche Grundlage medizinischer Argumentation. So gab es von der Renaissance bis tief ins 18. Jahrhundert immer wieder Schübe von Melancholie, die man rein humoralpathologisch gedeutet hat und durch entsprechende Heiterkeits209 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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behandlungen 79 zu heilen suchte, indem man »heitere« d. h. feuchte und leichte Speisen (cibaria risum excitantia) verschrieb, den Aufenthalt in »heiteren«, d. h. warmen, aber nicht zu heißen Gegenden empfahl, wo die Seen lächeln und zum Baden einladen, und wobei vor allem intensiv zum Lachen geraten wurde, weil dadurch das feuchte und warme Blut vermehrt werden sollte, damit es die beim Melancholiker vorherrschende trockene und kalte schwarze Galle kompensieren kann. Daß man in der Antike im Anschluß an eine Tragödientrilogie obligatorisch ein heiteres Satyrspiel aufführte, hatte seinen Grund mit Sicherheit genau in dieser humoralpathologischen Argumentation, weil man offensichtlich überzeugt war, durch das Erlebnis einer erschütternden Tragödientrilogie hätten sich beim Publikum die Körpersäfte in Richtung der melancholischen Säfte verschoben und müßten deshalb durch Gelächter wieder in Richtung der sanguinischen Säfte verschoben und dadurch in Harmonie gebracht werden. So gesehen verdankt sich der obligatorische Ausklang einer Tragödientrilogie in einem heiteren Satyrspiel einer humoralpathologisch fundierten Dramaturgie und war somit integraler Bestandteil und Krönung des angestrebten kathartischen Prozesses, dem sich das Publikum lustvoll hingeben sollte. Leider ist von diesen vielen Satyrspielen fast nichts erhalten, sodaß man nur sehr ungefähre Aussagen über sie machen kann. Man weiß eigentlich nur, daß sie heiter und ziemlich obszön waren, in der Natur spielten und daß das dramatische Personal aus halb-mythischen Gestalten aus dem Märchen bestand. Aristoteles erwähnt das Satyrspiel in den erhaltenen Passagen seiner Poetik übrigens mit keinem Wort; ob dies in den verlorenen Passagen anders war, wissen wir nicht, würde aber aus den genannten Gründen gut ins Bild passen. Wenn Aristoteles seine Theorie der Katharsis ausschließlich humoralpathologisch begründet hätte, wäre sie für uns nur noch historisch interessant, weil wir die Grundlage, auf der sie ruht, nicht mehr nachvollziehen könnten. Aristoteles bietet aber noch eine weitere Sicht auf die Katharsis an, und diese ethisch-musikalisch-therapeutisch orientierte Interpretation sichert seiner Theorie der Katharsis mit einem Schlag eine auch heute noch ungebrochene Aktualität. Die Anregung dazu kam, wie so oft, wieder mal von Platon, der 210 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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im siebten Buch seiner Gesetze pädagogisch-therapeutische Fragen behandelt und in dem Zusammenhang auch darauf zu sprechen kommt, welchen therapeutischen Effekt Bewegungen aller Art haben können, und dann beschreibt er ganz witzig einen Korybantentanz im Kleinformat: »Wenn die Mütter ihre Kinder, die keinen Schlaf finden, zum Einschlummern bringen wollen, so wenden sie nicht das Mittel der Ruhe bei ihnen an, sondern das Mittel der Bewegung, schaukeln sie immerfort in ihren Armen, schweigen dabei nicht, nein, sie trällern irgend ein Liedchen und musizieren die Kinder geradezu ein, wie bei der Heilung der ekstatischen bakchischen Zustände, wobei man auch diese Tanzbewegung mit Musik in Anwendung bringt.« (790D)

Dieses Prinzip, Beruhigung nicht durch Ruhe, sondern durch erschöpfende Bewegung zu erzielen, wird dann von Platon auch auf verschiedene Zustände von phobos angewendet, die Platon als »fehlerhafte Stimmungen der Seele« versteht und in Analogie zu den Zuständen von phobos und mania bringt, die beim Besuch einer Tragödie oder beim Vortrag eines Rhapsoden auftreten: »Wenn man nun von außen her gegen derartige leidende Zustände eine heftige Erschütterung wirken läßt, so wird diese von außen beigebrachte Bewegung über die innere Bewegung Meister, mag letztere nun in Furcht oder Raserei bestehen. Nach diesem Siege zeigt sich bald, daß sie in der Seele wieder Stille und Ruhe hervorgebracht hat. Das wilde Pochen in der Herzgegend, das so lästig geworden ist, hört auf, und dies ist in jeder Hinsicht eine große Wohltat. Die einen dürfen nun in einen süßen Schlaf versinken, und auf die Wachenden, welche man mit Tanz und Musik behandelt, ist mit Hilfe der Götter, denen man jedesmal gesegnete Opfer darzubringen hat, die erreichte Wirkung diese, daß sie anstatt ihrer Tollheitsanfälle wieder eine vernünftige Haltung einnehmen können.« (791A)

Das mythologische Paradigma für diese Praxis wäre Orpheus 80, der durch seine Musik sogar wilde Tiere zu zähmen wußte. Koller verweist in seinem Mimesis-Buch auf eine vergleichbare musikalische Therapie, wie sie bei dem Musik-Theoretiker Aristides beschrieben wird, dehnt aber den kathartischen Effekt auch auf die Zeugen derartiger Mimesis aus, sofern diese in mimetischer Resonanz entsprechend mitgehen: 211 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Für die Ungebildeteren also wird Befreiung, Reinigung von der Furcht durch die Melodien und Tänze (mimesis!) der bacchischen Feier erreicht, die pepaideumenoi (d. h. die Kultzeugen) aber erreichen dasselbe durch bloßes Anhören und Ansehen.« (S. 95)

Und dann fügt Koller noch hinzu: »Das Verständnis dieser Partie des Aristidischen Werkes ist für die ganze Katharsislehre entscheidend.« (S. 95)

Damit sind wir wieder bei Aristoteles, der auf den letzten Seiten seiner Politik ganz analog argumentiert, wenn er über die pädagogisch-therapeutischen Möglichkeiten der Musik spricht und als eines der verschiedenen Ziele derartiger Behandlung ausdrücklich auch die Katharsis 81 erwähnt und dann hinzufügt: »Was Katharsis ist, werden wir jetzt nur im Allgemeinen sagen, aber in der Abhandlung über Dichtkunst wieder darauf zurückkommen und bestimmter darüber reden.« 82

Weil aber genau diese Passage der Poetik verloren gegangen ist, müssen wir uns erst einmal mit den Andeutungen in der Politik begnügen, in denen Aristoteles auf bestimmte kultische Rituale musikalisch-tänzerisch-mimetischer Art eingeht, bei denen die Teilnehmer in Ekstase geraten und sich eben dadurch wieder beruhigen »gleichsam als hätten sie ärztliche Cur und Katharsis erfahren«. So in der Übersetzung von Jacob Bernays (S. 8). Und daraus zieht Aristoteles dann den Schluß: »Für Alle muss es irgend eine Katharsis geben und sie unter Lustgefühl erleichtert werden können.« (Bernays, S. 8)

Rolfes übersetzt: »Sie alle erfahren notwendig eine wohltuende Reinigung und Erleichterung.« (1342a)

Worauf Aristoteles hier verweist, ist, wie dies schon bei Platon der Fall war, der ad hoc erzeugte ekstatische Zustand der korybantischen Tänzer, den Burkert genauer beschreibt: »Die Korybanten stehen im Bann der Großen Mutter Kleinasiens. Je ein bestimmter Ton läßt sie das Bewußtsein verlieren und treibt sie zum rasenden Tanz unter der Macht der ›phrygischen‹ Musik. Indem dann schließlich Erschöpfung den Tanzenden übermannt, fühlt er sich befreit und erlöst nicht nur von seinem Wahnsinn, sondern auch von allem, was ihn zuvor bedrückt hat: dies ist die ›Reinigung durch Wahn-

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sinn‹, die ›Reinigung durch Musik‹, die dann in der Diskussion über die ›kathartische‹ Wirkung der Tragödie eine solche Rolle spielen sollte.« (S. 130)

Damit müßte endlich deutlich geworden sein, was Aristoteles unter Katharsis als wirkungsästhetischem Begriff verstanden haben dürfte und verstanden wissen wollte, und wir können eine Bilanz ziehen: • Katharsis ist keine Reinigung der Affekte selbst, auch keine Reinigung des Zuschauers von diesen Affekten, weil diese in irgendeiner Form ihm ausgetrieben würden, sondern der Zuschauer entledigt sich ihrer, befreit sich von ihnen oder erleichtert sich von ihnen. • Aber diese Abfuhr der Affekte ist kein exorzistischer Transport von »innen« nach »außen« oder sonst wohin, sondern Katharsis ist der uroborische Selbstverzehr eben dieser Affekte. So wie die Korybanten bis zum Umfallen tanzen, sodaß ihre Ekstase sich selbst verzehrt wie eine abbrennende Kerze (consumendo consumor), so nehmen auch bestimmte Affekte, sobald sie einmal erregt sind, sich selbst in sich selbst wieder zurück. Dieser Gedanke findet sich übrigens schon bei Bernays, wenn er die theatrale Katharsis als »ekstatisches« Phänomen deutet, weil sie ohne das Mitgehen des Publikums nicht zustande kommen kann und weil für ihn alle Arten von Pathos »wesentlich ekstatisch« sind, denn durch sie und durch die mimetische Resonanz im Mitgehen »wird der Mensch ausser sich gesetzt« (S. 65), und die Wirkung ist hier besonders heftig, »weil hier die Ekstase objectlos ist, sich an ihrer eigenen Flamme entzündet und nährt«. (S. 65 f.) Und wir könnten hinzufügen, daß diese Ekstase sich an ihrer eigenen Flamme nicht nur entzündet und nährt, sondern sich auch an ihr selbst verzehrt. Das mythologische Paradigma für den kathartischen Prozeß wäre also der legendäre Vogel Phönix, der sich auf dem eigens bereiteten Scheiterhaufen selbst verbrennt und aus der dadurch erzeugten Asche wieder verjüngt aufersteht. Somit können wir in unserer Bilanz fortfahren: • Dieser uroborisch-kathartische Prozeß erfolgt nicht im Selbstlauf oder durch Zufall, sondern wird durch bestimmte kulturelle Rituale dramaturgisch genau organisiert und zwar nach dem 213 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis

Prinzip der homöopathischen Bahnung oder Impfung similia similibus. So wie nur eine bestimmte Musik ekstatische Tänze auslösen, rituell organisieren und lenken kann, so kann laut Aristoteles auch nur eine bestimmte Dramaturgie der Affekte kathartische Prozesse bewirken, indem sie diese bestimmten Affekte gezielt erregt, kalkuliert steigert und bis zur tragischen Erschütterung führt, damit diese sich erschöpfen und beruhigen und wieder ausklingen können. • Möglich ist all dies allerdings nur, wenn das Publikum in mimetischer Resonanz mitgeht, sodaß der affektive Erregungsverlauf der dramatischen Handlung auf der Bühne und die affektive Erregung des Publikums strikt analog und in mimetischer Resonanz ablaufen. • Also tun wir gut daran, »Katharsis« als wirkungsästhetischen Begriff nicht mit »Reinigung« wiederzugeben, sondern mit »Erleichterung« oder »Entspannung«, damit auch wirklich alle moralistischen Assoziationen von diesem Begriff ferngehalten werden. So formuliert es auch schon Bernays, der Katharsis definiert als »eine vom Körperlichen auf Gemüthliches übertragene Bezeichnung für solche Behandlung eines Beklommenen, welche das ihn beklemmende Element nicht zu verwandlen oder zurück zu drängen sucht, sondern es aufregen, hervortreiben und dadurch Erleichterung des Beklommenen bewirken will.« (S. 16)

Auch dieses Argument können wir mit in unsere Bilanz aufnehmen und fortfahren: • Das Erlebnis dieser Erregungskurve ist für Aristoteles Zweck und Ziel der Tragödie, die der Tragödie eigene spezifische Lust, ihre oikeia hedone, oder, mit Schiller zu sprechen, das »Vergnügen an tragischen Gegenständen«. • Und es ist eine »unschädliche Freude« (Politik, 1342a), weil sie, wie jede andere Art von Entspannung oder Erleichterung auch, als lustvoll empfunden wird. • Demnach bewirkt Katharsis als unschädliche Freude und Erleichterung das höchst lustvolle Erlebnis von Weitung als gezielt erzeugter und gesteigerter und ebenso gezielt gelöster Spannung. So scheint auch Nietzsche den Begriff der Katharsis verstanden zu 214 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als kulturelles Phänomen und ästhetische Praxis

haben, da er in einem Aphorismus aus dem Nachlaß der achtziger Jahre die Frage »Was ist tragisch?« dahingehend beantwortet, »daß die Tragödie ein tonicum ist« (III,829), also ein kulturelles Ritual für Erregungs-, Spannungs- und Intensitäts-Erfahrungen. • Diese Wirkung aber ist nicht nachhaltiger, sondern nur vorübergehender Art. Es kann auch gar nicht anders sein, weil der kathartische Effekt auf uroborisch strukturierten Affekten beruht. Aber auch diesen Gedanken finden wir schon bei Bernays, wenn er die ekstatischen Phänomene als Musterfall kathartischer Erregungen deutet: »In beiden Fällen also, bei der gewöhnlichen somatischen wie bei der ekstatischen Katharsis, wird durch Sollicitation des störenden Stoffes das verlorene Gleichgewicht wiedergewonnen; nur unterscheidet sich die ekstatische Katharsis dadurch, dass sie blos zeitweilige Beschwichtigung, nie dauernde Heilung bewirken kann, und dass sie, der Natur der Ekstase gemäss, stets unter Lustgefühl erfolgen muß.« (S. 65)

• Obwohl diese kathartische Wirkung nur eine vorübergehende ist, hat sie trotzdem eine langfristige Wirkung, wenn auch nur indirekt, da die kulturellen Rituale, durch die sie organisiert wird, auf Dauer und auf Wiederholung angelegt sind. Erzielt wird also nicht eine langfristig wirkende kathartische Entspannung ein für allemal, sondern nur eine immer wieder mal kurzfristig wirkende, so wie man auch den Durst nicht ein für allemal löschen kann, sondern immer wieder trinken muß. So gesehen gleicht die uroborische Katharsis in ihrer Zeitstruktur den Interessen 83, die, als erfüllungs-resistente, perennierende Zwecke auch dann weiterhin bestehen, wenn sie einmal erfüllt worden sind, weil das Bedürfnis, dem sie entspringen, dessen Befriedigung überdauert und immer wieder neu entsteht. Der perennierende Zweck all dieser kulturellen Rituale zur Organisation uroborischer Katharsis aber ist das Eröffnen und Offenhalten von »Spielräumen des Betroffenseinkönnens« 84, um der allfällig drohenden emotionalen Verödung und Verblödung entgegen zu wirken, und dies ist wahrlich eine Sisyphos-Arbeit. • Mit einem Wort: Uroborische Katharsis bessert oder läutert den Menschen nicht, sondern macht ihn »nur« erlebnisfähiger, und 215 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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genau hier liegt auch die Lebensfunktion aller uroborisch-kathartischen Prozesse. • All diese Befunde – und das ist für unsere allgemeine Fragestellung der wichtigste Befund! – gelten sowohl für die kathartische Wirkung der Tragödie wie für die kathartische Wirkung der Komödie, aber auch für das Lachen allgemein, denn auch das Lachen resultiert aus erzeugter und gelöster Spannung; auch das Lachen erfolgt unter Lustgefühlen; auch das Lachen erleichtert, wenn auch nur vorübergehend; und auch jedes Lachen verzehrt sich selbst: Man lacht sich krumm, lacht sich vielleicht sogar halb tot, lacht sich aber auch wieder gerade und beruhigt sich wieder und genießt diese Entspannung. Und nun stellt sich die Frage, ob man plausibel machen kann, daß auch Aristoteles dies so gesehen hat. 2.3.3.10 Katharsis tragisch und komisch Im Tractatus Coislinianus wird dies explizit so formuliert, wenn in strikter Analogie die Erfahrung von Leid (lype) als »Mutter der Tragödie«, Belustigung und Gelächter (gelos) aber als »Mutter der Komödie« 85 bezeichnet werden und dann die Komödie ganz analog zur aristotelischen Tragödiendefinition bestimmt wird als »die Nachahmung (Darstellung) einer lächerlichen (resp. komischen), nicht verhängnisvollen Handlung von hinlänglichem Ausmaß; sie wendet ihre Mittel innerhalb der einzelnen Teile in verschiedener Weise an; sie bildet durch handelnde Personen und nicht durch Erzählung ab; sie vollzieht, indem sie Vergnügen und Gelächter bewirkt, eine Reinigung (Katharsis) von derartigen Erregungs-zuständen.«

So die Übersetzung von Manfred Fuhrmann 86. Fuhrmann fügt aber sofort rügend hinzu, diese Definition sei »eine ungeschickte Nachbildung der erhaltenen Tragödiendefinition. Aristoteles hätte es sich nie einfallen lassen, das Vergnügen und das Lachen als ›Erregungszustände‹ (Pathémata) zu bezeichnen, von denen die Komödie die Zuschauer reinigen solle.« (S. 65) 87

Ganz anders aber urteilt Wilhelm Süss, wenn er erst von sympathetischen Bahnungs-Effekten ernster und komischer Art spricht, 216 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dann auf die antithetische Analogie von threnos (Klage) und gelos verweist und dann fortfährt: »Es ist durchaus im Sinne dieses Gedankengangs, wenn in einem späten poetischen Traktat, dem Coislinianus, eine komische katharsis pathematon konstruiert wird, wobei an Stelle von Mitleid und Furcht der Tragödie das Lachen, der gelos der Komödie tritt.« (S. 34)

Und wenn man, mit Bernays, das kathartische Geschehen auf uroborisch strukturierte »Sollicitation« (S. 69) zurückführt, auf »Erschütterung und Wiedergewinnung des seelischen Gleichgewichts« (S. 68), so ist überhaupt nicht einzusehen, warum man das durch Komik oder Lächerlichkeit erregte Gelächter nicht als »Erregungszustand« verstehen sollte. Als was denn sonst? Daß Aristoteles im zweiten Buch seiner Rhetorik die verschiedenen Formen von Gelächter nicht explizit unter den Affekten aufzählt, liegt doch nicht daran, daß er sie nicht für Affektationen der Seele hält, sondern daran, daß er auf seine Poetik verweisen kann, wo sie ausführlich dargestellt worden sein müssen. Und aus diesem Grund geht er auf den letzten Seiten der Rhetorik auch nur ganz kurz auf die Frage ein, wie man das Lächerliche und Komische neben all den anderen Affekten in einer gut gebauten und effektiven Rede instrumentalisieren könnte. Auch Gelächter ist also für Aristoteles ein »Erregungszustand«, in den man den Zuhörer einer Rede versetzen kann, um die Persuasion als den Zweck einer Rede besser zu erreichen. Daß es Fuhrmann und manch anderem so schwer fällt, Katharsis, komische wie tragische, als »tonicum« (Nietzsche), d. h. als reines Erregungs- und Entspannungsgeschehen ohne jeden Hauch von sittlicher Läuterungsabsicht zu akzeptieren, liegt wohl an dem Schlagschatten, den Platon immer noch auf die Ästhetik wirft. Trotzdem verweist Fuhrmann auf einige Passagen, in denen Aristoteles die strukturelle Analogie von Komödie und Tragödie eigens betont. Die wichtigste scheint mir die antithetische Analogie in der dramaturgischen Verlaufskurve von komischen und tragischen Handlungen zu sein, wie sie sich besonders in den Momenten der Anagnorisis zeigen, den erschütternden Aha-Erlebnissen, die Aristoteles als »Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis« (1452a) bezeichnet, denn diese plötzliche Offenbarung von Wahrheit kann, 217 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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je nachdem, vernichtend, aber auch unendlich erheiternd sein. Im tragischen Fall muß der Held erkennen, wie unrettbar verstrickt er in der Falle sitzt, weil all das, was er angestellt hat, aus welchen Gründen auch immer, nie mehr zu korrigieren ist, sodaß als einziger Ausweg ihm nur noch die Selbstvernichtung bleibt. Im komischen Fall ist es das blitzartige Erlebnis des befreienden Durchblicks, das Gefühl blitzartiger Erleichterung und Erhebung. Ob es im Moment der Anagnorisis nun das Gefühl vernichtender zentripetaler Engung oder das befreiende Gefühl zentrifugaler Weitung ist, das sich hier mit einem Schlag einstellt: – die zugespitzte Pointen-Struktur, »das Explodieren der Angstspitze« (Baader) und der darauf beruhende kathartische Effekt ist beiden Varianten der Anagnorisis gemeinsam. Und wenn der Zuschauer in mimetischer Resonanz entsprechend mitgeht, so wird ihm im einen Fall der Atem stocken, weil auch er das Gefühl vernichtender Enge mitfühlt, dieser Enge aber wieder durch die Empfindung von »heulendem Elend« (eleos) wieder entkommt. Und im komischen Fall wird auch er das Gefühl plötzlicher befreiender Weite miterleben und sein eigenes Aha-Erlebnis als Katarakt gestotterter Explosionen lachend aus sich herausplatzen lassen. Das können wir auch schon bei Aristoteles in der Rhetorik nachlesen, wo er auf die Wirkung »plötzlicher Schicksalsumschläge und auf das mit knapper Not Errettet-Werden« (1371b) verweist, was allgemein als »lusterzeugend und verwunderungswürdig« (1371b) empfunden wird. In genauso strikt antithetischer Analogie stellt Aristoteles die beiden Kerne tragischer wie komischer Handlungen einander gegenüber: pathos, d. h. das »schwere Leid« (1452b) und gelos, »das Lächerliche« (1449b) bzw. Komische, wobei er pathos als ein »verderbliches oder schmerzliches Geschehen« (1452b) und gelos als einen »mit Häßlichkeit verbundenen Fehler« versteht, »der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht« (1449b). Um die antithetische Analogie von pathos und gelos zu verdeutlichen, hätte Aristoteles auch beim Begriff der ate (Verblendung) ansetzen können, die bei Homer und den Tragikern das treibende Moment der Handlung ist. Demnach wäre ate 88 als katastrophenträchtige maßlose Verblendung aufgrund menschlicher Hybris oder aufgrund einer göttlichen Strafe ein Schmerz und Verderben brin218 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gendes Prinzip und damit die wichtigste Quelle des Tragischen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Tragödie Ajas von Sophokles, in der beide Varianten von ate die Handlung prägen. In reduzierter und säkularisierter Form wäre ate die von Platon und Sokrates immer wieder beschworene Selbstverkennung (anoia), die zwar nicht Schmerz und Verderben nach sich zieht, aber doch so viel an Ärger, Lächerlichkeit und Schadenfreude, daß sie im aggressiv getönten spöttisch-höhnisch-hämischen Auslachen abreagiert werden muß. Auf diese Argumentation hat, wie wir gesehen haben, Platon seine Theorie des Lachens gegründet. Wird ate aber noch weiter zivilisiert und auf das alltägliche Niveau des bürgerlichen Heldenlebens reduziert, so erscheint sie als fixe Idee oder als harmlose Schrulle, wie Theophrast sie in seinen Charakteren dargestellt hat, und bringt nicht nur keinerlei Schmerz und schon gar kein Verderben mit sich, sondern enthüllt sich in all ihrer Komik, die mit heiterstem Lachen quittiert werden kann. Jacob Bernays merkt in einem kurzen Nachtrag zu seiner Abhandlung an, er habe sich »mit Vorbedacht« (S. 116) nicht darüber geäußert, wie Aristoteles wohl über die kathartische Wirkung der Komödie gedacht haben mag, da das vorliegende Material nur Spekulationen zulasse. Da er aber überzeugt war, daß Aristoteles in den verlorenen Teilen der Poetik eine Theorie der komischen Katharsis entwickelt habe, verweist er auf Poetologen wie Porphyrios und Jamblichos, die die aristotelische Poetik noch in einer vollständigeren Form gekannt zu haben scheinen und verweist auch darauf, daß in den Texten dieser Autoren Komödie und Tragödie immer in strikter Analogie behandelt und immer in einem Atemzug genannt werden. So z. B. bei Porphyrios, wo es über die Sollizitation von Affekten im Theater heißt: »Lockt man sie dagegen zu kurzer Aeusserung in richtigem Maasse hervor, so wird ihnen eine maasshaltende Freude, sie sind gestillt und entladen und beruhigen sich dann auf gutwilligem Wege ohne Gewalt. Deshalb pflegen wir bei Komödie sowohl wie Tragödie durch Anschauen fremder Affecte unsere eigenen Affecte zu stillen, und zu entladen.« (S. 40, vgl. auch S. 46, 47, 49 f.).

Damit kann doch wohl nur die uroborische Katharsis in komischer wie tragischer Form gemeint sein! 219 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Auch Reinhold F. Glei findet die Komödiendefinition des Traktats einigermaßen absurd (vgl. S. 290), wenn auch aus ganz anderen Gründen und aufgrund einer anderen Textvorlage, hält aber trotzdem die Idee einer komischen Katharsis für genuin aristotelisch und rekonstruiert sie konsequent humoralpathologisch. Ausgangspunkt ist für ihn die aristotelisch-hippokratische Theorie der Wechselwirkung von Wärme und Bewegung, wie sie v. a. in den Problemata zu finden ist (und die wir ja schon behandelt haben), und die Darstellung der Affekte in der Rhetorik sowie in der Abhandlung Über die Seele heißt es: »Alle Erregungszustände der Seele scheinen mit solchen des Körpers verbunden zu sein: Zorn und Sanftmut, Schauder und Jammer, Wagemut, Freude, Liebe und Haß – denn von ihnen wird auch der Körper in Mitleidenschaft gezogen.« (Seele, 403a)

Dann verweist er auf die enge Verbindung von phobos und Kälte, eleos und Feuchtigkeit und auf das Flammenhafte des Zorns, kommt dann zu dem Schluß, daß Aggressivität jeder Art humoralpathologisch gesehen mit einem Übermaß an Hitze und Trockenheit zusammengehen muß und kommt schließlich zu dem Ergebnis, die warme Atemluft, die beim Lachen ausgestoßen wird, sei als die Abfuhr des leichten Zorns anzusehen, den man beim Auslachen von Lächerlichem empfindet: »Die Betrachtung menschlicher Fehlleistungen und Handlungen aus dem Bereich des aischron (d. h. des unbedrohlich Häßlichen) bewirkt eine maßvolle Erwärmung des Körpers und damit eine harmlose Form der Aggression, das Lachen. Dieses führt die überschüssige Wärme ab und verhindert so ein Aufstauen der Aggression, mit anderen Worten: Lachen hat eine kathartische Wirkung.« (S. 298)

Und von dieser konsequent humoralpathologischen Argumentation aus skizziert Glei dann in ganz wenigen Sätzen den Entwurf einer karnevalistisch orientierten Theorie des Lachens, derzufolge das kathartische Potential des kulturell organisierten Auslachens in der ritualisierten Abfuhr von Aggressionen durch Ersatzhandlungen aller Art besteht: »Die Funktion der Komödie dürfte nach Aristoteles also darin bestanden haben, durch ein kontrolliertes, lokal und temporär begrenztes Ausleben niederer Triebe und Aggressionen ein Überhandnehmen der-

220 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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selben zu verhindern und so die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu stabilisieren.« (S. 299)

Das scheint mir plausibel, auch wenn es sich zunächst nur auf den Typ der mehr oder weniger aggressiven Auslach-Komödie in der Art des Aristophanes bezieht, die Aristoteles ja gar nicht schätzte. Es scheint mir auch deshalb schlüssig, weil die hier gemeinte Ventilfunktion des aggressiven Auslachens nur ein Sonderfall des allgemeinen uroborisch-kathartischen Effektes ist, der durch jede Art von Lachen bewirkt wird, weil jede Art von Lachen dem selben Impuls uroborischer Sollizitation gehorcht, also auch die heitere, nicht aggressive Art von Lachtheater, die Aristoteles weitaus höher schätzte als die Alte Komödie, die Glei hier im Auge hat. Daß dieser Befund die These war, die Aristoteles in seinem verlorenen Buch über die Komödie und das Lachen darlegen wollte, kann ich nach all diesen gewundenen Wegen natürlich immer noch nicht zwingend beweisen, und muß es deshalb dem Leser überlassen, ob er das hier vorgestellte Ergebnis als plausibel akzeptieren kann oder als haltlose Spekulation von sich weist. Und wenn er gar zu dem Ergebnis kommen sollte, die These, Katharsis auf uroborische Anspannung und Entspannung zu gründen, sei zwar plausibel, aber nicht genuin aristotelisch: – nun ja, dann ist sie es halt nicht und stammt eben von mir, und ich muß allein dafür gerade stehen. 2.3.4 Lachen als ethisches Problem und gesellschaftliche Praxis So wie das vorige Kapitel keine poetologische Abhandlung oder eine umfassende Analyse der aristotelischen Poetik sein wollte, sondern nur darlegen sollte, was Aristoteles im Rahmen seiner poetologischen Überlegungen über die kulturelle Ritualisierung des Lachens zu sagen hatte, so kann es auch in diesem nun folgenden Kapitel nicht um eine umfassende Analyse der aristotelischen Ethik gehen, sondern ausschließlich um die Frage, wie und wo Aristoteles Ort und Funktion des Lachens im gesellschaftlich-politischen Leben bestimmt. Aus diesem Grund blenden wir alle anderen Fragen aus, so wichtig und interessant sie auch immer sein mögen. 221 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Bekanntlich unterscheidet man Sollens-Ethiken und KönnensEthiken. Sollens-Ethiken beschränken sich im Extremfall darauf, Listen von Normen und Pflichten, Geboten und Verboten zusammenzustellen, ohne lange zu fragen, ob es dem Menschen auch möglich ist, all diese Forderungen tatsächlich auch zu erfüllen. Ein paradigmatisches Muster dafür ist der biblische Dekalog, der mit seinem dogmatischen Moralismus leider eine bis heute dauernde Tradition ethischer Argumentation begründet hat. Im Vergleich dazu sind Könnens-Ethiken weitaus vorsichtiger und immer prinzipiell anthropologisch fundiert, weil sie erst einmal die Grenzen des menschenmöglichen Verhaltens zu erkunden suchen, um zu klären, was man überhaupt sinnvollerweise an Verhalten fordern, verbieten oder freistellen kann. Zu dieser Art von Ethik gehört auch die Nikomachische Ethik des Aristoteles, denn wie immer geht er auch hier von »naturgegebenen Ursachen« (Poetik, 1448b) aus, und das sind, soweit sie ethisch relevant sind, zwei: Einmal die Grenzen der Verfügbarkeit menschlichen Verhaltens und dann der Umstand, daß der Mensch ein »von Natur aus politisches Wesen« (Politik, 1253a) ist. Aristoteles stellt also auch hier wieder die Frage nach dem proprium hominis, genauer: nach einem weiteren proprium hominis. Die eine These besagt, daß der Mensch von seinem Wesen her auf Vergesellschaftung hin angelegt sei und daß deshalb die Ethik letztlich eine politische Wissenschaft ist, deren Aufgabe darin besteht, darüber nachzudenken, in welcher Weise diese in der Natur des Menschen angelegte Möglichkeit ihre optimale Verwirklichung finden könne. Aus diesem Gedanken ergeben sich nun sofort zwei weitere: Einmal die Konsequenz, daß eine so verstandene Ethik keine dogmatisch-moralistische Sollens-Ethik 89 sein kann, sondern eine Könnens-Ethik sein muß, die deshalb nicht nur die Frage stellt, »was wir tun sollen«, sondern auch die Frage, »wie wir leben können« 90. Mit einem Wort: Eine so verstandene Ethik kann nur eine eudämonistische Ethik sein, die sich als Anleitung zur Lebenskunst versteht. Damit ist auch die zweite Konsequenz schon genannt: Eine Ethik dieser Art hat ihr Ziel in der gesellschaftlichen Praxis, tendiert also zwangsläufig zur praktischen Umsetzung, und das bedeutet, 222 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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daß sie nicht nur das Wohl des Einzelnen, sondern auch das vernünftige Zusammenleben Aller in der Gesellschaft zum Ziel haben muß. Um dies aber leisten zu können, stellt Aristoteles erst einmal fest, was überhaupt Gegenstand ethischer Betrachtung sein kann und kommt zu dem Ergebnis, dies könne einzig und allein der Bereich des verfügbaren Verhaltens sein. Das bedeutet im Umkehrschluß, daß alles Unverfügbare aus dem Bereich ethischer Betrachtung und Bewertung 91 ausgeklammert werden muß. Mit diesem Verfügbarkeits-Kriterium, das im zweiten und dritten Buch entwickelt wird, hat Aristoteles sich ein Instrumentarium geschaffen, das den Gang der Argumentation in der Nikomachischen Ethik entscheidend bestimmt, weil er nun ganz systematisch alles Unverfügbare als ethisch irrelevant ausscheiden kann. Was dann an ethisch relevantem Verhalten noch übrig bleibt, wird rigoros an dem Ideal der Mitte gemessen, auf das wir ja schon öfters bei Aristoteles gestoßen sind, und das sich hier als das »Prinzip der gemäßigten Leidenschaftlichkeit« 92 erweist. Es ist die metriopatheia als die Mitte zwischen dem einen Extrem der absoluten Leidenschaftslosigkeit (apatheia) und dem andern Extrem der hemmungslosen Leidenschaftlichkeit. Angewendet auf das Lachen ergibt sich daraus das lebenspraktische Ideal der Eutrapelie. Aus diesem hier in extremer Verkürzung referierten Gedankengang ergeben sich für uns nun folgende Fragen: • Wo liegen für Aristoteles die Grenzen des Verfügbaren? • Wo liegen die Grenzen ethischer Relevanz? • Wo liegen die Grenzen des Lachens selbst? • Worin besteht für Aristoteles die lebenspraktische Relevanz des Lachens? 2.3.4.1 Grenzen der Verfügbarkeit Um diese Fragen zu klären, scheint es mir angebracht, einen kleinen Umweg einzuschlagen und erst einmal einige hierfür notwendige anthropologische Begriffe bereit zu stellen, die wir brauchen, um uns die aristotelische Argumentation verständlich zu machen. Ich orientiere mich dabei an der Philosophischen Anthropolo223 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gie meines alten Lehrers Wilhelm Kamlah, und kann dies auch mit gutem Gewissen, weil Kamlah selbst sich mit dieser Ethik wieder eng an der Nikomachischen Ethik orientiert hat. Deshalb fangen wir nicht, wie Aristoteles dies im dritten Buch tut, mit der Unterscheidung zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Handeln an, sondern setzen viel fundamentaler bei dem Unterschied zwischen Handlung und Widerfahrnis bzw. Handeln und Verhalten an, um die Grenzen des Verfügbaren zu bestimmen. Bekanntlich übersetzt Faust den Beginn des Johannes-Evangeliums mit dem Satz: »Im Anfang war die Tat!« (V. 1237). Dieser Satz ist nicht nur philologisch falsch, sondern auch hoch ideologisch, denn er verrät eine maßlose und letztlich auch lächerliche Selbstüberhebung und resultiert aus dem Wahn, alles sei verfügbar und könne der menschlichen Selbst- und Welt-Bemächtigung unterworfen werden, wenn man nur entschlossen genug handelt. Das ethische Analogon zu solchen Machbarkeitsphantasien sind die Sollens-Ethiken, die ihre Palette an Normen und Pflichten, Geboten und Verboten vorlegen und dabei unterstellen, man könne all dies auch erfüllen, wenn man nur ernsthaft wolle, denn die Existenz eines freien Willen wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Wer aber einmal begriffen hat, daß das menschliche Leben nicht nur zwischen den zwei Widerfahrnissen Geburt und Tod eingespannt, sondern auch mit einer Fülle von Widerfahrnissen ausgefüllt ist, wird geneigt sein, den Übersetzer Faust zu korrigieren und zu schreiben: »Im Anfang war das Widerfahrnis!« Widerfahrnisse aber sind unverfügbar. Und das heißt im Umkehrschluß: Alles Unverfügbare kann Widerfahrnis sein. Daß das Wort »Widerfahrnis« so altmodisch 93 klingt, liegt natürlich daran, daß durch die »faustische« Ideologie des Verfügbarmachens der Blick auf die Widerfahrnisaspekte des Lebens völlig verstellt worden ist und man das Wort »Widerfahrnis« glaubte entbehren zu können. Wer nun diese Widerfahrnisaspekte neu oder wieder entdeckt, muß deshalb feststellen, daß es dafür kein aktuelles Wort gibt. Das darf aber durchaus nicht zu dem Schluß verleiten, wer Widerfahrnisse thematisiert, sei so altmodisch wie das Wort, denn die Sache selbst ist so aktuell wie eh und je. Deshalb wird jeder, dem die »Wiederentdeckung des Widerfahrnischarak224 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ters des menschlichen Lebens« 94 ein Bedürfnis ist, sich auch nicht scheuen, dieses Wort zu verwenden. Wenn wir nun versuchen, die Widerfahrnisse zu klassifizieren, so sehen wir, daß sie sich in vier Gruppen einteilen lassen: Da sind zunächst die Widerfahrnisse als Geschehnisse oder Ereignisse, die uns zwar nicht »meinen« können, weil sie keinen Urheber haben, die uns aber trotzdem betreffen und die wir eben erleiden, wie z. B. Wind und Wetter. Gleichwohl hat es immer die Tendenz gegeben, derartige Widerfahrnisse als fremde Handlungen zu verstehen und das Wetter z. B. dem »Petrus« zuzuschreiben oder irgendwelche unangenehmen Widerfahrnisse dem »Teufel«. Dann gibt es Widerfahrnisse, die tatsächlich fremde, auf uns bezogene Handlungen sind und die angenehm oder unangenehm sein können. So sind z. B. die Züge des einen Schachspielers die Widerfahrnisse des Anderen und umgekehrt. Handlungen zeichnen sich dadurch aus, daß wir über sie verfügen, und zwar nicht nur insofern wir sie aktuell ausführen, sondern auch insofern wir vorgreifend über sie verfügen, indem wir sie planen, beraten und beschließen, unabhängig davon, ob wir dies allein tun oder zusammen mit anderen. Zur Verfügbarkeit der Handlungen zählt als ganz entscheidender Umstand auch, daß wir Handlungen ausführen können, die Ausführung aber auch lassen können. Können wir dies nicht95, ist es auch keine Handlung. Des weiteren gibt es Widerfahrnisse, die sich an uns und mit uns vollziehen, ohne daß wir sie beschließen müßten oder darüber verfügen könnten, ob wir sie tun oder lassen. So können wir zwar beschließen, um 22.30 Uhr ins Bett zu gehen, aber nicht, genau elf Minuten später einzuschlafen. Das bedeutet, daß auch weite Bereiche unseres Verhaltens mit zu den unverfügbaren Widerfahrnissen zählen; man denke an husten, niesen, weinen, schlafen, aber auch an die Automatismen und Reflexe und an den weiten Bereich der affektiven Erlebnisse. Eine Sonderstellung nimmt das Atmen ein, das i. a. als Verhalten »von selbst« geschieht, das man aber auch, wenn man will oder wenn es sein muß, kontrollieren kann. Allerdings reicht diese Kontrolle nie so weit, daß man die Atmung beliebig lang unterlassen kann. Dieses ganz eigentümliche Changieren zwischen Handlung 225 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und Verhalten ist auch dem Lachen eigen, das ja in weiten Bereichen atmungs-relevant ist, sodaß auch das Lachen in bestimmten Ausprägungen verfügbares Handeln, in anderen Ausprägungen aber unverfügbares Verhalten ist, sodaß man von einer Zwitternatur des Lachens sprechen kann. Obgleich man diese von selbst sich vollziehenden »automatischen« Lebensäußerungen durch Entschluß weder vorbereiten muß noch verhindern kann, kann man ihnen gegenüber doch verschiedene Haltungen einnehmen, z. B. in der Form, daß man sich durch Selbstbehauptung dagegen wehrt oder durch Selbstpreisgabe sich an sie hingibt. So kann man sich z. B. gegen das Einschlafen wehren, auch wenn man sehr müde ist, aber eben nur begrenzt, oder man kann sich dem Einschlafen wohlig hingeben wollen, aber trotzdem noch wach bleiben. Damit wird deutlich: Verfügbar ist in solchen Situationen lediglich die innere Haltung einem derartigen Widerfahrnis gegenüber, nicht das Widerfahrnis selbst. Es steht einfach nicht in unserer Macht. Schließlich gibt es noch eine vierte Art von Widerfahrnissen, die handlungsimmanent sind, weil sie uns im Handeln selbst unterlaufen. Wenn ich einen Nagel in die Wand schlagen will und mir dabei den Daumen blau haue, so ist das eindeutig meine Handlung, aber genauso eindeutig mein Widerfahrnis. Aber auch wenn ich den Nagel mit einem einzigen gekonnten Schlag plaziere, ist es Handlung und Widerfahrnis zugleich. So gesehen haben alle Handlungen immer auch Widerfahrnischarakter, insofern sie gelingen oder auch mißlingen, denn beides ist ein Widerfahrnis. Deshalb schreibt Kamlah mit Recht: »Es gibt Widerfahrnisse ohne (fremdes oder eignes) Handeln, aber es gibt kein pures Handeln« (S. 35), also kein Handeln ohne den obligaten Widerfahrnischarakter. Diese Art von handlungs- oder verhaltensimmanenten Widerfahrnissen ist für uns von besonderer Wichtigkeit, weil Fehlhandlungen oder Fehlverhalten eine schier unerschöpfliche Quelle von Komik sind, wenn eine gute, durch vorgreifendes Vorverständnis erwartete Verlaufsgestalt auf eine unschädliche, unbedrohliche und nicht beschämende Weise zerbricht. Die aristotelische Definition des Komischen setzt, wie wir gesehen haben, ja auch genau hier bei dieser Art von Fehlverhalten an. 226 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Die Unterscheidung zwischen Handlung und Verhalten soll nun so getroffen werden, daß alles Handeln ein Verhalten ist, genauer: eine spezielle Art von Verhalten 96, und das heißt: Sobald ein bestimmtes Verhalten verfügbar ist und außerdem durch eine Entscheidung begonnen und beendet werden kann, soll es als Handlung oder, synonym, als aktives Verhalten verstanden werden. Alle Lebensvollzüge hingegen, die »von selbst« ablaufen und unverfügbar sind, sollen als passives Verhalten gelten. Wenn wir von hier aus nun fragen, wohin das Lachen gehört, so stellen wir fest, daß das Lachen im Lichte dieser Unterscheidungen in bestimmten Ausprägungen zu den aktiven, verfügbaren Verhaltensweisen gehört, wofür sich der Sammelbegriff InteraktionsLachen anbietet, in anderen Ausprägungen jedoch zu den unverfügbaren passiven Verhaltensweisen, die sich an uns und mit uns von selbst vollziehen, und dazu gehören alle Formen des Bekundungs-Lachens. Alle Formen des Resonanz-Lachens bilden im Hinblick auf das Kriterium der Verfügbarkeit eine dritte Gattung, weil wir in das Mitlachen gleichsam hineingleiten wie in jedes andere Resonanz-Verhalten auch, uns diesem aber auch gezielt verweigern können. Das Kriterium der Verfügbarkeit manifestiert sich hier also nur negativ als Verweigerbarkeit. Daß diese zwitterhafte Natur des Lachens in keiner der bislang vorliegenden Theorien thematisiert worden ist, hängt wohl damit zusammen, daß die Unterscheidung zwischen Handlungen und Widerfahrnissen ganz allgemein aus dem Blick geraten ist und damit auch das aristotelische Verfügbarkeitskriterium nicht auf das Lachen angewendet werden konnte. Nachdem somit die Umrisse einer anthropologischen Terminologie, so weit wir sie hier brauchen, skizziert sind, können wir uns nun wieder der aristotelischen Ethik zuwenden und prüfen, welchen Ort im Leben sie dem Lachen zuweist. 2.3.4.2 Grenzen ethischer Relevanz Wir haben schon gesehen, daß für Aristoteles nur das verfügbare Verhalten Gegenstand ethischer Reflexion ist. Das heißt nun aber 227 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nicht, daß für ihn nur das ethisch relevant ist, was wir selbst tun und lassen, sondern zum Bereich des ethisch relevanten Verhaltens gehört auch die Einstellung, durch die wir etwas an uns selbst zulassen, d. h. das, was wir als »innere Haltung« 97 zu bezeichnen pflegen, denn auch diese innere Haltung gehört zum Bereich des verfügbaren Verhaltens. Und schließlich gibt es als dritten Bereich ethisch relevanten Verhaltens all das Verhalten, das wir bei anderen durch unser eigenes Verhalten veranlassen können, erst recht dann, wenn dieses von uns ausgelöste Verhalten des Anderen ein unverfügbares Verhalten ist. Das heißt, konkret auf das Lachen bezogen: Nicht nur das Lachen, das wir selbst willentlich anstimmen, dem wir uns hingeben oder das wir uns zu verkneifen suchen, ist Thema der aristotelischen Ethik, sondern auch das unverfügbare Lachen, das wir beim Anderen auslösen. Auch hier zieht Aristoteles also wieder genaue Grenzen, wobei wiederum das Verfügbarkeitskriterium (prohairesis) als Richtschnur dient. So teilt er die psychischen Phänomene ein in »Affekte« und »Vermögen« (1105b), die unverfügbar vorgegeben sind, und »jene dauernden Beschaffenheiten, die man Habitus nennt« (1105b Bien). Der Habitus (hexis) aber ist als dauerhafte Disposition, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten, für Aristoteles ein verfügbares Vermögen, das man also auch einfordern kann und demnach der eigentliche Ort der Tugenden: »Als Affekte bezeichnen wir: Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt alles, was mit Lust oder Unlust verbunden ist; als Vermögen das, was uns für diese Gefühle empfänglich macht, was uns z. B. befähigt, Zorn oder Trauer oder Mitleid zu empfinden; als Habitus endlich das, was macht, daß wir uns in bezug auf den Zorn unrichtig verhalten, wenn er zu stark oder zu schwach ist, richtig dagegen, wenn er die rechte Mitte hält, und ähnliches gilt für die übrigen Affekte.« (1105b Bien)

Damit ist klar, daß für Aristoteles die Affekte als solche nicht Gegenstand moralischer Wertung sein können, weil sie zu den »naturgegebenen Ursachen« gehören, die uns unverfügbar heimsuchen. Die Art und Weise hingegen, wie weit wir dies an uns zulassen, ist 228 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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für ihn sehr wohl ein Thema moralischer Wertung, weil Aristoteles den Bereich der Dispositionen als langfristig wirkende Verhaltenssteuerung versteht, die erlernt und eingeübt und auf diese Weise gewissermaßen zu einer »zweiten Natur« werden kann und damit indirekt doch wieder zum Bereich des verfügbaren Verhaltens wird. Deshalb gibt er zwar zu und moniert es auch nicht, daß wir in Zorn oder Furcht verfallen, denn dies vollzieht sich als unverfügbares Geschehen an uns und mit uns, fährt aber fort: »Die Tugenden aber sind Akte der Selbstbestimmung oder können doch von diesem Akt nicht getrennt werden. Überdies sagen wir, daß wir durch die Affekte bewegt98, durch die Tugenden und Laster aber nicht bewegt, sondern in eine bestimmte Disposition gebracht werden.« (1106a Bien)

Aus diesen Gründen sind die Tugenden für Aristoteles »keine Affekte und auch keine Vermögen«, also keine Verhaltensmöglichkeiten, sondern konkretes aktuelles Verhalten einer bestimmten Art und damit »ein Habitus« (1106a), d. h. die Neigung, sich in bestimmten Situationen immer wieder in einer bestimmten Weise zu verhalten, und zwar richtig zu verhalten. Oder kürzer: Tugend ist für Aristoteles habituell richtiges Verhalten, das zur zweiten Natur gewordene Treffen ethisch richtiger Entscheidungen; und Laster ist analog dazu habituell falsches Verhalten. Das aber ist nur möglich, wenn ein bestimmtes Prinzip befolgt wird: die Einhaltung der richtigen Mitte und des rechten Maßes. Damit sind wir bei einer weiteren Grenze ethischen Verhaltens angelangt: dem mesotes-Prinzip. Diese ideale Mitte als »allgemeine Regel« (1103b Bien) besagt, daß jede Tugend nur dann eine wirkliche Tugend sein kann, wenn sie im rechten Maß ausgeübt wird und deshalb die beiden Extreme Übermaß und Mangel, Zuviel und Zuwenig vermeidet (vgl. 1104a). Dieses mesotes-Prinzip ist für Aristoteles als Streben nach Ausgewogenheit zwischen den Extremen sogar selbst wieder ein proprium, da der Mensch, wenn er diesem Ideal folgt, letztlich nichts anderes tut als das, wonach die Tugend selbst strebt, sodaß er letztlich nur deren Willen erfüllt. Damit gesteht Aristoteles der Tugend ein ihr innewohnendes Streben zu, das er außerhalb des kulturellen Bereichs auch schon in analoger Weise in der Natur entdeckt zu haben glaubte: 229 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Wenn die Tugend gleich der Natur sicherer und besser ist als alle Kunst, so muß wohl dies sich als Schlußsatz ergeben, daß die Tugend nach der Mitte zielt, die sittliche oder Charaktertugend wohlverstanden, da sie es mit den Affekten und Handlungen zu tun hat, bei denen es eben ein Übermaß, einen Mangel und ein Mittleres gibt. Beim Zagen z. B. und beim Trotzen, beim Begehren, Zürnen, Bemitleiden und überhaupt bei aller Empfindung von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und Zuwenig, und beides ist nicht gut.« (1106b Bien)

Damit aber klar ist, daß das rechte Maß sich nicht allein auf die zugelassene Intensität eines Affektes bezieht, sondern auch auf die Angemessenheit im Hinblick auf die je aktuelle Situation, fährt er fort: »Dagegen diese Affekte zu haben, wann man soll, und worüber und gegen wen und weswegen und wie man soll, das ist die Mitte und das Beste, und das ist die Leistung der Tugend. Die Tugend aber liegt auf dem Felde der Affekte und Handlungen, wo das Übermaß verfehlt ist und der Mangel Tadel erfährt, die Mitte aber Lob erntet und das Rechte trifft. (…) Mithin ist die Tugend eine Mitte, da es ihr wesentlich ist, nach dem Mittleren zu zielen.« (1106b Bien)

Hier haben wir eine Argumentation vor uns, die wir schon aus der Poetik kennen, denn in deutlicher Absetzung von Platon verurteilt Aristoteles die Affekte in keiner Weise, sondern gründet sogar seine Ethik ganz ausdrücklich auf sie, genauso, wie er schon die Wirkung der Kunst auf sie gegründet hatte. Sein Ideal ist also nicht ein apatheia-Dogmatismus, sondern das Prinzip der metriopatheia, der »gemäßigten Leidenschaftlichkeit« 99, und zwar gemäßigt dadurch, daß die richtigen Affekte im richtigen Maß und in situationsangemessener Weise zum Einsatz kommen müssen, weil sie nur dann auch zum ebenbürtigen Partner der Vernunft ernannt und in die Pflicht genommen und das heißt: für Ziele eingesetzt werden können, die durch vernünftige Planung bestimmt worden sind. Da der Bereich des Interaktions-Lachens tendenziell verfügbares Verhalten ist und insofern auch politisch relevant, als es zur Stiftung und Regelung des gesellschaftlichen Verkehrs dient, sollte man eigentlich glauben, daß Aristoteles in seiner Ethik auch ausführlich auf diese Art von Lachen eingeht und darlegt, welche Affekte sich mit dem Lachen verbinden können, welche Art von Gelächter sich 230 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dabei ergibt, auf welche Art und Weise damit gesellschaftliche Beziehungen gestiftet und geregelt werden und wie man all dies klassifizieren und ethisch bewerten könnte. Ansatzpunkt hätte die Liste der rhetorisch relevanten Affekte im zweiten Buch der Rhetorik sein können, von denen nicht nur Zorn und Verachtung, sondern auch Besänftigung, Freundschaft, Scham und Verlegenheit sich sofort als affektive Grundlage von Interaktions-Lachen anbieten. Aber genau dies tut er nicht, sondern er beschränkt sich allein auf die Affekte Zorn und Verachtung, also auf die aggressiven Formen von Interaktions-Lachen, die ihm offenbar allein wichtig waren, weil sie zu den traditionellen Konventionen griechischer Lachkultur gehörten. Er beschränkt sich also auf das spöttische Auslachen-von-oben und das Lachen auf Kosten ausgespotteter Dritter. Deshalb macht er sich auch sofort daran, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer sich dieses aggressive Interaktions-Lachen zu bewegen habe, und bietet ein Prinzip an, das man in seinem Geltungsbereich noch beträchtlich ausweiten und als den Nomos der Lachkultur, genauer: als den Nomos der eutrapelistischen Lachkultur bezeichnen könnte: »Wie ist nun der, der auf die rechte Weise spottet, zu bestimmen? Etwa dahin, daß er sage, was für einen humanen Mann paßt, oder dahin, daß er den Hörer nicht kränke oder ihn gar ergötze? Oder sollte auch das zu unbestimmt sein? Ist doch dem dies, dem jenes unangenehm und angenehm, wonach sich dann auch die Aufnahme richtet, die das Gehörte findet. So wird denn gelten müssen, daß unser Mann sich nur solches erlaubt, was er selbst gern mit anhört. Er wird sich also nicht alles erlauben.« (1128a Bien)

Dann wird Aristoteles konkret und geht auf das Auslachen-vonoben ein, das für Platon als das Lachen schlechthin gegolten hatte, weshalb er auch Lachen generell als ethisch verwerflich empfand. Verwerflich findet auch Aristoteles das spöttisch-höhnisch-hämische Auslachen-von-oben, aber aus etwas anderen Gründen, denn er schaut sehr viel genauer hin, sieht sofort die politisch-gesellschaftlichen Implikationen dieser Art von Gelächter und kommt zu dem Befund: 231 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Der Spott ist eine Art Schmähung, und die Gesetzgeber verbieten gewisse Schmähungen; vielleicht sollten sie auch gewisse Spöttereien verbieten. Der freie und gebildete Mann wird sich nun von selbst so verhalten, indem er sich selbst gleichsam Gesetz ist.« (1128a Bien)

Und das heißt, er wird nur so spotten, daß sein Lach-Opfer über diesen Spott selbst auch mitlachen kann, also weder Zorn noch Scham empfinden muß. Daß Aristoteles dies in der Nikomachischen Ethik nicht weiter ausführt, liegt wohl daran, daß er dies in seiner Rhetorik schon geleistet hat, in der er im zweiten Buch eine ganze Reihe von Affekten ausführlich analysiert, darunter auch Zorn und Scham. Zorn versteht er dort als ein mit Schmerz verbundenes Trachten nach Rache für eine ungehörige Kränkung (vgl. 1378a), die neben Verachtung und unwürdiger Behandlung v. a. in »übermütiger Behandlung« (1378b), d. h. im Auslachen-von-oben bestehen kann: »Denn übermütige Behandlung liegt dann vor, wenn man jemandem etwas antut oder über ihn redet, woraus demjenigen, der es erduldet, Schande entsteht, und zwar nicht, damit einem etwas anderes zuteil wird oder weil es einem selbst widerfahren ist, sondern nur um sich zu ergötzen.« (1378b)

Also nur, um auf Kosten eines Anderen einen Lacherfolg zu erzielen und dem Gefühl eigener Überlegenheit zu schmeicheln. Auslachenvon-oben und Auslachen-lassen-durch-Dritte ist für Aristoteles eine Form von Verachtung. Wer aber verachtet, der kränkt auch und löst im Gekränkten Zorn und Scham aus, je nachdem, ob der Gekränkte sich erfolgreich wehren kann oder nicht. »Die Menschen aber, über die man zürnt, sind solche, die über uns lachen, uns verhöhnen und uns verspotten; denn so zeigen sie ein übermütiges Verhalten.« (1379a) 100

Diese Warnung vor übermütigem »herrenzynischem Verhalten« (Sloterdijk) dehnt Aristoteles sogar auch auf die milderen Formen von Spott aus, denn auch herablassende Ironie »zeigt immer etwas von Verachtung« (1379b). Ähnlich streng urteilt Aristoteles auch über alles Gelächter, das beim Anderen Scham auslöst:

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»Scham aber empfindet man dann, wenn man solches, was zu Verlust der Ehre und zu Verhöhnung führt, erlitten hat bzw. erleidet oder erleiden wird.« (1384a).

Eine Hauptquelle der Scham ist bekanntlich das übermütige spöttisch-höhnisch-hämische Auslachen-von-oben, allerdings nur dann, wenn man sich als der Verlachte die dadurch angesonnene Scham auch tatsächlich zueigen macht. Das muß man aber durchaus nicht immer, sondern nur dann, wenn man beim Urteilen über sich selbst zum gleichen vernichtenden Urteil kommt wie der Andere. Mit diesem Nomos der eutrapelistischen Lachkultur hat Aristoteles eine Grenze gezogen, die von eminent politischer Bedeutung ist, denn beide Affekte, vor allem aber der Zorn, sind in der Antike immer als diejenigen Affekte angesehen worden, die das gesellschaftliche Zusammenleben auf das schwerste gefährden können, und deshalb spricht er auch mit vollem Recht davon, daß die Ethik eine politische Wissenschaft sei. Grenzen der Lachkultur zieht Aristoteles noch auf eine andere Weise, indem er im siebten Buch die Frage aufwirft, in welchem Maß man einem Affekt, der uns als unverfügbares Widerfahrnis heimsucht, widerstehen kann. Es geht also um das Problem der Selbstbeherrschung (enkrateia), die als Habitus, innere Haltung oder zweite Natur zu den Tugenden zu zählen ist, und hier wird wieder deutlich, wie die aristotelische Ethik Können und Sollen in Beziehung setzt. Natürlich fordert Aristoteles Selbstbeherrschung, weiß aber sehr wohl, wie wahnhaft es wäre, totale Selbstbeherrschung mit dem Ziel völliger Leidenschaftslosigkeit zu fordern, weil alle Affekte eben mit Lust oder Unlust verbunden sind und eine dementsprechend große Versuchung in sich tragen, sich ihnen hinzugeben. Dies gilt insbesondere für die Begierden und Suchten aller Art und eben auch für Schmerz und Zorn. Das Kriterium für die moralische Bewertung des Verhaltens in solchen Situationen affektiver Heimsuchung liegt für Aristoteles nun nicht darin, ob jemand einen Affekt erleidet oder nicht, auch nicht darin, ob er von ihm übermannt wird oder nicht, sondern darin, wie lange er bereit ist, gegen einen aufkommenden Affekt Widerstand zu leisten. Das ethisch-moralische Kriterium beim Betroffenwerden durch einen Affekt liegt also im Grad der Selbst233 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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behauptung gegen diesen Affekt resp. im Grad der Selbstpreisgabe an den Affekt. Das aber ist aktuell abhängig von der jeweiligen Situation und langfristig abhängig von dem verinnerlichten Habitus. Ein drittes Kriterium für die Bewertung eines Verhaltens ist das Prinzip der Zumutbarkeit, ist also abhängig davon, wie Andere in vergleichbaren Situationen sich verhalten. »Wer nun versagt, wo die meisten widerstehen und es auch können, ist weichlich und verwöhnt (denn die Verwöhntheit ist eine Art von Weichlichkeit). (…) Ähnlich ist es mit Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Denn nicht das ist erstaunlich, wenn jemand durch starke und übermäßige Empfindungen der Lust und des Schmerzes überwältigt wird, sondern man wird da Nachsicht üben, wenn er nur Widerstand geleistet hat, wie der von der Natter gebissene Philoktet (…), oder wenn einer das Lachen zurückhalten will und dann doch plötzlich herausplatzt. (…) Merkwürdig ist dagegen, wenn einer überwältigt wird und nicht widerstehen kann dort, wo es die meisten vermögen, und dies nicht durch angeborene Art oder durch Krankheit.« (1150b Gigon)

Diese Unterscheidung wird noch weiter präzisiert durch die Unterscheidung zwischen dem Zügellosen (akolastos) und dem Unbeherrschten (akrates): Der Zügellose ist immer und in allem zügellos, der Unbeherrschte nur in bestimmten Situationen und vor allem empfindet er danach Reue, der Zügellose hingegen nicht. Damit ist noch ein weiteres Kriterium genannt, um den oben erwähnten Nomos der eutrapelistischen Lachkultur weiter zu präzisieren und in eine endgültige Form zu bringen: Die Grenzen des Spottens wären also nach Aristoteles nicht nur so zu ziehen, daß das Lach-Opfer weder Zorn noch Scham empfinden darf und deshalb auch selbst in das durch den Spott ausgelöste Gelächter mit einstimmen kann, sondern darüber hinaus auch noch dadurch, daß der Spottende oder Lachende selbst über sein Verhalten weder Scham noch Reue empfinden darf. Damit hätten wir alle Kriterien beisammen, um uns nun dem aristotelischen Ideal der Eutrapelie zu widmen.

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2.3.4.3 Das Eutrapelie-Ideal: pro und kontra So wie es für Aristoteles in allen Tugenden neben den Extremen des Zuviel und Zuwenig auch ein ideales normatives Mittelmaß gibt 101, so gibt es für ihn auch beim lachbereiten gesellschaftlichen Umgang eine zu erstrebende Mitte: die Eutrapelie. »Wer nun im Komischen übertreibt, wirkt als Possenreißer und als ordinär. Er sucht um jeden Preis das Lächerliche und strebt mehr danach, Lachen zu erregen als etwas Passendes zu sagen und die ausgelachte Person nicht zu verletzen. Wer aber niemals scherzt und sich über alle Scherzenden ärgert, gilt als ungebildet und steif. Wer endlich angemessen scherzt, heißt gewandt als einer, der sich zu wenden weiß. Dergleichen scheinen nämlich Bewegungen des Charakters zu sein, und wie man den Körper nach seinen Bewegungen beurteilt, so auch den Charakter.« (1128a Gigon)

Damit tritt neben die schon genannten ethisch-moralischen Kriterien als weiteres ein ästhetisch-rhetorisches, um den eutrapelos zu bestimmen, den Mann, der auf die rechte Art zu scherzen weiß, denn die von Aristoteles eingeforderte Gewandtheit ist nunmehr genauer zu bestimmen als heitere Weltgewandtheit, insbesondere aber als witzige Wortgewandtheit, und die Beweglichkeit als Geschmeidigkeit im Umgang mit Anderen, mit sich selbst, mit den Themen der Unterhaltung, v. a. aber im Umgang mit den Möglichkeiten der Sprache. Die Forderung, die Aristoteles also an das gewandte heitere Weltkind in der Mitten stellt, ist genau das, was er in der Rhetorik als ta asteia, d. h. als Witzigkeit oder Esprit bezeichnet. Die Römer übersetzten es mit urbanitas, mit demselben Wort also, mit dem sie auch eutrapelia übersetzten und das wir als Fähigkeit verstehen können, witzige Pointen zu formulieren und dadurch eine Atmosphäre entspannter Heiterkeit zu erzeugen. Von hier aus gesehen wird noch einmal deutlich, warum Aristoteles die Alte Komödie in der Art des Aristophanes auch ethisch-moralisch verurteilt hat, weil er in ihr nur Zotenreißerei und Schmähsucht (vgl. 1128a) erkennen konnte. Den medizinischen Hintergrund des aristotelischen EutrapelieIdeals bietet wiederum das Prinzip der uroborischen Katharsis, hier im Sinne einer erholsamen Entspannung, und damit rückt das aristo235 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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telische Eutrapelie-Ideal ganz konsequent als weitere Form kultureller Praxis neben die schon benannten kathartisch orientierten performativen Künste Tragödie, Komödie und Musik und als eine weitere Form praktischer Lebenskunst. »Da es im Leben auch eine Erholung gibt und bei dieser eine mit heiterem Scherz verbundene Unterhaltung, so scheint es auch hier eine angemessene Art des Verkehrs zu geben, eine Art zu sprechen was und wie man soll, und ebenso zu hören, obschon es auch hier einen Unterschied macht, ob man bei solchen Gesprächen das Wort führt oder bloß zuhört. Offenbar findet sich aber auch hier der Mitte gegenüber ein Zuviel und Zuwenig.« (1128a Bien)

Diese Empfehlung erholsamer Entspannung nach harter Arbeit durch Scherzen und Lachen wird sich als Standardargument bei der medizinisch-psychologisch-physiologisch orientierten Rechtfertigung des Lachens erweisen und zieht sich durch die gesamte gelotologische Literatur über Cicero, Thomas von Aquin, Joubert, Shaftesbury und Meier bis herauf zu Kant und letztlich bis zu Plessner. Auf die kürzeste Formel bringt sie Goethe, wenn er den Schatzgräber, der ohne rechte Arbeit allein durch Magie reich werden will, mit den Worten belehren läßt: »Grabe hier nicht mehr vergebens! Tages Arbeit, abends Gäste! Saure Wochen, frohe Feste! Sei dein künftig Zauberwort.« (Bd. 1, S. 89)

Wenn man nach den soziologisch-politischen Implikationen des aristotelischen Eutrapelie-Ideals fragt, so wird sofort deutlich, daß es sich hier um ein ausgeprägt elitäres, sich an eine Oberklasse wendendes Ideal handelt, das Personen angesonnen wird, denen es vergönnt ist, in einer auch gesellschaftlich entspannten Situation ohne direkten Mangel und ohne direkte Gefährdung zu leben, und die zudem über den Grad an Bildung verfügen, diese privilegierte Situation auch als solche zu erkennen, zu würdigen und zu genießen, und die es sich deshalb leisten können, niemanden anzugreifen, weil sie auch selbst von niemandem angegriffen werden. Mit einem Wort: Das Ideal der Eutrapelie setzt eine grundsätzlich entspannte und befriedete gesellschaftliche Situation voraus und reflektiert wiederum eben diese Entspanntheit. 236 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Dem mittleren Habitus in dieser Beziehung (jenseits von aggressiver Possenreißerei und intellektueller Öde) ist auch die Wohlanständigkeit eigentümlich. Es verrät den anständigen Menschen, nur solches zu sagen und anzuhören, was sich für einen gesitteten und vornehmen Menschen paßt. Gewisse Scherze nämlich geziemt es sich für einen solchen Mann zu machen und anzuhören: es ist eben ein Unterschied zwischen dem Scherz vornehmer und roher, dem Scherz gebildeter und ungebildeter Personen.« (1128a Bien)

Das Eutrapelie-Ideal des Aristoteles setzt darüber hinaus auch noch voraus, daß eine gesellschaftliche Schicht von Leuten vorhanden ist, die im Hinblick auf Bildung, Besitz, Rang und Stand einigermaßen homogen ist und dementsprechend auch auf Augenhöhe miteinander umgehen kann. Man kann sich ja auch nur dann ganz locker ins Lachen fallen lassen, wenn man sicher sein kann, daß man dabei nicht aus dem Kreis von Seinesgleichen herausfällt. Wie hierarchisch die Gesellschaft außerhalb dieser Oberschicht auch immer sein mag, spielt hier keine Rolle. Das römische Äquivalent zur Ethik des Aristoteles ist die Pflichtenregel Ciceros De officiis102, die den aristotelischen Nomos eutrapelistischer Lachkultur und deren anthropologische Basis denn auch voll übernimmt. Cicero fordert nämlich ganz im Geist der Stoa weitestgehende Selbstbeherrschung nach dem Ideal von Maß und Mitte ein, findet aber gerade deshalb die Entspannung durch eine beherrschte ars iocandi nicht minder wichtig und schreibt deshalb: »Zwar darf man jenes Spiel (ludus) und jenen Scherz (iocus) genießen, aber wie Schlaf und sonstige Entspannung (quies) erst dann, wenn wir bedeutsamen und ernsten Aufgaben Genüge getan haben. Und die Art selbst des Scherzens (genus iocandi) darf nicht ausgelassen und maßlos (non profusum nec immodestum) sein, sondern vornehm und witzig (ingenuum et facetum). (…) Es gibt nämlich zwei Arten des Scherzens, die eine eines freien Mannes unwürdig, heraufordernd, widerlich und schmierig (inliberale, petulans, flagitiosum, obscenum), die andere fein, vornehm, geistreich und witzig (elegans, urbanum, ingeniosum, facetum); an dieser Art sind reich nicht nur unser Plautus und die die alte Komödie der Attiker, sondern auch die Bücher der sokratischen Philosophen. (…) Leicht ist also die Unterscheidung zwischen anständi-

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gen und gemeinen Scherzen (ingenui et inliberalis ioci). Der eine ist, wenn er zur rechten Zeit gemacht wird (si tempore fit), z. B. in gelöster Stimmung, sogar des ernstesten Mannes würdig, der andere nicht einmal eines Freien, wenn Schändlichkeit der Gegenstände (turpitudo rerum) mitspielt oder Schmierigkeit der Worte (obscenitas verborum).« (S. 91/93)

Methodologisch gesehen ist Ciceros Hinweis darauf, daß ein Scherz nur »zur rechten Zeit« am Platz ist, besonders wichtig, denn dieses Kriterium ist immer wieder aufgegriffen worden, insbesondere von Horaz, und ist dann als »desipere in loco« zu einem Gemeinplatz eutrapelistischer Lachkultur geworden. Daß Ciceros Kriterien für die Bewertung eines Scherzes weniger ästhetischer als ethisch-moralischer Natur sind und außerdem ausgeprägt elitär orientiert, zeigt sich schon in den nächsten Sätzen, wenn er all die oben angeführten Kriterien letztlich dem Kriterium ständischer Würde (excellentia et dignitas hominis) (vgl. S. 94/95) unterordnet. Diesen elitären Charakter wird, wie wir sehen werden, die eutrapelistische Scherz- und Lachkultur beibehalten, so lange sie existiert, auch wenn die gesellschaftliche Elite, die sie pflegt, immer eine jeweils neue Elite sein wird. Da diese gesellschaftlichen Voraussetzungen für die konkrete Realisierung dieses aristotelisch-ciceronischen Eutrapelie-Ideals in der gesellschaftlichen Praxis jedoch nur ganz selten gegeben waren, konnte dieses Ideal auch nur zu bestimmten Zeiten gesellschaftliche Realität werden. Am ausdrücklichsten geschah dies zunächst zur Zeit von Horaz in der Epoche der Pax Romana, dann in der Zeit der ersten enthusiastischen Aristoteles-Rezeption an den italienischen Fürstenhöfen der frühen Renaissance, als das Ideal des Cortegiano entstand, dem Castiglione dann in seinem berühmten Buch ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Und schließlich wurde das Eutrapelie-Ideal zum integralen Thema der Heiteren Aufklärung in der Epoche der Pax Britannica nach der Glorreichen Revolution, in der dieses Ideal durch die neue Elite der Gentry ausagiert und später dann auch von rein bürgerlich-akademischen Kreisen kopiert wurde, die sich ebenfalls als eine neue Eliten verstanden. Analog dazu änderte sich auch, was jeweils als vornehm und witzig bzw. als peinlich und obszön und vor allem auch, was als komisch und 238 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lächerlich empfunden wurde, weil die jeweiligen Eliten eben auch neue Grenzen dessen mit sich bringen, was sich für sie gehört und was nicht. Deshalb wirken alte Anthologien von Witzen und Schwänken von hellenistischen Philogelos bis zum Eulenspiegel der frühen Neuzeit heute auch reichlich öde oder nur peinlich. Die Realisierung des aristotelischen Eutrapelie-Ideals setzt aber außerdem noch voraus, daß das Zusammenspiel von Lachen und Scherzen überhaupt als akzeptables Verhalten eingeschätzt wird. Doch das war in der Geschichte des Lachens durchaus nicht immer der Fall, denn mit dem Aufkommen des Christentums trat auch hier ein grundsätzlicher Wandel der Wertewelt ein. In den ersten Versen seines Briefes an die Epheser stellt Paulus nämlich einen Katalog von Tugenden und Lastern zusammen, um seine neue Gemeinde auf den rechten christlichen Weg zu führen. Insbesondere warnt er vor porneia (Unzucht), akatharsia (Schmutzigkeit) und pleonexia (Habgier), aber auch vor aischrotes (Gemeinheit), morologia (Narrenrede) und eben auch vor eutrapelia, und empfiehlt statt dessen eucharistia (Danksagung). Das liest sich in der klassischen Luther-Bibel wie folgt: »So seid nun Gottes Nachfolger als die lieben Kinder Und wandelt in der Liebe, gleichwie Christus uns hat geliebt und sich selbst dargegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch. Hurerei aber und alle Unreinheit des Geistes oder Geiz lasset nicht von euch gesagt werden, wie den Heiligen zusteht, Auch nicht schandbare Worte und Narrenteidinge oder Scherze, welche euch nicht ziemen, sondern vielmehr Danksagungen.« (Eph. 5,1–4)

In einer katholischen Ausgabe des Neuen Testaments von 1830 liest sich die Passage etwas straffer und strenger: »So seyd nun Gottes Nachfolger, als die lieben Kinder, Und wandelt in der Liebe, so wie auch Christus uns geliebt, und sich für uns hingegeben hat zur Gnade und zum Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruche. Hurerey aber und alle Unreinigkeit oder Geitz soll nicht einmal genannt werden unter euch, wie es Heiligen ziemt; Noch Schamlosigkeit und Zotten und Possen, die euch nicht anstehen, sondern vielmehr Danksagung.« 103

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Im umfangreichen Kommentar des damaligen Bischofs von Regensburg Franz Anton von Henle von 1890 lauten die Verse 3 und 4: »Unzucht und jede Art von Unreinigkeit oder Habsucht soll nicht einmal genannt werden bei euch, wie es Heiligen geziemt, ebenso Gemeinheit oder Possenreden oder leichtfertiges Geschwätz, was unschicklich ist, sondern vielmehr Danksagung.« 104

In der Wiedergabe der »Bibel in heutigem Deutsch«105 von 1982 lauten die Verse 3 und 4: »Weil ihr Gott gehört, schickt es sich nicht, daß bei euch von Unzucht, Ausschweifung und Habgier auch nur gesprochen wird. Es paßt auch nicht zu euch, dumme und schlüpfrige Reden zu führen. Benutzt eure Zunge lieber, um Gott zu danken!«

In der Übersetzung von Hans Bruns 106 lauten die selben Verse 3 und 4: »Unzucht und Unreinheit, auch Habgier sollen nicht einmal dem Namen nach unter euch bekannt sein. Denn das ziemt sich für Heilige nicht. Ebensowenig sollten unanständiges Wesen, unziemliches Geschwätz und zweideutige Scherze unter euch zu finden sein; statt dessen übt Danksagung!«

Und in seinem Kommentar fügt Bruns hinzu: »Ohne jede Prüderie leuchtet der Apostel hier in die Welt der Unreinheit hinein (bis zu den Zoten und Witzeleien). Es geschieht ohne Überheblichkeit. Auch Jünger Jesu sind versuchbar, aber sie bezeugen in großer Klarheit und Dankbarkeit: das alles ist für uns völlig unmöglich, das ›ziemt sich nicht. Es liegt auch Gottes Zorn darüber.‹« (S. 522)

Im gleichsam offiziellen katholischen Herder-Kommentar zum Neuen Testament von Joachim Gnilka 107,der sich eng an dem Kommentar von Henles orientiert, lauten die beiden für uns entscheidenden Verse: »Unzucht aber und alle (Art von) Unreinheit oder Habgier soll unter euch keine Erwähnung finden, wie es sich für Heilige ziemt, und Schändliches oder blödes Geschwätz oder Possenreißerei, die sich nicht schicken, sondern weit mehr Danksagung!« (S. 141)

Wenn man nicht wüßte, daß hier in Vers 4 von der aristotelischen Eutrapelie die Rede ist, möchte man glauben, Luther habe Fast240 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als ethisches Problem und gesellschaftliche Praxis

nachtbräuche seiner Zeit im Auge oder die Übersetzer aus unserer Zeit zielten auf die Comedy-Programme des kommerziellen Fernsehens. Diese Diskrepanz verrät in etwa, welch massive Umdeutung und Abwertung das aristotelische Eutrapelie-Ideal, das auch noch im frühen Hellenismus Gültigkeit hatte, durch Paulus und das Christentum erfahren hat und welche Abgründe sich durch diese Abqualifizierung der heidnischen Lebensfreude zur eitlen Sinnenlust zwischen dem Christentum und seiner heidnischen Umwelt aufgetan haben müssen. Galt für Aristoteles, Cicero und Quintilian die heitere, welt- und sprachgewandte, scherz- und lachbereite Unterhaltung als erstrebenswerte Kunst (ars iocandi), so galt nun für Paulus und die Kirchenväter der lachende Mensch als der an die Welt verfallene, schlechthin gottferne Mensch. Und so versank nach dem Sieg des Christentums das Ideal der Eutrapelie für die nächsten tausend »dunklen« christlichen Jahre in Vergessenheit, und so ist es trotz der Bemühungen des Thomas von Aquin, die aristotelische Eutrapelie für das Christentum zu retten, bis heute geblieben. Wie es zu diesem massiven Bedeutungswandel des EutrapelieBegriffs schon im späteren Hellenismus und im frühen Christentum gekommen ist, in dessen Verlauf aus der Eutrapelie im Sinne von Wort- und Weltgewandtheit opportunistische und charakterlose Wendigkeit und aus einem ethisch neutralen ein moralisch anrüchiges und im christlichen Sinne sündiges Verhalten geworden ist, beschreibt von Henle in seinem Kommentar: »morologia bedeutet (…) ein unsinniges, närrisches Gerede. Das Wort findet sich schon bei Aristoteles. (…) In die römische Sprache wurde das Wort in der Adjektivform morologus eingeführt, wahrscheinlich durch Plautus. (…) Da morologia von Paulus derselben sittlichen Kategorie wie aischrotes zugewiesen wird, so ist damit wohl die in Witze gehüllte Unanständigkeit gemeint. Auf diese Deutung läuft auch die lange Erklärung des hl. Chrysostomus in der 17. Homilie zu unserem Briefe hinaus. eutrapelia gehört zu jenen Wörtern, deren Bedeutung vom ursprünglich günstigen Sinne nach und nach ins Gegenteil umschlug. Bei Plato, Aristoteles, Aristophanes, ja noch bei Diodor von Sizilien und Jose-

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phus Flavius hat es die Bedeutung von Wohlgewandtheit (entsprechend der Bedeutung des Kompositums trepo und eu) und wurde besonders gerne von witziger, spaßhafter Rede gebraucht. Da der feine Scherz und schlagende Witz mehr in der Umgangssprache der Städter als der Landleute auftritt, so ging das Wort bei Griechen und Römern im Sinne von asteiotes und urbanitas (d. h. von Weltläufigkeit); als aber mit dem Verfall der Sitten in den Städten auch dieses Wort in üblen Ruf kam, verstand man unter eutrapelia nur mehr das Frivole, Unverschämte im Gegensatze zum pudor subrusticus (d. h. dem schüchternen Verhalten der Unschuld vom Lande). In diesem Sinne finden wir eutrapelia in der Etymologia Magna und ebenso bei Suidas umschrieben mit morologia, kouphotes (Albernheit), apaideusia (Ungezogenheit) und in ähnlichem Sinne schildert auch der hl. Chrysostomus den eutrapelos als einen verschmitzten, veränderlichen, unbeständigen Menschen, der alles aus sich machen kann und der alle Augenblicke ein anderer ist. (…) Ferner sagt der hl. Chrysostomus, unter eutrapelia sei die Possenreißerei zu verstehen, welche ihren Stoff von heiligen Dingen nehme, und er denkt dabei hauptsächlich an die Parodie der hl. Schrift, die in der Tat immer frivol ist.« (S. 258 f.)

Im gleichen Sinn argumentiert Gnilka in seinem Kommentar, wenn er darauf verweist, daß in der Triade von Lastern, die Paulus anführt, der Begriff aischrotes (Schändlichkeit) als aischrologia (Schandrede, Zotenrede) und damit als Oberbegriff zu verstehen sei, der durch die dann folgenden beiden Begriffe morologia (Narren- oder Torengerede) und eutrapelia näher erläutert werde, und fährt dann fort: »Die morologia ist das Narrengeschwätz, der freche Witz. (…) Die eutrapelia ist wörtlich die Art, sich leicht zu wenden, die Gewandtheit. Sie wird auf Menschen bezogen, die sich in die Umstände fügen, mit anderen umzugehen verstehen und feine Scherze machen. So hat das Wort im Griechischen häufig positive Bedeutung. Eutrapelos aber kann auch einer genannt werden, der es aus Liebe zum Scherz nicht so genau nimmt, der Possenreißer, der auf seinen Gewinn bedachte Schmeichler. In diesem abwertenden Sinn hat der Verf. die eutrapelia aufgefaßt. Die Triade der schlechten Umgangsformen wird als nicht schicklich abgetan. Statt ihrer wird der Gemeinde die Danksagung ans Herz gelegt.« (S. 247)

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Ganz offensichtlich stellt sich der Kommentator Gnilka also voll hinter Paulus und damit auch hinter dessen eindeutige Abwertung des aristotelischen Eutrapelie-Ideals durch Chrysostomus und wischt die aristotelische Unterscheidung zwischen Possenreißerei und Eutrapelie mit einer Handbewegung vom Tisch. Von der expliziten Rettung und theologischen Rechtfertigung der ursprünglichen aristotelischen Eutrapelie durch Thomas von Aquin wollen von Henle und Gnilka offensichtlich auch nichts wissen, und auch nichts davon, daß schon Erasmus von Rotterdam, ein großer Verehrer und Praktiker des aristotelischen Eutrapelie-Ideals, die von Hieronymus stammende Übersetzung von eutrapelia mit scurrilitas korrigiert und eutrapelia wieder mit urbanitas übersetzt hatte, um deutlich zu machen, daß Paulus hier eine antike heidnische Tugend zu einem Laster 108 umgedeutet hat. Das aristotelisch-ciceronische Eutrapelie-Ideal, das somit durch das Wirken der meisten frühen Kirchenväter in Vergessenheit geraten war, wurde, wie schon gesagt, erst wieder durch die Aristoteles-Rezeption des Thomas von Aquin, des Humanismus und der Frührenaissance neu entdeckt und zum Ideal einer neuen, weltlich-höfischen Elite erhoben, das in der Gestalt des Cortegiano seine paradigmatische Gestalt fand, um dieses lachsoziologische Modell der aristotelischen Eutrapelie zu realisieren. Allerdings hatte dieses Ideal des eutrapelistisch scherzenden und lachenden Cortegiano nicht sehr lange Bestand, und mußte bald wieder aus politischen wie aus religiösen Gründen einer neuen Ernsthaftigkeit weichen. Da das eutrapelistische Scherzen und Lachen, räumlich-szenisch gesehen, ein Scherzen und Lachen auf Augenhöhe ist, setzt es die prinzipielle Gleichrangigkeit von Scherzenden und Lachenden, von Lach-Tätern und Lach-Opfern voraus und zugleich damit die Möglichkeit, daß diese Rollen jederzeit und ohne Verlust an Ansehen vertauscht werden können. Soziologisch gesehen ist es also angewiesen auf die Existenz einer in sich homogenen Schicht von Gleichrangigen im Rahmen sozialer Gebilde wie Höfen, Salons, Bruderschaften, Tafelrunden oder Logen, innerhalb derer diese Rollenspiele ausagiert werden können, so hierarchisch die Gesellschaft außerhalb dieser Gebilde auch immer sein mag. Ändern sich 243 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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hingegen diese Gebilde in ihrer inneren Struktur, ändert sich also z. B. ein Hof vom egalitären Fürstenhof zum absolutistischen Königshof und damit selbst zu einem streng hierarchischen Gebilde, so ist es auch sofort mit dem eutrapelistischen Scherzen und Lachen vorbei und es entstehen neue Lach-Tabus, weil man im Rahmen einer derart hierarchischen Gesellschaft nicht mehr auf Augenhöhe scherzen und lachen kann. Und wenn überhaupt noch gelacht werden darf, dann nur noch von oben nach unten. Daß man von unten nach oben lacht, ist selbstverständlich absolut tabu, weil der absolutistische Herrscher nicht nur über dem Gesetz steht (legibus absolutus), sondern auch jenseits jeder Belachbarkeit. Wir werden noch ausführlich darauf eingehen. Neben dem Wandel zum Absolutismus gab es noch eine zweite Entwicklung, die dem heidnisch-aristotelischen Eutrapelie-Ideal mächtig zusetzte und ihm den Garaus zu machen suchte, denn jeder neue Schub an Frömmigkeit vor und nach der Reformation von der Devotio moderna bis herauf zu den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts war immer zugleich auch mit einem massiven Schub an neuer Ernsthaftigkeit und Lachfeindschaft verbunden, und somit geriet das aristotelische Ideal der Eutrapelie auch aus diesem Grund immer wieder in Vergessenheit und mußte immer wieder neu entdeckt werden. Die von heute aus gesehen letzte dieser Neuentdeckungen des eutrapelistischen Ideals der ars iocandi war die heitere Variante der Aufklärung, auf die wir deshalb in einem eigenen Kapitel eingehen werden. 2.3.5 Bilanz So umfangreich das Kapitel zu Aristoteles war, so kurz kann nun die Bilanz dazu sein. Da Aristoteles immer und prinzipiell von »naturgegebenen Ursachen« ausging, wählte er auch bei seiner Analyse des Lachens einen anthropologischen Ansatz und fand auf diesem Wege, daß auch das Lachen zu all den propria hominis gehört, die das naturgegebene Wesen des Menschen ausmachen. Somit war für ihn die Fähigkeit des Menschen, lachen zu können, anders als für Platon, durchaus kein peinlicher Ballast, sondern ein teures Erbe, 244 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

gleichsam ein unveräußerliches Patrimonium, das es treu zu hüten und zu verwalten gilt. Ähnlich wie in der affektiven Grundausstattung sah Aristoteles also im menschlichen Lachen einen Schatz an Möglichkeiten und zugleich damit auch die implizite Aufforderung, dieses natürliche Erbe in kulturelle Formen zu gießen und die schon bestehenden kulturellen Ritualisierungen philosophisch zu durchdringen. Das Ergebnis dieser Bemühungen war die Definition des Komischen und die Entdeckung der kathartischen Funktion des Lachens und damit zugleich auch die kathartische Funktion der Komödie. Beide Entdeckungen haben die Diskussion über das Lachen bis heute entscheidend mit bestimmt, und bilden auch die Grundlage für die ethische Durchdringung des Lachens insofern, als die Kultivierung des heiteren Scherzens in entspannter Atmosphäre die kathartische Funktion des Lachens als gegeben voraussetzt und nur möglich ist, wenn ein Nomos der Lachkultur Beachtung findet, demzufolge Witz und Spott beim Lach-Opfer weder Scham noch Zorn und beim Spötter und Lacher weder Scham noch Reue hervorrufen darf. Mit dem daraus abgeleiteten Ideal der Eutrapelie hat Aristoteles schließlich ein lebenspraktisches Verhaltensideal formuliert, das als Grundlage einer eudämonistischen Ethik und als Einübung in die Kunst des heiter-vertrauensvollen Sichüberlassens an die eigene Leiblichkeit bis heute noch nicht genügend gewürdigt worden ist und deshalb noch zu entdecken und fruchtbar zu machen wäre. All dies ruht bei Aristoteles auf einem Fundament von Urvertrauen in die naturgegebenen Ursachen, denn auch hier sind, wie überall, Götter. Was aber fehlt? Was hat Aristoteles nicht geleistet, obwohl er es hätte leisten können? Da ist zunächst die Klassifikation der verschiedenen Formen von Lachen, die Aristoteles trotz aller Lust am Klassifizieren und trotz des bereitgestellten Verfügbarkeitskriteriums nicht vorgelegt hat, denn er beschränkt sich lediglich auf das Kitzel-Lachen als einer natürlichen Form von Gelächter, auf das aggressive Auslachen-von-oben und das heiter entspannte Lachen als Quittung auf einen Scherz als zwei kulturell ritualisierte Formen von Lachen. Da er aber die klassische Definition des Komischen geliefert und nur diese wenigen Formen von Gelächter beschrieben 245 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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hat, suggeriert dies ganz gegen seine Absicht eine innige, zwingende und ausschließliche Beziehung des Lachens zum Phänomen des Komischen, sodaß Aristoteles, ohne dies explizit zu wollen, auf diesem Umweg faktisch doch wieder einer reduktionistischen Sicht auf das so vielgestaltige Phänomen des Lachens Vorschub geleistet hat, die das Lachen im wesentlichen auf das geloiastische Lachen einschränkt. Von dieser eingeengten Sicht auf das Lachen haben sich die meisten Autoren, die sich zu dem Thema geäußert haben, bis heute nicht befreien können, trotz der Anregungen von James Sully, Helmuth Plessner und Hermann Schmitz. Hier gilt es einiges nachzuholen und zurechtzurücken, wobei wir u. a. auch die aristotelische These, das Lachen sei ein allein dem Menschen vorbehaltenes Vermögen, im Lichte der neueren Primatenforschung etwas präziser, aber immer noch »im Sinne des Meisters« werden formulieren und überprüfen müssen. Die These des Aristoteles lautet dann, nicht das Lachen allgemein, sondern nur das geloiastische Lachen über Komisches und Lächerliches sei ein proprium hominis. Und so gesehen hätte Aristoteles dann doch wieder recht, wenn er das spezifisch humane Lachen im eutrapelistischen Lachen sieht. Doch auch dieses spezifisch menschliche Lachen ist nur eine Form von Gelächter, neben der es noch viele andere gibt, die nicht weniger spezifisch menschlich sind. Anmerkungen 1

Ich zitiere nach der Ausgabe: Aristoteles: Metaphysik. Die Lehrschriften herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke, Paderborn 2/1959. 2 Für unseren heutigen Sprachgebrauch gehört der Bereich der aristotelischen Poiesis mit zur Praxis, denn für uns ist ein Handwerker oder bildender Künstler ein Praktiker. Wenn Aristoteles die Grenze anders zieht, so bildet sich in der Unterscheidung Praxis/Poiesis eine soziologische und ständestaatlich orientierte Grenzziehung ab, die den Gesamtbereich der Handarbeit (Poiesis) »naturgemäß« den Sklaven und Unfreien zuweist, den Bereich der Praxis, also die Gesamtheit der akademischen Berufe, aber dem freien Bürger vorbehält. Diese Unterscheidung prägt auch heute noch unser Schulsystem. 3 Vgl. Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 2/2005, S. 514. 4 Ich zitiere i. a. nach der Ausgabe: Aristoteles: Über die Glieder der Geschöpfe.

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Anmerkungen

Die Lehrschriften, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke, Paderborn 1959. 5 Zit. nach Düring, S. 515. 6 Ich zitiere nach der Ausgabe: Aristoteles: Politik. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehene von Eugen Rolfes. Mit einer Einleitung von Günther Bien, Hamburg 4/1981. 7 Ich zitiere nach der Ausgabe: Aristoteles: Über die Seele. Mit Einleitung, Übersetzung (nach W. Theiler) und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg 1995. 8 Vgl. dazu Düring, S. 542 ff. u. S. 554 ff. 9 Grundlage für diese Annahme in den homerischen Epen ist die etymologische Nähe der Wörter phrenes und phronesis (Verstand, Klugheit, Gesinnung). Vgl. dazu den Aufsatz »Die Auffassung des Menschen bei Homer« von Bruno Snell in dessen Aufsatzsammlung: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 4/1975, S. 13–39. 10 Guido Rappe: Archaische Leiberfahrung. Der Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen, Berlin 1995, S. 69. 11 Schmitz: Leib, S. 390. 12 Ich zitiere Weber nach der Ausgabe: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. Von dem Verfasser der »Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen«, 12 in 6 Bänden, Stuttgart 8/1968, hier Bd. 1, S. 97. 13 Plessner, VII,281. 14 Ich zitiere nach der Ausgabe: Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. 15 Ich zitiere nach der Ausgabe: Aristoteles: Problemata physica. Übersetzt von Hellmut Flashar, Berlin 1962. 16 Vgl. dazu Metaphysik 982b und Rhetorik 1371b. 17 Im Kapitel XXXV,2 wird auch darauf verwiesen, daß Kitzel an den Fußsohlen Lachen auslösen kann. 18 Vgl. dazu die beiden Aufsätze von Wilhelm Süss: Das Problem des Komischen im Altertum, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, 33, 1920, S. 28–45, und von William W. Fortenbaugh: Une analyse du rire chez Aristote et Théophraste, in: Le rire en Grèce ancienne, hg. v. Marie-Laurence Desclos, Grenoble 2000, S. 333–354. 19 Vgl. dazu Albrecht Dihle: Die Griechen und die Fremden, München 1994 S. 36 ff. 20 Vgl. dazu das Nachwort von Rolf Michael Schneider: Plädoyer für eine Geschichte des Lachens, zu: Jacques Le Goff: Das Lachen im Mittelalter, Stuttgart 2004, S. 84 f. sowie Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, München 1977, Bd. II, S. 66. 21 Ich zitiere nach zwei Ausgaben: Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2005 und Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien, Hamburg 1985.

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Vgl. dazu Ion-Dialog, 533Dff. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Über das Mitgehen. Einige Anmerkungen zum Phänomen transorchestraler Einleibung, in: Leib und Gefühl. Beiträge zu Anthropologie, hg v. Michael Großheim, Berlin 1995, S. 141–152. 24 Die Ideenlehre Platons wird in der Metaphysik 1079a strikt abgelehnt. 25 Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954. 26 Vgl. dazu Staat, 585A und Gesetze, 668C. 27 Vgl. dazu Düring, S. 167 und Schmitz: Das Göttliche, S. 462 ff., sowie Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. Neubetrachtung eines umstrittenen Begriffes als Ansatz zu einer Interpretation der platonischen Kunstauffassung, Amsterdam/New York/Oxford/Tokyo 1993. Im Aristoteles-Lexikon, hg. v. Otfried Höffe, Stuttgart 2005, wird im Mimesis-Artikel Koller nicht einmal erwähnt. 28 Vgl. dazu die schematische Darstellung bei Koller: Mimesis, S. 120. 29 Vgl. dazu auch das Kapitel »Naturgeschichte der Poesie« bei Koller: Mimesis, S. 108 ff. 30 Ich zitiere nach der Ausgabe: Aristoteles: Rhetorik, übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke, München 5/ 1995. 31 Vgl. dazu Staat, 392C–394B. 32 So beschreibt z. B. Brecht in dem Aufsatz »Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater« die Besucher eines Konzerts als »völlig passive, in sich versunkene, allem Anschein nach schwer vergiftete Menschen«. Vgl. dazu: Schriften zum Theater, Frankfurt a. M., Bd. III, S. 277 f. Ähnliche Schilderungen finden sich im »Kleinen Organon für das Theater« in § 26. 33 Engel bezeichnet das Mitgehen im achten Brief seiner »Mimik« ganz aristotelisch als »nachahmende Malerei«. Vgl. J. J. Engel’s Mimik. Neu herausgegeben und eingeleitet von Theodor Mundt, Berlin 1845, S. 50. 34 Vgl. dazu Werner Jaeger: Paideia, Die Formung des griechischen Menschen, Berlin/New York 1973, S. 981 ff. 35 Vgl. Jaeger, S. 1221 ff. 36 Vgl. dazu Manfred Landfester: Geschichte der griechischen Komödie, in: Gustav Adolf Seeck (Hg.): Das griechische Drama, Darmstadt 1979, S. 354–400, sowie Frank Kolb: Polis und Theater, in: Seeck, S. 504–546. 37 Aristoteles verweist in seiner Poetik auf das komische Epos Margites von Homer, dessen Reste erahnen lassen, daß sein Held ein Einfaltspinsel und Dorfdepp ist. 38 Von den Satyrspielen ist kaum etwas erhalten, und was erhalten ist, gilt als untypisch. Vgl. dazu den Sammelband von Bernd Seidensticker (Hg.): Satyrspiel, Darmstadt 1989. 39 Theophrast: Charaktere. Griechisch/Deutsch. Übertragen und herausgegeben von Dietrich Klose. Mit einem Nachwort von Peter Steinmetz, Stuttgart 1970. 40 Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, Dresden 1988, S. 9. 23

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Anmerkungen 41

Den Traktat zitiere ich nach Jacob Bernays: Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas, Darmstadt 1968, S. 137 ff., bzw. nach Richard Janko: Aristotle on Comedy. Towards a Reconstruction of Poetics II, Worcester/London 1984, S. 92 ff. 42 Bernays hält den Verfasser, Kompilator oder Redakteur des Traktats für einen Schwachkopf und den Text selbst auf weiten Strecken für ein Machwerk. Ähnlich streng ablehnend urteilen Karl-Heinz Bareiß: Comoedia. Die Entwicklung der Komödiendiskussion von Aristoteles bis Ben Jonson, Frankfurt a. M. 1982, S. 69 ff. und Reinhold F. Glei: Aristoteles im Mönchskloster. Bemerkungen zum 2. Buch der Poetik, in: Poetica 22, 1990, S. 282–302. Janko hingegen hält den Text für genuin aristotelisch. Allerdings gründen sich diese unterschiedlichen Urteile auch auf unterschiedliche Varianten des Traktats. Vgl. dazu auch die Rezension von Jankos Buch durch William W. Fortenbaugh in: Classical Philology, 82, 1987, S. 156– 164, die mit der vielsagenden Warnung »Caveat lector!« endet. 43 Wolfgang Iser: Der implizite Leser, München 1972, S. 220. 44 Ich zitiere nach der Ausgabe: G. E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann, Stuttgart 1963. 45 Vgl. dazu auch den Band: Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel. Nebst verwandten Schriften, herausgegeben und erläutert von Robert Petsch, Leipzig 1910. Dort dehnt Lessing in einem Brief an Nicolai vom November 1756 die moralisch bessernde Wirkung auch auf die Komödie aus: »Sie soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen, und eben dadurch der wohlerzogenste und gesittetste Mensch werden. Und so ist auch die Nützlichkeit der Komödie gerettet.« (S. 54) Bekanntlich hat Lessing diese Einschätzung der Komödie später zurückgenommen. 46 Vgl. dazu den Sammelband: Die Aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert. Mit einer Einleitung herausgegeben von Matthias Luserke, Hildesheim/New York 1991. 47 Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes (1955), in: Luserke, S. 246–288; Hellmut Flashar: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik (1956), in: Luserke, S. 289–325; Max Pohlenz: Furcht und Mitleid? Ein Nachwort (1956), in: Luserke, S. 326–351. 48 Eine Ausnahme bildet das Aristoteles-Lexikon von Otfried Höffe, das im Artikel über Pathos weiterhin die tragischen Affekte mit »Furcht und Mitleid« wiedergibt (S. 435). 49 Vgl. Walter Burkert: Zum altgriechischen Mitleidbegriff, Diss. Erlangen 1955, sowie Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchungen über die Theorie der Tragödie, Frankfurt a. M. 4/1970. Außerdem verweise ich auf den Kommentar von Sieveke in seiner Ausgabe der Rhetorik, S. 245. 50 Vgl. dazu auch die Interpretation der Szene durch Pohlenz in: Luserke, S. 329 ff.

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Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Darmstadt 1988. 52 Die klassische Stelle über das harte, steinerne Herz findet sich im 82. Brief Senecas an Lucilius, wo es heißt: »Mit der Philosophie müssen wir uns umgeben (wie mit) einer uneinnehmbaren Mauer, die das Schicksal, auch wenn es sie mit vielen Belagerungsmaschinen angreift, nicht überschreitet.« Vgl. L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, hg. v. Manfred Rosenbach, Darmstadt 1987, Bd. IV, S. 187. Ich zitiere Seneca immer nach dieser Ausgabe. 53 Das Gegenstück zu einem steinernen Herzen ist der literarische Topos vom »krachenden Herz«; vgl. dazu: Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1995, S. 75 ff. 54 Flashar/Luserke, S. 289–325. Diesem Aufsatz verdanke ich besonders viele Anregungen. 55 Vgl. auch Süss, S. 45. 56 Vgl. dazu Politeia, 395C und 605D. 57 Zit. nach Prütting: Mitgehen, S. 142. 58 Engel: Mimik I,50; ähnlich I,161 f. und II,29. 59 Burckhard Garbe: Die Komposition der aristotelischen »Poetik« und der Begriff der »Katharsis« (1980), in: Luserke, S. 402–422, hier S. 416. 60 Vgl. dazu Koller, S. 112 und Engel: Mimik II,70, sowie Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958. 61 Vgl. Koller, S. 12 ff. 62 Wladimir Weidlé: Vom Sinn der Mimesis, in: Eranos-Jahrbuch 31, 1962, S. 249–271, hier S. 263. 63 Zit. nach Koller, S. 90 f. 64 So Fuhrmann im Nachwort zu seiner Ausgabe der aristotelischen Poetik: »Dichtung (…) steckt nicht an, sondern impft.« (S. 161) 65 Schmitz: Gegenstand, S. 383. 66 Ich verweise auf den pietistischen Klassiker von Johann Heinrich Reitz: Historie der Wiedergebohrnen, Berleburg 5/1724, in dem derlei exemplarische Lebensläufe dargestellt werden. 67 Vgl. dazu: Paul Leuzinger: Katharsis. Zur Vorgeschichte eines therapeutischen Mechanismus und seiner Weiterentwicklung bei J. Breuer und in S. Freuds Psychoanalyse, Opladen 1997, sowie Karlfried Gründer: Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis (1968), in: Luserke, S. 325–385, der auf die biographischen Beziehungen zwischen Bernays und Freud verweist. Bernays war ein Onkel von Freuds Frau. 68 Ein letzter Vertreter ist Max Pohlenz. 69 Vgl. dazu Goethes Aufsatz: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik (Goethes Werke Bd. 33, S. 67 ff.), auf den Schadewaldt (S. 283) mit Nachdruck verweist, um sich gegen die »Lessinge unter uns und Lessinge in uns« (S. 287) zu verwahren. Gemeint sind Brecht und die Vertreter eines politisch engagierten Theaters.

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Anmerkungen 70

Jacob Bernays: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, in: Bernays, S. 1–118. 71 Max Kommerell: Lessing und Aristoteles, Frankfurt a. M. 1940. Zu nennen wäre auch die gleichzeitig erschienene Abhandlung von Franz Dirlmeier: KATHARSIS PATHEMATON von 1940 (in: Luserke, S. 220–231). 72 Ich verweise auf: Dana F. Sutton: The Catharsis of Comedy, London 1994; Andreas Zierl: Affekte in der Tragödie, Berlin 1994; Paul Leuzinger: Katharsis, Opladen 1997; Fortunat Hoessly: Katharsis: Reinigung als Heilverfahren. Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit und zum Corpus Hippocraticum, Göttingen 1997; Daniel Hug: Katharsis. Revision eines umstrittenen Heilverfahrens, London 2004. In den thematischen Kontext dieser Werke gehört auch die Wiederauflage der berühmten Aristoteles-Monographie von Ingemar Düring von 2005, sowie die durch Hermann Schmitz neubelebte Diskussion über das weite Feld der Gefühle. 73 Zu lesen als »qataru«; vgl. Hoessly: Katharsis, S. 19. 74 Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977, S. 130. 75 Vgl. dazu die Bücher 8, 9 und 10 des »Gottesstaates« von Augustinus, sowie Schmitz: Gefühlsraum, S. 508 ff. 76 Vgl. dazu P. Adolf Rodewyk SJ: Die dämonische Besessenheit nach dem Rituale Romanum, Aschaffenburg 1963. 77 Vgl. dazu das Schema von Heinz-Günter Schmitz: Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert, Hildesheim/New York 1972, S. 95. 78 Vgl. dazu für das 16. Jahrhundert Heinz-Günter Schmitz: Physiologie des Scherzes; für das 17. Jahrhundert Maurice Reynaud: Les médecins au temps de Molière, Paris 1866; für das 18. Jahrhundert Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977 und Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser, Frankfurt a. M. 1987. 79 Vgl. dazu H.-G. Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 135 ff. und Müller: Kranke Seele, S. 109 ff. Der letzte Roman, der explizit eine derartige Heiterkeitskur beschreibt, erschien ab 1791, stammt von Moritz August von Thümmel, trägt den Titel »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich«, hat das verklärte Bild Südfrankreichs hierzulande begründet und ist höchst vergnüglich zu lesen. 80 Vgl. Koller: Mimesis, S. 92 ff. und S. 188 ff. 81 Rolfes fügt in seiner Übersetzung der »Politik« gleich als eigenen Kommentar hinzu: »die homöopathische Reinigung der Affekte« (1341b, S. 298). 82 Zit. nach Bernays, S. 7. 83 Vgl. dazu Jürgen Mittelstraß: Über Interessen, in: Methodologische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, hg. v. Jürgen Mittelstraß, Frankfurt a. M. 1975, S. 126–159. 84 Schmitz: Gegenstand, S. 157.

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Aristoteles oder Die Frage nach dem proprium hominis 85

Janko übersetzt: »It has painfull feelings (…) for its mother« bzw. »It has laughter (…) for its mother.« (S. 93) 86 Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 65. 87 Ähnlich argumentieren Glei, S. 290 f., Bernays, S. 145, Bareiß, S. 66 und 71 f., und Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie, in: das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München 1976, S. 286, sowie Heinz-Günther Nesselrath: Die attische Mittlere Komödie. Ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschichte, Berlin 1990, S. 102–144. 88 Vgl. dazu Hug, S. 62 ff., und Josef Stallmach: Ate. Zur Frage des Selbst- und Weltverständnisses des frühgriechischen Menschen, Meisenheim am Glan 1968, sowie Eric Robertson Dodds: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, S. 2 ff. 89 Vgl. dazu Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim/Wien/Zürich 1972, S. 150 ff. 90 Kamlah, S. 145. 91 Vgl. dazu die Passage aus der »Nikomachischen Ethik« 1112a und das Nachwort von Nickel, S. 239 ff. 92 Nachwort von Fuhrmann zur »Poetik«, S. 161. 93 Vgl. dazu Kamlah: Anthropologie, S. 38 f. 94 Kamlah, S. 39. 95 Vgl. Kamlah, S. 66. 96 Vgl. Kamlah, S. 49. 97 Vgl. dazu Jürg Zutt: Die innere Haltung, in: Jürg Zutt: Auf dem Weg zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–87. 98 Vgl. dazu: Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Hans Günter Zekl, 2 Bände, Hamburg 1987/1988, 243b. In der aristotelischen Physik wird jede Art von Bewegung im Sinne einer Lokomotion von Körpern aller Art auf Stoß oder Schub bzw. auf Zug oder Sog zurückgeführt. 99 So Fuhrmann im Nachwort zu seiner Übersetzung der Poetik, S. 161. 100 Daß man jemanden genauso aggressiv auch von unten auslachen kann, scheint Aristoteles nicht gesehen zu haben, wird uns aber im nächsten Kapitel ausführlich zu beschäftigen haben, weil die Kyniker diese Art zu lachen zum Prinzip erhoben haben. 101 Vgl. dazu den Tugendkatalog in der Ausgabe von Bien, S. 275 f. 102 Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Heinz Gunermann, Stuttgart 2/2005. 103 Das Neue Testament unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi. Fünf und zwanzigste nach der Vulgata revidirte und verbesserte Auflage, München 1830. 104 Franz Anton von Henle: Der Epesierbrief des hl. Apostels Paulus, Augsburg 2/ 1908, S. 253 f. 105 Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht des Alten und Neuen Te-

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Anmerkungen

staments mit den Spätschriften des Alten Testaments (Deuterokanonische Schriften/Apokryphen), Stuttgart 2/1982. 106 Hans Bruns: Das Neue Testament neu übertragen mit neuen Überschriften und Erklärungen zwischen den Versen, Giessen/Basel 1961. 107 Joachim Gnilka: Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament. Der Epheserbrief, Freiburg/Basel/Wien 1971. 108 Vgl. dazu H.-G. Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 188 ff. und S. 217 f.

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2.4 Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

2.4.1 Diogenes als Gestalt und Typ Mit dem Todesurteil über Sokrates war in der Geschichte des Denkens eine grundsätzlich neue und sehr ernste Situation eingetreten, denn Athen hatte mit der Niederlage im Peloponnesischen Krieg nicht nur seine Macht, sondern mit dieser Verurteilung des Sokrates fünf Jahre später auch seine Unschuld als politisches Gemeinwesen verloren. In der Art und Weise, wie die Philosophen nach Sokrates auf dessen Tod reagierten, lassen sich zwei extreme Positionen in der Distanzierung von der Polis als politischer Lebensform hervorheben: Platon entwarf mit seiner Politeia eine reaktionäre Utopie, die mit einem mächtigen Schub an Ernsthaftigkeit und mit expliziter Lachfeindschaft den Ernst der neuen Situation noch zu überbieten sucht. Die Kyniker wählten die innere Emigration, bestimmten sich zum Weltbürger, der überall und nirgends leben kann, und sagten sich vom Nomos der Polis los. Und weil damit Brauch und Sitte der Stadt für sie nicht mehr galten, demonstrierten sie dies durch den bewußt provokativen Lebensstil eines philosophischen Narren, mit dem sie die politische Lebensform der Polis wie in einem Zerrspiegel darstellten und damit der Lächerlichkeit preisgaben. Eine dritte, gemäßigte und auf realpolitischer Einsicht beruhende Position war die des Aristoteles, der die neue Situation als gegeben hinnahm, sich darauf einstellte und sie denkerisch zu bewältigen suchte. Allerdings ruhte dieses Narrentum der Kyniker auf Einsichten und Überzeugungen, die nicht weniger ernst gemeint waren als die Platons, denn wie für Platon war auch für die Kyniker Antisthenes, Krates und Diogenes die Polis als politische Lebensform am Ende 254 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Diogenes als Gestalt und Typ

und hatte dem monarchisch verfaßten Flächenstaat zu weichen. Für die griechischen Stadtstaaten war dies die neue aufstrebende Macht Makedonien. Deshalb gilt, was Arnold Gehlen über Antisthenes sagt, für jeden Kyniker der ersten Generation: »Sein Kynismus drückte zunächst den Überdruß eines Mannes aus, der sich aus den verwahrlosten und verkommenen Zuständen einer widerlegten, an Überanstrengung verendeten Gesellschaft als einzelner herauszuwinden sucht, dabei nach Möglichkeit Ballast abgibt und glaubt, sich als Person zu behaupten, wenn er die Fäden abschneidet, die ihn an seine alten Entschlüsse und an die gemeinsame trostlose Geschichte binden. Von dieser Bewegung des Imstichlassens ist eine gewisse Primitivisierung unabtrennbar, und gerade sie nahm dieser entschlossene Denker auch noch in sein Programm hinein.« 1

Zugleich damit schufen die Kyniker eine ganz neue Art des Philosophierens, die als Selbstdarstellung auf der Grundlage eines bestimmten Rollenfaches eine philosophische Lehre nicht mehr diskursiv und zitierfähig vorträgt, sondern performativ vorlebt und das Publikum auffordert, selbst seine Lehren aus diesen Aktionen abzuleiten. Mit dieser Haltung hat v. a. Diogenes das Rollenfach des lachenden Philosophen resp. des philosophischen Narren geschaffen, der als wandelnde Provokation auf seine Mitwelt wie ein irritierender Impfstoff einzuwirken sucht, und auf diese Weise das Erbe des Sokrates weitergeführt, allerdings in deutlich radikalisierter Form. Besonders deutlich wird dieses kynische Selbstverständnis in einer Anekdote, die sich bei Lukian findet (vielleicht aber auch von ihm erfunden worden ist) und die darstellt, wie Diogenes in Korinth, wo er einen Teil des Jahres zu verbringen pflegte, auf die anstehende Belagerung der Stadt durch das makedonische Heer reagiert: »Es hieß, Philipp rücke heran. Da gerieten die Korinther allesamt in Schrecken und machten sich an die Arbeit: Der eine setzte seine Waffen instand, ein anderer schleppte Steine, ein dritter besserte die Mauern aus, wieder ein anderer stützte die Brustwehr ab; jeder nahm eine sinnvolle Arbeit auf sich. Diogenes sah das (er hatte ja nichts zu tun; niemand brauchte ihn für irgendwas), gürtete seine schäbige Kutte und rollte mit großem Eifer das Fass, das er bewohnte, im Kraneion auf und nieder. Ein guter Bekannter fragte ihn: ›Aber Diogenes, wozu tust

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du das?‹ Er antwortete: ›Ich? Ich wälze mein Fass, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich sei unter so vielen Tätigen der einzige Nichtstuer!‹« 2

Von dieser Anekdote läßt sich, wie mir scheint, die philosophische Methode des Diogenes schön ablesen: Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß nicht nur die Polis generell als politische Lebensform überholt sei, sondern daß auch Korinth sich nicht gegen das makedonische Heer werde behaupten können. Eine Möglichkeit, auf diese Einsicht zu reagieren, hätte ein flammender Aufruf zum Kampf bis zum letzten Mann, also zum tragisch-heroischen Untergang sein können. Diese Möglichkeit schied für Diogenes aus, weil das von ihm gewählte Rollenfach des philosophischen Narren ins komische Fach fällt. Eine andere Möglichkeit wäre ein genauso flammender Aufruf gewesen, zum Wohle der Stadt den aussichtslosen Kampf zu vermeiden und gleich zu kapitulieren. Aber auch diese Möglichkeit schied für Diogenes aus, da er sich als Weltbürger verstand, der überall leben kann, und ihm deshalb das Geschick Korinths herzlich gleichgültig sein konnte, denn das Prinzip der Selbstbehauptung galt für ihn nur im Hinblick auf seine eigene Person, nicht im Hinblick auf ein Gemeinwesen3, zu dem er gehörte. Eine dritte Möglichkeit hätte darin bestehen können, die korinthischen Anstrengungen zur politisch-militärischen Selbstbehauptung direkt lächerlich zu machen, aber das hätte ihn wohl den Kopf gekostet und er hätte das Los des Sokrates geteilt. Deshalb wählte er die vierte Möglichkeit, und diese bestand darin, auf absurde und groteske Weise die fieberhaften Anstrengungen der Korinther parodistisch zu überbieten, damit diese selbst zur Erkenntnis gelangen könnten, wie aussichtslos ihre Anstrengungen seien, sich gegen die neue Großmacht Makedonien behaupten zu wollen. Das didaktische Prinzip des Diogenes bestand also darin, durch scheinbar lächerliche eigene Verrichtungen die Lächerlichkeit fremder Handlungen erkennbar werden zu lassen. Oder anders formuliert: Diogenes legte es darauf an, wegen seiner vermeintlichen Narrheiten ausgelacht zu werden, um dann dieses fremde Auslachen-von-oben in offensiver Selbstbehauptung durch eigenes Auslachen-von-unten zu kontern und sich selbst wieder über die fremden Lacher 4 zu erheben. Deshalb konnte er auch den Vorwurf, 256 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Diogenes als Gestalt und Typ

er werde doch wegen seines närrischen Verhaltens von so vielen Leuten ausgelacht, auch mit dem klassischen Satz kontern: »Aber ich werde nicht niedergelacht!« 5, weil sich in diesem Trotzlachen die Rollen von Lach-Opfer und Lach-Täter schlagartig verkehren. Das Trotzlachen des Diogenes ist so gesehen also die Fortführung der sokratischen Ironie, aber in verschärfter, bissigerer Form, und deshalb spricht Niehues-Pröbsting mit Recht von der »Überbietung des Sokrates« 6 durch Diogenes. Dieses Anlachen-von-unten gegen Autoritäten aller Art, wie es die Kyniker praktizierten, darf jedoch nicht verwechselt werden mit der Lach-Praxis, auf der die antiken saturnalischen Feste beruhten, in denen eine »verkehrte Welt« zelebriert wurde, denn diese Feste waren trotz aller Narretei rituell streng festgelegt und dienten letztlich der Stabilisierung 7 der Ordnung, die die Kyniker als überlebt verhöhnten. Von Lukian stammt auch die Szene »Der Verkauf der Philosophischen Secten«, in der Jupiter Vertreter verschiedener philosophischer Schulen auf einem Markt anbietet und diese Philosophen sich selbst charakterisieren läßt, und dort preist Diogenes sich und seine Lehre einem Interessenten mit folgenden Worten an: »Du mußt frech und trotzig seyn, und einem jeden ohne Ausnahme, vom Fürsten bis zum gemeinsten Manne, Grobheiten ins Gesicht sagen. (…) Deine Sprache muß etwas fremdes und der Ton deiner Stimme etwas knurriges und hündisches haben; (…) mit Einem Worte, alles wild und thierisch. Aller Schaam, Anständigkeit und Bescheidenheit mußt du auf immer den Abschied geben, und keinen Begriff davon haben, wie man über etwas erröthen kann. Du erscheinst überall wo die meisten Menschen beysammen sind, aber thust immer als ob du mitten unter ihnen allein seyest, und erkennest niemand, weder einheimischen noch fremden, für deinen Freund; denn dieß würde deiner königlichen Unabhängigkeit auf einmal ein Ende machen.« 8

Das heißt doch wohl, daß der Kyniker Diogenes durch gezielte und demonstrative Kultivierung des Unverschämten und Schamlosen Situationen zu provozieren suchte, in denen er ein an ihn gerichtetes Scham-Ansinnen durch Trotzlachen abschmettern und durch ein kynisches, also hündisch-bissiges Auslachen-von-unten kontern und entwerten konnte. Das schon von Platon beschriebene aggres257 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

sive Auslachen ist also nach wie vor das vorherrschende Lachen auch bei Diogenes und den anderen Kynikern, nur der Ort und die Richtung haben sich verändert: Es ist nicht mehr das spöttischhöhnisch-hämische Auslachen-von-oben, sondern das genauso spöttisch-höhnisch-hämische und darüberhinaus auch noch trotzige Auslachen-von-unten, das im Vollzug jedoch in ein Auslachenvon-oben umschlägt, wenn der Kyniker sich lachend über Autoritäten aller Art erhebt. In diesem Umschlagen der Lach-Richtung spiegelt sich die allgemeine Entwertung und Umwertung der Werte wider, die sich mit dem Ende der Polis als politisch-moralischer Lebensform ereignete. Deshalb tauchen die Kyniker als Typ und das Trotzlachen als Programm in der Geschichte des Lachens immer dann auf, wenn sich gesellschaftliche, politische und moralische Umwertungsprozesse von vergleichbarer Tragweite ereigneten, also z. B. in der Renaissance bei Rabelais oder Erasmus, im 18. Jahrhundert bei Rousseau, Diderot und Wieland, oder im 19. Jahrhundert bei Stirner und Nietzsche.9 Allerdings schillert das Bild des Diogenes in all diesen Fällen auf eine seltsame Weise, sodaß man größte Schwierigkeiten hat, die Umrisse seiner Gestalt genauer zu bestimmen, weil unser Wissen über ihn meist durch Anekdoten überliefert ist, bei denen man nie mit Sicherheit entscheiden kann, ob sie echte historische Berichte oder »im Sinne der Gestalt« frei erfunden sind. Und so wie die Anekdote »eine Art Wechselbalg aus Historie und Literatur« 10 ist, so ist auch die Diogenes-Gestalt eine Art Wechselbalg aus Literatur und Historie. Das ist aber auch nicht weiter verwunderlich bei einem Philosophen, der seine Lehre nicht diskursiv darlegte, sondern performativ darlebte und es damit geradezu auf die Entstehung von Anekdoten anlegte und zur Erfindung weiterer Anekdoten »im Sinne des Meisters« einlud, aus denen seine Lehre abstrahiert werden konnte. Auf diese Weise hat sich im Laufe der Zeit schon in der Antike die literarisierte Gestalt des Diogenes über die historische Gestalt gestülpt und aus der Person Diogenes ist der Typ Diogenes als der Kyniker mit dem bissigen Lachen geworden. Noch komplizierter wurde dieses Rollenfach dadurch, daß es mit dem Bild des Demo258 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Demokrit als Gestalt

krit, einer ebenfalls literarisierten Gestalt, zum Typ des lachenden Philosophen verschmolz, der dann aber nicht mehr »Diogenes« hieß, sondern »Demokrit«. 2.4.2 Demokrit als Gestalt In seiner umfangreichen Abhandlung über Rhetorik De oratore 11, die als gelehrte Unterhaltung zwischen rhetorischen Fachleuten konzipiert ist, läßt Cicero, als die Frage ansteht, in welcher Art und Weise auch das Lachen rhetorisch instrumentalisiert werden könne, einen dieser Fachleute auf Demokrit verweisen, weil dieser ein berühmtes Buch über das Lachen geschrieben haben soll: »Was das Lachen betrifft, so gibt es fünf Fragen, die zu untersuchen sind: Einmal, was es sei; zum andern, woher es kommt, drittens, ob der Redner den Wunsch haben soll, Heiterkeit (risum) zu erregen; viertens, wie weit er gehen soll; fünftens, welche Arten des Lächerlichen (genera ridiculi) es gibt. Was dabei die erste Frage angeht, was das Lachen an und für sich ist, wie es erregt wird, wo es sitzt, wie es entsteht und so plötzlich hervorbricht (erumpat), daß wir, auch wenn wir den Wunsch haben, nicht an uns halten können, und wie es zugleich den Körper, den Mund, die Adern, die Augen, die Miene ergreift, so mag Demokrit sich darum kümmern. Denn diese Frage hat nichts mit unserem Gespräch zu tun, und wenn sie etwas mit ihm zu tun hätte, würde ich mich trotzdem nicht schämen, etwas nicht zu wissen, was nicht einmal die wissen, die es erwarten lassen.« (S. 359)

Dann folgen einige Bemerkungen über das Komische als einer nicht-häßlichen Häßlichkeit (turpitudo non turpiter), die sich auf die uns schon bekannte aristotelische Definition des Komischen stützen, und dann wendet sich das Gespräch der Frage zu, mit welchen rhetorischen Techniken man Pointen aller Art erzeugen könne, was wiederum hier nicht interessiert. Aus dieser Passage geht zwar hervor, daß Cicero davon gewußt haben muß, daß Demokrit von Abdera ein Buch über das Lachen geschrieben hat; es wird aber nicht deutlich, ob Cicero es je gelesen hat. Ich vermute, daß es zur Zeit des Cicero, also im ersten Jahr259 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

hundert der christliche Zeitrechnung schon verschollen war und Cicero es nur vom Hörensagen gekannt hat. Auch Diogenes Laertius nennt nur den Titel Von der Seelenheiterkeit (IX,46), und aus anderen Quellen kennen wir auch nur einige Zeilen aus diesem Werk, sodaß wir letztlich nicht wirklich genau wissen, was Demokrit in diesem Buch über die Euthymie zum Thema Lachen geschrieben hat und was er unter Euthymie verstanden haben mag. Die einzige längere Passage, die sich erhalten hat, lautet, soweit sie sich auf unser Thema bezieht: »Wohlgemutheit (euthymie) erlangen die Menschen durch Maßhalten in der Lust (terpsis) und Harmonie ihres Lebens (symmetrie). Mangel und Überfluß pflegen umzuschlagen und große Erschütterungen in der Seele zu verursachen. Die Seelen aber, die infolge schroffer Gegensätze erschüttert werden, sind weder fest gegründet noch wohlgemut (euthymoi). Man muß daher seinen Sinn auf das Erreichbare richten und sich mit dem Vorhandenen genügen lassen, dagegen sich um die vielbeneideten und bewunderten Menschen wenig kümmern und sich mit ihnen in Gedanken wenig beschäftigen. (…) Daher soll man dem einen nicht nachjagen und mit dem andern zufrieden sein, indem man sein Leben mit dem derer vergleicht, denen es weit schlechter geht. (…) Wenn man auf diesem Standpunkt beharrt, wird man wohlgemuter leben und nicht wenige Dämonen aus seiner Seele verjagen: Neid (phthonos), Eifersucht (zelos) und Haß (dysmeneia).« 12

Falls diese Passage für das ganze Werk Demokrits charakteristisch sein sollte, haben wir es hier mit einer typisch eudämonistischen Ethik zu tun, wie wir sie auch von Aristoteles kennen, die dazu rät, alle nicht-uroborischen perennierenden Affekte wie Neid, Groll, Mißgunst, Ehrgeiz u. ä. zu meiden, also alles, was an uns selbst endlos nagen könnte. Ziel dieser Ethik ist der Zustand, mit sich selbst im reinen zu sein und entspannt und gelassen in sich selbst ruhen zu können. Das Ideal des Demokrit ist also nicht ein völlig affektfreier Zustand wie bei Platon oder später bei den Stoikern, sondern die affektive Mittellage der metriopatheia, die wir ebenfalls schon bei Aristoteles kennen gelernt haben, denn nur in dieser affektiven Mittellage ist es laut Demokrit und Aristoteles möglich, sich nicht suchtartig nach etwas zu verzehren oder sich in etwas zu verbeißen, das man rückhaltlos-gierig begehrt. 260 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Demokrit als Gestalt

Hier stellt sich nun die Frage: Welchen Ort könnte in einer so beschaffenen Ethik das Lachen eingenommen haben? Ist die demokritische Euthymie als entspannte, gelöste Heiterkeit das Fundament, auf dem jedes Lachen je nach Situation ruhen könnte oder ruhen sollte? Wenn ja, dann wäre dieses demokritische Lachen das heitere, nicht aggressive Lachen, das auch schon Aristoteles gepriesen hat, das er vielleicht sogar aus dem Werk Demokrits überhaupt erst kennen und schätzen gelernt haben mag. Dafür könnte die von Demokrit gewählte Bezeichnung »Euthymie« sprechen, denn für die Griechen war der thymos, die Gegend des Herzens, der Ort der spontanen gefühlsträchtigen Eingebungen von überwältigendem Charakter 13, wozu man eben auch das Lachen zählen könnte. Wilhelm Nestle übersetzt in seiner Sammlung von Texten der Vorsokratiker euthymia mit »Gemütsruhe« und kennzeichnet diese näher als »Zustand vollkommenen inneren Gleichgewichts« und als »die Stille des in sich gesammelten Gemüts, die dem von keinem Wind erregten, in ruhiger, sonniger Klarheit daliegenden Meeresspiegel gleicht.« 14

Mit all dem ist leider immer noch keine einzige der Fragen beantwortet, die Cicero an die Demokrits Abhandlung über das Lachen gestellt hatte, denn wir wissen nach all dem nur, welches Lachen das demokritische Lachen nicht gewesen sein kann: das aggressive spöttisch-höhnisch-hämische Auslachen-von-oben, auf das wir schon des öfteren gestoßen sind, denn es gibt noch einige andere Passagen aus Demokrits Werk, in denen diese Art von schadenfrohem Gelächter ohne jede Beimischung von eleos sogar explizit verurteilt wird, und auch damit rückt Demokrit wieder in große Nähe zu Aristoteles, denn dort heißt es: »Man sollte nicht über das Unglück anderer Menschen lachen, sondern Mitleid haben.« 15 »Wem das Unglück des Nachbarn Freude macht, der begreift nicht, daß die Schläge des Schicksals jeden treffen können; er hat auch keine Freude am eigenen Leben.« 16

Aus diesem Grund kann man Nestle nur zustimmen, wenn er schreibt: »So wenig als die Seelenruhe (ataraxia) Epikurs, kann das ›Nil admirari‹ 17 des Horaz (Epist. I,6,1 ff.) trotz seiner leicht stoischen Fär-

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bung seinen demokritischen Ursprung verleugnen. Dagegen lag dem Abderiten nichts ferner als die hochmütige und blasierte Weltverachtung des ›lachenden Philosophen‹, zu dem ihn das Mißverständnis späterer Generationen als Gegenbild zu dem ebenso mißverstandenen ›weinenden‹ Heraklit karikiert hat.« (S. 66)

2.4.3 Demokrit als Typ Da Demokrits Abhandlung über das Lachen offensichtlich schon früh verloren gegangen sein muß und nur noch als Gerücht existiert zu haben scheint, war es möglich, daß die Gestalt des Demokrit einem Prozeß der Literarisierung unterworfen wurde, der sich in zwei Schüben vollzog. Im ersten Schub wurde er die lachende Kontrastgestalt zum weinenden Heraklit, der damit einem analogen Literarisierungsprozeß unterzogen wurde; in einem zweiten Schub verschmolz er dann weitgehend mit dem Kyniker Diogenes zum Typ des »lachenden Philosophen«, der ganz unabhängig von seinem Gegenspieler Heraklit zu einem philosophischen Narren stilisiert wurde, und der, genau wie der historische Diogenes, seine Lehre nicht in Abhandlungen diskursiv darlegte, sondern als Lebenspraxis vorlebte und als Modell für weitere philosophische Narren diente, deren es in der europäischen Literatur 18 viele gibt, und deren Kennzeichen das rotzfreche Anlachen gegen Autoritäten aller Art ist. Der historische Demokrit stammte aus Abdera in Nordgriechenland, war viel gereist und trieb nach seiner Rückkehr nach Abdera naturwissenschaftliche Forschungen aller Art, die den Abderiten offensichtlich derart seltsam vorkamen, daß sie an Demokrits Verstand zweifelten und Hippokrates, den berühmtesten Arzt seiner Zeit, kommen ließen, um Demokrit für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Da diese tiefe Kluft zwischen einem Intellektuellen und den Dumpfbolden einer Provinzstadt offenbar schon in der Antike als archetypisch empfunden wurde 19 und außerdem als grotesk-komisches Gegenstück zum Prozeß der Athener gegen Sokrates verstanden werden konnte, setzte alsbald eine literarische Gestaltung dieser Provinzposse ein, hinter der die tatsächlichen historischen Begebenheiten verschwanden. Und sie verschwanden 262 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Demokrit als Typ

deshalb so rasch, weil der literarische Text, in dem ein anonymer Autor diese Provinzposse aus Abdera gestaltete, nicht offen als fiktionaler Text auftrat, sondern unter der Maske medizinischer Abhandlungen und unter dem Namen des Hippokrates. Formal gesehen ist es ein Roman in Briefen 20, dessen Handlung Rütten folgendermaßen wiedergibt: »Die Bürger von Abdera schicken nach dem berühmten Arzt von der Insel Kos, weil sie ihren prominenten Mitbürger Demokrit für verrückt halten und für diese Einschätzung manche Auffälligkeit anführen, an erster Stelle ein unstillbares Lachen. Hippokrates folgt ihrem Ruf nach einem ärztlichen Konsil, sucht seinen vermeintlichen Patienten auf und spricht ihn nach langer Unterredung, in der er das Lachen als reflektierten Ausdruck einer philosophischen Haltung gegenüber der Eitelkeit und Torheit der Menschen kennenlernt, schließlich gesund. Die Abderiten dagegen nennt er krank, da sie die Weisheit ihres Ehrenbürgers für Wahnsinn hielten. Der angeblich Verrückte erweist sich im Gegenteil als Experte in Sachen Geisteskrankheit, die er erforscht und über die er eine Abhandlung verfaßt.« (S. 4)

Schon in dieser kurzen Zusammenfassung ist der Trend dieser Literarisierung und der Wandel der historischen Gestalt Demokrit zu einem Typ deutlich erkennbar: Aus einer facettenreichen Gestalt wird eine Charaktercharge, die auf einen bestimmten und maßlos übertriebenen Charakterzug reduziert wird, auf das notorische »unstillbare Lachen«, das stereotyp und wahllos in jeder Situation und jedem gegenüber angeschlagen wird. Diese Tendenz zur holzschnittartigen Charakterisierung und die Ansiedlung der Brieffolge im holden Ungefähr zwischen realer Geschichte und Fiktionalität war der Rezeption und der Wirkung dieses Textes sicher sehr förderlich, weil all dies zum Weiterdichten und zum Erfinden immer neuer Anekdoten einlud, die man diesem Demokrit unterschieben konnte. Und daß Demokrit tatsächlich eine Abhandlung über das Lachen geschrieben hat, diese aber nur noch vom Hörensagen bekannt war, konnte diesem Literarisierungsprozeß auch wieder nur förderlich sein, denn auch dieser Zug lud zum Weiterdichten ein. Allerdings ist das Lachen, das der Demokrit des fiktiven Briefwechsels anschlägt, durchaus kein euthymistisches Lachen, wie 263 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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man es vielleicht vom wirklichen, historischen Demokrit hätte erwarten können, sondern das bitterböse höhnische Lachen des Menschenhasses, denn im 17. Brief, dem wichtigsten des ganzen Briefwechsels, schreibt Hippokrates an Damagetos von Rhodos über eine Unterhaltung mit Demokrit, in deren Verlauf dieser, nachdem er erst ausführlich die Narretei der Menschen geschildert hatte, fortfährt: »Siehst du nicht, daß auch der ganze Kosmos erfüllt ist von Menschenhaß? Unendliche Leiden haben sich gegen sie angesammelt. Der ganze Mensch ist von Geburt an eine Krankheit: als kleines Kind ist er unnütz, der Hilfe bedürftig; heranwachsend ist er frech, unvernünftig in der Hand der Erziehung; in der Vollkraft tollkühn; als Alternder bedauernswert, weil er die eigenen Beschwerden durch Unbedachtsamkeit großgezogen hat; aus unreinem Mutterblut ist er entsprungen. Deshalb sind die einen leidenschaftlich und strotzen von maßlosem Zorn, andere stecken in Mißgeschick und Kampf, andere in Schändung und Ehebruch fort und fort, andere in Trunksucht, andere in Begierde nach fremdem Gute, andere in der Zerstörung des eigenen Besitzes. (…) Wenn wir nun die unwürdigen und jämmerlichen Bemühungen sehen und in solchem Umfange, wie sollten wir nicht darüber spotten, daß ihr Leben solche Maßlosigkeit in sich hat?« 21

Was der literarische Demokrit hier vom Stapel läßt, ist ein einziger Ausbruch von Haß und Verachtung, und sein notorisches Gelächter über seine Mitmenschen ist nichts anderes als die Lachkotze des Misanthropen. Diese Eindüsterung des Demokrit-Bildes durch den fiktiven Briefwechsel erklärt nun auch, warum die folgenreichste Weiterdichtung darin bestand, diesen notorisch lachenden Demokrit durch die Kontrastfigur des notorisch weinenden Heraklit zu ergänzen, die von Cicero und v. a. von Seneca 22 vorgenommen wurde. So fordert Seneca 23 in seiner Abhandlung Über den Zorn vom stoischen Weisen eine fundamentale Gelassenheit in allen Lebenslagen ein und kontrastiert dieses Ideal der Ataraxie, die das, was nun mal nicht zu ändern ist, gelassen hinnimmt, mit den literarisch tradierten beiden Typen des notorisch lachenden Demokrit und des notorisch weinenden Heraklit, die ganz anders als ein stoischer Weiser reagieren: 264 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Demokrit als Typ

»Was hebt auf den Zorn des Weisen? Die Menge der Fehlenden: er sieht ein, wie unbillig es ist und gefährlich, zu zürnen einem allgemein verbreiteten Fehler. Heraklit – sooft er ausgegangen war und soviel Menschen rings um sich elend leben, vielmehr elend zugrunde gehen gesehen hatte, weinte er, empfand er Mitleid mit allen, die ihm fröhlich und glücklich begegneten, in seiner milden, aber allzu schwachen Gesinnung: auch er selbst gehörte zu den Beklagenswerten. Demokrit dagegen soll sich niemals ohne Lachen in der Öffentlichkeit gezeigt haben; so sehr schien nichts ihm ernsthaft von dem, was ernsthaft betrieben wurde. Ist da für Zorn ein Ort, wo entweder lächerlich alles ist oder beweinenswert?« (I,167)

Obwohl also keiner von beiden das Ideal des stoischen Weisen erreicht, stellt Seneca den lachenden Demokrit doch deutlich über den weinenden und deshalb »beklagenswerten« Heraklit, offenbar deshalb, weil Weinen immer ein bestimmtes Maß an Selbstpreisgabe verrät, jede Art von Gelächter aber ein Mindestmaß an Selbstbehauptung, und das Anlachen des Einzelnen gegen die Mehrheit der Mitbürger sogar ein besonders hohes Maß an Selbstbehauptung. Seneca stellt Demokrit aber auch deshalb mit Recht über Heraklit, weil dieses demokritische Trotzlachen ein verfügbares, jederzeit abrufbares Lachen ist, das dem platonisch-stoischen Ideal, jederzeit Herr im eigenen Haus zu sein und voll über sich selbst verfügen zu können, nicht völlig widerspricht. Deshalb heißt es auch in Senecas Abhandlung Über die Seelenruhe, daß jemand, der das Lachen nicht zurückhalten kann, eine höhere Gesinnung zeige als der, der sich vom Weinen übermannen läßt: »In dieser Situation müssen wir uns so verhalten, daß wir alle Fehler der Masse nicht als uns verhaßt, sondern als lächerlich ansehen, und wir Demokrit eher nachahmen als Heraklit: dieser nämlich, sooft er sich in die Öffentlichkeit begab, weinte, jener lachte; diesem schien alles, was wir tun, als Unglück, jenem als Dummheit.« (II,163)

Das wirkliche stoische Ideal wird damit aber nicht ganz erfüllt, denn Seneca fährt fort: »Aber besser ist es, die allgemeine Sittlichkeit und die Schwächen der Menschen friedlich 24 hinzunehmen und dabei weder in Lachen noch

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Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

in Weinen auszubrechen; denn von fremdem Unglück sich quälen zu lassen, ist endloses Elend, an fremdem Unglück seine Freude zu haben, unmenschliches Vergnügen.« (II,163)

Dieses »unmenschliche Vergnügen« hatte schon der historische Demokrit verurteilt 25, ganz im Gegensatz zum fiktiven Demokrit des Briefwechsels. Daß Seneca aber genau dieses Gelächter, das allenfalls zum historischen Diogenes gepaßt hätte, als demokritisch ausgibt, deutet darauf hin, daß Diogenes und Demokrit zur Zeit Senecas schon zum Typ des lachenden Philosophen verschmolzen waren, der von Demokrit den Namen und von Diogenes das Verhalten 26 und damit auch das spezifische Lachen geerbt hatte. Deshalb spricht Rütten auch mit Recht vom »Wandel des ›euthymistischen‹ Lachens in das gröbere, schneidende und spöttische Lachen des Demokrit« 27. Und er fährt fort: »Nicht zufällig wird Diogenes spoudogeloios (der mit ernstem Hintergrund Lachende) genannt, und es liegt nahe, daß sein Lachen auch das des gelasinos (lachenden) Demokrit im Kontrast zum weinenden Heraklit definiert hat.« (S. 40 f.)

Aber, so muß man fragen, wie ernst ist dieser Hintergrund eigentlich, und worin zeigt er sich am deutlichsten? 2.4.4 Philosophisches Narrentum als Rollenfach In einem Dialog zwischen einem gewissen Lycinus und einem namenlosen Kyniker, der offenbar deshalb keinen Namen hat, damit er als der Typ des Kynikers schlechthin erscheinen kann, läßt Lukian von Samosata diesen Lycinus fragen: »Hör’ einmal Du, was mag wohl die Ursache seyn, warum du Haar und Bart wachsen lässest, hingegen kein Hemde trägst, und mit deinem groben Kaputrock auf dem bloßen Leibe baarfuß einhergehst, in deiner ganzen Lebensweise das Gegentheil von allen anderen Leuten bist, kurz, das Leben eines Wald-Thiers lebst, von einem Orte zum andern herumschweifest und dein Nachtlager auf dem harten Boden nimmst? – Daher denn auch dein Kittel so schmutzig aussieht, ausserdem daß er weder leicht noch weich noch fein ist, und allem Ansehn nach nie keine Farbe gehabt hat.« (S. 366)

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Philosophisches Narrentum als Rollenfach

Die Antwort des Kynikers lautet ganz lapidar: »Das braucht es auch nicht!« (S. 367) Und dann stellt er in kurzen Worten die zentralen Thesen der kynischen Lehre dar und begründet seine Aufmachung damit, daß zum Rollenfach des »philosophischen Naturmenschen«28 eben eine bestimmte Art von Maske und Kostüm unabdingbar nötig sei, damit schon an Maske und Kostüm das kynische Ideal der Autarkie, also der Unabhängigkeit und Genügsamkeit 29 abgelesen werden kann. »Möge ich nie ein anderes Lager, als was ich überall auf der bloßen Erde finde, verlangen, und mit jeder Kost, die ich unter meinen Händen oder Füßen finde, zufrieden seyn! Gold und Silber aber möge weder ich noch jemand den ich liebe jemals unter unsre Bedürfnisse zählen! Denn alles Elend das die Menschheit drückt, Empörungen, Krieg, Untreue, Verschwörungen und Meuchelmord entspringen aus der Begierde nach diesem unseligen Metall und dem Durst immer mehr zu haben. Ferne sey diese Krankheit der Seele von mir! Nie möge ich mehr als ich habe begehren, und immer gefaßt darauf seyn noch weniger zu haben! Hier hast du mit wenigen Worten meine Art zu denken und zu leben. Was Wunder also, wenn ich mich auch in meinem Äusserlichen von denen unterscheide, denen ich in Grundsätzen so unähnlich bin? Übrigens begreife ich nicht, wie einer, der es schicklich finden kann, daß ein Sänger, ein Flötenspieler, ein Komödiant seinen besonderen Habit habe, nicht auch dem Manne, der Profession davon macht ein wahrer und guter Mensch zu seyn, etwas eigenes in seinem Äusserlichen erlauben will, sondern darauf besteht, er müsse schlechterdings aussehen wie die Meisten.« (S. 377 f.)

Lukians Kyniker beschreibt also Elemente des Rollenfachs »philosophischer Narr«, das vom Kyniker mit aller Sorgfalt inszeniert wird, und zu der als zentrales Element der Rolle auch das Verlachen all dessen gehört, was im Sinne der Kyniker als überflüssiger Luxus zu gelten hat, also alles, was über die notdürftige Befriedigung der elementaren animalischen Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen etc. hinausgeht. Dazu Schopenhauer über die Kyniker: »Unabhängigkeit, im weitesten Sinn, war ihre Absicht. Ihre Zeit brachten sie zu mit Ruhen, Umhergehen, Reden mit allen Menschen, viel Spotten, Lachen und Scherzen: ihr Charakter war Sorglosigkeit und große Heiterkeit.« 30

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Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

Wenn Lachen aber, in welcher Form auch immer, zum zentralen Element einer Rolle wird, dann hat dies weitreichende Konsequenzen für das Rollenfach des philosophischen Narren, weil der uroborische Impuls, der das Lachen allgemein prägt, auch auf das Rollenfach selbst durchschlägt und dieses überformt, sodaß letztlich jeder philosophische Narr, der diese fröhliche Wissenschaft praktiziert, Nietzsches Gedicht Ecce homo auch auf sich selbst beziehen und von sich selbst sagen kann oder sagen muß: Ja! Ich weiß, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr ich mich. Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich. (II,32)

Mit Nietzsches Gedicht wäre die oben gestellte Frage eigentlich schon beantwortet, und diese Antwort lautet: Der durchaus ernste Hintergrund dieses kynisch-zynischen Lachens liegt in der uroborischen Struktur des Rollenfaches »philosophischer Narr«, denn weil der sich selbst verzehrende Uroboros nach dem Prinzip consumendo consumor immer zugleich Täter und Opfer, genauer: eigener Täter und eigenes Opfer ist, wenn er sich selbst verzehrt, erinnert die Rolle des philosophischen Narren zwar auf den ersten Blick an die des Possenreißers, gehört aber letztlich doch ins tragische Fach, weil dieser »Eigner seiner selbst« (Stirner), wenn er sich uroborisch selbst verzehrt, irgendwann zum Selbstquäler, Selbsthenker und Selbstvernichter wird, denn das bissige Lachen, mit dem er seine Umgebung verlacht, beißt irgendwann auch auf ihn selbst ein, reißt ihn in Stücke und frißt ihn förmlich auf: Consumendo consumor. So gesehen entpuppt sich das kynische Lachen doch irgendwann als ein zynisches und damit als ein Lachen weit jenseits des Heiteren, und so kann es auch nicht überraschen, daß Charles Baudelaire, der ein sehr typischer Selbstquäler und Selbsthenker 31 war, in seinem Aufsatz über das Wesen des Lachens schreibt: »Das Wesen, das im Menschen sein Ebenbild schaffen wollte, hat ihm zwar nicht das Gebiß des Löwen verliehen, aber trotzdem ist es so, daß der Mensch mit seinem Lachen beißt (l’homme mord avec son rire).« 32

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Philosophisches Narrentum als Rollenfach

Bei Max Stirner 33, dem radikalsten und konsequentesten der modernen Nachfolger des Diogenes, erscheint das kynische Ideal der Autarkie unter dem Begriff »Eigentum des Eigners«, und der uroborische Consumor-Topos wird bei ihm zum zentralen Argument, wenn es darum geht, die Konsequenzen von Stirners Maxime »Verwerte Dich!« (S. 353) im Kapitel »Mein Selbstgenuß« aufzuzeigen: »Wie aber nutzt man das Leben? Indem man’s verbraucht, gleich dem Licht, das man nutzt, indem man’s verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendigen, indem man es und sich selbst verzehrt. Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens.« 34

Denn: »Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das Leben erwerben, sondern wie man’s vertun, genießen könne, oder nicht wie man das wahre Ich in sich herzustellen, sondern wie man sich aufzulösen, sich auszuleben habe.« (S. 359) »Ich Meinesteils gehe von einer Voraussetzung aus, indem Ich Mich voraussetze; aber meine Voraussetzung ringt nicht nach ihrer Vollendung, wie der ›nach seiner Vollendung ringende Mensch‹, sondern dient Mir nur dazu, sie zu genießen und zu verzehren. Ich zehre gerade an meiner Voraussetzung allein und bin nur, indem Ich sie verzehre. (…) Daß Ich mich verzehre, heißt nur, daß Ich bin. Ich setze Mich nicht voraus, weil Ich Mich überhaupt jeden Augenblick erst setze oder schaffe, und nur dadurch Ich bin, daß Ich nicht vorausgesetzt, sondern gesetzt bin, und wiederum nur in dem Moment gesetzt, wo Ich Mich setze, d. h. Ich bin Schöpfer und Geschöpf in Einem.« (S. 167)

Mit diesen Sätzen spielt Stirner auf Nikolaus Lenaus Gedicht Die drei Zigeuner 35 an, in dem der Autor die drei Zigeuner durch Aufmachung und Verhalten deutlich als moderne Kyniker in der Rolle philosophischer Narren charakterisiert, da Stirner in Lenaus drei Zigeunern genau den uroborischen Selbstverzehr als entschlossenen, aber heiteren und gelassenen Genuß des je aktuellen Augenblicks exemplarisch illustriert sah: Drei Zigeuner fand ich einmal Liegen an einer Weide, Als mein Fuhrwerk mit müder Qual Schlich durch die sandige Heide.

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Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

Hielt der eine für sich allein In den Händen die Fiedel, Spielte, umglüht vom Abendschein, Sich ein feuriges Liedel. Hielt der zweite die Pfeif im Mund, Blickte nach ihrem Rauche, Froh, als ob er vom Erdenrund Nichts zum Glücke mehr brauche. Und der dritte behaglich schlief, Und sein Zimbal am Baum hing, Über die Saiten ein Windhauch lief, Über sein Herze ein Traum ging. An den Kleidern trugen die drei Löcher und bunte Flicken, Aber sie boten trotzig frei Spott den Erdengeschicken. Dreifach haben sie mir gezeigt, Wenn das Leben uns nachtet, Wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt Und es dreimal verachtet. Nach den Zigeunern lange noch schaun Mußt ich im Weiterfahren, Nach den Gesichtern dunkelbraun, Den schwarzlockigen Haaren.

Wer aber das Leben verraucht, verschläft, vergeigt, verachtet und verlacht und somit verbraucht, verschwendet, verströmt und verzehrt und sich dabei in dieser Rolle auslebt, ohne sich jedoch aufzulösen und sich selbst zu verlieren, könnte mit Fischarts Eulenspiegel auch fortfahren: »Derowegen sey der Ungmut und Ungfall zu offtermalen zuverlachen, zuverachten, zu versingen, verspringen, verdantzen, vertrincken, verpfeiffen, verspielen, und auff andere weg zu verkurtzweilen.« 36

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Grenzen der Selbstbehauptung

2.4.5 Grenzen der Selbstbehauptung Wird das Rollenfach des philosophischen Narren aber ohne Gelassenheit und ohne die genügende Distanz zur Rolle ausagiert, wird also aus dem bissigen Verlachen der Welt ein verbissenes, so schlägt der uroborische Impuls sogar durch bis zum Darsteller dieser Rolle und verzehrt auch diesen selbst. Am Fall Nietzsche läßt sich das gut ablesen, denn im ersten Aphorismus seiner Fröhlichen Wissenschaft greift Nietzsche den Consumor-Topos seines oben zitierten Gedichts eigens noch mal auf und radikalisiert die Anregungen, die er von Stirner 37 übernommen hatte, in fataler Weise, indem er schreibt: »Hänge deinen besten und schlechtesten Begierden nach und vor allem: geh zugrunde! – in beidem bist du wahrscheinlich immer noch irgendwie der Förderer und Wohltäter der Menschheit und darfst dir daraufhin deine Lobredner halten – und ebenso deine Spötter.« (II,33)

Dieser Rat ist aber nun ganz und gar nicht im Sinne des Kynismus, der ja ausdrücklich vor Begierden aller Art warnt, weil diese wiederum das Ideal der Autarkie beeinträchtigen, denn wer sich begierig in etwas verbeißt, kommt davon auch nicht mehr los und hat seine Unabhängigkeit schon verloren. Nietzsches Rat ist übrigens auch nicht im Sinne Stirners, der Besessenheiten aller Art 38 als Form von »unfreiwilligem Egoismus« (vgl. S. 39 ff.) und als »Trieb, von sich loszukommen« (S. 39) und damit als »Trieb nach Selbstauflösung« (S. 39) bezeichnet und deshalb strikt verurteilt. 39 Diese Selbstauflösung tritt aber zwangsläufig ein, wenn die allfällige Verachtungsbereitschaft, die der Kyniker und philosophische Narr seiner Umwelt gegenüber an den Tag legt, sich auch gegen ihn selbst wendet und die Selbstachtung untergräbt. Fällt auch diese Grenze, und mit ihr die Würde, so zerbricht auch die Möglichkeit der Selbstbehauptung und weicht der rückhaltlosen Selbstpreisgabe, und dann ist das Ende der kynischen Autarkie da: Aus Kynismus wird Zynismus, aus der umfassenden Weltverachtung wird auch noch Selbstverachtung, und aus dem philosophischen Narren wird der philosophische Stricher, »das aufgeklärte falsche Bewußtsein« 40. Schaut der Kyniker mit spöttisch-kaltem Blick und bissigem Lachen von unten und außen auf die Welt herab, so schaut 271 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

der Zyniker mit schiefem Grinsen von unten auch noch auf sich selbst herab. Der Trotz den anderen gegenüber ist umgeschlagen in Ekel vor sich selbst; das Trotzlachen ist umgeschlagen in Ekelgelächter, mit dem der Zyniker auch noch sich selbst bekotzt. Oder mit Niehues-Pröbsting gesprochen: »Im Kynismus ist eine Dialektik am Werk, die, wird ihr nicht Einhalt geboten, den Kyniker auch zur Verhöhnung des Ideals der Unabhängigkeit und damit zur Selbstpreisgabe treibt; so ist der Weg des kynischen Parasiten 41 vorgezeichnet.«42

Man könnte mit Nietzsche ergänzen: Zum zynischen Parasiten, der jenseits von Gut und Böse »mit seinen eigenen Zähnen sich selbst (oder zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft) zerreißt und zerfleischt.« 43 Musterbeispiel eines solchen zynischen Parasiten ist Rameaus Neffe in dem gleichnamigen Werk Diderots, den der Autor als »Genie der Verächtlichkeit«44 darstellt, weil er die eigene Verächtlichkeit und Würdelosigkeit erkennt, reflektiert und achselzuckend akzeptiert und sich ohne jeden Widerspruch als »Kotseele« 45 bezeichnen läßt. Fällt auch noch diese Grenze und damit der Ekel vor sich selbst und zugleich damit auch der letzte Rest von »Ehrfurcht vor sich«, die laut Nietzsche die »vornehme Seele auszeichnet«46, so kann sich der uroborische Selbstverzehr bis zur Koprophagie steigern, wie es von Nietzsche nach den ersten Schüben von Wahnsinn berichtet wird, denn im Krankenjournal heißt es lapidar: »Schmiert oft mit Kot. Ißt Kot. Uriniert in seinen Stiefel oder in sein Trinkglas und trinkt den Urin aus oder salbt sich damit.« 47

Wendet sich hingegen der kynische Impuls gegen die eigene Person, ohne dabei Würde und Selbstachtung preiszugeben, so ist dieser spielerische Umgang mit sich selbst eine unerschöpfliche Quelle für Selbstironie in allen erdenklichen Varianten, weil damit ein in sich höchst bewegliches Selbstverhältnis begründet wird, das in immer wieder neue Rollen schlüpfen kann, um sich je nach Situation immer wieder neu zu entdecken und immer wieder anders zu inszenieren. Als Muster dieser Art von philosophischem Narrentum wäre Erasmus von Rotterdam zu nennen, der in seinem selbstironischen Lob der Torheit dieses Rollenspiel so virtuos vorgeführt 272 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

hat, daß man gar nicht mehr erkennen kann, was er selbst von sich hielt. 2.4.6 Bilanz Auch wenn die Kyniker fast nichts hinterlassen haben, das der Erforschung des Lachens dienlich sein kann, haben sie doch das Verdienst, durch die Erfindung des Typs »lachender Philosoph« oder »philosophischer Narr« die Palette des Lachens beträchtlich erweitert zu haben, insbesondere durch die Erfindung und Kultivierung des Trotzlachens, weil sie damit eine ganze Reihe von Haltungen geprägt oder auch nur weiter präzisiert haben, die kulturell ritualisiert und zu Elementen einer Lachkultur erhoben werden konnten. Ich denke an all die komischen Gattungen der Literatur wie die Verlach-Komödie, die Satire, die Parodie und den politischen Witz, die alle das aggressiv-trotzige Auslachen-von-unten kulturell organisieren, weil sie alle Formen der kynischen Selbstbehauptung gegenüber Autoritäten sind, insbesondere aber gegenüber selbsternannten Autoritäten aller Art, die längst nicht so viel Achtung verdienen, wie sie gemeinhin einzufordern pflegen. Nicht umsonst haben sich Rabelais im Vorwort zum dritten Buch seines Gargantua und Erasmus von Rotterdam mit seinem Lob der Torheit ausdrücklich in die Tradition des Diogenes gestellt, denn dort gehören beide auch hin. Anmerkungen 1 Arnold Gehlen: Antisthenes, in: Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn 1970, S. 13–21, hier S. 14. 2 Georg Luck: Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker in deutscher Übersetzung mit Erläuterungen, Stuttgart 1997, S. 99. Rabelais hat diese Anekdote im Vorwort zum dritten Buch seines Gargantua-Romans bekanntlich aufgegriffen, breit ausgemalt und die eigene Rolle als Komiker mit der des Demokrit in einer Linie gesehen. 3 Vgl. dazu Thomas Rütten: Demokrit – lachender Philosoph und sanguinischer Melancholiker. Eine pseudohippokratische Geschichte, Leiden/New York/Kopenhagen/Köln 1992, S. 34: »Der Weise hat seinen Rückhalt in der Polis eingebüßt, er

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Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

ist zum Weltbürger geworden, aber nicht im Sinne des Kosmopoliten (…), sondern im geradezu existenzphilosophischen Sinne des ›Apoliten‹.« 4 Vgl. dazu meine eigene Untersuchung: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial, 17 (2006) 1 / 2, S. 123– 136. 5 Diogenes Laertius VI,54. Ich zitiere nach der Ausgabe: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1998. 6 Heinrich Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Kynismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 96. 7 Vgl. dazu Christian Meier: Zur Funktion der Feste in Athen, in: Walter Haug/ Rainer Warning (Hg.): Das Fest, München 1989, S. 569–591. Ich verweise auch auf den Aufsatz von Wolfgang Rösler: Michail Bachtin und die Karnevalskultur im antiken Griechenland, in: Quaderni Urbinati di cultura classica, Jg.1986, S. 24– 44, der die höchst fragwürdige Karnevaltheorie Bachtins entscheidend korrigiert. Dasselbe gilt für den Aufsatz von Dietz-Rüdiger Moser: Lachkultur des Mittelalters? Bachtin und die Folgen seiner Theorie, in: Euphorion 84, 1990, S. 89–111. 8 Lukian von Samosata: Lügengeschichten und Dialoge. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von Christoph Martin Wieland, Nördlingen 1985, S. 339. 9 Vgl. dazu Niehues-Pröbsting: Kynismus, S. 79 ff. und S. 306 ff., sowie Klaus Heinrich: Antiker Kynismus und der Zynismus der Gegenwart, in: Klaus Heinrich: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Frankfurt a. M. 1966, S. 130–160, v. a. S. 134 ff. 10 Niehues-Pröbsting: Kynismus, S. 39. 11 Ich zitiere nach der zweisprachigen Ausgabe: Cicero: De oratore. Über den Redner, übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart 5/2003. 12 Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, S. 442. Die Schlüsselbegriffe sind nach Diels/Kranz ergänzt: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. v. Walther Kranz, Dublin/Zürich 13/1969, Bd. II, S. 184. 13 Vgl. dazu Schmitz: Leib, S. 402 und Schmitz: Gefühlsraum, S. 464 ff. 14 Wilhelm Nestle: Die Vorsokratiker, Jena 1929, S. 65. 15 Capelle, S. 455. 16 Capelle, S. 455. 17 »Nil admirari!« ist die Aufforderung an den Stoiker, sich durch nichts verblüffen und aus der Gelassenheit drängen zu lassen. 18 Vgl. dazu aus der neueren Literatur zum Thema: Claudia Erhart-Wandschneider: Das Gelächter des Schelmen. Spielfunktion als Wirklichkeitskonzeption der literarischen Schelmenfigur. Untersuchungen zum modernen Schelmenroman, Frankfurt/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995 und: Michael Kuper: Zur Semiotik der Inversion. Verkehrte Welt und Lachkultur im 16. Jahrhundert, Berlin 1993. 19 Vgl. dazu Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M. 1987.

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Anmerkungen 20

Vgl. dazu Rütten: Demokrit, S. 8–37. Weitere Informationen über den Briefroman finden sich bei Manfred Geier: Worüber kluge Menschen lachen. Kleine Philosophie des Humors, Reinbek 2006, S. 57 ff. Der Briefwechsel kann in der Hippokrates-Ausgabe nachgelesen werden: Die Werke des Hippokrates, hg. v. Richard Kapferer, Ergänzungsteil: Die Briefe des Hippokrates, übersetzt von Anton Fingerle, Stuttgart 1938. Es handelt sich um die Briefe Nr. 10–23 (S. 29–73). Die von Rütten erwähnte Abhandlung Demokrits über den Wahnsinn bildet den Brief Nr. 19. 21 Hippokrates, S. 52 ff. 22 Vgl. dazu Rütten, S. 13 ff. und August Buck: »Democritus ridens et Heraclitus flens«, in: August Buck: Die humanistische Tradition der Romania, Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1968, S. 101–117. Auf diesen Aufsatz verweist auch Geier, allerdings mit der amüsanten Fehlleistung »Die humoristische Tradition der Romania« (Geier, S. 266, Anmerkung 62). 23 Ich zitiere Seneca nach der Ausgabe: L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch, hg. v. Manfred Rosenbach, Darmstadt 1969 ff. 24 Im lateinischen Text steht hier »placide«, was das ganze Wortfeld »sanft/still/ gelassen/ruhig/sanft« abdeckt. 25 Vgl. oben die Anmerkungen 14 und 15. 26 Vgl. dazu Rütten: Demokrit, S. 27 ff., v. a. S. 35, 38, 40, 45, 46, 48. 27 Rütten, S. 40. Es müßte wohl »Diogenes« statt »Demokrit« heißen, aber diese wohl durch den Kontext bedingte Fehlleistung mindert den Wert dieser vorzüglichen Abhandlung in keiner Weise. 28 Anmerkung Wielands, S. 367. 29 In der Literatur über die Kyniker taucht immer wieder der völlig widersinnige Begriff der »Bedürfnislosigkeit« auf, weil die Autoren nicht genau genug zwischen »bedürfen« und »begehren« unterscheiden. Vgl. dazu Kamlah: Anthropologie, S. 52–59: »Begehren und Bedürfen«. 30 Schopenhauer II,178. Ich zitiere Schopenhauer nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke in sechs Bänden, hg. v. Eduard Grisebach, Leipzig o. J. 31 Vgl. dazu die Gedichte Le Flambeau vivant (S. 32) und L’Héautontimorouménos (S. 57) aus den Fleurs du Mal in: Baudelaire, Oeuvres complètes, Paris 1980. 32 Baudelaire, S. 692 in eigener Übersetzung. 33 Ich zitiere Stirners Hauptwerk nach der Ausgabe: Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort herausgegeben von Ahlrich Meyer, Stuttgart 1981. 34 Stirner, S. 359. Hehre Ideale aller Art, v. a. alles Heilige, bezeichnet Stirner abfällig als »Sparren«, so z. B. S. 106: »Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht. Verdaue die Hostie und Du bist sie los!« 35 Zitiert nach: Gerd Stein: Bohemien – Tramp – Sponti. Boheme und Alternativkultur. Kultfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts, B. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 90. In dem Band findet sich auf S. 89 auch die Passage aus Stirners Hauptwerk (S. 411), in der Stirner explizit auf Lenaus Gedicht ver-

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Fröhliche Wissenschaft mit Biß oder Die Frage nach der Selbstbehauptung

weist. Allerdings wird Stirner als Philosoph gewaltig unterschätzt, wenn man ihn, wie Stein dies tut, bloß als »Philosoph der Bohème« (S. 75) charakterisiert. Vgl. dazu über Stirner: Hermann Schmitz: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 62–89, und: Walter Seliger: Das einzig Metaphysische. Vom Ich als Prinzip und Dementi der Philosophie, Bergisch Gladbach 1995, S. XIII ff. u. S. 82–89. 36 Zitiert nach H.-G. Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 171. 37 Seine Beziehung zu Stirner hat Nietzsche immer in ein geheimnisvolles Dunkel getaucht. Vgl. dazu Schmitz: Selbstdarstellung, S. 83 ff. und Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, hg. v. Ludger Lütkehaus, Aschaffenburg 2011, Bd. 4, S. 312 ff. 38 Vgl. dazu bei Stirner: Der Einzige das Kapitel: »Die Besessenen«, S. 36 ff. 39 Vgl. dazu auch Niehues-Pröbsting: Kynismus, S. 193. Seltsamerweise findet sich dort kein Hinweis auf Stirner. 40 Sloterdijk: Kritik der zynische Vernunft, S. 37. 41 Müßte es nicht »des zynischem Parasiten« heißen? 42 Heinrich Niehues-Pröbsting: Wielands Diogenes und der Rameau Diderots. Zur Differenz von Kyniker und Zyniker in der Sicht der Aufklärung, in: Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 73–109, hier S. 93. 43 Nietzsche, II,592. 44 Niehues-Pröbsting: Wielands Diogenes, S. 97. 45 So in der Übersetzung von Goethe: Rameaus Neffe. Ein Dialog von Diderot, aus dem Manuskript übersetzt, in: Goethe 34,1–124, hier S. 77. Michel Foucaults Anmerkungen zu Rameaus Neffen in »Wahnsinn und Gesellschaft«, Frankfurt a. M. 8/1989, S. 349 ff., sind für unsere Fragestellung unergiebig, weil das Wortfeld ›folie/fou‹ dort zu eng auf ›Wahnsinn/wahnsinnig‹ reduziert wird und damit die hier so wichtigen Differenzierungen im Wortfeld ›Wahnsinn/Irrsinn/Verrücktheit/ echtes und gespieltes Narrentum‹ verlorengehen. 46 Vgl. dazu Nietzsche, II,750. 47 Zitiert nach: Werner Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München 1984, S. 791.

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2.5 Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

In seinem Handbüchlein der Moral 1, einer schon in der Antike viel gelesenen Sammlung von Lebensregeln aus dem Geiste der Stoa, gibt Epiktet in den »Besonderen Lebensregeln« seinem Leser den Rat: »Lache nicht viel, nicht über alles, und nicht überlaut.« (§ 33, S. 40) Im Grunde ist mit dieser Empfehlung auch schon alles gesagt, was die Stoiker über das Lachen zu sagen hatten, und wir könnten das Kapitel über die Sicht der Stoiker auf das Lachen hier schon wieder schließen. Da Epiktet selber seinen Rat aber nicht explizit begründet, stellt sich für uns die Frage, was ihn zu dieser seltsamen Empfehlung bewogen haben könnte, um auf diesem Wege zu klären, was die Stoiker gegen das Lachen einzuwenden hatten, und damit, gleichsam durch die Hintertüre, bestimmte Aspekte des Lachens zu entdecken, die sonst nicht im Blickfeld auftauchen würden. Dieser Umweg ist auch deshalb geraten, weil mit Epiktets stoischer Ethik des Ernstes die Epoche der heiteren Anakreontik während der Pax Romana explizit zurückgenommen wird, auf die wir kurz eingehen müssen, bevor wir uns wieder unserem eigentlichen Thema zuwenden können. 2.5.1 Der heitere Weise Als Octavian im Jahr 30 vor Beginn der christlichen Zeitrechnung den römischen Bürgerkrieg, der fast zwanzig Jahre lang das Reich erschüttert hatte, durch einen großen historischen Kompromiß beendete, begann mit der Pax Romana eine Zeit des Friedens, die von den römischen Dichtern, insbesondere von Horaz (-65–8), hym277 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

nisch besungen wurde. In all diesen Gedichten wird aber deutlich, unter welchen Opfern diese Zeit des Friedens erkämpft werden mußte, und wie gefährdet dieser Frieden immer blieb. Aus diesem Grund verkündete Horaz denn auch immer wieder seine Lebensregel, weise zu sein und das Hier und Jetzt zu genießen – »Sapias, carpe diem!« –, so z. B. in dem Gedicht an Leuconoe, das mit den Versen endet: »Sapias: vina liques et spatio brevi Spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit invida Aetas: carpe diem quam minimum credula postero.«

In der Ausgabe von Hans Färber lauten die Verse auf deutsch: »Zeige dich klug: kläre den Wein, stelle der Hoffnung Flug Auf das Heute nur ein! Neidisch entflieht, während du sprichst, die Zeit; Schenk dem kommenden Tag nimmer Vertraun, koste den Augenblick!« 2

Allerdings sind diese Ratschläge zum heiteren Genuß des Lebens bei Horaz immer verbunden mit einem Appell an die Vernunft, bei diesem anakreontischen Vergnügen an Wein, Weib, Gesang und Gelächter immer auch das gehörige Maß zu wahren – servare mentem –, wie er es im Gedicht an Dellius denn auch deutlich formuliert, das mit den Versen beginnt: Aequam memento rebus in arduis Servare mentem, non secus in bonis Ab insolenti temperatam Laetitia, moriture Delli. Seu maestus omni tempore vixeris Seu in remoto gramine per dies Festos reclinatum bearsi Interiore nota Falerni. Ein Herz voll Gleichmut in der Geschicke Drang, In guter Zeit gleich frei von dem Übermaß Unbäng’ger Lust such’ dir zu wahren, Dellius, mußt ja doch einmal sterben,

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Der heitere Weise

Ob du im Gram dein Leben vertrauertest, Ob hingestreckt auf heimlichem Rasengrund Manch sel’gen Festtag du dir schufest, Köstlichen alten Falerner schlürfend. (S. 70 f.)

Hier wird also das Idealbild heiterer Weisheit vor einem ernsten Hintergrund entworfen, aber gerade weil dieses Ideal heiterer Weisheit so human ist und jedermann angesonnen werden kann, fügt Horaz in der berühmten Ode an sein Vorbild Vergil eigens hinzu, in bestimmten Situationen dürfe man auch mal über die Stränge schlagen (desipere), auf die üblicherweise befolgte Weisheit auch mal verzichten und sogar mit Lust auch ein bißchen blödeln 3, denn dieses Gedicht endet mit dem Rat: Verum pone moras et studium lucri Nigrorumque memor, dum licet, ignium Misce stultitiam consiliis brevem: Dulce est desipere in loco. Auf und säume nicht lang! Rechne den Preis nicht nach! Denk, es lodert auch uns bald schon die letzte Glut! Drum, solang es vergönnt, mische mit Jux 4 den Ernst: Süß ist Leichtsinn am rechten Ort! (S. 210 f.)

In der Übersetzung von Hermann Fleischer lautet die Strophe: Zögre länger mir nicht! Rechne nicht, wer gewinnt! Denk der kommenden Nacht! Laß mit verständ’gem Wort Uns kurzweiligen Scherz mischen, solang es geht: Süß ist’s, schwärmen zur rechten Zeit! 5

Wie man sieht, greift Horaz hier auf die eutrapelistische Scherz- und Lachkultur des Aristoteles zurück, an der sich auch Cicero in seiner Pflichtenlehre De officiis als Mittel der heiteren Entspannung orientiert hatte und die, wie wir sehen werden, auch in späteren Zeiten immer dann als Orientierung für eine Scherz- und Lachkultur dienen wird, wenn die politisch-gesellschaftliche Großwetterlage einigermaßen entspannt ist, wie dies z. B. während der Pax Britannica nach der Glorreichen Revolution von 1688/89 war, oder wenn es gelang, bestimmte gesellschaftliche Enklaven von entspannter Atmosphäre aus der umgebenden Welt auszugrenzen und dort den aristotelischen Nomos eutrapelistischer Lachkultur zu installieren. 279 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

Die entspannte Atmosphäre der Pax Romana dauerte jedoch nicht mal hundert Jahre, denn mit den despotisch regierenden Kaisern seit Nero änderte sich sofort das gesellschaftspolitische Klima im Umkreis der absoluten Macht und das Ideal des heiteren Weisen wurde durch das Ideal des durch und durch ernsten und beherrschten stoischen Weisen ersetzt, wie es von Seneca (-4–65) und Epiktet (50–138) entworfen wurde. 2.5.2 Grenzen der Verfügbarkeit Epiktets Handbüchlein der Moral setzt ein mit der Überlegung, was in unserer Macht steht und was nicht. Es geht ihm also darum, die Grenzen der Verfügbarkeit abzustecken, ein Verfahren, auf das wir schon in den ethischen Überlegungen des Aristoteles gestoßen sind. Epiktet schreibt dazu: »In unserer Gewalt stehen unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unser Meiden – alles, was von uns selber kommt. Nicht in unserer Gewalt steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äußere Stellung – alles, was nicht von uns selber kommt.« (S. 21)

Aus diesem Kriterium der Verfügbarkeit leitet Epiktet dann seine wichtigste Empfehlung ab, um auf Ereignisse aller Art zu reagieren, indem man sich fragt: »Gehört es zu dem, was in meiner Gewalt steht, oder nicht? Und gehört es zu dem, was nicht in deiner Gewalt steht, so sage zu dir selber: es geht mich also nichts an!« (S. 22)

Wenn wir von hier aus noch mal auf die Empfehlung blicken, das Lachen möglichst zu meiden, so müßte für Epiktet das Lachen zum Bereich des Verfügbaren gehören, das man tun und lassen kann, weil man sinnvollerweise nur Verfügbares ethisch reglementieren kann. Auch dieses Kriterium fanden wir ja schon bei Aristoteles. Damit wäre also das Lachen für Epiktet etwas, »das von uns selber kommt«, und das heißt zugleich, daß das Lachen kein leibliches Geschehen ist, das sich an uns und mit uns als unverfügbares Widerfahrnis vollzieht, sondern ein »inneres«, geistig-seelisches Geschehen, etwas also, das zum Bereich »des Denkens und Tuns, des Begehrens und Meidens« gehört, und deshalb kann man erwarten, 280 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Grenzen der Verfügbarkeit

daß die Stoiker, wenn überhaupt, nur die verfügbaren Formen des Lachens thematisieren und aus diesen die Kriterien für Lachen generell ableiten. Mit dieser entschieden reduktionistischen Sicht auf das Lachen fallen die Stoiker also wieder weit hinter Aristoteles zurück, für den Lachen immer beides war, seelisches und leibliches Geschehen, und beides sein konnte, verfügbares und unverfügbares Geschehen. Die konkreten Beispiele an Lach-Situationen, die Epiktet anführt, zeigen denn auch Auslach-Szenen mit dem spöttisch-höhnisch-hämischen Auslachen, wie wir sie schon bei Platon angetroffen haben, denn in deutlicher Anspielung auf das Gelächter der dumpfen Zeitgenossen über Philosophen wie Thales und Demokrit schreibt Epiktet: »Wenn du nach Weisheit strebst, so mache dich von vornherein darauf gefaßt, daß du ausgelacht wirst, daß viele dich verspotten und sagen: Seht da den neugebackenen Philosophen! Warum er wohl dir Brauen so hoch zieht? – Du aber lasse das Stirnrunzeln (…) und wisse, wenn du standhaft bei deinen Grundsätzen bleibst, so werden, die dich früher verlachten, dich alsbald verehren. Gibst du ihnen aber nach, so werden sie nur noch mehr über dich lachen.« (S. 31)

So wie im Handbüchlein beginnt Epiktet auch in seinen Unterredungen mit Überlegungen über die Grenzen des Verfügbaren; allerdings zieht er hier diese Grenzen entschieden enger, wenn er schreibt: »Von den Dingen hat Gott die einen in unsere Gewalt gegeben, die anderen nicht. In unsere Gewalt gab er das Herrlichste und Erhabenste, wodurch er selbst glückselig ist: den Gebrauch der Vorstellungen. Wenn wir sie recht gebrauchen, bedeutet das für uns ein freies, leichtes, heiteres, beständiges Dasein; es bedeutet Recht, Gesetz und Selbstbeherrschung, überhaupt jede Tugend. Alles andere hat Gott nicht in unsere Gewalt gegeben. Wir müssen uns also in den Willen der Gottheit schicken und, indem wir so die Dinge unterscheiden, auf alle Weise erstreben, was in unsere Gewalt gegeben ist. Was aber nicht in unsere Gewalt gegeben ist, das müssen wir dem Kosmos anheimstellen. Und wenn er unsere Kinder von uns fordert, oder unsern Körper oder sonst irgend etwas, so müssen wir es willig hingeben.« (S. 54)

Wenn also laut Epiktet allein unsere Fantasien grenzenlos verfügbar 281 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

sind, alles andere aber nicht, wäre auch das Lachen plötzlich wieder etwas Unverfügbares, für das Ciceros berühmter Vers gilt, den Seneca auch im 107. Brief an Lucilius 6 zitiert: »Ducunt volentem fata, nolentem trahunt.«

Auf deutsch: Den Willigen führen und leiten die Schicksalsmächte; den aber, der sich ihnen verweigert, schleifen sie hinter sich her. Diese willige Hingabe an das Schicksal (fatum/heimarmene) predigt auch Epiktet am Ende seines Handbüchleins als »goldenen Spruch«, in den er Ciceros berühmten Vers einbaut: »Allmächt’ger Zeus und du, Verhängnis, führet mich dahin, wo ich nach eurem Willen stehen soll. Ich will nicht zögern, euch zu folgen. Wollt’ ich nicht, Ich wär ein Frevler, und ich müßte doch!« (S. 59)

Wenn demnach das Schicksal den Willigen führt, den Widerspenstigen aber mit sich wegschleift, so wird objektive Freiheit zur puren Vorstellung von Freiheit degradiert, und frei fühlt sich dann nur noch der, der nicht an seinen Ketten zerrt. Mit einem Wort: Freiheit ist für die Stoiker nicht ein objektiver Zustand, sondern eine Frage der inneren Haltung; Freiheit wird reduziert auf Gedankenfreiheit. »Von entscheidender Bedeutung für den stoischen Weisen ist seine Disposition, wie er innerlich ist und sich fühlt. (…) Was immer dem Menschen vorgegeben ist und ihm widerfährt, kann und soll durch die Affirmation des Fatums seines Zwangscharakters entledigt und damit zu etwas werden, dem gegenüber das Subjekt in Freiheit sich verhält.«7

Genau an diesem Punkt hätte nun eine stoische Theorie des Lachens ansetzen können, denn wenn das Lachen in einigen seiner Erscheinungsweisen ein uns ergreifendes Widerfahrnis von überwältigendem Charakter ist, so hätte dieser Umstand als Möglichkeit und Aufforderung an den stoischen Weisen verstanden werden können, dieser Übermacht gegenüber sich genauso zu verhalten wie gegenüber dem Schicksal, sich ihm also willig hinzugeben und sich vom Lachen gleichsam führen zu lassen wie von einer Schicksalsmacht. Das Ergebnis dieser Haltung hätte eine Phänomenologie des Lachens sein können, die ganz im Sinne der stoischen Ethik bei der Unterscheidung zwischen den verfügbaren und unverfügbaren Formen des Lachens hätte ansetzen und von da aus zu der 282 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Grenzen der Verfügbarkeit

Forderung durchstoßen können, die unverfügbaren Formen des Lachens mit genau derselben heiteren Ergebenheit hinzunehmen wie den Willen der Gottheit. Der stoische Weise hätte somit auch ein lachender Philosoph sein können. All dies ist bekanntlich nicht geschehen, weil die Stoiker lieber die Konsequenz zogen: Es geht mich nichts an! Und so suchten sie alles zu vermeiden, was diese generelle Distanz zur Welt hätte gefährden können, und aus diesem Grund gibt Epiktet auch ganz im Sinne Platons den Rat, sich von allen Massenveranstaltungen wie Theater, Wagenrennen und Wettkämpfen der Gladiatoren fernzuhalten, weil dort die Gefahr des Mitgehens besonders groß ist: »Das Theater häufig zu besuchen, ist nicht gerade nötig. Tust du es, so richte dein Augenmerk nur auf dich selbst; d. h. nimm, was vorgeht, ruhig hin, und laß den Sieger Sieger sein! So wird deine innere Ruhe nicht gestört werden. Beifallsrufe, Gelächter, tiefere Bewegung vermeide ganz und gar. Und beim Weggehen sprich nicht viel über das Aufgeführte, soweit es dich nicht fördert. Denn sonst offenbart sich, daß du dich zur Bewunderung der Schauspieler hast fortreißen lassen.« (S. 41)

Mit dieser Warnung ist zugleich auch der schlimmste Vorwurf formuliert, den ein Stoiker gegen sich selbst und andere erheben kann: die Kapitulation vor einem exzessiven Impuls aus dem eigenen Innern, der das Individuum mit genau der Intensität und Unbedingtheit ergreift und vor sich hertreibt wie das Fatum es ergreift und mit sich wegschleift, dem aber die göttlichen Attribute des Fatums fehlen, sodaß die Niederlage vor dieser Macht im eigenen Innern als viel demütigender empfunden wird als die Kapitulation vor dem Schicksal. Diese Macht sind die Affekte, die für die Stoiker dieselbe üble Rolle spielen wie das Epithymetikon für Platon, denn sie beide sind die drohende Macht von unten und innen, die pure animalische Unvernunft, ja geradezu die »Perversion der Vernunft«8. Reißt der Affekt den Menschen aber mit sich fort, so versinkt er für die Stoiker in der Unverfügbarkeit eines übermächtigen Drangs: »Die Charakterisierung des Affekts als pleonazousa orge meint also nicht nur, daß die menschliche Seele strebend und fühlend auf einen als gut bzw. schlecht beurteilten Sachverhalt gerichtet ist, der es nicht

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ist, sondern daß das falsche Streben und Fühlen im Menschen den Charakter eines gewaltsam sich vollziehenden Naturereignisses annimmt. Dies heißt: im Affekt verändert und entäußert sich die Vernunft selbst zu einer naturalen Bewegung, die von der Vernunft selbst nicht mehr gesteuert oder zurückgenommen werden kann. Der Mensch pervertiert sein Wesen, d. h. er verhält sich so, als ob er nicht mehr Mensch wäre.« 9

Damit sind wir am Kern des stoischen Horrors vor dem Lachen angelangt, bei der tiefen Sorge, durch irgendein unverfügbares Widerfahrnis aus dem eigenen Innern in Erregung oder tiefere Bewegung zu geraten und von sich selbst ergriffen und fortgerissen zu werden, denn wie Cicero in seinen Gesprächen in Tusculum 10 schreibt, ist »jede Erregung der Seele Wahnsinn« (S. 179), ein Abfall der als vernünftig verstandenen Seele von sich selbst. Schon diese wenigen Zitate zeigen, welche fatale Folgen diese fundamentale Verwerfung der Affekte durch die stoische Ethik haben sollte, weil sich hier ein Argumentationsmodell anbot, das durch das frühe Christentum übernommen, weiter radikalisiert und fortgeführt werden konnte, indem es die Affekte nicht mehr nur als naturale ergreifende Mächte, sondern als widergöttliche Dämonen ansah, gesteuert vom altbösen Feind im eigenen Innern. Zugleich mit dieser Verwerfung der Affekte übernahm das frühe Christentum auch die stoische Deutung und Beurteilung des Lachens, denn schon für Cicero ist Gelächter eine elatio, eine Katapultierung nach oben, eine plötzliche Himmelfahrt aufgrund einer ruckhaft »gehobenen Stimmung« (Bollnow), aber eben eine »Erhebung ohne Vernunft« (S. 255), bei der die Seele, weil sie ruckhaft nach oben gerissen wird, sofort den Stand verliert und dann über einem Abgrund schwebt. Das tiefe Unbehagen der Stoiker am Lachen ist also letztlich die Angst vor dem durch das Lachen bewirkten Standverlust als Verlust der aufrechten Haltung 11, der Überschau und der Orientierung, wenn man sich vor Lachen biegt und einem vor Lachen Hören und Sehen vergeht. Mit einem Wort: Was die Stoiker am Lachen fürchteten, war der ihm immanente Impuls »personaler Regression« (Schmitz). Dieses tiefe Unbehagen der Stoiker an dem im Lachen sich manifestierenden regressiven Impuls muß man aber ernst nehmen, 284 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Grenzen der Verfügbarkeit

weil es durchaus einen wichtigen, ja sogar zentralen Aspekt des Lachens aufzeigt, denn Lachen ist, zumindest in bestimmten Ausprägungen, in der Tat ein Krisen-, Katastrophen- und Kapitulationsphänomen, wie Plessner gezeigt hat, wenn auch bei weitem kein so bedrohliches, wie die Stoiker glaubten, da man sich sehr wohl dem Lachen hemmungslos hingeben kann, ohne sich selbst zu verlieren, weil der dem Lachen eigene uroborische Impuls die Gewähr dafür bietet, daß man sich zwar krumm lachen kann, sich aber auch wieder gerade lacht. Denn wer sich ins Lachen fallen läßt, fällt eben gerade nicht ins Bodenlose, sondern wird vom Lachen aufgefangen und getragen »wie von einem Heuhaufen«. Wenn man dieses Unbehagen der Stoiker am Lachen weiter verfolgt, so fällt einem bald auf, wie eng die Stoiker sich an Platon anschließen, da auch sie das Lachen wesentlich unter ethisch-moralischen Aspekten sehen und damit als etwas, das besser nicht wäre. Und wenn denn doch mal gelacht werden muß, so muß es auch sofort wieder so gebändigt werden, daß es sich nicht selbständig machen kann und der Lenkung durch die Vernunft entgleitet. Es könnte sogar sein, daß Epiktet mit seinem Rat, möglichst wenig zu lachen, Platon selbst vor Augen hatte, der ja schon in der Antike als »Agelast« 12, also als Lachmuffel galt. Es gibt ja auch eine ganze Fülle von Äußerungen in Platons Werk, in denen er das elitäre ApatheiaIdeal propagiert, die von den Stoikern ohne Vorbehalt übernommen werden konnten. Elitär ist dieses Ideal deshalb, weil Platon die niederen Schichten der Seele und deren Potenzen immer strikt mit den unteren Schichten der Gesellschaft analogisiert, wo es ungehemmt menschelt, weil diese Leute sich laut Platon nur allzugern in jeder Hinsicht gehen lassen. Ablesbar ist dies für Platon vor allem am Verhalten der Leute im Theater 13, wenn das Publikum förmlich danach lechzt, sich wieder einmal »recht satt zu weinen, satt zu heulen und dran zu laben« (Staat 606A). Demgegenüber fordert Platon, sich gegen all diese Versuchungen bis zur Unverwundbarkeit zu panzern, um das Besonnenheitsideal aufrecht erhalten zu können. Und hierin sind ihm die Stoiker willig gefolgt. So wie wir schon bei Platon gesehen haben, daß hinter diesem krampfhaft und verbissen vertretenen Besonnenheitsideal immer 285 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die Frage stand: Was droht?, so ist auch die Haltung der Stoiker dem Lachen und den Affekten gegenüber von der selben Frage getragen und gleicht der Haltung von Sorge, Angst und Vorsicht, die man an den Tag legt, wenn man mit gefährlichen Mächten zu tun haben muß. Also steht auch für die Stoiker über allen ethischen Überlegungen dieselbe Frage: Was droht? Was droht vom Lachen? Und das heißt auch: Was droht vom Lachen der Anderen über mich und was droht mir selbst aber auch von meinem eigenen Lachen? Was droht von den Affekten? Und wie kann diesem allfällig Drohenden begegnet werden? Drohendem begegnen wir im allgemeinen • durch negative, d. h. aggressive Zuwendung, also durch Angriff oder gezielte Verteidigung; • durch negative Abwendung, also durch gezielte Flucht; • durch sofortige Kapitulation, also durch desorganisierte Motorik in Form von Bewegung-auf-der-Stelle oder Bewegungs-Chaos; • durch Erstarrung; • durch den Sturz in eine Ohnmacht, also durch einen vorläufigen Ausweg nach innen; • durch einen Vagustod, also durch den endgültigen Ausweg nach innen. Die Stoiker wählten den Weg der Vorwärts-Verteidigung, indem sie zum einen versuchten, die Affekte im eigenen Innern buchstäblich auszurotten, zum anderen sich so zu verpanzern, daß die Affekte an diesem Panzer abprallen sollten. Sie führten also einen janusköpfig ausgerichteten Krieg in zwei verschiedene Richtungen. Das Instrumentarium dazu hatte die stoische Ethik zu liefern, und deshalb schreibt Seneca im berühmten 82. Brief an seinen Freund und Schüler Lucilius: »Viel gibt es draußen, was auf uns eindringt, um uns zu täuschen und zu bedrängen, viel drinnen, was uns in der Einsamkeit aufwallt. Mit der Philosophie müssen wir uns umgeben, einer uneinnehmbaren Mauer, die das Schicksal, auch wenn es sie mit vielen Belagerungsmaschinen angreift, nicht überschreitet. An unüberwindlicher Stelle befindet sich eine Seele, die Äußerlichkeiten hinter sich gelassen hat und in ihrer Burg ihre Freiheit behauptet: weit unter ihr fällt jedes Geschoß nieder.« (IV,187)

Cicero wendet sich in seinen Gesprächen in Tusculum sogar ganz 286 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der stoische Weise

explizit gegen die Schule des Aristoteles, die, wie wir gesehen haben, den Affekten wertneutral gegenüber stand und das Ideal der Metriopatheia gepflegt hatte, wenn er schreibt: »Darum macht es keinen Unterschied, ob man nur maßvolle Leidenschaften billigt oder maßvolle Ungerechtigkeit. Wer nämlich den Fehlern ein Maß zugibt, der nimmt einen Teil von ihnen an. Dies ist nicht nur an sich verwerflich, sondern um so ärgerlicher, weil der Fehler sich auf gleitendem Boden befindet und in keiner Weise mehr aufzuhalten ist. Dabei erklären dieselben Peripatetiker jene Leidenschaften, die wir ausgerottet sehen möchten, nicht bloß für natürlich, sondern auch zu unserem Nutzen von der Natur gegeben.« (S. 279)

2.5.3 Der stoische Weise Demgegenüber gelte es das Ideal des stoischen Weisen hochzuhalten, das Cicero folgendermaßen beschreibt: »Wer nun immer in Bescheidenheit und Ruhe friedlichen Geistes ist und mit sich selbst einig, so daß er weder durch Ärger verzehrt wird noch durch Angst getrieben, noch dürstend etwas erstrebt und von Sehnsucht brennt, noch sich in ausgelassener Lustigkeit auflöst, der ist der Weise, den wir suchen, und der Glückselige, dem nichts Menschliches so unerträglich zu sein scheint, daß er in seiner Seele verzweifelt, noch so vergnüglich, daß es ihn zur Ausgelassenheit triebe.« (S. 275)

Mit einem Wort: Der stoische Weise hält sich in allen Lebenslagen frei von den vier Grundaffekten 14 Kummer und Schreck, Gier und Lust und von deren Äußerungen als Klage und Panik, Sucht und Gelächter: Er weint nicht, lacht nicht, tobt nicht, klagt nicht, neidet nicht und ist frei von Suchten aller Art, ein Ideal, das das frühe Christentum ebenfalls übernahm und im mönchischen Klosterleben zu verwirklichen suchte. Damit er aber dieses anspruchsvolle Programm auch tatsächlich bewältigt, empfiehlt Epiktet dem Stoiker, eine bestimmte Haltung einzunehmen und intensiv zu verinnerlichen, und zwar eine »würdige und gesetzte« (S. 41) Haltung, und »streng und aufmerksam gegen sich selbst« (S. 41) zu sein. Das Endziel des stoischen Weisen besteht also darin, sich selbst auf Dau287 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

er dem eigenen Willen total verfügbar zu machen, völlig Herr im eigenen Haus zu sein und das eigene Innenleben nur noch als Folge eigener Entscheidungen zu verstehen und keinerlei Widerfahrnisse aus dem eigenen Innern zuzulassen. Oder kürzer formuliert: nach innen autark, nach außen schicksalsergeben zu sein. Nach all dem, was wir über die Einschätzung der Affekte durch Platon und die Stoiker bisher gehört haben, drängt sich hier natürlich die naheliegende Frage auf, ob ein derart weltfremdes und wahnhaft verstiegenes Ideal der Selbstbemeisterung überhaupt erstrebenswert sei, da es ja sowieso nicht realisiert werden kann. Und es drängt sich auch der Verdacht auf, daß dieses wahnhafte Konstrukt des stoischen Weisen nur deshalb entstehen konnte, weil unserer Phantasie keine allzu enge Grenzen gesetzt sind. Auf diese Fragen antwortet Seneca in seiner Abhandlung Über den Zorn, das Ideal des stoischen Weisen sei nicht nur erstrebenswert, sondern sehr wohl auch realisierbar, und es sei in vielen Fällen auch schon realisiert worden: »Nichts ist so schwierig und mühevoll, daß nicht die menschliche Seele es bewältigt (…) und keine Leidenschaften sind so wild und von eigenem Recht, daß sie nicht zu bezähmen wären. Was immer sich die Seele befohlen hat, hält sie inne: manche haben es geschafft, niemals zu lachen 15; manche haben sich den Wein, andere den Liebesgenuß, manche jedes Getränk versagt; ein anderer, zufrieden mit kurzem Schlaf, hat das Wachen unermüdlich ausgedehnt.« (I,171 ff.)

Der stoische Weise ist also ein Wundermann, vor dem sich jeder indische Asket verstecken müßte, da er es geschafft hat, nicht nur die vermeintlichen Bedürfnisse, sondern auch die natürlichen wirklichen Bedürfnisse wie essen, trinken und schlafen abzulegen. Wer im Gegensatz dazu immer noch glaubt, zumindest die wirklichen Bedürfnisse befriedigen zu müssen, muß sich von Seneca belehren lassen, daß auch diese letztlich nur »heilbare Schwächen« seien, die »ausgerottet« (I,173) gehören. Angesichts solcher Prahlereien über die unbegrenzten Möglichkeiten des stoischen Weisen zur Selbstbemeisterung liest sich der Spott, den Erasmus von Rotterdam und Arthur Schopenhauer über dieses Ideal ausgegossen haben, richtig erfrischend. Für Schopenhauer 16 sind die Stoiker die ernste, elitär-dekadente, blasierte und 288 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der stoische Weise

gleichsam parfümierte Variante der Kyniker, die den kynischen Grundsatz der totalen Unabhängigkeit bei aller Armut verraten haben und in dem kynischen Ideal der Anspruchslosigkeit nur eine Form von innerer und äußerer Verwahrlosung 17 sehen konnten. Deshalb verhöhnt Schopenhauer den stoischen Weisen als leblosen »Gliedermann, der selbst nicht weiß, wohin mit seiner Weisheit« (I,141): »So vervollkommneten die Stoiker die Theorie des Gleichmuths und der Unabhängigkeit, auf Kosten der Praxis, indem sie Alles auf einen mentalen Proceß zurückführten und durch Argumente, wie sie das erste Kapitel des Epiktet darbietet, sich alle Bequemlichkeiten des Lebens heransophisticirten. Sie hatten aber dabei außer Acht gelassen, daß alles Gewohnte zum Bedürfnis wird und daher nur mit Schmerz entbehrt werden kann; daß der Wille nicht mit sich spielen läßt, nicht genießen kann, ohne die Genüsse zu lieben; daß ein Hund nicht gleichgültig bleibt, indem man ihm ein Stück Braten durchs Maul zieht, und ein Weiser, wenn er hungrig ist, auch nicht; und daß es zwischen Begehren und Entsagen kein Mittleres giebt. Sie aber glaubten sich dadurch mit ihren Grundsätzen abzufinden, daß sie, an einer luxuriösen römischen Tafel sitzend kein Gericht ungekostet ließen (…) und immer brav versicherten, sie machten sich den Teufel aus der ganzen Fresserei. (…) Sie waren demnach bloße Maulhelden, und zu den Kynikern verhalten sie sich ungefähr, wie wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern.« (II,180)

Für Erasmus liegt der alles entscheidende Denkfehler bei der Konzeption des stoischen Weisen im Ideal der dogmatischen apatheia, weshalb er in seinem Lob der Torheit 18 über den »Superstoiker Seneca, der dem Weisen überhaupt jede Leidenschaft aberkennt« (S. 74), das vernichtende Urteil fällt: »Aber wenn er das tut, läßt er gar keinen Menschen mehr bestehen, sondern schafft eher einen neuen Gott, den es nirgends jemals gab noch geben wird; oder, um mich noch deutlicher auszudrücken: Der Mensch, so wie er ihn vor uns hinstellt, ist eine Marmorstatue, leblosstarr und bar jeder menschlichen Gefühlsregung. (…) Wer würde denn nicht voll Schauder wie vor einem Ungeheuer und Schreckgespenst vor einem solchen Menschen fliehen, der allen natürlichen Empfindungen gegenüber taub ist, keinen Funken Leidenschaft mehr

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in sich hat und weder durch Liebe noch durch Mitleid sich stärker rühren läßt, ›als wenn harter Granit dastünde, marpesischer Marmor‹; nichts entgeht einem solchen Menschen, nirgends zeigt er eine Schwäche, sondern wie Lynkeus durchschaut er alles, prüft alles genau mit der Richtschnur, kennt keine Nachsicht und ist nur mit sich selbst zufrieden, ist allein reich, allein vernünftig, allein König, allein frei, kurz, alles allein, freilich nur nach seinem eigenen Urteil. (…) Angenommen, es käme zu einer freien Wahl: Welche Bürgerschaft, ich frage euch, möchte einen derartigen Magistraten haben wollen, welches Heer würde sich solch einen Kommandanten wünschen? Und erst recht: Welche Frau ersehnte oder ertrüge einen so gearteten Mann, welcher Wirt einen Gast dieses Schlages, welcher Knecht einen Herrn mit einem solchen Charakter? Wer aber zöge nicht diesem Ausbund an Weisheit einen mitten aus der Masse der erzdummen Menschen vor, einen x-beliebigen, der, selbst ein Tor, Toren zu befehlen oder zu gehorchen versteht, nicht nur bei seinesgleichen Anklang findet, sondern bei möglichst vielen, seiner Frau gegenüber ein Kavalier ist, bei Freunden wohlgelitten, ein charmanter Gast, ein umgänglicher Mitmensch, kurz, jemand, ›dem nichts Menschliches fremd ist‹.« (S. 74 f.)

All diese Einwände gegen das Ideal des stoischen Weisen legt Erasmus zwar der Torheit in den Mund, aber das entwertet kein einziges Argument gegen dieses wahnhafte Ideal, da er als philosophischer Narr sich hier nur hinter der Maske der Torheit versteckt und offensichtlich in eigener Sache redet. Ganz anders argumentiert Johann Gottfried Herder, wenn er in seiner Abhandlung Ueber Bild, Dichtung und Fabel davor warnt, sich selbst zuviel an Selbstbeherrschung zuzutrauen und abzuverlangen, denn: »Die Furcht, zumal in der Finsterniß, die Traurigkeit, Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung und jede andere Leidenschaft macht in unvermutheten Augenblicken uns alle noch zu Wilden. (…) Der Zustand unserer kalten Besonnenheit ist ein künstlicher, durch Erfahrung, Lehre und Gewohnheit allmählich erworbener Zustand, dessen Besitz uns in völlig unerwarteten Fällen zu erhalten oft schwer wird.« 19

Man kann das Ideal des stoischen Weisen, wie es hier von Seneca entworfen wurde, natürlich auch noch ganz anders sehen; dann aber wirkt es längst nicht mehr so lächerlich, wie es für Schopen290 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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hauer oder Erasmus war, sondern eher erschreckend, weil man in ihm auch den Prototyp des perfekten Funktionärs erblicken kann, der sich in einem solchen Maß selbst im Griff hat, daß er nur noch reines Werkzeug in der Hand jedes beliebigen Herrn ist und willenund bedenkenlos jeden Befehl ausführen kann, weil er über keinen eigenen emotionalen Kompaß mehr verfügt. Entworfen wird dieses Bild des perfekten Funktionärs in dem überaus frommen christlichen Bestseller Nachfolge Christi aus dem Geiste der Devotio moderna von Thomas von Kempen 20, in dem Jesus dem nachfolgewilligen Jünger u. a. nahelegt: »Mein Sohn, entsage dir, so findest du mich. Verzichte auf Eigenwahl und jeden Eigenbesitz, so gewinnst du immer.« (S. 194) »Mein Sohn, bemühe dich ernsthaft, überall und bei allem, was du tust, innerlich frei zu sein und dich in der Hand zu haben; über den Dingen, nicht unter den Dingen zu stehen, so daß dein Tun von dir gemeistert, nicht du von deinem Tun gemeistert wirst.« (S. 195) »Der wahre Fortschritt eines Menschen liegt in der Selbstverleugnung. Ein sich selbst abgestorbener Mensch fühlt sich ungemein sicher.« (S. 197) »Mein Sohn, kostbar ist meine Gnade; sie duldet keine Vermengung mit äußeren Dingen oder irdischer Ablenkung. (…) Zieh dich zurück in die Einsamkeit, weile gern mit dir allein, suche keine Gesellschaft. (…) Erachte die ganze Welt als nichts. (…) Bekannte und liebe Menschen mußt du lassen und das Herz jedem zeitlichen Trost verschließen. (…) Und doch, will man wirklich die geistliche Welt betreten, heißt es von Fernstehenden und Nahestehenden Abschied nehmen und sich am allermeisten vor sich selber hüten. Der Sieg ist vollkommen, sobald man über sich selber triumphiert. Wer sich im Zaum hält, so daß die Sinne der Vernunft in allem gehorchen, der hat sich selbst besiegt, und die Welt liegt ihm zu Füßen. Ersehnst du diese Ruhe, gilt es mannhaft zu beginnen und die Axt an die Wurzel zu legen, um die geheime ungeordnete Anhänglichkeit an dich selber und alle Außendinge auszurotten. Fast alles, was entwurzelt werden muß, hängt mit der verkehrten Selbstliebe zusammen. Ist diese einmal unterworfen, herrscht tiefer

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Friede und große Ruhe. Da sich allerdings nur wenige völlig absterben und gänzlich verlassen wollen, bleiben die meisten in sich selbst verstrickt, unfähig, über sich selbst hinauszuwachsen. Verlangt jemand, ungehindert mit mir zu wandeln, hat er jede verkehrte Anhänglichkeit restlos abzutöten und darf keinem Geschöpf eigenwillig verhaftet bleiben.« (S. 232 f.)

Das späteste Echo dieser Predigt kann man in den Proklamationen 21 Ludwig Derleths von 1905 und 1919 hören, einem Dokument wahnhaftester Verstiegenheit, in dem Derleth Thomas von Kempens Nachfolge Christi mit Bernhard von Clairvaux’ Aufruf zum Kreuzzug und seinem Entwurf eines neuen christlichen Rittertums 22 verbindet und im Zarathustra-Ton seinen imaginären Gefolgsleuten verkündet: »Verlernen wir das Lachen. Nach außen hin der Haß in hellen Flammen. Unter euch aber, ihr Brüder der Auslese, sei Gloria und Liebe und Caritas in neuer Glut vereinigt, daß ihr gleichet dem Herrn. Brennen wir unsere Vergangenheit ab.« (S. 73)

Unter diesem Aspekt erscheint das Ideal des stoischen Weisen noch viel fragwürdiger, wenn man es in die konkrete Lebenspraxis überträgt, weil hier lauter Sekundärtugenden zu Primärtugenden verabsolutiert werden und der darauf dressierte perfekte Funktionär zu allem gebraucht werden kann, unabhängig davon ob dies nun im Dienst der Societas Jesu, der Kommunistischen Partei, der Mafia, der Scientology oder eines Konzerns geschieht. Wir werden im Verlauf dieser Ideengeschichte des Lachens immer wieder auf neue Varianten des stoischen Weisen treffen, die zum Ideal der jeweiligen gesellschaftlichen Elite erhoben worden sind, weil ein zentraler Aspekt dieses Ideals immer auch die vollendete Verfügungsgewalt über sich selbst ist. Im christlichen Mittelalter verwandelte sich der stoische Weise in den Mönch im Stil Benedikts, im Absolutismus in den Höfling im Stil Graciàns, in der Gegenreformation in den Jesuiten des Ignatius von Loyola, und nach der Französischen Revolution trat der stoische Weise nur noch in der Maske des Dandys auf, gleichsam als absolutistischer Höfling ohne Hof, und damit war der Typ des stoischen Weisen selbst zu 292 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Pneuma und Tonos

einer lächerlichen Gestalt geworden und als Modell für die gesellschaftliche Oberschicht endgültig erledigt. Als universell verwendbarer Funktionär ohne emotionalen Kompaß hingegen wird er in autoritär-hierarchischen Systemen wohl immer gebraucht werden, wie ein Blick in Brechts Lehrstück Die Maßnahme, in Ernst Jüngers Traktat Der Arbeiter, in Heiner Müllers Stück Mauser oder in L. Ron Hubbards Kennzeichnung des Thetans auf der höchsten Stufe von Clearness zeigt. 2.5.4 Pneuma und Tonos Wir haben bisher Überlegungen der stoischen Ethik diskutiert, insoweit sie sich auf das Lachen bezogen, dabei jedoch einen für die Stoa sehr typischen Zug, die innige Verschränkung von Ethik, Psychologie und Physik, bewußt ausgeklammert. Dies gilt es nun nachzuholen, indem wir uns mit der stoischen Pneumatologie vertraut machen. Dazu schreibt Sambursky, ein ausgewiesener Kenner der stoischen Physik: »Das wesentliche Kennzeichen des stoischen Kosmos ist das Pneuma (pneuma, Hauch, Atem, Geist, Seele), ein alles durchdringendes Substrat, zu dessen Funktionen es gehört, die Kohärenz aller Materie zu bewirken und den Kontakt zwischen den verschiedenen Teilen des Universums aufrechtzuerhalten.« 23

So wie jeder einzelne Körper durch eine Seele belebt und zusammengehalten wird, die mit dem letzten Atemzug wieder aus ihm entweicht, so stellten sich die Stoiker das Pneuma als den Atem des Kosmos vor, der ebenfalls als ein von der Weltseele belebter und zusammengehaltener Körper verstanden wurde. Diese Fähigkeit, »die Kommunikation und Interdependenz (= sympatheia) der Teile wie die Selbstempfindung des Ganzen« 24 zu begründen, hat das Pneuma aber nur dadurch, daß es wiederum in sich selbst durch eine antagonistisch ausgerichtete Spannungsbewegung (tonos) zusammengehalten wird, die zugleich zentripetal und zentrifugal gerichtet ist, sodaß jeder der beiden Impulse dem anderen Widerstand leistet und keiner von beiden allein sich manifestieren kann. Gäbe es diesen Tonos aus antagonistisch gegenein293 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

ander wirkender Engung und Weitung nicht, so würde der Kosmos als Ganzes formlos zerfließen 25, genau wie jedes einzelne Ding auch. Aus rein physikalischen Beobachtungen »draußen im Naturgeschehen« hätte sich diese tonos-Lehre allein sicher nicht ableiten lassen, sondern nur dadurch, daß man biologisch-physiologische Denkmodelle, z. B. zur Erklärung der Atmung, auf die Kosmologie übertrug 26, und dadurch wiederum war es möglich, auch das eigenleibliche Spüren von Engung und Weitung, Spannung und Schwellung in die Natur zu projizieren und dort als Naturphänomene, eben als die Struktur des Pneumas selbst, wiederzufinden. Die pneuma-Lehre der stoischen Physik hat somit ein verborgenes, von den Stoikern selbst nie eigens expliziertes anthropologisches Fundament und unterstellt dem Weltkörper Kosmos eine Weltseele und dieselbe Struktur von Leiblichkeit wie jedem einzelnen empirisch vorfindlichen Körperleib auch, bei dem durch die konkurrierende Verschmelzung von Engung und Weitung die Engung durch den Widerstand der Weitung zur Spannung wird und die Weitung durch den Widerstand der Engung zur Schwellung: »Die einwärts gerichtete, einheitlichen Zusammenhang stiftende Komponente des stoischen tonos entspricht der Spannung, die nach außen drängende der Schwellung.«27

Mit dieser pneuma-Lehre, die ich hier nur in äußerster Verknappung skizziert habe, hatten sich die Stoiker ein Denkmodell geschaffen, das man auch als erste Feldtheorie der Physik 28 bezeichnen könnte, mit der sie nicht nur Phänomene wie Ebbe und Flut plausibel erklären konnten29, sondern auch Resonanz-Phänomene 30 aller Art, aber sie taten den einen, für unsere Fragestellung wichtigsten Schritt nicht: Sie wandten die Pneumatologie nicht an, um auf dieser Basis eine Theorie des Lachens zu erstellen. Denn wenn das alles durchdringende Pneuma als Mischung aus Feuer und Luft und damit als der warme Atem des Kosmos verstanden wird, und wenn jede Form von Lachen auf dem Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung beruht, dann könnte man doch mit einem treuherzigen Augenaufschlag auch mal die vorsichtige Frage stellen, ob denn auch der Kosmos lachen könne und vielleicht sogar tatsächlich lache. Bei Platon, durch dessen kosmologische Spekulationen im 294 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Pneuma und Tonos

Timaios (33B–34A) die stoische Weltseelen-Lehre wohl angeregt worden sein dürfte, tut er es natürlich nicht, weil die kosmische Urgestalt im luftleeren Raum schwebt und von dorther keine Luft holen kann, dies aber auch nicht nötig hat, weil sie in absoluter uroborischer 31 Autarkie alles aus sich selbst holt und sich selbst genügt. Platons Kosmos – wen wundert’s? – lacht also nicht. Aber im Ernst: Man muß sich wirklich fragen, wieso die Stoiker im Phänomen Lachen nicht die pneumatische tonos-Struktur entdeckt haben, da die Auslösung von Gelächter aller Art auf Anspannung angewiesen ist und das Lachen selbst als mehr oder weniger plötzliche Entspannung wirkt, sodaß man das Lachen gleichsam als Wellenbewegung des Pneumas selbst hätte verstehen können. Und dies um so mehr, als man dem Pneuma ausdrücklich eine uroborische Struktur zugeschrieben hat, indem man es als etwas verstand, »das in sich selbst zurückkehrt« 32. All das ist um so verwunderlicher, als es bei Chrysipp und Poseidonios sogar Ansätze zu einer Klassifikation verschiedener Spannungszustände gibt, die es durch bestimmte therapeutische Maßnahmen zu manipulieren gelte, um schließlich den optimalen Spannungszustand der eutonia 33 herbeizuführen. Auf diesen Gedanken sind wir ja schon im Kapitel über Aristoteles gestoßen, als es um das Verständnis von Katharsis als uroborischer Anspannung und Entspannung durch tragisches und komisches Theater und das eutrapelistische Scherzen und Lachen ging. Man kann sogar noch genauer fragen, warum die Stoiker nicht der Frage nachgegangen sind, inwiefern man all die verschiedenen Formen des Interaktions-Lachens, die obligatorisch mit einem Blickkontakt verknüpft sind, mithilfe der pneumatologischen Feldund Sympathietheorie beschreiben und deuten könne, also all die Phänomene mimetischer Resonanz (Einleibung, Bahnung, Anstekkung, Mitgehen etc.), zumal es in der Antike doch eine alte Lehre von der Macht des Blickes 34 gegeben hat. All diese Formen mimetischer Resonanz hätte man ja ganz im Sinne der pneumatologischen Feldtheorie als Fortsetzung eines Zustandes in einem Medium von einem Körper zum anderen 35 verstehen können.

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Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

2.5.5 Bilanz All das ist bekanntlich nicht geschehen, denn offenbar galt nicht nur für die stoische Ethik, sondern erst recht für die stoische Physik die Maxime: Das Lachen geht uns nichts an! Und somit ist in der Geschichte der Gelotologie die vielleicht größte Chance vergeben worden, das Lachen in seinen drei Ausformungen als BekundungsLachen, Interaktions-Lachen und Resonanz-Lachen angemessen und phänomengerecht zu thematisieren. Dazu Hermann Schmitz: »Die stoische Physik ist die erste sorgfältig und détailliert entwickelte philosophische Theorie, in deren Rahmen Phänomene und kategoriale Grundformen der Leiblichkeit nachhaltig und sachgemäß berücksichtigt werden.« 36

Aber, so fährt Schmitz einschränkend fort: »Auch dem stoischen Unternehmen ist höchstens ein halber Erfolg beschieden gewesen. (…) Denn die Stoiker bleiben ebenso wie Aristoteles darin Gefolgsleute Platons, daß sie den Menschen als ein aus Körper und Seele gebildetes Ganzes auffassen. Dieses Stigma des anthropologischen Dualismus vereitelt die unbefangene Berücksichtigung der leiblichen Phänomene. Der gebieterische Einfluß Platons gestattete jedoch seit seinem ersten Wirken keine Unbefangenheit der anthropologischen Forschung mehr. Trotzdem ist der Ertrag der stoischen Begriffsbildung für die Aufdeckung leiblicher Phänomene größer als der, den Platon und Aristoteles in dieser Hinsicht gewonnen haben. Nur ist der stoische Ertrag nicht richtig verstanden worden, nicht einmal von den Stoikern selbst.« 37

Damit dürfte der wichtigste Grund genannt sein, der Schlagschatten der platonischen Anthropologie, der die Stoiker hinderte, den eigenen Erkenntnissen wirklich zu vertrauen und sie vorurteilslos weiter zu verfolgen und anzuwenden. Trotzdem ging die stoische tonos- und pneuma-Lehre nicht ganz unter, sondern tauchte immer wieder mal in Ansätzen auf, z. B. bei den christlichen Kirchenvätern, bei denen sie u. a. dazu diente, die Verpönung des Lachens auch physiologisch zu begründen, weil Gelächter in jeder Form den als optimal angesehenen mittleren Spannungszustand der Eutonie mehr oder weniger massiv absenkt und

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Anmerkungen

dadurch die Seele »erschlaffen« läßt. Wir werden diesem Argument v. a. bei Johannes Chrysostomus des öfteren begegnen. Der eigentliche und legitime Erbe der stoischen tonos-Lehre aber ist Hermann Schmitz selbst, dessen Kategorialanalyse der Leiblichkeit die stoische Anthropologie ganz neu entdeckt, aufgegriffen, durch strenge Systematik überboten, dadurch ganz neu dargelegt und letztlich aufgehoben hat. Anmerkungen 1 Ich zitiere Epiktet nach der Ausgabe: Epiktet: Handbüchlein der Moral und Unterredungen, herausgegeben von Heinrich Schmidt, Stuttgart 1966. 2 Die Gedichte des Horaz. Lateinisch und deutsch. Nach Kayser, Nordenflycht und Burger herausgegeben von Hans Färber, München 3/1949, S. 24 f. 3 Vgl. dazu die Aufsätze über die hohe Kunst des Blödelns in dem Band: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München 1976: Dieter Wellershoff: Infantilismus als Revolte oder das ausgeschlagene Erbe – Zur Theorie des Blödelns, S. 335–357; Dieter Henrich: Festsitzen und doch Freikommen (Über eine Minimalform komischer Kommunikation), S. 449–452; Wolf-Dieter Stempel: Blödeln mit System, S. 449–452; Harald Weinrich: Blödeln, bummeln, gammeln, S. 452–455, sowie Gert Mattenklott: Versuch über Albernheit, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf: Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt a. M. 1986, S. 210–223, sowie das Kapitel »Marginalien über Komik« in: Dieter Henrich: Fixpunkte. Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst, Frankfurt a. M. 2003, S. 233–243. 4 Hier habe ich die Übersetzung verändert und »Lust« durch »Jux« ersetzt, um stultitia etwas angemessener wiederzugeben. 5 Horaz’ sämtliche Dichtungen. Nach den revidierten Übersetzungen der Oden und Epoden von Ernst Günther, der Satiren und Episteln von Christoph Martin Wieland neu herausgegeben von Hermann Fleischer, Stuttgart o. J., S. 116. 6 Ich zitiere Seneca immer nach der Ausgabe: L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Hg. v. Manfred Rosenbach, 5 Bde, Darmstadt 1987 ff. 7 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur,- Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981. 8 Forschner, S. 122. 9 Forschner, S. 123. 10 Ich zitiere Cicero nach der Ausgabe: Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Lateinisch – deutsch. Mit ausführlichen Anmerkungen neu herausgegeben von Olof Gigon, München 2/1970. 11 Vgl. dazu die beiden Aufsätze von Caspar Kulenkampff: Entbergung, Entgrenzung, Überwältigung als Weisen des Standverlustes, und Jürg Zutt: Über Daseins-

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Die Stoa oder Die Frage nach den Affekten

ordnungen. Ihre Bedeutung für die Psychiatrie, in dem Sammelband: Erwin Straus/Jürg Zutt (Hg.): Die Wahnwelten (Endogene Psychosen), Frankfurt a. M. 1963, S. 202–217 bzw. S. 169–192. 12 Vgl. dazu Diogenes Laertius, S. 161 (III,26). 13 Vgl. dazu Staat 604D–605C. 14 Vgl. dazu Ciceros Einteilung der Affekte, in: Tusculum, S. 257 ff., sowie Malte Hosenfelder: Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 1985, S. 48 f., wo die vier Grundaffekte Lust (hedone), Unlust (lype), Begierde (epithymia) und Furcht (phobos) mit der tonos-Lehre verknüpft werden, derzufolge Lust ein »Anschwellen«, Unlust ein »Sichzusammenziehen«, Begierde ein »Sichausstrecken« und Furcht eine »Verrenkung der Seele« ist. 15 Hier habe ich die Übersetzung verändert, denn Rosenbach übersetzt »riderent« mit »lächeln«, nicht mit »lachen«. 16 Ich zitiere Schopenhauer nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Eduard Grisebach, Leipzig o. J. 17 Vgl. dazu den 5. Brief Senecas an Lucilius, wo Seneca seinem Schüler einschärft: »Ruppige Kleidung, ungeschnittenes Haupthaar, vernachlässigten Bart, dem Geld erklärten Haß, Nachtlager auf der Erde und was immer sonst dem Ehrgeiz auf verkehrtem Wege folgt, meide. (…) Natürlich, unser Vorsatz ist, der Natur gemäß zu leben: das ist wider die Natur, zu quälen seinen Körper, selbstverständliche Sauberkeit als widerwärtig zu empfinden, Ungepflegtheit als erstrebenswert anzusehen und nicht nur einfache Nahrung zu sich zu nehmen, sondern widerwärtige und scheußliche. Wie Luxusartikel zu wünschen ein Zeichen von Genußsucht ist, so gebräuchliche und um ein geringes zu beschaffene zu meiden eine Torheit. Anspruchslosigkeit fordert die Philosophie, nicht Selbstbestrafung.« (III,23 ff.) 18 Ich zitiere Erasmus nach der Ausgabe: Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Eine Lehrrede, Übersetzung aus dem Lateinischen und Nachwort von Kurt Steinmann, Zürich 2003. 19 Herder, 29,20. 20 Ich zitiere nach der Ausgabe: Thomas von Kempen: Nachfolge Christi. Mit den Anmerkungen von Félicité de Lamennais, Solothurn/Düsseldorf 5/1995. 21 Ludwig Derleth: Das Werk. Sechs Bände, Bellnhausen über Gladenbach (Hessen), 1971, Bd. I, S. 73. 22 Vgl. dazu Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lateinisch/deutsch, hg. v. Gerhard Winkler, Innsbruck 1990, Bd. I, S. 257 ff. 23 S. Sambursky: Das physikalische Weltbild der Antike, Zürich/Stuttgart 1965, S. 183. Vgl. dazu auch den überaus reichen Sammelband von Barbara Neymeyr/ Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne, 2 Bde, Berlin 2008, der v. a. im ersten Band für unsere Fragestellung außerordentlich anregende Beiträge von Maximilian Forschner und Jochen Schmidt enthält. 24 Forschner: Stoische Ethik, S. 55. 25 Vgl. Sambursky: Das physikalische Weltbild, S. 188 ff.

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Anmerkungen 26

Vgl. Sambursky, S. 183 ff. Schmitz: Leib, S. 501 f. 28 Vgl. Sambursky, S. 182 ff. 29 Vgl. Sambursky, S. 224 f. 30 Vgl. Sambursky, S. 182 ff. 31 Schleiermacher beschreibt diesen platonischen Kosmos, den kugelförmigen »Leib der Welt« in seiner Übersetzung am deutlichsten als Uroboros, der in völliger Autarkie existiert: »Denn nirgendwärtsher fand ein Zugang oder Abgang statt, war doch nichts vorhanden, sondern ein Sichselbstverzehren gewährt der Welt ihre Nahrung; sie ist kunstvoll so gestaltet, daß sie alles in sich und durch sich tut und erleidet, da ihr Bildner meinte, als sich selbst genügend werde sie besser sein als eines andern bedürftig.« (33c–d) 32 Max Pohlenz: Stoa und Stoiker. Die Gründer. Panaitios und Poseidonios, Zürich/Stuttgart 1950, S. 55 33 Vgl. dazu Karl Reinhardt: Poseidonios, München 1921, S. 281 f. 34 Vgl. dazu Sambursky, S. 204 ff. über die Theorie des Sehstrahls, sowie Thomas Rakoczy: Böser Blick. Macht des Auges und Neid der Götter, Tübingen 1996. 35 Man unterscheidet in der Physik zwei grundverschiedene Formen von Bewegung: Einmal die korpuskulare Bewegung als Bewegung bestimmter Körper von da nach dort, wie dies in der Antike v. a. in der aristotelischen Physik geschieht; und zum anderen Bewegung als Fortpflanzung eines Zustandes in einem Medium oder Feld, z. B. als Fortpflanzung von Wellen im Wasser. Vgl. dazu Sambursky: Das physikalische Weltbild, S. 202 ff. 36 Schmitz: Leib, S. 497. Vgl. dazu auch Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie, Freiburg/München 2007, Bd. I, S. 309 ff. 37 Schmitz: Leib, S. 497 f. 27

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2.6 Die christlichen Kirchenväter oder Die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des lachenden Menschen

Schon Ernst Robert Curtius, der sich, so weit ich sehe, als Erster mit dem Thema »Die Kirche und das Lachen«1 beschäftigte, hat eindringlich davor gewarnt, diese Frage zu leicht zu nehmen, weil die Bandbreite der christlich-kirchlichen Stellungnahmen dem Lachen gegenüber gar zu groß ist, um ein eindeutiges Bild zu ergeben, denn sie reichen »von rigoristischer Ablehnung bis zu wohlwollender Duldung« (S. 423). Das liegt einmal schon an der Mannigfaltigkeit des Phänomens Lachen selbst, zum andern aber auch daran, daß das Christentum sehr vielfältige und durchaus heterogene und sogar in sich widersprüchliche Strömungen synkretistisch in sich aufgenommen hat, die ihre jeweilige Haltung dem Lachen gegenüber gleichsam als Erbe mit einbrachten, untereinander heftig rivalisierten und zu verschiedenen Zeiten das Bild des Christentums unterschiedlich stark prägten. Ich nenne als die wichtigsten dieser Quellen nur die Hebräische Bibel, die Philosophie von Platon und Aristoteles, die hellenistische Weisheitsliteratur, wie sie in den »salomonischen« Texten der Hebräischen Bibel und in der Stoa vorliegt, die Evangelien, die Lehrbriefe der Apostel, insbesondere die von Paulus, und schließlich die Gnosis. Da von all diesen Positionen nur Aristoteles und die Patriarchen-Bücher der Hebräischen Bibel das Lachen positiv bewerten, läßt sich vermuten, daß die allgemeine Tendenz des frühen Christentums wohl dahingeht, dem Lachen in all seinen Formen eher zu mißtrauen und den Kampf gegen die »Altäre des Lachens« 2 zu führen, daß es aber auch deutliche Anstrengungen gegeben hat und auch heute immer noch gibt, das Lachen theologisch einzuordnen und zu rechtfertigen. Derlei Versuche finden sich allerdings kaum in der Frühzeit der Kirche bei den Kirchenvätern, sondern erst rund 300 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

tausend Jahre später, als durch Albertus Magnus und v. a. durch Wilhelm von Conches, Alexander von Hales und Thomas von Aquin die Aristoteles-Rezeption aufs neue begann und das geistige Leben Europas in eine neue Richtung lenkte. Auch heute ist das Verhältnis der Christen dem Lachen gegenüber immer noch nicht sonderlich entspannt, und bewegt sich immer noch in etwa auf der von Curtius beschriebenen Bandbreite. Und in den Publikationen, die sich bemühen, das Lachen für den Christen zu »retten«, herrscht immer noch eine gewissen Befangenheit, die sich, methodologisch gesehen, meist darin äußert, daß man die Vielfalt des Lachens auf die wenigen Formen reduziert, die mit dem Christentum kompatibel zu sein scheinen, und diese dann für das »eigentliche« oder »echte« Lachen ausgibt. Oder aber man gibt sich demonstrativ heiter als »Christ, wie er singt und lacht«3, ohne zu merken, wieviel Befangenheit man gerade dadurch verrät. Eine wirklich unbefangene Sicht eines zeitgenössischen Christen auf das Lachen findet sich, so weit ich sehe, eigentlich nur bei dem katholischen Publizisten Gisbert Kranz (1921–2009), der im Gefolge Plessners ein kleines, aber außerordentlich faktenreiches und anregendes Buch über das Lachen 4 geschrieben hat, ohne in den Reduktionismus seiner christlichen Kollegen zu verfallen. All dies legt eigentlich eine historisch orientierte Darstellung nahe, eine Geschichte der Auseinandersetzung der christlichen Kirche bzw. der verschiedenen christlichen Konfessionen mit dem Lachen, bei der sich zeigen ließe, in welchem Maß die Aristoteles-Rezeption die theologische Rechtfertigung des Lachens vorangetrieben, die Augustinus-Rezeption hingegen diese verhindert oder wieder zurückgenommen hat. Außerdem ließe sich zeigen, daß und wie die verschiedenen Frömmigkeitsschübe wie Devotio moderna, Reformation, Gegenreformation, Puritanertum, Jansenismus und Pietismus das Lachen im Raum der christlichen Kirchen 5 immer wieder verstummen ließen. Eine solche explizit lachgeschichtlich orientierte Darstellung aber ist nicht unser Thema; sie wäre auch erst sinnvoll, wenn durch eine systematisch orientierte Analyse des Lachens vorher schon geklärt wäre, welche Arten von Lachen es überhaupt gibt, 301 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

deren Duldung, Preisung oder Bekämpfung im Raum der Kirche eine Aufgabe praktischer Theologie im Wandel der Zeiten sein könnte. Die Aufgabe, die hier in dieser Studie zu klären ist, besteht demnach darin, die Texte der Kirchenväter im Hinblick darauf zu prüfen, ob sie Ansätze zur Bestimmung des Lachens geliefert haben, die auch über den kirchlich-theologischen Rahmen hinaus den gelotologischen Diskurs befruchten konnten. Es gilt also, einen theologischen Diskurs erst zu rekonstruieren, dann die ihm immanenten anthropologischen Implikationen zu suchen und gezielt zu säkularisieren. Deshalb stellen wir mit den Kirchenvätern erst die Frage nach der »Weltverfallenheit« und »Sündhaftigkeit« des Menschen, stellen also erst, profan formuliert, die Frage nach seinen Neigungen, und fragen dann, in welcher Art und Weise diese Neigungen den Habitus eines Menschen überformen, und inwiefern die Kirchenväter auf diese Weise Kriterien für eine Theorie des Lachens geliefert haben, ohne dies eigentlich zu wollen. Einschlägig fündig werden wir hier bei Clemens von Alexandria, bei Laktanz, bei Ephräm, bei Johannes Chrysostomus, und v. a. bei Augustinus, aber auch in den Mönchsregeln. 2.6.1 Die Grundlagen 2.6.1.1 Die alttestamentliche Sicht auf das Lachen Bei der Durchsicht des Alten Testamentes stellen wir fest, daß dort vom Lachen erstaunlich wenig die Rede ist und daß das Lachen nur an ganz wenigen Stellen ausdrücklich zum Thema gemacht wird. Da die Hebräische Bibel aus sehr heterogenen Elementen besteht, also aus den fünf Moses-Büchern, dem deuteronomistischen Geschichtswerk, den Texten der Propheten, verschiedenen poetischen Werken und weisheitlichen Spruchsammlungen, die aus ganz unterschiedlichen Zeiten stammen und ganz unterschiedliche Ziele verfolgen, finden sich die Stellen, an denen das Lachen explizit thematisiert wird, eigentlich nur in den sehr spät entstandenen »salomonischen« 6 Büchern, die aus der Zeit des Hellenismus stammen 302 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Grundlagen

und so, wie sie lauten, in ihrer Mehrheit auch von Epiktet oder Seneca oder sonst einem Stoiker verfaßt sein könnten, da das Kriterium für rechtes Verhalten aus dem Gegensatz von Weisheit und Torheit/Narrheit entwickelt wird und die Grundstimmung eher pessimistisch-skeptisch ist. Da lesen wir z. B.: »Ein Narr treibt Mutwillen und hat noch dazu seinen Spott; aber der Mann ist weise, der aufmerkt.« (Sprüche Salomos 10,23) »Ich sprach zum Lachen: Du bist toll! und zur Freude: Was machst du?« (Prediger Salomo 2,2) »Das Herz des Weisen ist im Klagehause, und das Herz des Narren im Haus der Freude.« (Prediger Salomo 7,4) »Denn das Lachen des Narren ist wie Krachen der Dornen unter den Töpfen; und auch das ist eitel.« (Prediger Salomo 7,6) »Der Tor bricht in schallendes Gelächter aus, der kluge Mann aber lächelt kaum leise.« (Jesus Sirach 21,10)

All diese Weisheitslehren setzen also an bei dem Gegensatz von tendenziell verfügbarem, selbstbestimmtem und maßvollem Verhalten, das dem Frommen und Weisen zugeschrieben wird, und dem tendenziell unverfügbaren, maßlosen, ausgelassenen, mitgerissenen und fremdbestimmten Verhalten, durch das sich der Gottlose und der Tor/Narr auszeichnen. In der Bandbreite des Lachens selbst ist es der Gegensatz zwischen dem schallenden Gelächter mit offenem Maul und dem atmungsneutralen feinen Lächeln. Auf diesen Gegensatz von »kathartischem« und »ataraktischem« Lachen werden wir bei den Kirchenvätern des öfteren stoßen, da in deren Schriften die »salomonische« Weisheitsliteratur wegen ihrer Nähe zur Stoa besonders gern zitiert wird. Das ist bis heute so geblieben, denn auch außerhalb explizit christlicher Rede ist diese »salomonische« Unterscheidung zwischen Weisheits-Lächeln und Narren-Lachen in den Sprichwörtern erhalten geblieben: »Am Lachen erkennt man den Narren.« Diesen Gegensatz scheint auch Nietzsche im Auge gehabt zu haben, wenn er ihn sogar zu einem Kriterium des Zivilisationsprozesses erhebt und in dem Aphorismus unter dem Titel »Lachen und Lächeln« schreibt: »Je freudiger und sicherer der Geist wird, um so mehr verlernt der Mensch das laute Gelächter; dagegen quillt ihm ein geistiges Lächeln

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Die christlichen Kirchenväter

fortwährend auf, ein Zeichen seines Verwunderns über die zahllosen versteckten Annehmlichkeiten des guten Daseins.« (I,944)

Ganz analog heißt es an anderer Stelle: »Wenn der Mensch vor Lachen wiehert, übertrifft er alle Tiere durch seine Gemeinheit.« (I,703)

In den erzählenden Teilen der Hebräischen Bibel ist zwar immer wieder, wenn auch selten, vom Lachen die Rede, weil Lachen dort zwar seinen ganz normalen Platz im Leben hat, die Grundstimmung der Hebräischen Bibel aber durchaus ernst ist. Deshalb wird das Lachen nur an einer einzigen Stelle explizit zum Thema gemacht, wenn in den Patriarchen-Geschichten von der Zeugung und Geburt des Erzvaters mit dem sprechenden Namen Isaak/ Jis’chak die Rede ist. Das Hebräische der Bibel kennt zwei Verben für ›lachen‹ : ›sachak‹ und ›la’ag‹ 7, die in der Vulgata mit ridere/inridere/deridere bzw. mit subsannare übersetzt werden, wobei ›sachak‹ sowohl das Auflachen über einen Scherz als auch das mehr oder weniger gutmütige resp. mehr oder weniger aggressive Auslachen bezeichnet, ›la’ag‹ aber immer für das aggressiv höhnische Verspotten steht und dies mit der Tendenz, den Verachteten, Verspotteten und Ausgelachten8 letztlich auch zu vernichten. Verspotten ist ja, etymologisch gesehen, Anspucken/Anspotzen, ist also Ausdruck äußerster Verachtung, sodaß man dieses alttestamentarische la’ag-Lachen sehr wohl auch als »Lach-Kotze« übersetzen könnte. Man kann ›la’ag/subsannare‹ aber auch mit ›zannen‹ übersetzen, weil das Zannen die Geste extremer Verachtung ist, bei der man jemandem zähnefletschend die Zunge so weit wie möglich herausstreckt, als ob man mit ihr den verachteten Partner ankotzen möchte. Das sachak-Lachen finden wir in der Isaak-Episode, das la’ag-Lachen in den Psalmen 2, 37 und 59, in denen der jüdische Gott Jahwe seine Götterkonkurrenten9 verlacht, verhöhnt und ankotzt, sowie in den Passagen, wo Jahwes Propheten die Priester anderer Religionen verspotten, verlachen und vernichten, wie dies am eindrücklichsten im Götterwettstreit auf dem Karmel (1. Könige 18– 19) geschieht. Dort geht die reichlich derbe Verspottung des Gottes Baal und seiner Priester konsequent über in die Abschlachtung dieser Priester und in die Umwandlung der Baal-Altäre in Latrinen. 304 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Grundlagen

In der Isaak-Episode wird dem uralten Ehepaar Abraham und Sara durch einen geheimnisvollen Boten verkündigt, sie würden noch einen Sohn bekommen, was Sara für einen schlechten Scherz hält und mit Lachen quittiert. Sie bekommt das Kind aber doch, und weil sie bei dessen Ankündigung ungläubig gelacht hatte, wird das Kind ›Isaak/Jis’chak‹ genannt: »Und Sara sprach: Gott hat mir ein Lachen zugerichtet; denn wer es hören wird, der wird über mich lachen.« (1. Moses 21,6)

Der Name ›Jis’chak‹ ist ein sprechender programmatischer Name und als solcher philologisch gesehen ein Imperfekt 10 des Verbs ›sachak‹ und bedeutet ›er lacht‹, ›er neigt zum Lachen‹, ›er ist ein Lachender‹11. Bei der Deutung dieses sprechenden Namens gehen die Meinungen der Gelehrten allerdings auseinander und orientieren sich entweder an dem Altphilologen und Religionshistoriker Eduard Norden oder an dem Alttestamentler und Theologen Martin Noth. Eduard Norden hatte in seinem klassischen Werk Die Geburt des Kindes (1924) Isaak in die Tradition des göttlichen Kindes eingeordnet, die auch in vielen »heidnischen« Religionen vorkommt und weit über die Bibel hinausreicht. Martin Noth hatte in seiner Studie Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung (1928) den Rahmen seiner Untersuchung etwas enger gezogen und den Namen Jis’chak als Kurzform des Namens Jis’chak-El gedeutet, der demnach die Bedeutung hätte »Gott lacht Isaak freundlich an« oder »Gott lächelt dem Isaak zu«. Diese Deutung hat v. a. bei christlichen Theologen aller Konfessionen Schule gemacht, weil sie der Tendenz entgegenkommt, schon die ältesten Passagen der Hebräischen Bibel christlich monotheistisch zu deuten. Da der Name Isaakel in der Bibel jedoch nirgendwo vorkommt und wohl ein theologisches Konstrukt ist, orientiere ich mich hier ganz an Eduard Nordens philologisch-religionsgeschichtlich orientiertem Deutungsansatz und ordne Isaak ebenfalls in die Tradition des göttlichen Kindes 12 ein, das unter äußerst wundersamen Umständen gezeugt und geboren wird und ganz obligatorisch sein strahlend heiteres Lachen lacht, und dem wir in der Religionsgeschichte von Zarathustra und Sargon bis herauf zum Jesus der 305 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

klassischen Weihnachtslieder begegnen, v. a. aber in der berühmten vierten Ekloge von Vergil, wo das eben geborene göttliche Kind mit den Versen angesprochen wird: »Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem.« »Auf denn, Knabe, du kleiner, erkenne mit Lachen die Mutter! Lange Beschwerde doch brachten der Monate zehn deiner Mutter. Auf denn, Knabe, du kleiner: wer nicht anlachte die Mutter, Nimmer würdigt ein Gott ihn des Mahls, eine Göttin des Lagers.« 13

Wenn das Lachen Isaaks dieses Lachen ist, dann ist es das sonnenhaft strahlende Lachen, das jeden, der es wahrnimmt, erfreut und erwärmt und dazu einlädt, in diese göttliche Heiterkeit mit einzustimmen, und so ist es wohl auch gemeint. In diese Richtung scheint auch der protestantische Theologe Werner Thiede zu denken, auch wenn er den Heiden Vergil nicht für würdig hält, eigens zitiert zu werden, denn auch er will das Lachen für die Christenheit retten und sieht deshalb in der IsaakEpisode der Genesis eine paradigmatische Bestätigung seiner theologisch orientierten Theorie des Lachens. Da dies ohne entschlossenen Reduktionismus nicht gelingen kann, reduziert er erst mal die Vielfalt des Lachens einzig auf das Bekundungs-Lachen und die Vielfalt des Bekundungs-Lachens wiederum einzig auf das befreite, erleichterte Auflachen, und im Prokrustes-Bett dieses Theorieleins liegt dann laut Thiede die »Grundformel des Lachens« (S. 26). Lachen ist demnach grundsätzlich und immer »nichts anderes als« Ausdruck der »Befreiung von einem bedrückenden zu einem beglückenden Gefühl« (S. 34), und deshalb gilt für ihn: »Solcher Jubel ist im Kern jedes Lachen: Ausdruck von Glücksgefühl und Freude.« (S. 31) Damit ist Lachen, und das heißt: jedes Lachen für Thiede ein Vorgeschmack der ewigen Seligkeit, in dem sich die Gewißheit des Christen kundgibt, durch Christus erlöst zu sein, und das Lachen Isaaks wäre nach dem Prinzip ›figuram implere‹ 14 »nichts anderes als« die alttestamentliche Vorwegnahme und Verheißung eben dieses triumphal befreiten Lachens, das jeder Christ in der Gewißheit seiner letztlichen Erlösung anstimmen darf. Der Titel seines Buches Das verheißene Lachen könnte deshalb auch »Das verheißende Lachen« lauten. Vom ambivalenten Charakter des Lachens scheint 306 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Thiede noch nie etwas gehört, gelesen oder gemerkt zu haben und von dem Vernichtungspotential, das in den aggressiveren Formen des Lachens steckt, erst recht nicht. Ein kurzer Blick in das Buch von Gisbert Kranz hätte ihm aber deutlich gemacht, mit welch fromm verengtem Tunnelblick er das weite Feld des Lachens betrachtet, denn dort ist nicht nur die Rede von den verschiedensten Anlässen zum Lachen, sondern auch vom Lachen aus Qual, vom krankhaften, dämonischen und satanischen Gelächter 15 und dann eben auch noch vom Lachen des Christen. Im Unterschied zum sachak-Lachen, bei dem wir auf den Kontext angewiesen sind, um zu bestimmen, welches Lachen jeweils damit gemeint ist, ist das la’ag-Lachen generell eindeutig das auf die Konkurrenzsorge phthonos gegründete aggressive Auslachen, das wir schon bei Platon und Hesiod angetroffen haben. In den oben erwähnten Bibel-Passagen, in denen der jüdische Gott Jahwe seine Götter-Konkurrenten mit seiner Lachkotze auslacht, wird deshalb in der für den Stil der hebräischen Bibel typischen intensivierenden Parallelformulierung immer das sachak-Lachen mit dem la’ag-Lachen kombiniert bzw. das sachak-Lachen zum la’ag-Lachen gesteigert. So heißt es z. B. in Psalm 2: »Warum toben die Heiden (gojim), und die Völker (amim) reden so vergeblich? Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Herren ratschlagen miteinander wider den Herren und seinen Gesalbten (maschiach/Messias). (…) Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer (sachak/inridere), und der Herr spottet ihrer (la’ag/subsannare).« (Psalm 2, 1–4)

Ganz analog heißt es in Psalm 59,9: »Aber du, Herr, wirst ihrer lachen (sachak/deridere) und aller Heiden spotten (la’ag/subsannare).«

Die gleiche Argumentation finden wir auch in den Sprüchen Salomos, wenn die vergöttlichte und personifizierte Weisheit nicht minder aggressiv ihren Gegnern und Leugnern ihre massive Schadenfreude androht: »So will ich auch lachen (sachak/ridere) in eurem Unglück und über euch spotten (la’ag/subsannare), wenn da kommt, was ihr fürchtet.« (Sprüche Salomos 1,26)

Über die angemessene Interpretation von Psalm 2 sind sich die Gelehrten ganz uneinig, weil man nicht genau weiß, wann16 er ent307 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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standen ist. Ist er vor-exilisch zu datieren, artikuliert er als Auslachen-von-oben die prunkende Selbstdarstellung des jüdischen Gottes Jahwe, seines Königs und seiner Tempelpriester auf der Höhe ihrer selbstgewissen Macht; ist er im babylonischen Exil entstanden, also nach der Zerschlagung des jüdischen Staates und Königtums und nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem und der völligen Entmachtung seiner Priesterkaste, so ist der Psalm als trotziges Auslachen-von-unten ein Akt des politisch-religiösen Widerstandes und der entschlossenen Selbstbehauptung in einer existentiellen Notlage. Ähnliche Trotzreaktionen politisch-religiöser Art finden sich in den im Exil entstandenen Texten der Hebräischen Bibel zuhauf, insbesondere bei Jesaja, Deuterojesaja und Hesekiel 17. So heißt es z. B. bei Deuterojesaja: »Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Isaaks, du Heiland. Aber die Götzenmacher müssen allesamt mit Schanden und Hohn bestehen und miteinander schamrot hingehen. Israel aber wird erlöst durch den Herrn, durch eine ewige Erlösung, und wird nicht zu Schanden noch zu Spott immer und ewiglich.« (Jesaja 45,15–17)

Bei diesem vernichtungslüsternen Hohn und Spott auf die fremden Götter bleibt es aber nicht, denn im nächsten und in sich ganz konsequenten Schritt wird nicht nur die Macht der fremden Götter geleugnet, sondern auch noch deren Existenzrecht und sogar deren Existenz. Aus der phthonos-Rangelei um den Vorrang unter den Göttern im vorderen Orient nach dem Prinzip »Wer wen?« ist mit einem Schlag ein göttlicher Solipsismus geworden, und das führt dann zum Postulat des strikten Monotheismus, den Deuterojesaja mit den Worten verkündet: »Ich bin der Erste, und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott.« (Jesaja 44,6) »Ich bin der Herr, und sonst keiner mehr; kein Gott ist außer mir. (…) Auf daß man erfahre, von der Sonne Aufgang und der Sonne Niedergang, daß außer mir keiner sei. Ich bin der Herr, und keiner mehr.« (Jesaja 45,5–8) »Ich bin der Herr, und ist keiner mehr.« (Jesaja 45.18) »Und ist sonst kein Gott außer mir, ein gerechter Gott und Heiland; und keiner ist außer mir. Wendet euch zu mir, so werdet ihr selig,

308 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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aller Welt Enden; denn ich bin Gott, und keiner mehr.« (Jesaja 45,21–22)

Der jüdische Monotheismus entstand also offenbar nicht aus göttlicher Selbstgewißheit und Machtfülle, sondern eher aus Ressentiment und Trotz, denn: »Die Proklamation des monotheistischen Jahweglaubens beinhaltet die theologische Antwort auf die durch das Exil hervorgerufene tiefe Krise des alttestamentlichen Gottesvolkes. Als größte geistige Leistung dieser Epoche erfüllt sie eine Art Theodizee-Funktion, indem sie hilft, das Gefühl der Ohnmacht und Ausweglosigkeit zu bewältigen.« 18

Dem katholischen Theologen Karl-Josef Kuschel 19, der sich ebenfalls zum Ziel gesetzt hat, das Lachen für die katholische Kirche theologisch zu retten, um den »Kältestrom des Autoritarismus, der keinen Spaß versteht«20, in der katholischen Kirche von heute zu bekämpfen, ist bei den oben zitierten »problematischen Psalmen« (S. 103) 2, 37 und 59 offensichtlich gar nicht wohl, weil er die vernichtungslüsterne Aggressivität spürt, die in diesem Lachen des Gottes Jahwe steckt, dies aber nicht so recht wahrhaben kann, weil dieser alttestamentarische rachsüchtige und eifersüchtige Gott Jahwe eben auch sein Gott ist, und deshalb schreibt er reichlich gewunden und gleichsam »mit angezogener Handbremse«: »Der Gott dieser Psalmensänger ist gerade der Garant des Guten gegen das Böse, des Heiligen gegen das Unheilige. Sein Lachen ist das ausgrenzende Gelächter 21 eines Parteigottes, dem die Frommen am liebsten noch die freie Gnade gegenüber allen Unfrommen beschneiden würden. (…) Deshalb gilt: Das Lachen Gottes, das die Sänger bestimmter Psalmen beschwören, hat nichts Befreiendes mehr. Es hat sich vielmehr mit Spott gepaart, der bis an die Grenze zum Sarkasmus reichen kann. Ähnlich wie in der Abrahams-Geschichte das Bild des Menschen, so droht bei solchen Aussagen das Bild von Gott doppelbödig, ja unheimlich zu werden. Und in der Tat gibt es Dimensionen im Gottesbild der Hebräischen Bibel, wo diese Doppelbödigkeit und Unheimlichkeit durch sein Lachen unterstrichen wird: ein undurchschaubar-rätselhaftes Lachen.« (S. 108 f.)

Kuschel hat hier offenbar nicht nur die »problematischen Psalmen« im Auge, sondern auch bestimmte Passagen aus der jüdisch-helle309 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nistischen Weisheitsliteratur und v. a. das Buch Hiob. Er zitiert denn auch eine Passage aus der Weisheit Salomos, in der dargestellt wird, wie Jahwe hohnlachend mit den gottlosen Frevlern abrechnet, und ringt sich tatsächlich die Formulierung ab, dieses Lachen Gottes sei ein »gewalttätiges Vernichtungslachen« (S. 115), denn da heißt es: »Sie aber wird der Herr verlachen. Und sie werden danach zu einem verachteten Leichnam werden und zu einem Gespött unter den Toten ewiglich, weil er sie verstummend kopfüber stürzen und sie aus ihren Fundamenten herausschleudern wird. Und bis aufs Letzte werden sie verwüstet werden und werden Schmerzen leiden, und die Erinnerung an sie wird verloren gehen.« 22

Ähnlich aggressiv geht Jahwe mit seinem frommen Gottesknecht Hiob um, diesmal aber ohne jeden ersichtlichen Grund, denn im Buch Hiob wird erzählt, wie Jahwe den frommen und gesetzestreuen Hiob bis aufs Blut schinden läßt, sodaß dieser schließlich zu einer großen Protestrede anhebt. Dieses neunte Kapitel des Buches Hiob liest sich wie eine explizite Zurücknahme des 23. Psalms (»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …«) und mündet im Bild eines hohnlachenden Gottes, wie wir das schon von Hesiod kennen, denn da klagt Hiob über seinen Gott: »Wenn ich auch recht habe, kann ich ihm dennoch nicht antworten, sondern ich müßte um mein Recht flehen. Wenn ich ihn schon anrufe, und er mir antwortet, so glaube ich doch nicht, daß er meine Stimme höre. Denn er fährt über mich mit Ungestüm und macht mir der Wunden viel ohne Ursache. Er läßt meinen Geist sich nicht erquicken, sondern macht mich voll Betrübnis. Will man Macht, so ist er zu mächtig; will man Recht, wer will mein Zeuge sein? Sage ich, daß ich gerecht bin, so verdammt er mich doch; bin ich unschuldig, so macht er mich doch zu Unrecht. Ich bin unschuldig. Ich frage nicht nach meiner Seele, begehre keines Lebens mehr. Es ist (alles) eins, darum sage ich: Er bringt um beide, den Frommen und den Gottlosen. Wenn er anhebt zu geißeln, so dringt er alsbald zum Tod und spottet der Anfechtung der Unschuldigen.« (Hiob 9,15–23)

Der Jansenist Blaise Pascal ergreift selbstverständlich für diesen höhnisch lachenden Gott und gegen Hiob Partei und schreibt dazu in seinem elften Provinzial-Brief: 310 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Sehen wir nicht, daß Gott für die Sünder Haß und Verachtung zugleich hat, was am deutlichsten darin zum Ausdruck kommt, daß in der Stunde ihres Todes, wenn ihr Zustand beklagenswerter und trauriger ist als je, die göttliche Weisheit Spott und Hohn zur Rache und zum Zorne hinzugesellt, die sie zu ewigen Qualen verdammen: In interitu vestro ridebo et subsannabo? Und die Heiligen, die in demselben Geiste der Weisheit handeln, tun dasselbe, denn sie werden, nach dem Worte Davids, beim Anblick der Bestrafung der Ungerechten zittern und lachen zugleich: Videbunt iusti et timebunt; et super eum ridebunt. Und Hiob redet nicht anders: Innocens subsannabit eos.« 23

Was im Buch Hiob dargestellt wird, kann man ohne Abstriche als sadistisches Szenario bezeichnen, bei dem ein Gott, der alle Züge eines neurotischen Einzelkindes 24 hat, sein unschuldiges Opfer lustvoll quält und auch noch sein herrenzynisches göttliches Auslachenvon-ganz-oben in vollen Zügen genießt. Der versöhnliche Schluß des Hiob-Buches ist erst nachträglich von irgendwelchen Redaktoren drangeklebt worden, um die Aufnahme des Textes in den Tanach überhaupt möglich zu machen. Dieser reichlich künstlich wirkende versöhnliche Schluß der Hiob-Geschichte deutet darauf hin, daß es schon im Hellenismus starke Tendenzen gab, die archaischen, sadistischen und despotischen, mit einem Wort: menschlich-allzumenschlichen Züge der Götter, wie sie in der Hebräischen Bibel und auch bei Hesiod auftreten, möglichst zu mildern und sie mit den Kriterien der griechischen Aufklärung kompatibel zu machen, damit sie tatsächlich auch dem entsprechen sollten, was sich für einen Gott schickt und was nicht. Es ging also darum, die archaischen Götter gleichsam einem Zivilisationsprozeß im Sinne von Norbert Elias zu unterziehen und entsprechend zu vergeistigen. Was sich aber für Götter wie Jahwe und Zeus und auch später für den Christen-Gott nach wie vor schickte, war das zornige und vernichtungsbereite la’ag-Lachen, das jedoch ausschließlich den Göttern vorbehalten blieb und deshalb den Menschen verboten war, da es als Bekundung von Hoffart galt, durch die sich der Mensch anmaßte, lachen zu dürfen wie Gott bzw. wie ein Gott. Trotz all dieser Kosmetik am Bild eines bösartigen Gottes, wie es im Buch Hiob aufscheint, wird der ketzerische Kirchenvater Mar311 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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cion ebendieses Bild wieder aufgreifen, desgleichen die Gnosis, und beide werden zusammen mit diesem alttestamentlichen archaischen Gott auch den nach seinem Ebenbild geschaffenen Menschen, die von ihm erschaffene und genauso bösartige und schäbige Welt und schließlich auch das gesamte Alte Testament verwerfen, und das wird massive Konsequenzen auch für die Einschätzung des Lachens durch das frühe Christentum zeitigen. Dieses Bild eines bösartigen, haßerfüllten und sadistischen Gottes kehrt aber auch beim Kirchenvater Aurelius Augustinus wieder, genauer: in der gnadenlosen Gnadenlehre des späten Augustinus nach 391, die schon dem neugeborenen Kind eine Erbsünde und damit auch eine Erbschuld25 aufbürdet, für die es den sofortigen Tod verdient. 2.6.1.2 Die neutestamentliche Sicht auf das Lachen Da in den vier Evangelien, die die Kirchenväter aus der Fülle der vorliegenden Texte ausgewählt und zum Kanon 26 zusammengestellt haben, nirgendwo explizit davon die Rede ist, daß Jesus gelacht habe, hat man schon sehr früh daraus geschlossen, daß er als wahrer Mensch zwar sehr wohl habe lachen können, aber nicht habe lachen wollen, und er habe deshalb nicht lachen wollen, weil das Lachen zumindest überflüssig, eigentlich aber doch irgendwie verwerflich 27 sei. Deshalb sei jeder Christ, der es mit der Nachfolge Christi ernst meine, gehalten, das Lachen eher zu meiden und lieber zu seufzen und zu weinen als zu lachen, denn daß Jesus geweint habe, sei in den Evangelien ja bezeugt. Es steht in den Evangelien allerdings auch nirgendwo, daß Jesus sich gekratzt, geniest, gehustet oder gegähnt habe, und von den noch animalischeren Verrichtungen will ich gar nicht erst reden; aber all dies zu unterlassen hat man nie gefordert, um die konsequente Nachfolge Christi anzutreten. Wieso also bekam ausgerechnet das Lachen diesen Makel als ein dem Christus fremdes Verhalten? Eine wichtige Rolle bei dieser Entscheidung spielte sicher eine viel zitierte Passage aus der Bergpredigt, in der sich Jesus explizit über das Lachen äußert, denn dort heißt es: 312 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Selig seid ihr, die ihr hier weinet (fletis); denn ihr werdet (später im Jenseits) lachen (ridebitis).« (Lukas 6,21)

Und: »Weh euch, die ihr hier lachet (ridetis); denn ihr werdet (dort im Jenseits) weinen und heulen (lugebitis et flebitis).« (Lukas 6,25)

Dazu kam, daß das Lachen gleichsam schon »vorbelastet« war, als es von den Kirchenvätern daraufhin geprüft wurde, ob es im christlichen Heilsplan geduldet werden dürfe oder ob es gar eine wichtige Funktion erfüllen könne. Man hat sich bekanntlich eher gegen das Lachen entschieden, weil die Mehrheit der geistigen Strömungen, die im frühen Christentum synkretistisch zusammenflossen, dem Lachen mißtrauisch bis ablehnend gegenüberstanden (Platon, die Stoa, die hellenistische Weisheitslehre und die Gnosis), und weil in dieser Tradition das Lachen von vornherein reduktionistisch auf das aggressive Auslachen-von-oben eingeschränkt worden war und dieses als Lachen generell galt. Damit aber erschien das Lachen sofort als eine Form luziferischer Selbstüberhebung und als Auflehnung gegen Gott und konnte somit in die Reihe der schweren und schwersten Sünden eingeordnet werden. Besonders deutlich geht dies aus dem apokryphen Evangelium des Bartholomäus hervor, in dem Satan selbst die Sünder aufzählt, deren besonders strenge Züchtigung ihm übertragen worden ist, denn hier nennt er »Heuchler, Verleumder, Possenreißer, Habsüchtige, Ehebrecher, Zauberer, Wahrsager«, sowie »alle, die an uns glauben und alle, hinter denen ich her bin«. Da Satan selbst die Hölle aber nicht verlassen kann, setzt er speziell ausgebildete Diener auf die Menschen an, um diese zu Sünden aller Art zu verleiten: »Wir rüsten sie mit einer Angel aus, die reich an Widerhaken ist, und schicken sie auf die Jagd, und sie fangen uns Menschenseelen indem sie sie mit der Süßigkeit mannigfacher Verlockung verführen, als da sind: Trunksucht, Gelächter, Verleumdung, Heuchelei, Vergnügungen, Hurerei und die übrigen Mittel aus ihrer Schatzkammer, welche die Menschen schwach machen.« (Schneemelcher I,434)

Das aristotelische Eutrapelie-Ideal hatte gegen diese massive Front von Lachfeindschaft tausend Jahre lang keine Chance und wurde, wie wir ja schon wissen, von Paulus im Brief an die Epheser auch noch explizit verdammt. Und die Rolle des rotzfrechen philosophi313 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schen Narren im Stil eines Diogenes ist im Rahmen des frühen Christentums sowieso völlig undenkbar 28, weil das respektlose luziferische Auslachen-von-unten unabdingbarer Bestandteil dieser Rolle ist. Ganz anders sieht es in den gnostisch-christlichen Evangelien und Apokalypsen aus, die sehr wohl einen lachenden Christus kennen. Diesen finden wir z. B. in der Apokalypse des Petrus 29, im Evangelium des Judas 30 und in dem Nag-Hammadi-Text Der zweite Logos des großen Seth 31. Dort kommentiert der gnostische Christus-Seth die Ereignisse von Golgatha mit den Worten: »Ich war doch überhaupt nicht dem Leiden unterworfen. Jene bestraften mich, doch ich starb nicht wirklich, sondern (nur) dem Anschein nach, damit ich nicht durch sie zuschanden gemacht würde, denn sie sind ein Teil von mir. Ich trennte ab von mir die Schande und fürchtete mich nicht vor dem, was mir durch sie widerfahren sollte. (…) Ich aber litt (nur) in ihrer Vorstellung und ihrer Meinung nach. (…) Denn dieser Tod von mir, von dem sie denken, daß er um ihretwillen eingetreten sei, (fand nur) in ihrem Irrtum und in ihrer Blindheit (statt). (…) Ihre Gedanken nämlich sahen mich nicht, denn sie waren Taube und Blinde. Dadurch, daß sie das aber tun, richten sie sich (selbst): Was mich allerdings betrifft – sie sahen (mich) und bestraften mich –, (aber) ein anderer, ihr Vater, war jener, der die Galle und den Essig trank. Ich aber war es nicht: Sie schlugen mich mit dem Rohr. (Aber ich war es nicht.) Ein anderer war es, der das Kreuz auf seiner Schulter trug, nämlich Simon. Ein anderer war es, dem die Dornenkrone auf das Haupt gesetzt wurde. Ich aber ergötzte mich in der Höhe an dem ganzen Reichtum der Archonten und dem Samen ihres Irrtums, ihres eitlen Ruhms, und ich lachte über ihren Unverstand.«32

In der gnostisch-christlichen Petrus-Apokalypse wird das Geschehen von Golgatha aus der Sicht des Petrus geschildert, der zunächst verwirrt und entsetzt dabei steht, weil er seinen Meister doppelt sieht: »Was sehe ich, Herr: Bist du es, nach dem sie greifen, und bin ich es, nach dem du greifst? Oder wer ist der, der neben dem Holz (stehend) heiter ist und lacht? Und einem andern schlagen sie auf die Füße und auf die Hände!?«

Dann wird er aber aufgeklärt und zu einem Vergleich aufgefordert: 314 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Der, den du neben dem Holze (stehend) heiter sein und lachen siehst, das ist der lebendige Jesus. Der aber, in dessen Hände und Füße sie die Nägel schlagen, das ist sein fleischliches (Abbild), nämlich das ›Lösegeld‹, welches (allein) sie zuschanden machen (können). Das ist nach seinem Bild entstanden. Sieh ihn und mich doch (genau) an! (…) Denn du bist es, dem es gegeben wurde, die Geheimnisse unverhüllt zu erkennen. Denn jener, den sie angenagelt haben, ist der Erstgeborene und das Haus der Dämonen, (…) in dem sie wohnen, (der Mensch) des Elohim, (der Mensch) des Kreuzes, der unter dem Gesetz ist. Der aber, der nahe bei ihm steht, ist der lebendige Erlöser, der zuvor in ihm war, der ergriffen und (doch wieder) freigelassen wurde und (nun) (schaden)froh dasteht, weil (er) sieht, daß die, die ihm Übles angetan haben, untereinander zerspalten sind. Deswegen (gilt): Er lacht über ihre Blindheit, weil er weiß, daß sie Blindgeborene sind.« 33

Diese gnostisch-christlichen Texte zeigen uns also einen lachenden Christus, über dessen Lachen sich die Übersetzer allerdings nicht so recht einig sind, weil sie es einmal als ›heiter‹ und ›fröhlich‹ und einmal als ›schadenfroh‹ charakterisieren. Hier hilft uns vielleicht ein Blick ins dritte Zeugnis vom lachenden Christus, denn im gnostischen Judas-Evangelium lacht Christus sogar nicht nur während der Passion Jesu als Zuschauer neben dem Kreuz oder vom Kreuz herab, sondern ganz stereotyp bei jeder Äußerung 34 und erinnert damit an den notorisch lachenden Demokrit aus dem Briefroman, den ja auch sein weit überlegenes Wissen (gnosis) aus der Menge der Dummköpfe von Abdera hoch heraushebt. Das Lachen des gnostischen Christus hebt diesen jedoch noch unendlich höher aus allen Menschen heraus, da dieser Christus nach gnostischer Lehre aus einem ganz anderen, überirdischen Äon stammt, und dieses vielsagende spöttische Lachen unendlicher Überlegenheit wird es wohl sein, das diesen gnostischen Christus auszeichnet. Der theologische Hintergrund für diesen scharfen Kontrast zwischen dem leidenden Jesus und dem lachenden Christus ist der gnostische Doketismus 35, der besagt, daß der überirdisch-himmlische und außerhalb der Zeit existierende Christus im historischen Jesus von Nazareth nicht wirklich Mensch geworden sei, sondern diesen nur kurzfristig gespielt habe, indem er dessen Gestalt an315 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nahm, so wie er jede andere Gestalt auch annehmen, sich davon aber auch jederzeit wieder trennen könne, gerade so, als sei er im Besitz einer Tarnkappe. Der mythologische Hintergrund für die doketistische Auffassung der Christus-Gestalt ist wiederum die gnostische Lehre, daß der als bösartig charakterisierte Schöpfergott des Alten Testamentes nicht identisch sei mit dem guten, aber fremden Gott, der Christus als Erlöser auf die Welt gesandt habe. Der Gott des Alten Testamentes könne mit diesem Gott schon deshalb nicht identisch sein, da er ja gerade der Widersacher eben dieses guten Gottes sei, genauso wie Satan der Widersacher des christlichen Gottes ist. Und da dieser abgründig bösartige alttestamentliche Schöpfergott den Menschen nach seinem eigenen Bild geschaffen habe, sei auch der Mensch und mit ihm die gesamte Schöpfung genauso bösartig und von allem Anfang an genauso korrupt wie dieser Gott und verdiene letztlich nichts anderes als die sofortige und totale Vernichtung. Dazu Hans Jonas: »In ihrem theologischen Aspekt besagt diese Lehre, daß das Göttliche der Welt fremd ist und keinen Anteil am physischen Universum hat; daß der wahre Gott, absolut transmundan, durch die Welt weder offenbart noch auch nur angezeigt wird und daher der Unbekannte ist, der total Andere, und unerkennbar nach jeder welthaften Analogie. Entsprechend besagt der kosmologische Aspekt der Lehre, daß die Welt gottfremd oder das Gottfremde schlechthin ist; daß sie nicht eine Schöpfung der Gottheit, sondern die eines niederen Prinzips ist, dessen Gesetz sie vollzieht. Und der anthropologische Aspekt schließlich lehrt, daß des Menschen inneres Selbst, das Pneuma (›Geist‹ im Gegensatz zu Seele = psyche), nicht Teil der Welt, nicht zur Schöpfung und Herrschaft der Natur gehört, sondern innerhalb dieser Welt so transzendent und in weltlichen Kategorien so unerkennbar ist wie sein außerweltliches Gegenstück, der unbekannte Gott.«36

Aus diesem Grund verfällt für die Gnosis das gesamte alttestamentlich-jüdische Erbe, dessen zentrales Thema eben der Umgang dieses Schöpfergottes mit der Welt und seinem Volk Israel ist, der totalen Verachtung und verdient nichts als Hohn und Spott, und deshalb verhöhnt und verlacht im Zweiten Logos des großen Seth der 316 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gnostische Seth-Christus das Schöpfungswerk des siebten Archonten, d. h. des jüdischen Gottes, und außerdem auch noch das gesamte Personal der alttestamentlich-jüdischen Heilsgeschichte in einer einzigen großen Suada: »Ja, zum Lachen war es! Ich bin es, der bezeugt, daß es zum Lachen war, weil die (…) unbefleckte Wahrheit (…) unter den Kindern des Lichtes existiert, von der sie eine Nachäffung schufen. (…) Zum Lachen war Adam, der in Fälschung als Abbild eines Menschen geschaffen wurde durch den Siebenten. (…) Zum Lachen war auch Abraham samt Isaak und Jakob, insofern als sie in Fälschung ›die Väter‹ genannt wurden durch den Siebenten. (…) Zum Lachen war David, insofern als sein Sohn ›der Menschensohn‹ 37 genannt wurde durch den Siebenten. (…) Zum Lachen war Salomo, insofern als er, in der Meinung, er sei ein Christus, (d. h. ein Gesalbter, ein maschiach/Messias) hochmütig wurde auf Veranlassung des Siebenten. (…) Zum Lachen waren auch die zwölf Propheten, insofern als sie in Fälschung auftraten als Abklatsch der wahren Propheten auf Veranlassung des Siebenten. (…) Zum Lachen war Mose, nach gottlosem Zeugnis ein treuer Knecht, der ›der Freund (Gottes)‹ genannt wurde, – der mich nie erkannt hat, weder er noch die, die vor ihm waren. Von Adam bis Mose und Johannes dem Täufer hat niemand von ihnen mich erkannt noch meine Brüder. (…) Nie haben sie die Wahrheit erkannt, und (nie) werden sie sie erkennen. Denn eine große Täuschung liegt auf ihrer Seele, so daß sie niemals in der Lage sind, einen Gedanken der Freiheit zu finden und ihn zu erkennen, bis sie den (wahren) Menschensohn erkennen. (…) Ja, zum Lachen war dieser Archon selbst, da er sagte: ›Ich bin Gott, und es gibt keinen, der größer ist als ich. Ich allein bin der Vater; und es gibt keinen anderen außer mir. Ich bin ein eifersüchtiger Gott, der ich bringe die Sünden der Väter über die Kinder bis zu drei und vier Generationen.‹ (…) Und so (…) hielten wir seine Lehre nieder, weil er aufgeblasen ist in eitlem Ruhm und nicht übereinstimmt mit unserem Vater. Ja, zum Lachen war es, ein (Selbst-)Gericht und falsche Prophetie.« 38

An diesen Sätzen läßt sich die gnostische Argumentationsweise deutlich ablesen. Sie besteht darin, überkommene theologisch-my317 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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thologische Modelle inhaltlich und formal zu übernehmen, sie dabei aber in sich selbst und gegen sich selbst zu wenden und durch diese revolutionäre Umwertung aller überlieferten Werte dem »Wissenden« einen völlig neuen, elitär überlegenen und blasiert verächtlichen Blick auf die Welt zu ermöglichen. Von hier aus beantwortet sich nun auch die oben noch offengebliebene Frage nach dem spezifischen Lachen des gnostischen Christus etwas leichter. Für Wolf-Daniel Hartwich ist dieses Lachen das weltverachtende Lachen des Zynikers, der grundsätzlich über alles lacht, auch über sich selbst, weil er alles, und auch sich selbst, verächtlich findet, wie wir dies von der »Kotseele« aus Rameaus Neffen kennen, weil dieses zynische Lachen »sich einen Standpunkt jenseits der Welt anmaßt und von dort her ihre Absurdität verkündet« 39 und somit dem satanischen Lachen des Dandys entspricht, das Charles Baudelaire in seinem Essay De l’essence du rire von 1855 beschreibt und analysiert. (Wir kommen darauf zurück.) Daß der gnostische Christus so ausgiebig lacht, heißt nun aber nicht, daß die Gnosis eine Apologie des Lachens im Sinn gehabt hätte. Ganz im Gegenteil! Da in den Augen der Gnostiker diese von Anfang an korrupte Welt nichts als die sofortige und totale Vernichtung verdient, und der Mensch mit all seinen Lebensäußerungen mit ihr, verfällt auch das Lachen dem totalen Verdikt dieser dualistischen Weltsicht, denn: »Das Verdikt über die irdisch-sichtbare Welt schließt auf anthropologischer Ebene die negative Bewertung des gesamten körperlich-psychischen Seins ein. Dieses irdisch-materielle Sein ist ebenso wie die Welt ein Produkt des antigöttlichen Demiurgen und dementsprechend eine widergöttliche, von bösen Kräften beherrschte Sphäre, sichtbar und wirksam in den Leidenschaften und Begierden.« 40

Wenn also überhaupt noch gelacht werden kann, dann ist für den Gnostiker in der Nachfolge des gnostischen Christus nur noch das Verlachen der Welt von ganz oben und ganz außen angebracht, eine Haltung, die in der Moderne am ehesten noch der des zynischen Dandys entspricht. Die menschliche Seele hingegen, die als göttlicher »Lichtfunken« aus der »Lichtheimat« der oberen Äonen in die »Finsternis« 318 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der irdisch-menschlichen Körperwelt gestürzt war, unterliegt diesem generellen Verdikt nicht, da auch sie ein Fremdling in der Welt ist, weshalb es gilt, sie wieder in ihre »Lichtheimat« zurückzuführen, indem man sie aus dem »Kerker« 41 dieser Körperwelt erlöst. »Die gnostische Erlösung ist eine ›Befreiung‹ von Welt und Körper, nicht wie im Christentum von Sünde und Schuld, höchstens insofern die irdisch-körperliche Welt als solche schon die Sünde darstellt, in die die göttliche Seele unverschuldet gefallen ist; durch die Verstrickung mit den Weltmächten wurde sie aber schuldig, und aus dieser Sündhaftigkeit kann sie sich nur durch Einsicht (gnosis) und gleichzeitige Umkehr befreien.« 42

Damit ist die Gnosis zwar eine Erlösungsreligion, aber im Unterschied zum Christentum geschieht die Erlösung nicht durch einen Erlöser, der die Sündenlast der Menschen auf sich nimmt, sondern die Erlösung erfolgt als Selbsterlösung 43 durch Wissen, Einsicht, Besinnung, kurz: durch Gnosis. Der gnostische Christus ist deshalb auch, ganz anders als der christliche und ähnlich wie Buddha, eher Mahner, Wegweiser, Lehrer, Gesandter oder Bote seines Gottes; er zeigt nur den Weg, den der zu Erlösende dann aber selbst gehen muß. Und der erste Schritt auf diesem Weg ist die Emanzipation vom lästigen Ballast der eigenen Leiblichkeit in all ihren Äußerungen, und damit eben auch vom Lachen. Die von Platon inaugurierte Trennung von Körper und Seele und zugleich damit die Abwertung der Körperwelt zugunsten der Seele wird durch die Gnosis also aufgenommen, explizit bestätigt und sogar noch überboten. Einiges aus diesem gnostischen Erbe an Körper- und Weltverachtung ist offensichtlich auch ins frühe Christentum eingeflossen, weshalb in den Lehrbriefen der Apostel immer wieder intensiv davor gewarnt wird, sich auf diese Welt allzusehr einzulassen. So heißt es z. B. im 1. Brief des Johannes ausdrücklich: »Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. So jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters (d. h. die Liebe zum Vater). Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in der Gnade.« (1. Johannes 2,15–17) 44

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Im Hinblick auf unser Thema hat dieser Dualismus u. a. dazu geführt, zwischen dem geduldeten »geistigen« Lächeln und dem verpönten »körperlichen« Lachen, zwischen »gaudium spirituale« und »laetitia saecularis/carnalis/temporalis« 45, bzw. zwischen dem »Lachen des Herzens« (risus cordis) und dem »Lachen des Mundes« (risus corporis) 46 scharf zu unterscheiden. Dies fiel um so leichter, als man hierbei auch an die »salomonischen« Weisheitstexte anknüpfen konnte, wo man, wie wir gesehen haben, zwischen dem schallenden eitlen Gelächter des Narren (risus vanitatis) und dem feinen vergeistigten Lächeln des frommen Weisen unterschieden hat. Es war vor allem Paulus, der in seinem Römerbrief die neutestamentliche Grundlage für diese negative Einschätzung des Lachens gelegt hat. Dort entwirft Paulus eine dualistische Anthropologie, derzufolge der Mensch aus »Geist« (pneuma) und »Fleisch« (sarx) besteht, und beurteilt beide unter dem Aspekt der Verfügbarkeit. Weil er dabei aber zu dem Ergebnis kommt, daß das »Fleisch« nicht nur schwach, sondern v. a. auch eigensinnig und widerwillig sei, kommt er zu dem Schluß: Wenn etwas an uns und in uns sich unserem Willen nicht beugt, dann kann dies nur den Grund haben, daß es einer fremden, unserem Willen feindlichen Macht folgt, und diese Macht ist für ihn die Macht der Sünde: »Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist; ich bin aber fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue; denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich. So ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, daß das Gesetz gut sei. So tue ich nun dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. So ich aber das tue, das ich nicht will, so tue dasselbe nicht ich, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich in mir nun ein (fremdes, widergöttliches, sündiges) Gesetz, der ich will das Gute tun, daß mir das Böse anhangt. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen

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Die Grundlagen

Gliedern. (…) So diene ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleische dem Gesetz der Sünde.« (Römer 7,14–25)

Aus diesem als unerträglich empfundenen Zustand von Besessenheit, Selbstentfremdung und »Bewußtseinsspaltung«47 entringt sich deshalb der Schrei: »Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« (Römer 7,24)

Paulus beschreibt also sein Verhalten als völlig fremdbestimmt, ganz so wie die Schizophrenen von heute oder die homerischen Gestalten der Ilias dies tun48, und seinen Leib als Kampfplatz zwischen den beiden außermenschlichen, einander feindlichen Mächten Gott und Satan, wobei das von Gott inaugurierte, an Gottes Gesetz orientierte Verhalten tendenziell verfügbar ist, das von der Sünde bestimmte jedoch nicht. Da wir aber in diesem »Leib des Todes« zeit unseres Lebens gefangen sind, sei, so suggeriert Paulus, letztlich all unser Verhalten unverfügbar und sündig und bedürfe der Erlösung. Ja, Paulus unterstellt sogar aller Kreatur, also nicht nur dem Menschen allein, diese Sehnsucht nach Erlösung, weil für ihn die gesamte Schöpfung sündig ist und deshalb auch dem Strafgericht Gottes unterworfen ist und der Erlösung bedarf: »Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um des willen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. Denn auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.« (Römer 8,19–22)

Daß wir nur sehr bedingt Herr im eigenen Haus oder Herr unserer selbst sind, weiß natürlich jeder, weil er tagtäglich an sich selbst die Erfahrung machen kann, daß ein Teil seines Verhaltens verfügbar, ein anderer aber unverfügbar ist. Diesen Umstand kann man gelassen hinnehmen und sich darauf einstellen, wie Aristoteles und seine Schüler dies getan haben. Man kann dies aber auch als narzißtische Kränkung empfinden, wie wir dies bei den Platonikern und Stoikern und allen sonstwie dualistisch eingestellten Anthropologien sehen. Aber die Behauptung, jegliches Verhalten sei unverfügbar, 321 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

ist schlichtweg falsch und widerspricht jeder unbefangenen Lebenserfahrung. Wie soll man also diese Selbstbeschreibung des Paulus beurteilen? Ist sie bloß ungenau, oder bloß tendenziell verzerrt, oder auch nur unwahrhaftig? Oder ist sie schon die exakte Beschreibung eines pathologischen Zustandes, also ein klassisches Dokument der Schizophrenie? Wir müssen dies hier nicht entscheiden. Wichtig für uns ist nur die Konsequenz, daß alles unverfügbare Verhalten von Grund auf sündig sei, denn damit fallen auch alle unverfügbaren Formen des Lachens unter das Verdikt der Sündigkeit. Unverfügbares Lachen wäre also laut Paulus eine Manifestation des Satanischen in uns und an uns, – ein Gedanke, den später Augustinus und in dessen Gefolge noch später Thomas Hobbes und Charles Baudelaire wieder aufgreifen werden. Drohte für die Stoiker die Macht der Affekte als Gefahr von innen, so droht für Paulus in noch viel stärkerem Maße die uns immanente Sündigkeit als Macht des widergöttlichen Satans. Konsequent weitergedacht würde dies bedeuten, daß sich das Erlösungswerk Christi auch auf dieses unverfügbare Lachen erstrekken müßte. Diesen Gedanken findet sich jedoch, so weit ich sehe, in der christlich orientierten gelotologischen Literatur nirgendwo, es sei denn, man wertet die Heiligsprechung des Lachens durch Nietzsches Zarathustra in diesem Sinne als parodistische Kontrafaktur dieses Erlösungswerkes, denn dort heißt es in den letzten Appellen Zarathustras an seine Jünger: »Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muß – über euch hinweg tanzen! Was liegt daran, daß ihr mißrietet! Wie vieles ist noch möglich! So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergeßt mir auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!« (II,531)

Doch wer könnte dieses Kreischen in Propheten-Pose ernst nehmen und wer möchte diesen Appell gar befolgen, der doch nur verrät, wie verzweifelt hier jemand an seinen christlichen Ketten 322 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Anthropologen: Clemens und Laktanz

zerrt und wie wenig Nietzsche selbst als Jünger seines Zarathustra gelten darf. 2.6.2 Die Anthropologen: Clemens und Laktanz Clemens von Alexandria 49, über dessen Biographie man nur so viel weiß, daß er um 150 geboren wurde, vielleicht sogar in Athen, und gegen 215 starb, ist der einzige der christlichen Kirchenväter, der dem Lachen eigens eine Abhandlung gewidmet hat. Daß er dies für sinnvoll und nötig hielt, liegt an dem praktisch-pädagogischen Impuls, der all seine Schriften prägt, und deshalb liest sich sein Paidagogos (Der Erzieher), in dem sich diese Abhandlung findet, wie ein »Knigge für Christen«, da Clemens hier eine normativ zu verstehende Verhaltenslehre für Christen, insbesondere für frisch bekehrte, in einer noch nicht christlichen Umgebung entwirft, in der er alle relevanten Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens Revue passieren läßt und das dort jeweils angemessene Verhalten im Hinblick auf Essen, Trinken und Schlafen, Wohnung und Kleidung, Geselligkeit und Sexualleben etc. beschreibt. Den Maßstab für angemessenes Verhalten bezieht er im wesentlichen aus den Evangelien und den Briefen des Paulus, aus dem Alten Testament und den jüdisch-hellenistischen Weisheitslehren, aber auch aus Platons politischen Schriften, der Ethik des Aristoteles und den Schriften der Stoa, und deshalb steht im Mittelpunkt all seiner Empfehlungen, Forderungen und Warnungen das Ideal der Mäßigkeit. Entstanden sind die Schriften des Clemens um das Jahr 200, zu einer Zeit also, als das frühe Christentum in etwa schon seine kirchliche Form gefunden und damit klargestellt hatte, was z. B. zum Kanon der Evangelien und Lehrbriefe gehört (und was nicht), was authentische Lehre war (und was nicht) und an welche vor-christlichen Traditionen angeknüpft werden durfte (und an welche nicht). Trotzdem war immer noch zu klären, in welcher Art und Weise dies zu geschehen habe, und dieser Aufgabe stellte sich Clemens mit seinem Werk. Er konnte dies auch guten Gewissens tun, da er über einen außerordentlich weiten Horizont an Wissen verfügte und auch die systematische Kraft und den entsprechenden 323 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mut hatte, vor-christliche Traditionen in die christliche Lehre einzugemeinden. Die Argumentationsmethoden, der er sich dabei bediente, fand er gleichsam vor der Haustüre, denn Alexandria war damals das Zentrum der gelehrten Welt, in dem die Diaspora-Juden als »Volk des Buches« und damit auch als geborene Hermeneutiker ein breit gefächertes Repertoire von Methoden zur Auslegung von Texten erarbeitet hatten. Wichtig für Clemens, wie für die gesamte Christenheit, wurde vor allem die Methode der allegorischen Exegese und die Methode der Figuraldeutung, die es ermöglichten, in allen möglichen frühen Texten Vorverweise auf das christliche Heilsgeschehen zu entdecken, und zwar nicht nur in den Texten, die eh schon zum christlichen Kanon gehörten, sondern auch in ganz fremden heidnischen Texten philosophischer und poetischer Art. Das prominenteste Objekt christlicher Aneignung ist wohl die Interpretation der vierten Ekloge des Vergil 50 als Ankündigung von Christi Geburt. Auch Clemens selbst war auf diesem Gebiet nicht übermäßig schüchtern und bezeichnete z. B. Platon ungeniert als einen »Schüler des Moses« (II,184) und konnte deshalb auch die rhetorische Frage stellen: »Was ist Platon anderes als ein attisch sprechender Moses?« (III,126) In seinem umfangreichsten Werk Stromata (Teppiche), einer lockeren Sammlung von Abhandlungen, die im wesentlichen gegen die heidnische Gnosis gerichtet sind und das Christentum zur wahren Gnosis erklären, verfolgt er sein eigentliches, also theologisches Ziel, und dieses besteht in dem Versuch, nachzuweisen, daß der christliche Glaube nicht nur sehr wohl vereinbar, sondern sogar identisch sei mit der menschlichen Vernunft und darüberhinaus auch mit der menschlichen Natur, ein Vorhaben, das die ganze christliche Theologie über Augustinus und Thomas von Aquin bis herauf zu Wolfhart Pannenberg durchzieht: homo naturaliter christianus. Hier wird Clemens für unser Thema auch unter systematischen Aspekten interessant, weil dieses Vorhaben Clemens dazu zwingt, theologisch und anthropologisch zugleich zu argumentieren und damit eine theologische Anthropologie zu entwerfen. Wir werden 324 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sehen, wie erhellend einige der anthropologischen Erkenntnisse von Clemens auch dann noch für uns sind, wenn man sie aus ihrem letztlich theologischen Kontext löst und ganz profan phänomenologisch betrachtet. 2.6.2.1 Der Traktat des Clemens über das Lachen Zunächst aber soll erst mal Clemens selbst ausführlich zu Wort kommen, und deshalb zitiere ich den Traktat des Clemens 51 ungekürzt, damit sich der Leser selbst ein Bild von der rhetorischen Brillanz dieses Autors machen kann: »Über das Lachen. Leute, die darin geschickt sind, lächerliche oder vielmehr zu verlachende Stimmungen nachzuahmen, müssen wir aus unsrem Staat ausweisen. Denn da alle Reden ihren Ausgangspunkt im Denken und in der Sinnesart haben, so ist es nicht möglich, irgendwelche lächerlichen Reden von sich zu geben, die nicht von einer lächerlichen Sinnesart ausgingen. Denn das Wort ›es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte bringt, und keinen schlechten Baum, der gute Früchte bringt‹ 52, paßt wohl auch hier; Frucht der Gesinnung ist die Rede. Wenn wir demnach die Possenreißer aus unserem Staat verbannen müssen, so ist es noch viel weniger möglich, daß wir uns selbst gestatten, lächerliche Possen zu treiben. Denn es ist widersinnig, sich als Nachahmer dessen erfinden zu lassen, dessen Zuhörer zu werden uns verwehrt ist. Aber noch viel unsinniger ist es, sich selbst mit Ernst zu bemühen, lächerlich zu werden, das heißt verhöhnt und verspottet. Denn wenn wir es wohl nicht über uns gewännen, uns lächerlich zu verkleiden, wie sich manche bei den festlichen Umzügen sehen lassen, wie könnten wir es wohl billigerweise ertragen, wenn unser innerer Mensch in ein lächerliches Wesen umgewandelt würde? Und wenn wir unser Gesicht wohl nie freiwillig ins Lächerliche verkehren würden, wie könnten wir es wohl erstreben, in unseren Reden lächerlich zu sein und zu scheinen, indem wir das Wertvollste von allem, was Menschen besitzen, die Rede, zum Gespötte machen? Es ist also ein Hohn, sich mit so etwas abzugeben, da ja nicht einmal die Erzählung von Possen es verdient, angehört zu werden, weil sie

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schon allein durch die Worte an schimpfliche Taten gewöhnt; und man darf zwar Scherze machen, aber nicht Possen reißen. Aber auch dem Lachen selbst muß man Zügel anlegen. Denn auch das Lachen selbst zeigt, wenn es sich in der richtigen Weise äußert, feinen Anstand; wenn es aber nicht so vor sich geht, ist es ein Beweis von Zuchtlosigkeit. Denn überhaupt darf man den Menschen von allem, was ihnen von der Natur gegeben ist, nichts mit Gewalt nehmen, vielmehr muß man für alles nur das richtige Maß und die richtige Zeit bestimmen. Denn man darf nicht deswegen, weil der Mensch ein Lebewesen ist, zu dessen wesentlichen Merkmalen das Lachen gehört, immerfort lachen, da ja auch das Pferd, dessen Kennzeichen das Wiehern ist, nicht immerfort wiehert. Als vernünftige Wesen müssen wir aber selbst das richtige Maß für uns finden, indem wir das Herbe und Übertriebene unseres Ernstes in maßvoller Weise mildern, (jedoch) nicht in (genauso) maßloser Weise aufgeben. Wenn man die Spannung des Gesichts wie die eines Instruments zu harmonischer Wirkung ein wenig nachläßt, so heißt das Lächeln (meidiama), und so breitet sich Erheiterung über das Gesicht aus; dies ist das Lachen der Verständigen; wenn man aber die Haltung des Gesichts in maßloser Weise auflöst, so heißt dies, wenn es bei Frauen geschieht, Gekicher (kiklismos), und dies ist das Lachen der Dirnen; bei Männern aber Gelächter (kachasmos), und dies ist das Lachen wie bei den zuchtlosen Freiern 53 und ein Zeichen frechen Übermuts. ›Der Tor läßt beim Lachen seine Stimme laut erschallen‹, sagt die Schrift, ›ein kluger Mann wird aber kaum leise lächeln.‹ 54 Mit dem klugen (panurgos) Mann meint sie hier einen verständigen, dessen Art der des Toren entgegengesetzt ist. Andererseits aber soll man nicht finster, sondern nur ernst sein. Mir gefällt deshalb jener sehr gut, der sich zeigte ›Lächelnd mit furchtbarem Antlitz‹ 55. Denn ›weniger lächerlich wird wohl sein Lachen sein‹ 56. Aber auch das Lächeln muß in Zucht gehalten werden; und wenn es sich um unanständige Dinge handelt, so müssen wir uns lieber errötend als lächelnd zeigen, damit wir nicht den Schein erwecken, daß wir die gleiche Gesinnung haben und uns deshalb auch daran freuen; wenn es sich aber um traurige Dinge handelt, so ziemt es sich mehr, daß wir niedergeschlagen aussehen, als daß wir uns darüber zu freuen

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scheinen; denn das eine ist ein Zeichen von menschlichem Empfinden, das andere läßt die Vermutung von Roheit aufkommen. Man darf aber weder immer lachen (denn das ginge über das rechte Maß hinaus), noch in Gegenwart von älteren Leuten oder sonst welchen, die Rücksicht verdienen, es müßte denn sein, daß sie etwa selbst einen Scherz machen, um uns aufzuheitern; man darf aber auch nicht jedem Beliebigen gegenüber lachen und nicht an jedem Orte und nicht allen zuliebe und nicht über alles. Vor allem aber birgt das Lachen für junge Leute und Frauen die Gefahr übler Nachrede in sich. Wenn man aber furchterregend auch nur aussieht, so ist dies schon geeignet, die Versucher weit weg zu treiben; denn die Würde vermag schon allein durch ihren Anblick die Angriffe der Zuchtlosigkeit von sich abzuweisen. Aber beinahe alle Unverständigen zwingt der Wein, ›Weichlich zu lachen sowohl als auch einen Tanz zu beginnen‹ 57, indem er den unmännlichen Sinn zur Weichlichkeit verführt. Und man muß daran denken, wie von diesem Ausgangspunkt aus die Dreistigkeit, die alles zu sagen wagt, die Ungebührlichkeit bis zur Zotenreißerei steigert; ›Und er entlockt ihm ein Wort, das ungesagt besser geblieben.‹ 58 So ereignet es sich vor allem beim Weine, daß sich die Sinnesart der innerlich schlechten Menschen ganz deutlich zeigt, weil sie infolge der eines Freien unwürdigen Redefreiheit der Trunkenheit jeder Verstellung entkleidet sind; denn hierdurch wird der Verstand in der Seele, dem durch den Rausch gleichsam der Kopf schwer geworden ist, in tiefen Schlaf versenkt, dagegen werden die entarteten Leidenschaften geweckt und üben ihre Gewalt über die Schwachheit des Verstandes aus.« (II,55–59)

2.6.2.2 Antikes Erbe in christlichem Gewand Diese Abhandlung des Clemens liest sich wie eine Bilanz der antiken griechisch-römischen und biblischen Bemühungen um eine philosophisch-anthropologische Verortung und Bewertung des Lachens und deren Eingemeindung ins Christentum, sodaß wie hier alle wichtigen Ergebnisse dieses Denkens vereint finden: Die aristotelische These, das Lachen sei ein Proprium des Menschen; die pla327 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tonisch-stoische Aufforderung, die Affekte und damit auch das Lachen so weit wie irgend möglich zu beherrschen oder gar zu vermeiden, um die totale Kontrolle über sich selbst zu gewinnen; das aristotelische Lob der Mitte und damit das Ideal der Eutrapelie als Mitte zwischen verbissenem Ernst und Possenreißerei um jeden Preis; die Warnung vor dem Zynismus, der alles und auch sich selbst verächtlich und zum Verlachen findet; die Verbannung der Possenreißer aus der idealen christlichen Gemeinde im Gefolge Platons, der sie aus seinem idealen Staatswesen verbannen wollte; und schließlich die stoisch-biblisch-weisheitliche Gleichsetzung von Vernunft und Würde, die Bewertung des Lachens als Signatur der Unvernunft und die Sorge, bestimmte Formen des Lachens könnten selbst wieder lächerlich und verlachenswürdig sein. Neu ist allerdings die Berufung auf die stoische tonos-Lehre zur Deutung und Klassifizierung des Lachens, bei der sich zeigt, wie erhellend es hätte sein können, wenn die Stoiker selber ihre tonosLehre auf die Analyse des Lachens angewendet hätten, was sie aber nicht getan haben, weil sie das Thema Lachen nicht wirklich interessierte. Clemens bestimmt das Lachen als Veränderung, genauer: als Verminderung der idealen Körperspannung, d. h. der Eutonie, und bestimmt deshalb das Lächeln als die Form des Lachens, die dem Christen einzig gemäß ist, weil dabei nicht nur die Eutonie gewahrt bleibt und die Beherrschung der Affekte gesichert ist, sondern weil das Lächeln als »ataraktisches Lachen«59 die angemessene Bekundung der christlichen Heiterkeit ist und damit zugleich auch die Bekundung der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Damit sind wir beim eigentlichen Thema angelangt, denn neu ist v. a. die christlich-theologisch überformte Anthropologie, in deren Rahmen Clemens all die antiken Befunde zur Bestimmung des Lachens einordnet, sodaß diese von daher eine ganz neue Begründung erfahren. Der Erzieher nämlich, an dem sich der Christ laut Clemens zu orientieren hat, ist nicht mehr der stoische Weise, sondern Jesus Christus selbst, und von diesem gilt: Er ist Gott in der Gestalt des stoischen Weisen, und deshalb blendet Clemens alle Passagen der Evangelien, die Jesus lodernd vor Zorn zeigen wie z. B. bei der Reinigung des Tempels, konsequent aus seinem ChristusBild aus: 328 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Er ist sündlos, ohne Tadel und ohne Leidenschaften der Seele, ein unbefleckter Gott in der Gestalt eines Menschen, dem väterlichen Willen dienstbar, der Logos Gott, der in dem Vater ist, der zur Rechten des Vaters ist, der Gott ist auch in Menschengestalt. Er ist für uns das flekkenlose Vorbild; ihm unsere Seele ähnlich zu machen, müssen wir mit aller Kraft versuchen. Aber er ist von allen menschlichen Leidenschaften völlig unberührt; deshalb ist er ja auch allein Richter, weil er allein sündlos ist.« (I,206)

Daß das Ideal des stoischen Weisen realisierbar sei, hatte ja schon Seneca verkündet. Clemens wendet dieses Ideal nun ins Christliche und daraus ergibt sich dann das Endziel christlichen Lebens, die konsequente Nachfolge Christi als Soll-Bestand menschlichen Verhaltens, der darin besteht, »überhaupt nicht zu sündigen, in gar keiner Weise«. (I,207) Auf die Frage, in welcher Art und Weise dies zu leisten sei, entwickelt Clemens eine theologisch-anthropologisch fundierte Könnens-Ethik mit der These, daß gottgewolltes Verhalten mit der menschlichen Natur durchaus identisch sei, denn »alles, was gegen die richtige Vernunft ist, das ist eine Verfehlung«. (I,294) Es gibt überhaupt keinen Grund, dieses Programm als NichtTheologe oder auch als Nicht-Christ mit einem Achselzucken oder gar mit ironischen Bemerkungen zu kommentieren, weil sich dieser Ansatz beim Postulat eines gottgewollten Verhaltens sehr wohl, aber leider nur teilweise in eine profane Anthropologie übersetzen läßt und z. B. mit Kurt Goldstein als christlich theologisierte Form »ausgezeichneten Verhaltens« 60 bzw. mit Hermann Schmitz als christlich theologisierte Form »personaler Emanzipation« 61 deuten läßt. Wenn ich sage, die Könnens-Ethik des Clemens lasse sich nur teilweise ins profan Anthropologische übersetzen, so deshalb, weil personale Emanzipation eben nur ein Teil menschlichen Verhaltens ist, zu dem auch alle Manifestationen personaler Regression als deren Gegenstück genauso unverzichtbar gehören, da menschliches Verhalten sich immer in der innigen Verschränkung dieser beiden Tendenzen abspielt, auch wenn die Stoiker aller Couleur glaubten, dies aus dem Bild des stoischen Weisen ausblenden zu müssen. Mit diesen Einschränkungen lesen wir jetzt Clemens also gegen den Strich und übersetzen seine Befunde ins profan Anthropologische, 329 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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so wie er die anthropologischen Befunde seiner stoischen Vorgänger ins christlich Theologische übersetzt hatte. Zentrale Themen dieses Programms eines gottgewollten Verhaltens sind die Eutonie, also die optimale, kontrollierte und damit tendenziell verfügbare Körperspannung, und die aufrechte Haltung, die Clemens sogar zu einem gottgewollten Proprium des Menschen erklärt: »Von Natur aus ist der Mensch ein aufrechtes und stolzes Wesen und dazu bestimmt, das Schöne zu suchen, weil er ein Geschöpf des einzig Schönen ist.« (II,169)

Wir tun gut daran, diesen Satz so wörtlich zu nehmen, wie er von Clemens gemeint ist, denn auf der Grundlage dieses Postulats, die aufrechte Haltung sei ein konstitutives Merkmal des Menschen, entwickelt Clemens ein ganzes System subjektiver relationaler Räumlichkeit und bewertet die verschiedenen Richtungen in diesem Richtungsraum theologisch-ethisch, wobei die Vertikale als Richtung nach oben am höchsten bewertet wird. Das könnte man, profan anthropologisch gesehen, sofort akzeptieren, weil die aufrechte Haltung als proprium hominis längst ein Gemeinplatz der philosophischen Anthropologie 62 geworden ist. Wenn man will, kann man allerdings auch diesen Gedanken als eine der vielen »Fußnoten zu Platon« (Whitehead) ansehen, denn auch dieses Thema taucht, soweit ich sehe, zuerst bei Platon auf. In den letzten Kapiteln des Timaios entwirft Platon nämlich eine Hierarchie der Lebewesen nach Maßgabe der in ihrem Verhalten dominanten Richtungen im Rahmen des leiblichen Richtungsraumes und setzt den Menschen an die Spitze dieser Hierarchie, weil der Mensch als einziges Lebewesen aufrecht geht: »In betreff der vollkommensten Art von Seele in uns muß man nun aber urteilen, daß Gott sie einem jeden als Schutzgeist verliehen hat: ich meine nämlich jene, von der wir angaben, daß sie in dem obersten Teile unseres Körpers wohne und uns über die Erde zur Verwandtschaft mit den Gestirnen erhebe, als Geschöpfe, die nicht irdischen, sondern überirdischen Ursprungs sind, und wir hatten das Recht, dies zu behaupten. Dorthin, von wo der erste Ursprung der Seele ausging, richtete die Gottheit das Haupt und (damit) die Wurzel des Menschen und gab so unserem ganzen Körper seine aufrechte Stellung.« (III,90A)

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Je weniger demnach die Lebewesen nach oben ausgerichtet sind, desto tiefer stehen sie auch in der von Platon entworfenen Hierarchie, und deshalb sind für ihn die Landtiere »vermöge der Verwandtschaft zur Erde hingezogen« (III,91E), und die »unverständigsten« von ihnen sind wiederum die Schlangen, weil sie »vollständig ihren ganzen Körper zur Erde niederstreckten« (III,92A). Ganz analog urteilt Clemens, denn auch für ihn sind die Richtungen des phänomenalen Richtungsraumes durchaus nicht austauschbar, sondern mit bestimmten Wertigkeiten besetzt, wobei die Richtung nach oben den höchsten Wert besitzt und deshalb die aufrechte Haltung ganz wie bei Platon einen theologischen Mehrwert aufweist. Das heißt im Umkehrschluß, daß im Vergleich zur vertikalen Richtung nach oben alle anderen Richtungen des leiblichen Richtungsraumes als mehr oder weniger minderwertig, unvernünftig, sündig oder gar als gottwidrig, weil von Gott abgewandt zu gelten haben. Und aus all dem zieht Clemens den Schluß: Alles Gottgewollte ist zugleich auch vernünftig und entspricht darüberhinaus auch noch der wahren menschlichen Natur. Ablesbar ist dies für Clemens an den Varianten des Habitus in seinen verschiedenen Graden von Abweichung aus der vertikalen Ausrichtung nach oben und der Hinneigung zu anderen Richtungen, von denen vier für ihn besonders relevant sind: • die sündig-begehrliche Hinwendung zur Welt in der Horizontalen; • die zentripetal gerichtete eitle Hinwendung auf sich selbst in angespannter konkaver Haltung, die als incurvitas/inclinatio/ conversio ad se ipsum ein zentrales Thema christlicher Theologie von Augustinus 63 bis herauf zu Luther und Pannenberg sein wird; • das trotzige Aufbäumen gegen Gott in angespannter konvexer Haltung, später das zentrale Thema bei Augustinus; • die zentrifugal gerichtete Defiguration mit mehr oder weniger totalem Haltungs-Verlust aus Mangel an innerer Spannung, die mit den extremen Formen des Lachens verbunden ist. Ein Thema liegt Clemens besonders am Herzen, die Warnung vor der Horizontalen als der Richtung, die der Schlange zueigen ist, der »Erzverführerin vom Paradiese her«, weshalb er schreibt: 331 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Denn wir rollen doch nicht mehr als unvernünftige Kinder auf dem Boden herum und kriechen nicht mehr nach der Weise von Schlangen, indem wir uns mit dem ganzen Körper im Schmutz herumwälzen, sondern strecken uns mit unseren Sinnen nach oben, haben der Welt und den Sünden entsagt, (…) so daß wir auf der Welt nur zu sein scheinen, und jagen der heiligen Weisheit nach.« (I,218)

Dieses System eines ethisch-moralisch und philosophisch-theologisch besetzten Richtungsraums dient Clemens nun auch dazu, die klassischen vier Hauptaffekte der Stoiker christlich zu vereinnahmen, wobei die vier Affekte sich für ihn im wesentlichen aus der sündig-begehrlich-unvernünftigen Überbewertung des Richtungspaares zentrifugal vs. zentripetal ergeben: »Alles, was gegen die richtige Vernunft ist, das ist eine Verfehlung. So wollen die Philosophen (gemeint sind die Stoiker) die allgemeinsten Leidenschaften in folgender Weise begrifflich bestimmen, • die Begierde als ein der Vernunft nicht gehorchendes Verlangen (d. h. als ungehemmt begehrlicher horizontaler Impuls); • die Furcht (phobos) als ein der Vernunft nicht gehorchendes Ausweichen (d. h. als zentripetales Zurückschrecken mit hoher Körperspannung bis zur Schreckstarre); • die Freude als eine der Vernunft nicht gehorchende (ekstatische) Erhebung der Seele (d. h. als ungehemmter zentrifugaler Impuls); • den Schmerz als ein der Vernunft nicht gehorchendes Zusammensinken der Seele (d. h. als zentripetaler Impuls mit progressiver Erosion der Körperspannung bis zur Selbstauflösung).«

Und dann schließt er diese Auflistung mit der rhetorischen Frage ab: »Wenn demnach der Ungehorsam gegen die Vernunft die Verfehlung erzeugt, wie sollte nicht noch notwendiger der Gehorsam gegen die Vernunft, den wir Christen Glauben nennen, das sogenannte Pflichtgemäße herbeizuführen geeignet sein?« (I,294)

Wo doch alles, was gegen die richtige Vernunft gerichtet ist, laut Clemens eine Verfehlung ist! Mit dem Hinweis auf »das sogenannte Pflichtgemäße« schließt sich Clemens wieder einmal an eine prominente Ethik aus der aristotelischen Tradition an, um diese für das Christentum zu »retten« und eine Versöhnung der christlichen Theologie mit der heid332 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nischen Philosophie und deren Vernunftprinzip herzustellen. Er verweist nämlich auf Ciceros Pflichtenlehre De officiis, in der u. a. auch eine Rechtfertigung des eutrapelistischen Lachens im Sinne der aristotelischen Ethik vorgetragen wird. An der Pflichtenlehre Ciceros wird sich später auch der Kirchenvater Ambrosius mit seinem Traktat De officiis ministrorum orientieren, allerdings mit dem Ziel, das Lachen aus der Kirche zu verbannen, weshalb er Ciceros Traktat denn auch konsequent gegen den Strich lesen wird. 2.6.2.3 Das Lachen der Auferstandenen Die ideale und dem Christen gemäßeste Form des Lachens ist demnach das »Lachen der Verständigen« (I,57), das zugleich auch das Lachen der »wahren Gnostiker« 64 ist, und deshalb konnte sich Clemens sehr wohl auch einen heiter lächelnden Jesus vorstellen. Daß er dieses spezielle Lachen so preisen konnte, liegt daran, daß bei dieser verfügbaren Form von atmungsneutralem Lachen nicht nur die aufrechte Haltung und die Symmetrie von Ein- und Ausatmung völlig gewahrt bleiben, sondern auch die Körperspannung im kontrollierten mittleren Bereich liegt und weder zu hoch ist wie beim verbissenen Ernst noch zu lasch wie bei den unverfügbaren Formen, bei denen man ja tatsächlich für einige Zeit die Kontrolle über sich verliert und sich buchstäblich biegen kann vor Lachen. Als Beispiele für diese verdammungswürdigen Formen von Gelächter nennt Clemens das schamlose Gekicher der Dirnen und das nicht minder schamlose der Freier, die um Penelope herumschwirren, und moniert, wie sehr bei diesem Verhalten aufrechte Haltung und optimale Körperspannung »in maßloser Weise« (I,57) verlorengehen. Damit ist also deutlich, daß Clemens das Lachen nicht grundsätzlich verwirft, sondern nur die Formen des Lachens zu vermeiden empfiehlt, bei denen das »ausgezeichnete Verhalten« (Goldstein) tendenziell verloren geht, also die gottgewollte, dem Menschen natürliche und der Vernunft gemäße aufrechte Haltung und zugleich damit auch die Eutonie. All diese Formen des Lachens werden abgelehnt, und diese Ablehnung, so dürfen wir wohl schließen, fällt um so entschiedener 333 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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aus, je massiver bei diesen Formen von Gelächter die Einbrüche im »ausgezeichneten Verhalten« sind. Oder mit Hartwich formuliert: Je »ataraktischer« ein Lachen ist, d. h. je mehr es dem stoischen Würde-Ideal der Ataraxie entspricht, desto eher entspricht es auch dem christlichen Ideal der Gottebenbildlichkeit und dem Ideal der christlichen Heiterkeit. Je »kathartischer«65 es aber ist, d. h. je massiver die Einbrüche in Gestus, Vultus, Habitus, Atmung, Wachheit und Körperspannung sind, desto mehr ist vor diesen Formen des Lachens zu warnen, weil damit für Clemens das Lachen selbst lächerlich wird und die Gottebenbildlichkeit des Menschen bedroht ist. Von dieser Position aus kann Clemens nun auch die Isaak-Episode als die klassische Passage des Alten Testaments über das Lachen deuten. Dazu braucht er aber wieder das Instrumentarium der allegorischen Exegese und der Figuraldeutung, sodaß Isaak in dieser Interpretation zwei Funktionen übernehmen muß: Er ist zum einen durch seine Fast-Opferung die Vorwegnahme von und die Vorausdeutung auf Jesus Christus, und er ist durch seinen Namen die Allegorie des Lachens selbst, auch wenn er nicht in allen Situationen tatsächlich lacht. Daß Isaak bei seiner Fast-Opferung nicht nur nicht in Panik gerät, sondern auch brav das Holz trägt, mit dem er nach seiner Opferung verbrannt werden soll, wird im Sinne der Stoa als exemplarische Form von Ataraxie gedeutet, als heiter-gelassene Ergebung ins eigene Schicksal: »Aber er ist nicht wirklich geopfert worden wie der Herr, sondern er trug nur das Holz für die Opferhandlung, wie der Herr das Kreuz. Er lachte aber in geheimnisvoller Weise, womit er weissagte, daß der Herr uns, die wir durch das Blut des Herrn vom Verderben erlöst sind, mit Freude erfüllen werde.« (I,224)

Damit ist für Clemens offenbar die Verbindung und Versöhnung von anthropologisch-diskursiver und biblisch-allegorischer Deutung des Lachens gegeben und er kann das Ideal des christlichen Lachens noch mal explizit formulieren: Es ist das Lachen des wahren, und das heißt des christlichen Gnostikers in Form von strahlendem Lächeln: »Wer also seine Leidenschaften gemäßigt und dann Freiheit von Leidenschaften erstrebt und zu dem Gutestun gnostischer Vollkommen-

334 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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heit fortgeschritten ist, der ist bereits hier auf Erden ›engelsgleich‹ 66. Entsprechend seinen guten Taten ist er bereits lichterfüllt und strahlt wie die Sonne 67 und strebt zu seiner gerechten Erkenntnis (gnosis) durch seine Liebe zu Gott zu der heiligen Wohnstätte empor.« (IV,309)

Dieses engelsgleich strahlende, aber leidenschaftsfreie ataraktische Lachen ist es also, das der Christ laut Clemens hier auf Erden im Vorgriff auf das Lachen nach der Auferstehung zu erstreben hat, denn nach der Auferstehung ist laut Clemens der Christ erst recht erfüllt von diesem strahlenden »lichterfüllten« Lachen, weil er dann dem auferstandenen Christus schon im Habitus und dadurch auch im strahlenden Lachen am nächsten kommt und damit seine gottgewollte Bestimmung, ein »von Natur aufrechtes und stolzes Wesen« (II,169) und das heißt: ein Gott ebenbildliches Wesen zu sein, endlich in aller Vollkommenheit erfüllt. Dieses Lachen aber kennen wir schon: Es ist das strahlende Lachen des göttlichen Kindes, wie es in der vierten Ekloge Vergils beschworen wird, ja, es ist sogar die Überbietung dieses Lachens, denn in der Verschmelzung dieser beiden strahlend lachenden Knaben, des biblischen Isaak und des heidnischen Helios, zur Präfiguration Christi, oder besser: zur Präfiguration des auferstandenen Christus, sah Clemens die christliche Eingemeindung der heidnischen und alttestamentlichen Traditionen im Hinblick auf das Lachen in vollendeter Weise erfüllt. Für Clemens war das strahlende Lachen des auferstandenen Christus offenbar deshalb die endgültige Überbietung und damit zugleich die Aufhebung des göttlich strahlenden Lachens aus biblischer und heidnischer Tradition, weil der auferstandene Christus nicht mehr im Liegen lacht wie das göttliche Kind bei Vergil, sondern aufrecht stehend. Und den Strahlenkranz des Nimbus 68, der die Köpfe dieser beiden Knaben und den des auferstandenen Christus der ikonologischen Tradition entsprechend umgibt, hätte er wohl als Zeichen der in diesem speziellen strahlenden Lachen sichtbar werdenden Göttlichkeit verstanden. So gesehen zeigt sich erst, wie konsequent Clemens die Versöhnung von Christentum und heidnischer Tradition vorangetrieben hat, weil damit zugleich auch ein Modell für die Versöhnung des Christen mit seinem eigenen Körper geschaffen war, sodaß nun 335 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch die Christen mit ihrer eigenen Körperlichkeit gleichsam auf Du und Du sollten leben können, so wie dies für die Heiden in der aristotelischen Tradition immer schon der Fall gewesen war. Deshalb scheint es mir auch nicht übertrieben, wenn Peter Brown in seiner umfangreichen Studie über Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum Clemens als »moralisches Genie« bezeichnet und dessen zentrale Botschaft mit einigen Formulierungen aus dem Paidagogos zusammenfaßt: »Der Mensch ›erlangt sein vorbestimmtes Ziel durch den Körper, den Gefährten und Verbündeten der Seele‹. Denn es soll ›bei uns geheiligt sein nicht nur der Geist, sondern auch die Gesinnung und die Lebensführung und der Leib‹.« 69

Das heißt doch wohl: Vom »vorbestimmten Ziel« aus gesehen, d. h. von der Auferstehung her gesehen, ist der ganze Mensch geheiligt, geheiligt als leiblich-seelische Einheit, und jede Form von Leibverachtung wäre deshalb ein Affront gegenüber dem Schöpfer, und dieser Affront braucht nicht einmal so radikale Formen anzunehmen wie bei Origenes, der sich vor lauter Leibverachtung selbst kastrierte oder bei Augustinus, der vor lauter Sex-Besessenheit seinen Körper als Feind ansah, der immer wieder aufs neue besiegt werden muß. Leider hat diese Art der Versöhnung von heidnischer Antike und biblisch-christlicher Lehre in der von Rom dominierten Christenheit keine Tradition begründen können, denn Clemens geriet hier im Westen bald in Vergessenheit und verschwand im Schlagschatten von Augustinus, der mit seiner gnadenlosen Gnaden- und Erbsündenlehre zum alles dominierenden Theologen der Westkirche aufstieg. Ganz anders verlief die Entwicklung in der Ostkirche, wo der Satz des Clemens, der Mensch sei »ein von Natur aufrechtes und stolzes Wesen und dazu bestimmt, das Schöne zu suchen« (vgl. II,169) nicht nur nie in Vergessenheit geriet, sondern sogar zum zentralen Thema praktischer Theologie überhaupt erhoben worden ist, weshalb hier auch nicht Weihnachten mit dem in der Krippe liegenden Jesuskind, sondern Ostern mit dem strahlend heiteren auferstandenen Christus zum christlichen Fest schlechthin wurde. Die Dominanz des Auferstehungs-Themas setzte sich im Be336 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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reich der Ostkirche sogar bis tief in die profane Literatur hinein fort und erscheint hier als das große humanistische Thema der Wiederaufrichtung des gefallenen Menschen. Man denke nur an den Oblomow von Iwan Gontscharow, dessen unendlich träger Held Ilja Iljitsch Oblomow immer wieder und am Ende leider vergeblich von seinem Freund mit dem programmatischen Namen Andrej Iwanowitsch Stolz aufgerichtet werden muß, der am Ende des ersten Buches lachend die Szene betritt. Oder man denke an Auferstehung, den letzten Roman Leo Tolstois, dessen Held das zur Prostituierten heruntergekommene Mädchen, das er einst verführt hatte, wieder aufrichtet und damit zugleich auch sich selbst. 2.6.2.4 Bilanz Clemens Die Verdienste, die Clemens von Alexandria sich für die Deutung des Lachens erworben hat, sind inhaltlicher und mehr noch methodologischer Art. Sie bestehen neben der Sammlung, Sichtung und Deutung des antiken Erbes insbesondere in der Verschränkung von theologischer und anthropologischer Sicht auf das Lachen, was sein methodologisches Repertoire schlagartig erweiterte, ihm einen weitaus unbefangeneren und dadurch auch genaueren Blick auf die Phänomene ermöglichte als all seinen Vorgängern, und ihn, gelotologisch gesehen, an die Seite von Aristoteles rückt. Denn vor ihm hat niemand erkannt, wie erhellend es sein kann, wenn man die aufrechte Haltung zum proprium hominis ernennt und dann überprüft, welche Erkenntnisse sich aus den Graden von Defiguration dieses »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne von Goldstein gewinnen lassen, und in welcher Weise sich die stoische tonos-Lehre für die Deutung des Lachens einsetzen läßt. Das hat vor ihm niemand getan, und nach ihm auch so gut wie niemand, und damit brach eine gelotologische Methodologie leider sofort wieder ab, kaum daß sie sich artikuliert hatte. Aber gerade weil Clemens das Lachen für die Christenheit retten wollte und in bestimmten seiner Ausprägungen sogar zur Signatur der Gottebenbildlichkeit des Menschen erhoben hat, ist es auf den ersten Blick um so seltsamer, daß er, so weit ich sehe, an keiner 337 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Stelle den Versuch unternommen hat, aus bestimmten Formen des Lachens Rituale für den christlichen Kult zu entwickeln. Dies geschah erst viele Jahrhunderte später in den Ritualen des Osterlachens 70, die man am plausibelsten als Umsetzung der clementinischen Theologie des Lachens und als Abglanz und Vorwegnahme des Auferstehungs-Lachens im irdisch-kirchlichen Ritual deuten kann. Wenn man nach den Gründen für diese Zurückhaltung fragt, so bieten sich eigentlich nur zwei an: Der eine dürfte darin liegen, daß Clemens die kathartische Funktion des Lachens vielleicht sogar sah, bestimmt aber eher fürchtete, weil sie an die intensiver ausgeprägten Formen des Lachens gebunden ist und ausgerechnet bei diesen Formen des Lachens die aufrechte Haltung tendenziell verloren geht, und damit wiederum die Gottebenbildlichkeit. Daß man sich bei dieser Art von Gelächter zwar krumm lacht, sich aber auch wiederum gerade lacht und zur aufrechten Haltung zurückkehrt, und zwar gerade durch das Lachen, hätte er ja sogar als eine Art vorweggenommener Auferstehung deuten können. Das konnte er aber schon deshalb nicht, weil diese Art von Wiederauferstehung der gottgewollten aufrechten Haltung aus dem Lachen sich dem uroborischen Impuls verdankt und damit einem Impuls, der im Lachen selbst liegt und damit dem Erlösungsmonopol Christi hätte Konkurrenz machen müssen. Genau hier liegt, wie mir scheint, die Grenze, die Clemens nicht überschreiten konnte, vor der er sogar zurückschrecken mußte, wie jeder andere Christ auch: Die dem Lachen immanente Tendenz zur gottfernen Selbstkorrektur aus den Ressourcen der eigenen Leiblichkeit. Der zweite Grund für dieses Zurückschrecken vor der letzten Konsequenz, das Lachen in all seinen Formen und Ausprägungen mit dem Christentum zu versöhnen, liegt in der Sündenlehre des Clemens, zu deren Ätiologie er auch wieder auf seine theologisierte Anthropologie zurückgriff und bei der verkrampften Übersteigerung der aufrechten und stolzen Haltung ansetzte, bei der sich der Mensch in übertriebener Eigenliebe gegen seinen Gott aufbäumt und damit die Ursünde schlechthin begeht, denn »Eigenliebe aber ist für jedermann jederzeit Ursache aller Verfehlungen.« (IV,275) Genau dieses Aufbäumen mit erhöhter Körperspannung und 338 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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konvexer Haltung ist der Habitus, der konstitutiv zum aggressiven Verlachen gehört, zum aggressiven Auslachen-von-oben und erst recht zum aggressiven Auslachen-von-unten und damit für Clemens auch zum aggressiven Verlachen Gottes durch den Menschen in eitler und wahnhaft überspannter Selbstüberdehnung und Selbstüberhebung. Mit diesem Gedanken konnte Clemens wieder einmal an eine heidnische Tradition anknüpfen, und sie ins Christliche eingemeinden 71, diesmal an die Warnung vor Selbstüberhebung, wie sie von den griechischen Tragikern und von Platon formuliert worden war, weil die Konkurrenzsorge phthonos, aus der Platon das Auslachen abgeleitet hatte, sich hier nicht auf den menschlichen Konkurrenten richtet, sondern auch gegen den christlichen Gott richten kann, und deshalb zum absoluten Tabu erklärt werden muß. Damit war für Clemens eine weitere und genauso unüberschreitbare Grenze erreicht. Wir werden sehen, daß bei Augustinus dieser Ansatz bei der sündhaften Eigenliebe und Selbstüberhebung des Menschen ganz ins Zentrum seines Denkwerks rückt und damit auch seine reduktionistische Deutung des Lachens bestimmt und dadurch die Verpönung des Lachens durch die Kirche für die nächsten tausend Jahre festschreiben wird. 2.6.2.5 Laktanz Soweit ich dies überblicken kann, ist Laktanz der einzige unter den Kirchenvätern, der die theologische Anthropologie des Clemens aufgreift und weiterführt. Lucius Caelius Firmianus Lanctantius, wie er mit vollem Namen heißt, lebte etwa von 250 bis 340, also rund 100 Jahre nach Clemens, und war wie dieser hochgelehrt, trat um 300, zur Zeit der letzten großen Verfolgungen, zum Christentum über und machte nach seiner Konversion in Byzanz am Hof des ebenfalls frisch bekehrten Kaisers Konstantin Karriere als Erzieher des Prinzen. Am interessantesten aus seinem umfangreichen Werk72 ist für uns die Abhandlung Vom Zorne Gottes, in der er ganz in der 339 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Tradition des Aristoteles nach den propria hominis fragt und in der Tradition des Clemens daran die Frage knüpft, was sich aus Gestus, Vultus und Habitus im Hinblick auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen ergibt. Ausgangspunkt all seiner Überlegungen ist für ihn die Gewißheit, »daß im Menschen etwas Göttliches liegt« (S. 79). Und auch er ist, ganz wie Clemens, ein Anwalt des aus der heidnischen Philosophie stammenden Vernunftprinzips und der daraus resultierenden Überzeugung, Glaube und Vernunft könnten nicht nur miteinander versöhnt werden, sondern seien eigentlich nur zwei Seiten derselben Medaille. Und dann fährt er fort: »Ich komme noch nicht zu den Vorzügen der Seele und des Geistes, durch die der Mensch eine offenkundige Verwandtschaft mit Gott hat; ich frage nur: läßt nicht schon die Stellung des Leibes und die Gestaltung des Antlitzes klar ersehen, daß wir nicht mit den stummen Tieren auf einer Stufe stehen? Die Natur des Tieres ist abwärts zum Futter und zur Erde gerichtet und hat nichts mit dem Himmel gemein, zu dem sie nicht emporschaut. Der Mensch aber in seiner aufrechten Stellung, mit dem emporgerichteten Antlitz ist zur Betrachtung des Weltalls geschaffen und tauscht mit Gott den Blick, und die Vernunft erkennt die Vernunft. Darum gibt es, wie Cicero sagt, kein Geschöpf auf Erden außer dem Menschen, das auch nur die geringste Kenntnis von Gott hätte. Der Mensch allein ist mit Vernunft ausgestattet, um allein die Religion, das Pflichtverhältnis gegen Gott zu erkennen, und das ist zwischen Mensch und Tier der wesentlichste, um nicht zu sagen der einzige Unterschied.« (S. 79)

Ganz wie Clemens setzt also auch Laktanz bei der aufrechten Haltung des Menschen an, ganz wie Clemens decken sich für ihn Natur des Menschen, Glaube und Vernunft, und ganz wie Clemens liefert natürlich auch Laktanz weitere »Fußnoten zu Platon«, denn auch er stellt sich deutlich in die Tradition von Platons Timaios, aber auch in die Tradition Ovids, der gleich im ersten Buch seiner Metamorphosen Platons Thema der Sonderstellung des Menschen aufgrund seiner aufrechten Haltung aus dem Timaios aufnimmt und über das Schöpfungswerk des Prometheus schreibt: »Doch ein edler Geschöpf, und fähiger hohen Verstandes, Mangelte noch, das Macht ausüben könnt’ auf die Andern.

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Siehe! da wurde der Mensch, schuf nun ihn aus göttlichem Saamen Selbiger Bildner der Ding’, Urheber des besseren Weltalls, Oder die neue, nur jüngst vom erhabenen Aether getrennte Erde behielt den Saamen in sich des befreundeten Himmels, Welchen, vermischt mit den Wellen des Stroms, Japetus Sprößling Bildete nach der Gestalt der allobwaltenden Götter. Während die übrigen Thiere gebeugt die Erde betrachten, Gab er erhab’nes Gesicht dem Menschen, und ließ ihn den Himmel Schau’n, und gerichtet empor ihn den Blick zu den Sternen erheben.« 73

Einen derartigen Hymnus auf die aufrechte Haltung wird, wie wir sehen werden, erst wieder Johann Gottfried Herder in seiner Deutung der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts, in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und in seiner Kalligone anstimmen. Anders als all seine heidnischen und christlichen Vorgänger leitet Laktanz aus der aufrechten Haltung außerdem auch noch die Möglichkeit ab, als Mensch mit Gott »den Blick zu tauschen«, mit ihm also in Blickkontakt zu treten, und erhebt damit die Möglichkeit der visio dei zum zentralen, konstitutiven Charakteristikum des Menschen. Das ist, soweit ich sehe, ein in der Geschichte der Religion und der Anthropologie ganz neuer Gedanke, der noch in der neueren theologisch orientierten Anthropologie 74 eine zentrale Rolle spielt. Mit diesem Gedanken der visio dei wird der Blickkontakt, der in der Antike bis dahin vorrangig unter dem Aspekt des »bösen Blicks« 75 thematisiert worden ist, mit einem Mal als fundamental wichtiges Mittel vielfältigster personaler Interaktion und Kommunikation erkannt, da der Blickkontakt nicht nur die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern auch die Beziehungen zwischen den Menschen selbst stiftet und regelt. Natürlich ist Laktanz sich darüber im klaren, daß der Blickkontakt zwischen Mensch und Gott bei der visio dei nicht auf Augenhöhe stattfindet wie beim Blickkontakt zwischen zwei Menschen; er unterscheidet sich aber auch entschieden vom Blick und Anblick Gottes, wie er im Alten Testament immer wieder beschrieben wird, wo er als existentiell bedrohliches, ja sogar vernichtendes Erlebnis 76 gilt. Im Unterschied dazu stiftet der von Laktanz beschriebene Blickkontakt des Christen mit seinem Gott ein unbedrohliches, ge341 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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radezu partnerschaftliches Verhältnis, weil im Blick dieses christlichen Gottes für Laktanz nicht nur Zorn, sondern auch Gnade (vgl. S. 78) liegt. So gesehen führt Laktanz einen Gedanken fort, auf den wir schon bei Clemens gestoßen sind: Jemand, der seinen eigenen Körper voller Vertrauen als »Gefährden und Verbündeten des Geistes« erfährt und ihn deshalb wiederum entsprechend respektvoll behandelt, kann auch seinen Gott genauso vertrauensvoll als »Gefährden und Verbündeten« erfahren und voller Vertrauen zu ihm aufblicken. Die hohe Bedeutung, die Laktanz dem Blickkontakt zuschreibt, ist für unsere Fragestellung, systematisch-methodologisch gesehen, von größter Bedeutung, denn wir werden sehen, daß wir keine einzige Ausprägung des Interaktions-Lachens auch nur ansatzweise auf den Begriff bringen können, ohne dabei die Funktion des Blickkontakts in all seinen Modifikationen in Betracht zu ziehen; und wir werden auch sehen, daß das Maß an Verfügbarkeit des jeweiligen Interaktions-Lachens direkt an die Beschaffenheit und Intensität des Blickkontakts geknüpft ist. Interaktions-Lachen ist also immer zugleich auch visio hominis durch Blickkontakt. Gemessen an der Möglichkeit des Blickkontakts mit dem christlichen Gott sind alle anderen traditionellen Charakteristika des Menschen für Laktanz zweitrangig, auch die Sprach- und Lachfähigkeit: »Das übrige, was den Menschen ausschließlich zu eigen zu sein scheint, findet sich, wenn auch nicht in gleicher, so doch in ähnlicher Beschaffenheit auch an den Tieren. Dem Menschen eigentümlich ist die Sprache; doch finden wir auch an den Tieren etwas der Sprache Ähnliches, denn sie erkennen sich wechselseitig an den Lauten. (…) Auch das Lachen ist den Menschen eigentümlich; und doch sehen wir auch in anderen Wesen gewisse Zeichen der Fröhlichkeit.« (S. 80)

Und aus diesem Grund geht Laktanz all diesen Fragen auch nicht weiter nach. Was von Laktanz an Erkenntnisgewinn und Anregung bleibt, ist sein energischer Hinweis auf die konstitutive Funktion des Blickkontakts als Medium jeglicher leiblicher Kommunikation, und deshalb wird uns sein Satz »Vernunft erkennt Vernunft im Blickkon342 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Bußprediger: Ephräm der Syrer

takt« immer vor Augen stehen müssen, wenn wir im systematischen Teil dieser Studie uns mit dem Interaktions-Lachen als Form leiblicher Kommunikation befassen werden. 2.6.3 Der Bußprediger: Ephräm der Syrer Als Ephräm (306–377) lebte und wirkte, war die Zeit der Verfolgungen schon Vergangenheit und das Christentum war nach dem Toleranzedikt von Mailand im Jahr 313 auf dem Weg, zur dominanten Religion des Römischen Reiches zu werden. Außerdem hatten sich die Christen 325 auf dem Konzil von Nicäa mit dem nicänischen Glaubensbekenntnis gleichsam eine theologische Verfassung gegeben, die es nun in die kirchliche Praxis umzusetzen galt. Eine dieser Formen war das Mönchtum 77, das sich im Osten des Reiches aus besonders asketisch gesinnten Formen des Christentums entwickelt hatte und sich von da aus über das ganze Reich verbreitete und ebenfalls nach einer Verfassung verlangte, insbesondere als das Eremitentum durch die zönobische Form des gemeinsamen asketischen Lebens abgelöst wurde und auf diesem Weg die klösterliche Form des Mönchtums entstand. Hierfür brauchte man ein anthropologisches Modell, von dem alle einzelnen Verhaltensweisen des mönchisch-klösterlichen Lebens abgeleitet und sinnvoll begründet werden konnten. Dieses Modell war das ins Christliche übertragene Ideal des stoischen Weisen, wie wir es bei Seneca und Clemens von Alexandria kennengelernt haben, und wie es ja auch schon in den weisheitlichen »salomonischen« Schriften des Alten Testaments entworfen worden war. Als stoischer Weiser ist der Mönch demgemäß ein Muster an Selbstbeherrschung und Gehorsam, als »salomonischer« und paulinischer Christ darüber hinaus auch noch ein Muster an Frömmigkeit und Keuschheit, und all dies verlangt u. a. die Unterdrückung des Lachens und die Verbannung aller Formen von aristotelischer Eutrapelie aus dem Leben der christlichen Gemeinde und aus dem Kloster. Damit dies aber eher oder überhaupt erst gelingt, ist es für den Mönch vonnöten, auf Dauer eine genau definierte Stimmung 343 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

einzunehmen, die ihm gleichsam als Grundverfassung für all sein Verhalten dient, und diese Stimmung ist die contritio, die Zerknirschtheit des Sünders über seine Sündigkeit, gleichsam ein auf Dauer gestelltes und unermüdlich nagendes schlechtes Gewissen, das sich in Weinen und Klagen äußert. Vor diesem Hintergrund ist Ephräms Rede wider das Lachen 78 zu lesen. Die literarische Form, die Ephräm dafür gewählt hat, ist die Bußpredigt mit der dafür typischen hämmernden Reihung ähnlicher Argumente. Ephräm beginnt seine Predigt mit der These, es gezieme sich nicht für den Mönch, zu lachen und sich zu freuen, sondern er solle gefälligst über sich weinen und klagen, und zwar nicht ab und zu einmal, sondern ständig; denn »der Anfang der Zerstörung der Seele des Mönches ist Lachen und Freimütigkeit.« (S. 107) Damit ist eigentlich schon alles gesagt, denn alles, was auf diesen Satz folgt, ist nur die wenig variierte Wiederholung und Ausmalung eben dieser These. Da heißt es dann: »Lachen und Freimütigkeit vernichten die Frucht des Mönches; Lachen und Freimütigkeit werfen den Mensch in schmutziges Leiden 79, nicht nur die Jünglinge, sondern auch die Greise. (…) Lachen vertreibt die Seligkeit, die der Herr den Klagenden verheißen 80 hat. Lachen und Freimütigkeit nützen keinem und bewahren keinen, sondern zerstören, was er gebaut hat. Lachen verjagt die Tugenden und verdrängt den Gedanken an den Tod und das Nachdenken über die Bestrafung.« (S. 107)

Damit erscheint die Verbindung von Lachen und Freimütigkeit als das Grundübel des sündigen Menschen schlechthin, aus dem alle anderen Übel und Sünden entstehen, und das deshalb durch die diametral entgegengesetzte Grundhaltung der Zerknirschung ersetzt werden muß, und deshalb fährt Ephräm fort: »O Herr, verbanne von mir das Lachen und gib mir das Klagen und das Weinen, die du von mir verlangst.« (S. 107)

Denn: »Der Anfang des Klagens ist, daß der Mensch sich selbst erkennt; unser Klagen soll aber sein, nicht um den Menschen gegenüber scheinheilig zu handeln, sondern um dadurch dem Herrn zu gefallen, der das Ver-

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Der Bußprediger: Ephräm der Syrer

borgene in den Herzen kennt, damit wir von Ihm die Glückseligkeit erlangen; und so werden wir frohen Antlitzes sein, erfreut durch den Hl. Geist und durch die Gaben des Herrn, indem wir im Innern klagen.« (S. 107/109)

Denn: »Klagen nützt den Seelen und bewahrt sie und wäscht sie durch Weinen und macht sie rein. Klagen erzeugt Besonnenheit, schneidet die Begierden (hedonas) ab und richtet die Tugenden auf.« (S. 109)

Damit ist für Ephräm die christliche Umwertung aller heidnischantiken Werte ins Werk gesetzt, woraus sich dann die Forderung an die Christen ergibt: »Wandelt euer Lachen in Klagen und eure Freuden in Ernst; erniedrigt euch unter der mächtigen Hand Gottes, damit Er euch erhöht (Jak. 4,9–10).« (S. 109)

Der Weg dazu ist für Ephräm die christliche Gnadengabe der contritio, also der »Zerknirschung« (S. 109), für deren Artikulation er denn auch gleich den Text vorgibt: »Gib mir, o Herr, die Tränen der Zerknirschung. (…) Weh mir, was soll ich tun? Das Feuer der Hölle und diese äußerste Finsternis, wo Heulen und Zähneknirschen! Weh mir, was soll ich tun? Die Qual, die nicht aufhört, und der giftige Wurm 81, der nicht schläft! Weh mir, was soll ich tun? Die Drohung der Engel, die der Bestrafung vorstehen; denn sie sind schreckenerregend und ohne Barmherzigkeit! Wer gibt meinem Haupte Wasser und meinen Augen Tränenquellen, damit ich sitzend weine Tag und Nacht, um den Herrn zufrieden zu stellen, den ich erzürnt habe. Du hast gesündigt, Seele, bereue es!« (S. 111)

So wie das Lachen für Ephräm also als die Quelle aller Übel erscheint, so erscheint ihm umgekehrt das Weinen als die Quelle des Heils; und so wie das Weinen für ihn die Frucht der Zerknirschung ist, so ist für ihn das Lachen die Frucht der Freimütigkeit. Aber welches Lachen meint er damit? Und welche Art von Freimütigkeit? Es spricht alles dafür, daß er damit die aristotelische Eutrapelie im Visier hat, die schon sein Vorbild Paulus in seinem 345 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

Brief an die Epheser verdammt hatte, also das zivile und kultivierte Scherzen und Lachen auf Augenhöhe, mit dem sich weltmännisch gebildete Leute in entspannter Atmosphäre unterhalten. Auf den ersten und sehr oberflächlichen Blick könnte man das zerknirschte Gewinsel des Ephräm ja als eine Kuriosität der Religionsgeschichte ad acta legen, wenn es neben dem dezidiert antizivilisatorischen Affekt, der sich in der Verdammung des aristotelischen Eutrapelie-Ideals zeigt, nicht noch einen andern Aspekt hätte, der viel nachdenklicher stimmen muß, denn für Ephräm scheint die Contritio ja nicht eine wünschenswerte und ad hoc sich einstellende momentane Bereitschaft zur Reue und damit zur kathartischen Verarbeitung eigener Fehler, Vergehen und Verbrechen zu sein, durch die man sich satt weint und sich dadurch wieder in Haltung bringt, gleichsam das vorweggenommene Fegefeuer mit seinem kathartisch läuternden Effekt, sondern er scheint die Contritio als generelle, auf Dauer gestellte innere Haltung zu fordern, durch die allein der Christ Christ sein könne. Damit aber würde Ephräm den Christen, und vor allem den Mönch, auf eine Gefühlslage ohne jeden uroborisch-kathartischen Impuls festlegen und ihm damit auf Erden schon die Hölle bereiten, denn in der christlichen Hölle gibt es, anders als im christlichen Fegefeuer, keinen uroborisch-kathartischen Impuls mehr: Dort dauert alles ewig. Wenn man Ephräms Bußpredigt jedoch in den zeitgenössischen Kontext der frühchristlichen Penthos-Tradition stellt, wie sie Barbara Müller in ihrer Studie Der Weg des Weinens beschrieben hat, so kommt man nicht umhin, das von Ephräm geforderte Weinen deutlich vom Penthos-Weinen zu unterscheiden, denn dann erscheint das von Ephräm angesonnene Weinen in der Tat als das kathartisch läuternde Weinen der Reue und Buße, das sich uroborisch selbst verzehrt, das Penthos-Weinen der Wüstenväter, wie es in den Apophthegmata Patrum dargestellt wird, hingegen als eine auf Dauer gestellte innere Haltung und als eine spezifische Form von Askese, gleichsam als »athletische Wein-Arbeit«, deren Zweck nicht darin besteht, als Trauer-Arbeit individuelle Trauer und Reue zu bekunden und uroborisch verzehren zu lassen, sondern darin, durch dieses spezifische, auf Dauer gestellte Weinen die eschatologische Rettung aller Sünder und der ganzen Welt maieutisch her346 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Bußprediger: Ephräm der Syrer

beizuführen. Deshalb muß man Barbara Müller wohl folgen, wenn sie zu der Bilanz kommt: »Sinnvoller als die Formel von der Trauer über das verlorene (individuelle) Heil wäre deshalb vielleicht diejenige von der Trauer darüber, ein Sünder zu sein. Da jedoch der Trauerbegriff mit der Emotion der Trauer verwechselbar ist, empfiehlt es sich, ihn ganz zu vermeiden, und das Penthos über das Weinen zu definieren – etwa als das hoffnungsvolle Weinen des Sünders vor Gott. Bei einer solchen Definition wird der Weinende nicht bezüglich eines (verlorenen und betrauerten) Gutes oder einer (sündigen) Tat, sondern direkt in seiner Beziehung zu Gott charakterisiert. Indem das (Penthos-)Weinen mit der Hoffnung verbunden wird, kann zudem der primär eschatologischen Orientierung der Wüstenväter Rechnung getragen werden. Bewusst offen bleibt überdies die emotionale Qualität – Furcht oder Freude –, die das (Penthos-)Weinen des Sünders bestimmt. Denn diese ändert sich im Verlaufe des spirituellen Fortschreitens.« (S. 190)

Man könnte mit Bollnow auch sagen, das Contritio-Weinen Ephräms sei eine grundsätzlich »gedrückte«, das Penthos-Weinen der Wüstenväter hingegen eine letztlich »gehobene« Stimmung, weil es so viel Hoffnung in sich birgt, und außerdem könnte man sagen, das Contritio-Weinen Ephräms bekunde das Widerfahrnis rückhaltloser Selbstpreisgabe, das Penthos-Weinen hingegen sei eine aktiv zu erbringende Leistung. Wenn wir die Haltung Ephräms dem Lachen gegenüber mit der des Clemens oder der des Laktanz vergleichen, so sehen wir, wie zugleich mit der immer distanzierteren Haltung dem Lachen gegenüber sich auch das Menschenbild des frühen Christentums verhärtet, wie die anthropologische Orientierung schwindet und Hand in Hand mit der Verfestigung des christlichen Dogmas der Mensch mehr und mehr auf die Seele reduziert wird. Bei den beiden Kirchenvätern, auf die wir nun einzugehen haben, Johannes Chrysostomus und Aurelius Augustinus, erfährt diese unheilvolle Entwicklung sogar noch einen weiteren kräftigen Schub, weil sich auch der kirchengeschichtliche Hintergrund noch mal entscheidend gewandelt hatte. Vor allem aber können wir feststellen, daß Hand in Hand mit dem Machtzuwachs der Kirche auch der christliche Teufel eine ganz erstaunliche Karriere 347 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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macht und sich das Lachen als das zentrale Revier seines Wirkens sichert. 2.6.4 Der Exorzist: Johannes Chrysostomus Wenn wir von Clemens oder Laktanz zu Johannes Chrysostomus 82 übergehen, so merken wir sofort am Tonfall der Texte, in denen das Lachen behandelt wird, daß sich etwas grundlegend gewandelt haben muß. Das liegt nicht nur in der Person und dem Naturell dieser Autoren begründet – Clemens und Laktanz waren Gelehrte, Johannes ein rechtgläubig eifernder Einpeitscher auf dem damals wichtigsten Bischofsstuhl des Römischen Reiches –, sondern in der grundlegend gewandelten kirchengeschichtlichen Situation. Zur Zeit des Clemens um 200 war das Christentum gerade so weit konsolidiert, daß es zwar den Kanon seines Neuen Testaments schon festgelegt hatte, aber immer noch vom Streit um die authentische theologische Auslegung dieses Kanons hin und her gerissen wurde, weil es sich noch auf keine offizielle rechtgläubige Lesart hatte einigen können. Dazu kam, daß es immer noch mit den anderen Religionen im Römischen Reich, v. a. mit dem Judentum, den Manichäern, dem Mithras-Kult und natürlich auch noch mit dem Kult der olympischen Götter in harter Konkurrenz stand und immer wieder aufflammenden Schüben von Verfolgung ausgesetzt war, die ab 207 ihren Höhepunkt erreichte. Zur Zeit des Johannes Chrysostomus (345–407) hingegen war mit dem Toleranzedikt von Mailand seit 313 die Zeit der Verfolgungen schon fast hundert Jahre vorüber, das Christentum hatte sich im ganzen Reich ungehemmt ausbreiten können, der Sonntag war schon Feiertag, und das Konzil von Nicäa hatte 325 durch das nicänische Glaubensbekenntnis eine Norm der Rechtgläubigkeit festgesetzt, an der jede theologische Äußerung gemessen und als rechtgläubig oder häretisch bewertet werden konnte. Und da dieses Konzil auch noch unter dem Vorsitz des frisch bekehrten Kaisers Konstantin stattgefunden hatte, war auch das Modell des Zusammenspiels von Thron und Altar in aller Form installiert, das die künftige europäische Geschichte auf das tiefste prägen und bis 348 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Exorzist: Johannes Chrysostomus

zur Französischen Revolution (und z. T. sogar noch darüber hinaus) gültig bleiben sollte. Der theologische Sollbestand des Konzils von Nicäa wurde 381 durch das Konzil von Konstantinopel noch mal ausdrücklich bestätigt, damit auch die Grenze zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei, und somit hatte die katholische Kirche für die nächsten tausend Jahre im wesentlichen ihre Form gefunden. Als Kaiser Theodosius im Jahr 391 das Christentum sogar zur offiziellen Religion des Römischen Reiches erhob und alle anderen Religionen und Kulte verbot, war auch machtpolitisch gesehen eine neue Situation gegeben; denn die christlich-kirchliche Orthodoxie, die bis dahin die Häretiker in den eigenen Reihen und die konkurrierenden Religionen nur mit polemischer und persuasiver Argumentation hatte bekämpfen können, konnte von nun an auch die Machtmittel des Staates gegen ihre Gegner einsetzen, und tat dies auch ungeniert. Mit einem Wort: Aus Verfolgten waren im Jahr 391 Verfolger geworden, und nun zog ins Christentum ein ganz neuer Geist ein: Es wurde vollends ernst und machte Ernst mit seinen Anhängern wie mit seinen Gegnern. In diesem Klima neu gewonnener Macht wirkte Johannes Chrysostomus ab 398 als Bischof und Patriarch von Konstantinopel, also im Zentrum politischer und kirchlicher Macht, und diesen Geist absoluter Deutungsmacht spürt man auch aus jeder Zeile seines Werks, z. B. in seiner Vorliebe für militärische Metaphorik, die in seinem Traktat über das Priestertum 83 besonders auffällig ist. Dort übernimmt Johannes von Seneca das Bild der menschlichen Seele als einer belagerten Festung und überträgt es auf die christliche Politeia, die der Priester gegen den Ansturm der bösen Welt zu verteidigen hat, also gegen die Juden, die heidnischen griechisch-römischen Götter, die Manichäer und Stoiker und sonstige »Irrlehren des Teufels« (IV,195), denn hinter jedem Feind in diesem »uns aufgezwungenen Krieg« (IV,194) steht für Johannes letztlich der Teufel selbst, der altböse Widersacher des christlichen Gottes: »Daher tut es not, sich von allen Seiten wohl zu wappnen, denn solange eine Stadt ringsum verschanzt ist, verlacht sie ihre Belagerer, da sie sich in voller Sicherheit weiß; wenn aber einer die Mauer durchbrochen hat, sei es auch nur im Ausmaß einer kleinen Pforte, so hat

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die Umwallung weiter keinen Nutzen mehr, mag die übrige Befestigung auch noch so sicher ausschauen. So verhält es sich auch mit der Stadt Gottes. Solange die Geistesgegenwart und Umsicht des Hirten (d. h. des Priesters oder Bischofs) sie von allen Seiten anstatt einer Mauer schützt, enden alle Anschläge mit Schande und Gelächter über die Feinde, und die Einwohner bleiben darin unbeschädigt.« (IV,195)

Über das Lachen äußert sich Johannes ausführlicher nur an zwei Stellen seines umfangreichen Werks. Einmal in der 17. Homilie zum Brief des Apostels Paulus an die Epheser, wo er, wie wir oben in Kapitel 2.3.4.3 gesehen haben, das aristotelische Eutrapelie-Ideal als witzig verpackte Unanständigkeit definiert und deshalb in Grund und Boden verdammt, und dann noch in der 6. Homilie zum Matthäus-Evangelium, und beide Passagen haben in der christlichen Diskussion über das Lachen eine geradezu kanonische Bedeutung erlangt und wurden immer wieder zitiert. Daß sich eine dieser Auseinandersetzungen mit dem Lachen in einer Deutung des Matthäus-Evangeliums befindet, obwohl dort vom Lachen 84 gar nicht die Rede ist, liegt am besonderen Charakter gerade dieses Evangeliums, das bei allen Dogmatikern seit jeher besonders beliebt war, weil es ein Bild von Christus entwirft, das Johannes gefallen mußte, denn im Christus dieses Evangeliums dominieren eindeutig die militanten Züge, weil dieser Christus deutlich in juden-christlicher Tradition steht und Züge des alttestamentarischen Jahwe, seines Knechtes Moses und seiner eifernden »Jahwe allein!«-Propheten trägt. Außerdem tritt dieser Christus als Unheil verkündender und Buße fordernder Menschensohn und Weltenrichter auf – »Ihr Otterngezüchte!« (Matth. 12,34) – und betätigt sich als unnachsichtig eifernder Exorzist. 85 Ein leidenschaftsloser Stoiker, wie Clemens ihn gesehen hatte, ist dieser matthäische Jesus also ganz und gar nicht. All das mußte Johannes gefallen, weil er sich durch diesen Christus des Matthäus-Evangeliums in seinen eigenen Ambitionen als strenger Bußprediger und rechtgläubig eifernder Peitschenschwinger und Teufelsaustreiber ausdrücklich bestätigt sehen durfte. Darum ist es auch kein Zufall, daß von den sieben Bänden der in der »Bibliothek der Kirchenväter«86 vorliegenden Chrysostomus-Aus350 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gabe mehr als die Hälfte der Auslegung des Matthäus-Evangeliums gilt. Daß dieser strenge und militante Christus des Matthäus-Evangeliums nicht lacht, versteht sich eigentlich von selbst, und paßt überdies genau ins Bild dieses gleichsam kierkegaardschen Rigorismus mit all seinem Entweder-Oder-Pathos: »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter und die Schwiegertochter wider ihre Schwiegermutter. (…) Wer Vater und Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.« (10,34–38)

Denn: »Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.« (12,30)

Diese Argumentation des matthäischen Christus ist zwar rein logisch gesehen der pure aggressive Unsinn, weil sie unterstellt, es könne keine irgend geartete Form von Neutralität ihm gegenüber geben, wirkt aber durch ihre aggressive Unbedingtheit um so suggestiver auf jeden, der zu militanter Gesinnung neigt. Mit einem Wort: Der matthäische Jesus ist der Jesus aller christlichen Fundamentalisten. Zu diesen Leuten gehörte auch Johannes Chrysostomus, und auch er nahm es mit der Logik nicht so genau, denn aus dem Umstand, daß in keinem Evangelium explizit von einem lachenden Christus die Rede ist, zieht er den kühnen Schluß, daß Christus auch tatsächlich nie gelacht habe. Daß er vielleicht doch mal gelacht haben könnte, dies aber bloß nicht erwähnt wird, wie vieles andere eben auch nicht erwähnt wird, kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn, wohl deshalb, weil dies zu seinem matthäisch geprägten Christus-Bild nicht recht passen will: »Weinen sah man ihn oft, lachen niemals, nicht einmal stille lächeln; wenigstens hat kein Evangelist etwas davon berichtet. Deshalb sagt auch der hl. Paulus selbst von sich, und andere sagen es von ihm, daß er geweint habe, drei Tage und drei Nächte lang geweint; daß er aber gelacht hätte, das hat er nirgends gesagt, weder er von sich noch andere von ihm; aber auch kein Heiliger hat dies weder von sich noch von einem anderen Heiligen erzählt.« (I,110)

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Damit ist für Johannes klar: Jesus Christus hat nicht gelacht, obwohl er als wahrer Mensch sehr wohl hätte lachen können wie jeder andere Mensch auch, und obwohl das stille Lächeln, wie wir aus der »salomonischen« weisheitlichen Literatur des Alten Testaments wissen, sehr wohl zum Bild des frommen Weisen paßt, nicht aber zum Bild des matthäischen Christus. Und deshalb behauptet Johannes Chrysostomus goldmündig-vollmundig, jeder, der bislang in der entschiedenen Nachfolge Christi lebte, habe auch nicht gelacht, und deshalb habe jeder, der künftig in der Nachfolge Christi leben wolle, sich strikt des Lachens zu enthalten, und wer dies nicht tue, verhalte sich eben nicht etwa neutral zu Christus, sondern handle explizit gegen den Willen Christi, denn wie der matthäische Christus kennt auch Johannes Chrysostomus nur den kontradiktorischen Gegensatz: Entweder – Oder! Ein Drittes gibt es nicht. Zumindest nicht für Johannes Chrysostomus. Aber warum erscheint diesem Johannes Chrysostomus das Lachen so schändlich und gefährlich, daß es buchstäblich ausgerottet gehört? Diese Frage beantwortet sich für Johannes ganz einfach: Da er sich in der Nachfolge des matthäischen Christus als notorischer Exorzist verstand und in allem und jedem nichts als die Machenschaften des Teufels erkennen konnte, erschien ihm auch das Lachen als eine pompa diaboli, als eitles Gepränge des Teufels in den verschiedensten Manifestationen, und dazu gehört für Johannes alles, was sich als zentrifugal orientierte »gehobene Stimmung« 87 äußert: Lebensfreude, Spielen und Scherzen, Gelächter aller Art und der gesamte Bereich der Schaukünste, und damit schlägt er in die gleiche Kerbe wie schon sein Vorgänger Ephräm: »Das alles sage ich aber, nicht um das Lachen zu verpönen, sondern um die Ausgelassenheit zu verhindern. Denn sage mir doch: Welchen Grund hast du denn, eingebildet und ausgelassen zu sein, der du doch für so viele Sünden verantwortlich bist, vor dem furchtbaren zukünftigen Richterstuhl erscheinen mußt, und über alles, was du hienieden getan, genaue Rechenschaft abzulegen hast? (…) Während du also über so vieles wirst Rechenschaft ablegen müssen, sitzest du da und lachst, redest läppische Dinge und gibst dich eitler Lebenslust hin.« (I,111)

Mit dieser Kampfansage gegen die adiaphora, die später für die Pietisten so eminent wichtig werden sollte, knüpft Johannes an die 352 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Exorzist: Johannes Chrysostomus

entschiedene Verurteilung des aristotelischen Eutrapelie-Ideals an, wie wir sie schon von Ephräm kennen, und wie sie von Paulus in seinem Brief an die Epheser zur Norm christlichen Verhaltens erhoben worden ist, auf den sich Johannes Chrysostomus auch explizit 88 beruft. Ganz im Sinne von Ephräms Philippika gegen das Lachen und seiner Lobpreisung der Zerknirschtheit geht es dann bei Johannes Chrysostomus weiter, wenn er fortfährt: »Darum redet Christus so oft von der Reue zu uns, preist die Bußfertigen und ruft wehe über die, die lachen 89. Die Welt ist eben kein Theater zum Lachen; nicht dazu sind wir gekommen, um schallendes Gelächter anzuschlagen, sondern um über unsere Sünden zu seufzen, und mit diesem Seufzen werden wir uns den Himmel erwerben.« (I,112)

Und woher kommt dieser unselige Hang zur eitlen Lebensfreude und zu Gelächter aller Art? Für Johannes kommt sie aus der gehobenen Stimmung des sündigen Hochmuts, die den Menschen zu dem Wunsch verleitet: »Ich möchte, daß ich niemals zu weinen brauche; Gott gebe mir lieber, daß ich immer lachen und scherzen kann.« (I,112)

Denn: »Nicht Gott gibt uns Gelegenheit zur Ausgelassenheit, sondern der Teufel. (…) Erbitte also nicht von Gott, was du nur vom Teufel haben kannst. Gottes Sache ist es, dir ein Herz zu geben, das zerknirscht und demütig ist, das nüchtern ist und besonnen, gelassen, reumütig und bußfertig. (…) Es steht uns also nicht zu, fortwährend zu lachen, uns zu freuen und in Vergnügungen zu schwelgen; das sollen die Schauspieler tun, die schlechten Dirnen und verkommenen Menschen, die Schmarotzer und Schmeichler, nicht aber die, die für den Himmel berufen sind, nicht, die, welche in jener Gottesstadt das Bürgerrecht haben und die Waffen des Geistes tragen, sondern die, so dem Teufel verfallen sind. Ja, der Teufel ist es, der Teufel, der eine wahre Kunst daraus gemacht hat, die Soldaten Christi zur Erschlaffung zu bringen und die Spannkraft ihrer Seele zu schwächen.« (I,112 f.)

Die Gründe für die Verpönung des Lachens durch Johannes liegen demnach in einer Verschränkung theologischer und physiologischer Argumente: Lachen ist für das Seelenheil des Christen deshalb 353 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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so gefährlich, weil es dem Teufel damit gelingt, die ideale Körperspannung (Eutonie) des Christen so weit zu senken, daß dessen Seelen-Festung weich und brüchig wird und von den sie ständig belagernden Mächten des Bösen erobert und geschleift werden kann. Bot für Aristoteles und Cicero das eutrapelistische Scherzen und Lachen die Möglichkeit wohltuender Entspannung, so birgt es für Johannes nur noch die Gefahr bedrohlicher Erschlaffung. Lachen ist also der Feind im eignen Inneren, die fünfte Kolonne des Teufels inmitten unserer eigenen Körperfestung. Damit führt Johannes die stoische Tradition fort, nach all dem zu fragen, was »von innen« droht. Das aber sind für Johannes nicht mehr, wie für die Stoiker, nur die Affekte, sondern letztlich ist es doch nur wieder der Teufel, weil eben auch die Affekte, genau wie das Lachen, für ihn letztlich nichts anderes sind als Machenschaften des Teufels. Methodologisch gesehen hatte diese Tendenz, den Teufel als ätiologischen Joker einzuführen und letztlich für alles verantwortlich zu machen, was den Christen bedroht und um sein Seelenheil bringen kann, den fatalen Effekt, monokausale Erklärungen aller Art und damit wiederum alle möglichen Formen reduktionistischer und ideologischer Argumentation auf dem Weg über die Theologie hoffähig zu machen, und wie beliebt solche reduktionistischen Erklärungen auch in der Geschichte der gelotologischen Theorien sind, haben wir schon gesehen und werden wir immer wieder sehen. Es ist aber nicht nur Sorge, die den Seelsorger Johannes umtreibt, es ist auch die nackte Angst, die ihm hier die Feder führt, die Angst des Bischofs auf dem wichtigsten Bischofsstuhl des Reiches im Zentrum der politischen und geistlichen Macht, diese eben erst gewonnene Macht wieder verlieren zu müssen, und deshalb verband sich für Johannes Chrysostomus mit der Frage »Was droht von innen?« sofort auch die Frage Platons: »Was droht von unten?« Und was da von überall drohte, war natürlich der Teufel. Es drohte aber noch etwas anderes: Es drohte das Lachen; genauer: eine bestimmte Form des Lachens, das Auslachen-von-unten, das wir bei den Kynikern als Form trotziger Selbstbehauptung kennen gelernt haben. Denn für jeden Parvenu der Macht, d. h. für jeden, der frisch an die Macht gekommen ist und dem die Aus354 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Exorzist: Johannes Chrysostomus

übung von Macht noch nicht zur jahrhundertelangen Selbstverständlichkeit geworden ist, erscheint auch jedes Lachen, wie immer es auch gemeint sein mag, als Angriff auf diese neu errungene Macht und damit als aggressives Auslachen-von-unten, als latente Rebellion. Anders formuliert: Für jeden Parvenu der Macht gilt auch die Maxime des matthäischen Christus: Wer nicht mit mir ist, ist nicht etwa neutral, sondern explizit gegen mich und kann auch nur gegen mich sein, denn schon sein Lachen verrät ihn als Feind, und deshalb muß er vernichtet werden. So dachte auch Johannes Chrysostomus, wenn er fordert, die Schauspieler als die Arbeiter in den »Werkstätten der Hölle« (I,114) sollten aus der Stadt vertrieben, am besten aber gleich »gesteinigt« (I,113 f.) werden, genau wie alle Häretiker, die ausgerottet gehören, denn all diese Leute »verdienen tausendfach den Tod« (I,114 f.). Mit dieser Philippika gegen die Schauspieler reiht sich Johannes in eine Tradition der Theater-Feindschaft ein, die zweihundert Jahre vor ihm Tertullian (ca. 150–ca. 230), der ein ähnlich zelotischer Peitschenschwinger und Bußprediger wie Johannes war, weil er den Anbruch des Jüngsten Tages in unmittelbarster Zukunft erwartete, mit seiner Abhandlung De spectaculis 90 begründet hatte. Deshalb gipfelt seine Schmährede über die Schauspiele in dem Argument, gemessen an dem Schauspiel, das dem Christen der rechte Glaube biete, seien die Darbietungen der heidnisch-römischen Zivilisation in ihren Arenen, Zirkussen und Theatern geradezu lachhaft langweilig, denn: »Welcher Genuß kann größer sein (…) als die Verachtung der ganzen heidnischen Welt, (…) als daß du die Götter der Heidenvölker mit Füßen trittst, daß du die Dämonen vertreibst, daß du Heilungen bewirkst, daß du dich um Erleuchtungen bemühst und daß du für Gott lebst? Das sind die Genüsse, das sind die Schauspiele der Christen: Sie sind heilig, ewig und unentgeltlich.« (S. 83)

Und wenn jemand unbedingt auch noch lachen möchte, so verweist ihn Tertullian auf das Jüngste Gericht und die dort stattfindende endgültige Abrechnung mit den Feinden Gottes und der Christenheit, denn dann gibt es in einer Orgie von Rachsucht, Sadismus, Hohn und Schadenfreude endlich mal ein Schauspiel, über das auch der Christ hemmungslos lachen darf: 355 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

»Es kommen gewiß noch andere Schauspiele, jener letzte und endgültige Tag des Gerichts, jener Tag, der für die Heiden so unerwartet kommt, jener Tag, den sie verspottet haben, wenn diese so gealterte Welt und ihre so vielen Generationen von einem einzigen Feuer verzehrt werden. Was für ein umfassendes Schauspiel wird das dann sein! Was soll ich da bestaunen? Worüber soll ich lachen? Worauf soll sich meine Freude, soll sich mein Jubel richten, wenn ich dabei zuschaue, wenn so viele Könige, deren Aufnahme in den Himmel uns verkündet wurde, gemeinsam mit Jupiter selbst laut aufstöhnen?« (S. 85)

Und alle müssen sie dran glauben: die Organisatoren der staatlichen Christenverfolgung, die Philosophen, die Schauspieler, die Gladiatoren, Athleten und Wagenlenker, denn der fromme Tertullian kann einfach nicht genug davon kriegen, seinen Blick »unersättlich auf diejenigen zu richten, die gegen den Herrn gewütet haben« (S. 87): »So etwas anzuschauen, über so etwas zu jubeln: Welcher Praetor oder Consul, Quaestor oder Priester wird mir das mit seiner Freigebigkeit bieten können? Und doch haben wir das alles schon in gewisser Weise bildlich vor Augen, da es sich der Geist dank des Glaubens vorzustellen vermag.« (S. 87)

Die Befürchtung, daß bei dieser Orgie an schadenfrohem Gelächter die Eutonie Schaden nehmen und Leib und Seele des Christen allzusehr erschlaffen könnten, ist offenbar nicht gegeben, weil beim Jüngsten Gericht der Teufel als der altböse Feind eh schon besiegt ist und diese Erschlaffung des Christen nicht mehr zu seinen Gunsten ausnutzen kann. Mit dieser Zuordnung des Lachens, genauer: des weltlichen Lachens zu den Machenschaften des Teufels und der Reduktion des Lachens auf das aggressive Auslachen haben Johannes Chrysostomus und Tertullian die Diskussion der katholischen Kirche über das Lachen in eine Richtung gelenkt, die bis ins hohe Mittelalter galt und die theologische Verurteilung des Lachens als quasi offizielle kirchliche Lehre festschrieb. Daß dies nicht die einzig mögliche Einschätzung des Lachens durch christliche Theologen sein mußte, haben wir schon am Beispiel des Clemens von Alexandria gesehen, und daß sie es auch nicht geblieben ist, wird das Beispiel von Wilhelm von Conches, Alexander von Hales und von Thomas 356 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Mythologe: Aurelius Augustinus

von Aquin zeigen. Wie es aber dazu kam, und wie diese Lehre durch ein theologisches Denkwerk streng systematisch untermauert worden ist, zeigt das Werk des Aurelius Augustinus, dem wir uns nunmehr zuwenden müssen. 2.6.5 Der Mythologe: Aurelius Augustinus Aurelius Augustinus (354–430) war ein Zeitgenosse des Johannes Chrysostomus (345–407), lebte und wirkte also zu einer Zeit, als das Christentum im Jahr 391 den Durchbruch zur Reichsreligion erlebte, und alle anderen Kulte und Religionen verboten, verfolgt und z. T. auch ausgerottet wurden, auch die Manichäer, denen Augustinus selbst rund zehn Jahre lang angehört hatte. Was ihn an dieser gnostischen Religion so fasziniert haben mag, erfahren wir aus seiner Autobiographie Bekenntnisse 91 nicht wirklich genau; es muß aber eine recht tiefe Bindung gewesen sein, weil er sich offenbar nur unter großen Mühen und Schmerzen davon wieder lösen konnte, obwohl er die Manichäer doch recht abfällig als »eine Gesellschaft hochmütig narrender, allzu irdisch gesinnter und geschwätziger Menschen« (S. 75) und ihre Lehre als »endlos eitles Geschwätz« (S. 76) und als eine Anhäufung von »Nichtigkeiten« (S. 77) bezeichnet. All das kann man aber natürlich auch als typische Abwehrgesten eines Renegaten verstehen. 2.6.5.1 Gnostische Erblasten Wahrscheinlich war es die manichäisch-gnostische Frage nach der Herkunft des Bösen (unde malum?), die ihn so fasziniert zu haben scheint und die die Manichäer mit einem strikt dualistischen System beantworteten, demzufolge sich die beiden Mächte des Guten und des Bösen, des Lichten und des Finsteren als annähernd gleich starke Kräfte gegenüberstehen und um den Besitz der Welt als ganzer und den Besitz jeder einzelnen Seele kämpfen. Allerdings hat es in der Gnosis zwei Denkschulen gegeben, die Hans Jonas ihrer Herkunft nach als die »iranische« und die »syrisch357 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

ägyptische« Schule 92 bezeichnet hat. Die iranische Schule postulierte zwei von allem Anfang an bestehende gleichrangige Grundkräfte, das Reich des Lichts und das Reich der Finsternis, die ewig miteinander in Streit liegen, wohingegen die syrisch-ägyptische Schule eine zunächst heile und vollkommene, vom Bösen noch unbeschädigte Existenzform annahm, die im Verlauf eines tragischen Szenarios diesen Status der Vollkommenheit jedoch verliert. An die Stelle eines ewigen Kampfes tritt hier also eine dramatische Unheilsgeschichte als Folge eines dem Guten immanenten Dissoziationsprozesses bzw. als Abfall des Lichtreiches von sich selbst. Das Böse ist hier demnach kein originäres Prinzip, sondern ein sekundär böse gewordenes ursprünglich Gutes, eine privatio boni, eine »verfinsterte Seinsstufe« bzw. ein »vermindertes Göttliches« 93. Es liegt auf der Hand, daß das syrisch-ägyptische Modell weitaus mehr spekulative Möglichkeiten bietet, weil es leichter personalisiert werden kann, und deshalb machte auf der Basis dieses Modells die Gestalt des Satans als das personalisierte böse Prinzip denn auch eine glänzende mythologische und literarische Karriere. Als ehemaliger Manichäer hatte Augustinus eigentlich das iranische Modell kennengelernt; in seinem Denken wirksam geworden ist aber in weit größerem Maß das syrisch-ägyptische, das er darüber hinaus auch noch mit dem Christentum des Paulus zu einer Synthese zu verbinden suchte. Das Ergebnis dieses waghalsigen Experiments ist zum einen sein Mythos des dreifachen Sündenfalls, und zum andern seine Theorie der beiden Reiche, die sich in der Geschichte der Menschheit als Gottesstaat oder Gottesbürgerschaft (civitas dei) in Form der christlichen Kirche und als weltlich säkularer Staat (civitas diaboli bzw. civitas saecularis sive terrena), der vom Teufel als dem Fürsten dieser Welt regiert wird, entgegen stehen und miteinander ringen. Ein weiterer wichtiger Lehrinhalt der Gnosis scheint für Augustinus der manichäische Doketismus gewesen zu sein, die Lehre also, daß Christus nicht wirklich Mensch geworden sei, sondern die menschliche Gestalt des Jesus von Nazareth nur als Maske oder »Trugbild« (S. 125) angenommen habe und in diesem bzw. als dieses Trugbild auch gekreuzigt worden sei, denn mit dem Doketismus war die Frage nach der spezifischen Art von Leiblichkeit 358 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Mythologe: Aurelius Augustinus

dieses Christus gestellt, und die gnostische Antwort lautete: Alles nur Hülle, Maske und Theater, denn der eigentliche Christus gehöre all dem nicht an und könne sich auch jederzeit von dieser körperlichen Umhüllung lösen, die ihre Form ja sowieso nur dem bösartigen Pfuscher von Weltschöpfer verdankt, der diese Welt nach seinem Bild als Pfuschwerk geschaffen hat. Von dieser Vorstellung loszukommen, scheint Augustinus besonders schwer gefallen zu sein, weil er die Vorstellung, man könne die eigene Körperlichkeit abstreifen wie ein lästiges Kleid, offenbar außerordentlich faszinierend empfand, weshalb er in seiner Autobiographie über den doketisch verstandenen Christus auch reumütig schreibt: »So falsch mir sein leiblicher Tod erschien, so wahrhaftig war der Tod meiner Seele, und so wahrhaftig sein leiblicher Tod, so falsch das Leben meiner Seele, die nicht dran glauben wollte.« (S. 125)

Denn, so spricht er seinen Gott in seinem bekennerischen Drang an: »Für überaus schimpflich hielt ich den Glauben, du habest die Gestalt eines menschlichen Leibes und seiest wie wir in die engen Grenzen körperlicher Glieder eingeschlossen. Wollte ich aber über meinen Gott nachdenken, so konnte ich ihn mir bloß als körperliche Masse denken – denn daß es etwas anderes geben könnte, war mir ganz unvorstellbar –, und ebendies war die hauptsächlichste und fast einzige Ursache meines unüberwindlichen Irrtums.« (S. 128 f.)

Man sieht, wie unendlich weit sich das augustinische Selbstverständnis von dem des Clemens entfernt hatte, der zweihundert Jahre vorher seinen Körper noch als »Gefährten und Verbündeten des Geistes« verstanden hatte und geheiligt wissen wollte. Einiges von diesen doketistischen Theoremen hat Augustinus aber dennoch beibehalten und das hatte weitreichende Konsequenzen für seine Vorstellungen von der Natur des Bösen und der Bösartigkeit der Natur, und führte zur Tendenz, ständig zwischen dem guten Kern und der bösen Hülle einer Sache zu unterscheiden und die Hülle zugunsten des Kerns radikal abzuwerten: »Leib und Seele, er draußen, sie drinnen.« (S. 252) »So meinte ich denn auch, das Böse sei solch eine Art Substanz, eine häßliche und ungestalte Masse, sei es von grober Dichtigkeit und dar-

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Die christlichen Kirchenväter

um Erde genannt, sei es dünn und fein, wie die stoffliche Luft. Diese soll, so bilden sie (die Manichäer) sich ein, als böser Geist, sich durch die Luft hinschlängeln. Da mich nun die Frömmigkeit, soweit sie mir noch geblieben war, zu dem Glauben zwang, der gute Gott könne keine böse Natur geschaffen haben, nahm ich zwei einander feindliche Massen an, beide unendlich, doch die böse auf beschränktere, die gute auf umfassendere Weise. Aus diesem giftschwangeren Keim erwuchsen sodann meine übrigen Lästerungen.« (S. 129)

Augustinus suggeriert damit seinem Leser (und wohl auch sich selbst), er habe nach seiner Bekehrung zum Christentum auch diesen gnostisch-manichäischen Dualismus überwunden. Faktisch hat er ihn aber beibehalten, wenn auch entsprechend maskiert und als Dualismus von Gottesstaat und Teufelsstaat, Kirche und Welt, Seele und Leib weitergeführt und zu einem imposanten Denkwerk systematisiert, in dem auch das Lachen als Ort und Funktion des Bösen erscheint. Die Passage im obigen Zitat, wo das Böse als »häßliche und ungestalte Masse« bezeichnet wird, erinnert deutlich an die aristotelische Kennzeichnung des Lächerlichen als etwas Häßlichem und Mißgestaltetem, allerdings mit dem für Augustinus typischen Zusatz, dieses Häßliche und Mißgestaltete sei, anders als bei Aristoteles, auch noch böse und schädlich, und das heißt, ins Christliche übersetzt, es sei sündig. Mit einem Wort: Das Lächerliche ist sündig. Und umgekehrt: Das Sündige ist auch lächerlich. Aus diesem Grund stellt sich Augustinus in seiner Autobiographie denn auch als einen Ausbund an Sündigkeit und Lächerlichkeit dar, damit seine Bekehrung dann um so strahlender wirken konnte. 2.6.5.2 Reduktionistische Vorentscheidungen Wer sich unter gelotologischen Aspekten mit Augustinus beschäftigt, gerät unweigerlich irgendwann an den berühmten, immer wieder zitierten Satz aus dem 31. Sermon: »Et rident homines, et plorant homines: et quod rident, plorandum est.« 94

In deutscher Übersetzung könnte der Satz lauten: 360 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Mythologe: Aurelius Augustinus

Und da lachen die Leute und weinen die Leute; aber daß sie lachen, ist zum Weinen.

Dieser Satz ist zwar rhetorisch geschliffen und verrät, daß Augustinus in der Rhetorik einiges gelernt hat, zeigt aber auch, mit welchem rhetorischen Furor er seinen Leser zu überrumpeln sucht. Denn wenn man den Satz etwas genauer überprüft, offenbart er sich sofort als rhetorische Mogelpackung, wie sie alle Demagogen anzubieten pflegen, da er im ersten Teil eine unbestreitbare triviale Behauptung aufstellt, im zweiten Teil aber daraus eine ideologischmoralische Folgerung zieht, die in keiner Weise zwingend ist, weil sie darauf beruht, daß das Wort ›lachen‹ stillschweigend seine Bedeutung verändert hat. Wenn der ganze Satz überhaupt einen Sinn haben soll, müßte er etwa lauten: Die Leute könnten auf vielfältigste Art und Weise lachen und weinen; aber daß sie gerade auf diese eine bestimmte Art und Weise lachen, ist zum Weinen.

Lautet der Satz so, dann stellt sich nämlich die Frage, an welche bestimmte beklagenswerte Art von Gelächter Augustinus gedacht haben muß, und das heißt: auf welche Art von Gelächter Augustinus die unendliche Vielfalt des Lachens im zweiten Teil seines Satzes reduziert und diese bestimmte Art von Gelächter dann zum Lachen schlechthin verallgemeinert hat. Daß Augustinus so ganz nebenbei auch noch das Weinen allein an Trauer, Schmerz und Enttäuschung bindet und die Vielfalt der anderen Gründe wie z. B. Glück, Ergriffenheit und Rührung, die ebenfalls zum Weinen führen können, ebenfalls ausblendet, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie konsequent reduktionistisch er hier vorgeht. Die Antwort auf die Frage nach der Art von Gelächter, das Augustinus hier im Auge hat, ist für den, der sich in der Ideengeschichte des Lachens etwas auskennt, schnell gefunden: Es ist natürlich das auf die Konkurrenzsorge phthonos gegründete aggressive Triumph-Lachen, genauer: das aggressiv triumphierende Auslachen des andern oder aller anderen von oben voller Häme, Hohn, Spott und Schadenfreude, dem wir schon bei Platon und im Alten Testament begegnet sind und das Aristoteles in seiner Ethik verpönt hatte. Dieses spezielle Lachen, das Augustinus hier im Auge hat, ist ein eigentlich verfügbares ad personam adressiertes Interaktions361 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachen, das aber sofort in ein unverfügbares Bekundungs-Lachen umschlägt, wenn man sich ihm hemmungslos hingibt und im Augenblick des Triumphs über den Andern als »sudden glory« (Hobbes) aus uns herausplatzt und diesen Triumph über den Andern lauthals verkündet. Wenn wir in den zweiten Teil des Satzes dieses spezifische Triumph-Lachen einsetzen, so macht er sofort Sinn und reiht sich problemlos in die von Aristoteles begründete Argumentationstradition ein. Aber so ist der Satz von Augustinus mit Sicherheit nicht gemeint, denn dann wäre er ja geradezu eine Apologie des Lachens aus dem Geiste des Aristoteles und eine Mahnung, die unendliche Vielfalt des Lachens nicht auf eine bestimmte, und noch dazu auf eine moralisch anrüchige Form zu reduzieren. Aber gerade diese Reduktion des Lachens auf das aggressiv triumphierende Auslachen brauchte Augustinus als »Sohn der Tränen« ja, um es dann um so härter verdammen zu können, und deshalb darf man den Satz im Sinne Augustins wohl mit den Worten wiedergeben: Die Menschen lachen und weinen; und daß sie lachen, ist zum Weinen, wie immer ihr Lachen auch beschaffen sein mag, denn es ist ja »letztlich doch nur« aggressives, sündhaft triumphierendes Auslachen-von-oben, und darüber kann man nur Schmerz und Trauer empfinden.

Mit dieser Reduktion des Lachens auf das aggressiv triumphierende Auslachen reiht sich Augustinus, wie gesagt, in eine Argumentationstradition ein, die bei Platon beginnt, besetzt und begründet sie aber aus christlichem Geiste neu, und in diesem christlichen Gewand hat sich diese Theorie des phthonischen Lachens über Augustinus und Hobbes bis herauf zu Baudelaire, Bergson, Freud und Lorenz vererbt und hat auf diese Weise die gelotologische Theorie leider bis heute entscheidend beeinflußt. Weil Augustinus sich so dezidiert in die Tradition Platons stellt, liegt es nahe zu fragen, wie konsequent er dies tut, wie er die Kriterien Platons ins Christliche übersetzt und was er an neuen Kriterien hinzufügt. Wir hatten gesehen, daß Platon das Lachen als Antwort auf das Lächerliche verstand und das Wesen des Lächerlichen sich in dem Satz zusammenfassen läßt: »Verkenn’ dich selbst, und mach’ dich dadurch lächerlich!« Und wir haben außerdem gesehen, daß er 362 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Selbstverkennung als Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung verstand. Diese Selbstüberhebung vollzieht sich im allgemeinen als konfliktgeladene Auseinandersetzung unter Gleichrangigen, die um den Vorrang voreinander ringen, in bestimmten Fällen aber außerdem auch als anmaßendes Verlachen bestimmter Götter, was dann sofort zu fatalen Folgen führt. So rächt sich z. B. in einer Tragödie des Sophokles Athene an Ajas, weil dieser es in seiner hochfahrenden Vermessenheit abgelehnt hatte, vor dem Feldzeug gegen Troja die Götter ausdrücklich um Schlachtenglück zu bitten: »Mit Götterhilfe mag ein Nichtsnutz auch Im Kampf bestehn. Ich aber traue mich, Auch ohne sie den Ruhm an mich zu reißen.«

Deshalb schlägt sie ihn mit Wahnsinn und bringt ihn dazu, sich derart lächerlich zu machen, daß er sich buchstäblich zu Tode schämt und Selbstmord begeht. Und dann schärft sie ihrem Schützling Odysseus eigens noch mal ein: »Erkennst du jetzt der Götter Macht, Odysseus? (…) Erkennst du dies, so rede nie ein Wort Des Übermutes gegen Göttermacht Und blase dich nicht auf, wenn andre du An Reichtum übertriffst und Armes Kraft.« 95

Damit ist gleichsam von höchster Instanz der Stolz als Grundeinstellung des griechischen Menschen ausdrücklich bestätigt, allerdings mit der Einschränkung, daß die stolze Selbstbehauptung nicht in vermessene »aufgeblasene« Verachtung der Götter umschlagen darf. Diese säuberliche Unterscheidung zwischen gottgewolltem Stolz, der sich in der aufrechten Haltung des Menschen zeigt, und wahnhafter Selbstüberhebung, die sich gegen die Götter aufbäumt, fanden wir auch bei Clemens, der sich damit ganz bewußt in die heidnische Tradition stellte, wie er sie bei Homer, bei den Tragikern und bei Platon und Ovid vorformuliert fand und womit er das heidnische Würde-Ideal ins Christliche hinüberretten konnte. Für Clemens also widersprechen sich seine beiden anthropologischen Kernsätze nicht, sondern ergänzen einander wie zwei Säulen, die das Gewölbe seiner Anthropologie tragen: 363 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Von Natur aus ist der Mensch ein aufrechtes und stolzes Wesen.« (II,169) »Eigenliebe ist für jedermann jederzeit Ursache aller Verfehlungen.« (IV,275)

Für Augustinus hingegen wird der erste Satz durch den zweiten aufgehoben, weil Augustinus Stolz und aufrechte Haltung schon als Signale der Eigenliebe (amor sui) ansieht und Stolz grundsätzlich mit Hochmut oder Hoffart (superbia) gleichsetzt. Ob diese Abwertung des antik-heidnischen Würde-Ideals durch Augustinus gnostisches Erbe ist, ob es sich seiner eigenen psychischen Disposition als »Sohn der Tränen« verdankt oder ob es schon zur herrschaftssichernden Ideologie der seit dem Jahr 391 siegreichen Kirche gehört, müssen wir hier nicht entscheiden. Ich vermute aber, daß alle drei Aspekte eine Rolle spielen. Sehr wohl aber müssen wir deutlich machen, was durch diese Diffamierung des Stolzes und der aufrechten Haltung als Hoffart und widergöttliche Vermessenheit an Verhaltens-Unschuld verloren gegangen ist, und welch fatale Folgen es für die Bewertung des Lachens durch das frühe Christentum gezeitigt hat, daß nicht Clemens und Laktanz, sondern Augustinus, Ephräm und Chrysostomus die Leitfiguren wurden, an denen man sich die nächsten tausend christlichen Jahre im Nachdenken über das Lachen orientierte, denn in der christlichen Verpönung des Lachens manifestiert sich ein unheilvoller Zug von Selbstaggression und Selbsthaß, den schon Nietzsche mit scharfem Blick erkannt hat und in seinen Überlegungen Zur Genealogie der Moral dadurch erklärt, daß im Christentum »die Entladung des Menschen nach außen gehemmt worden ist«, sodaß »all jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten.« (II,825) Da aber Lachen und Weinen besonders erlösende Entladungen sind, muß man Augustins These dahingehend korrigieren, daß sie nunmehr lautet: Die Menschen lachen und die Menschen weinen, aber wenn sie weder lachen noch weinen dürfen, ist dies zum Weinen.

Als Kriterium für diese wichtige Unterscheidung zwischen Stolz und Hoffart soll uns die Frage nach der Körperspannung (Eutonie) dienen, wie wir dies bei Clemens gelernt haben. Denn wer vom 364 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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heiligen Geist des Stolzes und der Selbstgewißheit erfüllt ist, trägt den Kopf hoch und frei wie der Apoll von Belvedere und wird durch eine stolzgeschwellte, aber voll kontrollierte Körperspannung aufrechtgehalten, die man im Jargon der Stimmbildner als »Stütze« bezeichnet, und genau das ist eben die Eutonie der Stoiker. Wer hingegen die hochfahrende Haltung der Hoffart einnimmt, wirft außerdem auch noch den Kopf zurück, bildet durch diese dann entstehende konvexe Haltung ein leichtes Hohlkreuz, sodaß eine wesentlich erhöhte Körperspannung entsteht und die Brust sich schwellend vorwölbt, was Athene bei Sophokles als »sich aufblasen« bezeichnet, und was zwangsläufig mit einem gewissen Maß an Erstarrung, Verhärtung und Unbeweglichkeit verbunden ist. Weil aber Augustinus diese wichtige Unterscheidung zwischen Stolz und Hoffart, aufrechter Haltung und überdehnter konvexer Haltung, erhobenem Haupt und zurückgerecktem Kopf, Stütze und Aufgeblasenheit, kontrolliertem In-sich-ruhen und überdehnter Verkrampfung, mit einem Wort: da er die die Unterscheidung zwischen Würde und Anmaßung nicht sieht oder auch nicht sehen will, sondern den Stolz, der für Clemens noch zum Wesen der menschlichen Natur gehörte, geradezu als Korruption der menschlichen Natur und als Ursünde schlechthin (peccatum originale) versteht, reduziert sich auch die unendliche Vielfalt des Lachens für Augustinus auf das anmaßende aggressiv triumphierende Auslachen und verfällt dem Verdikt. Diese reduktionistische Verarmung des anthropologischen Blicks bei Augustinus und in seinem Gefolge ist mentalitätsgeschichtlich gesehen eine wahre Katastrophe, weil dadurch statt des Stolzes die Hoffart und statt der Würde die Anmaßung und damit die Sünde 96 zum proprium hominis erklärt wird. Korrigiert wurde dieser fundamentale Irrweg philosophisch-anthropologisch erst durch Herder, politisch erst durch die Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789, die der damalige Papst unter Berufung auf Augustinus jedoch umgehend als »gottlos und widernatürlich« verwarf. Zu dieser generellen Reduktion des Lachens tritt bei Augustinus noch ein weiteres Vorurteil, das jede seiner Äußerungen über das Lachen unterfüttert und entsprechend einfärbt: das Postulat der 365 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Janusköpfigkeit des phthonischen Lachens. Damit meine ich die Unterstellung, jedes phthonische Auslachen eines Konkurrenten von oben sei immer zugleich auch ein kynisches Auslachen Gottes von unten. Die kynisch-prometheische Rebellion gegen die Götter, die in der heidnischen Antike und auch noch bei Clemens nur von Fall zu Fall zur vermessenen Selbstüberhebung des Menschen hinzutrat, wird hier bei Augustinus konstitutiv an die Selbstüberhebung gekoppelt, sodaß nunmehr die einzelnen Tatbestände Stolz, Hybris und Verhöhnung Gottes zu einem einzigen Tatbestand verschmelzen und jedes Lachen sich als adressiertes Auslachen janusköpfig immer zugleich an zwei Adressaten wendet: an den ausgelachten Konkurrenten nach unten und an den verlachten Gott nach oben. Erst vor dem Hintergrund dieser reduktionistischen Vorentscheidungen und Grundannahmen wird deutlich, daß für Augustinus das Lachen theologisch überhaupt relevant wird und im Rahmen seiner Sündenlehre abgehandelt werden muß, weil Lachen als Auslachen Gottes und der Menschen eine schwere Sünde ist, eine Sünde aber umgekehrt auch wieder etwas Lächerliches ist. Und erst vor diesem Hintergrund bekommt auch der eingangs zitierte Satz aus dem 31. Sermon seinen vollen Sinn, weil nun erst richtig verständlich wird, wieso es für Augustinus zum Weinen ist, daß die Leute auf diese bestimmte Art und Weise lachen, auf die er jede Art von Gelächter reduziert. 2.6.5.3 Die Wonnen der Eitelkeit Die Autobiographie Augustins ist denn auch so geschrieben, daß er sich bis zu seiner Bekehrung als einen Ausbund an Sündhaftigkeit und damit zugleich als einen Ausbund an verachtungswürdiger Lächerlichkeit inszeniert, und deshalb nimmt das Wortfeld »sich blähen«/»sich aufblasen«/»gebläht vor Stolz«/»dreist erhobenen Hauptes«/»Eitelkeit«/»Hochmut«/»Hoffart« etc etc einen so breiten Raum in diesem Zeugnis von Sündenstolz ein und ist damit selbst wiederum ein eindrucksvolles Zeugnis von Eitelkeit. Die für unsere Fragestellung zentralen Passagen sind deshalb die Kapitel im dritten Buch, in denen Augustinus die Wonnen der 366 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Eitelkeit vor seiner Bekehrung beschreibt und die Kapitel im zehnten Buch, wo er von den Versuchungen spricht, die ihn dazu drängten, nach seiner Bekehrung wieder in die alten Wonnen der Eitelkeit zurückzufallen, und hier nennt er »Fleischeslust« (S. 277), »Überschreitung des Maßes« (S. 279), »Lust an Künsten aller Art« (S. 285 ff.), »Eitle Wißbegier, Vorwitz, Neugier« (S. 287), vor allem aber »Hoffart, Lust am Beifall« (S. 290 ff.), denn genau hier sitzt die Quelle des Lachens, wie Augustinus es versteht, die Sucht nach superbia und amor sui, also die Sucht nach hoffärtigem Selbstgenuß im Gefühl triumphaler Überlegenheit über andere. Damit aber verstößt der Lachende gegen ein ethisch-moralisches Prinzip, das sich durch alle Schriften Augustins zieht und insbesondere das zehnte Buch der Bekenntnisse prägt, die Unterscheidung zwischen uti und frui, wobei die Verwendung (uti) einer Sache notgedrungen erlaubt ist, der Genuß dabei (frui) jedoch verboten. Man darf also z. B. essen, es darf aber nicht schmecken. Da aber mit dem Lachen fast immer ein Genuß verbunden ist, verfällt es dem Verdikt des strengen Bischofs. Er listet in diesem Kapitel des weiteren das ganze Arsenal an Lastern auf, von denen Gott ihn durch seine Bekehrung zum Christentum (angeblich!) befreit und dadurch »bereits umgewandelt« (S. 290) hat, und nennt hier die »Sucht, mich selbst zu rechtfertigen« (S. 290), (was sich in einer Autobiographie von einigen hundert Seiten reichlich seltsam liest), das Streben nach dem aufrechten Gang, das nunmehr überwunden sei, weil Gott seinen Stolz »zu Boden geschlagen« (S. 290) und er seinen Nacken »unter Gottes Joch gebeugt« (S. 290) habe, und schließlich noch den »hoffärtigen Wunsch, von Menschen gefürchtet und geliebt zu werden, und zwar aus keinem andern Grund als dem, eine Freude darüber zu empfinden, die doch gar keine Freude ist.« (S. 291). Vom Lachen als Ausdruck ebendieser Freude spricht er nicht ausdrücklich, aber das dürfen wir wohl ergänzen und als das Lachen verstehen, das Thomas Hobbes später ganz im Sinne seines Mentors Augustinus als »sudden glory« bezeichnen wird, als triumphales Auslachen aller Unterlegenen von oben herab. Sündhaft ist dieses Gelächter für Augustinus (und auch für Hobbes) deshalb, weil es sich anmaßt, Herr über andere zu sein, 367 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und damit in Konkurrenz zu Gott tritt, um sein zu wollen wie Gott selbst. Denn, so Augustinus seinen Gott: »Du allein herrschest ohne Übermut, weil du allein der wahre Herr bist, der Herr, der keinen Herrn über sich hat.« (S. 291)

Und deshalb ist für Augustinus jeder menschliche Versuch, Herr über andere sein zu wollen und dies im triumphierenden Auslachen von oben auch noch bekunden und genießen zu wollen, genau die Hoffart und die Anmaßung, zu der Satan Adam verführt hat. Das aber heißt: sein zu wollen wie Gott, weil wir dann »geliebt und gefürchtet werden wollen nicht um deiner willen, sondern an deiner Statt« (S. 291), denn das wäre ja wieder Genuß (fruitio). Damit ist für Augustinus deutlich, wo die Grenzen der Gottebenbildlichkeit des Menschen und auch die des lachenden Menschen zu ziehen sind: Der alttestamentarische Gott darf andere Götter als Götzen verspotten, von ganz oben herab auslachen und sogar vernichten und ihre Priester und Anhänger dazu; der Mensch jedoch darf das nicht, weil er sich damit ja anmaßen würde, es Gott gleich zu tun. Und vor allem: Der Mensch darf schon deshalb nicht lachen, weil es für Augustinus nur diese eine bestimmte Art von Lachen gibt: das gottgleiche, aber widergöttliche triumphale Auslachen-von-oben, denn dieses eine bestimmte Lachen, das die Leute nur allzugern lachen, ist als Monopol allein seinem Gott vorbehalten. 2.6.5.4 Das Lachen Isaaks Nun gibt es aber in den Vätergeschichten des Alten Testamentes die Gestalt des Isaak, der allein schon durch seinen sprechenden Namen das Lachen rechtfertigt, oder genauer: mindestens eine bestimmte Form des Lachens rechtfertigt, denn ›Isaak / Jis’chak‹ heißt eben ›er lacht‹. Also mußte Augustinus einen Weg finden, mindestens eine Form des Lachens aus dieser generellen Verdammung auszuklammern bzw. das Lachen unter ganz bestimmten, genau definierten Umständen doch wieder zu rechtfertigen, und dies geschieht in dem Kapitel »Die Bedeutung des Namens Isaak« 97 im 16. Buch des Gottesstaates. 368 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Zunächst zur Vorgeschichte dieser bedeutungsschwangeren Namensgebung: Abraham ist mit zwei Frauen, Sara und Hagar, verheiratet, hat aber nur von seiner Nebenfrau Hagar, einer Ägypterin, einen Sohn namens Ismael, und da er schon uralt ist, muß er sich damit abfinden, daß er keine weiteren Kinder mehr zu erwarten haben dürfte. Da aber wird ihm von seinem Gott ein Sohn verheißen, aus dem ein großes Volk hervorgehen soll, und auf diese Verkündigung reagiert Abraham völlig überwältigt mit einer Geste rückhaltloser Selbstpreisgabe: Er bricht förmlich zusammen vor Glück: »Da fiel Abraham auf sein Angesicht und lachte (sachak/risit) und sprach in seinem Herzen: Soll mir hundert Jahre alt ein Kind geboren werden und Sara neunzig Jahre alt gebären? (…) Da sprach Gott: Ja, Sara, dein Weib, soll dir einen Sohn gebären, den sollst du Isaak heißen.« (1. Mos.17,17 f.)

Bei der Wiederholung dieser Verheißung, bei der Abrahams Gott in Gestalt dreier Männer auftritt, hört Sara mit und reagiert ebenfalls mit Lachen, aber in einer viel reservierteren Form: In der LutherÜbersetzung lacht sie »bei sich selbst« (risit occulte) (1. Mos.18,12), bei Buber lacht sie »in sich hinein« 98, streitet jedoch ab, überhaupt gelacht zu haben, als sie daraufhin angesprochen wird, »denn sie fürchtete sich« (1. Mos.18,15). Wir haben also zunächst zwei verschiedene Arten von Gelächter als Reaktion auf dieselbe Verkündigung vor uns: Bei Abraham ein überwältigtes Zusammenbrechen als Ausdruck totaler Selbstpreisgabe; bei Sara ein reserviertes, ungläubig zweifelndes Kichern. Und vor allem: Die Wahl des sprechenden Namens ›Isaak‹/›Jis’chak‹, mit dem Abrahams Gott die Reaktion Abrahams aufgreift und gleichsam zum Lebensprogramm dieses Kindes macht, stammt von diesem Gott selbst. Damit ist für Augustinus das Lachen zumindest in bestimmten Formen gleichsam »von höchster Stelle« gerechtfertigt, und an diesem Punkt der Geschichte setzt Augustinus denn auch mit seinem Kommentar an und argumentiert wie folgt: »Darauf ward Abraham nach der Verheißung Gottes von Sara ein Sohn geboren, den er Isaak nannte, was ›Lachen‹ bedeutet. Denn der Vater hatte, als er ihm verheißen ward, in frohem Staunen gelacht. Gelacht hatte auch die Mutter, als jene drei Männer die Verheißung wiederhol-

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ten, da sie in ihrer Freude noch zweifelte, und obschon der Engel sie tadelte, weil dies Lachen zwar ein Lachen der Freude war, aber auch mangelnden Glauben verriet, ward sie doch von demselben Engel im Glauben gestärkt. Daher also erhielt der Knabe seinen Namen. Denn daß es sich hier nicht um das Lachen über einen üblen Scherz, sondern um einen Ausdruck der Freude handelte, bewies Sara nach der Geburt Isaaks und Nennung seines Namens, da sie sprach: ›Ein Lachen hat mir der Herr bereitet; wer es hört, wird sich mit mir freuen.‹ Einige Zeit später ward die Magd (Hagar) mit ihrem Sohn (Ismael) aus dem Hause geworfen und damit nach dem Wort des Apostels 99 ein Gleichnis der beiden Testamente, des Alten und des Neuen, dargeboten, indem Sara die Gestalt des oberen Jerusalem, nämlich des Gottesstaates, verkörpert.« (II,333)

Wohingegen, so dürfen wir ergänzen, die nach der Geburt Isaaks von Abraham verstoßene Magd Hagar und ihr Sohn Ismael das »untere Jerusalem«, also den weltlichen Staat in der Tradition Satans und des Städtegründers Kain verkörpern und damit zugleich auch eine andere Form des Lachens, weil die Genesis das Thema ›Lachen‹ hier noch weiter verfolgt, denn in der Luther-Bibel heißt es einige Verse später: »Und Sara sah den Sohn Hagars, der Ägyptischen, den sie Abraham geboren hatte, daß er ein Spötter war (vidisset filium ludentem), Und sprach zu Abraham: Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn, denn dieser Magd Sohn soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak.« (1. Mos.21,9 f.)

Bei Martin Buber lautet die Übersetzung etwas deutlicher: »Einst sah Sara den Sohn Hagars, der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, spottlachen.« (S. 55)

Genauer wird die Situation, in der Ismael lacht, leider nicht dargestellt. Man darf aber vermuten, daß Ismael als der Erstgeborene nicht sehr begeistert über den neuen Konkurrenten um die Gunst des Vaters gewesen sein dürfte und diese Konkurrenzsorge (phthonos) in einem aggressiv verächtlichen Lachen über den Nebenbuhler Isaak bekundet hat, denn Ismaels Lachen ist das la’ag-Lachen, weshalb Buber auch eigens ein neues deutsches Wort dafür erfunden hat, das die enge Verwandtschaft von spotten und spucken/spotzen verdeutlichen soll. Wenn die Vulgata hier das Verb ludere ver370 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wendet, so wohl deshalb, weil ludere nicht nur »spielen/scherzen/ tändeln/foppen/necken« abdeckt, sondern auch das rüde bis sadistische Spiel, das jemand zu seinem eigenen Spaß mit einem Wehrlosen treibt. Damit müßte klar sein, woran sich Augustinus bei seiner Beurteilung des Lachens orientiert: Es ist die uns schon bekannte alttestamentliche Unterscheidung zwischen dem mehr oder weniger wohlwollenden sachak-Lachen, das Isaak und dem Gottesstaat zugeordnet wird, und das die Vulgata mit dem Wortfeld ridere wiedergibt, und dem eindeutig böswilligen, aggressiv spöttischen la’ag-Lachen, das die Vulgata mit subsannare übersetzt, und durch das sich Ismael als Angehöriger des sündigen und gottwidrigen weltlichen Staates in der Tradition Satans und Kains charakterisiert und deshalb aus der heiligen Familie Abrahams als der Keimzelle des jüdischen und damit auch des christlichen Gottesvolkes verstoßen wird. Von hier aus gesehen ist es höchst seltsam, daß Augustinus, ausgehend vom Lachen Ismaels, nicht zu einem Gedanken vorstößt, der eigentlich nahegelegen hätte. Da er in den Büchern 8–10 seines Gottesstaates ausführlich über Dämonen spricht, und zwar genauso, wie dies in der Religionsgeschichte üblich ist, wo die Götter einer historisch-politisch überwundenen Religion generell zu Dämonen degradiert werden, die die Gläubigen der siegreichen Religion zwar durch Besessenheiten aller Art quälen, durch exorzistische Praktiken aber jederzeit wieder ausgetrieben werden können und somit die Unterlegenheit der überwundenen Religion immer wieder aufs neue bestätigen. Auch in der Religionsgeschichte schreibt also der Sieger die Geschichte, und hier schreibt er sie im exorzistischen Ritual, wie ein Blick ins Rituale Romanum lehrt. Deshalb ist es einigermaßen verwunderlich, warum Augustinus, dessen Schriften ja unmittelbar nach dem Sieg des Christentums über alle anderen antiken Religionen im Jahr 391 entstanden und ganz aus diesem epochalen Triumph heraus geschrieben sind, nur den biblischen Satan, nicht aber auch den alten spartanischen Gott Gelos zu einem Dämonen degradiert und das ekstatische exzessive Lachen als eine Form von Besessenheit durch eben diesen Dämon Gelos versteht, der durch einen Exorzismus wieder ausgetrieben werden müßte, da man ja auch die Besessenheit durch Satan exor371 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zistisch behandelt. Auch bei den andern Kirchenvätern findet sich, soweit ich sehe, dieser Gedanke nicht, und er findet sich auch in der gesamten von mir durchgesehenen exorzistischen Literatur nicht. Erklärbar ist für mich dies nur dadurch, daß seit Chrysostomus und Augustinus die Ätiologie des Lachens an den Mythos vom Sündenfall gebunden und dadurch das verwerfliche Lachen ganz dogmatisch auf das aggressiv-höhnende Lachen Ismaels reduziert worden ist. 2.6.5.5 »Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!« Lacht der Mensch also, so wiederholt er laut Augustinus in jedem Lachen den Sündenfall als »Aufruhr des Fleisches«. Diese auf den ersten Blick etwas seltsame These entwickelt Augustinus in seinem Hauptwerk Vom Gottesstaat, das man als Übertragung des gnostischen Dualismus ins Christliche lesen kann und in dem er außerdem eine tiefsinnige heilsgeschichtlich orientierte Geschichtsphilosophie entwirft. Der erste Teil des Werks endet mit Überlegungen zum Wesen der Dämonen, die z. T. mit heidnischen Göttern, z. T. mit den Affekten auf eine Stufe gestellt oder sogar mit ihnen gleichgestellt 100 werden. Im 20. Kapitel des 9. Buches taucht dann das Thema auf, mit dem Augustinus seine an Platon angelehnte Ätiologie des Lachens vorbereitet. Zu dem Zweck bietet er zunächst eine Wesensbestimmung der Dämonen, indem er sie an dem Wort des Paulus mißt – »Das Wissen bläst auf, aber die Liebe bessert.« (1. Kor.8,1) – und dann fortfährt: »Das kann, recht verstanden, nichts anderes bedeuten, als daß nur dann das Wissen etwas nützt, wenn ihm Liebe einwohnt. Sonst wird es aufgeblasen, das heißt, es überhebt sich im Hochmut windigster Eitelkeit. Die Dämonen also besitzen ein Wissen ohne Liebe und sind darum so aufgeblasen, das ist so hochmütig, (…) daß man die göttlichen Ehren und den Dienst der Religion, den man, wie sie wohl wissen, dem wahren Gotte schuldet, ihnen erweist. Mit welcher Macht diesem Hochmut der Dämonen, dem auch das Menschengeschlecht verdientermaßen verfiel, die in Christus erschienene göttliche Demut

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gegenübertritt, davon wissen die von unlauterer Selbstüberhebung aufgeblasenen Menschenseelen nichts. Denn sie ähneln den Dämonen an Hochmut, aber nicht an Wissen.« (I,456 f.)

Dieses Argument kennen wir schon aus den Bekenntnissen, wo Augustinus von der eitlen und lächerlichen Gier nach Beifall spricht, und das hier verwendete Wortfeld »Aufgeblasenheit« kennen wir außerdem auch noch von Sophokles. Insofern bewegt sich Augustinus hier also noch auf bekannten Pfaden. Im zweiten Teil des Werks wird dieses altbekannte Motiv der Selbstüberhebung aber gleich zum zentralen Element eines heilsgeschichtlichen, oder vielmehr eines unheilsgeschichtlichen Szenarios erhoben, in dessen Dramaturgie einige der Engel Gottes durch eitel aufgeblasene Selbstüberhebung sich in Dämonen ohne Gottesliebe verwandeln, von Gott abfallen und dadurch zum finsteren Prinzip mutieren. Mit diesem unheilsgeschichtlichen Mythos bewegt sich Augustinus wieder deutlich im syrisch-ägyptischen Modell der Gnosis, aber Reste des iranischen Modells bleiben trotzdem noch erhalten im Motiv des von Anfang an bösen Willens, durch den sogar die ursprünglich gute Natur des Teufels verderbt werden konnte, und der »von Gott gut geschaffene, aber durch eigenen Willen böse gewordene Teufel seinen Platz unten angewiesen bekam und den Engeln zum Gespött dienen mußte, da seine Versuchungen den Heiligen nützen, denen er doch zu schaden trachtet.« (II,29)

Wie man sieht, ist das schadenfrohe Auslachen-von-oben den Engeln Gottes nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich anempfohlen und hat sogar noch eine segensreiche Funktion101 für die Christen, weil es sie im Glauben stärkt. Das kann man noch bei Pascal im dreizehnten Provinzial-Brief nachlesen. Dieser zentrale augustinische Gedanke, daß jede Selbstüberhebung sich in sich selbst in einen Sturz verwandelt, daß der Vorgang der Selbstüberhebung also durch eine ihm immanente antagonistische Bewegung nach oben und zugleich nach unten geprägt ist, weil das Auslachen des Konkurrenten von oben immer zugleich auch ein Auslachen Gottes von unten ist, steht natürlich auch wieder in der Tradition Platons, der ja energisch auf den jedem Lachen immanenten ambivalenten Charakter verwiesen hat. 373 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Für Augustinus hatte dieser Gedanke aber noch einen andern, gleichsam religionspolitischen Aspekt, weil er sich damit von den Manichäern glaubte abheben zu können, denen er mit diesem luziferischen Mythos ganz nahe gekommen war. Deshalb betont er eigens seine Distanz zu dem iranisch-manichäischen Mythos und den Leuten, die »der giftschwangeren Lehre anhangen, daß der Teufel sein eigenes böses Wesen habe, das aus einem üblen, gottfeindlichen Prinzip herzuleiten sei« (II,25). In den Büchern 12–14 wird dieser luziferische »Engelsfall« als das zentrale Ereignis der weltgeschichtlichen Unheilsgeschichte dann ausführlich dargestellt, und zwar als ein Ereignis, das sich später im menschlichen Sündenfall Adams auf der nächst tieferen Ebene wiederholen sollte, der wiederum in jeder aktuellen Sünde im menschlichen Leben wiederholt wird. Wir haben damit den Fall einer gestaffelten Wiederholung eines paradigmatischen Urereignisses vor uns. Die Art und Weise, in der Augustinus hier argumentiert, erfolgt ganz in den Denkbahnen des Mythos, demzufolge jedes aktuelle Geschehen die Wiederholung eines uranfänglichen Geschehens ist, sei’s nun bewußt oder unbewußt, sodaß ein paradigmatisches Geschehen und seine Wiederholungen immer auf der Ebene »mythischer Gleichzeitigkeit« in »immerwährender Gegenwart« 102 stattfinden. Augustinus wehrt sich zwar etwas gegen die Lehre von der steten Wiederkehr (vgl. II,79) mit dem Argument, die Heilstat Christi habe in der Weltgeschichte eine grundlegend neue Situation geschaffen, sodaß alles Geschehen davor und danach grundsätzlich unvergleichbar sei, faktisch aber überbietet er sogar noch das mythische Denken, indem er nicht bloß zwei Geschehnisse zu mythischer Gleichzeitigkeit synchronisiert, den Engelssturz Luzifers und Adams Sündenfall, sondern gleich drei, weil sich beide auch noch in jeder menschlichen Tatsünde wiederholen und damit auch in jedem aggressiven Auslachen, denn jeder dieser drei mythisch synchronisierten Sündenfälle ist für Augustinus eine Rebellion gegen Gott, die immer auch das Verlachen Gottes mit einschließt. Wie wir gesehen haben, führte Augustinus seine eigene Sündhaftigkeit in seiner Autobiographie auf »Hoffart« und »Lust am Beifall« (I,290 ff.) zurück, also auf die sündige Sucht, mit Gott als 374 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dem, der keinen Herrn über sich hat, in Konkurrenz zu treten. Genau dieselben Gründe und Motive sieht er beim Sturz der bösen Engel am Werk, was ja auch ganz in der Konsequenz des mythischen Denkens liegt. Damit ist Hoffart als das Prinzip bestimmt, das letztlich allem Bösen und auch dem bösen Willen zugrunde liegt, damit aber auch allem nicht-göttlichen Handeln schlechthin, und somit wäre für Augustinus die bohrende Frage nach der Herkunft des Bösen auch beantwortet: Das schlechthin Böse ist die Hoffart (superbia), die Sucht, sein zu wollen wie Gott: »Demnach ist dies die wahre Ursache der Seligkeit der guten Engel, daß sie dem anhangen, der zuhöchst ist. Fragt man aber nach der Ursache der Unseligkeit der bösen Engel, zeigt sich klärlich nur eine, die Abkehr von dem, der zuhöchst ist, und die Hinkehr derer zu sich selber, die nicht zuhöchst sind. Wie soll man diesen Fehler anders bezeichnen als Hochmut (superbia)? ›Hochmut ist ja der Anfang aller Sünden.‹ 103 Sie wollten also ihre Kraft nicht in ihm bewahren, und obwohl sie mehr gewesen wären, hätten sie dem, der zuhöchst ist, angehangen, zogen sie ihm das geringere Sein, nämlich sich selber vor. Das ist das erste Versagen, der erste Mangel, der erste Fehler jener Natur, die so geschaffen ward, daß sie zwar nicht das höchste Sein besaß, aber doch, um Seligkeit zu erlangen, den, welcher zuhöchst ist, hätte genießen können, während sie, von ihm abgewandt, zwar nicht ihr Sein verlor, aber es veränderte und darum elend ward.« (II,66)

In dieser Passage wird ein weiteres Denkmodell sichtbar, mit dem Augustinus das gleichsam »triebtheoretische« der Affektenlehre und das mythische ergänzt. Es ist das Denkmodell des ontologischen Komparativs, das bei allen Denkern, die eine Vorliebe für hierarchische Strukturen hegen, besonders beliebt ist, und demzufolge der kontradiktorische Gegensatz Sein/Nichtsein naßforsch zu einem polarkonträren Gegensatz erklärt wird und dann plötzlich beliebig viele »Seins-Grade« unterschiedlicher Wertigkeit denkbar macht. Diese Seins-Grade oder Seins-Stufen reichen von Gott als der höchsten Form von Sein bis zum Nichts als der tiefsten, und alles andere liegt irgendwo dazwischen. Hand in Hand mit diesem Denken in Seins-Graden verkümmern die Richtungspaare im gelebten Richtungsraum, und von vier Richtungspaaren subjektiver relationaler Räumlichkeit 375 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bleibt nur noch das Richtungspaar oben/unten relevant, weil nur noch anhand dieser Richtungen der ontologische Mehr- oder Minderwert irgendeines Seienden bestimmt werden kann: Entweder steht etwas über mir oder unter mir, und entweder bewegt sich etwas nach oben oder nach unten; alles andere zählt nicht mehr. Wer so denkt, und Augustinus dachte so, denkt nur noch in den Kriterien von Aufstieg und Absturz, von Steigen und Fallen, von Seinsmehrung und Seinsminderung, und deshalb verdankt sich die radikale Reduktion des so unendlich vielgestaltigen Lachens auf das phthonische Auslachen-von-oben und das kynische Auslachenvon-unten bei Augustinus ganz entschieden auch diesem Denken nach Maßgabe des ontologischen Komparativs. Wir hatten davon gesprochen, daß sich für Augustinus die Selbstüberhebung und der Sturz des bösen Engels Luzifer im Sündenfall Adams und darüber hinaus auch in jeder einzelnen menschlichen Tatsünde wiederholen. Der Unterschied besteht nur darin, daß der Versuch, sein zu wollen wie Gott, im ersten Fall durch eine Mischung von Neid bzw. Mißgunst (phthonos) und Hybris geschieht, in den beiden andern Fällen aber dadurch befördert wird, daß die bereits Gefallenen die noch nicht Gefallenen zu einem weiteren Fall verführen und zu diesem Zweck den allfällig verfügbaren Affekt der Begehrlichkeit instrumentalisieren. Nach diesem Schema beschreibt Augustinus in seinen Bekenntnissen auch seine eigenen Leistungen als Sünder in strikter Analogie zu den jeweiligen mythischen Vorlagen. Das beginnt mit dem Diebstahl von Birnen im zweiten Buch (S. 61), in dem sich die Apfel-Episode der Paradiesgeschichte wiederholt, und steigert sich bis zum Kapitel »Hoffart. Lust an Beifall« im zehnten Buch, wo Augustinus sich zum Wiedergänger des bösen Engels Luzifer hochstilisiert. Im Gottesstaat wird dies wiederholt und vertieft, indem der paradigmatische Sündenfall als phthonos-Szenario im Sinne Platons dargestellt wird: »Nachdem jedoch dieser hochmütige und auch neidische Engel durch eben diesen Hochmut sich von Gott weg und zu sich selbst hingewandt hatte und in einer Art Tyrannenstolz sich lieber an Untertanen freuen als selbst untertan sein wollte, somit aus dem geistlichen Para-

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diese herabgefallen war, (…) trachtete er in verführerischer Arglist danach, sich (in Gestalt einer Schlange) in des Menschen Sinn einzuschleichen, dem er es mißgönnte, daß er noch stand, während er selbst schon gefallen war.« (II,181)

Und da, wie wir schon von Platon, Ovid und Clemens wissen, Haltung und Gangart die ontologische Ranghöhe eines Lebewesens verraten, ist es für Augustinus auch in sich völlig stimmig, daß sich die Gefallenheit des bösen Engels in der erdnahen Gestalt einer Schlange bekundet, da die Schlange ein »glattes, in krummen Windungen sich fortbewegendes, zu seinem Vorhaben passendes Geschöpf« (II,181) ist. So wie sich im Sündenfall Adams also Aufstand und Absturz des bösen Engels Luzifer wiederholt, so wiederholt er sich laut Augustinus auch »später« immer wieder in jeder einzelnen Tatsünde als »Aufruhr des Fleisches« (II,155–211) im einzelnen Menschen, als Aufstand der Geschlechtlichkeit gegen den Geist und als Aufstand des weltlichen Staates gegen den Gottesstaat in der politischen Geschichte. Diesem »Aufruhr des Fleisches« widmet Augustinus ein ganzes Buch seines Hauptwerks und schreibt dazu im zentralen Kapitel dieses Buches über die Folgen dieses verdammten Ungehorsams, der zu all diesen Abstürzen in die ontologisch niedrigeren Stufen der Hierarchie des Seienden geführt hat: »So ward Gottes Befehl verachtet, des Gottes, der den Menschen geschaffen und nach seinem Ebenbild gestaltet hatte, der ihn den anderen Lebewesen übergeordnet, ins Paradies versetzt und ihm eine Fülle aller möglichen Dinge sowie des Wohlseins verliehen hatte, der ihn nicht mit zahlreichen, großen und schweren Geboten belastet, sondern ihn nur durch ein ganz kurzes und leichtes Gebot zum heilsamen Gehorsam angeleitet hatte, um das Geschöpf, dem freiwilliges Dienen frommte, daran zu erinnern, daß er der Herr sei. Darauf folgte die gerechte Verdammnis. Sie bewirkte, daß der Mensch, der durch Erfüllung des Gebotes auch seinem Fleische nach geistlich geworden wäre, nun statt dessen seinem Geiste nach fleischlich wurde, daß er, der in eigenem Hochmut an sich selbst Gefallen gehabt hatte, durch Gottes Gerechtigkeit sich selber überlassen wurde.

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Dies nun freilich nicht so, daß er sich selber in voller Gewalt gehabt hätte, sondern, mit sich selbst in Zwiespalt, mußte er unter der Herrschaft dessen, dem er bei seinem Sündenfall nachgegeben hatte, statt der begehrten Freiheit harte und jämmerliche Knechtschaft eintauschen. Aus eigenem Willen geistlich tot, mußte er wider Willen leiblich sterben und, da er das ewige Leben preisgegeben hatte, obendrein, wenn die Gnade ihn nicht rettete, zum eigenen Tode verdammt sein.« (II,187)

Mit anderen Worten: Der Aufruhr des Fleisches ist zugleich der Absturz in die Fleischlichkeit und der Absturz in den »Zwiespalt mit sich selbst«. Aus dem eigenen Körper als dem »Gefährden und Verbündeten der Seele« (Clemens) ist der dämonische Feind-vonunten geworden, der gnadenlos bekämpft und endlich vernichtet werden muß. Daß der Sündenfall Luzifers und Adams sich im menschlichen Handeln nicht nur tagtäglich wiederholt, sondern jeglichem menschlichen Verhalten immer schon vorausgeht und dieses überformt, sodaß wir grundsätzlich immer mit uns selbst »in Zwiespalt« sind, zeigt sich für Augustinus u. a. darin, daß ein Gutteil unseres Verhaltens sich an uns und mit uns als unverfügbares Widerfahrnis vollzieht, dem wir mehr oder weniger wehrlos ausgeliefert sind, ganz im Unterschied zu den Menschen vor dem Sündenfall, die, wie Augustinus versichert, derlei unverfügbare Widerfahrnisse überhaupt nicht kannten, weil sie noch nicht durch Affekte aller Art beherrscht waren (vgl. II,177 ff.) und deshalb wohl auch nicht gelacht haben. Ja, Augustinus weiß sogar zu berichten, daß im Paradies »auch die Zeugungsglieder dem Willen unterworfen waren« (II,203). Nach dem Sündenfall jedoch sind wir laut Augustinus dazu verdammt, im Zwiespalt mit uns selbst zu leben und die tendenzielle Unverfügbarkeit vieler Verhaltensweisen als Strafe Gottes auf uns zu nehmen, weil auch der uranfängliche Ungehorsam gegen Gott sich in jedem eigenwilligen aktuellen menschlichen Verhalten wiederholt: »So ward denn der Mensch sich selbst überlassen, da er Gott verließ und an sich selber Gefallen hatte, und, ungehorsam geworden gegen Gott, vermochte er nun auch sich selbst nicht mehr zu gehorchen.

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Dadurch aber ist des Menschen Elend klar zutage getreten, denn er lebt nun nicht mehr so, wie er will. Denn lebte er so, wie er wollte, würde er sich für glücklich halten, wäre es freilich auch dann nicht, wenn er gottlos lebte.« (II,205) »Denn worin sonst besteht des Menschen Elend wenn nicht im eigenen Ungehorsam gegen sich selbst, da er nun will, was er nicht kann, während er einst nicht wollte, was er konnte? Denn obwohl er im Paradiese vor dem Sündenfall nicht alles konnte, wollte er doch auch nicht, was er nicht konnte, und konnte darum alles, was er wollte.« (II,188)

Da der Mensch im Ungehorsam gegen Gott sich also zugleich auch selbst entmachtet hat und nicht mehr völlig Herr seiner selbst ist, wie dies der Jakobus-Brief eingefordert hatte, kann er laut Augustinus all den verlorenen Verfügbarkeiten nur noch nachweinen und auch deshalb ist es für ihn zum Weinen, wenn die Menschen meinen, lachen zu dürfen, weil das Lachen ja auch wieder in seinen machtvollen Formen ein tendenziell unverfügbares Widerfahrnis ist, das sich an uns und mit uns vollzieht. Dieses kränkende Gefühl, dem eigenen Fleisch so wehrlos ausgeliefert zu sein, hatte ja schon Paulus in seinem Brief an die Römer ausführlich beschrieben und beklagt. »Denn wer zählt es auf, wie vieles er will, was er doch nicht kann, weil er sich selbst nicht gehorcht, das ist, weil der Geist und das (ontologisch gesehen) unter ihm stehende Fleisch seinem Willen nicht gehorcht? (…) Ist doch nicht zu bezweifeln, daß durch die Gerechtigkeit des Weltherrschers, dem wir nicht untertan sein und dienen wollten, uns nun das einst (im Paradies vor dem Sündenfall) unterworfene Fleisch durch Unbotmäßigkeit lästig wird. Denn durch Versagung unseres Dienstes konnten wir ja nicht etwa Gott lästig fallen, sondern nur uns selbst. Gott bedarf ja unseres Dienstes nicht wie wir des Dienstes unseres Körpers, und so wird nicht er gestraft durch unser Tun, sondern wir durch unser Leiden.« (II,188 f.)

In der Metaphorik Platons würde das heißen, daß das Seelengespann aus dem Phaidros, auf das im Jakobus-Brief ja deutlich angespielt wird, die Zügel zerrissen hat und der Wagenlenker sich nur noch im Wagen festkrallen kann und zusehen muß, wie das Gespann mit dem nunmehr steuerlos gewordenen Gefährt durch379 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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geht. In der Sprache der modernen Anthropologie würde man sagen, Augustinus habe das Phänomen der »exzentrischen Positionalität« im Sinne Plessners beschrieben, aber nicht, wie Plessner, wertneutral als phänomenalen Befund, sondern als beklagenswert sündigen Zustand, weil der dem Menschen allein würdige Zustand der paradiesische Zustand vor dem Fall ist, in dem uns der eigene Körper willig gehorcht und in all seinen Funktionen voll zur Verfügung steht. Wie tief diese Kränkung durch die Unbotmäßigkeit des eigenen Fleisches und seiner »niederen Glieder« für Augustinus gewesen sein muß, wird deutlich, wenn er eine Reihe ulkiger Fälle von Leuten beschreibt, die diese paradiesisch-»prälapsarischen« Fähigkeiten offensichtlich sich hatten erhalten oder wieder gewinnen können: »Besitzt doch auch, wie wir wissen, die Natur mancher Menschen von der Regel weit abweichende Eigenschaften, die wir wegen ihrer Seltenheit anstaunen. Denn sie können mit ihren Gliedern allerlei verrichten, was anderen ganz unmöglich ist, so daß sie es kaum glauben, wenn man’s ihnen erzählt. So können einige ihre Ohren bewegen, entweder nur eins oder beide zugleich. Andere gibt es, die die ganze Kopfhaut, soweit die Haare reichen, zur Stirne vorschieben und wieder zurückziehen, so oft sie wollen, ohne den Kopf zu bewegen. Noch andere, die erst unglaublich viele und verschiedenartige Dinge verschlingen und dann nur ein wenig das Zwerchfell zusammenziehen und wie aus einem Beutel, was ihnen beliebt, unversehrt wieder herausholen. Wieder andere ahmen die Stimmen von Vögeln, Haustieren oder irgendwelchen Menschen so täuschend nach, daß man’s schlechterdings nicht unterscheiden kann, wenn man sie nicht sieht. Auch solche gibt es, die nach unten hin ohne üblen Geruch, wie es ihnen beliebt, so zahlreiche Töne hervorbringen, daß man meint, sie könnten auch mit diesem Körperteile singen.« (II,204)

Daß jemand den Zustand totaler Verfügbarkeit des Körpers als der Natur, die wir selbst sind, zum Ideal erhebt, die ganz normale Erfahrung der unserem Verhalten immanenten Zwiespältigkeit zwischen der Verfügung über diese Natur und dem Unterworfensein unter sie jedoch als tiefe narzißtische Kränkung, Bedrohung oder Gefahr empfindet, kann seinen Grund natürlich in purer Herrsch380 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sucht haben und wäre dann nur eine weitere Bekundung der Begehrlichkeit (concupiscentia), die laut Augustinus all unserem Verhalten zugrunde liegt. Daß Augustinus genau wie Platon zur Benennung dieses Phänomens eine machtpolitische Metaphorik verwendet und von »Aufruhr« und »Gehorsamkeit« des Fleisches spricht, würde diese Vermutung noch unterstützen. Und zeigt sich dann die Gehorsamkeit des Fleisches einmal besonders machtvoll, so kann sich ein christlicher Kirchenvater auch mal für einen Kunstfurzer oder Furzkünstler begeistern. Zum Gefühl einer narzißtischen Kränkung trägt aber auch noch das Denken gemäß dem ontologischen Komparativ bei, demgemäß der Mensch aus mindestens zwei Schichten von unterschiedlicher Seinshöhe besteht, dem höher stehenden Geist und dem tiefer liegenden Fleisch, und jeder Absturz des Menschen ins eigene Fleisch immer zugleich auch eine Seinsminderung des ganzen Menschen darstellt, sofern er seinen Ich-Kern in der höher postierten Seinsschicht des Geistes angesiedelt hat. Genau dies tut Augustinus im zentralen zehnten Buch seiner Bekenntnisse, wo er ganz im Sinne des gnostischen Doketismus sich selbst in einen geistig-seelischen Ich-Kern einerseits und eine ich-ferne und ich-fremde fleischliche Hülle andererseits aufteilt und dies in einer Selbstschau wie folgt beschreibt: »Und siehe, fasse ich mich selbst ins Auge, stehen da ihrer zwei, Leib und Seele, er draußen, sie drinnen. Wen von beiden soll ich fragen nach meinem Gott, nach dem ich schon die ganze Körperwelt durchsuchte, von der Erde bis zum Himmel, soweit ich meiner Augen Strahl senden konnte? Besser ist doch, was innen ist, (…) ich, der innere, (…) ich, der ich Geist bin.« (S. 252)

Mit dieser Trennung der Person in einen ich-identischen innerenund-oberen Bereich und einen ich-fremden unteren-und-äußeren Bereich, der außerdem auch noch für das Ich unverfügbar ist, verweist Augustinus das Lachen ganz dem ich-fremden Bereich zu, der sich als »Aufruhr des Fleisches« bemerkbar macht und dem man nur mit größtem Mißtrauen und größter Wachsamkeit und der Frage begegnen kann: »Was droht von dort?« bzw. »Was droht von dort unten?« Für Aristoteles und für alle, die in seinem Geiste denken, also 381 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch für die östlichen Kirchenväter Clemens und Laktanz, droht von dort nichts Böses, denn für sie gilt eher der Satz des Heraklit: »Auch dort sind Götter«, weil man sich sehr wohl dem kathartischuroborischen Impuls hingeben kann, der die unverfügbaren Formen des Lachens besonders deutlich prägt und diese sich selbst wieder verzehren läßt, und dadurch diese Formen des Lachens zwar nicht voll verfügbar, aber doch kalkulierbar macht, genauso kalkulierbar, wie ein »Gefährte und Verbündeter der Seele« (Clemens) eben sein kann. Man muß sich diesem uroborischen Impuls und seiner kathartischen Funktion nur willig und vertrauensvoll hingeben und wird dann die »Grunderfahrung« (Kamlah) machen, daß man »nicht ins Leere fällt« 104, wenn man das tut, sondern von ihm aufgefangen, getragen und wieder aufgerichtet wird. Hier also sitzt der große und fatale Irrtum des Augustinus: Der »Sündenfall« des Lachens ist eben gerade kein definitiver Sturz aus der Selbstüberhebung in die Tiefe der fleischlichen Hölle, aus der uns ein Erlöser erst wieder herausholen müßte, sondern erweist sich durch den ihm immanenten uroborischen Impuls als ein in sich selbst ambivalentes Geschehen aus Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung, das deshalb auch aus Absturz und Wiederaufstieg besteht, wobei der Absturz den Wiederaufstieg aus sich selbst und das heißt: aus den Ressourcen der Leiblichkeit hervorbringt. Ein solches in sich selbst ambivalentes Geschehen konnte sich Augustinus offenbar nur so vorstellen, daß zwei antagonistische Prinzipien an einem Ort außerhalb ihrer selbst miteinander ringen, also z. B. Gott und Satan in der Seele des Menschen, denn nur so konnte er den Gedanken fassen, daß der Kampf zwischen der Liebe zu Gott (amor dei) und der dem Satan verpflichteten Liebe zu sich selbst (amor sui) auch so enden kann, daß die Gottesliebe siegt und sich »bis zur Selbstverachtung erhebt«, wenn jemand nur demütig genug sein Haupt vor dem Herrn beugt und dieses gerade deshalb aufrichtet; daß aber im andern Fall die Selbstliebe sich »bis zur Gottesverachtung steigert«. Formulierungen dieser Art machen ja nur Sinn, wenn Gottesliebe und Gottesverachtung mehr oder weniger groß sind und gesteigert oder vermindert werden können, wenn also ein Denken auf der Basis eines polarkonträren Gegensatzes zugrunde liegt. Wir werden sehen, wie konsequent Benedikt von 382 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Nursia diesen Gedanken in seiner Klosterregel aufgreift und das Zusammenspiel von Hochmut und Demut im Bild der Jakobsleiter höchst eindrucksvoll illustriert. Übersetzt man diesen Gedanken ins profan Phänomenologische, so erscheint die augustinische Ambivalenz von Hochmut und Demut als Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, aber eben nicht bezogen allein auf das Verhältnis des Menschen zu Gott wie bei Augustinus und seinen christlichen Nachfolgern, sondern bezogen auf jeden denkbaren Partner einschließlich des eigenen Körpers. Diesen Gedanken hätte Augustinus sicher empört von sich gewiesen und selbst wieder als ein typisches Zeugnis von Hoffart und Selbstgenuß verstanden, weil in seinem dualistisch-hierarchischen Weltbild ausschließlich Abwärtsbewegungen denkbar sind, sodaß schon der geringste Ansatz einer willentlichen Aufwärtsbewegung sich sofort in sein Gegenteil verkehrt und aus jedem Aufruhr sofort ein Sturz wird, nie aber umgekehrt aus einem Sturz ein Wiederaufstieg. Was ständig droht, ist aber laut Augustinus auch die Versuchung, das Genießen (frui) über das bloße Benützen (uti) zu stellen und diesem weltlichen Vergnügen zu verfallen. Dazu Hermann Schmitz: »Wir genießen und dürfen nur genießen, was wir um seiner selbst willen lieben, weil es uns glücklich macht; alles andere ist bloß zu benützen. Notwendig und zureichend für Glück ist der Genuss der Gegenwart des für den Menschen Besten, nämlich Gottes. Gemeinsam haben Benützen und Genießen, ihren Gegenstand in den Willen aufzunehmen; die Auszeichnung des Genießens besteht darin, dass es mit Lust (voluptas) und Freude (gaudium) geschieht. Menschliche Verderbnis besteht in der Verwechslung der für Benützen und Genießen passenden Gegenstände, alle Tugend im Vermeiden solcher Verwechslung, d. h. im Reservieren des Genießens für das erstrebte Sein bei Gott; in diesem Sinn ist alles Geschaffene (ausschließlich) für die Benützung durch den Menschen und seine richtige Vernunft da.« 105

Und bei Kurt Flasch lesen wir dazu: »Da Augustin nur Gott als Selbstzweck anerkennt, muß er sich selbst und jede andere Person nur als Mittel zu diesem Zweck ansehen. Diese

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Instrumentalisierung des Begriffspaars ›gebrauchen – genießen‹ verhindert von Grund auf eine Theorie der Liebe, gebietet sie doch, das eigene Leben und das Leben des Nächsten als Mittel zu einem überirdischen Zweck zu ›gebrauchen‹. Dieser Zweck ist zugleich unsere Seligkeit, und die ganze Überlegung Augustins ist nichts anderes als die strikte Anwendung technischer Denkformen auf das Ganze des menschlichen Lebens: ›Ethik‹ ist gedacht als das Wissen, wie man gesichertes Glück herstellen kann. Darin liegt eine Distanzierung des Menschen von sich selbst und den anderen, eine radikale Versachlichung menschlicher Beziehungen: Wir dürfen den anderen Menschen nur lieben, sofern er auf die ewige Seligkeit bezogen ist. Mit spontaner Zuwendung, mit Würde der Person hat der augustinische Begriff von Liebe nichts zu tun.« 106

Diese Dialektik von Gebrauchen und Genießen hat nun, wenn man sie denn tatsächlich befolgt, die massivsten Konsequenzen für die Lebensführung. Befolgt man sie z. B. beim Kochen, so muß man nach der Maxime kochen: Es darf auf keinen Fall schmecken! Befolgt man sie in der Sexualität, gilt dasselbe als strikteste Anbindung des Geschlechtsaktes an den Zeugungsakt und als strikte Verpönung aller Formen von Geschlechtsleben, die nicht der Zeugung dienen, sodaß man diese heute noch geltende Sexualmoral der katholischen Kirche in den Merkvers fassen könnte: »Uti bei Mutti, aber frui ist pfui.« Und überträgt man diese Dialektik von uti und frui auch auf das Lachen, so muß dieses sofort verstummen, weil weltliches Lachen ohne weltliche Lust am Lachen schlecht möglich ist und so nur noch das Isaak-Lachen als das Lachen des Christen übrig bleibt. 2.6.5.6 Die beiden Reiche Ein Gedanke dieser Art wäre für Augustinus auch schon deshalb undenkbar gewesen, weil seine Sündenlehre ganz massive politischgesellschaftliche Implikationen enthält, wie wir sie auch bei seinem Zeitgenossen und bischöflichen Kollegen Johannes Chrysostomus und seinem großen Vorbild Platon finden, die alle um den Erhalt der Macht im Innern der eigenen Person und im Innern von Kirche 384 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und Staat besorgt waren und überall Aufruhr und Umsturz und Krieg und Bürgerkrieg witterten. Die politische Lage des Römischen Reiches war ja auch tatsächlich so, weil alle Grenzen unter dem Ansturm der Barbaren wankten, und Rom im Jahr 410 von den Goten sogar erobert und verwüstet worden war. Deshalb liegt es ganz in der Logik der Sache, daß Augustinus unmittelbar nach der Darlegung seiner Sündenlehre das Konzept der beiden dualistisch aufeinander bezogenen Reiche entwickelt und hier den Gottesstaat (civitas dei) und den vom »Fürsten dieser Welt« regierten säkularen Staat (civitas diaboli) als zwei fundamental verschiedene, unverträgliche und einander feindliche Prinzipien gegenüberstellt, deren Grenze mitten durch den Menschen geht: »Demnach wurden die zwei Staaten durch zweierlei Liebe begründet, der irdische durch Selbstliebe (amor sui), die sich bis zur Gottesverachtung steigert, der himmlische durch Gottesliebe (amor dei), die sich bis zu Selbstverachtung erhebt. Jener rühmt sich seiner selbst, dieser ›rühmt sich des Herrn.‹ (2. Kor.10,17) Denn jener sucht Ruhm von Menschen, dieser findet seinen höchsten Ruhm in Gott, dem Zeugen seines Gewissens. Jener erhebt in Selbstruhm sein Haupt, dieser spricht zu seinem Gott: ›Du bist mein Ruhm und hebst mein Haupt empor.‹ (3. Psalm 3,4) In jenem werden Fürsten und unterworfene Völker durch Habsucht beherrscht, in diesem leisten Vorgesetzte und Untergebene einander in Fürsorge liebevollen Dienst.« (II,210 f.)

Und dann beschreibt Augustinus in einem imposanten geschichtsphilosophischen Entwurf anhand der Bibel den Anfang dieser beiden Arten von Staatlichkeit bei Kain und Abel und ihre Entwicklung durch die Geschichte der Welt bis zum Jüngsten Gericht. Eine genauere Darstellung und Analyse dieses dualistischen Entwurfs einer teleologisch ausgerichteten Weltgeschichte107 können wir uns hier sparen, weil dies nicht zu unserem Thema gehört. Sehr wohl aber gehört dazu, was dieses dualistische Konzept an gelotologischen Konsequenzen nach sich gezogen hat, denn die schroffe augustinische Unterscheidung der Welt und des einzelnen Menschen in einen göttlich-christlich-kirchlichen und einen teuflischweltlich-fleischlichen Bereich hat dazu geführt, daß man analog dazu in seiner Nachfolge auch von zwei verschiedenen Formen des Lachens und Weinens gesprochen hat, und das ist auch unter syste385 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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matischen Aspekten interessant, denn hier gilt es zu fragen, worin sich diese beiden Arten von Lachen und Weinen denn eigentlich unterscheiden und ob diese Unterscheidung auch unter profan-wissenschaftlichen phänomenologischen Aspekten tragfähig ist. Das ist schon deshalb sinnvoll und notwendig, weil in der klösterlichen Lebensform, mit der die Utopie des Gottesstaats gleichsam im Modell auf Erden vorweggenommen und durch ein kompliziertes System von Mönchsregeln institutionalisiert werden sollte, diese beiden Formen von Lachen und Weinen eine ganz zentrale Rolle spielen, wobei die am Gottesreich orientierte Form geduldet, gefordert und gefördert, die weltlich-körperliche Form jedoch verpönt, unterdrückt und bekämpft wurde, und deshalb werden wir im nächsten Kapitel ausführlich auf diese Mönchsregeln einzugehen haben. Augustins geschichtsphilosophischer Entwurf wird für uns erst wieder interessant in dem Augenblick, als das Gottesgnadentum durch die Französische Revolution ihr historisches Ende findet, der augustinische amor sui in der feierlichen Deklaration der Menschenrechte am 26. 8. 1789 zum politisch-gesellschaftlichen Programm erhoben und die Diskussion über diesen weltgeschichtlichen Schritt von Befürwortern wie Gegnern dieser Deklaration auf dem Boden von Augustins Denkwerk ausgetragen wird. Daß der damalige Papst Pius VI. die Deklaration der Menschenrechte umgehend als »gottlos und widernatürlich« in aller Form verdammte, geschah ganz im Geiste Augustins, denn auch Augustinus hätte hier den Satan am Werk gesehen, und so sah es ja auch Joseph de Maistre in seiner Analyse der Französischen Revolution. Aber auch die Verteidiger der Menschenrechte und der Französischen Revolution dachten in den von Augustinus vorgegebenen Denkbahnen, wenn sie sich zu Jüngern Luzifers stilisierten und Hymnen auf ihn sangen. Bei Leopardi und Carducci kann man all das nachlesen. Für uns ist diese Diskussion ab 1800 deshalb wichtig, weil sie den Hintergrund für eine Apologie des Satanischen bietet, die z. B. bei Baudelaire in der Neubelebung des gnostisch-augustinischen Luzifer-Mythos als école du mal und im Kult des Dandys auch einen ganz neuen, kynisch-satanischen Aspekt des bitteren »kalten« oder »schwarzen« Lachens sichtbar machen wird. 386 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wir haben gesehen, daß Augustinus auf der Grundlage seines gnostisch-dualistischen Erbes sich selbst in zwei gegensätzliche Wesenheiten aufteilte: in den Geist und das »unter ihm stehende Fleisch« 108, daß er andererseits aber auch wieder Leib und Seele trennte: »er draußen, sie drinnen«, wobei »ich, der innere, ich, der ich Geist bin« 109, als das »bessere«, ontologisch gesehen höher postierte angesehen wird. Um dies genauer und überhaupt erst zu verstehen, stellt sich hier erst mal die Frage, welche Art von Gegensatz Augustinus überhaupt meint. Die Frage muß also lauten: Bilden der geistig-seelische und der leiblich-fleischliche Bereich des Menschen einen polarkonträren Gegensatz, was dem hierarchischen Denken auf der Basis des ontologischen Komparativs entsprechen würde, oder bilden sie einen kontradiktorischen Gegensatz, was durch die Prädikate ›drinnen‹ und ›draußen‹ nahegelegt wird, weil etwas eben nur entweder drinnen oder draußen sein kann, und ein Drittes nicht möglich ist. Diese Unklarheiten liegen wohl letztlich darin begründet, daß der gnostische Dualismus, der bei Augustinus hinter all dem steht, selbst nicht genau klärt, ob er Lichtes und Dunkles, Gutes und Böses, Göttliches und Satanisches in einen kontradiktorischen oder einen polarkonträren Gegensatz zueinander stellt. Das iranische Modell legt eher einen kontradiktorischen, das syrisch-ägyptische Modell eher einen polarkonträren Gegensatz nahe, weil das böse Prinzip hier ursprünglich Teil des guten war und sich aus ihm durch Rebellion emanzipiert hat. Aus diesem Grund postuliert das iranische Modell einen ewigen Kampf zweier voneinander unabhängiger feindlicher Prinzipien, wohingegen das syrisch-ägyptische Modell ganz unterschiedliche Grade des Bösen resp. des Guten kennt, die sich geschichtlich entwickeln und sich aneinander mindern. Wie wir schon öfters gesehen haben, konnte Augustinus sich nie ganz klar zwischen beiden Modellen entscheiden, und deshalb leidet auch sein anthropologischer Dualismus an diesem Defizit. All das ist für uns deshalb so bedeutsam, weil es auch Konsequenzen für die Frage hat, welche Formen des Lachens diesen beiden Reichen jeweils zuzuordnen und entsprechend zu bewerten sind. Daß für Augustinus diese Zuordnung große Bedeutung hatte, haben wir 387 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bei der Analyse der Isaak-Episode gesehen, und können deshalb mit gutem Gewissen unterstellen, daß sich für Augustinus die Vielfalt des Lachens in zwei Gattungen gliedern läßt, die wir als ›Isaak-Lachen‹ und als ›Ismael-Lachen‹ bezeichnen und dem Gottesstaat bzw. dem säkularen weltlichen Staat zuordnen könnten. Daß Augustinus fast immer nur das ›Ismael-Lachen‹ zum Thema macht, liegt einfach daran, daß sich für Augustinus in dieser sündigen weltlichen Welt letztlich alles Lachen auf dieses eine ›Ismael-Lachen‹ reduziert und das ist für Augustinus eben zum Weinen. Trotzdem enthebt uns diese gleichsam mythologische Einordnung nicht der Aufgabe, diese beiden Arten von Gelächter nach Maßgabe eines nachvollziehbaren profan phänomenologischen Kriteriums voneinander zu unterscheiden. Clemens hatte anthropologisch argumentiert, indem er das Kriterium der Körperspannung (tonos) verwendete und dadurch verschiedene Formen des Lachens auf unterschiedliche Grade der Körperspannung zurückführte, und da dieses Prinzip mit dem polarkonträren Gegensatz arbeitet, der beliebig viele Grade kennt, hat man hier ein ganz vorzügliches Instrument für eine Skalierung in beliebiger Genauigkeit. Augustinus argumentiert anthropologisch gesehen längst nicht so genau wie Clemens, bietet aber durch seine Vorliebe für das hierarchische Denken im Gefolge des ontologischen Komparativs doch so viele Anhaltspunkte, daß man den Gegensatz von Hochmut und Demut, der sich wie ein roter Faden durch all seine Schriften zieht, mit gutem Gewissen zum Dreh- und Angelpunkt seines Denkens erklären und von hier aus auch die bei ihm erwähnten Formen des Lachens klassifizieren kann, da auch Hochmut und Demut einen polarkonträren Gegensatz bilden. In der frühchristlichen Philosophie und in ihrer praktischen Anwendung auf die Klosterregeln ist man ihm hier gefolgt und hat deshalb in Analogie zum Gegensatz von Gottesstaat und weltlichem Staat, Seele und Leib, Geist und Körper auch zwei Arten des Lachens und der Heiterkeit, sowie, analog dazu, zwei Arten des Weinens und der Trauer unterschieden. Die eine Haltung, die zum »äußeren«, »körperlichen« Lachen (gaudium carnalis) führt, bezog sich auf irdische, vergängliche Güter und Befindlichkeiten und galt als eitle Bekundung von Hoffart (gaudium vanitatis); die 388 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Mythologe: Aurelius Augustinus

andere Haltung, die zum »inneren«, »geistigen« Lachen des Herzens (risus cordis) führt und sich meist als stilles Lächeln äußert, galt als Bekundung wahrer, auf die ewigen Güter gerichtete Freude, als Erhebung des Herzens (elatio animi) ohne Selbstgenuß, aber eben nicht als eitel hoffärtige und selbstgenießerische Erhebung über andere, sondern als Erhebung zur Demut vor Gott. Ganz analog teilte man das Weinen in zwei Gattungen ein. Mit dem sündhaften weltlich gesinnten Weinen (tristitia saecularis) weinte man über den Verlust irdischer, vergänglicher Dinge; mit dem echten, christlich demütig gestimmten Weinen beklagte man die eigene Sündhaftigkeit und beweinte somit auch diese tristitia saecularis. Diese Form des Weinens haben wir schon bei Ephräm kennengelernt, der sich in seiner Demut förmlich gewälzt, diese Art des Weinens zum Kult erhoben und es in seinen Bußpredigten 110 auch von den andern Christen hartnäckig eingeklagt hat. Daß er nicht nur vor dem Lachen warnte, sondern vor lauter Weinen selbst gar nicht zum Lachen kam, wird von seinen Zeitgenossen sogar rühmend hervorgehoben, wenn es heißt: »Stets hatte er ein ernstes Gesicht, und niemals ließ er sich dazu herbei, zu lachen.« (Ephräm I,XV)

Daß sich das in der frühchristlichen Literatur favorisierte »geistige« oder »innere« Lachen mit dem sanften Lächeln deckt, das schon in der alttestamentlichen weisheitlichen Literatur als die für den Frommen einzig gemäße Form des Lachens favorisiert worden ist, und daß das in der weisheitlichen Literatur verpönte schallende Gelächter des Narren sich als eitle weltliche Form von Heiterkeit verstehen läßt, und daß beide Gattungen sich außerdem auch noch unter dem Kriterium von Hochmut und Demut zueinander in Relation setzen lassen, ist für unsere Fragestellung von größter Bedeutung, denn hier ergibt sich aus der frühchristlichen Literatur ein enormer Erkenntnisgewinn systematischer Art, den man voller Respekt und auch mit Dank aufnehmen darf, weil er sich außerdem auch noch problemlos ins profan Phänomenologische übersetzen läßt, indem man die verschiedenen Formen von Lachen im Hinblick auf die ihnen zugrundeliegenden Impulse von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe untersucht. Stellt man die Frage nach den verschiedenen Formen des 389 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachens auf diese Weise, so erscheint jede einzelne Form des Lachens nicht, wie Plessner 111 meint, als Verhalten sui generis, die ätiologisch eigens analysiert werden müßte, sondern als Punkt auf einer ganzen Skala von unterschiedlicher Intensität ein und desselben Verhaltens, das in seiner Gesamtheit aus einem einzigen Prinzip ätiologisch bestimmt werden kann und sich als ambivalentes Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe bzw. von Hochmut und Demut auf ganz unterschiedlichen Niveaus erweist. Daß die Mönchsregeln im Gefolge Augustins uns in den Stand setzen, alle Formen des Lachens aus einem einzigen Prinzip, dem Zusammenspiel von Hochmut und Demut, abzuleiten, ist das große systematische Verdienst dieser Texte, so fremd sie uns heute auch auf den ersten Blick anmuten mögen, und deshalb gehen wir jetzt auf diese Texte ausführlich ein. Rein chronologisch gesehen müssen wir aber aus der Zeit Augustins um 400 wieder zurückspringen in die Zeit um 300 und dort mit einem neuen Gedankengang ansetzen. 2.6.6 Mönche und Klöster 2.6.6.1 Das Askese-Ideal Die Wurzel des Mönchtums liegt im Askese-Ideal, in einer Lebenshaltung also, die in sich sehr paradox ist; denn was auf den ersten Blick bloß als Weltflucht, Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit, Demut und umfassende Entsagung erscheint, entpuppt sich, sieht man etwas genauer hin, alsbald als Zeugnis eines ins Extrem gesteigerten Verfügungswillens und damit als Versuch, den eigenen Körper als die Natur, die wir selbst sind, uneingeschränkt zu beherrschen und dienstbar zu machen. So gesehen ist die asketische Lebensform 112 durchaus verwandt mit dem heutigen Hochleistungssport, der als deren extrem säkularisierte Form angesehen werden darf. Daß die anachoretische und klösterliche Existenz immer irgendwie den Rückzug aus der Welt notwendig macht, darf man also auf keinen Fall als ein Eingeständnis von Schwäche oder als Versagen 390 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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vor den Forderungen der Welt verstehen, weil dieser Rückzug aus der Welt als Rückzug auf sich selbst den Versuch darstellt, diesen aus der Welt mitgenommenen Rest von Welt restlos dem eigenen Willen zu unterwerfen, und dieser Rest von Welt ist eben der eigene Körper, den der Asket nicht als einen Aspekt seiner selbst empfindet, auch nicht als Partner seiner selbst für das Zusammenspiel von wechselseitigem Vertrauen und Verfügen, wie dies Clemens von Alexandrien gesehen hatte, für den der eigene Körper der »Gefährde und Verbündeter der Seele« war, sondern als Gegner oder gar als Feind, den es zu besiegen und vollständig zu beherrschen gilt. Hat man ihn aber besiegt, so hat man auch die Welt, deren Rest und Stellvertreter der eigene Körper ist, unterworfen und überwunden und fühlt sich frei für andere Aufgaben. Eine dieser Aufgaben, bei weitem nicht die einzige, kann z. B. das opus dei sein, der Dienst an Gott, und hier liegt die eigentliche Aufgabe des mönchischen Lebens in all seinen Formen. Diese Einschränkung ist wichtig, da das asketische Ideal durchaus kein spezifisch christliches Ideal ist, sondern in den vielfältigsten Ausprägungen und in den verschiedensten Religionen vorkommt und auch in der hellenistischen Epoche 113 allgemein verbreitet war, z. B. bei den Kynikern, Stoikern und Pythagoreern, bei den verschiedenen Mysterienreligionen, bei den Gnostikern und eben auch bei den Christen. Aus diesem Grund gilt die Charakterisierung des stoischen Weisen, die wir aus Senecas Abhandlung über den Zorn kennen, grundsätzlich auch für die Asketen aller anderen philosophischen Schulen und Religionen: »Einige haben es fertig gebracht, daß sie überhaupt nicht lachen; andere haben sich des Weines, andere der geschlechtlichen Liebe, andere des Trinkens ganz enthalten; ein anderer hat sich mit kurzem Schlaf begnügt und sich unermüdlich (d. h. unermüdbar) gemacht.« 114

In dieser Auflistung fehlt nur noch der Verzicht auf Besitz und, da Seneca den stoischen Weisen immer nur als Einzelgänger versteht, fehlt auch der Hinweis auf all die Eigenschaften, die das Leben in der »Sonderwelt« 115 einer Einsiedelei, einer Einsiedlerkolonie oder eines förmlichen Klosters fordert: Demut, Schweigsamkeit, Gehorsam und Arbeitsfleiß. Liest man die frühen Sammlungen beispielhafter monastischer 391 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lebensläufe durch, wie sie von Athanasius in der Vita Antonii 116, von Timotheus und Rufinus in der Historia Monachorum in Aegypto 117, von Palladius in der Historia Lausiaca 118, von Theodoret in der Historia Religiosa 119, sowie in den anonym erschienenen Apophthegmata Patrum 120 in der Zeit zwischen 360 und 500 vorgelegt worden sind, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die hier dargestellten Athleten frömmster Selbstbemeisterung den Ehrgeiz gehabt haben müssen, ins Guinness-Buch der asketischen Rekorde aufgenommen zu werden. Das liegt natürlich auch daran, daß die Autoren dieser Texte nicht als Historiker sine ira et studio schrieben, sondern als Propagandisten einer Religion, und daß der Zweck dieser Texte nicht darin lag, den Leser darüber zu informieren, »wie es damals wirklich war«, sondern ihn zu erbauen, zu bekehren und zur Nachfolge dieser Wundermänner aufzufordern. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür bietet Theodoret, wenn er die Kämpfe der frühen Einsiedler in der Festung ihrer Seele gegen Teufel und Dämonen mit einer Metaphorik beschreibt, die uns schon aus den Briefen Senecas, den Dialogen Platons und den Predigten des Chrysostomus bekannt ist, und die deutlich macht, daß dieser Kampf gegen den Teufel und seine Dämonen immer zugleich auch ein Kampf gegen die eigene Körperlichkeit ist und auf der strengen Trennung von uti und frui beruht: »So ertrugen sie heldenmütig den Ansturm der Leiden, schlugen kraftvoll den Hagel der teuflischen Geschosse ab und züchtigten, um mit dem Apostel zu reden, ihren Leib 121 und brachten ihn in Knechtschaft. Sie besänftigten die Glut des Zornes, die Wut der Begierden zügelten sie. Durch Fasten und Schlafen auf der Erde stillten sie die Leidenschaften, brachten deren Anfälle zur Ruhe und zwangen den Körper, mit der Seele ein Bündnis 122 zu schließen. So beendeten sie den der Natur eingepflanzten Krieg. (…) Denn als Waffe gegen uns bedient sich der Teufel unserer Organe. Läßt sich das Auge nicht ködern und das Ohr nicht berücken und das Gefühl nicht betören und vernimmt der Geist so keine bösen Ratschläge, so sind ihre eifrigen Nachstellungen vergeblich. Denn wie eine Stadt, die auf der Höhe 123 erbaut, mit starken Wällen befestigt und mit tiefen Gräben umgeben ist, kein Feind zu erobern vermag, wenn nicht einer

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von innen Verrat übt und das oder jenes Pförtchen öffnet, so ist es den von außen angreifenden Dämonen unmöglich, Herr zu werden über eine Seele. (…) Da dies unsere Helden sehr wohl aus der göttlichen Schrift gelernt hatten, (…) verschlossen sie wie mit Riegeln und Schlössern ihre Sinne mit den göttlichen Geboten und übergaben die Schlüssel dazu dem Verstande. Zunge und Lippe wurden nicht geöffnet, wenn nicht der Verstand es befahl; dem Auge wurde nicht gestattet, aus den Lidern zu blicken, und das Ohr, das den Zugang nicht versperren kann wie die Augenlider und die Lippe, wies die törichten Reden ab 124 und ließ nur die zu, an denen der Verstand seine Freude hatte. Und so erzogen sie auch den Geruchssinn, nicht nach den lieblichen Düften zu verlangen, da diese ihrer Natur nach verweichlichen und erschlaffen. Sie bannten des Bauches Sättigung und lehrten ihn Speisen nehmen, die nicht Lust bereiten, sondern (bloß) das Bedürfnis stillen, und hiervon nur so viel, was den Hungertod fernzuhalten vermochte. Sie brachen die süße Tyrannei des Schlafes und befreiten die Augenlider von dessen Knechtschaft und erzogen sie zum Herrschen und nicht zum Dienen. Und in ihre Dienste sollten sie ihn nehmen, nicht wenn er kommen wolle, sondern wenn sie ihn herbeiriefen zu einer kleinen Unterstützung der Natur. Indem sie so sorgsam Wache hielten über die Mauern und Tore und den Gedanken im Innern Eintracht geboten, konnten sie über die von außen andringenden Feinde lächeln.« (I,23 ff.)

Und dann schließt Theodoret sein Hohes Lied auf diese Athleten der Frömmigkeit mit der rhetorischen Frage: »Männer also, die in unzähligen Mühen den Lebensweg gegangen, in Schweiß und Mühen den Körper gebändigt, die Lachen nicht kannten, sondern in Trauer und Tränen ihr ganzes Leben verbrachten, für sybaritische Lust das Fasten erachteten, für süßesten Schlaf die beschwerlichen Nachtwachen, für weiches Lager den harten Boden, für unermeßliche und unfaßbare Wonne die Beschäftigung mit Gebet und Psalmengesang, sie, die alle Arten von Tugenden in sich vereinigten, – wer sollte sie nicht billig bewundern, oder vielmehr, wer könnte sie nach Gebühr preisen?« (I,25)

So stellt Theodoret seine syrischen Anachoreten, allen voran den Säulenheiligen Symeon, als wahre Wundermänner dar, die alle Fähigkeiten der klassischen Magier und der biblischen Propheten in 393 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sich vereinen und deshalb Herr über die Elemente sind, serienweise Drachen besiegen, wilde Tiere zähmen, Kranke heilen, Heiden bekehren, Teufel und Dämonen austreiben und heidnische Götzenbilder stürzen. Bei aller Demuts-Rhetorik speziell im christlichen Mönchtum ist das Askese-Ideal also eminent elitär orientiert, und so darf es auch nicht verwundern, wenn es im Prolog zur Historia Monachorum, der ersten umfassenden historischen Darstellung des östlichen Mönchtums aus der Zeit um 410, im Hinblick auf die damals immer noch grassierenden Ängste vor dem Weltuntergang heißt: »Allen Menschen dort in Ägypten ist es ganz offenkundig, daß durch die Mönche allein der Erdkreis noch Bestand hat, daß ihretwegen noch das Menschengeschlecht vor Gott besteht und das Menschenleben noch beachtet ist in Gottes Augen.« 125

Rund hundert Jahre später betont der anonyme Verfasser der Magisterregel 126 eigens den Unterschied zwischen den Christen der Massenkirche, die ja schon lange Jahre Staatsreligion war, und den Mönchen in den Klöstern, die den weitaus gefährlicheren, entsagungsreichen und geradezu heldenhaften »geistlichen Kriegsdienst« (S. 72) auf sich genommen haben und als die Nachfolger der frühen christlichen Blutzeugen in den Zeiten der Verfolgung nun die neue christliche Elite bilden. Für unsere Fragestellung ist dieser Diskurs über die mönchischasketische Lebensform insofern heuristisch aufschlußreich, als die Forderung nach absoluter Unterwerfung des Körpers unter den Willen sofort die Frage nach sich zieht, wie es der Asket denn mit dem Lachen, insbesondere mit den tendenziell unverfügbaren Formen des Lachens zu halten habe. Da aber alle Formen des personalen lachmündigen Lachens mit dem asketischen Ideal grundsätzlich unvereinbar sind, da sich der Asket dem Zusammenspiel von Vertrauen und Verfügen eben entziehen und nur noch im imperialen Zugriff über seinen Körper verfügen will, werden wir sehen, daß in der Diskussion über die anachoretische und klösterliche Lebensform das Lachen zwangsläufig ständig präsent ist, weil die Frage geklärt werden muß, wie das Lachen zu vermeiden sei und warum diese Art von Entsagung so wichtig ist. Da die klösterlich-mönchische Lebensform sich stufenweise aus 394 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der eremitisch-anachoretischen über die offene »koinobische« Einsiedlerkolonie zur ummauerten Kloster-Politeia mit festen Regeln und expliziten Macht- und Gehorsamsstrukturen entwickelt hat, wird sich zeigen, daß die Strenge im imperialen Zugriff des einzelnen Asketen auf seinen Körper Hand in Hand geht mit dem Ausbau der Machtstrukturen im Innern der Klöster, die selbst wiederum in Analogie zum Gewinn weltlicher Macht durch die Kirche als ganzer erfolgt: Je ausgeprägter die Machtstrukturen der Kirche in der Welt, die der Bischöfe in der Kirche und die der Äbte in den Klöstern sind, desto strenger wird von den Mönchen und Nonnen auch die Verfügung über ihren Körper verlangt und desto strenger ist auch die Verpönung des Lachens. Wir werden auch sehen, wie diese den Mönchen und Nonnen angesonnene Verfügungsgewalt über ihren eigenen Körper sich in bestimmten Institutionen und architektonischen Elementen des als Makroanthropos verstandenen Klosters zeigt, um die Festung Kloster gegen die Welt genauso erfolgreich zu verteidigen wie die Seelenfestung des Asketen gegen die Dämonen. Was die spezifisch christliche Form der Askese von den Askeseformen aller anderen hellenistischen Religionen unterscheidet, ist das Verständnis von körperlicher Arbeit als einer Form von Askese, weil dadurch auch harte körperliche Arbeit in einem Maß geadelt und zum konstitutiven Bestandteil eines explizit elitären Verhaltens-Ideals erhoben wurde, das den vertrauten Maximen der überkommenen antiken heidnischen Ethik ausdrücklich zuwiderlief, derzufolge harte körperliche Arbeit eines freien Mannes unwürdig war, denn dafür gab es ja die Sklaven und Metöken. Die Nobilitierung körperlicher Arbeit hatte darüber hinaus auch massivste sozialpolitische Konsequenzen, weil dadurch die bislang so festen Grenzen zwischen freien Bürgern und Sklaven ins Schwimmen gerieten. Diese Nobilitierung der Handarbeit läßt sich auf kein explizites Jesus-Wort in den Evangelien stützen, konnte also nicht als direkte Form der Nachfolge Christi verstanden und propagiert werden, sondern geht allein auf die Lehrbriefe des Apostels Paulus zurück, der den Thessalonichern brieflich strikt befohlen hatte, daß jemand, der nicht arbeiten wolle, auch nicht essen solle (2. Thess. 3,10), weil 395 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ein Christ nur durch die genaue Beachtung dieses Prinzips einen ordentlichen Lebenswandel führen könne. Eine vergleichbare Stelle findet sich in den Evangelien nirgendwo; ja, es gibt sogar Aussprüche Jesu, die man, wenn man will, als explizite Abwertung von Arbeit aus dem Geiste des Kynismus verstehen kann, wenn es z. B. in der Bergpredigt heißt: »Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern, und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? (…) Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Und ich sage euch, daß Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eine.« (Matth. 6,26–29)

Mit welchem Nachdruck Paulus trotzdem die Handarbeit nicht nur durch seine eigene Lebensführung, sondern auch argumentativ als erstrebenswerte Praxis propagierte, zeigt der erste Brief an die Korinther, in dem er Handarbeit als Probe für die christliche Demut anpreist, als bewußt und gezielt und freiwillig auf sich genommene Form sklavenhafter Existenz, die vor der heidnischen Welt als Torheit gilt und sich nicht nur nicht scheut, dafür ausgelacht zu werden, sondern Hohn und Spott der heidnischen Welt geradezu sucht, um die eigene christliche Demut zu testen, denn wer in der hellenistischen Gesellschaft ohne Zwang Sklavenarbeit verrichtete, machte sich lächerlich und wurde dementsprechend verachtet. Deshalb schreibt Paulus: »Aber es sieht so aus, als hätte Gott uns Aposteln den allerletzten Platz angewiesen. Wir stehen da wie Verbrecher, die zum Tod in der Arena verurteilt sind. Ein Schauspiel sind wir für die ganze Welt, für Engel und Menschen. (…) Bis zu diesem Augenblick leiden wir Hunger und Durst, wir gehen in Lumpen und werden geschlagen, heimatlos ziehen wir von Ort zu Ort. Wir arbeiten hart für unseren Unterhalt. Wir segnen, wenn man uns verflucht; wir ertragen es, wenn man uns verfolgt; wenn man uns beschimpft, antworten wir mit freundlichen Worten. Es ist, als müßten wir den Schmutz der ganzen Welt auf uns nehmen. Wir sind der Auswurf der Menschheit – bis zu dieser Stunde!« (1. Kor. 4,9–13) 127

Ganz offensichtlich ist dieses neue auf Handarbeit ausgerichtete 396 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Demutsideal von den Christen bereitwillig angenommen worden, denn in allen Heiligen- und Mönchsbiographien wird immer wieder der Arbeitsfleiß der frühen Mönche hervorgehoben, und so ist es ganz konsequent, daß man den Tenor der berühmtesten Mönchsregel mit der Formel »Ora et labora!« wiederzugeben pflegt, obwohl diese Formulierung in der Benediktiner-Regel gar nicht explizit so steht. Es war vor allem Augustinus, der sich mit all seinem rhetorischen Geschick daran machte, das kynische arbeitsverachtende Argument aus der Bergpredigt in einer eigenen Abhandlung Die Handarbeit der Mönche 128 zu widerlegen, wobei er alle Mönche, die sich auf die oben zitierte Stelle aus der Bergpredigt beriefen, um der Arbeit auszuweichen, als Faulpelze darstellte 129, und dies läßt darauf schließen, daß zur Zeit des Augustinus um 400 körperliche Arbeit als Proprium des Mönches längst akzeptiert war und nur noch die Verfallserscheinungen des christlich-mönchischen Arbeitsethos korrigiert werden mußten. Ein Rest der alten heidnischen Verachtung körperlicher Arbeit liegt im mönchischen Arbeitsgebot aber letztlich immer noch vor, weil körperliche Arbeit nicht in erster Linie um ihrer selbst willen oder als Form poietischer Gestaltung der Welt begriffen und ausgeübt wird, sondern als Mittel, das verachtete Körperliche am Menschen niederzukämpfen. Das Lob der Arbeit erwies sich aber auch noch aus einem ganz anderen Grund als notwendig, weil die christlich-mönchische Lebensform schon in der Phase der anachoretischen Wüstenväter ein neues, spezifisch christliches Krankheitsbild hatte entstehen lassen, das die Christen bis heute plagt. Damals zur Zeit der Kirchenväter nannte man die Krankheit akedia resp. taedium, später, in der Renaissance, nannte man sie melencolia, bei Pascal ennui, bei Kierkegaard Schwermut und bei Baudelaire spleen; heute spricht man von Langeweile, Trübsinn, Depression, Mattigkeit, Schlaffheit, Mutlosigkeit, Ausgebranntheit, Überdruß, Widerwillen gegen alles und jeden oder Ekel vor Gott, der Welt und sich selbst. Zurückgeführt wurde die Acedie bei den Kirchenvätern auf eine Heimsuchung durch einen Dämon, der besonders um die Mittagszeit herum sein Unwesen treibt, wenn alles Leben in der Glut der 397 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mittagshitze abschlafft, der Mönch aber gleichwohl weiterhin fleißig beten und arbeiten soll. Die Acedie ist also gleichsam der dunkle Schatten des christlich-mönchischen Arbeitsethos und stellt sich immer dann ein, wenn jemand über Gebühr gefordert und chronisch überfordert ist, kann sich aber auch zu einer chronischen tiefen Verstimmung steigern, die sich dann wie ein Nebel aus Blei generell und nicht nur in der Mittagshitze über den Menschen breitet und diesen lähmt. Gegen diese für die Christenheit und speziell für die Mönche aller Art typische Krankheit galt nicht etwa eine ausgiebige Siesta, sondern konzentriertes Gebet und nicht minder konzentrierte Arbeit, aber auch die Gnade der Tränen als bewährteste Arznei, weil man diese Krankheit nicht etwa als Krankheit ansah, sondern als Laster und Sünde. Kassian z. B. rechnet in seiner Abhandlung Von den Einrichtungen der Klöster 130 die Acedie ausdrücklich zu den acht Lastern und empfiehlt nach einer eindrucksvollen phänomenologischen Analyse dieser Befindlichkeit unter ausdrücklicher Berufung auf Paulus die Handarbeit als die beste Therapie, denn »die Arbeit beseitigt viele Sünden.« (I,215), und die Erfahrung lehre ja auch, »daß man den Andrang des Überdrusses nicht durch Ausweichen, sondern durch Widerstand überwinden muß.« (I,225) Im Gegensatz zum Arbeitsgebot mußte das mönchische LachVerbot immer wieder neu begründet werden, weil der gesellschaftliche Rahmen, in dem sich die mönchisch-klösterliche Lebensform abspielte, immer wieder tiefgreifenden Wandlungen unterworfen war, bis mit der Benediktiner-Regel von 529 die klassische Norm des christlichen Mönchtums vorlag. Das mönchische Lach-Verbot geht in seiner Relevanz ja weit über das private Verhalten des Mönchs hinaus und steht mit den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und der Stellung des Klosters in der Welt in einem engen Zusammenhang, denn hier wie dort geht es um die Frage: Verfügen oder vertrauen? und das wiederum heißt: Es geht um die Frage nach der Macht. Aus diesem Grund ist es notwendig, hier einen kurzen kirchengeschichtlichen Abriß einzuschalten, um deutlich zu machen, in welcher Weise die Entwicklung der mönchisch-asketischen Lebens398 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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form mit der allgemeinen Geschichte der hellenistischen Zeit verzahnt ist. 2.6.6.2 Wendepunkte in der Geschichte der frühen Christenheit Ausgangspunkt aller Überlegungen über die Geschichte der frühen Christenheit muß die eschatologische Ausrichtung des frühen Christentums sein, die sich auf bestimmte Logien Jesu gründet, in denen er das Ende der Welt, das Erscheinen des Menschensohnes, das Jüngste Gericht und den Anbruch des Gottesreiches vorhersagt, ohne jedoch Tag und Stunde zu nennen, denn: »Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wißt nicht, wann es Zeit ist. (…) Wachet!« (Markus 13,32 ff.) 131

Beschrieben werden allerdings einige begleitende Umstände dieses apokalyptischen Szenarios wie z. B. der Auftritt falscher Propheten und des Antichrist, allerlei Bedrängnisse wie Kriege, Erdbeben, Seuchen und dergleichen mehr. Wer geneigt ist, solche apokalyptischen Szenarios überhaupt ernst zu nehmen, und deshalb in ständiger Erwartung des Weltendes lebt, ohne zu wissen, wann dies so weit sein wird, kann auf dieses angekündigte Ereignis mit gespannter Erwartung und mit Hoffen und Bangen reagieren, wird aber immer hellwach sein müssen, um jederzeit vorbereitet zu sein, und jede Art von Rückzug aus der Welt mit all ihren Zerstreuungen kann dieser Haltung nur förderlich sein. Lachen aber bestimmt nicht, und so erstirbt durch eschatologische Erwartung erst mal jede Art von Gelächter und weicht tiefem Ernst. Eine zweite Reaktion könnte darin bestehen, gezielt nach Anzeichen Ausschau zu halten, aus denen man die baldige Herankunft des Kairos 132 erschließen könnte. Das hat man natürlich auch in der frühen Christenheit getan, und als in den Jahren um 170 eine verheerende Pestepidemie sich im Römischen Reich ausbreitete, bot es sich an, diese Epidemie als ein solches Vorzeichen zu deuten, und so prophezeiten die Christen um Montanus und Tertullian das 399 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ende der Welt für das Jahr 179, hundert Jahre nach dem Ausbruch des Vesuv. Das Ende der Welt trat im Jahr 179 jedoch nicht ein, wurde aber gleichwohl weiterhin erwartet, wenn auch erst in fernerer Zeit. Durch diesen Aufschub der Parusie standen die Christen nun vor der Notwendigkeit, Strukturen christlicher Existenz aufzubauen, durch die sie sich auf Dauer, aber in Defensive zur feindlichen heidnischen Welt einrichten konnten, um die nur verschobene, aber gleichwohl weiterhin erwartete Parusie abzuwarten. Zu diesen Strukturen zählt z. B. die Erstellung des Kanons der Evangelien, der ab 180 entstand; dazu zählt die theologische Fundierung des Christentums durch die ersten Theologen Tertullian, Clemens und Origenes; dazu zählt die Einrichtung von Konzilen und Synoden, auf denen alle irgendwie wichtigen Fragen der Christenheit geklärt und entschieden werden sollten. Um diese Zeit an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert taucht am östlichen Rand des Mittelmeeres im Raum zwischen Syrien und Ägypten zum ersten Mal das Wort monachos auf 133, bezeichnet aber noch nicht einen Christen, der außerhalb einer Ortschaft ganz auf sich gestellt in der Einsamkeit ein asketisches zurückgezogenes frommes Leben in Armut und Anspruchslosigkeit führt und sich von seiner Hände Arbeit ernährt, sondern sich bloß vom lärmerfüllten öffentlichen Leben der heidnischen Welt und ihren Vergnügungen zurückhält. Als diese Christen dann in aller Form auch die christlichen Gemeinden verließen und abseits von ihnen ihre Sonderwelt errichteten, ging die Bezeichnung monachos auf diese Anachoreten und Eremiten über, als deren Muster bald der »Wüstenvater« Antonius (251–356) galt, dessen Biographie sein Schüler Athanasius um 360 veröffentlichte. Aus dieser Vita Antonii, mit der Athanasius zugleich auch die literarische Gattung der Heiligenlegende schuf, geht sehr schön hervor, wie sich nach und nach aus dem Dasein als einzelner Eremit eine Eremitenkolonie entwickelt, die ohne feste organisatorische oder institutionelle Grundlage locker zusammenlebt. Aus diesen Könobien entwickelten sich dann zu Beginn des vierten Jahrhunderts in Ägypten die ersten richtigen Klöster, als Pachomius um 320 das erste Könobium 134 mit einer Mauer umgab, seine Mönche in 400 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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eine Uniform steckte, deren Leben mit einer Regel organisierte und damit die erste christliche Politeia im kleinen schuf, um diesen Gottesstaat als christliche »Sonderwelt« (Heussi) vom Rest der Welt säuberlich zu trennen. Diese Pachomius-Regel, die alsbald auch auf neu gegründete Nonnenklöster ausgeweitet wurde, gilt allgemein als die Grundlage des christlichen Mönchtums. Allerdings muß man auch diesen Schritt wiederum vor dem allgemeinen kirchengeschichtlichen Hintergrund sehen, denn mit dem Toleranzedikt von Mailand 313 war die Epoche der Verfolgungen für die Christen erst mal beendet, und deren defensive Abwehr der heidnischen Welt wandelte sich zur offensiven Aneignung der heidnischen Welt. Deshalb wandelte sich auch das Bild des idealen Christen vom Märtyrer, der sich standhaft in der Verfolgung zeigt, zum Mönch, der durch Gebet, Arbeit und Askese nicht nur sich selbst überwindet wie der Märtyrer, sondern darüberhinaus auch noch die Welt im christlichen Sinn beispielhaft durch Gebet und Arbeit gestaltet. Dieser Wandel von der Defensive zur Offensive zeigt sich auch in der militaristischen Metaphorik – der Mönch als »Gotteskrieger« – und in der Rolle, die nun der Teufel als Vertreter und Inkarnation der zu besiegenden heidnischen Welt spielt. Hand in Hand damit wandelte sich schließlich auch die bislang dominierende eschatologische Ausrichtung des Christentums in eine utopische, weil die eschatologische Einstellung das Ende der Welt mehr oder weniger gespannt und mit Hoffen oder Bangen bloß erwartet, das utopische Denken135 jedoch dazu tendiert, utopische Ideale tatsächlich auch zu realisieren. Eine dieser spezifisch christlichen Utopien ist das Gottesreich, die christliche Politeia, und das Kloster ist der Versuch, dieses Gottesreich auf Erden im Modell vorwegzunehmen. All dies verlangt natürlich sofort auch den Aufbau von Machtstrukturen und Gehorsams- und Befehlshierarchien, die in der Pachomius-Regel in dem Katalog von Strafen ja auch deutlich sichtbar werden, weil das Zusammenleben der Mönche in einem Kloster nicht mehr das lockere Zusammenleben von Eremiten ist, die sich freiwillig um einen besonders verehrten Asketen scharen, sondern ein Staat im Kleinformat, der durch einen Abt aufgrund einer Regel genauso streng regiert und dadurch auf Dauer gestellt 401 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wird wie Platons Politeia durch einen Philosophen. Jacob Burckhardt moniert denn auch den »öden, polizeilichen Eindruck« 136, den die Pachomius-Regel durch ihre Strenge vermittelt. In dieser Phase der offensiven Aneignung und Umgestaltung der heidnischen Welt begann die von manchen Christen heftig beklagte Verweltlichung des Christentums, weil die Aneignung der Welt durch das Christentum ohne Aufnahme von Welt ins Christentum eben nicht zu haben ist: Die katholische Kirche wurde eine christliche Institution, die immer zugleich auch eine weltliche Institution mit weltlichen Machtansprüchen war, und dies auch bis heute geblieben ist. Mit welcher Selbstverständlichkeit in den christlichen Texten des vierten Jahrhunderts diese neue Sprache der Macht schon gesprochen wurde, zeigt eine Denkschrift, die Firmicus Maternus in der Zeit um 348 an die beiden Kaiser Konstans I. und Konstantius II. richtete, die aus einem familieninternen Blutbad übrig geblieben waren und das Reich dann unter sich aufgeteilt hatten. In dieser Denkschrift werden beide aufgefordert, die antiheidnische Religionspolitik ihres Vaters Konstantin noch zu überbieten, alle heidnischen Tempel schließen zu lassen, deren Anhänger hinzurichten und ihr Vermögen einzuziehen: »Denn auch euch, allerheiligste Kaiser, wird der Zwang zu züchtigen und zu strafen aufgenötigt, und er wird euch durch das Gesetz des höchsten Gottes geboten, daß eure Strenge die Untat des Götzendienstes in jeder Weise verfolge.« 137

Dann wird ausführlich auf den jüdischen König Josia verwiesen, der die fundamentalistische Religionspolitik der Jahwe-allein-Bewegung willig in die Tat umgesetzt hatte, und dann folgt der Appell an die beiden Kaiser, sich diesen König Josia zum Vorbild zu nehmen und Abgötterei aller Art mit Stumpf und Stiel auszurotten. Um ein Haar wäre es aber den Christen selbst so ergangen, als Julian Apostata 361 den Thron bestieg und die heidnische Restauration 138 einleitete, aber schon zwei Jahre später war dieses heidnische Intermezzo beendet, weil Julian beim Feldzug gegen die Perser umkam. Damit war die letzte existentielle Gefährdung des Christentums vorbei, das nunmehr seinen Siegeszug durch das Römische Reich ungehindert antreten konnte. 402 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Bezeichnenderweise beginnt zeitgleich mit der Krise des Christentums um 360 eine große Welle von Klostergründungen im ganzen Reich; Heussi spricht sogar von einer »Massenbewegung, die sich mit suggestiver Gewalt vollzog« (S. 113): • 358 gründet Basilius von Caesarea ein Kloster in Pontos und schreibt dafür seine beiden Regeln; • 360 veröffentlicht Athanasius seine Hagiographie des Wüstenvaters Antonius; • 361 übersetzt der Eremit Euagrius diese ins Lateinische; • 361 gründet am anderen Ende des Reiches Martin von Tours das erste Kloster Galliens in der Nähe von Poitiers; • 371 gründet Ambrosius von Mailand das erste Nonnenkloster im Westen; • 379 überbietet Hieronymus, der seit 374 selbst als Eremit in Syrien lebt, die Vita Antonii mit seiner Vita Pauli 139, in der er Paulus von Theben als den wirklich ersten und noch vollkommeneren Anachoreten feiert; • 386 tritt Augustinus in ein Kloster ein, entwirft bald darauf eine Mönchsregel und wird 391 Priester; • 391 wird durch Kaiser Theodosius das Christentum in seiner katholischen Variante zur Staatsreligion des Römischen Reiches erklärt, und das von Firmicus Maternus vierzig Jahre vorher geforderte fundamentalistische Josia-Programm kann endlich verwirklicht werden und wird in der Kirchengeschichte des Theodoret von Cyrus 140 mit größter Genugtuung beschrieben; • im selben Jahr 391, in dem das Christentums zur Staatsreligion erhoben wird, erscheint bezeichnenderweise auch die Abhandlung De officiis ministrorum, in der Ambrosius, der Bischof von Mailand, in engster Anlehnung an Ciceros Abhandlung De officiis eine Pflichtenlehre für alle Funktionsträger in der katholischen Kirche entwirft, die alle späteren Mönchsregeln entscheidend prägen wird, weil mit dieser Pflichtenregel die Linie vorgegeben wird, um den imperial verfügenden Zugriff der Bischöfe auf die Klöster, den der Äbte auf die Mönche und den des einzelnen Mönchs auf seinen Körper zu organisieren und zur völligen Verfügungsgewalt zu steigern. Das war wohl auch der Grund, weshalb Augustinus in diesem Jahr Priester geworden 403 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und damit in die klerikale Hierarchie eingetreten ist, denn nun konnte er an diesen drei Zugriffen ganz offiziell teilhaben. Alle weiteren Klosterregeln, z. B. die des Johannes Cassianus von 420, die Magister-Regel von 510, die Nonnen-Regel des Caesarius von Arles von 512 und vor allem die berühmte Benedikt-Regel von 529 liegen dann ganz auf dieser Linie. Ein Aspekt dieses imperial verfügenden Zugriffs auf den eigenen Körper ist die generelle Tendenz, das Lachen zu vermeiden, und diese Tendenz wird, wie wir sehen werden, im Lauf der Entwicklung bis zu Benedikt immer konsequenter. Der imperial verfügende Zugriff der Päpste auf die Bischöfe begann im Jahr 440, als Papst Leo I. den Anspruch erhob, der alleinige Stellvertreter Christi (vicarius Christi) auf Erden zu sein und daraus den Primat des römischen Bischofs gegenüber allen anderen ableitete. Analog dazu wurde dann auch der Abt eines Klosters als Stellvertreter Christi im Kloster verstanden, was seine institutionelle Macht noch weiter steigerte. In den Regelwerken des Magisters und Benedikts hundert Jahre später wird diese Position des Abtes schon als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Nachdem wir hiermit den zeitgeschichtlichen Rahmen kurz umrissen haben, können wir in den nun folgenden Kapiteln zur Analyse von Zeugnissen der mönchischen Lebensform unter gelotologischen Aspekten übergehen, wobei wir chronologisch vorgehen wollen, um die ideengeschichtliche Entwicklung deutlich zu machen, uns aber nicht am Datum der Veröffentlichung dieser Zeugnisse orientieren, sondern am beschriebenen Zeitraum. 2.6.6.3 Die Apophthegmata Patrum Die Apophthegmata Patrum sind eine Sammlung von ca. 1200 lehrhaft erbaulichen Anekdoten über das Leben der frühen ägyptischen Anachoreten, die offenbar von deren Schülern oder Verehrern gesammelt, aufgezeichnet und verbreitet worden sind. Sie beschreiben den Zustand des frühen Mönchtums in der Phase, als sich schon die ersten Schüler um besonders verehrte Anachoreten sammelten, die Form ihres Zusammenlebens aber noch in keiner 404 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Weise institutionell oder organisatorisch geregelt war. Die Mönche, die in dieser lockeren Form in unmittelbarer Nähe zueinander in ihren Hütten und Höhlen zusammenlebten, bildeten also ohne Mauer, Abt und Regel eine Gesellschaft von prinzipiell Gleichrangigen, in der jeder einzelne Eremit für sich selbst, für seine materielle Absicherung und für sein Seelenheil verantwortlich war. Die Anekdoten, die in den Apophthegmata über diese Anachoreten erzählt werden, berichten im wesentlichen von dem Kämpfen der Wüstenväter mit Dämonen aller Art und von sonstigen Versuchungen, die in der Einsamkeit aufzutauchen pflegen. Vom Lachen ist so gut wie nie die Rede. Es gibt allerdings auch die Anekdote Nr. 13 über den Wüstenvater Antonius, die es verdient, eigens erwähnt zu werden, schon deshalb, weil sie in der Darstellung von Athanasius nicht auftaucht, obwohl sie dort gut hingepaßt hätte. Sie zeigt nämlich den schon alten Antonius scherzend und lachend im Kreise seiner Anhänger, spielt also wohl irgendwann in der religionspolitisch entspannten Zeit nach dem Toleranzedikt von Mailand, also irgendwann zwischen 313 und 350, und da lesen wir: »Da war einer, der in der Wüste nach wilden Tieren Jagd machte. Er sah, wie der Altvater Antonius mit den Brüdern Kurzweil trieb, und er nahm Ärgernis daran. Da nun der Greis ihm klarmachen wollte, daß man sich zuweilen zu den Brüdern herablassen müsse, sprach er zu ihm: ›Lege einen Pfeil auf den Bogen und spanne!‹ Er machte es so. Da sagte er zu ihm: ›Spanne noch mehr!‹ und er spannte. Abermals forderte er ihn auf: ›Spanne!‹ Da antwortete ihm der Jäger: ›Wenn ich über das Maß spanne, dann bricht der Bogen.‹ Da belehrte ihn der Greis: ›So ist es auch mit dem Werk Gottes. Wenn wir die Brüder übers Maß anstrengen, versagen sie schnell. Man muß also den Brüdern ab und zu entgegenkommen.‹ Als der Jäger das hörte, ging er in sich, und mit großem Gewinn.« (S. 17)

Wir sehen also, wie der Wüstenvater Antonius als Anwalt von Aristoteles und Cicero, aber auch von Clemens und Laktanz auftritt und eine Apologie der aristotelisch-ciceronischen Eutrapelie vorträgt, die er mit der stoischen tonos-Lehre verknüpft hat und gegen einen Weltmann verteidigt, der asketischer sein will als der Asket selbst. Mit einem Wort: Antonius erscheint in der Schützen-Anek405 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dote als die christliche Variante des heiteren Weisen, der das Ansinnen des Jägers, sich gefälligst als christliche Variante des stoischen Weisen zu verhalten, milde, aber entschieden abweist. Daß Antonius bzw. der Erzähler dieser Anekdote die aristotelisch-ciceronische Eutrapelie sehr genau verstanden und wohlwollend aufgenommen haben muß, zeigt sich, wenn wir die einschlägige Passage in der Nikomachischen Ethik bzw. in Ciceros Abhandlung De officiis141 nachlesen, denn Aristoteles und Cicero liefern dort natürlich nicht eine Apologie der Spaßgesellschaft, in der man sich buchstäblich zu Tode amüsieren kann, sondern rechtfertigen das eutrapelistische Scherzen und Lachen ausdrücklich nur als Mittel der Entspannung und als Erholung nach anstrengender Arbeit aller Art. So heißt es z. B. bei Aristoteles: »Die Glückseligkeit besteht mithin nicht in den Vergnügungen, nicht in Spiel und Scherz. Es wäre ja ungereimt, wenn unsere Endbestimmung Spiel und Scherz wäre, und wenn die Mühe und das Leid eines ganzen Lebens das bloße Spiel zum Ziel hätte. Fast alles begehren wir als Mittel, ausgenommen die Glückseligkeit, die ja Zweck ist. Nun erscheint es doch als töricht und gar zu kindisch, kindischen Spieles wegen zu arbeiten und sich anzustrengen; dagegen der Spruch des Anacharsis: ›Spielen, um zu arbeiten‹, darf als die richtige Maxime gelten. Das Spiel ist ja eine Art Erholung, und der Erholung bedürfen wir darum, weil wir nicht ununterbrochen arbeiten können. Nun ist aber die Erholung nicht Zweck, weil sie der Tätigkeit wegen da ist. Auch scheint das glückselige Leben ein tugendhaftes Leben zu sein. Dieses aber ist ein Leben ernster Arbeit, nicht lustigen Spiels. Das Ernste nennen wir ja besser als das Scherzhafte und Lustige, und die Tätigkeit des besseren Teiles und Menschen nennen wir immer auch ernster. Nun ist aber die Tätigkeit des Besseren vorzüglicher und so denn auch seliger.« (S. 247 f., 1176b–1177a)

Bei Cicero wird ganz analog argumentiert: »Denn nicht mit der Bestimmung sind wir von der Natur in die Welt gesetzt worden, daß wir zu Spielerei und Spaß geschaffen zu sein scheinen, vielmehr zu Lebensernst und bestimmten bedeutsameren und größeren Aufgaben. Zwar darf man jenes Spiel und jenen Scherz genießen, aber wie Schlaf und sonstige Entspannung erst dann, wenn wir bedeutsamen und ernsten Aufgaben Genüge getan haben. Und die

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Art selbst des Scherzens darf nicht ausgelassen und maßlos sein, sondern vornehm und witzig.« (I,103, S. 91)

All diese Erwägungen ließen sich für Antonius bzw. für den Übermittler der Anekdote offensichtlich völlig problemlos mit dem asketisch-ernsten Leben eines christlichen Anachoreten vereinbaren. Aber im monastischen Diskurs der Kirchenväter wurde, wie wir sehen werden, diese Einstellung schon bald und endgültig ab dem Jahr 391 als unernste und unchristliche Weltverfallenheit immer strenger verpönt. Außerdem sehen wir Antonius im Kreise seiner Brüder als primus inter pares, also auf Augenhöhe mit ihnen, weil das mönchische Zusammenleben in dieser Phase seiner Entwicklung noch ohne Mauer, Abt und Regel abläuft, das heißt: ohne Demutshierarchie und Gehorsamspflichten und damit ohne institutionalisierte Macht. Das Zusammenspiel von Vertrauen und Verfügen ist noch ausgeglichen, und deshalb geht aus dieser Anekdote auch hervor, daß in dieser vor-klösterlichen Phase ein asketisches Leben mit dem eutrapelistischen Scherzen und Lachen nicht nur als vereinbar galt, sondern sogar als existenz- und heilsnotwendige Entspannung angesehen wurde, um das anachoretische opus dei zu realisieren. Oder anders formuliert: Das lachsoziologische Modell der aristotelischen Eutrapelie konnte am Ende der könobischen Phase des Mönchtums gerade noch verwirklicht werden. So locker und vertrauensvoll herrschaftsfrei, wie Antonius und seine Jünger miteinander als Gefährten und Verbündete umgingen, gingen sie auch mit sich selbst und ihrem Körper als »Gefährten und Verbündeten der Seele« (Clemens) um. Soweit ich sehe, steht diese Anekdote in der Mönchsliteratur der Kirchenväter einzig da und vergegenwärtigt einen Stand der gelotologischen Entwicklung in der Christenheit, der sich an Autoren wie Clemens, Laktanz und Athanasius orientiert, dann aber alsbald durch eine Demuts-Rhetorik und Lach-Feindschaft verdrängt wird, sobald das mönchische Leben durch Mauer, Abt, Tracht und Regel geprägt wurde. An die Stelle der wegweisenden Mentoren Aristoteles, Cicero, Clemens und Laktanz treten dann Johannes Chrysostomus, Ambrosius und Augustinus. Bezeichnenderweise taucht die Schützen-Anekdote erst wieder 407 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bei Jacob de Voragine auf, der sie in das Antonius-Kapitel seiner Legenda aurea 142 aufnimmt und liebevoll ausmalt. Sie findet sich aber auch bei Thomas von Aquin in der Summa theologiae 143, der sie aber nicht dem Wüstenvater Antonius zuschreibt, sondern dem Evangelisten Johannes. Beide Werke sind um 1270 entstanden und gelten als Meilensteine der hochmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. Daß Thomas die Schützen-Anekdote dem Evangelisten Johannes zuschreibt, verleiht der Moral, die er daraus ableitet, natürlich ein noch viel größeres Gewicht, und diese Moral ist eine theologische Apologie der aristotelischen Eutrapelie, die sogar explizit als Tugend bezeichnet wird: »Mit Spiel und Scherz, die zuweilen zur Gemütserquickung nützlich sind, hat es jene Tugend zu tun, die man eutrapelia nennt (Spaßgeschicklichkeit).« (III,545)

Damit bewegt sich Thomas auf dem Stand der theologischen Rechtfertigung des Lachens, der bei Clemens und Laktanz tausend Jahre vorher schon einmal erreicht war, dann aber wieder verlorengegangen ist. Allerdings hatte Wilhelm von Conches mit seiner theologischen Rechtfertigung des Lachens schon kräftig vorgearbeitet, da er 150 Jahre vorher schon einen heiter lachenden Schöpfergott präsentiert hatte, aus dessen Händen ein heiter lachender Adam entspringt. Doch im 19. Jahrhundert wird die Schützen-Anekdote wieder aus allen Volksausgaben der Legenda aurea entfernt, weil die Zeit nach der Französischen Revolution auch für die katholische Kirche das Jahrhundert des »verlorenen Lachens« (Gottfried Keller) war, in dem der Kampf gegen die Moderne auf allen Ebenen geführt werden mußte. So gesehen ist die Duldung dieser Schützen-Legende in der Literatur für katholische Laien geradezu ein Indikator für den jeweiligen Grad an Liberalität, den die katholische Kirche sich selbst und ihren Anhängern erlaubte und zutraute. Wir werden sehen, daß sich an den europäischen Höfen eine durchaus analoge Entwicklung ergab, als das eutrapelistische Scherzen und Lachen auf Augenhöhe an den Fürstenhöfen der Renaissance durch die Entwicklung zur streng hierarchischen Hofgesellschaft des Absolutismus sofort erstarb, sodaß sich auch hier der Schritt von Aristoteles zurück zu Augustinus wiederholte als Schritt von Castiglione zurück zu Gracián und La Rochefoucauld. 408 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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2.6.6.4 Die Vita Antonii Die Vita Antonii des Bischofs Athanasius aus Alexandria von 360 beschreibt den Wüstenvater Antonius mit sichtlicher Sympathie als Modell eines Anachoreten, der aus reichem Hause stammt, nach dem Tod der Eltern sein ganzes Vermögen verschenkt, sich in die Wüste zurückzieht und dort ein heroisches Asketenleben im ständigen Kampf gegen Dämonen und Teufel führt, die er jedoch alle glanzvoll abwehrt. Außerdem wird ausführlich beschrieben, wie sich nach und nach weitere Eremiten um ihn scharen, wie er sich immer wieder in noch größere Einsamkeit zurückzieht, sodaß man ihn schließlich fast mit Gewalt aus einer Festung holen muß, in die er sich zwanzig Jahre lang in grabähnlicher Abgeschiedenheit eingeschlossen hatte. Begründet wird dieser Wille zur radikalen Askese mit dem Argument, »die Spannkraft der Seele sei dann groß, wenn die Begierden des Körpers ohnmächtig seien.« (II,698) Dieses Argument haben wir ja schon bei Johannes Chrysostomus gefunden, der es aber wohl nicht ganz verstanden hatte, weil er es als Argument gegen das Lachen verstand, wohingegen die stoische tonos-Lehre, wie die Schützen-Anekdote aus den Apophthegmata Patrum zeigt, sehr wohl auch als Argument für das Lachen verwendet werden kann, da es um das jeweilige Maß der Spannung geht, der jemand ausgesetzt werden darf. Athanasius hat die tonos-Lehre offensichtlich sehr viel genauer verstanden als sein bischöflicher Kollege Chrysostomus, weil er im Gefolge von Aristoteles, Cicero, Clemens und Laktanz das Lachen als ein Proprium auch des Christen ansieht und deshalb seinen Antonius als einen trotz aller Askese heiteren Menschen zeichnet, der im Leben schon das strahlende Lächeln des Auferstandenen zeigt, wie wir dies in der Geschichte des Ordenswesens erst wieder in den Beschreibungen des Franz von Assisi tausend Jahre später finden: »Sein Angesicht strahlte in reicher und seltener Anmut. Auch diese Gabe besaß er vom Heiland. (…) Aber nicht durch Größe oder kräftige Gestalt unterschied er sich von den übrigen (Anachoreten), sondern durch die Art seines Wesens und die Reinheit der Seele. Denn da sie voll Ruhe war, waren auch seine äußeren Sinne im Gleichgewicht; die

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Heiterkeit der Seele drückte auch seinem Gesicht den Stempel der Freude auf und umgekehrt, aus den Bewegungen seines Körpers merkte und ersah man die Verfassung der Seele nach dem Worte der Schrift: ›Wenn das Herz sich freut, strahlt das Antlitz. Wenn es aber traurig ist, sieht es finster aus.‹« (II,753)

Mit einem Wort: Das Bild, das Athanasius von seinem Antonius als dem Muster eines Anachoreten zeichnet, ist das ins Christliche übertragene Bild der demokritischen Euthymie, wobei ich hier natürlich den historischen Demokrit meine, nicht den des Briefromans. Aber diese Euthymie kann laut Athanasius und Clemens nur der vollkommene Christ erreichen, weil nur er die Dämonen der Affekte in sich und um sich herum zu bändigen vermag. So beschreibt z. B. Athanasius den Auftritt seines Helden nach dessen 20-jähriger grabähnlicher Klausur im Keller einer Festung wie die Auferstehung von den Toten und verleiht seinem Antonius ganz im Sinne von Clemens das sieghaft strahlende Lächeln des auferstandenen Christus: »Die Verfassung seines Inneren aber war rein; denn weder war er durch den Mißmut grämlich geworden noch in seiner Freude ausgelassen, auch hatte er nicht zu kämpfen mit (Verlegenheits-)Lachen oder Schüchternheit; denn der Anblick der großen Menge brachte ihn nicht in Verwirrung, man merkte aber auch nichts von Freude darüber, daß er von so vielen begrüßt wurde. Er war vielmehr ganz Ebenmaß (gemeint ist Ausgeglichenheit, symmetria), gleichsam geleitet von seiner Überlegung, und sicher in seiner ihm eigentümlichen Art.« (II,705)

2.6.6.5 Die Engelsregel des Pachomius Der Ägypter Pachomius (ca. 290–345) gilt allgemein als der Erfinder des Klosters, da er als Erster das lockere Zusammenleben der Anachoreten in einzelnen Hütten und Höhlen ohne Abt und Regel durch eine neue Lebensform ersetzte, die durch ein Regelwerk und klare Hierarchien eine genau geordnete Sonderwelt schuf, sie durch eine Mauer umgab und dadurch von der sonstigen Welt deutlich abtrennte. Damit war Pachomius zugleich auch der erste Christ, der aus dem Scheitern der eschatologischen Nah-Erwartung des 410 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ausgehenden zweiten Jahrhunderts die Konsequenzen gezogen und für die nunmehr utopisch orientierte Grundausrichtung der Christenheit mit dem Kloster eine neue Lebensform geschaffen hatte, in der die christliche Politeia modellhaft verwirklicht und demonstrativ vorgelebt werden konnte. Pachomius 144 hatte erst längere Zeit als Soldat und Offizier gedient, bevor er 313, im Jahr des Toleranzedikts von Mailand, getauft wurde und sich alsbald dem Anachoreten Palamon anschloß und mit ihm zusammenlebte. Aber schon nach einigen Jahren gründete er um 320 bei Tabennesi am Nil das erste echte Kloster im heutigen Sinn, dem alsbald weitere folgten, sodaß schließlich eine ganze Kette von Klöstern mit einigen tausend Mönchen und Nonnen die Ufer des Nils säumten. Daß nach dem Toleranzedikt von Mailand nicht nur das Christentum allgemein sich rasch ausbreitete, sondern auch die spezielle Form des klösterlich-mönchisch praktizierten Christentums einen solch starken Zulauf erfuhr und die dort geforderte und gelebte Entpersönlichung für die Zeitgenossen der frühen Christenheit nicht nur kein Problem, sondern sogar eine große Verlockung gewesen zu sein scheint, geht aus einer Passage aus der Biographie des orientalischen Mönches Malchus hervor, die Hieronymus um 380 veröffentlichte. Selbst wenn man die propagandistische Absicht dieses Werks berücksichtigt, bleibt immer noch bemerkenswert, wie groß die Sehnsucht nach dem Aufgehen des Individuums in einer gesichtslosen Masse ist, mit der Hieronymus hier seinen Helden Malchus ausstattet, der als Anachoret allein in der Wüste lebt, denn dort heißt es: »Nach langer Zeit saß ich einmal allein in der Wüste, ohne etwas anderes zu erblicken als Himmel und Erde. In stilles Nachdenken versunken gedachte ich unter anderem auch des Zusammenlebens mit den Mönchen. Besonders erinnerte ich mich der Gesichtszüge des Abtes, der mich unterwiesen, zurückgehalten und verloren hatte. Während mich solche Gedanken beschäftigten, sehe ich, wie es auf einem engen Fußwege von Ameisen wimmelt. Erstaunen mußte man über die Lasten, welche sie trugen, schwerer als ihr Körpergewicht. Einige schleppten mit ihren Freßzangen Samenkörner herbei; andere entfernten den Boden aus den Gängen und errichteten Dämme, um

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den Wasserzufluß abzugraben. Eine weitere Gruppe sorgte für den kommenden Winter und biß die Keime der einzelnen Samenkörner ab, damit nicht etwa der feuchte Boden die Vorratskammern in Gemüsegärten verwandle. Eine letzte Abteilung schaffte in ernster Trauer (!) die Leichen fort. Am meisten jedoch fiel bei dieser großen Menge auf, daß die eine der anderen nicht im Wege war. Ja, wenn sie sahen, daß eine unter der bürdevollen Last zusammenbrach, dann stellten sie ihre Schultern hilfsbereit zur Verfügung. Wirklich, dieser Tag bot mir ein herrliches Schauspiel. Ich dachte an Salomon, der uns zu den fleißigen Ameisen schickt und träge Geister durch ihr Beispiel aufrüttelt. Ich fing an, der Gefangenschaft überdrüssig zu werden und mich nach den Klosterzellen zu sehnen. Jenen Ameisen wünschte ich gleich zu werden, bei denen man für das Wohl des Einzelnen arbeitete, wo dem Einzelwesen nichts eignet, vielmehr allen alles gehört.« 145

Die rasche Ausbreitung der klösterlich-mönchischen Lebensform verdankt sich wohl auch dem Zustand, daß die Ameisenstaaten des Pachomius durch ihre militärisch straffe arbeitsteilige Organisation weitgehend autark waren, durch das Armutsgelübde der Mönche und Nonnen extrem kostengünstig bei der Verfertigung von Matten, Körben und Seilen arbeiten konnten und dadurch allen weltlichen Manufakturen weit überlegen waren. Dazu kam noch der sehr einträgliche Betrieb von Nil-Fähren 146, und all dies zusammen bewirkte, daß die Klöster des Pachomius auch wirtschaftlich gesehen ein riesiger Erfolg waren. Wenn man das Regelwerk des Pachomius 147 unbefangen liest, so hat man denn auch den Eindruck, man lese nicht das Regelwerk eines Klosters, sondern eher das Regelwerk eines industriellen Produktionsbetriebs, dessen oberstes Ziel die optimale Organisation der Arbeit ist und deshalb alles am Kriterium der Disziplin mißt. Gebet und Arbeit sind also noch nicht ganz ausgewogen verteilt, weil die Regelung der Arbeit deutlich den Vorrang hat. Hier zeigt sich wohl auch etwas von der soldatischen Vergangenheit, die Pachomius hinter sich hatte, da er seine Mönche so straff führte wie ein Feldherr seine Armee. Deshalb kann es auch nicht verwundern, daß Pachomius in seinem Regelwerk so großen Wert auf die genaue Kleiderordnung seiner Mönche legt, die so strikt normiert wurde 412 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wie eine Uniform, und daß er ein detailliertes System von Strafen einführte, um die Disziplin seiner Mönche in allen Dingen sicher zu stellen, und hier spielt natürlich auch das Lachen eine gewisse Rolle. In der Historia Lausiaca des Palladius wird geschildert, wie Pachomius aus den Händen eines Engels eine eherne Tafel überreicht bekommt, auf der sein Regelwerk eingetragen ist 148, weshalb sich dafür auch die Bezeichnung »Engelsregel« eingebürgert hat. Durch diese heiligmäßige Stilisierung des Pachomius zu einem zweiten Moses bekam auch sein Regelwerk gleichsam göttliche Weihen und dadurch wiederum kanonische Geltung und konnte zum Muster für alle späteren klösterlichen Regelwerke werden, wobei sich allerdings durch die Einbettung dieser Regelwerke in den jeweiligen historischen Rahmen mancherlei Veränderungen in der Wahl der Schwerpunkte ergaben. Ganz allgemein aber kann man sagen: So wie der Schritt vom organisatorisch lockeren Konöbium des Wüstenvaters Antonius zum Kloster des Pachomius den imperial verfügenden Zugriff der Klosterleitung auf den einzelnen Mönch und den des einzelnen Mönches auf seinen Körper verschärfte, so verschärfte sich diese Tendenz weiter in der Entwicklung der Regelwerke von Pachomius zu Benedikt, wo sie ihren Höhepunkt und Abschluß fand. Ablesbar ist diese allgemeine Tendenz besonders deutlich am Verhältnis zum Lachen, das bei Antonius noch als Eutrapelie gepflegt wird, bei Pachomius zwar in ganz bestimmten Situationen und bestimmten Ausformungen verpönt wird, sonst aber nicht weiter als Problem angesehen wird, bei Basilius, Ambrosius, Augustinus, beim Magister und bei Benedikt jedoch immer massiver eingeschränkt und schließlich generell verboten wird. Im Regelwerk des Pachomius taucht das Lachen viermal als Thema auf, und wird jedes Mal sehr differenziert behandelt. So heißt es z. B. in den »Geboten« unter Nr. 8: »Wenn es vorkommen sollte, daß einer während des Psallierens (d. h. während des gemeinsamen Gesangs von Psalmen) oder Betens oder während der Lesung (aus der Bibel) schwätzt oder lacht 149, dann soll er sogleich den Gürtel lösen und mit nach unten angelegten Händen vor dem Altar stehen und vom Klosteroberen ausgescholten werden.

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Das gleiche soll er bei der Zusammenkunft der Brüder tun, wenn sie sich zum Essen versammeln.« (II,84)

Lachen gilt für Pachomius also nur in bestimmten Situationen, die besondere Aufmerksamkeit und würdigen Ernst verlangen, als Disziplinlosigkeit und wird durch eine Art von Pranger bestraft, wobei der Delinquent explizit den Habitus der akuten Scham einzunehmen hat. Daß er dabei außerdem auch noch den Gürtel abzulegen hat, liegt wohl daran, daß der Gürtel (cingulum) schon bei Pachomius als das Element der mönchischen Tracht angesehen wurde, das den Mönch ganz wörtlich »zusammenhält«, ihm hilft, sich »zusammenzunehmen« oder »zusammenzureißen«, und somit der Mauer entspricht, die die gesamte klösterliche Festung zusammenhält und die gesamte klösterliche Lebensform diszipliniert und vor der Auflösung durch Ausgelassenheit und Formzerfall bewahrt. Dieses höchst sinnfällige Strafritual verdankt sich sicher der soldatischen Vergangenheit des Pachomius, der das Cingulum 150 wohl als einen Rest von Rüstung angesehen hat, und paßte außerdem gut zu dem Verständnis des Mönches als einem Soldaten Christi (miles Christi). Auch die zweite Erwähnung des Lachens führt dieses als Beispiel von mangelnder Disziplin und als Mißachtung des rechten Maßes an und orientiert sich dadurch immer noch ganz am antiken Würdeideal, das Aristoteles in seinen ethischen Schriften entworfen hatte, wenn es in den »Geboten und Weisungen« heißt: »Wer lügt oder überführt wird, daß er jemanden haßt, oder ungehorsam ist oder über das Schickliche hinaus dem Scherz (iocus) zugetan ist oder träge ist oder grobe Antworten gibt oder die Angewohnheit hat, seine Mitbrüder oder die Leute draußen herabzusetzen, und überhaupt was immer gegen die Vorschrift der Heiligen Schrift und die Klosterdisziplin (contra monasterii disciplinam) ist, das soll dem Vater des Klosters zur Kenntnis gebracht werden und der soll es nach Maßgabe und Eigenart des Vergehens ahnden.« (II,228)

Was für die gewöhnlichen Mönche gilt, das gilt für die Vorstände eines Klosters natürlich erst recht, für die Pachomius eigens eine Liste von Regeln zusammengestellt hat, die sich, was das Lachen angeht, auf wohlvertrautem Gelände bewegt, wenn z. B. das alte »salomonische« Würde-Ideal des Gerechten und Frommen ange414 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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mahnt wird und Pachomius von seinen Vorständen deshalb verlangt, sie sollten sich nicht »wie die Toren im Lachen und Scherzen gehen lassen.« (II,231). All diese Einschränkungen des Lachens im Regelwerk des Pachomius folgen, wie man sieht, einer altbekannten und nachvollziehbaren Argumentation, weil die Engelregel nicht Gelächter jeder Art einfachhin und generell verbietet, sondern nur bestimmte, d. h. aggressive und beleidigende Formen des Lachens, und weil sie das Lachen strikt vor dem Hintergrund bestimmter Situationen sieht, dementsprechend bewertet und dann nur noch von Fall zu Fall verpönt. Das Regelwerk des Pachomius besteht also nicht aus »dogmatischen«, sondern aus »speziellen Handlungsnormen« 151, die bestimmte Verhaltensschemata strikt auf bestimmte SituationsSchemata beziehen und nur das Zusammenspiel beider moralisch bewerten. Somit argumentiert Pachomius auch methodologisch gesehen ganz im Sinne Ciceros, der in seiner Pflichtenregel De officiis erklärt hatte, bestimmte Formen des Scherzens und Lachens seien nur dann mit feiner Lebensart vereinbar, wenn dies »zur rechten Zeit« und »in gelöster Stimmung« (104/S. 93) geschehe. Bei den Nachfolgern des Pachomius ist dies ganz anders, da sie ausnahmslos alle die methodologische Sorgfalt des Pachomius in der moralischen Argumentation fallen lassen und in ihren Regelwerken nur noch dogmatische Gebote und Verbote formulieren und deshalb das Lachen in jeder Form generell dogmatisch verbieten. Dieselbe methodologisch laxe Unbedenklichkeit im moralischen Argumentieren legen die Nachfolger des Pachomius auch an den Tag, wenn es ums Strafen geht. Wenn Pachomius z. B. Disziplinlosigkeit durch die öffentlich einzunehmende Haltung akuter Scham bestraft, die Würde seiner Mönche jedoch immer noch so hoch achtet, daß er ausdrücklich anmahnt, niemand solle sich vor Scham zugrunde richten 152, so verordnen, wie wir sehen werden, Augustinus und Benedikt ihren Mönchen den Habitus akuter Scham nicht in bestimmten Situationen als Strafe, sondern als generellen, auf Dauer angelegten Habitus und erheben dies sogar noch zum Ideal mönchischer Demut. Ist das warnende Beispiel für Pachomius also der Ajax des Sophokles, der sich aus Scham über 415 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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seine Wahnsinnstaten ins Schwert stürzt, so ist das warnende Beispiel für Augustinus und Benedikt Luzifer, der zu hoch hinaus wollte und deshalb umso tiefer stürzte. Unter dem Aspekt der Disziplin muß man schließlich auch die vierte Erwähnung unseres Themas sehen, wenn Pachomius das Scherzen und Lachen älterer Mönche mit jüngeren, wie es die Apophthegmata Patrum vom Wüstenvater Antonius berichten, streng verbietet. Deshalb heißt es in den »Geboten und Entscheidungen« unter Punkt 7: »Wenn irgendeiner aus den Brüdern dabei ertappt wird, daß er gerne mit den Jungen lacht und scherzt und daß er Freundschaften mit jungen Leuten unterhält, soll man ihn dreimal verwarnen, vom Umgang mit ihnen abzulassen und auf Anstand und Gottesfurcht bedacht sein. Wenn er mit diesen Freundschaften nicht aufhört, soll man ihn so, wie er es verdient, in strengster Form zurechtweisen.« (II,257)

Mit dieser strengen Ermahnung geht es Pachomius aber nicht darum, die Atmosphäre christlich-heiterer Liberalität zurückzunehmen, die das Bild des scherzenden und lachenden Antonius im Kreise seiner Schüler evoziert, auch nicht um ein dogmatisches Verbot der aristotelischen Eutrapelie aus dem Geiste des Apostels Paulus, sondern es geht ihm allein darum, alles zu unterbinden, was die Beziehungen der Mönche untereinander erotisch aufladen könnte. Aus diesem Grund verbietet er auch ausdrücklich, daß Mönche sich gegenseitig berühren, zu zweit ohne Aufsicht in einer Zelle sind oder sich sonstwie zu nahe kommen 153 oder sich auch nur intensiver in die Augen schauen. Mit anderen Worten: Pachomius ging es darum, alles zu unterbinden, was irgendwie als gegenseitige erotische Verführung hätte wirken können. Aber auch bei diesem Verbot bleibt Pachomius seiner strengen methodologischen Disziplin treu und formuliert nicht ein dogmatisches Lachverbot, denn auch dieses Verbot ist wieder nur eine spezielle Handlungsnorm und verrät eher die Sorge des Pachomius um die Disziplin in seinen Klöstern als eine Aversion gegen das eutrapelistische Lachen und Scherzen in entspannter Atmosphäre.

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2.6.6.6 Die beiden Basilius-Regeln Die Klosterregeln des Basilius von Caesarea 154 entstehen zwar in etwa zur selben Zeit wie die Vita Antonii des Athanasius, also um 360, stehen aber in einer völlig anderen Argumentationstradition, wie wir sie in Ephräms Bußpredigt gegen das Lachen kennengelernt haben, sodaß man auch hier vom relativ liberalen Geist der Alexandriner nichts mehr findet. Basilius entwarf für die von ihm gegründeten Klöster zwei Regelwerke, die Längeren Regeln und kurz danach die Kürzeren Regeln, die in den meisten Punkten strenger sind. Was Basilius zu dieser allgemeinen Verschärfung seines Regelwerks veranlaßt hat, geht aus dem Text selbst nicht hervor; man darf aber annehmen, daß diese Verschärfung im Ton sich der Krise der Zeit um 360 verdankt, als durch den Kaiser Julian Apostata eine heidnische Renaissance drohte. Und da in der Stunde der Gefahr sich Ernst auszubreiten pflegt, erstirbt auch bei Basilius das Lachen zwischen der ersten und der zweiten Fassung seines Regelwerks. Im ersten Regelwerk wird die Frage, ob man auch im Lachen enthaltsam sein müsse, noch in der Art des Clemens recht differenziert beantwortet, wenn es unter Hinweis auf die »salomonische« Weisheitsliteratur heißt: »Diejenigen, die asketisch leben, müssen auf etwas besonders achten, was von den meisten übersehen wird. Sich unbeherrschtem und zügellosem Lachen hinzugeben, ist ein Zeichen von Unenthaltsamkeit. Es beweist einen Mangel an Selbstbeherrschung und zeigt, daß die Fahrigkeit (gemeint ist das Gegenteil von Festigkeit/constantia) der Seele nicht von der Vernunft streng beherrscht wird. Dagegen ist es keineswegs unschicklich, in sanftem Lächeln die Entspannung der Seele zu zeigen. (…) Aber laut herauszulachen, daß sich der ganze Mensch unfreiwillig schüttelt, geziemt sich nicht für ein ruhiges Gemüt, nicht für den Besonnenen und Selbstbeherrschten.« (S. 125)

Dann folgen all die klassischen Zitate aus den »salomonischen« Weisheitstexten, die wir alle längst kennen, und der obligatorische Hinweis darauf, daß Jesus nicht nur nicht gelacht habe, sondern vielmehr sein Wehe über die Lachenden verkündet habe (Lukas 417 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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6,25), und schließlich unter Hinweis auf das Lachen von Abraham und Sara die tröstliche Behauptung, auch die Bibel gestattete »Fröhlichkeit, die aus der Seele kommt.« (S. 126) Aber dann deutet sich schon eine Wende in der Haltung an, wenn Basilius empfiehlt, selbst diesen an sich ja erlaubten Freuden lieber doch nicht nachzugeben: »Wer daher über jeder Leidenschaft steht und keinen Reiz zu Lust mehr verspürt und zeigt, sondern beherrscht und fest jedem schädlichen Vergnügen widersteht, ist vollkommen enthaltsam; er ist offenkundig auch von jeder Sünde frei.« (S. 126)

Denn dann wird ganz im Stil des Bußpredigers Ephräm entschlossen zum Niederkämpfen des als Feind verstandenen peinlichen Erdenrestes namens Körper aufgerufen: »Die Enthaltsamkeit ist die Zerstörung der Sünde, die Vertreibung der Leidenschaften, die Abtötung des Körpers bis auf die natürlichen Regungen und Begierden; sie ist der Anfang des geistlichen Lebens, das Unterpfand der ewigen Güter, sie vernichtet in sich selbst den Stachel der Lust. Die Lust ist doch der schlimmste Köder des Bösen, der uns Menschen am meisten zur Sünde verführt. Wie eine Angel zieht sie die Seele in den Tod.« (S. 126)

In den etwas später entstandenen und viel strengeren Kürzeren Regeln wird auch das »sanfte Lächeln« des salomonischen Weisen nicht mehr zugelassen, der in den Längeren Regeln noch als Bekundung einer gebändigten Freude galt, denn nun heißt es als Antwort auf die 31. Frage, ob man denn überhaupt nicht lachen dürfe, kurz und bündig: »Da der Herr diejenigen, die jetzt lachen, verurteilt (vgl. Lk. 6,25), ist es ganz klar, daß der Gläubige nie Grund zum Lachen hat, zumal unter einer so großen Menge, die durch die Übertretung der Gebote Gott beleidigt und in ihrer Sünde stirbt. Ihretwegen muß man trauern und weinen.« (S. 214 f.)

Mit dieser Berufung auf das eschatologische Logion Lukas 6,25 hat sich Basilius wieder ganz auf die Linie der Bußprediger Ephräm und Chrysostomus ausgerichtet und sich der »Tränengnade« 155 anheimgegeben.

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2.6.6.7 Die Pflichtenregel des Ambrosius Als Kaiser Theodosius 391 das Christentum in seiner katholischen Variante zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhob, flankierte der Mailänder Bischof Ambrosius diese Maßnahme mit seiner Abhandlung De officiis ministrorum 156, in der er in enger Anlehnung an Ciceros Spätwerk De officiis eine Pflichtenregel für alle Funktionsträger der katholischen Kirche entwarf, die zugleich auch als Rahmen für alle weiteren Klosterregeln gedacht war. Ciceros Abhandlung ist die Auseinandersetzung eines entschiedenen Republikaners mit dem Politikverständnis einer neuen Garde römischer Machtmenschen, als deren typischster Vertreter ihm Caesar galt, und somit liest sich diese Abhandlung wie ein vernichtender Nachruf auf den eben ermordeten Caesar, dessen Tod Cicero mit grimmiger Befriedigung quittiert hatte, weil er in Caesar nur den von Gier nach unumschränkter Macht besessenen Politiker sah, der jedes Maß für sein politisches Handeln verloren hatte. Deshalb liest sich Ciceros Abhandlung zugleich auch als Aufruf zur Mäßigkeit in allen wichtigen Fragen der Lebenspraxis und damit zugleich wieder als flammendes Plädoyer für ein republikanisch strukturiertes Staatswesen, weil dies die Regierungsform sei, in der die Mäßigung des Willens zur Macht am ehesten und besten gelingt. Cicero stellt sich also wie so oft auch hier wieder in eine Argumentationstradition, die aristotelische und stoische Aspekte vereint, und dies gilt auch für die Art und Weise, wie er in seiner Abhandlung das Lachen zum Thema macht. Wir hatten gesehen, daß Aristoteles mit dem Ideal der Eutrapelie das Scherzen und Lachen zwar gerechtfertigt, zugleich aber auch durch seinen Nomos der eutrapelistischen Lachkultur deutliche Grenzen gezogen hatte, innerhalb derer dies zu geschehen habe, und deshalb hatte er z. B. das Witzeln um jeden Preis und den beleidigenden Spott streng verpönt. In etwa dieselbe Grenze zogen die römischen Stoiker, auch Ciceros direkter Gewährsmann Panaitios, durch ein steiles Ideal personaler Würde 157, und deshalb zitiert Cicero fast wörtlich aus der Nikomachischen Ethik (vgl. 1176b), wenn er in seiner Pflichtenlehre schreibt:

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»Denn nicht mit der Bestimmung sind wir von der Natur in die Welt gesetzt worden, daß wir zu Spielerei und Scherz geschaffen zu sein scheinen, vielmehr zu Lebensernst und bestimmten bedeutsamen und größeren Aufgaben. Zwar darf man jenes Spiel und jenen Scherz genießen, aber wie Schlaf und sonstige Entspannung erst dann, wenn wir bedeutsamen und ernsten Aufgaben Genüge getan haben. Und die Art des Scherzens darf nicht ausgelassen und maßlos sein, sondern vornehm und witzig.« (S. 91)

Diese Grenzen von Scherzen und Lachen, auf die wir bei der Rechtfertigung des scherzenden und lachenden Wüstenvaters Antonius inmitten seiner Schüler schon mal gestoßen sind, zieht Ambrosius nun etwas enger, indem er sich an Paulus orientiert, der in seinem Brief an die Epheser die Praxis der aristotelischen Eutrapelie restlos verworfen hatte, und schreibt in deutlicher Absetzung von dem »weltlichen Autor« Cicero: »Weltliche Autoren geben überdies noch viele Vorschriften über die Redeweise, die wir meines Erachtens übergehen dürfen. So über die Scherzrede. Sind nämlich Scherze158 dann und wann schicklich und köstlich, vertragen sie sich doch nicht mit der Kirchenregel. Wie könnten wir denn auch Dinge in den Mund nehmen, die wir in der Schrift nicht finden? Selbst bei Plaudereien sind sie zu meiden, damit sie nicht ein ernsthaftes Gesprächsthema seiner Würde entkleiden. ›Wehe euch, die ihr lacht! Ihr werdet weinen‹, warnt der Herr. Und wir wollten nach einem Stoff zum Lachen fahnden, um hier zu lachen, dort zu weinen? Nicht bloß lose, sondern alle Scherze überhaupt, meine ich, sollten vermieden werden.« (S. 872 f.)

Damit ist der im Kreise seiner Gefährten scherzende und lachende Wüstenvater Antonius zur mönchischen Unperson erklärt und seine Apologie der aristotelischen Eutrapelie ist endgültig zum Ärgernis geworden. Außerdem ist mit der Argumentation des Ambrosius in der gelotologischen Debatte der Kirchenväter ein völlig neues Argument aufgetaucht, auf das schon Curtius (S. 422) verwiesen hatte, wenn er davon spricht, daß das antike Würde-Ideal vom christlichen Mönchtum übernommen worden sei. Aber diese Übernahme des antiken Würde-Ideals durch das Mönchtum vollzog sich 420 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nicht schon bei den Anachoreten oder bei den Mönchen in den Klöstern des Pachomius oder Basilius, sondern erst in dem Augenblick, in dem die katholische Kirche Staatsreligion wurde. Das ist aber auch nicht weiter verwunderlich, denn wer auf diese Weise ein ausgeprägt elitäres Würde-Ideal einklagt, spricht schon die Sprache der Macht. Mit der Pflichtenregel von 391 hat Ambrosius eine Verhaltensnorm für alle vorgegeben, die im Raum der katholischen Staatskirche irgendeine Funktion erfüllen, und offensichtlich hat es auf lange Zeit hinaus auch niemand gewagt, diesen vorgegebenen Rahmen zu sprengen, denn alle Klosterregeln, die nach Ambrosius entstanden sind, bewegen sich strikt innerhalb dieses von Ambrosius vorgegebenen Rahmens und behandeln die Ächtung des eutrapelistischen Scherzens und Lachens als eine nicht mehr weiter zu diskutierende Selbstverständlichkeit und die Vermeidung des Lachens als die dem Mönch einzig angemessene Bekundung von Demut und Würde. Allerdings ist die vom kirchlichen Funktionsträger geforderte Demut durchaus ambivalent, denn diese Forderung nach Demut entpuppt sich, schaut man etwas kritischer hin, durch diese Anbindung der mönchischen Demut an das Würdeideal alsbald als die Sprache der Macht, weil jede Organisation um so machtvoller nach außen auftreten kann, je demütiger und gehorsamer ihre Funktionäre innerhalb der Organisation sich verhalten und je würdiger sie nach außen hin auftreten. Und außerdem steht hinter der Forderung an die Funktionsträger der Kirche, sich des Lachens strikt zu enthalten, das Argument, daß nur der wirkliche Herrschaft ausüben kann, der sich auch selbst zu beherrschen weiß. Schon Platon hatte dies von der Kaste der Wächter in seinem Idealstaat gefordert. Auf dieses Ambivalenz-Problem sind wir schon bei Chrysostomus und v. a. beim Ideal des stoischen Weisen gestoßen, der sich auch sofort als der perfekte Funktionär und als willfähriges Werkzeug in der Hand seiner Oberen entpuppte. Und deshalb orientiert sich Ambrosius mit seiner klerikalen Pflichtenlehre letztlich doch nur der Form nach an Ciceros republikanischer Pflichtenlehre, nicht aber an deren Tendenz, denn Cicero will ja vor der Gier nach Macht warnen, wohingegen Ambrosius sie gerade organisieren will. 421 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Da aber im gelotologischen Diskurs der Kirchenväter das Lachen mittlerweile auf das aggressive Auslachen reduziert worden war, und diese aggressive Art zu lachen die den kirchlichen Funktionären angesonnene würdige Demut resp. demütige Würde zu unterlaufen und damit wiederum die eben erst installierten Strukturen innerkirchlicher Macht zu gefährden drohte, mußte die Pflichtenlehre des Ambrosius als Sprache der Macht auch zwingend zur allgemeinen Verpönung des Lachens führen. Mit einem Wort: Der perfekte Funktionär lacht nicht, und im klerikalen Rahmen schon gar nicht! Er hat ja auch nichts zu lachen. Bei diesem Stand der innerkirchlichen Diskussion griff Augustinus als der Schüler des Ambrosius in die Debatte ein und verknüpfte, wie wir schon gesehen haben, das Thema Lachen auf das engste mit der Dialektik von Hochmut und Demut, und so ist es auch für die nächsten Jahrhunderte geblieben. 2.6.6.8 Kassians Regelwerk Das wird besonders deutlich in den zwei umfangreichen Abhandlungen von Johannes Cassianus Von den Einrichtungen der Klöster und Unterredungen mit den Vätern 159, die um 420 entstanden sind und von der Anlage her als Beschreibung der schon bestehenden Klöster konzipiert sind, faktisch jedoch als Anpreisung dieser christlichen Lebensform fungieren. Kassian hatte selbst einige Jahre als Mönch in ägyptischen Klöstern zugebracht und in Marseille um 420 selbst Klöster gegründet und geleitet, und deshalb befaßt sich seine Schrift nicht nur ausführlich mit allen möglichen organisatorischen Fragen des klösterlichen Lebens, sondern vor allem auch mit den psychischen Dispositionen, die diesem klösterlichen Leben hinderlich und förderlich sind. Zu den hinderlichen zählt Kassian vor allem acht Hauptlaster, deren schwerstes für ihn der Hochmut ist, und diese sind: Unmäßigkeit, Unreinheit, Habsucht, Zorn, Betrübnis, Lauheit (d. h. akedia oder taedium), Ruhmsucht und eben Hochmut. Hier deckt sich Kassians Argumentation also weitgehend mit der des Augustinus, dessen Gottesstaat etwa zur selben Zeit entstanden ist. 422 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Bei der Darstellung des Hochmuts unterscheidet Kassian zwischen dem »geistigen« Hochmut, »von dem nur die Vollkommenen geplagt werden« (I,261) und den man, paradox genug, als Stolz auf die eigene vollkommene Demut bezeichnen müßte, und dem »fleischlichen« Hochmut, der sich bestimmten charakteristischen Verhaltesweisen bekundet, wenn der auf diese Weise »Aufgeblasene« den in ihm aufgestauten Wind der Eitelkeit wieder explosionsartig von sich gibt: »Vorherrschend ist in seinem Reden das Schreien, in seinem Schweigen das Abstoßende, in seiner Freude das stolze und ausgelassene Lachen, im Ernste eine unvernünftige Trauer, in der Antwort Zorn, häufiges Schwätzen und oft plötzlich hervorbrechende gehaltlose Worte.« (I,267)

Ganz analog wird im hohen Mittelalter der Reformator des zisterziensischen Klosterwesens Bernhard von Clairvaux argumentieren. So wie Kassian in seiner Laster-Skala die Hoffart als Gipfel aller Sünden und als deren Anzeichen das laute Lachen angibt, so stellt er ganz analog dazu in seinen Regeln für die Novizen eine zehnstufige Demuts-Skala auf, deren höchster Grad keinerlei Gelächter mehr zuläßt: »In der Verachtung aber und freiwilligen Entsagung aller Dinge wurzelt die Demuth. Die Demuth aber bewährt sich an diesen Zeichen: erstens, daß man alle Neigungen in sich erkältet hat; (…) drittens, wenn man Nichts der eigenen Entscheidung, sondern Alles dem Urtheil des Oberen anheim gibt und seine Ermahnung begierig und gerne aufnimmt; viertens, wenn man in Allem den Gehorsam, die Sanftmuth und beharrliche Geduld bewahrt; (…) achtens, wenn man nicht ohnehin mit den Lippen, sondern im Grunde des Herzens sich geringer als Alle hält; neuntens, wenn man seine Zunge beherrscht und nicht laut im Reden ist; zehntens, wenn man nicht leicht geneigt zum Lachen ist.« (Kassian I,91 f.)

In dieser Auflistung taucht als Zeichen der Demut auch der Gehorsam auf. Das ist nicht neu, denn auch in den bisher vorgestellten Regelwerken von Pachomius und Basilius wird vom Mönch selbstverständlich Gehorsam gegenüber dem Abt verlangt, sobald die 423 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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eigentliche Struktur des Klosters mit Mauer, Abt und Regel einmal installiert ist. Wenn wir das Regelwerk Kassians aber mit dem von Basilius und Pachomius vergleichen, stellen wir fest, daß analog zur Verschärfung des Tons in der Verpönung des Lachens den Mönchen auch gesteigerte Gehorsamsleistungen abverlangt werden. Bei Kassian darf man schon von Kadavergehorsam sprechen, denn er schildert in seinen Regeln für die Novizen eine ganze Reihe solcher Fälle von exzessivem Gehorsam, die den Leser nur noch schaudern lassen, aber eben die neue Sprache der Macht seit 391 verraten. Es sind meist Fälle von vorbildlichem Gehorsam, durch die sich die Betreffenden für das Amt des Abtes qualifizieren, weil Kassian offenbar der Meinung war, daß nur der auf überzeugende Weise befehlen kann, der vorher entschlossen das Gehorchen geübt hat. Ich greife das besonders typische Kapitel 27 heraus: »Demuth und Gehorsam des Abtes Mucius, der auf Befehl des Oberen sein eigenes Kind ohne Zaudern in einen Bach warf.« (I,80) In diesem Kapitel singt Kassian das Lob des späteren Abtes Mucius, der als neu ins Kloster eingetretener Mönch bereit war, sein eigenes Kind vor seinen Augen quälen zu lassen, um seine Bereitschaft zu beweisen, alle natürlichen Bindungen 160 abzustreifen, denn das asketische Ideal in der Nachfolge Christi verlangt eben auch die vollständige Trennung von der Familie: »Um nun gründlicher zu erforschen, ob er mehr nach der Neigung seines Blutes und nach der Liebe zu seinem eigenen Fleisch und Blut handle, als nach dem von Abtödtung begleiteten Gehorsam Christi, den jeder Ordensmann jener Liebe vorziehen muß, wurde der Knabe absichtlich vernachlässigt. (…) Auch Backenstreichen und Schlägen von verschiedenen Seiten war der Knabe ausgesetzt, die gewöhnlich vor den Augen des Vaters dem unschuldigen Kinde gegeben wurden, so daß er dessen Wangen nur mit schmutzigen Thränenspuren befleckt sah. Und obwohl man täglich unter seinen Augen so mit dem Kinde verfuhr, blieb doch um der Liebe Christ und der Tugend des Gehorsams willen sein Inneres starr und unbewegt. Denn er betrachtete den Sohn nicht mehr als sein Eigenthum, seitdem er ihn zugleich mit sich Christo dargebracht hatte. Auch war er nicht bekümmert über die ihm in seiner Gegenwart zugefügten Unbilden, sondern frohlockte viel-

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mehr darüber, weil er sich überzeugt hatte, daß die Ertragung derselben ihm stets reiche Früchte eintrug. Dabei war er weniger auf des Kindes Thränen als auf seine eigene Demuth und Vollkommenheit bedacht.« (I,80 f.)

Dieser Grad an Demut und Gehorsam genügt dem Abt aber noch nicht, weshalb er in aller Bescheidenheit sich selbst zum Gott Jahwe aufschwingt und den neuen Mönch dem Abraham-Test unterwirft: »Der Vorsteher des Klosters durchschaute seine innere Abtödtung und seine unwandelbare Strenge gegen sich, wünschte jedoch eine gründlichere Probe seiner Standhaftigkeit. Als er daher einst das Kind wieder weinen sah, befahl er, als sei er gegen dasselbe aufgebracht, dem Vater, es zu ergreifen und in den Fluß zu werfen. Gleichsam als hätte er von Gott diesen Befehl erhalten, ergriff er sofort eiligst sein Kind und trug es mit eigenen Armen an den Fluß, um es hineinzuwerfen.« (I,81)

Aber bevor das Kind tatsächlich ertrinkt, springen einige Mönche in den Fluß und ziehen das Kind heraus. Der Vater aber hat sich durch diese mörderische Demut und seines Kadavergehorsams so viel Ruhm und Ehre erworben, daß der Abt ihn zu seinem Nachfolger ernennt. Auch Augustinus hätte das Verhalten dieses Mucius wohl als vorbildliche Erfüllung seiner eigenen Demuts-Ethik empfunden, weil Mucius durch seinen mörderischen Kadavergehorsam sich gleichsam wieder in einen Zustand hinter den Sündenfall zurück begeben hatte: »Denn worin sonst besteht des Menschen Elend wenn nicht im eigenen Ungehorsam gegen sich selbst, da er nun will, was er nicht kann, während er einst nicht wollte, was er konnte? Denn obwohl er im Paradiese vor dem Sündenfall nicht alles konnte, wollte er doch auch nicht, was er nicht konnte, und konnte darum alles, was er wollte.« (II,188)

2.6.6.9 Die Regel Benedikts Gehorsam, Schweigsamkeit und Demut sind auch die zentralen Themen im Regelwerk Benedikts von Nursia 161, das um 529 bei der Gründung des Klosters von Montecassino entstanden sein soll und das sich wie eine Summe aller bis dahin vorgelegten Kloster425 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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regeln liest. Besonders eng orientiert sich Benedikt an Kassian und an der von einem unbekannten Verfasser stammenden Magisterregel 162. Aber im Unterschied zu Kassian und zu allen anderen früheren Regelwerken, die sich über die besondere Stellung des Abtes nicht weiter äußern, widmet Benedikt, genau wie die Magisterregel, gleich das zweite Kapitel seines Regelwerks der Frage: »Wie der Abt sein soll.« In den frühen Kolonien von Eremiten war ein Mann wie der Wüstenvater Antonius, wie wir gesehen haben, ein primus inter pares ohne jede Amtsgewalt. Pachomius hatte schon ein ausgeklügeltes System an Vorschriften und Strafen entworfen, was nur sinnvoll ist, wenn auch tatsächlich Macht ausgeübt werden kann. Dies gilt auch für Basilius und Kassian. Aber in den Regelwerken des Magisters und des Benedikt von Nursia herrscht wiederum ein völlig neuer Ton, weil sie nach 440 entstanden sind, denn in diesem Jahr hatte Papst Leo I. den Anspruch auf den Primat des römischen Bischofs gegenüber allen anderen Bischöfen erhoben, weil nur er allein der Stellvertreter Christi auf Erden sei und deshalb im Verhältnis zu den anderen Bischöfen kein primus inter pares sei, sondern hoch über ihnen allen throne. Genauso argumentieren Benedikt und der Magister, für die nunmehr der Abt der »Stellvertreter Christi im Kloster« (Benedikt, S. 247) ist, deshalb genauso hoch über den anderen Mönchen thront wie der römische Papst über den anderen Bischöfen und deshalb genauso große Ansprüche an deren Gehorsam stellen darf. Hatte sich ein Abt zu Zeiten des Basilius oder Kassian seine Stellung noch allein durch besondere Leistungen verdienen müssen, so durfte er nun, sobald er erst mal Abt war, in direkter Stellvertretung Christi handeln, und damit war seine Machtstellung auch nicht mehr durch irdische Leistungen sanktioniert, sondern direkt durch Christus selbst. Mit diesem Schritt hatte sich die Gemeinschaft der Mönche endgültig aus einer Gemeinschaft von Gleichen in eine steile Hierarchie verwandelt, analog zur Verwandlung der Christenheit insgesamt von der Gemeinschaft der Gläubigen zur hierarchischen Kirche mit einem Papst an der Spitze. Analog dazu verhärtete sich 426 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das Demuts- und Gehorsamsansinnen der Oberen an die Untergebenen und, wieder analog dazu, das Gehorsamsansinnen des »Geistlichen« an alles »Fleischliche«, und führte zwangsläufig zur Forderung, Lachen in jeder Form im kirchlich-klösterlichen Bereich strikt zu unterlassen. Die eigentliche Regel beginnt wie bei Kassian und dem Magister mit einer Charakterisierung der vier Arten von Mönchen, von denen nur zwei vor Benedikt Gnade finden: die Zönobiten, »die in einem Kloster unter Regel und Abt Gott dienen« (S. 245), und die Anachoreten oder Eremiten, die schon so vollkommen sind, daß sie allein auf sich gestellt gegen den Teufel streiten können. Völlig abgelehnt werden die Sarabaiten und Gyrovagen, Wandermönche in der Tradition der Kyniker, die von Benedikt als Parasiten empfunden werden, weil sie ohne tagtägliche fleißige Arbeit und ohne Demut und Gehorsam gegenüber einem Abt ihren »jämmerlichen Wandel« (S. 246) führen. Dann folgt die Beschreibung des Abtes und seiner Aufgaben als Vater der Mönche – »Tadle, mahne, strafe!« (2. Tim.4,2) –, wobei die Strafen bis zur körperlichen Züchtigung reichen dürfen, denn, so heißt es unter Berufung auf die Sprüche Salomos: »Schlage deinen Sohn mit der Rute, und du bewahrst seine Seele vor dem Tode.« (S. 250)

Die eigentlichen psychagogischen Regeln listen dann all das an Vorschriften und Forderungen auf, was man erwarten kann, wenn man die Regelwerke des Basilius, des Kassian und des Magisters kennt, also z. B.: »Nicht stehlen. Nicht stolz sein. Nicht trunksüchtig sein. Seine Hoffnung auf Gott setzen. Vor der Hölle zittern. Seinen Lebenswandel stündlich überwachen. Nicht gerne viel reden. Hohles Gerede oder Possen nicht gestatten. Vieles oder zu lautes Lachen nicht lieben.« (S. 254 f.)

Am aufschlußreichsten für unsere Fragestellung sind die Kapitel, in denen die Haupttugenden der Mönche, also Gehorsam und Schweigsamkeit, vor allem aber die Demut behandelt werden. Auch hier orientiert sich Benedikt wieder an Kassian, der, wie wir gesehen haben, zehn Grade der Demut aufgelistet und den höchsten Grad der Demut darin gesehen hatte, daß man nicht gern lacht. Dieses 427 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Denkmodell übernimmt nun auch Benedikt, weitet es jedoch, ganz im Sinne Augustins, zu einem tiefsinnigen Bild aus, das die Ambivalenz und das innige Ineinandergreifen von Selbsterhebung und Selbsterniedrigung wunderbar illustriert: Es ist die zu einem Paternoster-Aufzug umfunktionierte Jakobs-Leiter: »Brüder, die Heilige Schrift ruft uns zu: ›Jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.‹ (Lukas 14,11) Mit diesen Worten belehrt sie uns, daß jede Selbsterhöhung Stolz ist. (…) Brüder, wollen wir daher den Gipfel der vollkommenen Demut erreichen und zu jener Erhöhung im Himmel rasch gelangen, zu der die Erniedrigung in diesem Leben emporführt, so müssen wir durch unsern aufwärtsstrebenden Wandel jene Leiter errichten, die Jakob im Traum erschien, woran, wie ihm gezeigt wurde, Engel auf- und niederstiegen. Nicht anders ohne Zweifel können wir dieses Auf- und Niedersteigen deuten, als daß man durch Selbsterhebung abwärts sinkt und durch Demut aufwärts steigt. Die aufgerichtete Leiter selbst ist aber unser Leben auf Erden, dem Gott die Richtung zum Himmel gibt, wenn das Herz demütig ist. In den beiden Seiten dieser Leiter sehen wir unsern Leib und unsere Seele; in diese Seiten hat der Gnadenruf Gottes verschiedene Sprossen der Demut und des geistlichen Lebens eingefügt, die man hinaufsteigen soll.« (S. 259 f.)

Mit einem Wort: Der Gipfel der vollkommenen Demut liegt tief oben. Im Gegensatz zu Kassian, der eine zehnstufige Skala der Demut entworfen hatte, verfügt Benedikts Leiter über zwölf Stufen, die sich von der Skala Kassians zwar in einigen Punkten unterscheidet, auf der aber genau wie bei Kassian auch die Vermeidung des Lachens tief oben liegt. Die neunte Stufe der Demut besteht z. B. darin, daß der Mönch schweigen kann; die zehnte Stufe darin, »nicht schnell und gern zum Lachen bereit zu sein« (S. 264). Die elfte Stufe ist für den Mönch dann erreicht, »wenn er beim Reden ruhig und ohne zu lachen, bescheiden und ernst, nur wenig und wohlbedacht spricht und mit der Stimme nicht lärmt« (S. 264), weil dies »fleischlichen Hochmut« im Sinne Kassians verraten würde. Der Gipfel der Demut aber ist die zwölfte Stufe ganz tief oben: 428 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Die zwölfte Stufe der Demut ersteigt der Mönch, wenn er nicht bloß im Herzen demütig ist, sondern auch in seiner Körperhaltung vor aller Augen Demut bekundet; wenn er also beim Gotteslob, im Oratorium, im Kloster, im Garten, auf der Straße, auf dem Felde, oder mag er sonst irgendwo sitzen, gehen oder stehen, jederzeit das Haupt geneigt hält und mit niedergeschlagenem Blicke sich immer wegen seiner Sünden voll Schuld weiß und im Geiste schon vor dem schrecklichen Gerichte Gottes weiß.« (S. 264)

Der Gipfel der Demut ist demnach die tief verinnerlichte, zur zweiten Natur gewordene Haltung der Scham 163, genauer: die Haltung dessen, der den ihm angesonnenen Scham-Imperativ »Schäm’ dich!« angenommen hat und dann als Scham-Performativ »Ich schäme mich« ausagiert. Diese Forderung, die Haltung der Scham zum generellen Habitus des Mönchs zu erheben, hat Benedikt von Augustinus übernommen, der im zweiten Kapitel seines Regelwerks die Mönche aufgefordert hatte, jegliche Form von eitler Aufgeblasenheit strikt zu unterlassen: »Sie sollen auch nicht den Kopf hoch tragen, weil sie in die Gesellschaft von Männern kommen, denen sie in der Welt näherzutreten nicht gewagt hatten; ihr Herz soll vielmehr nach oben gerichtet sein und irdische Eitelkeit nicht suchen. Sonst wären am Ende die Klöster bloß den Reichen zum Nutzen, nicht aber den Armen, insofern nämlich die Reichen dort sich verdemütigen, die Armen hingegen dort aufgeblasen würden.« 164

Wenn dieser auf Dauer gestellte Zustand aktueller Scham das Ideal mönchischen Verhaltens sein soll, wie Benedikt dies fordert, so stellt sich aber sofort die Frage, auf die wir schon bei Kassians Beschreibung des »geistigen Hochmuts« gestoßen sind: Ist der Gipfel der Demut nicht zugleich auch der Gipfel und die Quelle höchsten geistigen Hochmuts, von dem, wie Kassian weiß, nur die Vollkommenen geplagt werden, also auch nur die vollkommen Demütigen? Ist, anders gefragt, dieses christlich-mönchische Streben nach vollkommener Demut überhaupt möglich, ohne daß es, falls es gelingt, sofort in sein Gegenteil umschlägt, weil der Gipfel der Demut eben tief oben liegt und mit dem Gipfel des Hochmuts zusammenfällt? Und, noch ganz anders gefragt: Kann der Zustand aktueller Scham 429 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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überhaupt auf Dauer gestellt werden, ohne zur hohlen Demuts-Pose zu entarten? Die Antwort kann, wie mir scheint, nur lauten: Er kann es natürlich nicht, weil aktuelle Scham wegen ihrer uroborischen Struktur 165 sich selbst verzehrt und deshalb grundsätzlich nicht auf Dauer gestellt werden kann, ohne zu ausgestelltem Demuts-Kitsch zu gerinnen. 2.6.6.10 Zweimal Trauer: akedia und contritio Daß Benedikt gleichwohl glaubte, man könne Scham ungestraft auf Dauer stellen, ohne zwangsläufig in hohle Posen und inhaltsleere Rituale zu verfallen, zeigt, daß er seinen Vorgänger und Gewährsmann Kassian, von dessen Regelwerk er so viel übernommen hatte, in entscheidenden Punkten letztlich wohl doch nicht verstanden hat. Kassian hatte, wie wir sahen, eine Liste von acht Lastern 166 zusammengestellt, die der Novize beim Eintritt ins Kloster ablegen und der Mönch nicht wieder aufkommen lassen darf. Eines dieser Laster, die akedia, ist für unsere Fragestellung besonders aufschlußreich, denn es bietet sich an, die akedia, also das trübsinnige Vorsich-hin-Brüten, mit der contritio, also der Zerknirschung, zu vergleichen. Beides sind Formen von Trauer, allerdings mit dem Unterschied, daß in der selbstanklägerischen Zerknirschung ein uroborischer Impuls wirksam ist, im trübsinnigen ergebnislosen Vor-sich-hin-Brüten dagegen nicht, denn die Zerknirschung hat die Tendenz, sich selbst zu verzehren, sich dadurch zu überwinden und im Säurebad der »bitteren« und »heißen« Magdalena-Tränen auch die Trauer des reuigen und bußfertigen Sünders gleichsam wegzuschmelzen und dessen Seele wieder blank zu ätzen, wohingegen die tränenlose, ergebnislos vor sich hin grollende Trauer des Trübsinns ewig am Trauernden nagt und deshalb sich selbst gerade nicht verzehrt, sondern den Trauernden so weit anfrißt, bis dieser sich selbst und damit auch seinem Leiden gewaltsam ein Ende setzt, weil er es nicht mehr aushält, oder in sich selbst implodiert und in diesem Zustand versteinert. 430 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mit anderen Worten: Die contritio ist ein Weg zur Reifung, so schmerzhaft er immer auch sein mag, oder, mythologisch gesprochen, ein Weg zu Wiedergeburt und Auferstehung, die akedia ist das ewige Feststecken in der ausweglosen Sackgasse der eigenen Hölle. Erzwingen läßt sich diese Wiedergeburt in der contritio allerdings nicht, weil sie ein tendenziell unverfügbares Widerfahrnis ist, für das man sich nur bereit halten kann. Deshalb betont Kierkegaard auch so ausdrücklich diesen Widerfahrnischarakter der Reue: »Bereuen ist keine positive Bewegung von etwas fort oder zu etwas hin, sondern eine negative Bewegung nach innen zu, nicht ein Tun, sondern ein durch sich selbst sich (selbst) etwas widerfahren Lassen.« 167

Kassian orientiert sich bei seiner ausführlichen Beschreibung der Acedie ganz eng an den Schriften des Euagrius Ponticus 168, dem Übersetzer der Antonius-Biographie des Athanasius ins Lateinische, der selbst jahrelang als Eremit in der ägyptischen Wüste gelebt hatte und die Heimsuchung durch den Mittagsdämon offenbar aus eigener leidvoller Erfahrung kannte, gibt diese Quelle jedoch an keiner Stelle an. Euagrius hatte gegen die vom Mittagsdämon ausgelöste Acedie nicht nur empfohlen, konzentriert zu beten und zu arbeiten, sondern auch hingebungsvoll zu weinen und zu seufzen, offenbar aus der Erfahrung heraus, daß der uroborisch-kathartische Effekt des Weinens auch die Acedie zu lindern vermag. Daß vielleicht auch Lachen diesen Effekt haben könnte oder auch nur eine ausgiebige Siesta, kommt jedoch weder Euagrius noch Kassian in den Sinn, weil ihnen sowohl das mönchische Lachverbot als auch das mönchische Arbeitsethos diesen Weg versperrt haben. Letztlich geht Kassians Unterscheidung auf Paulus zurück, der im zweiten Brief an die Korinther zwei Formen von Traurigkeit unterschieden hatte: »Denn die gottgefällige Traurigkeit bewirket Sinnesänderung zum Heile, die nie gereuet; die Traurigkeit aber nach dem Sinne der Welt bewirket den Tod.« 169

Diese Unterscheidung in contritio und akedia, in eine von Gott stammende »nützliche« und eine vom Teufel stammende »verderbliche« Traurigkeit erläutert Kassian dann ausführlicher, wenn er schreibt: 431 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

»Jene Betrübniß, welche Buße zu dauerhafter Seligkeit wirkt, ist gehorsam, freundlich, demüthig, mild, sanft und geduldig, da sie ja aus der Liebe zu Gott kommt. Aus Verlangen nach Vollkommenheit steigert sie sich zu jeglichem körperlichen Schmerze und jeglicher geistigen Zerknirschung. Gewissermaßen freudig und voll Hoffnung auf ihren Fortschritt sproßt sie empor, behält so alle Anmuth der Freundlichkeit und Langmuth, in sich selbst aber besitzt sie alle Früchte des heiligen Geistes. (…) Die Betrübniß der Welt aber, ganz ungefällig, ungeduldig, hart, voll Grolles und unnützen Kummers und sträflicher Verzweiflung, zieht Den, welchen sie umschlungen hat, von der Thätigkeit und dem heilsamen Schmerze gewaltsam ab; denn sie ist ja unvernünftig und untergräbt nicht nur die Wirksamkeit des Gebetes, sondern vereitelt auch alle genannten Früchte des Geistes, die jene zu spenden weiß.« (I,199)

Wenn man diese Beschreibung aus dem Theologischen ins Anthropologische übersetzt, wird deutlich, daß die frühchristliche contritio ziemlich genau dem entspricht, was wir heute mit dem Wort »Trauerarbeit« bezeichnen, weil Trauerarbeit tatsächlich Arbeit ist, die, wie jede andere Art von Arbeit auch, sich im Vollzug selbst verzehrt und sich selbst restlos verzehrt hat, wenn das zu erarbeitende Ziel erreicht ist, wobei allerdings bei dieser Arbeit der Akzent nicht auf dem Tatcharakter, sondern auf dem Widerfahrnischarakter liegt. Das Ziel dieser spezifischen Art von Arbeit an sich selbst ist ein neues Verhältnis zu sich und der Welt, da das Werkstück der Trauerarbeit die eigene Person und deren Befinden ist. Damit stehen wir wieder einmal vor dem Problem der uroborischen Katharsis, auf das wir schon bei Aristoteles gestoßen sind, der die kathartische Wirkung der performativen Künste Tragödie und Komödie darauf gegründet hatte, daß die uroborischen Affekte phobos und eleos bzw. gelos und terpsis zwar erregt, aber auch wieder verzehrt werden: Man vergeht zwar in der Tragödie vor Jammer und Schauder und löst sich in Tränen auf, weint sich aber aus, richtet sich wieder auf und fühlt sich danach wieder im Lot. In der Komödie verzehrt man sich vor Lachen, lacht sich krumm, lacht sich aber auch wieder gerade, und fühlt sich danach ebenfalls wieder im Lot. Beides kann man, wenn man will, als ästhetisch organisierte Trauer- und Heiterkeitsarbeit bezeichnen. Und weil Arbeit 432 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Mönche und Klöster

jeder Art diesen kathartisch-uroborischen Effekt hat, ist es auch plausibel, daß Kassian Arbeit jeder Art mit so großem Nachdruck als Therapie gegen die quälende Mönchskrankheit der Acedie empfiehlt. Wenn man nun von hier aus auf die im monastischen Diskurs immer wieder beschriebene Gnade der Tränen schaut, wie wir sie z. B. in Ephräms Rede wider das Lachen kennengelernt haben, so verbietet man sich sofort die Lust am Ironisieren dieser Tränenseligkeit, weil man in diesem Kult der tränenreichen Zerknirschung sehr wohl auch eine ganz ernst zu nehmende psychagogische Therapie erkennen kann, was sie ja auch sein sollte, auch wenn uns diese heute noch so fremd anmuten mag. Der tränenseligen Epoche der Empfindsamkeit um 1760 kam der mönchische Tränenkult sicher bei weitem nicht so exotisch vor wie uns heutzutage. Um so befremdlicher erscheint es dann aber, wenn Benedikt die Zerknirschtheit auf Dauer stellen und zur demutsvollen Haltung des tief Beschämten gerinnen lassen will, weil damit der grundlegende Unterschied zwischen der uroborisch-kathartischen Trauerarbeit, wie sie bei Scham und Zerknirschung vorliegt, und der unerlöst dumpfen und tränenlosen Trauer auf den ersten Blick völlig verwischt wird. Denn wer Scham und Zerknirschung abgearbeitet hat, richtet sich wieder auf; der ideale Mönch Benedikts aber muß den Kopf gesenkt halten, solange er lebt und scheint dadurch künstlich in einen unerlösten Zustand hineingezwungen zu werden. Doch ist das wirklich so? Ist die gebeugte Haltung wirklich die auf Dauer gestellte Bekundung perennierender Zerknirschtheit? Ist sie nicht vielmehr die Signatur einer bestimmten inneren Haltung, und zwar die der Demut, die sehr wohl auf Dauer gestellt werden kann? Wir haben ja schon bei der Analyse von Ephräms Bußpredigt gesehen, daß die aus der Penthos-Tradition stammende auf Dauer gestellte innere Haltung absoluter Demut sehr genau von der uroborisch sich verzehrenden Contritio strikt zu unterscheiden ist, und so gesehen steht Benedikts Forderung nach einem bestimmten Habitus der Demut genau in dieser Penthos-Tradition und muß von da aus beurteilt werden. Doch hier taucht ein neues Problem auf, weil dieser Habitus 433 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

perennierender Demut die Gefahr in sich birgt, zur bloßen scheinheiligen Demuts-Pose zu verkommen und sich dann auch noch mit der festgefrorenen süßlichen Lächel-Maske zu verbinden, um das Rollenfach des heiligmäßigen Demuts-Artisten konsequent auszuagieren. Beispiele dafür gibt es in der Literatur zuhauf; man denke nur an Molières Tartuffe oder an Wilhelm Buschs Pater Filuzius. Somit hätten wir beim monastischen Phänotyp vier Verhaltensweisen deutlich zu unterscheiden: • die echte kathartisch-uroborische Contritio, • die Hölle der tränenlosen Akedia, • die echte Demut als perennierende innere Haltung • und die veräußerlichte Demuts-Pose. Und alle vier Verhaltensweisen haben die Funktion, das Lachen generell zu unterbinden und können als Kontrafaktur zu bestimmten Formen des Lachens gelten: • Die durch den göttlichen Stich ins Herz (Katanyxis) ausgelöste Contritio 170 wäre das ernste Gegenstück zu dem durch eine Pointe (acumen) ausgelösten weltlichen Cachinnus-Gelächter, das durch das Schema Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase geprägt ist und das wir mit Baader als »Explodieren der Angstspitze« bezeichnen können; • die echte Demut als perennierende innere Haltung und äußerer Habitus wäre das ernste Gegenstück zur weltlichen perennierenden Heiterkeit; • die scheinheilige Demuts-Pose wäre das ernste Gegenstück zur festgefrorenen weltlichen keep-smiling-Maske; • und die Hölle der tränenlos unerlösten Akedia wäre das ernste Gegenstück zum strahlenden Lächeln des göttlichen Kindes. Daß man im frühen Christentum und insbesondere im monastischen Diskurs das Lachen mit dieser Strenge zu unterbinden suchte und von Origenes und Ephräm bis zu Augustinus zwar eine »Theologie der Tränen«, nicht aber zugleich auch eine »Theologie des Lachens« entwickelt hat, zeigt, mit welcher Konsequenz hier ein Irrweg eingeschlagen worden ist, auf dem entscheidende Aspekte des Menschseins nur noch als sündiges Gegenbild zum eigenen elitären Demuts-Ideal geduldet worden sind oder ganz aus dem Blickfeld verschwinden mußten. Die anthropologischen Erkenntnisse von 434 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der ungehörte Vermittler: Gregor der Große

Aristoteles, Cicero, Clemens, Laktanz und Antonius gingen erst mal verloren und wurden erst tausend Jahre später durch die erneute Aristoteles-Rezeption wiederentdeckt. Deshalb scheint mir das benediktinische Ideal des von jeder Art von Lachen verschonten Mönches nicht minder weltfremd und nicht minder verstiegen, aber auch nicht minder verführerisch und vor allem auch nicht minder gefährlich als Senecas Ideal des stoischen Weisen, weil beide Ideale typische Sollens-Ethiken sind, die die Natur des Menschen nicht nur verleugnen, sondern auch zu überwinden suchen, damit aber auch jeden, der dieses Ideal ernsthaft zu verwirklichen sucht, heillos überfordern und buchstäblich verbiegen und schließlich auch zerbrechen müssen. Die Warnung des Antonius an den Schützen ist im monastischen Diskurs der frühen Christenheit leider ungehört geblieben. 2.6.7 Der ungehörte Vermittler: Gregor der Große Von hier aus gesehen nimmt Gregor der Große (540–604) eine seltsam ambivalente Position ein, denn einerseits schrieb er als Papst im Stil der Benediktinerregel eine Pastoralregel, an der sich Priester und Bischöfe orientieren sollten ganz so wie sich die Mönche an Benedikts Regel zu orientieren hatten, und trieb im zweiten Buch seiner Dialoge 171 einen wahren Kult um Benedikt, dem er eine ganze Fülle von Wundertaten 172 zusprach, weshalb er ihn auch gleich zu einem zweiten Moses oder Christus hochstilisierte; andererseits aber relativierte er wiederum Benedikts striktes Lachverbot im vierten Dialog, der anhand vieler Beispiele die Frage behandelt, wie das Leben nach dem Tode beschaffen sei. Aufgeworfen werden hier also z. B. die Fragen, »ob es nach dem Tode ein Fegefeuer gibt« (S. 245 ff.), »wo die Hölle ist« (S. 249 ff.), »ob es nur ein Feuer in der Hölle gibt oder mehrere« (S. 251) und »ob diejenigen immer brennen müssen, welche dem Feuer der Hölle übergeben werden« (S. 251 ff.), und damit nimmt Gregor der Große Fragestellungen vorweg, mit denen sich die Scholastiker ab 1100 noch einmal ausführlich zu beschäftigen hatten. Für unsere Fragestellung ist das Kapitel 39 am wichtigsten, das 435 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die christlichen Kirchenväter

sich mit dem Fegefeuer befaßt, weil Gregor dort die Position von Anselm von Canterbury 173 vorwegnimmt, die dieser erst 500 Jahre später vertreten wird, denn Gregor unterscheidet hier schon deutlich zwischen Todsünden und läßlichen Sünden und verweist in diesem Zusammenhang auch auf das Lachen. In Kapitel 38 hatte er den Tod eines Mannes beschrieben, der zeit seines Lebens schwer gesündigt hatte und deshalb vom Teufel geholt wird, denn »Chrysaorius war (…) zwar ein Mann von großer Weltgewandtheit, aber ebenso reich an Lastern wie an zahlreichen Gütern, stolz, den Wollüsten ergeben und voll von Habsucht im Erwerb von zeitlichen Gütern. Der Herr beschloß, so vielem Bösen ein Ende zu machen, und schickte ihm eine tödliche Krankheit. Als sein letztes Stündlein herannahte und er schon im Sterben lag, sah er abscheuliche, pechschwarze Geister vor sich stehen und ihm fürchterlich drohen, sie würden ihn mit in die Hölle nehmen.« (S. 243)

Und so geschieht es denn auch, weil er keine seiner schweren Sünden aufrichtig bereut hatte. Im folgenden Kapitel wird dann die Frage erörtert, wie es um »gewisse leichte Sünden« (S. 245) steht, ob und wie man sie vor dem Tod noch bereuen kann, und ob es für sie nach dem Tod ein »Reinigungsfeuer« (S. 245) gibt, in dem sie nachträglich abgebüßt werden können, und hier kommt Gregor zu dem Ergebnis, »daß jeder im Gerichte so erscheint, wie er von der Erde scheidet« (S. 245), also entweder als reuig büßender oder aber als verstockter Sünder. Fest steht jedoch, »daß, wenn jemand wider den Heiligen Geist lästert, ihm weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben wird.« (S. 245) Somit kommt Gregor zu dem Schluß, »daß einige Sünden in dieser, andere in jener Welt nachgelassen werden können. Denn, was von einer Sünde ausdrücklich verneint wird (der Sünde wider den heiligen Geist), wird nach folgerichtiger Auffassung von den übrigen zugestanden. Jedoch muß man, wie bemerkt, glauben, daß dies nur bei geringen, ja ganz kleinen Sünden stattfinde, wie häufiges, unnützes Gerede, unmäßiges Gelächter oder eine Sünde in der Leitung des Hauses, die kaum bei denen ohne Sünde abgeht, welche wissen, wie man der Sünde vorbeugen kann; dasselbe gilt von einem Fehler aus Unkenntnis in einer nicht bedeutenden Sache. Alles dieses belastet die Seele noch nach dem Tode, wenn keine Nachlassung in diesem Leben erfolgte.« (S. 246)

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Bilanz

Damit ist Anselms Unterscheidung von Todsünden im Sinne von »größeren und härteren Sünden« (S. 246), die im Fegefeuer »überhaupt nicht nachgelassen werden können« (S. 246), und läßlichen Sünden, die spätestens vom Fegefeuer vertilgt werden, wenn man sich diese Tilgung »durch gute Werke zum voraus verdient hat« (S. 246), eigentlich schon formuliert. Und zugleich damit hätte das Lachen, insbesondere das tendenziell unverfügbare unbeherrschte Bekundungs-Lachen, also der »immoderatus risus« 174, dem theologischen Verdikt entzogen sein können. Doch dies war durchaus nicht der Fall, denn im christlichen Mittelalter, das nach Gregor begann, setzte sich in den folgenden 500 Jahren bei der Bewertung des Lachens erst einmal die Linie durch, die von Johannes Chrysostomus, Aurelius Augustinus, Ambrosius und Benedikt vorgegeben worden war und bis hin zu Bernhard von Clairvaux gleichsam als Dogma galt. Die Wende kam erst im frühen 12. Jahrhundert, als Anselm von Canterbury auf Gregors Rechtfertigungslehre zurückgriff und die Frage nach den Graden von Sündhaftigkeit erneut zum Thema erhob, und als Wilhelm von Conches den Sanguiniker Adam entdeckte, der von einem heiter lachenden Schöpfergott erschaffen wird. Es kann kein Zufall sein, daß genau zu dieser Zeit auch das ritualisierte Lachen in der Form des Osterlachens in den christlichen Ritus selbst eindrang und vom Klerus selbst organisiert wurde. Hätte Bernhard von Clairvaux diese Entwicklung selbst noch erlebt, so hätte er sie mit Sicherheit auf das schärfste bekämpft. 2.6.8 Bilanz Auch wenn die oben monierte Weltfremdheit der Benedikt-Regel noch so evident sein mag, so gilt dies doch in keiner Weise für Benedikts Bild des Paternoster-Aufzugs, das sich sogar als ein eindrucksvolles anthropologisches Modell erweist, das seinen eigentlichen heuristischen Wert allerdings erst entfalten konnte, als Bernhard von Clairvaux in seiner Abhandlung Über die Stufen der Demut und des Stolzes von 1124 es aufs neue aufgriff und Benedikts Stufenleiter der Demut durch eine genau darauf abge437 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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stimmte Stufenleiter des Hochmuts ergänzte. Nunmehr kann man dieses Bild so verstehen, daß Leib und Seele des Menschen nicht auf die beiden Kabinen des Aufzugs verteilt zu denken sind, sodaß der Aufstieg der Seele identisch ist mit dem Abstieg des Leibes und umgekehrt, sondern daß der Paternoster als ganzer ein Bild unseres Selbstverhältnisses darstellt und das ständig fluktuierende, innig ambivalente Verhältnis von Selbstpreisgabe (»Demut«) und Selbstbehauptung (»Hochmut«) zeigt. Da Benedikt von einem Gipfel der Demut spricht, denkt er sich offensichtlich seinen Aufzug so, daß dieser in einer bestimmten Position gestoppt werden kann und dann den vollkommen demütigen und vollkommen lachfreien, »agelastischen« Mönch zeitigt. Da es aber reine Selbstpreisgabe (»Demut«) und reine Selbstbehauptung (»Hochmut«) nicht gibt und nicht geben kann, sondern nur das ambivalente Ineinander beider als Selbstpreisgabe-in-der-Selbstbehauptung und Selbstbehauptung-in-der-Selbstpreisgabe, und da dieses ambivalente Verhältnis von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung ständig wechselt, je nach dem, welche Lebenssituation aktuell vorliegt und beantwortet werden will, kann es auch keinen festen und auf Dauer gestellten Gipfel der Selbstpreisgabe (»Demut«) oder Selbstbehauptung (»Hochmut«) geben, sondern nur die Bewegung zwischen diesen beiden Gipfeln und die mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz hin zum einen oder anderen Pol und die verschiedensten Mischungen zwischen beiden. Bernhard von Clairvaux denkt hier, wie wir sehen werden, viel genauer, weil er immer die einander komplementären Grade von Hochmut und Demut zugleich im Blick hat. Aber auch er sieht nicht, daß Demut und Hochmut resp. Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung sich miteinander und aneinander steigern und mindern können, weil sie nicht zwingend im Verhältnis reziproker Proportionalität zueinander stehen. Man muß sich also Benedikts resp. Bernhards Paternoster-Aufzug in ständiger Bewegung denken, um diese Hochmuts-DemutsDialektik aus dem hierarchisch-theologischen Denken ins anthropologische zu überführen und nutzbar zu machen. Tut man dies, so gewinnt man ein plausibles Modell für das Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, vom Verfügen über die ei438 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gene Leiblichkeit und ihren Möglichkeiten einerseits und vom Vertrauen in all diese Möglichkeiten andererseits, wobei man eben über die verfügt, die verfügbar sind, und sich denen, die unverfügbar bleiben, vertrauensvoll und gelassen anvertraut. Eine dieser Möglichkeiten neben vielen anderen ist das Lachen, das genau auf diesem Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe beruht, und das die Vielfalt seiner Formen aus der Vielfalt der Möglichkeiten bezieht, wie Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe sich in vielfältigster Weise ineinander verschränken können. Spätestens hier muß man fragen, welche Umstände dazu geführt haben, daß das Christentum in seiner geschichtlichen Entwicklung von Clemens bis Benedikt den Menschen in seiner christlichsten Ausprägung nicht mehr mit Clemens als »stolzes und aufrechtes Wesen« sehen wollte, zu dessen Gottebenbildlichkeit das strahlende Lachen des Auferstandenen gehört, sondern als eingeknickten Sünder, dem unter der Last seines schlechten Gewissens das Lachen vergangen ist und der darauf auch noch stolz ist. Diese Frage hängt eng mit der anderen Frage zusammen, wie eine Institution dazu kommt, ein derart verstiegenes und weltfremdes Ideal, das die Natur des Menschen zwangsläufig überfordern und vergewaltigen muß, zur Norm christlich-klösterlicher und kirchlicher Existenz zu erheben. Die Antwort auf beide Fragen liegt, wie mir scheint, darin, daß man zwar nicht mit dem im Kreise seiner Schüler locker scherzenden und lachenden Anachoreten Antonius, sehr wohl aber mit dem Mönch nach dem Zuschnitt des Pachomius, Basilius, Ambrosius, Augustinus, Kassian und Benedikt eine Garde von allfällig verwendbaren perfekten Funktionären heranziehen und einsetzen kann, die eine Staatskirche eben braucht, um im imperial verfügenden Zugriff auf die Welt innerhalb und außerhalb von Kirche und Kloster Macht auszuüben. Auf dieses Thema sind wir schon bei der Analyse des stoischen Weisen gestoßen, der sich als das Ideal des perfekten Funktionärs entpuppte, und hier zeigt sich wieder, daß der ideale Mönch auch unter diesem Aspekt der Erbe des stoischen Weisen ist. Deshalb schreibt Thomas von Kempen mit vollem Recht 900 Jahre nach Benedikt, aber ganz in seinem Sinn, über den Nachfolger Christi: 439 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Hast du dich gänzlich bezwungen, unterwirfst du unschwer alles übrige. Der Sieg ist vollkommen, sobald man über sich selber triumphiert. Wer sich im Zaum hält, so daß die Sinne der Vernunft in allem gehorchen, der hat sich selbst besiegt, und die Welt liegt ihm zu Füßen.« (S. 232)

Nun könnte man natürlich von hier aus der Frage nachgehen, welche für das mönchisch-klösterliche Leben spezifischen psychischen Deformationen und Krankheiten sich aus dieser agelastischen Demuts-Athletik durch notorische Überforderung ergeben haben und käme sehr schnell auf die schon von Kassian höchst eindrucksvoll beschriebene Mönchskrankheit der Akedia, die sich als Ekel vor Gott, vor der Welt und vor sich selbst manifestiert. Oder man könnte der Frage nachgehen, auf welche Weise, worüber und unter welchen Sanktionen in den Klöstern und Kirchen trotzdem gelacht worden ist, was man z. B. anhand einer Rezeptionsgeschichte der Cena cypriani 175 leisten könnte. Aber all dies sind Fragen einer Geschehens-Geschichte des Lachens, die uns hier nicht zentral interessieren, weil sie in eine Ideen-Geschichte des Lachens nicht hineingehören. Oder man könnte der Frage nachgehen, warum eine bestimmte Form des süßlichen Lächelns in klerikalen Kreisen bis heute dominiert, die mit dem von Basilius zugelassenen sanften Lächeln des Weisen aber nichts gemein hat, weil dieses Lächeln des Weisen ein personales lachmündiges Lächeln ist, das dem uroborischen Impuls unterworfen ist und deshalb auf dem Gesicht aufscheint und wieder verschwindet, wohingegen dieses süßliche Kleriker-Lächeln wie eine festgefrorene Lächel-Maske starr auf den Gesichtern klebt, denn dieses süßliche Kleriker-Lächeln ist ja kein Interaktions-Lächeln, das sich durch Blickkontakt an jemanden richtet und mit ihm eine gemeinsame Situation stiftet, weil der benediktinische Mönch den Blick ständig demütig gesenkt zu halten hat, sondern ein eher autistisches, das sich in aller Demut selbst genießt. Aber auf dieses Problem werden wir erst im systematischen Teil eingehen können, wenn wir auf die apersonalen Formen des Lachens eingehen, also auf das prä-personale Lachen des Säuglings vor der Fremdelphase, auf das para-personale Lachen des Blöden, auf das post-personale Nirwana-Lächeln dessen, der alles Personale 440 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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überwunden und abgestreift hat, und auf das völlig entspannte Lächeln der toten Inconnue de la Seine. All diesen Formen von Lachen fehlt aber der uroborische Impuls, und deshalb sind sie es, die in Posen aller Art kopiert werden können. Eine dieser Posen ist eben dieses süßliche Kleriker-Lächeln, das die vollkommene demütige Selbstüberwindung zwar nicht bekundet, weil da nichts zu bekunden ist, trotzdem aber mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenem Blick triumphierend verkündet: Der Gipfel der Demut ist erreicht! Wenn man von hier aus eine Antwort der frühen Christenheit auf die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des lachenden Menschen sucht, so beantwortet sich diese Frage so, daß dem Christen aus der Vielfalt des Lachens nur ganz wenige Arten zu lachen erlaubt oder angesonnen werden: • Das strahlende Lachen des Gotteskindes und der Auferstandenen als Bekundung von Glück; • das ataraktische heiter gelöste Lächeln des frommen Weisen als Bekundung erahnter Seligkeit • und das maskenhaft starre süßliche Kleriker-Lächeln als dessen Karikatur; • die Nachahmung des hohnlachenden Jahwe beim Jüngsten Gericht, wenn es gilt, die Feinde Gottes und der Kirche triumphierend auszulachen, also das phthonos-Lachen Platons. • Alle anderen Arten von Gelächter werden im frühen Christentum entweder nie als Möglichkeit diskutiert, oder als gottlose Torheit verpönt, oder sie werden als Nachfolge des Teufels, der mit seiner lachenden Fratze das zannende la’ag-Lachen Jahwes nachäfft, in aller Form verdammt. • Und all dies, obwohl Gregor der Große schon um 600 einen ganz anderen Weg zur Duldung des Lachens gewiesen hatte. Von diesem Verdikt an war das Christentum fast tausend Jahre lang eine in tiefem Ernst ausgeübte Religion in der Verehrung eines ernsten Gottes und in der Nachfolge seines nicht minder ernsten Sohnes Jesus, die sich nur in ganz seltenen Fällen und unter massiven Skrupeln eine kleine Erholung von diesem drückenden Ernst erlaubte. Der heitere Wüstenvater Antonius im Kreise seiner heiteren Jünger blieb die große Ausnahme, vor allem deshalb, weil durch die 441 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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von Cîteaux ausgehende Klosterreform, die durch eine entschlossene Rückkehr zum Mönchs-Ideal Benedikts die mittlerweile eingetretenen Verfallserscheinungen rückgängig zu machen suchte, einen erneuten und gesteigerten Schub an Ernsthaftigkeit und LachFeindschaft nach sich zog. Wir werden allerdings sehen, daß Bernhard von Clairvaux gerade durch seinen Haß auf alle Formen von Gelächter einen besonders scharfen Blick für die Besonderheit dieses Phänomens hatte und dadurch zu Erkenntnissen kam, zu denen vor ihm noch niemand gelangt war. Diese Atmosphäre von tiefem Ernst, die das Leben der mittelalterlichen Mönche und Kleriker überschattete, war allerdings nur für diese christliche Elite verbindlich; die Laien lebten und lachten, wie sie immer gelebt und gelacht hatten. Der tiefe Ernst der christlichen Eliten hellte sich erst auf, als Wilhelm von Conches den lachenden Adam entdeckte, der nach dem Ebenbild eines heiteren Schöpfergottes gebildet war, und als mit dem Osterlachen das Lachen sogar im liturgischen Raum selbst zu einem konstitutiven Element wurde. Diese neue christliche Heiterkeit verdankt sich vor allem der Aristoteles-Rezeption, durch die ein tiefer ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Bruch entstand, der die Bandbreite des Christentums in der Beurteilung und Bewertung des Lachens wieder drastisch erweitern sollte, denn nun durfte auch der Christ, Kleriker wie Laie, sich wieder guten Gewissens an den Schwänken freuen und wieder genauso heiter sein wie es der Wüstenvater Antonius einst gewesen war. Anmerkungen 1

Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/ München 6/1967, S. 421 ff. Wichtige Anregungen konnte ich für dieses Kapitel auch der Studie von Friedrich Wilhelm Graf: Mißbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009, entnehmen insbesondere dem Kapitel »Menschenbilder«, S. 133 ff. 2 Der Physiologus. Tiere und ihre Symbolik. Übertragen und erläutert von Otto Seel, Düsseldorf/Zürich 2000, S. 48. Die Formulierung findet sich in dem Artikel über den Diamanten (S. 46 ff.), der als der Stoiker unter den Mineralien vorgestellt wird, da er durch seine Härte »alles bezwingt, selbst aber von nichts bezwungen wird« (S. 46) und dadurch wiederum »ein deutliches Gleichnis Christi« (S. 48) ist.

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Anmerkungen 3 Beispiele dafür sind die Bücher von Karl-Josef Kuschel: Lachen. Gottes und des Menschen Kunst, Freiburg/Basel/Wien 1994, von Helmut Thielicke: Das Lachen der Heiligen und Narren. Nachdenkliches über Witz und Humor, Freiburg 1975, von Werner Thiede: Das verheißene Lachen. Humor in theologischer Perspektive, Göttingen 1986, von René Voeltzel: Das Lachen des Herrn. Über die Ironie in der Bibel, Hamburg 1961, von Flemming Friis Hvidberg: Weeping and Laughter in the Old Testament, Kopenhagen 1962, und Friedemann Richert: Kleine Geistesgeschichte des Lachens, Darmstadt 2009. Schlimme Beispiele sind die Bücher von Otto Betz: Der Humor Jesu und die Fröhlichkeit der Christen, Göttingen 2/1981, von Louis Kretz: Witz, Humor und Ironie bei Jesus, Olten/Freiburg 1981 und von Heinrich Suso Braun: Vom Humor des Christen. Ein Kapitel über frohe und unfrohe Frömmigkeit, Paderborn 1940, bei deren Lektüre man sich förmlich windet, aber leider nicht vor Lachen. 4 Gisbert Kranz: Das göttliche Lachen, Würzburg 1970. Ganz anders ist es allerdings um die »heitere Theologie« seines »Schmunzelkatechismus«, Augsburg 2003, bestellt, der eine Fülle von Witzen und Anekdoten enthält, die sich laut Kranz dadurch auszeichnen, »daß ihre Pointe auf eine Wahrheit des Glaubens oder der Sittenlehre zielt« (S. 6), denn »stets beleuchten sie eine tiefere Wirklichkeit« (S. 7). Wer bei solchen christkatholischen Pointen lachen kann, darf dann wohl ein Kreuz extra schlagen. 5 Ansätze und Material für eine solche lachgeschichtliche Darstellung finden sich bei Jacques Le Goff: Das Lachen im Mittelalter, Stuttgart 2004, und in dem Nachwort von Rolf Michael Schneider zu diesem Werk (S. 77 ff.), besonders viel aber in den vorzüglichen Studien von Joachim Suchomski: »Delectatio« und »utilitas«. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern/München 1975, und bei Teodor Baconsky: Le rire des Pères. Essai sur le rire dans la patristique grecque, Paris 1996, sowie in den beiden Aufsätzen von Gerhard Schmitz: »… quod rident homines, plorandum est«. Der Unwert des Lachens in monastisch geprägten Vorstellungen der Spätantike und des frühen Mittelalters, in: Stadtverfassung – Verfassungsstaat – Pressepolitik. Festschrift für E. Naujoks zum 65. Geburtstag, hg. v. F. Quarthal und W. Setzler, Sigmaringen 1980, S. 3–15, und: Ein Narr, der da lacht … Überlegungen zu einer mittelalterlichen Verhaltensnorm, in dem Sammelband: Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur, hg. v. Thomas Vogel, Tübingen 1992, S. 129–153, sowie bei Thiede: S. 114 ff. Ich verweise auch auf den Aufsatz von Görge K. Hasselhoff: Lachen als Element der Religionsphilosophie? – Anregungen aus der Antike, in: Kritische Religionsphilosophie. Eine Gedenkschrift für Friedrich Niewöhner, Berlin 2010, S. 1–24. 6 Die »salomonischen« Texte des Alten Testamentes stammen nicht vom legendären König Salomo, sondern wurden ihm nur zugeschrieben, um das Prestige dieser Texte zu erhöhen. Die fünf Moses-Bücher stammen ja auch nicht von Moses, und ob es den je gegeben hat, weiß man nicht. Dieser lockere Umgang mit Verfassernamen war ein in der Antike durchaus übliches Verfahren. Vgl. dazu Burton L. Mack: Wer schrieb das Neue Testament? Die Erfindung des christlichen Mythos, München 2000. Ich zitiere die »Sprüche Salomos« und den »Prediger Salomo« (Ko-

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heleth) nach der Luther-Bibel, »Die Weisheit Salomos« und »Die Sprüche Jesus’, des Sohnes Sirachs« nach dem alten »Kautzsch«: Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, hg. v. E. Kautzsch, 2 Bde, Tübingen 1900. 7 Der Apostroph in ›la’ag‹ steht für den Kehlkopf-Knacklaut Ayin. 8 Vgl. dazu auch Le Goff, S. 31 und den Artikel »gelao, katagelao, gelos« von Heinrich Rengstorf im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. I, S. 656 ff. Der Theologe Friedemann Richert scheint von diesem aggressiven la’agLachen noch nie etwas gehört zu haben (vgl. dazu Richert, S. 45 ff.) und läßt deshalb sogar die Tiere auf das heiterste lachen. Über verschiedene Formen des Zannens als Steigerung des Bleckens unterrichten die beiden Aufsätze von Katrin Kröll: Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters (S. 11–93), und: Der schalkhaft beredsame Leib als Medium verborgener Wahrheit. Zur mittelalterlichen Bedeutung von Entblößungsgebärden in Bildkunst, Literatur und darstellendem Spiel (S. 239–294) in dem Sammelband: Katrin Kröll/ Hugo Steger (Hg.): Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters, Freiburg 1994. 9 Ähnliches geschieht in den Sprüchen Salomos 1,26, in denen die personifizierte göttliche Weisheit ihre Verächter verlacht. 10 Das Imperfekt im Hebräischen bezeichnet nicht unbedingt einen Vorgang der Vergangenheit, sondern im Gegensatz zum Perfekt eine unabgeschlossene, weiterhin andauernde oder immer wieder neu ansetzende Handlung und entspricht somit in etwa einer dispositionalen Aussage im Sinne von Ryle. Vgl. dazu Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1968, S. 155 ff. 11 Vgl. dazu Johann Jakob Stamm: Der Name Isaak, in: Festschrift für D. Albert Schädelin. Das Wort sie sollen lassen stahn, Bern 1950, S. 33–38, sowie Thiede S. 34 ff., Voeltzel S. 26 ff. und die hilflos schwafelnde traditionell allegorische Interpretation von Kuschel S. 93 ff., die in den Sätzen gipfelt, Isaak heiße nicht zufällig Isaak, »was wörtlich übersetzt heißt: ›Gott lacht‹ ! Will sagen: In Isaak lacht Gott über die menschliche Kleingläubigkeit. Isaak und damit Israel sind (nach der Ursprungsabsicht Gottes) das Geschenk eines glücklich lachenden Gottes an die Menschheit.« (S. 99) 12 Vgl. dazu Eduard Norden: Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee, Darmstadt 1969, S. 59 ff. und S. 73 ff., wo Norden die Entwicklungsgeschichte des Mythos vom »lachenden göttlichen Sonnenkind« vom alten Ägypten bis zum frühen Christentum vorstellt. Die Studie von Paul Schwarzenau: Das göttliche Kind. Der Mythos vom Neubeginn, Stuttgart 1984, ist für unsere Fragestellung ganz unergiebig. 13 Ich zitiere Vergil nach der Ausgabe: Vergil: Landleben. Bucolica – Georgica – Catalepton. Lateinisch und deutsch, hg. v. Johannes Götte, München 1949, S. 24/25. 14 Vgl. dazu Erich Auerbach. Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/München 3/1964, S. 74 ff. über das Verfahren der Figuraldeutung, die zwischen zwei Geschehnissen, Situationen und Personen unterschiedlicher Zeiten und Räume vorweisende und rückweisende Bezüge herstellt, wobei

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Anmerkungen

»eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere dagegen das eine einschließt und erfüllt. (…) Praktisch handelt es sich zunächst fast nur um Interpretationen des Alten Testaments, dessen einzelne Episoden als Figuren oder Realprophezeiungen der Ereignisse des Neuen gedeutet werden.« (S. 75) Derlei Rückverweise auf das Alte Testament finden sich v. a. bei Matthäus zuhauf und werden mit der stereotypen Floskel »auf daß erfüllet würde, was geschrieben steht« kenntlich gemacht. Dieses Verfahren der figuralen Voraus- und Rückverweisung ist durch den Papst Gregor den Großen um 600 zum Dogma vom mehrfachen Schriftsinn erhoben worden und den Theologen seitdem in einem solchen Maß selbstverständlich, daß es einem Skandal gleichkommt, wenn sich ein Bibel-Übersetzer diesem Prinzip einmal nicht beugt, wie dies bei der berüchtigten Wertheimer Bibel (1735) des Johann Lorenz Schmidt der Fall war, weil dann die Präsentation des dogmatisch vorgegebenen mehrfachen Schriftsinnes nicht mehr möglich ist. Vgl. zu dem Figural-Verfahren auch Mack, S. 338 ff., sowie Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten, München 2006, wo Assmann darlegt, in welch virtuoser Weise Thomas Mann in seinen Josephs-Romanen dieses Verfahren handhabte, auf das er auch in seinem Freud-Vortrag von 1938 mit allem Nachdruck verwies. 15 Es spricht für Gisbert Kranz, daß er geradezu allergisch auf alle reduktionistischen Theorien reagiert. So referiert er z. B. die These von Thomas Hobbes, »im Lachen äußere sich ›nichts anderes‹ als das plötzliche Hochgefühl aus der plötzlichen Erkenntnis der eigenen Überlegenheit« (S. 15) und kommentiert dies mit der sarkastischen Bemerkung, wie verdächtig ihm alle Urteile seien, die als reduktionistisches Leitfossil die Wendung »nichts als« enthalten. 16 Vgl. dazu Kuschel: Lachen, S. 99 ff., der die einschlägige Diskussion kurz referiert. 17 Vgl. dazu Horst Dieter Preuß: Verspottung fremder Religionen im Alten Testament, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971, S. 227 ff. 18 Hermann Vorländer: Der Monotheismus Israels als Antwort auf die Krise des Exils, in: Der einzige Gott. Die Geburt des Monotheismus, hg. v. Bernhard Lang, München 1981, S. 84–114, hier S. 97. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Walter Dietrich: Der Eine Gott als Symbol politischen Widerstands. Religion und Politik im Juda des 7. Jahrhunderts, in: Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte, hg. v. Walter Dietrich und Martin A. Klopfenstein, Freiburg/Göttingen 1994, S. 463–490. 19 Von Kuschel gibt es noch einen weiteren thematisch einschlägigen Text: »Christus hat nie gelacht?« Überlegungen zu einer Theorie des Lachens, in: Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur, hg. v. Thomas Vogel, Tübingen 1992, S. 106–128. 20 Kuschel: Lachen, S. 11. Kuschel ist oder war ein enger Mitarbeiter von Hans Küng und meint mit dem »Kältestrom« die restriktiven Maßnahmen des Vatikans gegen den Theologen Hans Küng. 21 Eine Anleihe bei Joachim Ritters vielzitierter reduktionistischer Theorie des Lachens als Antwort auf das Komische, wobei immer einer der beiden Partner in

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diesem Spiel der oder das »Ausgegrenzte« und der andere Partner der oder das »Ausgrenzende« ist bzw. »die ausgrenzende Lebensordnung selbst«. Vgl. Joachim Ritter: Über das Lachen (1940), in: Joachim Ritter: Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 62–92, v. a. S. 74 ff. In Kapitel 2.17.4.4.6 gehe ich ausführlicher auf Ritters Aufsatz ein. 22 Zit. nach Kautzsch, I,486. Kuschel verwendet die Übersetzung der Bibel »in heutigem Deutsch«. 23 Blaise Pascal: Lettres provinciales. Briefe an einen Freund in der Provinz, Köln 1962, S. 214. 24 Zur solitären Existenz Jahwes vgl. Bernhard Lang: Die Jahwe-allein-Bewegung, in: Der einzige Gott, hg. v. Bernhard Lang, München 1981, S. 47–83, hier S. 60 ff. 25 Mein Bild von Augustinus ist entscheidend durch die Schriften von Kurt Flasch geprägt, die es mir ermöglicht haben, meine Empörung über dessen gnadenlose Theologie auch begrifflich zu fassen und zu rechtfertigen. Ich verweise besonders auf die Arbeiten: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 3/2003, und auf: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. De diversibus quaestionibus ad Simplicianum I 2., Mainz 2/1995, sowie auf die beiden ersten Kapitel in: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt a. M. 2008, S. 11–42. All diese Arbeiten kreisen um die gnadenlose Gnadenlehre des Bischofs aus Hippo in konzentrischen Ringen. 26 Einen Einblick in die Fülle der vorliegenden Texte, die nicht in den christlichen Kanon aufgenommen worden sind, vermittelt die Neuauflage des klassischen »Hennecke«: Wilhelm Schneemelcher (Hg.): Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 2 Bde, Tübingen 6/1997. 27 Vgl. Suchomski: »Delectatio« und »utilitas«, S. 11 ff. 28 Für Mack (S. 70–88) ist das allerdings sehr wohl denkbar, denn unter den von ihm identifizierten fünf Gruppen von Jesus-Jüngern, die zur Entstehung des Neuen Testaments beigetragen haben, sieht er zwei Gruppen, die ganz in der Tradition der Kyniker stehen: die »Q-Gemeinschaft« als Urheber der »Logienquelle Q« und die »Jesus-Schule«, die die Verkündigungs-Geschichten sammelten, und auf diesem Weg entwirft er das ganz ungewohnte Bild eines witzigen und schlagfertigen Jesus in der Nachfolge des Diogenes, ein Bild also, das den meisten Christen nicht sehr gefallen dürfte, selbst denen nicht, die sich gern einen lachenden Christus wünschen. 29 Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen, I,637 ff., v. a. S. 643. 30 Das Evangelium des Judas aus dem Codex Tchacos, hg. v. Rodolphe Kasser, Marvin Meyer und Gregor Wurst, Wiesbaden 2006. 31 Nag Hammadi Deutsch. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften. Hg. v. Hans-Martin Schenke, Hans-Gebhard Bethge und Ursula Ulrike Kaiser, 2 Bde, Berlin 2001/2003, S. 569–590. Der Text findet sich auch in der Edition: Bibel der Häretiker. Die gnostischen Schriften von Nag Hammadi. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Gerd Lüdemann und Martina Janßen, Stuttgart 1997, S. 404–417. 32 Nag Hammadi II,583; vgl. auch Bibel der Häretiker S. 409. 33 Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen, II,642 f.; vgl. auch Nag Ham-

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Anmerkungen

madi II,598 f. und Bibel der Häretiker S. 426 f. Der katholische Dissident Adolf Holl betont in seinem reichlich wirren Werk »Der lachende Christus« (Wien 2005), dieses Lachen des gnostischen Christus sei ein »herzliches« (vgl. S. 12) und »heiteres« (vgl. S. 11) Lachen, erkennt also die demokritische Tradition überhaupt nicht, in der der lachende Christus der Gnosis steht, und scheint deshalb zu glauben, er könne auf diesem Weg das Lachen für das Christentum retten. 34 Vgl. Judas-Evangelium, S. 21, S. 24, S. 31 und S. 42. 35 Vgl. dazu Kurt Rudolph: Die Gnosis, Göttingen 4/2005, S. 166–186. Der Terminus ›Doketismus‹ kommt von dokesis = ›Schein‹. 36 Hans Jonas: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christoph Wiese, Frankfurt a. M. 1999, S. 384 f. 37 Eine Anspielung auf die klassische Messias-Ankündigung Daniel 7,13. 38 Nag Hammadi II,586 f.; vgl. auch Bibel der Häretiker, S. 413 f. und Rudolph, S. 162 f. 39 Wolf-Daniel Hartwich: Die Harmonik der Erlösung. Zur Theologie und Poetik der Heiterkeit in christlicher Tradition, in: Heiterkeit. Konzepte in Literatur und Geistesgeschichte, hg. v. Petra Kiedaisch und Jochen A. Bär, München 1977, S. 231–261, hier S. 241. 40 Rudolph: Gnosis, S. 98. 41 Vgl. dazu auch die Wiedergabe des gnostischen Mythos in gedrängtester Kürze bei Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Düsseldorf 3/2000, S. 177 ff. und bei Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1999, S. 139–149. Dieses Kapitel ist auch auszugsweise abgedruckt in dem Sammelband: Weltrevolution der Seele. Ein Leseund Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart, hg. v. Peter Sloterdijk und Thomas H. Macho, Zürich 1993, S. 228–233. Ich verweise auch auf Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt a. M. 1987, S. 331–334. 42 Rudolph: Gnosis, S. 135 f. 43 Vgl. Rudolph, S. 137 ff. 44 Der Johannes der drei Johannes-Briefe ist nicht identisch mit dem Evangelisten Johannes und dem der Apokalypse, gehört aber zum selben Kreis. Zum gnostischen Einfluß auf diesen Kreis vgl. Rudolf Bultmann: Das Johannesevangelium, Göttingen 1941 und Mack, S. 239 ff., S. 261 ff. und S. 289 ff. 45 Vgl. Suchomski: »Delectatio« und »utilitas«, S. 14. 46 Vgl. Suchomski, S. 16. 47 Schmitz: Leib, S. 508. 48 Vgl. dazu die klassische Studie von Klaus Conrad: Die beginnende Schizophrenie. Eine Gestaltanalyse des Wahns, Stuttgart 1958, in der die einzelnen Schübe beschrieben werden, die die Welt dem Schizophrenen immer unheimlicher erscheinen lassen. Einer dieser Schübe bewirkt das Gefühl, von fremden Mächten beherrscht zu sein, die sich im eigenen Innern festgesetzt haben und denen man wehrlos ausgeliefert ist. Das gleiche Phänomen beschreibt auch Antonin Artaud in seinen »Briefen aus Rodez« (München 1979, S. 9 ff.) sehr eindringlich. Eine Fund-

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grube zu dem Thema aus psychologischer Sicht ist das Sammelwerk: Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Gespräch über transkulturell-anthropologische und -psychiatrische Fragen, hg. v. Jürg Zutt, Bern/München 1972. Aus katholisch-exorzistischer Sicht argumentiert der Jesuit Adolf Rodewyk: Die dämonische Besessenheit in der Sicht des Rituale Romanum, Aschaffenburg 1963. Und schließlich verweise ich noch auf die anthropologische Analyse dieses Gefühls der Preisgegebenheit, das Schmitz in: Person, S. 454 ff. als personale Regression und als Rückfall in den Zustand vor der frühkindlichen Fremdelphase bestimmt. 49 Ich zitiere Clemens von Alexandria nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften aus dem Griechischen übersetzt von Stählin, 5 Bde, München 1934. 50 Vgl. dazu Norden, S. 76 ff. 51 Der Traktat des Clemens über das Lachen ist auch bei Hartwich in voller Länge abgedruckt und mit einem umfangreichen und sehr erhellenden Kommentar versehen. 52 Lukas 6,43 bzw. Matthäus 7,18. 53 Gemeint sind die Freier in Gesang 18 ff. der Odyssee, die um Penelope werben. 54 Jesus Sirach 21,20. 55 Ilias 7,212; die Rede ist vom kämpfenden Ajas. 56 Politeia VII, 518B. 57 Odyssee 14,465. 58 Odyssee 14,466. Die beiden Verse stammen aus der Rede des Odysseus, der nach seiner Heimkehr noch inkognito bei den Schweinehirten übernachtet und nach dem Essen ins Erzählen gerät. Clemens zitiert dies hier wohl deshalb, weil Odysseus in der Antike und offenbar auch noch für ihn selbst als Held von mustergültiger Vernünftigkeit, Besonnenheit und Selbstbeherrschung galt. 59 Vgl. Hartwich, S. 236. 60 Vgl. dazu Kurt Goldstein: Der Aufbau des Organismus, Haag 1934, S. 220 ff. 61 Vgl. dazu die Anthropologie von Hermann Schmitz: Die Person, Bonn 1980, die ganz auf dem Gegensatz von »personaler Emanzipation« und »personaler Regression« aufgebaut ist. 62 Auf den Zusammenhang von Aufrichtung zum aufrechtem Stand und personaler Emanzipation resp. von Privation der Vertikalen, Standverlust und personaler Regression werden wir immer wieder zurückzukommen haben, v. a. in den Kapiteln 2.9.4.3, 2.12.2.1, 3.3.1.3, 3.4.3 und 3.5.4.3, weil dieser Zusammenhang für eine phänomenologische Analyse des Lachens von zentraler Bedeutung ist. Der Entdecker dieses Zusammenhangs ist Johann Gottfried Herder; deren grundlegende Analyse stammt von Hermann Schmitz: Die Person, Bonn 1980, S. 95–113. Ich verweise auch auf die eben erschienene Studie von Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012, die ich leider nicht mehr einarbeiten konnte. 63 Vgl. dazu Walther Rehm: Experimentum Medietatis, München 1947. 64 Vgl. dazu die umfangreiche Studie von Walther Völker: Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus, Berlin 1952.

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Anmerkungen 65

Die Unterscheidung zwischen »ataraktischem« und »kathartischem« Lachen stammt von Hartwich; vgl. dort S. 242. 66 Ein Zitat aus Lukas 20,36, wo Jesus über die Kinder sagt: »Denn sie können hinfort nicht sterben; denn sie sind den Engeln gleich und Gottes Kinder, dieweil sie Kinder sind der Auferstehung.« 67 Eine Anspielung auf Matthäus 13,43, wo den Auferstandenen ein strahlendes Lachen zugeschrieben wird: »Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich.« 68 Vgl. dazu die umfangreiche Studie von Lars Ivar Ringbom: Graltempel und Paradies, Stockholm 1951, in der die ikonologische Herkunft des Nimbus mit vielen Abbildungen verdeutlicht wird. 69 Peter Brown, Engel, S. 142. 70 Vgl. weiter unten dazu das Kapitel 2.7.9 über das Osterlachen. 71 Clemens verweist hier explizit auf den Theaitet-Dialog Platons, wo Sokrates die »Verähnlichung mit Gott« empfiehlt, »und diese Verähnlichung besteht darin, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht.« (176B) 72 Ich zitiere nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften. Von den Todesarten der Verfolger. Vom Zorne Gottes. Auszug aus den göttlichen Unterweisungen. Gottes Schöpfung, Kempten/ München 1919. 73 Metamorphosen I,76–86. Ich zitiere die »Metamorphosen« immer nach der Ausgabe: Publius Ovidius Naso’s Werke. Erstes Bändchen. Verwandlungen, übersetzt von Heinrich Christian Pfitz, Pfarrer in Eishausen bei Hildburghausen, Stuttgart 1833. 74 So zumindest verstehe ich das Kapitel »Weltoffenheit und Gottesebenbildlichkeit« in Wolfhart Pannenbergs Studie: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 40–150, obwohl Laktanz dort nicht erwähnt wird. Der Ausgangspunkt Pannenbergs (vgl. S. 41 ff.) ist ein Gedanke Herders, demzufolge auch Religiosität ein proprium hominis sei. Dieser Gedanke findet sich auch bei Helmuth Plessner, auf den wiederum Pannenberg aufbaut, indem er aus Plessners Begriff der »exzentrischen Positionalität« eine anthropologische Begründung der Erbsünde glaubt ableiten zu können. Zur theologischen Kritik dieser abenteuerlichen Argumentation vgl. die Studie von Freimut Schirrmacher: Der natürliche Mensch. Helmuth Plessners religionsanthropologische Systematik in ihrer Bedeutung für die theologisch-anthropologische Urteilsbildung, Würzburg 2000, S. 68 ff. 75 Vgl. dazu Katharina Weisrock: Götterblick und Zaubermacht. Auge, Blick und Wahrnehmung in Aufklärung und Romantik, Opladen 1990, sowie: Thomas Rakoczy: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Auges in der griechischen Literatur, Tübingen 1996. Die Dissertation von Rakoczy leidet allerdings darunter, daß Rakoczy nicht deutlich genug zwischen dem Vorgang des Sehens und dem Phänomen des Blicks unterscheidet. 76 Die archetypische Szene findet sich im Buch Exodus 3,6, wo Jahwe vor Mose erscheint und sich als sein Gott zu erkennen gibt, Moses aber sein Gesicht verhüllt, »denn er fürchtete sich Gott anzuschauen.«

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Vgl. dazu Karl Heussi: Der Ursprung des Mönchtums, Reprint Aalen 1981; Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München/Wien 1991; Heinrich Holze: Erfahrung und Theologie beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu einer Theologie des mönchischen Lebens bei den ägyptischen Mönchsvätern, Johannes Cassian und Benedikt von Nursia, Göttingen 1992. 78 Ich zitiere die Rede gegen das Lachen nach der zweisprachigen Ausgabe von W. Heffening: Die griechische Ephraem-Paraenesis gegen das Lachen in arabischer Übersetzung. Ein Beitrag zum Problem der arabischen Ephraem-Übersetzungen und ihrer Bedeutung für eine kritische Ausgabe des griechischen Ephraem, in: Oriens christianus, 2, 3. Serie, 1927, S. 94–119. Zur problemgeschichtlichen Einordnung von Ephraems Kult der Träne vgl. Barbara Müller: Der Weg des Weinens. Die Tradition des »Penthos« in den Apophthegmata Patrum, Göttingen 2000. 79 Gemeint sind Affekte und Leidenschaften, aber auch erotische Anwandlungen. 80 Eine Anspielung auf die Bergpredigt Lukas 6,21: »Weh euch, die ihr hier lachet, denn ihr werdet weinen und heulen.« 81 Gemeint ist der »Gewissenswurm«, das unaufhörlich nagende schlechte Gewissen. 82 Ich zitiere nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des Heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus ausgewählte Schriften. Aus dem Griechischen übersetzt, 7 Bde, München 1924 ff. 83 Besonders ausgeprägt ist die militaristische Metaphorik in dem Traktat »Über das Priestertum« (IV,245 ff.) dort, wo Johannes Chrysostomus eine ganze Schlacht beschreibt. 84 Ausgangspunkt der Darstellung ist die Ankunft der drei Magier aus dem Morgenland, deren Fragen nach dem eben geborenen König der Juden und das Erschrecken des Königs Herodes. Dieses Erschrecken führt dann zum viel größeren Erschrecken beim Jüngsten Gericht, zur Vorbereitung auf dieses Gericht durch Zerknirschung und den dazu gehörenden Tränen der Reue, und von der tränenreichen Reue schließlich zum hoffärtigen Lachen als der konträren Haltung. 85 Exorzismen finden sich im Matthäus-Evangelium zuhauf, z. B. 4,10; 7,22; 8,28 ff.; 9,1–38; 13,39. 86 Die Bände I–IV enthalten den Kommentar zu Matthäus, der Band IV den Traktat über das Priestertum, Band V–VI den Kommentar zum Römerbrief, Band VII den Kommentar zu den Briefen des Paulus an die Philipper und Kolosser. 87 Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Stuttgart 8/1995, S. 31 ff. 88 »Was uns der hl. Paulus zu meiden gebot, ›törichtes und ausgelassenes Geschwätz‹ (Epheser 5,4), gerade das treibt der Teufel uns an, zu suchen.« (I,113) Der Ort, an dem all dies vorrangig ausagiert wird, ist für Johannes das Theater. 89 Eine Anspielung auf die beiden Passagen aus der Bergpredigt: »Selig seid ihr, die ihr hier weinet; denn ihr werdet lachen.« (Lukas 6,21) und: »Weh euch, die ihr hier lachet, denn ihr sollt weinen und heulen.« (Lukas 6,25) 90 Ich zitiere nach der Ausgabe: Tertullian: De spectaculis/Über die Spiele. Latei-

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Anmerkungen

nisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Karl-Wilhelm Weber, Stuttgart 2000. Vgl. dazu auch: Werner Weismann: Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin, Würzburg 1972. 91 Ich zitiere nach der Ausgabe: Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Aus dem Lateinischen übertragen und mit einer Einführung von Wilhelm Timme, München 1982. 92 Vgl. Rudolph: Gnosis, S. 74 und Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist, Bd. I: Die mythologische Gnosis, Göttingen 2/1954, S. 284–320 und S. 328–362. 93 Rudolph, S. 75. 94 Vgl. Gerhard Schmitz: … quod rident homines. 95 Zit. nach Lenz Prütting: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 17 (2006) 1/2, S. 123–137, hier S. 132. 96 Pannenberg schreibt in dem Kapitel »Ursünde, Erbsünde, Tod« (S. 116 ff.) unter Verweis auf die Augsburger Konfession von 1530, die sich ja dezidiert auf Augustinus stützt: »Die Menschen werden nicht durch ihre Taten erst und durch die Nachahmung des schlechten Beispiels anderer zu Sündern, sondern sind es schon vor allem eigenen Tun.« (S. 117) Eine Schuld vor und jenseits jeder Tat? Wie absurd! Ich verweise noch mal auf die oben in Anmerkung 25 angeführten Arbeiten von Kurt Flasch, die die Herkunft dieser absurden Theologie aus der politischen Situation um 400 und der verqueren Psyche dieses Herrn aus Hippo eindrucksvoll darlegen. 97 Ich zitiere nach der Ausgabe: Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. (De civitate dei), 2 Bde, München 3/1991. 98 Martin Buber/Franz Rosenzweig: Die fünf Bücher der Weisung, Köln & Olten 1954, S. 47. 99 Eine Anspielung auf den Brief an die Galater (4,22–31), wo Paulus durch allegorische Exegese Sara und Hagar und deren Söhne Isaak und Ismael als Verkörperungen des alttestamentlich-jüdischen und neutestamentlich-christlichen Gottesvolkes vorstellt: »Aber der von der Magd (Hagar) war, ist nach dem Fleisch geboren; der von der Freien (Sara) ist durch die Verheißung geboren. (…) Denn das sind die zwei Testamente: eins von dem Berg Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches ist die Hagar. (…) Aber das von Jerusalem, das ist die Freie.« (4,23–26) 100 Vgl. dazu die Bücher 8 und 9 des »Gottesstaates«. 101 Im religiösen Theater des Mittelalters wird das Auslachen des Teufels sogar zu einem zentralen dramaturgischen Element der komischen Szenen und somit unabdingbarer Bestandteil der dramatischen Handlung. 102 Vgl. dazu Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten, München 2006, S. 63 ff. 103 Augustinus zitiert hier Jesus Sirach 10,13: »Denn der Anfang der Überhebung ist die Sünde.« Dieser Stelle ist auch Clemens verpflichtet, wenn er schreibt: »Eigenliebe aber ist für jedermann jederzeit Ursache aller Verfehlungen.« (IV,275) 104 Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 158. 105 Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung. Band 2: Nachantike Philosophie, Freiburg/München 2007, S. 38.

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Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 3/2003, S. 136 f.; vgl. auch S. 207 ff. 107 Vgl. dazu das Kapitel über Augustinus in: Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1953, S. 148–159, v. a. S. 153 ff. 108 Vgl. Gottesstaat II,188. 109 Vgl. Bekenntnisse, S. 252. 110 Sie finden sich in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des heiligen Ephräm ausgewählte Schriften, 2 Bde, München o. J. Zum Kult der Träne im frühen monastischen Christentum vgl. auch G. Schmitz: … quod rident, S. 5 ff., sowie Barbara Müller: Der Weg des Weinens. Die Tradition des »Penthos« in den Apophthegmata Patrum, Göttingen 2000. 111 Ich zitiere Plessner nach der Ausgabe: Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, 10 Bde, Frankfurt a. M. 2003, hier VII,425. 112 Vgl. dazu den Sammelband: Askese und Mönchtum in der Alten Kirche, hg. v. Karl Suso Frank, Darmstadt 1975. 113 Anregungen verdanke ich folgenden Arbeiten: Karl Suso Frank: Geschichte des christlichen Mönchtums, Darmstadt 5/1993; Karl Suso Frank: Frühes Mönchtum im Abendland, 2 Bde, Zürich/München 1975; Karl Heussi: Der Ursprung des Mönchtums, Tübingen 1936; Friedrich Prinz: Askese und Kultur. Vor- und frühbenediktinisches Mönchtum an der Wiege Europas, München 1980; Heinrich Holze: Erfahrung und Theologie im frühen Mönchtum. Untersuchungen zu einer Theologie des monastischen Lebens bei den ägyptischen Mönchsvätern, Johannes Cassian und Benedikt von Nursia, Göttingen 1992; Heinrich Bacht: Das Vermächtnis des Ursprungs. Studien zum frühen Mönchtum, 2 Bde, Würzburg 1972/1983; Johanna Lanczkowski: Lexikon des Mönchtums und der Orden, Wiesbaden 1997. Die eben erschienene Studie von Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Frankfurt a. M. 2012, konnte ich nicht mehr einarbeiten; dies war aber auch nicht nötig, weil sie keine grundsätzlich neuen Gesichtspunkte bietet. 114 Zit. nach Frank: Geschichte des christlichen Mönchtums, S. 5 f. 115 Heussi: Der Ursprung des Mönchtums, S. 53. 116 Ich zitiere Athanasius nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des hlg. Athanasius ausgewählte Schriften, 2 Bde, Kempten/München 1917. 117 Ich zitiere nach der Ausgabe von Karl Suso Frank: Mönche im frühchristlichen Ägypten. (Historia Monachorum in Ägypto), Düsseldorf 1967. 118 Ich zitiere Palladius nach dem Sammelband in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Griechische Liturgien. Leben der hl. Väter von Palladius. Leben der hl. Melania von Gerontius, Kempten/München 1912. 119 Ich zitiere Theodoret nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Bd. I enthält: Des Bischofs Theodoret von Cyrus Mönchsgeschichte, Bd. II: Des Bischofs Theodoret von Cyrus Kirchengeschichte, München o. J. 120 Ich zitiere nach der Ausgabe: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, Freiburg 1965.

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Anmerkungen 121

Eine Anleihe bei Paulus aus dem 1. Korintherbrief 9,27. Theodoret hat hier die Bündnisse im Auge, die das Römische Reich mit den von ihm besiegten Völkern zu schließen pflegte, die aber nie Verträge zwischen zwei gleichrangigen Partnern auf Augenhöhe waren, sondern die totale Unterwerfung des Vertrags-Opfers zum Ziel hatten. 123 Das Vorbild für diese Festung ist natürlich Jerusalem, die »hochgebaute Stadt«. 124 Gemeint ist die Verpönung der aristotelischen Eutrapelie nach Epheser 5,4. 125 Historia Monachorum, S. 32. Aufschlußreich für die Einschätzung der Mönche ist auch ein Hinweis des Herausgebers Frank auf eine Seligkeits-Skala aus dem dritten Jahrhundert, als die Christen noch Verfolgungen ausgesetzt waren: »Die hundertfältige Frucht ist Märtyrern, die sechzigfältige den Asketen und die dreißigfältige den Weltchristen verheißen.« (S. 16) 126 Ich zitiere nach der Ausgabe: K. Suso Frank: Die Magisterregel, St. Ottilien 1989. 127 Ich zitiere hier ausnahmsweise mal die Bibel nach der Übersetzung »in heutigem Deutsch«. 128 Ich zitiere nach der Ausgabe in dem Sammelband von Frank: Frühes Mönchtum im Abendland, Bd. I, S. 48 ff. 129 Vgl. Handarbeit, S. 84 ff., sowie das Kapitel »Beten und arbeiten« bei Holze, S. 107 ff. und das Kapitel »Mönchtum und Arbeitsethos« bei Prinz, S. 68 ff. 130 Ich zitiere Kassian nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Sämmtliche Schriften des ehrwürdigen Johannes Cassianus, aus dem Urtexte übersetzt, 2 Bde, Kempten 1879. 131 Weitere einschlägige Logien zum Thema finden sich in den Kapiteln Matthäus 24 und Lukas 21. 132 Vgl. zu dem Thema das umfangreiche Material bei Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001. 133 Vgl. Heussi: Der Ursprung des Mönchtums, S. 39 f. 134 Vgl. dazu Bacht: Bd. II: Pachomius – Der Mann und das Werk. 135 Ich orientiere mich hier an der Studie von Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim/Wien/Zürich 1969. 136 Jacob Burckhardt: Die Zeit Constantins des Großen, München 1982, S. 311. 137 Ich zitiere nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des Firmicus Maternus Schrift vom Irrtum der heidnischen Religionen, in: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten, Bd. 2, Kempten/München 1913, S. 207–290, hier S. 286. 138 Vgl. dazu Pierre de Labriolle: La Réaction païenne, Paris 1934, sowie Joseph Bidez: Julian der Abtrünnige, München 1940. 139 Ich zitiere nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Leben des hl. Paulus, des ersten Einsiedlers, in: Des heiligen Kirchenvaters Hieronymus ausgewählte historische, homiletische und dogmatische Schriften, Kempten/München 1914, Bd. I, S. 20 ff. 122

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Die christlichen Kirchenväter 140

Theodoret, II,299–304. Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Heinz Grundmann, Stuttgart 2003. 142 Vgl. Jacobus de Voragine: Legenda aurea, 2 Bde, Jena 1917. Die SchützenAnekdote findet sich in Bd. I, S. 161. 143 Ich zitiere die »Summa« nach der Ausgabe: Thomas von Aquin: Summe der Theologie. Zusammengefaßt, eingeleitet und erläutert von Joseph Bernhart, 3 Bde, Stuttgart 3/1985, aber nur, wenn es denn gar nicht anders geht, weil mich das im Sinne von Eduard Engel »entwelschte« Deutsch des Übersetzers ganz gewaltig nervt. 144 Zur Biographie des Pachomius vgl. Athanasius: Leben des heiligen Pachomius, in: Athanasius II,779–900 und Palladius S. 381 ff., sowie Heussi: Der Ursprung des Mönchtums, S. 115 ff., v. a. aber Heinrich Bacht: Das Vermächtnis des Ursprungs, Bd. II.: Pachomius – Der Mann und das Werk, Würzburg 1983. 145 Leben und Gefangenschaft des Mönches Malchus, in: Hieronymus I,73–83, hier S. 79 f. Gefangen wurde Malchus von arabischen Nomaden auf einer Reise durch die Wüste. 146 Vgl. Burckhardt, S. 310 ff. 147 Ich zitiere die Engelsregel nach Bacht: Das Vermächtnis des Ursprungs II,82 ff. 148 Vgl. Palladius, S. 381 ff. Dieses legendenhafte Element fehlt in der PachomiusVita aus der Zeit um 360/370, die man Athanasius zuschreibt, aber wohl doch nicht von ihm stammt, ist also eine nachträgliche Auratisierung des Pachomius und seines Werks durch Palladius. 149 Als Hieronymus das Regelwerk des Pachomius um 404 ins Lateinische übersetzte, verschärfte er diese Bestimmung entsprechend der neuen kirchenpolitischen Situation nach 391, indem er »lachen« durch »lächeln« ersetzte. Vgl. dazu Heinrich Bacht SJ: Antonius und Pachomius. Von der Anachorese zum Cönobitentum, in: Frank: Askese und Mönchtum, S. 183–229, hier S. 199. 150 Vgl. dazu die Anmerkungen von Bacht: Das Vermächtnis des Ursprungs II,131, der dort auf weitere Literatur zum militärischen Hintergrund dieses Rituals verweist. 151 Vgl. dazu Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 118 ff. 152 Vgl. Bacht: Das Vermächtnis des Ursprungs II,233. Hier war ich mit Bachts Übersetzung nicht ganz einverstanden und habe sie etwas verändert. Bei Pachomius heißt es: »Ne perdat animam suam propter verecundiam.« Bacht übersetzt: »Er soll seine Seele nicht aus falscher Scham verlieren.« Bacht unterschlägt also das soldatische Ethos bei Pachomius, dem durch den Begriff der Ehre immer noch ein Rest von antikem Heidentum innewohnt, was dem Jesuiten Bacht wohl zu unchristlich ist. Ich verweise auch auf meinen eigenen Aufsatz über Formen katastrophaler Scham: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 17 (2006) 1/2, S. 123–137, hier S. 131 ff. 153 Vgl. dazu die einschlägigen Passagen bei Bacht: Das Vermächtnis des Ursprungs II,83 und 105. 154 Ich zitiere nach der Ausgabe: Basilius von Caesarea: Die Mönchsregeln. Hinführung und Übersetzung von K. S. Frank, St.Ottilien 1981. 141

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Anmerkungen 155

Heussi: Der Ursprung des Mönchtums, S. 190; vgl. auch Schmitz: … quod rident, S. 4 ff. 156 Ich zitiere nach Bd. III der Ambrosius-Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Pflichtenlehre und ausgewählte Schriften, Kempten/München 1917, S. 813 ff.: »Von den Pflichten der Kirchendiener«. Vgl. dazu auch oben die Anmerkung 149. 157 Vgl. Cicero: De officiis, S. 426 ff. 158 Vgl. Cicero: De oratore, S. 345 ff. 159 Beide Abhandlungen finden sich in der Ausgabe der »Bibliothek der Kirchenväter«: Sämmtliche Schriften des ehrwürdigen Johannes Cassianus, 2 Bde, Kempten 1879. 160 Als Rechtfertigung dieser unmenschlichen Härte dient i. a. die Stelle Matthäus 19,29, wo es heißt: »Und wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird’s hundertfältig nehmen und das ewige Leben erwerben.« Im selben Kapitel findet sich auch das Gleichnis vom reichen Jüngling, dem nahegelegt wird, sein Vermögen zu verschenken, was dieser zwar nicht tut, sehr wohl aber all die reichen Jünglinge in den klassischen Mönchs-Biographien, allen voran der Wüstenvater Antonius. 161 Ich zitiere die Benedikt-Regel nach dem Sammelband in der »Bibliothek der Kirchenväter« über Klostergründer in der Westkirche: Des Sulpicius Severus Schriften über den hl. Martin. Des heiligen Vinzenz von Lerin Commonitorium. Des heiligen Benediktus Mönchsregeln, Kempten/München o.J, S. 229 ff.: Die Regel des heiligen Benedikt. 162 Über die Datierung der Magisterregel ist man sich in der Forschung nicht einig; die Datierungen reichen vom Anfang bis zum Ende des 6. Jahrhunderts. So weiß man auch nicht definitiv, ob sich Benedikt am Magister orientiert oder der Magister an Benedikt, und neuerdings gibt es sogar Zweifel daran, ob dieser heilige Benedikt überhaupt je gelebt hat und vielleicht bloß eine kirchenpolitische Erfindung des Papstes Gregor des Großen ist. Vgl. Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 2008, S. 38. Ich gehe mal davon aus, daß die Magisterregel die ältere ist, und die Benedikt-Regel die jüngere, von wem immer sie auch stammen mag. 163 Vgl. dazu die Reihe von Aufsätzen zum Thema Macht und Scham in: Berliner Debatte Initial Jg.17 (2006) Heft 1/2, S. 77–155. 164 Zit. nach: Adolar Zumkeller: Das Mönchtum des heiligen Augustinus, Würzburg 1968, S. 335. Im Regelwerk Augustins ist übrigens vom Lachen nirgendwo die Rede. Wahrscheinlich hielt er ein explizites Lachverbot nicht für nötig, weil es im Gebot der Schamhaltung schon enthalten ist, da es für ihn ja nur das sich aufbäumende hoffärtige Lachen gibt, das mit der Schamhaltung völlig unverträglich ist. 165 Vgl. dazu den Aufsatz von Hermann Schmitz: Kann man Scham auf Dauer stellen? aus der in Anmerkung 163 erwähnten Serie von Aufsätzen zum Thema Scham und Macht; dort S. 100 ff.

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Die christlichen Kirchenväter 166

Der Katalog Kassians aus acht Lastern wurde gegen Ende des sechsten Jahrhunderts durch Papst Gregor den Großen durch einige Umverteilungen zu einem Katalog von sieben Hauptsünden umgedeutet und bestimmt die Sündenlehre der katholischen Kirche bis heute. 167 Sören Kierkegaard: Stadien auf des Lebens Weg, Düsseldorf/Köln 1958, S. 506 f. 168 Vgl. dazu Gabriel Bunge: AKEDIA. Die geistliche Lehre des Evagrios Pontikos vom Überdruß, Würzburg 4/1995, sowie Schmitz: Gefühlsraum, S. 232–237 und: Rüdiger Augst: Acedia. Religiöse Gleichgültigkeit als Logismos und Denkform bei Evagrius Ponticus, Saarbrücken 1988. 169 2. Kor. 7,10. Ich zitiere hier ausnahmsweise mal nach der katholischen Übersetzung von 1830. 170 Vgl. dazu Barbara Müller: Der Weg des Weinens, S. 222 ff. und: Irénée Hausherr: Penthos. La doctrine de la componction dans l’Orient chrétien, Paris 1944. 171 Ich zitiere Gregor nach der Ausgabe in der »Bibliothek der Kirchenväter«: Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen ausgewählte Schriften, aus dem Lateinischen übersetzt, 2 Bde, München 1933. Die »Dialoge« finden sich im zweiten Band: Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen vier Bücher Dialoge, aus dem Lateinischen übersetzt von Prälat Joseph Funk, Domkapitular in Augsburg. 172 Die extreme Stilisierung der Benedikt-Vita und die vielen Wunder, die Benedikt hier zugeschrieben werden, machen den Historiker Johannes Fried mißtrauisch und lassen ihn sogar daran zweifeln, »daß er überhaupt über die Erde schritt«. Fried legt sogar nahe, daß nicht nur die Gestalt Benedikt, sondern auch seine Mönchsregel eine Erfindung des Vatikans ist; vgl. dazu Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 2008, S. 38. Selbst wenn dies stimmen sollte, spielt dies für uns keine entscheidende Rolle, weil für uns nur die Wirkung der Benedikt-Regel wichtig ist. 173 Vgl. dazu Kapitel 2.7.4. 174 Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München 1990, S. 114. 175 Vgl. dazu Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter, Stuttgart 2/1963, S. 12 ff., sowie Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, München 1995, S. 329 ff. Einen Einblick in den Text vermittelt auch der Traum des Adson in Umberto Ecos Roman: Der Name der Rose, München 1986, S. 542 ff.

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2.7 Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

2.7.1 Überblick Wenn man von Benedikt aus den Zeitsprung über ein halbes Jahrtausend in die Zeit zwischen 1100 und 1300, also mitten ins »Herz des Mittelalters« (Clévenot) macht, und dann untersucht, wie um diese Zeit die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des lachenden Menschen aufs neue gestellt und beantwortet wurde, so ist man gut beraten, keine eindeutige Antwort zu erwarten, sondern eher eine Bandbreite von Antworten, weil die Kirche in dieser Epoche zwar auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, ihre Einschätzung des Lachens aber gerade deshalb besonders viele Schattierungen aufweist, die, wie Ernst Robert Curtius mit Recht sagt, »von rigoristischer Ablehnung bis zu wohlwollender Duldung« (S. 423) reicht und sogar gewisse Ansätze zu einer expliziten Theologie des Lachens zeigt. Aus diesem Grund ist gerade diese Phase des Mittelalters alles andere als »finster« und für eine ideengeschichtlich orientierte Gelotologie besonders aufschlußreich. Dies liegt vor allem daran, daß in der Epoche zwischen 1100 und 1300 tiefgreifende Erneuerungsschübe das christliche Denken überformen und neu strukturieren, die sich teils aus der Eigendynamik der christlichen Theologie selbst ergaben, teils aber von außen, und das heißt: aus der heidnischen Antike kamen. Das für unsere Fragestellung wichtigste innertheologische Thema war die Neudeutung des christlichen Sündenbegriffs durch Anselm von Canterbury und die daraus entstehende Erfindung des Fegefeuers, weil durch die genauere Ausdifferenzierung der verschiedenen Grade von Sündhaftigkeit auch das Lachen theologisch genauer auf den Begriff gebracht werden konnte. 457 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

Dazu kam als Anregung von außen, daß in der Epoche zwischen 1100 und 1300 zentrale Denkwerke der heidnischen Antike aufs neue auftauchten und alsbald, wenn auch gegen gewaltige Widerstände, ins christliche Denken eingemeindet wurden und dort eine außerordentlich fruchtbare Wirkung entfalteten. Dies gilt u. a. für die Philosophie von Platon und Aristoteles, für die Vier-Säfte-Lehre der hippokratischen Schule und für die pneuma-Theorie der Stoiker. Das für uns wichtigste Ergebnis ist zum einen die Erhebung der aristotelischen Eutrapelie zu einem Tugendideal durch Thomas von Aquin, und zum andern eine theologisierte Physiologie, die sich aus der Fusion der stoischen pneuma-Lehre mit der biblischen Vorstellung vom wehenden Geist Gottes ergab. Es war vor allem diese theologisierte Physiologie, die sich als ideengeschichtlich besonders fruchtbar erwies, da sie ihren theologischen Rahmen alsbald sprengte und dann in säkularisierter Form als Theorie der Lebensgeister eine breite Wirkung entfalten sollte, die bis weit ins 18. Jahrhundert reichte. Es wird sich allerdings auch zeigen, daß nicht nur die Ansichten der lachfreundlichen Kirchenväter Clemens und Laktanz eine Renaissance erfuhren, sondern auch die der lachfeindlichen wie Chrysostomus, Augustinus, Ambrosius und Benedikt, weil es in der hier in Rede stehenden Epoche zwischen 1100 und 1300 nicht nur zum Rückgriff auf die heidnische und christliche Antike kommt, sondern auch im Sinne des Jakobus-Briefes zum entschlossenen Rückgriff auf die Traditionen des imperial verfügenden Zugriffs auf die Seele des einzelnen Christen wie auf die Welt als ganze, die die Kirche in dem Augenblick entwickelt hatte, als sie im Jahr 391 zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben worden war, denn schließlich ist die Zeit zwischen 1100 und 1300 auch die Zeit der Kreuzzüge innerhalb und außerhalb Europas. Diese lachfeindlichen Traditionen wurden später auf das massivste verstärkt durch die verschiedenen Schübe an neuer Frömmigkeit, die mit der Devotio moderna um 1400 begannen und weiterhin durch die immer wieder aufbrechenden apokalyptischen Ängste und die Erwartung des »Endkrist« (Sebastian Brant), der auch noch für die Reformatoren geglaubte Wirklichkeit war. Durch all dies wurden die Ansätze für eine theologische Recht458 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Überblick

fertigung des Lachens, die es bis dahin gegeben hatte, buchstäblich verteufelt und wieder vom Tisch gefegt. Das entscheidende Kriterium dafür war, wie wir sehen werden, die Beurteilung der Schlüsselstelle aus dem Epheser-Brief des Apostels Paulus. Und da auch die katholische Gegenreformation dieselbe neue Ernsthaftigkeit und Lachfeindschaft kultivierte, war von nun an das Thema Lachen wieder aus dem Bereich der christlichen Theologien beider Konfessionen verbannt und wurde seit Laurent Jouberts Traité du Ris von 1579 ernsthaft nur noch ausschließlich in säkularer Form diskutiert. Und so ist es bis heute geblieben. Aber auch außerhalb des kirchlichen oder theologischen Bereichs manifestierten sich diese Schübe an neuer Ernsthaftigkeit und forderten ihre Opfer, weil das lachfreundliche CortegianoIdeal, das an den Fürstenhöfen der Renaissance entwickelt und gepflegt worden war, an den Königshöfen des Absolutismus obsolet wurde, sodaß auch hier der Schritt von Castiglione zurück zu La Rochefoucauld, und das heißt: von Aristoteles zurück zu Augustinus, zum Programm erhoben wurde, genauso wie man im theologischen Bereich von Clemens und Laktanz zu Augustinus zurück gegangen war. Jacques Le Goff, dem ich einiges an Anregungen verdanke, teilt in seinem Buch Das Lachen im Mittelalter 1 den hier in Rede stehenden Zeitraum in vier Perioden des Lachens ein. Ein Blick auf diese lachgeschichtliche Periodisierung ist für uns insofern anregend, als Geschehens-Geschichte und Ideen-Geschichte des Lachens immer innig verzahnt sind und sich gegenseitig beeinflussen und erhellen: »Die erste Periode vom 4. bis zum 10. Jahrhundert stand offenbar unter dem Primat des monastischen Vorbilds: Das Lachen wurde unterdrückt und erstickt, (…) denn man konnte sich das Lachen gar nicht anders vorstellen denn als eine Manifestation des Teufels. Vergessen wir aber nicht, daß wir in dieser Zeit, als Tränen und Weinen das Lachen zu überschwemmen drohten, gerade im mönchischen Milieu auf jenen Kontrapunkt der joca monacorum treffen. 2 Er beweist, daß selbst in den Perioden, in denen sich lachfeindliche Theorien und Ansichten durchzusetzen schienen, eine fast ungezwungene Praxis des Lachens weiterlebte. Jedenfalls tauchte in den Klöstern eine dem Lachverbot

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entgegengesetzte literarische Gattung auf und schien sich ihrer Unterdrückung zu entziehen. Die zweite Periode, (…) war die Zeit des befreiten und kontrollierten Lachens, verknüpft – unter anderem – mit der zunehmenden Bedeutung des weltlichen Lebens außerhalb der Klostermauern und dem Aufschwung literarischer Werke in der jeweiligen Landessprache. Die Gesellschaft gewöhnte sich daran, sich in einem Spiegel zu betrachten, und die weltlichen Stände erkannten darin ihr zum Lachen reizendes Bild. 3 Daraus entwickelten sich Satire und Parodie und, auf Seiten der Kirche, die Zähmung des Lachens in den Träumen wie in den Gebärden. Was namentlich die Beherrschung des Lachens, d. h. die Lachsitten, angeht, so rückte das höfische Vorbild in den Vordergrund. (…) Danach folgt das scholastische Lachen, und mit ihm setzt eine Kasuistik des Lachens ein: Wer darf lachen? Welche Art zu lachen ist erlaubt? Wann und wie ist sie erlaubt? Dieser Kasuistik folgte eine Zeit, die (…) Zeiten für das Lachen und für das Weinen festlegte. (…) Lachen als Lächeln (hilaris) wurde ein Attribut des Franz von Assisi und ein Zeichen seiner Heiligkeit.« (S. 38 ff.)

Und damit war auf der Höhe des Mittelalters dem Lachen ein fester Sitz im Leben zugewiesen. 2.7.2 »Zurück zu Benedikt!« Wie wir gesehen haben, hatte Benedikt von Nursia in seiner Regel den Mönchen drei Verhaltensweisen – Gehorsam, Schweigsamkeit und Demut – besonders ans Herz gelegt und die Demut wiederum in zwölf Grade eingeteilt, deren zehnter und elfter Grad darin besteht, keinerlei Neigung zum Lachen zu verspüren und deshalb auch beim Reden völlig ernst bleiben zu können. Als Begründung für diese spezielle Ausformung des klassischen Würde-Ideals wurde, wie wir ebenfalls gesehen haben, immer wieder, und auch bei Benedikt, auf die stoisch geprägte Rüge bei Jesus Sirach 6,21 verwiesen, derzufolge nur der Tor in schallendes Gelächter ausbreche, der fromme und weise Gerechte hingegen nicht, und daß deshalb auch der Mönch den würdevollen Ernst zu bewahren habe, der im Ein460 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Zurück zu Benedikt!«

klang mit dem Prediger Salomo den Lachenden zu rügen hat: »Du bist toll!« (2,2). Daher kam Hugo von Sankt Viktor, ausgehend von dieser Passage, auch zu dem Ergebnis, daß Lachen grundsätzlich nicht geduldet werden könne, weil es, in welcher Form auch immer, schlecht, böse und sündhaft sei, also »omnimodo malus« 4. Als weiteres Argument für die Verwerfung des Lachens in jeder Form diente der stereotype Hinweis auf den Umstand, daß nirgendwo geschrieben steht, Jesus habe auch nur einmal gelacht, und deshalb galt Ernsthaftigkeit als zentrales Zeichen für die wahre Nachfolge Christi. Als nun 1098 mit der Gründung des Klosters Cîteaux die zisterziensische Reform der Klöster begann, die den durch Verweltlichung und Prachtentfaltung eingetretenen Verfall des klösterlichen Lebens beheben sollte, verband sich mit diesem Ruf »Zurück zu Benedikt!« zwangsläufig auch die Forderung nach der Rückkehr zu einer neuen, also ganz alten Ernsthaftigkeit, und die traditionelle christliche Lachfeindschaft in der Tradition von Ephräm, Chrysostomus, Augustinus und Ambrosius bekam neuen Auftrieb. Moderate Stimmen wie Clemens von Alexandrien oder Laktanz waren in der von Rom beherrschten Christenheit mittlerweile schon in Vergessenheit geraten. Vor allem aber wurde der Traktat über Hiob, den Papst Gregor I. um 600 verfaßt hatte, aufs neue relevant, weil darin gleichsam von höchster Stelle aus die äußerst folgenreiche Unterscheidung zwischen dem risus corporis und dem risus cordis getroffen worden war. Diese Unterscheidung zwischen dem verpönten »körperlichen Lachen« und dem versprochenen und angesonnenen »Lachen des Herzens« mit dem verklärten Leib nach der Auferstehung, die in der Tradition der von Augustinus stammenden Unterscheidung zwischen Gottesstaat und weltlichem Staat steht, entspricht ganz der Unterscheidung zwischen ungezügelter Ausgelassenheit hienieden »im Fleische« und der himmlischen Freude 5, weshalb Gregor dieses Lachen der Auferstandenen auch als »Lachen im Munde des Geistes«, als risus in ore mentis bezeichnet6, das die Zeitgenossen des Franz von Assisi aber schon zu seinen Lebzeiten auf dessen Zügen zu erkennen glaubten. Gregors Kommentar setzt an bei Hiob 8,20 ff., der erregendsten 461 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Passage des ganzen Textes, wo Bildad seinen Freund Hiob dafür rügt, daß er es wagt, Anklage gegen seinen Gott zu erheben, und ihn auf das Leben nach dem Tod vertröstet, »bis daß dein Mund voll Lachen werde und deine Lippen voll Jauchzens« (Hiob 8,20). Dieses Argument Bildads ergänzt nun Gregor mit dem Hinweis auf die Abschiedsreden Jesu bei Johannes, in der dieser seinen Jüngern ankündigt, er werde sie bei der Auferstehung wiedersehen, »und euer Herz soll sich freuen.« (Joh.16,22) Hiob aber antwortet auf diese Vertröstungen mit der expliziten Zurücknahme von Psalm 23 und einer Vorwegnahme der gnadenlosen Gnaden-, Sünden- und Prädestinations-Lehre Augustins: Der Herr ist leider nicht mein Hirte, sondern ein Sadist, der mich Unschuldigen grundlos quält und mich außerdem noch höhnisch verlacht! Phänomenologisch gesehen unterscheiden sich diese beiden Formen von Lachen, die Gregor hier einander gegenüberstellt, dadurch, daß die verpönte Form des »körperlichen Lachens« atmungsrelevant ist, das »Lachen des Herzens« hingegen nicht. Wir werden gleich sehen, wie eminent wichtig dieser Hinweis auf die Atmungsrelevanz bestimmter Formen des Lachens als Kriterium für die scholastische Erörterung des Lachens werden wird, weil hier die ventositas, der ominöse »Wind der Eitelkeit«, mit dem der sündige Mensch sich aufbläht, seine üble Rolle spielt. 2.7.3 Bernhard von Clairvaux oder Die Frage nach der Hydraulik der ventositas Am entschiedensten von allen Scholastikern hat sich Bernhard von Clairvaux (1090–1153) die Sicht Gregors, Kassians und Benedikts auf das Lachen zueigen gemacht. Und so, wie Bernhard nach seinem Auszug aus Cîteaux und der Gründung von Clairvaux die zisterziensische Reform weiterführte und noch mal an Ernst und Strenge überbot, so überbot er mit seiner Abhandlung Über die Stufen der Demut und des Stolzes 7 von 1124 auch die Regel Benedikts, in der dem Mönch Gehorsam, Schweigsamkeit und Demut abverlangt werden und die Demut eigens durch zwölf Grade 462 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bernhard von Clairvaux

näher bestimmt wird. Die drei höchsten Grade waren, wie wir gesehen haben, gelotologisch relevant, weil sie darin bestehen, sich des Lachens konsequent zu enthalten und die Demut als Grundhaltung auch durch Gestus, Vultus und Habitus sichtbar zu demonstrieren, denn wer ständig, wie gefordert, mit geneigtem Haupt und gesenktem Blick einhergeht, kann schlecht eine schallende Lache anschlagen, und alle Formen von Interaktions-Lachen sind ihm wegen des gesenkten Blicks sowieso unmöglich, da dieses auf den Blickkontakt mit dem jeweiligen Lachpartner angewiesen ist. Formal gesehen ist Bernhards Abhandlung ein Lehrbrief an seinen Vetter, Adlatus und späteren Biographen Gottfried, der ihn in seiner Biographie auch als klassischen Agelasten (Lachmuffel) und als vorbildlicher Mönch im Sinne Benedikts darstellt, wenn er schreibt: »Über sein Lachen berichten wir nur, was wir oft aus seinem Munde gehört haben, wenn schallendes Gelächter von Ordensleuten ihn befremdete: Er erinnerte sich nicht, seit den Jahren seines Ordenslebens je so gelacht zu haben, und daß ihn das Lachen mehr Mühe koste als das Unterdrücken des Lachens; zum Lachen müsse er sich mehr anspornen als zügeln.« 8

Schon für Benedikt waren Hochmut und Demut umgekehrt proportionale Verhaltensweisen, sodaß ein Maximum an Demut einem Minimum an Hochmut entspricht und umgekehrt, und so lag es eigentlich nahe, den zwölf Stufen der Demut, die Benedikt dargelegt hatte, zwölf entsprechende Stufen des Hochmuts beizufügen. Da Benedikt dies aber unterlassen hatte, aus welchen Gründen auch immer, holte Bernhard dies 600 Jahre später ganz im Sinne Benedikts nach, auch schon deshalb, weil diese Aufgabe der scholastischen Lust am hierarchisierenden Klassifizieren entgegenkam. Bernhards Skala des Hochmuts lautet: 1) Neugierde (curiositas) 2) Leichtfertigkeit (levitas mentis) 3) alberne Heiterkeit (inepta laetitia) 4) Prahlerei (iactantia) 5) die Sucht, sich in allen Situationen zu exponieren (singularitas) 6) Anmaßung (arrogantia) 463 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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7) Vermessenheit (praesumptio) 8) Uneinsichtigkeit im Hinblick auf die eigenen Sünden (defensio peccatorum) 9) geheuchelte Reue (confessio simulata) 10) Auflehnung (rebellio) 11) die Freiheit zu sündigen als Verachtung Gottes (libertas peccandi) 12) die Gewohnheit zu sündigen als Leugnung Gottes (consuetudo peccandi). Für unsere Fragestellung sind nur die Stufen zwei bis vier bedeutsam, da hier implizit auch vom Lachen die Rede ist. Die Art und Weise aber, wie Bernhard gelotologisch argumentiert, ist für unsere ideengeschichtlich orientierte Fragestellung außerordentlich aufschlußreich, weil Bernhard hier gleich drei Argumentationstraditionen miteinander verbindet, und obwohl er dies in einem explizit theologischen Rahmen tut, bringt er doch mit dieser Art der Argumentation den entscheidenden Impuls in den gelotologischen Diskurs ein, der alsbald zu dessen Säkularisierung führen wird. Bernhard verbindet hier nämlich • die jüdisch-alttestamentarische Tradition der ruach elohim, die schon in den ersten Sätzen der Genesis angesprochen wird, wenn der »Geistbraus Gottes« (Buber) über die Wasser fegt und später in den Samuel- und Richter-Büchern die Propheten und Schofeten unter Schauern ergreift und zu Prophezeiungen und machtvollen Taten 9 befähigt; • die hellenistisch-neutestamentliche Tradition des Heiligen Geistes, die aus der Enthusiasmus-Theorie Platons stammt und in der Pfingstschilderung der Apostelgeschichte des Lukas und im frühchristlichen Traktat vom Hirten des Hermas, der noch im Mittelalter viel gelesen wurde, ihre paradigmatische Darstellung gefunden hat; • die pneuma-Theorie der stoischen Physik und Psychologie, die Pneuma als eine Verbindung von Luft und Feuer verstand, von den Stoikern allerdings nicht als Grundlage für eine Theorie des Lachens genutzt wurde, weil sie das Lachen als Thema leider nicht interessiert hat. 464 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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So wie Augustinus zwischen Gottesstaat und weltlichem Staat unterschieden hat, so unterscheidet nun auch Bernhard hier analog dazu zwischen göttlichem Pneuma, eben dem Heiligen Geist, und seinem weltlichen Gegenstück, dem Wind der weltlichen Eitelkeit (vanitas) und Hoffart (superbia) und zeigt in eindrucksvollen phänomenologischen Beschreibungen, wie sich diese Stauung und Ausgießung des unheiligen Geistes in Prahlerei und Gelächter manifestiert. Den drei höchsten und lachrelevanten Stufen der Demut bei Benedikt entsprechen bei Bernhard die drei untersten Stufen des Hochmuts, also Neugierde, Albernheit und die Sucht nach Anlässen zum Lachen. Der vierte Grad des Hochmuts ist der Hang zur Prahlerei als Gegenstück zum neunten Grad der Demut, der bei Benedikt in der vollkommenen Beherrschung der Zunge besteht, und deshalb ist der Prahlhans für Bernhard gleichsam die Karikatur des Propheten, denn so wie dieser vom Geist Gottes resp. vom Heiligen Geist überwältigt wird, sodaß er das Wort seines Gottes verkündigen muß, ob er nun will oder nicht, so wird der Prahlhans vom Wind der Eitelkeit (ventus vanitatis) bis zum Platzen erfüllt, der sich in eitlem Geschwätz manifestieren will. Kassian hatte, wie wir wissen, dieses Verhalten als Bekundung von »fleischlichem Hochmut« bezeichnet und das Verhalten eines vom Wind der Eitelkeit Aufgeblasenen wie folgt beschrieben: »Vorherrschend ist in seinen Reden das Schreien, in seinem Schweigen das Abstoßende, in seiner Freude das stolze und ausgelassene Lachen, im Ernste eine unvernünftige Trauer, in der Antwort Zorn, häufiges Schwätzen und oft plötzlich hervorbrechende gehaltlose Worte.« (I,267)

Hier ist die Orientierung am Jakobus-Brief, in dem die Wahrung der Zunge als Teilbereich der totalen Selbstbeherrschung im Sinne der Stoa gefordert wird, mit Händen zu greifen, denn nur »wer auch in keinem Worte fehlet, der ist ein vollkommener Mann, und kann auch den ganzen Leib im Zaume halten.« (Jakobus 3,2) Ganz analog schildert Bernhard, wie der Überdruck an Eitelkeit sich bei einem hochmütigen Menschen entladen will: »Er wird also reden oder platzen. Er ist ja bis oben voll von Worten, und der Geist (spiritus) in seinem Inneren drängt ihn. Er hungert und

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dürstet nach Zuhörern, vor denen er seine Torheiten ausschütten kann, denen er kundtut, was für ein großer Mann er doch sei.« (II,107)

Auffallend an diesen beiden Schilderungen ist die Betonung des suchthaften Elements und damit der tendenziellen Unverfügbarkeit dieses Drangs zur Bekundung der Eitelkeit, also die tendenzielle Wehrlosigkeit des Geschwätzigen gegenüber seiner Sucht, da Bernhard wie schon Kassian den Geschwätzigen als jemanden schildert, der von einer fremden Macht ergriffen wird, der er nicht widerstehen kann. In der gleichen Art beschreibt er auch einen Lachanfall, wie er sich als Reaktion auf eine »knallende« Pointe zu ereignen pflegt, als Zeichen für die notorische Lachbereitschaft der »törichten Heiterkeit« (inepta laetitia), die er als dritte Stufe des Hochmuts versteht und die der zehnten Stufe der Demut bei Benedikt entspricht, und die darin besteht, »nicht schnell und gern zum Lachen bereit zu sein« (Benedikt, S. 264), da nur ein Tor ein derart schallendes Gelächter ertönen läßt. Damit argumentiert Bernhard hier aber auch ganz im Sinne des Apostels Paulus, dessen Abwertung der aristotelischen Eutrapelie zur Possenreißerei (scurrilitas) im Sinne von Eph. 5,4 er wörtlich aufnimmt, wenn er schreibt: »Einen Menschen dieser Art wirst du selten oder nie seufzen hören oder weinen sehen. Wenn man ihn beobachtet, könnte man glauben, er sei selbstvergessen oder rein von Schuld. In seinen Gesten drückt sich Possenreißerei (scurrilitas), auf seiner Stirn heitere Laune (hilaritas), im Gange Eitelkeit (vanitas) aus. Er ist zu jedem Scherz (iocus) geneigt und schnell bereit, in Gelächter auszubrechen. Er hat ja alles, was er bei sich als verächtlich und deshalb als traurig erkannt hatte, aus seinem Gedächtnis getilgt, das Gute aber – wenn er es irgendwo in sich findet – hat er vor den Augen seines Geistes zusammengefaßt oder auch zusammengedichtet, und während er nichts anderes denkt, als was ihm lieb ist, und nicht darauf achtet, ob es erlaubt ist, kann er das Lachen nicht mehr halten und die törichte Freude (inepta laetitia) nicht mehr verhehlen. Wenn eine Blase, prall gefüllt von verdichteter Luft (ventus), durch einen kleinen Nadelstich eine Öffnung erhält, pfeift sie, wenn sie gedrückt wird, beim Zusammenfallen, und die austretende Luft (ven-

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tus) 10 gibt mancherlei Geräusche von sich, wenn sie nicht ungehindert ausströmen, sondern nur durch eine enge Öffnung austreten kann. In gleicher Weise bricht ein Mönch, sobald er sein Herz mit eitlen und possenhaften Gedanken angefüllt hat, gleichsam mit geschnürter Kehle oft in Gelächter aus, wenn er wegen des strengen Stillschweigens keine Gelegenheit findet, den Winden der Eitelkeit (ventus vanitatis) freieren Austritt zugewähren. Häufig verbirgt er vor Scham sein Gesicht, preßt die Lippen und beißt die Zähne zusammen. Er kichert (ridet) ohne zu wollen und bricht wider Willen in lautes Lachen aus. Und obwohl er sich mit den Fäusten den Mund zuhält, hört man ihn noch durch die Nase prusten.« (II,107)

Wenn in Bernhards Beschreibung und Deutung eines Lachanfalls die Unverfügbarkeit dieser Art von Gelächter so stark hervorgehoben wird, so erinnert dies sofort auch an die berühmte Beschreibung, die Paulus im Römerbrief von der Fremdbestimmung des Fleisches liefert: »Denn wir wissen, daß das Gesetz (Gottes) geistlich ist; ich bin aber fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue; denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich. (…) Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. So ich aber tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnet.« (7,14–20)

Diese Sünde, die den Willen des Menschen übermannt, sammelt sich für Bernhard in den Winden der Eitelkeit, und die Aufgeblasenheit des Sünders durch diese Winde (ventositas) und deren explosionsartige Entladung manifestieren sich als gleichsam physiologisch-physikalisches Geschehen, als Hydraulik der Ventositas, ganz so, wie Jahrhunderte später auch Descartes das Lachen als Hydraulik der Lebensgeister und Spencer, Freud und Lorenz das Lachen als Hydraulik organischer Energie beschreiben werden, allerdings ohne moralische Wertung. Bei dieser negativen Einschätzung des Lachens durch Bernhard von Clairvaux ist es nur konsequent, wenn er in seinen Lehrbriefen De consideratione 11 an den Papst Eugen III. von 1150 diesem einschärft, die Regel Benedikts und die Abhandlung De officiis des Ambrosius mindestens genauso streng einzuhalten wie er selbst 467 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dies zu tun gewohnt ist, und das eutrapelistische Scherzen und Lachen strikt zu vermeiden. Der strenge und herrische Ton, den Bernhard seinem ehemaligen Schüler und nunmehrigen Papst gegenüber in diesen Briefen anschlägt, zeigt, daß es Bernhard ziemlich egal war, wer gerade unter ihm Papst war, und deshalb scheut er sich auch nicht, den Papst als Oberhaupt der Kirche im Sinne der zisterziensischen Reform in aller Öffentlichkeit zu Demut und Bescheidenheit zu ermahnen, da er auf dem Stuhl Petri in besonderem Maße gefährdet sei, in Hoffart zu verfallen: »Groß ist der Mann, der kein bißchen von seiner Weisheit abkommt, wenn Drangsal an ihn herankommt, doch nicht geringer ist der, der das Glück nicht auslacht, wenn es ihn anlacht (cui felicitas, si arrisit, non irrisit). (…) Derjenige aber ist groß und überragend, bei dem sich im Glück nicht einmal ein unbeherrschtes Lachen, ein keckere Redeweise oder zu große Sorge für Leib oder Kleidung einnistete.« (I,699) »Unter Weltleuten sind Späße eben Späße (nugae), im Munde des Priesters aber sind sie Lästerungen (blasphemiae). Bisweilen muß man sie, wenn jemand damit anfängt, über sich ergehen lassen, aber darauf eingehen – niemals! Vielmehr soll man dem ausgelassenen Geschwätz (nugacitatum) vorsichtig und klug entgegentreten, zu einem ernsteren Thema überleiten, das die Leute nicht nur mit Nutzen, sondern auch gerne hören, so daß sie dabei die unnützen Späße (otiosis) vergessen. Du hast deinen Mund der Frohen Botschaft geweiht; ihn für solches Reden auch nur zu öffnen, ist dir nicht erlaubt, ihn daran zu gewöhnen, aber ein Frevel. (…) Witze aber (verbum scurrile), die man in Schönfärberei gelungen und geistreich nennt (d. h. als Eutrapelie bezeichnet), sollen nicht nur aus deinem Mund verbannt sein, du mußt dich auch weigern, sie anzuhören. Es ist nämlich peinlich, wenn du dich zu lautem Gelächter (cachinnos) verleiten läßt, noch peinlicher, wenn du andere dazu verleitest.« (I,699 f.)

Denn auch für Bernhard war das Lachen, genau wie für Hugo von Sankt Viktor omnimodo malus, also böse, schlecht, sündig, in welcher Form auch immer. Derlei strenge Töne werden wir erst wieder hören, wenn ein Reformator wie Johannes Oekolampad gegen die Unsitte des Osterlachens loswettert. Wie wichtig die Scham- und Demutsgeste des gesenkten Blickes und geneigten Kopfes für Benedikt war, wissen wir bereits, und so 468 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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war es ganz in seinem Sinne, daß Hugo von St. Viktor (1096– 1141), der zur selben Generation wie Bernhard von Clairvaux gehört, in seiner Abhandlung De institutione novitiorum von 1140 12, ein Werk vorlegte, das sich wie ein Seitenstück zu Bernhards Lehrbriefen De consideratione liest. Hugo entwickelt in diesem »Knigge« zur Dressur von Mönchen eine Klassifikation all der verwerflichen Gesten und Gebärden, die ein Mönch tunlichst zu vermeiden habe, weil sie eine sündige Gesinnung verraten und weil sie außerdem dem Ideal der mönchischen Würde (gravitas) widersprechen. Diese Abhandlung ist für unsere Fragestellung deshalb von einem gewissen Interesse, weil man im Mittelalter Gesten und Gebärden aller Art immer im Zusammenhang mit dem Lachen thematisiert hat, da beides sprachfreie, aber bedeutungsvolle Verhaltensweisen sind, Bewegungen des Körpers selbst oder Bewegungen am Körper, die eine innere Haltung verraten und somit auch den mehr oder weniger sündigen Zustand eines Menschen, und weil man von hier ausgehend die Frage stellen kann, warum man zwar eine Klassifikation der Gesten, nicht aber eine Klassifikation der Lacharten zu erstellen suchte. Hugo von St. Viktor geht dabei so vor, daß er die sieben Sünden des klassischen Lasterkatalogs auf sechs reduziert, damit er daraus wiederum drei »Ähnlichkeits-Paare« bilden kann, die er einander gegenüberstellt, und diesen Lastern wieder die Beschaffenheit bestimmter Gesten zuordnet, als deren Ausdruck sie zu werten sind. Sein Verfahren ist also, wie das von Bernhard auch, phänomenologisch und ätiologisch orientiert, und das ergibt dann folgende Zuordnungen: »Die weichliche (mollis) mit der frechen Geste (procax), die lässige Geste (dissolutus) mit der langsamen (tardus) und die überhastete (citatus) mit der heftigen (turbidus). Desgleichen werden auch die Laster der Seele, die in diesen Gesten zum Ausdruck kommen und in eben demselben Verhältnis der Ähnlichkeit zueinander stehen, paarweise angeordnet. Die Lockerheit (lascivia), die in der weichlichen13 Geste zum Ausdruck kommt, ›ähnelt‹ der Hoffart (superbia, jactantia oder protervia), die sich in frechen Gesten ausdrückt. Die Nachlässigkeit (negligentia), die in der lässigen Geste zum Ausdruck kommt, ›ähnelt‹ der Faulheit (pigritia), die sich in langsamen Gesten ausdrückt. Und

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die Unbeständigkeit und Unruhe (inconstantia, inquietudo), die in der überstürzten Geste zum Ausdruck kommt, ›ähnelt‹ dem Jähzorn oder der Ungeduld (iracundia, impatientia, turbulentia, furor), die sich in heftigen Gesten ausdrückt.« 14

Wie man sieht, ordnet Hugo die Laster Wollust und Hoffart, Trägheit und Geiz, sowie Zorn und Völlerei einander zu, wobei der Neid als siebtes Laster übrig bleibt, und die Unschärfen, die sich aus dieser Reduktion der sieben Kardinalsünden auf sechs ergeben, scheinen ihn nicht sehr zu kümmern. Auf jeden Fall aber entwickelt Hugo hier ein vollkommenes Gegenbild zum idealen Mönch Benedikts und Bernhards und deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn dreihundert Jahre später in einem neuen und nun weltlichen Ideal eines dieser Laster zur wesentlichsten Tugend erhoben wird: Aus dem mönchischen Laster der negligentia wird beim Cortegiano der Renaissance die höfische Tugend der sprezzatura. Hugos Einteilungsschema läßt sich sicher nicht einfachhin zur Klassifikation der verschiedenen Lacharten verwenden, aber es kann sehr wohl den Blick schärfen, wenn man z. B. den Grad der Ausgeprägtheit verschiedener Lacharten erkunden will. Aber all das hatte Hugo nicht im entferntesten im Sinn, denn in einem anderen seiner Werke, einem Kommentar zu Jesus Sirach, wird deutlich, daß er grundsätzlich jede Art von Gelächter als motus carnis, als Bewegtheit des Fleisches, zu den sündigen Gesten zählt, sie als inepta laetitia, als alberne Heiterkeit einschätzt und deshalb zu dem vernichtenden Schluß kommt: »risus omnimodo malus est« 15, d. h. Lachen ist Sünde, in welcher Form auch immer gelacht werden mag, und daher ist eine Klassifikation des Lachens und damit auch eine Klassifikation seiner unterschiedlichen Sündhaftigkeit für ihn vollkommen überflüssig. 2.7.4 Anselm von Canterbury oder Die Frage nach der Relativität von Sünde und Buße Allerdings hört sich diese Philippika gegen das Lachen und Scherzen für heutige Ohren viel lachfeindlicher an als sie im Kontext der 470 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anselm von Canterbury

zeitgenössischen scholastischen Theologie tatsächlich war, denn schon lange vor Bernhard von Clairvaux hatte Anselm von Canterbury (1033–1109) um 1100 in seinem wegweisenden Traktat Cur Deus homo? 16 das Wesen der Sünde genauer definiert und auch hier verschiedene Grade der Versündigung unterschieden, je nachdem, ob eine Sünde wissentlich und damit auch willentlich begangen worden ist oder nicht. Begeht man nämlich eine Sünde wissentlich und willentlich, also mit Einverständnis (consensus) und in vollem Bewußtsein, daß es eine schwere Sünde ist, so begeht man sie laut Anselm aus Gottesverachtung (contemptus dei) und dann ist dieser Akt ein wissentlich und willentlich vollzogener, explizit gegen den Willen Gottes gerichteter Pakt mit dem Teufel. Ist die Sünde hingegen unwissentlich und unwillentlich begangen worden, unterlief sie einem also als Widerfahrnis, weil man z. B. vom Jähzorn übermannt worden ist, so läßt sie sich, sobald man mit Erschrecken festgestellt hat, wie sehr man da gesündigt hat, durch aufrichtige Reue (contritio) und entsprechende Buße 17 wieder korrigieren. Diese grundsätzliche Unterscheidung des Anselm von Canterbury zwischen läßlichen Sünden einerseits, von denen man durch Reue und Buße zu Lebzeiten oder im Fegefeuer nach dem Tod geläutert werden kann, und Kardinal- oder Todsünden andererseits, für die man ewige Höllenstrafen zu erdulden hat, wurde im 12. Jahrhundert bald allgemein anerkannt und bildet auch den theologischen Hintergrund für all die oben zitierten scheinbar so harten Urteile über das Lachen, denn im Lichte dieser Sündenund Fegefeuer-Theologie konnte das Lachen noch so entschieden als omnimodo malus bezeichnet werden, galt aber letztlich doch nur als läßliche Sünde und um so läßlicher, je unverfügbarer es war. Somit hat Anselms neue Theologie der Sünde, die schließlich 1254 18 zur offiziellen Installierung des Fegefeuers ex cathedra führte, zugleich auch eine grundsätzliche Neubewertung des Lachens im Christentum ermöglicht und bewirkt: Aus der Sünde des Lachens wurde ein läßliches Laster 19, und je exzessiver und unverfügbarer dieses Lachen war, desto leichter konnte es auch wieder bereut und vergeben werden, und um so unbeschwerter konnte weiterhin gelacht werden. So paradox es auch klingen mag: Erst die Entdek471 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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kung der läßlichen Sünden um 1100 und die Erfindung des Fegefeuers um 1200 hat das Lachen für das Christentum akzeptabel gemacht und hätte beide auch miteinander versöhnen und eine explizite Theologie des Lachens begründen können, wie wir sie in Ansätzen bei Wilhelm von Conches, Alexander von Hales und Thomas von Aquin sowie im Brauch des Osterlachens (risus paschalis) verwirklicht finden. Zu einer expliziten, v. a. aber zu einer offiziell ex cathedra abgesegneten Theologie des Lachens ist es damals allerdings nicht gekommen, obwohl, so weit ich sehe, niemals in der Geschichte der Theologie die Chance dafür größer war als zu dieser Zeit. Wir haben also eine Situation vor uns, wie wir sie schon bei den Stoikern vorgefunden haben, die auch alle Möglichkeiten gehabt hätten, auf der Grundlage ihrer tonos- und pneuma-Lehre eine überzeugende Theorie des Lachens zu erstellen, was sie aber nicht getan haben, weil das Thema sie offensichtlich nicht sonderlich interessiert hat. Man muß sich als Außenstehender, d. h. als Nicht-Theologe und Nicht-Christ, schon wundern, warum es in der Scholastik keine breitgefächerte Diskussion über das Lachen gegeben hat, in der man die verschiedenen Ausprägungen des Lachens (de gradibus risu resp. de gradibus ventositatis) untersucht hätte, nachdem Anselms Entdeckung der läßlichen Sünden das Tor für eine solche Untersuchung so weit aufgestoßen hatte – hatten die Scholastiker doch generell einen ausgeprägten Hang zum hierarchischen Klassifizieren – und es eigentlich nahegelegen hätte, verschiedene Grade der Verfügbarkeit, Willentlichkeit und Sündigkeit des Lachens zu bestimmen, da eben nur bestimmte Formen des Lachens verfügbar sind, andere aber nicht. So sind z. B. alle Formen des InteraktionsLachen tendenziell verfügbar, und wären somit, im Sinne Anselms, keine läßlichen Sünden, sondern in bestimmten Fällen, wenn auch längst nicht in allen, die Artikulation von Hochmut und Haß, die zu den schwersten Sünden überhaupt zählen und auf die, wie wir gesehen haben, in der von Platon und Augustinus stammenden Argumentationstradition das Lachen oft genug zurückgeführt worden ist. Wir werden sehen, daß sich allein bei Alexander von Hales in seiner Summa theologica aus der Zeit um 1250 Ansätze zu einer 472 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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solchen theologisch orientierten Phänomenologie des Lachens finden, die ihn auch gleich zu einer weitgehenden theologischen Rechtfertigung des Lachens geführt haben. Ansätze zu einer solchen Phänomenologie, aber nicht zu einer Rechtfertigung des Lachens finden sich aber auch schon bei Bernhard von Clairvaux, der in seinem Traktat über die Grade von Hochmut und Demut die zweite Stufe des Hochmuts als allfällige Bereitschaft zum Lachen bestimmt, diese Haltung als Leichtfertigkeit versteht und in dem Zusammenhang die Funktion bestimmter Lacharten in hierarchisch geprägten Gesellschaften analysiert: »Ein Mönch mustert, unbekümmert um sich selbst, neugierig andere (und verletzt allein schon durch diese curiositas das Gebot Benedikts, ständig den Kopf geneigt und den Blick gesenkt zu halten). Und während er zu gewissen, die über ihm stehen, aufblickt und zu gewissen, die unter ihm stehen, herabblickt, sieht er bei den einen, was seinen Neid, bei den andern, was seinen Spott 20 erregt. So kommt es, daß sich sein Geist, infolge der Beweglichkeit der Augen leicht und durch keine Sorge um sich selbst beschwert, bald in Stolz in die Höhe hebt, bald durch Neid in die Tiefe herabsinkt. Jetzt verzehrt er sich erbärmlich vor Neid, dann wieder freut er sich kindisch über seine Vortrefflichkeit (excellentia). In dem einen erweist er sich als verwerflich, im anderen als töricht, in beiden aber als hochmütig. Die Liebe zur eigenen Vortrefflichkeit bewirkt ja, daß er es als schmerzlich empfindet, übertroffen zu werden, und sich freut, selbst zu übertreffen. Die Launenhaftigkeit seines Gemütszustandes bringen seine Worte zum Ausdruck: Bald sind sie knapp und beißend, bald zahlreich und inhaltslos, jetzt voll Spott, dann wieder voll Trauer, immer aber unvernünftig.« (II,105)

Ähnlich werden später Nicolas Faret und Baltasar Graciàn die Funktion des Lachens in der höfischen Gesellschaft beschreiben. Daß es bei den Scholastikern nicht zu einer expliziten Theologie des Lachens gekommen ist, ist v. a. auch deshalb verwunderlich, weil im Zusammenhang der Diskussion über die Natur des Fegefeuers, genauer: über Wesen und Funktion des Feuers im Fegefeuer eine explizite Diskussion über das uroborische Prinzip geführt werden mußte, über ein Prinzip also, das nicht nur Scham, Reue und Buße, Empörung und Zorn, Lachen und Weinen und die Gründung der tragischen Katharsis auf phobos und eleos, sondern auch 473 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die Institution des Purgatoriums als ganze bestimmt, denn in all dem ist ein Impuls am Werk, daß etwas sich selbst verzehrt. Aus diesem Grund sind alle uroborisch geprägten Befindlichkeiten zeitlich begrenzt, weil sie durch einen ihnen immanenten teleologischen Impuls nach dem Prinzip consumendo consumor ihr eigenes Ende herbeiführen, so wie eine Kerze nicht ewig brennt, sondern sich selbst verzehrt, während sie brennt, und aus dieser Tendenz zum selbstverzehrenden Selbstlauf enthalten alle uroborischen Phänomene einen obligatorischen und irreduziblen Rest an Unverfügbarkeit. Für all diese uroborisch geprägten Phänomene bietet sich die Flammen- und Feuer-Metaphorik an, um sie dadurch auf den Begriff zu bringen, sodaß wir von »brennender Scham«, »flammender Empörung« und »loderndem Zorn« sprechen, und die scholastischen Theologen eben deshalb von der speziellen Beschaffenheit des Feuers im Purgatoriums sprachen, in dem der Sünder so lange geläutert wird, bis all seine Sünden verzehrt sind und er geläutert ist. Im Gegensatz zum zeitlich begrenzten Aufenthalt im Fegefeuer galten die Höllenstrafen als ewig, und im Gegensatz zum läuternden uroborischen Feuer des Purgatoriums galt das Feuer der Hölle als ein explizit nicht-uroborisches Feuer, also als ein Feuer, »das ewig brennt, ohne zu verzehren« 21, das also weder den Sünder noch seine Sünden, noch sich selbst verzehrt, damit dieser ewig brennen, ewig büßen und ewig leiden muß, denn in der christlichen Hölle dauert alles ewig, weil hier offensichtlich ein sadistischer Gott vom Geiste Augustins am Werk ist. Fast noch seltsamer mutet es den Außenstehenden an, daß die Scholastiker, ausgehend von der uroborischen Struktur des Fegefeuers, den tiefsinnigen Gedanken, daß selbst der Tod nicht ewig währen muß, sondern durch Wiedergeburt und Auferstehung sich ebenfalls gleichsam selbst verzehren und damit überwunden werden könne, nicht explizit mit dem uroborisch geprägten Lachen in Verbindung gebracht und damit eine weitere Grundlage für eine Theologie des Lachens geschaffen haben, da es, wie wir gesehen haben, Ansätze dazu schon in der Auferstehungstheologie der frühen Kirchenväter Clemens und Laktanz, und wie wir sehen werden, im Brauch des Osterlachens durchaus gegeben hat, der um 1200, 474 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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also in etwa gleichzeitig mit der Installation des Fegefeuers entstanden sein muß. Aber auch die Apokatastasis-Lehre des Origenes, derzufolge am Ende aller Zeiten alle Sünder und sogar Satan die Gnade der Vergebung ihrer Sünden erfahren, hätte einen Ansatz geboten. Diese Lehre aber war schon auf dem Konzil von Nicäa 325 als Häresie verworfen worden, tauchte aber trotzdem immer wieder auf 22, weil sie offenbar für viele spekulative Geister bis in unsere Tage außerordentlich verführerisch zu sein scheint. Weil es also zu einer expliziten und umfassenden Theologie des Lachens im Mittelalter nicht gekommen ist, oder gar zu einer ex cathedra verkündeten und gerechtfertigten theologischen Indienstnahme des Lachens im liturgischen Rahmen, gab es im klerikalen Raum keine ausgeprägte Lachkultur, die man in einer Problemgeschichte des Lachens ausführlich darstellen könnte. Andererseits gab es allerdings auch nie ein explizit ex cathedra verkündetes Lachverbot, sodaß sich im kirchlichen Leben dennoch immer wieder Freiräume bildeten, die mit allen möglichen Ausprägungen einer spezifischen Lachkultur aufgefüllt werden konnten. Das Osterlachen z. B. bestand darin, daß der Priester seine Predigt am Ostersonntag durch allerlei Scherze und Schwänke epischer oder szenischer Art ausschmückte, um bei seiner Gemeinde exzessives Lachen zu erregen, und dabei war man keineswegs zimperlich und zog alle Register der Possenreißerei, wie dies auch in der zeitgenössischen Literatur in den Schwänken und Facetien üblich war. Ich verweise auch auf die Osterspiele, in denen der dumme Teufel genauso dem Gelächter preisgegeben wurde wie der politische Gegner in der Komödie des Aristophanes oder der Unvernünftige in der Komödie Molières, sowie auf die unendliche Fülle von Literatur, in der biblische und kirchliche Themen parodistisch 23 behandelt werden, die aber eben nicht von Gegnern oder Feinden der Kirche oder des Christentums stammt, sondern von Klerikern, Mönchen und Studenten, die im kirchlichen Raum sich ihre eutrapelistischen Späße über sich selbst erlaubten. Musterbeispiel einer solchen innerkirchlichen und innerchristlichen Bibel-, Kirchen- und Christentumsparodie ist die Cena Cypriani 24, in der dargestellt wird, wie biblische Gestalten ein 475 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Freß- und Saufgelage veranstalten, dessen Schilderung aber nur für fromme Christen wirklich komisch wirkt und wirken kann, denn daß die Jungfrau Maria bei diesem Saufgelage Liebfrauenmilch trinkt, daß Moses mit zwei großen Tafeln Schokolade »Sinai-Vollmilch« auftritt, daß Judas jeden zu küssen sucht und daß Pilatus seinen Waschzwang am Spülstein ausagiert, sind christliche insiderjokes, die jedem Nichtchristen nicht viel mehr als ein Achselzucken entlocken, aber nach allem, was wir über die Rezeption dieses Textes wissen, muß er für die frommen Kleriker des Mittelalters ein Heidenspaß gewesen sein, aber eben nur für diese, und deshalb geriet dieser Text nach dem Ende der frommen Zeit alsbald in Vergessenheit. So gesehen ist es völlig absurd, wenn Michail Bachtin behauptet: »Das Lachen (war) im Mittelalter in allen Bereichen der offiziellen Ideologie und in den strengen Umgangsformen des offiziellen Lebens verpönt. Es war ausgeschlossen vom religiösen Kult, vom feudalstaatlichen Zeremoniell, der gesellschaftlichen Etikette und allen wichtigen Bereichen der Ideologie. Den Umgangston des offiziellen Mittelalters bestimmte eine eisige, versteinerte Seriosität. Dies hatte seine unmittelbare Ursache im Inhalt der mittelalterlichen Ideologie mit ihren düsteren, providentialistischen Zügen, mit Schlüsselbegriffen wie Sünde, Buße, Leiden und im Charakter des in dieser Ideologie gespiegelten Feudalstaats mit seinen Einschüchterungs- und Unterdrückungspraktiken. Seriosität galt als einzig angemessene Form für den Ausdruck der Wahrheit und des Guten und überhaupt alles Wesentlichen, Bedeutsamen und Wichtigen. Angst, Ehrfurcht und Demut bildeten den Grundton und die Schattierungen dieser Seriosität.« 25

Diese Sicht auf das christliche Mittelalter ist deshalb so absurd und grundfalsch, weil Bachtin zwar erkennt, daß Kirchenväter wie Tertullian, Chrysostomus, Ambrosius, Augustinus und Benedikt das Lachen verteufelt haben, aber nicht sieht oder vielleicht auch nicht sehen will, daß mit der neuen Sündenlehre des Anselm von Canterbury und des Alexander von Hales das Lachen vom Ballast dieser Argumentationstradition zu einem großen Teil auch wieder befreit worden ist. Sein Hinweis auf »Sünde, Buße, Leiden« ist also kein ernstzunehmendes Argument, weil Sünde eben nicht gleich Sünde ist. 476 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Wilhelm von Conches und Alain de Lille

Wenn es so wäre, wie Bachtin behauptet, dann müßten unter den Verdammten in Dantes Hölle auch explizite Lach-Sünder schmoren, weil Dantes Divina Comedia gleichsam die Summe mittelalterlicher Theologie in poetischer Form darstellt. Von LachSündern findet sich dort aber nicht die geringste Spur. Wenn Dante das sündige Lachen tatsächlich zum Thema hätte machen wollen, dann hätte dies in den Gesängen 10 bis 13 des Purgatoriums geschehen müssen, wo die noch allzu Stolzen in gebeugter Haltung kauern und weinend Demut üben müssen. Dort aber ist, so weit ich sehe, von Lach-Sündern nirgendwo die Rede. Und in die eigentliche Hölle kommen die Lach-Sünder bei Dante sowieso nicht, weil Lachen auch ihm nur als eine läßliche Sünde galt, die schon bei Lebzeiten durch aufrichtige Reue getilgt werden konnte. Stellenweise scheint Dantes Werk sogar aus dem Geiste von Wilhelm von Conches geschrieben zu sein, weil es sich in einigen Passagen geradezu wie eine »Apotheose des Lachens«26, genauer: wie eine Apotheose des paradiesisch heiteren Lachens liest, das auf den Gesichtern der Seligen strahlt. Und bezeichnenderweise hat Dante den berühmtesten Lachmuffel der Antike Cato von Utica als Wächter ans Tor zum Purgatorium gestellt, offenbar um anzudeuten, daß Lachen hier im Fegefeuer 27 kein Thema mehr ist. 2.7.5 Wilhelm von Conches und Alain de Lille oder Die Frage nach der Heiterkeit der Schöpfung und dem vollkommenen Menschen Neben der Neubestimmung und Ausdifferenzierung des Sündenbegriffs durch Anselm von Canterbury und der daraus sich ergebenden Postulierung der läßlichen Sünden und des Fegefeuers waren es v. a. die Neubelebung und die christlich-theologische Überformung des antiken Vier-Säfte-Schemas, die den gelotologischen Diskurs des Mittelalters entscheidend befruchtet haben. In der Antike hatte man vier Grundstoffe als Elemente, vier Grundbeschaffenheiten und Zustände, vier Körpersäfte und vier Temperamente angenommen, die einander fest zugeordnet waren. Dazu Wilhelm von Conches: 477 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

»Es gibt nämlich vier Säfte im Menschen, die die unterschiedlichen Elemente nachahmen (imitantur); jeder nimmt in einer andren Jahreszeit zu, jeder ist in einem anderen Lebensabschnitt vorherrschend. Das Blut ahmt die Luft nach, nimmt im Frühling zu und herrscht in der Kindheit vor. Die gelbe Galle ahmt das Feuer nach, nimmt im Sommer zu und herrscht in der Jugend vor. Die schwarze Galle oder Melancholie ahmt die Erde nach, nimmt im Herbst zu und ist im Mannesalter vorherrschend. Das Phlegma ahmt das Wasser nach, nimmt im Winter zu und ist im Greisenalter vorherrschend. Wenn sie weder in zu hohem noch zu geringem Maße fließen, ist der Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte.« 28

Wenn einer dieser Körpersäfte leicht dominiert, ergibt sich daraus das jeweilige Temperament eines Menschen, das sich allerdings entsprechend dem Lebensalter auch ändern kann, sodaß jemand z. B. zwar in der Jugend »feurig«, als Greis hingegen melancholisch oder phlegmatisch sein kann. Bei der christlichen Aneignung und Überformung der antiken Vier-Säfte-Lehre im Mittelalter galt es nun, die daraus sich ergebenden Temperamente mit dem klassischen Sünden- und Laster-Katalog der christlichen Theologie in Einklang zu bringen, wie er bei Johannes Cassianus entworfen worden war und sich dann im System der sieben Kardinalsünden – Hochmut, Neid, Habsucht, Zorn, Trägheit, Völlerei, Unkeuschheit – niedergeschlagen und zum Dogma verfestigt hatte. Da sich nun aber zwei dieser Kardinalsünden weitgehend mit drei Temperamenten dekken, der Zorn (genauer: der Jähzorn) mit dem Temperament des Cholerikers, und die Trägheit mit dem des Phlegmatikers und Melancholikers, war nur noch der Sanguiniker übrig und fiel aus dem Raster der sieben Kardinalsünden heraus, da er weder als Geiziger noch als Schwelger und auch nicht als Wollüstiger gelten konnte. Es blieb also nur noch die Möglichkeit, das Lachen mit den Kardinalsünden des Hochmuts und des Neides in einen genetischen Zusammenhang zu bringen, was ja auch ganz der Argumentationstradition entsprochen hätte, die von Platon über Augustinus und Benedikt bis herauf zu Bernard von Clairvaux reichte 478 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und später über Thomas Hobbes bis zu Charles Baudelaire fortgeführt wurde. Da man sich aber wegen der Unverfügbarkeit vieler Formen des Lachens genötigt sah, diese als läßliche Sünden zu bewerten, die durch Reue und Buße leicht zu sühnen waren, brach die auf Platon und Augustinus gegründete Argumentationstradition im 13. Jahrhundert erst einmal ab, und das Lachen fiel aus dem Katalog der sieben Kardinalsünden heraus, in den es für Kirchenväter wie Johannes Chrysostomus und Aurelius Augustinus noch zweifelsfrei gehört hatte, die hinter jedem Lacher gleich den Teufel am Werk gesehen hatten. Damit aber lag eine völlig neue Situation vor, die Bachtins Behauptungen über die »eisige, versteinerte Seriosität« des Mittelalters als noch viel absurder erscheinen läßt. Offensichtlich hat Bachtin, ohne es zu merken, die Atmosphäre des Stalinismus ins europäische christliche Mittelalter projiziert. Da für einen Theologen des Mittelalters die Frage nach der Natur des Menschen gleichbedeutend war mit der Frage nach der Natur Adams vor dem Sündenfall, dieser Adam aber als völlig sündenfrei gedacht werden mußte und deshalb weder als Choleriker noch als Phlegmatiker und erst recht nicht als Melancholiker vorstellbar war, mußte er, da es ja nur vier Temperamente gab, zwangsläufig als Sanguiniker gedacht werden, und genau dies ist der höchst folgenreiche Befund, zu dem Wilhelm von Conches (1080–1154) in seiner Philosophia 29 kam, die im selben Jahr 1124 entstand wie Bernhards Abhandlung über die Grade von Hochmut und Demut. Wilhelm von Conches korrigiert die klassische Vier-Säfte-Lehre sogar dahingehend, daß die ideale Kombination der vier Säfte nicht deren völlige Ausgewogenheit ist, wie dies seit der Antike gelehrt worden war, sondern im sanguinischen Temperament liegt, und so stellt er sich auch den »prälapsarischen« paradiesischen Adam als Sanguiniker vor, sodaß alle anderen Temperamente zwangsläufig als sekundär und minderwertig erscheinen: »Der Mensch ist von Natur aus warm und feucht (naturaliter calidus et humidus) und nach den vier Qualitäten harmonisch abgestimmt. Aber da seine ursprüngliche Natur (durch den Sündenfall) verdorben (corruptus) ist, geschieht es, daß bei gewissen Individuen gewisse Qualitäten sich steigern oder abschwächen. Wenn sich nun bei einem Men-

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schen die Wärme steigert und die Feuchtigkeit abschwächt, wird er cholerisch genannt, d. h. warm-trocken. Wenn dagegen die Feuchtigkeit gesteigert ist und die Wärme abgeschwächt, heißt er phlegmatisch. Ist aber die Trockenheit gesteigert und die Wärme abgeschwächt, nennt man ihn melancholisch. Wenn aber die Qualitäten in gleicher Stärke vorhanden sind, heißt er sanguinisch.« 30

Damit ist zugleich auch gesagt, daß nicht nur die Ausdifferenzierung der Menschheit in verschiedene Temperamente, sondern auch alle Krankheiten letztlich aus dem Sündenfall Adams resultieren. (Wir werden sehen, wie Hildegard von Bingen diesen Gedanken weiterführt.) Mit dieser spezifisch christlichen Aneignung der klassischen Vier-Säfte-Lehre begründete Wilhelm von Conches zugleich auf eine ganz neue Weise die Sonderstellung des Menschen, die schon Aristoteles darin gesehen hatte, daß es das proprium des Menschen sei, lachen zu können, überbot diesen aber mit der These, daß der lachende Mensch sogar die »Optimalform des Menschen«31 sei, der Mensch in seiner idealen Ausprägung. »Und zwar gilt sie ihm nicht nur als Grundlage einer natürlichen Geistesbegabung, die die Vertreter anderer Temperamente durch mühsamen Fleiß zu ersetzen haben, sondern geradezu als ein ausschließliches Vorrecht des Menschen gegenüber dem Tier. Denn es gibt für Wilhelm von Conches nur melancholische, cholerische und phlegmatische 32, aber keine sanguinischen Tiere, während der Mensch gerade umgekehrt ursprünglich als sanguinischer erschaffen wurde und erst nach der Vertreibung aus dem Paradies zum melancholischen, cholerischen und phlegmatischen degenerieren konnte.« 33

Obwohl Wilhelm von Conches nicht so weit geht, neben dem prälapsarischen Adam auch den sündenfreien Jesus als Sanguiniker zu bestimmen, läßt sich wohl kaum eine fundamentalere theologische Rechtfertigung des Lachens denken als seine These, daß der Mensch, wie er aus der Hand seines Schöpfers hervorgegangen ist, ein lachender Mensch (homo ridens) ist, weil man daraus den zwingenden Schluß ziehen muß, dieser lachende Adam sei das Geschöpf eines lachenden Gottes, das dieser sich zum Ebenbild erschaffen habe, wie es der biblische Schöpfungsbericht (Gen. 1,27) ja auch explizit behauptet. 480 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Aber welches Lachen ist hier wohl gemeint? Das uns schon allzu bekannte aggressive phthonos-Lachen Platons oder das aggressiv höhnische la’ag-Lachen der Bibel, wie es von Jahwe im zweiten Psalm (Ps. 2,4) angeschlagen wird, doch wohl nicht! Um diese Frage zu klären, müssen wir erst noch einen kleinen Umweg machen. Wenn wir uns nämlich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen die einschlägigen Stellen des biblischen Schöpfungsberichtes ansehen, so stoßen wir auf Formulierungen, die uns im Lichte der Philosophie von Wilhelm von Conches ganz vertraut vorkommen, weil dort seine fumus-Lehre gleichsam vorweggenommen wird. Also lesen wir jetzt mal auch den biblischen Schöpfungsbericht mit seinen Augen, denn da heißt es: »Und allerlei Bäume auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und allerlei Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und es war kein Mensch, der das Land bebaute. Aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land.« (Gen. 2,5–6)

Nachdem damit nun genug fumus (Nebel/Dunst/Dampf ) vorhanden war, also das feucht-warme Element, konnte der Schöpfer fortfahren in seinem Werk: »Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.« (Gen. 2,7)

Was hindert uns eigentlich anzunehmen, daß diese Ausstattung des Menschen mit einem feucht-warmen Seelen-fumus durch Anlachen geschah, da beim Lachen ja tatsächlich feucht-warme Luft ausgeatmet wird? Was hindert uns, diese Szene in strikter Analogie zu Vergils vierter Ekloge zu sehen, sodaß hier ein heiter lachender Schöpfer sein Geschöpf durch Anlachen zum Leben erweckt und es damit zugleich auch in seinem Wesen bestimmt? Was hindert uns, frei nach Vergil, diesem Wesen, und damit zugleich auch uns selbst zuzurufen: Incipe, homo Adam, risu cognoscere creatorem ridentem? Und was hindert uns schließlich, Wilhelms Werk als eine theologisch orientierte Ätiologie des Humors zu deuten? Wilhelm von Conches hat dies zwar, soweit ich sehe, nirgendwo explizit so formuliert, aber man kann sich kaum dagegen wehren, 481 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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seinen Denkansatz in dieser Richtung fortzuführen und die Frage zu beantworten, welche Art von Lachen er hier wohl im Auge gehabt haben mochte. Wir werden sehen, daß uns erst Hildegard von Bingen diese Frage, die bei Wilhelm von Conches noch offen bleibt, beantworten wird, und diese Antwort lautet: Es ist tatsächlich das strahlende Lachen (sachak) des göttlichen Kindes Isaak, mit dem sich Schöpfer und Geschöpf zulachen, und das beide in eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens und Wohlwollens einhüllt, genauso, wie Mutter und Kind dies in der vierten Ekloge Vergils tun und sich dabei als ihresgleichen erkennen. Für Wilhelm von Conches dürfte es das Lachen gewesen sei, das zu seiner Zeit für den Sanguiniker als typisch galt, und diese Charakterisierung des Sanguinikers hat sich bis heute gehalten. »Largus, amans, hilaris, ridens, rubeique coloris, Cantans, carnosus, satis audax atque benignus.« 34

Also: Freigebig, liebenswürdig, heiter, lachend und von rosiger Haut, Singend, füllig, hinreichend zupackend und voller Wohlwollen.

Leider ging, soweit ich sehe, Wilhelm von Conches der Frage nicht weiter nach, in welcher Art und Weise sich das Lachen Adams nach dem Sündenfall und nach der Vertreibung aus dem Paradies verändert haben mag, weil sich auch hier ein Ansatzpunkt für eine Theologie des Lachens hätte ergeben können. Aber auch so war Wilhelms neues Bild eines heiteren Schöpfergottes und seines lachenden Geschöpfes Adam das Angebot zu einem fundamentalen Paradigmenwechsel im Menschenbild der mittelalterlichen Philosophen und Theologen, das das auf die gnadenlose Gnadenlehre Augustins gegründete Menschenbild hätte ablösen können. Es wurde zunächst ja auch aufgegriffen von Wilhelms Schüler Alain de Lille (1120–1202), der u. a. auch in Chartres studiert hatte und Wilhelm von Conches vielleicht sogar persönlich gekannt haben kann. Doch das heitere Menschenbild des Alain de Lille, das er in seinem allegorischen Epos Anticlaudianus 35 aus der Zeit um 1180 entwirft, ist nicht wie bei Wilhelm von Conches das Werk des christlichen Schöpfergottes, sondern das Werk der Natur, die alle 482 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Tugenden zu einem Konzil zusammenruft, um den vollkommenen Menschen zu schaffen, der selbstverständlich ein Mann in strahlender Jünglingsschönheit sein soll. Und dann machen sich alle ans Werk. Zunächst verbindet die Eintracht die Seele untrennbar mit dem Körper: »Sie verbindet mit zarten Banden und feiner Verknüpfung Einfaches dem Zusammengesetzten, dem Stumpfen das Feine, Und verehelicht so das Göttliche innig dem Fleische.« (V. 59–61, S. 210)

Dann treten weitere Tugenden an und beschenken diesen noch unbestimmten Menschen mit weiteren Gaben: mit Fülle, Gunst, Jugendlichkeit und Keuschheit, aber eben auch mit einem sanguinischen Temperament nach dem Vorbild des sanguinischen prälapsarischen Adam bei Wilhelm von Conches: »Die Geschenke der Freude spendet die liebliche Jugend; Doch wie sehr ihr auch sonst die Lustigkeit stete Gefährtin Sei, hier legt sie sie ab, nimmt an hier strengere Sitten, Ahmet nach in ihrem Betragen das reifende Alter. In das Alter geht über die Jugend durch Würde der Sitten: So wird, noch jung, der Jüngling zum Mann, weil im Geiste er reifet; So überraget die Jahre der Geist, und die knospende Blüte Nimmt die Früchte voraus, und der Strom kommt zuvor hier dem Bache. Hier formt das Lebensalter der Geist, doch kämpfen sie ungleich: Jenes behauptet den ›Jüngling‹, doch dieser beweist uns die Reife. Nun ist das Lachen da, doch nicht, das die böse Verspottung Oftmals als Fehlgeburt erzeugt, oder das in dem Innern Etwa der Neid gebiert, oder falsche Liebe auch äußert, Oder das einem schwachen Gehirne die Lustigkeit vormalt. Sondern ein Lachen, das Würde hat, ein bescheidenes Antlitz Vorweist und nicht das Gesicht verzerrt, wie das schallende Lachen. So war beschaffen das Lachen hier – unverdorben durch Mißbrauch –, So wie die Ursache, Ort und Zeit, die Person es erfordern.« (V. 92–109, S. 211)

Außerdem werden diesem Menschen auch noch die Gaben der Bescheidenheit, der Vernunft, der Ehrbarkeit, der Weisheit, der künstlerischen Kreativität, der Gotteskunde und Menschlichkeit, der 483 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Treue, der Freigebigkeit und des Glücks verliehen, und schließlich auch noch eine adelige Abstammung, auf daß seine Vollkommenheit auch wirklich vollkommen sei: »So wird als der neue Mensch geformt, und es wundert Sich in ihm die mächt’ge Natur, daß sie so viel vermochte Und hält kaum für ihr eigenes Werk, das sie selbst doch geschaffen.« (V. 74–76, S. 210)

Wundern kann sich aber auch der heutige Leser über dieses Epos, weil der hier vorgestellte vollkommene Mensch ein seltsam altersloser und damit auch geschichts- und schicksalsloser und damit letztlich auch gestaltloser Mensch ist. Er mag zwar nach Maßgabe eines bestimmten Kanons an normativen Tugenden vollkommen sein, erscheint dem heutigen Betrachter aber gerade dadurch als die vollkommene Unperson, nicht anders als der vollkommene stoische Weise. Mit einem Wort: Alains Gedankenspiel vom vollkommenen Menschen ist ein Produkt von Hybris und das erste Zeugnis der »Leonardo-Welt« (Mittelstraß), in dem sich der »faustische« Wahn des homo faber zeigt, dadurch uneingeschränkt über sich verfügen zu wollen, daß man sich selbst erschafft. Auch für Ernst Robert Curtius enthält diese Überbietung des vom biblischen Schöpfergott geschaffenen Menschen durch den von der Natur geschaffenen vollkommenen Menschen schon »außerchristliche Elemente«, denn »die Erlösungstat Christi scheint nicht geholfen zu haben; helfen kann nur die Schaffung eines neuen Menschen; mit ihm kommt das goldenen Zeitalter wieder.« (S. 131) Und dann fügt er noch trocken hinzu: »Die kirchliche Druckerlaubnis würde der doctor universalis (eben Alain de Lille) heute nicht erhalten.« (S. 131) Wie man sieht, soll das Lachen, das diesem vollkommenen Menschen verliehen worden ist, selbst auch vollkommen sein, weil es dem »ataraktischen« Lachen entspricht, auf das wir schon bei Clemens von Alexandrien in Kapitel 2.6.2 gestoßen sind, und das wir als das gebändigte und wohlwollend humorvolle Lachen bezeichnen könnten, denn dieses Lachen des vollkommenen Menschen darf eben nicht die aggressive subsannatio, nicht das mißgünstige phthonos-Lachen, nicht das exzessive cachinnus-Gelächter und natürlich auch nicht das alberne Lachen des Narren sein, also eine 484 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hildegard von Bingen

der Varianten von Gelächter, die schon Clemens von Alexandrien strikt verpönt hatte und die Alexander von Hales 70 Jahre später in seiner Theologie des Lachens als läßliche Sünde oder gar als Todsünde verurteilen wird. Voller Begeisterung aufgegriffen haben Wilhelms Idee vom homo ridens als Optimalform des Menschen aber auch die weltlichen Literaten des Hochmittelalters, die mit der Fazetie bzw. dem Schwank sofort eine neue literarische Gattung schufen, die den Leser und Zuhörer zum Lachen bringen sollte, und das Publikum hat diese Art von Literatur denn auch mit der gleichen Begeisterung angenommen, sodaß die Fazetie alsbald, ausgehend von Frankreich, ihren Siegeszug über ganz Europa antreten konnte und es bis in die Zeit der Renaissance hinein in allen europäischen Sprachen auf Hunderte von Anthologien gebracht hat. Analog dazu entstand der Brauch des Osterlachens, bei dem der Priester seine Predigt am Ostersonntag mit Schwänken würzte, um seine Gemeinde zum Lachen zu bringen und mit diesem Lachen die Auferstehung Christi zu begehen. Aber genauso, wie das von Wilhelm von Conches und Alain de Lille inaugurierte heitere Menschen- und Gottesbild sich nicht auf die Dauer gegen das von Augustinus und Bernhard geprägte Denken durchsetzen konnte, wurde auch diese heitere Form der Ostermesse wieder unterdrückt, als die Reformatoren einen neuen Ton von Ernst, Würde und Sündenbewußtsein ins Christentum einführten. Da konnte auch die Aristoteles-Rezeption nicht helfen, und auch die subtile Argumentation Alexanders von Hales über die mögliche Sündhaftigkeit des Lachens nicht. Der Schlagschatten des fatalen Kirchenvaters Augustinus hatte sich wieder einmal als mächtiger erwiesen. 2.7.6 Hildegard von Bingen oder Die Frage nach dem Gewoge der windhaften Erregungen Hildegard von Bingen (1098–1179) setzte noch einmal bei Wilhelm von Conches an und nahm den Sündenfall Adams zum Ausgangspunkt ihres gesamten Denkwerks, auch ihres medizinischtheologischen Hauptwerks Causae et curae 36, in dem sie u. a. 485 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch eine Analyse des Lachens liefert, wobei sie, genau wie Bernhard von Clairvaux, mit dem sie auch in einem Briefwechsel stand, die stoische pneuma-Lehre mit der biblischen Lehre vom wehenden Geist Gottes verband, sodaß ihre Argumentation, die in vielen Details an den frühchristlichen Traktat Der Hirt des Hermas erinnert, durchweg von einer Wind-Metaphorik 37 durchsetzt ist und somit zugleich auch als eine erste Theorie des Atmosphärischen gelesen und verstanden werden kann. Ausgangspunkt all ihrer Überlegungen ist wie bei Wilhelm von Conches der biblische Schöpfungsbericht, in dem es heißt: »Aber ein Nebel ging auf von der Erde und feuchtete alles Land. Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.« (Gen. 2,6–7)

Dieser »lebendige Odem«, Geist vom wehenden Geist Gottes (ruach elohim), wird nun von Hildegard in zweifacher Weise näher bestimmt: Zum einen physiologisch im Sinne der Vier-Säfte-Lehre als »warm und feucht«, wie dies auch Wilhelm von Conches schon getan hatte, der überall einen fumus (Rauch/Dampf/Qualm/ Dunst/Nebel) wirken sah, und deshalb heißt es auch bei Hildegard, die menschliche Seele sei »ihrem Wesen nach feuriger, windhafter und feuchter Natur« (S. 100) und teile sich, analog zu den vier Windrichtungen in der Natur, in vier Hauptwinde auf: In Denken (cogitatio), Reden (locutio), willentliches Streben (intentio) und Gefühlsregungen (gemitus) (S. 72), sodaß das gesamte Verhalten des Menschen vom Zusammenspiel dieser vier Winde genauso bestimmt wird wie das Wetter draußen in der Natur durch das Gewoge der Winde. Zum anderen versteht Hildegard von Bingen den im Menschen wohnenden und wirkenden Geist wegen seiner Wind- und HauchNatur 38 als Atmosphäre, die auch von außen über den Menschen kommen und ihn einhüllen kann, und die sowohl von Gott selbst oder seinem Heiligen Geist, aber auch von böswilligen Dämonen stammen kann, »luftartigen Geistern (aeri spiritus)«, und diese Atmosphären »bedrängen ihn, lassen ketzerische Gedanken in ihm laut werden und umgeben ihn mit einem Wall; davon schläft dann das wache Bewußt-

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Hildegard von Bingen

sein seiner Seele ein. Und so kommt der Mensch in eine schwere Krise, wenn Gott jene Geister nicht vertreibt. Daher verdorrt der (seiner Natur nach eigentlich warme und feuchte) Mensch aus seinem Inneren heraus und kann nicht lange in dieser Weise leben.« (S. 118 f.)

Aus dieser Beschreibung geht hervor, daß der Richtungsraum dieser Atmosphären nur die beiden dominanten Richtungen zentrifugal und zentripetal kennt, wobei die bösartigen Dämonen einengend, also beängstigend wirken und v. a. auch von unten her bedrängen, wohingegen die Wirkung des göttlichen Geistes als Weitung und Erleichterung empfunden wird. Beide Atmosphären können Formen des Lachens begründen, die genauso gegensätzlich sind wie sie selbst. Musterbeispiel einer vom wehenden Geist Gottes stammenden allseitig weitenden Atmosphäre ist für Hildegard das Strahlen in jeder Form, insbesondere auch das strahlende Lachen. Musterbeispiel einer von unten her andrängenden, beengenden und beklemmenden Atmosphäre ist die Melancholie, die von Hildegard als dicke Luft oder als »qualmender Rauch« verstanden wird, »der die Gefäße sowie Blut und Fleisch so lange zusammenzieht, bis er wieder aufhört, sich im Körper weiter auszubreiten« (S. 221) und dann entweicht. »Wenn aber die Seele für sich selbst und ihren Leib Widerwärtigkeiten spürt, dann zieht sie das Herz, die Leber und das Gefäßsystem zusammen; dabei erhebt sich um das Herz gleichsam ein Nebel und verdunkelt das Herz: so fällt der Mensch in Trübsinn, aus der Traurigkeit aber erhebt sich Zorn. Wenn nämlich der Mensch dann auch noch etwas sieht oder hört, oder wenn er grübelt, woher denn die Traurigkeit in ihm komme, dann erzeugt zuweilen dieser Nebel der Traurigkeit, der sein Herz befallen hat, einen warmen Rauch in allen Säften und um seine Galle, bringt die Galle in Bewegung, und so erhebt sich unmerklich (silenter) der Zorn aus der Bitterkeit der (gelben) Galle. Wenn er nun diesen Zorn nicht zur Ausführung bringt (wenn er also nicht hochofenhaft zornlodernd lostobt und den Zorn dadurch uroborisch verrauchen läßt), vielmehr stillschweigend (silenter) aushält, dann weicht die (gelbe) Galle zurück. Wenn aber der Zorn nicht weicht, dann greift jener Rauch auf die Schwarzgalle über und erregt sie; diese schickt dann einen schwarzen Nebel aus sich heraus, der zur (gelben) Galle hinüberzieht, um aus ihr einen äußerst bitteren Dampf auszuquetschen.« (S. 222)

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Lacht der Mensch in dieser Situation und bei dieser Verteilung der Säfte, so lacht er das gallbittere, satanische Gelächter, das wir vom gnostischen Christus kennen, der die Schöpfung höhnisch verlacht und das auch Baudelaire später so ausführlich beschreiben wird. Daß der Mensch in seinem Verhalten überhaupt so gegensätzlichen Atmosphären ausgeliefert sein kann, ist für Hildegard genau wie für Wilhelm von Conches die Konsequenz des Sündenfalls, den sie als schlagartige Verdüsterung der heiteren Atmosphäre versteht, in die Mensch und Gott vorher gemeinsam eingebettet waren, und wodurch aus dem strahlenden Gotteskind Adam nach Fall und Vertreibung der rundum eingedüsterte und nunmehr auch kranke Mensch wurde. Und so wie der Mensch durch den Sündenfall eingedüstert wurde, so widerfuhr dem ganzen Kosmos dieselbe Eindüsterung: »Denn der Mensch selbst stellt die ganze Schöpfung dar (homo omnis creatura est); und der Hauch des Lebens, der kein Lebensende hat, west in ihm.« (S. 102)

Deshalb ist es für Hildegard auch plausibel, daß »das Sein der Nacht« erst nach dem Sündenfall beginnen konnte, denn erst danach wurden alle Elemente »von großen Finsternissen überschattet, unter denen dann Adam in ebendiese Verbannung hinausgestoßen wurde.« (S. 103) Diese generelle Eindüsterung von Mensch, Natur und Kosmos wird für Hildegard erst am Ende aller Zeiten nach der Auferstehung des Menschen behoben sein, wenn der Mensch in den ursprünglichen heiteren Zustand wieder zurückkehren wird, und die Natur mit ihm, und so finden wir bei Hildegard Überlegungen, die wir schon bei Clemens und Laktanz angetroffen haben, die das strahlende Lachen der Auferstandenen beschworen haben: »Wie aber Adam vor dem Fall sonnengleich erstrahlte, und zwar ohne sein Wirken, da er noch mit keinem Werke begonnen hatte, so werden am Ende der Zeiten wiederum alle Gerechten aufleuchten wie die Sonne, nach dem Schriftwort: Die Gerechten werden leuchten wie die Sonne im Reiche ihres Vaters. (Matth. 13,43) Aber dann werden sie erstrahlen ob ihrer heiligen Werke. Denn aus dem Glanz, den die Heiligen dort ausstrahlen, leuchten die heiligen Werke heraus wie kostbare, in Gold gefaßte Edelsteine.« (S. 103)

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Dieses strahlende Licht des Paradieses vor dem Fall Adams leuchtet für Hildegard nicht nur in den Edelsteinen auf, sondern auch im strahlenden Lachen des göttlichen Kindes als ahnende Erinnerung an den paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall und zugleich als ahnende Vorwegnahme des künftigen strahlenden Lachens der Auferstandenen am Ende der Zeiten und bettet den auf diese Weise strahlend lachenden Menschen ein in eine Atmosphäre des Heils, weil er nur auf diese Weise »mit allen übrigen Kreaturen die Freude am Leben (laeta vita)« (S. 101) wirklich genießen kann. Da wir aber nach dem Sündenfall Adams leben, als sündige, eingedüsterte, bedürftige und latent kranke Menschen in einer ebenfalls eingedüsterten Welt, hat sich laut Hildegard auch das Lachen Adams zugleich mit seinem Sündenfall entsprechend eingedüstert und wird von mehr oder weniger eingedüsterten Atmosphären bestimmt, die uns wie Winde durchwehen, und die sich nur hin und wieder mal aufhellen, wie dies auch beim Wetter der Fall ist. Leider entwickelt Hildegard nun nicht eine Palette verschiedener Atmosphären und die dazugehörenden Formen des Lachens, aber am Ende ihres Kapitels über die Gemütsbewegungen beschreibt sie, ähnlich wie Bernhard von Clairvaux, einen buchstäblichen Lach-Orgasmus, der aus einem besonders »bitteren Rauch« (S. 229) stammt, und diese Beschreibung läßt ahnen, mit welch genauem Blick sie wohl auch andere Formen von Gelächter hätte beschreiben können, wenn sie denn gewollt hätte. Es lohnt sich, hier ausführlich zu zitieren, weil sich erst dann zeigt, wie genau diese Ordensfrau den weitgehend tabuisierten Zusammenhang von Sexualität und Lachen erkannt hat, und worin sie sich von Bernhards Beschreibung unterscheidet. Denn anders als Bernhard weiß Hildegard sehr wohl, wovon sie redet und nennt die sexuelle Unterfütterung dieser bestimmten Art von Gelächter, bei der man das Lachen buchstäblich aus den Hoden hoch holt, auch ungeniert beim Namen, weil der Gestaltverlauf beider Phänomene dem Schema Anspannung – Zuspitzung – Durchbruch – Ekstase folgt. Der literarische locus classicus dieser Art von Gelächter findet sich in der Odyssee als das wüste Gelächter der aufgegeilten Freier, 489 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die um Penelope herum schwirren, worauf ja schon Clemens in seiner Abhandlung über das Lachen verwiesen hatte. Für Hildegard von Bingen ist die Quelle dieser Art von Gelächter der »Geschlechtswind« (S. 137), der, weil er besonders feurig ist, das Brennen der Brunst bewirkt und das heißt: Als heller »brennender Wind« (S. 209) ruft er das Liebes- und Zeugungsverlangen hervor, als dunkel qualmender Rauch aber läßt er den Mann zum Frauenverächter, zum Vergewaltiger oder sonstigen Sexualstraftäter werden oder manifestiert sich in obszöner Zoterei: »Wenn nun der Geschlechtswind vom Mark des Mannes aufbricht, fällt er in die Gegend der Lenden ein und erregt im Blut den Geschmack der Lust. Weil diese Stelle an den Lenden recht eng und schmal und verschlossen ist, kann jener Wind sich hier nicht ganz verteilen. Um so heftiger brennt er in der Begierde, so sehr, daß der Mann in dieser seiner leidenschaftlichen Glut sich selbst vergißt und sich nicht mehr enthalten kann, den Schaum seines Samens herauszuschleudern.« (S. 137) »Adam besaß vor seinem Fall eine engelgleiche Stimme und kannte alle Arten von Musik; er hatte eine wohltönende Stimme, die wie die Laute erklang. Mit seinem Übertritt aber erhob sich durch die List der Schlange in seinem Mark und in seinen Schenkeln ein gewisser Wind, der auch jetzt noch in jedem Menschen ist. Durch diesen Wind wird die Milz des Menschen fett, und unangebrachte Ausgelassenheit und lautes Lachen und rohes Gewieher platzen aus dem Menschen heraus. Denn wie mit der Übertretung Adams dessen heilige und reine natürliche Veranlagung zur Erzeugung der Nachkommenschaft in eine andere Weise des fleischlichen Begehrens umgewandelt wurde, so wurde auch die Stimme der höheren Freude, die Adam zuvor besessen hatte, in die entgegengesetzte Art und Weise des Lachens und Kicherns verwandelt. Solch unpassende Fröhlichkeit und Lachen haben nämlich eine gewisse Beziehung zu der fleischlichen Begierde, und so erschüttert denn auch jener Wind, der das Gelächter erregt, vom Mark des Menschen ausgehend, seine Schenkel und Eingeweide. Mitunter führt auch das Lachen bei allzu heftiger Erschütterung das Tränenwasser aus dem Blut der Gefäße zu den Augen, und auf dieselbe Weise, wie der Schaum des Samens von Zeit zu Zeit aus dem Blut der Gefäße durch die Glut des Geschlechtsbegehrens hinausgetrieben wird. (…)

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Hildegard von Bingen

Wenn der Mensch sich freut, seien die Dinge, die ihm gefallen, gut oder böse, dann befällt der oben erwähnte, aus dem Mark aufsteigende Wind zuerst seine Schenkel, besetzt darauf die Milz, füllt die Milzgefäße an, greift auf das Herz über und füllt die Leber an – und so läßt er den Menschen auflachen und seiner Stimme in rohem Gelächter ähnlich dem Vieh herauswiehern. Jemand, der in seinen Vorstellungen leicht wie ein Wind hin und her geschleudert wird, hat eine etwas starke Milz und wird deshalb leicht erfreut und lacht leicht aus sich heraus. Wie aber Traurigkeit und Zorn den Menschen schwächen und ausdörren, so verletzt auch ein maßloses Gelächter die Milz, ermüdet den Magen und läßt infolge der Erschütterungen den Säftehaushalt durcheinanderfließen.« (S. 224 f.)

Wie man sieht, beschreibt Hildegard von Bingen das Herausplatzen der »Lachkotze« bei einem Lachanfall tatsächlich in strikter Analogie zu einem Orgasmus, ähnlich wie Bernhard von Clairvaux, weil sie mit scharfem Blick erkannt hat, daß das tertium comparationis zwischen einem Lachanfall als Reaktion auf eine Pointe und einem sexuellem Orgasmus das uroborische Prinzip ist, das beide in gleicher Weise überformt: Beide Phänomene sind unverfügbare Widerfahrnisse, die, sobald sie einmal in Gang geraten sind, nicht mehr zu steuern sind und im Selbstlauf der ihnen innewohnenden teleologischen Tendenz folgen, zu einem Höhepunkt kommen, der als explosionsartiges Erlebnis von ekstatischer Weitung empfunden wird, auf das ein sich selbst verzehrendes, wohltuend entspannendes Verströmen folgt. Beide setzen schlagartig ein und beide beruhen auf einem plötzlichen Umschlag von extremer Engung in extreme Weitung, was Franz von Baader als das »Explodieren der Angstspitze« bezeichnet, denn »dieses Durchbrechen ist eben ein Durchblitzen.«39 Aber im Gegensatz zu Bernhard von Clairvaux, der den Lachanfall ganz mechanistisch-hydraulisch deutet und den dergestalt lachenden Menschen wie ein Blasinstrument sieht, deutet Hildegard von Bingen den Lachanfall leiblich und wie die gewitterhafte Entladung einer aufgeheizten Atmosphäre durch Blitz, Donner und Regen.

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2.7.7 Der Lachtraktat des Strickers Da man über die biographischen Daten des Strickers (ca.1200– ca.1250) so gut wie nichts weiß, weiß man auch nicht genau, wann sein Vers-Epos Der ernsthafte König 40 entstanden ist und an welche Leserschaft es sich richtete. Erwähnenswert ist dieses kurze Epos für unsere Fragestellung aber deshalb, weil man es auch als theologisch-moralischen Traktat über das Lachen lesen kann, der die theologische Verurteilung des Lachens in der Tradition von Augustinus und Chrysostomus bis herauf zu Bernhard von Clairvaux fortführt und noch einmal explizit festschreibt. Wirkungsästhetisch gesehen ist das Epos vom ernsthaften König eine typische Bîspel-Erzählung mit einer theologisch-moralisch orientierten Nutzanweisung, wie man sie aus den Parabeln oder Gleichnissen der Bibel und v. a. aus dem Lukas-Evangelium kennt. Man denke nur an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der zum Vater zurückkehrt und von diesem wiederaufgenommen wird. Die zentrale Person des Werks ist ein notorisch ernster König, der nie lacht und auch nie lachen will. Doch im Gegensatz zu den vielen Werken, deren Handlung darauf abzielt, den König wieder zum Lachen zu bewegen, geht es hier darum, diesen notorisch agelastischen König als beispielhaft darzustellen, der deshalb auch berechtigt ist, alle anderen Personen seiner Umgebung zu derselben agelastischen Haltung zu bekehren. Das erste und wichtigste Opfer dieses Kreuzzugs unter der Fahne christlichen Ernstes ist der jüngere Bruder des Königs, der es gewagt hatte, ihn zu fragen, warum er denn nie lachen wolle. Daraufhin läßt der König seinen Bruder gefangennehmen, nackt ausziehen und so zwischen vier Speere einklemmen, daß diese ihn sofort durchbohren, sobald er sich bewegt. Dann erscheint der König und fragt seinen Bruder nun seinerseits, warum er denn nicht lache, worauf dieser nur antworten kann, er werde wohl zu Tode kommen müssen, sobald er dies tue. Zufrieden mit dieser Antwort deutet der König dann diese vier Speere christlich allegorisch als die vier Letzten Dinge Tod, Gericht, Himmel und Hölle, oder genauer und spezieller als Christi Marter und Tod, als Ungewißheit der eigenen Todesstunde, als 492 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Lachtraktat des Strickers

Schicksal der Seele nach dem Tode und als das Erlebnis des Jüngsten Gerichts, also als vier Unverfügbarkeiten von existentieller Bedeutung. Der allzu lachbereite jüngere Bruder wird also in eine Situation gebracht, in der er Leiden und Sterben Jesu buchstäblich am eigenen Leibe nachvollziehen muß, sobald er in die sinnlose und außerdem auch noch sündige Bewegung des körperlichen Lachens verfallen sollte. Den theologisch-moralischen Kommentar zu dieser sadistischen Variante einer imitatio Christi formuliert der König dann auch gleich selbst und folgt dabei dem klassischen Argument, Jesus habe deshalb nie gelacht, weil er das ihm vorbestimmte Leiden und Sterben ständig vor Augen gehabt habe: »er hat vor angest die not uf die marter und uf den tot, daz man in sach gelachen nie.« (S. 122)

Und dann erklärt der König, der Grund dafür, daß er selbst ebenfalls nie lache, liege darin, daß er die Marter Christi beständig vor Augen habe, und deshalb sei er auch berechtigt, allen anderen Personen denselben Grad an lachfreier Ernsthaftigkeit und Bußfertigkeit zu verordnen: »daz wendet mir daz lachen wol. daz machet mir alles des buoz, daz zu dem lachen gehoret. diu angest hat mir also gar daz lachen zefueret (verleidet), daz es mich ninder (nie mehr) rueret (erfaßt).« (S. 123)

Daß dieses sadistische Szenario, das der christlich-agelastische König hier mit seinem jüngeren Bruder anstellt, so fatal an Kafkas Foltermaschine in der Strafkolonie erinnert, ist sicher kein Zufall, weil das vierte Laterankonzil von 1215 den imperialen Zugriff der Kirche auf ihre Gläubigen im Leben und nach dem Tod verordnet und deshalb unter anderem auch die Inquisition eingerichtet hatte, deren Aufgabe vor allem in der Entdeckung und Bestrafung von Ketzern bestand. Am Kreuzzug gegen die Albigenser zwischen 1209 und 1229 läßt sich das exemplarisch studieren, weshalb Nikolaus Lenau in seinem Epos Die Albigenser von 1842 die Atmosphäre frommer Mordlust, die über diesem Kreuzzug lag, in Verse 493 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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faßte, die zugleich auch gegen die katholisch orientierte Gegenrevolution des Vormärz gerichtet waren: »Ihr wollt mit frecher Lust das Kreuz gefährden, Das Kreuz wir gegen euch gepredigt werden. Da werden auf das Wehgeschrei der Frommen Zu Tausenden die wilden Raben kommen, Ein brausendes Gesindel wird sich scharen, Und mordend wird es auf euch niederfahren. Raubgier und Rache, Lust zu Abenteuern Wird gegen euch ein grimmes Heer befeuern. Der Glaube, daß hier jede Schuld sich sühne, Bevölkert rasch des Mordens weite Bühne.« 41

So gesehen bildet der sadistische Lachtraktat des Strickers gleichsam den Abschluß einer gelotologischen Epoche in der Geschichte der katholischen Kirche mit dem Ziel, das Lachen strikt aus dem Leben der Christen zu verbannen, und zwar das Lachen schlechthin, denn es fällt auf, daß in diesem Traktat über das Lachen nie nach bestimmten Varianten des Lachens gefragt wird, sondern daß hier ganz dogmatisch reduktionistisch argumentiert wird, ganz so, wie wir dies schon bei Augustinus, Chrysostomus und Bernhard von Clairvaux gesehen haben. Doch damit war das letzte Wort der mittelalterlichen Kirche zum Lachen noch lange nicht gesprochen, denn die Neubewertung des Lachens durch Wilhelm von Conches und Alain de Lille trug auch ihre Früchte, was sich deutlich bei Alexander von Hales und Thomas von Aquin zeigt, auf die wir nunmehr einzugehen haben. 2.7.8 Alexander von Hales oder Die Theologie des Lachens 2.7.8.1 Überblick Der englische Franziskaner Alexander von Hales (1185–1245), der der selben Generation wie Franz von Assisi (1182–1226) angehört, war der erste und einzige der Scholastiker, der in seiner Summa theologica 42, die um 1250 von seinen Schülern aus seinen Schriften zusammengestellt worden ist, eine eingehende Theologie des 494 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alexander von Hales

Lachens vorgelegt hat. Daß Alexander von Hales in seiner Summa das Lachen überhaupt zum Thema einer systematischen Analyse erhoben hat, so lückenhaft diese auch immer ausgefallen sein mag, liegt wohl darin begründet, daß ein derartiges Werk sich dem Bestreben verdankt, eine Gesamtsicht von Gott, Mensch und Welt unter einem ausschließlich theologischen Blickwinkel und nach Maßgabe einer konsequent durchgeführten Argumentationsmethode auf dem aktuellen Stand der theologischen Diskussion zusammenzustellen, und deshalb mußte auch das Lachen behandelt werden. Gemessen an der uns bisher bekanntgewordenen gelotologischen Diskussion im Rahmen christlicher Theologie ist das Ergebnis von Alexanders Deutung und Bewertung des Lachens bemerkenswert liberal, und daß diese liberale Deutung des Lachens aus theologischem Blickwinkel gerade von einem Franziskaner stammt, ist sicher auch kein Zufall, weil Franz von Assisi als der Begründer dieses Ordens damals schon allgemein als das Urbild des heiter lächelnden Mönches galt. Da hier aber das Lachen explizit aus christlich-theologischer Sicht analysiert wird, steht die gesamte Abhandlung unter der Frage, ob Lachen generell eine Sünde sei oder nur in bestimmten Formen, und wenn ja, in welchen, und wenn es Sünde sei, ob es dann jeweils eine läßliche Sünde (peccatum veniale) oder aber eine Todsünde (peccatum mortale) darstelle. Die von Anselm von Canterbury 150 Jahre vorher eingeführte Unterscheidung ist also schon selbstverständliche Grundlage von Alexanders Argumentation, die im dritten Band dieses monumentalen vierbändigen Werks ganz systematisch Ursprung, Wesen, Formen und Grade der Sünde abhandelt. Außerdem orientierte sich Alexander natürlich an den Beschlüssen des vierten Laterankonzils von 1215 über das Wesen der Sünde, die ihn auf eine Intentionsethik verpflichteten, derzufolge es bei der Beurteilung eines Verhaltens darum geht, nach der diesem Verhalten zugrunde liegenden Gesinnung zu fragen. Nicht ein Verhalten als solches gilt also schon als Sünde, sondern eine Sünde liegt erst dann vor, wenn man etwas aus freiem Willen tut, wenn man also auch anders handeln könnte, aber trotzdem in voller Absicht gegen den Willen Gottes handelt. Damit wird das Kriterium der Verfügbarkeit des jeweiligen 495 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachens zum zentralen Argument und zieht die Notwendigkeit nach sich, die Vielfalt des Lachens ausdrücklich zu berücksichtigen und in verschiedene Lacharten gemäß den Kriterien der Verfügbarkeit und der dahinterstehenden Gesinnungen aufzugliedern. Methodologisch gesehen ist dies ein beträchtlicher und nicht genug zu rühmender Fortschritt, weil sich dadurch jede Form von absichtlichem Reduktionismus verbietet. Wir werden sehen, daß dadurch für Alexander von Hales nur noch ganz wenige Formen des Lachens übrig bleiben, die als Todsünden zu gelten haben, und dies sind all die Formen des Lachens, in denen sich Hoffart (superbia) bekundet, die Formen also, auf die der christlich-theologische Diskurs das Lachen bis dahin generell zu reduzieren liebte. Hier argumentiert Alexander von Hales jedoch viel genauer als all seine Vorgänger einschließlich der großen Autoritäten Johannes Chrysostomus, Aurelius Augustinus, Benedikt von Nursia und Bernhard von Clairvaux. Deshalb werden wir auch sehen, daß Alexander vor allem Augustinus, auf den diese christliche Deutung des Lachens wesentlich zurückgeht, als gelotologische Autorität sehr selten zitiert, und die anderen genannten Vertreter der agelastischen christlichen Tradition werden meist als Vertreter einer Position angeführt, die im Spiel von Pro- und Contra-Position durch die schließlich angebotene Lösung des aufgeworfenen Problems (solutio) als überwundene Position gelten müssen. Um den Ort zu bestimmen, den Alexander dem Lachen auf der Sündenpalette zuweist, ist es nötig, erst einmal einen Überblick über diese Palette als ganze zu gewinnen. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die von Augustinus stammende Definition der Sünde als ein »Reden, Handeln oder Streben gegen den Willen Gottes«: »Peccatum est dictum vel factum vel concupitum contra legem Dei.« (S. 357) Zu diesem Willen oder Gesetz Gottes zählt für Alexander aber nicht nur der biblische Dekalog selbst, sondern auch all das, was sich tausend Jahre lang an Auslegungen dieser zehn Gebote durch die anerkannten Autoritäten der Kirche angesammelt hat und kanonisiert worden ist, also neben den Evangelien und den Lehrbriefen der Apostel auch die Entscheidungen von Konzilen, Päpsten und Kirchenvätern bis herauf zu Bernhard von Clairvaux und Petrus Lombardus. 496 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alexander von Hales

Alexander von Hales geht genetisch-ätiologisch vor und unterscheidet zunächst die Ursünde, Luzifers Aufstand gegen Gott, die Erbsünde Adams und Evas als der jedem Menschen von Geburt an mitgegebenen Disposition zum Sündigen und die aktuellen Sünden mit einem Sitz im Leben. Schon hier unterscheidet er sich deutlich von Augustinus, für den die Erbsünde nicht eine Disposition zum Sündigen ist, die jedem Menschen von Anfang an innewohnt, sondern eine Erbschuld die jeder Mensch schon als Last mit sich herumschleppt, bevor er überhaupt etwas getan hat. Die aktuellen Sünden wiederum werden im Gefolge von Anselm von Canterbury eingeteilt in läßliche Sünden, die mit oder ohne Vorsatz begangen werden können, und Todsünden, die immer vorsätzlich begangen werden. Neben dieser Einteilung nach dem Grad ihrer Schwere und den dafür zugemessenen begrenzten Strafen im Fegefeuer und ewigen Strafen in der Hölle bietet Alexander noch eine zweite Klassifizierung der aktuellen Sünden im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie ausgeübt werden, und teilt sie demgemäß ein in »Sünden des Herzens« (peccata cordis), die immer durch Überlegung (cogitatio), Entscheidung (iudicium) oder Zustimmung (consensus) zustande kommen, in »Sünden des Mundes« (peccata oris) und in »sündhafte Verrichtungen« (peccata operationis), die je nach Situation mehr oder weniger spontan geschehen können. Entscheidend aber ist in jedem Fall die Gesinnung, aus der heraus etwas getan wird. Die elf Sünden des Mundes sind nach dem Grad ihrer Sündhaftigkeit geordnet und steigern sich vom Schweigen im falschen Moment über Lüge (mendacium), Streitsucht (contentio), Possenreißerei (scurrilitas), Geschwätzigkeit (multiloquium), Prahlerei (iactantia), Schmeichelei (adulatio), Beleidigung (contumelia), übler Nachrede (detractio) und Verfluchung (maledictio) bis zur Gotteslästerung (blasphemia). Die drei sündhaften Verrichtungen sind ebenfalls nach dem Grad ihrer Sündhaftigkeit geordnet und bestehen in Lachen und Spaßmacherei (risus und ioculatio), Verlachen und Verspotten (derisio) und in eitler Prachtentfaltung am eigenen Körper durch Kostüm, Schminke, Schmuck und Frisuren (ornatus corporis). Von all diesen Sünden sind für unsere Fragestellung nur die Pos497 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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senreißerei, das Lachen und Spaßmachen, sowie die verschiedenen Grade des Verlachens und Verspottens von Interesse und die Frage, ob und inwiefern all dies laut Alexander als läßliche oder aber als Todsünde zu werten sei. 2.7.8.2 Die theologische Kritik der scurrilitas Eine Kritik der scurrilitas hat es schon vor Alexander von Hales gegeben, allerdings nicht unter christlich-theologischem Aspekt, sondern unter dem Aspekt des heidnisch-römischen Würde-Ideals. Sie stammt von Cicero und findet sich in seiner Pflichtenlehre De officiis und in seiner Rhetorik De oratore, in denen sich Cicero die aristotelische Unterscheidung von Eutrapelie und Possenreißerei völlig zueigen gemacht hatte, einschließlich all ihrer ästhetischen und soziologischen Implikationen, derzufolge Eutrapelie ein Verhalten der gesellschaftlichen Elite ist, Possenreißerei hingegen eine Sache des ungebildeten Pöbels, denn er schreibt in seiner Pflichtenlehre: »Es gibt im allgemeinen zwei Arten des Scherzens (iocandi genus), die eine eines freien Mannes unwürdig (inliberale), herausfordernd (petulans), widerlich (flagitiosum) und schmierig (obscenum), die andere dagegen fein (elegans), vornehm (urbanum), geistreich (ingeniosum) und witzig (facetum): an dieser Art sind reich nicht nur unser Plautus und die alte Komödie der Attiker, sondern auch die Bücher der sokratischen Philosophen, und es gibt viele witzige Äußerungen, die vom alten Cato gesammelt worden sind und apophthegmata genannt werden. Leicht ist also die Unterscheidung zwischen anständigem und gemeinem Scherz (iocus ingenuus/iocus inliberalis). Der eine ist, wenn er zur rechten Zeit gemacht wird, z. B. in gelöster Stimmung, sogar des ernstesten Mannes würdig, der andere nicht einmal eines Freien, wenn Schändlichkeit der Gegenstände (turpitudo rerum) mitspielt oder Schmierigkeit der Worte (obscenitas verborum).« (I,104, S. 90 ff.)

Diese Unterscheidung nehmen wir auch heute noch vor und entspricht in etwa der heutigen zwischen witzig gesetzten Pointen und plumpen Zoten. In seiner Abhandlung über den idealen Redner geißelt Cicero 498 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alexander von Hales

denn auch diesen plumpen Wirkungswillen, der um jeden Preis Gelächter beim Zuhörer erregen will, auf das schärfste und warnt eindringlich davor, als Redner die Übertreibungen eines Schmierenkomödianten zu kopieren: »Denn wie man beim Erzählen und Vorspielen (narratio vel imitatio) irgendwelcher Begebenheiten vermeiden muß, in die malende Mimesis der Possenreißer und Schmierenkomödianten (similitudo mimorum et ethologorum) zu verfallen, so muß der Redner sich auch hüten vor der plumpen Witzelei (dicacitas scurrilis).« 43

Hier wird also scurrilitas als die große Versuchung zur billigen Wirkung um jeden Preis, zugleich aber auch als die wirkungsästhetische Ursünde des Redners schlechthin dargestellt, und deshalb listet er kurz darauf eine ganze Reihe solcher Praktiken auf, die zwar Lachen erregen können, aber weit unter der Würde des Redners liegen, der auf Würde hält: die Komik des Hanswurst (sannio), die Komik der malenden Mimesis (imitatio), die Komik des Grimassierens (depravatio oris) und die besonders billige Komik des obszönen Wortschatzes (obscenitas). Einigen dieser Sünden werden wir auch wieder bei Alexander begegnen als Sünden der ioculatio. Wir haben oben in Kapitel 2.3.4.3 aber auch gesehen, daß der aristotelische Eutrapelie-Begriff in der Epoche des Hellenismus sich geradezu in sein Gegenteil verkehrt hatte, sodaß die Unterscheidung von witzig geistreicher Eutrapelie und Possenreißerei um jeden Preis, auf die Aristoteles und Cicero so großen Wert gelegt hatten, hinfällig geworden war. Eutrapelie war nunmehr faktisch identisch mit Possenreißerei, auch für Paulus und die ersten Kirchenväter, und so steht es auch im Brief an die Epheser und in der 17. Homilie des Johannes Chrysostomus zu diesem Brief. Dies war auch noch tausend Jahre später für Bernhard von Clairvaux so, der in seinem Lehrbrief an den neuen Papst Eugen III. sich diese Deutung zu eigen gemacht und in aller Form bekräftigt hatte: Scurrilitas war rundum verwerfliche Rede und damit Sünde. Wir haben auch gesehen, daß in den verschiedenen Bibel-Übersetzungen die Passage Epheser 5,4 ganz in diesem Sinn übersetzt worden ist, und somit galt: Eutrapelie ist scurrilitas, und ist zu übersetzen als »schandbare Worte und Narrenteidinge« oder als »Zotten und Possen«. 499 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wenn Alexander von Hales nun die Frage aufwirft, ob die scurrilitas eine Sünde sei, so stellt sich für ihn diese Frage vor diesem Hintergrund einhelliger christlicher Ablehnung der scurrilitas, und wenn er dann die Pro- und Contra-Positionen dazu abfragt und analysiert und schließlich seine eigene Lösung des Problems vorstellt, so decken sich die Pro- und Contra-Positionen weitgehend mit der ursprünglichen aristotelischen bzw. mit der hellenistischfrühchristlichen Deutung, Alexanders Lösung aber ist eindeutig die aristotelische Position und man darf gespannt sein, wie es ihm gelingt, tausend Jahre Deutungstradition auszuhebeln. Als Pro-Position zitiert er selbstverständlich die klassische Passage Epheser 5,3–4 und verweist auf den offiziellen Bibelkommentar zu dieser Stelle, in dem es heißt, die scurrilitas sei verboten (prohibetur) und verpönt (dissudetur), was aber verpönt und verboten sei, sei eindeutig auch Sünde (S. 423), und damit sei auch die scurrilitas eindeutig Sünde. Als Contra-Position zitiert er den gelehrten Hieronymus mit dem Argument, die scurrilitas sei als witzige Redeweise, wenn sie von einem hellen Kopf (sapiens) mit weltmännisch-urbaner Bildung, Witz und Takt (cum urbanitate) vorgetragen werde, keine Sünde (S. 424), was exakt die Position von Aristoteles und Cicero wiedergibt, denn urbanitas war das ursprüngliche römisch-lateinische Synonym für eutrapelia im Griechischen. Diese Contra-Position ist für Alexander von Hales denn auch die Lösung des Problems, schon wegen der undogmatischen Wenndann-Argumentation, denn er schreibt dazu: »Die scurrilitas ist genau genommen (proprie dicta) eine Sünde; aber unter bestimmten Umständen kann sie erlaubt sein, wenn sie z. B. dazu dient, eine Rede mit Witz oder auch Charme (cum urbanitate vel affabilitate) zu schmücken und dadurch bewirkt, freundliche Beziehungen zwischen den Menschen zu stiften und zu erhalten oder weltliche Trauer und Trübsinn (tristitia vel acidia saeculi) zu vertreiben, und dann ist sie keine Sünde. Allerdings nur unter der Bedingung, daß sie dabei einen schändlichen Wortschatz (verba turpia) vermeidet. Verwendet sie aber ein solches obszönes Vokabular oder ist sie bloß nutzloses Geschwätz (verba nullius utilitatis), das nur ungehemmtes Gelächter (risum inordinatum) hervorrufen soll, dann ist sie eine Sünde.« (S. 424)

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Alexander von Hales

Damit hat sich Alexander von Hales die klassische aristotelische Unterscheidung zwischen Eutrapelie und Possenreißerei völlig zu eigen gemacht, nur mit dem Unterschied, daß er die ästhetisch-soziologische Argumentation von Aristoteles und Cicero in eine moraltheologische abwandelt. Außerdem wird schon an dieser kurzen Passage deutlich, wie genau Alexander von Hales, methodologisch gesehen, argumentiert, da er immer nach dem Zweck eines Handelns, nach den dabei verwendeten Mitteln und nach der Situation fragt, in der all dies geschieht. Er vermeidet es also sorgfältig, »dogmatische Normen« zu formulieren, die ein Verhalten generell verbieten oder anordnen, sondern formuliert immer »spezielle Handlungsnormen« 44, die nach dem Schema von Wenn-dann-Sätzen gebaut sind, weil sie das zu regelnde Verhalten strikt auf entsprechende Situationen beziehen. Mit dieser methodologischen Umsicht im moralischen Argumentieren hat Alexander von Hales auch den gelotologischen Diskurs auf eine Ebene der Argumentation gehoben, die es vor ihm einzig bei Pachomius gegeben hat, was man ihm nicht hoch genug anrechnen kann, denn jedes generelle Freistellen, Fordern oder Verbieten irgendeines Lachverhaltens wäre, gemessen an dem von Alexander von Hales vorgeführten Argumentationsniveau, ein unverzeihlicher Rückfall in Dogmatik. Nachdem nun geklärt ist, daß scurrilitas im Sinne von Possenreißerei eine Sünde sein kann, stellt Alexander im nächsten Kapitel die Frage, ob sie dann eine bloß läßliche Sünde oder aber eine Todsünde sein könne. Auf Todsünde plädiert Paulus in seinem Epheser-Brief, und in seinem Gefolge tut dies v.a auch Johannes Chrysostomus, der die frühchristliche Deutung der eutrapelia/scurrilitas als Schmutz-, Schund- und Schandrede (infamia) durchgesetzt und gleichsam kanonisiert hat und der in der 37. Homilie zu Matthäus schreibt, die scurrilitas sei als infamia sogar »der Peitsche würdig« (dignus est flagello) (S. 424). Alexander zitiert aber auch aus der 51. Homilie zu Matthäus, in der Chrysostomus sich über die verschiedenen sordes ausläßt: »Die Unreinigkeit des Mundes besteht in: Verfluchen (maledictio), Gotteslästerung (blasphemia), Schmähung und Zornreden (turpiloquium), Zoten, Spötteleien und Sticheleien (scurrilitas).« 45

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Wenn man aber die scurrilitas in eine solche Reihe von schweren Sünden einordnet, dann muß sie eine Todsünde sein, wie die anderen genannten Sünden des Mundes auch. Als Contra-Position führt Alexander folgendes Argument an: »Die scherzhafte Lüge (mendacium iocosum) ist zwar eine läßliche Sünde, aber trotzdem kann Wahrheit und Wahrhaftigkeit in ihr verborgen sein. Allerdings ist der Wahrheitsgehalt (veritas) einer solchen Art zu reden geringer als ihr Gehalt an Würde (honestas); vergleichbar sind beide insofern sie erfreuen. Also ist das Scherzen (scurrilitas) weniger sündhaft als die scherzhafte Lüge. Da aber die scherzhafte Lüge nur eine läßliche Sünde ist, ist die Scherzrede erst recht nur eine läßliche Sünde. Außerdem dient das Spaßmachen (iocularitas) der Erregung von Gelächter (risus) und Heiterkeit (gaudium). Lachen aber und Heiterkeit dieser Art (huius modi) entstehen aus einer gewissen Art von Leichtsinn (ex levitate mentis) und sind deshalb Läßlichkeiten (venialia). Und deshalb ist auch die Scherzrede erlaubt (venialis), und genau dies behauptet auch die Bibel. Also ist die scurrilitas nur eine läßliche Sünde.« (S. 424 f.)

In dieser Contra-Position wird also die hellenistisch-frühchristliche Gleichsetzung von eutrapelia und scurrilitas im Sinne von Possenreißerei ebenfalls wieder zurückgenommen, das ursprüngliche aristotelische Verständnis der Eutrapelie neu installiert und außerdem auch noch als genuin biblisch behauptet. Rund 25 Jahre später wird Thomas von Aquin diesen Gedanken in seiner Summa wieder aufnehmen und die originäre aristotelische Eutrapelie ebenfalls ausdrücklich theologisch rechtfertigen und sie sogar als Tugend bezeichnen. Diese Contra-Position macht sich Alexander von Hales weitgehend zu eigen, obwohl sein scurrilitas-Begriff immer noch ambivalent ist, und deshalb kommt er zu dem Schluß: »Die Scherz- oder Schimpfrede (scurrilitas sermonis sive turpis sermo) kann ganz unterschiedliche Gründe haben: allzu große Flinkheit der Zunge (lubricitas linguae), Anfälligkeit für Jähzorn (impetus irascibilis) oder sprachliche Fehlleistungen (obreptio rationis).« (S. 423)

Da Alexander aber die grundsätzliche Vorentscheidung getroffen hatte, das eigentliche Kriterium dafür, ob etwas eine Sünde sei, liege in der Gesinnung, d. h. in der Vorsätzlichkeit und damit in der Ent502 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alexander von Hales

scheidung, eine Sünde auch begehen zu wollen – peccatum est in cogitatione –, fährt er nach diesem kurzen Hinweis auf den Widerfahrnischarakter auch des sprachlichen Handelns, der ein solches Reden als läßliche Sünde erscheinen läßt, in seiner Argumentation fort: »Sie kann aber auch aus wohlüberlegten Entscheidungen (ex deliberatione rationis), aus einem sündhaften Redestil (ex mala consuetudine linguae) und fehlgeleiteten oder begehrlichen oder aggressiven bösartigen Affekten resultieren (ex perversa affectione sive maligna concupiscibilis vel irascibilis) und demzufolge resultiert all dies aus einem teils läßlich-sündigen teils todsündigen Streben (libido), und deshalb ist die scurrilitas in bestimmten Fällen eine Todsünde, in anderen Fällen aber eine nur läßliche Sünde.« (S. 425)

Das heißt also: Ist die scurrilitas Eutrapelie im Sinne von Aristoteles und Cicero, so ist sie keine Sünde. Ist die scurrilitas im Sinne von Aristoteles, Cicero, Paulus, Johannes Chrysostomus und Bernhard von Clairvaux aber Possenreißerei, so muß sie trotzdem nicht immer eine Todsünde sein, sondern kann, bedingt durch den Widerfahrnischarakter auch des sprachlichen Handelns, in bestimmten Fällen ebenfalls eine nur läßliche Sünde sein. Entscheidend ist immer die Gesinnung, aus der heraus sie vorgetragen wird. Nach diesem recht differenzierten Befund, mit dem er sich eine Grundlage für die gesamte weitere Argumentation geschaffen hat, zieht Alexander den Problemkreis noch etwas enger und geht der Frage nach, ob ein Priester eine Todsünde begehe, wenn er in amtlicher Funktion scurrilitas-Reden führt. Daß dies sehr wohl der Fall ist, geht laut Alexander aus den Lehrbriefen Bernhards an Papst Eugen III. De consideratione hervor, die er als Pro-Position zitiert, denn Bernhard schreibt dort über eutrapelia resp. scurrilitas: »Du hast deinen Mund der Frohen Botschaft geweiht; ihn für solche Reden auch nur zu öffnen, ist dir nicht erlaubt; ihn daran zu gewöhnen, aber ein Frevel (sacrilegium).« (S. 426)

Demnach wäre »die Schimpf- und Schandrede (turpiloquium) oder Possenreißerei aus dem Munde eines Priesters oder Prälaten eine Todsünde.« (S. 426) Außerdem verweist Alexander auf eine andere Stelle in Bernhards Lehrbriefen, wo dieser schreibt, man müsse den 503 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Müßiggang als die Mutter aller Witzeleien fliehen, denn Witze (nugae) aus dem Munde eines Priesters seien Blasphemien. Außerdem verweist er natürlich auf Chrysostomus und dessen 51. Homilie zu Matthäus, in der dieser mit der ihm eigenen Strenge schreibt: »Die Zunge ist wie ein königliches Roß. Legst du ihr Zügel an und lehrst sie, ebenmäßig einher zu schreiten, so wird der König darauf ruhen und sich darauf setzen; läßt du sie aber ohne Zaum dahinstürmen und Seitensprünge machen, so werden die Teufel auf ihr reiten.« 46

Damit ist diese Position klar formuliert: Wenn Priester und Prälaten im Vollzug ihres Amtes Witze reißen, so begehen sie eine Todsünde. Als Contra-Position führt Alexander das Argument an, ein Priester sei zu nichts anderem verpflichtet als zu dem, was die Erfüllung seines Amtes erfordert und dies bestehe darin, für die ihm anvertraute Gemeinde zu sorgen. Dazu gehöre aber nicht expressis verbis das Verbot, derlei Reden zu vermeiden (abdicatio scurrilitatis et turpiloquii) (S. 426). Da dieses Gegenargument aber auf reichlich schwachen Füßen steht, ergibt sich als Lösung des Problems für Alexander die Antwort, »daß ein Priester oder Prälat eine Todsünde begeht, wenn er, anstatt dem Volk durch Wort und eigenem Beispiel das Wort Gottes zu verkünden, Witze reißt oder obszöne Reden im Munde führt (scurrilitas aut turpiloquium) und daß er gleichfalls eine Todsünde begeht, wenn er durch seine Redeweise Anstoß erregt oder durch sein Verhalten ein schlechtes Beispiel abgibt. Wenn er jedoch aus Versehen (ex obreptione) oder Unachtsamkeit (ex impraemeditatione) mal in einen solchen Wortschatz verfällt, so darf man nicht meinen, daß er eine Todsünde begeht (denn entscheidend ist auch hier wieder die Gesinnung). Wenn nun die oben zitierte Autorität Bernhard von Clairvaux behauptet, ›auf solche Weise den Mund auch nur zu öffnen, ist dir nicht erlaubt‹, so ist dies so zu verstehen, daß er das Öffnen des Mundes aus Vorsatz (per praemeditationem) und gemäß einer Willensentscheidung (per deliberationem) meint.« (S. 426)

In gleicher Weise stellt sich für Alexander die Frage, ob auch die anwesenden Zuhörer sündigen, wenn sie aus dem Mund eines Priesters »Zotten und Possen« zu hören bekommen, und auch hier 504 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alexander von Hales

kommt er wieder zu dem Schluß, daß es von der inneren Haltung abhängt, die jemand beim Zuhören einnimmt, da es zwei sehr unterschiedliche Gesinnungen beim Zuhören gibt: »Die eine Art des Zuhörens ist so beschaffen, daß sie sich die ›Zotten und Possen‹ gefallen läßt und mit Beifall fördert, und diese Art des Zuhörens ist eine schlimmere Sünde als die Zoterei selbst; aber die Urheber (auctores) der ›Zotten und Possen‹ laden eine größere Schuld auf sich als die Helfer (ministri) und sündigen im höheren Maße, weil sie aus dem größeren Verlangen (libido) heraus sündigen. Es gibt aber auch die andere Art des eher zufälligen, absichtslosen Zuhörens (auditio casualis), und selbst wenn man dabei Vergnügen empfindet, so sündigt man trotzdem weniger als wenn man die ›Zotten und Possen‹ mutwillig und aufmerksam bis zum Ende verfolgt. Dazu sagt Chrysostomus in der 37. Homilie zu Matthäus: ›Man muß doch froh sein, wenn eine Seele anständig und keusch bleibt, die von all diesen Dingen sich rein hält, geschweige denn eine, die mit derlei Unterhaltung sich nährt.‹« (S. 426)

All diese Überlegungen muten uns heute reichlich scholastisch an, und die Probleme, die hier so ausführlich erörtert werden, scheinen uns geradezu an den Haaren herbeigezogen, weil man sich fragt, wieso ein Priester darauf verfallen sollte, vor seiner Gemeinde obszöne Reden zu führen. Diese Frage scheint um 1250 aber tatsächlich ein Problem gewesen zu sein, weil Alexander von Hales sie sonst wohl nicht so ernsthaft erörtert hätte. Es ist nämlich sehr wahrscheinlich so, daß er mit diesem ganzen Kapitel den Brauch des Osterlachens im Auge hatte, der um diese Zeit schon gepflegt worden sein dürfte, denn dieser Brauch bestand tatsächlich darin, daß der Priester am Ostersonntag vor seiner Gemeinde allerlei Schwänke erzählte, um seine Gemeinde zum Lachen zu bringen. Deshalb konnte man um 1250 sehr wohl die Frage stellen, ob diese Osterpredigten in Form von mehr oder weniger obszönen Schwänken anstatt des Gotteswortes oder als eine neue, ungewohnte Form liturgischer Verkündigung vorgetragen wurden, die sich an der damals schon blühenden Schwankliteratur orientierte. Wenn das der Fall sein sollte, dann wäre Alexanders Summa von 1250 die früheste direkte Stellungnahme zu diesem auf den ersten Blick so seltsamen Brauch des Osterlachens. 505 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Es könnte aber auch sein, daß Alexander zu dieser Fragestellung durch die Theaterstücke angeregt wurde, die von Goliarden, fahrenden Klerikern ohne Amt und Würden, in den Kirchen aufgeführt wurden, denn diese Aufführungen waren ebenfalls heftig umstritten. So zitiert Jean-Claude Schmitt eine Verlautbarung des Papstes Innozenz III. aus dem Jahr 1207, in der diese Spiele scharf verurteilt werden, weil sich deren Akteure »obszönen Gebärden und Ausschweifungen hingeben, die der Würde der Priester abträglich sind.« (S. 252) Schmitt zitiert allerdings auch eine Verlautbarung des Papstes Innozenz IV., der fünfzig Jahre später eine viel liberalere Haltung diesen Vorführungen gegenüber einnahm, denn hier wird den Klerikern ausdrücklich gestattet, »das Gestikulieren eines Schauspielers auszuführen, ohne dabei befürchten zu müssen, Schändliches zu tun oder gar zu sündigen, unter der Bedingung, dies ist zur Tröstung eines Kranken oder aufgrund irgendeines anderen berechtigten Motivs nötig, und vorausgesetzt, der Geistliche macht es sich nicht zur Gewohnheit.« (S. 259)

So gesehen bewegte sich Alexander mit seiner theologischen Kritik des Lachens, der Spiele und Schaukünste genau im Rahmen dessen, was von höchster Stelle vorgegeben war. 2.7.8.3 Die theologische Kritik der ioculatio Im nächsten größeren Kapitel – De peccato operis – stellt Alexander die Frage, inwieweit bestimmte Verrichtungen Sünde sein können, und teilt diese Verrichtungen ein in Lachen und ioculatio, Verlachen und Verspotten (derisio) und die Aufhübschung des eigenen Körpers durch Schmuck, Kleidung, Schminke, Frisuren und dergleichen mehr. Aber was versteht Alexander von Hales unter ioculatio? JeanClaude Schmitt definiert sie in seinem Buch über die Gesten und Gebärden im Mittelalter dahingehend, ioculatio umfasse »alle möglichen Körperfreuden und -lüste, vom Tanz lasziver Frauen (ioculatio chorealis mulierum lascivarum) bis zur Schaustellerei der Gaukler (ioculatio histrionica)«. (S. 258)

Ioculatio wäre demnach jede Verrichtung, die sich an einen Zu506 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schauer wendet und von diesem als Spiel, Scherz und Spaß (iocus) und als willkommener Zeitvertreib oder als Unterhaltung empfunden wird. Aus diesem Grund bietet es sich an, zur genaueren Bestimmung des ioculatio-Begriffs auf den umfassenden MimesisBegriff im Sinne von Ausdruck, Darstellung und Nachahmung zurückzugreifen, wie Hermann Koller dies gezeigt hat, und ioculatio als performative Mimesis zu verstehen, weil damit klargestellt ist, daß der Begriff der ioculatio nicht nur Musik, Tanz, Schauspielkunst und Zirkusartistik umfaßt, durch die der jeweilige Zuschauer zu mimetischer Resonanz animiert werden soll, sondern auch das weite Feld der sprachfreien, aber nicht minder bedeutungsvollen Gesten, durch die jemand jemandem etwas zu verstehen gibt, und dieses weite Feld reicht vom Grimassenschneiden über das Vogelzeigen bis zum Interaktions-Lachen. Da das Ziel der ioculatio im allgemeinen darin besteht, den Zuschauer zu unterhalten und zu erheitern, ist es auch sinnvoll, daß Alexander ioculatio und risus in einem Atemzug nennt, weil sie als Werk und Wirkung zusammengehören. Und außerdem wird dadurch deutlich, daß Alexander mit risus das Bekundungs-Lachen meint, mit derisio aber bestimmte Formen des Interaktions-Lachens, dem er dann auch ein eigenes Kapitel widmet. Eine implizite Kritik der ioculatio hatte schon Cicero in seiner Rhetorik vorgelegt, in der er den Ausdruck ioculatio zwar nicht in diesem Sinn verwendet, aber doch vieles aus dem Bereich der zum Lachen reizenden mimetischen Verrichtungen anspricht, diese einer Kritik unter dem Kriterium der Würde unterzieht und die meisten verwirft, weil sie mit der Würde eines echten Redners unvereinbar sind: »Man muß auch beachten, daß nicht alle komischen Effekte (faceta ridicula) geistvoll sind. Was kann denn komischer sein als ein Hanswurst (sannio)? Aber man lacht über ihn wegen seines Gesichts (os), seiner Miene (vultus), wegen des Typs, den er verkörpert (moribus imitans), seiner Stimme (vox), ja schon wegen seiner Gestalt (corpus). Lustig (salsus) kann ich ihn nennen, doch nur in dem Sinn, daß so kein Redner, sondern nur ein Komödiant (mimus) sein soll. Deshalb kann diese erste Sorte, die im besonderen Maße Heiterkeit (risus) erregt, nicht die unsere sein: die griesgrämige (morosus), abergläubische (super-

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stitiosis), argwöhnische (suspiciosus), eitle (gloriosus) und stumpfsinnige (stultus). Ihre Vertreter wirken schon ihrer Natur nach lächerlich. Von solchen Leuten pflegen wir uns abzusetzen und sehen in ihnen kein Vorbild für uns. Die zweite Art beruht auf Nachahmung (imitatio) und wirkt sehr komisch. Doch uns ist sie, wenn überhaupt, nur insgeheim und nebenbei erlaubt; sonst wirkt sie gar nicht fein (liberalis). Die dritte Spielart bildet das Grimassenschneiden (depravatio oris), sie ist unserer nicht würdig. Die vierte, die Zote (obscenitas), gehört nicht nur nicht aufs Forum, sondern auch kaum in ein Gelage freier Männer (convivium liberorum).« (II,251/2, S. 368 ff.)

Und dann singt Cicero das Lob der wirklich witzigen Rede, die sich aus den unendlichen Möglichkeiten der Sprache ergibt. Aus Ciceros Kriterium der Unwürdigkeit wird nun bei dem Theologen Alexander das Kriterium der Sündhaftigkeit, wenn er über die Grenzen der ioculatio schreibt: »Nachdem wir über die Sünde des Herzens und die Sünde des Mundes geredet haben, ist nunmehr auch von den sündhaften Verrichtungen zu reden. Da aber die sündhaften Verrichtungen ein weites Feld sind, müssen sie in der nun folgenden Abhandlung erst genau klassifiziert werden. Zunächst genügt es zu sagen, daß zu den sündhaften Verrichtungen all die Mittel gehören, die der körperlichen Beredsamkeit oder performativen Mimesis (gestus vel nutus corporis) und der Ausschmückung des eigenen Körpers (ornatus corporis) dienen. Die Sünde, die in der körperlichen Beredsamkeit liegt, wendet sich einerseits an die eigene Person, andererseits an den Nächsten. Und von einer Sünde läßt sich bei der Sünde der körperlichen Beredsamkeit oder des Lachens (peccatum ioculationis aut risus) insofern reden, als das Lachen eine Bewegung des Mundes (motus oris), die körperliche Beredsamkeit eine Bewegung des gesamten Körpers resp. eine Gestikulation (gesticulatio) ist, und das Verlachen (derisio) und das aggressive Auslachen voller Häme, Hohn und Spott (subsannatio) sich auf den Nächsten beziehen. Erstens ist deshalb vom Lachen und von der körperlichen Beredsamkeit zu reden, und dann ist zu fragen, ob das Lachen (risus) und die Vorführung von

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Schaukünsten aller Art (ludere sive ioculari) eine Sünde sei, und des weiteren, ob all dies auch eine Todsünde sein könne. Drittens, ob die Zuschauer bei diesen Spielen oder Vorführungen manchmal eine läßliche, manchmal eine Todsünde begehen. Viertens, ob die dabei nötigen Helfer in gleicher Weise sündigen.« (S. 470)

Was Alexander von Hales hier ankündigt, ist also nichts weniger als eine theologische Kritik der Schaukünste einschließlich ihrer Wirkung auf den Zuschauer. Da wir gesehen haben, mit welcher Unbedingtheit Kirchenväter wie Tertullian, Chrysostomus und Augustinus Schaukünste aller Art als Teufelszeug (pompa diaboli) bekämpft haben, darf man gespannt sein, was Alexander an Argumenten findet, die er dieser geschlossenen Front entschiedener Ablehnung entgegenhalten kann. Bezeichnenderweise beruft er sich bei der Beantwortung der Frage, ob das Lachen und die Vorführungen der Schaukünste eine Sünde seien, als erstes auf die aristotelische These, Lachen sei ein proprium hominis und stellt klar, daß Lachen, genauer: daß Bekundungs-Lachen kein vorsätzliches Handeln ist: »Es scheint so zu sein, daß all dies keine Sünden sind. Denn das Lachen ist dem Menschen von Natur aus verliehen (a natura datum), und so wie das Weinen Ausdruck von Traurigkeit ist, so ist das Lachen Ausdruck von Freude. So wie man also weinen kann, ohne zu sündigen, so kann man auch lachen, ohne zu sündigen. Außerdem zählt Aristoteles zu den üblichen geistigen Fähigkeiten auch die eutrapelia; eutrapelia aber ist der Kern (medietas) jeder Art von Spiel und deshalb schließt dies ein, daß man all diese Spiele spielen kann, ohne eine Sünde zu begehen. Außerdem sagt der Ecclesiast 3,4: ›Ein jegliches Ding hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen.‹ Die Zeit aber nutzen wir je nach Gelegenheit, und da nicht die Gelegenheit die Sünde ist, kann man also lachen und tanzen, ohne eine Sünde zu begehen.« (S. 470)

Und dann verweist er auf das immer wieder angeführte klassische Argument aus dem zweiten Buch Samuel, daß König David sogar vor der Bundeslade getanzt habe. Als Contra-Position führt er natürlich sofort das andere klassi509 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sche Beispiel an, den Tanz der Israeliten um das Goldene Kalb (Exodus 32,6), zu dem es heißt: »Danach setzte sich das Volk, zu essen und zu trinken, und standen auf, zu spielen.« Und außerdem führt er noch einige Passagen aus den Homilien des Johannes Chrysostomus an, in denen jede Art von Spiel und Tanz auf das schärfste verurteilt wird, die wir alle schon kennen und deshalb nicht mehr eigens zitieren müssen. Die Lösung des Problems ergibt sich für Alexander dadurch, daß er wieder ätiologisch vorgeht und nach den Gründen und Anlässen verschiedener Formen von Gelächter fragt, um nicht vom Lachen allgemein ausgehen zu müssen, sondern von bestimmten Formen des Lachens in bestimmten Situationen, die sich aus bestimmten Gründen und Anlässen ergeben und bestimmte Gesinnungen als Grundlage haben: »Zu all dem ist zu sagen, daß es vier Arten von Gelächter gibt (quadruplex est risus): Es gibt ein Lachen, das aus der Heiterkeit des Gewissens kommt (ex serenitate conscientiae) und aus dem Vorgeschmack höherer Freude (ex praegustatione gaudii superni), und dieses Lachen ist nicht nur ohne jede Sünde, sondern enthält schon den Genuß des Heiligen Geistes, der die wahre Freude ist.« (S. 471)

Gemeint ist hier sicher das ataraktische Lachen oder Lächeln, das wir schon bei Clemens von Alexandrien beschrieben fanden (auf den sich Alexander aber nirgendwo beruft), das auch noch Benedikt von Nursia in Form von Lächeln als einzige Lachart seinen Mönchen gestattete und das die Zeitgenossen Alexanders an Franz von Assisi erleben konnten. Und es ist natürlich auch das Lachen Adams vor dem Sündenfall, das Wilhelm von Conches und Hildegard von Bingen beschrieben haben. »Außerdem gibt es ein Lachen, das sich als Lohn (praemium) erweist, und von diesem Lachen, das ein tugendhaftes Weib auszeichnet, heißt es in den Sprüchen Salomos 31,25: ›Sie lacht des kommenden Tages.‹« (S. 471)

Für Alexander ist mit dem »kommenden Tag« aber nicht der folgende Tag gemeint, sondern der Jüngste Tag (dies novissimus) und deshalb ist mit diesem Lachen das befreite, erlöste und glückselige Lachen der Auferstandenen gemeint, auf das ebenfalls schon Cle510 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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mens von Alexandrien verwiesen hatte, den Alexander von Hales, der so gut wie alles kannte, auch hier nicht zitiert, denn er verweist hier lediglich auf die Bergpredigt, in der es heißt: »Es wird lachen beim Jüngsten Gericht, wer hienieden Leid ertragen mußte.« »Dann gibt es ein Lachen, das sich gegen den Lachenden selbst kehrt und in Entehrung und Strafe umschlägt, weil es aus übermäßiger Lustigkeit entspringt. Und von diesem Lachen sagt der Ecclesiast 7,4: ›Trauern ist besser als (dieses) Lachen‹, weil es, wie es im Kommentar zu dieser Stelle heißt, dem Weisen und Frommen (sapiens) Weisheit und Frömmigkeit raubt. Denn über dieses Lachen des Narren heißt es beim Ecclesiasten an anderer Stelle (7,6): ›Das Lachen des Narren ist wie das Krachen der Dornen unter den Töpfen.‹ Und außerdem gibt es eine vierte Art zu lachen, und zwar als Bekundung von Sanftmütigkeit (mansuetudo) und Herzensgüte (bonitas).« (S. 471)

Warum Alexander diese vierte Art zu lachen noch als eigenständige Art anführt, ist zunächst einigermaßen rätselhaft, weil sie sich völlig mit dem oben angeführten ataraktischen Lachen deckt, denn schon dort wurde im Kommentar auf den Galater-Brief 5,22 verwiesen, in dem es heißt: »Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit.« (S. 471)

Es könnte aber sein, daß er die eine Art des Lachens als lautes herzliches Lachen und die andere Art als stilles Lächeln sah und deshalb beide voneinander unterschieden wissen wollte; denn ridere kann eben sowohl »lachen« als auch »lächeln« bedeuten. Nachdem Alexander zu dem Ergebnis gekommen ist, daß das Lachen und Scherzen, Spielen und Tanzen manchmal eine Sünde sein kann, manchmal aber auch keine, und manchmal sogar ein Verdienst, je nachdem, aus welcher inneren Haltung heraus, zu welchem Zweck und in welcher Situation all dies geschieht, geht er an die viel spannendere Frage, ob Spielen, Lachen und ioculatio manchmal auch eine Todsünde sein kann. Hier zitiert er als Pro-Position all die Passagen aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter, die wir schon zur Genüge kennen, u. a. die klassischen Stellen Lukas 6,25 und Jakobus-Brief 4,9, wo davon die Rede ist, daß das allzu heftige weltliche Lachen nach dem 511 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Gericht Gottes in ewiges Trauern (luctus perpetuum) umschlagen werde und deshalb eine Todsünde sein müsse. Viel aufschlußreicher aber ist, was Alexander nicht zitiert, um diese strenge Position zu untermauern. So fehlt z. B. die viel zitierte Stelle aus dem 31. Sermon des Augustinus, es sei zum Weinen, daß die Menschen lachen 47, oder die These von Hugo von Sankt Viktor, das Lachen sei omnimodo malus. Vor allem aber fehlt die Unterscheidung in Isaak-Lachen und Ismael-Lachen, die Augustinus 48 vorgenommen hatte. Diese Lücke scheint mir deshalb besonders bemerkenswert, weil Augustinus bei dieser Unterscheidung nicht phänomenologisch, sondern rein theologisch argumentiert und Alexander diese Unterscheidung sehr gut in sein System der verschiedenen Lacharten hätte einordnen können. Es kann aber auch sein, daß Alexander gar nicht so viele Stimmen für diese streng lachfeindliche Position sammeln wollte, um die franziskanisch-liberale Position und damit auch seine eigene deutlicher stärken zu können. Denn die Contra-Position eröffnet er gleich mit einem schlagenden Argument, wenn er darauf verweist, daß es nirgendwo ein explizites göttliches Lach-Verbot gibt – »Non est expressa prohibitio divina.« (S. 471) –, so wie im Dekalog andere Todsünden ausdrücklich genannt und verboten werden, woraus man im Umkehrschluß schließen darf: Wenn Lachen eine Todsünde wäre, gäbe es auch ein explizites göttliches Lach-Verbot. Und weil es dieses explizite göttliche Verbot nicht gibt, könne Lachen schlimmstenfalls eine läßliche Sünde sein, wenn es denn überhaupt eine Sünde sei. Damit verschiebt sich die Fragestellung wieder dahingehend, daß bestimmte Formen des Lachens, Spielens, Scherzens und Tanzens im Hinblick auf ihre Intentionalität und ihre situative Bedingtheit von Fall zu Fall eigens beurteilt werden müssen. Und deshalb schreibt Alexander in seiner Solutio: »Aus all dem geht hervor, daß das Lachen manchmal eine läßliche Sünde, manchmal aber eine Todsünde ist. Denn die übermütige Lustigkeit (immoderata laetitia), aus der bestimmte Formen des Tanzens, Spielens und Lachens entspringen, kann sich manchmal in ein Gutes wandeln, das man zum Lobe Gottes tut (z. B. als Tanz Davids vor der Bundeslade) und dann sind Tanzen, Lachen und Spielen nur läßliche Sünden.

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Wenn dies jedoch aus Gottesverachtung geschieht (in contemptum Dei), oder wenn ein vermeintlich gutes Mittel zu einem sündhaften Zweck eingesetzt wird, dann liegt eine Todsünde vor. Also waren Spiel und Tanz der Israeliten beim Tanz ums Goldene Kalb eine Todsünde bzw. die Neigung (dispositio) dazu, eine Todsünde zu begehen.« (S. 472)

Man könnte hier natürlich mit einem treuherzigen Augenaufschlag die Frage stellen, warum Lachen, Tanzen und Spielen überhaupt als Sünden gelten sollten, aber genau diese Frage darf man einem mittelalterlichen Theologen eben nicht stellen. Trotzdem hat sich Alexander mit dieser ätiologisch orientierten Argumentation schon deutlich in Richtung Aristoteles bewegt, weil man seine Analyse des Lachens unter dem Aspekt der Sündhaftigkeit einzelner Lacharten auch als theologisches Gegenstück zum aristotelischen Nomos der eutrapelistischen Lachkultur ansehen kann. Aber ganz bei Aristoteles ist Alexander von Hales doch nicht angekommen, weil er sonst bei bestimmten Formen des Lachens die Frage nach deren Sündhaftigkeit überhaupt nicht gestellt hätte, aber die Denkbahnen der katholischen mittelalterlichen Theologie waren wohl so fest eingefahren, daß es praktisch undenkbar war, die Frage nach der Sündhaftigkeit eines bestimmten Verhaltens nicht zu stellen. Dies hätte ja bedeutet, daß die mittelalterliche Kirche bestimmte Bereiche des Lebens aus ihrer Deutungshoheit entlassen hätte, und das war erst recht undenkbar, da das vierte Laterankonzil von 1215 in aller Form die Entschlossenheit zum imperialen Zugriff auf die Seele des Gläubigen im Leben und nach dem Tod verkündet hatte. Dies zeigt sich auch beim nächsten Kapitel, in dem Alexander die Frage aufwirft, ob auch die Zuschauer bei all den Arten von ioculatio läßliche Sünden oder Todsünden begehen, denn hier kommt er zu dem Ergebnis: »Es gibt zwei Arten des Zuschauens (inspectio): Die eine unterhält sich nur an den dargestellten Todsünden wie z. B. Unzucht oder Ehebruch, und diese Art des Zuschauens ist eine läßliche Sünde. Bei einer anderen Art, dem engagiert mitgehenden Zuschauen (inspectio studiosa), wird die Lust geweckt, die auf der Bühne dargestellten Todsünden auch selber zu begehen, und dies kann dann eine Todsünde sein.

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Außerdem gibt es die Schauspielkunst (ioculatio histrionica), den Tanz lasziver Frauen und außerdem artistische Vorführungen (exercitii), um die Langeweile (fastidium) zu vertreiben und den Weltekel (acidia) ertragen zu können. Also kann das engagiert mitgehende Zuschauen, durch das die Lust geweckt wird, selber wie der Schauspieler oder Tänzer zu agieren, zu Todsünden führen. Schaut man aber bei den artistischen Vorführungen bloß zu, so verbleibt es bei läßlichen Sünden.« (S. 472)

2.7.8.4 Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung Wir haben schon gesehen, welche Schwierigkeiten Alexander von Hales hatte, bestimmte Formen des Lachens voneinander zu unterscheiden, um sie dann in seine Lach- und Sünden-Palette einzuordnen. Das liegt u. a. daran, daß das Kriterium der mehr oder weniger großen Sündhaftigkeit eines Lachens offenbar doch nicht genau genug ist, weil dieses rein theologische Kriterium überhaupt nur sinnvoll angewendet werden kann, wenn die verschiedenen Lacharten vorher schon durch eine phänomenologische Analyse säuberlich voneinander unterschieden worden sind. Um dies aber leisten zu können, hätte Alexander sein Kriterium der Vorsätzlichkeit und Verfügbarkeit eines Lachens weitaus ernster nehmen müssen als er es tatsächlich getan hat. Dazu kommt, daß er auf kein überliefertes differenziertes Vokabular zurückgreifen konnte, um verschiedene Lacharten angemessen benennen zu können, weil das Lachen bei den Scholastikern kein so intensiv beackertes Feld war. Aus diesem Grund tun wir gut daran, ehe wir zum nächsten Kapitel De derisione übergehen, in dem Alexander auf einige Formen des Interaktions-Lachens eingeht, im Vorgriff auf den systematischen Teil dieser Studie einige terminologische Klärungen vorzunehmen, um über einen Wortschatz zu verfügen, mithilfe dessen wir Alexanders Ausführungen genauer rekonstruieren und interpretieren können. Im folgenden werden die Termini »auslachen« und »verlachen« als Übersetzung von deridere und irridere synonym gebraucht und bezeichnen ein ad personam adressiertes Interaktions-Lachen von 514 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tendenzieller Verfügbarkeit, das eine interpersonale Zuwendung stiftet und artikuliert, die mehr oder weniger aggressiv sein kann und vom gutmütigen Spott bis zum Vernichtungswunsch reichen kann. Da diese beiden Haltungen zwei Endpunkte einer polarkonträren Skala bilden, zwischen denen es unendlich viele Schattierungen gibt, ist es nicht möglich, den Punkt genau anzugeben, an dem das gutmütige Verlachen in ein aggressives übergeht und das aggressive wieder in den Vernichtungswunsch. Aus diesem Grund tun wir gut daran, vom mehr oder weniger aggressiven Verlachen oder vom eher gutmütigen oder eher aggressiven Verlachen zu reden, um diesen fließenden Übergängen terminologisch gerecht zu werden. Bei der Rekonstruktion des alttestamentarischen Sprachgebrauchs und bei Augustinus sind wir schon einmal auf verschiedene Ausprägungen dieses Interaktions-Lachen gestoßen und haben den eher gutmütigen Spott als sachak-Lachen und das eher aggressive Vernichtungs-Lachen als la’ag-Lachen bezeichnet oder wir haben in Anlehnung an Augustinus vom Isaak-Lachen und vom Ismael-Lachen gesprochen. Diese Unterscheidung kehrt nun auch in Alexanders Theologie des Lachens wieder, auch wenn er sich nicht explizit auf Augustinus beruft, wobei er das sachak-Lachen als derisio/irrisio, das la’agLachen als subsannatio bezeichnet, womit er exakt dem Sprachgebrauch der Vulgata folgt. Allerdings verwendet Alexander das Wortfeld deridere/irridere bzw. derisio/irrisio auch als Bezeichnung für das Belachen, also für das geloiastische Lachen über etwas oder über jemanden, und damit für ein Lachen, das nicht ad personam adressiert ist und deshalb auch kein tendenziell verfügbares Interaktions-Lachen, sondern ein tendenziell unverfügbares Bekundungs-Lachen ist. Daher weiß man bei Alexander nicht immer sofort, von welchem Lachen er jeweils redet und worüber er redet, wenn er über die verschiedenen Arten von derisio/irrisio spricht, und muß aus dem Kontext und den angeführten Beispielen erschließen, was gemeint ist, wenn er ankündigt, was er in diesem Kapitel zu erörtern gedenkt: »Zu erörtern ist hier die Sünde des Verlachens und Belachens (derisio).

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Erstens ist zu fragen, was das spöttische Belachen und Verlachen (derisio) ist und ob es dasselbe ist wie das vernichtungswillige Verhöhnen (subsannatio). Zweitens ist zu fragen, ob das Belachen und Verlachen eine Todsünde ist oder nicht. Drittens, was bei beiden Arten von Gelächter die größere Sünde ist. Viertens, ob das Verlachtwerden verdienstvoll ist. Fünftens geht es um den Schaden, den das Verlachtwerden nach sich zieht.« (S. 473)

Wir werden im folgenden nur auf die ersten drei Fragen eingehen. 2.7.8.5 Die theologische Kritik der derisio Als Antwort auf die Frage, ob das Verhöhnen (subsannatio) eine Form des Verlachens (derisio) sei, zitiert Alexander zunächst aus den Sprüchen Salomos 3,32, in denen es heißt: »Verdammenswert ist dem Herrn jeder Spötter (omnis illusor)«, denn aus diesem Satz gehe hervor, »daß der Spötter (illusor) als Verlacher (irrisor) zu verstehen sei; Hohn (subsannatio) aber sei Spott (illusio); also sei die subsannatio eine Form des Verlachens (irrisio).« (S. 473)

Als Contra-Position führt er Psalm 44,14 an, in dem geklagt wird: »Du machtest uns zur Schmach (subsannatio) unsern Nachbarn und zum Hohn und Spott denen, die um uns her sind«, weil hier subsannatio von Hohn und Spott unterschieden wird. Man sollte aber eher sagen, daß hier eine für den Redestil des Alten Testaments typische Steigerungsdublette vorliegt und subsannatio als die lateinische Entsprechung für das hebräische la’ag als aggressive Steigerung von Hohn und Spott (hebr. sachak) bis hin zum Vernichtungswunsch dient. Vor allem aber verweist Alexander auf die klassische Passage aus dem zweiten Psalm: »Qui habitat in caelis, irridebit eos, et Dominus subsannabit eos. Aber der im Himmel wohnt, lachet (sachak) ihrer, und der Herr spottet (la’ag) ihrer. Denn damit ist deutlich, daß subsannatio und derisio/irrisio nicht dasselbe sind.« (S. 474)

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Und so ist es auch, denn subsannare/la’ag ist das eindeutig aggressivere, vernichtungswillige Verhöhnen, derisio/irrisio/sachak das Auslachen/Verlachen und Belachen ohne einen solchen Impetus zur Vernichtung des Anderen. Aus all diesen Überlegungen ergibt sich für Alexander der Schluß, »daß das Verlachen (derisio) manchmal eine gegen jemanden gerichtete mißgünstige und beleidigende Absicht (insultatio despectiva) enthält, und deshalb schreibt Beda Venerabilis auch unter Hinweis auf die Sprüche Salomos 3,32, wo davon die Rede ist, daß für Gott die Spötter ein Greuel sind, daß derjenige ein Spötter (derisor) ist, der seinen Nächsten mit den simpelsten Mitteln beleidigt (insultat), und deshalb kann das Verlachen (derisio) mit dem aggressiven Hohnlachen (subsannatio) auf eine Stufe gestellt werden. Es heißt aber auch bei Petrus Lombardus im Hinblick auf Psalm 44,14, das Verlachen sei ›die verwirrte Stimme der Heiterkeit (vox confusa laetitiae), die mit maßloser Freude herabwürdigende Beleidigungen ausstößt‹, und deshalb ist das aggressive Hohnlachen (subsannatio) eine Beleidigung (insultatio). Und wenn es in Psalm 2,4 heißt, ›der Herr spottet ihrer‹ (subsannabit eos), so muß man deshalb das Verlachen (derisio) vom vernichtungswilligen Hohnlachen (subsannatio) unterscheiden.« (S. 474)

Warum Alexander zur Unterscheidung von derisio und subsannnatio nicht die von Augustinus stammende Unterscheidung von Isaak- und Ismael-Lachen auch hier heranzieht, ist etwas verwunderlich, weil er sich dann leichter getan hätte, diese beiden Formen von Gelächter theologisch und phänomenologisch nach Maßgabe der dahinter stehenden Gesinnung zu unterscheiden, denn für Augustinus gehört das Ismael-Lachen zur weltlich-teuflischen Gesinnungsgemeinschaft civitas saecularis, das Isaak-Lachen aber zur Gesinnungsgemeinschaft der Kinder Gottes, also zur civitas dei. Der eigentliche Grund für all diese Schwierigkeiten aber liegt in dem oben genannten Umstand, daß derisio und subsannatio nicht als Punkte, sondern als prädikatenlogische Geltungsbereiche mit offenen Grenzen auf einer polarkonträren Skala mit fließenden Übergängen liegen und deshalb die Abgrenzung zwischen beiden sehr schwierig ist. Klar aber muß sein, daß subsannatio als aggressive Steigerung von derisio zu gelten hat und dem Unterschied zwischen 517 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bloßer Verachtung und haßerfüllter Vernichtungsgewilltheit entspricht. Im nächsten Abschnitt geht Alexander der Frage nach, ob die derisio eine Todsünde sei oder nicht. Daß sie eine Todsünde sein könne, belegt für ihn eine Stelle aus Weisheit Salomos 5,3, in der die beim Jüngsten Gericht Verdammten als Grund für ihre Verdammung angeben, sie hätten Gott verlacht und verhöhnt – »Dieser war’s, der uns zum Gelächter diente (in derisum habere) und zum Spottlied des Hohns« –, denn damit sei bewiesen, daß diese Art von Gelächter eine Todsünde sei. Daß die derisio nur eine läßliche Sünde sei, wird als ContraPosition damit begründet, daß dieses Lachen »aus einem Drang (impetus) und ohne Vorsatz (sine deliberatione) entsteht« (S. 474), weshalb es grundsätzlich keine Todsünde sein könne, weil eine Todsünde immer ex cogitatione erfolgen müsse, also nicht spontan und unreflektiert, sondern als bewußt und gewollt vollzogene Entscheidung gegen den Willen und das Gesetz Gottes. Damit wird deutlich, daß Alexander mit den Worten derisio/ irrisio in diesem Abschnitt nicht mehr das Verlachen/Auslachen als tendenziell verfügbares Interaktions-Lachen meint, sondern das geloiastische Belachen, also ein tendenziell unverfügbares Bekundungs-Lachen, das ja in der Tat sine deliberatione als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis aus uns herausplatzt, wenn wir etwas komisch oder lächerlich finden. Gegen dieses entscheidende Argument, bei der Verfügbarkeit des jeweiligen Lachens anzusetzen, um es auf der Sünden-Skala einzuordnen, gibt es für Alexander kein anderes Argument mehr, weshalb er zu der Lösung kommt, »daß derisio (i. S. v. verlachen oder belachen) manchmal eine Todsünde, manchmal aber auch eine nur läßliche Sünde sein kann (je nachdem, wer verlacht/belacht wird und je nachdem, ob dieses Lachen ein verfügbares Lachen ist oder aus einem unverfügbaren Impuls heraus erfolgt). Eine Todsünde ist das Verlachen gemäß Sprüche Salomos 10,10, wo es heißt, der Herr verfluche jeden Spötter (omnis illusor), weil hier der Spötter als Verlacher (derisor) Gottes verstanden wird. Denn im Kommentar zu der Stelle heißt es: Ein Spötter (illusor, hebr. rascha’) ist jemand, der die Verheißungen Gottes herablassend verachtet und ver-

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Alexander von Hales

lacht und den strafenden Zorn Gottes als einen erträglichen in kauf nimmt, und außerdem derjenige, der seinen Nächsten seiner Einfalt oder Armut wegen durch sein Verlachen beleidigt. Manchmal allerdings geschieht das Verlachen oder Belachen auch aus Leichtfertigkeit (ex levitate), wenn man gegen seinen Nächsten nichts Böses im Schilde führt oder ihm keinen Schaden zufügen will, und deshalb kann diese Art von Verlachen und Belachen auch nur eine läßliche Sünde sein.« (S. 474)

Geschieht das Belachen oder Verlachen des Andern aber aus Hoffart (superbia), aus dem exzessiven Genuß der eigenen Überlegenheit gegenüber dem Anderen, dann ist es für Alexander eine Todsünde, unabhängig davon, ob dieses Gelächter ein verfügbares Verlachen oder ein unverfügbares Belachen des Anderen ist. Hier wird später Thomas Hobbes ansetzen und das Lachen als sudden glory deuten und verpönen. Ist das Lachopfer aber Gott selbst, so ist dieses Lachen für Alexander in jeder Form eine Todsünde, weil es keine schlimmere Form der Hoffart geben kann als die, die sich voller Verachtung gegen Gott selbst wendet und damit die Ursünde schlechthin wiederholt, Luzifers Rebellion gegen Gott. 2.7.8.6 Bilanz Auch wenn Alexanders theologische Kritik des Lachens einige Lükken aufweist und sein Verfahren, verschiedenen Formen des Lachens nach Maßgabe ihrer Sündhaftigkeit zu deuten, sehr schnell an Grenzen stößt, stellt sie doch einen überaus gewichtigen Schritt in der gelotologischen Diskussion auf christlich-theologischer Grundlage dar, weil sie die für die scholastische Pönitential-Kasuistik zentrale Frage nach der Vorsätzlichkeit oder Absichtlichkeit eines Verhaltens aufs neue in den gelotologischen Diskurs eingeführt hat, nachdem Aristoteles dies schon einmal geleistet hatte, dieses überaus erhellende Kriterium aber wieder in Vergessenheit geraten war. Methodologisch gesehen war dies für den gelotologischen Diskurs ein ganz enormer Gewinn, denn die Frage der Absichtlichkeit deckt sich mit der Frage nach der Verfügbarkeit des 519 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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jeweiligen Lachens und kann deshalb aus dem theologischen Argumentationszusammenhang, der ganz auf die Frage nach der Sündhaftigkeit fixiert ist, leicht wieder gelöst und für eine weltlich-phänomenologische Analyse nutzbar gemacht werden, die die Frage nach der Sündhaftigkeit des jeweiligen Lachens gar nicht mehr stellt. Diese Art der Argumentation hatten wir zum ersten Mal bei Aristoteles angetroffen und werden wir auch bei Laurent Joubert wieder antreffen, der ganz im Geiste des Aristoteles denkt und mit dessen Traité du Ris von 1579 der rein säkular orientierte gelotologische Diskurs aufs neue beginnt. Wir hatten ja gesehen, daß für Aristoteles nur verfügbares Verhalten ethisch relevant ist und ethisch-moralisch geregelt werden kann, unverfügbares jedoch nicht. Dieser Gedanke taucht nun bei Alexander von Hales gleichsam in christlicher Verkleidung auf und besteht in dem Grundsatz: Peccatum est in cogitatione et deliberatione. Die Sünde liegt also in Gesinnung und Vorsätzlichkeit, nicht nur im Wissen, eine Sünde begehen zu können, sondern in der Entscheidung, sie auch begehen zu wollen. Und weil alle unverfügbaren Formen des Lachens aus der Kategorie Todsünde herausgefallen waren, konnte die mittelalterliche Christenheit nach der Entdeckung der läßlichen Sünden durch Anselm von Canterbury und nach der darauf aufbauenden theologischen Kritik des Lachens durch Alexander von Hales mit dem tausend Jahre lang verpönten Lachen wieder viel unbefangener umgehen, und hat es auch getan, wie die unendlich vielen Auflagen der mittelalterlichen Schwankanthologien zeigen. Auch der seltsame Brauch des Osterlachens ist ein Indiz dafür. Aber auch der Nomos eutrapelistischer Lachkultur, den wir aus den Schriften des Aristoteles erschlossen hatten, kehrt bei Alexander von Hales in christlichem Gewand wieder und bestimmt nun die Grenzen der Lachkultur für die mittelalterliche Christenheit. Hatte Aristoteles diese Grenzen so gezogen, daß das jeweilige Lach-Opfer weder Zorn noch Scham empfinden dürfe, wenn es zum Objekt des Gelächters wird, sondern in das durch den Spott ausgelöste Lachen selbst auch mit einstimmen können müsse, und daß außerdem auch der Spottende oder Lachende selber über sein 520 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas von Aquin

Spotten und Lachen weder Scham noch Reue empfinden dürfe, so lautet dieses Prinzip nun bei Alexander von Hales, jede Art von Lachen und Spotten sei erlaubt oder schlimmstenfalls eine läßliche Sünde, es sei denn, man begehe damit vorsätzlich eine Todsünde, und dies ist wiederum nur dann der Fall, wenn das jeweilige Lachen die Bekundung von Hoffart (superbia) ist. Und schließlich darf man nicht übersehen, daß Alexander von Hales allein schon durch seine methodologische Sorgfalt und durch sein Prinzip, dogmatische Normen zu vermeiden und ausschließlich mit bedingten Handlungsnormen moralisch zu operieren, größten Respekt verdient, weil er damit einen Standard ethisch-moralischer und damit auch gelotologischer Argumentation bestimmt hat, den man nicht mehr unterschreiten darf, wenn man ernst genommen werden will. 2.7.9 Thomas von Aquin oder Die christliche Rettung der Eutrapelie Unter den vielen Büchern, die der katholische Philosoph Josef Pieper über Thomas von Aquin (1225–1274) vorgelegt hat, befindet sich auch eines, in dem er den Versuch unternimmt, dem seltsamen Satz des Aquinaten, alles Seiende sei wahr (omne ens est verum) 49 einen Sinn abzugewinnen. Daß dieser Versuch nicht gelingt und auch nicht gelingen kann, obwohl Pieper es verzweifelt versucht, liegt daran, daß die Prädikate »wahr« und »falsch« sinnvollerweise nur auf Sätze, genauer: nur auf Behauptungssätze, also auf kognitive Aussagen 50 angewendet werden können, denn wahr oder falsch können eben nur Behauptungen sein, nicht aber Dinge, und dieses Argument von Thomas Hobbes – Veritas enim in dicto, non in re consistit 51 – hat man denn auch immer wieder mit vollem Recht gegen Thomas angeführt. Trotz dieses schlagenden Einwands ist es aber dennoch nicht ratsam, den Satz des Thomas von der Wahrheit der Dinge einfachhin vom Tisch zu fegen, sondern eher danach zu fragen, auf welcher Gesinnung und auf welchem Welt- und Selbstverhältnis er beruhen dürfte, und auf diese Frage gibt Pieper in seiner Hinführung zu Thomas von Aquin eine überzeugende Antwort, wenn er über den 521 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Impuls, aus dem heraus das riesige Werk des Aquinaten entstanden ist, schreibt: »Es ist die entschiedene Hinwendung zum Konkreten, zur erfahrbaren Realität der Welt; die sinnfälligen Dinge, die man sehen, hören, schmecken, riechen, anfassen kann, werden als eigenständig Wirkliches genommen, als Realität eigenen Rechts – nicht als bloßes Symbol von etwas anderem Unsichtbaren, Jenseitigen, Geistigen. (…) Und das heißt: die leibhaftige Welt der materiellen Wirklichkeit, auch im Menschen selbst, der Leib, die Sinne und das, was sie zu fassen bekommen – all das wird, auf eine bis dahin unerhörte Weise, ernst genommen.« 52

Josef Pieper unterschlägt hier zwar recht großzügig die Geschichte des Denkens vor der christlichen Zeit, hat aber sicher Recht, wenn man seine Behauptung ausschließlich auf die Geschichte des christlich geprägten Denkens bezieht, und so gesehen ist die These des Thomas von der Wahrheit der Dinge, so unsinnig sie, sprachlogisch gesehen, auch immer sein mag, ernst zu nehmen und zu würdigen als »die Auflehnung gegen die alte, augustinisch-kluniazensische Lehre von der Minderwertigkeit des Natürlichen und der Weltverachtung.« (S. 70) Oder, anders formuliert, als die entschiedene Abwendung von den gnostischen Erblasten des Christentums, wie sie im ersten Johannes-Brief sichtbar werden, in dem es heißt: »Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. (…) Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt.« (1. Joh. 2,15 f.)

Dieser gnostisch geprägte Ekel vor der Welt wird mit der These von der Wahrheit der Dinge also entschieden zurückgewiesen und durch eine ebenso entschiedene »christliche Schöpfungsbejahung« (S. 74) ersetzt, und diese gründet sich wiederum in dem Glauben, daß diese Welt allein schon deshalb emphatisch bejaht werden könne, ja bejaht werden müsse, weil sie Schöpfung Gottes ist und weil dieser Gott außerdem auch noch seinen Sohn Mensch und damit zugleich auch Teil dieser Schöpfung hat werden lassen und diese dadurch eigens noch einmal ausgezeichnet habe. Diese Haltung emphatischer Weltbejahung ohne jeden Vorbehalt haben wir schon bei Aristoteles in dessen Abhandlung Über die Glieder der Geschöpfe kennengelernt, der dort mit Vorliebe 522 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas von Aquin

den Satz des Heraklit »Auch hier sind Götter« zitiert, weil für ihn »in allen Naturdingen etwas Wunderbares liegt« 53. Ob Thomas diese Haltung unvoreingenommener positiver Zuwendung zur Welt bei Aristoteles vorfand und dann erst ins Christliche überführte oder ob er sie als originär christlich empfand und dann auch bei Aristoteles entdeckte, ist eine Frage, die hier offen bleiben kann. Für uns ist nur wichtig, daß diese positive Grundeinstellung zur Welt sehr wohl auch die Grundlage für eine Theorie des Lachens in Form einer Theologie des Lachens hätte abgeben können, ohne das Lachen sofort obligatorisch an die Kardinalsünde der Hoffart zu binden, wie dies in der christlichen Tradition seit Augustinus üblich gewesen und erst bei Alexander von Hales durch seine viel genauere Sicht auf die Phänomene korrigiert worden ist. Ansatzpunkte für eine unbefangener Sicht auf das Lachen hätten sich auch in der Bibel selbst gefunden, wenn man vom strahlenden weltbejahenden Lachen des Gotteskindes Isaak ausgegangen wäre, oder wie Wilhelm von Conches oder Hildegard von Bingen gleich von einem heiteren Adam, der strahlend lachend aus der Hand seines Schöpfers entspringt, denn, so referiert Pieper Thomas und dessen Kommentar zur Auslegung des Johannes-Evangeliums: »Mehr als die vom Leibe getrennte Seele ist die mit dem Leib verbundene Seele Gott ähnlich, weil sie auf vollkommenere Weise ihre Natur besitzt. Leibhaftigkeit ist also gut; Sinnlichkeit ist gut; (…) Zürnkraft ist gut; die Geschlechtskraft ist gut.« 54

Und, so darf man wohl im Sinne des Thomas ergänzen: auch die Lachfähigkeit (risibilitas) ist gut, denn sie ist laut Aristoteles und damit auch laut Thomas ein proprium des Menschen. Eine derartige Theologie des Lachens hat Thomas von Aquin jedoch nicht geschrieben und bleibt so gesehen deutlich hinter Alexander von Hales zurück, weil er sich damit begnügte, allein die aristotelische Eutrapelie für das Christentum zu retten. Aber auch das ist schon ein großes Verdienst. Der Ort dieser Rettung ist die 168. Quästion des zweiten Buches seiner Summa theologica, in der er der Frage nachgeht, ob und inwiefern die »äußeren« Körperbewegungen in Analogie zu den »inneren« Gemütsbewegungen tugendhaft sein können, denn zu diesen »äußeren« Bewegungen gehören für ihn auch Spiel, Scherz und »körperliches« Lachen. 523 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Die Quellen, aus denen er seine Argumente zur Erörterung und Beantwortung dieser Frage bezieht, sind uns mittlerweile vertraut: Ciceros Abhandlung De officiis und die darauf aufbauende Pflichtenlehre des Ambrosius De officiis ministrorum, sowie, für uns neu, die Abhandlung De musica des frühen, von der gnadenlosen Gnadenlehre noch nicht besessenen Augustinus. Letztlich fußen aber alle drei auf dem zehnten Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles und dem dort verkündeten Prinzip der Entspannung 55, die, wie wir gesehen haben, Johannes Chrysostomus als »Erschlaffung« verteufelt hatte. Um dieses Prinzip möglichst sinnfällig zu machen, zitiert Thomas in diesem Zusammenhang die uns auch schon bekannte Anekdote vom belehrten Bogenschützen aus den Apophthegmata patrum, schreibt sie allerdings nicht dem Wüstenvater Antonius zu, sondern dem Evangelisten Johannes, wohl um sie mit noch mehr Autorität auszustatten. Ganz wie bei Aristoteles im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik wird auch bei Thomas die Eutrapelie ausdrücklich als Tugend bezeichnet und als ideale Mitte zwischen den beiden Extremen der verbissenen Dumpfboldigkeit und der hemmungslosen Possenreißerei angesiedelt. Daß Thomas die aristotelische Eutrapelie mit iucunditas übersetzt, also mit »anmutiger Heiterkeit« und nicht wie Bernhard von Clairvaux abwertend mit scurrilitas, ist allein schon ein deutlicher Hinweis darauf, daß er die Verwerfung der Eutrapelie, wie sie im Brief des Apostels Paulus an die Epheser kanonisch geworden ist, in keiner Weise teilt und sich statt dessen erlaubt, den wichtigsten Apostel der Christenheit in diesem Punkt in aller Form zu korrigieren. Ganz wie für Aristoteles ist deshalb auch für Thomas das eutrapelistisch gesinnte, welt- und wortgewandte heitere Weltkind in der Mitte ein lebenspraktisches Verhaltensideal, wenn er schreibt: »Es hat auch das Spielen eine gewisse sittliche Güte in sich, insofern es nützlich ist für das humane Leben. Wie es nämlich der Mensch nötig hat, zu Zeiten das körperliche Arbeiten zu lassen und sich auszuruhen, so muß auch die Seele des Menschen manchmal sich von der Spannung des Geistes, mit der man ernster Dinge gepflogen hat, ausrasten. Und das geschieht durch das Spielen. Darum sagt Aristoteles, es diene

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das Spiel zur Beruhigung im seelischen Druck der Sorgen dieses Lebens und des Umgangs mit den Menschen. Die Menschen nun, die in der Lustigkeit des Spiels über das Ziel hinausschießen, nennt er ›bomolochi‹, das bedeutet ›Tempelräuber‹, so ähnlich wie es die Geier machen, die einen Tempel umkreisen, um die Eingeweide der Opfertiere zu erschnappen: so sind jene Menschen stets auf der Lauer, irgend etwas zu erschnappen, das sie ins Lächerliche ziehen können. Solche Menschen sind darum lästig, denn sie sind einzig darauf aus, Gelächter zu erregen … Er sagt aber auch, daß jene Menschen, die überhaupt nie etwas Scherzhaftes sagen wollen, und gar noch über Scherzende böse sind, weil sie sich irgendwie beleidigt fühlen, ›agrii‹ heißen, das heißt bäuerisch Grobe, Hartgeistige, weil sie nicht weich sind durch die Lust am Spielen. (…) Und so zeigt Aristoteles, welches die Mitte sei im Verhalten zum Spiel. Er sagt, daß jene Menschen, die das ausgeglichene Maß im Spielen halten, ›eutrapeli‹ genannt werden, das besagt, ›wohlwendige‹ (bene vertentes) Menschen, weil sie das, was gesagt oder getan wird, auf eine schickliche Weise ins Lachhafte ziehen.« 56

Die Kriterien für die Grenzen des Schicklichen beim Scherzen und Lachen übernimmt Thomas von Cicero und damit letztlich auch wieder von Aristoteles und dessen Nomos der eutrapelistischen Lachkultur, demzufolge vermieden werden muß, daß der Verspottete Zorn oder Scham über diesen Spott empfindet und der Spottende sich seines Spottes schämt. Auf diese Weise bindet Thomas das eutrapelistische Scherzen und Lachen genau wie Aristoteles und Cicero zwar strikt an das antike Würde-Ideal, färbt dieses aber durchaus christlich ein, wenn er schreibt: »Indessen sind vor allem drei Dinge zu vermeiden: Erstens und vor allem: diese Erholung darf niemals in sittlich schlechtem Tun oder Reden gesucht werden und ebenso nicht in schädlichem. Darum sagt schon Tullius (Cicero): ›Eine Art des Scherzens aber ist unedel (illiberale), nämlich die ausgelassene, die schädliche, die obszöne.‹ Zweitens: man muß darauf achten, daß im Scherz die innere Würde (gravitas) der Seele nicht verletzt wird. Dazu sagt Ambrosius: ›Wir wollen uns davor hüten, daß, indem wir unseren Geist entspannen, die

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innere Harmonie, sozusagen der schöne Zusammenklang alles guten Tuns gestört werde.‹ Und wiederum Cicero: ›So wie wir den Knaben nicht ungehemmte Freiheit zum Spielen gewähren, sondern nur jene, die nicht dem ehrbaren Tun widerspricht, so soll selbst in jedem unserer Scherze noch ein Abglanz eines edlen Gemüts aufleuchten.‹ Drittens endlich ist wie bei jeder anderen menschlichen Handlung auch hier darauf zu achten, daß Scherz und Spiel in Einklang stehen mit der Person, mit Zeit und Ort, damit alles (nach einem Wort des Tullius) würdig sei der Zeit und der Person.« (S. 352)

Mit diesem Plädoyer des Thomas von Aquin für die aristotelische Eutrapelie und ihrer Charakterisierung nicht als ethisch indifferentes Adiaphoron, sondern als existenznotwendige Lebenspraxis und damit als explizite Tugend war in der Geschichte der christlich geprägten Problemgeschichte des Lachens ein Stand der Argumentation erreicht, der die Gelotologie eigentlich auf ein ganz neues Niveau hätte heben können. Denn durch diese Apologie einer theologisch geregelten Scherzkultur aus dem Geiste eines christlich verstandenen Aristoteles hätte ein großer Teil der bis dahin von christlicher Seite gegen das Lachen angeführten Einwände eigentlich hinfällig werden müssen, sofern man den aristotelischen Nomos der eutrapelistischen Lachkultur ebenfalls ins Christliche transponiert hätte, und die Christenheit hätte sich mit dem Lachen endlich versöhnen und es sogar in aller Form auch liturgisch eingemeinden können. Ansätze dazu gab es ja im Brauch des Osterlachens, durch das sogar die Schwankliteratur in die Liturgie eingedrungen war, die sich z. T. sogar explizit an Kleriker wendet. So schreibt z. B. Johannes Pauli (ca.1455–ca.1530), bezeichnenderweise auch wieder ein Franziskaner, in der Vorrede zu seiner Schwankanthologie Schimpf und Ernst von 1522, er wende sich insbesondere an drei Gruppen von Lesern: Mit den heiteren Scherzen (»Schimpf«) an die Mönche in den Klöstern, um diese zu erheitern und an die Prediger, um diesen Material für ihre Predigten am Ostersonntag zu liefern und ihre Gemeinde zum Osterlachen zu ermuntern; mit den ernsten Geschichten aber wende er sich an die feinen Herren, die in ihren Schlössern und Burgen ein allzu lustiges Leben führen, um diese zu bessern und zu belehren. Er setzt also auf die klassische antike Wirkungsästhetik mit den Zielen docere (be526 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lehren) – delectare (unterhalten) – movere (erschüttern), und orientiert sich deutlich an der Schützen-Anekdote des Wüstenvaters Antonius, wenn er den Titel »Schimpf und Ernst« damit begründet, daß »viel schimpfflicher, kurtzweiliger vnd lecherlicher exempel darin sein, damit die geistlichen kinder in den beschlosznen Klöstern etwa zuo lesen haben, darin sie zu zeiten iren geist mögen erlüstigen vnd ruowen (entspannen), wan man nit alwegen in einer strenckheit (übergroßen Anspannung) bleiben mag.« 57

Spätestens jetzt, zu Beginn der lutherischen Reformation, hätte sich die katholische Kirche mit dem Lachen aussöhnen können, nachdem die beiden Summen von Alexander von Hales und Thomas von Aquin die Grundlagen dafür gelegt hatten und mit dem Osterlachen sogar eine liturgische Form dafür gefunden war. All dies ist aber nicht geschehen, und auch Thomas selbst ging an keiner Stelle seines Denkwerks über die pure Rehabilitation der aristotelischen Eutrapelie hinaus, sondern blieb, gelotologisch gesehen, nicht mehr als ein Epigone des Aristoteles, da sich bei ihm nirgendwo auch nur ein einziger Gedanke findet, der über das, was sich schon bei Aristoteles über das Lachen findet, hinausgehen würde. So gesehen war Thomas von Aquin sogar ein Rückschritt im Vergleich zu Alexander von Hales. Aber warum hat Thomas von Aquin keine explizite Theologie des Lachens geschrieben, z. B. als theologische Rechtfertigung des Osterlachens? Warum hat er nicht die komischen Mittel, die das Osterlachen erzeugten, für würdig befunden, auf das Niveau der aristotelischen Eutrapelie gehoben und dadurch veredelt zu werden? Er hat es wohl deshalb nicht getan, und wohl auch nicht tun können, weil das traditionelle Argument des Johannes Chrysostomus, Jesus habe »hienieden im Fleische« nie gelacht, obwohl er, als wahrer Mensch und wahrer Gott, sehr wohl auch habe lachen können, am Ende wohl doch zu mächtig war. Und gerade dieses Argument war von Petrus Cantor im 12. Jahrhundert eigens betont worden, der auf die Frage, ob Jesus habe lachen können, die Antwort gab, Jesus habe sehr wohl über die Gabe der risibilitas verfügt, diese Gabe aber nicht genutzt, und damit suggerierte, Jesus habe zwar 527 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sehr wohl lachen können, habe aber nicht lachen wollen: »Forte potuit, sed non legitur eo usus fuisse.« 58 Petrus Cantors These wurde dann in dem ominösen Lentulus-Brief 59, einer frommen Fälschung aus der Zeit um 1300, die einem Römer namens Lentulus zugeschrieben wird, der als Vorgänger von Pontius Pilatus Jesus angeblich persönlich gekannt und darüber dem Kaiser Tiberius berichtet haben soll, ausdrücklich bestätigt und somit historisch »bewiesen«. Aber vom auferstandenen, strahlend lachenden Jesus ist dort natürlich nicht die Rede, nur vom tiefernsten Jesus »hienieden im Fleische«. Dieser Lentulus-Brief diente dann vielen Künstlern als Vorlage für Jesus-Bilder und wurde noch bis tief ins 19. Jahrhundert von der katholischen Kirche wie ein ernstzunehmendes Dokument behandelt, im zeitgenössischen nazarenischen Stil illustriert und in vielen Reproduktionen unters Kirchenvolk gebracht. Mit diesem schlagenden Argument war der Weg letztlich versperrt, eine Theologie des Lachens auf das Beispiel eines lachenden Jesus »im Fleische« zu gründen, den man hätte imitieren können, und dies dürfte das entscheidende Hindernis für eine christliche Theologie des Lachens gewesen sein, denn das von Alexander von Hales angeführte Argument, es gebe nirgendwo in der Bibel ein explizites göttliches Lachverbot, so wie es für alle Todsünden ein explizites Verbot gibt, kam gegen dieses Argument eines Jesus, der »im Fleische« nicht lachen wollte, letztlich doch nicht an: Der christliche Jesus blieb ein ernster Jesus, so strahlend heiter er nach der Auferstehung auch dargestellt werden mochte und so heiter der paradiesische Adam vor dem Sündenfall auch immer gewesen sein mag. Hier kann man wieder sehen, welch fatale Folgen es für die katholische Kirche gezeitigt hat, daß die anthropologisch orientierte Theologie des Clemens von Alexandrien völlig in Vergessenheit geraten war. Daß auch niemand in der Zeit nach Thomas von Aquin sich ans Werk machte, eine christliche Theologie des Lachens zu erarbeiten, liegt wohl daran, daß am Ende des Mittelalters sich das geistige Klima Europas durch apokalyptische Ängste aller Art ganz allgemein wieder deutlich eindüsterte und insgesamt ernster wurde. Und schließlich kam durch Reformation und Gegenreformation 528 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ein gewaltiger Schub an neuer Ernsthaftigkeit über die Christenheit, in der sich beide Parteien an Ernsthaftigkeit zu übertreffen suchten: Lutheraner und Calvinisten gegen Jesuiten und später Puritaner und Pietisten gegen Jansenisten. Dieser Wettstreit an erneuerter christlicher Ernsthaftigkeit hatte zur Folge, daß von nun an jede unvoreingenommene theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen Lachen sich strikt außerhalb der christlichen Theologie vollziehen mußte. Die Gelotologie war von nun an also kein theologisches Thema mehr, sondern nur noch ein anthropologisches und wurde deshalb an die Mediziner und an die Mitglieder der Artisten-Fakultät verwiesen, und so ist es bis heute geblieben. Ob diese resolute Ausklammerung des Lachens aus dem Themenbereich der christlichen Theologie und der praktischen Seelsorge den verschiedenen christlichen Konfessionen eher genützt oder eher geschadet hat, ist eine Frage, die sich in erster Linie die Christen selbst stellen müßten und deshalb hier nicht ausführlicher erörtert werden muß. Von außen gesehen hat es dem Christentum in all seinen konfessionellen Varianten aber wohl deutlich geschadet und zur tiefen Entfremdung der modernen Welt von dieser Art von Religion beigetragen. Daß die Integration des Lachens in christliche Rituale jedoch prinzipiell möglich gewesen wäre, zeigt das seltsame Phänomen des Osterlachens, auf das wir bald eingehen werden. 2.7.10 Umberto Ecos Rosenroman oder Scholastische Gelotologie anachronistisch, spätmarxistisch und postmodern Vor einiger Zeit legte der Ägyptologe Jan Assmann unter dem Titel Thomas Mann und Ägypten 60 eine Studie vor, in der er der Frage nachgeht, welchen Erkenntniswert eine Lektüre von Thomas Manns Josephs-Roman haben könnte, wenn man diesen nicht als sprachliches Kunstwerk, sondern als eine Art von »Sachbuch« (S. 23) mit ägyptologischer und kulturwissenschaftlicher Ausrichtung liest, wobei er v. a. die Frage nach der »Ideogenese« (S. 53) ins 529 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Zentrum rückt, also die Frage nach der Entstehung eines kulturellen Gedächtnisses 61 durch kulturelle Aktivitäten aller Art. Damit stellt Assmann die Frage, was ein Wissenschaftler auf seinem eigenen Fachgebiet von einem Schriftsteller lernen könne, und kommt dabei zu dem Ergebnis, man könne Thomas Manns Versuch, in seinem Josephs-Roman »Mythos und Monotheismus zuammenzudenken, nur bewundern« (S. 208). Ganz analog dazu will ich nun versuchen, Ecos Roman Der Name der Rose 62 auf seinen gelotologischen Erkenntniswert hin zu untersuchen und stelle also die Frage: Was enthält dieser Roman an Erkenntnissen über das Lachen, die wir in der bisher behandelten gelotologischen Literatur noch nicht gefunden haben? Diese Frage bietet sich deshalb an, weil Ecos Werk u. a. auch ein Roman über das Lachen ist, obwohl er zunächst »nur« ein Kriminalroman ist, der in einer italienischen Abtei im Jahr 1327 spielt und in dem der für diese literarische Gattung obligatorische Detektiv von penetranter Allwissenheit von einem Franziskanermönch namens William von Baskerville verkörpert wird, der in diese Abtei geholt worden war, um eine geheimnisvolle Serie von Todesfällen aufzuklären, und dies auch tatsächlich schafft, wenn auch nur »aus Versehen« (S. 624). Es stellt sich schließlich heraus, daß sich in der riesigen Bibliothek dieser Abtei die einzige noch erhaltene Abschrift des längst verschollen geglaubten zweiten Buches der Poetik des Aristoteles befindet, die aber von dem fanatischen Mönch Jorge de Burgos so präpariert worden ist, daß jeder, der sie liest, sich beim Lesen vergiftet und stirbt. Begründet wird diese fatale Manipulation des Manuskripts von Jorge de Burgos damit, daß die in diesem Buch enthaltene philosophische Rechtfertigung des geloiastischen Lachens und der Komödie nicht bekannt werden dürfe, weil dies sonst den Bestand der Kirche und des Christentums gefährden würde. Die naheliegende Frage, warum Jorge diesen Text nicht gleich vernichtet habe, wenn er ihn schon für so gefährlich hielt, darf man allerdings nicht stellen, weil die literarischen Konventionen des Kriminalromans eben auch hier erfüllt werden müssen, und die verlangen eben den intellektuellen Clinch zwischen Täter und Enthüller des Verbrechens. Daß man diese Frage aber zu stellen versucht ist, zeigt, 530 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auf welch morschen Fundamenten dieser Kloster-Krimi Ecos aufgebaut ist. Wenn die beiden Gegenspieler Jorge de Burgos und William von Baskerville schließlich ihre Karten auf den Tisch legen, sich einander offenbaren und dabei zwangsläufig auch über das Lachen und sein Für und Wider philosophieren, stellt sich heraus, daß Jorge de Burgos nicht nur all die klassischen christlich-theologischen Argumente gegen das Lachen anführt, die wir alle schon kennen, sondern auch ein neues, das er, völlig anachronistisch, aus Michail Bachtins Theorie einer mittelalterlichen Lachkultur bezieht, die er, ganz im Sinne Bachtins, als Gegenkultur und als tödliche Bedrohung der christlich-abendländischen Welt empfindet. Und damit ist auch das eigentliche Motiv für seine Morde benannt: Es war die Angst vor dem Ende der Angst. Da wir auf Bachtins Theorie bislang noch nicht ausführlicher eingegangen sind, ist es jetzt an der Zeit, dies zu tun, weil Ecos Roman dieser Bachtinschen Theorie in allen entscheidenden Punkten verpflichtet ist und ohne deren Kenntnis wohl nie so geschrieben worden wäre. Deshalb verschränkt sich die Antwort auf die Frage nach dem gelotologischen Erkenntniswert von Ecos Roman auf das engste mit der Frage nach dem Erkenntniswert von Bachtins Postulat einer mittelalterlichen Lachkultur als Gegenkultur zur offiziellen christlich-abendländischen Kultur. Ist die Theorie plausibel, so überzeugt auch der Roman; ist sie es nicht, taugt auch der Roman als gelotologisches Sachbuch nicht viel. 2.7.10.1 Bachtins Entwurf einer mittelalterlichen Lachkultur als Gegenkultur Bachtins (1895–1975) Theorie einer »karnevalistischen« Gegenkultur verbindet marxistische mit mythologischen Motiven und beruht auf drei Grundannahmen: • Die erste dieser Grundannahmen ist eine marxistische Theorie des Komischen, die man aus einigen eher beiläufigen Sätzen im Frühwerk von Marx und Engels abgeleitet hat. • Die zweite ist ebenfalls marxistisch orientiert, setzt bei dem Ver531 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ständnis des aristotelischen Mimesis-Begriffs als »Widerspiegelung« und der dementsprechenden Interpretation der klassischen Ständeklausel an. • Die dritte aber ist mythologischer Art und greift auf das altehrwürdige Bild des strahlend lachenden göttlichen Kindes zurück, interpretiert dieses Bild aber wiederum ganz profan im Sinne der These: Das im historischen Prozeß Neue kommt immer lachend einher, und deshalb verweist das Lachen immer auf das historisch Neue und Zukunftsträchtige. Allerdings beschreibt Bachtin die Wirkung des Karnevals als dem zentralen Element der mittelalterlichen Lachkultur in einer Weise, die ganz auffallend an die Beschreibung des Dionysischen erinnert, die Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie bietet. Bachtins göttliches Kind ist also eher eine Maske des Dionysos, obwohl er sich natürlich wohlweislich hüten mußte, sich während des Stalinismus auf Nietzsche zu berufen. Es wird sich zeigen, wie schnell Bachtins These einer mittelalterlichen Lachkultur an ihren inneren Widersprüchen, ihren ideologischen Vorurteilen und der Ungenauigkeit ihrer gelotologischen Argumentation in sich zusammenbricht, wenn wir sie nun genauer unter die Lupe nehmen. Fangen wir mit der marxistischen Theorie des Komischen an. Karl Marx hat zwar keine explizite Theorie des Komischen oder gar des Lachens geschrieben, aber aus einigen eher beiläufigen Sätzen seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, seiner Abhandlung Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte und dem zusammen mit Friedrich Engels verfaßten Pamphlet Die heilige Familie hat man doch so etwas wie eine marxistische Theorie des Komischen und Lächerlichen (und zugleich damit eine reduktionistische Theorie des Lachens) abgeleitet, die von jedem dogmatisch orientierten Marxisten als verbindlich angesehen wird. Georgina Baum hat diese Theorie des Komischen kurz vor dem Bau der Berliner Mauer in einer bedrückend dogmatischen Abhandlung Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik 63 vorgestellt, die man heute, Jahre nach dem Fall der Mauer, kaum noch lesen kann, ohne zu feixen, weil man der Versuchung nicht 532 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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widerstehen kann, ihre Befunde auf die Epoche des real existierenden Staatsmarxismus selbst anzuwenden und ihn und sein Ende selbst in diesem Lichte zu sehen. Aber gerade weil diese Abhandlung so dogmatisch ist, hat sie den Vorteil, alle zentralen Themen der marxistischen Ästhetik in sich zu vereinen, und deshalb läßt sich die Eigenart der marxistischen Ästhetik sehr gut an ihr darlegen. Diese Theorie besagt kurz und bündig, »daß – im Gegensatz zu den idealistischen Entstellungen – das Komische seinem Wesen nach historisch-gesellschaftlich bedingt ist und parteilich kritischen Charakter trägt« (S. 6). Das heißt also, daß das Komische resp. das Lächerliche, sofern man es dogmatisch-marxistisch sieht, keine primär ästhetische, sondern eine primär historische und damit letztlich auch politische Kategorie ist. Überprüft man diese Theorie ideengeschichtlich, entpuppt sie sich schnell als eine Variante der klassischen anoia-Argumentation Platons – »Verkenn’ dich selbst und mach’ dich lächerlich!« –, die jedoch in den historischen Prozeß projiziert wird. Lächerlich macht man sich demnach nicht nur dann, wenn man sich, wie bei Platon, in seiner Bedeutung, seinem Können, seinem Ansehen oder seiner Macht gewaltig überschätzt, sondern auch dann, wenn eine Person oder gar eine ganze Klasse ihre höchst relative Position im historischen Prozeß verkennt, sich und die eigene Wertewelt für ewig und unersetzlich hält und deshalb auch dann noch Macht beansprucht, wenn sie vom historischen Prozeß schon längst überholt worden ist. Musterbeispiel einer solchen Art von Komik oder Lächerlichkeit ist für Marx und die Marxisten Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt, der auch dann noch den heldenhaften Ritter darzuleben sucht, als durch die Feuerwaffen die Zeit des Rittertums endgültig vorüber ist. Wenn man jedoch säuberlich zwischen Komik und Lächerlichkeit, belachen und verlachen unterscheidet, ist der edle Narr Don Quijote gerade keine lächerliche und zu verlachende Gestalt, sondern eine durchaus komische, da er in seinem wahnhaften ritterlichen Helfersyndrom von den edelsten Motiven geleitet wird, so anachronistisch diese immer auch sein mögen. Mit anderen Worten: Die lächerlich machende und Verlachen provozierende Selbstverkennung, also die Verkennung des eigenen 533 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Orts im historischen Prozeß, ist für Marx und die Marxisten die zum Anachronismus gewordene, aber dennoch unerbittlich weiterhin gelebte traditionelle Wertewelt, die weiterhin den Anspruch erhebt, die einzig berechtigte und ewig legitime Wertewelt zu sein. Solche Personen, Gruppen und Klassen verdienen verlacht zu werden, und dieses Verlachen ist historisch-politische Kritik und damit selbst schon ein Stück Klassenkampf, in dem »das Lachen eine Verneinung des untergehenden Alten und eine Bejahung des aufkommenden Neuen bedeutet, (…) damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheidet.« (Baum, S. 14 f.) Da diese Sicht der Dinge Lachen auf Verlachen reduziert und die Lachanlässe auf Lächerlichkeit, muß Georgina Baum in diesem Zusammenhang Hegel eine strenge Rüge erteilen, weil dieser in seiner Ästhetik mit Nachdruck das versöhnende Moment im Lachen über Komisches wie in der Kunst generell gefordert hatte, denn er schreibt dort: »Die Komödie hat daher das zu ihrer Grundlage und ihrem Ausgangspunkte, womit die Tragödie schließen kann: das in sich absolut versöhnte, heitere Gemüt, das, wenn es auch sein Wollen durch seine eigenen Mittel zerstört und an sich selbst zuschanden wird, weil es aus sich selbst das Gegenteil seines Zweckes hervorgebracht hat, darum doch nicht seine Wohlgemutheit verliert, (…) so daß in dieser Rücksicht also immer nur das an sich selber Nichtige und Gleichgültige zugrunde geht und das Subjekt ungestört aufrecht stehen bleibt.« (II,570)

Diese Forderung nach Versöhnung wird von Baum in aller Härte abgeschmettert, weil dieser versöhnende Impuls die Unerbittlichkeit des Klassenkampfes beeinträchtigen könnte, und deshalb setzt sie gegen Hegel die These: »Die Anmaßung einer geschichtlichen Erscheinung kann in der Realität nicht zur Versöhnung führen, sie wird vielmehr als komisch (gemeint ist: lächerlich) erkannt, sie wird verlacht, und dieses Lachen ist der Anfang vom Ende, die geschichtliche Erscheinung wird vernichtet und lachend zu Grabe getragen.« (S. 20)

Also frei nach Nietzsche: Was stürzt, soll man auch noch stoßen, und was historisch überholt ist, soll man auch noch verlachen. Aber genau dies gilt für Don Quijote eben nicht, weil das Verhalten die534 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ses edlen Narren nicht von eitler Anmaßung geprägt ist, da er all seine wahnhaften Forderungen nicht an seine Umwelt richtet, sondern allein an sich selbst. So gesehen hat Marx den Ritter von der traurig-komischen Gestalt auf das tiefste verkannt und hat sich damit als Kritiker von der traurigen Gestalt selbst lächerlich gemacht. Wie bei Platons reduktionistischer Ätiologie des Lachens aus der Konkurrenzsorge phthonos läuft also auch hier in der marxistischen Theorie der Lächerlichkeit alles auf die entscheidende Frage hinaus: »Wer verlacht wen?«, aber mit dem Unterschied, daß sich hier bei Marx und den Marxisten nicht mehr Individuen in einer relativ gespannten Situation gegenüber stehen, sondern Klassen, die ihren Klassenkampf als unerbittlichen und gnadenlosen phthonos austragen. Man darf natürlich nicht übersehen, daß diese marxistisch-parteiliche Sicht auf die Phänomene strikt reduktionistisch ist und dadurch auch das Lachen auf das aggressive, höhnische Auslachen, die Fülle des Komischen und Lächerlichen ebenfalls auf eine einzige Variante und die vielen Varianten der Komödie auf die aggressiv kämpferisch-satirische reduziert werden, wie wir sie von Aristophanes kennen, dessen Ziel darin bestand, den verhaßten politischen Gegner auf der Bühne nach allen Regeln der Kunst buchstäblich abzuschlachten Diese Form des Lachens haben wir aber auch schon außerhalb des Theaters bei den Kynikern und im politischen Witz als ein Auslachen-von-unten kennengelernt, das im Vollzug in ein Auslachenvon-oben umschlägt, und zwar mit genau den politischen Implikationen, die den Marxisten hier wichtig sind, denn auch die Kyniker waren fest davon überzeugt, daß die Polis als politische Lebensform historisch überholt sei, den neuen Flächenstaaten werde weichen müssen, deshalb keinerlei Pietät und Solidarität mehr beanspruchen dürfe und nur noch verlacht werden könne, wenn sie diese gleichwohl einfordert. Diogenes hat diese Einstellung bei der Verteidigung von Korinth gegen das makedonische Heer ja in aller Drastik demonstriert. Aber im Gegensatz zu den antiken Kynikern, die wir soziologisch gesehen als freischwebende Intelligenz einordnen können, liegt für Marx und die Marxisten die historische Aufgabe, alles Ana535 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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chronistische hohnlachend zu Grabe zu tragen, nicht bei einzelnen Intellektuellen, sondern beim Volk als der prinzipiell immer schon aufsteigenden Klasse, und deshalb schreibt Baum über den Gegensatz zwischen dem Hegelschen und dem Marxschen Verständnis von Wesen und Funktion des Komischen und der dramaturgischen Funktion der klassischen Ständeklausel, derzufolge nur die Mitglieder der jeweils herrschenden Klasse einer ernsten bis tragischen literarischen Gestaltung würdig sind, das Volk hingegen nur einer komischen und lächerlichen: »Das Volk ist hier (bei Marx) nicht Gegenstand der komischen Gestaltung, es ist vielmehr Meister der Komik, das Volk lacht, und es wird nicht verlacht. Das Lachen wird zu einem Mittel in seiner Hand, in der Hand der aufstrebenden, historisch berechtigten Kräfte, um die Unfähigkeit und Nichtigkeit des historisch Überlebten zu entlarven, um sich heiter von der überwundenen Vergangenheit zu trennen.« (S. 19)

Diese Sätze könnten Wort für Wort auch bei Bachtin stehen, denn sie nehmen zentrale Aspekte seiner These von der Lachkultur des Volkes als Gegenkultur zur ernsten Herrenkultur der Herrschenden vorweg, obwohl Bachtins Theorie rund zwanzig Jahre früher entstanden ist. Daß Baums und Bachtins Sätze so austauschbar sind, liegt wohl daran, daß beide so konsequent marxistisch »im Sinne des Meisters« argumentieren. Marxistisch geprägt ist auch Bachtins Verständnis des aristotelischen Mimesis-Begriffs. Wie Hermann Koller gezeigt hat, deckt der aristotelische Mimesis-Begriff die drei Aspekte Ausdruck, Darstellung und Nachahmung ab, wurde aber meist und unzulässigerweise auf den Begriff der Nachahmung reduziert. Wie willkürlich und fatal eine solche Einschränkung ist, zeigt schon ein Blick in das berühmte Buch Mimesis von Erich Auerbach, der seinem Werk in voller Absicht den Untertitel »Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur« und nicht »Nachgeahmte Wirklichkeit« gab, um deutlich zu machen, daß der aristotelische Mimesis-Begriff als Grundlage für eine unendliche Fülle an poetischen Darstellungsweisen dienen kann, wohingegen der Begriff der Nachahmung sofort irgendeine Art von Realismus verlangt. Genau diesen Fehler der stilistischen Reduktion aber begeht die marxistische Ästhetik, indem sie den Begriff der Nachahmung 536 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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noch weiter einschränkt und von »Widerspiegelung« spricht und damit suggeriert, wahre Kunst sei in jedem Fall nichts anderes als die objektive Widerspiegelung der Realität, und alles andere sei bloßer Formalismus. Dieser Widerspiegelungs-Dogmatismus verleitete nun Bachtin wiederum zu dem fatalen Schluß, die klassische Ständeklausel, derzufolge das Geschehen auf der Herrenebene ernst, würdig und evtl. auch tragisch abzuhandeln sei, auf der Dienerebene hingegen komisch, sei nicht bloß eine poetische Darstellungsweise neben vielen anderen, sondern die objektive Widerspiegelung der gesellschaftlichen Realität selbst, und deshalb sei das Lachen auch in der Realität selbst ausschließlich im Volk angesiedelt, und am deutlichsten sei dies am europäischen Mittelalter abzulesen. In seinem grundlegenden Aufsatz Grundzüge einer Lachkultur 64 leitet Bachtin aus dieser These vier weitere Thesen ab, die dann in seinem Hauptwerk Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur 65 noch ausführlicher dargestellt werden, und diese lauten: • Das Lachen erschafft sich im Volk ein neues, eigenes Universum als Gegenwelt zur offiziellen Welt der feudalen Herrenkultur. Welche Probleme sich Bachtin mit dieser Hypostasierung des Lachens auflud, wird sich bald zeigen, und deshalb formuliere ich die These erst einmal vorsichtiger, und dann lautet sie: • Das Volk erschafft sich im Lachen ein neues, eigenes Universum als Gegenwelt zur offiziellen Welt der mittelalterlichen feudalen Herrenkultur, denn dieses Lachen ist »universell« (Grundzüge, S. 32): »Es richtet sich nicht auf Teile und Details, sondern auf das Ganze, das Allumfassende. Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat.« (S. 32)

Dies geschieht laut Bachtin im Ritual des Karnevals, der als Form einer »verkehrten Welt« die Umwertung aller je aktuell geltenden offiziellen Werte durch das Volk kulturell organisiert. Daß der mittelalterliche Karneval wiederum strikt in die kirchliche Festkultur eingebaut und damit selbst integraler Bestandteil ebendieser christlichen Festkultur war, scheint Bachtin nicht zu stören, denn für ihn 537 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ist der Karneval nichts als »das komische Gegenstück zur tragischen Trilogie des offiziellen christlichen Kults und Glaubens« (S. 32). Bachtins zweite These lautet: • Die offizielle Kultur der Herrschenden ist immer eine des Ernstes, die nicht-offizielle des Volkes immer eine Kultur des Lachens. »In der Klassenstruktur ist der Ernst offiziell und autoritär, er ist mit Gewalt, Verbot, und Einschränkung verquickt. Ein solcher Ernst trägt immer ein Element der Furcht und Einschüchterung in sich. In der mittelalterlichen Ernsthaftigkeit dominierte dieses Element sehr stark. Das (im Karneval organisierte) Lachen setzte im Gegenteil die Überwindung der Furcht voraus. Das Lachen verfügt über keine Verbote, und Einschränkungen. Macht, Gewalt, Autorität sprechen niemals die Sprache des Lachens.« (S. 35)

Deshalb rebellierte laut Bachtin das Volk des Mittelalters im Ritual des karnevalistischen Lachens beständig gegen ein »monolithisch ernstes, düsteres, streng hierarchisch geordnetes, von Furcht, Dogmatismus, Ehrfurcht und Pietät erfülltes offizielles Leben« (S. 57) durch »ein zweites, karnevalistisches Leben: frei, voll von ambivalentem Lachen, von Gotteslästerung und Profanation, von unziemlichen Reden und Gesten, von familiärem Kontakt aller mit allen.« (S. 57) Aus dieser Tendenz des karnevalistischen Lachens, alle Grenzen der Entfremdung 66 verschwimmen zu lassen, ergibt sich für Bachtin die dritte These: • Das vom Lachen geschaffene eigene Universum ist ein Reich der Freiheit. Und aus diesem dem Lachen immanenten Freiheitsimpuls ergibt sich wiederum die vierte These, die dann für Ecos Rosen-Roman zentrale Bedeutung erlangen sollte: • Lachen besiegt die allgegenwärtige Angst. »Der mittelalterliche Mensch empfand im Lachen besonders scharf den Sieg über die Furcht. Und er empfand ihn nicht nur als Sieg über die mystische Furcht (die ›Gottesfurcht‹) und über die Furcht vor den Naturkräften, sondern vor allem als Sieg über die moralische Furcht, die das Bewußtsein des Menschen knechtet, bedrückt und dumpf macht: als Sieg über die Furcht vor allem Geheiligten und Verbotenen

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(vor dem ›Mana‹ und vor dem ›Tabu‹), vor der Macht Gottes und vor der Macht der Menschen, vor den autoritären Geboten und Verboten, vor Tod und Vergeltung im Jenseits, vor der Hölle, vor allem, was entsetzlicher ist als die Welt. Indem es diese Furcht besiegte, hellte das Lachen das menschliche Bewußtsein auf, öffnete ihm die Welt auf eine neue Weise.« (Rabelais, S. 735)

Auch die mythologischen Anleihen Bachtins sind letztlich Karl Marx verpflichtet, denn schon Marx hatte bei seiner historizistischen Ätiologie des Lächerlichen und Komischen dem Lachen eine doppelte Funktion zugewiesen, da für ihn das Lachen in der Komödie in gleicher Weise »eine Verneinung des untergehenden Alten und eine Bejahung des aufkommenden Neuen« (Baum, S. 14) bedeutet. Das Lachen hat für ihn also ein Janusgesicht. Daß man Überlebtes mit Lachen verabschieden und Neues mit Lachen begrüßen kann, will ich gar nicht bestreiten, erlaube mir aber die Frage, ob das Lachen in beiden Fällen dasselbe ist, und genau das bestreite ich auf das entschiedenste. Wer den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 miterlebt hat, wird sich erinnern, daß in dieser Nacht auch viel gelacht worden ist, aber es war eine ganze Palette von Gelächter, die da zu hören war und die vom höhnischen Auslachen der ehemals so gefürchteten Grenzposten über das Auflachen der Erleichterung bis zum strahlenden Lachen der Leute reichte, die triumphierend auf der Mauer standen und sich freuten. Die »Verneinung des untergehenden Alten« und die »Bejahung des aufkommenden Neuen« kann also sehr wohl gleichzeitig erfolgen, ist aber durchaus nicht obligatorisch aneinander gebunden, weil im historischen Prozeß immer wieder auch der Fall eintritt, daß Neues aufkommt, ohne daß das Alte vergeht, daß aber auch Altes vergeht, ohne daß Neues aufkommt. Also ist es völlig irreführend, wenn Bachtin suggeriert, Lachen sei allein in diesem Sinne »immer ambivalent: Vernichtung und Entthronung verbinden sich mit Wiedergeburt und Erneuerung, der Tod des Alten mit der Geburt des Neuen« und daraus die These von der im Lachen aufscheinenden »widersprüchlichen Einheit der sterbenden und entstehenden Welt« (Rabelais, S. 258) ableitet. Ambivalent ist das Lachen sehr wohl, das wußte schon Platon, 539 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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aber in einem ganz anderen Sinn als Bachtin dies meint, weil wir seit Platon wissen, daß jedes Lachen auf »gemischten Gefühlen« beruht und auf der innigen Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, die sich auf die vielfältigste Weise mischen können und dadurch die unterschiedlichsten Arten zu lachen begründen. Die lachende Begrüßung des Neuen und lachende Verabschiedung des Alten ist also nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten, in der sich die Ambivalenz des Lachens manifestieren kann, wird aber von Bachtin zum Regelfall verabsolutiert, indem er auf eine höchst seltsame Weise den historischen Materialismus marxistischer Herkunft mit dem Mythos vom göttlichen Kind verbindet, als das ihm »das Volk« in seiner »relativen Unsterblichkeit« (Rabelais, S. 297) erscheint. Die gleichsam »dionysische« Ritualisierung dieser ewigen Wiedergeburt des Volkes ist für Bachtin die Lachkultur des Karnevals: »Der Karneval inszeniert in all seinen Motiven und Szenen, den Obszönitäten und bestätigenden Verwünschungen diese Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit, und in ihm verbindet sich das Gefühl für die Unsterblichkeit des Volkes mit dem Gefühl für die Relativität der realen Machtverhältnisse und der herrschenden Wahrheit.« (Rabelais, S. 297)

Denn: »Die volkstümlich-festlichen Formen schauen in die Zukunft und inszenieren den Sieg des ›goldenen Zeitalters‹ über die Vergangenheit: den Sieg des Überflusses an materiellen Gütern für alle, den Sieg von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Sieg der Zukunft ist durch die Unsterblichkeit des Volkes gesichert. Die Geburt des Neueren, Größeren, Besseren ist ebenso notwendig und unausweichlich wie der Tod des Alten, eins geht ins andere über, das Bessere macht das Schlechtere lächerlich und tötet es. Im Welt- und Volksganzen ist kein Platz für die Angst; die Angst kann nur Teile befallen, die vom Ganzen isoliert, nur absterbende Glieder, die vom Geborenwerden getrennt sind. Das Volks- und Weltganze ist triumphal heiter und ohne Angst.« (Rabelais, S. 297)

Wenn man Bachtins Behauptung ernst nimmt, daß das Volk als der »Phönix des Neuen« aus der »Asche des Alten« (Rabelais, S. 251) immer wieder lachend und verjüngt neu entsteht und auf diese Weise unsterblich ist, so kann man verstehen, daß ein fanatischer 540 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Kleriker wie Jorge de Burgos in Ecos Roman, der ganz in der Tradition von Chrysostomus, Augustinus, Benedikt und Bernhard denkt, im Lachen und speziell im frechen Lachen des Volkes tatsächlich eine für Kirche und Christenheit tödliche Gefahr sehen muß, weil für ihn in der Lachkultur des Volkes eine Macht auftritt, die ebenfalls und auf eine viel angenehmere Art und Weise potentielle Unsterblichkeit versprechen kann, die die Gnadenmittel der katholischen Kirche als überflüssig erscheinen lassen. Doch muß man Bachtin unbedingt so verstehen, wie Eco und sein Jorge de Burgos ihn offensichtlich verstanden haben? – Man muß es natürlich nicht, schon deshalb nicht, weil es die von Bachtin so emphatisch beschriebene mittelalterliche Lachkultur als antifeudale Gegenkultur nie gegeben hat. Sie war eher das sehnsüchtigromantische Konstrukt als Gegenentwurf zur angsterfüllten Atmosphäre des Stalinismus, die Bachtin ja am eigenen Leibe erlebt und einfachhin ins europäische Mittelalter projiziert hat. Vielleicht war es sogar der vorsichtig camouflierte Versuch einer systemimmanenten Kritik 67 am Stalinismus. Denn immer wenn Bachtin die Atmosphäre des Mittelalters beschreibt, passen diese Beschreibungen sehr viel genauer auf die Epoche des Stalinismus als auf das christlichkatholische Mittelalter. Dafür nur ein Beispiel: »Im Gegensatz zum Lachen war der mittelalterliche Ernst (beim Volk) von Elementen der Angst, der Schwäche, der Demut, der Resignation, der Lüge, der Heuchelei oder andererseits (bei den Herrschenden) der Gewalt, der Einschüchterung, der Drohung, des Verbots durchdrungen. Im Munde der Mächtigen schüchterte der Ernst ein, forderte, verbot, im Munde der Untergebenen zitterte er, ging in sich, pries und lobte. Deshalb erweckte der mittelalterliche Ernst das Mißtrauen des Volkes. Das war der offizielle Ton, zu dem man sich so verhielt wie zu allem Offiziellen. Der Ernst knechtete und schreckte, log und heuchelte, geizte und fastete. Auf dem Festplatz, am feiertäglichen Tisch wurde der ernsthafte Ton wie eine Maske abgelegt und es begann eine andere Wahrheit zu tönen: lachend, närrisch, unziemlich, fluchend, parodierend, travestierend.« (Grundzüge, S. 39)

Was Bachtin hier beschreibt, kennt jeder, der in Diktaturen hat leben müssen, denn nirgendwo blüht der politische Witz und damit das kynische Auslachen-von-unten in einem solchen Maß wie in 541 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Diktaturen, weil der politische Witz und das dadurch kulturell ritualisierte kynische Auslachen-von-unten die naheliegendsten Formen der Selbstbehauptung gegen die angemaßte Omnipotenz eines totalitären Systems sind. So gesehen ist es auch nicht verwunderlich, daß Bachtin, wenn er vom Lachen spricht, so gut wie immer das kynische Auslachenvon-unten meint, das er dann zum Lachen überhaupt verallgemeinert und das für ihn wie für jeden, der in totalitären Diktaturen leben muß, zur zweiten Natur geworden zu sein scheint. Zu welch fatalen und wahrhaft absurden Konsequenzen diese reduktionistische Verabsolutierung des Auslachens-von-unten zum Lachen schlechthin Bachtin führte, werden wir vor allem sehen, wenn wir auf seine Deutung des Osterlachens einzugehen haben. 2.7.10.2 Ecos Rosenroman Um den gelotologischen Erkenntniswert von Ecos Roman zu bestimmen, wollen wir so vorgehen, daß wir zunächst nachprüfen, in welche der verschiedenen christlichen Argumentationstraditionen sich Ecos Lachfeind Jorge de Burgos einordnet und welche er unterschlägt. Sodann geht es um die Frage, in welcher Art und Weise Eco das zweite Buch der Poetik rekonstruiert resp. neu erfunden hat, und schließlich um die Frage, wie Jorge de Burgos diesen Aristoteles interpretiert. In den verschiedenen Streitgesprächen, die die beiden Protagonisten Jorge de Burgos und William von Baskerville miteinander führen, verweist Jorge auf all die lachfeindlichen Argumente aus der uns mittlerweile wohlvertrauten christlichen Argumentationstradition, die mit den »salomonischen« Schriften des Alten Testaments (vgl. S. 169) beginnt, mit der Verwerfung der Eutrapelie durch Paulus und Chrysostomus (vgl. S. 126) bestätigt und vertieft sowie durch Ephräm (vgl. S. 169), Ambrosius (vgl. S. 126), Benedikt (vgl. S. 168) und Bernhard (vgl. S. 508 ff.) bis zum Jahr 1327 weitergeführt wird, in dem die Handlung des Romans spielt. Der Lentulus-Brief wird seltsamerweise von Jorge nicht als Beweis angeführt. 542 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Die für Jorge weitaus wichtigsten Zeugen sind Benedikt von Nursia und Bernhard von Clairvaux, denn schon bei seinem ersten Auftritt würgt Jorge das Gelächter der Mönche mit einem fast wörtlichen Zitat aus der Regel Benedikts resp. aus Bernhards Skala der Hoffart ab, wenn er mit aller Strenge fordert, keine eitlen und zum Lachen anregenden Reden zu führen: »Verba vana aut risui apta non loqui!« (S. 105) Und seine Bußpredigt über das Nahen des Antichrist (S. 508 ff.) ist ebenfalls ganz aus dem Geiste Bernhards formuliert, wenn er gegen jede Art von wissenschaftlicher Forschung aus dem Geiste der Neugierde (curiositas) und gegen die neuen »hochfahrenden Universitäten« (S. 511) wettert, denn all dies ist für ihn wie für Bernhard von Clairvaux nichts als Hoffart. Noch viel aufschlußreicher aber ist, was Jorge an innerchristlichen Argumentationstraditionen unterschlägt. So wird z. B. Clemens eindeutig der lachfeindlichen christlichen Tradition zugeschlagen (S. 169), Laktanz wird überhaupt nicht erwähnt, auch nicht die Unterscheidung von Isaak- und Ismael-Lachen durch Augustinus. Außerdem fehlt die klassische Rechtfertigung des eutrapelistischen Scherzens und Lachens, wie sie in der Antonius-Anekdote der Apophthegmata Patrum, in der Legenda aurea (um 1270) und bei Thomas von Aquin erzählt wird, und die weitgehende Rechtfertigung des Lachens durch Alexander von Hales (um 1250) und Thomas von Aquin (um 1270) wird ebenfalls mit keinem Wort gewürdigt. Vor allem aber fehlt der Hinweis auf das revolutionäre Werk von Wilhelm von Conches (1124), in dem das Bild eines sanguinischen Adam entworfen wird, der aus der Hand eines heiteren Schöpfergottes lachend in die Welt tritt. Schließlich fehlt auch jeder Hinweis auf das Osterlachen, das zur Zeit der Romanhandlung 1327 schon längst ein alter Brauch war; aber auch Jorges Gegenspieler William von Baskerville tut das nicht. Daß William von Baskerville als englischer Franziskaner mit keiner Silbe andeutet, daß er die Summa theologica des englischen Franziskaners Alexander von Hales kennt, in der die ausführlichste theologische Kritik des Lachens in der ganzen Scholastik ausgebreitet wird, ist schon höchst seltsam, weil sich William aus 543 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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diesem Buch, wie wir gesehen haben, viele Argumente für seine Verteidigung des Lachens hätte holen können, insbesondere das Argument, daß es nirgendwo in der Bibel ein explizites göttliches Verbot des Lachens gibt, so wie es für jede Todsünde ein explizites Verbot gibt. Aber William kann natürlich nur das an Argumenten vortragen, was sein Autor selber kennt und ihm in den Mund legen kann, und die Summa des Alexander von Hales und die Philosophia des Wilhelm von Conches scheint Eco nicht gekannt zu haben, als er seinen Roman schrieb. Und schließlich fehlt in diesen Streitgesprächen auf beiden Seiten das Argument, daß das Lachen um 1327 schon längst zu den läßlichen Sünden gezählt wurde, denn Anselm von Canterburys Traktat Cur Deus homo? von 1100 scheinen beide nicht zu kennen. Damit ist Jorges fanatischer agelastischer Eifer auch theologiegeschichtlich gesehen überholt und längst obsolet geworden und wirkt selbst im Rahmen des Romans anachronistisch. Nach den Kriterien der marxistischen Ästhetik müßte er eigentlich eine komische oder lächerliche Figur sein, wirkt aber eher wie ein Zwilling von Dostojewskis Großinquisitor. Aber warum ist Jorge vom Autor so gezeichnet? Im letzten und entscheidenden Streitgespräch zwischen den beiden Antagonisten des Romans begründet Jorge seinen mörderischen Haß auf das Werk des Aristoteles, auf das, wie er widerwillig zugeben muß, »mittlerweile sogar schon die Heiligen und die Päpste schwören« (S. 602), mit dem Argument, Aristoteles habe im zweiten Buch seiner Poetik das Lachen zum Thema der Philosophie gemacht und es dadurch gleichsam geadelt, aber eben auch »zum Gegenstand einer perfiden Theologie« (S. 603) gemacht, also einer gegen Gott und die Kirche gerichteten Anthropologie. Wie wir gesehen haben, haben auch schon Clemens und Laktanz in der ausgehenden Antike und Wilhelm von Conches und Hildegard von Bingen im Hochmittelalter zu einer anthropologischen Deutung des Lachens angesetzt, ohne dies jedoch als »perfide Theologie« oder als Ketzerei zu empfinden. Was muß Jorge (und der Autor mit ihm) da aus Aristoteles heraus- oder in ihn hineingelesen haben, was ihn zu der Überzeugung brachte, die philosophische Beschäftigung mit dem Lachen sei eine »perfide Theologie«? 544 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Die Passage aus dem zweiten Buch der Poetik des Aristoteles, um die es hier geht, lautet in Ecos Roman wie folgt: »Im ersten Buch haben wir die Tragödie behandelt und dargelegt, wie sie durch die Erweckung von Mitleid und Furcht eine Reinigung von ebendiesen Gefühlen bewirkt. Hier wollen wir nun, wie versprochen, die Komödie behandeln (nebst der Satire und dem Mimus) und darlegen, wie sie durch Erweckung von Vergnügen am Lächerlichen zu einer Reinigung von ebendieser Leidenschaft führt. Inwiefern diese Leidenschaft der Beachtung wert ist, haben wir schon im Buch über die Seele gezeigt, insofern nämlich der Mensch als einziges aller Lebewesen zum Lachen fähig ist.« (S. 595)

Dann folgen dramaturgische Probleme und poetologische Techniken zur Erzielung komischer Effekte, die Eco sich aus Cicero und Quintilian zusammengesucht hat, die uns hier aber nicht weiter interessieren. Wie man sieht, hat Eco sich bei der Formulierung des aristotelischen Textes deutlich am Coislinianus-Traktat orientiert und demgemäß eine strikte Analogisierung von Tragödie und Komödie erstrebt, wie auch ich selbst Aristoteles verstanden habe. Demnach besteht, laut Ecos Aristoteles, das Ziel der Komödie darin, Lachen zu erzeugen, um den Lachenden von diesem Affekt alsbald wieder zu befreien. Wohlwollend interpretiert heißt dies weiter nichts, als daß die Komödie ein kulturelles Ritual ist, das auf dem uroborischen Prinzip beruht und dementsprechend eine bestimmte Erregung gezielt erzeugt, gezielt manipuliert und ebenso gezielt wieder abebben läßt. Weniger wohlwollend interpretiert heißt dies, daß der Zuschauer in der Komödie von der Leidenschaft für das Lächerliche befreit wird und als tiefernster Mensch das Theater verläßt und nie wieder lacht. Genau so hatte aber Platon in seinem Spätwerk Nomoi (816A–E) in der Konsequenz seiner kunstfeindlichen Ästhetik argumentiert, in dem er behauptet, man könne vom Ernsten keinen rechten Begriff erlangen, wenn man das Komische und Lächerliche nicht kenne. »Ja, gerade zu dem Zwecke soll man derartige Sachen kennenlernen, um nicht einmal in der Unwissenheit irgend etwas Lächerliches zu tun oder zu sagen, das ungehörig ist.« (816D)

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Diese gleichsam apotropäische Funktionalisierung der Komödie findet sich in der Geschichte der Komödientheorien immer wieder mal, zuletzt in der Aufklärung beim frühen Lessing. Aber wie immer man die Poetik des Aristoteles auch interpretieren mag: – so kann er es nicht gemeint haben (und Eco sicher auch nicht), weil die Komödie seiner Ansicht nach wohl kaum als Mittel zur tendenziellen Ausrottung des Lachens gegründet worden sein dürfte, und weil diese Lesart Jorge auch sofort zu einem begeisterten Aristoteliker gemacht hätte. Also bleiben wir bei der wohlwollenden Interpretation, wie ich sie selbst im Kapitel 2.3.3.10 entwickelt habe. Aber selbst dann rechtfertigt diese Interpretation immer noch nicht Jorges panische Angst vor der aristotelischen Philosophie und ihrer Rechtfertigung des Lachens und auch nicht die Mühen des Mordens, um zu verhindern, daß diese paar Sätze bekannt werden. Da hätte er schon eher versuchen müssen, einige Kapitel aus den Werken des Wilhelm von Conches, des Thomas von Aquin oder des Alexander von Hales verschwinden zu lassen. Jorge muß also etwas in den Text hineingelesen haben, das dort gar nicht steht, das ihn aber zu seinem zelotischen Vernichtungseifer angetrieben hat. Die Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir nachprüfen, von welcher Art von Lachen Aristoteles in seinen Schriften spricht und welches Lachen Jorge im Auge hat. Wie wir gesehen haben, schätzte Aristoteles die Alte Komödie im Stil des Aristophanes überhaupt nicht, weil sie ihm zu obszön und zu direkt war und weil sie als Mittel im politischen Meinungskampf das Ziel verfolgte, den politischen Gegner lächerlich zu machen, vom Publikum niederlachen und damit politisch vernichten zu lassen. Und genau diese Art von höhnisch-hämisch-schadenfrohem und verletzendem Auslachen war es, die Aristoteles durch seinen Nomos der eutrapelistischen Lachkultur zu bekämpfen suchte, weshalb er auch die viel maßvollere und humanere Mittlere Komödie weitaus höher schätzte. Genau diese aristophanische Art von Komödie aber ist es, die in der marxistischen Komödientheorie der Georgina Baum zum normativen Ideal erhoben wird, weil auch hier die Komödie als Mittel im politischen Kampf angesehen wird und der politische Gegner im Klassenkampf als Vertreter 546 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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des historisch Überständigen lächerlich gemacht und verlacht werden soll: »Und dieses Lachen ist der Anfang vom Ende, die geschichtliche Erscheinung wird vernichtet und lachend zu Grabe getragen.« 68

Dieses kynische Lachen, das im Vollzug vom Auslachen-von-unten in ein Auslachen-von-oben umschlägt, ist es auch, auf das, wie wir gesehen haben, Michail Bachtin seine Theorie der Lachkultur aufbaut, und genau dieses Lachen ist es, das Jorge in den Text des Aristoteles hineingelesen hat, und Eco mit ihm, um seinen Jorge zu einem zweiten Großinquisitor hochzustilisieren, der die Herrschaft der Kirche und damit auch seine eigene nur auf Angst glaubt aufbauen zu können, in diesem kynischen Auslachen-von-unten aber genau das Mittel sieht, diese Angst wiederum zu bannen und den Herrschaftsanspruch der Kirche abzuweisen. Von hier aus gesehen erscheint Jorges Argumentation sofort schlüssig, und es wird auch deutlich, welche Art von Gelächter er im Auge hat, wenn er im Lichte von Bernhards Hoffarts-Theologie und Bachtins Kynismus den Umsturz der gottgewollten Ordnung zur verkehrten Welt fürchtet. Mit anderen Worten: Jorge sieht im kynischen Lachen die drei höchsten Grade von Bernhards HoffartsSkala verwirklicht: Aufruhr, Verachtung Gottes und die ungenierte Gewohnheit zu sündigen. Und deshalb argumentiert er im letzten Streitgespräch mit William folgendermaßen: »Das Lachen befreit den Bauern von seiner Angst vor dem Teufel, denn auf dem Fest der Narren erscheint auch der Teufel als närrisch und dumm, mithin als kontrollierbar. Doch dieses Buch könnte lehren, daß die Befreiung von der Angst vor dem Teufel eine Wissenschaft ist! Der lachende Bauer, dem der Wein durch die Gurgel fließt, fühlt sich als Herr, denn er hat die Herrschaftsverhältnisse umgestürzt. Doch dieses Buch könnte die Wissenden lehren, mit welchen Kunstgriffen, mit welchen schlagfertigen und von diesem Moment an auch geistreichen Argumenten sich der Umsturz rechtfertigen ließe! (…) Gewiß ist das Lachen dem Menschen eigentümlich, es ist Zeichen seiner Beschränktheit als Sünder. Aus diesem Buch aber könnten verderbte Köpfe (wie deiner) den äußersten Schluß ziehen, daß im Lachen die höchste Vollendung des Menschen liege! Das Lachen vertreibt dem Bauern für ein paar Momente die Angst. Doch das Gesetz verschafft sich Geltung mit

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Hilfe der Angst, deren wahre Natur die Gottesfurcht ist. Und aus diesem Buch könnte leicht der luziferische Funke aufspringen, der die ganze Welt in einen neuen Brand stecken würde, und dann würde das Lachen zu einer neuen Kunst, die selbst dem Prometheus noch unbekannt war: zur Kunst der Vernichtung der Angst!« (S. 603 f.)

Man sieht: Je mehr sich Jorge in Rage redet, desto größer wird seine Angst vor dem Ende der Angst, desto weiter entfernt er sich von Aristoteles, desto enger schließt er sich an Bernhard an, desto drohender erscheint ihm das Phantom der Bachtinschen Lachkultur, in deren Geist er den der luziferischen rebellio wittert. Aber aristotelisch ist diese Argumentation in gar keiner Weise, weil der von Aristoteles nicht nur der Tragödie, sondern auch der Komödie unterstellte uroborisch-kathartische Effekt die Komödie und das dort organisierte Gelächter eben gerade nicht zur rebellio anstiften kann, weil sein Impuls sich selbst verzehrt. Deshalb kann man Glei nur entschieden zustimmen, wenn er ganz lapidar schreibt: »Die kathartische Wirkung der Komödie schließt eine subversive Potenz aus.« 69 2.7.10.3 Bilanz Aber ist Jorges Angst vor dem Ende der Angst überhaupt begründet? Ist Jorges (und damit Ecos und damit wiederum Bachtins) Deutung des Lachens als Vernichter der Angst überhaupt nachvollziehbar, unabhängig davon, daß sie aus der Philosophie des Aristoteles nicht herausgelesen werden kann? Anders gefragt: Wird Selbstbehauptung durch Lachen begründet, und wenn ja, durch welches? Oder ermöglicht Selbstbehauptung allererst Lachen, und wenn ja, welches? Die Antwort kann nur lauten: Da jede Art von Lachen auf der innigen, aber unendlich mannigfaltigen Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe beruht, muß erst ein Mindestmaß an Selbstbehauptung vorhanden sein, damit überhaupt Lachmündigkeit gegeben ist und man sich im Lachen wieder ein Stück Selbstpreisgabe leisten kann, denn Lachmündigkeit setzt personale Emanzipation immer schon voraus. Wer also akute Angst empfin548 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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det und glaubt, diese weglachen zu können, wird sofort merken, daß dies gar nicht geht, weil die Angst ihm die Kehle zuschnürt und das Lachen, das er lachen möchte, ihm im Halse stecken bleibt und zu einem gequetschten Würgen verkommt. Er braucht also, um inmitten der Angst überhaupt auflachen zu können, einen Anschub, und dieser Anschub muß von außen kommen. Mit anderen Worten: Lachen befreit zwar, aber es befreit nur den, der sich selbst schon befreit hat oder befreit worden ist. Die Kyniker haben dies ja in aller Deutlichkeit vorgelebt. Jorges Angst vor dem Ende der Angst durch die Macht des Lachens ist also letztlich unbegründet, denn Bachtins Theorie der mittelalterlichen Lachkultur als Angst-Exorzismus stimmt einfach nicht, denn wenn es diese von ihm so emphatisch beschriebene dionysische Lachkultur tatsächlich gegeben hätte, dann hätte sie sich nicht vor dem Hintergrund einer umfassenden Atmosphäre der Angst ohne Anschub von außen entfalten können, weil dann das Mittelalter selbst schon das Goldene Zeitalter gewesen sein müßte; und wenn es andererseits diese umfassende Atmosphäre der Angst im Mittelalter wirklich gegeben hätte, dann hätte sie ohne Anschub von außen nicht diese angeblich so euphorische Lachkultur hervorbringen können. Mit einem Wort: Bachtins Theorie einer europäischen Lachkultur des Volkes als Gegenkultur zur offiziellen Kultur ist nichts als ein Phantom, sie ist Bachtins Phlogiston. Aber wie konnte es zu einem derart verschrobenen Denkwerk kommen? – Ich vermute dadurch, daß Bachtin beim Entwurf seiner Theorie einer Lachkultur nicht vom konkreten Menschen ausgeht, der in konkreten Situationen in einer bestimmten Art und Weise lacht und in anderen Situationen wieder anders lacht, sondern daß er das Lachen hypostasiert, genauso wie Nietzsche die beiden Mächte des Dionysischen und Apollinischen hypostasiert, und deshalb immer dazu tendiert, vom Lachen als von einer quasi autonomen totalitären Macht zu sprechen, die die Menschen ergreift und sich ihrer bedient und dadurch ihr ganzes Leben überformt. Daher liest sich seine Theorie einer Lachkultur des Volkes als Gegenkultur zur ernsten Kultur der Herrschenden auf weiten Strecken wie ein Gegenentwurf zur Opposition der beiden Staaten, Bürgerschaften 549 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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oder Gesinnungsgemeinschaften, die Augustinus in manichäischer Tradition als Gottesstaat (civitas Dei) und weltlichen Staat (civitas saecularis) einander gegenübergestellt hat, gleichsam als civitas severitatis und civitas serenitatis: »Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat. Das Lachen hält seine Liturgien ab, bekennt sein Credo, vermählt, trägt zu Grabe, schreibt Grabinschriften, wählt Könige und Bischöfe.« (Grundzüge, S. 32)

In diesem Sinne spricht Bachtin sogar vom »Glauben an die Wahrheit des Lachens« (S. 41), ganz so, wie Thomas von Aquin von der »Wahrheit des Seienden« gesprochen hatte: »Man begriff, daß sich hinter dem Lachen niemals Gewalt verbirgt, daß das Lachen keine Scheiterhaufen errichtet, daß Heuchelei und Betrug niemals lachen, daß das Lachen keine Dogmen erzeugt und keine Autorität aufrichtet, daß das Lachen nicht von Furcht, sondern vom Bewußtsein der Kraft zeugt, daß das Lachen mit Zeugungsakt, Geburt, Erneuerung, Fruchtbarkeit, Überfluß, Essen und Trinken, mit der irdischen Unsterblichkeit des Volkes, endlich mit der Zukunft und dem Neuen zusammenhängt, daß es ihnen den Weg bahnt.« (S. 41)

Aber woher kommt diese seltsame hypostasierende Rede über das Lachen? – Möglicherweise stammt die Anregung dazu von Nikolai Gogol, der in einem seiner Kommentare zu seinem Revisor den Autor sagen läßt: »Seltsam: es schmerzt mich, daß nicht einer die ehrliche Person bemerkt hat, die in meinem Stück vorkommt. Jawohl, es gibt eine ehrliche, edle Persönlichkeit, die hier während der ganzen Dauer mitwirkt. Diese ehrliche, edle Persönlichkeit ist das Lachen. Es handelt edel, denn es hatte sich entschlossen aufzutreten, trotz dem niedrigen Sinn, den ihm die Welt beilegt. (…) Niemand hat sich für dieses Lachen eingesetzt. Ich bin komischer Dichter, ich habe ihm ehrlich gedient, und also muß ich für es eintreten.«70

Im Bereich der Literatur können solche Hypostasierungen aus heuristischen Gründen sinnvoll sein, aber im Bereich diskursiver Argumentation haben derlei Hypostasierungen fatale Folgen, weil sie nur scheinbare Begründungen liefern, und so ist der gelotologische Erkenntniswert von Bachtins Werk denn auch gleich null, und man 550 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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kann sich nur wundern, wie ein solch elendes Machwerk in der »bürgerlichen« Literaturwissenschaft eine solch enthusiastische Rezeption 71 erfahren konnte. Aber könnte Jorges Angst vor dem Ende der Angst nicht auch ganz andere Gründe als die haben, die Bachtin nahelegt? Könnten nicht auch hier wieder anachronistische Reminiszenzen vorliegen, die Eco in sein mittelalterliches Milieu eingeschmuggelt hat? Allein schon Jorges Hinweis auf den »luziferischen Funken«, der die Kunst zur »Vernichtung der Angst« lehrt, ist ein durch und durch moderner Topos, der sich, soweit ich sehe, zum ersten Mal bei Thomas Hobbes im Leviathan findet, dann vom anonymen Verfasser des Traktats über die drei Betrüger und schließlich auch von Friedrich Nietzsche aufgegriffen worden ist. Im zwölften Kapitel des Leviathan, das eine Ätiologie der Religion entwirft, schreibt Hobbes nämlich, ständige Furcht und die Sorge ums Überleben, in der der Mensch sich seit jeher befindet, habe ihn dazu verführt, all seine Widerfahrnisse positiver wie negativer Art als fremde Handlungen zu verstehen und diese einer »unsichtbaren Macht oder einem unsichtbar handelnden Wesen zuzuschreiben. (…) Dies versteht man unter dem Namen ›Gott‹«72. Er fügt aber sofort hinzu, diese Götter seien »nichts anderes als Geschöpfe der Phantasie.« (S. 83) Die Aufgabe der Religionen besteht dann laut Hobbes darin, dieses aus Angst geborene Konstrukt kulturell und rituell zu organisieren, um damit die allfälligen Ängste der Menschen in geordnete Bahnen zu lenken, denn auch die Religionen lassen diese Ängste als solche natürlich nicht gegenstandslos werden, sondern kultivieren sie zu Gottesfürchtigkeit, zu einer Angst vor einem allwissenden und allmächtigen Gott, dessen Handeln jedoch aus prinzipiell unerforschlicher Willkür heraus erfolgt. Ganz analog argumentiert der anonyme Verfasser des Traktats über die drei Betrüger in Kapitel III,273, der bei Hobbes ungeniert abschreibt. Ganz anders verfährt Nietzsche, der sich bei Hobbes zwar auch bedient, ohne ihn zu erwähnen, der aber einen ganz neuen Gedanken hinzufügt und dadurch Hobbes’ Argumentation zu einem eigenständigen Gedanken umwandelt. So entwickelt Nietzsche im § 169 von Menschliches, Allzumenschliches in groben Zügen 551 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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eine Ätiologie des Lachens, genauer: eine Ätiologie des erleichterten Auflachens aus Furcht und Angst: »Wenn man erwägt, daß der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Tier war, und daß alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hieß, ja daß selbst später, in sozialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Tätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, daß bei allem Plötzlichen, Unerwarteten, in Wort und Tat, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, ins Gegenteil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit – der Mensch lacht. Diesen Übergang aus momentaner Angst in kurzdauernden Übermut nennt man das Komische.« (II,558 f.)

Er hätte wohl eher sagen sollen: Diesen Übergang bewirke unter anderem auch das Erlebnis des Komischen, da es eine ganze Fülle höchst unterschiedlicher Situationen gibt, die ebenfalls geprägt sind durch die eine pointenhafte Struktur als Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase. Wer sich im Werk von Hobbes auskennt, weiß natürlich, daß Nietzsche hier etwas frei das Phänomen beschreibt, das Hobbes im selben Werk als »sudden glory« bezeichnet; Franz von Baader spricht in einem ganz anderen Zusammenhang vom »Explodieren der Angstspitze«74, wenn einem blitzartig ein Licht aufgeht, und damit sind wir schon beim »luziferischen Funken«, vor dem Jorge sich so fürchtet. Wenn wir nun weiter in Nietzsches Werk nachprüfen, in welcher Weise er das Thema plötzlicher Furchtlosigkeit weiter verfolgt und in welcher Weise dies mit Lachen und Heiterkeit verknüpft wird, so werden wir bald fündig in der Fröhlichen Wissenschaft, insbesondere im fünften Buch »Wir Furchtlosen«, denn dort wird die Frage gestellt, was es denn mit dieser neuen angstfreien Heiterkeit auf sich habe, und wir bekommen die Antwort, diese neue Heiterkeit gründe sich auf die Entdeckung, »daß Gott tot ist« (II,205). Damit stünden wir also, wenn wir Hobbes und Nietzsche folgen, vor der plötzlichen Erkenntnis, daß nicht nur die allfällige 552 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Weltangst, sondern auch die Götter, die man zur Bannung ebendieser Weltangst erfunden hat, sich mit einem Schlag in nichts aufgelöst haben, sodaß uns gar nichts mehr droht, nicht einmal ein Gott. Wenn das nicht ein Grund zum Feiern ist, welchen Grund gäbe es dann! Was Jorge mit seiner Angst vor dem Ende der Angst fürchtet, wäre also genau diese Situation und damit genau das, was Nietzsche als fröhliche Wissenschaft propagiert und seinen Zarathustra pathetisch predigen läßt: die heiter lachende Form der Gott-, Welt-, Angst- und Selbstüberwindung: »So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch, höher! Und vergeßt mir auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!« (II,531)

Auch hier in Nietzsches Zarathustra haben wir also genau wie bei Bachtins karnevalistischer Lachkultur wieder ein Gegenevangelium und eine Gegenkirche mit eigenen Göttern und eigenen Propheten, eigenem Credo und eigenen Litaneien, weshalb sich die Frage aufdrängt: Könnte sich hinter Bachtins Entwurf einer karnevalistischen Lachkultur vielleicht Nietzsches Zarathustra verstecken? Auf die auffallende Nähe von Bachtins Karnevalismus zum Dionysischen, wie Nietzsche es in seiner Geburt der Tragödie beschworen hat, habe ich ja schon hingewiesen. Sollte sich hinter Bachtins civitas serenitatis vielleicht eine Gesinnungsgemeinschaft von Zarathustras oder Nietzsches Gnaden verstecken? Und sollte all der spätmarxistische Dogmatismus in Bachtins Werk nur Maskerade sein, hinter der sich nietzscheanische Lebensphilosophie versteckt? Und sollte Jorges Angst vor dem Ende der Angst deshalb vielleicht die Angst vor dieser nietzscheanischen Gegenkirche und ihrem Kult des heiligen Lachens sein? Sollte Eco also Bachtins Werk als Nietzsche-Camouflage gelesen haben? Vielleicht sogar, ohne es zu merken? Wenn das so sein sollte – ich bin mir da aber nicht ganz sicher –, würde sich die Frage nach dem gelotologischen Erkenntniswert von Ecos Roman auf die Frage verschieben, ob diese neue, durch den Tod Gottes ermöglichte plötzliche Heiterkeit wirklich so heiter ist, wie Nietzsche uns glauben machen will, und ob diese neue Heiter553 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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keit wirklich diese angstbannende Wirkung hat. Ich erlaube mir da einige Zweifel, weil das von Zarathustra propagierte Lachen letztlich doch wieder nicht das erleichterte Auflachen ist, sondern das quasi-göttliche Auslachen-von-oben, mit dem Zarathustra und seine Jünger alle Götter, die Welt, die Menschen und vor allem auch sich selbst verlachen und verachten und das auf ganz fatale Weise an das notorische Gelächter des gnostischen Seth-Christus erinnert. Zu welch grausigen Konsequenzen dies bei Nietzsche selbst geführt hat, haben wir im Kapitel 2.4.5 gesehen. Er hat es aber auch selbst geahnt, denn er stellt sofort sich selbst und all die andern furchtlosen freien Geister vor die Frage: »Haben wir nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus, in der Verachtung des uns erkennbaren Daseins? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren – um deren willen wir vielleicht zu leben aushielten –, und einer andren Welt, die wir selber sind: einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte: ›entweder schafft eure Verehrungen ab oder – euch selbst!‹« (II,211 f.)

So hätte auch Ecos Jorge de Burgos argumentieren können. Schafft dieser freie Furchtlose aber sich selbst ab, und Nietzsche hat dies am Ende ja auf grausige Weise getan, so endet dies in Zynismus oder Wahnsinn: der furchtlos Freie schaut von unten auf sich herab und geht mit schiefem Grinsen über die eigene Leiche. Was Jorge wirklich zu fürchten hätte, ist deshalb auch ein ganz anderes Lachen, ein Lachen jedoch, das gerade keine Gegengötter und Gegenkirchen nötig hat, auch kein explizites Credo und keine eigenen Litaneien, ja nicht einmal den test of ridicule des Earl of Shaftesbury mehr für notwendig hält, um den Wahrheitsgehalt einer Religion zu prüfen, weil es lediglich aus einem vielsagenden Lächeln besteht, mit dem man sich von Kirche, Glauben und Christentum achselzuckend abwendet. Aber von diesem Lachen ist bei Eco und Jorge nicht die Rede, und auch bei Nietzsche und Bachtin nicht. 554 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Umberto Ecos Rosenroman

Da Eco sich letztlich doch recht eng an Bachtin anlehnt, ist der gelotologische Erkenntniswert seines Romans auch dementsprechend gering, vor allem auch deshalb, weil er die Chance zu einer eigenen Theologie des Lachens in seinem Roman zwar vorbereitet, aber nicht genutzt hat. Gegen Ende des Romans, nach dem Brand der Abtei und dem Tod Jorges, der vom Autor immer wieder in die Nähe von Dostojewskis Großinquisitor gerückt worden war, wird dieser fanatische Feind des Lachens von William von Baskerville nämlich als der wahre Antichrist gedeutet, und hier hätte es nahegelegen, die Frage zu stellen, ob der Haß auf das Lachen vielleicht sogar als konstitutives Element zum Bild des Antichrist gehören könnte. Ich selbst kann diese Frage nicht beantworten, muß es auch nicht können, weil ich kein Theologe bin, aber die Antwort, die Eco William in den Mund legt, will mir auch nicht recht genügen, wenn er über den blinden Jorge sagt: »Der Antichrist entspringt eher aus der Frömmigkeit selbst, aus der fanatischen Liebe zu Gott oder zur Wahrheit, so wie der Häretiker aus dem Heiligen und der Besessene aus dem Seher entspringen. (…) Jorge hat ein teuflisches Werk vollbracht, weil er seine Wahrheit so blindwütig liebte, daß er alles wagte, um die Lüge zu vernichten. Jorge fürchtete jenes zweite Buch des Aristoteles, weil es vielleicht wirklich lehrte, das Antlitz jeder Wahrheit zu entstellen, damit wir nicht zu Sklaven unserer Einbildungen werden. Vielleicht gibt es am Ende nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt lernen, sich von der krankhaften Liebe zur Wahrheit zu befreien.« (S. 624)

Wenn diese »postmoderne« Wahrheitsskepsis à la Montaigne der ganze Gehalt des zweiten Buches der aristotelischen Poetik und damit auch die diskursive Bilanz von Ecos Roman sein soll, dann ist die Bilanz mager genug, weil hier durch die Gleichsetzung von »Wahrheit« und »Überzeugung« ein höchst verwaschener Wahrheitsbegriff zu Tage tritt, und Ecos Roman Der Name der Rose ist dann, gelotologisch gesehen, tatsächlich nicht viel mehr als ein Krimi in einem exotischen mittelalterlichen klösterlichen Milieu. Aber, so könnte man noch mal ganz anders fragen, hatte Jorge vielleicht doch einen richtigen Instinkt dafür, daß die Philosophie des Aristoteles Gefahren in sich barg, wenn auch auf eine ganz an555 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

dere Art als er glaubte. Hat sich die Rechtfertigung des Lachens durch Aristoteles und seine Bewertung als proprium hominis nicht tatsächlich als Gefahr für Kirche und Christentum erwiesen, aber nicht, weil Aristoteles die Angst von uns genommen oder zur Revolution aufgerufen hätte, sondern weil die Bewertung des Lachens als proprium hominis die grundsätzliche Rechtfertigung einer Anthropologie auf profaner Grundlage in sich birgt, die sich irgendwann sanft und sachlich, aber auch entschlossen aus der Vormundschaft der Theologie emanzipiert? Auf welche Weise dies in der Renaissance begonnen hat und durch die Aufklärung weitergeführt worden ist, soll in den nächsten Kapiteln dargestellt werden. 2.7.11 Das Osterlachen oder Die Frage nach den Grenzen der Eutrapelie im liturgischen Raum Das Osterlachen (risus paschalis) ist die einzige Art und Weise, in der das Lachen als integrales liturgisches Element in den christlichen Kult einbezogen wurde. Wo und wann dieser auf den ersten Blick so seltsame Brauch entstanden ist, an dem sich v. a. seit der Reformation die Geister so heftig schieden, liegt noch immer weitgehend im Dunkeln. Wahrscheinlich entstand dieser Brauch zur selben Zeit als in Europa die Schwankliteratur aufkam, also um 1200. Aufgrund welcher theologischer Überlegungen dieser Brauch seinen Einzug in die Ostermesse hielt, ist ebenfalls weitgehend unklar, weil es, so weit ich sehe, keine amtlichen kirchlichen Verlautbarungen gibt, Bullen, Enzykliken, Konzilsbeschlüsse oder ähnliches, die explizit auf das Osterlachen eingehen und es beim Namen nennen, es ex cathedra theologisch begründen und rituell regeln. Es scheint so gewesen zu sein, daß das Osterlachen eher das Geschäft des niederen Klerus war, das von den Bischöfen aber offenbar mehr oder weniger wohlwollend geduldet wurde und sich dann in diesem Freiraum neuer Liberalität entwickeln konnte, der, wie wir gesehen haben, von Theologen wie Anselm von Canterbury, Wilhelm von Conches, Alexander von Hales und Thomas von Aquin argumentativ erwirkt worden war. 556 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das Osterlachen

2.7.11.1 Ein christliches Lachritual Hanns Fluck, dem wir die erste längere Untersuchung75 zu diesem Thema verdanken, beschreibt diesen Brauch wie folgt: »Es handelt sich in der Hauptsache darum, daß der Pfarrer am Ostertage von der Kanzel ein ›Ostermärlein‹, d. h. eine erheiternde, nicht immer ganz ›einwandfreie‹ Erzählung oder improvisierte Schnurre zum besten gab, um dadurch bei seinen Zuhörern eben dieses Ostergelächter hervorzurufen.« (S. 188)

Halten wir fest: • Akteur und Organisator des Osterlachens ist nicht die Gemeinde, sondern eindeutig der Priester, der selbst aber weder LachOpfer noch Lach-Täter ist, sondern nach dem Motto »Ich scherze für euch alle« für seine Gemeinde die Rolle des Geloiasten übernimmt, die der Hofnarr an den Höfen innehatte. • Das Ganze ereignet sich nicht etwa außerhalb der Kirche, sondern im Raum der Kirche selbst. • Es findet nicht im Rahmen einer eigens angesetzten Veranstaltung außerhalb der sonstigen kirchlichen Ereignisse statt, sondern im liturgischen Rahmen eines Gottesdienstes. • Es findet nicht immer wieder statt, sondern nur einmal im Jahr, und zwar an dem Tag, an dem die Auferstehung Christi gefeiert wird, muß also mit dieser Auferstehung in irgendeiner sachlichen ätiologischen Beziehung stehen. • Ziel und Zweck der ganzen Unternehmung ist das Gelächter der Gemeinde, und je heftiger dieses Gelächter ausfällt, desto vollkommener ist der Brauch erfüllt. • Um dieses Ziel zu erreichen, ist eigentlich jedes Mittel recht, auch und gerade der Vortrag oder die Vorführung derber und obszöner Schwänke. • Das Lachen, das hier gelacht werden soll, ist das heitere geloiastische Lachen als Echo des Komischen. Die Aufgabe dieses Kapitels besteht nun nicht darin, ausführlich den mutmaßlichen Ursprung dieses Brauches zu ergründen oder seine theologische Rechtfertigung nachzureichen und diese theologiegeschichtlich einzuordnen; es geht auch nicht darum, das 557 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

Osterlachen mit anderen Osterbräuchen zu vergleichen oder Analogien zu anderen Formen rituellen Lachens in verschiedenen Kulten zu suchen oder es als Seitenstück zu den geistlichen Osterspielen zu beurteilen, obwohl einige dieser Fragen ansatzweise durchaus angesprochen werden müssen, sondern es geht im Rahmen dieses Kapitels darum, das Osterlachen in erster Linie als Thema des gelotologischen Diskurses an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit ins Auge zu fassen, weil sich hier im gelotologischen Diskurs durch die Reformation ein deutlicher Wandel vollzogen hat, der das durch die spätere Scholastik erreichte Wohlwollen der Kirche dem Lachen gegenüber durch die Verkündigung einer neuen Ernsthaftigkeit wieder korrigierte und zur christlichen Lachfeindschaft aus dem Geiste von Bernhard von Clairvaux, Benedikt von Nursia, Aurelius Augustinus und Johannes Chrysostomus zurückkehrte. So gesehen ist eine Polemik gegen das Osterlachen, wie sie der Basler Reformator Oekolampad 1519 geschrieben hat, heuristisch viel aufschlußreicher als es eine zeitgenössische Rechtfertigung sein könnte, und die Gründe, mit denen das Osterlachen von den Protestanten aller Konfessionen abgewürgt worden ist, verraten über diesen seltsamen Brauch fast noch mehr als die Gründe, die zu seiner Entstehung geführt haben mögen. Die Literatur, die es zum Thema Osterlachen gibt, ist nicht sehr umfangreich, denn neben dem schon erwähnten überaus materialreichen Aufsatz von Hanns Fluck von 1934 sind als größere Untersuchungen eigentlich nur noch die literaturwissenschaftliche Dissertation von Volker Wendland über brauchtümliche Kanzelrhetorik des späten Mittelalters 76 von 1980 und die Studie von Maria Caterina Jacobelli 77 zu nennen, die eine explizite theologische Rechtfertigung des Osterlachens auf thomistischer Grundlage versucht. Rainer Warning 78 konzentriert sich eher auf die Frage nach den komischen Mitteln, durch die das Osterlachen hervorgerufen wurde, und stützt sich dabei auf Joachim Ritters Theorie des Komischen. Deshalb kann Warning zwar plausibel machen, warum die derben und obszönen Stoffe gerade im liturgischen Raum so komisch wirken und Lachen provozieren können, aber nicht, warum gerade bei der Ostermesse, wenn die Auferstehung Christi gefeiert wird, gelacht werden sollte, und genau das wäre doch bei der für 558 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das Osterlachen

uns wichtigen Fragestellung zu klären. Ähnlich ist es bei den Untersuchungen von Rüdiger Schnell, Werner Röcke und Walter Haug 79, die ebenfalls eher danach fragen, wie sich beim Osterlachen das Heilige und das Komische aneinander reiben. Warning, Schnell, Röcke, Haug und Wendland fragen also nicht nach dem Zweck des Osterlachens, sondern begnügen sich mit der Frage nach den komischen Mitteln, die es provozieren sollten. Der Zweck des Osterlachens und der komischen Passagen der Osterspiele könnte für Warning lediglich »eine dogmatisch fundierte Theorie der Komik, eine theologische Indienstnahme des Lachens« (S. 109) sein, was ihm aber als schiere Unmöglichkeit erscheint, denn er fügt hinzu: »Allein, dies bleibt eine bloße Konstruktion, von der die Theologie selbst nichts weiß und nie etwas gewußt hat. Alle in dieser Richtung unternommenen Deutungsversuche80 müssen die Augen verschließen vor dem Ärgernis, daß die Kirche zu keiner Zeit in der Komik und im Lachen einen genuinen Modus der Heilsvermittlung gesehen hat und, was wichtiger ist, dies auch begründen konnte.« (S. 109)

Und dann listet Warning in Anlehnung an Curtius all die Namen auf, die für die lachfeindliche Tradition in der Kirche stehen, aber eben nur diese, denn von Wilhelm von Conches, Alexander von Hales oder Thomas von Aquin ist dort nicht die Rede und deshalb auch bei Warning nicht. Und die »wohlwollende Duldung des Lachens« (S. 423) durch die Kirche, von der Curtius spricht, ist für Warning alles andere als eine explizite »theologische Indienstnahme des Lachens« und schon gar keine explizite »Verflechtung von (theologischer) Lehre und Lachen« (S. 109). Hier muß man Warning insofern zustimmen, als es, wie schon gesagt, keine offiziellen kirchlichen Verlautbarungen gibt, durch die das Osterlachen explizit ex cathedra erlaubt oder gar verordnet, theologisch begründet und rituell geregelt worden ist. Aber eine gleichsam inoffizielle theologische Indienstnahme des Lachens an der kirchlichen Basis, die entschlossen war, die mehr oder weniger wohlwollende Duldung dieses Brauches auch entschlossen zu nutzen, gab es sehr wohl, wie ein Blick in Paulis Vorrede zu seiner Schwank-Anthologie Schimpf und Ernst von 1522 zeigt, die ganz offensichtlich einem Bedürfnis der Zeitgenossen entgegengekom559 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

men sein muß, weil sie bis ins 17. Jahrhundert an die sechzig Auflagen erlebte. Denn in dieser Vorrede erklärt Pauli, wie wir gesehen haben, ausführlich, welche Gruppen von Lesern er im Blick habe und was er diesen anbieten könne: Den Klosterbrüdern kurzweilige Geschichten zur Erheiterung und Entspannung, um die Mühen des fromm asketischen Klosterlebens erträglicher zu machen; den feinen Herren auf ihren Schlössern und Burgen ernste Geschichten zur Belehrung und Besserung, damit diese sich in ihrem allzu lustigen Leben etwas mäßigen; den Predigern aber Scherz- und Schwankmaterial für die Osterpredigten. Was ist das denn anderes als die theologische Indienstnahme des Lachens und die Verflechtung von theologischer Lehre und Lachen, wenn Pauli dort schreibt: »Auch das die predicanten exempel haben, lüstig zu hören machen, auch das sie osterspil haben zuo ostern, vnd ist nichtz hergesetzt, dan das mit eren wol mag gepredigt werden.« (S. 14)

Um deutlich zu machen, von welcher Art dieses Schwankmaterial für Osterpredigten war, das da »mit Ehren wohl gepredigt worden sein mag«, zitiere ich zwei von diesen knapp 700 Geschichten, die mir als sehr typisch erscheinen, denn beide Schwänke spielen im seelsorgerischen Milieu: »Von schimpff CCXCIV. Es beicht einmal ein dochter also: Lieber her ich bin bei einem erberen (ehrbaren) priester gelegen. Der beichtuatter sprach, bistu nackend bei ihm gelegen. Sie sprach nein, ich hab ein hauben vff gehebt.« (S. 191)

Und: »Von schimpff CCXCVI. Als man die jungen kind gewent zu der beicht, da kam ein döchterlin zuo dem priester vnd beichtet. Der beichtuatter fragt das kind ob es auch in das bet brünzlet. Es sprach ja. Der beichtuatter sprach, luog das du es nit me thügest (tust), ich isz die kind die in das bet brünzlen. Das döchterlin sprach, nein du solt mich nit eszen das ich in das bet brüntzel, ich hab ein brüderlin das scheiszt ins bet, das isz.« (S. 192)

Wie man sieht, bewegen sich diese Schwänke ganz auf dem Niveau der analerotischen Komik, die man aus den Volksbüchern über Eulenspiegel und der Schwankliteratur vom Stricker über Rabelais bis Wickram kennt81, und vor deren Derbheit damals offensichtlich 560 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das Osterlachen

niemand zurückschreckte, auch kein Priester, der das Ohr am Mund des Volkes hatte und dessen Geschmack genau kannte und gewillt war, ihn auch zu bedienen. Daß das Osterlachen sich viele Jahrhunderte lang als Brauch behaupten konnte, seit der Reformation auch gegen die massive Polemik der Protestanten, die in diesem Brauch einen Rückfall in vorchristliches Heidentum und Weltverfallenheit sahen, liegt aber auch daran, daß dieser Brauch offensichtlich auch auf der Ebene der Bischöfe wohlwollend geduldet worden sein muß, denn noch um 1700 konnte der bayrische Pfarrer Andreas Strobl eine Sammlung von hundert Osterschwänken mit ausdrücklicher Erlaubnis seines Bischofs, also mit dem Imprimatur der Kirche, veröffentlichen, die drei Auflagen erlebte und in deren Vorwort der Autor sich deutlich an seinen Vorgänger Pauli anlehnt, wenn er über die Auferstehung Christi schreibt: »Diese erfreulich Zeitung (Botschaft) verkündet die Christ-Chatolische Kirch alle Jahr zu der H. Oesterlichen Zeit / mit dem trostreichen Alleluja / und begehet die Jährliche Gedächtnuß dieser erhaltnen Göttlichen Victori mit höchster Solennität / erlaubet auch / und lasset den Predigern zu / ihre Zuhörer mit einem erfreulichen oder kurtzweiligen Gedicht und Oster-Märl auffzumunteren, damit die hernach auff die darauff folgende geistliche Lehr und Wort Gottes auffmerkhsahmer werden / maßen diß eins auß den besten Mitteln / die Leuth auffmerken zu machen.« (zit. nach Fluck, S. 199)

Die protestantische Polemik gegen den Brauch des Osterlachens muß letztlich doch erfolgreich gewesen zu sein, denn mit der Aufklärung, insbesondere mit den Josefinischen Reformen des späten 18. Jahrhunderts, dem auch viele andere katholische Bräuche zum Opfer fielen, hatte auch das Osterlachen ausgedient 82, und ist heutigen Theologen offensichtlich keiner ernsthafteren Diskussion mehr wert. Dies zeigt ein Blick in die Festschrift für den Jesuiten Josef Andreas Jungmann Paschatis sollemnia von 1959 83, die drei Dutzend Beiträge über die Theologie der Auferstehung, über Osterliturgie, Osterfrömmigkeit und Osterbräuche versammelt, über das Osterlachen aber kein Wort verliert. Nur zwei Beiträge geraten etwas in die Nähe des Themas, scheuen aber davor zurück, 561 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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näher darauf einzugehen. Der eine beschreibt zwar bäuerliche Osterbräuche 84, kommt aber zu dem Schluß: »Von den Osterspielen, vom Erzählen von Ostermärchen und anderen Volksbräuchen in der Osterzeit braucht hier nicht gehandelt zu werden, weil sie fast alle von ihrem ursprünglichen Wurzelgrund, vom Ostergeheimnis, losgelöst sind. Sie sind alle im religiösen Denken und Leben des Volkes bedeutungslos geworden. Das Volk weiß kaum mehr, daß diese erhalten gebliebenen kümmerlichen österlichen Brauchtumsreste einmal ihre Wurzeln hatten im Hochfest der Erlösung.« (S. 265 f.)

In dem anderen Beitrag über deutsche Osterlieder 85 wird zunächst eine Passage aus dem katholischen Einheitskatechismus referiert, wo es heißt: »Die Auferstehung Jesu feiern wir am hlg. Osterfest. Dieses Fest ist das höchste Fest des ganzen Kirchenjahres. Die Osterkerze ist das Sinnbild des auferstandenen Heilandes.« (S. 334)

Aber dann fragt der Autor nicht weiter nach, stellt auch nicht klar, weiß es vielleicht auch nicht, wieso ausgerechnet eine abbrennende Kerze die Auferstehung symbolisieren soll. Es ist natürlich der consumendo consumor-Symbolismus der im Abbrennen sich selbst verzehrenden und dabei auch noch strahlendes Licht verbreitenden Kerze, der den im mythologischen Szenario von Tod und Wiederauferstehung wirkenden uroborischen Impuls des »stirb’ und werde« hier sichtbar macht und, mythologisch gesehen, den auferstandenen strahlend lachenden Christus des Christentums neben den Vogel Phönix der heidnischen Antike rückt. Genau dieser uroborische Impuls aber überformt auch das Lachen als die ihm innewohnende teleologische Tendenz, und somit müßte klar sein, worin die Beziehung zwischen dem Osterlachen und dem Auferstehungsfest Ostern besteht und daß das Osterlachen die adäquate performative Mimesis des Ostergeschehens ist. Aber das scheinen katholische Theologen nicht zu sehen. Auf protestantischer Seite ist dies nicht anders, wie ein Blick in die Theologie von Werner Thiede zeigt, der 1986 unter dem Titel Das verheißene Lachen eine Studie über das Lachen in theologischer Perspektive veröffentlicht hat, in der er als »Grundformel des Lachens« (S. 33) die These präsentiert, jede Form von Gelächter 562 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bekunde »die Befreiung von einem bedrückenden zu einem beglükkenden Gefühl« (S. 34), und zum Ergebnis kommt: »Die eigentliche Quelle des Lachens (also jeder Form von Lachen) besteht im Glücksgefühl, während das Lachen angesichts von Scherz, Komik und Witz nur eine vom Glückslachen abzuleitende Ausdrucksform darstellt.« (S. 21)

Wie extrem reduktionistisch diese Sicht auf das Lachen ist, weil sie die unendliche Vielfalt des Phänomens Lachen auf ganz absurde und dogmatische Weise allein auf das Bekundungs-Lachen und dieses wiederum allein auf das befreite und erleichterte Auflachen reduziert und alle anderen Formen von Gelächter mit imperialer Geste vom Tisch fegt, liegt eigentlich auf der Hand und interessiert hier auch nicht weiter. Hier interessiert nur, wie weit Thiede mit diesem reduktionistischen Verfahren kommt, um zumindest dieses eine Phänomen des Osterlachens auf den Begriff zu bringen. Aber weit kommt Thiede mit diesem Ansatz nicht, obwohl er sich ganz herrisch in Pose wirft und mit dem steilen Argument fortfährt, da der Glücksbegriff »nur im Horizont des Heilsbegriffs angemessen zu definieren ist« (S. 21), könne auch Gelotologie letztlich nur auf theologischer Ebene angemessen betrieben werden und müßte deshalb auch ein zentrales Thema der Theologie sein: »Denn der Mensch ist ein Wesen, das zum Heil in einem Verhältnis der Entfremdung steht und als entfremdetes Subjekt Glück nur in gebrochener Form erfährt oder zu erfahren sucht. Darum ist auch sein Lachen von Natur aus ein gebrochenes und fragliches. Aber indem Lachen den doppelten Faktor der Befreiung enthält und somit allemal ein Stück Erlöstsein ausdrückt, klingt durch die Entfremdung 86 hindurch etwas an von seinem verborgenen, sehnsüchtigen Bezug auf die Ganzheit der Erlösung im transzendentalen Heil.« (S. 34)

Mit anderen Worten: Jedes Lachen ist laut Thiede, reduktionistisch, »letztlich nichts anderes als« ein Vorgeschmack oder eine Ahnung der ewigen Seligkeit und eine Vorwegnahme des Lachens der Erlösten und Auferstandenen, und deshalb könnte sein Buch auch den Titel »Das verheißende Lachen« tragen, weshalb er dem Lachen der Erlösten denn auch ein eigenes Kapitel widmet (S. 41 ff.), in dem er Tertullian ausführlich zu Wort kommen läßt, der in seiner Polemik gegen die weltlichen Schauspiele das eschato563 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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logische Szenario als die wahre christliche Komödie 87 beschworen hatte, bei der die auferstanden Christen endlich mal aus vollem Halse alle Verdammten auslachen dürfen. Thiede versteht dieses von Tertullian beschworene Lachen als »Ausdruck endgültiger Überlegenheit« (S. 42). Daß das verheißene Lachen der Auferstandenen laut Thiede und Tertullian ein höhnisches Triumph-Lachen sein soll, stimmt schon nachdenklich, weil gerade dieses Lachen in der christlichen Argumentationstradition immer als Ausdruck von Hoffart (superbia) bestimmt und dementsprechend scharf verurteilt worden ist, scheint aber Thiede selbst nicht weiter zu stören, weil er fortfährt: »Entsprechend der Grundformel des Lachens muß sich im eschatologischen Gelächter aber nicht nur negativ die Befreiung von bedrükkenden Strukturen, sondern auch positiv die Befreiung zum vollendeten Glück in den Strukturen des Heils ausdrücken.« (S. 43)

Und damit ist für Thiede das verheißene Lachen ausreichend präzisiert als das Lachen des einen und aller Auferstandenen: »Es wird der mit Gott versöhnte, der von Gott auferweckte, der von seinem Geist durchdrungene Mensch sein.« (S. 44)

Da nun aber Ostern das Fest ist, mit dem die Christenheit diese Auferstehung feiert, müßte es auch das Fest sein, an dem diese doppelte Art von Befreiung zu feiern wäre, und demnach müßte laut Thiede Ostern auch das christliche Lach-Fest oder das Fest des christlichen Lachens schlechthin sein, weshalb man als Leser erwartet, daß Thiede auch auf das Thema Osterlachen eingeht, weil dies ganz auf der Linie seiner bis dahin ausgebreiteten Argumentation gelegen hätte, das Osterlachen als die rituell-liturgische Form zu verstehen, durch die dieses den Auferstandenen verheißene Lachen erahnbar gemacht und vorwegnehmend gekostet wird. Aber Thiele erwähnt das Osterlachen in seinem ganzen Buch mit keinem Wort. Dies ist auch in Bruno Drehers Monographie 88 über die Geschichte der Osterpredigt so, die im Spätmittelalter zwar »Krise und Zerfall« (S. 26 ff.) konstatiert, dies aber nicht mit dem Osterlachen in Beziehung bringt und diesen Brauch ebenfalls mit keinem Wort erwähnt. Der Grund für diese Verweigerung, sich mit dem Osterlachen überhaupt zu befassen, liegt, wie mir scheint, in der offenbar doch 564 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sehr tief verwurzelten Scheu der Theologen vor den derben und obszönen Mitteln, durch die das Osterlachen gemeinhin ausgelöst wurde, und die schon die ersten Protestanten vor diesem Brauch so sehr fremdeln ließ. 2.7.11.2 Zur Ätiologie des Osterlachens Da der historische Ursprung des Osterlachens im Dunkeln liegt, bot sich die Möglichkeit für eine ganze Reihe von Ursprungstheorien 89, die z. B. besagen, daß das Osterlachen ein fossiler Rest des vorchristlichen Heidentums sei, der durch die Christianisierung ins Dunkel abgedrängt worden sei, an Ostern aber diese dünne christliche Hülle immer wieder durchbreche und als notdürftig christlich verbrämte heidnische Frühlingsfeier ans Licht trete. Oder daß die christliche Osterliturgie von außen her durch nicht-christliche Häresien nachträglich überformt worden sei. Oder daß das Osterlachen eine Entartung der Osterliturgie sei, ein Abfall des christlichen Ritus von sich selbst in Gestalt seiner Verrohung. All diesen Theorien erteilt Hanns Fluck eine klare Absage, indem er als Bilanz seiner Untersuchung feststellt: »Es ergibt sich demnach, daß der Risus paschalis nicht nur kein Überrest altheidnischer Frühlingsfeier, sondern ein mittelalterliches Produkt der Meßliturgie, also etwas ausgesprochen Christliches ist.« (S. 207)

Denn: »Der Risus paschalis entsteht, anknüpfend an die Liturgie des Ostertages, in dem derbsinnlichen, lebensbejahenden Mittelalter als Parallelerscheinung zu den zahleichen ›Grotesken‹, wie sie sich zu jener Zeit (um 1200) in allen Erzeugnissen des menschlichen Geistes zeigen. Als Produkt katholischen Lebens wird er ausgeübt in den diesem Glauben angehörenden Ländern. In Deutschland speziell hält er sich ganz allgemein, bei Klerus und Volk gleich beliebt, bis in die Zeit der Reformation, die darin – zum Teil mit vollem Recht – eine Profanation des Heiligsten, die eines Christen unwürdig ist, sieht und deshalb diese Sitte verurteilt. Als Dokument abergläubischen Unchristentums von den Reformierten gebrandmarkt, wird er, noch ebenso beliebt, aber als Anlaß zu berechtigtem Eingriff von der Gegenseite gefürchtet,

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immer mehr verdrängt, weiß sich schließlich nur noch in rein katholischen Gegenden wie z. B. Bayern und in den Rheinlanden bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts zu halten; er macht also im Laufe der Jahrhunderte eine offensichtliche Rückwärtsentwicklung durch, bis er schließlich der ›Civilisation‹ des 19. Jahrhunderts zum Opfer fällt und völlig verschwindet.« (S. 208)

Aus dieser Bilanz von Hanns Fluck, die ich mir völlig zueigen machen kann, ergeben sich für uns einige eng miteinander verwobene Fragen, denen wir nunmehr nachgehen wollen: • Was ist am Osterlachen das laut Fluck »ausgesprochen Christliche«? • Worin besteht der Bezug dieses »ausgesprochen Christlichen« zum Lachen? • Woher bezieht die Polemik gegen das Osterlachen ihre Argumente? Obwohl es nicht meine Aufgabe sein kann, als Nicht-Theologe und Nicht-Christ eine theologische Rechtfertigung für das Osterlachen nachzureichen, ist es doch möglich, von außen her einen Blick auf das Osterlachen in der Art zu werfen, wie ein Ethnologe die Bräuche eines fremden Volkes studiert, ohne in Entrüstung, Verachtung oder Belustigung zu verfallen. Das bedeutet, methodologisch gesehen, daß wir das seltsame Phänomen des Osterlachens in dem bisher erschlossenen Strom christlich-theologischer Gelotologie zu verorten und nach den Möglichkeiten einer spezifisch christlichen risibilitas zu suchen haben. In einem nächsten Schritt geht es dann darum, im spezifisch Christlichen des Osterlachens ein allgemein Menschliches zu entdecken, also ein weiteres lach-relevantes proprium hominis aufzuzeigen. Nun haben wir in Kapitel 2.6.2.3 gesehen, daß der Kirchenvater Clemens von Alexandrien den Menschen als ein »von Natur aufrechtes und stolzes Wesen« (II,169) charakterisiert und deshalb die Auferstehung von den Toten, die Christus in seiner eigenen Auferstehung modellhaft vorweggenommen habe, als das zentrale Thema des Christentums bestimmt, denn in der Auferstehung werde die wahre Natur des Menschen als »aufrechtes und stolzes Wesen« endgültig und auf ewig verwirklicht. Das ideale Lachen, das dem Christen einzig gemäß sei und das er deshalb auch anzustreben ha566 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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be, sah Clemens deshalb im lichterfüllten strahlenden Lachen des auferstandenen Christus und aller anderen Auferstandenen verwirklicht, das dem strahlenden Lachen des göttlichen Kindes gleicht und, ikonologisch gesehen, im Nimbus sichtbar gemacht wird. Mit dieser Lehre konnte er sich guten Gewissens auf Paulus berufen, für den die Auferstehung Christi das Kernstück christlicher Lehre schlechthin war, denn er schreibt im Brief an die Korinther: »Ist die Auferstehung der Toten nichts, so ist auch Christus nicht auferstanden. (…) Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, so seid ihr noch in euren Sünden.« (1. Kor. 15,13–17)

Auch heutige Theologen sehen das immer noch so, denn für Walter Künneth ist die Auferstehung Jesu »der archimedische Punkt der Theologie überhaupt« 90, »das theologische Urdatum, von dem nicht abstrahiert werden kann« (S. 300), weshalb er sein berühmtes Buch Theologie der Auferstehung mit dem Fazit schließt: »Extra ressurrectionem nulla salus« (S. 300): Ohne Auferstehung gibt es keine Erlösung. Für den Fall der Auferstehung gilt für die Christen die Prophezeiung, daß der Moment der allgemeinen Auferstehung von den Toten ein Tag überwältigender Freude sein werde, und deshalb heiße es im Osterpsalm: »Dies ist der Tag, den der Herr macht; lasset uns freuen und fröhlich darinnen sein!« (Ps.118,24)

Allein von daher gesehen ist es schon plausibel und auch für jeden Nicht-Christen durchaus nachvollziehbar, daß das Auferstehungsfest Ostern als ein Freudenfest begangen werden müßte, an dem auch ausgiebig gelacht werden darf. Allerdings ist das Lachen der Auferstandenen, von dem Clemens spricht, durchaus nicht das Lachen, das beim Osterlachen gelacht worden sein muß, denn das lichterfüllte, engelsgleiche, strahlende Lachen, das Clemens im Auge hat, ist ein atmungsneutrales »ataraktisches« Strahlen, wohingegen alle Berichte, die wir vom Osterlachen haben, besagen, daß hier das durchaus »kathartische« krachende Gelächter mit offenem Maul gelacht worden ist und auch so erstrebt war. So gesehen, steht das Osterlachen dem Lachen der Auferstandenen, das Tertullian schildert, schon etwas näher, was 567 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den Grad der Ausgeprägtheit betrifft, nicht jedoch im Hinblick auf die ihm zugrunde liegende Gesinnung, denn das Lachen der Auferstandenen, wie es Tertullian schildert, entspricht genau dem, was Alexander von Hales als subsannatio bezeichnet hat, als aggressives Hohnlachen von oben herab, aber dieses Lachen wird durch die Ostermären gerade nicht provoziert, die im Sinne von Alexander von Hales lediglich das Belachen (derisio) eines mehr oder weniger komischen Verhaltens erstrebten, wie die oben angeführten Beispiele zeigen. Haben wir es also, so wäre zu fragen, im Osterlachen mit der Verrohung eines ursprünglich seligen Lächelns zum schallenden Lachen einer Lachmeute zu tun, so wie auch die liturgischen Spiele 91 einen Trend zur Verrohung erfahren haben? Oder findet das Osterlachen im ungenierten tosenden Gelächter (cachinnus) überhaupt erst seine wahre, dem gegebenen Anlaß angemessene Form? Und irrt deshalb Erasmus von Rotterdam, wenn er 1535 den Brauch des Osterlachens mit dem Argument verwirft, der Osterpsalm 92 meine keineswegs diese Art von Freude? Erasmus argumentiert aber schon auf dem Boden der nach-reformatorischen neuen Ernsthaftigkeit und herab von der Höhe einer neuen Schicht von Intellektuellen, die das volkstümlich Derbe dieses Brauches und der dabei eingesetzten Schwänke mit analerotischer Komik an dem originären Eutrapelie-Ideal von Aristoteles und Cicero mißt, das, wie wir gesehen haben, ein typisches Elitenideal ist, sodaß er in den derben Schwänken, wie sie sich bei Pauli finden, nur obszöne plebejische Possenreißerei erkennen kann, die um jeden Preis Lachen provozieren will, und die er ganz im Sinne von Aristoteles und Cicero strikt verurteilen muß. Daß man um 1200, als der Brauch des Osterlachens wohl aufgekommen sein dürfte und auch die Schwankliteratur ihre erste Blüte hatte, so ungeniert und mit bestem Gewissen selbst lachen und andere zum Lachen bringen konnte, liegt sicher mit daran, daß Wilhelm von Conches den paradiesischen Adam vor dem Sündenfall als Sanguiniker bestimmt hatte und daß Anselm von Canterbury durch seine neue Sündenlehre ermöglicht hatte, das Lachen als eine nur läßliche und leicht büßbare Sünde zu verstehen. Man darf nur nicht den protestantisch geprägten Ekel vor analerotischer 568 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Komik dem Menschen des Hochmittelalters unterstellen, den dieser gar nicht kannte. Und deshalb war es um so leichter möglich, daß Alexander von Hales um 1250 jede Art von unverfügbarem Bekundungs-Lachen und damit eben auch das Lachen über alle Arten von Komik völlig aus dem Sündenkatalog herausnehmen und damit zum Adiaphoron erklären konnte, sodaß auch die immer schon bestehende mittelalterliche Lachkultur unter der wohlwollenden Duldung der Kirche sich erst recht entfalten und sogar in den kirchlichen Raum selbst eindringen konnte. Ablesbar ist dieser mentalitätsgeschichtliche und kirchenpolitische Wandel von der unbedingten Ablehnung zur bedingten Duldung der ioculatio an zwei päpstlichen Stellungnahmen am Beginn und in der Mitte des 13. Jahrhunderts, die sich auf die Truppen von Goliarden beziehen, die in den Räumen der Kirche Theater spielten, da die Goliarden zwar Theologen waren, aber noch ohne Amt und Würden und deshalb auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu bestreiten suchten. So verbot Papst Innozenz III. 1207 den Goliarden das Theaterspielen in den Kirchen mit der Begründung, daß sie sich dabei »obszönen Gebärden und Ausschweifungen hingeben, die der Würde der Priester in den Augen des Volkes abträglich sind.« 93 Innozenz III. argumentierte also noch ganz so wie Bernhard von Clairvaux in seinen Lehrbriefen an den Papst Eugen III. Papst Innozenz IV. (1243–1254) hingegen orientierte sich schon an Alexander von Hales, als er um 1250 den Geistlichen die Erlaubnis erteilte, »das Gestikulieren eines Histrionen auszuführen, ohne dabei befürchten zu müssen, Schändliches zu tun oder gar zu sündigen, unter der Bedingung, dies ist zur Tröstung eines Kranken oder aufgrund irgendeines anderen berechtigten Motivs nötig, und vorausgesetzt, der Geistliche macht es sich nicht zur Gewohnheit.« 94

Möglicherweise bezog sich diese Stellungnahme nicht nur auf die geistlichen Spiele, sondern auch schon auf die Schwänke, die die Priester am Ostersonntag ihrer Gemeinde erzählten oder vorführten und die das Osterlachen provozieren sollten. Wenn das so wäre, so hätte damit auch die Praxis des Osterlachens indirekt den Segen ex cathedra erhalten, denn ein »berechtigtes Motiv« für ihre Schwänke von der Kanzel herab glaubten die Priester sehr wohl zu 569 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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haben. Also stellt sich von hier aus noch mal die Frage, worin das tertium comparationis zwischen der unbändig heiteren Form des Osterlachens und dem Szenario der Auferstehung besteht, oder genauer: dem Szenario von Tod und Auferstehung. Die katholische Theologin Jacobelli bietet eine Antwort an. Sie setzt bei dem Umstand an, daß die österlichen Schwänke zu einem guten Teil auch sexuelle Themen behandelt haben müssen, und schreibt dazu: »Die Quellen lassen keinen Zweifel daran, daß die Osterfreude der Grund für das Osterlachen ist. Aber warum wird die Freude über die Auferstehung gerade in dieser erotischen Weise ausgedrückt, die in bestimmter Hinsicht als äußerst unpassend erscheint? Hier liegt der Kern des Problems. Das zähe Weiterleben des Osterlachens in der Liturgie, dessen Hintergrund, auch im heiligen Raum, die sexuelle Freude ist, die sich in verschiedenen Formen zeigt, drängt zu einer Frage: Ist das Osterlachen nicht vielleicht doch, trotz allem Anschein, der uns heute so verwirrt, das Zeichen einer wesensgemäßen und darum zu Recht bestehenden Wirklichkeit des Menschen? Und muß man nicht geradezu von einer sakralen Wirklichkeit sprechen? Ist deshalb gerade die sexuelle Freude nicht sogar der angemessene Ausdruck der Freude über die Auferstehung? Man muß zugeben, daß dies zunächst ein schockierender Gedanke ist.« (S. 66)

Zunächst mal ist der Gedanke nicht besonders genau, denn bei den Ostermessen wurden ja keine sexuellen Orgien gefeiert, sondern nur Schwänke mit erotischen Themen vorgetragen und zwar neben anderen Schwänken mit allen möglichen Themen und Stoffen 95, wie schon ein kurzer ein Blick in Paulis Anthologie zeigt. Entscheidend für die Auswahl war offenbar nur, ob ein Schwank Gelächter provozieren konnte oder nicht, und da wußte man eben aus Erfahrung, daß bestimmte Themen und Stoffe in besonderem Maße zum Lachen reizen. Jacobelli manövriert sich also in die Irre, wenn sie allein nach den Mitteln fragt, die das Osterlachen hervorrufen sollten, und nicht nach dem Zweck, also dem Lachen selbst. Deshalb müßte Jacobellis Frage lauten: Ist nicht gerade das Lachen selbst, unabhängig davon, wodurch es erregt wird, der angemessene Ausdruck der Freude über die Auferstehung?

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Oder, noch genauer: Ist deshalb nicht gerade das Lachen selbst, und zwar das exzessive, kathartische Lachen (cachinnus), der adäquate mimetische Nachvollzug des österlichen Szenarios von Tod und Auferstehung?

Wenn wir so fragen, beantwortet sich die oben gestellte Frage nach dem tertium comparationis zwischen dem Lachen und dem mythologischen Szenario von Tod und Auferstehung wie von selbst: Es ist der uroborische Impuls des »stirb’ und werde«, der beidem zugrunde liegt, weil der Tod durch die Wiederauferstehung sich gleichsam selbst verzehrt, und weil dies so ist, kann das Lachen beim Osterlachen gar nicht exzessiv genug sein, sodaß es ganz im Sinn des österlichen Szenarios von Tod und Auferstehung ist, wenn man sich biegt vor Lachen, ja buchstäblich stirbt vor Lachen und sich dann wieder aufrichtet. Und dabei ist es letztlich völlig gleichgültig, worüber man lacht, weil das exzessive Lachen in seiner Verlaufsgestalt vom auslösenden Grund und Anlaß völlig unabhängig ist und stereotyp dem Schema Anspannung – Zuspitzung – Durchbruch – Ekstase folgt. Somit hat Jacobelli sogar recht, wenn auch in einem ganz anderen Sinn als sie selbst meint, wenn sie schreibt, das Osterlachen habe, »als Metapher der sexuellen Lust, in sich einen sakralen Wert, eine rettende Kraft« (S. 77), weil sie damit den kathartischen Effekt des Osterlachens und des Lachens allgemein anspricht. Und recht hätte sie dann auch, wenn sie schreibt, diese »rettende Kraft« gehöre »wesentlich zum Menschen selber« (S. 59), sei also eine anthroponome Konstante, ein proprium hominis, weil eben auch die von ihr ins Zentrum gerückte sexuelle Lust dem uroborischen Prinzip des »stirb’ und werde« und dem Schema Anspannung – Zuspitzung – Durchbruch – Ekstase unterliegt. Mit anderen, eigenen Worten: Das Osterlachen als eine kultisch ritualisierte Form des Lachens gründet sich, wie jede andere Form von Gelächter auch, auf das kathartische Potential des uroborischen Prinzips und instrumentalisiert dieses Prinzip zum mimetischen Nachvollzug von Tod und Auferstehung. Das »spezifisch Christliche« des Osterlachens ist also gar nicht so spezifisch christlich, wie Hanns Fluck meint, sondern ist tatsächlich ein allgemein Menschliches, das man jedoch erst erschließen kann, wenn man 571 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nach der unter dieser theologisch-mythologischen Schicht liegenden anthropologischen Schicht eigenleiblichen Spürens fahndet, das sich in den unterschiedlichsten kulturell wandelbaren Formen artikuliert. So gesehen hat das Osterlachen im Rahmen des Osterfestes eine dramaturgische Funktion, die durchaus der des heiteren Satyrspiels im Rahmen der attischen Tragödientrilogie als deren Abschluß entspricht. Beim mythischen Szenario von Tod und Auferstehung setzt auch Michail Bachtin an, wenn er das Osterlachen als eine Variante des karnevalistischen Lachens deutet und dieses wiederum als die christliche Variante des rituellen Lachens, das in vielen Kulten vorkommt, in deren Mittelpunkt Vegetationsgottheiten 96 stehen und auch dort immer mit Tod und Wiedergeburt in Beziehung gesetzt ist, um diese zu befördern. Bachtin schreibt dazu: »(1) Ausgesprochen ambivalent ist auch das Karnevalslachen. Genetisch leitet es sich von den ältesten Formen des rituellen Lachens ab. (2) Das rituelle Lachen richtete sich auf das Höchste. Geschmäht und ausgelacht wurden die Sonne (der höchste Gott), die anderen Götter, die höchste irdische Gewalt. Damit sollten sie gezwungen werden, sich zu erneuern. (3) Alle Formen des rituellen Lachens hingen mit Tod und Auferstehung, mit dem Zeugungsakt, mit den Symbolen der Fruchtbarkeit zusammen. Das rituelle Lachen war eine Reaktion auf die Krisen im Leben der Sonne (die Sonnwenden), die Krisen im Leben der Gottheit, im Leben der Welt und des Menschen (siehe das Begräbnislachen). (4) Schmähung verschmolz darin mit Freude.« 97

Wenn ich jetzt von Bachtins Text nur die Passagen (1) und (3) zitiert hätte, so hätte ich dies mit voller Zustimmung tun können, weil Bachtin hier vom Lachen allgemein spricht und weil man diese paar Sätze als eine Illustration des uroborischen Prinzips hätte deuten können. Wenn man jedoch die Passage (2) und (4) hinzunimmt und den Text so zitiert, wie er da steht, so redet Bachtin den baren Unsinn, weil er auch alle Formen des rituellen Lachens auf das kynische Auslachen-von-unten reduziert, denn rituelles Lachen, sofern es mit Tod und Auferstehung, sowie mit Zeugung und Geburt zu tun hat, ist eben gerade kein Auslachen irgendwelcher Mächte, Götter oder Personen, kann es auch gar nicht sein, son572 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dern besteht im rituellen mimetischen Nach- und Mitvollzug des jeweiligen mythischen Szenarios »stirb’ und werde«, weil es dieses ja durch »sympathetische Magie« 98 befördern soll. Aufgabe, Ziel und Zweck dieser rituellen Lachens von Lachgemeinschaften ist also nie die Schmähung, wie Bachtin glaubt, sondern, ganz im Gegenteil, die maieutische »Bahnung« 99 mythischer Vorgänge von uroborischer 100 Beschaffenheit. Diese These darf jedoch nicht so verstanden werden, daß das Osterlachen bloß die christliche Überformung uralter heidnischer Bräuche sei, also deren Fortleben in christlicher Maskierung, sondern allein so, daß sich das proprium hominis des uroborischen Impulses in immer wieder anderer kultureller Gestalt manifestiert und unter anderem eben auch im Osterlachen. So gesehen ist das Osterlachen sogar eine Form der Nachfolge Christi, so seltsam dies auch klingen mag und so fremd die Form dieser Nachfolge den heutigen Christen auch erscheinen mag, weil es dessen Tod und Wiederauferstehung in Form von Lachen mitund nachvollzieht, und damit wäre es tatsächlich, wie Fluck schreibt, »etwas ausgesprochen Christliches« oder genauer: auch »etwas ausgesprochen Christliches«. 2.7.11.3 Die Polemik gegen das Osterlachen Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, warum gegen das Osterlachen so heftig polemisiert worden ist, wenn man es doch auch als etwas genuin Christliches verstehen kann. Schon Dante hatte sich um 1320 in seiner Divina Comedia 101 im 29. Gesang des Paradieses über die eitle Possenreißerei der Prediger beschwert und dabei vielleicht sogar das Osterlachen im Auge gehabt, wenn er dort schreibt: »Nicht sprach der Herr zum ersten der Gemeinen: Geht hin und thut der Erde Possen kund! – Nein, wahre Lehre spendet’ er den Seinen. Von ihr ertönt im Kampf des Jüngers Mund, Wenn er, die Welt zum Glauben hinzulenken, Mit Schild und Speer des Evangeliums stund.

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Jetzt predigt man von Possen und von Schwänken, Und die Kapuze schwillt, wenn Alles lacht, Und, der sie trägt, braucht sonst an nichts zu denken.« (V. 109–117)

Rund zweihundert Jahre später am Beginn der Reformationszeit schreibt der Basler Reformator Johannes Oekolampad (1452– 1531) an seinen Freund Wolfgang Capito (1478–1541), den Reformator von Straßburg, einen Lehrbrief 102, in dem er sich dafür rechtfertigt, daß er in seinen Osterpredigten keine Schwänke zum besten gibt, obwohl ihm dies von seinen Kollegen immer wieder dringend nahegelegt worden sei, da auch seine Zuhörer dies so erwarten. Dieser Brief aus dem Jahr 1519 ist für uns die wichtigste authentische Quelle zum Brauch des Osterlachens und zugleich die bedeutendste Quelle für die Gründe, die zum allmählichen Verschwinden dieses Brauches geführt haben. Man muß sich allerdings bei der Analyse und Bewertung dieses Briefes immer vor Augen halten, daß der Brauch des Osterlachens damals schon an die dreihundert Jahre bestanden haben dürfte und somit ein uralter Brauch war, dessen Ursprung auch schon für Oekolampad und seine Zeitgenossen im Dunkel der Geschichte lag. Daß diese massive Kritik am Osterlachen von einem Mann wie Oekolampad stammt, scheint mir ganz symptomatisch, da Oekolampad sich schon bald der Reformation Luthers anschloß und seine Heimatstadt Basel zu einer Hochburg der Reformation machte, denn ganz allgemein fiel das Osterlachen dem durch die Reformation bewirkten Schub an neuer Ernsthaftigkeit und Strenge zum Opfer und konnte sich nur noch dort halten, wo die Gegenreformation ihre Hochburgen hatte, also in Bayern, in Österreich und im Rheinland. Oekolampads Brief scheint mir auch deshalb so symptomatisch, weil er schon all die Argumente enthält, die den protestantischen Ernst der folgenden Jahrhunderte begründen und die im Osterlachen entstandene spezifisch christliche Lachkultur im kirchlich-liturgischen Raum wieder abwürgen sollte. Mit seinem Brief verfolgt Oekolampad im wesentlichen vier Ziele: • Die Rechtfertigung der echten Eutrapelie im Sinne von Aristoteles und Cicero als integralem Bestandteil eines elitären humanistischen Bildungsideals. 574 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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• Die Verwerfung der plebejischen Schwank-Eutrapelie (Geloiastik), wie sie in den Osterpredigten gang und gäbe war und wie sie auch ihm angesonnen worden war. • Das Lob des Ernstes und der Würde. • Die Rückkehr zur lachfeindlichen christlich-theologischen Ahnenreihe von Bernhard von Clairvaux über Augustinus bis zurück zu Paulus und deren Weiterführung in reformierter und entsprechend verschärfter Form. Und außerdem ist Oekolampads Brief natürlich auch noch eine sehr genaue Quelle dafür, von welcher Art die Schwänke waren, die man zu seiner Zeit in einer Osterpredigt zum besten gab. So berichtet er z. B. ganz entrüstet über ein Streitgespräch mit Kollegen, die er mit der Frage konfrontiert hatte, ob dieser Brauch denn von den Aposteln ausgegangen sei oder ob er erst eine Verfallserscheinung der jüngeren Zeit sei und vor allem, ob dieser Brauch die Osterfreude denn auch auf eine wirklich würdige Art und Weise artikuliere und was sie selbst denn an Osterschwänken vorzutragen pflegten. Und da bekommt er dann einiges zu hören, was er nur voller Verachtung als »lächerliche Possen« (ridiculas gerras) 103 bezeichnen kann: »Einer verzehrte wie ein Kuckuck in einer hohlen Weide immer Kuchen und rief immer ›Kuckuck!‹; ein anderer lag im Rindermist, als wollte er ein Kalb zur Welt bringen, und vertrieb die Herankommenden mit Schnattern nach Art der Gänse. Wieder ein anderer wollte den Leuten einreden, daß ein Laie, der eine Nacht lang eine Kapuze trägt, ein Priester sei, und wollte ihn an den Altar schicken. Sie erinnerten sich so deutlich, daß sie es genau beschrieben. (…) Ich deute nur ganz wenige an und lasse die unanständigeren (obscoeniores) weg. Ich war erstaunt, daß plötzlich alle so gut reden konnten, sich so genau erinnern konnten, während sie doch sonst so wenig sprachen und ungeübt im Reden waren. Als ich aber fragte, ob sie auch Auslegungen des Ostergeschehens (allegorias) in Erinnerung hätten, verstummte plötzlich das Geschrei und keiner hatte etwas parat, was er antworten konnte. Mit Mühe sagte schließlich ein älterer Mann, er habe von den Predigern gehört, daß es ihnen nicht darum gehe, Mysterien zu erklären, sondern festlich und fröhlich die Zuhörerschaft zu erheitern (exhilare).« (S. 46 f.)

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Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

Von welcher Art die obszöneren Reden und Szenen waren, die Oekolampad hier ausspart, kann man bei Jacobelli nachlesen, die all dies ausgiebig referiert und breit ausmalt, weil es ihre Deutung stützt. Es handelt sich im wesentlichen um Schwänke mit dem Motiv des dummen und eitlen gehörnten Gatten und gestische Andeutungen von Masturbation und Geschlechtsakten homosexueller und heterosexueller Art, mit einem Wort: Es handelt sich um die übliche analerotische Zoterei zum Thema Nummer eins, wie sie an allen Stammtischen zu allen Zeiten und bei allen Völkern gang und gäbe ist – und wohl auch immer sein wird – und wie man sie in den Schwankanthologien von Oekolampads Zeitgenossen Heinrich Bebel, Johannes Pauli, Jörg Wickram, Michael Lindner, Martin Montanus, Jacob Frey, sowie im Eulenspiegel-Volksbuch nachlesen kann. Dazu kommen noch ausführliche Schilderungen des Scheißens, Pissens und Kotzens, wie wir sie auch bei Rabelais und Fischart finden, die mit ihren Romanen die Gattung des Schwanks gleichsam literarisch gekrönt haben. Heutzutage finden sich diese analerotischen Schwänke in geballter Form im kommerziellen Fernsehen, das hier die Nachfolge der Volksbücher angetreten hat und genau das Publikum mit Lachvorlagen bedient, das früher durch die Volksbücher bedient worden ist. Daß Geschichten dieser Art auf ein gebildetes Publikum nicht sonderlich komisch wirken, sondern wohl eher langweilig bis peinlich, liegt sicher daran, daß die Peinlichkeits- und Schamgrenzen dem historischen Wandel unterworfen sind, wie Norbert Elias 104 ausführlich gezeigt hat, wobei sich allerdings die Peinlichkeitsund Schamgrenzen der Oberschichten erheblich schneller und intensiver wandeln als die des einfachen Volkes, sodaß der Nomos der eutrapelistischen Lachkultur zwar ebenfalls dem historischen Wandel unterworfen ist, aber deshalb nur schichten- und bildungsspezifisch angewendet werden kann und in Zeiten massiver mentalitätsgeschichtlicher Umbrüche besonders deutlich seine historische Relativität enthüllt: Was dem einen schon peinlich ist, ist für den anderen immer noch ein Grund für brüllendes Gelächter. Die Reformation war ganz offensichtlich ein solch tiefer mentalitätsgeschichtlicher Umbruch, und in Oekolampads Ekel vor den derben Späßen seiner Predigerkollegen und dem Gelächter des ein576 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das Osterlachen

fachen Kirchenvolkes verrät sich schon das Elitegefühl einer neuen humanistisch gebildeten und tendenziell protestantisch-bürgerlichen städtischen Oberschicht, die die derben Späße der Ostermären nur noch als peinlich empfinden kann und ihr Ideal in einer neuen Art von protestantischer Würde, Strenge und Ernsthaftigkeit sieht. Aus diesem Grund klingt Oekolampads radikale Verwerfung der klerikalen Schwank-Eutrapelie und sein Bekenntnis zur originären aristotelischen Eutrapelie denn auch ein bißchen elitär, wenn er sich über das Ansinnen entrüstet, er solle doch in seiner Strenge (severitas) (S. 47) etwas nachlassen, da er doch gerade in Gestalten von sprichwörtlicher Ernsthaftigkeit wie Cato, Jesaja und Hosea seine Vorbilder sieht. Seine Entrüstung über diese Zumutung zeigt aber auch, wie genau er seinen Aristoteles, seinen Cicero und seinen Quintilian kennt und wie genau er weiß, worin die echte aristotelische Eutrapelie besteht, wenn er schreibt: »Sehr gelehrter Capito, du weißt, daß bei den Rednern von den Witzen (facetiae) die einen im Wort, die andern in der Sache bestehen, andere aus beiden Arten zusammengesetzt sind, die einen ebenso kurz wie die andern endlos lang sind und von diesen allen die einen posenreißerisch, mimisch und theatralisch (scurriles, mimicas et theatricas) sind, auch eines guten Mannes unwürdig, geschweige denn eines Geistlichen und Theologen, die anderen bürgerlich und fein (civiles et urbanas), in denen nichts Unpassendes, Derbes, Kunstloses, Fremdes ist, wie Quintilian sagt. Welche davon, glaubst du, wird unser Spaßmacher (geloiastes) auswählen, um die Zuhörerschaft zum Lachen zu zwingen? Etwa jene feinen des Cato? Etwa die der Propheten, bei denen, was mehr lustig scheint als es tatsächlich ist, durch die Reife der Sprecher eingeschläfert wird?« (S. 48)

Dann verweist Oekolampad auf einige klassische rhetorische Scherze und fährt mit Erörterungen fort, denen wir schon bei Alexander von Hales begegnet sind, wo dieser die Sündhaftigkeit der ioculatio prüfte, aber ohne dessen Subtilität in der Argumentation auch nur annähernd zu erreichen: »Durch derartige geistreiche Witze (festivitates), behaupte ich, wird das ungebildeteVolk (indocta plebs), das ja geistig ziemlich stumpf ist, weder sonderlich erfreut noch spontan in Lachen ausbrechen. Und so

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Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

bleibt daher nur übrig, daß der Spaßmacher (geloiastes) sich Milesischen Possen, Theaterszenen und fortwährendem Altweiber-Unsinn (deliramenta) zuwendet. Und nicht genug damit, daß er mit dem ganzen Körper die Bewegungen eines Schauspielers nachahmt, schmutzige, unverschämte, schamlose Worte einfließen läßt, jede Schändlichkeit beschreibt und einen guten Teil einer Stunde darauf verwendet, und nichts tut als ein Marktschreier, wobei er vergißt, daß er ein Prediger ist.« (S. 48)

Und dann argumentiert Oekolampad vollends wie Bernhard von Clairvaux in seinem Lehrbrief an den Papst Eugen III.: »Weil ich all diesen Unsinn mißbillige, scheine ich vielleicht allzu ernst (serius) und ein Feind des Lachens (deridiculus) zu sein, diese scheinbaren Feinde des Lachens aber sind bei so großer Leichtfertigkeit (levitas) genügend seriös und verdienen doppelte Ehre. Welcher gute Mann weiß denn nicht, daß Possen dieser Art völlig unvereinbar sind mit einem Mann der Kirche, in dessen Mund Witze (nugae) für Blasphemien gelten, in dessen Augen Splitter für Balken, in dessen Gesicht ein Fleck für Aussatz gehalten wird, dem nicht erlaubt wird, was einem Phrasendrescher auf dem Marktplatz erlaubt ist, geschweige denn einem Pantomimen mit schlechtem Ruf? Dieser nämlich kündigt an, daß über jedes Wort Rechenschaft abgelegt werden muß, dieser schreit, daß ein possenreißerisches Verhalten (scurrilitas) sich für einen Christen nicht schickt. (…) Schon wer den Bereich, Buße zu predigen, betreten hat, was hat der mit Späßen und dem Gelächter der Welt (cum iocis, risibus et cachinnis saeculi) zu tun? Oder brauchen wir zu dem, wozu wir von Natur aus geneigt sind, auch noch Antreiber? Wenn wir Sünden mit Gelächter tilgen, was brauchen wir dann Sack und Asche? Was Tränen und Klagen? (…) Wie weit liegen Wahrheit und Späße auseinander?« (S. 49)

In diesem Schulterschluß Oekolampads mit Bernhard von Clairvaux hinter Alexander von Hales zurück mit seinem Ideal des deridiculus und seinem Lob von zisterziensischer Ernsthaftigkeit, Strenge und Würde spürt man schon deutlich den Impuls, der dann Reformation und Gegenreformation in gleicher Weise prägen wird, den Impuls zurück zu den Anfängen, zurück zu Paulus, zurück zu den Kirchenvätern Chrysostomus und Augustinus, und das heißt in diesem Kontext konkret: zurück zur Verwerfung der Eutrapelie, wie 578 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das Osterlachen

sie im Brief an die Epheser formuliert worden ist, denn von nun an wird der Vers Epheser 5,4 aufs neue zum argumentatorischen Leitfossil der christlich geprägten Debatte übers Lachen erhoben, soweit sie von den Protestanten aller Konfessionen getragen wird. Ganz auf der Linie dieser Kehrtwende und der Rückkehr zum alten christlichen Ernst liegt auch die Neuausgabe des LentulusBriefes aus dem späten Mittelalter im Jahr 1582. Dieser angebliche Brief eines römischen Beamten aus Palästina an den Senat von Rom, eine der vielen frommen Fälschungen des christlichen Mittelalters, war 1474 im Rahmen einer Jesus-Biographie von Ludolf von Chartres zum ersten Mal erschienen und entwirft ganz im Sinne des Matthäus-Evangeliums das Bild eines überaus ernsten Jesus, von dem ausdrücklich behauptet wird, daß er nicht nur niemals gelacht habe, sondern auch nicht habe lachen wollen 105, und damit schien das Ideal des christlichen Agelasten noch einmal an Jesus selbst exemplifiziert und in aller Form dogmatisch abgesichert. Es waren vor allem die beiden zentralen Gestalten der Reformation, Luther und Calvin, die das humanistische Eutrapelie-Ideal verabscheuten und bekämpften, weil sie in diesem Ideal zugleich ein weltlich-höfisches Ideal witterten und die höfische Wertewelt als extreme Steigerung von Weltlichkeit generell deuteten. Deshalb versteht Luther z. B. sogar die echte aristotelische Eutrapelie ganz im Sinne von Paulus als Laster und nicht wie Aristoteles, Cicero und Thomas von Aquin als Tugend, wenn er schreibt, eutrapelistische Scherze seien »schimpffliche und fröliche wort, die man itzt höfflich und freundliche rede nennet, da durch man die Leut lachen, lüstig und frölich macht, wie das ynn gesellschaften und wolleben geschicht.«106

Und aus diesem Grund kann es auch nicht überraschen, daß wir den Wortschatz, den wir in Kapitel 2.3.4.6 bei den verschiedenen Übersetzungen der Passage Epheser 5,4 angetroffen haben, in der Beschreibung der Scherze, Schwänke und Schnurren der Osterpredigten wieder antreffen. Hanns Fluck hat einige zusammengestellt: »So spricht Oekolampad von: ludicrae fabellae, nugae; Erasmus: fabulae confictae, plerumque etiam obscoenae; Bebel: Schwänk und Narrenteiding, schimpfliche Red; Mathesius: närrische Gedicht, ungereumbte

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und lose Geschwetz; Seckendorf: scurrilia dicta; Schuppen: närrische Fabuln und Mährlein, wie man sie in Rockenstuben den Kindern erzehlt; Zimmerische Chronik: gueter lecherlicher Schwank; Geiler: fablen und gut schwenk; Fueßlin: gestudierte Possen und Zotten usw.« (S. 209)

Dieser durchaus abfällige Wortschatz verrät uns auch, aus welchen Gründen nicht nur die protestantischen Theologen gegen das Osterlachen polemisierten, um diese Polemik als Mittel im Kirchenkampf zu nutzen und die Katholiken als abergläubische unchristliche Heiden zu denunzieren, sondern auch weltliche humanistisch gebildete Intellektuelle, denen dieser Brauch mehr und mehr peinlich wurde, und daraus sieht man, daß beim Osterlachen der Zweck nicht die Mittel geheiligt hatte, sondern umgekehrt die als allzu derb empfundenen Schwänke den theologisch-liturgischen Zweck entheiligt hatten, durch exzessives Lachen die uroborische Struktur des Szenarios von Tod und Auferstehung mimetisch zu illustrieren. Diese Entwicklung liegt aber nicht darin begründet, daß die angewandten derben analerotischen Schwänke dem liturgischen Zweck prinzipiell widersprochen hätten, sondern weil die Peinlichkeitsschwelle sich bei den Humanisten als den neuen Inhabern der Deutungshoheit durch den mentalitätsgeschichtlichen Wandel verschoben hatte und die derben und obszönen Schwänke nun auch in jedem anderen Kontext als peinlich empfunden wurden, nicht nur im liturgischen Raum. Ablesbar ist dies auch im allmählichen Verschwinden der Schwänke aus dem Lesestoff der gesellschaftlichen Eliten und dem Weiterleben der Schwänke allein in den Volksbüchern von der Art des Eulenspiegel-Buches. Auf die naheliegende Idee, die komischen Mittel des Osterlachens dem feierlichen Zweck anzupassen, scheint aber auch niemand gekommen zu sein. 2.7.11.4 Bilanz Mit der Polemik gegen das Osterlachen kam die christlich-theologische Diskussion über das Lachen an ihr Ende, denn durch den Sprung über Wilhelm von Conches, Alexander von Hales und 580 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

Thomas von Aquin zurück zu den lachfeindlichen Kirchenvätern Chrysostomus, Ambrosius und Augustinus hatten sich die christlichen Theologen aller Konfessionen in eine argumentatorische Sackgasse manövriert, aus der sie nie wieder herauskommen sollten, auch deshalb nicht, weil sie damit zugleich auch hinter das von Alexander von Hales erreichte Argumentationsniveau zurückgefallen waren und nur noch dogmatisch und reduktionistisch argumentieren konnten. Und wenn in der späteren gelotologischen Debatte in systematischer Absicht sich jemand überhaupt noch an christlich-theologischer Argumentation orientierte, wie das z. B. bei Thomas Hobbes oder Charles Baudelaire der Fall ist, so griff er bezeichnenderweise nie auf Clemens von Alexandrien, Wilhelm von Conches, Alexander von Hales oder Thomas von Aquin zurück, sondern allein auf Augustinus und Chrysostomus und begab sich somit freiwillig in die gelotologische Sackgasse der dogmatischen Lachfeindschaft. Damit verlagerte sich der gelotologische Diskurs, sofern er in systematischer Absicht geführt wurde, seit der Reformationszeit völlig und endgültig aus der Theologie heraus und vollzog sich von nun an als rein weltlicher Diskurs, der mit Laurent Jouberts Traité du Ris von 1579 machtvoll einsetzt, in dem kein einziger Kirchenvater zitiert wird und aus der Bibel nur die Stellen aus der »salomonischen« Weisheitsliteratur angeführt werden, die sich als medizinisch begründetes Lob des Lachens lesen lassen.

Anmerkungen 1

Jacques Le Goff: Das Lachen im Mittelalter, Stuttgart 2004; ähnlich anregend war für mich auch das Buch: Jacques Le Goff/Nicolas Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, Stuttgart 2003. 2 Le Goff denkt bei diesen mönchischen Scherzen wohl an die Cena Cypriani, die v. a. im mönchischen und goliardischen Milieu gelesen und belacht wurde. 3 Hier denkt Le Goff wohl v. a. an die Schwank- und Fazetienliteratur. 4 Vgl. Suchomski: »Delectatio« und »utilitas«, S. 4. 5 Vgl. Suchomski, S. 16 f. 6 Vgl. Suchomski, S. 16. 7 Ich zitiere nach der Ausgabe: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lateinisch/deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990 ff., die zum 900. Geburtstag Bernhards erschien.

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Zit. nach Gisbert Kranz: Das göttliche Lachen, Würzburg 1970, S. 53. Vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen bei Alfred Jepsen: Nabi. Soziologische Studien zur alttestamentlichen Literatur- und Religionsgeschichte, München 1934. 10 Man muß sich immer vor Augen halten, daß Bernhard den Ausdruck ventus (Wind) hier auch in der Bedeutung ›Furz‹ gebraucht. Ein Lachausbruch ist für Bernhard so gesehen also ein Furz des unheiligen Geistes. 11 Bernhard, I,611 ff. 12 Vgl. dazu Jean-Claude Schmitt: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 160 ff. 13 Man darf nicht übersehen, daß mollis im Latein der Scholastiker immer auch die Bezeichnung für homosexuelles Verhalten ist, und so ist das Wort hier wohl auch gebraucht. 14 Schmitt, S. 170. 15 Suchomski: »Delectatio« und »utilitas«, S. 20. 16 Ich folge hier der faszinierenden Darstellung bei Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München 1990, in dem Kapitel: »Die Neudefinition von Sünde und Buße«, S. 258 ff., verweise aber auch die Darstellung von Andreas Merkt: Das Fegefeuer. Entstehung und Funktion einer Idee, Darmstadt 2005. 17 Vgl. Le Goff: Fegefeuer, S. 259. 18 Vgl. Le Goff, S. 343 ff. 19 Vgl. Le Goff, S. 114 und S. 294 über Gelächter als läßliche Sünde. 20 Bernhard scheint eine große Lust an Wortspielen gehabt zu haben, denn er schreibt hier: »Monachus enim, qui sui negligens, alios curiose circumspicit, dum quosdam suspicit superiores, quosdam despicit inferiores, et in aliis quidem videt quod invidet, in aliis quod irridet.« (II,104) Derlei Wortspiele finden sich bei Bernhard zuhauf. 21 Le Goff: Fegefeuer, S. 297. 22 Vgl. dazu die ausführliche Bibliographie über die Apokatastasis-Literatur bei Gotthold Müller: Identität und Immanenz. Zur Genese der Theologie von D. F. Strauß, Darmstadt 1968. Strauß hatte bei Hegel eine Dissertation über die Apokatastasis geschrieben, die im Buch von Müller auch abgedruckt ist. 23 Vgl. dazu die Arbeiten von Suchomski (»Delectatio« und »utilitas«) und Lehmann (Die Parodie im Mittelalter) über die komische und parodistische Literatur im Mittelalter. 24 Vgl. dazu Lehmann: Die Parodie im Mittelalter, S. 12 ff., Bachtin: Rabelais, S. 329 ff. und Eco: Rose, S. 542 ff. 25 Bachtin: Rabelais, S. 123, vgl. auch S. 129, S. 135 und S. 144. 26 Marc Föcking: »Qui habitat in caelis irridebit eo«. Paradiesisches und irdisches Lachen in Dantes Divina Commedia, in: Paradies. Topografie der Sehnsucht, hg. v. Claudia Benthien und Manuela Gerlof, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 77–98, hier S. 89. Vgl. dazu auch Kranz, S. 67 ff., sowie Daniel Ménager: La Renaissance et le rire, Paris 1995, S. 143 ff. 27 Vgl. Le Goff: Fegefeuer, S. 407 ff. 9

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Anmerkungen 28

Zitiert nach: Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie, und Medizin, der Religion und Kunst, Frankfurt a. M. 1992, S. 39; vgl. dazu auch Heinz-Günter Schmitz: Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert, Hildesheim/New York 1972, S. 95, wo noch weitere Entsprechungen aufgeführt sind. 29 Ich zitiere Wilhelm von Conches meist nach Klibansky: Saturn und Melancholie, habe aber auch die zweisprachige und ausführlich kommentierte Ausgabe: Philosphia, Pretoria 1980, von Gregor Maurach hinzugezogen. 30 Philosophia IV,30, zit. nach Klibansky, S. 173. 31 Klibansky, S. 175. 32 So galten z. B. Kühe als melancholisch, Leoparden als cholerisch und Schildkröten als phlegmatisch. Für Wilhelm von Conches (vgl. Philosophia IV,42) galten der Löwe als cholerisch, Stier und Esel als melancholisch und Schweine als phlegmatisch. Erst im 19. Jahrhundert entdeckte man den Affen als Sanguiniker, da er nun, nach Darwin, als Vetter des Menschen galt. Beispiele dafür finden sich bei Wilhelm Busch zuhauf. Allerdings ist diese Komik meist recht bösartig. 33 Klibansky, S. 175. 34 Klibansky, S. 187 f.; vgl. auch Weber: Demokritos III,36 ff. 35 Alanus ab Insulis: Der Anticlaudian oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen. Ein Epos des lateinischen Mittelalters übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Rath, Stuttgart 1966. Vgl. dazu auch Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 127–131, sowie die thematisch einschlägigen Studien: Johan Huizinga: Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen bei Alanus de Insulis, Amsterdam 1932, und: John Passmore: Der vollkommene Mensch. Eine Idee im Wandel von drei Jahrtausenden, Stuttgart 1975. 36 Ich zitiere nach der Ausgabe: Hildegard von Bingen: Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen und der Heilung der Krankheiten. Nach den Quellen übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 6/1992. 37 Vgl. dazu die Ausführungen von Hermann Schmitz über die Windnatur von Erregungen als gerichteten Gefühlen in Schmitz: Gefühlsraum, S. 268 ff., sowie seine Hermas-Analyse in: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung. Bd. 2: Nachantike Philosophie, Freiburg/München 2007. S. 26 ff. 38 Vgl. Hildegard: Heilkunde, S. 102. 39 Franz von Baader: Über den Blitz als Vater des Lichtes, in: Schriften Franz von Baaders, ausgewählt und herausgegeben von Max Pulver, Leipzig 1921, S. 55. 40 Vgl. dazu die Dissertation von Marianne Derron: Des Strickers ernsthafter König. Ein poetischer Lachtraktat des Mittelalters. Eine motivgeschichtliche Studie zur ersten Barlaam-Parabel, Frankfurt a. M. 2008. Passagen aus dem Text des Strikkers zitiere ich nach Derron. 41 Lenaus Werke. Herausgegeben von Carl Hepp, 2 Bde, Leipzig und Wien o.J, II,342. 42 Ich zitiere Alexander von Hales nach der Ausgabe: Doctoris irrefragabilis Alex-

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Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

andri de Hales ordinis minorum Summa theologica, Tomus III, Quaracchi 1930. Da von diesem Werk keine deutsche Übersetzung vorliegt, übersetze ich selbst, füge aber dem deutschen Text die Schlüsselbegriffe aus dem Original bei. 43 Cicero II,244, S. 364. Diese Passage habe ich selbst übersetzt, weil man hierzu am besten den Theaterjargon verwendet. 44 Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 118 ff. 45 Chrysostomus, III,122. 46 Chrysostomus, III,123. 47 Vgl. dazu Kapitel 2.6.5.2. 48 Vgl. dazu Kapitel 2.6.5.4. 49 Josef Pieper: Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters, München 1947, S. 13. 50 Ich orientiere mich hier an der »Logischen Propädeutik« von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Mannheim/Wien/Zürich 2/1973, S. 117 ff. 51 Vgl. dazu Pieper: Wahrheit, S. 15 ff., wo Pieper die Rezeptionsgeschichte dieses Satzes über Descartes, Hobbes, Spinoza bis herauf zu Kant aufzeigt. 52 Josef Pieper: Hinführung zu Thomas von Aquin. Zwölf Vorlesungen, München 1958, S. 68. 53 Vgl. oben Kapitel 2.3.2.1. 54 Pieper: Hinführung, S. 169. 55 Vgl. auch Suchomski: »Delectatio« und »utilitas«, S. 55 ff. 56 Ich zitiere Thomas hier nach der Übersetzung Hugo Rahners, die sich in seinem Aufsatz: Eutrapelie, eine vergessene Tugend, in: Neueste Hefte, 1954, S. 346–353, hier S. 350, findet. Vgl. zu dem Thema auch Rahners Werk: Der spielende Mensch, Einsiedeln 1952, in dem Rahner eine Theorie des Spiels auf aristotelischthomistischer Grundlage entwirft. 57 Johannes Pauli: Schimpf und Ernst, hg. v. Hermann Osterley, Stuttgart 1866, S. 13. 58 Suchomski: »Delectatio« und »utilitas«, S. 11. 59 Vgl. dazu Daniel Ménager: La Renaissance et le rire, Paris 1995, S. 124 ff. 60 Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006. 61 Vg. dazu Assmann: Thomas Mann, S. 67 ff., sowie Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 4/2002. 62 Ich zitiere nach der Ausgabe: Umberto Eco: Der Name der Rose, München 11/ 1987. 63 Georgina Baum: Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik. Zur Kritik ihres apologetischen Charakters, Berlin 1959. 64 Der Aufsatz findet sich in der Aufsatzsammlung: Michail Bachtin: Literatur und Karneval, S. 32–46. 65 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, München 1995. 66 Bachtins Beschreibung des Karnevals lehnt sich ganz eng an die Beschreibung des Dionysischen in Nietzsches »Geburt der Tragödie« an, wo es gleich im ersten

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Anmerkungen

Kapitel heißt: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig bietet die Erde ihre Gaben, friedfertig nahen die Raubtiere der Felsen und der Wüste. (…) Jetzt ist der Sklave freier Mann, jetzt zerbrechen all die starren Abgrenzungen, die Not, Willkür oder ›freche Mode‹ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und Sprechen verlernt, und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.« (Nietzsche, I,24 f.) 67 Vgl. dazu das Nachwort von Alexander Kaempfe in »Literatur und Karneval«, S. 140 und Sylvia Sasses Monographie: Michail Bachtin zur Einführung, Hamburg 2010, S. 157 ff. 68 Baum: Humor und Satire, S. 20. 69 Glei: Aristoteles im Mönchskloster, S. 300. 70 Nikolai Gogol: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. v. Angela Martini, Band III, S. 415. 71 Die Kritik an Bachtins Begriff der mittelalterlichen Lachkultur kam bisher von den Mediävisten und Theologen und setzte immer bei seinem Karnevalsbegriff an, nie bei dessen gelotologischen Implikationen. Vgl. dazu z. B. Wolfgang Rösler: Michail Bachtin und die Karnevalskultur, in: Quaderni Urbinati di cultura classica, 1986, S. 24–44 und die beiden Aufsätze von Dietz-Rüdiger Moser: Lachkultur des Mittelalters? Bachtin und die Folgen seiner Theorie, in: Euphorion 84, 1990, S. 89–111 und: Schimpf oder Ernst? Zur fröhlichen Bataille über Michael (sic!) Bachtins Theorie einer »Lachkultur des Mittelalters«, in der Festschrift für Rolf Bräuer: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte, hg. v. Angela Bader, Annemarie Eder, Irene Erfen und Ulrich Müller, Stuttgart 1994, S. 261–310. Mosers Kritik an Bachtin und seinen Adepten ist schlechthin vernichtend, auch wenn Elena Nährlich-Slateva Bachtin in ihrer Replik auf Moser entschieden zu verteidigen sucht in ihrem Aufsatz: Eine Replik zum Aufsatz von Dietz-Rüdiger Moser »Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie«, in: Euphorion 85, 1991, S. 409–422. Ich verweise auch auf den Aufsatz von Dirk Schümer: Lachen mit Bachtin – ein geistesgeschichtliches Trauerspiel, im Sonderheft 641/642 des Merkur von 2002: Lachen. Über westliche Zivilisation, S. 847–853, der Bachtins Theorie mit Recht als eine »idée fixe« (S. 849) bezeichnet. 72 Thomas Hobbes: Leviathan, Frankfurt a. M. 1984, S. 83. 73 Anonymus: Traktat über die drei Betrüger, kritisch herausgegeben, übersetzt, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Winfried Schröder, Hamburg 1992, S. 44 ff. 74 Schriften Franz von Baaders, ausgewählt und herausgegeben von Max Pulver,

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Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas

Leipzig 1921, S. 55. Die Formulierung findet sich in einem Aufsatz von 1815 mit dem Titel »Über den Blitz als Vater des Lichtes«, S. 46–59. 75 Hanns Fluck: Der Risus paschalis. Ein Beitrag zur religiösen Volkskunde, in: Archiv für Religionswissenschaft 31 (1934), S. 188–212. Das Kapitel »Osterpossen« in: Flögel’s Geschichte des Grotesk-Komischen, Reprint Dortmund 1978, S. 238–242, ist leider völlig unergiebig. Dies gilt auch für das Kapitel »Le Rire rituel« in Salomon Reinachs umfangreicher Studie: Cultes, Mythes et Religions, Bd. IV, Paris 1912, S. 109–129, und für die Abhandlung von Bernard Sarrazin: Le rire et le sacré, Paris1991, die beide das Osterlachen nur ganz beiläufig erwähnen. Wichtige Anregungen für unsere Fragestellung, obwohl dort das Osterlachen nicht explizit behandelt wird, enthält jedoch der Sammelband: »risus sacer – sacrum risibile«. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, hg. v. Katja Gvozdeva und Werner Röcke, Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt/New York/Oxford/Wien 2009. Dies gilt v. a. für den an Plessner orientierten Einführungstext der beiden Herausgeber: Performative Kommunikationsfelder von Sakralität und Gelächter, S. 9–28, weil oft genug das Lachen aus der Abgrenzung von Profanem und Sakralem (vgl. S. 15) als der Grenze zwischen antagonistischen Sinnhaftigkeiten entsteht. In dem Ausstellungskatalog: Seliges Lächeln und höllisches Gelächter. Das Lachen in Kunst und Kultur des Mittelalters, hg. v. Winfried Wilhelmy, Regensburg 2012, wird das Osterlachen seltsamerweise mit keinem Wort erwähnt. 76 Volker Wendland: Ostermärchen und Ostergelächter. Brauchtümliche Kanzelrhetorik und ihre kulturkritische Würdigung seit dem ausgehenden Mittelalter, Frankfurt/Bern/Cirencester 1980. 77 Maria Caterina Jacobelli: Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen, Regensburg 1992. 78 Rainer Warning: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974, S. 107 f. 79 Rüdiger Schnell: Geistliches Spiel und Lachen. Überlegungen zu einer Ästhetik der Komik im Mittelalter, in: Anja Grebe/Nikolaus Staubach (Hg.): Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 2005, S. 76–93; Walter Haug: Das Komische und das Heilige. Zur Komik in der religiösen Literatur des Mittelalters, in: Wolfram-Studien 7, 1982, S. 8–31; Werner Röcke: Ostergelächter. Körpersprache und rituelle Komik in Inszenierungen des risus paschalis, in: Klaus Ridder/Otto Langer (Hg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002, S. 335–350. 80 Diese leise Polemik richtet sich gegen die Studie von Rainer Hess: Das romanische geistliche Schauspiel als profane und religiöse Komödie, München 1965, die Warning schon in einer Rezension im Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 205, 1968, S. 245–248 ausführlich besprochen hatte. 81 Vgl. dazu Hauke Stroszeck: Pointe und poetische Dominante. Deutsche Kurzprosa im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1970 und Norbert Neumann: Vom Schwank zum Witz. Zum Wandel der Pointe seit dem 16. Jahrhundert, Frankfurt/New York 1986.

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Anmerkungen 82

Zum Fortleben von Ostermärchen und Osterlachen vom 16. bis 19. Jahrhundert vgl. Wendland: Ostermärchen, S. 169–296. 83 Paschatis sollemnia. Studien zu Osterfeier und Osterfrömmigkeit, hg. v. Balthasar Fischer und Johannes Wagner, Basel/Freiburg/Wien 1959. 84 Carl Maier: Österliches Brauchtum im Dorf, in: Paschatis sollemnia, S. 260– 266. 85 Bruno Löwenberg: Zum Verkündigungsgehalt des deutschen Osterliedes, in: Paschatis sollemnia, S. 329–336. 86 Thiede orientiert sich hier an der Studie von Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, in der Pannenberg den Versuch unternimmt, die christliche Lehre von der Erbsünde auf der Basis von Plessners Anthropologie neu zu begründen. 87 Vgl. dazu Kapitel 2.6.4. 88 Bruno Dreher: Die Osterpredigt von der Reformation bis zur Gegenwart, Freiburg 1951. 89 Zur Kritik dieser Ursprungstheorien vgl. Wendland: Ostermärchen, S. 103 ff. 90 Walter Künneth: Theologie der Auferstehung, Gießen/Basel 6/1982, S. 300. 91 Vgl. dazu Auerbach: Mimesis, S. 153 ff. 92 Vgl. dazu Jacobelli: Ostergelächter, S. 51. 93 Schmitt: Logik der Geste, S. 252. 94 Schmitt, S. 259. 95 Vgl. dazu die Auflistung bei Wendland: Ostermärchen, S. 117–161. 96 Vgl. dazu James George Frazer: Der goldene Zweig. Eine Studie über Magie und Religion, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977, S. 472 ff. 97 Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Über Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a. M. 1990, S. 53 f. 98 Frazer: Der goldene Zweig, S. 15 ff. 99 Vgl. dazu Rudolf Bilz: Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie Bd. I, Frankfurt a. M. 1973, S. 132 ff. 100 Wir werden im systematischen Teil in Kapitel 3.5.5 auf derlei Bahnungs-Phänomene ausführlicher einzugehen haben, wenn wir über das Mitlachen resp. Resonanz-Lachen zu reden haben, zu dem man vom Lachen anderer angesteckt wird. 101 Ich zitiere Dante hier nach der Ausgabe: Dante Alighieri’s Göttliche Komödie, übersetzt und erläutert von Karl Streckfuß, Leipzig o. J. 102 Zu Vorgeschichte und Umfeld dieses Briefes vgl. Jacobelli: Ostergelächter, S. 11, und zur problemgeschichtlichen Einordnung vgl. H.-G. Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 197 ff. 103 Ich zitiere Oekolampad nach der Ausgabe: Briefe und Akten zum Leben Oekolampads. Zum vierhundertjährigen Jubiläum der Basler Reformation hg. v. der theologischen Fakultät der Universität Basel, bearbeitet von Ernst Staehelin, Bd. I: 1499–1526, Leipzig 1927, S. 46 und in der Übersetzung von Dr. Hans Erdle, Pfaffenhofen, dem ich für diese Übersetzung herzlich danke, da ich vor dem sehr ambitionierten und rhetorisch brillanten Humanisten-Latein Oekolampads die Waffen strecken mußte.

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Die Scholastiker oder Die Frage nach der christlichen risibilitas 104

Vgl. dazu Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977. 105 Vgl. dazu Daniel Ménager: La Renaissance et le rire, Paris 1995, S. 124 f. 106 Zit. nach H.-G. Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 225.

588 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

2.8 Die frohe Botschaft des Philosophen oder Die Frage nach der ars iocandi et ridendi

2.8.1 Überblick Im Vorspann zu seinem Gargantua wendet sich François Rabelais (1494–1553) mit einem Gedicht an den Leser, in dem sich dafür entschuldigt, daß sein Roman den Leser nicht bessern und belehren und zum Edelmenschen erheben, sondern nur zum Lachen bringen könne. Ein anderes Programm habe er nun mal nicht zu bieten und wolle dies auch gar nicht. Aber schließlich sei es doch besser, übers Lachen zu schreiben als übers Weinen, denn das Lachen sei ja doch das proprium hominis: »Pour ce que rire est le propre de l’homme.« 1

In der Übersetzung von Gelbcke/Heintze lautet dies: »Zu weinen nicht, zu lachen macht euch Mut, denn Lachen ist des Menschen höchstes Gut.«2

Eine andere Übersetzung könnte vielleicht lauten: Der Mensch ist Mensch nur, weil er lacht, Und weil das Lachen den Menschen zum Menschen macht.

Dieses Zitat aus der Argumentationstradition des Aristoteles 3, das seit der Antike und durch das ganze Mittelalter hindurch zum festen Wissensbestand der gelehrten Welt gehört hatte, ließe sich als Leitmotiv über die ganze Epoche der Renaissance setzen, die in unserer Ideengeschichte des Lachens nun zu behandeln ist, weil dieser Gedanke hier auf vielfältigste Art und Weise durchgespielt wird. Daß auch das Weinen ein proprium hominis ist und daß es noch weitere propria hominis gibt, verschweigt Rabelais, und dies verrät, daß er seinen Aristoteles schon in einer reduktionistischen Lesart und in ideologischer Verengung rezipiert hat. Damit steht Rabelais jedoch nicht allein, denn wir werden sehen, daß die Aristoteles589 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die frohe Botschaft des Philosophen

Rezeption der Renaissance, soweit sie sich mit Beiträgen des Aristoteles und seiner Schule zur Gelotologie befaßt, durchwegs epigonal bleibt und, soweit ich sehen kann, keinen einzigen Gedanken anbietet, der in irgendeiner Weise über Aristoteles hinaus geht, sondern sich damit begnügt, aristotelische Positionen und Erkenntnisse, oder auch nur das, was man dafür hielt, lediglich aufzugreifen und in verschiedenen Programmen umzusetzen. Doch wenn hier vom Lachen die Rede ist, so ist immer das geloiastische Lachen als Echo des Komischen und Lächerlichen gemeint. Da ist zunächst ein diätetisch-therapeutisches Programm unter Federführung der Medizin, in dem auf der Grundlage der Humoralpathologie veritable Lach-Therapien verordnet wurden, um der allfällig drohenden Melancholie entgegenzuwirken. Unter diesem Aspekt ist ja auch schon die Schwank- und Novellenliteratur des späten Mittelalters zu sehen, in deren Tradition Rabelais mit seinem Gedicht und seinem Roman steht, da er sich das Ziel gesetzt hat, seinen Leser zum Lachen zu bringen. Ich gehe auf diese Literatur hier nicht weiter ein, weil sie den Rahmen dieser Studie völlig sprengen müßte, v. a. aber deshalb, weil sie in der gelotologischen Ideengeschichte keine neuen Erkenntnisse bringt. Ganz anders ist dies mit dem ästhetisch-poietischen Programm, das zu bestimmten Formen der Rollenprosa geführt hat, in denen der Autor in die Rolle des philosophischen oder philologischen Narren schlüpft, in dieser Verkleidung an die sokratisch-kynische Tradition anknüpft und im Rahmen dieser eigens eingenommenen Rolle als Narr dann sein Späße treibt. Ich meine damit das von Erasmus von Rotterdam verkündete Selbstlob der Torheit und die gleichzeitig aufkommende makkaronische Poesie von Teofilo Folengo, die alsbald in allen europäischen Sprachen nachgeahmt wurde. Damit verschmilzt diese Art von Narrentum mit dem Bild des heiteren Weisen im Sinne von Horaz, weil diese spezifische NarrenRolle den Rahmen abgibt, innerhalb dessen das Prinzip desipere in loco mit größtem Spaß für Akteure und Publikum ausagiert werden kann. Auf die Narrenliteratur in der Art von Sebastian Brant und Thomas Murner gehe ich nicht ausführlicher ein, weil diese nicht in der Tradition von Sokrates, Aristoteles, Diogenes oder Horaz steht, sondern in der Tradition der alttestamentlichen und christ590 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die ars ridendi als medizinisch-therapeutisches Programm

lichen Unheilspropheten und Bußprediger von Jeremias und Hosea über Johannes Chrysostomus bis herauf zu Girolamo Savonarola, und deshalb gelotologisch gesehen irrelevant ist. Viel wichtiger ist mir hingegen das performative Programm zur Umsetzung des aristotelischen Eutrapelie-Ideals in Form eines sozialen Rollenfachs, wie es z. B. im Hofnarren zum Ausdruck kommt. Zu diesem Programm geloiastischer Praxis gehört auch der Typ des Cortegiano, der in der Renaissance als neues normensetzendes heiteres und weltliches Elitenideal das mittelalterliche ernste und klerikale Ideal des Mönches als dessen direkter Gegenentwurf ablöst und für die nächsten Jahrhunderte verbindlich bleiben sollte, sich aber im Absolutismus wieder entscheidend änderte und eindüsterte, bis es schließlich durch die Orientierung am stoischen Weisen wieder in manchen Zügen an den mittelalterlichen Mönch erinnerte. All diese Programme suchen auf unterschiedlichsten Wegen, das Lachen kulturell zu organisieren und dadurch tendenziell verfügbar zu machen. Da dies prinzipiell immer nur ansatzweise gelingen kann, wird sich zeigen, zu welchen Aporien und Paradoxen diese Programme führen und an welche Grenzen sie stoßen. Da zur Umsetzung all dieser Programme die unterschiedlichsten Rollenfächer entworfen werden mußten, ist es notwendig, dieses Gewirr von Geloiasten-Rollen nach bestimmten Kriterien systematisch zu ordnen, um diese verschiedenen Rollen genau voneinander unterscheiden zu können. Dies gilt insbesondere von der Vielgestaltigkeit des Narren, und deshalb werde ich eigens ein methodologisch-terminologisch orientiertes Kapitel einschalten müssen, in dem eine Geloiasten-Palette erstellt wird, um für die dann folgenden Kapitel ein tragfähiges terminologisches Fundament bereitzustellen. 2.8.2 Die ars ridendi als medizinisch-therapeutisches Programm Wir haben in Kapitel 2.7.5 gesehen, daß Wilhelm von Conches in seiner Philosophie durch die Verbindung der antiken Humoralpathologie mit der christlichen Sündenlehre zu dem Schluß gekommen war, der paradiesische Adam müsse als Sanguiniker ver591 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die frohe Botschaft des Philosophen

standen werden, und das sanguinische Temperament sei überhaupt die »Optimalform des Menschen« (Klibansky), weil in jedem strahlend heiteren Lachen die beglückende Erinnerung an den idealen paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall aufscheine. Damit hatte Wilhelm von Conches die alte These der Aristoteles-Schule, das Lachen sei ein proprium hominis, vielleicht sogar das entscheidende, für das christliche Mittelalter gleichsam »gerettet« und der christlichen Theologie die Möglichkeit geboten, sich mit dem Lachen, zumindest aber mit bestimmten Formen des Lachens auszusöhnen. Auf dieser Grundlage konnten Hildegard von Bingen, Alexander von Hales und Thomas von Aquin aufbauen und weiter argumentieren, und die Zeitgenossen Wilhelms konnten sich mit bestem Gewissen daran machen, ihre Leser mit ihren derben Schwänken zu erheitern. Wenn nun auch Rabelais vierhundert Jahre nach Wilhelm von Conches im Widmungsgedicht zu seinem Gargantua den lachenden Menschen ebenfalls zur »Optimalform des Menschen« ernennt, so argumentiert er jedoch nicht mehr physiologisch und theologisch wie Wilhelm von Conches, sondern physiologisch und poetologisch, da er als Arzt wie als Dichter argumentiert, die Lektüre seines Romans als Therapie versteht und das dadurch beim Leser erzeugte Lachen als eine Medizin. All dies jedoch nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz real, weil, wie er glaubt, ein Autor seinen Leser mit Leib und Seele ergreifen und kurieren kann, sofern er ihn zum Lachen bringt. Oder anders formuliert: Die kathartische Wirkung des Lachens wurde in der medizinisch-physiologisch orientierten Poetologie der Renaissance ganz konkret als Purgation verstanden, d. h. entweder als Reinigung von üblen krankmachenden Säften durch deren Abfuhr oder aber als Korrektur der SäfteVerteilung im menschlichen Körper in Richtung auf das ideale Maß, und beides glaubte man durch die Erregung von Gelächter erreichen zu können. Die Grundlage für diese Argumentation, die uns heute so fremd anmutet, ist das Schema der vier Elemente, Körpersäfte und Temperamente mit ihren Entsprechungen. Das Element Luft z. B. ist warm und feucht, konzentriert sich besonders im Herz (wo auch das Lachen sitzt), bildet dort das Blut (sanguis), das die Tendenz 592 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die ars ridendi als medizinisch-therapeutisches Programm

hat, sich zu verflüssigen und zu ergießen, und dessen leichtes Übergewicht in der Verteilung der Säfte das Temperament des Sanguinikers erzeugt, der besonders zum Lachen geneigt ist. Wenn diese vier Säfte in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, wobei einer ganz leicht dominieren darf und dadurch das Temperament des betreffenden Menschen bestimmt, gilt der Mensch als gesund. Löst sich jedoch einer dieser Säfte aus dem ausgewogenen Verbund allzusehr, so gilt der Mensch als krank und muß entsprechend behandelt werden. Das Schema lautet folgendermaßen: Element: Beschaffenheit: Organ: Saft:

Feuer warm/trocken Leber gelbe Galle

Zustand: gasförmig Temperament: Choleriker Jahreszeit: Alter:

Sommer Jugend

Luft warm/feucht Herz Blut

Wasser kalt/feucht Hirn Schleim

Erde kalt/trocken Milz schwarze Galle flüssig zäh fest Sanguiniker Phlegmatiker Melancholiker Frühling Winter Herbst Kindheit Greisenalter Mannesalter 4

Diese Zusammenstellung darf nun nicht so verstanden werden, daß z. B. die Luft immer flüssig oder das Wasser immer zäh sei, sondern daß sie lediglich die Möglichkeit dazu haben, so zu sein, weil die Luft z. B. Nebel bilden oder das Wasser gefrieren kann. Außerdem muß ein Körpersaft (humor) selbst nicht flüssig sein wie Apfelsaft oder Sirup, obwohl er als »Saft« bezeichnet wird, sondern kann alle möglichen Aggregatszustände haben, weshalb es sich empfiehlt, die humores nicht als Stoffe anzusehen, sondern eher als Dispositionen zu verstehen, die das Verhalten eines Menschen langfristig synergetisch-synästhetisch überformen. Die Desintegration der Säfte kann auf zwei Wegen geschehen: Einmal dadurch, daß ein bestimmter Körpersaft quantitativ zu stark zunimmt; zum anderen dadurch, daß er sich entsprechend der ihm innewohnenden Tendenz qualitativ verändert. So hat z. B. das Blut die ihm innewohnende Tendenz, sich immer weiter zu verflüssigen und sich dadurch zu vermehren, und muß deshalb 593 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die frohe Botschaft des Philosophen

durch Aderlässe dem Körper in der entsprechenden Menge entzogen werden. Die Tendenz des Schleims (phlegma) hingegen geht dahin, immer zäher zu werden, also zu »verschlammen«, und muß deshalb durch Brechmittel bekämpft werden. Und da die gelbe Galle zum immer Gasförmigeren tendiert, die schwarze Galle hingegen zum Verkochen und Verbacken und beide Gallensäfte dadurch einerseits zu Blähungen, andererseits zu Verstopfungen führen, müssen ihnen Klistiere aller Art entgegenwirken. Die diagnostische Kunst der Humoralmedizin bestand deshalb darin, die akute Verteilung der Säfte und deren pathologische Veränderung exakt zu erkennen, wobei sowohl die Jahreszeit als auch das jeweilige Alter des Patienten zu berücksichtigen waren; und die Therapie zielte darauf, die optimale, dem Temperament des Patienten und seinem Alter angemessene Verteilung der Säfte durch entsprechende Maßnahmen wieder herzustellen. Selbstverständlich gab es im Rahmen dieser Humoralmedizin auch die verschiedensten Schulen, auf die wir nicht weiter eingehen müssen, aber die Humoralmedizin als ganze galt unangefochten von der Antike bis ins 18. Jahrhundert. 5 Wenn nun jemand jemanden zum Lachen brachte, durch welche Mittel auch immer, z. B. der Autor den Leser, der Hofnarr den Fürsten oder auch der Arzt seinen Patienten, so griff er, gemäß dieser Theorie, direkt in die aktuelle Verteilung der Körpersäfte ein, indem er die sanguinischen Affekte steigerte und dadurch das Blut vermehrte, dadurch wiederum die Erzeugung von Lebensgeistern (spiritus) förderte, zugleich damit aber auch die beiden schädlichen Gallensäfte und den Schleim verminderte, und durch all diese Maßnahmen veränderte er das Grundbefinden des Patienten auf eine heilsame, zugleich aber ebenso angenehme 6 Weise. Daß das humoralpathologische Argumentationsmodell sich so lange gehalten hat, liegt wohl auch daran, daß eine derartige Therapie den Menschen nicht in »Körper«, »Geist« und »Seele« trennte, sondern immer alle drei zugleich anzusprechen und zu heilen suchte. Und daß man diese Art von Therapie so bereitwillig aufgegriffen hat, lag wohl auch daran, daß es in den »salomonischen« Weisheitslehren des Alten Testamentes einige Verse gibt, die verblüffend genau dazu paßten und eine dem Lachen freundlich gesonnene christliche Ar594 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die ars ridendi als medizinisch-therapeutisches Programm

gumentationstradition begründen konnten. So lesen wir z. B. in den Sprüchen Salomos: »Ein fröhlich Herz macht das Leben lustig; aber ein betrübter Mut vertrocknet das Gebein.« (17,22) 7

Ein Sinnspruch dieser Art ließ sich, humoralpathologisch gesehen, problemlos als physiologisch begründete Warnung vor der Melancholie verstehen, da die Melancholie ja auf ein Übermaß an schwarzer Galle zurückgeht, der man eine austrocknende und auskühlende Wirkung zuschrieb und die man durch warme und feuchte Säfte aller Art und dadurch wiederum durch Bildung von Blut zu bekämpfen hatte. Das aber heißt auch: durch Lachen. Vor diesem Hintergrund ist es auch plausibel, daß man die Erregung von Gelächter zu institutionalisieren suchte, damit man immer mit dem nötigen Maß an Lachen versorgt war, und so hielten sich denn alle, die sich dies leisten konnten, einen dienstbaren Geist, der die Aufgabe hatte, das allfällig nötige heilsame Lachen zu erregen. An den Höfen fiel diese Aufgabe den Hofnarren zu; aber auch in Patrizierhäusern und sogar in Klöstern hielt man sich Narren, damit man auch ja mit seiner täglichen Ration an Gelächter versorgt war, ganz so wie wir heutzutage unsere Pillen einnehmen, um z. B. den Blutdruck oder die Funktion der Schilddrüse zu regulieren. Alle, die sich keinen Hofnarren leisten konnten oder leisten wollten, sahen sich genötigt, dessen geloiastische Funktion selbst zu übernehmen, und deshalb findet sich in den medizinischen Traktaten der Zeit um 1500 immer auch der Rat, kräftig zu scherzen und zu lachen, sobald sich die Gelegenheit bietet und dabei selbst auch mal den Narren zu spielen, wenn man mit Gleichgesinnten in einer Runde sitzt und sich vor den anderen nicht genieren muß. Vorbild für eine solche mensa phiosophica waren aus der griechischen Antike die Symposien, wie sie z. B. Platon oder Xenophon beschrieben haben, aus der römischen Antike die Anakreontik des Horaz und aus der frühchristlichen Zeit die heiter scherzende Runde um den Wüstenvater Antonius. So heißt es z. B. in der History Peter Lewen des Achilles J. Widmann von 1557 ganz im Sinne von Ciceros Mahnung »si tempore fit« und der Horazischen Maxime »dulce est desipere in loco«:

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Die frohe Botschaft des Philosophen

»Sei unweis und thöricht, wenn do die zeit das fordert und die sach, daß man die menschen frölich mach! Wenn der stet ernstlich fantasiert, ein schwer geblüt es ihm gebirt (gebietet), das bringt denn groß flüß und krankheit. Dagegen aber, wo mit freud Der müd mensch sich thut ergetzn Und sein trauren zu rück setzn Dieselben schlecht (schlägt) auß seinem sinn. Ein leicht gemüt gebirt (gebietet) das ihm. Darumb all arzet rathen, so man an dem tisch hab braten sonst ander speis und guten wein so soll das mal gewürzet sein mit lecherlich bossen, schimpfred (Scherzen). Denn wo das mal solch würz nit hett, so wirt es als für nichts geacht.« 8

Allerdings wird in den medizinischen Traktaten der Renaissance immer wieder mit Nachdruck darauf verwiesen, daß es gilt, bei derartigen Scherz- und Lachtherapien das rechte Maß einzuhalten, weil es, genau wie beim Gift, auch hier auf die exakte Dosierung ankomme: »Nach der Meinung der Ärzte kann demnach auch hier nur eine gemäßigte Freude (moderatum gaudium) als heilsam gelten. Auch hier ist jede Maßüberschreitung gefährlich und schädlich. In maßlosem Überschwang konnte sogar der Affekt der Freude zu schweren gesundheitlichen Schäden, ja zum Tod führen, da in diesem Fall das Herz in zu kurzer Zeit eine zu große Menge von spiritus verliert, die nicht so rasch ersetzt werden konnten. Schon die allgemeine Erfahrung lehre – so argumentierte man –, daß auf eine extreme Ausgelassenheit, auf Lachanfälle, Freudentaumel und ähnliche ›überhitzte‹ Stimmungen oft Erschöpfung und melancholische Anwandlungen folgten. Das anzustrebende Ideal war eine tranquilitas animi mit leichter Hinneigung zum Sanguinischen, eine Grundstimmung von gemäßigter, stiller Freude.« 9

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Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung: Die Geloiasten-Palette

Daß die Renaissance-Ärzte vor affektiven Exzessen glaubten warnen zu müssen, ist wohl nicht nur stoisches und aristotelisches Erbe, sondern liegt wohl auch daran, daß sie den kathartischen Effekt von Lachen und Weinen zwar sahen, Katharsis aber ganz im Sinne der Humoralpathologie allein als purgatives und nicht als uroborisches Geschehen verstanden – auch nicht anders verstehen konnten –, und deshalb auch nicht die teleologische Struktur von Lachanfällen und Weinkrämpfen sahen, wobei jemand zwar bis zur Erschöpfung lachen oder weinen, sich dann aber auch wieder fassen und aufrichten kann, weil kathartische Affekte dieser Art sich selbst verzehren. Daß der sprichwörtliche Lachmuffel Cato sich zu Tode gelacht haben soll, wird zwar immer wieder kolportiert und gilt sogar als das schlagende Beispiel für die Ernsthaftigkeit dieser Sorge vor exzessiven Affekten, ist aber doch wohl nur eines der vielen unausrottbaren Ammenmärchen, von denen die Kulturgeschichte voll ist. Genau hier, in der Blindheit vor der uroborischen Struktur kathartischer Affekte, liegt die Grenze der humoralpathologisch orientierten Gelotologie, die die Renaissance-Ärzte nicht zu überschreiten vermochten, und diese Denkhemmung hat bewirkt, daß sie in der Einschätzung des Lachens nicht nur nicht über Aristoteles hinaus gelangten, sondern sogar hinter ihm zurückgeblieben sind. Ob dies auch für den Traité du Ris (1579) von Laurent Joubert gilt, der ersten naturwissenschaftlich orientierten Abhandlung über das Lachen überhaupt, die ganz aus dem Geiste des Aristoteles verfaßt ist, wird sich zeigen. 2.8.3 Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung: Die Geloiasten-Palette Ich habe bisher das Wortfeld »Narr«, »Narrentum« und »Narrenrolle« verwendet, ohne es durch entsprechende Prädikatorenregeln eigens terminologisch genauer zu klären, und auf diese Weise z. B. von philosophischem Narrentum in sokratisch-kynischer Tradition gesprochen, das als kulturell ritualisierte Form der Selbstbehauptung das Auslachen-von-unten propagierte und das im 597 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die frohe Botschaft des Philosophen

Vollzug in ein Auslachen-von-oben umschlägt, in dem sich der Lachende über das verlachte Objekt erhebt. Dieser scheinbar selbstverständliche und naive Gebrauch des hier in Rede stehenden Wortfeldes ist jetzt nicht mehr möglich, weil gegen Ende des Mittelalters der Begriff des Narren durch die Institution des Hofnarren, durch das Narrenschiff Sebastian Brants, durch Thomas Murners Pamphlet gegen den »lutherischen Narren« und durch das Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam eine machtvolle Blüte erlebte, sich dadurch entsprechend ausweitete und durch die partielle Überlagerung mit dem Begriff des Toren mehrdeutig wurde. Um genauer argumentieren zu können, ist es also nötig, hier einige terminologische Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Bedeutungen des Wortes »Narr« zu treffen, und außerdem ist es nötig, einen Oberbegriff zu finden, der all diese höchst unterschiedlichen Gestalten, Typen und Rollen zusammenfaßt. Diesen überlieferten und allseits akzeptierten Oberbegriff für alle, die in irgendeiner Form andere zum Lachen bringen, gibt es aber leider nicht, weshalb er entweder eigens erfunden und dann explizit zum Terminus erhoben werden muß, oder man verwendet ein schon bestehendes Wort, das sich für diesen Zweck eignet, und führt dieses in aller Form in die Wissenschaftssprache ein. Ein solcher Ausdruck findet sich glücklicherweise in dem oben zitierten Lehrbrief Oekolampads über das Osterlachen, der sich für unseren Zweck deshalb anbietet, weil er allgemein genug ist, um die ganze Bandbreite dessen abzudecken, was hier benannt werden soll, denn Oekolampad bezeichnet dort einen Prediger, der seine Gemeinde durch seine Osterpredigt zum Lachen bringt, etwas abfällig als »geloiastes noster« (S. 48), d. h. als »unseren Zum-Lachen-Bringer« oder »unseren Gelächter-Erreger«. Diesen Ausdruck »Geloiast« wollen wir nun von seinem polemisch-abfälligen Unterton befreien, den er bei Oekolampad hat, und ihn ganz wertneutral als den gesuchten Oberbegriff für alle verwenden, die in irgendeiner Form andere zum Lachen bringen, und zwar • unabhängig davon, ob sie dies mit Absicht und aus einem bestimmten Wirkungskalkül heraus tun oder ob ihnen dieser Heiterkeitserfolg unabsichtlich unterläuft; 598 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung: Die Geloiasten-Palette

• unabhängig davon, ob sie dabei selbst das Lachopfer sind, das belacht oder verlacht wird oder ob sie dieses Gelächter auf Kosten eines Dritten provozieren und organisieren; • unabhängig davon, ob sie dies als sie selbst tun oder in einer eigens zu diesem Zweck eingenommenen und als solche durch Kostüm und Maske etc. deutlich gekennzeichneten und außerdem auch noch vom Umfeld allgemein akzeptierten Rolle; • unabhängig davon, ob sie selbst dabei ernst bleiben oder mitlachen; • und schließlich auch unabhängig davon, welche Art von Gelächter bei dieser Geloiastik entsteht. • Und das Lachen, das durch all dies als Echo des Komischen und Lächerlichen angeschlagen wird, soll geloiastisches Lachen heißen. Durch die Art und Weise, wie diese verschiedenen Kriterien kombiniert werden, lassen sich nun bestimmte Typen auf der Geloiasten-Palette unterscheiden und terminologisch bestimmen. Die erste und wichtigste Unterscheidung, die wir hier treffen müssen, ist die zwischen dem Narren und dem Toren. Der Tor, den wir auch als Simplex/Stultus/Depp/Doldi etc. bezeichnen könnten, reizt zum Lachen, wenn er in aller Unschuld, Naivität und Einfalt dummes Zeug daherredet, weil er es einfach nicht besser weiß. Somit gleicht er dem Kind, das ebenfalls in aller Unschuld, Naivität und Einfalt, aber auch in vollem Ernst seine Urteile über Gott und die Welt zum besten gibt. Urteile dieser Art wirken auf Erwachsene meist mehr oder weniger komisch und werden auf die heiterste Art belacht. Das Musterbeispiel und literarische Urbild eines solchen kindlichen Toren ist der homerische Margites, der Dorfdepp der griechischen Antike, der zu dämlich ist, um bis drei zu zählen, aber mit dem treuherzigsten Augenaufschlag und im tiefsten Ernst die absurdesten Urteile von sich gibt. Sein Gegenstück in der deutschen literarischen Tradition wäre z. B. der Simplizissimus von Grimmelshausen oder als Gemeinwesen die Stadt Schilda. Da man solchen Gestalten, so dämlich sie auch sein mögen, nicht ernsthaft böse sein kann, werden sie auch nicht ob ihrer Lächerlichkeit verlacht, sondern ihre Äußerungen werden ob ihrer Komik belacht. Wenn ein dreijähriger Bub ein Handtuch als 599 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»knusprig« bezeichnet, weil das Wasser, mit dem es gewaschen worden ist, extrem kalkhaltig ist, oder wenn ein Schüler in einem Aufsatz schreibt »Als die Menschen aufhörten, Affen zu sein, wurden sie Ägypter«, so sind derartige Äußerungen eben nur komisch, nicht aber lächerlich. Kommt zu dieser Naivität jedoch ambitionierte Eitelkeit und Dünkel hinzu, so werden aus Schildbürgern Abderiten und aus dem Toren wird ein Narr, eine Gestalt, der man die Selbsterkenntnis zwar ansinnen darf, die diese Selbsterkenntnis jedoch aus lauter Dünkel und Eitelkeit einfach nicht erbringen will. Im Mittelalter gab es für diese Art von Selbstverkennung die Wendung, daß »die Toren sich zum Narren machen« 10. Der Narr ist also im Gegensatz zum naiven Toren charakterisiert durch eitle Selbstverkennung und wirkt dadurch auch nicht wie dieser komisch, sondern lächerlich. Deshalb wird er auch nicht wie der Tor heiter belacht, sondern ärgerlich verlacht. Mit einem Wort: Der Narr ist der ambitionierte Tor ohne jede Distanz zum eigenen Tun. Da beide, der Narr wie der Tor, nicht primär Gelächter erregen wollen, sondern ernst genommen werden wollen, wirkt der Tor gerade dadurch noch komischer, der Narr hingegen noch ambitionierter, noch ärgerlicher und noch lächerlicher. Narren dieser Art stellen das Personal in Sebastian Brants Narrenschiff 11 dar, und in der Commedia dell’arte tauchen sie als Pantalone, Dottore Graziano und als der Capitano auf, alle drei Blödiane von erlesener Dämlichkeit, die geradezu platzen vor lauter Dünkel und Eitelkeit. Allerdings gibt es auch hier gewissen Unterschiede, denn für die ganz weltlich orientierte Commedia dell’arte sind die lachhaften Narren Pantalone, Dottore Graziano und der Capitano in all ihrer Dämlichkeit und Eitelkeit, weil sie eben theatrale Rollengestalten sind, lächerlich und komisch zugleich, für den spätmittelalterlichen Bußprediger Sebastian Brant hingegen sind die Narren seines Narrenschiffes ganz und gar nicht komisch, sondern erregen eher seinen heiligen Zorn, weil deren Narrheit, christlich gesprochen, daraus resultiert, daß sie vor lauter Hoffart und Selbstverkennung sich vor der Gnade Gottes und den Gnadenmitteln der Kirche verschließen und in all ihrer eitlen Sündhaftigkeit verbleiben wollen 12, und dies sogar angesichts des unmittelbar be600 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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vorstehenden Weltendes, denn die thematisch zentralen Kapitel 104 und 105 handeln »Vom endkrist« (S. 470 ff.). Mit anderen Worten: Brants gottverfluchte und gottverlassene Sündernarren fahren auf ihrem Schiff blindlings und verblendet vor Eitelkeit und Hoffart und ohne jede zeitliche, räumliche und moralische Orientierung in ihren Untergang, und deshalb heißt es in Kapitel 108 »Das schluraffen schiff«, das Narrenschiff fahre »On sorg / vernunfft / wißheyt / vnd synn. (…) Dann keyner sorgt / luogt / merckt vnd wart Vff Tablemaryn (Seekarte) / vnd den compaß Oder den vßlouff des stundglaß Noch mynder des gestyrnes zwang Wo hyn bootes / ursa 13 gang.« (S. 492 f.)

Neben den Sündernarren Brants, die ihre Torheit selbstgerecht und verblendet ausagieren, gibt es auch noch den Typ des Narren, der als edler, idealistischer Tor aber nicht wie der selbstgerechte ambitionierte Tor lächerlich wirkt und deshalb verdient, verlacht zu werden, sondern der durch seine wehrlose Weltfremdheit komisch wirkt und deshalb bei aller Komik eher Mitleid als Spott und sogar einen Hauch von Respekt verdient. Ich denke hier z. B. an den Ritter von der traurig-komischen Gestalt, den weltfremden verspäteten Ritter Don Quijote mit dem anachronistischen Helfer-Syndrom. Wenn Marx und die Marxisten, wie wir gesehen haben, diesen Typ von Narren als lächerliche und verlachenswürdige Gestalt verstehen, so haben sie sie gründlich mißverstanden, weil sie den Anachronismus dieses edlen Narren als Bekundung von eitler Anmaßung verstehen und nicht als weltfremde Torheit, denn dieser Don Quijote will in seinem Ritterlichkeitswahn ja nicht herrschen, sondern helfen, und wenn er Ansprüche stellt, so stellt er sie nicht an die anderen, sondern an sich selbst. So gesehen berührt sich dieser Typ des edlen Narren resp. edlen Toren mit dem Typ des weltfremden und wehrlosen Narren in Christo, wie wir ihm in Dostojewskis Fürsten Myschkin oder in Gerhart Hauptmanns Emanuel Quint begegnen. Die literarisch-mythologischen Wurzeln dieses Narren- bzw. Toren-Typs liegen in den Lehrbriefen des Apostels Paulus, wo dieser das überlieferte Ideal stoischsalomonischer Weisheit geradezu auf den Kopf stellt. Hieß es in 601 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den Sprüchen Salomos über die »weltliche« eitle Narrheit ganz wie bei Sebastian Brant: »Der Narren Torheit ist eitel Trug« (14,8) bzw. »Die Narren werden an ihrer Narrheit sterben« (10,21),

so heißt es bei Paulus im ersten Brief an die Korinther: »Welcher sich unter euch dünkt, weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein. Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott.« (3,18 f.)

Wird dieser Typ des edlen Narren über den christlichen Ritter Don Quijote hinaus säkularisiert, so haben wir einen weiteren Typ von Narr vor uns, den zerstreuten Gelehrten von der Art des Thales in der Zisterne 14 oder den weltfremden Künstler, wie ihn Baudelaire in seinem berühmten Albatros-Gedicht beschworen hat, wo dieser »Fürst der Wolken« zum Gespött der Matrosen wird, sobald er auf einem Schiff gelandet ist: »Le poëte est semblable au prince des nuées Qui hante la tempête et se rit de l’archer; Exilé sur le sol au milieu de huées, Ses ailes de géant l’empêchent de marcher.« 15

Wird über Narren und Toren dieser eben beschriebenen Art gelacht, so ist das Gelächter nicht das Ergebnis eines wirkungsästhetischen Kalküls, sondern ergibt sich »wie von selbst«. Wird Gelächter aber gewollt und geplant, so haben wir zwei weitere Typen von Geloiasten vor uns: den Witzling, Scherzbold, Witzbold, Eutrapelisten oder homo facetus und dessen Steigerung, der leider ebenfalls als »Narr« bezeichnet wird, wodurch sich wiederum einige terminologische Unschärfen und Mißverständnisse ergeben. Ich meine damit den Narren, der seine Witze in einer eigens eingenommenen sowie durch Kostüm, Maske und bestimmte Requisiten eigens gekennzeichneten Rolle vorbringt und als solcher auch von seinem Publikum erkannt und akzeptiert wird. Entscheidend ist hier also die vorgegebene und allseits akzeptierte Zuteilung bestimmter Rollen, die u. a. auch den Zweck hat, dem Geloiasten die für seine Rolle nötige Handlungsfreiheit, also seine sog. »Narrenfreiheit« zu sichern und ihn vor Repressalien zu schützen. Das bekannteste Muster dieses Typs von Narr ist der Hofnarr. Vom einfachen Scherzbold, der seine Späße als er selbst vor602 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologisch-terminologische Zwischenbemerkung: Die Geloiasten-Palette

bringt, unterscheidet sich diese Art von Narr dadurch, daß für den normalen Witzling der Nomos der eutrapelistischen Lachkultur gilt, demzufolge der Verspottete über den Spott auf seine Kosten weder Zorn noch Scham und daß auch der Spottende selbst über seinen Spott weder Scham noch Reue empfinden darf, denn der Narr in seiner Rolle darf alles, wenn diese Rolle allgemein akzeptiert ist, da seine dadurch mit zugesicherte Narrenfreiheit ihn schützt. Und weil er kraft seines Amtes alles darf, darf das Lachen, das er durch seine Späße erregt, auch jede Art von Gelächter sein. Somit ergeben sich also zwei Typen von Geloiasten, die man beide als »Narr« zu bezeichnen pflegt: Da ist zum einen der Narr als lächerlich eitler, selbstgerechter und ambitionierter Tor, der als er selbst unfreiwillig lächerlich wirkt und sein Verlachtwerden provoziert. Ihn bezeichne ich im folgenden als »Narr(NT)«. Daneben gibt es den Narren als ambitionierten Witzbold, der in einem genau festgelegten, allgemein akzeptierten Rollenfach und nach Maßgabe eines Wirkungskalküls die Komik und Lächerlichkeit seiner Umwelt enthüllt und in dieser Rolle alles darf. Ihn bezeichne ich im folgenden als »Narr(NR)«. Auf der Ebene der Rollenfächer ergeben sich nun weitere geloiastische Varianten: Wird der Narr(NT), also der ambitionierte eitle Tor, zu einer eignen Rolle erhoben, so entsteht der Typ des »philosophischen Narren(NTR)«, der sich so dumm stellt, wie der Narr(NT) als eitler Tor wirklich ist. Dieser Typ von Narr, den wir aus der sokratisch-kynischen Tradition kennen, hat im Selbstlob der Torheit durch Erasmus von Rotterdam seine paradigmatische literarische Gestalt und im Hofnarren von der Art Gonellas seinen Prototyp gefunden. Eine Variante des philosophischen Narrentums ist das philologische Narrentum(NTR), wenn ein Autor in eine Rolle schlüpft und in dieser Rolle genauso ambitioniert dämlich daherredet wie der Dottore Graziano der Commedia dell’arte sein gelehrtes pseudo-lateinisches Kauderwelsch zelebriert, der aber nicht ernst genommen werden will wie der Narr(NT) Dottore Graziano, sondern seinen Lesern und natürlich auch sich selbst einen Spaß bereiten möchte und der, um verschiedene Sprachen auf diese komisch-dämliche Art zu mischen, diese besonders gut beherrschen 603 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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muß. Die Muster dieses philologischen Narrentums reichen von der makkaronischen Poesie des Teofilo Folengo über das Kauderwelsch des »Deutsch-Franzosen« Johann Christian Trömer bis herauf zum zeitgenössischen Blödeln 16 in Lübke-Englisch. Da dieses philologische Narrentum sich dazu anbietet, in der Maske eines eitlen Dummkopfs denjenigen, die man für eitle Dummköpfe hält, einen Spiegel vorzuhalten und sie auf diese Weise anzugreifen, zu verhöhnen und dem Gelächter preiszugeben, ist Rollenprosa dieser Art immer ein außerordentlich beliebtes literarisches Genre gewesen, das von den Dunkelmännerbriefen der Renaissance bis zu den Filzer-Briefen Ludwig Thomas eifrig gepflegt und gern gelesen worden ist. Wird der naive Tor als der universelle Versager und Nichtskönner zum Rollenfach erhoben, so entsteht als ein weiterer Geloiasten-Typ der Clown, der aber, gerade weil er zum Rollenfach erhoben und durch Kostüm und Maske als solcher genau gekennzeichnet ist, ein extrem reflektiertes Selbstbewußtsein erhält, das der einfache Tor nicht hat und auch nicht haben kann, und der deshalb ganz im Gegensatz zum naiven Toren an seinem generellen Unvermögen leidet und dieses Leiden auch in allem, was er tut und sagt, deutlich bekundet. Dieser Geloiasten-Typ des philosophischen Clowns ist sicher der tiefsinnigste und deshalb faszinierendste Geloiasten-Typ, den wir kennen, denn der melancholische Clown trägt auf seinen Schultern ähnlich wie Atlas die Last der Welt, ist aber, anders als der Titan Atlas, unter dieser Last der Welt so zusammengedrückt worden, daß ihm Kleider und Schuhe viel zu groß geworden sind. Kurz: Der philosophische Clown ist ein deformierter verhutzelter Titan, das komische Lachopfer par excellence, das man immer zugleich belachen und bemitleiden möchte. Christen würden vielleicht sagen, der melancholische Clown sei das tragikomische Gegenstück zu Christus, der ja ebenfalls die Last der Welt trägt, diese aber auch überwindet, was der Clown natürlich nicht tut, sodaß er weiterhin an der Welt und an sich selbst leiden muß und damit den Prototyp des ewig und tragisch Unerlösten darstellt, obwohl er durch seine Komik seinem Publikum das erlösende Lachen bereitet. Mit diesen Unterscheidungen verschiedener Geloiasten-Typen 604 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Unser Lachen« als Ziel der ars iocandi et ridendi

hätten wir die terminologischen Grundlagen geschaffen, auf denen die folgende Argumentation aufbauen soll, denn nun geht es darum, die oben benannten Programme der ars iocandi et ridendi und deren Ziele einzeln darzustellen. 2.8.4 »Unser Lachen« als Ziel der ars iocandi et ridendi Cicero warnt im zweiten Buch seiner Rhetorik davor, durch Scherze aller Art ein geloiastisches Lachen zu erregen, »das nicht das unsere ist« (quod non est nostrum)(S. 368). Aber welches geloiastische Lachen ist »das unsere«? Und vor allem: Wer ist »wir«? Wie wir gesehen haben, war für Aristoteles nicht nur die Fähigkeit zum Lachen ein proprium hominis, sondern auch seine Fähigkeit, gesellschaftliche Strukturen auszubilden. Und da Aristoteles die Kultivierung derartiger für den Menschen konstitutiver Fähigkeiten als Tugend verstand, galt für ihn die Eutrapelie, das Scherzen und Lachen im geselligen Rahmen, als besonders wichtige Tugend, allerdings nur dann, wenn dies unter bestimmten Bedingungen und innerhalb bestimmter Grenzen geschieht. Die wichtigste dieser Bedingungen besteht darin, das decorum zu wahren, also das zu tun und zu lassen, was sich in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen von selbst versteht und deshalb nicht mehr eigens verordnet werden muß. Ich habe dieses decorum, sofern es sich auf das Scherzen und Lachen bezieht, oben als den Nomos der eutrapelistischen Lachkultur bezeichnet und dahingehend bestimmt, daß Scherze auf Kosten anderer so beschaffen sein müssen, daß das jeweilige Lachopfer weder Zorn noch Scham empfinden und der Geloiast selbst sich seiner Scherze nicht genieren darf. Da die gesellschaftliche Voraussetzung dieser Lachkultur ein möglichst homogener Kreis ist, innerhalb dessen auf Augenhöhe gescherzt und gelacht werden kann, ist die strikte Orientierung an diesem Nomos der eutrapelistischen Lachkultur von ganz eminenter Bedeutung, weil die Verletzung dieses Gebots die homogene Runde sofort sprengen müßte. »Unser Lachen« ist so gesehen also immer das Lachen einer Lach-Gemeinschaft. Alle Witzeleien, die das höhnischhämische Auslachen-von-oben provozieren, scheiden damit für die 605 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die frohe Botschaft des Philosophen

Lachkultur einer Lach-Gemeinschaft aus und bilden die Lachpraxis einer Lach-Meute, wenn jemand z. B. zum Lach-Opfer einer ganzen Gruppe wird. »Unser Lachen« im Sinne Ciceros ist aber nicht nur gruppendynamisch charakterisiert, sondern auch im Hinblick auf das Belachbare, denn das Gelächter über analerotische Zoten ist für Cicero eindeutig nicht »unser Lachen«, also das Lachen der gebildeten Oberschicht, sondern allenfalls das Lachen jenseits der Peinlichkeitsschranken dieser Oberschicht, wie es durch die Schwänke der Volksbücher organisiert wird. Soll die analerotische Thematik dieser Schwänke für »unser Lachen« verwendbar gemacht werden, muß dies durch bestimmte ästhetische Techniken geschehen, deren Verwendung und deren Verständnis jedoch wieder nur dieser gebildeten Oberschicht möglich ist. Ein Beispiel dafür ist die makkaronische Poesie, auf die wir weiter unten zu sprechen kommen. Der italienische Humanist Gioviano Pontano (1426–1503), ein Erneuerer der klassischen Rhetorik, formuliert dieses Prinzip in seiner damals wegweisenden Abhandlung De sermone von 1499, in der er in enger Anlehnung an Aristoteles und Cicero das Ideal des scherzgewandten homo facetus und der eutrapelia resp. urbanitas wieder aufleben läßt, wie folgt: »Mit Scherz und anmuthigen Aussprüchen sucht der urbane Mann nach der Arbeit Erholung; mit Salz würzt er seine Rede und mischt Liebenswürdigkeit hinzu; er wählt seine Worte passend, treffend, knapp; er verbindet damit, wo es nöthig ist, Miene und Gesten, wie sie beim Erzählen von Geschichten, von lustigen, scherzhaften Dingen am Platze sind; so beschwichtigt er die Sorgen, hindert die Mühen; aber immer hält er die Grenzen des Anstandes ein, wie sie ihm seine Person, sein Amt, seine Stellung vorschreiben, und ebenso das ästhetische Maß, das ihn von der Breite in Wort und Scherz zurückhält. Ueberhaupt sieht er sehr genau darauf, daß er nicht etwa, während er Andere zum Lachen anregt, selbst Gegenstand der Lächerlichkeit werde, und besser für die Gasse, als für einen Zuhörerkreis angesehener, edler Männer zu passen scheine.« 17

Damit dürfte klar sein, wer sich hinter diesem ominösen »wir« Ciceros verbirgt: eine im Hinblick auf Bildung, Besitz und Rang homogene Gruppe, die sich als die würdige Elite der jeweiligen 606 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Unser Lachen« als Ziel der ars iocandi et ridendi

Gesellschaft versteht und sich zu einer Lachgemeinschaft zusammenschließt. Zur Zeit Pontanos hatte sich diese Schicht an den Renaissance-Höfen Italiens eben erst gebildet, und die Höfe werden auch für die nächsten Jahrhunderte der gesellschaftliche Mittelpunkt dieser Schicht bleiben. Nach dem Ende der absolutistischen Epoche aber wird sich um 1700 abseits der Höfe eine neue Schicht bilden, die sich ebenfalls als gesellschaftliche Elite versteht und in der das von Aristoteles, Cicero und Pontano entworfene lachsoziologische Modell aufs neue als Lachgemeinschaft ausagiert wird. Diese Schicht besteht in den französischen Salons und den englischen Landhäusern der Gentry zunächst aus Adel und Bürgertum, später in den Tischgesellschaften und in den damals neu entstandenen Clubs nur noch aus dem Bürgertum. Was bei diesem lachsoziologischen Modell aber erhalten bleibt und erhalten bleiben muß, ist die Homogenität derer, die diese Lachgemeinschaften bilden, damit sich alle Mitglieder auch auf Augenhöhe begegnen können. Zerbricht diese Homogenität, wie dies z. B. durch die Hierarchisierung der Hofgesellschaft an den absolutistischen Höfen geschehen ist, sodaß die Höflinge sich nicht mehr auf Augenhöhe begegnen konnten, so zerbricht auch dieses lachsoziologische Modell und »unser Lachen« kann nicht mehr gelacht werden. Paradigmatisch vorweggenommen wurde diese nach-absolutistische Realisierung einer eutrapelistischen Runde schon bei Erasmus von Rotterdam, der in seinem kleinen Werk Convivium fabulosum neun lachbereite Herren mit sprechenden Namen wie Eutrapelos, Gelasinus, Philogelos, Euglottus etc. zu einem heiteren Bankett versammelt, das horazische Prinzip desipere in loco ausagieren und »unser Lachen« lachen läßt, und damit das Geselligkeitsmodell einer neuzeitlichen mensa philosophica geschaffen hat, an dem sich auch noch Kant orientierte. Neben diesen ethisch-moralischen und soziologischen Kriterien impliziert der Nomos der eutrapelistischen Lachkultur auch noch ästhetisch-poietische Kriterien zur formalen und inhaltlichen Beschaffenheit der Scherzrede selbst, die schon von Aristoteles und in seinem Gefolge von Cicero und Quintilian ausführlich dargestellt worden sind und bis ins 18. Jahrhundert unangefochten Geltung hatten. Sie laufen im wesentlichen darauf hinaus, die komischen 607 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Möglichkeiten der Sprache auszureizen, so weit dies irgend vertretbar ist, keine Zoten und Gotteslästerungen zu erzählen, keine Grimassen zu schneiden, kurz: all das zu vermeiden, was ein Possenreißer anstellen mag, um auf der Gasse einen billigen Lacherfolg zu erzielen, was sich aber »bei uns« und »für uns« nicht schickt. All das kann man auch noch in Georg Friedrich Meiers Gedancken von Schertzen von 1744 nachlesen, mit denen er eine Form heiter aufgeklärter Geselligkeit befördern wollte. Worin all diese sprachlichen Möglichkeiten bestehen, ließe sich aus den rhetorischen Lehrbüchern von Aristoteles, Cicero und Quintilian durch ausführliche Zitate leicht aufzeigen. Aber all dies können wir uns sparen, da Umberto Eco uns diese Arbeit abgenommen hat, denn Eco faßt all diese rhetorischen Kunstgriffe geschickt zusammen und gibt sie als Inhalt des Komödien-Buches der aristotelischen Poetik aus. Laut Eco heißt es bei Aristoteles: »Dann werden wir untersuchen, wie und wodurch die Komödie zum Lachen reizt, nämlich durch die dargestellte Geschichte und durch die Redeweise. Wir werden zeigen, wie das Lächerliche der Geschichte entsteht aus der Angleichung des Besseren an das Schlechtere und umgekehrt, aus der Überraschung durch Täuschung, aus dem Unmöglichen und aus der Verletzung der Naturgesetze, aus dem Belanglosen und aus dem Widersinnigen, aus der Herabsetzung der Personen, aus dem Gebrauch der komischen und vulgären Pantomime, aus der Disharmonie, aus dem Rückgriff auf die weniger edlen Dinge. Anschließend werden wir darlegen, wie das Lächerliche der Redeweise entsteht aus den Mißverständnissen durch ähnliche Wörter für verschiedene Dinge und verschiedene Wörter für ähnliche Dinge, aus der Weitschweifigkeit und aus der Wiederholung, aus Wortspielen, aus Verkleinerungen, Aussprachefehlern und Barbarismen …« (S. 595)

Wählt jemand all diese Deformationen korrekter Rede bewußt und gezielt als Stilmittel komischer Redeweise und als Rollenprosa, so entsteht das »Affenspiel« 18 philologischen Narrentums, die gespreizte Rede in der Rolle des ambitionierten eitlen Toren im Stil des Dottore Graziano der Commedia dell’arte. Treibt man das Stilmittel der Barbarismen so weit, daß man verschiedene Sprachen 608 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Unser Lachen« als Ziel der ars iocandi et ridendi

mischt und sich dabei so stellt, als ob man keine davon richtig beherrsche, was man aber nur kann, wenn man alle sehr gut beherrscht, so entsteht ebenfalls eine Redeweise von umwerfender Komik, allerdings nur für den Zuhörer, der die scheinbar falsch verwendeten Sprachen genauso gut beherrscht wie der Komiker selbst. All dies aber setzt einen bestimmten und relativ hohen Grad an Bildung immer schon voraus, und so erscheint diese Art von Scherzkunst nach dem horazischen Prinzip desipere in loco sofort als eine Form explizit elitärer Lachkultur für heitere Weise, also für Leute, die es sich aufgrund ihrer Bildung leisten können, sich auch mal so richtig blöd zu stellen und in dieser Rolle als Narren(NTR) dann so zu reden, wie echte Narren(NT) immer reden, denn auch dieses Gelächter ist dann immer noch »unser Lachen«. Das jeder Art von Lachen immanente Prinzip der innigen Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, von personaler Emanzipation und personaler Regression prägt also schon die Redeweise, die das Lachen provozieren soll. Ein sehr typisches Beispiel für diese Art von philologischem Narrentum ist die makkaronische Poesie, die um 1500 in Italien entstand, sich über ganz Europa verbreitete und bis ins 19. Jahrhundert in Studentenkreisen gepflegt wurde. »Unser Lachen« im Sinne Ciceros hat aber nicht nur eine ausschließende Funktion, die alle abweist, die nicht zur aktuellen gesellschaftlichen Elite gehören und nicht über die Bildung verfügen, die dazu nötig ist, um dieses spezifische Lachen zu stiften, zu lachen und zu genießen, sondern auch eine einschließende Funktion, weil das Ziel der ars iocandi et ridendi ebenso darin besteht, für eine bestimmte Gruppe in einer bestimmten Situation in loco eine Atmosphäre entspannter Heiterkeit zu erzeugen, die alle Anwesenden einhüllt und trägt und sie in eine »gehobene Stimmung« (Bollnow) versetzt. Wie dies zu geschehen hat, werden wir zu erörtern haben, wenn es gilt, das Paradox der sprezzatura darzustellen.

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2.8.5 Die ars iocandi als ästhetisch-poietisches Programm 2.8.5.1 Philologisches Narrentum: Die makkaronische Poesie Die makkaronische Poesie ist die parodistische Überbietung der Redeweise des Dottore Graziano aus der Commedia dell’arte. Damit ist makkaronische Poesie immer und prinzipiell Rede in einer eigens eingenommenen Rolle. Dieser Dottore Graziano ist der Typ des ambitionierten Narren(NT), der sich dadurch auszeichnet, daß er seine Rede mit vielen lateinischen Wendungen anreichert, einem Latein allerdings, das von Fehlern nur so strotzt. Er versucht also ein Wissen und Können vorzuzeigen, über das er gar nicht verfügt. Das pseudo-akademische Kauderwelsch, das dadurch entsteht, wirkt komisch, der Dottore hingegen wirkt durch seine eitle Anmaßung lächerlich, und deshalb wird das komische Kauderwelsch belacht, der aufgeblasene Dottore jedoch verlacht. Friedrich Wilhelm Genthe (1805–1866), der 1829 die erste größere Untersuchung19 über die makkaronische Poesie vorgelegt hat, führt diese Sprachmischung in der Art des Dottore Graziano auf »Pedanterei und Eitelkeit« (S. 10) zurück und vergleicht sie mit der Unsitte seiner eigenen Zeit, bei »mißgebildetem Adelthum« (S. 10) die eigene Rede mit französischen Wendungen aufzuputzen, »um sich vor den Andern als etwas Apartes auszunehmen« (S. 10), ganz so wie dies heute mit englischen Brocken geschieht. Diese Kritik gilt für die makkaronische Sprachmischung jedoch nicht, weshalb Genthe fortfährt: »Wie überall, so ist es auch hier die Kunst, welche solche im gemeinen Leben vorhandene Trübheit, Unlauterkeit und Verwirrung zu erfreulichen Gestaltungen umschafft, die durch bleibenden Werth zu ergötzen vermögen und so sehen wir denn, wie die Poesie auch die Sprachmengerei und Sprachvermischung zu einer der schalkhaftesten und launigsten Formen der Satire und Ironie, des Witzes und Humors zu machen gewußt hat.« (S. 10)

Als Erfinder der makkaronischen Poesie gilt Teofilo Folengo (1491–1544), ein »aus der Kutte gesprungener« italienischer Benediktiner, der um 1520 mit seinem Baldus das erste makkaronische Epos vorgelegt hat. 610 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die ars iocandi als ästhetisch-poietisches Programm

Das Prinzip des Makkaronischen besteht nun darin, in diesem gesellschaftlichen und sprachlichen Rollenspiel sowohl nach unten wie nach oben zu schielen und deshalb so zu reden, als ob man ein Bauerntölpel (italienisch: maccherone) sei, der das akademisch-lateinische Kauderwelsch des Dottore Graziano nachzumachen sucht, um damit Eindruck zu schinden und sich gesellschaftlich aufzuwerten. Der makkaronische Erzähler kopiert also einen ambitionierten Tölpel, der einen anderen noch ambitionierteren Narren kopiert, stellt dessen Welt aber trotzdem nicht aus dessen Perspektive, sondern aus seiner eigenen dörflich-ländlich-proletarischen Perspektive und dementsprechend verzerrt dar. Das Prinzip der Rollenrede wird im Makkaronischen also noch weiter gesteigert. Damit wird zugleich auch das Prinzip der sokratisch-kynischen Selbstverkleinerung weiter gesteigert, denn der humanistische Intellektuelle springt aus der eigenen elitären Schicht auf das Niveau eines Dorftrottels, um die Aufgeblasenheit der gesellschaftlichen Elite, zu der er ja selbst gehört, von dort unten her zu beleuchten und zu verlachen und sich zugleich damit wiederum über sie und sich selbst zu erheben. Somit wird auch die Distanz zu sich selbst, die allen eitlen Toren so gänzlich fehlt, in dieser Form der bewußt und gezielt eingenommenen Narren-Rolle geradezu exzessiv gesteigert und ausagiert. So gesehen ist die makkaronische Poesie ein besonders sprechendes Zeugnis für das Niveau ironischer personaler Emanzipation zur Zeit der Renaissance. Dieser Rollen- und Perspektivenwechsel, dieses ständige Irisieren der eigenen Position zwischen »ganz unten« und »ganz oben«, zwischen der Sicht »von unten auf« und der »von oben herab« wird aber auch dem Leser makkaronischer Poesie angesonnen, sofern er fähig ist, dieses wirre Sprachengemisch zu verstehen, und darüberhinaus auch willens ist, diesen ständigen Wechsel des Standpunkts und der Perspektive nachzuvollziehen. Ästhetisch gesehen ist die makkaronische Poesie eine innige Durchmischung des Derben und Obszönen mit dem Erhabenen und des Feinen mit dem Barbarischen: Derbe Stoffe werden in die Formen gekleidet, die traditionell den erhabenen Themen vorbehalten sind, erhabene Stoffe werden mit derben Worten geschildert, und so reibt sich all dies aneinander, daß es nur so knirscht. 611 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Gattungstheoretisch tendieren Dichtungen dieser Art zur Parodie, zu Satire und Travestie. Und aus diesem Grund bietet sich diese Art von Literatur auch dazu an, den politischen Gegner im Kampf der Meinungen anzugreifen, lächerlich zu machen und niederzukämpfen. Das berühmteste Beispiel dafür sind die um 1515 anonym erschienenen Dunkelmännerbriefe. Wählt die makkaronische Literatur als Form das Epos, so sind die Helden eines solchen Werks dann nicht Achill, Aeneas, Odysseus oder die Ritter der Tafelrunde, sondern ein Dorfdepp (oder gar ein Floh), dessen Abenteuer aber in einem Tonfall geschildert werden, als ob dieser Dorfdepp ein so erhabener Held sei wie Achill, Aeneas, Odysseus und König Artus zusammen, sodaß der Autor diesen Helden in einer Weise schildert, daß man sich als Leser krumm lacht, obwohl man doch vor Verehrung geradezu vergehen soll. So ist es auch im Baldus-Epos des Teofilo Folengo, das als Modell für alle folgenden makkaronischen Dichtungen diente. Dieses Epos erzählt im hohen Ton von Vergils Aeneas-Epos die Abenteuer des Dorfdeppen und Tunichtgut Baldus, der zwar aus dem Geschlecht des musterhaften Ritters Rinaldo stammt, sich in seinem Verhalten aber ganz und gar nicht ritterlich zeigt und am Ende nur knapp dem Galgen entkommt. Die erhabene Form des antiken Epos wird dadurch bedient, daß der Erzähler ganz wie Homer oder Vergil in den ersten Versen nach einem Proömium feierlich die Musen anruft und um Hilfe bittet. Die Musen thronen hier aber nicht auf dem Olymp oder auf dem Parnaß, sondern auf Bergen von Parmesan und sind selbst mit der Verfertigung von Makkaroni und Gnocchi beschäftigt, mit denen der Autor sich am liebsten gleich vollfressen möchte, bevor er sich auf das Meer der Poesie hinauswagt. Das hört sich dann folgendermaßen an: »Ad prius altarium vestrum chiamare bisognat, O Macaronaeam Musae quae funditis artem. Num passare Maris poterit mea gundola scojos, Quam recomandatam non vester ajutus habebit? Iam nec Melpomene, Clio, nec magna Thalia Nec Phoebus gratando lyram mihi carmina dictet, Qui tantos olim doctos fecere Poetas. (…)

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Grandis ibi ad scarpas Lunae montagna levatur, Quam sneisurato si quis paragonat Olimpo, Collinam potius quam montem dicat Olympum. Non hic Caucaseae rupes, non Saxa Marocchi, Non quae sulphureos spudat Mons Aetna brusores.« 20

Dann kommt der Autor endlich zur Sache, und es wird im engeren Sinn makkaronisch-kulinarisch: »Oh quantum largas bisognat habere ganassas, Si quis vult tanto ventronem pascere gnocco! Altera praeterea pastam squarzando, lavezzum Implet lasagnis, grasso scolante butyro. Altera dum nimio caldarus brontolat igne, Trat retro stizzos prestum sopiando de dentrum. Saepe foco nimio saltat brodus extra pignattam. Una probat sorbens utrum bene broda salatur, Una focum stizzat stimulans cum mantice flammas. Tandem quaeque suam tendit compire menestram Cernis quapropter centum fumare caminos, Ac centum buliunt caldaria fixa cadenis, Ergo macaronicas illic catavimus artes, Et me grossiloquum Vatem statuere sorores. Misterium facit hinc, vestrum clamemus ajutum, Ac mea pinguiferis panza est implenda lasagnis.« (S. 210)

Welche Derbheiten und Unflätigkeiten sich Folengo in dieser Maske des philologischen Narren erlaubte, geht aus einer anderen Passage des Epos hervor, in der er seinen Helden in einer langen Suada (S. 224 f.) als ambitionierten Deppen charakterisiert, die man aber auch als Travestie von Bernhard von Clairvaux’ Abhandlung über die Grade der Hochmut lesen kann und die wohl auch so gemeint ist, und dann zieht er die Bilanz: »Ambitiosus homo, nec homo, sed bestia basti est. Poltronus, sqatarus manigoldus, ladro, vilanus, Villanus dico, quia nil nisi vila vilanos Excacat ambitio sibi, quos legit, atque molestat.« (S. 225)

Und diese Bilanz krönt Folengo dann noch mit den Versen: »Verum post longos modulos, variasque volatus, Postque bravariam (videas quam turpis habetur

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Exitus) en stronzum plantat se desuper unum. Oh bellam punctam, quam nostra superbia tentat! Ambitio varios pascit, mihi credite, ventos.« (S. 226).

Das sind nun wahrlich Barbarismen, denn stronzo ist heute noch das unflätigste Schimpfwort, das man jemandem auf italienisch an den Kopf werfen kann; es bedeutet nämlich »Scheißhaufen«. Wird ein derart unflätiger Wortschatz, der das im Epos übliche decorum völlig auf den Kopf stellt, gemäß einem ästhetisch-poietischen Kalkül verwendet, so stellt sich sofort die Frage, wie man dies rechtfertigen könnte, weil wir es hier mit dem sog. »Niedrig-Komischen« zu tun haben, das im allgemeinen wohl nicht »unser Lachen« im Sinne Ciceros, sondern »bei uns« eher Peinlichkeit, Betretenheit, Entrüstung oder gar Zorn auszulösen pflegt. Hier hilft ein Blick in die Vorschule der Ästhetik, in der Jean Paul 21 in § 41 die Frage aufwirft: »Wie ist denn nun das Niedrig-Komische darzustellen ohne Gemeinheit? – Ich antworte: nur durch Verse. Der Verfasser Dieses begriff eine Zeit lang nicht, warum ihm die komische Prose der meisten Schreiber als zu niedrig und subjektiv widerlich war, indeß er den noch niedrigern Komus der Knittelverse 22 häufig gut fand. Allein wie der Kothurn des Metrums Mensch und Wort und Zuschauer in eine Welt höherer Freiheit erhebt, so giebt auch der Sokkus des komischen Versbaues dem Autor die poetische Maskenfreiheit einer kynischen Erniedrigung, welche in der Prosa gleichsam dem Menschen widerstehen würde.« (49,173)

Diese »poetische Maskenfreiheit« genießt ein Autor aber nicht nur durch den Vers, wie Jean Paul glaubt, sondern auch im »Affenspiel« der Rollenprosa, und hier sogar in weit höherem Maße, weil ein Autor sich in diesem Fall jede beliebige Maske aufsetzen kann, also auch die eines maccherone mit einem dementsprechend unflätigen Wortschatz. Ganz wie ein Hofnarr durch sein Amt wird in dieser Rolle auch ein Autor zu einem »Allesdürfer«, und das Lachen, das er damit auslöst, bleibt trotz allem immer noch »unser Lachen« im Sinne Ciceros, weil es eben trotz allem immer noch in loco gelacht wird. Folengos philologisches Narrentum scheint auf die europäischen Intellektuellen der Renaissance einen unwiderstehlichen Reiz 614 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ausgeübt zu haben, denn alsbald gab es in allen europäischen Literaturen makkaronische Dichtungen. Berühmte Beispiele in der französischen Literatur sind etwa die Glocken-Rede des Maistre Janotus de Bragmardo im Gargantua, mit der dieser überaus gelehrte Herr den Riesen Gargantua dazu bewegen will, die Glocken von Notre Dame wieder zurückzugeben, die dieser sich aus Jux und Tollerei an den Gürtel gehängt hatte – »Dona nobis Glockas nostras!« –, oder die Prüfung Argans in Molières Malade imaginaire, wo Argan auf alle Fragen der Kommission stereotyp antwortet: »Clysterium donare Postea seignare Ensuita purgare!«,

worauf die Professoren sich fast überschlagen vor Begeisterung: »Bene, bene, bene, bene rispondere. Dignus, dignus est entrare In nostro docto corpore.« 23

Die schönste und bekannteste deutsch-makkaronische Dichtung ist wohl die Floia resp. Flöiade (1593), ein Gedicht auf den Floh, das ein unbekannter Autor in einem Gemisch aus Latein und Plattdeutsch verfaßt hat und das dieses bissige Biest als großen Helden rühmt, dem nicht nur die homerischen Helden nicht das Wasser reichen können, sondern dem auch der Papst hoffnungslos unterlegen ist, selbst wenn er mit dem Kruzifix nach ihm schmeißt. Es trägt den bombastischen Titel: »Flöia cortum versicale De schwartibus, illis deiriculis, quae Minschos fere omnes, Mannos, Weibras, Junfras, etc. behüppere et spitzibus suis schnafflis steckere et bittere solent, Authore Gripholdo Knickknackio ex Floilandia.« 24

Auch dieses Epos hebt ganz im Stil Vergils (»Angla virosque cano …«) mit den Versen an: »Angla floosque canam, qui wassunt pulvere swarto Ex watroque simul stoitenti et blaside dicko, Multipedes deiri qui possunt huppere longe, Non aliter quam si flöglos natura dedisset. Illis sunt equidem, sunt inquam corpora kleina, Sed mille erregunt menschis martrasque plagasque,

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Cum steckunt snaflum in livum blautumque rubentem Exsugant; homines sic, sic vexeirere possunt! Et quae tandem illis pro tanta lonia restant Vexeritate, et quem nemant pro vulnera lodum!« 25

Und es endet mit den Versen: »Denkam ergo cedito rursus Parve floe et nostrum misere quoque plage Bekandum Frundum ut sit memor et nullis vergettat annis Nostri; sic duret Frundschoppia. Nun is et uthe.« (S. 338)

Derlei Texte zu übersetzen, macht keinen Sinn, weil der komische Reiz dadurch verloren gehen würde und weil man v. a. das Spiel verweigern würde, das der Autor seinem Leser anbietet, ein Spiel, das dem Leser auch niemand abnehmen kann. Derlei Texte zu übersetzen, wäre genauso falsch, wie wenn man die Pointe eines Witzes erklären wollte, die jemand nicht begriffen hat. Wenn Sartre behauptet, Lesen sei »gelenktes Schaffen« 26, so gilt dies für das Verstehen komischer Texte erst recht, denn auch hier gilt: »Der Leser hat das Bewußtsein, gleichzeitig zu enthüllen und zu schaffen, im Schaffen zu enthüllen und durch Enthüllen zu schaffen.« (S. 28)

Da der Autor diese schöpferische Aktivität des Lesers durch die spezifische Beschaffenheit seines Textes aber immer schon vorbereitet hat, sagt Sartre mit Recht: »So bleibt für den Leser noch alles zu tun, und doch ist alles schon getan; das Werk existiert nur genau auf der Ebene seiner Fähigkeiten.« (S. 29)

Bei komischen Texten dieser Art ist das nicht anders: Der Autor oder Erzähler bietet dem Leser oder Zuhörer mit seinem komischen Text die Möglichkeit, sich selbst das Vergnügen einer überraschenden Entdeckung zu bereiten, um diese dann wiederum mit Lachen zu quittieren. Und genau hier liegt der Grund dafür, daß man diese mitschöpferische Aktivität des Lesens und Verstehens nicht an andere delegieren kann. Entdeckungen muß man eben selber machen, sonst wären sie keine, und Pointen sind derlei Entdeckungen, und ganz besonders überraschende noch dazu. Mit dem Ende des Humanismus endete auch das Prestige des Lateinischen und mußte neuen Prestige-Sprachen weichen. Dies 616 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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war in Europa seit dem frühen 18. Jahrhundert das Französische, und deshalb verlagerte sich die sprachliche Grundlage der makkaronischen Poesie vom Lateinischen auf das Französische. Das läßt sich z. B. an dem französisch-deutschen Kauderwelsch ablesen, in dem Johann Christian Trömer (1696–1756) seine grotesk-komischen Texte verfaßte und am sächsischen Hof vortrug, wo er als sog. »Komischer Rat« eine Art Hofnarr war und sich zu dem Zweck das Rollenfach »Deutsch-Franzos« zugelegt hatte. Als kleine Kostprobe zitiere ich die letzten Verse des Gedichts, mit dem er die Ausgabe seiner Texte seiner Königin widmet: »Groß liebe Lanß Mama! soûmis ich supplicir, Laß Sie mir dock mehr fort in Ihro Knad restir, Das bringk mir kroßen Ehr, und meine Klück iß kroß Ihr soûmis treuste Kneckt die arme Deutsch Francoß.« 27

Bekanntlich läßt Lessing seinen Riccaut in Minna von Barnhelm in der Art von Trömers Deutsch-Franzos reden, verwendet dessen Jargon aber schon dazu, diese Gestalt dadurch als Franzosen-Karikatur abzuwerten und in eine Reihe mit dem Dottore Graziano der Commedia dell’arte zu rücken. Damit hatte das »Affenspiel« der närrischen Sprachmischung seine spielerische Heiterkeit verloren, und das Lachen, das es vielleicht noch auslösen konnte, war schon nicht mehr »unser Lachen« im Sinne Ciceros, sondern wieder das aggressive Verlachen der aristophanischen Komödie, also ein Mittel ideologisch-politischer Polemik. 2.8.5.2 Philosophisches Narrentum: Das Selbstlob der Torheit Wir haben gesehen, daß das Ende der antiken Polis als politischer Lebensform gekommen war, als die Kyniker begannen, mit der Wertewelt der Polis ihr frivoles Spiel zu treiben. Ganz analog dazu signalisiert auch das philosophische Narrentum des Erasmus von Rotterdam (1465–1536) das Ende des christlichen Mittelalters, wenn er in seinem berühmten Werk Das Lob der Torheit 28 von 1511 sein frivoles Spiel mit der superbia treibt, der schwersten aller Todsünden, denn was ist das prahlerische Selbstlob der weltlichen Torheit anderes als Hoffart in höchster Ausprägung. Und wenn 617 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Erasmus die Torheit in der Loge direkt neben den antiken Göttern Platz nehmen und sie die Welt von ganz oben betrachten und verlachen läßt, so sitzt sie genau dort, wo Bernhard von Clairvaux Luzifer als die Gestalt gewordene superbia plaziert hatte. Die Torheit, die Erasmus in seinem Maskenspiel als philosophischer Narr rühmt, ist selbstverständlich die weltliche Torheit, die Paulus im Brief an die Korinther verworfen und der er die erstrebenswerte »Torheit bei Gott« (1. Kor. 3,19) gegenübergestellt hatte, und dies macht sein närrisches Maskenspiel noch mal um einen Grad frivoler. Erasmus bezeichnet sein Werk als declamatio, d. h. als Lobrede im Genre der akademischen oder politischen laudatio, deren Aufgabe darin besteht, jemanden um seiner Tugenden und Verdienste willen in aller Form zu rühmen. Daß hier aber die weltliche Torheit gerühmt wird, noch dazu durch die Torheit selbst und außerdem noch im erhabenen Ton, ist also auch aus profaner Sicht eigentlich ein Skandal, aber nur auf den ersten Blick, denn ein Selbstlob der Torheit ist, wenn es ernsthaft verkündet wird, weltlich gesehen, natürlich auftrumpfende Torheit und somit Narrentum(NT) in Potenz, christlich gesehen, luziferische Hoffart in Potenz. Wird dies alles hingegen als Rollenprosa nach Maßgabe eines ästhetisch-poietischen Kalküls vorgetragen, so liegt es am Leser, wie ernst er diese »Maskenfreiheit« (Jean Paul) nehmen will, die der Autor sich da erlaubt hat, und wie weit er dem Autor zu folgen bereit ist, denn auch hier ist, wie Sartre sagen würde, »alles schon getan und doch bleibt noch alles zu tun«. So wie der makkaronische Autor sich durch die Maskenfreiheit der Rollenprosa den unflätigsten Wortschatz erlauben darf, so darf sich also auch der philosophische Narr(NTR) Erasmus in seinem Selbstlob der Torheit ein Höchstmaß an Selbstüberhebung erlauben, weil diese Selbstüberhebung ja integraler Bestandteil dieser von ihm eingenommenen Narrenrolle ist. Durch diese raffinierte poetische Strategie schlüpft er gleichsam in die Rolle eines allesdürfenden Hofnarren Markolf am philosophischen Olymp, der seine Lizenz zu unbegrenzten Frechheiten aber nicht aus dem Amt, sondern aus der poetischen Form bezieht. So sieht es auch Erasmus selbst, der deshalb der Torheit die Ar618 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gumentation in den Mund legt: »Aber die Fürsten, wird vielleicht einer einwenden, können die Wahrheit nicht leiden, und eben aus diesem Grund gehen sie jenen Weisen (sapientes) aus dem Weg, aus Angst, es könnte womöglich einer auftreten, der seiner Zunge zu freien Raum läßt und sich getraut, ihnen Dinge zu sagen, die eher wahr als vergnüglich sind. Zwar ist es schon so, daß den Königen die Wahrheit verhaßt ist. Doch erstaunlicherweise bei meinen Narren (fatuis meis) so, daß man sich aus ihrem Mund nicht nur die Wahrheit, sondern auch unverblümte Frechheiten (aperta convitia) 29 mit größtem Vergnügen anhört; das führt so weit, daß dasselbe Wort, entschlüpft es einem Weisen (sapiens), ein todeswürdiges Verbrechen wäre, von einem Narren ausgesprochen (a morione profectum) hingegen unglaubliches Entzücken hervorruft. (…) Diese Gabe aber haben die Götter einzig den Toren (fatuis) verliehen.« (S. 94)

Ein Rest von Irritation bleibt bei diesem Selbstlob der Torheit aber bestehen, weil man als Leser nicht immer ganz sicher ist, ob Erasmus jeweils von der Torheit, der ambitionierten Narrheit(NT) oder vom rollenhaften Narrentum(NR) spricht, weil die von Erasmus verwendeten Wörter stultitia und fatuitas die ganze Bandbreite von Dummheit bis Albernheit und Narrentum(NT/NR) abdecken. Ein Rest von Irritation bleibt aber auch deshalb bestehen, weil Torheit und Narrheit(NT) in der philosophischen und religiösen Tradition so einhellig Zorn, Entrüstung und Klage hervorgerufen haben. Man muß nur die stoisch geprägten »salomonischen« Schriften des Alten Testaments durchblättern, durch die sich das Torheits-Thema wie ein roter Faden zieht, denn »ein wenig Torheit wiegt schwerer denn Weisheit und Ehre« (Prediger 10,1). Und auch hier gilt der Satz: »Wer einen Narren zeugt, der hat Grämen, denn eines Narren Vater hat keine Freude.« (Sprüche 17,21)

Da in der alttestamentarischen Tradition das Gegenteil des Narren(NT) oder Toren der Weise, Fromme und Gerechte ist, erscheint der Tor oder Narr(NT) als der Tor vor Gott und somit als Sünder oder Frevler ganz wie die Narren in Sebastian Brants Narrenschiff. Gemessen am Neuen Testament ist die sich selbst rühmende Torheit des Erasmus sogar noch viel skandalöser, denn Paulus un619 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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terscheidet dort, wie erwähnt, zwischen der verwerflichen weltlichen Torheit und der Torheit vor Gott, der man sich allein rühmen darf, denn: »Für denselben (Gott) will ich mich rühmen; für mich selbst will ich mich aber nichts rühmen, nur meiner Schwachheit. Und so ich mich (auf diese Weise) rühmen wollte, täte ich darum nicht töricht, denn ich wollte die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, auf daß nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. Und auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarungen überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl im Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe.« (2. Kor. 12,5 f.)

Mit dieser demonstrativen Selbstbescheidung steht Paulus ganz in der Tradition des Bußpredigers Jeremias, bei dem es heißt: »So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich des, daß er mich wisse und kenne, daß ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.« (Jeremias 9,22 f.)

So gesehen ist und bleibt das Selbstlob der Torheit, so maskiert es auch immer vorgebracht werden mag, in christlicher Sicht ein Zeugnis exzessiver Selbstüberhebung und damit eine unverzeihliche Todsünde, weil man selbst die Maskenfreiheit der hier angewandten Rollenrede noch als ästhetisches Mittel ansehen kann, um diese Selbstüberhebung so exzessiv auszuagieren, wie dies hier geschieht. Wer so argumentiert, wird seine fromme Empörung auch noch dadurch bestätigt sehen, daß Erasmus sich später sogar über die paulinische »Torheit des Kreuzes« und »Torheit in Christo« (S. 221) lustig macht, indem er das »Lamm« Gottes als sprichwörtlich blödes Stück Vieh (S. 219) charakterisiert. Bei diesem Gedankengang »kippt« denn auch die Laudatio der Torheit auf sich selbst zum ersten Mal, und der Autor läßt die Narrenmaske ein paar Zeilen lang fallen und redet unverstellt in eigener Sache, kehrt aber sofort wieder zur Rollenrede und zu den »Trümpfen der Torheit« (S. 76) zurück und läßt das Loblied auf die Torheit in ein Loblied auf den Trottel einmünden – »Eben das heißt 620 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mensch sein!« (S. 81) –, weil der Depp der einzige wahrhaft glückliche Mensch ist, da nur er allein unbeirrt seiner Natur folgt und somit der einzige ist, der das Ideal des stoischen Weisen wirklich erfüllt. Diese Verhöhnung des »Superstoikers Seneca« (S. 74) und »der Frösche aus der Stoa« (S. 96) zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch und gipfelt in einer vernichtenden Charakterisierung des stoischen Weisen als »Ungeheuer und Schreckgespenst«, das wie eine »Marmorstatue leblos-starr und bar jeder menschlichen Gefühlsregung« (S. 74) sei. 30 Ganz anders sieht er die Kyniker, insbesondere Diogenes, dessen philosophisches Narrentum(NTR) er ausdrücklich aufgreift und fortsetzt und dessen »Bissigkeit« (mordicatitas) (S. 12) er sich denn auch zum Vorbild nimmt. Dieses kynische Erbe hat auch Konsequenzen für die Art und Weise, wie Erasmus mit den traditionellen rhetorischen Formen umgeht, denn so wie die Makkaroniker die Form des erhabenen Heldenepos aufgreifen und travestieren, so greift Erasmus neben der akademischen Laudatio auch das hohe Pathos der Bußpredigt und der philosophischen Abhandlung auf, in denen ansonsten religiöse und philosophische Weisheit verkündet wird, aber all dies durchweg in der Art des philosophischen Narrentums à la Diogenes und verwandelt sie dadurch in eine Parodie oder Travestie dieser literarischen Gattungen. Dadurch aber schlägt das Wahrheits- und Wahrhaftigkeitspathos, das diesen literarischen Gattungen konstitutiv immanent ist, in Spott auf eben dieses Pathos um, und das Wahrhaftigkeitspathos wird durch eine extreme Form von Selbstdistanz konterkariert, wie dies in diesem Grad auch nur bei der Verwendung von Rollenrede möglich ist. Man weiß als Leser also nie ganz genau, ob jemand, der Rollenprosa schreibt, jeweils als er selbst redet, oder ob er die Rollengestalt reden läßt, oder ob er sich hinter dem Text der Rollengestalt bloß versteckt, um in deren Maske das auszusagen, was er aus irgendwelchen Gründen nicht als er selbst aussagen möchte. Wenn man will, kann man das auch für Koketterie halten, und genau dies hat man Erasmus von seiten der Reformatoren immer wieder vorgeworfen, die ja ein sehr ausgeprägtes Wahrhaftigkeitspathos kultivierten. So 621 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bezeichnet z. B. Luther Erasmus in seinen Tischreden abfällig als Aal, der nicht zu fassen sei: »Erasmus est anguilla. Niemand kann yhn ergreiffen denn Christus allein. Est vir duplex.« 31

Aber wie hätte ein derart archaischer Mensch wie Luther eine derart moderne und buchstäblich exzentrische Gestalt wie Erasmus auch nur annähernd erfassen können! Man kann dieses Irisieren zwischen den verschiedensten Standpunkten und Loyalitäten und diesen bewußten Verzicht auf Eindeutigkeit und Parteilichkeit auch als skeptische Abgeklärtheit in der Art Montaignes (»Que sais-je?«) deuten, aber auch als Feigheit, als ein gezieltes Ausblenden der Möglichkeit, von all dem Bedrohlichen betroffen werden zu können, von dem die Welt voll ist. So ist die Palette von Narrheiten(NT), die Erasmus in seinem Werk aufzählt (S. 128 ff.), für ihn denn auch kein Grund zu Zorn oder Klage, wie dies bei Sebastian Brant der Fall ist, sondern allenfalls Anlaß zu spöttischem Gelächter, denn vom Logenplatz neben den Göttern (S. 130), wo Frau Torheit Platz genommen hat, wirkt letztlich alles verschwindend klein und unbedeutend. Wenn Erasmus seine Göttin Torheit aber so hoch plaziert, daß sie letztlich alles, was da weit unter ihr ameisenhaft wuselt, komisch oder lächerlich finden kann und nichts mehr wirklich ernst nehmen muß, so kann man auch sie selbst nicht mehr ernst nehmen. Und Erasmus selbst eigentlich auch nicht. Aus diesem Grund sucht man um so genauer, wo er in seiner Laudatio auf die Torheit diese Maske fallen läßt und wirklich einmal unverstellt spricht. Auf eine Stelle habe ich schon verwiesen. Aber neben dieser Verspottung des stoischen Weisen scheint es noch eine zweite Passage zu geben, in der man dies vermuten könnte, und diese findet sich ganz am Ende des Werks, wo Erasmus das Prinzip der exzentrischen Positionalität bis ins Extrem treibt und die totale Ablösung des Geistig-Seelischen vom Körper zum erstrebenswerten Ideal erhebt. Dort schreibt er: »Wie wird also jenes künftige Leben im Himmel aussehen, nach dem die frommen Seelen sich so verzehrend sehnen? Natürlich wird der Geist (spiritus) den Körper (corpus) in sich aufsaugen, ist er doch der Sieger und stärker, und das wird ihm recht leichtfallen, teils, weil er

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jetzt wieder gleichsam in seinem Reich ist, teils, weil er den Körper im Leben schon längst auf diese Verwandlung (transformatio) hin geläutert und vergeistigt hat. Dann aber wird wiederum der Menschengeist auf wundersame Weise in jenem höchsten Geist aufgehen, ist dieser doch unendlich mächtiger. Wenn nun der ganze Mensch seiner selbst entäußert ist (extra se futurus sit) – und nicht anders wird er selig (felix) werden, als wenn er außer sich selbst gesetzt ist (extra sese positus) –, wird er etwas Unaussprechliches erfahren von jenem höchsten Gut, das alles in sich aufnimmt.« (S. 233)

Falls Erasmus diese totale Selbstentäußerung und Vergeistigung des Körpers als Form nicht-christlicher Seligkeit ernst gemeint haben sollte, so müßte, wie mir scheint, die Kritik an Erasmus hier ansetzen, von welcher Position aus dies immer auch geschehen mag, denn nicht die totale Vergeistigung des Körpers nach dem Tode kann doch wohl das Ziel sein, sondern der vertrauensvolle Umgang mit der eigenen Leiblichkeit schon im Leben, da diese immer schon so exzentrisch poniert ist, wie man das nur wünschen kann. Aber so ganz sicher bin ich mir nicht, ob Erasmus hier unverstellt spricht, weil er einige Zeilen später mit einem »Doch halt!« (S. 235) schon wieder in eine neue Maske schlüpft und diesen Ausflug in die spekulative Metaphysik des platonischen Phaidros wieder zurücknimmt und als »Wortsauce« (S. 236) bezeichnet. Was also bleibt? Was meint Erasmus wirklich? Wir sind schon im Kapitel über das philosophische Narrentum der antiken Kyniker zu der Erkenntnis gelangt, daß der uroborische Impuls, der das Lachen allgemein prägt, auch auf die Narrenrolle durchschlägt, zu der das Verlachen als konstitutives Element gehört. Narrentum aller Art, sofern es explizit als Narren-Rolle ausagiert wird, hat also die Tendenz, sich uroborisch selbst zu verzehren, zieht sich gleichsam selber den Boden unter den Füßen weg und damit zugleich auch den Standpunkt auf diesem Boden. So gesehen muß die Frage, was der philosophische Narr Erasmus von Rotterdam mit seinem Selbstlob der Torheit eigentlich gemeint habe und welcher Art der philosophische Standpunkt des Erasmus gewesen sei, notwendigerweise ohne Antwort bleiben, weil Erasmus die Rolle des philosophischen Narren mit einem so hohen Maß an Selbstdistanz und Rollendistanz ausagiert hat. Erasmus ist also in der Tat 623 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ein Aal, den man nicht zu fassen kriegt, aber nicht, weil er ein so unlauterer Charakter gewesen wäre, das war er durchaus nicht, sondern weil diese Ungreifbarkeit in der Natur des philosophischen Narrentums begründet ist. 2.8.6 Die ars iocandi et ridendi als performatives Programm 2.8.6.1 Der Hofnarr Wann genau die Institution des Hofnarren aufgekommen ist, weiß man nicht; man darf aber vermuten, daß dies in etwa gleichzeitig mit der theologischen Rechtfertigung des Lachens durch Wilhelm von Conches und Alexander von Hales und dem Aufkommen der Schwankliteratur geschehen sein könnte, also irgendwann im frühen 12. Jahrhundert. Möglicherweise waren Toren mit ungefährlichen und unbedrohlichen Wahnideen die Urform der Hofnarren, deren Funktion darin bestand, die Mitglieder eines Hofes durch ihr wahnhaftes, aber harmlos komisches Gebaren als Belach-Opfer zu erheitern und ihnen die tägliche Ration an Lachen zu sichern, um der allfällig drohenden Melancholie zu begegnen. Derartige harmlose Toren wurden aber nicht nur an den Höfen, sondern auch in den Häusern reicher Patrizier und sogar in Klöstern 32 gehalten. Werner Mezger unterscheidet dabei zwei Typen und spricht von »natürlichen Narren« und »künstlichen Narren« oder »Schalksnarren« 33, die beide Amt und Funktion eines Hofnarren einnehmen können und auch beide die übliche Ausstattung eines Hofnarren hatten: Narrenkappe mit Eselsohren und Hahnenkamm, grellbuntes Kleid mit einem Rautenmuster, Schnabelschuhe mit Glöckchen, und eine Marotte, die auch als Narrenszepter oder Narrenkeule 34 bezeichnet wird. Was Mezger hier als »künstlichen Narren« oder »Schalksnarren« bezeichnet, habe ich oben als »Narren(NR)« bezeichnet, was er als »natürlichen Narren« bezeichnet, nenne ich »Tor«. Beide sind Geloiasten, der »natürliche Narr« als unfreiwilliges Lach-Opfer, der »Schalksnarr« als bewußter Organisator des Gelächters. Unter diesen »Schalksnarren« gab es wieder zwei verschiedene 624 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Typen. Der eine Typ von Hofnarr sah sich in aristotelisch-ciceronisch-quintilianischer Tradition, als dessen bekanntester Vertreter Gonella gilt, der als Hofnarr am Hof von Ferrara seine Späße trieb. Der andere Typ sah sich in kynischer Tradition, und sein Prototyp war Markolf, der legendäre Hofnarr des Königs Salomon, also keine reale historische, sondern eine literarische Gestalt, der man, gerade weil sie eine fiktive Gestalt war, immer neue witzige und rotzfreche Aussprüche in den Mund legen konnte, genauso wie dies mit dem lachenden Philosophen Demokrit aus dem hellenistischen Briefroman geschehen ist. Fangen wir mit dem harmlosen Irren Peter an, der am Hof des Straßburger Propstes Schmidthauser das Amt des Hofnarren ausübte und in dem Wahn lebte, er sei schlagartig unsichtbar, sobald er ein Hühnerbein oder eine Krebsschale auf der Nase trage. Wenn der Propst Gäste hatte, pflegte man ihn in dieser Weise zu schmükken und erheiterte sich dann an dem komischen Verhalten, das der Hofnarr Peter im Wahn, unsichtbar zu sein, an den Tag legte, und so heißt es denn in der Zimmerischen Chronik 35: »Damit ist vil schimpfs (Spaß) mit ime getriben worden.« (III,501) Besonders großen Spaß scheint man daran gefunden zu haben, diesen harmlosen Irren zum Zorn zu reizen, indem man in seiner »unsichtbaren« Anwesenheit abfällig über ihn sprach oder ihm bestimmte Vergehen andichtete: »Das kundt der narr nit erleiden, (…) iedoch, dieweil er gründtlich vermeinte er were unsichtbar, so standt er still und verdruckt sein zorn. Sollich affenspill trib man lang mit ime. Letztlich kam ainer und stieß im die krebsschalen ab der nasen, als ob es ungeferdt beschehen, sprechende: ›Sihe Petter, bistu da? Wir haben alle vermaint, du seiest dussen gewest.‹ So lacht er denn und sagt: ›Ja, ich kom aller erst vom vischmark, ich hab das oder das ußgericht‹ etc. Man muest in zu zeiten vexieren und erzürnen, damit ime der spiritus excitirt, er were sonst seiner melancolei halb in krankhait gefallen, wie man gemainlich sprücht: ›Die narren müeßen getriben und geiebt (geübt) sein, oder sie verderben und verligen sonst; iedoch das man sie nit gar übertreibe, es mags sonst auch nit thuen.‹« (III,501)

Hier haben wir die humoralpathologische Ätiologie der HofnarrenFunktion und die ars iocandi et ridendi als medizinisch-therapeuti625 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sches Programm an einem konkreten Fall exemplifiziert vor uns und auch den oben zitierten Rat Widmanns, von Zeit zu Zeit auch mal »unweis und thöricht« zu sein und ein Mahl mit »lecherlich bossen und schimpfred« zu würzen, um das allgemeine Wohlbefinden zu sichern. Der harmlose Irre Peter aber, der im selben Maß von der Melancholie bedroht war wie die Hofgesellschaft selbst, muß zum Zorn gereizt werden, damit seine Lebensgeister (spiritus) in Gang gesetzt werden und etwas gelbe Galle produzieren. Da dieser Zorn aber harmlos und ungefährlich ist, kann die Hofgesellschaft darüber lachen, durch dieses Gelächter Blut erzeugen und die eigene schwarze Galle dadurch kompensieren und dadurch wiederum die eigene drohende Melancholie bekämpfen. Je unbeschwerter das Gelächter war, desto gesünder konnte es wirken. Seltsamerweise verliert Mezger, der in seiner Monographie über den Hofnarren diese Episode ebenfalls zitiert, über diesen medizinischen Hintergrund des Hofnarrentums kein Wort. Ein ganz anderer Typ von Hofnarr ist der legendäre Markolf, die Gestalt gewordene und in die Rolle des Hofnarren geschlüpfte Selbstbehauptung vor Fürstenthrönen, der in kynischer Tradition steht und der durch seine bauernschlaue Volksweisheit selbst die sprichwörtliche Weisheit Salomos übertrifft und sich das Recht heraus nimmt, alles und selbst die unflätigsten Grobheiten dem König ins Gesicht zu sagen und der mit dem König Salomon ähnlich frech umspringt wie es Diogenes mit Alexander getan haben soll. In den Geschichten über Markolf 36 wird erzählt, dieser sei eines Tages am Hof Salomons aufgetaucht und habe den König zu einem Weisheitsduell aufgefordert. Schon seine äußere Erscheinung, »schnöde und ungestalt« 37, steht im krassen Gegensatz zur strahlenden Pracht und Schönheit Salomos und charakterisiert ihn deutlich als kynischen Gegentyp zum König auf dem Thron Davids: »Und die Person Markolfs war kurz und dick, und hatte ein groß Haupt und eine breite, rothe und gerunzelte Stirn, haarige, bis auf die Mitte der Kinnbacken herabhangende Ohren, große, fließende Augen, die Unterlefze kürzer, gleich einer Pferdelefze, einen schmutzigen und stinkenden Bart als ein Bock, blockichte Hände, kurze dicke Füße, eine fleischichte, höckerichte Nase, große und dicke Lefzen, ein eselisch Angesicht, Haar, als die Stacheln eines Igels, große bäurische

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Schuhe, und ein Schwert um sich gegürtet, mit einer zerrissenen Scheiden; seine Kappe war von Haar geflochten und geziert mit einem Hirschen-Gehörn; sein Kleid hät eine schnöde Farbe und war von schnödem schmutzigem Tuch, sein Rock hing ihm nur bis auf die Schaam und zerrissene Hosen.« (S. 217 f.)

Seine Frau steht ihm an Häßlichkeit und Schlampigkeit 38 in nichts nach. Als der König sich nun vorstellt und sich seiner Abstammung von zwölf Propheten-Geschlechtern rühmt, setzt Markolf frech und selbstbewußt seine eigene »rustikale« Abstammung dagegen: »So bin ich von den zwölf Geschlechten der Rustiker: Rustik gebar Rustink, Rustink gebar Rustibald, Rustibald gebar Rußhard, Rußhard gebar Tarkus, Tarkus gebar Tarkol, Tarkol gebar Farsi, Farsi gebar Farsutz, Farsutz gebar Markol, Markol gebar Marquard, Marquard gebar Markolf: und ich bin Markolf der Narr.« (S. 219)

Das Gespräch zwischen den Antipoden Narr und König mündet alsbald in ein regelrechtes Duell aus Stichomythien, in dem Markolf die erhabenen biblisch-stoisch-höfischen Weisheiten Salomos in einem unflätigen Vokabular buchstäblich in den Dreck zieht. Das hört sich folgendermaßen an: »Salomon: Mit Frommen und Bösen wird erfüllet das Haus. Markolf: Mit Dreck und Arswischen wird erfüllet das Scheißhaus. Salomon: Viel besser heimlicher Schade, denn offene Schande. Markolf: Der begehret Dreck zu schmecken, der da küsset des Hundes Ars. Salomon: Den fröhlichen Geber hat Gott lieb. Markolf: Wer sein Messer lecket, der giebt wenig seinem Knechte. Salomon: Zwölf Grafschaften machen ein Fürstentum. Markolf: Zwölf Drücke machen einen Schiß. Salomon: Zwölf Fürstentümer machen ein Königreich. Markolf: Zwölf Schisse machen einen Dreck. Salomon: Zwölf Königreiche machen ein Kaisertum. Markolf: Zwölf Drecke machen ein Karrenfuder.« (S. 223 f.)

Wie man sieht, bewegt sich die analerotische Argumentation Markolfs ganz auf dem Niveau und in dem Wortschatz, den wir in den oben zitierten Schwänken Paulis kennengelernt haben, den man aber auch bei Rabelais antrifft; man denke nur an das ArschwischKapitel im ersten Buch des Gargantua. 627 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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In diesem Stil geht es dann Seiten um Seiten weiter, ohne daß einer der beiden sich als Sieger fühlen könnte, aber nach einigen Versuchen Salomos, seinen lästigen Widerpart loszuwerden, behält er ihn schließlich »zu einem ewigen Knecht: denn seine Bosheit hat mich überwunden« (S. 267 f.). Von etwas anderer Art waren die Scherze, die Gonella im 15. Jahrhundert berühmt gemacht haben, der sich nicht in kynischer Tradition sah und deshalb seinen Fürsten nicht aus der »hündischen« Perspektive von unten her sah, sondern er sah sich in aristotelisch-ciceronisch-quintilianischer Tradition, sprach deshalb mit allen Angehörigen des Hofes von Ferrara auf Augenhöhe und organisierte für die dortige Hofgesellschaft »unser Lachen« im Sinne Ciceros. Deshalb war sein Vokabular, soweit es sich aus der überlieferten Geschichten erschließen läßt, bei weitem nicht so unflätig wie das seines Kollegen Markolf, sondern hielt sich ganz in den Grenzen des am Hof Üblichen und die Pointen seiner Scherze orientierten sich ganz am Nomos der eutrapelistischen Lachkultur im Sinne von Aristoteles, Cicero und Quintilian. Seine Scherze waren also so beschaffen, daß jeder, auf dessen Kosten gelacht wurde, in dieses Lachen selbst einstimmen und »unser Lachen« mitlachen konnte. Da dieses Lachen aber, wie wir gesehen haben, sowohl eine einschließende wie eine ausschließende Funktion hat, mußte der Nomos der eutrapelistischen Lachkultur um so weniger beachtet werden, je ferner das Lachopfer der Hofgesellschaft stand. Die Schwänke Gonellas wurden bald gesammelt und erschienen in immer wieder neuen Auflagen, wurden aber auch immer neuen Spaßvögeln von Eulenspiegel bis hin zum maghrebinischen Wunderrabbi Mardochai aus Sadagura in den Mund gelegt und entwickelten somit ein Eigenleben, wie dies auch bei Witzen der Fall ist. Ich zitiere hier zwei aus den Facetien des Florentiners Poggio (1380–1459) 39, die ab 1469 in vielen Auflagen erschienen, nach dem Konzil von Trient aber auf dem Index landeten, weil Poggio in seinen Schwänken allzu viele Kleriker in einem allzu schlechten Licht hatte erscheinen lassen. In der Vorrede zu dieser Sammlung von 273 Schwänken macht Poggio klar, welchen Kreis von Lesern 628 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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er anzusprechen wünscht, die er auch gleich nach den Kriterien der Humoralpathologie als Sanguiniker charakterisiert und als deren Geloiast er sich darstellt: »Strenge Zensoren und kalte Kritiker mögen diese ›Schwänke und Schnurren‹ – so will ich sie nennen – nicht zur Hand nehmen. Ich will von lustigen und lebensfrohen Menschen gelesen sein. (…) Die das nicht zu würdigen wissen, sollen denken was sie wollen, nur sollen sie dem Autor keinen Strick daraus drehen, daß er so was zu seiner Erholung und Übung geschrieben hat.« (S. 31)

All das hätte auch der Hofnarr Gonella von sich sagen können, von dem Poggio die beiden Scherze berichtet: »Wahrsagen. Gonella, ehedem gefeierter witziger Schauspieler, versprach einst für geringes Geld einem Ferraresen, der das von ganzem Herzen wünschte, das Wahrsagen beizubringen. Der Ferrarese musste sich mit ihm zusammen ins Bett legen, Gonella liess einen sachten Furz streichen, darauf musste der Ferrarese den Kopf unter die Decke stecken. Sofort aber richtete er sich infolge des Gestanks wieder auf und rief: ›Du hast einen fahren lassen!‹ ›Wahr gesagt‹, meinte Gonella, ›gib mir mein Geld!‹« (S. 123) »Die Wahrsagepille. Ein anderer Mensch wünschte ebenfalls die Wahrsagekunst zu lernen und Gonella sagte ihm: ›Für dich genügt schon eine Pille, dann hast du’s raus!‹ Nun machte er aus Dreck eine Pille und steckte sie ihm in den Mund. Der musste sich wegen des Gestanks erbrechen und schrie: ›Du hast mir ja Dreck in den Mund gesteckt!‹ ›Richtig geraten, wahr gesagt!‹ versicherte Gonella und forderte den Lohn für seine Kunst.« (S. 123)

Wie man sieht, unterscheiden sich auch diese Geschichten in Tonlage und Wortschatz kaum von den Schwänken, die Pauli als Stoff für Osterpredigten angeboten hatte, und deshalb darf man sehr in Frage stellen, ob das Gelächter, das im 15. Jahrhundert durch derartige derbe Schwänke ausgelöst wurde, auch heute noch »unser Lachen« sein kann. Es war ja, wie wir gesehen haben, schon das Lachen Oekolampads nicht mehr. 629 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ein Unterschied zu den oben zitierten Späßen Markolfs tritt jedoch deutlich hervor: Markolfs anvisiertes Lachopfer ist der König, er organisiert also das kynische Auslachen-von-unten; Gonellas Späße beruhen auf dem Prinzip des ausgetricksten Dummen, einem uralten Prinzip der Verlach-Komödie, und da sein Lachopfer nicht zum Hof gehört, organisiert er für die Hofgesellschaft das Auslachen eines Fremden von oben. Für dieses Lachen aber gilt der Nomos der höfischen Lachkultur nicht, da er ja nur »unser Lachen« innerhalb der Hofgesellschaft zu regeln hat. Demselben Prinzip folgt, wie wir sehen werden, die höfische Verlach-Komödie, wie wir sie in ihrer höchsten Ausprägung bei Molière finden. Die italienischen Fürstenhöfe des 15. Jahrhunderts, an denen die höfische Lachkultur entwickelt worden ist, waren noch kleine überschaubare Gruppierungen, deren Homogenität leicht zu erstellen und zu erhalten war. Sobald sich aber die Höfe vergrößerten und die Homogenität der Hofgesellschaft zum Problem wurde, wurde, wie wir sehen werden, sofort auch »unser Lachen«, das nur auf Augenhöhe gelacht werden kann, zum Problem und damit wurde auch die Funktion des Hofnarren mehr und mehr obsolet. Er verschwand an den absolutistischen Höfen und seine geloiastische Funktion ging in die höfische Komödie über, die als reine VerlachKomödie nur noch das Verlachen der Nicht-Integrierten als Auslachen-von-oben kultivierte und auf diese Weise die Normen des höfisch korrekten Verhaltens in Szene setzte und ihrem Publikum zur Verinnerlichung anheimstellte. Man denke an den unangepaßten Alceste in Molières Misanthrope. 2.8.6.2 Der Hofmann Wir haben gesehen, daß die Mönchsregeln das Idealbild eines Menschen entwarfen, der sich tendenziell völlig unter Kontrolle hat und aus dessen Verhalten auch das Lachen tendenziell ausgeblendet ist, um die Nachfolge Christi optimal leisten zu können. Im Hofmann der Renaissance wird dieser Leitfigur des christlichen Mittelalters nun eine weltliche Leitfigur als neues Elitenideal gegenübergestellt, die fast in allen Zügen das genaue Gegenbild zum Mönch ist. 630 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Am explizitesten geschieht dies bei Rabelais, einem aus der Kutte gesprungenen Franziskaner, der in seinem Gargantua mit der Abtei Thélème das genaue Gegenbild zum mittelalterlichen christlichen Kloster entwirft, also eine Abtei ohne Regel, ohne Abt, ohne Mauer und ohne Ordenstracht, denn »hier sollte eine Ordensregel eingeführt werden, die das Gegenteil wäre von allem, was bisher bestanden.« (S. 170) Das heißt konkret: »Weil den Männern das Betreten der Frauenklöster verboten ist und sie sich nur heimlich und verstohlen dort einschleichen können, müßten überall, wo Männer wären, auch Frauen sein, und wo Frauen, auch Männer. Ferner: Weil Männer und Frauen, sobald sie nach abgelegter Probezeit einmal aufgenommen sind, ihr ganzes Leben lang im Orden verbleiben müssen, sollte bestimmt werden, daß Männer wie Frauen die Abtei zu jeder Zeit und nach freiem Willen verlassen können. Ferner: Weil die Ordensbrüder drei Gelübde abzulegen haben, nämlich das der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams, so müßte hier als Regel gelten, daß man sich verheiraten darf, reich sein muß und in voller Freiheit leben kann.« (S. 171)

Wie man dahin gelangt, reich zu sein, wird nicht weiter erörtert, sondern stillschweigend vorausgesetzt, daß man es immer schon ist. Das Szenario dieser Utopie spielt sich also ausschließlich auf der Ebene der zeitgenössischen gesellschaftlichen Elite ab und sagt somit auch einiges über die höfische Kultur der Zeit aus. So gesehen entwirft Rabelais mit seiner Abtei Thélème auch nicht einen neuen Typ von Kloster, sondern einen idealen Hof ohne Fürsten. Begründet wird dieses liberale Programm mit dem schlagenden Argument: »Wie soll ich andere leiten, da ich mich selbst nicht zu leiten verstehe?« (S. 170), und deshalb besteht die ganze Ordensregel dieser utopischen Abtei aus dem einzigen Paragraphen: »Fay ce que vouldras.« (S. 99). Auf deutsch: »Tu, was dir gefällt.« (S. 180) So kann es nicht verwundern, daß das Bild, das Rabelais vom Leben in dieser Abtei Thélème entwirft, sich ebenfalls wie eine strikte Kontrafaktur zum benediktinischen Prinzip »Ora et labora!« anhört, denn es erinnert eher an die notorische forcierte Heiterkeit der Anakreontiker des 18. Jahrhunderts oder an eine Freizeitkolonie der Spaßgesellschaft und besteht aus einem ewigen Feiertag, in 631 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den hinein man sich amüsiert nach dem Motto: »O laßt, zu aller Zeit, mein Antlitz heiter seyn!« (Uz) Somit ist auch das Scherzen und Lachen ein genauso konstitutiver Zug dieses neuen Elitenideals wie es der agelastische Ernst beim Mönch war. Und so wie die reuevolle Scham- und Demutshaltung mit geneigtem Kopf und gesenktem Blick zur zweiten Natur des Mönches werden sollte, so sollte nun die strahlende Heiterkeit zur zweiten Natur des Thelemiten bzw. des Hofmannes werden. In beiden Fällen sollte also ein vergänglicher, weil uroborischer Affekt auf Dauer gestellt werden. Aber wie, so muß man fragen, sollen uroborische Affekte wie Scham und Heiterkeit, die dazu tendieren, sich selbst zu verzehren, auf Dauer gestellt werden, ohne zur hohlen Pose und zur Demutsoder Heiterkeits-Maske zu erstarren? Und, so muß man weiter fragen, ist das Idealbild des stets strahlend heiteren Hofmannes nicht ein genauso weltfremder Entwurf wie das des ständig zerknirschten Mönches, der stets mit geneigtem Kopf und gesenktem Blick einher wandelt? Wird nicht in beiden Fällen die zur Natur des Menschen gehörige Verhaltenspalette auf dogmatische Weise reduziert, weil das Verhalten beider sich nicht mehr an der jeweiligen aktuellen Situation orientieren soll, die immer neue Möglichkeiten von Betroffenheit bereit stellt? Mit einem Wort: Resultieren nicht beide Entwürfe aus ideologischer Verblendung, die zu einer drastischen affektiven Verarmung des Lebens führen muß, gleichsam zu einem Wärmetod der Affekte? Neben diesen Fragen wird uns eine weitere Frage zu beschäftigen haben, die sich auf die performative Umsetzung des Rollenfaches Hofmann bezieht. Da die ars iocandi et ridendi ein konstitutiver Aspekt der Selbstdarstellung im Rollenfach Hofmann war, dabei aber das alte Prinzip »celare artem« gewahrt bleiben sollte, werden wir v. a. auf das Paradox der sprezzatura, d. h. der elaborierten Unangestrengtheit einzugehen haben, weil dabei wieder zentrale gelotologische Aspekte angesprochen werden müssen; denn das Paradox der sprezzatura läuft u. a. auch auf die Frage hinaus, wie unverfügbares Lachen tendenziell verfügbar gemacht werden könne, bzw. wie verfügbares Lachen so gelacht werden kann, daß es als unverfügbar-spontan erscheint. Dabei wird auch die Frage zu klä632 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ren sein, wie weltfremd und ideologisch verblendet das Idealbild des stets strahlend heiteren Hofmannes tatsächlich ist. Daß das Ideal des stets strahlend heiteren Hofmannes sich alsbald überlebt hatte, lag aber nicht so sehr an der Weltfremdheit dieses Ideals, sondern vielmehr daran, daß die Hofgesellschaft durch den aufkommenden Absolutismus sich grundlegend wandelte und dem Ideal des stets scherzenden und lachenden Höflings ein Ende bereitete, weil das Scherzen und Lachen auf Augenhöhe im strikt hierarchischen System des absolutistischen Hofes nicht mehr möglich war. Und so werden wir sehen, wie von Pontano über Castiglione, Faret und La Rochefoucauld zu Graciàn das Ideal des Hofmanns immer ernster wird und sich vom scherzenden homo facetus und heiteren Weisen zum stoischen Weisen wandelt und sich damit wieder in bestimmten Zügen am mittelalterlichen Mönch und v. a. am Ideal des perfekten Funktionärs orientieren wird, der, wie wir gesehen haben, im Typ des stoischen Weisen von Anfang an angelegt war. Erst nach dem Ende der absolutistischen Ära und abseits der Höfe werden sich im 18. Jahrhundert neue gesellschaftliche Strukturen entwickeln, die die Grundlage für eine neue Kunst der Geselligkeit und einer neuen ars iocandi et ridendi bieten. Der Aufweis dieser Entwicklung ist jedoch nicht als Geschehensgeschichte des Lachens angelegt, sondern geschieht in durchaus systematischer Absicht, denn hier soll aufgezeigt werden, in welch hohem Maß bestimmte Formen des Lachens an bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden sind. Und das heißt: Was wir verfolgen werden, ist die Entwicklung eines bestimmten lachsoziologischen Modells im Wandel der höfischen Epoche. 2.8.6.2.1 Von Pontano zu Castiglione oder Das Ideal des homo facetus Als der Humanist Gioviano Pontano (1426–1503) vom König von Neapel die Aufgabe übertragen bekam, dessen Sohn und Thronfolger Alfonso zu erziehen und aufs Regieren vorzubereiten, schrieb er 1455 als eine Folge von Lehrbriefen einen Fürstenspiegel mit dem Titel De principe, in dem er das Idealbild eines Fürsten entwik633 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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kelte. Als Grundlage diente ihm neben der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die er als seine »philosophische Bibel« 40 verstand, auch Ciceros pädagogische Schrift De officiis, und deshalb ist das pädagogische Programm Pontanos ganz im Sinne von Aristoteles und Cicero ausgerichtet auf die Einhaltung von Maß und Mitte sowie auf die Kontrolle all der Affekte, die das harmonische Zusammenleben der Menschen gefährden könnten. Gemeint sind hier v. a. Jähzorn, offen bekundeter Haß und Neid. Daß Pontano seinen Zögling besonders davor warnt, an Schmeicheleien Gefallen zu finden und dem Ehrgeiz der Höflinge nachzugeben, dautet darauf hin, daß ein idealer Hofstaat für ihn so beschaffen ist, daß alle Beziehungen bei Hofe, insbesondere aber auch die Beziehungen zwischen dem Fürsten und seinen Höflingen auf Augenhöhe liegen und deshalb alles zu vermeiden ist, was diese anvisierte und zum Ideal erhobene tendenzielle Egalität aller Mitglieder eines Hofes gefährden könnte. Selbstverständlich enthält dieses Werk neben Programmen zur intellektuellen und ethischen Erziehung auch solche zur Entspannung und Erholung, und dazu gehört neben dem Reiten, der Jagd, der Musik, dem Theater, dem Ballspiel auch das Scherzen und Lachen, also die Kunst der Eutrapelie (urbanitas), wie dies auch in Rabelais’ Abtei Thélème der Fall ist, doch das kann bei der engen Anlehnung Pontanos an Aristoteles und Cicero auch nicht verwundern. Allerdings gilt es laut Pontano auch hier, das rechte Maß einzuhalten, denn das allzu laute Lachen (cachinnus) und das damit verbundene »Zurückschütteln des Hauptes, das mehr dem wiehernden Pferd als dem Menschen zukommt« 41, wollte Pontano strikt vermieden wissen, weil es den Kriterien von höfischer Anmut und Würde widerspricht. Viele Jahre später kam Pontano in seiner Rhetorik-Abhandlung De sermone (1499), mit der er speziell die sprachlichen Mittel für die höfische ars iocandi klären wollte, noch mal auf die Kunst der Eutrapelie zurück und begründet dort aufs neue die Lebensnotwendigkeit der Entspannung durch Scherzen und Lachen unter Berufung auf Aristoteles, Cicero und Thomas von Aquin, aber nun wird das Programm, das Pontano in seinem Fürstenspiegel von 1455 für den Thronfolger entworfen hatte, auf alle Mitglieder eines Hofes 634 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ausgeweitet. Damit war gleichsam der erste »Knigge« für Hofleute formuliert, auf den alle späteren aufbauen konnten, und zugleich damit war auch das Idealbild des höfischen homo facetus entworfen, das Ideal des witzig scherzenden und lachenden Höflings. Über die ars iocandi et ridendi heißt es hier: »Mit Scherzen und anmuthigen Aussprüchen sucht der urbane Mann nach der Arbeit Erholung; mit Salz würzt er seine Rede und mischt Liebenswürdigkeit hinzu; er wählt seine Arte passend, treffend, knapp; er verbindet damit, wo es nöthig ist, Miene und Gesten, wie sie beim Erzählen von Geschichtchen, von lustigen, scherzhaften Dingen (d. h. von ›Facetien‹) am Platze sind; so beschwichtigt er die Sorgen, hindert die Mühen; aber immer hält er die Grenzen des Anstandes ein, wie sie ihm seine Person, sein Amt, sein Alter, seine Stellung vorschreiben, und ebenso das ästhetische Maass, das ihn von der Breite in Wort und Scherz zurückhält. Ueberhaupt sieht er sehr genau darauf, dass er nicht etwa, während er Andere zum Lachen anregt, selbst Gegenstand der Lächerlichkeit werde, und besser für die Gasse, als für einen Zuhörerkreis angesehener, edler Männer zu passen scheine.« 42

Das Forum, auf dem das lachsoziologische Modell der ars iocandi et ridendi allein in Szene gehen kann, ist also ein gesellschaftlich homogener geschlossener Zirkel von Leuten, die sich in einer entspannten Atmosphäre »tendenzieller Egalität« 43 auf Augenhöhe begegnen, wie hierarchisch die Welt außerhalb dieses Zirkels auch immer beschaffen sein mag, und die alles vermeiden, was diese entspannte Atmosphäre trüben, die tendenzielle Egalität der Mitglieder aufkündigen und den Zirkel sprengen könnte. Das Lachen, das hier als Ergebnis der ars iocandi erregt werden soll, also »unser Lachen« im Sinne Ciceros, zeigt somit ein Janusgesicht: Innerhalb des Kreises hat es eine einschließende Funktion, weil es eine Atmosphäre stiftet, die alle seine Mitglieder umfaßt und trägt. Es hat andererseits aber auch eine ausschließende Funktion, weil es auch durch Scherze auf Kosten Außenstehender ausgelöst werden kann, wie die oben zitierten Facetien Gonellas gezeigt haben. Das schadenfrohe Verlachen von ausgetricksten Dummköpfen gefährdet die Harmonie des erlesenen Kreises edler Männer also in keiner Weise, weil der Nomos eutrapelistischer Lachkultur aus635 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schließlich für das Scherzen und Lachen innerhalb eben dieses Kreises gilt. Auf die verschiedenen rhetorischen Techniken, die den homo facetus instand setzen sollen, die ars iocandi optimal auszuüben, müssen wir hier nicht eingehen. Sie stammen sämtlich von Aristoteles, Cicero und Quintilian und zielen darauf ab, die Möglichkeiten und Grenzen komischer Rede im Sinne einer »nicht häßlichen Häßlichkeit« (turpitudo non turpiter) 44 zu bestimmen und auszuschöpfen. Viel wichtiger für unsere Fragstellung ist der Umstand, daß in einem Kreis, der »unser Lachen« zu lachen sucht, die Verteilung der Rollen in Geloiasten und Lachende nicht fest vorgegeben ist, wie dies bei der Institution des Hofnarren der Fall ist, sondern daß innerhalb des Kreises, in dem dieses lachsoziologische Modell verwirklicht wird, jedes Mitglied tendenziell immer Scherzender und Lachender, Erheiterer und Erheiterter zugleich sein kann und dies auch sein soll. Das hat zur Konsequenz, daß nicht nur das Scherzen, sondern auch das geloiastische Lachen in den Rang einer Kunst erhoben und bestimmten Regeln unterworfen werden soll, die sich am höfischen decorum orientieren und der Wahrung von Anstand und Würde dienen. Eine dieser Regeln, die Vermeidung des wiehernden Gelächters, kennen wir schon. Auf die anderen, genauso wichtigen Regeln, die Wahrung des Prinzips artem celare und die Wahrung der sprezzatura, werden wir weiter unten eigens einzugehen haben. Als Baldesar Castiglione (1478–1529) sein berühmtes Werk Il libro del Cortegiano 1528 vorlegte 45, das alsbald in immer neuen Auflagen 46 erschien, konnte er Pontanos Fürstenspiegel und auch dessen Ideal des homo facetus weitgehend übernehmen und zur Grundlage seines eigenen »Knigge« für Hofleute erheben. Deshalb zeichnet auch er die Hofgesellschaft als einen geschlossenen homogenen Kreis von Gleichrangigen, die respektvoll und auf Augenhöhe miteinander umgehen, und deshalb findet sich auch bei ihm die Warnung von Schmeichlern und Ehrgeizigen, weil Leute dieser Art die Homogenität und tendenzielle Egalität einer jeden Gruppe gefährden. Aber bei der Lektüre von Castigliones Werk über den Hofmann stellen sich ganz andere Fragen als bei der Lektüre von Pontanos 636 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Fürstenspiegel, denn hier fragt man sich sofort, ob der Hof, den Castiglione schildert, das mehr oder weniger realistische Abbild des Hofes von Urbino ist, an dem er selbst lange Zeit gelebt hatte, oder ob er das Idealbild eines Hofes mit hoch idealisierten Höflingen 47 entwirft, das er bloß in Urbino lokalisiert hat und das er dem realen Hofleben seiner Zeit als Spiegel vorhält. Der Hof von Urbino war der Hof eines politisch ganz unbedeutenden Zwergstaates, und wenn Castiglione im ganzen Buch nirgendwo vom Regieren und Verwalten, also von der Ausübung politischer Macht spricht, so wahrscheinlich deshalb, weil es in diesem Zwergstaat Urbino nicht viel politische Macht gegeben hat, die man hätte gestalten und ausüben können. Wenn man das Hofleben, wie es Castiglione schildert, mit dem wirklichen Hofleben der Zeit vergleicht 48, so merkt man sofort, daß der von ihm geschilderte Hof von Urbino mindestens genauso idealisiert ist wie der Hof des Königs Artus in den mittelalterlichen Ritterepen, denn in beiden herrscht eine ewige Feiertagsstimmung, an keinem von beiden Höfen wird gearbeitet, regiert, verwaltet. Und vor allem: An beiden Höfen herrscht eine geradezu gespenstische Atmosphäre unendlicher Harmonie. Man könnte auch sagen, es herrsche absolute Gleichheit und deshalb auch absolute politische Windstille, nicht anders als in der Abtei Thélème. Im Roman de brut des Meisters Wace von 1155, einem der frühesten Werke über den legendären König Artus und seine Ritter der Tafelrunde, heißt es denn auch ausdrücklich über diesen edlen Kreis: »Dort saßen seine Vasallen alle in demselben ritterlichen Rang und ohne Abstufung voneinander; und alle wurden in gleicher Weise bedient; niemand unter ihnen konnte sich rühmen, einen besseren Platz innezuhaben als ein ihm Ebenbürtiger, alle saßen in dem Kreis und keiner saß abseits.« 49

Ich wage deshalb die These, daß die intensiv betonte Gleichheit der Hofleute geradezu ein konstitutives Kriterium für die Idealität eines geschilderten Hofes ist und dieses Hofleben in den Bereich der Utopie verweist, denn der Normalfall des Hoflebens ist, wie überall im Leben, nicht Gleichheit und Harmonie, sondern die »Konkurrenzsorge« (Gadamer). 637 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ist also, anders gefragt, Castigliones Werk schon ein Zeugnis »aristokratischer Romantik« 50, ein Zeugnis nostalgischer Sehnsucht nach vor-hierarchischen Strukturen, wie sie schon Pontano in seinem Fürstenspiegel entworfen hatte, aber deutlich erkennbar als erstrebenswertes Ideal, nicht als faktischen Befund, ganz so, wie Rabelais dies eine Generation nach Castiglione mit dem Entwurf seiner utopischen Abtei Thélème tun wird? So gesehen dürfte auch die von Castiglione so intensiv beschworene tendenzielle Egalität aller Hofleute einschließlich des Fürsten eher ein frommer Wunsch als gesellschaftliche Realität der Zeit um 1520 gewesen sein. Aber selbst wenn es nur Wunschdenken war, mindert dies den Erkenntniswert von Castigliones Buch in keiner Weise, weil wir dann nicht in Versuchung geraten, das dort geschilderte heitere Hofleben als Dokument einer Geschehensgeschichte des Lachens an den Höfen der Renaissance zu lesen, sondern dieses heitere Leben an einem idealen Hof als lachsoziologischen Modellfall in systematischer Absicht analysieren können. Dieses Erkenntnisinteresse gilt auch für die Beschäftigung mit den anderen Traktaten über das Hofleben. Wenn wir nun im folgenden eine Reihe von Traktaten über das Hofleben unter gelotologischen Aspekten untersuchen, so geht es auch hier nicht in erster Linie darum, aufzuzeigen, wie durch die Verschärfung hierarchischer Strukturen im Absolutismus das reale Lachen an den Höfen sich wandelt, bis es schließlich auf dem Höhepunkt des Absolutismus ganz verstummt, sondern es gilt zu zeigen, wie das lachsoziologische Modell selbst sich an den absolutistischen Höfen wandelt und deshalb konzentriert sich unsere Fragestellung immer auf den sich wandelnden Zusammenhang von Lachsituation, Lachgeschehnis und Lacherlebnis, und speziell auf den Zusammenhang zwischen eutrapelistischem Scherzen und Lachen und der Situation gesellschaftlicher Homogenität in entspannter Atmosphäre. Dabei ist es letztlich gleichgültig, in welchem Milieu dieses lachsoziologische Modell ausagiert wird, denn dies kann an einem idealen Hof genauso gut geschehen wie in einer Tischrunde von bürgerlich-akademischen Anakreontikern, in einer kichernden Meute von Teenagern, am Stammtisch in der Dorfkneipe oder bei einem Ausflug am Vatertag; entscheidend ist nur die relative Homogenität der jeweiligen Runde. 638 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Somit ist nun zu fragen, nach Maßgabe welcher Kriterien Castiglione in seinem lachsoziologischen Modell »Scherzen und Lachen am idealen Hof« Personal, Programm und situativen Rahmen bestimmt. Daß das Personal seines Szenarios adlig sein muß, steht für Castiglione fest, hat aber die Konsequenz in sich, daß auch das tief verinnerlichte adlige Arbeitsverbot das Programm dieses Szenarios entscheidend mit überformt und die Situation eines nicht enden wollenden Feiertags entstehen läßt, der irgendwie ausgefüllt werden muß, damit die Hofleute nicht in Melancholie und Trübsinn verfallen. Das dauernde Scherzen und Lachen, das das beherrschende Programm dieses Szenarios »Hofleben« ausmacht, verdankt sich also durchaus nicht unbedingt sprühender Lebensfreude, sondern auch dem Bestreben, die allfällig drohende Leere auszufüllen. Daß das adlige Arbeitsverbot auch das Ideal der sprezzatura, der locker-leichten Unangestrengtheit, mit geprägt hat, werden wir gleich sehen, denn »in der sprezzatura wird das Arbeitsverbot der aristokratischen Selbstdefinition ästhetisch übersetzt und verallgemeinert« 51. Das aber bedeutet, daß auch das Lachen, das hier durch Scherze aller Art erregt werden soll, nichts an sich haben darf, was in irgendeiner Form nach Anstrengung, Mühe, oder ernsthafter Konzentration aussieht, und schon deshalb scheidet jede Art von Gelächter aus, bei dem man kaum noch an sich halten kann. Und das heißt: Jede Art von Gelächter, das sich als »unser Lachen bei Hofe« versteht, hat sich strikt in den unteren Graden von Intensität und Ausgeprägtheit zu bewegen. Oder anders formuliert: Das legendäre »homerische« Gelächter, das die olympischen Götter anzuschlagen pflegten, war das höfische Lachen nicht, sondern vom Hofmann erwartete man laut Castiglione, »daß er mit einer gewissen Anmut die Herzen der Hörer zu ergötzen und sie mit gefälligen Aussprüchen und Scherzen zurückhaltend zu Heiterkeit und Gelächter zu verleiten versteht, sodaß er fortgesetzt erfreut, ohne je Verdruß zu erwecken oder gar zu übersättigen.« (S. 166)

Obwohl es in Castigliones Buch in einem fort heißt, »sagte er/sie lachend« oder »nachdem sich das allgemeine Gelächter wieder gelegt hatte« und damit der Eindruck erweckt wird, daß alle Gespräche der Hofleute in einen Strom von Gelächter eingebettet sind 639 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und von diesem getragen werden, wirkt dieses nicht enden wollende Lachen genauso gekünstelt und posenhaft wie die auf Dauer gestellte Zerknirschung des benediktinisch-bernhardinischen Mönches, der ständig mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenem Blick einher wandelt. Dies wirkt auch deshalb so albern und affektiert, weil ein heutiger Leser über keinen der dort erzählten Scherze auch nur lächeln kann (zumindest geht es mir so) und das Lachen über derlei fade Scherze eher befremdet, obwohl Castiglione doch die ehrwürdigsten rhetorischen Traditionen aufbietet, um das Scherzen gleichsam akademisch korrekt zu gestalten. Die Quelle ist natürlich in erster Linie die Rhetorik Ciceros, deren Kernsätze Castiglione v. a. von Messer Bernardo vortragen läßt, vielleicht als kleine Bosheit gegenüber Bernhard von Clairvaux, um deutlich zu machen, daß das Rollenfach des scherzenden und lachenden Hofmannes das genaue Gegenbild zum demütigernsten christlichen Mönch ist, und dieser Messer Bernardo demonstriert denn auch sofort, wie genau er seinen Aristoteles kennt, wenn er zu dozieren anhebt: »Lachen ist uns so eigentümlich, daß man, um den Menschen zu beschreiben, zu sagen pflegt, er sei ein zum Lachen fähiges Tier. Denn das Lachen erlebe man nur beim Menschen, und es ist fast immer Zeichen einer gewissen Heiterkeit, die man im Herzen fühlt, das von Natur zur Fröhlichkeit strebt und nach Ruhe und Erholung begierig ist; zu diesem Zweck haben die Menschen vielerlei Feste und manche verschiedenartigen Schaukünste erfunden.« (S. 171)

Die Fähigkeit zum Lachen wird also zum proprium hominis erklärt und dessen kulturelle Ritualisierung aus dem existentiellen Bedürfnis nach Erholung und Entspannung, und all dies gilt laut Bernardo nicht nur für heilige Gottesmänner und Philosophen, sondern auch für gewöhnliche Feldarbeiter und sogar für Sträflinge. Deshalb sei jeder entschieden zu loben, der dieses allgemein menschliche Bedürfnis nach Lachen zu stillen vermag. In Bernardos Argumentation wird deutlich, daß er das Lachen in reduktionistisch verkürzter Sicht sieht, nur das heitere Bekundungs-Lachen im Blick hat und zum alleinigen Lachen verallgemeinert. Dies liegt aber in dem von Castiglione entworfenen lachsoziologischen Modell begründet, innerhalb dessen er argumentiert, da 640 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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es hier nur dieses ganz bestimmte geloiastische Lachen gibt und geben kann. Aber, so wäre zu fragen, wovon soll sich denn ein Hofmann erholen, da er ja nicht arbeitet und in einem ewigen Feiertag lebt? Und, so wäre weiter zu fragen, verdankt sich die posenhafte Albernheit des hier beschriebenen Lachens vielleicht gerade diesem Umstand, daß das Lachen in der Feiertagsstimmung dieses idealen Hofes gerade kein existentielles Bedürfnis nach Entspannung und Erholung befriedigt, sondern bestenfalls ein Luxusbedürfnis ist, es sei denn, Castigliones Hofleute hätten die Demonstration ewiger Heiterkeit selbst geradezu als Arbeit empfunden. Was es hier zu befriedigen galt, dürfte also höchstens der Wunsch gewesen sein, zu zeigen, was man alles ungestraft vergeuden darf. Der enge Zusammenhang von »demonstrativem Müßiggang« und »demonstrativem Konsum«, den Thorstein Veblen 52 als konstitutives Element einer jeden Elitenkultur aufgezeigt hat, gilt also auch für die Höflinge an Castigliones idealem Hof oder für die Insassen der Abtei Thélème, nur mit dem Unterschied, daß diese nicht nur materielle Güter zu vergeuden hatten, sondern darüber hinaus auch noch kathartische Ressourcen, wenn sie sich an ihrem ewigen Feiertag von eben diesem Feiertag zu erholen suchen. Unter diesem Aspekt erscheint ein längeres wörtliches Zitat aus Ciceros Rhetorik (II,235), mit dem Messer Bernardo seinen Vortrag über das Wesen des Lachens fortführt, sofort in einem ganz neuen Licht, denn bei Cicero dient diese Passage dazu, die in der Gesprächsrunde zu klärenden Fragen allein auf solche der Rhetorik einzugrenzen, bei Bernardo und Castiglione aber dazu, der Frage nach der Beschaffenheit des Lachens in seinen unterschiedlichen Ausprägungen eher auszuweichen und all die Formen des Lachens generell auszugrenzen, die sich als unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollziehen, denn dies würde dem Ideal der locker-leichten Unangestrengtheit (sprezzatura) widersprechen. Also auch hier wird das Lachen wieder reduziert auf den Spezialfall des lachsoziologischen Modells, das wir als »Lachen auf Augenhöhe in entspannter Atmosphäre« bestimmt haben. Das wörtliche Cicero-Zitat lautet: »Was dieses Lachen aber eigentlich ist, wo es sitzt und auf welche Weise es sich zuweilen der Adern, der Augen, des Mundes und der Seiten

641 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bemächtigt und uns zum Bersten zu bringen sucht, so daß es bei aller Anstrengung unmöglich ist, es zurückzuhalten, darüber zu streiten, werde ich Demokrit überlassen, der es doch nicht zu sagen wußte, wenn er es vielleicht auch verspräche.« (S. 172)

Wir werden sehen, daß Laurent Joubert genau diese hier abgewiesenen Fragen zum Thema seines Traité du Ris (1579) machen wird. Was Castiglione resp. sein Bernardo selbst bietet, ist nichts anderes als eine Theorie komischer Rede in engster Anlehnung an Aristoteles, Cicero und Quintilian, bringt für uns also nichts Neues. Bemerkenswert sind jedoch seine Ausführungen über die Grenzen der höfischen ars iocandi, denn hier erwähnt er neben dem uns schon bekannten Nomos der eutrapelistischen Lachkultur außerdem noch die Kriterien der politischen Klugheit und der religiösen Opportunität, und an diesem Punkt kommt hinter dem utopischen Konstrukt des idealen Hofes die Situation an den realen Höfen der Zeit mit ihren realen Hierarchien zum Vorschein, wenn es da z. B. heißt: »Man muß auch auf diejenigen Rücksicht nehmen, die von jedermann allgemein wertgehalten und geliebt werden oder mächtig sind, weil man sich manchmal gefährliche Feindschaften zuziehen kann, wenn man sie neckt. Passend ist es jedoch, diejenigen Fehler zu verspotten, die sich an Personen finden, die weder so elend sind, daß sie Mitleid verdienen, noch so mächtig, daß ein kleiner Unwille ihrerseits großen Schaden anrichtet.« (S. 173)

Wir werden sehen, daß in den späteren Traktaten über das Hofleben dieser Aspekt immer wichtiger wird und dann, wenn überhaupt, nur noch nach Maßgabe politischer Klugheit gescherzt und gelacht wird, da nun das höchste Ziel des Hofmannes darin besteht, allseits zu gefallen und in der höfischen Hierarchie möglichst hoch zu steigen. Bei Nicolas Faret werden wir nachlesen können, zu welchen Konsequenzen diese Schere im Kopf des Scherzenden und Lachenden führt. 2.8.6.2.2 Das Paradox der sprezzatura Castiglione übernahm von Cicero nicht nur dessen rhetorische Techniken, sondern auch das dahinterstehende ästhetische Prinzip 642 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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celare artem und übertrug dieses Prinzip der kunstfertigen Kunstlosigkeit auch auf die höfische ars iocandi et ridendi, sodaß für ihn auch die artifizielle Selbstdarstellung eines Hofmannes in seiner Rolle als Hofmann nach Maßgabe eines ästhetischen Prinzips zu gestalten und zu bewerten war. Bei Cicero taucht dieses Prinzip im zweiten Buch der Rhetorik im Zusammenhang mit der Frage auf, wie der Redner von den Affekten, die er auf seine Zuhörer übertragen will, zwar ergriffen (captus) werden muß, von ihnen aber gleichwohl nicht überwältigt (raptus) werden darf. Es geht also um das Paradox, wie der Redner 53 das tendenziell unverfügbare Widerfahrnis der Affekte sich verfügbar und wirkungsästhetisch nutzbar machen kann. Demonstriert wird dies bei Cicero anhand des Berichts über eine Trauerrede an der Leiche des Toten, wobei der Referent betont, er habe nicht eher versucht, »andere zum Mitleid zu bewegen, als bis ich selbst von Mitleid ergriffen (captus) 54 war. (…) Nicht nach der Regel einer Kunst (ars), von der ich nichts zu sagen wüßte, sondern aus echter, schmerzlicher Bewegung zerriß ich seine Tunika, um seine Narben den Blicken darzubieten. (…) Wenn all die Worte, die ich damals sagte, frei von Schmerz gewesen wären, so hätte meine Rede nicht nur nicht mitleiderregend, sondern lächerlich gewirkt.« (S. 329 ff.)

Wie man sieht, schweigt sich der Referent (und Cicero mit ihm) darüber aus, durch welche Psychotechniken ein Redner oder Schauspieler seine Affekte verfügbar machen und gezielt instrumentalisieren könne, und so ist es auch bei Castiglione, der die kunstfertige Kunstlosigkeit zwar zur allgemeinen Regel für alle menschlichen Verrichtungen erhebt und sie auch eindringlich beschreibt, aber nicht verrät, wie man sie erlangen könnte. Für dieses von Castiglione neu erfundene Wort sprezzatura, das schwer zu übersetzen ist 55, könnte man im Deutschen »Lässigkeit«, »Leichtigkeit«, »Gelöstheit«, »Mühelosigkeit«, »Unverkrampftheit« oder »Unangestrengtheit« setzen; im Italienischen gehört es zum Wortfeld sprezzare, was man mit »verachten« oder »geringschätzen« wiedergeben könnte. Gemeint ist also ein Verhalten, bei dem man auf das, was im man Augenblick tut, nicht mit aller zur Verfügung stehenden Aufmerksamkeit achtet. Das Ideal der sprezzatura besteht demnach 643 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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darin, daß man das, was man gerade tut, in einer Art und Weise tut, als sei dieses Tun nicht eine Arbeit, die Nachdenken, Anstrengung und Aufmerksamkeit verlangt, sondern geschehe »von selbst« oder auch »wie von selbst«. Wer jemals das Glück hatte, einem wirklich guten Handwerker oder Musiker zuzuschauen, wird wissen, daß man hier tatsächlich den Eindruck gewinnen kann, dieses Tun vollziehe sich in spielerischer Leichtigkeit. Wer selber ein Handwerk oder ein Instrument wirklich gut beherrscht, weiß aber auch, wie unendlich schwer es ist, durch jahrelange Übung es dahin zu bringen, daß sich dieser Eindruck einstellt, alles gehe ganz leicht und ohne jede Anstrengung »wie von selbst«. Für Castiglione ist die sprezzatura eine Variante von Anmut und Grazie und markiert für ihn zugleich die Grenze zwischen Kunst und Künstelei, und deshalb heißt es bei ihm: »Da ich aber schon häufig bei mir gedacht habe, woraus die Anmut entsteht, bin ich, immer, wenn ich diejenigen beiseite lasse, die sie von den Sternen haben (also als charisma, als göttliche Gnadengabe), auf eine allgemeine Regel gestoßen, die mir in dieser Hinsicht bei allen menschlichen Angelegenheiten, die man tut oder sagt, mehr als irgend eine andere zu gelten scheint: nämlich so sehr man es vermag, die Künstelei (affettazione) als eine rauhe und gefährliche Klippe zu vermeiden und bei allem, um vielleicht ein neues Wort zu gebrauchen, eine gewisse Art von Lässigkeit (una certa sprezzatura) anzuwenden, die die Kunst verbirgt (che nasconde l’arte) und bezeigt, daß das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken (senza fatica e quasi senza pensarvi) zustande gekommen ist. Davon rührt, glaube ich, großenteils die Anmut (grazia) her. Denn jeder weiß um die Schwierigkeiten bei seltenen und wohlgelungenen Dingen, wogegen die Leichtigkeit dabei größte Bewunderung erregt. Das Erzwingen und, wie man sagt, an den Haaren Herbeiziehen erweckt dagegen den Eindruck höchster Ungeschicklichkeit und läßt alles, so groß es auch sein mag, für gering geachtet werden. Man kann daher sagen, daß wahre Kunst ist, was keine Kunst zu sein scheint; und man seinen Fleiß in nichts anderes zu setzen hat, als sie zu verbergen.« (S. 53 f.)

In letzter Konsequenz heißt dies, daß auch das Verbergen selbst noch verborgen werden muß. Obwohl Castiglione das Ideal der sprezzatura für alle mensch644 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lichen Verrichtungen gelten lassen will, gilt es für ihn faktisch nur für das Handeln in der Öffentlichkeit, das sich auch explizit an die Öffentlichkeit wendet, also nur für jede Form öffentlicher Auftritte. Diese Einschränkung ist wichtig, weil Castiglione sie schlicht übersehen hat, denn er denkt ja generell und ausschließlich in den Kategorien von Rollenfächern und Auftritten in der Öffentlichkeit, da sein Thema die elaborierte Selbstdarstellung und Selbstinszenierung des Hofmannes in der »repräsentativen Öffentlichkeit des Hofes« 56 ist, der sich immer dessen bewußt zu sein hat, daß alles, was er tut und sagt, vor Zuschauern geschieht, denn jede Art von Repräsentation, so Habermas, ist »auf eine Umgebung angewiesen, vor der sie sich entfaltet« (S. 23). Das oben zitierte Beispiel eines geschickten Handwerkers an seinem Werktisch wäre Castiglione nie in den Sinn gekommen. Dann beschreibt er, um ein Gegenbeispiel zu nennen, einen ungeschickten Tänzer, der beim Tanzen die Schritte einzeln zu zählen scheint, und läßt seinen Referenten hinzufügen: »Welches Auge ist so blind, darin nicht die Ungeschicklichkeit der Künstelei (affettazione) zu sehen, und dagegen bei vielen der hier anwesenden Herren und Damen die Anmut (grazia) jener lässig-lockeren 57 Ungezwungenheit zu erkennen, denn hinsichtlich der körperlichen Bewegungen benennen viele sie auf diese Weise, die beim Sprechen oder Lachen oder Sichanpassen so tut, als ob man auf nichts achte und an alles andere eher als an dieses denke, um den Zuschauer glauben zu machen, man wisse fast nichts davon und könne gar nicht irren?« (S. 54)

Als zweites Beispiel mißlingender Anmut führt Castiglione einen miserablen Reiter an, und dieses Beispiel führt uns ins Zentrum des Problems: »Seht, wie ungeschickt ein Reiter wirkt, wenn er sich zu steif und, wie wir zu sagen pflegen, auf venezianische Art 58 im Sattel zu halten bemüht, im Vergleich zu einem anderen, der nicht daran zu denken scheint, und so locker und sicher zu Pferde sitzt, als wenn er zu Fuß wäre.« (S. 55)

Dieses Beispiel führt uns deshalb ins Zentrum des Problems, weil es in der Reitersprache einen treffenden Ausdruck gibt, der das Problem auf den Punkt bringt: Von einem schlechten Reiter sagt man 645 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nämlich, er sitze auf dem Pferd, von einem guten, er sitze im Pferd, oder auch, er reite »losgelassen«. Gemeint ist mit dieser schönen Wendung die wechselseitige Einleibung von Roß und Reiter, die zusammen einen neuen Gesamtleib im Sinne von Hermann Schmitz bilden und sich als dieser in völliger wechselseitiger Resonanz bewegen. Aber, so ist nun zu fragen, wie gelangt man dahin, irgendwelche Verrichtungen in dieser lockeren und unangestrengten Art auszuüben und dazu noch vor einem kritischen Publikum? Lessing spricht das Problem in einem kleinen Vierzeiler an, den er einem Schauspieler 1777 ins Stammbuch schrieb, und dieser lautet: Kunst und Natur Sei auf der Bühne Eines nur; Wenn Kunst sich in Natur verwandelt, Dann hat Natur mit Kunst gehandelt. 59

Wie kann also, um ein weiteres Mal zu fragen, aus Kunst Natur werden? Wie kann etwas, das man zu tun hat, so wirken, als sei es keine absichtsvoll und planmäßig vollzogene Handlung, sondern geschehe »von allein«? Die Lösung für dieses Paradoxon ergibt sich, wie ich glaube, erst, wenn man den Widerfahrnischarakter jeglichen Handelns begriffen und akzeptiert hat und zugleich damit die »Grundeinsicht« (Kamlah), daß Ungezwungenheit sich nicht erzwingen läßt, sondern sich irgendwann und irgendwie von selbst einstellt, wenn man genügend Geduld aufbringt, die entsprechenden Verrichtungen lange genug zu üben und auf das beglückende Widerfahrnis dieser Leichtigkeit vertrauensvoll zu warten. Die Wendung, etwas geschehe »wie von selbst«, benennt ja gerade den Umstand, daß gelingendes Handeln für uns ein Widerfahrnis ist, oder, mit Lessing zu sprechen, die Verwandlung von »Kunst« in »Natur«. Dazu Kamlah: »Das hier und stets geforderte ›Sichloslassen‹ ist freilich eine Weise des menschlichen Verhaltens, nicht aber eine neue Weise des menschlichen Handelns. Am Handeln-Können gemessen ist das Können des Loslassens vielmehr ein paradoxes Können, ein nichtkönnendes Können sozusagen, was in dem passivischen Wort ›Gelöstheit‹ triftig zum Ausdruck kommt.« 60

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So gesehen ist Castigliones Ideal der sprezzatura in der Tat eine »universelle Regel«, eine »regula universalissima per tutte le cose umane«, die in der Tat auf alle menschlichen Angelegenheiten angewendet werden darf und als »Grundeinsicht« und »Grunderfahrung« sogar zur Grundlage einer eudämonistischen Ethik erhoben werden kann, wie Kamlah dies ja auch getan hat, auch wenn das Wort sprezzatura bei ihm nicht fällt. Wie aber ist das Ideal der sprezzatura auf die ars iocandi et ridendi anzuwenden? Wie kann, mit Lessing zu reden, auch die Kunst des Scherzens und Lachens sich in Natur verwandeln? Bei der ars iocandi kann sich die sprezzatura als eine Form der »eleganten Selbstzurücknahme«61 noch an den tradierten rhetorischen Techniken orientieren, die bei Castiglione ausführlich erörtert werden, auf die wir hier aber nicht weiter eingehen müssen, weil sie sich ganz in dem uns schon bekannten Rahmen der Wohlanständigkeit bewegen, die seit Aristoteles und Cicero als kanonisch gilt und sich auf die strikte Beachtung des Nomos eutrapelistischer Lachkultur sowie auf das Prinzip der kontrollierten Selbstzurücknahme gründet. Aber wie steht es mit der Anwendung des Ideals der sprezzatura auf die ars ridendi? Wie kann man dafür sorgen, daß das verfügbare Lachen genauso spontan wirkt wie das unverfügbare spontane, das uns als Widerfahrnis überkommt? Und vor allem: Wie kann das unverfügbare Lachen verfügbar gemacht werden und trotzdem immer noch unverfügbar spontan wirken? Über all diese Fragen schweigt Castiglione sich zwar weitgehend aus, bietet aber doch einige wenige Hinweise, die uns auf eine mögliche Lösung dieses Paradoxons führen. Zunächst gilt auch hier für Castiglione das Gebot der kontrollierten Selbstzurücknahme, das den Höfling dazu bringt, das allzu exzessive cachinnus-Lachen, bei dem man wiehernd den Kopf zurückwirft und buchstäblich hin und her gerissen wird, zu vermeiden, da diese Art zu lachen allzusehr an einen Krampf erinnert und dem Ideal der Lockerheit und Unangestrengtheit widerspricht. Die Warnung vor dem cachinnusLachen fanden wir ja schon bei Pontano. Wenn man sich die Art des Lachens vor Augen hält, die sich aus Castigliones Schilderungen ergibt, so erinnert diese Art zu lachen 647 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sehr an das leicht abrufbare Lachen einer angeheiterten Lachgemeinschaft am Vatertag oder beim Fasching, die aufgrund ihrer extrem niedrigen Heiterkeitsschwelle bereit ist, über alles zu lachen, aber auch gleich wieder zu verstummen und gleich wieder in Lachen auszubrechen, weil sie entschlossen ist, in der aktuellen Situation grundsätzlich nichts ernst zu nehmen. Plessner würde hier sagen: »Man lacht leicht, aber flach.« (VII,280) Das Prinzip der Selbstzurücknahme, das schon die höfische ars iocandi prägte, prägt also auch die höfische ars ridendi. Man könnte auch sagen, hier werde die Maxime Quintilians »Non multa, sed multum« in ihr Gegenteil verkehrt und nicht das uroborisch geprägte Lachen gelacht, das schlagartig ausbricht, sich dann allmählich verzehrt und wieder endet, sondern ein Lach-Bordun, ein über allen Beteiligten schwebender Strom kollektiver Heiterkeitsbekundung, der durch immer neue Zuflüsse genährt und erhalten wird und in den der einzelne Lachende in Resonanz um so leichter einstimmen, eintauchen, mitschwimmen und mitlachen kann, je größer seine Bereitschaft ist, nichts ernst zu nehmen. Anders formuliert: Das an Castigliones idealem Hof favorisierte Lachen ist eher eine Atmosphäre von Heiterkeit, die in ihrer Umhaftigkeit die gesamte Hofgesellschaft zu einer integralen Lachgemeinschaft zusammenschließt und diese als kollektive gehobene Stimmung in Resonanz versetzt, wie dies bei einem gelungenen Fest zu geschehen pflegt. So gesehen ist es durchaus nicht utopisch, wenn Castiglione das Ideal der sprezzatura auch auf die ars ridendi angewendet wissen will, da kollektive Heiterkeitsbekundungen sich sehr wohl zu einem Habitus verfestigen und somit zu einer zweiten Natur werden können, allerdings nur, solange die zugrunde liegende Situation spannungsfreier Homogenität vorliegt. Wird diese irgendwie beeinträchtigt, zerbricht sofort auch die Atmosphäre kollektiver Heiterkeit und das entsprechende Lachen erstirbt und macht dem Ernst des Lebens Platz. Diese Art von Lachen erstirbt aber auch, wenn sich die Fiktion spannungsfreier Homogenität nicht mehr aufrecht erhalten läßt, weil sie der Macht der politischen Fakten weichen muß, und das heißt hier, daß die Atmosphäre kollektiver festlicher Heiterkeit der 648 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Atmosphäre allwaltender Konkurrenzsorge weichen mußte, die das Leben an den absolutistischen Höfen von Grund auf bestimmte. Denn am absolutistischen Hof, so Castiglione, konnte es dem idealen Hofmann nicht mehr darum gehen, auf Augenhöhe die anderen Mitglieder des Hofes »zu ergötzen und mit gefälligen Aussprüchen und Scherzen zurückhaltend zu Heiterkeit und Gelächter zu verleiten, so daß er fortgesetzt erfreut, ohne je Verdruß zu erwecken oder gar zu übersättigen« (S. 166), sondern von nun an ging es ausschließlich darum, in der Hierarchie des Hofes möglichst hoch zu steigen und möglichst nah am König zu sein, um diesem zu gefallen. Aus der tendenziell egalitären Hofgesellschaft an Castigliones idealem Hof war das strikt hierarchische Gebilde des absolutistischen Hofes geworden, an dem es Beziehungen auf Augenhöhe gar nicht mehr gab und auch nicht mehr geben konnte, sondern nur noch Beziehungen nach oben oder unten, da jeder Höfling entweder höher oder tiefer in der Gunst des Fürsten stand als der andere und dadurch alle füreinander zu Konkurrenten geworden waren. Matteo Peregrini (1595–1852) bringt in seinem Traktat Difesa Del Savio In Corte von 1634 über den stoischen Weisen als dem neuen Ideal des Hofmanns die Atmosphäre am absolutistischen Hof auf den Punkt, wenn er schreibt, jeder Höfling sei allein schon durch seine Existenz eine Beleidigung für den anderen: »vn offesa dell’altro.« 62 Damit war das von Castiglione entworfene lachsoziologische Modell kein Muster mehr, das man am absolutistischen Hof hätte anwenden können, denn am absolutistischen Hof herrscht nicht die entspannte Atmosphäre gelassener Heiterkeit, sondern der gnadenlose Verdrängungswettbewerb der Rivalen um die Gunst des Herrschers, und deshalb wird die Atmosphäre dort bestimmt durch Haß, Mißgunst, Neid und Verachtung. Obsolet geworden war damit das Ideal der sprezzatura, die dem Prinzip disprezzo (Verachtung) weichen mußte; überflüssig geworden war aber auch die Forderung nach Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander, die dem Prinzip der Verstellung wich, und die von Pontano verpönte Schmeichelei war sogar zu einer Notwendigkeit geworden, um am absolutistischen Hof überhaupt überleben zu können. Deshalb preist der Zyniker Peregrini in seinem Traktat 649 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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über den Weisen am Hof die Fähigkeit zum schamlosen Schmeicheln über alles Maß hinaus (lodare oltra la dignità) 63 als höchste Kunst. Zugleich wandelte sich damit auch das Selbstverständnis des Hofmanns vom allzeit heiter scherzenden und lachenden homo facetus zum ernsten und stets wachsamen stoischen Weisen (sapiens), der nicht nur all seine Rivalen am Hof verachtet, sondern letztlich auch sich selbst. Damit war die neue Leitfigur des Hoflebens der höfische Funktionär, der stoische Zyniker, der lächelnd über die eigene Leiche geht. Wenn am absolutistischen Hof überhaupt noch gelacht wurde, konnte es nur noch ein Lachen unter diesen neuen Bedingungen sein: Das Lachen auf Augenhöhe gab es nicht mehr; nach oben konnte das Lachen sich auch nicht richten, weil es sich dann in letzter Instanz gegen den Fürsten gerichtet hätte, und so blieb nur noch das Lachen übrig, das sich nach unten richtet und das wir als Auslachen-von-oben schon kennen, und das von den Fragen »Was droht?« und »Wer wen?« beherrscht wird. 2.8.6.2.3 Von Castiglione zu La Rochefoucauld oder Das Ideal des stoischen sapiens bei Hofe Um den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem idealen Hof Castigliones und dem realen Hof der absolutistischen Epoche, wie er bei Peregrini, Faret, Graciàn und La Rochefoucauld geschildert wird, deutlich zu machen, erinnere ich an einen Versuch aus dem Physikunterricht: Wenn man Feilspäne aus Eisen auf einer Glasplatte ausschüttet, so liegen sie in zufälliger Verteilung und ohne erkennbare Ordnung da. Hält man aber einen Magneten unter die Scheibe, so richten sich die Späne schlagartig nach dem Magneten aus und zeigen alle mit ihrer Längsachse auf ihn. Andere Richtungen als die zentripetale Ausrichtung auf den Magneten gibt es dann nicht mehr. Ganz analog ist die absolutistische Hofgesellschaft auf den Fürsten oder König ausgerichtet, sodaß es am absolutistischen Hof keinerlei Loyalitäten gibt außer der Beziehung zum Souverän, und dadurch wird das gesamte Verhalten am absolutistischen Hof bis in alle Einzelheiten hinein bestimmt, und selbstverständlich auch 650 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das Scherzen und Lachen. Manfred Hinz, dessen umfangreicher Studie über Hofmanns-Traktate ich einige wertvolle Anregungen verdanke, bringt auch dieses Problem treffend auf den Punkt, wenn er über die ars iocandi am absolutistischen Hof schreibt: »Auch die Poetik der Witze, die seit dem Cortegiano ein fixer Bestandteil der Hofmannstraktate geblieben waren, kann die Kluft, die sich zwischen dem Hofmann und dem Souverän aufgetan hat, nicht mehr überbrücken. Witze sind nur noch von oben nach unten, d. h. letztlich nur noch dem Herrscher selbst gestattet, dem man wiederum keine Regeln zu diesem Zweck an die Hand geben darf.« (S. 423)

Dann verweist Hinz auf einen zentralen Satz aus Peregrinis Rechtfertigung des zynischen Weisen am absolutistischen Hof, demzufolge ein Höfling die Scherze seines Königs über sich ergehen lassen müsse, sie aber nicht erwidern dürfe, da dies als dreiste Anmaßung gelten würde, denn der absolutistische Herrscher sei auch im Scherzen und Lachen legibus absolutus, stehe also auch hier über jedem Gesetz. Und dann fährt Hinz fort: »Die Witze dürfen also der sozialen Hierarchie nicht mehr entgegenlaufen, sie sind überdies, wie Peregrini feststellt, an den neuen Großhöfen im Vergleich zu früheren Zuständen, die z. B. der Cortegiano beschrieben hatte, aus der Mode gekommen. Das Lachen, das Castigliones Hofgesellschaft zusammengehalten hatte, spielt bei Peregrini keine Rolle mehr. So ist es auch für ihn völlig indiskutabel, daß der adelige Hofmann bestimmte Verhaltenssektoren den ›buffoni‹ (Hofnarren) entlehnen sollte, wie auch umgekehrt die Abgrenzung des Hofmannes gegen ›buffoni‹, ›parasiti‹, ›motteggiatori‹ (Spottvögel) usw., die in den früheren Hofmannstraktaten so viel Raum eingenommen hatten, kein Problem mehr darstellt. Witze sind Peregrinis Hofmann untersagt, weil auf der einen Seite keine egalitäre Konversation innerhalb der Hofgesellschaft mehr in den Blick kommt und auf der anderen Seite Witze gegenüber dem Herrscher eine unverzeihliche soziale Anmaßung bedeuteten. Jeder Witz nämlich, soweit bezieht sich Peregrinis Behandlung der ›mordacità‹ (Bissigkeit) nach wie vor auf die ciceronianische ›risus‹-Lehre, enthält einen impliziten Tadel, den sich der Untergebene gegenüber dem höher Gestellten niemals herausnehmen darf. Auch der Tadel kann nur von oben nach unten gerichtet sein.« (S. 423)

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Das bedeutet, daß am absolutistischen Hof der Nomos eutrapelistischer Lachkultur für den Herrscher am allerwenigsten gilt, der auch unter diesem Aspekt über jedem Gesetz steht. Die Scherze eines Herrschers können also beliebig dämlich, geschmacklos, verletzend oder pointenlos sein; sie sollen dies sogar sein, weil derlei Bissigkeiten selbst schon Elemente der Selbstinszenierung 64 des absolutistischen Herrschers darstellen, durch die er sich seiner Gottähnlichkeit immer aufs neue versichert. Mit anderen Worten: Es gibt am absolutistischen Hof tendenziell nur noch Lach-Opfer für einen einzige Lach-Täter, also für den Herrscher, der das gottgleiche la’agLachen vom Thron herab lachen darf, das wir aus der Literatur von Zeus und Jahwe kennen. Matteo Peregrinis Traktate über den Hofmann Difesa Del Savio In Corte und Della Prattica Commune A Prencipe E Servitore Loro erschienen 1634, zu der Zeit also, als Kardinal Richelieu in Frankreich das Muster des absolutistischen Staates schuf. Zur selben Zeit erschien auch der Hofmanns-Traktat von Nicolas Faret (1596–1646) L’honneste-homme ou l’Art de plaire à la Court 65 der von 1630 bis 1640 allein neun Auflagen erlebte und bis 1681 weitere sechs. Dies läßt darauf schließen, daß Faret den Geist der Zeit genau erkannt hatte und mit seinem Werk für all diejenigen ein Bedürfnis befriedigte, die sich gezwungen sahen, an den Hof nach Versailles zu gehen und sich mit den dort herrschenden Gepflogenheiten abzufinden. Das war v. a. das Schicksal des Landadels, der durch Richelieus konsequentes und rücksichtsloses Programm der politischen und kulturellen Zentrierung des Landes auf Paris sich vor die Wahl gestellt sah, entweder an den Hof nach Versailles zu gehen und dort in dienender Funktion irgendein Hofamt zu übernehmen, und sei es auch nur das des Maître de la chaise percée du Roi, oder aber auf seinem Landsitz zu bleiben und dort tief in der Provinz zu verbauern. Bei Norbert Elias ist dieser Prozeß der Verhofung des französischen Adels in seinem Werk über die höfische Gesellschaft 66 ausführlich dargestellt. Wer an den Hof ging, fing bald an, der Freiheit des einstigen Landlebens nachzutrauern und den Verlust dieser Freiheit zu beklagen. Kultiviert wurde diese Nostalgie in einer eigenen Literatur, die Elias treffend als »aristokratische Romantik« (S. 320 ff.) bezeichnet. 652 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ein typischer und schon sehr früher Vertreter dieser aristokratischen Romantik ist Philippe Desportes (1546–1606), der als Hofdichter unter drei französischen Königen gedient hatte, wenn er in einem Gedicht das freie Leben des Landbarons besingt, der, zufrieden mit sich und seinem Los, auf seinem Landsitz sein eigener Herr und König ist, auf höhere Gunst verzichten kann und der sich nicht bei Hofe prostituieren muß, um den Launen der Prinzen und Könige gefügig zu sein. Der Glutkern aristokratischer Romantik wird erkennbar in der Wendung: »vendre sa liberté pour plaire aux passions des princes et des rois.« 67 War für Desportes die Notwendigkeit, am Hof Gefallen zu erregen (plaire), noch ein Grund für Scham, Zorn und Trauer, so wird für Nicolas Faret das Wort plaire geradezu zum Schlüsselbegriff, denn er definiert schon im Titel seines Traktats das Wesen des höfischen Verhaltens als art de plaire, als Kunst, Gefallen zu erregen. So wie die Traktate Peregrinis ist auch der Traktat Farets ein Dokument des Zynismus, verstanden als »das aufgeklärte falsche Bewußtsein«68, weil auch er dem angehenden Hofmann rät, entschlossen über die eigene Leiche zu gehen, um am Hof Karriere zu machen. Dieser Zynismus scheint auch nötig gewesen zu sein, denn nach der Zerschlagung der Fronde 1653, dem letzten und vergeblichen Versuch des französischen Adels, sich gegen den Zentralismus zu behaupten, stand für den französischen Adel nur noch die Einbahnstraße zum Hof nach Versailles offen. Im Gegensatz zu Castigliones Traktat konzentriert sich Farets »Knigge« mehr auf all das, was der Hofmann zu vermeiden hat, als auf das, was er tun soll. Diese allgemein defensive Tendenz seiner Ausführungen wird besonders deutlich in dem für unser Thema zentralen Kapitel, das über Maximes générales de la conversation handelt und im Rahmen dessen wiederum der Abschnitt De la Raillerie, der all das behandelt, was man beim Scherzen zu vermeiden hat. All das kennen wir aber schon von Seneca, denn Farets Ideal des Hofmanns deckt sich weitgehend mit dem des stoischen Weisen, ist aber in der Sprache der Humoralpathologie formuliert, wenn Faret als oberstes Gebot vom Hofmann verlangt, dieser müsse seine Affekte unter Kontrolle halten und seine Säfte bezähmen (vaincre ses passions et dompter ses humeurs)(S. 68). Damit erscheint 653 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zugleich auch Castigliones Ideal der sprezzatura in einem neuen Gewand, und zwar als die paradoxe Forderung, das Unverfügbare völlig verfügbar zu machen. Dazu schreibt Faret in enger Orientierung an Ciceros Rhetorik: »Eine der wichtigsten und allgemeinsten Maximen, die man als Hofmann zu beachten hat, besteht darin, seine Affekte zu bezähmen (modérer ses passions), v. a. diejenigen, die sich besonders in der Konversation erhitzen, wie der Zorn, die eifernde Konkurrenzsorge (émulation), die Unmäßigkeit, der wahnhafte Versuch, den anderen als überlegen zu erscheinen. Und infolgedessen die Indiskretion, die Ärgerlichkeit, die Enttäuschung, die Ungeduld, die Voreiligkeit und tausend andere Fehler, die wie schmutzige Rinnsale aus diesen trüben Quellen fließen. (…) Seien wir also Herren unserer selbst (maistres de nous-mesmes), die ihre eigenen Affekte zu kommandieren wissen, wenn wir die der anderen zu gewinnen suchen. Denn es wäre falsch, das Wohlwollen (volonté) so vieler ehrenwerter Hofleute (honnestes hommes) erlangen zu wollen, wenn wir nicht zuerst gelernt haben, unser eigenes Wollen (volonté) zu beherrschen und ihm Ziele zu setzen, die geeignet sind, immer im Rahmen der Vernunft zu bleiben.« (S. 68 f.)

Was Faret hier vom Hofmann verlangt, ist genau das, was Norbert Elias ganz allgemein als »Prozeß der Zivilisation« bezeichnet und als einen den gesellschaftlichen Oberschichten auferlegten »Zwang zum Selbstzwang« 69 ausführlich beschreibt, was sich aber in besonderer Schärfe bei diesen gesellschaftlichen Eliten manifestiert, wenn der imperiale Zugriff auf die Welt, auf den Menschen und auf die eigene Person besonders heftig und rücksichtslos ist. Sobald dies geschieht, wie z. B. im kaiserlichen Rom oder im mittelalterlichen Kloster, wird der stoische Weise zum Ideal erhoben, und so geschieht es nun auch im Absolutismus. Der allgemeine Zwang zum Selbstzwang, denn wir schon in Ciceros Rhetorik und bei Castigliones ars iocandi als Prinzip der Selbstzurücknahme kennengelernt haben, wird also noch weiter forciert und gilt in dieser verschärften Form auch für Faret, der deshalb in einem eigenen Kapitel darauf eingeht. Unter raillerie versteht Faret eine Art der Konversation, die »ein wenig freier ist als gewöhnlich« und die »etwas Pikantes« in die Unterhaltung einbringt, dessen Verwendung unter galanten Herrschaften üblich ist 654 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und »selbst heutzutage« unter den vertrautesten Freunden bei Hofe immer noch nicht verpönt (banny) (S. 81) ist. Was Faret hier »Pikanterie« nennt, bezeichnete man in der Antike als »attisches Salz«, mit dem man die Rede zu würzen pflegt. Genau wie die höfische Konversation allgemein muß aber auch die Scherzrede moderat gestimmt sein, darf also auf keinen Fall verbissen und hartnäckig sein, denn dies wäre im Hofleben nicht nur lästig für die anderen, sondern auch gefährlich: Gefährlich zum einen für den Spötter selbst, weil er das allgemeine Wohlwollen verlieren könnte, zum anderen für den Verspotteten, weil er in Gefahr gerät, die Selbstbeherrschung zu verlieren und von seinen Affekten überwältigt zu werden. »Denn es gibt offenbar ein Gesetz in diesem Spiel, Bissigkeiten untereinander auszutauschen (mordre), daß der erste, der sich dabei ärgert, die Partie verliert. Denn wer die kälteste Replik serviert bekommen hat, trägt nicht nur die Schande, sich in einem unaufhörlichen intellektuellen Wettstreit besiegt zu sehen, sondern ihm verbleibt immer auch noch die Bitterkeit des Spottes im Herzen haften, den sein Gegner über ihn ausgeschüttet hat.« (S. 82)

Mit anderen Worten: Wer sich am absolutistischen Hof nicht erfolgreich gegen Spott zu verteidigen weiß, verdient nicht etwa besondere Rücksicht und Schonung oder darf gar auf Mitleid hoffen, sondern macht sich lächerlich und verdient deshalb auch, von allen verlacht zu werden. Lächerlichkeit aber tötet, denn wer am absolutistischen Hof lächerlich wirkt, wird zur Unperson und zählt nicht mehr. Das Wolfsgesetz der höfischen Selbstinszenierung, das Prinzip »Wer wen?«, zeigt sich auch in Farets Wortschatz, denn es taucht eine Begrifflichkeit auf, die wir zwar schon von den Kynikern und von Erasmus her kennen, hier aber eine neue Tönung bekommt. So spricht Faret, genau wie Peregrini von der mordacità spricht, von der liberté de mordre, also von der Freiheit, durch witzig-spöttische Rede auf den anderen förmlich »einzubeißen« (S. 82), und diese Metaphorik wird in den klassischen französischen Beiträgen zur Gelotologie geradezu zum Gemeinplatz. Bei Baudelaire z. B. heißt es, »der Mensch beißt (mord) mit dem Lachen« (S. 692), und Bergson behauptet, das Lachen über jemanden bedürfe als 655 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Voraussetzung einer »vorübergehenden Anästhesie des Herzens« 70. In all diesen Fällen ist aber nicht die kynische mordicatitas des Erasmus, des Diogenes oder des Markolf gemeint, deren Bissigkeit nach oben gerichtet ist, sondern das herrenzynische höhnisch-hämische Auslachen-von-oben, das das Lachopfer zur Unperson zu machen und zu vernichten trachtet und manchmal auch tatsächlich vernichtet. Da am absolutistischen Hof nur noch dieses Lachen möglich war, rät Baltasar Graciàn (1601–1658) in seinen Hofmanns-Traktaten El Discreto (1646) und im Hand-Orakel (1647) ganz im Sinne von Benedikts elfter Regel, im Hofleben auf die Kunst des Scherzens und Lachens gleich ganz zu verzichten, obwohl man eigentlich dauernd lachen könnte, denn »die eine Hälfte der Welt lacht über die andere, und Narren sind sie alle.« 71 Aus der Art seiner Argumentation geht hervor, daß er bei dieser Warnung vor dem Lachen nicht mehr die ars iocandi Castigliones im Auge hat, sondern ausschließlich das Verspotten und Verlachen von oben herab: »Scherze müssen ihre Zeit haben, der Rest gehört dem Ernst. Schon der Ausdruck ›Salz‹ zeigt, wie sie zu gebrauchen sind. Es gilt, je nach Anlaß zu differenzieren und mehr noch nach Personen. Mit jemandem scherzen, heißt ihn als niedriger oder höchstens als gleich zu behandeln, denn man ruiniert sein Ansehen und verweigert ihm die Verehrung.« 72

An Graciàns Traktaten für das Hofleben läßt sich besonders deutlich ablesen, wie konsequent die Entwicklung des Hofmanns-Ideals in Richtung auf den stoischen Weisen zugelaufen ist, da für ihn der ideale Hofmann ein Schüler von Platon, aber auch von Seneca und Epiktet (S. 145) und v. a. von Ignatius von Loyola (1491–1556) zu sein hat, was er ja selbst auch war, denn schon in dessen Exerzitien von 1548 findet sich der Rat: »Nicht lachen und nichts sagen, was zum Lachen reizt.«73 Dieser Rat in der Tradition von Bernhards Mönchsregel findet sich in der fünften Übung, in der man sich die Hölle vorstellen soll, wo, wie wir bei Dante nachlesen können, jedem das Lachen vergeht. Aber die alte Wendung »bei Hof, bei Höll« 74 legt die Vermutung nahe, daß es an den Höfen im Absolutismus nicht weniger ernst zugegangen sein dürfte. 656 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wie man sieht, mischen sich auf dem Höhepunkt der absolutistischen Epoche in das Bild des Hofmannes immer mehr Züge, die wir schon am mittelalterlichen Mönch feststellen konnten und die sich dem Ideal des stoischen Weisen verdanken, der sich und seine Affekte völlig im Griff hat. Und deshalb fordert Graciàn vom klugen Weltmann, dieser müsse »handeln als Herr seiner selbst« (S. 84), »denn die größte Herrschaft ist die über sich selbst.« (S. 84) Und im Hand-Orakel legt er jedem Höfling dringend ans Herz, ein Meister der »Verstellungskunst«75 zu werden, denn »wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr zu verlieren.« (S. 82) Genau wie für Faret gilt aber auch für ihn: »Nie darf man Anlaß für Gelächter geben, nicht einmal einem Kind, um wieviel weniger noch verständigen und urteilsfähigen Männern.« 76

Hielt Graciàn diese stoische Herrschaft über sich und seine Affekte nicht nur für nötig, sondern auch für möglich, so war La Rochefoucauld (1613–1680) 77 schon viel ehrlicher und realistischer, denn seine Grundbefindlichkeit war, genau wie die von Thomas Hobbes (1588–1678), die Angst, von seinen Affekten überwältigt zu werden, und deshalb trieb ihn genau wie Thomas Hobbes die ständige Frage um: »Was droht?« Und das heißt: Was droht von den anderen, und was droht aus dem eigenen Innern? Das stoische Ideal der totalen Affektlosigkeit war für ihn genau wie für Erasmus ein Produkt wahnhafter ideologischer Verblendung, die die Macht der Affekte einfach nicht wahrhaben will. Deshalb heißt es in seinen berühmten Maximen 78 von 1665 u. a.: »Die Leidenschaften sind die einzigen Redner, die uns immer überreden. Sie sind wie eine natürliche Kunst, deren Regeln unfehlbar sind. Und der simpelste Kerl wirkt auf uns durch seine Leidenschaften stärker als der leidenschaftslose Stoiker durch seine Beredsamkeit.« (§ 8)

Und: »Die Leidenschaft macht oft genug aus dem fähigsten Kopf einen Narren, und aus dem dümmsten Kerl einen Helden.« (§ 6)

Und: »Im menschlichen Herzen liegt ein unauslöschlicher Glutkern von Leidenschaften (génération perpetuelle de passions) und das Erlöschen der einen Leidenschaft ist fast immer das Aufflammen einer anderen.« (§ 10)

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Die am tiefsten sitzende Angst scheint bei La Rochefoucauld die Angst vor dem Verlachtwerden gewesen zu sein, denn er schreibt in der berühmten, oft zitierten Maxime 326, Lächerlichkeit sei eine größere Schande als Ehrlosigkeit: »Le ridicule déshonore plus que le déshonneur.« Tendenziell lächerlich aber ist für La Rochefoucauld jeder, weil niemand davor gefeit ist, von seinen Affekten überwältigt zu werden, und deshalb heißt es auch in Maxime 311: »Wenn es Leute gibt, deren Lächerlichkeit nie offenbar geworden ist, dann nur deshalb, weil man nie genau genug danach gesucht hat.«

La Rochefoucauld hatte auch allen Grund, vor dem höhnisch-hämischen Gelächter seiner Zeitgenossen auf der Hut zu sein, denn als ehemaliger Frondeur, der erst jahrelang auf seinen Landsitz in der Provinz verbannt und vom Hof ausgeschlossen war, dann aber nach seiner Begnadigung durch den König seinerseits zu stolz war, am Hof zu erscheinen und dort zu Kreuze zu kriechen, fühlte er sich ständig mißtrauischen Blicken ausgesetzt, mied den Hof von Versailles, verkehrte, wenn er in Paris war, nur in bestimmten Salons und ließ seine Schriften im Ausland erscheinen, um die französische Zensur zu umgehen. Der Zwang zum Selbstzwang muß für La Rochefoucauld also noch etwas dringlicher, aber auch quälender gewesen sein als für seine Zeitgenossen, die an den Hof gingen und dort rückhaltlos den König umschmeichelten. Gemessen an diesem aufrechten Mann erscheinen die Hofmanns-Traktate von Faret, Peregrini und Graciàn nicht so sehr als stoisch, sondern, wie gesagt, eher als zynisch, als Dokumente eines »aufgeklärten falschen Bewußtseins« (Sloterdijk) voll heimlicher Selbstverachtung. Bis zu welchem Grad diese zynische Selbstverachtung getrieben werden kann, kann man an La Rochefoucaulds Sohn ablesen, dem Musterbeispiel des perfekten, völlig angepaßten Höflings, von dem der Duc de Saint Simon, ein ähnlicher Typ wie La Rochefoucauld senior, ein vernichtendes Portät als Hofmann ohne Eigenschaften zeichnet79, der aber gerade deshalb, weil er als Person ein Nichts und damit genauso eine »Kotseele« wie Rameaus Neffe in Diderots Roman war, am Hof des Sonnenkönigs als eben diese Kotseele Karriere machen und glänzen konnte, auch wenn dieser Glanz nur der Glanz seiner Schleimspur war. An dieser jämmerlichen Gestalt des gesichtslosen höfischen 658 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Funktionärs wird wieder einmal sichtbar, daß das Ideal des stoischen Weisen in sich immer auch das Ideal des perfekten Funktionärs birgt, der von der Macht geradezu magisch angezogen wird und auch nur in ihrem Umkreis existieren kann, und daß der perfekte Funktionär konstitutiv zynisch ist, weil er von unten auf sich herab schaut und sich voller Selbstverachtung verlacht. 2.8.6.2.4 Grenzen höfischer Lachkultur Da an den absolutistischen Höfen nur das Verlachen als Auslachenvon-oben möglich war, kann die höfische Komödie auch nur eine Verlach-Komödie sein. Verlacht wird in diesen Stücken jeder, der sich nach Maßgabe der am Hof herrschenden Normen lächerlich verhält. Somit hat die höfische Verlach-Komödie die Aufgabe, die höfische Wertewelt an bestimmten Beispielen deutlich zu machen und ihrem Publikum zur geflissentlichen Verinnerlichung anheimzustellen. Die höfische Verlach-Komödie ist also letztlich pädagogisch-didaktisch ausgerichtet, da sie immer einen Narren(NT) in den Mittelpunkt der dramatischen Handlung stellt, der durch eine letztlich wohlwollende Intrige so weit zurechtgelacht werden soll, bis er dem höfischen Ideal des honnête homme, qui se connaît wieder entspricht, wie bösartig diese Intrige im einzelnen immer auch sein mag. Das Ziel der höfischen Verlach-Komödie besteht also darin, die Selbstverkennung der höfischen Dramengestalten und deren Korrektur auf unterhaltsame Art darzustellen. Das Musterbeispiel eines solchen Helden der höfischen Verlach-Komödie ist Alceste in Molières Misanthrope. Neben dem honnête homme, qui se connaît, gibt es in der höfischen Verlach-Komödie aber auch noch nicht-adelige Helden, die ebenfalls Opfer der Selbstverkennung werden können und ebenfalls darüber belehrt werden müssen, wo ihr natürlicher, gottgewollter Ort im gesellschaftlichen Gefüge ist. Hier gilt es v. a. die Sünde der Standesflucht zu geißeln, wenn jemand aus dem eigenen Stand ausbrechen und sich in der Hierarchie der Gesellschaft aufwerten möchte. Das Musterbeispiel eines solchen Komödienhelden ist Molières Monsieur Jourdain im Bourgeois Gentilhomme, ein neureicher Bürger, der der fixen Idee nachjagt, von seiner Umwelt 659 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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als Edelmann behandelt zu werden, und dem deshalb in einer Intrige übel mitgespielt wird. Da die Komödienhelden dieser Art nur so lange lächerlich wirken wie ihre Verblendung anhält, erlischt auch die Verlachbarkeit dieser Narren (NT) sofort, sobald sie auch nur ein Hauch von Selbstreflexion anweht und ihnen dämmert, wie verblendet sie sind und in welcher Situation sie sich tatsächlich befinden. Genau dies geschieht in Molières spätem Stück George Dandin, mit dem die höfische Verlach-Komödie an ihre Grenzen stößt. Holen wir etwas aus: Zu den frühesten Werken Molières zählt der Einakter La jalousie du Barbouillé. In dieser Posse, die ganz aus dem Geist des Dekamerone lebt, wird dargestellt, wie ein gerissenes Weib ihren ebenso eifersüchtigen wie dämlichen Mann hereinlegt, als sie von einem Ball nach Hause kommt und die Türe verschlossen findet. Sie spielt also einen Selbstmord aus Verzweiflung vor, was den Mann veranlaßt, aus dem Haus zu kommen, um nachzusehen, wie es um sie bestellt sei, und diese Gelegenheit benutzt nun die Frau, schlüpft ins Haus und sperrt die Türe zu, und nun ist der Mann der Ausgesperrte und wird von mittlerweile herbeigeeilten Verwandten und Nachbarn entsprechend verhöhnt und verlacht. Wir haben also das alte Thema der cocuage vor uns, das seit Urzeiten zum Repertoire der komischen Literatur gehört, wobei es überhaupt keine Rolle spielt, auf welcher Ebene die Handlung um den gehörnten Ehemann angesiedelt ist, ob auf der Ebene der olympischen Götter in der Dreiecksgeschichte um Aphrodite, Hephaistos und Ares, auf der Königsebene wie bei Amphitryon, auf der des Farcen-Personals wie beim Barbouillé oder auf der bäuerlichen wie in dem Stück George Dandin. Der Gehörnte ist nach Maßgabe der Verlach-Komödie an sich schon lächerlich und hat sich oft genug auch noch mit einem sprechenden Namen abzufinden, der ihn außerdem noch lächerlich macht. Auch »Dandin« ist so ein sprechender Name und bedeutet »Einfaltspinsel«. Als Molière 1688 den Auftrag bekam, für die Feierlichkeiten anläßlich des Friedens von Aachen eine Komödie zu schreiben, griff er auf seine frühe einaktige Posse zurück und baute sie zu einer Komödie aus. Das Ergebnis war George Dandin, dessen dritter Akt in etwa identisch ist mit der frühen Posse, nur mit dem Unter660 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schied, daß der nächtliche Ausflug der Frau nicht dem Besuch eines Balls gilt, sondern einem Rendezvous mit ihrem Liebhaber. Auch sonst hat der Autor das Potential an Konflikten entscheidend gesteigert: Der eifersüchtige Ehemann George Dandin wird nicht nur betrogen, er wird auch zutiefst gedemütigt und muß auf den Knien Abbitte für seine Vorwürfe und Verdächtigungen leisten, und dies mehrfach. Eine weitere Steigerung des Konfliktpotentials besteht darin, daß Dandin als reicher Bauer die Tochter eines verarmten Landadeligen geheiratet hat, um gesellschaftlich aufzusteigen. Durch diese Standesflucht aus wahnhafter Verblendung wirkte Dandin für Molières Publikum noch viel lächerlicher als er als gehörnter Ehemann eh schon gewirkt haben muß. Genauso lächerlich aber waren für Molières Publikum Dandins Schwiegereltern, weil diese finanziell ruinierten Angehörigen des niederen Landadels durch ihr Einverständnis mit dieser Heirat ebenfalls die Sünde der Standesflucht, aber die nach unten, begangen hatten, da auch sie nicht wissen, was sich für Leute von Stand gehört, und deshalb zeichnet Molière diesen Baron de Sotenville ganz als späten Nachfolger des prahlerischen, aber hasenherzigen Capitano aus der Commedia dell’arte. Nun war Molières Publikum aber nicht der Hof (la cour) allein, sondern la cour et la ville, eine relativ homogene Schicht aus Leuten vom Hof und aus dem reichen Pariser Stadtbürgertum (la ville), das nicht mehr selbst einem Erwerb nachging, sondern eher parasitär von dem Vermögen lebte, das ihre Vorfahren v. a. als Hoflieferanten erarbeitet und angesammelt hatten. Aus dieser Schicht stammte übrigens auch Molière selbst. Das Selbstverständnis dieses neureichen Bürgertums orientierte sich völlig am Hofadel, den es in allen Dingen zu kopieren suchte, insbesondere in seinem Verhältnis zur Erwerbsarbeit, aber auch in seiner zynischen Selbstverachtung. Für einen Adeligen dieser Zeit war es nicht nur undenkbar, sondern sogar explizit verboten, irgend eine Erwerbsarbeit auszuüben, weshalb die aus dem Bürgertum stammenden Angehörigen dieser neuen gesellschaftlichen Elite la cour et la ville ebenfalls danach trachteten, jede Erinnerung an die Ausübung eines bürgerlichen Berufs und damit zugleich auch jede Erinnerung an die Herkunft des eigenen Reichtums zu verdrängen, um die innere Homogenität dieser neuen 661 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Schicht nicht zu gefährden. Und das Theater hatte die Aufgabe, diese Verdrängung durch die Verlach-Komödie ästhetisch zu organisieren. Erich Auerbach, dem wir eine wegweisende literatursoziologische Studie über das französische Publikum des 17. Jahrhunderts 80 verdanken, schreibt dort über die gesellschaftlichen Hintergründe dieser zynischen Selbstverachtung: »Diese Erscheinung der massenhaften Flucht aus dem produktiven Erwerbsleben zeigt uns das bürgerliche Publikum, la ville, von einer ganz neuen Seite, die das Gemeinsame mit la cour möglich und begreiflich macht. Es ist auch hier das Loslösen von der ständischen Grundlage, von der organischen Funktion des Nährstandes. Das Ideal des honnête homme, dem nun auch das gehobene Bürgertum nachstrebt, will nichts mehr von Beruf und Hantierung wissen, es will so absolut und allgemein sein wie möglich. Je weiter das Jahrhundert vorschreitet, desto stärker erscheint ihm der sachgebundene und sachverständige Mensch als querköpfig, närrisch, kleinlich und sogar verächtlich. Ein Richter, ein Advokat oder Arzt sind, sobald sie auf der Bühne oder im Roman erscheinen, komisch und widerwärtig.« (S. 39 f.)

Um so lächerlicher mußte für dieses Publikum jeder wirken, der, wie Dandin, ernsthaft und körperlich hart arbeitet, dadurch sein Geld verdient, und sogar viel verdient und auch noch über seinen Reichtum spricht, oder der, wie der Baron de Sotenville, eingestehen muß, daß er total verarmt ist und deshalb seine hübsche Tochter weit unter Stand verheiraten mußte. Solange jemand wie der närrische Baron in seiner Verblendung verharrt, bleibt er eine lächerliche Gestalt, für das Publikum Molières wie für ein heutiges. Diese »Anästhesie des Herzens« (Bergson) setzt aber sofort aus, wenn die Verblendung von dem närrischen Helden weicht und diesem sein eigenes Verhalten problematisch und fragwürdig erscheint, denn nun erscheint er nicht mehr als monomanischer Narr(NT), sondern als Mensch in seinem Widerspruch, als »gemischter Charakter« im Sinne Lessings. In Dandin haben wir eine solche Gestalt vor uns, denn mit seiner sprichwörtlich gewordenen Selbstanklage »Tu l’as voulu, Dandin« (Du hast es ja gewollt, Dandin) erkennt und verurteilt er sich als der verblendete Narr(NT), der er ist, und ist es dadurch auch schon nicht mehr. Damit ist er aber auch kein Held der Verlach662 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Komödie mehr, sondern eine selbstquälerische Gestalt, die nicht mehr verlacht wird, sondern durch ihre rückhaltlose Selbstanklage und Selbstbestrafung so viel Betroffenheit auslöst, daß dem Publikum das Lachen vergeht. Kurz: Aus der Chargenrolle Dandin ist die Charakterrolle Dandin geworden, ein Bruder des Woyzeck. Damit sprengt dieses Stück nicht nur die Grenzen von Molières Komödien-Dramaturgie, sondern zugleich auch die Grenzen höfisch-absolutistischer Lachkultur als ganzer, und die Ratlosigkeit Dandins am Ende des Stücks verrät auch etwas von Molières eigener Verlegenheit, eine solche Komödie zu einem überzeugenden Ende zu bringen, denn die Demütigung des gehörnten, verhöhnten und verlachten Dandin 81 könnte ewig so weitergehen, wenn er sich nicht wehrt. Das aber würde die Zerschlagung der höfisch-absolutistischen Wertewelt als ganzer bedeuten. Eingeleitet wurde das Ende der höfisch-absolutistischen Lebensform schon zwanzig Jahre nach der Uraufführung des George Dandin, als Frankreich 1688 zum ersten Mal den Staatsbankrott anmelden mußte. Der Absolutismus hatte seinen Zenit überschritten. Hundert Jahre später, als Frankreich 1788 zum zweiten Mal den Staatsbankrott anmelden mußte, entwickelte sich daraus die Französische Revolution, und das Zeitalter des Absolutismus war endgültig Vergangenheit. Man könnte nun in einem eigenen umfangreichen Kapitel aufzeigen, wie Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux (1688–1763) auf seine Weise die höfisch-absolutistische Lachkultur überwunden hat, indem er ab 1720 seinen Komödiengestalten und zugleich damit auch seinem Publikum eine Erziehung zur Sensibilität angedeihen ließ, deren Ziel die Erweichung und Erwärmung des harten und kalten »anästhesierten Herzens« war. Ablesbar ist diese Form heiterer Aufklärung insbesondere an der »Polizierung« der Harlekin-Gestalt 82 von einer Chargen- zu einer Charakterrolle durch die Erfahrung der Liebe und Hand in Hand damit am Wandel der Komödien-Dramaturgie, die nicht mehr das wegwerfende Verlachen des Lächerlichen, sondern das heitere Belachen des Komischen83 zum Ziel hat. Aber dieses Kapitel würde den Rahmen meiner Untersuchung sprengen und deshalb müssen wir darauf verzichten. 663 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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2.8.7 Ausblick Aus Peter Burkes Rezeptionsgeschichte von Castigliones Hofmanns-Traktat geht hervor, daß in der georgianischen Epoche Englands gleich sieben Auflagen des Cortegiano in rascher Folge und verschiedenen Übersetzungen erschienen sind. Die Gründe für diesen enormen Rezeptionsschub ab 1720 liegen darin, daß das von Castiglione entwickelte lachsoziologische Modell aufs neue verwirklicht werden konnte, weil es eine neue gesellschaftliche Grundlage dafür gab. Die Konstituentien dieses lachsoziologischen Modells blieben erhalten, also Scherzen und Lachen auf Augenhöhe, die entspannte Atmosphäre und die tendenzielle Egalität der Runde; den gesellschaftlichen Rahmen stellte allerdings nicht mehr ein idealer Hof dar, sondern eine neue Form der Geselligkeit, die sich in den Landhäusern der englischen Gentry weit abseits des Hofes ausgebildet hatte. Diese Gentry war zwar genau wie la cour et la ville aus Adel und wohlhabendem Bürgertum zusammengesetzt, aber dieser Adel war nicht Hofadel, den es im damaligen England als normatives Element der Gesellschaft praktisch nicht gab, da auch der Hof selbst keine normative Funktion hatte, weil die englischen Könige dieser Zeit meist in Hannover residierten. Die Magnetfunktion des Königs resp. des Hofes von Versailles, die das absolutistische Frankreich so entscheidend geprägt hatte, gab es in England nicht. Wer im damaligen England also weit abseits des Hofes auf seinen Landgütern lebte, galt durchaus nicht als provinziell, da es auch die radikale Entwertung und Entmachtung des Landadels zugunsten des Hofes in England nie gegeben hat. Da nun die Grenzen innerhalb dieser neuen gesellschaftlichen Elite zwischen dem Adel und dem reichen Bürgertum fließend waren, konnte das neue Elitenideal der Gentry, der Gentleman, sowohl adeliger wie bürgerlicher Herkunft sein; entscheidend war allein sein Verhalten. Dazu kamen noch um 1690 in den großen Städten die Clubs als ganz neue Form der Vergesellschaftung, die sich von Anfang an als Runden von Gleichen verstanden und durch das gemeinsame Rauchen, Kaffee- und Teetrinken ganz eigene und neue Rituale entwickelten. In diesem Milieu entstand nun eine 664 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

Form von Geselligkeit, die zugleich auch eine neue Lachkultur in sich barg, in der das aristotelische Ideal der Eutrapelie aufs neue verwirklicht werden konnte, da alle Voraussetzungen dafür gegeben waren. Aber auch im reinen Bürgertum kam es im 18. Jahrhundert zu einer Wiederbelebung der ars iocandi, als z. B. die deutschen Anakreontiker die Kunst des Scherzens erneut aufgriffen und dafür eine ganze Reihe von kulturellen Ritualen entwickelten. Ablesbar ist diese Rehabilitierung der ars iocandi z. B. daran, daß in Halle, einem Zentrum der anakreontischen Literatur, 1748 eigens eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Der Gesellige gegründet wurde, die die Kunst des anakreontischen Scherzens und Lachens als konstitutiven Bestandteil einer neuen Form von Geselligkeit propagierte. Herausgeber dieser Zeitschrift war der Philosoph Georg Friedrich Meier, der um dieselbe Zeit auch eine umfangreiche Kritik der Scherzkunst mit dem Titel Gedancken von Schertzen (1744) veröffentlichte, die in engster Anlehnung an Aristoteles und Cicero dieser neuen ars iocandi eine philosophische und rhetorische Basis liefern sollte. Nachdem der Schub an Ernsthaftigkeit, der durch Reformation und Gegenreformation, Pietismus, Jansenismus und Jesuitentum, aber auch durch den höfischen Absolutismus ausgelöst worden war, sein Ende gefunden hatte, konnte das Lachen in einer neuen Lachkultur also wieder ernst genommen werden. Lord Shaftesbury nahm das Lachen sogar so ernst, daß er die Belachbarkeit und Verlachbarkeit als test of ridicule sogar zum heuristischen Erkenntnisprinzip erhob und damit das Lachen gleichsam auch philosophisch adelte. Aber all das soll in einem eigenen Kapitel behandelt werden.

Anmerkungen 1

Oeuvres de Rabelais, hg. v. Louis Barré, Paris o. J., S. 1. François Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Frankfurt a. M. 2003, S. 34. 3 Vgl. dazu Daniel Ménager: La Renaissance et le rire, Paris 1995, S. 7–42. 4 Vgl. dazu Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 39–54. 5 Vgl. dazu das monumentale Werk von Maurice Reynaud: Les médecins au temps de Molière, Paris 1866, das die Geschichte der Humoralpathologie umfassend dar2

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stellt, sowie Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, Stuttgart 1977, wo deren allmähliches Ausklingen beschrieben wird. 6 Vgl. dazu H.-G. Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 112 f. 7 Vgl. dazu H.-G. Schmitz, S. 113, sowie Jesus Sirach 30, 22 ff. und dazu wiederum H.-G.Schmitz, S. 184 f. 8 Zit. nach H.-G. Schmitz, S. 164. 9 H.-G. Schmitz, S. 113 f. 10 Zit. nach Barbara Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant – Murner – Erasmus, Wiesbaden 1966, S. 51. Bei der Übersetzung von Michel Foucaults berühmtem Buch »Histoire de la folie« ins Deutsche ergab sich dasselbe Problem, weil folie die ganze Bandbreite von »Narrheit/Tollheit/Torheit/Unvernunft/Verrücktheit/Aberwitz/Unsinn/Wahnsinn« abdeckt, der deutsche Titel aber »Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft« lautet. Dem Werk Foucaults verdanke ich wichtige Anregungen. 11 Ich zitiere nach der Studienausgabe von Joachim Knape: Sebastian Brant: Das Narrenschiff, Stuttgart 2005. 12 Vgl. Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee, S. 15 ff. 13 Gemeint ist das Sternbild des Großen Wagen resp. des Großen Bären mit dem Polarstern, also die Ausrichtung nach Norden; vgl. dazu den Kommentar von Knape: Sebastian Brant zum Stichwort »Bootes« S. 556. 14 Vgl. dazu die hitzige Debatte über Thales und die thrakische Magd zwischen Hans Blumenberg, Odo Marquard und Harald Weinrich über »das Lachhafte der reinen Theorie« (Blumenberg) bzw. über die »innige Verwandtschaft zwischen dem Komischen und der Theorie« (Marquard) in dem Sammelband: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München 1976, S. 429–444, sowie Georg Stanitzek: Blödigkeit, Tübingen 1989. 15 Ich zitiere Baudelaire nach der Ausgabe: Baudelaire. Oeuvres complètes. Préface de Claude Roy. Notices et notes de Michel Jamet, Paris 1980, hier S. 7. 16 Vgl. dazu die Beiträge von Dieter Henrich, Wolf-Dieter Stempel und Harald Weinrich über das Blödeln in dem Sammelband »Das Komische«, S. 445–456, sowie: Gert Mattenklott: Versuch über Albernheit, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt a. M. 1980, S. 210–223. 17 Zit. nach: Eberhard Gothein: Die Culturentwicklung Süd-Italiens in Einzeldarstellungen, Breslau 1886, S. 587 f.; zu Pontano vgl. auch die wichtige Studie von Ernst Walser: Die Theorie des Witzes nach dem de sermone des Iovianus Pontanus, Straßburg 1908. Vgl. dazu auch den Sammelband von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin/New York 2005, in dem die unterschiedlichsten lachsoziologischen Modelle dargestellt werden. 18 Vgl. H.-G. Schmitz: Physiologie des Scherzes, S. 165 ff. 19 Friedrich Wilhelm Genthe: Geschichte der Macaronischen Poesie und Samm-

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Anmerkungen

lung ihrer vorzüglichsten Denkmäler, Halle und Leipzig 1829. Eine weitere wichtige Quelle zum Thema ist die Abhandlung von Carl Blümlein: Zur Geschichte der makkaronischen Poesie, in: Berichte des Freien Deutschen Hochstiftes zu Frankfurt am Main, Neue Folge, 1893, S. 215–244. 20 Zit. nach Genthe: Geschichte der Macaronischen Poesie, S. 209. 21 Ich zitiere Jean Paul nach der Ausgabe: Jean Paul’s Werke, 60 Bde, Berlin 1879. 22 Jean Paul spielt hier offensichtlich auf die mit Recht berühmte »Jobsiade« an, ein grotesk-komisches Heldengedicht von Carl Arnold Kortum, dessen drei Bände ab 1784 erschienen und dessen Titel schon in Knittelversen formuliert ist: »Leben, Meinungen und Thaten / von Hieronimus Jobs, dem Kandidaten / und wie er sich weiland viel Ruhm erwarb, / auch endlich als Nachtwächter zu Schildburg starb. / Vorn, hinten und in der Mitten / Geziert mit schönen Holzschnitten. / Eine Historie lustig und fein / In neumodischen Knittelverselein.« 23 Molière: Oeuvres complètes, Paris 1962, II,848 ff. 24 Zit. nach Blümlein, S. 232. 25 Genthe: Geschichte der Macaronischen Poesie, S. 333. 26 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek 1963, S. 28. 27 Die Aventures von Deutsch Francos mit sein scriptures und mit viel schoen Kuffer-Blatt viel lustigk tzu les, Nürnberg 1745. 28 Ich zitiere nach der Ausgabe von Kurt Steinmann: Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Eine Lehrrede, Zürich 2002, habe aber auch die zweisprachige Erasmus-Ausgabe von Werner Welzig hinzugezogen: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften, 8 Bde, Darmstadt 1976. 29 Hier habe ich die Übersetzung verändert und »Verunglimpfungen« durch »Frechheiten« ersetzt. 30 Die Polemik gegen das Ideal des stoischen Weisen findet sich ungekürzt in Kapitel 2.5.2 zitiert. 31 Zit. nach Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee, S. 253. 32 Vgl. Könneker, S. 7. 33 Werner Mezger: Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amtes, Konstanz 1981, S. 60. 34 Vgl. Mezger, S. 18. 35 Ich zitiere nach der Ausgabe von Karl Barack und Paul Hermann: Zimmerische Chronik, 4 Bde, Meersburg und Leipzig 1932. 36 Vgl. dazu Michael Kuper: Zur Semiotik der Inversion. Verkehrte Welt und Lachkultur im 16. Jahrhundetrt, Berlin 1993, S. 130–140. 37 Narrenbuch, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen, Halle 1811, S. 217. 38 Vgl. dazu die Abbildungen bei Mezger: Hofnarren im Mittelalter, S. 46 und S. 47. 39 Ich zitiere Poggio nach der Ausgabe Alfred Semerau: Die Schwänke und Schnurren des Florentiners Gian-Francesco Poggio Bracciolini, Leipzig 1905, weil die Ausgabe von Hanns Floerke: Die Facetien des Poggio Fiorentino, München 1906, im Wortschatz etwas zu aufgeschönt ist. Über Poggio selbst informiert umfassend die Studie von Ernst Walser: Poggius Florentinus. Leben und Werke (1914), Reprint

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Hildesheim/New York 1974; zu Gonella vgl. Werner Röcke: Inszenierungen des Lachens in Literatur und Kultur des Mittelalters, in: Kulturen des Performativen, hg. v. Erika Fischer-Lichte und Doris Kolesch, Berlin 1998, S. 73–93, hier S. 78 ff. 40 Gothein: Culturentwicklung Süd-Italiens, S. 567. 41 Gothein, S. 556. 42 Zit. nach Gothein, S. 587 f. 43 Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, S. 24. 44 Cicero II,236, S. 358. 45 Ich zitiere nach der Ausgabe von Fritz Baumgart: Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann, München 1986. 46 Vgl. dazu Peter Burke: Die Geschichte des »Hofmann«. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996. 47 Zu dieser Diskussion vgl. Hinz, S. 74. 48 Vgl. Klaus Schreiner: »Hof« (curia) und »höfische Lebensführung« (vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit, in: Höfische Literatur. Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200, hg. v. Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986, S. 67–140. 49 Zitiert nach: Tilman Spreckelsen: Gralswunder und Drachentraum. Ein Streifzug durch die Artuswelt, Frankfurt a. M. 2007, S. 11. 50 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 1983, S. 320. 51 Hinz, S. 126. 52 Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, München 1981, S. 62 ff. 53 Vgl. Cicero II,194 ff. 54 Hier habe ich die Übersetzung von »captus« verändert und »überwältigt« durch »ergriffen« ersetzt, um die Unterscheidung captus/raptus zu betonen. 55 Vgl. Hinz, S. 125. 56 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1962, S. 17 ff. 57 Hier habe ich die Übersetzung mit »nachlässig« verändert. 58 Die Venezianer galten als sprichwörtlich schlechte Reiter. 59 Lessings Werke, hg. v. R. Boxberger, Berlin/Stuttgart o.J, I,168. 60 Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 159. 61 Hinz, S. 129. 62 Zit. nach Hinz, S. 400. 63 Zit. nach Hinz, S. 422. 64 Vgl. Hinz, S. 404 f. 65 Ich zitiere Faret nach der Reprint-Ausgabe von M. Magendie, Genf 1970 in eigener Übersetzung. 66 Vgl. Elias: Höfische Gesellschaft, S. 258 ff. und S. 342 ff. 67 Zit. nach Elias: Höfische Gesellschaft, S. 343. 68 Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 37.

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Anmerkungen 69

Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1977. 70 Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Darmstadt 1988, S. 15. 71 Baltasar Graciàn: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, Zürich 1993, S. 83. 72 Baltasar Graciàn: Der kluge Weltmann (El Discreto), München 1996, S. 54. 73 Ignatius von Loyola: Die Exerzitien, Freiburg 13/2005, S. 34. 74 Vgl. dazu Helmuth Kiesel: »Bei Hof bei Höll«. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979. 75 Vgl. dazu die Studie von Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1992. 76 Graciàn: El Discreto, S. 96. 77 Vgl. dazu Liane Ansmann: Die »Maximen« von La Rochefoucauld, München 1972, S. 79 ff., sowie Stefanie Wolff: Todesverlachen. Das Lachen in der religiösen und profanen Kultur und Literatur im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Frankfurt 2009. 78 Ich zitiere nach der Ausgabe von Jean Lafond: La Rochefoucauld: Maximes et Réflexions diverses, Paris 1976 in eigener Übersetzung. 79 Vgl. Elias: Höfische Gesellschaft, S. 300 ff. 80 Erich Auerbach: Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts, München 1933. Diese Untersuchung ist unter dem Titel »La cour et la ville« in etwa identisch nochmals erschienen in dem Band: Erich Auerbach: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung, Bern 1951, S. 12–48. Ich zitiere nach der ersten Fassung. 81 In meiner Übersetzung und Bearbeitung des »George Dandin«, die beim Theaterverlag Desch, München, liegt, tut er dies, sodaß das Stück mit einem rasenden Amoklauf Dandins endet. 82 Vgl. dazu Rainer Warning: Marivaux und die Commedia dell’Arte, in: Roger Bauer und Jürgen Wertheimer (Hg.): Das Ende des Stegreifspiels. Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas, München 1983, S. 1–8. 83 Vgl. dazu Frank Baasner: Der Begriff ›sensibilité‹ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg 1988, S. 69 ff. und S. 107 ff.

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2.9 Laurent Jouberts Traité du Ris oder Die Frage nach dem Phänomen selbst

2.9.1 Überblick Im zweiten Buch seines Werks über Rhetorik läßt Cicero seinen Julius Caesar einen Katalog gelotologischer Fragen aufwerfen, auf die wir schon öfters gestoßen sind, weil sie sich wie ein roter Faden durch die Problemgeschichte der Gelotologie ziehen. Sie setzen zum größten Teil bei Problemen der Rhetorik an, weil seit der Antike über Pontano, Erasmus und Castiglione bis herauf zu Georg Friedrich Meiers Gedancken von Schertzen von 1744 die Rhetorik den besten Einstieg in gelotologische Fragestellungen zu bieten schien. Schon deshalb ist es nötig und sinnvoll, diese Passage hier in Erinnerung zu rufen: »Was das Lachen betrifft, so gibt es fünf Fragen, die zu untersuchen sind: Einmal, was es ist (quod sit); zum andern, woher es kommt (unde sit); drittens, ob der Redner den Wunsch haben soll, Heiterkeit zu erregen; viertens, wie weit er gehen soll; fünftens, welche Arten des Lächerlichen es gibt. Was dabei die erste Frage angeht, was das Lachen an und für sich ist (quid sit ipse risus), wie es erregt wird, wo es sitzt, wie es entsteht und so plötzlich hervorbricht, daß wir, auch wenn wir den Wunsch haben, nicht an uns halten können, und wie es zugleich den Körper, den Mund, die Adern, die Augen, die Miene ergreift, so mag Demokrit sich darum kümmern. Denn diese Frage hat nichts mit unserem Gespräch zu tun, und wenn sie etwas mit ihm zu tun hätte, würde ich mich trotzdem nicht schämen, etwas nicht zu wissen, was nicht einmal die wissen, die es erwarten lassen.« (S. 358/359)

Damit ist deutlich, daß für Cicero und für die gesamte rhetorische Tradition, die er ja selbst so tief geprägt hatte, alle gelotologischen Fragen, die nicht unmittelbar rhetorisch relevant sind, nicht nur als 670 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Überblick

irrelevant abgetan werden, sondern daß man eine Antwort auf das Wie und Woher des Lachens nicht einmal wissen will. Die Frage nach dem Phänomen selbst wird also ausdrücklich nicht gestellt. Genau hier setzt Laurent Joubert mit seinem Traité du Ris von 1579 an und verspricht, als Erster all diese Fragen, was das Lachen eigentlich sei, woher es eigentlich komme und wie es sich gerade so und nicht anders manifestiere, nicht nur zu stellen, sondern auch zu beantworten. Er tritt also bewußt an als ein zweiter Demokrit, hat aber nicht vor, Demokrits legendäres Buch über das Lachen zu rekonstruieren, so wie Eco dies mit dem zweiten Buch der aristotelischen Poetik versucht hat, sondern sein Ziel besteht darin, Demokrit zu überbieten und die Frage nach dem Inhalt von Demokrits Buch über das Lachen als überflüssig erscheinen zu lassen. Durch diese Frage nach dem Phänomen selbst entfernt er sich sofort weit von der rhetorischen Tradition und geht auf rhetorische Fragestellungen nur noch ab und zu und nur ganz am Rande ein. Desgleichen stellt er auch nicht mehr wie die Scholastiker des Mittelalters und die Reformatoren seiner Zeit die Frage nach der eventuellen Sündhaftigkeit des Lachens allgemein oder auch nur bestimmter Lacharten, sondern versteht sich ganz im Sinne des Aristoteles als Forscher, der ein vorfindliches Phänomen, das der Erforschung würdig ist, ohne jeden Vorbehalt untersucht, und da er einer der berühmtesten Ärzte seiner Zeit war, sieht er das Lachen zunächst einmal als ein physiologisches Geschehen an, das nur auf der Grundlage bestimmter anatomischer Gegebenheiten möglich ist und durch bestimmte affektive Anmutungen ausgelöst wird, die wiederum durch eine bestimmte Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie auf den Begriff gebracht werden müssen. Deshalb ist Jouberts Traktat so aufgebaut, daß im ersten Teil die Ursachen und Begleiterscheinungen des Lachens dargestellt werden, aus denen dann im zweiten Teil eine Definition des Lachens abgeleitet wird. Diese Definition des »wahren Lachens« bietet ihm dann die Möglichkeit, verschiedene Ausformungen des Lachens voneinander zu unterscheiden und diese zu bewerten, insbesondere das echte vom unechten und dieses wiederum vom pathologischen Lachen zu unterscheiden und entsprechend zu benennen. Im drit671 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Laurent Jouberts Traité du Ris

ten Teil des Traktats widmet er sich schließlich der Einordnung des Lachens ins menschliche Gesamtverhalten und seiner Stellung im Leben. Das geistige Zentrum des ganzen Traktats, sein springender Punkt also, ist natürlich die Definition des wahren Lachens, und diese lautet kurz und bündig: »Le Ris et effait d’vne passion qu’il denote.« (S. 167) Lachen ist die Wirkung einer affektiven Anmutung, die es wiederum denotiert, d. h. die es mimetisch vergegenwärtigt, oder die es in ihrem Wesen kenntlich macht und zum Ausdruck bringt.

Gemeint ist damit, daß z. B. das Plötzliche des komischen Aha-Erlebnisses im eruptiven Charakter des Lachens sichtbar wird, oder das Ambivalente einer risiblen Anmutung in der Gestottertheit dieser Eruption, oder daß die epikritischen Berührungs-Pointen beim Kitzeln im Gekicher des Gekitzelten mimetisch reproduziert werden. In dieser Art hatte in der Tat noch niemand seit Platon über das Lachen geredet, und nach Joubert hat dies auch niemand wieder getan. Klar wird durch diese Definition des Lachens, daß Joubert in der Tradition der Signaturenlehre des 16. Jahrhunderts argumentiert, weshalb man seine Definition des Lachens auch wiedergeben könnte mit dem Satz: Lachen ist die Signatur der affektiven Anmutung, durch die es ausgelöst wird.

Oder: Lachen ist zugleich Wirkung und Denotierung einer affektiv relevanten Anmutung.

Damit ist deutlich, daß für Joubert das Lachen zwar ein Ausdrucksverhalten, aber ausschließlich ein Antwortverhalten ist und daß er, ähnlich wie später Plessner, die Vielfalt des Lachens ganz auf das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen reduziert und alle Formen des tendenziell verfügbaren Interaktions-Lachens und des tendenziell verweigerbaren Resonanz-Lachens weitgehend ausblendet. Trotz dieser reduktionistischen Eingrenzung des Themas ist Joubert mit seinem Traktat ein Quantensprung in der Gelotologie gelungen, weil er die Diskussion über das Lachen mit einem Ruck 672 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Laurent Joubert, Person und Werk

auf ein ganz neues Niveau der Argumentation gehoben hat, was sich, methodologisch gesehen, vor allem der Orientierung an der Signaturenlehre verdankt, die ihm die Möglichkeit bot, auch die antike Sympathienlehre neu zu deuten und das Herz zu einem Organ der Wahrnehmung und damit als Mittel leiblicher Kommunikation im Sinne von Hermann Schmitz zu verstehen. Damit habe ich aber schon weit vorgegriffen und will nun versuchen, Jouberts Entdeckungen Schritt für Schritt nachzuvollziehen. 2.9.2 Laurent Joubert, Person und Werk Laurent Joubert wurde am 16. 12. 1529 in der Dauphiné geboren, studierte ab 1550 in Montpellier Medizin und machte dort rasch eine akademische Karriere, erst als Doktor der Medizin und Dekan der medizinischen Fakultät und schließlich auch als Kanzler der Universität Montpellier, die damals als die führende medizinische Autorität in ganz Europa galt, sodaß Joubert auch bald zum Leibarzt des französischen Königs berufen wurde. In dieser Funktion veröffentlichte er eine ganze Reihe von medizinischen Werken über Probleme der Chirurgie und der Gynäkologie sowohl in Latein als auch in der Landessprache, was man ihm von der medizinischen Zunft einigermaßen übel nahm, weil er damit medizinisches Fachwissen allzu sehr unters Volk brachte. Von seinem Traktat über das Lachen erschien eine erste Fassung 1560 noch in lateinischer Sprache, als er gerade als Dekan in Amt und Würden gekommen war, und mit diesem Werk begann auch die Liste seiner Veröffentlichungen. Die endgültige Fassung des Traktats erschien 1579 in französischer Sprache als sein letztes Werk überhaupt, sodaß man sagen kann, das Thema Lachen habe ihn durch sein gesamtes Leben als Forscher begleitet und der Traktat von 1579 sei so etwas wie die Summe seines ganzen Forscherlebens. Der Titel des Werkes lautete nun: Traktat über das Lachen, über sein Wesen (essance), seine Ursachen (causes) und seine erstaunlichen Wirkungen, sorgfältig erforscht, beurteilt und beschrieben durch Laurent Joubert,

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Laurent Jouberts Traité du Ris

Berater und ordentlicher Leibarzt des Königs und des Königs von Navarra, Lehrstuhlinhaber, Kanzler und Richter der medizinischen Universität von Montpellier, Paris 1579 Mit Privileg des Königs.

Im Anhang des Werks befindet sich auch der wichtigste Brief Demokrits aus dem fiktiven Briefwechsel zwischen Demokrit und Hippokrates, den offenbar auch Joubert für echt hielt, sowie eine ausführliche Begründung für die von ihm gewählte Rechtschreibung des Französischen. Drei Jahre nach dem Erscheinen starb Joubert unter mysteriösen Umständen in einem Dorf in der Nähe von Montpellier im Alter von 53 Jahren am 21. 10. 1582. Sehr viel mehr 1 weiß man von ihm eigentlich nicht. Wenn man Jouberts Leben und Werk im Rahmen der französischen Nationalgeschichte seiner Zeit sieht, so fällt die Arbeit an seinem Traktat über das Lachen von 1560 bis 1580 genau in die Zeit höchster religiöser Erregung, ausgelöst durch den offiziellen Beginn der Gegenreformation nach dem Ende des Konzils von Trient 1563 und den Beginn der Hugenottenkriege 1562, deren erster Höhepunkt die Bartholomäusnacht von 1572 war. Vor diesem Hintergrund gelesen, erweist sich der Traktat des Protestanten Joubert als ein Werk, das bewußt und gezielt in Opposition zu den zeitgenössischen Massakern im Namen Christi geschrieben ist, erkennbar u. a. an dem Umstand, daß unter den vielen Autoren, die Joubert zitiert, sich kein einziger Kirchenvater befindet und daß er niemals aus dem Neuen Testament eine der klassischen lachfeindlichen Passagen zitiert. Selbst die Isaak-Episode wird nicht erwähnt, obwohl Joubert seinen eigenen Sohn auf den Namen Isaak hatte taufen lassen. Als oppositionellen Impuls muß man wohl auch den Umstand werten, daß Joubert seinen Traktat über das Lachen letztlich doch in der Volkssprache veröffentlicht hat, wofür er sich sogar eigens eine Rechtschreibung ausgedacht hatte. Das Vorbild dafür war natürlich Luthers Übersetzung der Bibel in die Volkssprache und wohl auch das Romanwerk von Rabelais, das ja ebenfalls eine großangelegte Hommage an das Lachen ist. Doch Rabelais wird bei Joubert mit keinem Wort erwähnt, obwohl er ihn sogar persönlich gekannt haben dürfte. 674 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Laurent Joubert, Person und Werk

Daß auch Joubert selbst das Gefühl gehabt haben muß, mit seinem Traktat einen Quantensprung in der Gelotologie vorgelegt zu haben, geht daraus hervor, daß er fest davon überzeugt war, das Problem des Lachens ein für alle mal gelöst und damit etwas geschafft zu haben, was nicht einmal die allseits bewunderten Klassiker geschafft hätten, die es sogar nicht einmal gewagt hätten, dieses Problem ernsthaft anzugehen, und deshalb schreibt er stolz: »Nous avons rompu la nois.« – »Wir haben die Nuß geknackt.« In diesem Gefühl berechtigten Stolzes schreibt er deshalb in seiner Widmungsepistel an die Königin von Navarra in stolzer Bescheidenheit: »Das Thema Lachen ist so schwierig und tiefgründig, daß nur wenige Philosophen sich daran gewagt haben, es zu ergründen, und keiner von ihnen hat es wirklich auf den Begriff zu bringen vermocht. Ich bin in dieser Materie etwas weiter gekommen, obgleich ich mich nicht rühmen darf, mit den dabei erzielten Erkenntnissen wirklich zufrieden zu sein, und so bin ich um so weniger fähig, andere damit zufrieden zu stellen, die noch wißbegieriger sind als ich.« (S. XIII)

Nachgedruckt wurde Jouberts Traktat erst wieder 1973 in der so verdienstvollen Reprint-Serie des Verlages Slatkine in Genf, nach der ich im folgenden auch in eigener Übersetzung zitiere. Es existiert auch eine Übersetzung des Traktats ins Amerikanische, die von Gregory de Rocher 2 stammt, den man als den Wiederentdekker Jouberts bezeichnen könnte. Da Jouberts Traktat so bald schon in Vergessenheit geriet, wird er in der folgenden gelotologischen Literatur, so weit ich sehe, nirgendwo explizit zitiert, geschweige denn rezipiert. Erwähnt wird er zwar von Carl Julius Weber im Demokritos, in dem Weber einige Definitionen des Lächerlichen seit der Antike auflistet und in diesem Kontext auch auf den Traité du Ris verweist, aber sofort hinzufügt, daß »dessen Naivetäten mehr zum Lachen geben, als das Lachen erklären« (I,171). So gesehen kann es auch nicht verwundern, daß es zu Joubert nichts an älterer Literatur gibt. Beachtung fand Joubert erst wieder seit den achtziger Jahren, ausgelöst durch die Rezeption Bachtins, der in seinem Buch über Rabelais Jouberts Traktat kurz erwähnt, ihn aber selber offensichtlich nicht gelesen haben kann, weil er der lateinischen Fassung von 1560 den franzö675 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Laurent Jouberts Traité du Ris

sischen Titel von 1579 verleiht und den im Anhang zur zweiten Fassung veröffentlichten fiktiven Brief des Demokrit als »zweiten Traktat« (S. 118) Jouberts ausgibt. Und was Bachtin unter solchen Bedingungen sonst noch über Joubert zu sagen weiß, ist genau das, was man von Bachtin so erwarten kann, also der bare Unsinn. Am Anfang dieser neu ansetzenden Rezeptionsgeschichte steht die Abhandlung des Amerikaners Gregory de Rocher über Joubert und Rabelais 3, die Hand in Hand mit de Rochers Übersetzung des Traktats ins Amerikanische entstanden ist. In den neunziger Jahren erschienen dann gleich vier Abhandlungen über Jouberts Schrift, denen auch ich wichtige Anregungen verdanke: Die hier schon mehrfach zitierte Dissertation von Thomas Rütten über die Rezeption Demokrits; die Dissertation von Verena Alberti zur Problemgeschichte der Gelotologie 4, die ein umfangreiches Kapitel über Jouberts Traktat enthält; die sehr materialreiche Studie von Daniel Ménager über die Thematisierung des Lachens in der Renaissance 5; und der Aufsatz von Ursula Link-Heer 6, der einen Abriß von Laurents Traktat bietet und, was besonders erhellend ist, dessen methodologische Orientierung an der Signaturenlehre deutlich macht. 2.9.3 Staunen über Signaturen Als guter Aristoteliker wußte Joubert natürlich, daß Aristoteles in den ersten Sätzen seiner Metaphysik das Stutzen, Staunen und Sichverwundern als den entscheidenden Impuls benannt hat, aus dem jede Art von Philosophie und Wissenschaft entspringt, insbesondere aber das Staunen über das vermeintlich Selbstverständliche, denn, so heißt es dort: »Weil sie sich wunderten, haben jetzt und immer schon die Menschen begonnen, nachzudenken; sie haben sich anfangs verwundert über die Unbegreiflichkeiten des Alltags und sahen sich dann Schritt für Schritt immer größeren Fragen gegenüber, den Wandlungen der Sonne und der Sterne, der Entstehung des Alls. Wer aber ratlos ist und sich verwundert, hat das Gefühl der Unwissenheit, weswegen auch ein nachdenklicher Mensch Sagen und Märchen nachgeht, weil sie voller Wunder sind. Also um der Unwissenheit zu entrinnen, dachten sie nach,

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Staunen über Signaturen

und nur um zu wissen, trachteten sie nach der Erkenntnis, nicht um zu verdienen.« (S. 41)

Aus diesem Grund schreibt Joubert im Prolog zu seinem Traktat ganz im Sinne des Aristoteles, er könne sich gar nicht genug darüber wundern, daß von den vielen erlauchten Geistern der Antike kein einziger es unternommen habe, »die Ursachen dafür herauszufinden, daß wir lachen, in Anbetracht dessen, wie überaus seltsam dieses menschliche Verhalten doch ist, wenn man es genau ins Auge faßt. Und in der Tat, wer würde da nicht staunen, wenn er sieht, wie beim Lachen der ganze Körper in Bewegung gerät und von einer unbestimmbaren Erregung hin und her gerissen wird, und dies, wie es scheint, auch noch zum Vergnügen der Seele?« (S. 6)

Daß wir darüber normalerweise nicht ins Staunen geraten, führt Joubert darauf zurück, daß uns das Lachen allzu vertraut ist, sodaß die Aufgabe des Wissenschaftlers erst einmal darin bestehen muß, dieses vermeintlich vertraute Phänomen erst einmal so unvertraut zu machen, daß man wieder ganz naiv darüber staunen kann, und dies geschieht laut Joubert am besten dadurch, daß man nach den Kräften Ausschau hält, die diese plötzlich einsetzenden heftigen Bewegungen verursachen, die sich als unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollziehen. Da aber Joubert als überzeugter Aristoteliker die Bewegung eines Körpers nur als Wirkung von Stoß oder Zug durch einen anderen Körper verstehen konnte, mußte seine Frage lauten: Welcher Körper kann es sein, der von außen auf den menschlichen Körper einwirkt, jedoch ohne diesen zu berühren, aber mit dem Effekt, daß dieser in diese seltsame konvulsivische Bewegung gerät?

Oder anders formuliert: Auf welche Weise kann ein im Innern des menschlichen Körpers befindlicher Körper, also irgendein Organ, von außen in bestimmte Bewegungen versetzt werden, die dieser dann an den gesamten menschlichen Körper weitergibt und diesen damit in diese seltsame konvulsivische Bewegung versetzt, die wir als Lachen bezeichnen?

Daß dieser unbekannte Impuls von außen kommen muß, war für Joubert klar, da wir ja nicht grundlos lachen, sondern immer nur aufgrund einer bestimmten Anmutung, die das Lachen als Ant677 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Laurent Jouberts Traité du Ris

wort-Verhalten provoziert. Von innen muß aber auch ein Impuls kommen, da von außen ja keine Berührung stattfindet, die den menschlichen Körper durch Stoß oder Zug oder durch beides in Bewegung versetzen könnte. Aber genau diese Frage hatten die Alten laut Joubert eben nicht gestellt, sondern die Frage nach dem de unde bewußt und gezielt ausgeklammert, allen voran Cicero. Aus all dem zieht Joubert den Schluß, daß man hier das Äußere im Inneren und das Innere im Äußeren entdecken muß, um den Motor für die Lachbewegung zu bestimmen. Damit war die Frage nach der wechselseitigen Entsprechung von Innen und Außen gestellt, eine Frage, mit der Joubert an dem Punkt angekommen war, von dem ab er mit den Gesetzen der ihm vertrauten aristotelischen Physik nicht mehr argumentieren konnte. Hier bot sich die Signaturenlehre der Renaissance als methodologische Basis an, da diese die Reziprozität von Innen und Außen zum Prinzip der Erkenntnis erhoben hatte, derzufolge sich innere Kräfte zwingend in äußeren Kennzeichen »denotieren« und auf diesem Wege erkannt werden können, und daß außerdem analoge Gestaltungen gezielt auf analoge innere Kräfte schließen lassen. Nachlesen 7 läßt sich dies bei Will Erich Peuckert und Michel Foucault, in gewisser Weise auch bei Ludwig Klages. Dieses Erkenntnisprinzip war schon die Grundlage der antiken Physiognomik, und auf diese beruft sich auch Joubert in seiner Widmung an Margarete von Navarra, wenn er auf den alten Satz »In facie legitur homo« (S. VII) verweist, demzufolge das Gesicht der Spiegel der Seele und der Gedanken sei, weshalb man aus der jeweiligen Beschaffenheit des Gesichts das Wesen des ganzen Menschen herauslesen könne. Dieses heuristische Prinzip erhebt er nun zur methodologischen Basis seiner gesamten Unternehmung mit der Konsequenz, daß prinzipiell alles, was im Innern des Menschen vor sich geht, sich immer zugleich auch außen zeigt, bzw. außen »denotiert« wird. Wir werden aber sehen, daß Joubert in der phänomenologischen Art und Weise, wie er die Signaturenlehre verwendet, dann doch wieder ganz eigene Wege geht, was ihn auch innerhalb dieser Denkrichtung wieder zu einer singulären Gestalt macht. Hätte Joubert Goethes Gedicht Epirrhema gekannt, so hätte er wohl jedes Wort dick unterstrichen, denn 678 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Staunen über Signaturen

auch dort findet sich die These, nichts sei nur drinnen und nur draußen: »Müsset beim Naturbetrachten Immer eins wie alles achten; Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; Denn was innen, das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis.« (1,431)

Die Gewißheit, mit der Signaturenlehre auf einem tragfähigen methodologischen Fundament arbeiten zu können und damit sogar über Aristoteles hinauszukommen, verleiht Joubert denn auch die Zuversicht, das schwierige Problem des Lachens zu lösen, und deshalb klingt es auch so selbstsicher, wenn er zu Beginn seines Traktats schreibt: »Denn warum sollten wir nicht fähig sein, die Ursachen des Lachens ausfindig zu machen, da diese ihren Ursprung und ihr Fundament doch in uns selbst haben? Sollte das schwieriger sein als das Wesen unserer Seele durch die Vernunft zu ergründen? Ich glaube das nicht, da ja die Fähigkeiten (facultés), Äußerungen (acciõs) und Wirkungen (ouurages) des Lachens uns sein Wesen verraten. (…) Deshalb bin ich überzeugt, daß man die Bedingung der Möglichkeit des Lachens (condicion), seine Macht (force) und seine Erregbarkeit (affeccion) sehr wohl verstehen kann, da es ja in uns selbst steckt (qu’il nous est intrinseque), auch wenn es sich außen manifestiert (se manifestant au dehors). Denn es gibt nichts in uns, das durch sorgfältige und gut begründete Forschungsarbeit nicht geklärt werden könnte.« (S. 12 f.)

Daß all seine antiken und zeitgenössischen Vorgänger das Problem des Lachens nicht überzeugend zu lösen wußten – er verweist namentlich auf Girolamo Cardano, Julius-Cäsar Scaliger, Girolamo Fracastoro und François Valeriole –, schreckt ihn ganz und gar nicht, da er sich aufgrund seiner tragfähigen methodologischen Grundlage ihnen weit überlegen weiß, ja er unterstellt ihnen sogar, daß sie es nicht einmal gewagt haben, an den Kern des Problems zu rühren: »Ils n’y ont osé toucher.« (S. 13) Und dann fährt er fort: »Ich habe mir diese hier vorliegende Arbeit vorgenommen, bevor ich deren Werke gelesen habe, und habe von ihnen allen nichts übernom-

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men, weder in der Forschungs-Methode noch im Forschungs-Ansatz, um das Problem des Lachens auf meine eigene Art zu lösen und es, wenn ich kann, auch besser zu lösen.« (S. 14)

Dann entwirft er in groben Zügen den Gang seiner Argumentation, der mit der Frage beginnt, worüber wir überhaupt lachen, dann zu der Frage übergeht, auf welche Weise und mit welchen Mitteln wir Belachenswertes wahrnehmen. Dies führt ihn dann zur Frage nach der ambivalenten Beschaffenheit der spezifischen Anmutungen, die uns zum Lachen bringen können, und zu der Frage nach den anatomischen Voraussetzungen und physiologischen Abläufen, die beim Lachen eine Rolle spielen. Und dann ist er endlich so weit, seine eigene Definition des Lachens vorzutragen, diese von anderen Definitionen abzusetzen und auf der Grundlage dieser Definition verschiedene Lacharten zu unterscheiden und zu benennen. Der weitaus spannendste Teil dieses Gedankengangs wird für uns der sein, in dem Joubert seine erkenntnis- und wahrnehmungstheoretischen Überlegungen zur Einleibung risibler Objekte durch den Lachenden darlegt, denn hier betritt er in der Tat Neuland und stellt eine Art der Argumentation vor, auf die vor ihm noch niemand gekommen war, die nach ihm auch sofort wieder in Vergessenheit geraten ist und die man als Phänomenologie avant la lettre bezeichnen könnte. 2.9.4 Die Beschaffenheit risibler Objekte, Sachverhalte und Situationen 2.9.4.1 Das Kriterium der Ambivalenz Bei der Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit risibler Objekte bewegt sich Joubert zunächst ganz im Rahmen dessen, was seit Aristoteles und Cicero über die Natur des Komischen und Lächerlichen gesagt worden ist. Was zum geloiastischen Lachen reizt, ist also auch für Joubert immer sprachliches und nicht-sprachliches Verhalten, das sich uns über die beiden Fernsinne Sehen und Hören mitteilt, und es ist immer »etwas, das irgendwie häßlich (laid) oder unpassend (messeãt) ist, unser Mitleid oder Mitgefühl jedoch nicht 680 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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verdient« (S. 16). Diese Definition läßt sich leicht als christlich eingefärbte Übernahme der aristotelischen Formel aus seiner Poetik erkennen, das Risible sei »ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht« (1449b) bzw. als christliche Variante von Ciceros Formel von der »nichthäßlichen Häßlichkeit« (turpiditas non turpiter). So gesehen ist das Komische oder Lächerliche also immer die ungefährliche Verletzung irgendeiner Norm; es ist, wie man im 18. Jahrhundert sagen wird, etwas Ungestaltes. Wie gut sich mit dieser Formel arbeiten läßt, erläutert Joubert dann an zwei Beispielen, in denen es um die Verletzung bestimmter kultureller und natürlicher Normen geht: »Alles, was wir als häßlich, deformiert (difforme), ungehörig (des-honneste), unpassend (indessant), unanständig (mal-seant) und ein wenig daneben (peu conuenable) empfinden, reizt in uns (an nous) das Lachen, es sei denn, wir empfänden Mitleid. Ein Beispiel: Wenn man sieht, wie jemand seine Schamteile entblößt, die wir von Natur aus oder aufgrund kultureller Konvention normalerweise bedeckt halten, weil dies häßlich ist, aber kein Mitleid erweckt, so reizt dies den Betrachter zum Lachen. Denn nur das weckt unser Mitleid, was irgendwie bedrohlich oder schädlich sein könnte (qui ha espece de dõmage). Hier aber droht weder Schaden noch Gefahr, wodurch unser Mitleid geweckt werden könnte. Wenn wir hingegen die Brust, die Arme oder Beine entblößen, so erregt dies keinerlei Lachen, weil man es nicht als häßlich oder ungehörig empfindet, diese Körperteile fremden Augen darzubieten.« (S. 16 f.)

Nach einigen Hinweisen auf schamloses Verhalten fährt Joubert dann fort: »Desgleichen ist es schamlos, den nackten Arsch zu zeigen; aber wenn derlei geschieht, ohne daß jemand dabei zu Schaden kommt, so sind wir unfähig, das Lachen zurückzuhalten. Wenn aber jemand diesen nackten Arsch plötzlich mit einem glühenden Eisen berührt, so weicht das Gelächter sofort dem Mitleid, weil die Verletzung so offenkundig ist. Ist dies aber wiederum nicht der Fall, wenn uns die Verletzung als geringfügig erscheint, so setzt das Gelächter sofort wieder ein, wenn wir merken, daß das Lachopfer bloß wegen seiner Dämlichkeit und Schamlosigkeit bestraft worden ist.« (S. 17 f.)

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»So eng und zwingend sind also diese beiden Bedingungen Häßlichkeit und Fehlen von Mitleid (laideur & faute de pitié) miteinander verschränkt.« (S. 18)

Wir könnten auch mit Bergson sagen, Lachen, genauer: Auslachen bedürfe einer »vorübergehenden Anästhesie des Herzens, um sich voll entfalten zu können.«8 Das zweite Beispiel, das Joubert anführt, ist nicht minder überzeugend, aber hier geht es nicht um die harmlos-komische Verletzung kultureller Normen, sondern um die harmlos-komische Privation des »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne von Kurt Goldstein, und es tut sich eine schier unerschöpfliche Quelle von Komik auf: »Aus demselben Grund lachen wir, wenn jemand in den Dreck fällt, weil dies ebenfalls sehr häßlich ist und ohne jede Gefahr, die in uns Mitleid wecken könnte. Und je unpassender der Sturz ist, desto größer ist das Gelächter. Ich nenne den Sturz unpassend (indessant), wenn er ungewöhnlich, also unerwartet ist; denn die Überraschung (nouvelleté) ist hier das entscheidende Moment. So fallen Kinder und Betrunkene des öfteren hin und bringen uns zum Lachen. Aber wir lachen unvergleichlich heftiger, wenn eine große und gewichtige Persönlichkeit, die mit großer Würde einherschreitet, plötzlich an einen Stein stößt und im hohen Bogen im Schlamm landet. Dies ist dann allerdings sehr häßlich und provoziert auch keinerlei Mitleid, sofern es nicht ein naher Verwandter oder ein enger Freund ist, für den wir uns schämen oder für den wir Mitleid empfinden müßten. Noch beschämender aber wäre ein solcher Sturz, wenn er vor vielen Zeugen geschähe und wenn der Gestürzte aufwendig gekleidet und darauf auch noch recht stolz wäre. Nichts aber liegt so formvollendet daneben und nichts weckt weniger Mitleid in uns, wenn die betreffende Person außerdem auch des Ranges unwürdig ist, den sie bekleidet und die Ehrerbietung nicht verdient, die man ihr erweist, wenn diese Person wegen ihres Stolzes und ihrer Überheblichkeit gehaßt wird, wenn sie also, wie das Sprichwort sagt, einem Affen in der Purpurrobe gleicht. Wer könnte sich wohl das Lachen verkneifen, wenn er einen solchen Kerl stolpern und stürzen sieht? Wenn jemand jedoch von sehr hoch droben in den Dreck fällt, lachen wir kaum, weil solch ein Sturz uns gefährlich erscheint und wir be-

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fürchten, der Stürzende könnte sich verletzen. (…) Sobald sich also auch nur ein Hauch von Sorge um den Gestürzten einstellt, regt sich das Mitleid und das Lachen erstirbt. Solche und ähnliche Widerfahrnisse (accidans) ereignen sich Tag für Tag, und in allen Fällen ist es so, daß sie sich ereignen, ohne daß wir viel dabei denken (sans y panser) und ohne daß wir dies wollen (sans le vouloir).« (S. 18 ff.)

Mit einem Wort und schon im Zugriff auf Jouberts Definition des Lachens: Das Unerwartete und Unbeabsichtigte eines komischen Ereignisses wird »denotiert« in der Plötzlichkeit und Unverfügbarkeit des herausplatzenden Lachens über eben dieses Ereignis. In Jouberts Beschreibung und Deutung komischer Szenen finden sich einige Aspekte, die es verdienen, näher ins Auge gefaßt zu werden. Zunächst fällt auf, daß er nicht schreibt, komische Ereignisse würden uns zum Lachen reizen, sondern ausdrücklich schreibt, das komische Ereignis errege »in uns« das Lachen. Dies wohl deshalb, weil damit das Unverfügbare und der Widerfahrnischarakter dieses Verhaltens deutlich gemacht werden soll, demzufolge der Lachende bei dieser Art von Gelächter gleichsam nur der Schauplatz eines autonom ablaufenden Geschehens ist, das sich an ihm und mit ihm vollzieht, weil es sein Zustandekommen unverfügbaren körperlichen Abläufen verdankt. Oder anders und mit Erwin Straus 9 formuliert, daß Gelächter dieser Art ein unverfügbares Geschehnis ist, das aber gleichwohl als Erlebnis empfunden wird. 2.9.4.2 Das Kriterium der Ferne Dann fällt auf, daß Joubert, der sich doch als großen Freund des Staunens darstellt, über eine Tatsache ganz und gar nicht ins Staunen gerät, weil er dieses Faktum offensichtlich nicht wahrgenommen hatte und deshalb auch nicht als untersuchungswürdiges Problem ansah. Ich meine die Frage, warum wir risible Objekte nur mit den Fernsinnen Hören und Sehen wahrnehmen und auch nur auf diese Weise wahrnehmen können, nicht aber mit den Nahsinnen Riechen, Schmecken und Tasten. Man darf ja schon mal fragen, warum wir nie lachen, wenn wir etwas betasten, daran riechen 683 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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oder darauf kauen. Daß wir lachen, wenn wir gekitzelt werden, kann hier nicht als Einwand gelten, denn in diesem Fall lacht ja nicht der, der kitzelt, sondern der, der gekitzelt wird. Dieser Umstand ist schon deshalb erstaunlich, weil es auch für die Nahsinne das Häßliche in Form des Ekelerregenden gibt, auf das wir in Form des Erbrechens ebenfalls mit einer unverfügbaren konvulsivischen Reaktion antworten, und es deshalb eigentlich auch als Pendant dazu das entsprechende nicht-häßliche Häßliche geben müßte, also das nicht-eklige Ekelhafte, auf das man dann mit Lachen antworten könnte. Auf die Analogie zwischen dem konvulsivischen Lachen und dem konvulsivischen Erbrechen hat schon Winfried Menninghaus verwiesen, der sogar so weit geht, den würgenden Ekel als »negatives Lachen« und als »negativen Doppelgänger des Lachens«10 zu bezeichnen. Noch genauer wäre es, wenn er den würgenden Ekel als den Doppelgänger des haßerfüllten und vernichtungswilligen Auslachens bezeichnet hätte, das die Lachkotze aus sich heraus würgt und den Ausgelachten damit überschüttet. Außerdem hätte Menninghaus auch eine Analogie zwischen dem Grinsen und der Ekelgrimasse herstellen und die Ekelgrimasse als »negativen Doppelgänger des Grinsens« bezeichnen können. So gesehen hätte also auch Joubert sehr wohl analog zu seiner Definition des Lachens auch das Erbrechen als Effekt des Ekelhaften bezeichnen können, das im Erbrochenen11 »denotiert« wird. Dieser Blick auf gewisse Analogien in der Verlaufsgestalt von Lachen und Ekel beantwortet aber nicht unsere Frage, warum wir nur durch die Fernsinne etwas als komisch oder lächerlich wahrnehmen können, das dann entsprechend belacht oder verlacht wird, nicht aber durch die Nahsinne. Die Lösung des Problems ergibt sich erst, wenn wir nach der Räumlichkeit des Affekts Ekel im Unterschied zur Räumlichkeit des Lachens fragen, und dieser Unterschied liegt darin, daß Ekel und Erbrechen Formen negativer Abwendung aus allzu großer und allzu aufdringlicher Nähe sind, wohingegen Lachen immer eine Form intentionaler Zuwendung ist, die positiver oder negativer Art sein kann. Zuwenden kann ich mich aber nur dem, was »dort« ist, und deshalb muß all das, dem ich mich durch Lachen wohlwollend positiv oder aggressiv negativ 684 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zuwende, auch immer »dort« sein und ist genau aus diesem Grund ebenfalls an die Wahrnehmung durch Fernsinne gebunden. Die Wahrnehmung durch die Nahsinne hingegen setzt voraus, daß das wahrzunehmende Objekt ganz in der Nähe und »hier bei mir« ist, und oft genug ist es mir auch viel zu nahe. Joubert beschreibt zwar einige Fälle von unangenehmen Erfahrungen bei Riechen, Schmecken und Tasten, verschiebt dabei aber das Problem auf ein anderes Feld, wenn er schreibt, man könne dabei auch lachen: »Wenn jemand ein Stück Eisen anfaßt, von dem er nicht weiß, daß es heiß ist und sich dabei verbrennt, (…) oder wenn man Scheiße für Honig hält, so ist all das zum Lachen. (…) Oder wir lachen über jemanden, der sich die Zunge an einer zu heißen Suppe verbrennt und sie dann ausspuckt.« (S. 24 f.)

Oder: »Wenn der Geruchssinn getäuscht wird und wir Stinkendes riechen, wo wir Angenehmes erwartet haben, so beginnen wir zu niesen, so heftig und ausgiebig, daß es zum Lachen ist.« (S. 26)

Wie man sieht, lacht in all diesen Fällen nur der unbeteiligte Betrachter, nicht aber der Riechende, Schmeckende oder Tastende selbst, der sich in der Beschaffenheit eines Objekts getäuscht hat und dieses sofort von sich abstößt oder die verbrannten Finger zurückzieht. All dies sind Formen entschiedener Abwendung, und desto entschiedener, je näher uns das unangenehme Objekt gekommen ist, und am entschiedensten und in rabiat konvulsivischer Ausprägung, wenn es sogar in uns eingedrungen ist, denn dann genügt ein einmaliges explosionsartiges Niesen nicht mehr, sondern der Ekel würgt uns mit unbändiger Macht, und auch noch dann, wenn wir das in uns Eingedrungene schon längst von uns gegeben haben, weil wir es gar nicht weit genug und oft genug von uns abstoßen können, da es uns gar zu nahe gekommen ist. 2.9.4.3 Das Kriterium der enttäuschten Erwartung Wenn wir nun nach dem gemeinsamen Nenner für die bisher dargestellten risiblen Objekte suchen, so bietet es sich zunächst an, 685 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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diesen in der Verletzung einer Norm zu sehen, von der man erwarten darf, daß sie von jedem erfüllt wird. Diese Verletzung oder Privation einer Norm muß jedoch unerwartet und unbedrohlich oder unschädlich sein und darf beim Lachenden kein Mitleid hervorrufen. Und da Joubert immer »unser Lachen« in der eutrapelistischen Tradition von Aristoteles und Cicero meint, dürfen wir hinzufügen, daß sich auch Scham und Zorn verbieten, wenn dieses geloiastische Lachen gelacht werden soll. Daß es auch Formen des Auslachens gibt, die vor Zorn geradezu lodern, und wieder andere, die den Verlachten in katastrophale Scham zu treiben und damit zu vernichten suchen, haben wir schon gesehen, aber diese spielen für Joubert keine Rolle. Obwohl Joubert also unter diesem Aspekt durchaus der Tradition von Aristoteles und Cicero folgt, steht er dieser Tradition unter einem andern Aspekt ganz und gar fern, da die von Aristoteles und Cicero begründete rhetorisch orientierte Argumentation wesentlich nach sprachlich erzeugten risiblen Techniken und Anmutungen fragt, Joubert hingegen seine Beispiele aus dem Bereich nichtsprachlichen Verhaltens wählt, deren Wahrnehmung wiederum vor-prädikativ erfolgt, also durch direkte Einleibung oder mimetische Resonanz, also durch Wahrnehmung »mit dem Bauch« oder, wie Joubert sagt, mit dem Herzen. Daß durch Entblößungen aller Art gesellschaftliche Normen und Konventionen verletzt werden und daß in derlei Situationen auch niemand zu Schaden kommt, muß man nicht weiter begründen, auch wenn man in Betracht zieht, daß derlei Normen und Konventionen stark dem historischen und gesellschaftlichen Wandel unterworfen sein können und in verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich sein können. Entscheidend ist dabei nur, daß sie in der jeweiligen aktuellen Situation gelten und daß jeder Beteiligte erwartet, daß sich auch alle andern in ihrem Verhalten daran orientieren. Wie aber soll man einen Sturz als Verletzung einer Norm verstehen, deren Erfüllung man erwarten darf? Worin könnte also bei einem Sturz die nicht-häßliche Häßlichkeit bestehen, durch die eine erwartbare Norm verletzt wird? Um diese Frage zu klären, tun wir gut daran, uns bei einem Kollegen Jouberts kundig zu machen, den man mit vollem Recht 686 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ebenfalls als philosophischen Arzt bezeichnen könnte. Ich meine damit den phänomenologisch orientierten Mediziner Kurt Goldstein (1878–1965), der in seinem Hauptwerk Der Aufbau des Organismus ein längeres Kapitel dem »ausgezeichneten Verhalten«12 widmet. Dieses »ausgezeichnete Verhalten« ist für Goldstein nicht ein ad hoc gesetztes oder kulturell überliefertes Verhaltensideal, das man eigens erlernen müßte, sondern eine empirische Norm, die im Verhalten von Tier und Mensch beobachtet sowie daraus erschlossen werden kann und deren Erfüllung man auch erwarten kann. Denn, so Goldstein, »wenn wir einen Organismus (…) in seinem ›natürlichen‹ Verhalten betrachten, so stellen wir fest, dass keinesfalls alle nach der ersten Betrachtung möglichen Verhaltensweisen verwirklicht werden, sondern eine ganz bestimmte Zahl deutlich bevorzugt wird. Wir nennen diese die ausgezeichneten Verhaltensweisen.« (S. 220)

Zu diesen ausgezeichneten Verhaltensweisen gehören nicht nur bestimmte Haltungen, die wir selbst einnehmen, insbesondre die aufrechte Haltung, oder Bewegungsabläufe, die wir selbst ausführen, sondern wir erwarten diese auch von unseren Mitmenschen, ebenso von Tieren und sogar von unbelebten Gegenständen, und tendieren deshalb z. B. dazu, ein Bild wieder gerade zu rücken, das schief an der Wand hängt. Als Muster für die Optimalform einer bestimmten Haltung führt Goldstein folgendes Beispiel an: »Fordert man jemanden auf, die Arme auszustrecken, so werden, wenn die Instruktion nichts Besonderes vorschreibt, dabei Hand und Finger leicht gebeugt gehalten, der Daumen steht ein wenig tiefer als die übrigen Finger, die Finger sind etwas gespreizt, besonders der kleine, und die Volarfläche der Hand ist nach unten und etwas nach der Körpermitte gerichtet. Jede andere Lage der Hand in dieser Situation empfinden wir deutlich als unbequem und suchen sie nach Möglichkeit zu vermeiden, resp. die Hand in die bequemere andere zurückzuführen.« (S. 224 f.)

Wer dieses Experiment mit sich selbst durchführt, wird sofort merken, wie genau Goldstein beobachtet und beschreibt, und das Kriterium für die Bequemlichkeit einer Haltung darin finden, • daß bei dieser hier beschriebenen optimalen Ausführung einer bestimmten Haltung die Körperspannung in optimaler Weise 687 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und ohne größere Anstrengung über längere Zeit kontrolliert werden kann und verfügbar bleibt; • daß außerdem der Atem nicht beeinträchtigt wird und ganz regelmäßig weitergeht; • daß das Gesicht ganz entspannt bleibt; • und daß man ganz unangestrengt aufrecht stehen bleiben kann. Die Optimalform bei Bewegungsabläufen, z. B. beim Gehen, würde darin bestehen, • daß man in aufrechter Haltung geht; • daß man ohne zu stolpern regelmäßig Schritt auf Schritt folgen läßt; • und zwar in einem Rhythmus, der dem Gelände angemessen ist. Aus diesem Grund spricht Buytendijk auch davon, daß das ausgezeichnete Verhalten dem »Prinzip des Spannungsminimums« bzw. dem »Prinzip des minimalen Energieverbrauchs«13 folgt. Im Unterschied zu gesellschaftlichen Normen und Konventionen, die eigens gesetzt, akzeptiert und eingeübt werden müssen, bis sie in Fleisch und Blut übergegangen und somit zur zweiten Natur geworden sind, müssen die empirischen Normen des ausgezeichneten Verhaltens nicht erst eigens angenommen, erlernt und eingeübt werden, sondern ergeben sich »wie von selbst«, sofern jemand erst einmal Person geworden ist und sofern er nicht an spezifischen Krankheiten leidet. Und außerdem sind sie auch dem kulturellen und historischen Wandel nicht unterworfen. Mit einem Wort: Das ausgezeichnete Verhalten im Sinne Goldsteins ist ein integraler Bestandteil dessen, was wir seit Aristoteles als proprium hominis bezeichnen oder, mit Hermann Schmitz, als die Signatur personaler Emanzipation. Wird dieses Optimalverhalten jedoch aus irgendwelchen Gründen deformiert, sodaß aus dem ausgezeichneten Verhalten ein difformes Verhalten wird, so haben wir, mit Goldstein gesprochen, »subjektiv das Gefühl des ›nicht Richtigen‹, des ›Unangenehmen‹, des ›Unbefriedigenden‹, des ›Schwierigeren‹, des ›Willkürlicheren‹« (S. 228) oder, mit Aristoteles, Cicero und Joubert gesprochen, das Gefühl des nicht-häßlichen Häßlichen, oder, in der Sprache des 18. Jahrhunderts, die Anmutung des Ungestalten, und das kann in bestimmten Situationen und unter bestimmten Bedingungen ko688 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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misch wirken und zum Lachen reizen. Und außerdem können wir im Vorgriff auf spätere Klärungen hier schon hinzufügen: Das Ungestalte bildet, sofern es Gestaltverläufe überformt, mit den ausgezeichneten Verhaltensweisen einen polarkonträren Gegensatz, sodaß ein Gestaltverlauf immer mehr-oder-weniger ungestalt sein kann. Vor diesem Hintergrund zeigt sich nun, daß die von Joubert angeführten Fälle von risiblem Verhalten sich sehr wohl auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Entblößung und Stürze aller Art sind demnach Deformierungen eines Optimalverhaltens bzw. Privationen einer vorgegebenen Norm, deren Erfüllung man erwarten kann, unabhängig davon, ob diese Norm eine gesellschaftliche oder eine natürliche ist, oder, anders formuliert: unabhängig davon, ob diese Norm zur ersten oder zur zweiten Natur des Menschen gehört. Wird diese Erwartung unverhofft und plötzlich getäuscht, aber ohne eine Situation zu schaffen, in der Mitleid, Zorn oder Scham erweckt werden könnten, so lachen wir und »denotieren« mit diesem Verhalten, das ja eine Form personaler Regression ist, die in der Privation des Optimalverhaltens unerwartet sichtbar gewordene personale Regression dessen, über den wir lachen. Unser Lachen über die Regression des Anderen ist somit das mimetische Echo der Regression des Anderen, da das Lachen selbst eine mehroder-weniger ausgeprägte Form personaler Regression ist. Da nun der aufrechte Stand beim Menschen das sichtbarste Beispiel ausgezeichneten Verhaltens und damit zugleich auch die sichtbarste Signatur personaler Emanzipation ist, stellt die Deformation der aufrechten Haltung beim Stolpern und Stürzen denn auch die tiefste und wahrhaft unerschöpfliche Quelle komischer Situationen dar. Und wenn man sich dann über den grotesken, aber ungefährlichen Sturz eines Anderen vor Lachen biegt, windet oder gar selbst am Boden wälzen möchte, so ist diese Deformation der aufrechten Haltung beim Lachenden das mimetische Echo dessen, daß der Gestürzte mit den Beinen nach oben oder der Nase nach unten, aber unverletzt im Dreck liegt. Die Haltung des Lachenden ist aber nur das Echo, nicht das korrekte Spiegelbild des Sturzes, und somit nur dessen verkürztes Zitat. Die Orientierung an Goldsteins Phänomenologie des Verhaltens setzt uns nun auch in den Stand, einen weiteren Aspekt des 689 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nicht-häßlichen Häßlichen genauer zu bestimmen, um klar zu machen, worin sich das nicht-häßliche Häßliche vom echten Häßlichen als dem Gegenteil des Guten und Schönen unterscheidet. Wenn Karl Rosenkranz z. B. in seiner Ästhetik des Häßlichen vom Häßlichen spricht, so schwingt er durchwegs eine moralische Keule doppelten Gewichts und wettert in einem eigenen Kapitel gegen das »Wohlgefallen am Häßlichen«, das »krankhaft« sei und erst dann zu Tage trete, »wenn ein Zeitalter physisch und moralisch verderbt ist« und »für die Erfassung des wahrhaften, aber einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunst das Pikante der frivolen Korruption genießen will.« 14 Im Gegensatz dazu enthält die Rede vom nicht-häßlichen Häßlichen keinerlei moralische Wertung, ist also rein phänomenal gemeint und bezeichnet lediglich das Difforme einer Haltung oder Bewegung, das Mißlingen eines erwarteten und auch erwartbaren Optimalverhaltens. Und da, so gesehen, das Risible keinerlei moralische Abwertung erfährt, kann auch das Lachen über Komisches keinerlei moralische Verurteilung auf sich ziehen. Daß es auch ganz andere Formen des Lachens gibt, die moralisch durchaus verwerflich sind, haben wir bei Alexander von Hales gesehen, aber von diesen ist hier nicht die Rede. Und so sieht es auch Joubert, denn Joubert nennt neben den eben angeführten Difformitäten noch weitere Arten von risiblen Objekten wie Verkleidungen, Verstellungen, leichte Fehlleistungen, die aus ungefährlichen Dummheiten oder aus Unachtsamkeit resultieren, sowie Streiche aller Art, die jedoch nie in Beleidigung oder Verletzung ausarten dürfen, die also weder Mitleid noch Zorn, noch Scham hervorrufen dürfen. Auch in diesen Fällen liegt das für ihn entscheidende Kriterium in der Difformität (difformité) des jeweiligen Verhaltens, also in der Nichterfüllung einer erwarteten und auch erwartbaren Verhaltensnorm, oder, noch allgemeiner formuliert: in der überraschenden, aber unbedrohlichen Nichterfüllung des jeweils Erwarteten. Dieses Prinzip sieht Joubert auch in der Scherzrede wirksam, der er ein eigenes Kapitel widmet, in dem er jedoch weitgehend im Rahmen dessen bleibt, was wir schon bei Aristoteles, Cicero, Quintilian, Pontano und Castiglione gefunden haben. Alle Scherzrede 690 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gründet sich also auch für Joubert auf den Möglichkeiten der Sprache und kann Gelächter erregen, aber nur dann, wenn sie nicht »wirklich wichtige Dinge« (S. 33) oder die »persönliche Ehre« (S. 33) berührt, und alle Scherzrede weist immer irgendeine Deformation der Sprache (difformité) (S. 33) auf. Vor allem aber muß das Lachen, das durch Scherzreden aller Art erzeugt wird, »unser Lachen« im Sinne Ciceros sein. So gibt er zwar zu, wir fänden es »häßlich (laid), wenn sich jemand über uns mokiert, wenn wir etwas gesagt oder getan haben, das Tadel verdient« (S. 33), weil natürlich auch für ihn Ciceros These gilt, jede Art von Spott impliziere immer zugleich auch Tadel, aber dieser Tadel dürfe nie so weit gehen, daß man zu Scham oder Zorn getrieben werde. Und deshalb verweist er ausdrücklich auf die Poetik des Aristoteles, und gibt sie dahingehend wieder, daß das Lachen »keinen Schmerz, keine Gefahr, kein Verderben, keinen Vernichtungswillen (aucun mal, danger, dam, ne outrage)« enthalten dürfe, »auch wenn dies auf den ersten Blick so scheinen mag; aber immer ist es geprägt durch irgendeine Art von Danebenheit und Häßlichkeit (messeance & laideur), ohne jedoch Mitleid (misericorde) zu erwecken.« (S. 34) Diese Übertragung des Nomos der eutrapelistischen Lachkultur aus der aristotelischen Tradition in das christliche Denken über die Brücke des Mitleidbegriffs versetzt uns nun in die Lage, etwas genauer über die spezifische Opportunität der Scherzrede zu sprechen, denn hier ist der Punkt, an dem Joubert etwas über den von Aristoteles und Cicero vorgegebenen Rahmen hinauskommt. Das Lachen über Scherze ist für Joubert nämlich keine unausweichliche Folge von Reiz und Reaktion, weil wir nur in bestimmten Situationen über einen bestimmten Scherz lachen, in anderen Situationen über denselben Scherz aber nicht. Joubert erklärt sich diesen wichtigen Sachverhalt damit, daß das Risible nicht vorgegeben sei, sondern eigens entdeckt und als risibel bestimmt werden müsse, damit überhaupt gelacht werden könne. Mit anderen Worten: Damit gelacht werden kann, muß jemand als jemand etwas als etwas Risibles erkennen. Als Beispiel nennt er den klassischen Lachmuffel Cato und den notorisch weinenden Heraklit »und ähnliche Säuerlinge (chiche-faces)« (S. 36). 691 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mit diesem kurzen Hinweis auf den perspektivischen Charakter des Risiblen, auf den wir später noch ausführlicher eingehen werden, hat Joubert den ersten Schritt seines Gedankengangs getan und die Natur des risiblen Objekts bestimmt. Im nächsten Schritt geht es ihm darum zu klären, wie das risible Objekt das Lachen bewirkt und welche Teile der Seele dabei beteiligt sind, um die »wunderlichen Wirkungen des Lach-Erlebnisses (passion risoliere)« (S. 39) zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Der nächste Schritt Jouberts gilt der Suche nach einem sechsten Sinn, dem spezifischen Lach-Sinn und dem dazugehörigen Organ zur Wahrnehmung von Risiblem und der Lokalisierung dieses Organs im menschlichen Körper; der übernächste Schritt erforscht die Genese des Lachens in diesem Organ und der Weitergabe des Lachens an den gesamten Körper. 2.9.5 Die Wahrnehmung risibler Objekte, Sachverhalte und Situationen 2.9.5.1 Das Kriterium der Perspektivität Um die erkenntnistheoretischen Überlegungen deutlich zu machen, auf deren Grundlage Joubert den Sinn fürs Risible und das dafür zuständige Organ zu bestimmen sucht, müssen wir noch mal einen Gedanken aufgreifen, auf den auch Joubert immer wieder zurückkommt. Es geht um die Irrtümer, die einem immer wieder passieren können, aber bei all den Irrtümern, die Joubert im zweiten Kapitel seines Traktats schildert, handelt es sich nicht um Sinnestäuschungen, sondern um das Auseinanderklaffen von Erwartetem und Erlebtem: »Denn nicht die Sinne irren, wenn sie ihre Objekte wahrnehmen, sondern wir lachen nur über die Vorstellung und Erwartung, die wir fälschlicherweise mit der Sinneswahrnehmung verbunden haben (imaginaciõ faulsemant persuadee) und die wir als häßlich und mitleidsunwürdig erachten, wenn es sich um etwas von geringer Bedeutung handelt, sodaß auch falsche und verquere Anmutungen (affecciõs vaines & sottes) auf diese Weise zustande kommen.« (S. 27 f.)

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Das heißt doch wohl, daß es für Joubert nichts an sich Risibles gibt, sondern nur etwas, das für uns und für uns ad hoc risibel wirkt. Das Risible liegt für Joubert also nicht im Objekt, sondern im Subjekt der Wahrnehmung des Risiblen und in der Situation, in der das Subjekt sich jeweils befindet, denn das Risible ist nicht das Ergebnis der sinnlichen Wahrnehmung, sondern das der Deutung, Beurteilung und Bewertung eben dieser sinnlichen Wahrnehmung in der jeweiligen Situation. Oder anders formuliert: Wir nehmen gar nicht Risibles wahr, sondern etwas als risibel. Oder noch anders formuliert: Wir nehmen nicht Risibles wahr, sondern wir nehmen als jemand etwas als risibel wahr, und dies ist außerdem noch abhängig von der Situation, in der wir uns gerade befinden, denn nur diese »perspektivische« Form der Wahrnehmung des Risiblen kann erklären, weshalb der eine etwas als saukomisch empfindet und sich ausschüttet vor Lachen, während der andere nicht mal mit den Achseln zuckt und sich abwendet bzw. daß ein und dieselbe Person etwas einmal als komisch empfindet und ein andermal nicht. Man könnte also fast sagen, Joubert habe Nietzsches These von der perspektivischen Form jeglicher Erkenntnis partiell vorweggenommen, der in der Genealogie der Moral das Dogma von der unbefleckten Erkenntnis verhöhnt und die Forderung erhebt, man müsse sich »die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis« (II,860) nutzbar machen: »Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen Begriffs-Fabelei, welche ein reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher kontradiktorischer Begriffe wie ›reine Vernunft‹, ›absolute Geistigkeit‹, ›Erkenntnis an sich‹; – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretierenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird; hier wird also immer ein Widersinn und Unsinn vom Auge verlangt. Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wis-

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sen, um so vollständiger wird der ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein.« (II,860 f.)

Für die Interpretation von Jouberts Traktat ist dieser Hinweis auf die perspektivische Form jeglicher Wahrnehmung v. a. deshalb wichtig, weil man nur auf diesem Wege deutlich machen kann, daß jede Art von Wahrnehmung und deshalb auch jede Art der Wahrnehmung von Risiblem immer auf der Grundlage affektiver Anmutungen erfolgt. Das aber bedeutet, daß die Wahrnehmung risibler Objekte durch Organe erfolgen muß, die sozusagen für affektive Anmutungen »zuständig« sind und daß auch der Lach-Sinn dort seinen Sitz haben muß. Dieser Frage geht Joubert dann im fünften Kapitel nach, das im Titel zu klären verspricht, »welcher Teil des Körpers als erster das Objekt des Lachens aufnimmt (ressoit)« (S. 40). 2.9.5.2 Das Kriterium der Einleibung Für Joubert kommen hierfür eigentlich nur zwei Organe in Frage, das Gehirn und das Herz; das Gehirn deshalb, weil hier alle Sinneseindrücke gesammelt und bewertet werden; das Herz deshalb, weil hier der Sitz aller Affekte ist und das Lachen, wie aus seiner Definition hervorgeht, auf affektiv besetzte Anmutungen antwortet. Da Joubert die Frage »Herz oder Hirn?« aber nicht sofort beantworten kann, fragt er erst mal genauer nach dem Phänomen selbst und stellt fest: »Jeder weiß, daß beim Lachen das Gesicht bewegt wird, der Mund sich öffnet, die Augen strahlen und feucht werden, die Wangen sich röten, die Brust sich hebt, die Atmung in Stößen erfolgt; und wenn das Lachen länger dauert, weiten sich die Adern am Hals, die Arme fangen an zu rudern, die Beine beginnen zu strampeln, der Bauch fängt an zu pulsieren und tut etwas weh; man keucht, schwitzt, pißt (pisse) und scheißt (fiante) sich in die Hose vor Lachen und manchmal werden wir sogar ohnmächtig. All das ist bekannt genug und muß nicht erst ausführlich bewiesen werden. All dies ist aber auch genau das, was durch diese meine Untersuchung auf den Begriff gebracht werden soll.« (S. 42)

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Da all diese Regressionsphänomene für Joubert nicht einzelne Phänomene sind, die beim Lachen zufälligerweise gleichzeitig sichtbar werden, sondern Aspekte des Gesamtphänomens Lachen, die sich zugleich manifestieren, gilt es, nach der arche zu fragen, also nach der all diesen Phänomenen gemeinsamen Ursache, die sie integriert und aus einem einzigen Prinzip heraus synergetisch-synästhetisch überformt. Und darüber hinaus gilt es, im Körper das Organ zu finden, das mächtig genug ist, um die umfassende Zugleichheit so vieler verschiedener und disparater Bewegungen zu bewirken und synchron zu organisieren. Deshalb fährt Joubert fort: »Die Affektion (affecciõ), die all die oben erwähnten plötzlich einsetzenden und sehr unterschiedlichen Bewegungen verursacht, kann nur von einem lebenswichtigen zentralen Organ ausgehen, das den gesamten Körper regiert, denn die weniger wichtigen Organe des Körpers haben nicht die Macht, andere Teile des Körpers zu beeinflussen und ihm ihre eigene Affizierungen (affecciõs) aufzuzwingen. (…) Diese dominierenden Organe sind das Gehirn, das Herz und die Leber.« (S. 42 f.)

Und in einer Anmerkung (S. 43) fügt er hinzu, man könnte auch die Hoden anführen, aber die seien nur beim Mann vorhanden und man könne auch ohne sie leben, und außerdem lachen ja auch Frauen. Die Hoden scheiden also gleich aus, ganz anders als bei Hildegard von Bingen, die im »Geschlechtswind« einen wichtigen Ursprung des ordinären Lachens gesehen hatte. Die Art und Weise, wie Joubert seinen Gedankengang von nun an weiter vorantreibt, liest sich zunächst wie die Vorwegnahme der rein physiologisch und anatomisch ausgerichteten und am Maschinenmodell orientierten Argumentation von Bacon, Descartes und Spencer, aber dann doch auch wieder als deren vorweggenommene Überwindung durch eine phänomenologisch orientierte Philosophie des Leibes auf der Grundlage der zeitgenössischen Sympathienlehre. Um diese Behauptung zu begründen, muß ich Joubert ausführlich zitieren, denn er schreibt: »Was das Gehirn betrifft, so hat es eine so große Macht, daß die fühlenden und beweglichen Teile des Körpers von ihm abhängen und durch die Nerven angeleitet werden. Die Muskeln aber, die, wie man sagt, pure Organe der Bewegung sind, hängen von unserem Willen ab,

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der im Gehirn seinen Sitz hat. Wenn also die Nerven und Muskeln dem Willen gehorchen, so gehorchen auch alle Körperbewegungen, die wir ausführen, unserem Willen. Aber es gibt auch andere Körperbewegungen, die natürlicher Art sind und unwillkürlich erfolgen (qui sont naturels & nompas voluntaires), wie z. B. die des Herzens und der vom Herz bewegten Schlagadern. Denn das Herz gehorcht einzig der Natur in seiner kontinuierlichen und unermüdlichen Bewegung, die es den Schlagadern mitteilt. Die Leber bewegt sich nicht vom Fleck, aber sie hat sehr wohl die Macht, sich durch Engung und Weitung in sich selbst zu bewegen und verteilt auf diese Weise die Säfte im Körper. Nur diese bewegen sich also von der Stelle, nicht jedoch das Organ, durch das sie bewegt werden. Somit gibt es nur zwei Organe, das Gehirn und das Herz, die man als Motor von Lokomotion verstehen kann und die als diskutable Verursacher der Bewegungen in Frage kommen, die sich als Lachen manifestieren.« (S. 43 f.)

Nun stellt sich für Joubert nur noch die Frage, ob nur eines dieser beiden Organe der Motor des Lachens ist und wenn ja, welches, oder ob beide in irgendeiner Form beim Lachen zusammenwirken. Deshalb fährt er fort und setzt beim Kriterium der Verfügbarkeit an: »Ich vermag nicht zu sagen, wie man diese Muskelbewegungen beim Lachen mit dem Herzen in Verbindung bringen könnte, da ja nicht das Herz die Muskeln regiert; denn das Öffnen der Lippen, das Schütteln der Arme und der Brust und all die anderen Bewegungen kann eigentlich nur durch die Nerven bewirkt werden, die aber allein dem Gehirn gehorchen. (…) Deshalb gehören diese Erschütterungen (agitacions) eigentlich zum Wirkungsfeld des Gehirns, das, vermittelt durch die Nerven, in den Muskeln schaltet und waltet. Man beachte aber, daß die vom Gehirn gesteuerten Bewegungen ausschließlich willentliche Bewegungen sind, wohingegen die Bewegungen beim Lachen unverfügbar sind, da sie sich auch gegen unseren Willen (maugré nous) manifestieren. Denn es ist unmöglich, sie zu unterdrücken, wenn es etwas zu lachen gibt oder sie anzuhalten, wenn sie mal in Fahrt gekommen sind, es sei denn unter großen Schwierigkeiten und wenn man noch so viel Vernunft aufbietet, um ihrer Herr zu

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werden. Dazu kommt, daß wir dem Herzen und nicht dem Gehirn all die affektiven Anmutungen (affeccions) zuschreiben, zu denen das Lachen selbst zwar nicht gehört, die sich aber im Lachen resp. als Lachen manifestieren. Ja ich wage sogar zu behaupten, daß der Vorgang des Lachens im Gefolge einer dieser affektiven Anmutungen (passions) sich ereignet, genauso wie ein Freudentanz Freude bezeugt.« (S. 44 f.)

Damit ist Joubert eigentlich schon bei seinem zentralen Gedanken angekommen, demzufolge das Lachen die Signatur einer affektiven Anmutung ist, das äußerlich sichtbare Zeichen eines inneren Zustandes, den es aber nicht nur als existent anzeigt, sondern darüberhinaus auch noch »denotiert«, d. h. mimetisch repräsentiert. Um diesen zentralen Gedanken vorzubereiten, greift er erst mal etwas voraus und peilt die nächsten Schritte seiner Argumentation an: die Ambivalenz der risiblen Anmutung, deren Wahrnehmung durch das Herz und die Resonanz von Herzbewegung und Lachgeschehen: »Aber vielleicht sollten wir die Ursache für die Bewegung des Lachens überhaupt einer ganz anderen Art affektiver Anmutungen (affeccions) zuschreiben. Um dies aber besser leisten zu können, sollten wir erst kurz die verschiedenen Fähigkeiten der Seele darlegen, von denen all unser Verhalten herrührt; und wenn wir das tun, so werden wir auch herausfinden, mit welchen der wichtigen Organe all diese affektiven Anmutungen (passiõs) in Verbindung zu bringen sind. Denn erst wenn wir bestimmt haben, in welcher Weise das Lachen als unverfügbares Widerfahrnis (accidant) zu welchen affektiven Anmutungen (passiõs ou affeccions) gehört, wird man wissen, wo der Glutkern des Lachens, d. h. der Hauptort seiner Entstehung (le lieu principal de son occasion) liegt.« (S. 45)

Man hört auch hier in der Suche nach dem punctum rubrum saliens resp. der arche des Lachens wieder das aristotelische Erbe heraus, denn dieser springende rote Punkt ist eben das Herz, das Organ also, das für Aristoteles die Keimzelle eines jeden Lebewesens ist. Da Joubert aber eine Erklärung dafür braucht, wie das Bewegungsgeschehen des Lachens durch das risible Objekt im Körper des Lachenden in Gang gesetzt wird, laut Aristoteles Bewegung aber nur durch Stoß oder Zug von Körper zu Körper weitergegeben werden kann, also nur durch direkte Berührung zweier Körper, beim An697 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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stoß des Lachgeschehens eine solche Berührung von risiblem Objekt und lachendem Körper aber nicht zustande kommt, muß Joubert an dieser Stelle seines Gedankengangs über Aristoteles hinausgehen und ein Organ bestimmen, das die Fähigkeit hat, sich ohne Berührung in Bewegung setzen zu lassen, damit es diese Bewegung dann an die anderen Teile des Körpers weitergeben kann. Die Fragen, die Joubert zu klären hatte, lauteten also: • Welches Organ im Körper kann von »dort« und aus der Ferne bewegt werden, ohne jedoch berührt zu werden? • Welches Organ kann mit Objekten »dort draußen« von sich aus in Verbindung treten und sich von ihnen anrühren lassen, ohne von ihnen jedoch berührt zu werden? • Welches Organ kann Objekte »dort draußen« durch einen spezifischen Fernsinn wahrnehmen? • Welches Organ kann auf Phänomene »dort draußen« ohne Reaktionszeit reagieren und synchron mitgehen? • Welches Organ hat diesen Fernsinn, der ein Sinn fürs Risible sein muß? • Mit einem Wort: Welches Organ hat die Fähigkeit zu leiblicher Kommunikation? Für Joubert gibt es auf all diese Fragen nur eine Antwort, und diese lautet: Allein das Herz hat all diese Fähigkeiten, und deshalb ist das Herz der Glutkern des Lachens. Wenn man will, kann man in dieser These die Wiederkehr des christlich-scholastischen risus cordis sehen, allerdings in radikal säkularisierter Form und in phänomenologischem Gewand: Aus dem Lachen des Herzens ist das lachende Herz geworden. Um all diese Fragen zu beantworten, geht Joubert so vor, daß er erst ganz im Sinne von Aristoteles die verschiedenen Fähigkeiten der Seele darlegt; dann geht er zu den intentionalen Akten über und schreibt: »Das sensitive Streben (desir sansitif ) wird, wie der Name schon sagt, durch die Sinne vermittelt und manifestiert sich auf zwei Wegen: einmal durch Berührung (attouchemãt) (also durch Nahsinne), und zum andern ohne Berührung (also durch Fernsinne). Auf die erste Weise entsteht Freude oder Genuß und Schmerz oder Leid, beide durch Vermittlung der Nerven, obwohl diese in keiner Weise vom Denken be-

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gleitet sind und auch nicht der Vernunft gehorchen. Denn man kann sich wie intensiv man immer will vorstellen, ein Glied sei verletzt, und man wird trotzdem keinerlei Schmerzen verspüren. Genauso unmöglich ist es, froh zu sein, wenn man Schmerzen hat, auch wenn man sich dies noch so sehr wünscht. Die Wünsche oder Strebungen (desirs ou appetis) jedoch, die ohne Berührung (sans attouchemant) entstehen, folgen notwendigerweise einem Gedanken (pãsee) und sind nichts anderes als Bewegungen des Herzens (mouuemans du coeur), durch die wir die wahrgenommenen Objekte mit aller Macht erhaschen (pourchassons). Ich sage, daß sie bestimmten Erwägungen folgen; aber ob dieses Denken nun richtig ist oder falsch sein mag, es bringt uns jedenfalls dazu, das zu meiden, was uns mißfällt, und das zu erstreben, was uns angenehm erscheint. Diese Impulse (motifs) sind genau das, was man allgemein mit dem wohlbekannten Ausdruck affektive Anmutungen (affeccions) bezeichnet, und deren wichtigste sind Freude, Trauer, Hoffnung, Angst, Freundschaft, Haß, Zorn, Mitleid, Scham, Dreistigkeit, Ehrgeiz, Mißgunst und Bosheit.« (S. 48 f.)

Dann referiert Joubert kurz verschiedene Meinungen über den Sitz dieser Affekte und kommt zum Schluß, »der allgemeinen Meinung zu folgen, die jede Art von affektiver Anmutung dem Herzen zuordnet.« (S. 50) Mit der These, daß wir durch bestimmte Bewegungen des Herzens Objekte zu erhaschen suchen, sofern diese affektiv relevant sind, daß wir also mit dem Herzen bestimmte Objekte wahrnehmen und das Herz deshalb über einen Fernsinn verfügt, oder anders formuliert, daß wir mit dem Herzen kommunizieren, skizziert Joubert eine Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie, wie wir sie aus den homerischen Epen kennen, in denen die phrenes eine vergleichbare Funktion haben, 15 und wie sie erst wieder von Herder erahnt und von Hermann Schmitz explizit entworfen worden ist, denn was Joubert als »Wahrnehmung mit dem Herzen« bezeichnet, ist genau das, was Schmitz unter »Einleibung« versteht, eine Form der Wahrnehmung also, bei der man den Anderen oder das Andere und eben auch das risible Objekt »am eigenen Leibe spürt und doch nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas Fremdes, das über diesen kommt oder gekommen ist und ihn einnimmt.« 16 Im Jargon 699 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Theaterleute nennt man dies »Verstehen mit dem Bauch«. Man könnte also, wenn man will, Jouberts Theorie der Wahrnehmung affektiv relevanter Objekte in Analogie zu »Einleibung« als »Einherzung« bezeichnen. Man darf aber auch nicht übersehen, daß Jouberts »Einherzung« sich ausschließlich auf die Wahrnehmung affektiv relevanter Objekte bezieht, wohingegen für Schmitz Einleibung die Bedingung der Möglichkeit jeglicher Art von Wahrnehmung der Umwelt durch leibhaftige Wesen darstellt: »Die normale Wahrnehmung ist in erster Linie Einleibung, keineswegs, wie die Physiologie und die an ihr sich orientierende Psychologie nahelegen, bloße Aufnahme und Verarbeitung von Signalen.« 17

Um die Kühnheit von Jouberts Wahrnehmungstheorie deutlich werden zu lassen, bietet sich ein Seitenblick auf Ambroise Paré (1510–1590) an, einen Fachkollegen und Zeitgenossen Jouberts, der auf den ersten Blick ähnlich zu argumentieren scheint. Bei ihm heißt es über das Lachen: »Die zum Lachen anregende Anmutung (affection risifique) ist ein Aspekt des seelischen Widerfahrnisses (passion de l’ame), das wir Freude nennen, welche, wie gesagt, vom Herzen kommt, das von dem betroffen (frappé) wird, was ihm angenehm ist und sich deshalb eifrig weitet und vergrößert (se dilate et eslargit), als ob es das vorliegende Objekt umarmen (embrasser) wollte, und bei dieser Weitung (dilatation) verbreitet es mit dem Blut viel Wärme und noch mehr Lebensgeister (esprits), von denen eine gehörige Portion auch ins Gesicht geschickt wird, und da man mit diesem Lachen eine angenehme Anmutung bekundet, weitet und vergrößert sich auch das Gesicht.«18

Schaut man jedoch etwas genauer hin, merkt man sofort den Unterschied in der Argumentation von Joubert und Paré, denn für Paré ist das Umfassen des Objektes durch das Herz nicht viel mehr als eine Metapher, da er ja schreibt, das Herz weite sich als ob es das vorliegende Objekt umfassen wolle bzw. das Herz scheine durch seine Weitung das vorliegende Objekt in die Arme zu nehmen: »Le rire est l’effet d’une dilatation du coeur par laquelle semble que nous embrassions l’objet présent.« 19 Im Gegensatz dazu verwendet Joubert die Begriffe »Engung« und »Weitung« als direkte Beschreibung leiblich gespürter Regungen, also ganz und gar nicht metaphorisch, weshalb er auch Parés eben zitierte Passage fast wörtlich über700 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nimmt, sie aber in einem Punkt entscheidend abändert, denn er schreibt, das Herz weite sich bei Freude »comme voulãt recevoir & ambrasser l’obiet presanté« (S. 51), also »wie man es tut, wenn man etwas annehmen und in die Arme schließen will«. Und außerdem will er auch die Wendung vom »herzlichen Lachen« (S. 64) ganz wörtlich verstanden wissen: »Wir sagen gewöhnlich: er lacht herzlich (de bon coeur) und nicht: er lacht hirnlich (de bon cerveau) und drücken damit aus (denotons), von welchem Ort im Körper diese das Gelächter erzeugende Affektion ausgeht. All dies beweist zur Genüge, daß das Lachen nur von dort her kommt und von nirgendwo sonst.« (S. 64 f.)

Joubert hätte auch auf den Sprachgebrauch der Bibel verweisen können, wo das Herz immer wieder als Stellvertreter des leibhaftigen ganzen Menschen auftritt, sodaß es z. B. in Psalm 40,13 heißt: »Mein Herz hat mich verlassen« oder in Psalm 55,5: »Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe« oder in Psalm 39,4: »Mein Herz ist entbrannt in meinem Leibe«. Der Prediger Salomo rät allerdings auch in 5,1: »Laß dein Herz nicht eilen, etwas zu reden.« Die Frage ist nur, ob Joubert mit dem Wort »Herz« tatsächlich immer das anatomisch bestimmbare Organ in der Brust meint oder in bestimmten Fällen etwas ganz anderes, für das er aber in seiner Sprache kein Wort hat, nämlich den Leib, sodaß man sagen könnte, das Herz sei für Joubert dann der Stellvertreter des Leibes oder der Leib im kleinen. Diese Vermutung wird zur Gewißheit, wenn wir auf das neunte Kapitel des ersten Teils vorgreifen, denn dort vergleicht Joubert die Wahrnehmung über das Herz mit der Wahrnehmung über das Gehirn und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß das Herz unendlich viel schneller wahrnimmt und begreift als der Verstand, denn diese unmittelbare Wahrnehmung ohne Reaktionszeit ist eben das eigentümlichste Kriterium der Einleibung und des Mitgehens. »Daß das Gehirn beim Begreifen dem Herzen immer hinterher hinkt, ist leicht zu beweisen und ergibt sich schon aus dem Umstand, daß das affektive Urteil nicht im Gehirn seinen Sitz hat, sondern allein das Herz von affektiv relevanten Anmutungen berührt wird. Denn alles, was zum Bereich affektiver Widerfahrnisse gehört, flitzt nur so durch die Instrumente des Gehirns wie durch Wasserleitungsrohre und

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dringt so schnell zum Herzen durch, daß das Gehirn dies gar nicht mal merkt, es also nicht merkt, daß die emotionale Affizierung des Herzens schon erfolgt ist und die dementsprechende Bewegung des Herzens schon begonnen hat. Die Erregung kann sich also schon manifestieren, ohne daß das Gehirn etwas davon weiß.« (S. 67)

Und das heißt, daß das Gehirn auch noch hinter dem Lachen her hinkt, denn »unser Lachen geht dem Begreifen immer voraus.« (S. 66). 2.9.5.3 Das Kriterium der Sympathie Das Argumentationsmodell, das Joubert vorfand, um seine Entdekkung leiblicher Kommunikation durch das Herz auf den Begriff zu bringen, war die aus der Antike stammende Sympathienlehre 20, da sie die einzige vorliegende Theorie war, die die Möglichkeit bot, konsensuale Fernwirkungen ohne direkte Berührung von Körper zu Körper und ohne Reaktionszeit einigermaßen plausibel zu erklären. Das Phänomen mimetischer Resonanz und Bahnung 21 war immer schon bekannt und ist auch in der Antike schon beschrieben worden, der Sachverhalt also, daß Lachen, Gähnen und Pinkeln anstecken können und daß Musik, Tanz und Theater zum Mitgehen animieren; man denke bloß an das berühmte Bild von der magnetischen Kette in Platons Dialog Ion. All dies sind Phänomene, die man als Formen einseitiger und wechselseitiger Einleibung verstehen muß, weil man das Verhalten der Anderen in Form von Bewegungs-Suggestionen »am eigenen Leibe spürt und doch nicht als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas Fremdes, das über diesen kommt oder gekommen ist.« 22 Auch magische Praktiken, die das Ziel verfolgten, durch Ähnlichkeitszauber auf bestimmte Personen aus der Ferne positiv oder negativ einzuwirken, beriefen sich auf die Sympathienlehre, und außerdem glaubte man fest an den »bösen Blick«, durch den man jemandem schaden könne, ohne ihn berühren zu müssen. Die Sympathienlehre griff aber weit über den Bereich menschlichen Verhaltens hinaus und diente auch als physikalische Feldtheorie, um z. B. Phänomene wie Ebbe und Flut als ein Ergebnis 702 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Sympathie von Mond und Meer zu erklären 23, sowie als Grundlage für die Astrologie, um das Schicksal bestimmter Personen aus ihrer sympathetischen Beziehung zu bestimmten Gestirnen zu erklären. Es war v. a. dieser Ballast an magischen und astrologischen Praktiken, der die Sympathienlehre bei der neuzeitlichen Wissenschaft in Verruf gebracht hat, sodaß Francis Bacon in seinem Neuen Organon (1620) nur noch Hohn und Spott für sie übrig hatte und sie als »philosophisches Gaukelspiel« 24 bezeichnete. Für Joubert war die Wahrnehmung mit dem Herzen aufgrund von Sympathie durchaus kein philosophisches Gaukelspiel, sondern schlichtes Faktum, das auf den Begriff gebracht und für die Ätiologie des Lachens fruchtbar gemacht werden wollte, und so bot sich die Sympathienlehre für ihn schon deshalb an, weil mit ihr gleich mehr als nur ein Problem gelöst werden konnte: • Zum einen das Problem der Fernwirkung auf den eigenen Körper ohne konkreten körperlichen Kontakt mit einem anderen Körper. • Zum anderen bot sich damit eine Lösung für das Problem an, wieso das Wahrnehmen von Komik so blitzartig vonstatten geht, weil dieses Verstehen mit dem Herzen ein Resonanz-Geschehen und damit eine Reaktion ohne Reaktionszeit ist. • Des weiteren erscheint das Lachen dann zwar immer noch als Antwortverhalten, aber eben nicht als purer Reflex, sondern als ein Antwortverhalten, das einer eigenen Logik oder Vernunft des Herzens folgt, das die zu ergreifenden Objekte nach Maßgabe dieser spezifischen Vernunft beurteilt. Deshalb kann man Ménager nur zustimmen, wenn er in Anlehnung an einen Gedanken Pascals über Joubert schreibt: »Das Herz ist für ihn nicht das, was man heute darunter versteht (also nur eine Pumpe für den Blutkreislauf ). Denn im Herzen und seiner Wahrnehmungsfunktion steckt immer auch ein Stück Erkenntnis.« (S. 21)

Diese Art von Erkenntnis aber ist immer eine innige Verbindung von Gefühltem und Gedachtem, und so ist für Joubert auch das Lachen »ein inniges Gemenge aus Gefühltem und Gedachtem (un mixte de sentiment et de pensée)« (S. 22), und daraus ergibt sich für Ménager der zentrale Ansatzpunkt für Jouberts Gelotologie: 703 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Es gibt eine Vernunft des Lachens (raison du rire), aber diese ist die Vernunft des Herzens (raison du coeur).« (S. 22)

Ménager hält diesen Befund, den er aus Jouberts Traktat ableitet, für eine »philosophische Fundgrube (aubaine)«, aus der sich all die Philosophen bedienen können, die nach Argumenten suchen, um die »Würde des Lachens« (S. 22) zu verteidigen, weil das Lachen damit zugleich auch zu einem heuristischen Prinzip, gleichsam zu einem Angelhaken der Erkenntnis geadelt wird, denn, so Ménager: »Der Mensch, wenn er lacht, entscheidet augenblicklich, ob etwas für ihn gut ist oder nicht. Und mit dieser blitzartigen Entscheidung vertraut er sich einer ganz spezifischen Art zu denken an. Somit ist das Lachen durchaus ein Merkmal seiner Vernunft-Natur.« (S. 22)

Wir werden sehen, wie später in der Zeit der Aufklärung Lord Shaftesbury und Georg Friedrich Meier dieses Prinzip durch den test of ridicule bzw. durch eine »Kritik der scherzenden Vernunft« zu einer veritablen fröhlichen Wissenschaft ausgearbeitet haben, bei der man sich dem eigenen Lachen genauso gelassen anvertrauen kann wie den Gesetzen der formalen Logik. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen dazu hat Herder in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele 1778 nachgereicht, in der er, genau wie Joubert zweihundert Jahre vor ihm, die These vertritt, es gebe kein Erkennen ohne Empfinden, aber auch kein Empfinden ohne Erkennen: »Wer mir sagt, was Kraft in der Seele sey und wie sie in ihr wirke; dem will ich gleich erklären, wie sie außer sich, auch auf andre Seelen, auch auf Körper wirke, die vielleicht nicht in der Natur durch solche Breterwände von der Seele (psyche) geschieden sind, als sie die Klammern unsrer Metaphysik scheiden. Ueberhaupt ist in der Natur nichts geschieden, alles fließt durch unmerkliche Uebergänge auf- und ineinander; und gewiß, was Leben in der Schöpfung ist, ist in allen Gestalten, Formen und Canälen nur Ein Geist, Eine Flamme.« (8,15 f.)

Auf der Grundlage dieses Gedankens entwickelt Herder dann eine auf Einleibung gegründete Erkenntnistheorie, wie wir sie auch bei Joubert finden. Wie sehr sich Joubert trotz mancher Übereinstimmungen von seinen Zeitgenossen unterschied, wird auch deutlich durch einen 704 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Seitenblick auf seinen Fachkollegen Girolamo Fracastoro (1483– 1553), einem italienischen philosophischen Arzt, auf den er in seinem Traktat mehrfach und immer mit großem Respekt verweist, denn auch Fracastoro berief sich auf die Sympathienlehre, verstand sie aber ganz anders als Joubert. Fracastoro hatte in engster Anlehnung an Lukrez und dessen atomistisches Lehrgedicht De rerum natura mit der Abhandlung De contagione (1530) ein bis ins 19. Jahrhundert immer wieder zitiertes Werk über Infektionskrankheiten veröffentlicht und in Fortführung dieses Werks die Abhandlung De Sympathia et Antipathia liber unus (1546) geschrieben, in der er auch eine Theorie des Lachens entwirft. Ausgangspunkt für Lukrez und deshalb auch für Fracastoro ist die These, daß jedes belebte und unbelebte Ding aus Atomen aufgebaut ist, winzigsten Körperchen, die als Simulacren die Natur des ganzen Körpers, dessen Bestandteile sie sind, wiederum in sich enthalten und deshalb auch all seine Eigenschaften, und aus diesem Grund konnten diese Simulacren auch so leicht mit den Lebensgeistern identifiziert werden. Mit einem Wort: Das Simulacrum eines Körpers ist dieser Körper im kleinen. Diese Körperchen, so die Theorie weiter, sind aber nicht im Körper gebunden wie Sandkörner im Beton, sondern strahlen zentrifugal aus ihm heraus und umgeben ihn dadurch mit einem Dunstkreis seiner selbst, der die Tendenz hat, immer weiter auszustrahlen und sich dabei immer weiter zu verdünnen, ganz so wie der Gestank um einen Kadaver oder die radioaktive Strahlung aus einer Kernschmelze: »Jeder Geruch, Rauch, Dampf (odor/fumus/vapor) und andere Dinge ähnlicher Art entströmen darum verschwommen den Dingen, weil sie, drinnen entstanden, sobald aus der Tiefe sie steigen, werden zerrissen drin auf dem krummen Weg und nicht gerade ist die Mündung der Bahnen, wo sie zu entkommen sich mühen.« 25

Treffen sie dabei auf andere Körper, so dringen sie in diese ein oder prallen von ihnen ab, je nachdem ob zwischen dem »Sender« und dem »Empfänger« Sympathie oder Antipathie herrscht. Auf diesem Wege übermitteln diese Abbildchen des Sender-Körpers dessen Informationen, die u. a. auch in Krankheiten bestehen können und bewirken damit eine Infektion. 705 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Dieses Argumentationsmodell, das stark an die heutige Semiotik erinnert, übernimmt nun Fracastoro in seinem Werk über Sympathien und Antipathien 26 und schreibt in dem Kapitel »Ueber die Sympathie der erkennenden Seele«: »Ein jedes Ding, das sich uns darbietet, wird von der Seele entweder als etwas Angenehmes oder Passendes, oder aber als etwa Widerliches und Unpassendes aufgefasst. Dies aber entspricht nun gleichzeitig den ersten und einfachsten Uebereinstimmungen und Verschiedenheiten zwischen den Dingen und der Seele, aus denen sich auch die zwei ersten und einfachsten Verrichtungen der Seele ergeben, nämlich das Zusammenziehen und das Ausdehnen. Nach Aufnahme von etwas Unangenehmem und Unpassendem kommt es ja zu einem Zusammenziehen der Seele und des Leibes, nach der Aufnahme von etwas Angenehmem und Passendem dagegen zu einer Lockerung und Ausdehnung.« (S. 173)

Aufgenommen werden dabei die Atome des wahrzunehmenden Objekts, die von diesem »Sender« ausstrahlen und all seine Eigenschaften mit sich führen und als Information an den »Empfänger« weitergeben, sofern dieser die Annahme nicht verweigert. Da aber auch vom »Empfänger« derlei Atome ausstrahlen, die den Empfang der fremden Atome hemmen wie ein Störsender oder Schutzschild, geht es bei einer eventuell vorliegenden Antipathie zwischen zwei Körpern letztlich darum, wer wem seine Simulacren und Lebensgeister aufzwingt. Ist die Antipathie zwischen Sender und Empfänger besonders groß, weil der Sender von besonderer Bösartigkeit ist und deshalb z. B. über den tödlichen Blick verfügt wie die Fabelwesen Katablepa und Basilisk, so sind die von ihm ausgestrahlten Lebensgeister vor vornherein überlegen und siegen auf ganzer Linie: »Denn ein großes Abbild (simulacrum/figura/effigia), das auch auf grosse Entfernung von ihm (dem Fabelwesen) ausgeschickt wird, treibt die Lebensgeister (spiritus) eines Menschen auseinander und macht, dass sie entfliehen, wegen der Gegensätzlichkeit und Antipathie, die es zu ihnen hat, worauf dann der Mensch stirbt.« (S. 158)

Wir haben es hier also mit dem Modell einer Fernwirkung von Körper zu Körper zu tun, die aber übermittelt wird durch dazwischengeschaltete informationsträchtige Körperchen, also mit einer Fernwirkung durch unendlich viele Nahwirkungen als Stoß von 706 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Körperchen an Körperchen. Somit ist Fracastoros atomistisch-mecha-nistisches Verständnis von Sympathie fundamental verschieden von Jouberts phänomenologisch fundierter Einleibungstheorie. Dies hat dann, wie wir sehen werden, auch wichtige Konsequenzen für Fracastoros Theorie des Lachens, die er im selben Traktat entwickelt. 2.9.5.4 Das Kriterium der Herz-Gestik Wie ernst es Joubert mit seiner These vom Herzen als einem Organ zur Fernwahrnehmung affektiver Anmutungen meint, wird auch deutlich, wenn er die dabei anfallende Herz-Gestik als Wirkung, Signatur und Denotat eben dieser affektiven Anmutungen beschreibt und dabei eine ganze Palette von Affekten entwirft. Schon im ersten Satz zitiert er Paré zwar fast wörtlich, verändert dieses Zitat jedoch in bezeichnender Weise, um klar zu machen, daß er, anders als Paré, die Herz-Gestik nicht metaphorisch verstanden wissen will, und beschreibt deshalb das Verhalten des Herzens bei den verschiedenen affektiven Anmutungen wie Hermann Schmitz später den spürbaren Leib beschreiben wird, sozusagen als Leib im kleinen: »Bei Freude dehnt sich das Herz eifrig aus, wie man dies tut, wenn man das angebotene Objekt in sich aufnehmen und umarmen will, wobei es freudig sein Blut und seine Lebensgeister aussendet. Bei Hoffnung ist all dies nicht weniger der Fall; denn hier manifestiert sich eine fast identische Bewegung in der Vorstellung, bestimmte künftige Güter seien schon gegenwärtig vorhanden. Trauer und Angst als das Gegenteil des eben Erwähnten erregen das Herz in gegenteiliger Weise. Liebe hat eine beträchtliche Ähnlichkeit mit Hoffnung, ist aber eher ein Gefühl des Brennens, durch das das Herz etwas an sich zu ziehen scheint (samble), um es zu genießen und sich daran zu erfreuen. Im Zorn manifestieren sich gleich zwei Bewegungsimpulse, denn das Herz wird sowohl zornig über die Beleidigung, möchte aber auch den Urheber dieser Beleidigung abstrafen. Haß ist perennierender Zorn. Diese beiden letztgenannten Affekte

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sind (als Formen negativer Zuwendung) das genaue Gegenteil wohlwollender Zuwendung. Scham manifestiert sich ähnlich wie Zorn, denn wer sich schuldig fühlt und sich deshalb schämt, attackiert sich selbst wegen seiner Irrtümer, Dummheiten oder Fehlleistungen, die er begangen hat und scheint sich selbst dafür zu bestrafen oder schämt sich zumindest, da er das Urteil der Anderen fürchtet. (…) Das Gegenteil ist Unverschämtheit. Neid ist nichts anderes als Traurigkeit oder Mißvergnügen über das Wohlergehen anderer. (…) Schadenfreude, zusammengesetzt aus Haß und Freude, aber konträr zu jeder Form von Ehrgeiz, paßt zu jenen, die sich über das Übel freuen, das den Guten widerfährt und über die Glücksgüter, die den Bösen zufallen.« (S. 51 f.)

Ich habe diese Affektenpalette so ausführlich zitiert, obwohl Joubert nicht allen Affekten eine jeweilige spezifische Herzgestik zuschreibt, weil Joubert im zweiten Teil seines Traktats zwar zu einer Klassifikation der Lacharten ansetzt, bei dieser Lachpalette aber, seltsam genug, auf die hier ausgebreitete Affekten-Palette nicht zurückgreift. Das ist schon deshalb so verwunderlich, weil man doch auf diesem Wege sofort Formen des frohen und schadenfrohen, beschämten und verlegenen, wohlwollenden und mißgünstigen und sogar zornigen Lachens, Lächelns und Grinsens bestimmen, beschreiben und dann auch systematisch ordnen könnte. Das ist auch deshalb so unverständlich, weil Joubert alle Affekte im Herzen lokalisierte und in der jeweiligen Herzgestik ein gleichsam physiologisch-anatomisches Kriterium gehabt hätte, um die verschiedenen Lacharten zu ordnen und zu systematisieren. Wenn man Joubert immanent kritisieren wollte, so wäre hier an diesem Punkt anzusetzen, weil hier deutlich wird, wie weit er hinter den Möglichkeiten zurückbleibt, die er sich mit seinem Ansatz geschaffen hatte. Noch unverständlicher wird diese Selbstverkennung, wenn wir weiterlesen, da die von Joubert beschriebene Herzgestik ja immer auch als Aspekt einer räumlich bestimmten Situation verstanden werden kann, in der sich bestimmte Personen in einem räumlich bestimmten Verhältnis begegnen und miteinander umgehen, wie 708 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dies beim Interaktions-Lachen eben geschieht. Wir müssen also auf die klassische hermeneutische Maxime 27 zurückgreifen, derzufolge es gilt, einen Autor besser zu verstehen als dieser sich selbst verstanden hat, denn Joubert fährt fort: »In all diesen affektiven Ergriffenheiten (troubles) und Wallungen (perturbations) spürt man deutlich, daß und wie das Herz bewegt, gepreßt oder geschüttelt wird, jetzt zusammengezogen und dann wieder geweitet wird, wie es der jeweilige Affekt eben mit sich bringt. Darüberhinaus zeigt uns auch die Bewegung des Blutes, die mit den meisten dieser Affekte einhergeht, daß diese das Herz in Mitleidenschaft ziehen. (…) Wir sagen ja auch gemeinhin von einem Menschen, sein Herz sei freudig bewegt, traurig, ängstlich, verschämt, verliebt, mitleidig, dankbar und böse. Aber vom Gehirn sagen wir all das nicht, und deshalb können auch all diese Affekte dem Herzen zugeordnet werden.« (S. 52 f.)

Mit diesem Befund hat Joubert den Punkt erreicht, von dem aus er den nächsten Schritt tun und die Bewegungen des Herzens noch etwas genauer bestimmen kann, da dieses auf zwei ganz unterschiedliche Weisen bewegt wird: »Einmal so, wie wir es eben beschrieben haben, und zum anderen durch regelmäßige Ausdehnung und Zusammenziehung. Beide Bewegungsarten sind ihm eigentümlich und natürlich (propres & naturels); eigentümlich deshalb, weil sie an anderen Organen eines Körpers nicht festgestellt werden können, und natürlich, weil sie einem natürlichen Instinkt (instinct naturel) gehorchen, der den entsprechenden Nervenfasern entspringt, (…) ohne daß der Wille dies befehlen müßte.« (S. 53)

Im Herzschlag überlagern sich also immer zwei unterschiedliche Impulse, so wie in der Musik ein Metrum von einem Rhythmus überlagert wird: Einmal die langfristig angelegte unaufhörliche Folge von symmetrischer Engung und Weitung, und zum anderen eine kurzfristig wirkende situationsspezifische und affektrelevante Bewegung als Signatur einer aktuellen affektiven Anmutung, durch die der vorgegebene Puls entsprechend überformt wird, und dies gilt unabhängig davon, ob wir etwas aktuell erleben oder es uns nur vorstellen, da jede Art von affektiv relevanter Wahrnehmung mit dem Herzen erfolgt und auch das Herz nicht auf nichts antworten kann: »Ignoti nulla cupido« (S. 54). Die Sprache des Herzens wäre 709 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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somit der Pulsschlag, aber eben nicht der Pulsschlag als Metrum, sondern als Rhythmus. Da sich diese Sprache des Herzens also aus zwei Quellen speist, einer körperimmanenten und einer außerkörperlichen, kann Joubert aus diesem Befund gleich einen weiteren höchst folgenreichen Schluß ziehen und fährt fort: »Deshalb sind die Ursachen einer affektiven Anmutung (…) einerseits die jeweiligen Objekte und andererseits das Herz selbst, weil diese Erregungen vom Herzen ausgehen und ebenso hier wie in ihrem Anlaß liegen, vom dem jeder einzelne etwas Besonderes hat, um das Herz affektiv anzusprechen: Liebe hat die Schönheit, (…) der Ärger eine Beleidigung, die Furcht eine Gefahr, und die anderen Anlässe wieder andere Gründe, je nachdem.« (S. 54 f.)

Wenn wir dies auf risible Objekte beziehen, so heißt dies, daß der Grund für ein Lachen einerseits in den risiblen Objekten liegt, die man aktuell wahrnimmt, andererseits aber auch im Herzen des Lachenden, also im Subjekt des Lachens. Hier nimmt Joubert wieder einmal Erkenntnisse späterer Autoren vorweg, in diesem Fall welche von Kant und Jean Paul 28, vor allem aber die von Herder, dem er schon durch seine Erkenntnistheorie sehr nahe steht, da auch Herder in seiner Kalligone nach Analogie des Leibes argumentiert und mimetische Resonanz zur Grundlage jeglicher sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung erhebt. 2.9.6 Die Lebensgeister Da bisher immer wieder von Lebensgeistern die Rede war und dies im folgenden noch öfter der Fall sein wird, ist es sinnvoll, hier einen kleinen Exkurs einzuschalten und zu klären, was es mit diesen ominösen Lebensgeistern auf sich hat, bevor wir Jouberts Gedankengang weiter verfolgen. Die Theorie der Lebensgeister geht, wie so vieles andere auch, auf Platon zurück, der im Timaios (79 ff.) von einem Wärmeherd oder Glutkern spricht, den alle Lebewesen im Herzen besitzen und der durch den Atem gekühlt wird, damit er sich nicht überhitzt, wodurch sich wiederum der Atem erwärmt und deshalb als »Atem710 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Lebensgeister

Pneuma« bezeichnet wird. Dieselbe Vorstellung vertritt Aristoteles, der ihr sogar die kleine Abhandlung De respiratione 29 gewidmet hat Neben diesem warmen Atem-Pneuma gibt es aber auch ein Blut-Pneuma, das genau wie das Atem-Pneuma aus warmer Luft besteht, aber nicht durch die Atmung von außen in den Körper gelangt, sondern im Körper selbst als »Ausdampfung des Blutes« 30 entsteht, wenn dieses an den Glutkern des Herzens gerät. Es wird also aus dem Blut destilliert wie Schnaps aus der Maische, wie Dunst aus dem Kochtopf oder Nebel aus einer Wiese, und für dieses Blut-Pneuma gilt: »Das Pneuma als eine Zusammensetzung von Feuer und Luft empfängt sein Feuer von der kochenden Lebenswärme, seinen Luftgehalt aber durch die Verdampfung der Blutflüssigkeit, da ja allgemein gilt, daß Wasser oder Feuchtigkeit in Luft übergehen kann.« 31

Demnach ist Pneuma jeder Art sehr fein verteilte Materie, die alle Eigenschaften der Substanz, aus der sie entstanden ist, als Potenz in sich trägt und sich immer auch wieder in diese zurück verwandeln kann, so wie z. B. Nebel sich niederschlagen und wieder zu dem Wasser werden kann, aus dem er aufgestiegen ist. Dieser pneuma-Lehre der Antike sind wir schon bei Wilhelm von Conches und Hildegard von Bingen begegnet, die aber beide nicht mehr von verschiedenen pneumata reden, sondern von unterschiedlichen fumi (Dünsten, Dämpfen, Räuchen), und auch diese als feinverteilte Materie verstehen. Auch bei Joubert treten die pneumata auf, heißen aber hier spiritus oder esprits, und später werden wir ihnen auch bei Descartes und Hobbes wieder begegnen. Die Lehre von den spiritus war zu Jouberts Zeit unbestrittenes Gemeingut der Physiologie, am detailliertesten ausgearbeitet bei Jean Fernel (1497–1558), einem Fachkollegen Jouberts, der gleich drei verschiedene Arten von Lebensgeistern 32 kennt, die in unterschiedlichen Organen erzeugt werden: Die Leber erzeugt aus der Nahrung die spiritus naturales und verteilt diese über das Blut der Venen im Körper; das Herz bildet die noch feineren spiritus vitales aus Blut und Atemluft und verteilt diese über das Blut in den Arterien im Körper; und im Gehirn werden die noch viel feineren spiritus animales gebildet, die über die Nerven im Körper verteilt 711 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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werden. Dieses Modell von Fernel wird dann auch Descartes übernehmen und durch dessen Autorität lange Zeit gültig sein. Für Jouberts Fragestellung sind naturgemäß die vom Herzen erzeugten spiritus vitales besonders wichtig, die er auf französisch esprits nennt, was allgemein mit dem Wort »Lebensgeister« 33 übersetzt wird. Da die Lebensgeister also eine materielle Substanz sind, auch wenn sie noch so winzig kleine Körperchen sind, gilt auch für sie, daß sie von anderen Körpern Stöße empfangen und diese an wieder andere Körper weitergeben können, so fein auch deren Materie sein mag. Die Gesetze der aristotelischen Physik gelten auch für sie und deshalb eigneten sie sich auch so gut für eine mechanistisch verstandene Physiologie, in deren Konzept sie die gleiche Funktion einnehmen konnten wie der Dampf in einer Dampfmaschine. Im 19. Jahrhundert verloren sie ihren materiellen Charakter und wurden erst zur Nervenenergie und später zur psychischen Energie, für die dann auch der Energie-Erhaltungs-Satz von Mayer/Helmholtz/ Joule angewendet werden konnte. Wir werden das bei der Theorie des Lachens von Spencer, Freud und Lorenz studieren können. Wir werden aber auch sehen, daß sich selbst in diesen Exzessen mechanistischen Denkens schon bei Descartes und Hobbes die gegenläufige Tendenz zeigt, die Lebengeister wiederum zu verleiblichen, und ganz so, wie dies bereits Joubert getan hat, der das Herz als »Leib im kleinen« angesehen und behandelt hat, werden hier die Lebensgeister als »Herz im kleinen« bzw. als »Leib im ganz kleinen« behandelt. 2.9.7 Die Ambivalenz risibler Anmutungen Um die von Joubert beschriebene Herz-Gestik angemessen zu verstehen, muß man sich immer vor Augen halten, daß Joubert vom Blutkreislauf noch nichts wußte, denn dieser wurde von William Harvey (1578–1657) erst 1628 entdeckt und in seinem Traktat De Motu Cordis 34 dargestellt. Aus diesem Grund war für Joubert die Bewegung des Blutes keine einsinnige Kreisbewegung in einem geschlossenen System, sondern eine rhythmische Hin-und-her-Bewegung, vergleichbar mit dem Luftstrom in den Lungen beim Ein712 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Ambivalenz risibler Anmutungen

und Ausatmen oder mit der Bewegung des Meeres bei Ebbe und Flut. Für Joubert war das Herz deshalb auch keine Pumpe, die das Blut durch Weitung ansaugt und es durch Engung wieder ausstößt, sondern für ihn bewirkte genau umgekehrt die Weitung des Herzens die Fortbewegung des Blutes vom Herzen weg und die Engung dessen Bewegung zum Herzen hin. Dieses aristotelische Denkmodell galt selbstverständlich auch für seine Kollegen Fracastoro und Paré und bot sich vielleicht auch deshalb an, weil die Vorstellung vom Herzen als einem intentionalen Organ, das mit seiner Umwelt wie ein Partner kommuniziert, damit bestärkt werden konnte. Wird das Herz hingegen rein als Pumpe gesehen, wird zugleich damit auch seine intentionale und kommunikative Funktion obsolet, wie dies bei Descartes ja auch geschieht. Nun haben wir gesehen, daß für Joubert sich im Herzschlag immer zwei Impulse überlagern wie Metrum und Rhythmus in der Musik: zum einen das langfristig wirkende, autonom ablaufende Metrum von Engung und Weitung und zum anderen der Rhythmus kurzfristig wirkender situationsspezifischer und affektrelevanter Impulse, durch die die jeweiligen affektiven Anmutungen »denotiert« werden. Diese affektiven Anmutungen können in sich homogen sein, wie z. B. reine Freude, reine Trauer, exzessiver Zorn, purer Haß etc., können aber auch in sich selbst ambivalent sein, wie z. B. Schadenfreude, Verlegenheit oder wie alles Risible, das für Joubert, wie schon für Platon, eine durchaus ambivalente Anmutung ist: »Bei der wahren und ungetrübten Freude weitet sich das Herz, wenn es durch etwas Angenehmes betroffen wird, vor lauter Eifer, wie man es tut, wenn man das angebotene Objekt umarmen und in sich aufnehmen will. Bei dieser Weitung muß es viel Blut und noch mehr Lebensgeister aussenden, und daher rühren im Gesicht die evidenten Zeichen der Freude, als da sind: ein offenes Gesicht, eine glatte, helle und straff gespannte Stirn, leuchtende Augen, sich rötende Wangen und etwas zurückgezogene Lippen. All diese Phänomene bezeugen deutlich, daß eine große Menge von Lebensgeistern nach oben ausgeschwärmt ist, unter der Haut gestaut wird und dadurch diese Veränderungen verursacht. Denn es gehört zur

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Eigenart des bewegten Herzens, im Gesicht eine Signatur der Anmutungen sichtbar werden zu lassen, von denen es affiziert wird. Die glänzenden Augen leuchten nach allen Seiten, strahlen und sprühen Funken wie Diamanten, weil sie so voll sind von Lebensgeistern, die sich dort angestaut haben. Das Gesicht weitet sich, schwillt an und wird prägnanter, da es von den Ausdünstungen des Blutes (vapeurs du sang, also Blut-Pneuma) und der Menge an Lebensgeistern eingefärbt wird, die sich unter der Haut stauen. Denn wenn die Haut nicht so dicht wäre und sie daran hindern würde, sich plötzlich nach außen zu ergießen, wären sie bald vergossen und könnten diese Wirkung nicht entfalten. Aus demselben Grund ist die Stirn in höherem Maße gespannt, glatt und glänzend. Mit einem Wort: Das Gesicht als ganzes verschönert sich, wenn man lacht und sich freut, und dies verdankt sich einem Glanz und einer Lebendigkeit, die die Lebensgeister mit sich bringen, wenn sie unter der Haut des Lachenden sich tummeln. Der Mund ist ein bißchen zurückgezogen und bildet dabei in den Wangen hübsche Grübchen, die man ›Lachgrübchen‹ (Gelasins) genannt hat, und dies kommt von einer Kontraktion, die die Muskeln beim Aufgefülltwerden erleiden, wenn eine große Menge von Lebensgeistern und Blutdünsten angestaut wird, weil das Herz sich in heftigen Schlägen weitet. Denn wenn das Herz sich weitet, ist es weder fähig noch willens, Lebensgeister und Blutdünste bei sich zurückzuhalten und so treibt es sie voran, um das willkommene Objekt auch willkommen zu heißen. Noch wahrscheinlicher aber ist, daß das Herz nicht imstande ist, diese Sendboten seiner selbst zurückzuhalten, weil es nicht imstande ist, den Herzschlag selbst anzuhalten, wenn es sich weit öffnet; es hat ja auch gar keinen Grund dazu, andernfalls müßte es um sein eigenes Wohlergehen bangen.« (S. 74 ff.)

Dies deshalb, weil schon in der Antike berichtet wird, dass Leute aus übergroßer Freude gestorben seien, weil ihnen die Lebensgeister gleichsam explodiert sind. Ich habe Joubert so ausführlich zu Wort kommen lassen, um zu zeigen, mit welch genauem diagnostischen Blick und welcher Freude am Beschreiben der Phänomene dieser philosophische Arzt arbeitet. Außerdem müßte nun auch klar geworden sein, wie er sich 714 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die physiologische Funktion des Herzens vorstellt und daß er reine Freude als Schwellungs-Phänomen versteht und beschreibt, als zentrifugalen Andrang von Blut, Blutdunst und Lebensgeistern gegen die Peripherie des Körpers, an der sie sich stauen und das Phänomen der Schwellung zeitigen. Der gegenläufige Impuls, der das Gefühl von Schwellung hervorruft, liegt für Joubert bei reiner Freude aber nicht im Affekt selbst begründet, sondern rührt her von dem Hindernis, das die Haut bildet, die sich dem der reinen Freude eigenen zentrifugalen Impuls von Weitung entgegenstellt und diesen hemmt und staut, ihn damit aber auch zugleich intensiviert. Daß Joubert das Herz als »Leib im kleinen« beschreibt und die Lebensgeister wiederum als »Herz im kleinen« und damit das gesamte physiologische Geschehen, soweit es mit dem Herzen zusammenhängt, konsequent verleiblicht, zeigt sich auch bei seiner Beschreibung von reiner Trauer als umfassenden zentripetalen Impuls: »Trauer bewirkt genau das Gegenteil von all dem, was wir von den Wirkungen der Freude festgestellt haben: Sie läßt die Lebensgeister zusammenschrecken und sich im Innern versammeln, dort wohin sich auch diejenigen zurückziehen, die in den Augen und überall im Gesicht verteilt waren. Daher kommt es, daß das Gesicht sich zusammenzieht und schrumpft und bleich wird: Die Nase scheint sich zu verlängern, der Mund wird durch die Lippen vorgestülpt, weil diese in die Breite gehen und sich nach unten senken, da die Materie, die ihre Muskulatur angefüllt hat, sie nunmehr schwer werden und hängen läßt und dann in dieser Stellung hält. Aus demselben Grund ist die Stirn voller Falten, die Augenbrauen hängen schwer und dicht zusammengezogen herab. Der Blick ist niedergeschlagen und getrübt, die Augen haben ihren Glanz und ihre freudige Lebhaftigkeit verloren und blicken starr und wie unter einer schweren Last begraben, da sie all das verloren haben, das sie einst zum Strahlen und zum flinken Funkeln gebracht hat. Die Ursache für diesen Wandel liegt darin, daß die Lebensgeister sich ins Herz zurückgezogen haben, wo sie sich versammeln, um sich zu erholen und wieder zu formieren, oder sie verharren in Abscheu und Schrecken, in Haß und Furcht vor dem Ausgangspunkt dieses Unbehagens.« (S. 81)

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Bei Trauer als »gedrückter Stimmung« (Bollnow) stauen sich die Lebensgeister also nicht unter der Haut als der Peripherie des Körpers, sondern in dessen Zentrum und machen dieses schwer, stützen, wärmen und trösten es aber auch. Dann führt Joubert eine ganze Reihe von Fällen an, bei denen extreme Freude und extremer Schreck den plötzlichen Tod verursachten, weil der Mensch bzw. dessen Herz buchstäblich vor Freude explodierte bzw. vor Schreck implodierte und ruckhaft zu einem Nichts zusammengezogen wurde. Nun könnte man die von Joubert hier beschriebene Hydraulik der Lebensgeister und Blutdünste als Vorwegnahme einer mechanistischen Physiologie im Stil von Bacon oder Descartes lesen, man sollte sich aber hüten, dies zu tun, denn dann würde man das Herz all seiner intentionalen Fähigkeiten berauben, die Joubert ihm ausdrücklich zuspricht, und damit zugleich auch die allfälligen Phänomene von Weitung und Engung, Spannung und Schwellung im Sinne von Erwin Straus nicht mehr als »Erlebnisse«, sondern rein als »Geschehnisse« behandeln und so den Ausdrucksgehalt und das Signaturenmäßige dieser Phänomene leugnen. Vor allem aber verträgt sich die mechanistische Physiologie, die das Herz als Pumpe ansieht, nicht mit Jouberts Herzgestik, da ein als Pumpe angesehenes Herz bei seiner Weitung das Blut ja anzieht und es bei Engung von sich abstößt, sodaß sich Engung und Weitung in Herz, Lebensgeistern und Körperteilen nicht als einzelne Aspekte eines Gesamtphänomens zugleich manifestieren können. Aus diesem Grund kann man Ursula Link-Heer nur ausdrücklich zustimmen, wenn sie über Jouberts Physiologie schreibt: »Auch wenn Joubert punktuell auf Descartes vorauszuweisen scheint, sofern nicht vielmehr Descartes ihm vorausgegangenen Anschauungsformen punktuell verpflichtet bleibt, läßt sich resümierend konstatieren, daß die Ordnung des Denkens, in der Joubert steht, in adäquater Weise nur vor dem Hintergrund der Similaritätsbeziehungen und Signaturen der Renaissance verstanden werden kann, wie sie Foucault zwar nicht als einziger oder erster, aber vielleicht mit einer zuvor nicht erreichten Prägnanz beschrieben hat. Symptome und Zeichen verweisen auf die verborgene Geordnetheit der Welt. Deshalb kann von ihnen auf das Wesen der Affektionen und die Betei-

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ligung der Körperteile beim Zustandekommen des Affekts geschlossen werden.« (S. 270)

Daß Jouberts Denken der Signaturenlehre der Renaissance zutiefst verpflichtet ist, auch wenn Foucault ihn und seine Kollegen Fracastoro und Paré in seinem Werk Die Ordnung der Dinge 35 nicht erwähnt, habe ich schon mehrfach betont. Aber mir geht es hier nicht so sehr um die historische Einordnung seines Denkens, sondern viel mehr darum, ob und wie man die von Joubert praktizierte Signaturenlehre oder zumindest Teile daraus heute noch oder heute wieder phänomenologisch fruchtbar machen und als eine Philosophie der Leiblichkeit lesen und würdigen kann. Und ich denke, das kann man sehr wohl. Dies verlangt aber von uns, Jouberts Beschreibungen so wörtlich wie möglich zu nehmen und sie nicht als unverbindliche Metaphorik abzutun, sondern als Beschreibung von Leiblichkeitserlebnissen. Aus diesem Grund wollen wir auch weiterhin so vorgehen, daß wir das, was Joubert als »Herz« bezeichnet, als »Stellvertreter des Leibes« bzw. als »Leib im kleinen« verstehen und analog dazu auch die Lebensgeister als »Stellvertreter des Leibes« bzw. als »Leib im ganz kleinen«, dies allerdings nur, solange Joubert nicht ausdrücklich eine andere Lesart verlangt. Mit dem 14. Kapitel kommt Joubert dann zu dem Befund, auf den sein ganzer bisheriger Gedankengang hingesteuert hatte, und formuliert die These, daß Lachen »aus konträren Bewegungen entsteht, die von Freude und Traurigkeit herrühren« (S. 87), denn dies besagt, daß Lachen ein ambivalentes Erlebnis ist und damit auch die Signatur einer ambivalenten affektiven Anmutung. Wie schon Platon und Aristoteles versteht also auch Joubert das Lachen, genauer: das geloiastische Bekundungs-Lachen über risible Objekte als eine Äußerung gemischter Gefühle. Er nennt dabei allerdings nur Freude und Traurigkeit, obwohl er in Anlehnung an seine oben erwähnte Affekten-Palette sehr wohl auch manch andere Affekten-Mischung hätte nennen können. Wichtig dabei ist ihm nur, daß durch die Ambivalenz, die sowohl dem risiblen Objekt als auch der von ihm ausgehenden affektiven Anmutung innewohnt, eine Bewegung erzeugt wird, die sich selbst in sich selbst wieder zurücknimmt und deshalb zur blockierten Wiederholung, zum 717 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Stottern oder zur Bewegung-auf-der-Stelle neigt, ganz so, wie das Herz dies durch Engung und Weitung tut und das Blut durch seine rhythmische Hin-und-her-Bewegung in den Adern, und, wie wir später sehen werden, auch Herzbeutel und Zwerchfell. Diese in allen beim Lachen involvierten Körperteilen sich manifestierende Ambivalenz ist Joubert so wichtig, daß er eigens in einer Anmerkung betont: »Es ist also entschieden notwendig, daß die affektive Anmutung eine doppelte oder gemischte ist, genauso wie das risible Objekt, von dem diese Anmutung ausgeht.« (S. 87)

Und nachdem er noch mal an den umfassenden zentrifugalen Impuls bei reiner Freude und den genauso umfassenden zentripetalen Impuls bei reiner Traurigkeit erinnert hat, fährt Joubert fort: »Diese beiden Bewegungen zusammen bewirken das, was für uns das entscheidende Kriterium des Lachens (le propre differance du Ris) ausmacht, und sowohl im Hinblick auf den materiellen Anlaß als auch im Hinblick auf seine phänomenalen Ausprägungen (accidans) das Wesen des Lachens bestimmt. Es ist also zwingend notwendig, daß die Verlaufsgestalt (mouvemant) des Lachens eine zusammengesetzte (cõposé) ist, weil das Lachen einer doppelten Anmutung (double affeccion) entspringt, ganz so, wie der Grund des Lachens selbst ein doppelter (double) ist. Denn das risible Objekt (la chose ridicule) weckt in uns Freude und Traurigkeit (plaisir & tristesse) zugleich: Freude deswegen, weil es für uns nicht mitleidswürdig ist, da ihm aktuell ja kein Leid geschieht und weil wir dies auch künftig nicht befürchten müssen. Aus diesem Grund freut sich das Herz darüber und weitet sich ganz so wie bei der reinen Freude. Es gibt hier aber auch Traurigkeit, weil alles Lächerliche und Komische immer auch etwas Häßliches und Mißliches (laideur & messeance) an sich hat und weil das Herz angesichts solcher Übel zurückschreckt und sich zusammenzieht, als ob es einen Schmerz erleiden würde. Dieses Mißvergnügen (deplaisir) ist aber nur ein ganz leichtes.« (S. 87 f.)

Und deshalb überwiegt beim Lachen über Komisches und Lächerliches für Joubert immer die Freude, aber wie immer diese Mischung auch sein mag, generell gilt: »Lachen ist also die Äußerung von unechter Freude (fausse liesse) im Verbund mit einem nicht ganz ernst zu nehmendem Mißvergnügen

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(faus deplaisir), da es sich auf beides gründet und keine von beiden Affektionen in reiner Form vorliegt.« (S. 88 f.)

Damit hat Joubert das erste Ziel seines Argumentationsganges erreicht und kann stolz verkünden: »Wir haben die Nuß geknackt! (Nous avons rompu la nois.)« (S. 90) Aber sofort meldet sich auch der Arzt in ihm, und er verweist auf die medizinisch-therapeutische Variante der ars ridendi 36 und außerdem auch auf seinen Mentor Aristoteles, wenn er schreibt: »Aus diesem Grund wirkt das Lachen so erholsam auf den Menschen, dem es als große Lust verliehen ist, da es weitab von den Extremen des Zuviel und Zuwenig liegt und die Natur das Mittlere liebt.« (S. 89)

Die Natur liebt aber auch im Lachen selbst wiederum das Mittlere, und deshalb fährt Joubert fort: »Aus demselben Grund kann man vor Lachen auch nicht sterben, weil das Lachen nie in dem Maß gesteigert werden kann, daß das Herz sich wie bei übermütiger Freude zu sehr ausweitet, sondern sich sofort immer wieder zusammenzieht.« (S. 89) 37

Und in dieser dem Lachen immanenten Tendenz zur Mäßigung auf einen mittleren Grad von Intensität »liegt die Rettung« (S. 131). Dieser dem Lachen implizite Impuls zur Selbstregulierung, den Joubert hier am Werk sieht, ist jedoch nicht zu verwechseln mit der dem Lachen immanenten finalen Tendenz, die ich oben als uroborischen Impuls bezeichnet habe, und den Joubert auch gar nicht kennt, denn der von Joubert postulierte Impuls regelt und begrenzt beim Lachen nur den Grad an Ausgeprägtheit, drängt es aber nicht dazu, sich selbst zu verzehren und damit das Ende seiner selbst herbei zu führen. Nachdem Joubert somit die ambivalente Natur des risiblen Objekts, die Natur der Wahrnehmung des risiblen Objekts, die Ambivalenz der risiblen Anmutung und schließlich auch die ambivalente, wenn auch nicht die uroborische Natur des Lachens selbst bestimmt hat, kann er nun dazu übergehen, die Physiologie des Lachens als Zusammenspiel von Herz-Bewegung und Lach-Geschehen zu beschreiben, das sich am Körper, in ihm und mit ihm vollzieht. Aber nun zeigt das Herz für Joubert auch seinen zweiten Aspekt und fungiert nicht mehr wie bisher nur als Leib im kleinen, sondern 719 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch als Körper im kleinen, und deshalb behandelt Joubert das Herz in den nun folgenden Kapiteln als ein anatomisch bestimmbares Organ unter Organen, das sich ganz nach den Gesetzen der aristotelischen Physik verhält, und außerdem beschreibt Joubert hier nicht mehr nur Erlebnisse im Sinne von Erwin Straus, sondern auch Geschehnisse. Wir haben gesehen, daß für Joubert das Herz als »Leib im kleinen« affektiv relevante Objekte in sich aufnehmen kann, ohne sich mit ihnen berühren zu müssen. Ganz anders ist es nun im innerkörperlichen anatomisch-physiologischen Geschehen bestellt, denn sobald das Herz erst einmal von außen in eine spezifische lachrelevante Bewegung versetzt worden ist, wird es zu einem innerkörperlichen Körper unter Körpern und gibt diese Bewegungen durch Stoß oder Zug an all die anderen Organe weiter, die beim Lachen eine Rolle spielen, sodaß es zu einer Art von Kettenreaktion kommt: »Der Herzbeutel (pericorde), der vom Herzen in Bewegung versetzt wird, gibt diesen Impuls an das Zwerchfell (diaphragme) weiter, mit dem es beim Menschen fest verbunden ist, ganz anders als bei den Tieren, was man anatomisch leicht nachprüfen kann. Und eben dies ist meiner Meinung nach der Grund dafür, daß nur der Mensch lachen kann, zumindest einer der wichtigsten Gründe. Es ist also, rein anatomisch gesehen, sehr leicht für das Herz, das Zwerchfell zu reizen und es damit in Resonanz zu seinen eigenen Affektionen zu bringen, weil es über den Herzbeutel direkt mit ihm verbunden ist.« (S. 93 f.)

Das Zwerchfell wiederum funktioniert wie ein Blasebalg und stößt die Luft in wiederholten Stößen aus der Lunge heraus, sodaß es zu der spezifischen Art von gestotterter Ausatmung kommt, die wir als Lachen bezeichnen. Diese gestotterte Bewegung teilt sich dann auch allen anderen Körperteilen mit, sodaß am Ende der gesamte Körper durchgeschüttelt wird und seinen Zusammenhalt zu verlieren droht. All das wird in den folgenden Kapiteln bis in die seltsamsten Details hinein ausführlich beschrieben, ja Joubert geht sogar in einem eigenen Kapitel der Frage nach, woher es komme, »daß man vor Lachen pißt (pisse), scheißt (fiante) und schwitzt« (S. 127 ff.) und gibt als Grund dafür an, daß sich beim Lachen auch alle Ringmuskeln lockern und durch diese Weitung nicht mehr schließen. Aber all diesen Fragen müssen wir hier nicht nachgehen. 720 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Ambivalenz risibler Anmutungen

Da Joubert das heftige Lachen somit als eine echte und tiefgehende Krise von Souveränität, Selbstbeherrschung und Menschenwürde beschreibt, liegt für ihn auch die Frage nahe, ob man vor Lachen ohnmächtig werden und eventuell sogar sterben kann. Diese Zuspitzung des Lachens zur Krise in der Krise ist für Jouberts Art zu argumentieren und für seinen Umgang mit den antiken Autoritäten besonders aufschlußreich, da er diesen Autoritäten nur in einigen Dingen willig folgt, ihnen in anderen Dingen aber sehr schroff und selbstbewußt widerspricht. Seit der Antike verstand man, wie oben schon dargestellt, den Zusammenhang von Atmung und Herztätigkeit so, daß die Aufgabe der Atmung darin besteht, das Herz als Glutkern und Wärmezentrum des Körpers 38 zu kühlen. Dies gilt nach wie vor auch für Joubert, weshalb er schreibt: »Wenn man zu lange und zu heftig lacht, sodaß das Lachen schon weh tut, so kann man auch in Ohnmacht fallen, weil alle Muskeln zu schlaff werden. In einem solchen Fall, d. h. durch den Verlust von zu viel Lebensgeistern und aus Luftmangel durch übermäßige Ausatmung wird das Herz zu stark erhitzt und die Lungen führen ihm nicht mehr genügend kühlende Frischluft zu. So z. B. bei übermäßiger Freude.« (S. 130)

Also bei reiner Freude, wenn man sich nicht durch ein Mindestmaß an Trauer oder Sorge »mit angezogener Handbremse« freut, wie dies eben beim Lachen der Fall ist, und deshalb fährt Joubert fort: »Durch das Lachen folgen Engung und Weitung des Herzens in so rascher Folge aufeinander, daß das Herz immer in genügendem Maße mit Lebensgeistern und Blutdünsten versorgt ist, und darin liegt die Rettung!« (S. 131)

Wenn aber trotzdem in der antiken Literatur immer wieder behauptet werde, bestimmte Leute seien vor Lachen gestorben wie z. B. der notorische Lachmuffel Cato, so sei das einfach nicht wahr, auch wenn die größten Autoritäten der Antike wie Aristoteles, Hippokrates oder Plinius von derlei Fällen berichten, oder aber es sei ein pathologisches Lachen (vgl. S. 139) und somit kein echtes Lachen gewesen. Daß Joubert mit dieser Behauptung im Recht war, werden wir in Kapitel 3.4.6.5. sehen. Obwohl also auch für Joubert die antike Physiologie unbestritte721 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ne Gültigkeit hatte, derzufolge die Atmung das Herz kühlt, kam er doch nie auf die Idee, der rettenden Funktion des Lachens genauer nachzugehen und nach Situationen zu suchen, in denen das Lachen vielleicht sogar eine lebensrettende Funktion haben kann. So weit ich sehe, taucht dieser Gedanke in den antiken Texten nirgendwo in dieser Zuspitzung auf, auch dort nicht, wo davon die Rede ist, daß bestimmte Personen so tief in einen Abgrund von Trauer gestürzt waren, daß sie nur noch durch Lachen aus ihm herausgeholt werden konnten; man denke an den homerischen Demeter-Hymnos oder an das erleichterte Auflachen, durch das das Herz wieder geweitet wird, das eben noch in äußerster Enge erstarrt war und zu verglühen drohte, oder gar an das metakritische Phobos-Lachen, mit dem man sich die eben überstandene Todesangst vom Leibe lacht. 2.9.8 Verschiedene Definitionen des Lachens Nachdem Joubert am Ende des ersten Teils freudig hatte verkünden können, die Nuß sei geknackt, beginnt er den zweiten Teil seines Traktats mit einem enthusiastischen Loblied auf das Lachen, bei dem man sich als heutiger Leser sowohl an die Hymnen des Wilhelm von Conches auf den heiteren Schöpfergott als auch an die Physikotheologie eines Barthold Heinrich Brockes erinnert fühlt, für den auch das heitere Lachen ein »irdisches Vergnügen in Gott« war, denn Joubert beschreibt das Lachen zwar als eine Krisensituation und als unverfügbares Widerfahrnis, dem man einigermaßen wehrlos ausgeliefert ist, aber eben auch als ein glückhaft ekstatisches Erlebnis, bei dem die unsterbliche Vernunftseele des Menschen als die vis motrix seines Körpers (vgl. S. 143) durch bestimmte Anmutungen »außer sich gerät (est transporté)« (S. 143): »Es gibt nichts Wunderbareres als das Lachen, das Gott unter all den Geschöpfen allein dem Menschen verliehen hat, da der Mensch selbst auch unter all den Geschöpfen das bewunderungswürdigste ist. Denn selbst wenn das Lachen weniger häufiger wäre, so wäre es doch ein wahres Wunder, mit anzusehen, wie der ganze Körper so plötzlich und mit einer solchen Macht geschüttelt wird, wenn man etwas wirklich Komisches gesehen oder gehört hat.« (S. 142)

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Verschiedene Definitionen des Lachens

Und dann zieht er eine erste Bilanz und legt erst einige Definitionen des Lachens von anderen Autoren vor, um dann triumphierend seine eigene anzubieten. Als diskutabel erscheinen ihm einzig die seines Kollegen Girolamo Fracastoro, die dieser in seinem Traktat über Sympathie und Antipathie vorgelegt hatte, und die von François Valeriole (1504–1580), einem von ihm ebenfalls sehr geschätzten Kollegen, die dieser in einem Kommentar zu den Schriften von Galen formuliert hatte. Fracastoro schreibt in dem Kapitel über Erstaunen, Verzückung und Lachen (S. 199 ff.) ganz in der Tradition des Aristoteles: »Wenn sich etwas Neues als unbekannt erweist, dabei aber nun nicht die Vorstellung erweckt von etwas Unheilvollem, das drohend bevorsteht, dann erwächst daraus nicht Furcht, sondern Erstaunen (admiratio). Das Erstaunen ist nämlich nichts anderes als eine Anspannung oder auch ein Haften der Seele und ein gespanntes Hinwenden. (…) Auch was zum Lachen reizt, ist gewöhnlich etwas Neues. Insbesondere muss man wissen, dass Fröhlichkeit immer eine Ausdehnung der Lebensgeister des Herzens verursacht, dass deren Ausdehnung ihrerseits aber auch die Muskeln dehnt, die beidseits in den Wangen liegen, und dass sie die bekannte Bewegung des Mundes erzeugt, welche man Lachen nennt, und welche einen bestimmten Zweck erfüllt in der Natur, nämlich den, die innere Fröhlichkeit auf dem Gesicht in Erscheinung treten zu lassen. Darum pflegen wir zu lachen und die Fröhlichkeit zur Schau zu tragen, wenn wir Freunden oder Bekannten begegnen, unseren Kindern, oder allgemein Leuten, die uns lieb sind, vor allem, wenn sie unerwartet daherkommen.« (S. 200)

Nachdem Fracastoro erst so treffend das Anlachen als Form positiver Zuwendung beschrieben hat, traut er plötzlich seinen Augen und Worten nicht mehr, nimmt alles wieder zurück und reduziert das Lachen doch wieder auf das geloiastische Bekundungs-Lachen als Antwort auf risible Objekte, weshalb er schreibt: »Aber eigentlich sind dies nicht Dinge, die man als lachhaft bezeichnen würde, und es handelt sich in diesen Fällen auch nicht eigentlich um (geloiastisches) Lachen. Dinge, die hingegen wirklich zum (geloiastischen) Lachen reizen, sind v. a. neuartig, überraschend, heiter und scherzhaft, enthalten einen Witz und eine Anspielung auf etwas anderes. Von solcher Art sind auch die Fazetien, dann das, was die Possen-

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macher und Komödianten spielen, und aber auch so ausgefallene Dinge (…), wenn jählings einer stolpert, der gerade eifrig an seine Arbeit geht. Alle derartigen Dinge bieten den Anschein von etwas Neuem und verursachen dank ihrer überraschenden Neuheit Erstaunen.« (S. 200)

Damit hat Fracastoro sein zentrales Stichwort admiratio gefunden und kann seine Definition des Lachens als Signatur einer ambivalenten Anmutung anbieten: »Das Lachen ist also ein Vorgang, der aus Erstaunen und Fröhlichkeit zusammengesetzt ist, und deswegen liegt in ihm ein gewisser Widerspruch. Erstaunen verursacht ja eher eine Spannung in der Seele, Fröhlichkeit dagegen eine Ausdehnung.« (S. 202)

Diese Definition zitiert Joubert (S. 165) zwar zustimmend, weil Fracastoro damit die ambivalente Natur des Lachens anspricht, wendet aber ein, daß die konträren Impulse, die diese Ambivalenz des Lachens begründen, nicht aus Staunen (admiracion) und Fröhlichkeit (liesse) bestehen, sondern aus Fröhlichkeit und »leichter und falscher Traurigkeit (tristesse legiere & fausse)« (S. 165), weil nur Traurigkeit den Impuls zur Engung in sich trägt, durch den der Weitungsimpuls der Fröhlichkeit gekontert werden kann. Sein Kollege Valeriole, den er respektvoll »den wackeren Valeriole« (S. 166) nennt, hatte geschrieben: »Lachen ist eine gewisse heftige Bewegung der Geistseele (esprit) über eine erfreuliche Sache, um die innerlich erfaßte Freude auszudrücken, wodurch die Muskeln der Brust, des Bauches und des Mundes durch gewisse Impulse in Bewegung geraten.« (S. 166)

Oder: »Das Lachen ist die Vergrößerung der Teile des Mundes und des Gesichts durch die Ausdehnung des Lebensgeistes, der den Brustraum erregt und sich durch Geräusche und Bewegungsimpulse (impetuosité) manifestiert.« (S. 166)

Was Joubert an dieser Formulierung besonders gefiel, war die ontologische Zuordnung des Lachens zu einer bestimmten Klasse von Gegenständen, die keinerlei dinglich-räumliche Substanz haben, dafür aber eine Zeitgestalt, und so schreibt er in seinem Kommentar: »In diesen Definitionen hat Valeriole wohlweislich ›Bewegung‹ (mouvemant) als Gattungsbegriff verwendet; es ist ja tatsächlich so, daß das

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Verschiedene Definitionen des Lachens

Lachen irgendeine Art von Bewegung (emocion) ist und zu der Gattung von Gegenständen gehört, die man ›Sukzedenzen‹ (succedantes) nennt, denn das Wesen dieser Bewegung liegt ausschließlich in ihrem Vollzug (an accion) und Verlauf (au faire), wie die Philosophen sagen, und das gilt auch für die Stimme, für den Klang, für Handlung und Widerfahrnis, welche alle keine räumlich-dingliche Permanenz oder Stabilität haben, sondern nur in ihrem je aktuellen Verlauf existieren bzw. die nur existieren, während sie sich ereignen (ains sont tandis que se font seulemant).« (S. 166 f.)

Also gehört, ontologisch gesehen, auch für Joubert das Lachen in eine Klasse von Gegenständen, zu der auch das Weinen, Melodien, Blicke, Gefühle und Atmosphären, Wind und Wetter gehören und die wir in Anlehnung an den Begriff des »transitorischen Werks«39 in der ästhetischen Theorie als transitorische Gegenstände bezeichnen wollen. Damit ist Jouberts Gedankengang so weit gediehen, daß er in Anlehnung an Fracastoro und Valeriole, aber auch in Absetzung von ihnen seine eigene Definition des Lachens anbieten kann, die er selbstverständlich für die »vollkommenste von allen« (S. 167) hält: »Das Lachen ist eine Bewegung, ausgelöst durch den ruckhaft sich ausdehnenden Lebensgeist (esprit epandu) und die asymmetrische Bewegung (inegale agitacion) des Herzens mit der Wirkung, daß der Mund bzw. die Lippen sich öffnen und Zwerchfell und Brustraum von heftigen Stößen erschüttert werden, und die begleitet ist von einem gestotterten Geräusch (son antrerompu), wodurch eine affektive Anmutung durch etwas Häßliches, das allerdings kein Mitleid verdient, bekundet wird.« (S. 167)

Genau wie Fracastoro und Valeriole und fast alle anderen Autoren davor und danach reduziert also auch Joubert hier das Lachen auf das geloiastische Bekundungs-Lachen, das durch Komisches und Lächerliches aller Art ausgelöst wird, und betont, diese »wahre Definition des Lachens« sei zugleich auch »die Definition des wahren Lachens«, denn sie sei »abgeschlossen und vollkommen.« (S. 169) Wichtig an dieser Sicht auf das Lachen scheint mir der Hinweis auf das Konvulsivische und den Wallungscharakter des Lachens, der von der plötzlichen Aufwallung der Lebensgeister und Blutdün725 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ste (vapeurs sanguines) herrührt, vor allem aber der Hinweis auf die Synästhesie von affektiver Anmutung und Gestaltverlauf, von auslösendem Moment und dessen Signatur am Leib und im Leib des Lachenden. Aus diesem Grund faßt Joubert all seine weiteren Hinweise auf die Natur des Lachens noch mal in einer Kurzfassung seiner Definition zusammen, die außerdem noch den Vorteil hat, daß sie viel allgemeiner ist und die reduktionistische Einschränkung auf eine bestimmte Form des Bekundungs-Lachens vermeidet, und diese lautet: »Le Ris et effet d’vne passion qu’il denote.« (S. 167)

Das heißt: Das Lachen ist die Wirkung eines affektiv relevanten Widerfahrnisses, das es selbst wiederum in seiner Verlaufsgestalt mimetisch repräsentiert.

Oder: Das Lachen ist die Signatur des affektiv relevanten Widerfahrnisses, durch das es ausgelöst wird.

Oder: Das Lachen ist sowohl die Wirkung als auch das Denotat einer affektiven Anmutung.

Oder: Das Lachen ist die mimetische Bekundung der jeweils eingeleibten affektiven Anmutung durch ein zum Lachen reizendes Objekt oder eine zum Lachen reizende Situation.

Ich denke, man sieht sofort den Erkenntnisgewinn, den die Signaturenlehre hier anbietet, weil sie den Blick dafür freimacht, in welcher Weise das Wesen einer Sache durch Einleibung und Ausdruck, durch Anverwandlung und mimetische Reproduktion sichtbar gemacht wird, wie sich also z. B. im explosiven Herausplatzen des Lachens die Plötzlichkeit des komischen Aha-Erlebnisses bekundet; oder wie das flirrende Kichern die epikritischen Berührungs-Pointen beim Kitzel mimetisch reproduziert; oder wie die Privation der aufrechten Haltung beim Lachen die Privation der optimalen Form im komischen Objekt bekundet; oder wie die konvulsivische Bewegungs-Wiederholung das Ambivalente einer risiblen Anmutung sichtbar macht; oder, jenseits des Lachens, wie das quallig Ungeformte der Kotze als das materiale Echo einer ekelerregenden Ma726 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Defiziente Formen von Gelächter

terie erscheint. Beispiele dieser Art ließen sich in beliebiger Zahl anführen, sobald man sich erst einmal mit dem Denken in Signaturen vertraut gemacht hat, und deshalb liegt hier eines der ganz großen Verdienste Jouberts, weil er mit der Orientierung an der Signaturenlehre die methodologische Basis der Gelotologie ganz entscheidend erweitert hat. Man muß allerdings auch sehen, daß Joubert offensichtlich nicht annähernd gemerkt hat, wie eminent groß die aufschließende Kraft der Signaturenlehre für seine gelotologische Forschungen hätte sein können, wenn er sie nur wirklich umfassend verstanden und konsequent angewendet hätte. Das hat er aber leider nicht getan, und das geht schon daraus hervor, daß er im weiteren Verlauf seines Traktats ausschließlich mit der ausführlicher formulierten aber enger gefaßten Definition des geloiastischen Lachens arbeitet, nicht mit der Kurzform, die den großen Vorteil gehabt hätte, für alle Formen des Lachens gültig zu sein und nicht nur für das Bekundungs-Lachen als Antwort auf das Komische. Somit hat Joubert seinen so überaus fruchtbaren Denkansatz ohne Not leider doch wieder reduktionistisch verkürzt. 2.9.9 Defiziente Formen von Gelächter Nachdem Joubert somit das wahre »natürliche Lachen« (S. 170) bestimmt hat, sieht er sich auch in der Lage, defiziente Formen von Gelächter davon abzugrenzen, also unnatürliche, unechte, falsche und pathologische, die dem echten wahren Lachen oberflächlich gesehen gleichen, sich vom ihm jedoch deutlich unterscheiden, wenn man sie genauer betrachtet, insbesondere deshalb, weil sie ganz andere Ursachen haben. Joubert denkt hier in erster Linie an Vergiftungen oder Wahnzustände, die sich u. a. auch in Verhaltensweisen äußern, die dem Lachen ähneln, und zitiert auch einige Beschreibungen aus der antiken medizinischen Literatur. Allerdings sind diese Beschreibungen so vage, daß man größte Mühe hat, sie anhand der aktuellen einschlägigen medizinischen Literatur 40 konkreten Krankheitsbildern zuzuordnen. Klar wird nur, daß es sich in allen geschilderten Fällen um gestotterte Krämpfe handelt, 727 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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also um unkontrollierbare Zuckungen, die auch die Atmung überformen und dadurch eine heftig gestotterte Ausatmung zur Folge haben, die sich so ähnlich wie Lachen anhört. Da Joubert den uroborischen Impuls nicht kennt, hatte er auch keinen Blick dafür, daß pathologische Formen von Gelächter in ihrer Verlaufsgestalt nicht uroborisch geprägt sind, daß ein solches Lachen also nicht die Tendenz aufweist, sich selbst zu verzehren und dadurch langsam verklingt, sondern in voller Stärke so lange andauert, bis der Lachende vor Atemnot ohnmächtig wird und das Gelächter wie abgehackt endet, wie dies bei einer Vergiftung mit Lachgas ja auch der Fall ist. Weitaus interessanter sind für Joubert all die Phänomene, die er als »Bastard-Lachen«, d. h. als »unechtes« oder »illegitimes« Lachen (S. 173) bezeichnet, weil sich dieses Lachen zwar so anhört wie echtes, »ohne jedoch all die inneren Vorgänge zu enthalten, die diesem Ausdrucksverhalten beim echten Lachen entsprechen.« (S. 173) Man sieht aber auch hier wieder, daß Joubert nicht wirklich konsequent die Möglichkeiten der Signaturenlehre ausschöpft, da er nur nach Anlässen und inneren Vorgängen fragt, nicht aber nach dem spezifischen Gestaltverlauf dieser Lacharten und ihrem Zusammenhang mit den affektiven Anmutungen, deren Effekt und Denotat sie doch sind. Das wird beim Kitzel-Lachen und bei dem Lachen, das durch eine Verletzung des Zwerchfells ausgelöst wird, besonders deutlich. Aristoteles hatte bekanntlich das Zwerchfell als Sitz des Lachens bestimmt und beide Arten von Gelächter darauf zurückgeführt, daß durch Berührung von Körper zu Körper automatisch Wärme erzeugt wird, die sich wieder als Bewegung in Form von Lachen manifestiert, hatte also beide Arten von Gelächter als Reflex gedeutet. Von dieser Deutung macht sich Joubert völlig frei, indem er das durch Kitzel und Zwerchfellverletzung ausgelöste Lachen zunächst mal nicht als automatisch ablaufenden Reflex beschreibt, also nicht mehr als Geschehnis, sondern als Erlebnis. Wichtig ist ihm zunächst, daß beide Arten von Gelächter durch direkten Kontakt von Körper zu Körper ausgelöst werden, unabhängig davon, ob dieser Kontakt als neckend positive oder als aggressiv negative Zuwendung erfahren und empfunden wird. Wird 728 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Defiziente Formen von Gelächter

das Zwerchfell in dieser aggressiven Art berührt, so erfährt es einen heftigen Stoß von außen: »Und so erschauert das Zwerchfell, als ob es der Berührung durch etwas Fremdes entfliehen wollte, und wenn es gar verletzt wird, versucht es, wenn auch vergeblich, durch seine Hin- und Herbewegung das Übel, das es belästigt, zurückzustoßen.« (S. 187)

Diese Bewegung erfaßt dann den gesamten Körper und bewirkt auch die gestotterte Ausatmung, die für Joubert jedoch kein echtes Lachen ist, sondern sich nur wie Lachen anhört. Nun hätte Joubert ja, ausgehend von dieser Beschreibung, so argumentieren können, daß durch die feste Verbindung von Zwerchfell, Herzbeutel und Herz bei jeder Berührung des Zwerchfells immer zugleich auch das Herz in Resonanz mitschwingt, sodaß schließlich alle drei Organe zusammen auf den Stoß antworten und die rhythmische Bewegung ausführen, die sich dann dem gesamten Körper mitteilt, wie dies auch beim »echten« Lachen der Fall ist. Der Unterschied zum »echten« Lachen bestünde dann nur im Ausgangspunkt der Bewegung, eben dem Stoß gegen das Zwerchfell, und damit wäre dieses Lachen auch ein echtes Lachen. Aber so wollte Joubert nicht argumentieren, konnte es auch gar nicht, weil er sich mit seiner Definition den Spielraum dafür allzu sehr eingeengt hatte, denn er fährt fort: »Aber trotzdem ist dies kein wahres und echtes Lachen, da es nicht von all dem herrührt, was wir als die hauptsächlichsten Gründe und Anlässe des Lachens bestimmt haben, wie z. B. • die Erschütterung des Herzens, das wiederum das Zwerchfell erschüttert; • das risible Objekt der Wahrnehmung, das das Herz mit einer bestimmten affektiven Anmutung erregt und mit einer intensiven Zuwendung anrührt, ohne es jedoch zu berühren. Denn dies sind die beiden zentralen Prinzipen in der Natur des Lachens: das zum Lachen reizende Objekt, und das Herz als Sitz emotionaler Affizierbarkeit.« (S. 187)

Immer also muß für Joubert der Impuls für die Verlaufsgestalt Lachen ausschließlich vom Herzen ausgehen, und deshalb muß dieses auch als erstes von allen Organen angesprochen werden, damit echtes Lachen entsteht, und vor allem muß das Herz zu dieser Bewe729 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gung angeregt werden ohne jede direkte Berührung von Körper zu Körper. Dasselbe Kriterium entscheidet für ihn auch die Frage, ob das Kitzel-Lachen echtes Lachen ist oder nicht, und natürlich kann es für Joubert nicht als echtes Lachen gelten, da man schlecht jemanden kitzeln kann, ohne ihn zu berühren. Schon für Fracastoro war das Kitzel-Lachen kein echtes Lachen, und auch er war der Meinung, es gleiche dem echten Lachen bloß, »da es eben auch ein Vorgang ist, der sich aus den rasch ablaufenden Anspannungen und Ausdehnungen des Herzens zusammensetzt.« (S. 202) Fracastoro stellte sich die Ätiologie des Kitzel-Lachens so vor, daß die rhythmischen Impulse beim Kitzeln sich im Körper als eine Folge von Stoßbewegungen fortsetzen und dabei u. a. auch die gestotterte Ausatmung bewirken. Damit deutet auch er das Kitzel-Lachen als Reflex. Allerdings setzt dieser Reflex ein Mindestmaß an Sympathie zwischen beiden Kitzel-Partnern voraus, um überhaupt eintreten zu können. Hier hätte sich nun ein Ansatzpunkt für die Deutung des KitzelLachens ergeben können, denn der Hinweis auf das Mindestmaß an Sympathie legt nahe, das Kitzel-Lachen nicht als BekundungsLachen, sondern als Interaktions-Lachen im Rahmen einer entspannten Zweier-Situation zu verstehen, aber Fracastoro geht dem Thema nicht weiter nach. Für Valeriole ist das Kitzel-Lachen ein Reflex und wird durch die rhythmisch angeschubsten Lebensgeister erzeugt (vgl. S. 191), die dadurch in einer rhythmischen Folge aufwallen und u. a. dabei wiederum die gestotterte Ausatmung erzeugen. Er bietet mit dieser Lebensgeister-Hydraulik also eine ziemlich naive und völlig unbrauchbare physikalisch-mechanistische Erklärung, weil man dann ja auch lachen müßte, wenn man sich selbst kitzelt oder kratzt. Schließlich verweist Joubert noch auf die aristotelischen Problemata, die das Kitzel-Lachen ebenfalls als ein uneigentliches Lachen bestimmen. Jouberts eigene Erklärung nimmt eine Anregung Fracastoros auf und setzt bei der Funktion der Empfindungs-Seele und bei dem Phänomen materialer Sympathien und Antipathien an, bei dem Umstand also, daß wir auf bestimmte Dinge geradezu allergisch 730 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Defiziente Formen von Gelächter

reagieren, nach anderen jedoch sogar richtig süchtig sein können. Dies legt die Vermutung nahe, daß Joubert das Lachen, das angeblich durch Stöße ans Zwerchfell ausgelöst wird, doch wieder für ein automatisch ablaufendes Reiz-Reaktions-Geschehen bzw. für einen Reflex gehalten zu haben scheint, und dann fährt er fort: »Genau so ist es auch beim Kitzel, denn bestimmte Leute reagieren auf Kitzel gar nicht, andere hingegen geraten dabei außer sich, sodaß sie alles andere in kauf nehmen, bloß um dem Gekitzeltwerden zu entgehen.« (S. 194 f.)

Dann verweist er auf den bekannten Umstand, »daß man sich nur von befreundeten Personen und aus Spaß kitzeln läßt« (S. 194 f.), also in einer entspannten »gemeinsamen Situation« (Schmitz), verfolgt diesen Gedanken aber dann doch nicht weiter. Hätte er es getan, wäre er wohl bald auch auf den Umstand gestoßen, daß die »gemeinsame Situation« des Kitzelns und Gekitzeltwerdens immer auch latent erotisch unterfüttert ist und das KitzelLachen am heftigsten ausfällt, wenn der Gekitzelte zwar nicht recht will, es aber trotzdem zuläßt, d. h. wenn er sich zum Gekitzeltwerden ambivalent verhält, also mit einer Mischung von Hingabe und Flucht, wie dies beim Kokettieren und Flirten ganz allgemein der Fall ist, sodaß das Kitzel-Lachen als Ausdruck einer gehemmten Flucht aus dieser gemeinsamen Situation erscheint. Joubert übersieht also die umfassend ambivalente Struktur dieser Situation, da die ambivalente Zuwendung beider Partner zueinander sich ja auch schon in der Kitzel-Bewegung selbst manifestiert, die eine gleichsam gehauchte Berührung ist, und eine Folge von epikritischen Berührungs-Pointen, die sich selbst schon in sich selbst zurücknehmen, und schließlich übersieht er, daß eine derartige gemeinsame Situation nur als wechselseitige Zuwendung »von Herz zu Herz« möglich ist. Vor allem aber übersieht er, daß im Kitzel-Lachen als einer Form des Interaktions-Lachens genau die Ambivalenz dieser Herz-zu-Herz-Situation zum Ausdruck kommt und somit deren Signatur darstellt. Die ambivalente Natur des Kitzels selbst erkennt er, wie wir gleich sehen werden, sehr wohl. Hier wird also wieder einmal deutlich, welch hohen Preis Joubert dafür zahlen muß, daß er bei der Definition des echten und 731 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wahren Lachens dieses auf das geloiastische Bekundungs-Lachen als Antwort auf Komisches reduziert hatte, denn er rekapituliert hier noch mal die Unterscheidung in Nahsinne und Fernsinne, verweist noch mal auf die fernsinnliche Wahrnehmung der risiblen Objekte mit dem Herzen und auf die wertende Beteiligung der Urteilskraft bei diesem Vorgang und fährt dann fort: »Diese Art der Zuwendung zu den Objekten ist eine Bewegung des Herzens, weshalb wir das Objekt, dem sich unser Herz so intensiv zugewendet hat, denn auch erhaschen (pourchassons) oder verscheuchen (refuyons). Und genau aus dieser Art von Zuwendung haben wir die Art der affektiven Anmutung abgeleitet, aus der das echte und begründete Lachen entspringt. Nun wäre es aber geradezu absurd, das Wesen des unechten Lachens (Ris batard) (ebenso wie das Lachen als Folge einer Zwerchfellverletzung) hier anzusiedeln, in Anbetracht dessen, daß diese Art von Gelächter ohne jede Beteiligung von Urteilskraft, Bewußtheit oder Aufmerksamkeit erfolgt (also als automatischer Reflex). In gleicher Weise kann das durch Kitzeln ausgelöste Lachen nicht von der Zuwendung durch Fernsinne bewirkt werden, sondern vielmehr allein durch die Nahsinne, die Schmerz, Wohlbehagen oder Wollust vermitteln. Denn das Kitzeln geschieht nun mal durch Hautkontakt und verursacht Schmerz oder Lust oder beides zusammen, wie dies beim Kratzen der Fall ist, wenn es gar zu sehr juckt, und beim Ansetzen von Schröpfköpfen bei schrecklichem Zahnweh. Und was hindert uns denn, anzunehmen, daß die gekitzelte Stelle nicht ebenfalls beides empfindet, Schmerz und Lust, genauso, wie auch im Objekt des echten Lachens etwas Trauriges mit viel Angenehmerem sich mischt? Denn es gibt nichts, was dem echten wahren Lachen näher kommt als das Lachen, das durch Kitzel hervorgerufen wird, um so mehr, als das Kitzeln durch eine leichte Berührung geschieht und die Stellen, wo die Haut besonders dünn ist und locker sitzt und empfindlicher ist, wie an den Lippen, unter dem Kinn, in den Achselhöhlen, zwischen den Zehen, etc.« (S. 197 f.)

Somit sieht auch Joubert, daß Kitzel »eine Art Pseudo-Vergnügen (faus plaisir)« (S. 198) ist, bei dem sich »zwei konträre Reize« (S. 199) überlagern und dadurch einen in sich ambivalenten Gesamtreiz bilden. 732 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Jouberts Lachpalette

Daß Tiere nicht lachen können, steht für Joubert zwar fest, erlaubt aber trotzdem die Frage, ob sie zumindest zu einem unechten Lachen fähig sind, wenn sie z. B. gekitzelt werden. Aber auch das können sie laut Joubert nicht, denn daß ein Hund mit dem Schwanz wedelt, wenn man ihn am Bauch kitzelt, ist für Joubert noch nicht mal die Andeutung eines Lachens, weil Tiere schon aus anatomischen Gründen unfähig zum Lachen sind, da bei ihnen die für das laute Lachen unabdingbare feste Verbindung von Herz, Herzbeutel und Zwerchfell fehlt, die ein anatomisches proprium hominis (vgl. S. 208) ist. Und somit kann er die Bilanz ziehen: »Aus all diesen Gründen glaube ich zur genüge bewiesen zu haben, daß allein der Mensch durch Kitzeln richtig in Erregung versetzt werden kann, und daß er das, was er dabei spürt, durch eine deutliche Signatur (sine) ausdrückt (declaire): nämlich durch eine Art von Gelächter, das jedoch ein durch und durch falsches Lachen (Ris vrayemant faus) ist, auch wenn es noch so laut erschallen mag.« (S. 209)

Wir stehen also wieder einmal vor dem Umstand, daß jemand seinen Augen nicht zu trauen wagt, weil er die Definition des Lachens etwas zu eng gefaßt hat und dann dogmatisch an ihr festhält und sich deshalb genötigt sieht, sowohl das Interaktions-Lachen als auch das Kitzel-Lachen sowie alle Schwundstufen des Lachens von geringerer Intensität aus dem Bereich des echten Lachens auszugrenzen. Wir werden später bei Helmuth Plessner eine ähnliche Argumentation erleben, wie es überhaupt ganz verblüffende Analogien zwischen Plessner und Joubert gibt, insbesondere in der Deutung des Kitzel-Lachens, das als »kicherndes Lachen« auch für Plessner kein echtes Lachen ist, sondern dem echten Lachen nur »zum Verwechseln ähnelt« (VII,283), denn auch das Kichern ist für ihn »als Ausdruck des Kitzels noch keine Vorform des Lachens« (VII,283). 2.9.10 Jouberts Lachpalette Wenn man Jouberts Versuch analysiert, die Vielfalt des Lachens am Ende des zweiten Teils seines Traktats nach bestimmten Kriterien 733 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Laurent Jouberts Traité du Ris

zu ordnen und zu klassifizieren, muß man eine überraschende methodologische Hilflosigkeit feststellen, denn er schreibt da: »Nachdem wir damit begonnen haben, die verschiedenen Arten und Unterschiedlichkeiten des Lachens zu behandeln, haben wir zunächst das unechte Lachen (ris batard) vom echten (ris legitime) unterschieden. Dann haben wir das unechte Lachen in seinen verschiedenen Ausprägungen dargestellt, denn es gibt davon ganz unterschiedliche Arten, und eine davon ist das Kitzel-Lachen. Diejenigen Lacharten, die im folgenden vorzustellen sind, sollte man eigentlich eher Varianten (epithetes) als Arten (especes) des Lachens nennen, da sie eher zufällige Unterschiede betreffen, die man auch bei ein und derselben Lachart feststellen kann. Von diesen Varianten gibt es unendlich viele, und ich werde mich deshalb nur auf die bemerkenswertesten beschränken und die zusammensuchen, die man bei den berühmtesten Autoren beschrieben findet oder von denen in der Umgangssprache am meisten die Rede ist.« (S. 210)

Ich halte dies für einen methodologischen Offenbarungseid, denn Joubert geht rein induktiv vor, ohne zu bestimmen, was er suchen will, und sammelt erst mal Einzelnes als Einzelnes, hat aber, wie sich sofort zeigen wird, nicht den Zugriff, diese zufälligen Einzelfunde überzeugend zu klassifizieren und systematisch zu ordnen, da er über kein einziges Kriterium verfügt, nach Maßgabe dessen er jeden einzelnen Fund bestimmen könnte, und weil er auf all die Ansätze, die sich in seinem bisherigen Argumentationsgang angeboten hatten, nicht zurückgreift. So spielt z. B. die von ihm im ersten Teil des Traktats erarbeitete Affekten-Palette überhaupt keine Rolle mehr, obwohl er doch immer die zentrale Rolle affektiver Anmutungen für das Lachen betont und obwohl er das echte Lachen doch auf das Bekundungs-Lachen reduziert hatte. Vor allem aber traut er seiner eigenen Definition des wahren Lachens nicht, denn er hatte ja geschrieben, das Lachen sei der Effekt einer affektiven Anmutung, die in der Gestalt des Lachens selbst wiederum mimetisch repräsentiert wird, und deshalb hätte es sich angeboten, von der Affekten-Palette auszugehen, um die mimetischen Repräsentationen dieser jeweiligen Affekte in den verschiedenen Lachgestalten aufzuzeigen. Bei der Analyse des KitzelLachens hat er dies ja ansatzweise auch schon getan. Dasselbe 734 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Jouberts Lachpalette

müßte auch für die risiblen Objekte gelten, die das jeweilige Lachen auslösen und in dessen Gestalt ebenfalls denotiert werden. Man kann all das nur beklagen und muß sich deshalb wieder einmal mit der alten hermeneutischen Maxime trösten, es gelte, einen Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstanden hat. Wenn Joubert dann tatsächlich einmal nach systematischen Kriterien Ausschau hält, so fallen ihm nur solche aus der Signaturenlehre, der Anatomie und Physiologie ein, die sich aber sofort wieder als unzulänglich erweisen und bald wieder verworfen werden. So zieht er z. B. versuchsweise das Kriterium physiognomischer Ähnlichkeit heran und vergleicht bestimmte Lacharten mit bestimmten Lautäußerungen von Tieren, z. B. dem Kollern eines Truthahns oder dem Wiehern eines Pferdes (vgl. S. 211 f.). Ernster zu nehmen sind da schon die anatomischen und physiologischen Kriterien Engung und Weitung für unterschiedliche Lacharten, da man darin das Kriterium der Intensität des jeweiligen Lachens erblicken könnte: »Das eine ist die unterschiedliche Lautstärke nach Maßgabe der Verfestigung, der Kehle, der Zunge, des Gaumens und der anderen Organe, die zur Lautbildung beitragen; das andere ist die jeweilige Bewegung des Herzens und des Zwerchfells.« (S. 211 f.)

Aber auch dieses Kriterium nimmt er letztlich nicht ernst, denn er fährt fort: »Denn zur klaren, leisen, klingenden und hohen Stimme gehört ein ebensolches Lachen; und ganz analog dazu gehört zur dunklen, rauhen und brüchigen Stimme ein Lachen von der gleichen Beschaffenheit. Wer einen langen Atem hat, lacht auch ein lang anhaltendes schallendes Lachen, die anderen dagegen ein kurzes in oft wiederholten Stößen. Und derjenige lacht sehr schnell, bei dem die Atemorgane sehr beweglich und geschmeidig sind; bei den anderen kommt das Lachen langsam und zögerlich und wie gezwungen.« (S. 212)

Da Joubert aber keine Anleihen bei der klassischen Temperamentenlehre macht, um auf dieser Grundlage bestimmten Typen eine Disposition zu bestimmten Lacharten zuzusprechen, erweist sich auch dieser Weg als Holzweg, und so kommt Joubert über Definitionen in der Art von Fritz Reuters Onkel Bräsig nicht hinaus, der die große Armut auf die »große Powertee« 41 zurückführt. 735 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Was ihm an ernstzunehmenden Kriterien bleibt, ist letztlich nur das Kriterium der Intensität, aber auch dieses verwendet er nur dogmatisch und orientiert sich hier wieder an den antiken und neueren Autoritäten der gelotologischen Literatur, die zwischen dem gemäßigten Lachen und dem brüllenden cachinnus-Gelächter unterschieden und das gemäßigte zur erstrebenswerten Norm dezenten Verhaltens erhoben, das cachinnus-Gelächter aber wegen seiner überwältigenden Macht und seiner völligen Unverfügbarkeit in der platonisch-stoisch-christlichen Tradition immer entschieden verpönt hatten. Dieser Tradition folgt Joubert, ganz anders als sein Zeitgenosse Rabelais, denn auch er erhebt das gemäßigte Lachen (ris modeste) zur Norm und beugt sich somit wieder dem aristotelischen Ideal der gemäßigten Mitte: »Das Cachinnus-Lachen (ris cachin) hingegen ist unbändig, exzessiv und ungehörig (insolant) und zu lang; es überfordert unsere Kraft und ist begleitet von all den Widerfahrnissen, die wir am Ende des ersten Buches (in dem Kapitel ›Woher es kommt, daß man vor Lachen pißt, scheißt und schwitzt‹) erwähnt haben. Dem Cachinnus-Lachen gleicht das Lachen, das die Griechen ›synkrusisch‹ genannt haben, weil es den Lachenden buchstäblich umhaut (crole) und hin und her reißt.« (S. 213)

Ganz anders und viel gemäßigter ist das Lachen, das Joubert als »ionisch« bezeichnet, »entsprechend den sanften und kultivierten Sitten dieses Volkes, das sich ganz seinen Freuden hingab. Denn die Ionier galten im Hinblick auf Lebensfreude allen andern Griechen als so überlegen wie die Sybariten den Barbaren. Im selben Sinn spricht man vom Chios-Lachen (Ris Chien) nach der Insel der großen Freuden.« (S. 218)

Gemeint ist also wohl ein rundum wohlwollendes Lachen als Ausdruck entspannter Heiterkeit. Wie wirr und zufällig Jouberts Einteilungskriterien sind, zeigt sich auch, wenn er das »sardonische Lachen«, das »Hunde-Lachen« und das »Ajax-Lachen« vorstellt: »Das sardonische Lachen bezeichnet genau genommen ein falsches und vorgespieltes Lachen« (S. 214): »Dieses Lachen ist verlogen, vorgetäuscht und heuchlerisch, voller Bitterkeit und Tücke, oder zumindest voller Verschlagenheit, und wer

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dieses Lachen aufsetzt, täuscht den Leuten, die er nicht leiden kann, ein Wohlwollen vor.« (S. 214).

Damit gleiche es dem aufgesetzt wirkenden »scheißfreundlichen Lachen«, das man gemeinhin das »Wirts-Lachen« (Ris d’Hotelier) nennt. Daß ein vorgetäuschtes Lachen aber ein verfügbares Lachen sein muß, das man ad hoc abrufen und einsetzen kann und zudem ein Interaktions-Lachen ist, scheint Joubert übersehen zu haben, da er fortfährt: »Dieses sardonische Lachen, das zwar verlogen und vorgetäuscht ist, aber nicht pathologisch (mal sain) wie das Hunde-Lachen (Ris canin), das viel häufiger ist und mit dem sardonischen Lachen immer wieder verwechselt wird, ist der Ausdruck von böser Absicht und verborgener Tücke.« (S. 215)

Mit dem eben genannten Hunde-Lachen ist ebenfalls kein Bekundungs-Lachen gemeint, sondern ein haßerfülltes und vernichtungslüsternes Auslachen, meist in Form eines Grinsens, bei dem die Zähne entblößt werden, weshalb Joubert diese beiden Formen als das Lachen derer bezeichnet, »die nicht von Herzen lachen.« (S. 216) Wird dieses »Hunde-Lachen« vom Grinsen zum schallenden Cachinnus-Lachen gesteigert, so entsteht ein Gelächter, das Joubert als »Ajax-Lachen« (Ris Ajacin) (S. 217) bezeichnet. Gemeint ist damit das Lachen des von Wahnsinn geschlagenen Ajax in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles, das rasenden Zorn und Vernichtungswillen in sich vereint und das wir als das alttestamentarische la’ag-Lachen bzw. als das Ismael-Lachen bei Augustinus kennengelernt haben, als vernichtungswilliges Auslachen-von-oben. Erscheint dieses bösartige Auslachen-von-oben wiederum in der Schwundstufe des Lächelns oder Grinsens, so nennt Joubert es »Megara-Lachen« (Ris Megaric) (S. 217), verweist auf einige Beschreibungen dieses Lachens in der antiken Literatur und schreibt dazu: »All diesen Beschreibungen kann man entnehmen, daß diese Arten zu lachen Formen des freiwilligen Lachens (volontaire) sind und daß sie nur den Gesichtsausdruck des Lachens aufweisen, den man Lächeln (Soub-ris) nennt, und so unterscheidet sich das Megara-Lachen deutlich vom oben beschriebenen sardonischen Lachen, das mit Konvulsionen und krampfhaften Bewegungen verbunden ist.« (S. 217 f.)

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Auch hier hätte sich wieder ein Kriterium angeboten, das es wert gewesen wäre, systematisch verfolgt und angewendet zu werden. Ich meine damit wieder die Frage nach dem Grad der Intensität eines Lachens als der Frage, wie weit der Körper vom Lachen überformt wird, ob man also bloß mit dem Gesicht lacht, oder ob darüber hinaus auch noch Körperhaltung, Gestik und Atmung entsprechend überformt werden und mit welcher Intensität dies geschieht. Ich denke, eine solche Fragestellung darf man von einem philosophischen Arzt, der sich der Signaturenlehre verpflichtet fühlt, durchaus erwarten. Wenn man mit viel gutem Willen in Jouberts Auflistung überhaupt eine gewisse Ordnung erkennen will, so wären die Lacharten Ajax-Lachen, Hunde-Lachen, sardonisches und megarisches Lachen Formen negativer, aggressiver Zuwendung in immer geringerer Intensität. Aber damit ist das Höchstmaß an Systematik auch schon erreicht, denn alle anderen Lacharten, die Joubert sonst noch vorstellt, sind so allgemein beschrieben, daß man nie so recht weiß, was er eigentlich meint, unabhängig davon, ob er damit echtes, unechtes oder gar pathologisches Lachen beschreibt. Und deshalb lohnt es sich auch nicht, Jouberts Lachpalette weiter zu analysieren. Fassen wir zusammen: Jouberts Auflistung und Klassifikation der Lacharten krankt daran, • daß er in einem fort Bekundungs-Lachen und Interaktions-Lachen vermischt, was sich sofort am Kriterium der Verfügbarkeit zeigt; • daß er die Funktion des Herzens beim Lachen nicht so ernst nimmt, wie es sein eigener Ansatz verlangt hätte, denn damit verstellt er sich sofort den Blick auf die verschiedenen Formen interpersoneller Zuwendung und der sich daraus ergebenden Lacharten; • daß er die unterschiedlichen Intensitätsgrade des Lachens anatomisch-physiologisch gesehen nicht auf den Begriff bringt, indem er z. B. danach fragt, in welchem Umfang bestimmte Bereiche des Körpergeschehens ins Lachgeschehen einbezogen werden, insbesondere Gestus, Vultus, Habitus und Respiration; 738 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ergänzungen und Korrekturen

• daß er, obwohl er doch Arzt war, keine schlüssigen Kriterien für die pathologischen Formen von Gelächter anbieten kann. Und so wird der Leser am Ende des zweiten Teils mit einem gewissen Unbehagen entlassen und ist einigermaßen enttäuscht. 2.9.11 Ergänzungen und Korrekturen Das dritte Buch seines Traktats beginnt Joubert mit einem Hymnus auf die Sonderstellung des Menschen im Reich der Natur, verweist aber auch auf die Unersättlichkeit seiner Wünsche und Begierden, die erst gestillt sind, wenn dem Menschen die Macht Gottes offenbar geworden ist. Dann ruft er Gottes Hilfe auch für das eigene Werk an und schließt das Vorwort mit einem »Amen« (S. 231). Er knüpft also ganz bewußt an die physikotheologische Eloge du Ris an, mit der er das zweite Buch eingeleitet und in der er das Lachen als irdisches Vergnügen in Gott dargestellt hatte. In den folgenden Kapiteln geht Joubert auf Probleme und Grundfragen des Lachens ein, die ihm für dessen Stellung im menschlichen Leben bedeutsam erscheinen. Die allermeisten dieser Probleme sind nur noch kulturgeschichtlich interessant, weil sie Probleme von damals sind und den Erkenntnisstand der damaligen Medizin widerspiegeln. So geht er z. B. der Frage nach, warum bestimmte Melancholiker lachen, andere aber weinen (S. 277 ff.), oder woher es kommt, daß große Lacher leicht fett werden (S. 324 ff.), oder ob man auch im Schlaf lachen kann (S. 302 ff.). Für unsere Fragestellung sind eigentlich nur drei Kapitel von Interesse: Das erste Kapitel mit der Frage, »ob nur der Mensch lacht und warum das so ist« (S. 231 ff.), weil hier wieder einmal das alte Thema vom Lachen als dem proprium hominis aufgeworfen wird; außerdem das elfte Kapitel, mit der Frage, »woher es kommt, daß das Lachen herausplatzt und weshalb man es nicht zurückhalten kann« (S. 309 ff.), weil Joubert hier noch einmal auf das Kriterium der Verfügbarkeit des Lachens eingeht und einige wichtige Korrekturen und Ergänzungen vornimmt; und schließlich das vierzehnte Kapitel, das die wohltuenden Wirkungen des Lachens behandelt und verschiedene Möglichkeiten seiner therapeutischen Verwen739 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dung erörtert, denn hier spricht Joubert wieder als Arzt und reiht sich ganz in das uns schon bekannte Programm der RenaissanceÄrzte ein. Die Frage nach der Lebensfunktion des Lachens als Mittel der Entspannung und Erholung geht Joubert so an, daß er all die Argumente anführt, die wir schon von Aristoteles und Cicero und aus der Schützen-Legende des Wüstenvaters Antonius kennen. All das muß hier also nicht noch einmal zitiert werden. Neu ist nur, und sehr sympathisch, daß er das Lachen mit dem Genuß von Wein vergleicht: »Und da es auch zum Menschen gehört, ein soziales, politisches und verträgliches Wesen zu sein, damit jeder mit jedem im guten auskommen kann, hat Gott ihm neben all den anderen Freuden auch das Lachen verliehen, damit er die Zügel seines Geistes auch einmal locker lassen kann, genau so wie er dem Menschen auch den Wein gegeben hat, um die Strenge des Alters zu mildern und zu mäßigen, wie Platon sagt, denn der Wein ist das Elixier der idealen Mitte und der gemäßigste unter allen Säften, die zur Erholung des Menschen taugen. Genau so überaus angenehm ist uns auch das Lachen, weil es unter all den möglichen Affektionen diejenige ist, die uns in eine gewisse mittlere Gemütslage versetzt.« (S. 232 f.)

Damit ist natürlich zugleich auch gesagt, daß nur das oben angesprochene gemäßigte Lachen diese mittlere Gemütslage erzeugen kann, nicht jedoch das Cachinnus-Lachen, bei dem man sich sogar in die Hose machen kann. Bei der Beweisführung für das Lachen als einem Monopol des Menschen bemüht Joubert das anatomische Argument, daß nur beim Menschen Herz, Herzbeutel und Zwerchfell fest verbunden seien, nicht mehr, sondern geht erkenntnistheoretisch und anthropologisch vor und setzt bei bestimmten »Fähigkeiten der Seele« (S. 239) an, die wir heute wohl mit Kurt Goldstein als »kategoriale Einstellung« 42 bezeichnen würden, als Fähigkeit »sich überhaupt Rechenschaft zu geben, sich gegenständlich, kategorial zu verhalten« (S. 457), was auch Goldstein selbst ausdrücklich als eine biologisch extrem schwierige und »nur dem Menschen eigentümliche Leistung« (S. 457) bezeichnet. Entscheidend ist für Joubert hier der Umstand, daß man über etwas lachen kann, das man sich nur vor740 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ergänzungen und Korrekturen

stellt oder an das man sich erinnert, sodaß man das risible Objekt durchaus nicht immer konkret vor sich haben muß, womit er seine These, die Wahrnehmung des risiblen Objekts erfolge durch Fernsinne, überbietet: »Denn um Lachen jenseits des sinnlichen Strebens (appetit sansuël) zu erregen, muß offenbar Erkenntnis- und Vorstellungsvermögen (cognoissance & imaginacion) beteiligt sein, da die risiblen Anmutungen gar nicht erregt werden können, wenn es sich nicht um etwas handelt, das wir erfaßt und begriffen (conceuë & cognuë) haben. Die Natur hat den Tieren aber nur das Erkenntnisvermögen verliehen, was zur Stillung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse gehört, wie z. B. die Beschaffung von Nahrung, die Erhaltung ihrer Art und die Verteidigung ihres Körpers. (…) Aber allein der Mensch verfügt durch seine Sinne und seine nicht-sinnlichen Anmutungen (affecciõs) über die Fähigkeit, alles wahrzunehmen, sodaß vor ihm nichts verborgen bleibt und er ganz nahe an Gott rückt. (…) Der Grund, warum wir nicht der Meinung sind, daß das Lachen zum Vermögen der Vernunftseele gehört, liegt also darin, daß das Lachen sehr oft dem Willen nicht gehorcht, und deshalb gibt es keine bessere Begründung als die eben angeführte dafür, warum einzig der Mensch lachen kann.« (S. 239 f.)

Mit dieser Argumentation knüpft Joubert auch an die oben entworfene perspektivistische Erkenntnistheorie an, derzufolge es nichts an sich Risibles gibt, sondern nur etwas, das jemand als risibel bestimmt, genauer: jemand als jemand. Mit einem Wort: Ohne Einbildungskraft keine Risibilität und deshalb auch kein Lachen! Im elften Kapitel geht Joubert nochmals auf das Problem der Unverfügbarkeit des Bekundungs-Lachens ein, kommt aber nicht umhin, hier einige Korrekturen vorzunehmen. Zunächst beschreibt er erneut ausführlich das Plötzliche, Explosive und Unverfügbare des Cachinnus-Lachens, das den Lachenden zum Opfer seiner entfesselten Lebensgeister und zur wehrlosen Marionette an den Fäden eines autonomen Programms werden läßt, das sich an ihm und mit ihm abspielt. Aber dann scheint Joubert seine eigene Definition des wahren Lachens und die These, dieses sei prinzipiell unverfügbar, wieder 741 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zurückzunehmen, zumindest aber etwas zu korrigieren, wenn er fortfährt: »Die Bewegung des Herzens, die ganz und gar autonom (naturel) abläuft, bedient sich beim Lachen der Muskeln, also der Instrumente des Willens auch wenn diese nicht wollen, da diese durch den Drang der Umstände dazu gezwungen werden. Es darf uns aber nicht verwundern, wenn diese Erregung nicht durch die Vernunft angehalten werden kann, sondern sich aufführt wie ein wildes Tier (come vne bete). Denn alle affektiven Anmutungen sind unverfügbare Widerfahrnisse und werden als autonomes unverfügbares Programm hervorgerufen und manifestieren sich auch als unverfügbares autonomes Programm (du seul naturel), und diesem Programm ordnet sich auch die Muskulatur unter, sofern die Vernunft dies erlaubt und nachdem sie eine entsprechende Entscheidung getroffen hat, wie z. B. beim Zorn die Entscheidung, ob man sich rächt oder nicht, oder beim Schreck die Entscheidung, ob man davon läuft oder nicht. Aber beim Lachen kann die Vernunft am Ende kaum mehr Herrin des Geschehens sein, weil der Drang der Umstände die Muskeln als den Organen des Willens schon dazu gezwungen hat, sich der jeweiligen affektiven Anmutung zu beugen und die entsprechende Bewegung des Herzens angemessen auszudrücken. Also ist das Lachen verfügbar (volontaire), je nachdem, ob man es zulassen will oder nicht, genauso, wie dies bei der Atmung der Fall ist. Und es ist v. a. auch deshalb verfügbar, weil es sehr oft auf den Anruf der Vernunft hin abbricht, wenn diese uns klarmacht, daß das Lachen in der jeweiligen Situation unangemessen ist.« (S. 314 f.)

Wahrscheinlich denkt Joubert hier an den Fall, daß einem das Lachen buchstäblich im Hals stecken bleibt, sobald man merkt, daß sich jemand bei einem Sturz, über den man erst gelacht hat, ernsthaft verletzt hat. Deshalb zitiert Joubert Galens These, die Atmung sei »volontaire-contrainte« (S. 315) und überträgt diese ohne Abstriche auf das Lachen, das deshalb ebenfalls als verfügbar und unverfügbar bzw. als bedingt verfügbar bzw. als bedingt unverfügbar oder als bedingt verweigerbar zu gelten hat. Welche dieser Bestimmungen zutrifft, entscheidet die jeweilige Situation. Von hier aus gesehen hätte Joubert gleich noch etwas genauer nachfragen und das Kriterium der bedingten Verfügbarkeit als Kri742 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ergänzungen und Korrekturen

terium für die Unterscheidung verschiedener Lacharten verwenden können. Aber dies hat er leider nicht getan, sondern begnügt sich mit dem sehr allgemeinen Befund: »In Anlehnung an Galen können wir also sagen, daß die Bewegungsabläufe, die man beim Lachen beobachten kann, verfügbar sind, je nachdem, ob und in welchem Maße sie aus dem Drang der Umstände (necessité) erzwungen werden, was aber nicht für die Bewegung des Herzens gilt, wenn es affektive Anmutungen ausdrückt. Wenn dies also so ist, dann ist das Lachen gekennzeichnet durch eine Mischung (melinge) aus unverfügbar natürlichen und verfügbar willkürlichen Bewegungsabläufen, ganz so, wie dies auch der Fall ist, wenn Gedärm und Blase Exkremente ausscheiden.« (S. 317)

Leider argumentiert Joubert auch hier wieder nicht genau genug, da er nicht säuberlich zwischen dem Wie der Verlaufsgestalt des Lachens und dem Ob des Lachens selbst trennt. Was Joubert über die wohltuenden Wirkungen des Lachens zu sagen hat, ist für uns nicht neu, denn er bedient sich genau der gleichen Argumente, die wir schon im Kapitel über die ars ridendi als einem medizinisch-therapeutischen Programm kennengelernt haben. Neu ist nur die explizite Berufung auf Marsilio Ficinos (1433–1499) Traktat De christiana religione (1475), aus dem er die Stelle zitiert, die am stärksten an den sanguinischen Schöpfergott des Wilhelm von Conches erinnert, denn dort verkündet Ficino seinen Zeitgenossen die frohe Botschaft: »Lebt in Freuden, denn der Himmel hat euch aus Freude geschaffen, die er als seine eigene Form des Lachens und Frohlockens bestimmt hat, welches beides in Weitung, Bewegung und strahlendem Glanz besteht. Der Himmel wird euch durch eure Freude ewiges Leben schenken.« (S. 330 f.)

Aber auch schon auf Erden, so die feste Überzeugung Jouberts, wirkt sich das Lachen wohltuend heilsam aus, »weil es die Lebensgeister in einem solchen Maß wiedererwecken kann, daß es den Zustand eines Kranken mit einem Schlag bessern kann.« (S. 335) Aber dieses Lachen, so Joubert, darf natürlich kein falsches BastardLachen sei, da nur das echte Lachen diese Auferstehung der Lebensgeister bewirkt.

743 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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2.9.12 Bilanz und Ausblick Da ich in diesem Kapitel immer wieder meine Begeisterung über Jouberts Entdeckungen Ausdruck verliehen habe, zugleich aber auch meiner Enttäuschung darüber, daß es Joubert an systematischer Konsequenz gefehlt hat, seine Entdeckungen wirklich ernst zu nehmen und auf breiter Basis zu entfalten, kann ich mich hier relativ kurz fassen und mich auf das beschränken, was mir der innerste Kern seines Denkwerks zu sein scheint. Diesen sehe ich in der Erkenntnis, daß Lachen ein integrales Verhaltens-Widerfahrnis ist, das den gesamten Menschen erfaßt und entsprechend überformt. Man könnte Jouberts Sicht auf das Lachen also mit dem Satz wiedergeben: Man lacht mit allem, was man ist, hat, kann und tut. Diese »Synergie der Kräfte«, wie Johann Jakob Engel dieses Prinzip im 15. Brief seiner Ideen zu einer Mimik in Anlehnung an Georg Ernst Stahl 43 bezeichnet, ist laut Engel dadurch geprägt, »daß allemal dasjenige Werkzeug, welches den Gegenstand allein, oder doch vorzüglich fassen kann, an dem Körper vorgestreckt wird: bei dem Horcher das Ohr, bei dem witternden Wilden die Nase, und wenn der Gegenstand im eigentlichen Verstand kann erfaßt, ergriffen werden, vorzüglich die Hände.« (I,111)

Beim Lachen über risible Gegenstände ist dieses Organ, das alle anderen Teile des Körpers gleichsam anführt und ihnen ihr Verhalten vorschreibt, für Joubert das Herz, das das jeweilige risible Objekt als risibel erkennt und deshalb umarmen und in sich aufnehmen möchte. Und so wie man sagt, jemand, der aufmerksam auf etwas horcht, sei »ganz Ohr«, so könnte man im Sinne von Joubert auch sagen, jemand, der herzlich über etwas lacht, sei dabei »ganz Herz«. In dieser Behauptung, das Herz sei als »Leib im kleinen« ein Einleibungs-Organ zur Fernwahrnehmung risibler Objekte, liegt, wie mir scheint, das bleibende Verdienst Jouberts, das ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte der Gelotologie sichert und angesichts dessen all die oben erhobenen Einwände letztlich als geringfügig erscheinen. Beim Versuch, Jouberts Denken problemgeschichtlich einzuordnen, hilft ein Blick auf die von Hermann Schmitz vorgelegte 744 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz und Ausblick

Geschichte der Erkenntnistheorie. Nachdem Schmitz dort erst kurz die Geschichte des introjektionistischen Denkens seit Demokrit und Platon skizziert, das die Affekte nicht als ergreifende Mächte versteht, sondern als Zustände der Seele im Innern des Menschen, und das Nachwirken dieser Anschauung im mittelalterlichen Christentum vorstellt, fährt er fort: »Nach dem Aufhören der intellektuellen Leitfunktion der Scholastik in der Kultur bricht im 16. Jahrhundert die in Humoralpathologie, Astrologie und Alchemie fortgeflossene Unterströmung des vom Reduktionismus ungebrochenen alten Eindrucksdenken kräftig durch und entwickelt sich am Leitfaden integrer vielsagender Eindrücke zu Systemen, die von Epigonen des Parmenides und Empedokles (auch als eines Magiers) stammen könnten, z. B. bei Paracelsus, Telesius, Giovanni della Porta, auch in der auf einer signatura rerum aufbauenden Pharmazie. Diese üppige Wucherung einer archaischen Denkform wird dann im 17. Jahrhundert von Männern, die die Zügel der reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung wieder straff anziehen, in ihr Gegenteil verkehrt: Baco von Verulam, Descartes, Hobbes, Gassendi, Locke und die Cartesianer (Geulincx, Spinoza, Malebranche). Abgesehen von der Wiederaufnahme und Verschärfung des Reduktionismus der antiken Atomisten im Zuge des Aufblühens der physikalischen Mechanik und von theologisch motivierten Auseinandersetzungen wirken diese Denker hauptsächlich durch ihre Forschungsmaximen, die an das Pulver der von ihnen energisch hervorgekehrten Weise der Vergegenständlichung die Zündung eines entschlossenen Machtwillens zur Versklavung der Natur legen, wodurch sie die Explosion der modernen Technik vorbereiten.« 44

Zu diesen späten Nachfolgern von Parmenides und Empedokles, die in der Erkenntnistheorie nicht mehr von einzelnen vorfindlichen oder gezielt vereinzelten Sinnesdaten ausgehen, sondern von vielsagenden und affektiv relevanten Anmutungen, gehört, wie wir gesehen haben, auch Laurent Joubert mit seinem Befund, das Risible werde mit dem Fernsinn des Herzens durch Einleibung wahrgenommen und als Risibles erkannt und bestimmt, woraus sich dann auch seine Definition ergibt, das Lachen sei die Wirkung, in seiner Verlaufsgestalt aber zugleich auch die Signatur einer affektiv relevanten Anmutung. 745 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Laurent Jouberts Traité du Ris

Durch den von Schmitz eben skizzierten Verlauf der Geistesgeschichte erwies sich Jouberts Verdienst jedoch alsbald als Verdikt, denn mit dem Siegeszug des atomistisch-mechanistischen Denkens im Gefolge von Bacon und Descartes und mit der Reduktion des Herzens auf eine Pumpe für den Blutkreislauf wurden all die intentionalen und kommunikativen Fähigkeiten, die Joubert dem Herzen zugeschrieben hatte, wieder ausgeblendet. Erst Georg Ernst Stahl und seine Schüler im 18. Jahrhundert und später die romantischen Ärzte und Philosophen wie z. B. Franz von Baader, die in den Bahnen von Jakob Böhme dachten, hätten Joubert wieder als einen der ihren entdecken können. Auch Kant hätte sich in Joubert wiedererkennen können, da auch er das Kriterium der enttäuschten Erwartung zum Kernpunkt seiner Ätiologie des Lachens bestimmte. Aber Joubert war zu dieser Zeit leider längst vergessen. Oder genauer: Sein Name war vergessen, seine intensiven Beschreibung des ekstatischen Lachens geistern aber sehr wohl bis heute durch die gelotologische Literatur. So faßt z. B. Marin Cureau de La Chambre diese Beschreibung aus den Kapiteln 11 und 18–23 des Traité du Ris in seiner Affektenlehre Les charactères des passions, die von 1640 bis 1663 in fünf Bänden erschien, zu einem Gesamtporträt eines ekstatischen Lachanfalls zusammen, das dann wieder von Ernst Anton Nicolai in seine Abhandlung von dem Lachen (1746) wortwörtlich übernommen worden ist. Genau dieselbe Passage führt auch Louis Poinsinet de Sivry in seinem Traité des causes physiques et morales du rire (1768) an, und bei dem bedient sich wieder Carl Julius Weber in seinem Demokritos (1832). So geht es dann weiter bis herauf zu Renate Jurzik, Dearborn und Moody, und in all diesen Fällen geschieht dies ohne Nennung und wohl auch ohne Kenntnis der ursprünglichen Quelle. Dieses ungenierte Abschreiben konnte man sich offensichtlich nur deshalb erlauben, weil Joubert so völlig in Vergessenheit geraten war. Und wenn tatsächlich mal jemand auf Joubert verwies, wurde er sofort ins Kuriositätenkabinett der gelotologischen Literatur verbannt, weil, so Weber, seine »Naivetäten mehr zu Lachen geben, als das Lachen erklären.« 45 Der eigentliche Bruch in der Rezeption von Laurent Joubert dürfte bei Cureau de la Chambre (1594–1669) liegen, denn 746 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

Cureau war als Leibarzt des Königs Ludwig XIV. und Mitglied der Akademie Française ein einflußreicher Mann und muß Joubert, der ja auch mal königlicher Leibarzt gewesen war, als einen seiner Vorgänger gekannt haben, und wenn er Joubert gezielt totgeschwiegen hat, so kann dies nur aus ideologischen und wissenschafts-politischen Gründen geschehen sein. Wenn es jedoch stimmen sollte, daß wir uns, wie Gernot Böhme meint, »am Ende des Baconschen Zeitalters« 46 befinden, und einiges spricht in der Tat dafür, daß dies der Fall sein könnte, dann wäre es auch an der Zeit, Laurent Joubert als Denker endlich gerecht zu werden und ihn wieder so ernst zu nehmen, wie er es verdient. Anmerkungen 1

Biographisches Material über Joubert findet sich in dem Aufsatz von Louis Dulieu: Laurent Joubert, chancelier de Montpellier, in: Bibliothèque d’humanisme et renaissance, Bd. 31 (1969), S. 139–167, der auch die Anregung zur Reprint-Ausgabe von Jouberts Traktat gegeben hat. 2 Laurent Joubert: Treatise on Laughter translated and annotated by Gregory David de Rocher, Alabama 1980. 3 Gregory de Rocher: Rabelais’s Laughers and Joubert’s Traité du Ris, Alabama 1979. 4 Verena Alberti: La pensée et le rire: étude des théories du rire et du risible, Diss. Siegen 1993. 5 Daniel Ménager: La Renaissance et le rire, Paris 1995. Ich zitiere Ménager in eigener Übersetzung. 6 Ursula Link-Heer: Physiologie und Affektenlehre des Lachens im Zeitalter Rabelais’. Der medico-philosophische »Traité du Ris« (1579) von Laurent Joubert, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Werner Röcke und Helga Neumann, Paderborn 1999, S. 251–282. 7 Vgl. dazu die Kapitel über Paracelsus in: Will-Erich Peuckert: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie, Stuttgart 1936, S. 202–276, das Kapitel über Signaturen in: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 56 ff., sowie von Ludwig Klages: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, hg. v. Hans Eggert Schröder. Mit einem Vorwort von Heinz Friedrich, München 1968, denn für Klages gilt: »Jede Ausdrucksbewegung verwirklicht (d. h. denotiert) nach Stärke, Dauer und Richtungenfolge die Gestalt einer seelischen Regung.« (S. 47) 8 Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Darmstadt 1988, S. 15.

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Laurent Jouberts Traité du Ris 9

Erwin Straus: Geschehnis und Erlebnis, Berlin 1930. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, S. 175. 11 Vgl. zu dem Thema auch Aurel Kolnai: Ekel Hochmut Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt a. M. 2007. 12 Goldstein: Organismus, S. 220 ff. 13 Buytendijk: Haltung und Bewegung, S. 100. 14 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen (1859), hg. und mit einem Nachwort von Dieter Kliche, Stuttgart 1990, S. 56. 15 Vgl. dazu Schmitz: Leib, S. 387 ff. 16 Schmitz: Gegenstand, S. 149. 17 Schmitz: Gegenstand, S. 13 f. 18 Ménager: La Renaissance et le rire, S. 23 f. 19 Ménager, S. 22. 20 Vgl. dazu Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 46 ff., sowie Jürgen Richter: Die Theorie der Sympathie, Frankfurt a. M. 1996. Richter geht allerdings auf Joubert nicht ein und nicht einmal auf Fracastoro. 21 Vgl. dazu Rudolf Bilz: Schrittmacherphänomene, in: Bilz: Vergangenheit, S. 7– 38. 22 Schmitz: Gegenstand, S. 149. 23 Vgl. dazu Karl Reinhardt: Kosmos und Sympathie. Neue Untersuchungen über Poseidonios (1929), Reprint Hildesheim/New York 1976, S. 111 ff. und S. 178 ff., sowie Jürgen Richter: Sympathie, S. 170 ff. 24 Francis Bacon: Neues Organon, herausgegeben und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn, 2 Bde, Hamburg 1990, Bd. II, S. 595. 25 Lukrez: De rerum natura. Welt aus Atomen, übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1973, II,90 f., S. 260/261. 26 Gerhard Emil Weidemann: »De Sympathia et Antipathia liber unus« von Girolamo Fracastoro. Einführung und Übersetzung, Diss. Zürich 1979. 27 Vgl. dazu den Aufsatz von Otto Friedrich Bollnow: Was heißt, einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, in: Bollnow: Das Verstehen. Drei Aufsätze zur Theorie der Geisteswissenschaften, Mainz 1949, S. 7–33. 28 Vgl. dazu Alberti: La pensée et le rire, S. 203 f. 29 Aristoteles: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia), hg. v. Eugen Rolfes, Leipzig 1924, S. 96–122. 30 Franz Rüsche: Blut, Leben und Seele. Ihr Verhältnis nach Auffassung der griechischen und hellenistischen Antike, der Bibel und der alten Alexandrinischen Theologen. Eine Vorarbeit zur Religionsgeschichte des Opfers, Paderborn 1930, S. 227. 31 Rüsche, S. 229. 32 Vgl. dazu Thomas Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes – Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs, Frankfurt a. M. 1992 S. 33 ff. 10

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Anmerkungen 33 De Rocher übersetzt »esprits« konsequent falsch mit »humors«, verwechselt also in einem fort Lebensgeister und Körpersäfte. 34 Vgl. dazu Fuchs: Herz, passim. 35 Vgl. dazu das Kapitel »Signaturen«, S. 56 ff. 36 Vgl. dazu oben das Kapitel 2.8.2: Die ars ridendi als medizinisch-therapeutisches Programm. 37 Vgl. dazu Kapitel 27 des Traktats S. 130 ff., in dem Joubert noch einmal auf das Thema eingeht. 38 Vgl. dazu Fuchs: Herz, S. 33 ff., und Rüsche: Blut, S. 192 ff., sowie die äußerst materialreiche Arbeit von Marielene Putscher: Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen, Wiesbaden 1973. Ich verweise auch auf das sehr informative Vorwort von Karl E. Rothschuh zu seiner Descartes-Übersetzung: René Descartes: »Über den Menschen« (1632), sowie »Beschreibung des menschlichen Körpers« (1648), Heidelberg 1696, S. 17 ff., in dem Rothschuh die Physiologie Fernels sehr übersichtlich vorstellt. 39 Der Begriff geht auf Lessing zurück, der in der Ankündigung seiner »Hamburgischen Dramaturgie« schreibt: »Die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch.« (Lessing X,6) 40 Vgl. dazu Raymond A. Moody: Lachen und Leiden. Über die heilende Kraft des Humors, Reinbek bei Hamburg 1979, wo dergleichen Krankheitsbilder beschrieben werden. 41 Fritz Reuters sämtliche Werke. Ausgabe in 15 Büchern, Berlin o. J., Bd. 14, S. 106. 42 Die Unterscheidung zwischen konkreter und kategorialer Einstellung führte Goldstein in dem berühmten Aufsatz »Über Zeigen und Greifen« (Der Nervenarzt 4, 1931, S. 453–466) ein. Vgl. dazu Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 128–151. 43 Über Stahls »synergetisches Prinzip« unterrichten in gedrängtester Kürze der Aufsatz von Wolfram Mauser: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung, in: Lessing Yearbook XX, 1988, S. 87– 120, und umfassend Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls, Tübingen 2000. 44 Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 315 f. 45 Weber, I, 171. Weber scheint also Joubert nie gelesen zu haben, weil er nicht merkt, daß er in seiner Beschreibung des Lachens I,47 f. wörtlich Joubert zitiert. 46 Vgl. dazu Gernot Böhme: Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt a. M. 1993.

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2.10 René Descartes oder Die Frage nach dem Gespenst in der Maschine

2.10.1 Überblick Da René Descartes (1596–1650) sich nur einmal übers Lachen äußert und auch da eher beiläufig, müßte es eigentlich genügen, diesen kurzen Beitrag in einer Ideengeschichte der Gelotologie mit einer Fußnote abzutun oder überhaupt zu übergehen. Das ist aber schlecht möglich, da Descartes bis heute nach wie vor einen enormen Einfluß auf unser Denken ausübt und damit auch die Sicht auf das Lachens entscheidend mitbestimmt, insbesondere bei all denen, die das Lachen oder auch nur bestimmte Formen des Lachens reduktionistisch mit der Elle des Reiz-Reaktions-Modells messen und es auf Reflexe zurückführen, die sich als unverfügbare Widerfahrnisse an uns und mit uns vollziehen. Um dieses Denkmodell genauer ins Auge fassen zu können, ist es deshalb nötig, ausführlicher auf Descartes einzugehen, weil er es war, der dieses Denken maßgeblich mitbegründet hat. Auf Descartes müssen wir aber auch deshalb eingehen, weil all die Autoren, an denen ich mich in dieser Studie über das Lachen ideell orientiere, mit besonderer Entschiedenheit Diltheys Ruf »Los von Descartes!« in die Tat umgesetzt haben: Erwin Straus, Kurt Goldstein, Helmuth Plessner, Gilbert Ryle, Wilhelm Kamlah, Hermann Schmitz und Gernot Böhme. Zum Thema macht Descartes das Lachen nicht in seinem anthropologischen Traktat De l’homme 1 von 1632, wo man dies erwarten würde, sondern erst in seinem letzten Werk Les Passions de l’Ame von 1649. Das Ziel, das er mit dieser Affektenlehre verfolgt, bestand darin, eine Ergänzung zu seinem kurz vorher veröffentlichten physiologischen Hauptwerk La description du 751 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

René Descartes

corps humain von 1648 vorzulegen, um deutlich zu machen, wie gut seine als »Einheitswissenschaft«2 konzipierte Philosophie als säkulares und zudem mechanistisch orientiertes Gegenstück zu den theologischen Summen der Scholastiker alle Aspekte und Bereiche des materiellen wie des geistigen Geschehens plausibel erklären könne. Dies schien ihm wohl auch nötig, da für ihn der Mensch aus Geist und Körper zusammengesetzt war, und eine Einheitswissenschaft nur bei der Erforschung des ganzen Menschen zeigen kann, was sie zu leisten vermag. Allerdings verstand er sich auch hier ausdrücklich als Naturwissenschaftler, denn, so schrieb er an den Abbé Picot, »meine Absicht bestand darin, die Affekte (passions) nicht als Rhetoriker und erst recht nicht als Moralphilosoph, sondern als Naturwissenschaftler (physicien) zu erklären« 3, d. h. als Physiker und Physiologe. Deshalb mußte sein Erkenntnisinteresse zunächst einmal lauten: Wie und wann werden welche Teile der menschlichen Körpermaschine durch welche Affekte in welche Bewegungen versetzt? Aber dieses Erkenntnisinteresse allein konnte ihm nicht genügen, da er schon Jahre vorher in dem anonym veröffentlichten Discours de la méthode von 1637, in dem er sich sehr prätentiös zum exemplarischen Vertreter und Wegbereiter eines ganz neuen Denkens 4 hochstilisiert, den grundlegenden Impuls dieses neuen Verständnisses von Naturwissenschaft als Anwendungswissen bestimmt hatte, denn dort kündigt er die traditionelle aristotelische Unterscheidung von Theorie, Praxis und Poiesis auf und läßt Praxis und Poiesis zu einem neuen Ideal verschmelzen. Demgemäß geht es diesem neuen Typ von Wissenschaftler nicht mehr allein darum, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern darum, »zu Kenntnissen zu kommen, die von großem Nutzen für das Leben sind, und statt jener spekulativen Philosophie (philosophie spéculative) 5 die in den Schulen (d. h. bei den Scholastikern) gelehrt wird, eine praktische (pratique) zu finden, die uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller übrigen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf eben dieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeig-

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Überblick

net sind, verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur (maîtres et possesseurs de la nature) machen könnten.« (DM, S. 101)

Das heißt dann aber auch, daß uns die Erforschung der Affekte zu imperial verfügenden Herren und Eigentümern der Natur machen soll, die wir selbst sind, also zu Herren und Eigentümern unserer eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit und damit wiederum zu Herren und Eigentümern unserer eigenen Affekte, und damit wiederum zu Herren und Eigentümern unseres eigenen Lachens. Dieses Ziel kennen wir ja schon aus den Traktaten der Stoiker in heidnischem, christlich-monastischem und höfischem Gewand. Aus diesem Grund münden alle drei Teile des Traktats über die Affekte in die Beschreibung von Psychotechniken ein, die der Beherrschung, Bemeisterung und Nutzbarmachung der Affekte dienen sollen. Als ehemaliger Jesuiten-Schüler kannte Descartes derlei Techniken zwar aus den Exerzitien des Ignatius von Loyola, er unterscheidet sich von ihnen jedoch darin, daß bei der von ihm favorisierten Psychotechnik Wille und Vernunft die Rolle des Exerzitienmeisters übernehmen und somit jeder zu seinem eigenen Exerzitienmeister 6 wird. So gesehen gehört auch Descartes in die neuzeitliche Stoa des christlich-absolutistischen Zeitalters. Wie die alten heidnischen Stoiker wußten natürlich auch diese neuen Stoiker, »daß man der Natur nur dann befehlen kann, wenn man ihr auch gehorcht«7, weshalb man sich als Herr über die Natur sich ihr zugleich auch ausliefert. Aber wenn man dies tut, stellt sich sofort die Frage: Natur oder Gnade? Denn vor dem Hintergrund der Gegenreformation und des erneuten und gesteigerten imperialen Zugriffs der katholischen Kirche auf das geistige Leben und insbesondere auf die Wissenschaften erschienen Psychotechniken dieser Art höchst riskant, weil sie das seelsorgerische Monopol der Kirche in Frage stellten. Dazu Liane Ansmann: »Indem Descartes als Laie Fragen der Ethik erörtert und eine Moral entwirft, die dem menschlichen Willen die Fähigkeit zuspricht, ohne übernatürliche Hilfe die Leidenschaften zu bekämpfen, begibt er sich in die Gefahr, der Freigeisterei und Irreligiosität beschuldigt zu werden. Dieser Vorwurf wurde von kirchlicher Seite, insbesondere von den Jesuiten, gegen alle Autoren erhoben, die eine ›weltliche‹ Moral-

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René Descartes

lehre verfaßten, in der von dem Glaubensgrundsatz, daß zur wahren Tugend auch die Gnade und die kirchliche Hilfe (also die Sakramente) notwendig seien, abstrahiert und nur die Frage untersucht wurde, wie der Mensch in Harmonie mit sich selbst und in Frieden mit seiner Umwelt leben könne.« (S. 59 f.)

Konflikte dieser Art hat Descartes offenbar gefürchtet, weshalb er schon 1628, also schon fünf Jahre vor dem Prozeß gegen Galilei, nach Holland und schließlich sogar nach Schweden emigrierte, in die schon damals liberalsten Länder Europas, wo er vor den Nachstellungen der Inquisition sicher sein konnte und wo ihm das Schicksal Galileis und schon gar nicht das Giordano Brunos drohte, der 1600 auf dem Scheiterhaufen geendet hatte, denn auch nichttheologische Wissenschaft konnte als Ketzerei gewertet und entsprechend geahndet werden. Wohl deshalb sparte Descartes in all seinen Werken nicht mit Bekundungen von Frömmigkeit und Glaubenseifer, die er vielleicht sogar ernst meinte, aber genutzt hat ihm dies letztlich wenig, denn auch sein Werk landete schließlich auf dem Index. Aber um diese Zeit, 1663, war Descartes längst tot. Da der Titel von Descartes’ Affektenlehre eine Abhandlung über die Widerfahrnisse (passions) der Seele verspricht, ist zunächst einmal klar, daß Descartes hiermit an die aristotelische und damit auch scholastische Unterscheidung von actio und passio, von Handlung und Widerfahrnis anknüpft, wie dies gleich im ersten Artikel des Traktats ja auch ausdrücklich bestätigt wird. Deshalb darf man den Titel des Werks auch nicht so verstehen, als ob hier einer »Passivität der Seele« 8 das Wort geredet würde, sondern Descartes beschreibt, ganz so wie Goethe später in seiner Farbenlehre von den »Taten und Leiden des Lichts« spricht, in seiner Affektenlehre die Taten und Leiden der Seele, allerdings unter besonderer Berücksichtigung der Leiden, also der Widerfahrnisse. Es gibt also auch keinen Grund, im Titel von »Leidenschaften der Seele« zu reden, wie Hammacher dies tut, weil Leidenschaften schon wieder eine spezielle Form von Widerfahrnissen sind. Allerdings korrigiert Descartes die aristotelisch-scholastische Unterscheidung auch sofort wieder, indem er auf die perspektivische Ambivalenz dieser beiden Begriffe verweist, derzufolge Handlungen nicht schlechthin nur Handlungen sind, sondern die Hand754 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die psychophysische Aporie

lungen des einen zugleich auch die Widerfahrnisse eines andern sein können. Er hätte auch noch hinzufügen können, daß auch unsere eigenen Handlungen für uns selbst den Charakter von Widerfahrnissen haben, insofern sie gelingen oder mißlingen. Dann wäre zu fragen, was speziell Widerfahrnisse der Seele sein könnten, und vor allem, an welchen Begriff von Seele Descartes hier anknüpft, da wir es bisher immer mit der aristotelischen Seelen-Trias zu tun hatten. In der Affektenlehre selbst bietet Descartes in Kapitel 27 die Definition an, Widerfahrnisse der Seele seien ganz allgemein zu verstehen als »Wahrnehmungen (perceptions) bzw. Empfindungen (sentimens) bzw. Gefühle (émotions) der Seele, die sich in besonderer Weise auf sie beziehen und durch irgendwelche Bewegungen der Lebensgeister (esprits) verursacht, unterstützt und verstärkt werden.« (PA, S. 46)

Diese Definition wird dann in den beiden folgenden Kapiteln dahingehend erläutert, daß Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle unter dem Begriff »Bewegungen« (émotions) zusammenfaßt werden, »weil diese Bezeichnung allen Veränderungen (changements) zugesprochen werden kann, die sich in der Seele ereignen.« (PA, S. 48) Man merkt, wie sehr sich Descartes bemüht, einen Begriff zu finden, der sowohl im psychologischen als auch im physikalischen Sinn verwendet werden kann, da er ja erklärtermaßen als Naturwissenschaftler über psychische Tatbestände reden will, und deshalb einen passenden Begriff braucht, um das Grundprinzip seiner Einheitswissenschaft, die Reduktion aller Phänomene auf die mechanische Stoßbewegung, auch in der Affektenlehre anwenden zu können, und da sind es, wie wir sehen werden, die Eindrücke (impressions) aller Art, die zu Bewegungen aller Art führen, und eine dieser Bewegungen ist eben das Lachen. 2.10.2 Die psychophysische Aporie Im Discours de la méthode von 1637, dem Schlüssel zu seinem Gesamtwerk, hatte er von der aristotelischen Seelen-Trias die Denkseele zur Seele schlechthin verabsolutiert und behauptet, 755 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

René Descartes

»daß ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt, so daß dieses Ich, d. h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, völlig verschieden ist vom Körper, ja daß sie sogar leichter zu erkennen ist als er, und daß sie, selbst wenn er nicht wäre, doch nicht aufhörte, alles das zu sein, was sie ist.« (DM, S. 55)

Mit dieser absoluten ontologischen Trennung von Körper und Denkseele war, mit Gilbert Ryle zu sprechen, das »Dogma vom Gespenst in der Maschine« 9 als leitende Idee der cartesischen Einheitswissenschaft auch schon verkündet und harrte nun der Durchführung in Philosophie und Wissenschaft. Diese totale Autonomie der Seele als Denkseelen-Ich wird in der berühmten sechsten Meditation von 1641 eigens noch mal bekräftigt, wenn Descartes schreibt: »Daraus also, daß ich weiß, ich existiere, und daß ich inzwischen bemerke, daß durchaus nichts anderes zu meiner Natur und zu meiner Wesenheit gehöre, als allein, daß ich ein denkendes Ding (res cogitans) bin, schließe ich mit Recht, daß meine Wesenheit allein darin besteht, daß ich ein denkendes Ding bin. Und wenngleich ich vielleicht – oder vielmehr gewiß, wie ich später auseinandersetzen werde –, einen Körper habe, der mit mir sehr eng verbunden ist, so ist doch – da ich ja einerseits eine klare und deutliche Idee meiner selbst habe, sofern ich nur ein denkendes, nicht ein (räumlich) ausgedehntes Ding (res extensa) bin, und andererseits eine deutliche Idee vom Körper habe, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Ding ist –, soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.« (MPP, S. 67)

Auf eine vergleichbare Akrobatik bei der Ich-Zuweisung sind wir schon einmal bei Augustinus gestoßen, der in seinem Traktat über den Gottesstaat schreibt, der Mensch lebe seit dem Sündenfall »mit sich selbst in Zwiespalt« (II,187) und dies in seinen Bekenntnissen in einer exemplarischen Innenschau erläutert: »Nun wandte ich mich zu mir selbst und sprach zu mir: Wer bist denn du? Ich antwortete: Ein Mensch. Und siehe, fasse ich mich selbst ins Auge, stehen da ihrer zwei, Leib und Seele, er draußen, sie drinnen. Wen von beiden soll ich fragen nach meinem Gott, nach dem ich

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Die psychophysische Aporie

schon die ganze Körperwelt durchsuchte, von der Erde bis zum Himmel, soweit ich meiner Augen Strahlen als Boten senden konnte?« (S. 252)

Die Antwort kann für Augustinus natürlich nur lauten: »Besser ist doch, was innen ist. (…) Der innere Mensch erfuhr dies durch den Dienst des äußeren; ich, der innere, erfuhr es, ich, der ich Geist bin, durch den Sinn des Leibes.« (S. 252)

Bei Descartes geht es nun zwar nicht mehr um die Frage, welche dieser beiden Substanzen Denkseele und Körpermaschine die Frage nach Gott stellen und beantwortet bekommen soll, sondern nur noch darum, wie sich beide zueinander und damit auch zu sich selbst verhalten. Aber auch hier stellen sich sofort Fragen über Fragen: Wenn ich also, laut Descartes, identisch bin mit meiner Denkseele, durch die ich das bin, was ich bin, und deren Natur allein im Denken besteht, und wenn dieses Denkseelen-Ich vom Körper völlig verschieden ist, so stellt sich z. B. die Frage, was diese Denkseele alles nicht kann, nicht tut und nicht ist, und dies zieht sofort die Frage nach sich, wer denn dann lacht, wenn ich lache. Oder sollte ich schreiben: wenn »ich« lache? Meine Denkseele lacht offensichtlich nicht, denn diese denkt ja nur. Lacht also dann nur »mein« Körper, wenn »ich« lache, ich aber nicht, da ja allein meine Denkseele das ist, durch das ich das bin, was ich bin. Schaut meine Denkseele also nur nachdenklich zu, wenn »ich« lache und denkt sich ihren Teil? Oder lacht sie vielleicht doch mit, wenn »ich« als ihr Körper lache? Lacht sie vielleicht das »Lachen des Herzens«, das die Scholastiker so säuberlich vom »körperlichen Lachen« unterschieden haben? Und wenn ja, worin bestünde dann dieses »Lachen des Herzens«? Vielleicht im Lachen eines unkörperlichen Herzens? Oder gibt es vielleicht analog zum körperlichen Lachen ein spezielles Lachen der Denkseele, und wenn ja, worin könnte dieses Lachen dann bestehen? Vielleicht in einem denkenden Lachen oder einem lachenden Denken? Und wenn es diese Kombination aus Denken und Lachen nicht geben sollte, dürfte ich dann nie wieder sagen: »Ich lache«, sondern nur noch: »Es lacht irgendwo irgendwer oder irgendwas in unmittelbarer Nähe meiner Denkseele«? Descartes scheint Einwände dieser Art geahnt zu haben, weil er 757 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

René Descartes

schon einige Seiten später versichert, Denkseele und Körper seien zwar durchaus getrennt, aber irgendwie doch auch wieder verbunden, denn die Erfahrung von leiblichen Empfindungen wie Hunger und Durst lehre, »daß ich nicht nur in der Weise meinem Körper gegenwärtig bin, wie der Schiffer seinem Fahrzeug, sondern daß ich aufs engste mit ihm verbunden und gleichsam vermischt bin, so daß ich mit ihm eine gewisse Einheit bilde. Denn sonst würde ich, der ich nur ein denkendes Ding bin, nicht, wenn mein Körper verletzt wird, darum Schmerz empfinden, sondern ich würde diese Verletzung nur durch bloßes Denken erfassen.« (MPP, S. 69)

Und wieder einige Seiten später betont er, »daß ein großer Unterschied zwischen Geist und Körper insofern vorhanden ist, als der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist«, und deshalb kommt er zu dem Schluß, daß er als denkendes Ding in sich keine Unterteilungen zu unterscheiden vermöge, sondern sich als ein »durchaus einheitliches und ganzes Ding« (MPP, S. 74) erkenne. Das heißt doch wohl: Als res cogitans empfindet sich die Denkseele als unteilbar, im Verbund mit dem Körper hingegen als teilbar, sodaß er letztlich doch wieder zu dem Schluß kommt, »daß der Geist vom Körper gänzlich verschieden ist.« (MPP, S. 74) Da über dieses durch Descartes neu belebte psychophysische Problem unendlich viel geschrieben worden ist, ohne daß man eine plausible theoretische Lösung des Problems hätte anbieten können, wenn man die Voraussetzungen teilt, von denen Descartes ausgeht, kann es auch hier nicht gelingen. Es muß aber auch gar nicht gelingen, weil Scheinprobleme grundsätzlich nicht lösbar sind, und das psychophysische Problem, wie Descartes es formuliert hat, nun mal ein klassisches Scheinproblem ist. Sieht man den Dualismus zwischen »sich selbst« und seinem Körper nicht wie Descartes substantiell, sondern funktional, löst sich das Problem sofort in ein Nichts auf, weil niemand in der alltäglichen Lebenspraxis ein Problem damit hat, in bestimmten Situationen und zu bestimmten Zwecken seinen Körper als ganzen oder auch nur Teile seines Körpers so zu behandeln wie jedes andere Körperding auch. Wenn ich mir, um ein ganz banales Beispiel zu 758 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die psychophysische Aporie

nennen, die Nägel schneide, geschieht dies grundsätzlich nicht anders als wenn ich in meinem Garten das Spalierobst formiere; ich verwende nur ein etwas anderes Werkzeug. Sobald ich mich beim Nägelschneiden aber verletze, werde ich schlagartig darauf verwiesen, daß ich selbst es bin, dem’s weh tut, nicht irgendeinem Körper »da draußen«, mit dem ich, laut Descartes, bloß irgendwie »eng verbunden« bin. Mit anderen Worten: Schon die banalsten Formen von Selbstthematisierung, Selbstobjektivierung und Selbstinstrumentalisierung zeigen, wie lebensfremd, verstiegen und reduktionistisch das cartesische Substanzen-Denken ist. Auf die immanenten Widersprüche, in die Descartes sich dabei verstrickt hatte, hat schon sein Zeitgenosse und Briefpartner Pierre Gassendi (1592–1655) verwiesen, der ihm seine Meditationen voll Hohn und Spott buchstäblich um die Ohren schlug. Hier könnte man seitenlang mit Genuß zitieren, aber das kann jeder in der Edition der Meditationen von Artur Buchenau10 selbst nachlesen. Gassendis Einwände gipfeln in dem Satz, es lasse sich beweisen, »daß Du nicht nur keine klare und deutliche Idee Deiner selbst hast, sondern offenbar überhaupt keine hast.« (MPP, S. 311) Und dann verweist Gassendi auf ein Problem, das auch unsere Fragestellung zentral berührt: Es ist die Frage, wie das Zusammenspiel von Körper und Denkseele überhaupt möglich sein kann, da Descartes ja Beziehungen jeglicher Art auf mechanische Stoßbewegungen gründet. Denn wenn es Widerfahrnisse der Seele im Sinne von Gemütsbewegungen gibt, wie der Titel der Affektenlehre behauptet, dann können auch diese Widerfahrnisse nur mechanische Stoßbewegungen sein, die die Seele erfährt, und diese Stoßbewegungen kann sie wiederum nur von Lebensgeistern bekommen, die sie in irgendeiner Form anschubsen. Aber wie können Lebensgeister, die ja trotz ihrer Winzigkeit räumlich ausgedehnte Körper sind, die Seele anschubsen, die ja ausdrücklich als ausdehnungsloser Nicht-Körper konzipiert ist? Über diese Aporie hat sich schon Gassendi 11 lustig gemacht, für den die »Hauptschwierigkeit« dieses ganzen Konzepts darin lag, »wie das Körperliche sich mit dem Unkörperlichen vermischen kann, und welches Verhältnis des einen zum anderen sich aufstellen läßt« (MPP, S. 312), denn Descartes hatte ja eigens betont, daß »der 759 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

René Descartes

ganze Geist mit dem ganzen Körper verbunden zu sein scheint« (MPP, S. 74 bzw. S. 312), was aber für die ausdehnungslos gedachte Seele schlecht möglich ist, da sie deshalb ja wieder irgendeine Art von Ausgedehntheit haben müßte (vgl. MPP, S. 313). Mit einem Wort: Die Hauptschwierigkeit, die Descartes sich aufgehalst hatte, bleibt eine Aporie. 2.10.3 Transitstelle Zirbeldrüse Um diese Hauptschwierigkeit zu beheben, sah sich Descartes schon in seinem ersten physiologischen Traktat De l’homme genötigt, einen Ort im Körper zu bestimmen, der gleichsam als Schaltstelle, Schleuse oder Relais zwischen den beiden Substanzen Denkseele und Körpermaschine fungiert. Diesen Ort fand er in der Zirbeldrüse, die mitten im Gehirn liegt, und die er gleichsam zum »Gehirn im Gehirn« ernannte, weil hier laut Descartes alle Endpunkte der Nerven münden. In der sechsten Meditation greift er auf diese These zurück und erhebt die Zirbeldrüse gleich zum Sitz der Seele, denn er war mittlerweile zu der Einsicht gekommen, »daß der Geist nicht von allen Teilen des Körpers unmittelbar beeinflußt wird, sondern nur vom Gehirn, oder sogar nur von einem winzigen Teile desselben, nämlich dem, worin der sensus communis 12 seinen Sitz haben soll.« (MMP, S. 74)

Mit dieser Annahme eines Zentrums, in dem alle sinnlichen Wahrnehmungen zusammenlaufen, setzte sich Descartes deutlich von der aristotelischen Tradition ab, die ebenfalls ein Zentrum der sinnlichen Wahrnehmung angenommen und dieses Zentrum sensus communis oder sensorium commune genannt hatte. Lokalisiert war es im Herzen und damit in der Mitte des Körpers, und so hat es, wie wir gesehen haben, auch noch Laurent Joubert gehalten. Da Descartes das Ich aber als denkendes Ding (res cogitans) bestimmt hatte, mußte er es zwangsläufig auch ins Denkzentrum und damit ins Gehirn verlagern. Da er aber hier in Analogie zu Aristoteles vorging, plazierte er den sensus communis ins Zentrum des Gehirns und damit in die Zirbeldrüse. Dieser Zirbeldrüse schreibt nun Descartes eine ganze Reihe von 760 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Transitstelle Zirbeldrüse

Eigenschaften und Fähigkeiten zu, damit sie auch all die Funktionen erfüllen könne, die er ihr zugewiesen hatte, und diese sind: • die Erzeugung der Lebensgeister; • die Wahrnehmung, Sichtung und Sammlung der Sinneseindrücke; • die Einwirkung auf die Körpermaschine. Bei der Erklärung, wie die Lebensgeister erzeugt werden, orientiert sich Descartes ganz an Jean Fernel (1497–1558) 13, der drei Arten von Lebensgeistern angenommen hatte: Die in der Leber erzeugten spiritus naturales, die über das venöse Blut im Körper verbreitet werden und dessen Ernährung sichern; die im Herzen erzeugten und etwas feineren und flüchtigeren spiritus vitales, die über die Arterien die im Herzen erzeugte Wärme im Körper verbreiten; und die feinsten und flüchtigsten spiritus animales, die im Gehirn erzeugt werden und über das Röhrensystem der Nerven zu den Sinnesorganen und Muskeln strömen, um Wahrnehmungen und Bewegungen aller Art zu bewirken. Man könnte also sagen, daß die naturalen und vitalen Lebensgeister den Körper am Leben halten, die animalen Lebensgeister seine Bewegungen und seine Beziehungen zur Außenwelt organisieren. Von diesen drei spiritus-Arten interessieren Descartes eigentlich nur die in der Zirbel erzeugten spiritus animales, weil sie der für die Hydraulik der Körpermaschine 14 notwendige Stoff sind. Er beschreibt sie in seinem physiologischen Traktat als »sehr feinen Hauch« bzw. als eine »sehr lebhafte und reine Flamme« (H,S. 54), versteht sie aber trotzdem eindeutig als materielle Körper. Die Arbeitsweise der Zirbeldrüse stellt sich Descartes in etwa so vor, wie sich die Atomisten Lukrez und Fracastoro Körper allgemein vorgestellt hatten, also umgeben von einem Dunstkreis zentrifugal ausgestrahlter Simulacren, denn auch die Zirbeldrüse strahlt laut Descartes nach allen Seiten die von ihr erzeugten Lebensgeister als »strömende Quelle« 15 aus. Treffen nun »Eindrücke« aller Art in dieses Zentrum der Wahrnehmung, so wird diese Aura von Lebensgeistern um die Zirbeldrüse durch diese Stoßbewegungen genauso eingedrückt und dadurch »beeindruckt« wie ein Stempelkissen durch einen Stempel oder Papier durch den Druckstock, sodaß sich auf der Oberfläche der Zirbel die entsprechenden »Ein761 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

René Descartes

drücke« 16 abbilden, und das gilt sowohl für die von außen kommenden Sinnes-»Eindrücke« wie die in der Zirbeldrüse selbst entstehenden Vorstellungen, die sich von innen her in die Wand der Zirbeldrüse eindrücken. Dazu Descartes selbst: »Unter diesen Figuren darf man nicht diejenigen für die eigentlichen Ideen halten, die den äußeren Sinnesorganen oder der Innenfläche des Gehirns eingedrückt sind, sondern nur die diejenigen, die sich in die Spiritus auf der Oberfläche der Drüse H (gemeint ist die Zirbeldrüse) einzeichnen17, wo sich der Sitz der Vorstellungsvermögen und des Sensus communis befindet, d. h. für die Formen und Bilder, die die vernunftbegabte Seele unmittelbar wahrnimmt, wenn sie sich dank der Vereinigung mit dieser Maschine irgendein Objekt vorstellt oder es empfindet. Und man beachte, daß ich sage, ›sich vorstellt oder empfindet‹; denn ich möchte unter dem Namen ›Idee‹ ganz allgemein alle Eindrücke (impressions) verstehen, welche die Spiritus bei ihrem Austritt aus der Drüse empfangen können und die sich alle dem Sensus communis mitteilen, weil sie von der Gegenwart der Objekte abhängen.« 18

Diese Funktion als passives Rezeptions- und Abbildungs-Organ für »Eindrücke« aller Art genügte Descartes aber nicht, weshalb er ihr noch die weitere Eigenschaft zuschreibt, daß sie, weil sie extrem beweglich aufgehängt sei, alle denkbaren Bewegungen ausführen könne, wenn sie auch nur ein Hauch von »Eindruck« berührt, und daß sie diese Bewegungen wiederum durch entsprechende Stöße an die Aura an Spiritus weitergeben und diese somit wiederum jene in Bewegung versetzen könne. Mit diesem Hinweis auf die extreme Beweglichkeit der Zirbeldrüse glaubte Descartes das Problem gelöst zu haben, wie Körperliches und Unkörperliches gleichsam in einem Infinitesimalbereich von Körperlichkeit wechselseitig aufeinander einwirken kann. Daß die anatomischen Gegebenheiten solche Spekulationen nicht im entferntesten erlauben, weil die Zirbeldrüse völlig unbeweglich 19 ist, scheint Descartes nicht gestört zu haben. Es hatte sich wieder mal die Realität an der Theorie versündigt. Wenn wir das cartesische Denkmodell mit dem von Joubert vergleichen, stellen wir fest, daß in beiden ein »Mehrzweck-Organ« eine zentrale Rolle spielt: Bei Joubert ist es das Herz, das als »Leib im kleinen« als Organ zur Fernwahrnehmung affektiv relevanter Anmutungen fungiert, als körperliches Organ aber auch ein Körper 762 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Transitstelle Zirbeldrüse

unter Körpern ist, auf die es mit Stoßbewegungen einwirken kann. Bei Descartes ist das entsprechende Mehrzweck-Organ die Zirbeldrüse, da sie zum einen »Eindrücke« aus der Außenwelt aufnehmen und über die Lebensgeister durch weitere Stoßbewegungen weitergeben kann, außerdem aber auch noch die Fähigkeit hat, als Relais über dem ontologischen Abgrund zwischen der unkörperlichen Denkseele und allem Körperlichem eine Transitstelle zu bilden, durch die ein kleiner Grenzverkehr über diesen Abgrund hinweg möglich ist. Die Passierscheine dafür bilden »Geistkorpuskeln« 20, gleichsam ontologische Zwitter an der Grenze zum Nichts an Körperlichkeit und Ausdehnung, die aber gleichwohl immer noch Stoßbewegungen aufnehmen und dadurch irgendwelche »Eindrücke« weitergeben können. Gelöst hat Descartes mit diesen Hilfsannahmen das von Gassendi aufgeworfene Problem natürlich in keiner Weise; er hat es nur durch die Mehrdeutigkeit des Wortes »Eindruck«, also durch einen semantischen Trick und durch die Annahme eines Infinitesimalbereichs zwischen Körperlichem und Geistigen durch einen ontologischen Trick verdeckt. Derartige »Eindrücke« empfängt die Seele laut Descartes nicht nur als Widerfahrnisse von außen, sondern auch von innen durch vielerlei Willensakte 21, sodaß die Seele auf diesem Wege Verfügungsmacht über ihren Körper gewinnt. Aber auch die dadurch entstehenden willkürlichen Bewegungen laufen über das Relais Zirbeldrüse. Dazu Descartes in Kapitel 41 seiner Affektenlehre: »Der Wille ist von Natur aus so frei, daß er niemals zu etwas gezwungen werden kann, und von den beiden Arten von Denkakten, die ich in der Seele unterschieden habe 22, von denen die einen ihre eigenen Handlungen sind, d. h. ihre Willensakte, die andern aber ihre Widerfahrnisse, um das Wort in seiner allgemeinsten Bedeutung zu gebrauchen, die auch alle Arten von Wahrnehmungen einschließt, sind die erstgenannten absolut im Hinblick auf ihre Verfügbarkeit, wohingegen die letztgenannten absolut von den Handlungen abhängen, die sie erzeugen, und nur indirekt von der Seele beeinflußt werden können, es sei denn, diese selbst sei deren Ursache. Alle Tätigkeit der Seele besteht also darin, daß sie allein durch ihren Willen bewirkt, daß die Zirbeldrüse, mit der sie eng verbunden ist, sich in der Art und Weise in Be-

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René Descartes

wegung versetzt, wie sie nötig ist, um die Wirkung im Körper hervorzurufen, die diesem Willensakt entspricht.« (PA, S. 66 f.)

Das heißt also, daß die Zirbeldrüse auch allein durch Willensakte in Bewegung versetzt werden kann. Aber wie soll das gehen? Wie soll das Gespenst in der Maschine auftreten? Wie kann der Wille die Zirbeldrüse gezielt anschubsen und genau in die Bewegung versetzen, die die Zirbeldrüse wiederum über Lebensgeister durch die Nervenbahnen an die Muskeln weitergeben soll. Woher nimmt der Wille seine Materialität, die er ja braucht, um mechanische Stoßbewegungen ausführen zu können? Hier greift Descartes wieder in die Trickkiste und zaubert die ontologischen Zwitter der »Geistkorpuskeln« (Specht) als Allzweckwaffe hervor, die dann die entsprechenden Stoßbewegungen und »Eindrücke« ausführen wie jeder andere Körper auch, aber wie, »das bleibt ein Rätsel.« 23 Und dieses Rätsel wird auch dadurch nicht gelöst, daß irgendwelche geheimnisvollen »Geistkorpuskeln« wie Engel 24 als Wanderer zwischen den beiden Welten von Geist und Körper umherschweben und zwischen beiden Botschaften vermitteln, weil sie an beiden teilhaben. Martin Schneider, dessen gründlicher Studie über das mechanistische Denkmodell ich wesentliche Anregungen verdanke, bringt die Gründe dafür, warum das Problem des cartesischen Dualismus nicht lösbar ist, am Ende seines Werkes auf den Punkt, wenn er über die prinzipiell aporetische Struktur dieses Problems schreibt: »Daß Descartes selber es ebenfalls nicht theoretisch lösen konnte, daß auch er zu dem untauglichen Hilfsmittel der Assimilation des Geistes an den Körper greifen mußte, liegt an der aporetischen Struktur dieses Problems. Das Problem ist für Descartes insofern praktisch gelöst, als er auf die unmittelbare Erfahrung der Leib-Seele-Union verweisen kann: Wir erleben unsere Welt dual und beziehen diese beiden dualen Seinsbereiche aufeinander. Aber wir können dieses duale commercium, diese duale Wechselwirkung theoretisch nicht auflösen. Unsere Erfahrung der Leib-Seele-Union ist und bleibt nur konfus. Daher ist das GeistMaschine-Problem als Problem der Leib-Seele-Wechselwirkung theoretisch unlösbar. Man könnte überspitzt sagen: Das Geist-Maschine-Problem ist auf dualistische Weise nicht lösbar, auf nicht-dualistische Weise nicht angemessen formulierbar. Der Fehler Descartes’ bestand nicht darin, eine

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Das Spiel der Körpermaschine

dezidiert dualistische Position einzunehmen (denn diese ermöglichte es ihm gerade, die Problematik philosophisch vollständig und unvoreingenommen zur Sprache zu bringen), sondern bloß darin, ein Problem lösen zu wollen, was theoretisch nicht lösbar ist.«25

2.10.4 Das Spiel der Körpermaschine Neben den willkürlichen Bewegungen, durch die die Seele über die Körpermaschine verfügt und sie lenkt wie ein Steuermann sein Schiff, gibt es für Descartes auch Bewegungen des Körpers im ganzen, sowie Bewegungen im und am Körper, die »ohne Hilfe der Seele durch die Objekte der Sinneswahrnehmung, d. h. durch Sinnes-›Eindrücke‹ und durch die Lebensgeister bewegt werden können« (PA, S. 30). Charakteristisch für diese Bewegungen ist der Umstand, daß sie wie von selbst erfolgen, »ohne daß unser Wille etwas dazu beitragen würde« (PA, S. 30). Bestimmt werden Bewegungen dieser Art ausschließlich »von der Zuordnung unserer Glieder und dem Fluß der Lebensgeister, die durch die Hitze des Herzens in Gang gesetzt werden und dann ihren natürlichen Weg durch Gehirn, Nerven und Muskeln nehmen, ganz so, wie dies bei der Bewegung einer Uhr der Fall ist, die allein durch die Kraft ihrer Antriebsfeder und den Aufbau ihres Räderwerks erzeugt wird.« (PA, S. 31 f.)

Wie man sieht, nimmt Descartes das Bild von der Körpermaschine ganz wörtlich und sieht jeden Organismus als Maschine an, die von einem Motor angetrieben wird, der seine kinetische Energie entweder über Hebelwirkungen oder über die Hydraulik der Lebensgeister weitergibt und in Bewegung umsetzt. Descartes hätte diesen mechanistischen Blick auf Organismen sicher noch konsequenter umgesetzt, wenn es zu seiner Zeit schon Maschinen gegeben hätte, die nicht nur einen echten Motor besitzen, sondern sich durch irgendwelche Regelkreise auch noch selbst steuern können. Daß man ihm mit dieser Vermutung nichts ungerechtfertigt unterstellt, wird sich darin zeigen, daß man seiner Art zu argumentieren um so enger folgen kann, je konsequenter man selbst bei der Analyse und Interpretation seiner Ausführungen die Maschinen-Metaphorik verwendet. 765 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

René Descartes

Der Motor jeder Körpermaschine aber ist das Herz. Als Descartes seine physiologische Abhandlung De l’homme 1632 schrieb, war kurz vorher William Harveys Traktat über den Blutkreislauf erschienen, dessen zentrale These Descartes sofort übernahm, wenn auch leicht verändert, da er die traditionelle Lehre vom Herzen als dem Glutkern des Organismus weiterhin aufrechterhalten wollte, die es bei Harvey nicht mehr gibt. Descartes sieht deshalb das Herz nicht direkt als Pumpe, wie man das heute tut, auch wenn das Herz letztlich den Effekt einer Pumpe hat, sondern, modern gesprochen, als eine Art von Explosions- oder Einspritz-Motor, der mit Blut betrieben wird, wenn er schreibt: »Man muß wissen, daß das Fleisch des Herzens in seinen Poren eines dieser nicht leuchtenden Feuer enthält; (…) dieses Feuer macht das Herz so warm und so erhitzend, daß das Blut, welches in eine der beiden in ihm vorhandenen Herzkammern oder Höhlungen eindringt, dort sofort anschwillt und sich ausdehnt, ebenso wie wenn man das Blut oder die Milch irgendeines Lebewesens (…) Tropfen für Tropfen in einen sehr heißen Behälter gießt. Und das Feuer, das sich im Herzen der Maschine befindet, die ich beschreibe, dient zu keinem anderen Zweck, als das Blut auszudehnen, zu erhitzen und zu verfeinern, während es tropfenweise kontinuierlich über das Rohr der Vena cava in die rechte Herzkammer fällt, von wo aus es wie Dampf (d. h. als Lebensgeister-Destillat) in die Lunge stößt. Über das Lungengefäß, das die Anatomen Arteria venosa genannt haben, dringt es dann in die andere Herzkammer ein, und von dort verteilt es sich über den gesamten Körper.« (H, S. 47 f.)

Der Pulsschlag entsteht also laut Descartes nicht durch die aktive Zusammenziehung und Ausweitung der Herzpumpe, sondern durch die Explosion des tropfenweise ins Herz eingestoßenen Blutes, und diese Folge von Blutstropfen-Explosionen setzt sich dann im System der Adern als Welle fort. Nicht das Herz bewegt also das Blut, sondern das Herz selbst wird durch diese Folge von Explosionen bewegt, die in ihm stattfinden, denn für Descartes sind alle körperlichen Bewegungen Bewegungs-Widerfahrnisse, weil sich allein die Lebensgeister bewegen und durch ihre hydraulischen Effekte alles andere im und am Körper in Bewegung versetzen. Und so wie das Blut Tropfen für Tropfen explodieren kann, so können auch 766 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als Reflex?

die Lebensgeister unter bestimmten Umständen gewissermaßen schlagende Wetter im Nervensystem auslösen, die sich dann als plötzliche Bewegungen des ganzen Körpers manifestieren. Mit diesem Explosions-Modell hatte sich Descartes ein Argumentationsschema für alle Arten von Bewegung im und am Organismus geschaffen, die schlagartig und ohne Zutun des Willens von selbst ablaufen und allein physikalischen, chemischen und mechanischen Gesetzen folgen. Obwohl Descartes das Wort »Reflex« nicht verwendet, gilt er doch bis heute als der »Vater des Reflexbegriffs« 26, und wohl auch mit Recht. Wer also heute noch in den Spuren Descartes’ denkt 27, tendiert dazu, genau wie er jede plötzliche Bewegung, die sich am Körper wie von selbst und ohne Zutun des Willens vollzieht, als Reflex zu deuten, und damit als zwingende Folge bestimmter plötzlicher Reaktionen auf bestimmte Reize nach Maßgabe eines im Zentralennervensystem (ZNS) verankerten »Reflexbogens«. 2.10.5 Lachen als Reflex? Nun haben wie ja immer wieder festgestellt, daß auch bestimmte Formen des Lachens sich als unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollziehen und das Lachen dabei geradezu explosionsartig aus uns herausplatzt. Deshalb liegt es auch nahe, zumindest bei diesen Formen von Gelächter die Frage zu stellen, ob man sie nicht auch als Reflexe verstehen könnte, um auf diesem Weg Descartes’ mechanistische Physiologie nachträglich doch noch zu rechtfertigen und für die Gelotologie nutzbar zu machen. Arthur Koestler hat dies tatsächlich versucht und erklärt denn auch in seinem Buch Der göttliche Funke kurz und bündig: »Lachen ist ein Reflex.« 28 Denn, so führt er den Gedanken weiter, niemand werde doch bestreiten wollen, »daß wir das Verhalten eines Organismus um so eher als Reflex bezeichnen dürfen, je mehr es dem Funktionieren eines mechanischen Automaten ähnelt, das heißt, je unmittelbarer, voraussagbarer und stereotyper es ist. Man kann auch Synonyme wie automatisch, unwillkürlich und andere verwenden.« (S. 19)

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René Descartes

Dann verweist er auf die klassischen Versuche des französischen Physiologen Guillaume Benjamin Duchenne (1806–1875) 29, dem wohl prominentesten cartesianischen Physiologen des 19. Jahrhunderts, der durch die Erzeugung des sog. »Duchenne-Lächelns« berühmt geworden ist, und beschreibt dann dessen Versuche: »Reizt man den Zygomaticus major, den Haupthebemuskel der Oberlippe (der bei Duchenne als ›Muskel der Freude‹ bezeichnet wird), so ändert sich der Gesichtsausdruck vom Lächeln über breites Grinsen bis zu den für lautes Lachen typischen Gesichtsverzerrungen. (…) Diese Abstufungen in der Intensität veranschaulichen nicht nur den Reflexcharakter des Lachens, sondern bieten gleichzeitig eine Erklärung für die Vielfalt seiner Formen – vom rabelaisischen Gelächter über einen gepfefferten Witz bis zum leichten Lächeln aus Höflichkeit.« (S. 20)

In diesen paar Sätzen wird das ganze Dilemma von Duchennes Versuchen und Koestlers Argumentation schon deutlich, denn Duchenne konnte seinen Versuchspersonen durch Stromstöße unterschiedlicher Stärke zwar die Mimik entlocken, die mit verschiedenen Lacharten verbunden ist, aber eben einzig und allein die Mimik, denn wenn die Stromstöße so stark waren, daß sich die mit schallendem Gelächter verbundene Mimik zeigte, »lachten« seine Versuchspersonen so lautlos wie Gestalten im Stummfilm. Und nach all den anderen Überformungen von Gestus, Vultus, Habitus und Atmung, die sich bei den verschiedenen Ausprägungen von Lachen zeigen, fragte Duchenne sowieso nicht. Für ihn lachte nur der Mund, genauer: Für ihn lachte nur der große Mundhebemuskel und dieser lacht nur aus Freude, weshalb er für Duchenne auch der »Muskel der Freude« ist. Daß man auch aus ganz anderen Gründen lachen kann, schert Duchenne nicht, und daß es nicht nur Bekundungs-Lachen, sondern auch Interaktions-Lachen gibt, schert ihn erst recht nicht, und mit welchen Muskeln man das »vielsagende Lächeln« lacht, fragte er nicht mal. Daneben gab es für Duchenne aber auch noch eine ganze Palette von Muskeln, die für verschiedene Affekte zuständig sind, z. B. den »Muskel der Aufmerksamkeit«, den »Muskel des Nachdenkens«, den »Muskel des Wohlwollens«, den »Muskel des Weinens«, den »Muskel der Lüsternheit und Schlüpfrigkeit« 30. Man muß nicht 768 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als Reflex?

weiter zitieren, um deutlich zu machen, was für ein Exzeß an Reduktionismus sich hier austobt. Da zitiere ich schon lieber aus den Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände von Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831), der dort 1804 schreibt: »Die Physiologen, Psychologen, Anthropologen und Anatomiker entziffern, beschreiben, erklären, zerschneiden den Menschen, um uns zu sagen, was der Mensch ist, woraus er besteht. Nur das können sie uns nicht sagen, was ihn zusammenbindet, was ihn zum Menschen macht. So sucht der Wilde die Musik des Europäers in der Laute, indem er sie zerschneidet.« 31

Eine zweite Grundlage für Duchennes Argumentation stammt von Herbert Spencer, einem anderen höchst einflußreichen Cartesianer des 19. Jahrhundert, der die Existenz einer »Nerven-Energie« 32 postuliert hatte, die genauso dem Energie-Erhaltungssatz unterliegt wie dies beim Energie-Begriff der Physiker der Fall ist, woraus sich das Prinzip ergibt: Je mehr elektrische Energie einem Organismus zugeführt wird, desto mehr nervöse Energie wird freigesetzt, die wiederum als kinetische Energie ausagiert und damit »abgeführt« werden kann. Oder anders formuliert: Je stärker der Reiz, desto ausgeprägter der Reflex. Auf der Grundlage dieses Konzepts hat Spencer sogar eine Theorie des Lachens entworfen, von der sich neben Darwin auch noch Freud und Lorenz haben beeinflussen lassen und die letztlich auch Koestlers Überlegungen zugrunde liegt. Aber so ganz sicher ist sich Koestler bei seiner These, Lachen sei ein Reflex, doch nicht, denn er fährt fort: »Motorische Reflexe, in Lehrbüchern allgemein am Beispiel des Kniesehnenreflexes oder der Verengerung der Pupille erläutert, sind relativ einfache, direkte Reaktionen auf ebenso einfache Reize, die unter normalen Bedingungen selbsttätig ablaufen, ohne auf das Einschalten des Bewußtseins angewiesen zu sein. Sie ermöglichen es dem Organismus, Störungen häufig vorkommender Art mit normierten Reaktionen zu begegnen, und stellen so außerordentlich praktische Einrichtungen im Dienste der Erhaltung des Lebens dar. Doch was hat die unwillkürliche und gleichzeitige Kontraktion von fünfzehn Gesichtsmuskeln, verbunden mit bestimmten, oft unterbrochenen Geräuschen, mit der Erhaltung des Lebens zu tun? Lachen ist ein Reflex, der aber insofern

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René Descartes

einzigartig ist, als er keinen biologischen Zweck erfüllt. Man könnte das Lachen deshalb einen Luxusreflex nennen.« (S. 21)

Aber was ist ein Luxusreflex, den man eigentlich gar nicht bräuchte, den man sich aber leistet, im Gegensatz zu einem bedürftigkeits-relevanten Reflex, den man zum Überleben braucht? Um diese Frage zu beantworten, argumentiert Koestler nun ganz im Sinne Darwins und Spencers und deutet das Lachen als »Übersprungbewegung«, ohne diesen Terminus Tinbergens jedoch zu benutzen, also als Abfuhr von nervöser Energie im Sinne Spencers, die in der spezifischen Situation nicht gebraucht wird: »Lachen befreit – es löst die Spannung. (…) Lachen verhindert die Befriedigung biologischer Triebe. (…) Die Spannung erreicht nicht ihr Ziel, sondern löst sich in einem anscheinend zwecklosen Reflex auf: in Grimassen, übertriebenen Atembewegungen und ziellosen Gesten. Anders gesagt, die einzige Funktion dieses Luxusreflexes scheint die Beseitigung von Erregungen zu sein, die überflüssig geworden sind und sich nicht in zweckmäßiger Form entladen können.« (S. 43)

Diese Möglichkeit ist laut Koestler aber erst auf einem gewissen Stand der Evolution möglich, auf dem der »homo ridens, die lachende Bestie« (S. 57) auf den Plan tritt, die schon eine »relative Existenzsicherheit« (S. 57) genießt, deshalb nach »neuen Ventilen für überschüssige Energien« (S. 57) verlangt, weil sie durch ihre Denkfähigkeit schon einen »gewissen Grad an Autonomie« (S. 57) gegenüber ihren blinden Affekten verfügt. Mit einem Wort: Die lachende Bestie kann sich den Luxus leisten, nicht mehr zubeißen zu müssen, weil sie sich mit Grinsen begnügen kann. Wie man sieht, bringt Koestler hier einiges durcheinander: Zunächst einmal sind Koestlers »Luxusreflexe« in keiner Weise an Denkfähigkeit gebunden, weil Übersprungbewegungen durch Instinkte gesteuerte Verhaltens-Programme sind, die bei allen Wirbeltieren vorkommen und laut Nikolas Tinbergen und Konrad Lorenz so entstehen, daß das Tier in bestimmten Situationen von einem Instinkt-Programm unvermittelt auf ein anderes überspringt. Dazu Konrad Lorenz: »Bei höheren Graden allgemeiner Erregung kommt es vor, daß Instinktbewegungen die ihrem eigentlichen arterhaltenden Sinne nach gar nicht zu der betreffenden biologischen Situation gehören, sozusa-

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Lachen als Reflex?

gen ›irrtümlich‹ ausgelöst werden. Besonders scheint dies dann stattzufinden, wenn die normale, der Situation adäquate Bewegung aus irgendwelchen Gründen am Ablauf verhindert wird. Dann ›springt‹ die spezifische Erregung sozusagen in eine andere Bahn ›über‹, und es erfolgt eine ebenso unerwartete wie unpassende Bewegungsweise. Auch der Mensch zeigt viele Beispiele für diesen Vorgang. Am bekanntesten ist das Kopfkratzen bei Verlegenheit.« 33

Außerdem würde kein zeitgenössischer Ethologe Übersprungbewegungen als »Reflexe« oder auch als »Kettenreflexe« bezeichnen, weil Instinkthandlungen34 gleichsam aus ganzen »Sätzen« bestehen, Reflexe hingegen nur aus einzelnen Lauten und somit bedeutungsleer sind. Sodann interpretiert Koestler Reflexe ausschließlich darwinistisch und kommt dadurch zu ganz absurden Behauptungen, denn es kann gar keine Rede davon sein, daß Reflexe generell eine lebenserhaltende Funktion haben. Das ist vielleicht bei einigen der Fall – man denke an den Würge-Reflex oder sonstige Abwehr-Reflexe –, aber viele haben ganz offensichtlich keinen erkennbaren biologischen Zweck; denn worin sollte der beim Patellasehnen-Reflex auch bestehen oder in den Muskelzuckungen geköpfter Frösche, wenn man sie mit Stromstößen traktiert? Vor allem aber wirft Koestler Reflexe und Automatismen in einen Topf, weshalb es sinnvoll ist, den Unterschied zwischen beiden Phänomenen deutlich zu machen. Ich folge hier Erwin Straus, der in seiner großen Studie Vom Sinn der Sinne 35 eine ganze Reihe von Kriterien zusammengestellt hat, anhand derer man diese Unterscheidung vornehmen kann. Demnach zeichnen sich Reflexe dadurch aus, • daß sie »von selbst« ablaufen, also nicht erlernt und eingeübt werden müssen; • daß sie absolut unverfügbar und deshalb auch weder modifizierbar noch steuerbar sind; • daß sie »blind« ablaufen, also absolut stereotyp und situationsunspezifisch, ohne der jeweils aktuellen Situation Rechnung zu tragen; • daß sie gegenüber dem jeweils auslösenden Reiz physiognomisch neutral sind, den sie auslösenden Reiz also nicht »denotieren«. 771 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

René Descartes

Im Gegensatz dazu zeichnen sich Automatismen dadurch aus, • daß sie, »ohne durch vorausgehende Erfahrung bestimmt zu sein, gleichwohl der Situation angepaßt sind« 36; • daß sie bedingt verfügbar und individuell steuerbar sind; • daß sie bei gleichem Reiz von höchst unterschiedlicher Intensität sein können; • daß sie in der Beantwortung des jeweils auslösenden Reizes diesen zugleich »denotieren«. Das einzige Kriterium, das Reflexe und Automatismen gemeinsam haben, ist der Umstand, daß sie nicht erlernt werden müssen und deshalb »von selbst« ablaufen, wenn sie mal »in Fahrt« gekommen sind, daß sie also auch mehr oder weniger beiläufig ablaufen können, ohne daß sie uns auch nur ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit abverlangen müßten, und hier liegt der Grund dafür, daß Reflexe, Automatismen und Instinkte so gern in einen Topf geworfen werden. Aus all dem müßte klar geworden sind, daß Lachen kein Reflex-Verhalten sein kann, sondern entweder ein Instinkt-Verhalten ist oder ein endogener Automatismus, also ein vorgeprägtes und vorgegebenes Verhaltens-Programm, das wie eine vorgegebene Rolle je nach Situation mal so und mal so und dann wieder etwas anders ausagiert werden kann, wenn jemand als jemand in einer bestimmten Art und Weise lacht. Ob es aber ein Instinkt-Verhalten ist oder ein endogener Automatismus, können wir hier noch offenlassen und damit auch die Frage, ob es biologisch oder kulturell vorgegeben und vorgeprägt ist, denn auf diese Frage werden wir im Kapitel über Darwins Beitrag zur Gelotologie ausführlich einzugehen haben. Ein Reflex aber kann Lachen schon deshalb nicht sein, weil es z. B. beim Interaktions-Lachen eine ganze Palette von Lacharten gibt, die völlig verfügbar sind und jederzeit abgerufen werden können. Auch die Formen des Bekundungs-Lachens, die explosionsartig aus uns herausplatzen, und die man noch am ehesten als Reflexverhalten deuten könnte, sind es schon deshalb nicht, weil nicht jeder in derselben Situation über dasselbe in der gleichen Weise lacht. Wenn er denn überhaupt lacht! Selbst das Kitzel-Lachen, das von Aristoteles bis zu Koestler 772 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Explosion der Lebensgeister

immer wieder als Lach-Reflex37 gedeutet worden ist, kann kein Reflex sein, natürlich auch kein Luxusreflex, weil ein Reflex hinsichtlich seines Auslösers eben »blind« abläuft. Ob der Zahnarzt mein Zäpfchen berührt oder ich selbst, macht keinen Unterschied: der Würge-Reflex wird stereotyp ausgelöst; aber ob man sich selbst kitzelt oder von anderen gekitzelt wird, macht bekanntlich sehr wohl einen Unterschied, und schon deshalb kann das Kitzel-Lachen kein Reflex sein. Für Descartes aber wäre es so, und es wäre im Rahmen seines Denkens auch notwendigerweise so, denn wenn es für Descartes keine Selbstbewegung des Organismus mehr gibt, sondern nur noch die Bewegung der Lebensgeister, müssen prinzipiell alle Bewegungen im und am Körper als Reflexe gelten, d. h. als »mechanisch vorgeprägte Bewegungsprogramme; (…) verschieden sind nur mehr die Auslöser – äußere und innere Reize, oder aber Willensakte.« 38 Und das gilt dann auch für das Lachen. Kehren wir also nunmehr, methodologisch etwas besser gerüstet, wieder zu Descartes zurück und prüfen, was er uns in seiner Affektenlehre über das Lachen zu sagen hat. 2.10.6 Die Explosion der Lebensgeister Wir haben gesehen, wie Descartes das Herz als Explosionsmotor beschrieben hat, der die Hydraulik der Körpermaschine durch eine ununterbrochene Folge von Explosionen mit Lebensgeistern versorgt. Dieser Befund bot sich ihm auch an, um ein sehr auffallendes Merkmal der spektakulärsten Form von Gelächter auf den Begriff zu bringen: das Phänomen der explosionsartig gestotterten Ausatmung. Die Explosion der Blutstropfen findet laut Descartes in der rechten Herzkammer statt, von wo aus die durch die Explosionen freigesetzten Lebensgeister wie ein Staccato schlagender Wetter in die Lunge platzen, und hier entsteht dann das Lachen. Dazu schreibt er in Artikel 124 seiner Affektenlehre: »Das Lachen besteht darin, daß das Blut, das von der rechten Herzkammer über die arterielle Vene kommt, die Lunge schlagartig und in

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René Descartes

wiederholter Folge aufbläht und dabei bewirkt, daß die darin enthaltene Luft gezwungen wird, schlagartig durch den Kehlkopf zu entweichen, wobei dieser unartikulierte Laute erzeugt. Und die Lunge bläht sich dabei derart auf, daß sie, wenn diese Luft entweicht, gegen alle Muskeln des Zwerchfells, der Brust und der Kehle stößt. Dadurch werden auch die Muskeln im Gesicht in Bewegung versetzt, da sie mit all den anderen irgendwie verbunden sind. Und genau dieses Geschehen im Gesicht, im Verbund mit den unartikulierten und knallenden Lauten nennt man Lachen.« (PA, S. 186)

Und an anderer Stelle schreibt er: »Also verursacht ganz allgemein alles, was die Lunge so plötzlich aufbläht, das äußerliche Geschehen des Lachens, es sei denn, daß die Traurigkeit darin es in Seufzen und Klagerufe verwandelt, die sich den Tränen beigesellen.« (PA, S. 192)

Aber worin besteht nun der erste Anstoß für diese Folge von Reaktionen, an deren Ende das Lachen steht? Dazu äußert sich Descartes nur sehr unbestimmt, da es ihn im Grunde nicht interessiert, weil sein Interesse in erster Linie dem physiologischen Aspekt des Lachens gilt. Aus dem Kontext seiner Ausführungen geht aber hervor, daß er diesen ersten Anstoß in bestimmten »Eindrücken« sieht, insbesondere in solchen, die uns stutzen und staunen lassen, sodaß diese Implosions-Eindrücke in die Zirbeldrüse in Form »plötzlicher Überraschung« (subite surprise) (PA, S. 108) von dort zurückprallen und eine Explosion der Lebensgeister auslösen, genauso wie die Explosionen der Blutstropfen im Herzen. Der Effekt dabei ist letztlich der gleiche: die Lunge wird plötzlich aufgebläht und bewirkt die explosiv gestotterte Ausatmung. Der zentrale Impuls, der Lachen auslöst, ist für Descartes also das Stutzen aus Verwunderung (admiration) 39, das für ihn zugleich auch der wichtigste Affekt überhaupt ist. Hier knüpft Descartes an Aristoteles an, der schon in den ersten Sätzen seiner Metaphysik das Stutzen-und-Staunen (thaumazein) als den grundlegenden Impuls bestimmt hat, der uns dazu bringt, über uns selbst und über Gott und die Welt nachzudenken und deshalb Philosophie und Wissenschaften aller Art zu betreiben. Descartes beschreibt dieses Stutzen-und-Staunen sehr schön als intentionales stop-and-go-Szenario der Lebensgeister: 774 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Explosion der Lebensgeister

»Das Stutzen aus Verwunderung ist ein plötzliches Überraschtsein der Seele, das sie dazu bringt, die Objekte, die ihr als selten und unvertraut vorkommen, aufmerksam ins Auge zu fassen. Zunächst wird es verursacht durch den Eindruck, den man im Gehirn von einem Objekt bekommt, der dieses Objekt als selten erscheinen läßt und deshalb auch als eines, das unsere Aufmerksamkeit verdient. Sodann wird es bewirkt durch die Bewegung der Lebensgeister, die durch diesen Eindruck dazu veranlaßt werden, mit aller Macht zu dem Ort im Gehirn hinzustreben, wo dieser Eindruck sich eingedrückt hatte, um ihn dort zu verstärken und festzuhalten, genau so wie die Lebensgeister durch diesen Eindruck auch dazu veranlaßt werden, vom Ort des Eindrucks aus in die Muskeln zu strömen, die dazu dienen, die Sinnesorgane genau in der Stellung festzuhalten, in der sie sind, damit sie dieses Stutzen aus Verwunderung, so wie sie es erwirkt haben, auch weiterhin aufrechterhalten können.« (PA, S. 108 f.)

Für Descartes ist Lachen immer mit Freude verbunden, allerdings sind das, wie er ausdrücklich betont, nie die größten und reinsten Freuden, weil dem Lachen immer ein gewisses Maß an Haß und Verwunderung beigemischt ist: »Obwohl es so ausschaut, als sei das Lachen eines der hauptsächlichsten Anzeichen von Freude, kann diese jedoch nur Ursache des Lachens sein, wenn sie gemäßigt (mediocre) ist und wenn ihr ein gewisses Maß an Verwunderung (admiration) oder auch ein gewisses Maß an Haß (haine) beigemischt ist. Man weiß ja aus Erfahrung, daß, wenn man besonders fröhlich gestimmt ist, der Grund für diese Fröhlichkeit allein uns nie dazu bringt, mit dem Lachen herauszuplatzen. (…) Der Grund hierfür liegt darin, daß bei den großen Freuden die Lunge schon so mit Blut angefüllt ist, daß sie nicht noch weiter aufgebläht werden kann.« (PA, S. 188)

Diese Idee, Lachen auf eine Kombination von Verwunderung und Freude zu gründen, konnte Descartes von Girolamo Fracastoro übernehmen, dessen atomistischer Philosophie er ja sowieso viel abgewinnen konnte, und deshalb nennt er in Artikel 126 gleich zwei Gründe, die zur plötzlichen Aufblähung der Lunge und damit zum Loslachen führen können: »Der erste Grund ist das Überraschende der Verwunderung (la surprise de l’Admiration), die, im Verbund mit Freude (joye), die Herzklappen

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plötzlich aufreißen kann, sodaß ein großer Schwall Blut aus der rechten Seite des Herzens durch die Hauptvene schießt, sich schlagartig verdünnt, von da aus in die arterielle Vene schießt und die Lunge aufbläht.« (PA, S. 188)

Den anderen Grund für die Explosion einer größeren Menge Blut sieht Descartes in einer Impfung des Blutes durch einen plötzlichen Ausstoß von besonders flüssigem Saft aus der Milz, der auch die nötige Portion Haß40 mit sich führt. Das ist nun allerdings ein einigermaßen überraschendes Argument, denn der Saft der Milz, also die schwarze Galle, galt in der Tradition der Humoralpathologie immer als »trocken« und »kalt« und hatte eindeutig einen »verkochenden« und verdickenden und keinesfalls einen verdünnenden und explosiven Effekt. Damit hatte Descartes das Lachen, genauer: das explosionsartig herausplatzende Lachen gleich auf zwei Reflexe zurückgeführt: Einmal auf einen Reflex der Zirbeldrüse und damit auf einen Reflex der Seele selbst, zum andern auf einen Reflex chemischphysiologischer Art, die aber beide zu plötzlichen und explosionsartigen Aufwallungen des Blutes, der Lebensgeister und der Luft in der Lunge führen und als lautes Gelächter sich objektivieren. Und da er dieses Lachen als mechanischen Reflex versteht, betont er auch immer wieder, daß dieses Lachen genauso unverfügbar ist, wie Reflexe eben zu sein haben. Dies gilt insbesondere vom Kitzel-Lachen: »So können sich die meisten Leute des Lachens nicht enthalten, wenn sie gekitzelt werden, auch dann, wenn sie dies überhaupt nicht mögen. Denn der Eindruck der Freude und Überraschung, der sie aus eben diesen Gründen auch sonst zum Lachen bringt, führt dazu, daß er, wenn er sich in ihrer Vorstellung festsetzt, plötzlich und gegen ihren Willen die Lunge aufbläht durch all das Blut, das vom Herzen her in sie gepreßt wird.« (PA, S. 320)

2.10.7 Bilanz und Ausblick Wie man sieht, ist es tatsächlich nicht sehr viel, was Descartes uns an Neuem über das Lachen zu sagen weiß, und dieses Wenige erscheint noch dürftiger, wenn wir es mit den Ergebnissen von Lau776 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz und Ausblick

rent Joubert vergleichen, den Descartes natürlich mit keinem Wort erwähnt. Ob er ihn tatsächlich nicht gekannt hat oder ob er ihn gezielt ignoriert, ist nicht definitiv zu entscheiden. Es gibt allerdings eine Passage in der Affektenlehre, die man mit einigem Recht als Abrechnung mit Joubert lesen kann, der, wie wir gesehen haben, alle Affekte im Herzen lokalisiert und das Herz außerdem zu einem Organ der Wahrnehmung für affektiv relevante Anmutungen und Situationen erhoben hatte, denn Descartes schreibt in Artikel 33 seiner Affektenlehre: »Was nun die Meinung derjenigen angeht, die behaupten, die Seele empfange ihre Widerfahrnisse im Herzen, so ist diese Meinung keinerlei Beachtung wert (aucunement considerable), denn sie gründet sich allein auf die Annahme, daß die affektiven Anmutungen (passions) dort irgendeine Veränderung bewirken. Es ist aber leicht festzustellen, daß eine solche Veränderung nur gleichsam im Herzen gefühlt wird (n’est sentie comme dans le coeur), in Wirklichkeit aber vermittelt und verspürt wird durch einen kleinen Nervenstrang, der vom Hirn zum Herzen hinunter führt, ganz so wie der Schmerz, der auch so gefühlt wird, als ob er im Fuß sitze, in Wirklichkeit aber nur mittels eines Nervs im Fuß gefühlt wird, und außerdem ganz so, wie man die Sterne so sieht, als ob sie am Himmel stünden, die man aber auch nur mittels der Sehnerven sieht, weil man das Licht sieht, das sie aussenden. Aus diesem Grund ist es auch nicht nötig, daß unsere Seele ihre Funktionen unmittelbar im Herzen ausübt, um dort die affektiven Anmutungen zu empfinden, genau so wenig wie sie im Himmel sein müßte, um dort die Sterne zu sehen.« (PA, S. 54 f.)

Mit einem Wort: Gefühlt und wahrgenommen wird laut Descartes ausschließlich im Gehirn, genauer: in der Zirbeldrüse als dem Gehirn im Gehirn. Augustinus hätte gesagt: In der Seele, denn laut Augustinus ist, wie er in seinem Gottesstaat im Kapitel über die Ewigkeit der Höllenstrafen schreibt, hienieden im Leben allein die Seele schmerzempfindlich, der Leib jedoch nicht. In der Hölle ist es dann etwas anders, damit dort der ganze Mensch mit allem, was er ist und hat, gequält werden kann, und deshalb führt er aus: »Was aber jetzt, wie wir wissen, für die Seelen aller zutrifft, wird dereinst auch für die Leiber der Verdammten gelten. Sehen wir genauer zu, so ist auch der sogenannte leibliche Schmerz mehr Sache der Seele.

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René Descartes

Denn die Seele ist es, die Schmerz empfindet, nicht der Leib, auch wenn die Ursache des Schmerzes körperlich ist, da sie an der Stelle Schmerz empfindet, wo der Körper verletzt wird. Wie wir also von fühlenden und lebenden Leibern sprechen, obwohl der Leib Gefühl und Leben nur durch die Seele hat, so reden wir auch von schmerzempfindenden Leibern, obwohl der Schmerz des Leibes seelischer Art ist. Es leidet also die Seele mit dem Leibe an der Stelle des Leibes, wo ihn etwas Schmerzerregendes trifft; sie leidet ferner allein, auch wenn sie noch im Körper weilt, wenn sie bei unversehrtem Leibe, aus irgendeinen, vielleicht nicht wahrnehmbaren Grunde trauert; sie kann endlich auch dann leiden, wenn sie sich außerhalb des Leibes befindet. (…) Ein entseelter Körper aber leidet nicht, und ist er beseelt, leidet er nicht ohne Seele.« (S. 677 f.)

Mit dieser dualistischen Argumentation aus der Tradition des Augustinus verweist Descartes all die Funktionen, die Joubert dem Herzen zugesprochen hatte, bestenfalls in den Bereich metaphorischer Rede, die das Herz nur noch als Projektionsfläche 41 verwendet, falls er dem Traktat Jouberts über das Lachen überhaupt einen Hauch von Relevanz hätte zusprechen wollen. Dies scheint mir aber äußerst unwahrscheinlich. Die entschiedenste Polemik gegen diese augustinisch-cartesische Lokalisierung des Schmerzes in der Seele stammt von Kant, der in seinem Werk über Swedenborg die Frage nach dem Ort der menschlichen Seele in der Körperwelt aufgreift, diese »Träume der Metaphysik« (I,921) an der unverbildeten Lebenserfahrung und dem eigenleiblichen Spüren mißt und dann, direkt gegen Descartes gerichtet, schreibt: »Wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin eben so unmittelbar in der Fingerspitze wie im Kopfe, ich bin es selbst, der in der Ferse leidet und welchem das Herz im Affekte klopft. Ich fühle den schmerzhaften Eindruck nicht an einer Gehirnnerve, wenn mich mein Leichdorn peinigt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich, einige Teile meiner Empfindung von mir vor (für) entfernt zu halten, mein unteilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirns (also in die Zirbeldrüse) zu versperren, um von da aus den Hebezeug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden.« (I,931)

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Bilanz und Ausblick

Denn: »Die herrschende Meinung: der Seele einen Platz im Gehirne anzuweisen, scheinet hauptsächlich ihren Ursprung darin zu haben, daß man bei starkem Nachsinnen deutlich fühlt, daß die Gehirnnerven angestrengt werden. Allein wenn dieser Schluß richtig wäre, so würde er auch noch andere Örter der Seele beweisen. In der Bangigkeit oder der Freude scheint die Empfindung ihren Sitz im Herzen zu haben. Viele Affekten, ja die mehrsten, äußern ihre Hauptstärke im Zwerchfell. Das Mitleiden bewegt die Eingeweide und andre Instinkte äußern ihren Ursprung und Empfindsamkeit in andern Organen.« (I,932)

Und deshalb kommt Kant in Anlehnung an die »Praxis Stahliana« zu dem Schluß: »Daher würde ich einen strengen Beweis verlangen, um dasjenige ungereimt zu finden, was die Schullehrer sagten: meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Teile.« (I,931 f.)

Die oben zitierte wegwerfende Bemerkung Descartes’ über die Meinung derer, die dem Herzen die Fähigkeit von Empfindung und Wahrnehmung zusprechen, kann man aber auch so verstehen, daß sie gegen William Harvey gerichtet ist, dessen Traktat über den Blutkreislauf er ja nun wirklich gekannt und dessen zentrale These er auch übernommen hat, wenn auch in einer für ihn typischen modifizierten Form. Denn auch für Harvey war das Herz keine eigentliche Pumpe, die den Blutkreislauf in Bewegung hält, sondern eher eine Art von Gezeitenkraftwerk, das in Resonanz mit der Eigenbewegung des Blutes arbeitet und diese Eigenbewegung als »Impulsverstärker« 42 aufnimmt und weitergibt. Anders formuliert: Nicht das Blut tut, was das Herz will, sondern das Herz tut, was das Blut will. Deshalb resultiert die Rhythmik des Herzens für Harvey auch nicht aus äußeren Reizen, durch die es angestoßen werden müßte, sondern folgt einem »ihm inneren, regulierenden Prinzip« 43, und das heißt: Wie für Joubert ist auch für Harvey das Herz immer noch der »Leib im kleinen«, der »Leib im Leib«: »Vor allem aber ist es ein Wahrnehmungsorgan für das eigenständige vitale Bewegungsgefüge: der ›sensus communis‹, der die peripheren sensus aufnimmt und integriert. Auch das Herz ist ein Muskel; es hat die Besonderheit einer ›facultas pulsifica‹ verloren, und seine Bewegung ist

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Reaktion auf Reize – also Folge, nicht Ursache. Doch bleibt das Herz vom Gehirn unabhängig als ein eigenes Wahrnehmungsorgan sowohl für die Blutbewegung als auch für seelische Einflüsse. Es besitzt sensus und motus wie ein eigenes ›inneres Lebewesen‹. (…). Diese Eigenschaften wachsen ihm zu durch seine Entstehung aus dem punctum saliens: Bereits der erste Blutstropfen zeigt Reaktionen, er ›lebt, bewegt sich und empfindet wie ein Lebewesen‹.«44

Wir könnten deshalb auch sagen: Das punctum rubrum saliens, der springende rote Punkt, aus dem laut Aristoteles das Herz und letztlich das ganze Lebewesen entsteht, ist der »Leib im ganz kleinen«, der aber von allem Anfang an schon all die Kompetenzen eines Leibes hat. Im Gegensatz dazu ist für Descartes das Blut nichts als Brennstoff, der Tropfen für Tropfen im Herzen explodiert, und damit die Körpermaschine am Laufen hält, und das Herz ist nichts als der Motor dazu. Diese umfassende Mechanisierung des Herzens, des Blutes und des Organismus als ganzem hat leider Schule gemacht und auch den gelotologischen Diskurs weiterhin entscheidend überformt, weil der Körper-Seele-Dualismus auch noch für die Leibniz-WolffSchule der Aufklärung als verbindlich galt. Allerdings mußte man noch einige zusätzliche Hilfskonstruktionen einbauen, die durch die Fortschritte der medizinischen Forschung nötig geworden waren, sodaß sich die Funktion, die Descartes der Zirbeldrüse als Transitstelle für den kleinen Grenzverkehr zwischen Körper und Seele zugewiesen hatte, nicht mehr halten ließ. Um dieses zentrale Problem zu klären, postulierten Leibniz und Wolff kurzerhand eine »prästabilierte Harmonie« zwischen beiden Substanzen, die die Regungen beider Substanzen strikt synchronisiert, obwohl sie weiterhin als strikt getrennt galten. Eine weitere Ergänzung war die »Influxus-Theorie«45, die die wechselseitige Einwirkung beider Substanzen aufeinander erklären sollte, wobei man allerdings der Seele 46 gern den aktiveren Part zuwies. Und schließlich gab es sogar noch die These, beide Substanzen könnten auch irgendwie »vermischt« 47 sein. Wirklich überwunden wurde das mechanistisch-dualistische Argumentationsmodell jedoch erst durch das Konzept eines lebendig sich selbst steuernden Organismus, das der pietistische Mediziner 780 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz und Ausblick

Georg Ernst Stahl (1659–1734) in Anlehnung an die stoische tonos-Lehre und am aristotelischen Entelechie-Begriff 48 entwarf und das in der Konsequenz auf die »synergetische Einheit von Körper und Seele« 49 hinausläuft. Dieses synergetische Prinzip der »Praxis Stahliana« stellt also gar nicht mehr die Frage nach dem Zusammenwirken der verabsolutierten Substanzen »Körper« und »Seele«, sondern geht vom ganzen Menschen in bestimmten Situationen aus und fragt dann, wie er sich zu dieser Situation verhält mit allem, was er ist, hat, kann und tut. Eine der vielen Möglichkeiten, in dieser Art auf bestimmte Situationen zu reagieren, besteht darin, krank zu werden, weil man eben auch erkrankt mit allem, was man ist, hat, kann und tut. Natürlich bietet es sich an, das synergetische Prinzip Stahls auch für die Analyse bestimmter Lacharten nutzbar zu machen, weil man ja auch mit dem Lachen bestimmte Situationen schafft und auf bestimmte andere antwortet und weil auch das Lachen eine Verhaltensweise des ganzen Menschen ist, mit allem, was er ist, hat, kann und tut. Diesen Blick auf das Lachen hat ja auch Joubert in seinem Traité du Ris kultiviert, geriet aber durch die Übermacht des mechanistisch-dualistischen Denkens in Vergessenheit. Dieses Schicksal widerfuhr, wie wir sehen werden, leider auch der »Praxis Stahliana«, da weder Stahl selbst noch einer seiner Schüler sich daran gemacht hat, eine Gelotologie auf der Basis der Praxis Stahliana zu erstellen, und so beherrschten in der Gelotologie die mechanistisch orientierten Dualisten in der Art von Spencer und Duchenne bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aufs neue das Feld. Ein Verdienst muß man Descartes aber doch zubilligen, und dies besteht darin, daß er, bedingt durch seine Reduktion des Lachens auf Reflexe und durch die Deutung des Herzens als Explosionsmotor, das Moment des Plötzlichen in bestimmten Formen des Lachens so sehr betont hat, daß das Phänomen des Plötzlichen aus der gelotologischen Diskussion nie mehr verschwunden ist. Wir werden sehen, in welcher Weise schon Thomas Hobbes in seinen Überlegungen zur Natur des Lachens diesen Gedanken aufgegriffen und weiter geführt hat.

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Anmerkungen 1

Ich zitiere Descartes nach folgenden Ausgaben: Discours de la méthode: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übersetzt und herausgegeben von Lüder Gäbe, Hamburg 2/1997 (»DM«); Meditationes de prima philosophia: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übersetzt und herausgegeben von Artur Buchenau, Hamburg 1994 (»MPP«); De l’homme (»H«) und La description du corps humain (»DCH«) nach der Ausgabe: Über den Menschen (1632) sowie: Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten französischen Ausgabe von 1664 übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Karl E. Rothschuh, Heidelberg 1969; Les passions de l’Ame: Die Leidenschaften der Seele, herausgegeben und übersetzt von Klaus Hammacher, Hamburg 1984 (»PA«). Hier zitiere ich allerdings immer in eigener Übersetzung, weil die Übersetzung von Hammacher viel zu oft irreführend ist, und orientiere mich an Wielands und Kants Unterscheidung zwischen Affekt und Leidenschaft. Wieland unterscheidet z. B. in seinen »Vermischten Schriften« von 1775 zwischen Enthusiasmus und Schwärmerei i. S. v. Fanatismus und nennt dort Enthusiasmus einen Affekt, Schwärmerei aber eine Leidenschaft. (Wieland, 33,137) Ganz analog argumentiert Kant in der »Kritik der Urteilskraft« (Kant V,362), demzufolge Affekte und Leidenschaften unverfügbare Widerfahrnisse sind, wobei Affekte momentane und mehr oder weniger stürmische Gefühle sind, Leidenschaften aber perennierende Suchten. Musterbeispiel eines Affekts wäre der Zorn, der uns überkommt, aber bald wieder verraucht; Musterbeispiel einer Leidenschaft Haß oder Neid, die unstillbar sind. Für Hammacher sind »Leidenschaft« und »Affekt« Synonyma (vgl. S. LXVIII u. LXX, sowie S. 327 u. S. 335), wobei er das Wort »Affekt« aber so gut wie nie verwendet, sodaß für ihn alle psychischen Widerfahrnisse Leidenschaften sind. Ähnlich wirr ist seine Übersetzung so zentraler Begriffe wie admiration, gloire, bassesse, générosité. 2 Vgl. Rothschuh, S. 11 ff. 3 Zit. nach Liane Ansmann: Die »Maximen« von La Rochefoucauld, München 1972, S. 59 in eigener Übersetzung. Dem Descartes-Kapitel dieser Studie verdanke ich einige Anregungen. 4 Vgl. dazu die sehr kritischen Anmerkungen von Wilhelm Kamlah in seinem Aufsatz: Descartes’ Descartes-Legende, in: Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim/Wien/Zürich 1969, S. 73–88. 5 Rothschuh wählt hier die Formulierung »theoretische Philosophie«; man könnte auch in Anlehnung an Aristoteles übersetzen mit »rein betrachtende Philosophie«. 6 Ansmann, S. 73; vgl. dazu: Ignatius von Loyola: Die Exerzitien, Freiburg 13/ 2005, S. 34, wo in der 80. Exerzitie vor dem Lachen gewarnt wird. 7 Günter Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte moder-

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Anmerkungen

nen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin/New York 1978, S. 30–35, hier S. 33. 8 Vgl. dazu Ansmann, S. 65. 9 Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 13. 10 Vgl. MPP, S. 308 ff. 11 Vgl. MPP, S. 313 ff. und zum ganzen Themenkomplex: Martin Schneider: Das mechanistische Denken in der Kontroverse. Descartes’ Beitrag zum Geist-Maschine-Problem, Stuttgart 1993, S. 238 ff. und S. 269–274. 12 Buchenau und Gäbe übersetzen »sensus communis« sehr mißverständlich mit »Gemeinsinn«; gemeint ist aber das Zentrum der sinnlichen Wahrnehmung; vgl. dazu Rothschuh, S. 109. Die Bedeutung »Gemeinsinn« für »sensus communis« entstammt nicht der physiologischen, sondern der rhetorischen Argumentationstradition, und in dieser Verwendung taucht der Begriff dann z. B. bei Shaftesbury auf. 13 Vgl. Fuchs: Herz, S. 36. 14 Vgl. H, S. 54. 15 Vgl. Rothschuh, S. 54 und S. 108. 16 Vgl. dazu die Abbildung H, S. 111, wo die Stacheln eines Stempels in eine weiche Masse eingedrückt werden und dort ihre »Eindrücke« hinterlassen. 17 Vgl. dazu auch PA, S. 60, wo davon die Rede ist, daß die Lebensgeister auf der Außenwand der Zirbeldrüse einen bildlichen Stempel-Eindruck einprägen und dann wieder zurückprallen (réfléchir) wie ein Stempel vom Stempelkissen. 18 Vgl. H, S. 109. 19 Vgl. dazu Rothschuh, S. 55. 20 Rainer Specht: René Descartes in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1966, S. 128, sowie Spechts Studie: Commercium mentis et corporis. Kausalvorstellungen im Cartesianismus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. Spechts Ausdruck »Geistkorpuskel« ist natürlich ironisch-sarkastisch gemeint. 21 Vgl. PA, S. 32 f. 22 Vgl. dazu auch PA § 18, wo Descartes zwischen Denkakten, die den Körper bewegen und Denkakten, die innerseelischer Art sind, unterscheidet. 23 Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956, S. 279. Dieser klassischen Studie verdanke ich die wichtigsten Anregungen. 24 Vgl. dazu Specht: Commercium,S. 12 ff. 25 Schneider, S. 476. 26 Der Ausdruck stammt von Georges Canguilhem. 27 Vgl. Straus, S. 272–279. 28 Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, Bern/München/Wien 1968, S. 19. 29 Vgl. dazu G. B. Duchenne: Physiologie der Bewegungen nach electrischen Versuchen und klinischen Beobachtungen mit Anwendungen auf das Studium der Lähmungen und Entstellungen, Cassel und Berlin 1885. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von dem berühmten Hirnforscher Carl Wernicke.

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René Descartes 30

Vgl. Duchenne/Wernicke, S. 628. F. M. Klingers sämmtliche Werke in zwölf Bänden, Stuttgart/Tübingen 1842, Bd. 12, S. 21. 32 Vgl. Koestler, S. 47 f. und 94 f. 33 Konrad Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, München 1966, Bd. I S. 20 f. 34 Vgl. dazu Lorenz, Bd. II, S. 283–342, v. a. S. 328 ff. 35 Vgl. Straus, S. 271 f. 36 Straus, S. 272. 37 Vgl. Koestler, S. 75 ff. 38 Fuchs: Herz, S. 142. 39 Ich übersetze »admiration« hier mit »Stutzen aus Verwunderung«, weil Descartes den Ausdruck admiration in verschiedenen Bedeutungen gebraucht, d. h. zum einen im Sinne von Verwunderung, Bewunderung, Aufmerksamkeit und eben auch im Sinn von Stutzen-und-Staunen. Außerdem kann man auch aus Schreck stutzen. In Artikel 73 unterscheidet Descartes von diesem Stutzen aus Verwunderung die Verblüffung (estonnement) als exzessive Form dieses Stutzens aus Verwunderung (exces d’admiration), wobei der ganze Körper »wie zu einer Statue erstarrt« (demeure immobile comme une statuë). Zum Vergleich: Hammacher übersetzt: »So ist das Erstaunen (estonnement) eine Abart (exces) der Verwunderung (admiration).« Na ja. 40 Vgl. PA, S. 190. 41 Vgl. Fuchs, S. 143. 42 Fuchs, S. 62. 43 Fuchs, S. 88. 44 Fuchs, S. 90 f. 45 Vgl. dazu den Aufsatz von Wolfram Mauser: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung, in: Lessing Yearbook XX, 1988, S. 87–120, sowie die beiden medizingeschichtlichen Abhandlungen von Johanna Geyer-Kordesch: Stahl. Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls, Tübingen 2000, und von Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«, Würzburg 1985. Diese drei Abhandlungen sind eine wahre Fundgrube. 46 Vgl. dazu Georg Ernst Stahl: Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper, Halle 1695; Ernst Anton Nicolai: Gedancken von den Würkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper, Halle 1744; Johann August Unzer: Gedanken vom Einfluß der Seele in ihren Körper, Halle 1746; Andreas Roeper: Die Würkung der Seele in den Menschlichen Cörper, Halle 1748. 47 Vgl. dazu Schillers frühe medizinische Abhandlung: Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, die in die These mündet, »daß die thierische Natur mit der geistigen sich durchaus vermischet, und daß diese 31

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Anmerkungen

Vermischung Vollkommenheit ist.« Ich zitiere Schiller nach der Ausgabe: Schillers sämmtliche Werke in zwölf Bänden, Stuttgart und Tübingen 1847, hier 10,37. 48 Vgl. dazu Stahls Abhandlung: Über den Unterschied zwischen Mechanismus und Organismus (1714), in: Georg Ernst Stahl, hg. v. Bernward Josef Gottlieb, Leipzig 1961, S. 48–53. 49 Mauser, S. 91.

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2.11 Thomas Hobbes oder Die Frage nach dem Plötzlichen

2.11.1 Der Zwillingsbruder der Angst Von allen Philosophen, die in der durch Platon begründeten Argumentationstradition über das Lachen nachdachten, steht Thomas Hobbes (1588–1679) Platon wohl am nächsten. Das liegt schon einmal daran, daß auch sein Lebensgefühl durch die Erfahrung von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg von Kindheit an entscheidend geprägt worden ist. So schreibt Hobbes z. B. in seinen in Verse gefaßten autobiographischen Aufzeichnungen, seine Mutter habe ihn 1588 in angstvoller Erwartung der spanischen Armada, die damals vor Englands Küsten lag, vorzeitig zur Welt gebracht, und zwar als »Twins at once, both Me, and Fear« 1 und somit sei die Angst zeit seines Lebens sein dunkler Zwillingsbruder gewesen. Deshalb zieht sich auch durch alle Werke von Thomas Hobbes immer wieder die eine Frage: »Was droht?« Diese bange Frage spielt auch eine wichtige Rolle für seine Suche nach dem Wesen des Lachens, das bei ihm einen sehr dunklen Hintergrund bekommt, wodurch wiederum ganz neue Aspekte des Lachens erschlossen werden und die traditionelle Reduktion des Lachens auf das geloiastische Lachen als Echo des Komischen oder des Lächerlichen durchbrochen wird. Wie Platon hat auch Hobbes einen Staatsentwurf vorgelegt, den Leviathan (1651), der denn auch in vielen Aspekten an Platons Politeia erinnert, weil beide Werke als Reaktion auf die aktuelle Erfahrung von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg geschrieben worden sind und dies in dem Bestreben, ein Staatswesen zu entwerfen, das gegen all derlei immun sein sollte und darüber hinaus auch seine Bürger gegen solche schlimmen Erfahrungen sollte schützen 786 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der Zwillingsbruder der Angst

können. So wie die Politeia also Platons Antwort auf den Peloponnesischen Krieg und auf den athenischen Bürgerkrieg war, so war der Leviathan die Antwort, die Hobbes auf die englische Revolution und die Hinrichtung des Königs Karl I. durch Cromwell und seine Puritaner gab, und deshalb begann er sein Werk unmittelbar nach diesem ersten Regizidium der europäischen Geschichte. Auch im Argumentationsgang weisen beide Werke auffallende Parallelen auf: Beide entwerfen erst einmal ein sehr nüchternes und in keiner Weise schmeichelhaftes Bild vom Wesen des Menschen und stellen dann die Frage, wie man den Menschen, weil er eben so ist, wie er ist, vor sich selbst und vor den anderen schützen könne. Das heißt bei Platon, wie es gelingen könne, die Bestie auf dem Grund der menschlichen Seele durch Besonnenheit in Schach zu halten, und bei Hobbes, wie man es anstellen müsse, daß der Mensch nicht des Menschen Wolf wird, weil diese Situation für Hobbes aufgrund seiner eigenen Erfahrungen »der kriegerische Normalzustand« (L/F, S. XXII) ist, vor dem es den Menschen durch die Errichtung eines Staates und eines staatlichen Gewaltmonopols zu schützen gilt und somit »dem elenden Kriegszustand zu entkommen« (L/F, S. 131). Denn es gehört nun mal, laut Hobbes, zur Natur des Menschen, daß er »Freiheit und Herrschaft über andere« liebt (L/F, S. 131) und deshalb drei entscheidenden Antrieben folgt: »Konkurrenz«, »ständige Abwehrbereitschaft«2 und »Ruhmsucht« (vgl. L/F, S. 95). Von diesem illusionslosen Menschenbild wird dann in analogia hominis ein anthropomorphes Staatswesen abgeleitet, damit beide, der Mensch und der auf ihn zugeschnittene Staat, auch tatsächlich zueinander passen. Bei Platon geschieht dies in der Form, daß aus den drei Teilen der menschlichen Seele drei Klassen mit jeweils speziellen Funktionen abgeleitet werden, bei Hobbes in der Form, daß er aus der strikt materialistisch-mechanistisch verstandenen menschlichen Körper-Maschine die große Staats-Maschine des Leviathan ableitet: »Denn da das Leben nur eine Bewegung der Glieder ist, die innerhalb eines besonders wichtigen Teils beginnt – warum sollten wir dann nicht sagen, alle Automaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen, wie eine Feder, was sind die Nerven, wenn nicht

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Thomas Hobbes

viele Stränge, und was die Gelenke einer Uhr) hätten ein künstliches Leben? Denn was ist das Herz, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Körper so in Bewegung setzen, wie es vom Künstler beabsichtigt wurde? Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste Werk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunst wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt; die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktion und Exekutive künstliche Gelenke; Belohnung und Strafe, die mit dem Sitz der Souveränität verknüpft sind und durch die jedes Gelenk und Glied zur Verrichtung seines Dienstes veranlaßt wird, sind die Nerven, die in dem natürlichen Körper dieselben Aufgaben erfüllen. Wohlstand und Reichtum aller einzelnen Glieder stellen die Stärke dar, (…) Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr Krankheit, und Bürgerkrieg Tod.« (L/F, S. 5)

Anders als der streng hierarchisch denkende Platon geht Hobbes zwar von der postulierten Gleichheit3 aller Menschen aus, schafft sich aber gerade dadurch die Möglichkeit, sich Platons Ableitung des Lachens aus dem phthonos zueigen machen zu können, weil schon das Postulat allgemeiner Gleichheit die Konkurrenzsorge phthonos drastisch erhöhen und die Frage »Wer wen?« erst recht verschärfen muß. Dazu Iring Fetscher in seiner Einleitung zum Leviathan: »Die potentielle Bedrohung durch die Mitmenschen (und Mitbewerber um lebenswichtige Güter) führt zum Streben jedes einzelnen nach Machterweiterung zum Zwecke der Selbstsicherung. Wettkampf war das erste, Furcht vor Übermacht der Mitbewerber wird das zweite und Kampf um Prestige (Anerkennung) der dritte Grund eines immer leidenschaftlicher werdenden Kampfes aller gegen alle. In diesem Zusammenhang schildert Hobbes anschaulich die Mentalität der Angehörigen einer dynamischen Konkurrenzgesellschaft. Jeder strebt nach Vorrang, Überlegenheit, genießt den eigenen Vorteil nur im Hinblick auf den überrundeten Konkurrenten. Lebt aber eine Anzahl von Menschen mit dieser Mentalität ohne zwingende staatliche Gewalt zusam-

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Der Zwillingsbruder der Angst

men, so ist die notwendige Folge ein ›einsames, armseliges, ekelhaftes, tierisches und kurzes‹ Leben.« (L/F, S. XXII)

Es ist deshalb nur konsequent, wenn Hobbes bei einer derart engen Orientierung an Platon auch das Phänomen Lachen ebenso reduktionistisch wie Platon sieht und es auf bestimmte Formen reduziert, auf das Auslachen-von-oben und das erleichterte Auflachen in einer bedrängenden Situation. Daß er aber auch einen neuen und wichtigen Gedanken, den Aspekt der Plötzlichkeit, bei bestimmten Formen des Lachens ins Spiel bringt, indem er eine Passage aus Platons Timaios beim Wort nimmt, werden wir gleich sehen. Thomas Hobbes hat sich in seinem Werk viermal mit dem Lachen beschäftigt: Zuerst in der Abhandlung über den Bürger De cive (1642), etwas ausführlicher in seiner anthropologischen Abhandlung Human Nature or The fundamental Elements of Policy (1650) 4, dann in seinem Hauptwerk Leviathan (1651) und schließlich noch in einer Abhandlung über den Menschen De homine (1658). Eine Entwicklung seiner Gedanken über das Lachen ist in diesen Abhandlungen allerdings nicht zu erkennen, denn alle Texte kreisen um das einzige Thema sudden glory. Der Gedankengang im politisch-anthropologischen Hauptwerk Leviathan ist so angelegt, daß Hobbes zunächst den knappen Abriß einer Anthropologie entwirft, in dessen Verlauf er dann auch auf Verhaltensweisen zu sprechen kommt, die die Beziehungen zwischen den Menschen räumlich-szenisch gestalten, und da gelten ihm zwei als zentral: die Formen des »Annäherns« und die des »Zurückweichens« und die dazu gehörenden Affekte »Begehren« und »Abneigung«, »Liebe« und »Haß« (L/F, S. 40). Genau wie Platon geht er dann über zu den Meta-Gefühlen »Lust« und »Unlust« (L/F, S. 41 f.) als den Gefühlen, die wir zusammen mit bestimmten anderen Gefühlen empfinden: »Jede Neigung, jedes Verlangen und jede Liebe (ist) von größerer oder geringerer Lust begleitet, und jeder Haß und jede Abneigung von größerer oder geringerer Unlust und größerem oder geringerem Verdruß.« (L/F, S. 42)

Dann kommt als weitere Unterscheidung die Frage nach der zeitlichen Struktur bestimmter Affekte, die Frage also, wie sie kommen 789 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und gehen, ob sie aus Hoffnung auf Künftiges oder aus Erinnerung an Vergangenes entstehen, ob wir derlei Empfindungen über längere Zeit haben oder ob sie plötzlich auftreten, und schließlich unterscheidet er noch zwischen gedrückten und gehobenen Stimmungen: »Freude über die Wahrnehmung einer Neuheit ist Verwunderung. Sie ist dem Menschen eigen, denn sie erregt das Verlangen, die Ursache kennenzulernen. Freude, die von der Vorstellung eigener Macht und Fähigkeit herrührt, ist jenes Hochgefühl des Geistes, das man Stolz nennt. Liegt ihm die Erfahrung früherer eigener Taten zugrunde, so ist er dasselbe wie Selbstvertrauen. Gründet er sich dagegen auf die Schmeicheleien anderer oder legt man ihn sich einfach nur bei, weil man seine Folgen schätzt, so nennt man dies Einbildung. (…) Plötzlicher Stolz ist der Affekt 5, der jene Grimassen hervorbringt, die man Lachen nennt. Es wird entweder durch eine plötzliche eigene Tat verursacht, die einem selbst gefällt, oder durch die Wahrnehmung irgendeines Fehlers bei einem anderen, wobei man sich selbst Beifall spendet, indem man sich damit vergleicht. (…). Umgekehrt ist plötzliche Niedergeschlagenheit der Affekt5, der Weinen verursacht und wird durch solche Ereignisse bewirkt, die plötzlich eine brennende Hoffnung oder eine Stütze unserer Macht beseitigen. Und meistens neigen solche Leute dazu, die grundsätzlich auf äußere Hilfe angewiesen sind, wie Frauen und Kinder.« (L/F, S. 44 f.)

Die Analogien zu Platon sind deutlich: Ausgangspunkt ist auch bei Hobbes die Machtfrage »Wer wen?«, die den besorgten Vergleich mit dem anderen, grundsätzlich als Rivalen und Konkurrenten angesehenen Mitmenschen nahelegt und sofort die zweite Frage nach sich zieht: »Was droht mir von ihm? Wird er sich als Wolf entpuppen oder nicht?« Angesichts der wölfischen Natur des Menschen, wie Hobbes sie sieht, ist ein Leben im vor-staatlichen »Zustand der reinen Natur« und der »absoluten Freiheit« nichts anderes als »Anarchie und Kriegszustand« (vgl. L/F, S. 271), und deshalb würde dieser zwangsläufig sich ergebende »Krieg eines jeden gegen jeden« (L/F, S. 96) auch unmittelbar mit Waffen ausgetragen werden. Existiert hingegen ein Staat, wie immer er auch beschaffen sein mag, der das Gewaltmonopol konsequent behauptet und dadurch seine Bürger 790 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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vor einander schützt, so eröffnen sich für jeden Bürger sofort Zonen von Entspanntheit, in denen es nicht mehr »tierisch ernst« zugeht, sondern in denen auch gelacht werden kann. In der Terminologie Platons formuliert hieße das, daß die Existenz eines Staates den durch die Natur des Menschen vorgegebenen zwischenmenschlichen Natur-Zustand phthonos zum Kultur-Zustand paidikos phthonos wandelt, der wiederum Lachen möglich macht. Damit aber ist Lachen, genau wie bei Platon, reduziert auf das erleichtert triumphierende Auslachen-von-oben beim Entkommen aus einer bedrängenden Situation, und alle anderen Formen des Lachens geraten fast völlig aus dem Blick. Diesen Gedanken der Konkurrenzsorge phthonos führt Hobbes in seiner Abhandlung Vom Menschen noch etwas weiter aus, wenn er dort im Rahmen einer Darstellung der affektiven Grundlagen gesellschaftlicher Interaktion ausführt: »Vorwärtskommen ist etwas Angenehmes, weil es ein Näherkommen zu dem Ziele, d. h. zu etwas Angenehmerem, ist. Fremdes Unglück zu sehen, ist etwas Angenehmes; denn es gefällt, nicht sofern es ein Unglück ist, sondern sofern es ein fremdes Unglück ist. Daher kommt es, daß Menschen zusammenlaufen, um sich Tod und Gefahren anderer anzusehen. Ebenso ist es etwas Unangenehmes, fremdes Glück zu sehen, jedoch nicht sofern es Glück ist, sondern sofern es fremdes Glück ist.« (M, S. 26) »Gelobt, geliebt, hochgeschätzt zu werden ist etwas Schönes, denn es sind Zeugnisse für Tüchtigkeit und Macht.« (M, S. 27)

Durch diesen Ansatz bei der Konkurrenzsorge phthonos weist das Denken von Thomas Hobbes aber auch auffallende Analogien zu dem von La Rochefoucauld auf. Was beide verbindet, ist v. a. die enge Orientierung am Menschenbild des Kirchenvaters Augustinus, der den Menschen völlig von der Ursünde der Hoffart (superbia) durchseucht sah und das gesamte menschliche Verhalten aus dieser Ursünde von Hoffart, Eitelkeit und Selbstüberhebung ableitete. Bei La Rochefoucauld taucht die augustinische superbia vermittelt über die jansenistische Sünden- und Gnadenlehre in Gestalt der Eigenliebe (amour propre, amour de soi-même) auf, die das Verhalten des Menschen, vor allem aber das des Höflings am absolutistischen Hof, von Grund auf bestimmt. Laut La Rochefoucauld 791 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schwimmen wir sogar in einem »Meer von Eigenliebe«, wie er am Ende des berühmten Porträts der Eigenliebe in seinen Maximen 6 schreibt. Dieses gewiß nicht sehr schmeichelhafte Menschenbild, das La Rochefoucauld aus der sehr distanzierten Beobachtung des absolutistischen Hoflebens gewonnen hatte, wo aufgrund der strengen Hierarchie jeder Höfling für jeden anderen ein erbitterter Konkurrent um die Gunst des Herrschers ist und dies auch sein muß, findet sich auch in John Miltons (1608–1674) Epos Paradise Lost, das ebenfalls in den fünfziger Jahren entstand und ebenfalls die Wirren von Revolution und Bürgerkrieg verarbeitet, allerdings projiziert in eine hierarchische Welt von Engeln und Teufeln mit einem Gott an der Spitze, in der ebenfalls Aufruhr herrscht, der aber wieder niedergekämpft wird. Satan, der Anführer dieses Aufstandes gegen Gott, entwirft denn auch in seinem berühmten SchurkenMonolog im vierten Buch ein Selbstporträt, das Milton weitgehend von Augustinus übernommen hat, das aber auch von Hobbes stammen könnte, weil es ganz von Stolz, Hoffart, Ehrgeiz und Überheblichkeit geprägt ist, aber auch von Selbsthaß und von wilder Entschlossenheit, nur noch das Böse zu wollen: »So lebe wohl, die Hoffnung, und mit ihr Fahr hin die Furcht und fahre hin die Reue: Denn alles Gute ist für mich dahin. Böses, sei du mein Gutes!« 7

Und dann werden die Affekte Zorn, Neid und Verzweiflung genannt, die das bittere, haßerfüllte »schwarze« Lachen prägen, das Satan im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder anschlagen wird, und das wir in den Dokumenten der schwarzen Romantik wieder antreffen werden. So weit geht Hobbes zwar noch nicht, daß er wie später Baudelaire sogar in jedem Kind schon einen kleinen Satan sieht, aber doch so weit, daß er ein Bild des gesellschaftlichen Lebens entwirft, demzufolge jeder immer und überall der Konkurrent eines jeden anderen ist und dies auch sein muß, weil alles Leben generell auf die Konkurrenzsorge gegründet ist. Deshalb beginnt Hobbes das neunte Kapitel seiner anthropologischen Abhandlung Human Nature auch mit einer Definition von glory: 792 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Das Gefühl strahlender Überlegenheit (glory) oder das Strahlen über sich selbst (internal gloriation) oder das Triumphgefühl (triumph of the mind) ist der Affekt (passion), der aus der Vorstellung oder der Annahme entspringt, unsere eigene Macht sei der unseres Konkurrenten überlegen.« (HN, S. 40)

Von da aus untersucht er dann Phänomene wie das Gieren nach Ruhm und Ehre, Formen von berechtigtem und unberechtigtem Ruhm, Formen der angemessenen und unangemessenen Selbsteinschätzung, der echten und falschen Bescheidenheit, der Scham, der Rache und dergleichen mehr. Ausgangs- und Bezugspunkt aber ist immer die Grundstimmung der Konkurrenzsorge, die man auch mit Nietzsche als »Willen zur Macht« bezeichnen könnte. Im gleichen Kapitel kommt Hobbes auch auf das Lachen zu sprechen und beschreibt es wie folgt: »Es gibt einen Affekt (passion), der zwar keinen Namen hat, der sich aber in einer Deformierung des Verhaltens äußert, die wir als Lachen bezeichnen und die immer aus Freude besteht. Aber welche Art von Freude dies ist, woran wir dabei denken und worüber wir triumphieren, wenn wir lachen, das hat bislang noch niemand geklärt. Daß es auf Witz (wit) gegründet ist, oder, wie man sagt, auf dem Scherzen (jest), ist eine Behauptung, die von der Erfahrung widerlegt wird, denn die Menschen lachen über Mißgeschicke (mis-chances) oder Unschickliches (indecencies), worin sich nicht das geringste von Witz und Scherz zeigt. Und so wie etwas irgendwann schal und gewöhnlich und deshalb auch nicht mehr lächerlich wirkt, so muß das, was Gelächter erzeugt, neu und unerwartet sein. Die Menschen lachen oft über ihre eigenen Handlungen, besonders solche, die nach Beifall gieren für all das, was sie gut können, auch dann, wenn diese eigenen Handlungen niemals über ihr eigenen Erwartungen hinaus gelungen sind, genau so, wie sie über ihre eigenen Scherze lachen. Und in diesem Fall ist es offensichtlich, daß der Affekt, der sich hier im Lachen äußert, auf die plötzliche und unerwartete Entdeckung irgendeiner eigenen Fähigkeit antwortet, die uns zum Lachen bringt. Außerdem lachen die Menschen über Unzulänglichkeiten des anderen, im Vergleich mit denen die eigenen Fähigkeiten um so heller strahlen. Außerdem lachen die Menschen über Scherze, deren Witz immer in

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der eleganten Enthüllung und Darbietung der Absurdität des jeweils anderen besteht. Und in diesem Fall resultiert der Lach-Affekt aus dem plötzlichen Innewerden unserer eigenen überlegenen Fähigkeiten (odds) und unserer eigenen Vortrefflichkeit (eminency), denn woher beziehen wir denn sonst unsere Selbstachtung, wenn nicht aus einem Vergleich unserer selbst mit den Schwächen und Absurditäten eines anderen? Denn wenn man sich über uns lustig macht, oder über einen unserer Freunde, an dessen Ansehen uns gelegen ist, lachen wir nie. Ich schließe aus all dem, daß der Lach-Affekt nichts anderes ist als das Gefühl plötzlicher Selbstherrlichkeit (sudden glory), das aus dem plötzlichen Innewerden eigener Überlegenheit erwächst, wenn man sich selbst mit der aktuellen Unzulänglichkeit (infirmity) anderer oder mit eigener früherer Unzulänglichkeit vergleicht, denn die Leute lachen auch über eigene frühere Dummheiten, wenn sie ihnen plötzlich mal einfallen, es sei denn, dies brächte sie immer noch in Schande. Deshalb ist es auch kein Wunder, daß es die Leute nicht ausstehen können, wenn man über sie lacht oder sie verspottet, und das heißt: wenn man über sie triumphiert. Gelächter ohne implizite Beleidigungs-Absicht (offence) muß sich deshalb auf Absurditäten und Unzulänglichkeiten richten, die nicht an Personen gebunden sind und wenn alle aktuell anwesenden Personen über etwas lachen, denn wenn man als einziger lacht, treibt man alle anderen in den Argwohn und zwingt sie zur Selbstprüfung. Und abgesehen davon ist Lachen immer nur ein wahnhaftes Gefühl von Selbstherrlichkeit (vain glory) und ein Argument von geringem Wert, wenn man meint, die Unzulänglichkeit anderer sei schon genug, die eigene Vortrefflichkeit triumphal zu feiern.« (HN, S. 45–47)

Wie man sieht, reduziert Hobbes die Vielfalt des Lachens auf ganz wenige Fälle. Wird das Lachen von komischen oder lächerlichen Objekten ausgelöst, die aber keine Personen sein dürfen, kann es ein heiteres Belachen sein. Sobald es sich aber um Personen handelt, die Anlaß zu Gelächter geben, gibt es für Hobbes nur noch das mehr oder weniger aggressive erleichterte Auslachen-von-oben, das wir schon bei Platon, Augustinus und La Rochefoucauld gefunden haben. Dies kann auch nicht verwundern, da sie alle den Glutkern des Verhaltens im Streben nach Macht und im Konkurrenzkampf aller gegen alle sehen. Das hat zur Konsequenz, daß all die 794 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lach-Szenarien

Genannten aus dieser reduktionistischen Sicht auf das Lachen sofort auch dessen moralische Verurteilung ableiten. Wenn La Rochefoucauld z. B. schreibt, Lächerlichkeit disqualifiziere den Menschen schlimmer als Unehrenhaftigkeit – »Le ridicule déshonore plus que le déshonneur.« 8 –, so überbietet Hobbes dies noch, wenn er meint, man müsse nicht nur das Lachen der anderen fürchten, sondern mindestens genauso sehr das eigene, denn auch dieses könne letztlich nichts anderes sein als ein vermeintlicher wahnhafter Triumph über andere, ein Akt eitler Selbstüberhebung, weshalb jeder beim Lachen grundsätzlich ein schlechtes Gewissen haben müsse. Mit einem Wort: Die plötzliche wahnhafte Himmelfahrt ist in Wahrheit ein Höllensturz, in dem sich laut Augustinus der Höllensturz des hoffärtigen Luzifer wiederholt. Dies wird noch deutlicher, wenn wir die Lach-Szenarien analysieren, auf die Hobbes genauer eingeht. 2.11.2 Lach-Szenarien Gegen Ende des neunten Kapitels seiner Anthropologie stellt Hobbes die verschiedenen Affekte zu einer Palette zusammen und definiert die einzelnen Affekte nochmal in extremer Kürze. Eingeleitet wird diese Affekten-Palette mit dem Hinweis auf das Motiv, das all diesen Affekten letztlich zugrunde liegt und auf das Szenario, in dem all diese Affekte ausagiert werden. Das Szenario ist ein Wettrennen (race) und das Motiv ist der Wille zum Sieg über alle anderen. Dazu Hobbes selbst: »Obwohl der Vergleich des menschlichen Lebens mit einem Wettrennen nicht in jeder Hinsicht zutrifft, trifft er für das, was wir hier darlegen wollen, doch so gut zu, daß wir in diesem Vergleich fast all die eben erwähnten Affekte wieder erkennen. Aber in diesem Wettrennen gibt es nur ein einziges Ziel und nur einen einzigen Zweck, nämlich Sieger (foremost) zu sein.« (HN, S. 52 f.)

In der dann folgenden Auflistung heißt es über die Affekte, die das Verhalten der Teilnehmer bei diesem Wettrennen bestimmen: »Die anderen hinter sich zu wissen, ist Triumph (glory). Sie vor sich zu sehen, ist Schmach (humility).

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Den Anschluß zu verlieren, weil man zurück schaut, ist falscher Triumph (vain glory). (…) Behindert zu werden ist Haß. Wer plötzlich stürzt, neigt zum Weinen. Wer einen anderen stürzen sieht, neigt zum Lachen. (…) Wer aber auf dieses Rennen verzichtet, kann sich gleich begraben lassen.« (HN, S. 53)

Wenn man dieses Lach-Szenario von Thomas Hobbes mit dem von Laurent Joubert vergleicht, so wird sofort deutlich, worin beide den Grund dafür sehen, daß wir zum Lachen neigen, wenn wir sehen, daß jemand stürzt und fällt. Bei Joubert ist es ein i. a. heiteres Lachen über die komische, aber unbedrohliche und deshalb auch nicht Mitleid heischende Difformität einer solchen Bewegung, in das sich nur dann grimmige Befriedigung oder Schadenfreude mischt, wenn der Gestürzte ein eitler Geck war, dem man einen solchen Sturz von Herzen gönnt, weil man den Sturz als gerechte Strafe empfindet. Bei Thomas Hobbes ist die Schadenfreude über den Sturz des anderen die Regel, weil die Beziehung aller zu allen letztlich auf den Wunsch zur Vernichtung des anderen gegründet ist, denn nur durch die Vernichtung aller anderen kann der eigene Sieg im Konkurrenzkampf mit ihnen endgültig gesichert sein, und deshalb ist das erleichterte Auslachen-von-oben der erstrebte Normalfall von Gelächter. Das Lachen, auf das Hobbes die Vielfalt des Lachens reduziert, ist also nie »unser Lachen« im Sinne Ciceros, das Lachen in einer gemeinsamen entspannten Situation, auch nicht das eutrapelistische Lachen, das es vermeidet, beim Spotten, Scherzen und Lachen über den anderen diesen in Scham oder Zorn zu treiben, sondern das von Hobbes ins Auge gefaßte Lachen ist immer ein abwertendes, ausschließendes und letztlich vernichtungswilliges Lachen, ein Auslachen von möglichst weit oben. Augustinus hätte es als luziferisches IsmaelLachen bezeichnet. Wenn wir noch mal auf die Unterscheidung von sachte anhebenden und plötzlich einsetzenden Verläufen zurückgreifen und die von Hobbes ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit gerückte Form von Gelächter im Lichte dieser Unterscheidung genauer überprüfen, stoßen wir noch auf einen weiteren Aspekt seiner gelo796 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lach-Szenarien

tologischen Befunde. Es handelt sich dabei um die EntlastungsFunktion bestimmter Lacharten. Das eutrapelistische Lachen ist, wie wir immer wieder gesehen haben, ein unbeschwertes Lachen, weil es in einer entspannten Situation als »unser Lachen« gelacht werden kann. Das Lachen hingegen, das Hobbes ebenso wie Platon, Augustinus und La Rochefoucauld im Auge haben, ist ein Lachen, das erleichtern soll, weil es in einer bedrängenden Atmosphäre von latenter oder gar manifester Aggressivität gelacht wird und dazu dienen soll, diese Belastung ruckartig abzuwerfen und den Lachenden dadurch vom Last-Charakter dieser Daseinsweise mit einem Schlag zu erleichtern. Allerdings wird man den Last-Charakter dieser Daseinsweise durch plötzliches Auflachen durchaus nicht los, weil er sofort wieder empfunden wird, sobald das Lachen verklungen ist, es sei denn, man verändert grundlegend die Situation, indem man Zonen mit entspannter Atmosphäre schafft, in denen wieder »unser Lachen« möglich wird. Wir werden sehen, daß die englische Aufklärung genau in diesem Sinne wirkte und in den Clubs den gesellschaftlichen Rahmen für eine neue eutrapelistische Lachkultur schuf, in der auch wieder »unser Lachen« als Lachen auf Augenhöhe kulturell ritualisiert werden konnte. Deshalb lief dieses gelotologische Programm denn auch unter der Parole »Los von Hobbes!«. Aufgegriffen und weiter ausgebaut wird von Hobbes die Unterscheidung zwischen sachte anhebenden und abrupt einsetzenden Empfindungen auch, wenn er in seiner anthropologischen Abhandlung genauer auf die »gehobenen Stimmungen« im Sinne von Bollnow eingeht: »Wenn in der Unterhaltung die freudige Empfindung, von anderen geschätzt zu werden, wach wird, dann steigen bisweilen die Lebensgeister empor, und dies Gefühl der Erhebung heißt Stolz. (…) Bei plötzlicher Freude über ein Wort, eine Tat, einen Gedanken, die das eigene Ansehen erhöhen, das fremde mindern, werden außerdem häufig die Lebensgeister emporgetrieben, und dies ist die Empfindung des Lachens. Wer glaubt, durch Wort oder Tat sich vor anderen ausgezeichnet zu haben, neigt zum Lachen. Und ebenso enthält man sich schwer des Lachens, wenn durch einen Vergleich mit fremdem, unschönem Wort oder Tun die eigene Vortrefflichkeit um so heller her-

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vortritt. Allgemein ist das Lachen das plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler. (…) Zur Entstehung des Lachens ist also dreierlei erforderlich: daß überhaupt ein Fehler empfunden wird, dieser ein fremder ist und die Empfindung plötzlich eintritt.« (M, S. 33)

In diesen viel zitierten Sätzen, in denen Hobbes seine Erklärung des Lachens zusammenfaßt, wird deutlich, wie sich in seiner Argumentation platonisches, augustinisches und cartesianisches Erbe mischen. Eindeutig platonisches Erbe ist der Gedanke, Lachen auf triumphierendes Auslachen-von-oben zu reduzieren und dieses als Kampfinstrument im Rahmen von Dominanz- und KonkurrenzDuellen zu sehen. Aus diesem Grund häufen sich bei Hobbes ganz auffallend Wörter und Wendungen, die vertikale Oppositionen bezeichnen. Platonisches Erbe ist auch die Reduzierung des Auslachens-von-oben auf Erleichterung und Triumph, weshalb Hobbes das Gefühl plötzlicher Erhebung und Überlegenheit als Levitations-Phänomen beschreibt, als geradezu explodierendes Hochgefühl, durch das jemand, der in dieser Art lacht, im Lachen ekstatisch über sich hinausgerissen wird wie ein jubilierender Mittelstürmer, der unmittelbar vor dem Schlußpfiff das entscheidende Tor geschossen hat. Und weil der Zwilling auch dieses Lachens die Angst ist, v. a. die Angst vor dem Versagen, gilt Gadamers Bilanz aus seiner Interpretation des Philebos-Dialogs uneingeschränkt auch hier: »Die Maßlosigkeit des Gelächters ist in der Tat begründet in einer Unterstimmung von Schmerz, eben in der Sorge, des Vorausseins vor dem anderen. Gerade weil sich im schadenfrohen Gelächter die Sorge erleichtert und vergißt, ist das Gelächter so maßlos.« (5,134)

Als platonisch erscheint auch der Hinweis auf »Fehler und Schwächen anderer Menschen« (M, S. 77) als Quelle des Lächerlichen, weil all dies auf das Grundlaster der Selbstverkennung und Selbstüberschätzung (anoia) gegründet ist. Diese Fehler und Schwächen anderer müssen aber, um komisch oder lächerlich zu wirken, unbedrohlich erscheinen, und zwar für uns wie für den anderen, damit wir überhaupt lachen können. Doch davon ist bei Hobbes überhaupt nicht die Rede, denn als »Zwillingsbruder der Angst« emp798 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lach-Szenarien

fand er grundsätzlich alles als bedrohlich und sah in jedem den Wolf, und außerdem fügt er im Kontext der eben zitierten Passage noch das seltsame Argument hinzu: »Fehler bei Freunden und Verwandten reizen nicht zum Lachen, da hier die Fehler nicht als fremde empfunden werden.« (B, S. 33)

Deutlich in der Tradition Platons steht auch ein gewisses generelles Unbehagen am Lachen überhaupt, das auch Hobbes mehrfach artikuliert. So verurteilt er z. B. Leute, die besonders viel und gern lachen, als solche, »deren Selbstgefühl sich weniger auf eigene Leistungen als vielmehr auf Wahrnehmung fremder Fehler gründet«: »Sie sind gezwungen, die Unvollkommenheiten anderer Menschen zu beobachten, um vor sich selbst bestehen zu können. Und deshalb ist häufiges Lachen über die Fehler anderer ein Zeichen von Kleinmütigkeit. Denn eine der Aufgaben, die großen Geistern zukommen, liegt darin, anderen zu helfen und vor Spott zu schützen, sich selbst aber nur mit den Tüchtigsten zu vergleichen.« (L/F, S. 44 f.)

In der Abhandlung Vom Bürger wird er in diesem Punkt noch deutlicher. Dort listet er eine ganze Reihe von »natürlichen«, also aus der Natur des Menschen und des Staates sich ergebenden Gesetzen auf, deren siebtes in dem Verbot besteht, andere auszulachen, und gibt dafür folgende Begründung an: »Da aber alle Zeichen des Hasses und der Verachtung vorzüglich zum Kampf und Streit reizen, so sehr, daß die meisten lieber ihr Leben, vom Frieden ganz abgesehen, verlieren, als Schmach ertragen wollen, so folgt (..), daß das Naturgesetz verbietet, jemandem durch Worte oder Handlungen, durch Mienen oder Lachen zu zeigen, daß man ihn hasse oder verachte. Die Verletzung dieses Gesetzes heißt Schmähung. Allerdings ist nichts häufiger als Spott- und Hohnreden der Mächtigen gegen die Schwachen und besonders der Richter gegen die Angeklagten, obgleich sie weder mit dem Vergehen des Schuldigen noch mit dem Amte des Richters etwas zu tun haben; dennoch handeln diese Menschen gegen das Naturgesetz und sind als Beleidiger zu achten.« (B, S. 104)

Damit müßte deutlich geworden sein, was Hobbes im Lachen, genauer: im höhnischen Auslachen-von-oben sah und fürchtete: den ständig drohenden Einbruch des vor-staatlichen wölfischen Naturzustandes in den Zustand der durch das staatliche Gewaltmonopol 799 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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geprägten Zivilisation, denn der feste Wille, einander zu schaden, gehört nun mal für Hobbes zur Natur des Menschen: »Da nun alle geistige Lust und Freude darin besteht, jemand zu finden, mit dem verglichen man von sich selbst hoch denken kann, so müssen notwendigerweise die Menschen ihren gegenseitigen Haß und ihre Verachtung bald durch lachen, bald durch Worte, bald durch Gesten oder andere Zeichen merken lassen, und nichts ist kränkender und pflegt wiederum so sehr die Lust zu steigern, andere zu verletzen.« (B, S. 80 f.)

So gesehen ist das höhnisch schmähende, wölfisch beißende Auslachen-von-oben eine kaum gezähmte, aber auch kaum zu zähmende Form des Krieges aller gegen alle und nicht nur ein Triumph des einen über den anderen, sondern vor allem auch ein Triumph über die eigene ständig drohende Angst. An diesen Gedanken knüpfte Friedrich Nietzsche an, der das Werk von Hobbes offenbar gut kannte und mehrfach aus dem Leviathan zitiert, obwohl er doch sonst eine ausgeprägte Abneigung gegenüber allem Englischen hatte: »Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer.« (Nietzsche, II,718) In seinem frühen Werk Menschliches, Allzumenschliches findet sich nämlich eine längere Passage, in der Nietzsche den Gedanken des »sudden glory« 9 eindrucksvoll illustriert und daraus eine evolutionsgeschichtlich orientierte Ätiologie des Lachens ableitet, allerdings nicht unter dem Titel »Herkunft des Lachens«, sondern unter dem reichlich seltsamen Titel Herkunft des Komischen und selbstverständlich ohne jeden Hinweis auf Thomas Hobbes. Bei Nietzsche heißt es: »Wenn man erwägt, daß der Mensch manche hunderttausend Jahre ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Tier war, und daß alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hieß, ja daß selbst später, in sozialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Tätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, daß bei allem Plötzlichen, Unerwarteten, in Wort und Tat, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, ins Gegenteil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit – der Mensch lacht. Diesen Über-

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gang aus momentaner Angst in kurzdauernden Übermut nennt man das Komische. Dagegen geht im Phänomen des Tragischen der Mensch schnell aus großem, dauerndem Übermut in große Angst über; da aber unter Sterblichen der große dauernde Übermut viel seltener als der Anlaß zur Angst ist, so gibt es viel mehr des Komischen als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter, als daß man erschüttert ist.« (Nietzsche, I,558 f.)

Nietzsche hätte sicher besser daran getan, dieses plötzliche Umschlagen von Angst in Übermut mit Franz von Baader als »Explodieren der Angstspitze«10 oder als die Pointenstruktur schlagartiger Erleichterung oder als existentielle Peripetie zu bezeichnen, denn das Komische ist nun mal ein Attribut, das den Lach-Objekten zugesprochen wird, nicht den Lach-Subjekten und deren Befindlichkeit. Aber wie weit Nietzsche sich hier argumentativ auch vergaloppiert haben mag, die Orientierung an Hobbes, und nur das interessiert uns hier, ist deutlich genug: die Grundstimmung der Angst und deren Minderung durch die Sozialisation des Menschen unter dem Machtmonopol des Staates, das Plötzliche des Umschlags von Angst in Euphorie, von Zittern in Lachen, von großer Enge in große Weitung und damit insgesamt die enge Verbindung von bedrükkender Angst und erleichtertem Auflachen, insofern beide Phänomene als die Kehrseite des jeweils anderen erscheinen. Deutlich an Hobbes orientiert ist auch der Gedanke, Lachen und Weinen aus einer gemeinsamen Wurzel zu erklären und als die Kehrseite des jeweils anderen Phänomens zu sehen. Diesen Gedanken hatte Hobbes als erster, wenn er Lachen als Ausdruck von plötzlichem Stolz und plötzlicher Überlegenheit, Weinen hingegen als Ausdruck von plötzlicher Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit und von plötzlichem Machtverlust bezeichnet: »Umgekehrt ist plötzliche Niedergeschlagenheit die Leidenschaft (d. h. der Affekt), der Weinen verursacht und wird durch solche Ereignisse bewirkt, die plötzlich eine brennende Hoffnung oder eine Stütze unserer Macht beseitigen. Und meistens neigen solche Leute dazu, die grundsätzlich auf äußere Hilfe angewiesen sind, wie Frauen und Kinder. Deshalb weinen die einen über den Verlust von Freunden, die anderen über deren Unfreundlichkeit, wiederum andere über den plötz-

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lichen Einhalt, der ihren Rachegedanken durch Aussöhnung geboten wird. Aber in allen Fällen sind Lachen wie Weinen plötzliche Bewegungen, die durch Gewohnheit verschwinden. Denn niemand lacht über alte Späße oder weint über ein altes Unglück.« (M, S. 45)

So erhellend und anregend dieser Gedanke auch ist, den Hobbes fast wortwörtlich schon im Leviathan (L/F, S. 47) vorgetragen hatte, so deutlich erkennbar ist aber auch die Hypothek, die man sich auflädt, wenn man Hobbes und Nietzsche hier folgt, weil durch diese These der Spiegelbildlichkeit von Lachen und Weinen beides, Lachen wie Weinen, ungebührlich eng auf die ganz wenigen Formen reduziert werden muß, die sich für diese Analogisierung auch eignen. Deshalb reduzieren Hobbes und Nietzsche die sehr breit gefächerte Palette beider Verhaltensweisen zwangsläufig allein auf das erleichterte Triumph-Lachen bzw. auf das exzessive Aufheulen im Schmerz und müssen alle anderen Formen des Lachens und Weines ausblenden, um dem selbst auferlegten Symmetrie- und Systemzwang gerecht zu werden. Daß die plötzliche Erkenntnis, alle Hoffnung sei verloren, ein heftig erstrebtes Gut zu erlangen, zu ekstatischen, tränenreichen Klagen führen kann, wird wohl niemand bestreiten. Aber das heißt noch lange nicht, daß diese Einsicht sich immer schlagartig offenbaren muß, sie kann einem ja auch langsam und schrittweise dämmern, bis sie uns endlich klar ist, und Hand in Hand damit kann es auch dazu kommen, daß man sich mehr und mehr aufgibt und dabei gleichsam aufweicht, die bislang noch mühsam gewahrte Fassung mehr und mehr verliert, dabei gleichsam aufschmilzt und ins Weinen abgleitet. Explosives Gelächter und Aufheulen im Schmerz sind also nur bestimmte, wenn auch besonders dramatische Formen des Lachens und Weinens, und daneben gibt es noch viele andere. Helmuth Plessner, Alfred Stern und Hermann Schmitz, die in ihren Theorien des Lachens ebenfalls nach der Analogie von Lachen und Weinen fragen, sind da viel genauer vorgegangen und deshalb auch zu weitaus überzeugenderen Ergebnissen gekommen.

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Ein Blick auf Spinozas Ethik

2.11.3 Ein Blick auf Spinozas Ethik Wenn man von hier aus einen Blick auf Spinozas Ethik wirft, die in den Jahren nach 1660 geschrieben wurde und posthum 1677 erschien, merkt man noch deutlicher den Unterschied zwischen einer Gelotologie aus dem Geist des Bürgerkriegs und einer aus dem Geist des Liberalismus in einer relativ entspannten gesellschaftlichen Situation. Holland war zu Lebzeiten Spinozas (1632–1677) und noch weit ins 18. Jahrhundert hinein das einzig liberale Land Europas, in das jeder flüchtete, der der Inquisition entkommen wollte, wie dies z. B. bei Descartes der Fall war, oder in dem all die Bücher erscheinen konnten, die in anderen Ländern der Zensur zum Opfer gefallen wären, wie z. B. Fénélons Télémaque (1695), aber auch noch Rousseaus Émile (1762) oder der Traité des causes physiques et morales du rire, relativement à l’Art de l’exciter (1768) von Poinsinet de Sivry. Aus diesem Grund kann Spinoza auch über Affekte und v. a. über das Lachen viel entspannter argumentieren als Hobbes dies tut und in seiner Ethica Ordine Geometrico demonstrata 11, wie er im zentralen methodologischen Kapitel schreibt, »menschliche Handlungen und Triebe geradeso betrachten, als ginge es um Linien, Flächen oder Körper« (S. 221). Und dann fügt er ein paar Sätze hinzu, bei deren Lektüre man meinen möchte, sie seien direkt gegen Hobbes und die gesamte platonisch-stoisch-augustinische Argumentationstradition gerichtet, denn er schreibt: »Für jetzt möchte ich mich wieder jenen zuwenden, die die Affekte und Handlungen der Menschen lieber verdammen oder verlachen (detestari vel ridere) als begreifen wollen. Ihnen wird es zweifellos sonderbar vorkommen, daß ich mich anschicke, Fehler und Torheiten von Menschen auf geometrische Weise (more geometrico) zu behandeln, und daß ich durch ein Verfahren der Vernunft Dinge beweisen will, von denen sie lauthals bekunden, daß sie der Vernunft widerstreiten und eitel, ungereimt und schrecklich sind. Doch habe ich dafür folgenden Grund: Es geschieht nichts in der Natur, was ihr selbst als Fehler angerechnet werden könnte. (…) Also folgen die Affekte des Hasses, des Zorns, des Neides usw., in sich betrachtet, aus derselben Notwendigkeit und internen Beschaffenheit der Natur wie andere

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Thomas Hobbes

Einzeldinge auch. Somit unterliegen sie bestimmten Ursachen, durch die sie sich verstehen lassen, und haben bestimmte Eigenschaften, die unserer Erkenntnis so würdig sind wie die Eigenschaften jedes beliebigen anderen Dinges, an dessen bloßer Betrachtung wir uns erfreuen.« (S. 221)

Bei der Analyse all dieser Affekte geht Spinoza dann so vor, daß er drei Grundaffekte postuliert, laetitia, tristitia und cupiditas, aus deren Kombination alle anderen Affekte deduktiv abgeleitet werden: »Unter Freude (laetitia) will ich demnach im folgenden diejenigen Leidenschaften (passiones) verstehen, in denen der Geist zu einer größeren Vollkommenheit übergeht; unter Trauer (tristitia) hingegen diejenigen, in denen er zu einer geringeren Vollkommenheit übergeht. Des weiteren nenne ich den Affekt der Freude (affectum laetitiae), der auf den Geist und zugleich auf den Körper bezogen ist, Lust oder Heiterkeit (tilatio vel hilaritas) und den diesbezüglichen der Trauer Schmerz oder Schwermut (odor vel melancholia).« (S. 245)

Dazu tritt als dritter Grundaffekt die Begierde resp. das Begehren (cupiditas), das Spinoza »als Trieb (appetitus) mit dem Bewußtsein des Triebes« (S. 243) bestimmt. »Und außer diesen dreien (Begierde, Freude, Trauer) lasse ich keinen weiteren Affekt als Grundaffekt gelten. Denn ich werde zeigen, daß alle übrigen diesen drei entspringen.« (S. 245)

Diesen drei Grundaffekten werden wir später wieder bei Sigmund Freud begegnen, bei dem sie »Lust«, »Unlust« und »Libido« heißen werden. Wenn man nun diese Grundaffekte Spinozas mit Otto Friedrich Bollnow 12 in Formen subjektiver relationaler Räumlichkeit übersetzt, so erscheint der Grundaffekt laetitia als »gehobene Stimmung« mit dem Weitungs-Impuls nach oben-außen, tristitia hingegen als »gedrückte Stimmung« mit dem Engungs-Impuls nach unten-innen, und wenn man dann noch nachprüft, was Spinoza selbst über bestimmte Formen von Gelächter schreibt, so lassen sich daraus verschiedene Szenarien ableiten, die man wiederum mit Lach-Szenarien vergleichen kann, die Thomas Hobbes erstellt. So schreibt Spinoza z. B., Spott (irrisio) sei »eine Freude (laetitia), die dem entsprungen ist, daß wir uns etwas, das wir gering schätzen, in einem Ding vorstellen, das wir hassen« (S. 345). Diese 804 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ein Blick auf Spinozas Ethik

Art von Erhebung über den gering geschätzten Anderen entspricht also genau dem von Hobbes beschriebenen glory-Gefühl als Verspotten und Verlachen von oben, wobei allerdings das für Hobbes so wichtige Moment des Plötzlichen fehlt. Und wenn Spinoza an anderer Stelle das Auslachen-von-oben noch genauer bestimmt, so wird deutlich, welch ein Potential von Haß sich in dieser Art von Gelächter manifestiert, denn »einen Menschen, den wir hassen, streben wir zu vernichten« (S. 457). Aus diesem Grund unterscheidet Spinoza in Anlehnung an die alttestamentarische Unterscheidung von sachak-Lachen und la’agLachen deutlich zwischen Scherzen und Lachen auf Augenhöhe und Verspotten und Verlachen von oben herab: »Zwischen Spott (irrisio) (…) und Lachen (risus) mache ich einen großen Unterschied. Denn Lachen, wie auch Scherzen (jocus), ist reine Freude (mera est laetitia); mithin ist es, wenn es nur kein Übermaß (excessus) hat, an sich gut. (…) Fürwahr, nur ein finsterer und trübsinniger Aberglaube verbietet, sich zu erfreuen. Denn warum sollte es sich mehr geziemen, Hunger und Durst zu stillen als Schwermut (melancholia) zu vertreiben?« (S. 459)

Dann polemisiert er vehement gegen die aus der platonisch-stoischaugustinischen Tradition stammende christliche Lachfeindschaft und außerdem gegen die von Augustinus begründete strikte Trennung von Gebrauch und Genuß (uti und frui) und das dahinter stehende Bild eines eifersüchtigen und mißgünstigen 13 Gottes: »Keine Gottheit (numen), noch sonst irgendwer, der nicht neidisch ist, erfreut sich meiner Ohnmacht oder meines Unglücks, noch rechnet er Tränen, Schluchzen, Furcht und anderes dieser Art, die Zeichen eines ohnmächtigen Gemüts sind, zur Tugend. Im Gegenteil, je mehr wir mit Freude affiziert werden, umso größer ist die Vollkommenheit, zu der wir übergehen, d. h. umso mehr partizipieren wir zwangsläufig an der göttlichen Natur (natura divina). Dinge zu gebrauchen (uti) und sich ihrer soweit wie möglich zu erfreuen (delectari, frui) (…) ist also Sache eines weisen Menschen.« (S. 459)

Und dann singt er eine Hymne auf Gebrauch und Genuß der kulturellen Adiaphora. Spinoza entwirft also ein Szenario affektiver Befindlichkeit, bei dem sich eine allumfassende gehobene Stimmung horizontal ausbreitet und eine entspannte Atmosphäre 805 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas Hobbes

schafft, in der sich jeder mit jedem auf Augenhöhe lachend begegnen kann, also ein Szenario eutrapelistischer Heiterkeit. Wir werden in Kapitel 2.12 sehen, wie man im 18. Jahrhundert von Shaftesbury bis zu Kant versucht hat, dieses Ideal eutrapelistischer Lachkultur unter dem Motto »Los von Hobbes!« als heitere Aufklärung zu realisieren. Die Parole »Los von Hobbes!« hieß in der Heiteren Aufklärung des 18. Jahrhundertss aber immer zugleich auch »Hin zu Spinoza!« und damit »Hin zur göttlichen Natur eines Spinoza!« und »Hin zum heiteren Schöpfergott eines Wilhelm von Conches!«. Wir werden aber auch sehen, wie nach der Französischen Revolution die Bürgerkriegs-Gelotologie von Thomas Hobbes eine ganz neue Aktualität gewann und das aggressive Auslachen-von-oben aufs neue zum zentralen Paradigma des Lachens erhoben wurde. 2.11.4 Plötzlichkeiten Mit dem wiederholten Hinweis auf die Plötzlichkeit, in der bestimmte Befindlichkeiten und Affekte in andere umschlagen können, nimmt Hobbes eine Bemerkung Platons auf, der Timaios die Entstehung der Metagefühle Lust und Unlust aus dem jeweiligen Wandel von Befindlichkeiten ableitet und dabei den allmählichen Wandel vom plötzlichen Umschlagen unterscheidet. Dort heißt es: »Lust und Schmerz nun aber sind folgendermaßen zu erklären: Ein wider unsere Natur und in gewaltsamer Weise auf uns ausgeübter starker und plötzlich entstehender Eindruck ist schmerzlich, und derjenige, welcher, ebenfalls stark und plötzlich, unser naturgemäßes Empfinden wiederherstellt, ist angenehm, derjenige aber, welcher nur allmählich vor sich geht, und nur mit geringer Kraft ausgeübt wird, gelangt überhaupt nicht zur Empfindung. Alle Eindrücke ferner, welche mit Leichtigkeit ihren Fortgang nehmen, berühren zwar aufs allerstärkste die Empfindung; an Schmerz und Lust aber sind sie ohne Anteil.« (64D)

Da Platon hier Lust und Schmerz resp. Lust und Unlust in einem Atem nennt und sie als die Kehrseite des jeweils anderen behandelt, wäre zu fragen, was beide als tertium comparationis gemeinsam 806 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Plötzlichkeiten

haben, um sie überhaupt analogisieren zu können. Dieses Gemeinsame liegt nun sicher nicht in der puren meßbaren Geschwindigkeit ihres Ablaufs, weil man sonst ja auch allmähliche Wandlungen durch einen Zeitraffer zu solchen »starken und plötzlichen« Eindrücken beschleunigen könnte. Da dies aber nicht möglich ist, muß noch ein entscheidendes Kriterium hinzukommen, um die Anmutung von Plötzlichkeit zu erzeugen, und dieses zusätzliche Moment ist etwas, das uns zusammenzucken läßt, weil uns da etwas im Kern trifft und betroffen macht. Dieses Betroffenheits-Kriterium muß aber nicht unbedingt ein Schmerz sein, etwas also, das weh tut; es genügt schon ein gelinder Schreck, ein kleiner Schock, ja sogar schon ein Stutzen, bei dem uns der Atem stockt und auch jede andere Bewegung erstarrt, oder ganz allgemein ein Aha-Erlebnis, das uns immer als blitzartiger Einfall überfällt. Aus diesem Grund hat Aristoteles in seiner Poetik die außerordentlich wichtige dramaturgische Funktion derartiger Aha-Erlebnisse ausdrücklich betont, die er in den obligatorischen Wiedererkennungs- und Selbsterkennungs-Szenen als jähen, blitzartigen »Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis« (1452a) bezeichnet. In den Tragödien bewirken diese Peripetien »Jammer und Schaudern« (1425b) – man denke an Ödipus oder Ajax, denen schlagartig klar wird, was sie angestellt haben –; in der Komödie entfesselt das blitzartige Umschlagen von Nichtwissen in Wissen Stürme von Heiterkeit. In jedem Fall aber ist der Effekt einer solchen Peripetie irgendeine Form komischer oder tragischer Erschütterung, die das dramatische Personal wie das Publikum in gleicher Weise im Kern trifft und betroffen macht. Erschütterungen dieser Art können sich aber auch bei Bekehrungserlebnissen aller Art, im Umgang mit großen Kunstwerken oder im Erlebnis des Erhabenen in der Natur ergeben. Richard Dehmel hat das Erlebnis des Erhabenen in einem schönen Gedicht auf den Punkt gebracht, in dem er den Betroffenheitsschock als Riß von Kontinuitäten aller Art darstellt: Manche Nacht Wenn die Felder sich verdunkeln, fühl ich, wird mein Auge heller;

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schon beginnt ein Stern zu funkeln, und die Grillen wispern schneller. Jeder Laut wird bilderreicher, das Gewohnte sonderbarer, hinterm Wald der Himmel bleicher, jeder Wipfel hebt sich klarer. Und du merkst im Weiterschreiten, wie das Licht verhundertfältigt sich entringt den Dunkelheiten. Plötzlich stehst du überwältigt. 14

Auch Erwin Straus (1891–1975), bei dem ich die früheste Analyse des Plötzlichen gefunden habe, betont diesen Riß alles Kontinuierlichen, der uns im Erlebnis des Plötzlichen widerfährt, wenn er in seiner Untersuchung über Geschehnis und Erlebnis von 1930 schreibt: »In der Beschreibung erschütternder Erlebnisse, insbesondre der Bekehrungen, aber auch bei ihren anderen Formen, wird neben der Gewalt, mit welcher das Erlebnis den Menschen ergreift, stets auch die Plötzlichkeit betont, mit der es ihn überfällt. Das ›Plötzlich‹ ist aber nicht das Ergebnis der Geschwindigkeit des Wechsels irgendwelcher beliebiger Ereignisse. Wenn wir aus dem Fenster eines in voller Fahrt befindlichen D-Zuges auf das Gelände unmittelbar neben der Bahnstrecke hinaussehen, dann springt in raschestem Wechsel ein Gegenstand nach dem andern uns in die Augen. Trotzdem haben wir, selbst wenn die Geschwindigkeit so anwächst, daß die Gegenstände verschwimmen, dabei nicht das Erlebnis des Plötzlichen. Dieses hängt auch gar nicht von dem Tempo der äußeren Veränderungen ab, sondern allein davon, ob bei allem Wechsel der Sinnzusammenhang in der inneren Lebensgeschichte gewahrt bleibt oder nicht. Nur wenn in dem Wechsel der Gegenstände eine Zerreißung des Sinnzusammenhangs fundiert ist, haben wir das Erlebnis des Plötzlichen. Auch die Plötzlichkeit des erschütternden Erlebnisses ist nicht das Ergebnis äußerer Vorgänge, sondern allein der radikalen Wandlungen, die sich im erschütternden Erlebnisse vollziehen. Das Plötzliche ist Gehalt, nicht auf die objektive Zeit zu beziehende äußere Form des Erlebens. Es ist nicht das

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Plötzlichkeiten

Plötzliche, was die Erschütterung bedingt, sondern das Ausmaß der Umgestaltung in der Erschütterung bedingt das Erlebnis des Plötzlichen.« 15

Wenn wir nun mit etwas geschärfterem Blick wieder zu Thomas Hobbes zurückkehren, sehen wir erst, wie häufig er beim Auftreten bestimmter Affekte die Plötzlichkeit betont. So spricht er z. B. von »plötzlicher Freude« über etwas, das das eigene Ansehen erhöht, oder vom »plötzlichen Gefühl der eigenen Überlegenheit« angesichts fremder Fehler oder vom »plötzlichen Stolz« auf die eigene Person oder Tat als Grund für das Lachen. Er spricht aber auch von der plötzlich einsetzenden Niedergeschlagenheit und vom plötzlichen Verlust aller Hoffnung als Anlaß zum Weinen, oder von der »plötzlichen Verwirrung«, die sich als Scham äußert (vgl. M, S. 33), oder vom »plötzlichen Mut«, der zu einer Aufwallung von Zorn führt (vgl. L/F, S. 42). Hobbes begründet aber nirgendwo, warum ihm dieser Unterschied zwischen allmählicher Veränderung und plötzlichem Umschlagen so wichtig ist, und das ist reichlich seltsam und sehr schade, weil er mit diesem Hinweis auf das Plötzliche tatsächlich auf ein zentrales Thema einer Theorie des Lachens und der Komik gestoßen ist: Das Plötzliche als die Epiphanie des Unerwarteten und völlig Neuen, das wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Welt einen Augenblick lang überhell ausleuchtet, und das dazugehörige fassungslose Auflachen und das Gefühl, in sich selbst hinein zu fallen. Seit Lessing bezeichnen wir dieses Plötzliche, wenn sein Auftritt in bestimmten literarischen Texten ästhetisch organisiert wird, als Pointe 16, und wenn Franz von Baader vom »Explodieren der Angstspitze« bei der Erfahrung des Plötzlichen spricht, so gibt er damit einen überaus wichtigen Hinweis darauf, daß sich in der Erfahrung des Plötzlichen immer auch ein ambivalenter Impuls manifestiert, der blitzartig von zentripetaler Engung in zentripetale Weitung umschlägt. Aus diesem Grund hat Aristoteles wohl auch von Peripetien der dramatischen Handlung gesprochen, von Wendepunkten im Handlungsverlauf und im Selbstverhältnis von dramatischem Personal und Publikum. Die ausführlichsten und weitaus fundiertesten Analysen des 809 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas Hobbes

Plötzlichen aber verdanken wir Hermann Schmitz, für den das Plötzliche der springende Punkt leiblicher Existenz überhaupt ist und deren Identität überhaupt erst begründet und sichert, wenn wir in der Erfahrung des Plötzlichen auf einen Punkt zusammenzucken. Vor allem aber macht Schmitz klar, daß Plötzlichkeit nicht nur allein einen zeitlichen Aspekt hat, sondern darüber hinaus noch vier andere, sodaß das Plötzliche jede Art von Kontinuität und Gegenwärtigkeit abreißen läßt, in diesem Abreißen »primitive Gegenwart« stiftet und damit gleichsam den Urknall der Individuation: »Die Sprache bevorzugt bei der Rede vom Plötzlichen die zeitliche Seite der Gegenwart, deutet aber auch die subjektive an; denn nur im Hinblick auf jemandes subjektiver Betroffenheit, auf sein Stutzen, kann etwas plötzlich sein. Auch Dasein im Gegensatz zum Nichtsein tritt erst mit dem Plötzlichen ein; solange wir verträumt dahin leben, gibt es diese Alternative nicht. Ferner geschieht in Gestalt des Plötzlichen ursprüngliche Abhebung aus der Weite so gut wie aus der Dauer; die Unterbrechung des Stetigen, in dem Mannigfaltiges in chaotischem Verhältnis (ohne Identität und Verschiedenheit) mit einander verfließt, hat also eine räumliche wie eine zeitliche Seite. Das bloß zeitlich Plötzliche erweitert sich auf diese Weise zu einem Plötzlichen in reicherer Bedeutung, worin die zeitliche Gegenwart mit der räumlichen, dem Dasein und der Subjektivität (dem Ich) in der Weise verschmelzen, daß sie mit einander das principium individuationis bilden, d. h. die ursprüngliche Abhebung, wodurch Identität und Verschiedenheit in die Welt kommen, nämlich in das Kontinuum des chaotischen Mannigfaltigen.« 17

Ferner unterscheidet Schmitz von dieser »primitiven Gegenwart« die »entfaltete Gegenwart«, in der wir als wache, erwachsene, besonnene Menschen leben, uns selbst einigermaßen im Griff haben und die Situation, in der wir uns befinden, einigermaßen überblikken, beherrschen und alles, was uns irgend angeht, gegenwärtig zu haben glauben. Diese Selbstsicherheit steht jedoch auf tönernen Füßen und kann jeden Augenblick in die Brüche gehen, wenn wir durch die Erfahrung des Plötzlichen wieder in primitive Gegenwart abstürzen, weil wir mit machtvollen Widerfahrnissen konfrontiert werden, die uns im Kern treffen. Dazu wieder Schmitz über den Menschen in solchen Situationen: 810 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Plötzlichkeiten

»Das elementar-leibliche Betroffensein, das ihn z. B. in heftigem Schreck, in Angst, Schmerz und katastrophaler Scham, im Orgasmus und allen panischen Zuständen in die Enge treibt und dem Plötzlichen ausliefert, läßt diese Entfaltung der Gegenwart schwinden. Das personale Subjekt sinkt dann in sein Hier und Jetzt ein, die miteinander und mit ihm verschmelzen, und die Wirklichkeit packt den Betroffenen unmittelbar, ohne ihm seine Distanzierungsfähigkeit zu lassen; alle Eindeutigkeit schrumpft auf die Spitze des Plötzlichen zusammen, dem er ausgesetzt ist. Das ist primitive Gegenwart, die in allen Erschütterungen, die affektives Betroffensein mobilisieren, näher rückt, dramatisch z. B. in Lachen und Weinen, zwei spontanen Weisen des Verhaltens, aus entfalteter Gegenwart in primitive abzustürzen und den Sturz dennoch abzufangen.« 18

Daß dieser Sturz aus personaler Emanzipation bei Lachen und Weinen kein Sturz ins Bodenlose personaler Regression ist, liegt am uroborischen Impuls, der beiden Verhaltensweisen eigen ist. Damit dürfte auch klar geworden sein, daß die Erfahrung des Plötzlichen und der Sturz in primitive Gegenwart nicht unbedingt und in allen Fällen als bedrohlich empfunden und gefürchtet werden muß, sondern auch als eminent beglückendes Widerfahrnis erlebt und gezielt gesucht werden kann. Man denke an die Situationen, in denen es uns buchstäblich umhaut vor Begeisterung; man denke an das Erlebnis großer Kunstwerke, an die Erfahrung des Erhabenen, an bestimmte Formen von Ekstase, und eben auch an die Formen von Lachen, bei denen wir mit höchstem Genuß spüren, daß es uns förmlich zu zerreißen droht, und bei diesen Lacharten spielt die Erfahrung des Plötzlichen19 eben eine ganz entscheidende Rolle. Da aber nicht alle Lacharten diese Signatur des Plötzlichen aufweisen, weil manche durchaus nicht explosionsartig ausbrechen, sondern auch ganz sachte anheben können – man denke bloß an alle Formen des Lächelns, das sich protopathisch über ein Gesicht ausbreitet und sich dann über das Kichern bis zum lauten Lachen steigern kann –, gibt es, wie wir sehen werden, auch Formen des Lachens mit geringer Intensität und Ausgeprägtheit, die deshalb auch auf der Höhe uneingeschränkter Distanzierungsfähigkeit und in voll entfalteter Gegenwart ausagiert werden, wie dies bei allen 811 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas Hobbes

Arten des verfügbaren Interaktions-Lachens der Fall ist. Entscheidend für die Ätiologie einer Lachart ist also immer der Konnex von Plötzlichkeit des Ausbrechens, hoher Ausgeprägtheit, tendenzieller Unverfügbarkeit und Atmungs-Relevanz bzw. von Allmählichkeit des Entstehens, minimaler Ausgeprägtheit, tendenzieller Verfügbarkeit und Atmungs-Irrelevanz. So gesehen irrt Plessner durchaus, wenn er behauptet, Lächeln sei kein Lachen, auch kein »Lachen im Kleinen oder in statu nascendi«, sondern »eine Ausdrucksform sui generis« (Plessner, VII,430), da er ausschließlich das explosive, tendenziell unverfügbare Lachen im Auge hat und allein dieses als »echtes Lachen« gelten läßt. Hier argumentiert Plessner ganz in der Tradition von Thomas Hobbes, denn genau diese Formen von Gelächter sind es auch, die Hobbes im Auge hat, wenn er diese als Bekundung von sudden glory wertet und auf das erleichterte Auflachen und das Auslachen-vonoben reduziert. Da Hobbes das erleichterte Auflachen und das Auslachen-vonoben auf den gemeinsamen Nenner sudden glory bringt, liegt die Frage nahe, warum er nicht von sudden pride, sudden triumph oder sudden eminency spricht, sondern das etwas preziöse Wort glory wählt. Wahrscheinlich tat er es deshalb, weil glory neben dem Wortfeld »Ruhm, Ehre, Pracht und Herrlichkeit« auch noch religiös-ikonologische Bedeutungen abdeckt wie »Heiligenschein«, »Nimbus«, »Strahlenkrone« und eben auch »Gloriole«, die ihm offenbar wichtig waren, weil er damit auf eine bestimmte Ausformung der antiken pneuma-Lehre anspielen wollte. Wir haben ja schon erfahren, daß das Pneuma auch verstanden wurde als eine Macht, die, von einem Gott geschickt, plötzlich in einen Menschen einbricht und diesen aus der Menge der anderen Menschen durch besondere Fähigkeiten schlagartig heraushebt, wie dies auch von den biblischen Propheten berichtet wird, die plötzlich befähigt waren, den Willen Gottes zu verkünden, wenn dessen Geist über sie kam, oder, wie die Schofeten, plötzlich über ungeahnte körperliche Kräfte verfügten, wenn der Geist Gottes 20 auch über sie kam. Wichtig ist auch hier vor allem das Moment der Plötzlichkeit, das einen tiefgehenden Bruch des normalen Zeitgefühls signalisiert, 812 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Plötzlichkeiten

aber auch das Moment der totalen Unverfügbarkeit dieses schockartigen Betroffenheits-Widerfahrnisses, sowie die damit verbundene Vorstellung, daß das ruckartig einbrechende göttliche Pneuma als Fluidum und als »luft- oder feuerartig« 21 gedacht wurde, weshalb es in der Apostelgeschichte des Lukas über die Ausgießung des heiligen Pneumas ausdrücklich heißt: »Da entstand plötzlich ein Getöse vom Himmel, gleich dem Brausen eines gewaltigen Windes, und erfüllte das ganze Haus, wo sie saßen. Es erschienen ihnen zertheilte Zungen, wie Feuer, und es setzte sich auf einen jeden von ihnen, Und alle wurden voll heiligen Geistes, und fingen an in fremden Sprachen zu reden, so wie es ihnen der heilige Geist in den Mund legte.« (Ap.G. 2, 2–4) 22

In der ikonologischen Tradition wird die ständige Anwesenheit von Pneuma dieser Art bekanntlich als Heiligenschein, Nimbus, Gloriole oder Chvarenah dargestellt 23, und an eine solche plötzlich aufscheinende Gloriole aus explodierenden Lebensgeistern könnte Hobbes womöglich bei der Formulierung »sudden glory« gedacht haben, wenn er das Lachen des strahlenden Triumphators beschreibt. Als gründlicher Kenner der antiken Literatur könnte Hobbes mit dem Ausdruck »sudden glory« aber noch eine weitere Assoziation verbunden haben, das Phänomen der dionysischen tryphe, für das es kein passendes modernes Wort gibt und das man deshalb nur mit dem Wortfeld »Rauschhaftigkeit/Lebenslust/Machtgefühl/ Übermut/Unbändigkeit/Festlichkeit/Schwelgerei im Überfluß jeglicher Art/Überschäumen des eigenen Hochgefühls« in etwa wiedergegeben werden kann. Charakteristisch für die tryphe ist ein universales Glücksgefühl von gewaltiger Weitung und Schwellung, weshalb das Wahrzeichen der dionysischen tryphe der Phallos ist, wie er im antiken Hymnos ithyphallikos 24 besungen wird. Daß es kein passendes modernes Wort für tryphe gibt, liegt an der bedingungslosen Verurteilung dieser Haltung schon durch das frühe Christentum, das in der tryphe das hemmungslose Verfallensein an die sündige Welt und die sündige animalische Natur des Menschen sah. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß mit der tryphe 813 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas Hobbes

immer auch eine bestimmte Art des orgiastischen Triumph-Lachens verbunden wurde, wie es z. B. auf Ilja Repins Bild »Antwortschreiben der Saporoger Kosaken an den türkischen Sultan« dargestellt ist oder auf den barocken »Bohnenfest«-Bildern. Die Befindlichkeit sudden glory von Thomas Hobbes wäre demnach eine Art momentaner tryphe, aber eben auch eine mit denkbar schlechtem Gewissen, denn natürlich ist die dionysische tryphe mit Augustinus gesehen superbia in höchster und sündigster Ausprägung, weshalb auch das Lachen als die Signatur dieser tryphe schärfste Ablehnung verlangt und die Analogisierung der profanen Lebensgeister mit dem Pneuma als dem »Geistbraus Gottes« 25 eine horrende Blasphemie darstellt. Das haben die Theologen seiner Zeit wohl auch so gesehen und so kann es nicht verwundern, daß man ihn als das »Monster of Malmesbury« und als den »Pontifex des Unglaubens« 26 ansah und ihn auf den Scheiterhaufen wünschte. 2.11.5 Die Lebensgeister Wie wir im Kapitel über Descartes gesehen haben, hatte sich die antike pneuma-Lehre, das zunächst als Geist Gottes und als kosmologisch-weltschöpferisches Prinzip verstanden worden war, in das physiologisch-psychologisches Denkmodell der Lebensgeister gewandelt, das sich nun auch für ein mechanistisches Menschenbild anbot, in dem die Lebensgeister nur noch als Material für die Hydraulik der Körpermaschine fungierten. Dieses cartesische Argumentionsmodell übernimmt nun auch Hobbes weitgehend, fügt ihm aber einige Aspekte hinzu, die wir bei Descartes nicht finden, denn Hobbes verleiht den Lebensgeistern eine Art von Spontaneität und Leiblichkeit und erhebt sie damit, ähnlich wie Joubert dies getan hat, zu Leibern im kleinen, ohne sich allerdings irgendwo auf Joubert zu beziehen. In seinem Leviathan hatte Hobbes die Lehre vom Wirken der Lebensgeister noch nicht bemüht; in seinem Traktat Vom Menschen aber gründet er die klassischen Temperamente der Humoralpathologie schon auf die jeweilige Beschaffenheit der Lebensgeister, denen er ebenfalls die entsprechenden Temperamente 814 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Lebensgeister

zuspricht. Das klingt dann zwar ein bißchen nach Fritz Reuters Onkel Bräsig, der die Armut aus der Povertät ableitet, wenn Hobbes meint, die Choleriker seien cholerisch, weil sie cholerische Lebensgeister hätten, aber der erste Schritt zur Verleiblichung der Lebensgeister ist damit allemal getan, wenn Hobbes schreibt: »Menschen, die ein feuriges Temperament haben, sind meistens auch bei sonst gleichen Verhältnissen kühner; die ein kühleres Temperament haben, furchtsamer. Nach der Beweglichkeit der Lebensgeister, d. h. nach der Geschwindigkeit des Vorstellens, scheiden sich die Anlagen.« (M, S. 36)

Und dies gilt laut Hobbes auch für die Affekte, genauer: für die Disposition zu bestimmten Affekten, die durch das jeweilige Temperament der Lebensgeister vorgegeben sind: »Es bestehen nun die Affekte in verschiedenen Bewegungen des Blutes und der Lebensgeister, indem diese sich in verschiedener Weise bald ausbreiten, bald zu ihrem Quell 27 zurückfließen; Ursache dieser Bewegungen sind die Vorstellungen von Gut und Übel, die durch die Gegenstände im Geiste hervorgerufen werden.« (M, S. 30)

Das liest sich auf den ersten Blick, als sei es ganz im Sinne von Descartes geschrieben und als ob auch hier ein ominöses »Gespenst in der Maschine« 28 sein Unwesen treibe. Wenn man aber weiter liest, merkt man sofort den Unterschied zu Descartes, denn dann zeigt sich, daß und in welchem Maß Hobbes seinen Lebensgeistern spontanes Verhalten zuspricht. Wie das im einzelnen funktioniert, erläutert er am Beispiel Zorn: »Zorn wird durch Hoffnung gesteigert, durch Furcht gemäßigt; d. h. wie die Vorstellungen die Lebensgeister in die Nerven29 treiben und zur Gewalt gegen das nahende Übel anregen, werden sie durch die Vorstellung von einem größeren Übel zum Herzen zurückgetrieben, zur eigenen Verteidigung oder zur Flucht.« (M, S. 31)

Dieses Beispiel macht deutlich, wie Hobbes denkt: So wie er seinen Staat in strikter Analogie zum Menschen verstanden und entworfen hatte – der Staat als Mensch im großen –, so beschreibt er nun das Verhalten der Lebensgeister in ebenso strikter Analogie zum Menschen, also als Mensch im kleinen. Oder anders formuliert: So wie der Mensch sich in gesellschaftlicher Interaktion verhält, so verhalten sich auch die Lebensgeister in ihm selbst in strikter Resonanz: 815 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas Hobbes

Wird er offensiv, so preschen auch die Lebensgeister vor; zieht er sich fluchtartig zurück, so ziehen sich auch die Lebensgeister zum Gehirn zurück; befindet er sich in »gehobener Stimmung« (Bollnow), so steigen auch die Lebensgeister in ihm empor, und dieses Gefühl der Erhebung nennt man dann Stolz; sieht der Mensch alle Horizonte hoffnungsvoll offen, so breiten sich auch seine Lebensgeister in ihm aus; sieht er sich jedoch seiner Hoffnungen beraubt und verfällt ins Weinen, so werden auch »die durch die Hoffnung ausgebreiteten Lebensgeister durch die plötzliche Enttäuschung der Hoffnung zusammengezogen« (M, S. 35). Verfällt er der Selbstverkennung oder gar dem Größenwahn, so empfindet er, ganz analog zu diesem Gefühl »eine gewisse Aufblähung infolge der empor drängenden Lebensgeister« (M, S. 35). Und beim Lachen, genauer: beim explosiv herausplatzenden Triumph-Lachen, in dem sich »das plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler« manifestiert (M, S. 33), werden laut Hobbes die Lebensgeister rasant »emporgetrieben« (M, S. 33) und sprudeln im Menschen auf wie der Sekt in der Flasche, wenn der Korken knallt. All das, was Hobbes hier den Lebensgeistern zuspricht, spüren wir ganz deutlich am eigenen Leib und haben auch ein breit gefächertes Vokabular entwickelt, um all das angemessen zu benennen. Aber wenn wir dies tun, so merken wir sofort, daß wir von Lebensgeistern und deren Verhalten gar nicht mehr reden müssen. Wir müssen also nicht mehr davon reden, daß die Lebensgeister in uns aufbrausen oder sich zurückziehen, weil wir selbst aufbrausen oder uns zurückziehen. Wenn wir die Lebensgeister-Physiologie von Hobbes und Descartes heute auch nicht mehr physiologisch für bare Münze nehmen, sondern als maskierte und uneigentliche Beschreibung eigenleiblichen Spürens, so läßt sich die Theorie des Lachens, die Hobbes mit Hilfe des Lebensgeister-Theorems entwickelt hat, auf weiten Strecken als Phänomenologie avant la lettre lesen und nicht nur auf ihren historischen Stellenwert hin befragen, sondern auch im Hinblick auf ihren systematischen Erkenntniswert. Dieser Erkenntniswert ist in der Tat beachtlich, weil Hobbes tatsächlich einige entscheidende Aspekte des Lachens auf den Punkt gebracht hat, und deshalb ist sein Einfluß auf die Deutung des Lachens bis heute so groß geblieben. 816 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

2.11.6 Bilanz Das Neue bei Hobbes ist der nachdrückliche Hinweis auf das Phänomen der Plötzlichkeit, das mit bestimmten Formen des unverfügbaren Lachens verbunden ist, das Hobbes jedoch vorschnell auf das Lachen generell ausweitet, und ebenfalls neu ist in der Geschichte der Lachtheorien die Analogisierung von Lachen und Weinen, wobei Hobbes leider auch hier, bedingt durch Systemzwang, die große Bandbreite des Weinens auf eine bestimmte Form reduziert. Das Phänomen des Plötzlichen ist für eine integrale Theorie des Lachens deshalb von so großer Bedeutung, weil es unmöglich ist, Wesen und Wirken der Pointe ohne dieses Phänomen des Plötzlichen zu klären. Neu ist schließlich auch der phänomenologische Blick, der es ihm ermöglicht, im Zusammenspiel der Lebensgeister Phänomene gelebter Leiblichkeit zu erblicken und zu beschreiben, auch wenn dies noch so maskiert geschieht. Wenn wir nun nachprüfen, wie weit Hobbes in den Spuren von Platon ging, so fällt sofort auf, daß auch Hobbes das Lachen vor einem sehr düsteren biographisch-historischen Hintergrund und auf der Grundlage eines illusionslos nüchternen Menschenbildes thematisiert. Da also, laut Platon und Hobbes, den Menschen allgemein nicht zu trauen ist, ist auch dem lachenden Menschen nicht zu trauen, eigentlich sogar erst recht nicht, weil im Lachen immer wieder der Naturzustand des Menschen durchzubrechen droht, in dem sich seine wahre, wölfische Natur zeigt. Hobbes bezeichnet nicht umsonst das Lachen als Grimasse. Dieses tiefe Mißtrauen beider Philosophen dem Lachen gegenüber hat dazu geführt, daß auch Hobbes das Lachen auf das Lachen in gespannten Beziehungen reduziert, dieses wieder auf das Auslachen-von-oben und auf das erleichterte Triumph-Lachen. Damit zeigt sich bei Hobbes der gleiche Impuls zur Reduktion des Lachens auf eine bestimmte Form, die dann zum Lachen schlechthin verallgemeinert wird. Wie bei Platon haben wir auch bei Hobbes die Verschränkung von Lachen und Ethik, nicht aber die Verschränkung von Lachen und Lächerlichkeit, weshalb Hobbes auch keine Analyse oder Theorie des Lächerlichen oder Komischen liefert. Die plötzlich sich 817 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Thomas Hobbes

zeigende Unterlegenheit des anderen ist ihm schon Fehler genug, und auch Grund genug, ihn triumphierend auszulachen. Obwohl Hobbes zwar an keiner Stelle auf das Thema eingeht, ist das paradigmatische Modell dieser Art von Lachen das uns schon bekannte Hohnlachen des Zeus über die Menschen, das Hesiod in Werke und Tage beschrieben hat, bzw. das la’ag-Lachen Jahwes im vierten Psalm. Dieses allgemein düstere Menschenbild hat Hobbes allerdings auch den Blick dafür geöffnet, daß Lachen nicht notwendig ans Lustige oder Komische gebunden ist, wie so oft behauptet wird, sondern auch aus sehr dunklen Gründen kommen kann, worauf erst wieder Lessing in Minna von Barnhelm hingewiesen hat, der dort den Major Tellheim ein bitter melancholisches Lachen anschlagen läßt, vor dem sich Minna entsetzt, weil sie darin das Gelächter der Misanthropie erkennt. Die griffigste Formel zum Verständnis dieses düsteren Philosophen aber hat Jean Paul geliefert, wenn er schreibt: »Hoffnung blickt nach vorn, Kummer blickt zurück; Sorge blickt umher und fragt: Was droht?« 30

Anmerkungen 1

L/F, S. XI. Ich zitiere »Leviathan« nach zwei verschiedenen Ausgaben: Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gestalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner, Frankfurt a. M. 1984 (zit. als L/F), und: Thomas Hobbes: Leviathan. Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser. Mit einer Einführung und herausgegeben von Hermann Klenner, Hamburg 1996 (zit. als L/K). 2 Im Original steht defensio; L/F übersetzt dies mit »Mißtrauen«, L/K mit »Unsicherheit«. 3 Vgl. Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, hg. und eingeleitet von Günter Gawlick, Hamburg 3/1994, S. 105 und Einleitung S. XXf (zit. als M bzw. als B). 4 In: The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, now first collected and edited by Sir William Molesworth, Bart, Reprint Aalen 2/1966, Bd. IV, S. 1– 76 (zit. als HN, in eigener Übersetzung). 5 Hier habe ich die Übersetzung von passio mit »Leidenschaft« verändert.

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Anmerkungen 6 La Rochefoucauld: Maximes et Réflexions diverses. Édition Jean Lafond, Paris 1976, S. 124 ff., hier S. 132. 7 John Milton: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von Hans Heinrich Meier, Stuttgart 2008, S. 124 f. 8 La Rochefoucauld, S. 98. 9 Derselbe Gedanke bildet die zentrale These des Buchs von Paul Leroy: Angst und Lachen. Versuch zur Würdigung des Gleichgewichtes, Wien/Bad Bocklet/Zürich 1954, selbstverständlich ohne jeden Hinweis auf Nietzsche. Nietzsche selbst verweist zwar immer wieder auf Hobbes, aber nie in der Weise, daß er seine Formel »Willen zur Macht« als eine Anregung von Hobbes bezeichnet. 10 Schriften Franz von Baaders, ausgewählt und herausgegeben von Max Pulver, Leipzig 1921, S. 55. 11 Ich zitiere nach der Ausgabe: Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch – Deutsch, Hamburg 1999. 12 Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 8/1995. 13 Vgl. dazu Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 3/2003, S. 203 ff. 14 Richard Dehmel: Weib und Welt. Ein Buch Gedichte, Berlin o. J., S. 30 f. 15 Erwin Straus: Geschehnis und Erlebnis, Berlin 1930, S. 25. 16 Vgl. dazu Ralph Müller: Theorie der Pointe, Paderborn 2003, S. 15 ff. 17 Hermann Schmitz: Die Person, Bonn 1980, S. 3. 18 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, S. 49. 19 Die Aufsatzsammlung von Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, analysiert nicht den Zusammenbruch des Zeitgefühls, sondern das Erlebnis der unvermittelten extremen Beschleunigung bei unerhörten Begebenheiten, hebt also primär auf den zeitlichen Aspekt von Plötzlichkeit ab. Vgl. dazu v. a. S. 43 ff. die Ausführungen über den gefährlichen Augenblick. 20 Vgl. dazu Hans Leisegang: Der heilige Geist. Das Wesen und Werden der mythisch-intuitiven Erkenntnis in der Philosophie und Religion der Griechen, Darmstadt 1967, Alfred Jepsen: Nabi. Soziologische Studien zur alttestamentlichen Literatur- und Religionsgeschichte, München 1934, sowie Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, S. 508–518, und außerdem die einschlägigen Stellen in den Büchern Samuel und Richter des Alten Testaments. 21 Leisegang, S. 117. 22 Ich zitiere ausnahmsweise nach der katholischen Übersetzung von 1830: Das Neue Testament unseres Heilandes Jesu Christi, München 1830. 23 Vgl. dazu Lars Ivar Ringbom: Graltempel und Paradies. Beziehungen zwischen Iran und Europa im Mittelalter, Stockholm 1951, mit Nimbus-Abbildungen aller Art. 24 Vgl. dazu das Nachwort von Rolf Michael Schneider: Für eine Geschichte des Lachens zu: Jacques le Goff: Das Lachen im Mittelalter, Stuttgart 2004, S. 79–128, hier S. 85–88. Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 7 ff., hier S. 13.

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Thomas Hobbes 25

Mit diesem expressionistisch eingefärbten Neologismus übersetzt Martin Buber den Ausdruck ruach elohim, um deutlich zu machen, daß dieser Geist Gottes kein laues Lüftchen ist, sondern eine Art Fallböe, die den, den sie trifft, buchstäblich hin und her reißt oder gar umhaut, ihm aber zugleich auch ungeahnte Kräfte verleiht. Ein typisches Beispiel für diese Ergriffenheit vom Geistbraus Gottes ist das Verhalten des jungen Simson (Richter 14,6), der einen Löwen in der Luft zerreißt. 26 Vgl. dazu Klenners Einführung L/K, S. XXII. 27 Hobbes orientiert sich also eng an Descartes resp. an Fernel und spricht hier von den spiritus animales, die in der Zirbel entstehen und über die Nerven im Körper verteilt werden. 28 Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 13. 29 Siehe Anmerkung 21. 30 Ich zitiere Jean Paul hier nach Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 100.

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2.12 Heitere Aufklärung oder Die Frage nach dem Anderen der Vernunft

2.12.1 Überblick Der Schlüsselbegriff der Epoche hieß »Vernunft«, denn Vernunft und Vernünftigkeit waren das Maß, an dem alle Lebensäußerungen zu messen waren, in etwa so, wie für die scholastischen Theologen die Sünde das Maß aller menschlichen Dinge war. So gesehen ist Christian Wolffs »Deutsche Metaphysik« Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt 1, das 1719 in Halle erschien und viele Auflagen erlebte, das Musterbeispiel für die Art und Weise, wie im Deutschland des 18. Jahrhunderts Aufklärung verstanden und betrieben worden ist. Daß Wolff schon zwei Jahre später seinen Lehrstuhl in Halle räumen mußte, weil diese Art von Aufklärung für orthodoxe Lutheraner wie für Pietisten eine unerträgliche Provokation war, zeigt deutlich, gegen welch massive Widerstände eine Heitere Aufklärung sich durchsetzen mußte, weil sich dadurch protestantische Ernsthaftigkeit in all ihren Spielarten selbst durch ein »vernünftiges Lachen« im Innersten angegriffen und gefährdet sah. In manchen Aspekten wiederholte sich ab 1700 in ganz Europa ein Prozeß, den wir schon beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit um 1500 feststellen konnten: Das Menschenbild heitert sich insgesamt auf, weil durch die Berufung auf die aristotelische Eutrapelie das Lachen aufs neue zum proprium hominis erklärt und als ein Vermögen bestimmt wird, das es durch eine eigens zu entwickelnde ars iocandi et ridendi zu pflegen gilt, nachdem die Religionskriege so viel Leid über Europa gebracht hatten und mit den Schüben von Reformation und Gegenreformation sowie durch die 821 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

eisige Atmosphäre der absolutistischen Hofkultur eine neue Ernsthaftigkeit um sich gegriffen hatte. Der gesellschaftliche Ort dieser neuen Heiterkeitskultur war aber nicht mehr wie bei Pontano und Castiglione ein idealer Hof, sondern eine völlig neue nach-absolutistische Form der Geselligkeit auf der Grundlage egalitärer Zirkel. All das war aber nur in England möglich, das nun das normative Modell abgab, an dem sich das ganze fortschrittliche Europa orientierte, weil allein in England durch einen großen historischen Kompromiß nach Revolution und Gegenrevolution eine einigermaßen entspannte Situation eingetreten war, in der völlig neue Formen der Vergesellschaftung und damit auch völlig neue Formen der Geselligkeit möglich waren, bei der man nun das Ideal der aristotelischen Eutrapelie aufs neue pflegen und das heitere geloiastische Lachen als »unser Lachen« aufs neue lachen konnte. Und da es nun galt, aus »unserem Lachen« auch ein »vernünftiges Lachen« zu machen, erfährt jetzt an der Wende zum 18. Jahrhundert das philosophische Nachdenken über das Lachen einen ganz neuen Impuls, aber auch eine neue Dringlichkeit, da es, gemessen am Kriterium der Vernünftigkeit, sofort als das Andere der Vernunft erschien, insbesondere in seinen exzessiven und ekstatischen Ausprägungen, die seit Platon, der Stoa, den Salomonischen Weisheitslehren und den christlichen Kirchenvätern immer als das besinnungslose Lachen des Narren gegolten hatten und von all diesen Anwälten der Vernunft entsprechend verachtet und bekämpft worden waren. Wie sehr auch das Lachen als das Andere der Vernunft erscheinen mußte, geht aus der folgenden Auflistung der Brüder Hartmut und Gernot Böhme hervor: »Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische. Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle – oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können.« (S. 13)

Aneignen aber heißt bei diesem instrumentalistisch bestimmten Verständnis von Vernunft: beherrschen und verfügen. Und das wiederum heißt: Im Rahmen der Geschichte einer »grandiosen Selbst822 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Überblick

ermächtigung, in der ein Emanzipationsprogramm zugleich mit einem Programm der Verdrängung ins Werk gesetzt wird« (Böhme/Böhme, S. 17), muß auch das Lachen dieser »faustischen« Selbstermächtigungs-Ideologie zum Opfer fallen, weil im Lachen immer ein irreduzibler Rest an Unverfügbarkeit vorliegt. Das aber heißt wiederum, daß erst ein Verständnis von Vernunft und Aufklärung, das bereit wäre, dem Lachen eine eigene Form von Vernunft und Vernünftigkeit zuzuerkennen, die Grundlage einer aufgeklärten Aufklärung und damit wiederum die Grundlage auch einer heiteren Aufklärung bieten könnte. Letztes Ziel wäre also eine »Kritik der ekstatischen Vernunft«. Wenn die Brüder Böhme nun die These vertreten, »daß die Aneignung der eigenen Natur in der Form der Beherrschung zugleich Ursache und Ausdruck des Fremdwerdens dieser Natur ist« (S. 55), so heißt dies, übertragen auf unser Thema, daß die über viele Jahrhunderte erhobene Forderung, sein Lachen zu beherrschen oder besser gar nicht erst zu lachen, zwangsläufig dazu führen mußte, daß auch das Lachen im Lichte dieser reduzierten Form von Vernunft und Vernünftigkeit geradezu als eine feindliche Macht erschien, die es ständig zu bekämpfen und endlich zu besiegen galt. Mit einem Wort: Das Lachen erscheint zunächst als der Zwilling der Unvernunft, später, in christlichen Zeiten, als der Zwilling von Unvernunft und Sünde zugleich, und im Zeitalter der Aufklärung wieder als Zwilling der Unvernunft. Wie aber müßte es einer Aufklärung erscheinen, die sich explizit als Heitere Aufklärung versteht? Und wie einer Aufklärung, die sich gar als aufgeklärte Aufklärung versteht? Die erste Konsequenz, scheint mir, müßte darin bestehen, das imperiale »faustische« Weltund Selbstermächtigungs-Programm durch ein Programm leiblicher Widerfahrnisse zu ergänzen, sich also nicht mehr primär und ausschließlich als Handelnder zu verstehen, sondern als jemand, der sich auch etwas widerfahren läßt und bereit ist, auch in diesen leiblichen Widerfahrnissen Vernunft zu erkennen. Die Horazisch-Kantische Maxime Sapere aude! müßte also durch die Maxime Experiri aude! und durch die Horazische Maxime Desipere aude in loco! ergänzt werden. Das würde bedeuten, daß man dem Lachen nicht als einem Ver823 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

halten begegnen dürfte, das es primär zu beherrschen gilt und über das man imperial zu verfügen hat, sondern als einer Macht, der man sich gelassen anvertrauen darf. Nicht absolute Selbstermächtigung dürfte also das Programm Heiterer Aufklärung sein, sondern das Wissen um das ausgewogene Zusammenspiel von Handlung und Widerfahrnis, von Selbstermächtigung und Selbsthingabe, von Verfügen und Vertrauen, denn erst in diesem Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe erfährt man sein Leben und lacht sein Lachen. Und das Ziel einer Heiteren Aufklärung müßte darin bestehen, die wahnhafte Dämonisierung des Lachens als Zwilling der Unvernunft zurückzunehmen und in diesen Dämonen eher wohlwollende Götter zu entdecken. Aber wer weist uns den Weg zur Überwindung dieser reduzierten Aufklärung? Hier bieten sich, wie mir scheint, vor allem Herder, Goethe und Jean Paul an. Herder entwickelt in seiner Abhandlung Ueber Bild, Dichtung und Fabel von 1787 in einigen wenigen Sätzen einen kompletten Gegenentwurf zur »faustischen« Verfügungs-Ideologie, der von Widerfahrnis-Charakter des menschlichen Daseins ausgeht, indem er schreibt: »Alles, was ist, sehen wir wirken; und schließen mit Recht, daß der Wirkung eine wirkende Kraft, mithin ein Subject zum Grunde liege; und da wir Personen sind, so dichten wir uns an allem Wirkenden der Naturkräfte persönliche Wesen. Daher nun jene Belebung der ganzen Natur. (…) Der sinnliche Mensch kann nun nicht anders, als sinnlich ordnen; und indem er in alles Wirkende seine eigne ganze Wirkungskraft hinüberträgt: so erscheinen ihm Götter in allen Elementen. Im rauschenden Wasserfall, im Meer, im Sturm, in allen Bewegungen der Natur sind lebendige, wirkende, handelnde Wesen. Aus Reisebeschreibungen ist ja bekannt, daß dieser Glaube allen Nationen gemein sey; ja, wie sollte er’s nicht seyn, da auch wir ihn unter uns allen sinnlichen Menschen, Kindern, Weibern, Menschen in Leidenschaft, in Verrükkung, im Traum der Gedanken, sogar in jedem Augenblick, da sie nicht auf ihrer Hut sind, gemein finden? Die Furcht, zumal in der Finsterniß, die Traurigkeit, Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung und jede andere Leidenschaft macht in unvermutheten Augenblicken uns alle noch zu Wilden, denen bald dieser, bald jener Gegenstand zu leben scheint, und in sonderbaren Eindrücken auf uns wirket. In der Kind-

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Überblick

heit sehen wir lange Jahre die Welt so an, und in Träumen kommen uns solche Personifikationen der Kindheit häufig wieder. Der Zustand unsrer kalten Besonnenheit ist ein künstlicher, durch Erfahrung, Lehre und Gewohnheit allmählich erworbener Zustand, dessen Besitz uns in völlig unerwarteten Fällen zu erhalten oft schwer wird.« (29,19 f.)

Aus all diesen Überlegungen zieht Herder den Schluß, man müsse »ein Nymphäum dieser Phantasmen unsers Geschlechts« erstellen, und fügt hinzu: »Es wäre die Geschichte des vernünftigen Wahnsinnes, in welchem, wie Polonius von Hamlet sagt, allenthalben Methode statt findet; eine sehr mannigfache Blumenlese, die Probe von Reichthum und der Armuth aller menschlichen Erfindung.« (29,20)

So gesehen würde auch eine Phänomenologie des Lachens in diese Blumenlese »vernünftigen Wahnsinns« gehören, der, wie Jean Paul meint, immer zugleich auch ein Blick in »das ungeheure Reich des Unbewußten« (60,81) wäre, ein Blick in dieses »in jedem Sinne wahre innere Afrika« (60,81). Der andere Wegweiser neben Herder und Jean Paul, dem wir uns hier anvertrauen können, ist Goethe, der in seinen Maximen und Reflexionen unter § 643 einen Gedanken entwickelt, der sich wie ein Echo auf Herders Überlegungen liest; denn auch Goethe beschwört hier die Macht des Atmosphärischen und läßt mit diesen wenigen Sätzen all die Streitigkeiten zwischen dogmatischer Aufklärung und dogmatischer Offenbarung als obsolet erscheinen: »Den teleologischen Beweis vom Dasein Gottes hat die kritische Vernunft beseitigt; wir lassen es uns gefallen. Was aber nicht als Beweis gilt, soll uns als Gefühl gelten, und wir rufen daher von der Brontotheologie bis zur Niphotheologie 2 alle dergleichen fromme Bemühungen wieder heran. Sollten wir im Blitz, Donner und Sturm nicht die Nähe einer übergewaltigen Macht, in Blütenduft und lauem Luftsäuseln nicht ein liebevoll sich annäherndes Wesen empfinden dürfen?« (4,93)

Und, so ergänze ich, sollten wir im überwältigenden ekstatischen Lachen nicht die machtvolle Epiphanie des Gottes Gelos empfinden dürfen, die sich mit genau demselben Vokabular beschreiben läßt wie die Epiphanie irgendeines anderen Gottes auch und die bei seinen Gläubigen auch vergleichbare ekstatische und enthusiastische Verhaltensweisen hervorruft, wenn sein Geist über sie kommt? 825 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

Wem diese Fragen schrill in den Ohren klingen oder als pure Blasphemie gelten, muß sich fragen lassen, warum sich derlei Analogien überhaupt anbieten, denn all dies deutet doch offensichtlich auf anthroponome Konstanten hin, auf Verhaltensmuster, die Aristoteles als proprium hominis bezeichnen würde, da er ja auch schon das Lachen zu diesen propria gezählt hatte. Im Lichte dieser Überlegungen stellen sich nun folgende Fragen für eine Heitere Aufklärung: • Wie kann in einem Verhalten wie dem Lachen, das zwar spezifisch menschlich ist, in bestimmten seiner Formen aber dem Ideal der Vernünftigkeit so eklatant zu widersprechen scheint, doch noch ein Kern von Vernunft entdeckt werden? • Muß dieses Lachen unbedingt ein heiter optimistisches Lachen sein? • Wie kann dieser Kern von Vernunft, falls es ihn denn geben sollte, für die Aufklärung vielleicht sogar nutzbar gemacht werden? • Kann man vielleicht sogar dem Lachen selbst eine Erkenntnisfunktion zuweisen und es in bestimmten literarischen Formen für die Aufklärung instrumentalisieren? • Was aber, wenn es diesen Kern von Vernunft im Lachen oder auch nur in bestimmten seiner Formen nicht gibt? Muß man dann das Ideal einer vernünftigen Lachmündigkeit aus dem Programm der Aufklärung streichen und das Ideal einer Heiteren Aufklärung als holden Wahn abtun, so schmerzlich das auch wäre? • Oder muß man sich zu der Erkenntnis durchringen, daß das Programm einer dogmatisch ernsten Aufklärung selbst wieder der Aufklärung bedürfte, weil es sich vielleicht bloß um ein extrem verkürztes Ideal von Aufklärung handelt, das sich bestimmten Vorurteilen und Grundannahmen, ja sogar bestimmten Ängsten und Ressentiments verdankt, die dieses verkürzte Verständnis von Aufklärung bestimmt haben, als solche aber nicht deutlich genug erkannt, durchschaut und relativiert worden sind? • Konkreter gefragt: Resultiert vielleicht der Abscheu auch der Aufklärung vor Phänomenen wie dem exzessiven ekstatischen Gelächter, das stereotyp als »pöbelhaft« und als »mirth of the 826 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung

mob« (Shaftesbury) verdammt wird, immer noch aus einem generellen tiefsitzenden Unbehagen an allem, was »von unten« kommt und »von unten« droht, vom unedlen Wilden in uns selbst, vom Primitiven aus dem »wahren inneren Afrika« (Jean Paul), aus einem Unbehagen, dem wir schon in Platons Politeia als Unbehagen am allzu lachbereitem Pöbel begegnet sind? • Noch konkreter gefragt: Zeigt sich in diesem Horror vor allem Ekstatischen nicht eine elitäre Oberklassen-Ideologie, die sich selbst jedoch ganz und gar nicht als spezielle Oberklassen-Ideologie empfindet, sondern als Gewissen der gesamten vernünftigen und aufgeklärten Menschheit? Haben wir es hier mit einem tief verinnerlichten verengten Blick von oben zu tun, der zwar gern die Anderen von oben betrachtet, den Blick in das eigene Innere und seine Abgründe jedoch strikt verweigert, weil dieser Anblick genauso zum Fürchten ist wie der Blick auf den »Pöbel« dort unten? Es wird sich zeigen, daß dieser Blick ins »wahre innere Afrika« von keinem der Aufklärer so recht gewagt worden ist, und das dort zu entdeckende »schwarze Lachen« eigentlich erst nach der Französischen Revolution in den Blick rückte. (Das gehört aber schon ins nächste Kapitel.) 2.12.2 Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung In der Erzählung Lucifer, die 1847 entstand und die geistige und politische Atmosphäre Deutschlands im Vormärz aus der Perspektive eines Dorfes im südlichen Schwarzwald schildert, läßt Berthold Auerbach (1812–1882) u. a. einen ultramontanen Haßprediger auftreten und gegen die Vertreter der Aufklärung wettern, durch die sich die traditionellen Mächte der Heiligen Allianz in Staat und Kirche, insbesondere aber der neue Papst Pius IX. herausgefordert fühlten. Als der letzte Vertreter der Aufklärung galt damals Ludwig Feuerbach (1804–1872), dessen Buch Das Wesen des Christentums (1841) gerade erschienen war und eine erbitterte Auseinandersetzung ausgelöst hatte. In dieser Predigt ist aber nicht von »Aufklärung« die Rede, son827 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

dern vom »Aufkläricht«, und so donnert dieser ultramontane Eiferer den eigensinnigen Anhänger der Aufklärung in seiner Gemeinde an, er habe mit der Aufklärung buchstäblich Dreck gefressen, womit er natürlich auf Mephistos Ausruf »Staub soll er fressen!« aus dem Prolog im Himmel anspielt: »Siehst du, da hätten wir also Einen, der den Aufkläricht verkostet hat, den die fürnehmen, buchgelahrten Herren in der Stadt euch gar mildiglich bereiten. (…) Juden und Lutherische und Katholiken, die in Staatsmastung stehen, werfen dir Etwas zu, wenn sie sich toll und voll gefressen haben und nicht mehr mögen. (…) Aber in dem Aufkläricht ist ein wurmäsiger Apfel von dem Baume, daran die Schlange war, der mundet dir, da schmatzest du, daß dir die Brühe von allen beiden Mundwinkeln herunterlauft, wenn die Schlange spricht: es giebt keine Erbsünde, das ist eitel Pfaffentrug aus finsteren Zeiten, wo man noch nichts wußte vom Licht und noch nicht schmeckte den Aufkläricht.« 3

In diesem Stil geht es dann seitenlang weiter. Der konkrete Anlaß für diese eifernde Bußpredigt ist die Hagelversicherung 4, die ein Bauer namens Luzian abgeschlossen hatte, denn damit hatte er in den Augen der Kirche in aller Deutlichkeit demonstriert, daß er nicht gewillt ist, irgendwelche Naturkatastrophen als Willen Gottes und als Prüfung seines Gottvertrauens voller Demut und Ergebenheit einfach hinzunehmen, und daß er außerdem auch den Gnadenmitteln der Kirche viel weniger zutraut als einer profanen Versicherung, da eine Versicherung den Hagel zwar nicht abwenden kann, dafür aber den angerichteten Schaden ersetzt, ganz im Gegenteil zu den Gnadenmitteln der Kirche, die weder das eine noch das andere bewirken. Und zu einer rein brontotheologischen Betrachtung eines Gewitters wird sich ein Bauer wohl sowieso nicht durchringen können. Als dann tatsächlich ein verheerendes Unwetter kommt und die Ernte zerschlägt, steht der aufgeklärte Bauer trotzdem nicht als gerechtfertigter Reformer da, sondern als Rebell gegen Gott und die heilige Kirche; er wird durch den inquisitorischen Haß des Pfarrers im Dorf völlig isoliert und wandert schließlich aus ins aufgeklärte Amerika. In dieser Schwarzwälder Dorfgeschichte wiederholen sich also in gewisser Weise all die Kämpfe, die man in ganz Europa mehr als hundert Jahre vorher schon einmal durchgefochten hatte, und die 828 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung

Predigt dieses Dorfpfarrers benennt denn auch mit sicherem Blick die zentralen Impulse, aus denen sich die Aufklärung speiste. Dies war v. a. ein fundamentaler emanzipatorischer Impuls, der das christliche Dogma von Sündenfall und Erbschuld im Kern angriff, gepaart mit dem Impuls, bestimmte Widerfahrnisse nicht mehr einfach als Äußerungen des unerforschlichen göttlichen Willens hinzunehmen, sondern ihnen durch eigene vorausschauende Planung kompensatorisch und womöglich sogar privativ zu begegnen. Unterfüttert war all das durch eine Haltung, die man als das »Prinzip Optimismus« bezeichnen könnte. Dieser metaphysisch begründete Optimismus der Aufklärung war für das Christentum aber nicht weniger gefährlich als die dezidierte Leugnung der Erbsünde, denn wer diese Welt für die beste aller denkbaren hält, und sich dazu einen Gott denkt, »der alles so herrlich regieret«, wird sich alsbald auch die Frage stellen, wozu es dann eigentlich noch einen Christus braucht, der durch seinen Sühnetod diese Welt erlösen soll. Diese Grundimpulse bieten für eine Aufklärung, die sich explizit als Heitere Aufklärung versteht, natürlich erst recht den Antrieb, weil all dies zusammen eine Grundstimmung von Heiterkeit, Befreitheit, Erleichterung, Optimismus und Lachbereitschaft erzeugt und somit dem Lachen in vielerlei Form Vorschub leistet. Wir werden aber auch sehen, daß beide Impulse durch bestimmte »dunkle Empfindungen« (Herder) schon einen gegenläufigen Impuls in sich trugen, der sich jederzeit manifestieren und eine Heitere Aufklärung in ihre Schranken verweisen kann. Und schließlich werden wir auch sehen, wie die metaphysischen Grundlagen Heiterer Aufklärung unter den Hieben der kritischen Philosophie in sich zusammenfielen und durch neue Paradigmen ersetzt werden mußten. 2.12.2.1 Die Aufrichtung zur Mündigkeit Als die Berlinische Monatsschrift, das weitaus wichtigste Organ der deutschen Aufklärer, im Winter 1783/84 eine Umfrage zum Thema »Was ist Aufklärung?« veranstaltete, antwortete u. a. auch Kant mit einem kurzen Aufsatz, der mit den Sätzen beginnt: 829 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, wenn die Ursache desselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist der Wahlspruch der Aufklärung.« (VI,53)

Nach dieser Verbeugung vor Horaz spielt er auf den Gegensatz von »fromm« (gehorsam) und »frech« (aufrecht) an, vergleicht die feigen und faulen Unaufgeklärten mit frommem Hausvieh, das sich dumm und gehorsam hat machen lassen, und betont, die Aufklärung sei »vorzüglich in Religionssachen« (VI,60) nötig, und mahnt schließlich noch an, »sich nicht vor Schatten zu fürchten.« (VI,61) Damit ist klar, daß Kant Aufklärung ausschließlich als eine zu erbringende Leistung und als Verdienst versteht, und nicht als etwas, das uns ohne unser Zutun in den Schoß fällt. Mit einem Wort: Aufklärung ist Selbstaufklärung. Die Grenzen der Aufklärung sieht Kant deshalb in Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit, die den Entschluß zur Selbstaufklärung untergraben. Ähnlich argumentiert auch Wieland, der ganz von der LichtMetaphorik des Wortes »Aufklärung« ausgeht und Aufklärung als Ausleuchtung und Hellmachen dunkler Räume versteht. Die natürlichen Gegner dieser Art von Aufklärung sind für ihn deshalb alle, »die ihr Geschäft im Dunkeln treiben« (30,372) bzw. in einem von ihnen selbst »zweckmäßig veranstalteten Halbdunkel« (30,373). Daher gilt für ihn: »Das Licht des Geistes, wovon hier die Rede ist, ist die Erkenntniß des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen. Hoffentlich wird Jedermann zugeben, daß es ohne diese Erkenntniß eben so unmöglich ist, die Geschäfte des Geistes recht zu treiben, als es ohne materielles Licht möglich ist, materielle Geschäfte recht zu thun. Die Aufklärung, d. i., so viel Erkenntniß als nöthig ist, um das Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können, muß sich also über alle Gegenstände ohne Ausnahme ausbreiten, d. i. über alles dem äußeren und inneren Auge Sichtbare.« (30,372)

Und die Grenzen der Aufklärung liegen für ihn dort, »wo bei allem möglichen Lichte nichts mehr zu sehen ist« (30,373). 830 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung

Daß Wieland Aufklärung als »Erkenntniß des Guten und Bösen« versteht und Kant Aufklärung »vorzüglich in Religionssachen« für nötig hält, zeigt, daß die Stoßrichtung der deutschen Aufklärung v. a. auf die christliche Lehre von Sündenfall und Erbsünde zielte und Aufklärung als Zurücknahme eben dieses Dogmas bzw. als Zurücknahme des Sündenfalls selbst verstand. Damit zielte sie auf den innersten Kern christlicher Lehre überhaupt, wie sie bei Paulus, Augustinus und Luther formuliert worden ist. Da nun aber bei Augustinus das mythische Szenario von Selbstüberhebung, Sündenfall und Erbsünde zugleich auch eine Ätiologie des Lachens in sich birgt, ist jeder Angriff auf die christliche Lehre von Sündenfall und Erbsünde immer zugleich auch ein Angriff auf die von Augustinus gestiftete christliche Gelotologie, deren Spuren wir bis hin zu Thomas Hobbes verfolgen konnten. So wie der Sündenfall aus dem hoffärtigen Aufstand gegen Gott resultiert, so wiederholt sich für Augustinus in jedem Lachausbruch aufs neue dieser primordiale Sündenfall als Aufstand des Fleisches gegen den Geist, da die seit Augustinus kanonisierte christliche Gelotologie nur auf das sündhaft anmaßende Auslachen-von-oben fixiert ist. Schon deshalb muß eine Aufklärung, die sich als heitere Aufklärung versteht, die Zurückweisung oder radikale Umdeutung der christlichen Lehre von Sündenfall, Erbsünde und Vertreibung aus dem Paradies zu ihrem zentralen Thema machen, da ihr ja an einer umfassenden Rechtfertigung des Lachens gelegen sein muß. Blicken wir zurück auf Augustinus: Ausgangspunkt für ihn war bei unserem Thema der Umstand, daß bestimmte körperliche Vorgänge sich an uns, in uns und mit uns als tendenziell unverfügbare Widerfahrnisse vollziehen können, was er ganz offensichtlich nicht einfach hinnehmen wollte, sondern als »Aufstand« seines eigenen Fleisches gegen ihn selbst empfand und damit als eine tiefe narzißtische Kränkung und als Beleidigung seines Herrschaftswillens. Augustinus ging sogar so weit, diesen Zwiespalt des Menschen mit sich selbst, den andere mit Gelassenheit hinnehmen, ins Kosmisch-Metaphysische zu projizieren und zu einem Zwiespalt des Menschen mit Gott auszuweiten: »Denn worin besteht des Menschen Elend, wenn nicht im eigenen Ungehorsam gegen sich selbst, da er nun (nach Sündenfall und Ver-

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Heitere Aufklärung

treibung aus dem Paradies) will, was er nicht kann, während er einst nicht wollte, was er konnte? Denn obwohl er im Paradiese vor dem Sündenfall nicht alles konnte, wollte er doch auch nicht, was er nicht konnte, und konnte darum alles, was er wollte.« (Gottesstaat II,188)

Wie man sieht, scheint Augustinus ein Ausbund an Herrschsucht und Selbsthaß gewesen zu sein, und außerdem muß er von exzessiver Humorlosigkeit gewesen sein. Diese fanatische Herrschsucht war es wohl auch, die Augustinus dazu brachte, überall und sogar am eigenen Leibe nur Ungehorsam, Auflehnung, Aufstand und Rebellion zu sehen und dahinter wieder die allfällig lauernde Hoffart (superbia). So gesehen hätte Augustinus in Kants Forderung nach »Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« nichts als Rebellion gegen Gott, Kirche, Staat und auch gegen sich selbst erkennen können, und in dem Bedürfnis nach Mündigkeit wiederum nichts als Anmaßung und Hoffart. Und so haben ja auch die dogmatischen Christen aller Konfessionen die Aufklärung eingeschätzt. Was dem Angriff der Aufklärung auf die christliche Lehre von Sündenfall und Erbsünde seine besondere Brisanz verlieh, war aber nicht der Nachweis, daß eine solche Anmaßung von Mündigkeit berechtigt ist, sondern der Nachweis, daß diese angebliche Anmaßung gar keine Anmaßung ist, hinter der ein überzogenes sündhaftes Wollen steht, sondern daß die Aufrichtung zur Mündigkeit ein ganz natürlicher Vorgang ist, der in der menschlichen Natur selbst als proprium hominis vorgegeben ist, gleichsam »wie von selbst« geschieht und deshalb nicht schuldbeladener sein kann als die Aufrichtung eines krabbelnden Kindes zum aufrechten Stand in seinem Laufställchen oder der Zahnwechsel oder der Eintritt in die Pubertät. Mit einem Wort: Für die Aufklärung war das von Augustinus geprägte christliche Menschenbild ein realitätsfremdes Wahngebilde, und deshalb lautete die These der Aufklärer in diesem »Streit der Fakultäten«: Das im biblischen Mythos dargestellte Szenario von Sündenfall, Erbsünde und Vertreibung aus dem Paradies kann nicht und darf auch nicht nach theologischen, sondern muß nach anthropologischen Kriterien beschrieben und gedeutet werden und stellt, so gesehen, dann auch keine primordiale Katastrophe der Menschheit dar, sondern als Aufrichtung zur Mündigkeit deren primordiale Emanzipation. 832 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung

Diesen fundamentalen Wechsel vom theologischen zum anthropologischen Deutungsparadigma verdanken wir Johann Gottfried Herder, der den biblischen Adam, der aufrechten Hauptes das Paradies verläßt, als den »ersten Freygelassenen der Schöpfung« feierte. Ähnlich formulierten es dann auch Kant und Schiller, die Adams Vertreibung aus dem Paradies als »Entlassung aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« bzw. als Vertreibung aus »dem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft hinauf ins Paradies der Erkenntnis und Freiheit« verstanden. Vorbereitet wurde Herders fundamentale Revision der GenesisErzählung durch die Wertheimer Bibel (1735) von Johann Lorenz Schmidt (1702–1749), die in der deutschen Gelehrtenrepublik einen Riesenskandal 5 verursacht hatte, bei dem sich Pietisten und Aufklärer unversöhnlich bekämpften. Schmidt, der bei Wolff in Halle studiert hatte und sich durchaus als dessen Schüler verstand, hatte sich bei seiner Übersetzung einige Freiheiten herausgenommen, die die Empörung aller orthodoxen Theologen seiner Zeit provozierten. Er hatte nicht nur die Sprache seiner eigenen Zeit sehr frei verwendet, sondern vor allem auch das Prinzip des dogmatisch vorgegebenen mehrfachen Schriftsinnes mißachtet, demzufolge prinzipiell jeder Satz des Alten Testamentes auf Jesus als den Christus vorausweist und dort im Neuen Testament wiederum »erfüllt« wird, »auf daß erfüllet werde, was geschrieben steht«. Diese Fragen theologischer Figuraldeutung interessieren uns hier jedoch nicht. Viel wichtiger für unsere Fragestellung ist die Art und Weise, wie Schmidt die Sündenfall-Szene der Genesis übersetzte, denn bei ihm liest sich die Übertretung des Verbotes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht mehr als Bekundung von Anmaßung und Hochmut, wie man dies seit Origenes und Augustinus verstanden hatte, sondern ganz kantisch als »Austritt aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«; denn in der Luther-Übersetzung hatte die Schlange versprochen: »Ihr werdet mitnichten des Todes sterben, Sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist.« (Genesis 3,4 f.)

In der Wertheimer Bibel lautet die Passage: 833 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Die Schlange versetzte: ach nein, ihr werdet nicht des Todes seyn. Vielmehr weiß Gott wohl, daß ihr eine große Erleuchtung bekommen werdet, wenn ihr von dem Obst esset: ja, ihr werdet einen göttlichen Verstand bekommen, und zu einer höhern Erkäntniß gelangen.« 6

Dies geschieht dann auch, beiden geht ein Licht auf, und sie merken, daß sie nackt sind und schämen sich entsprechend. Wie man sieht, ist der Antrieb für Adam und Eva nicht mehr der Wunsch, zu sein wie Gott, oder der Wunsch, auch ein Gott zu sein, oder gar der Wunsch, Gott selbst zu sein, sondern nur das Bestreben, mehr zu wissen als vorher, mit anderen Worten: der Wunsch, aufgeklärt zu werden. Aus dem superbia-Szenario ist ein curiositas-Szenario geworden, ein Akt der Selbstaufklärung jenseits von Gut und Böse, bei dem die Schlange eine förderliche Rolle spielt und der biblische Gott als jemand erscheint, der diesen Zuwachs an Wissen und Erkenntnis bei seinen Geschöpfen aus purer göttlicher Mißgunst zu hintertreiben sucht, weil er nicht möchte, daß seinen Geschöpfen ein Licht aufgeht. Anders formuliert: Die Schlange erscheint als Aufklärer, und Gott als Dunkelmann, der sein Schöpfungswerk nur gut findet, solange sein Meisterstück dumm bleibt, und dem er deshalb auch verbieten will, sich mit Obst »zum Doktor zu fressen«. 7 Was für eine Blasphemie! Selbstverständlich machte man dem Übersetzer sofort den Prozeß und warf ihn ins Gefängnis, aus dem er allerdings floh, und dann lebte er jahrelang unter falschem Namen in Norddeutschland, bis er schließlich schon 1749 starb. Wenn man sich allerdings die Übersetzung der fraglichen Passage in der Bibel in heutigem Deutsch ansieht, reibt man sich die Augen und fragt sich, was der Wertheimer Übersetzer denn eigentlich verbrochen haben soll, denn dort heißt es: »›Glaubt doch das nicht‹, sagte die Schlange, ›auf keinen Fall werdet ihr sterben! Aber Gott weiß: Sobald ihr davon eßt, werden euch die Augen aufgehen, und ihr werdet alles wissen, genau wie Gott. Dann werdet ihr euer Leben selbst in die Hand nehmen können.‹«

Ähnlich wie die Wertheimer Bibel argumentierte auch Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) in seiner Apologie, zu der er durch Schmidts Übersetzung angeregt und ermutigt worden war. Reimarus wagte aber nicht, sein Werk zu Lebzeiten zu publizieren, da er 834 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gesehen hatte, wie man den Wertheimer Übersetzer als bürgerliche Existenz vernichtet hatte, und deshalb wurde sein Werk erst nach seinem Tod ab 1774 durch Lessing veröffentlicht, und auch da nur in Auszügen und außerdem noch ohne Nennung des Autors. Der Titel lautete einfach nur Fragmente eines Ungenannten, aber der Skandal 8 war auch hier gewaltig. Reimarus bezeichnet seine Apologie zwar als »Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, verteidigt darin aber nicht die Offenbarung gegen die Angriffe einer weltlichen Vernunft, sondern die natürliche und vernünftige Religion gegen die Angriffe der dogmatischen Offenbarung bzw. gegen das, was er dafür hielt. Formal gesehen ist die Apologie ein philologisch-hermeneutisch orientierter Kommentar zur Bibel, denn Reimarus war Dozent für Hebräisch. Was Reimarus zum biblischen Sündenfall als dem angeblichen »Verfall des Menschen« (II,451 ff.) zu sagen hat, läuft auf den Vorwurf hinaus, ein allwissender Gott habe hier ein zynisches Szenario arrangiert, das dem Menschen gar keine Chance lasse, unschuldig zu bleiben, und deshalb kommt er zu dem Schluß: »Also ist Gott (absit a me quidem blasphemia!) nach diesem angegebenen Ursprunge des Falles die moralische Ursache der ersten Sünde des Menschen, und folglich alles daraus entstandenen Unheils.« (II,462)

Mit diesem Fazit steht Reimarus trotz seiner Beteuerung, er weise jede blasphemische Absicht weit von sich, schon auf dem Boden der Gnosis, die im biblischen Schöpfergott einen bösartigen Pfuscher sah, bleibt damit aber noch im Rahmen theologischer Argumentation. Dann verliert er sich aber in abstruseste Vernünftelei, und moniert z. B., daß eine Schlange wegen ihrer Anatomie ja wohl nicht sprechen könne und daß man schon deshalb den Wahrheitsgehalt des biblischen Berichtes heftig anzweifeln müsse. In diesem Stil geht es viele Seiten weiter, sodaß man sein Werk feixend beiseite legt. So verstiegen eine solche Art »vernünftiger« Theologie oder Philologie immer auch sein mag, so blieb sie doch nicht folgenlos, denn damit war das christliche Dogma von Sündenfall und Erbsünde gleich von zwei Seiten her angegriffen: Zum einen aus der Perspektive der optimistischen Theodizee, da etwas wie die als Erbschaden oder Erbschuld verstandene Erbsünde schlecht in eine 835 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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vollkommene Welt passen will, weshalb Wieland wohl auch die häretische Apokatastasis-Lehre des Origenes in sein Theodizee-Gedicht eingebaut hat, und zum anderen aus der Perspektive einer natürlichen Vernunftreligion, die das Dogma von Sündenfall und Erbsünde geradezu als Affront und als Abwälzung einer Schuld vom Täter auf das Opfer verstand. So gesehen kann es nicht verwundern, daß wir im 18. Jahrhundert eine ganze Reihe von Versuchen finden, die Deutung des biblischen Szenarios von Sündenfall, Erbsünde und Vertreibung aus dem Paradies den Theologen aus der Hand zu nehmen, das ganze Szenario fundamental neu zu deuten und ins Positive zu wenden, sodaß aus dem Sturz ein Aufstieg, aus der Vertreibung eine Befreiung, aus dem Erbschaden ein Patrimonium und ein weiteres proprium hominis wurde. Den weitaus wichtigsten Beitrag zu dieser Debatte lieferte Herder mit seiner Abhandlung Älteste Urkunde des Menschengeschlechts 9 von 1774/76 und mit seinem großen Werk Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, das von 1784 bis 1791 in vier Bänden erschien. Hier entfaltet Herder seinen Grundeinfall vom vertikalen Impuls, der schon in der erstgenannten Abhandlung den Gedankengang bestimmt hatte, zu einem umfassenden Deutungsansatz sowohl für die Phylogenese wie für die Ontogenese des Menschen. Für unsere Fragestellung ist Herders Verweis auf den vertikalen Impuls von allergrößter Bedeutung, und zwar nicht nur für den ideengeschichtlichen, sondern auch für den systematischen Teil dieser Studie über das Lachen, weil er ein Prinzip benennt, das auch für die Analyse des Lachens von fundamentaler Bedeutung ist, denn jede etwas ausgeprägtere Form des atmungsrelevanten Lachens beeinträchtigt zwar in irgendeiner Weise die aufrechte Haltung mehr oder weniger massiv, stellt sie aber letztlich doch auch wieder her. Für Verlust und uroborischen Wiedergewinn des vertikalen Habitus bei heftigem Lachen gilt also genau das, was Wieland in seinem Theodizee-Gedicht über das Übel in der Welt feststellt: Es verzehrt sich selbst. Und deshalb feiert er seinen aufgeklärten Gott mit den Worten: »Er, der das Räderwerk der Welt, die er gebaut, Der Wesen Innerstes, mit Einem Blick durchschaut,

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Und selbst die Kette zog, an der sich alles schließet Und ineinander greift und aus einander fließet, Weiß daß dem Guten nichts den ew’gen Fortschritt wehrt, Und daß das Uebel sich allmählich selbst verzehrt.« (25,135)

Das für uns wichtigste Kapitel in Herders Abhandlung über die Genesis trägt den Titel »Abfall des Menschengeschlechts. Eine Gartenerzählung« und interpretiert das dritte Kapitel der Genesis. Im Gegensatz zu Reimarus, der sich über eine sprechende Schlange mokiert hatte, hört Herder hier sofort den Tonfall großer Dichtung heraus – »Horcht den Zauberton!« (S. 549) – und sucht ohne jeden vernünftelnden Vorbehalt den paradigmatischen Wahrheitsgehalt aus dieser Fabel herauszuschälen, die deshalb für ihn eben nicht nur Fabel ist. Da sie aber trotzdem immer noch auch Fabel ist, verlangt die Geschichte vom Sündenfall laut Herder methodologisch gesehen eine allegorische Exegese, aber keine, die sich am theologisch-dogmatisch vorgegebenen doppelten Schriftsinn, sondern an einem anthropologischen orientiert, der die damals neuesten Theorien über das Menschengeschlecht10 berücksichtigt. Und deshalb ist Herder sich sicher, er könne seinen Lesern »aus eben diesem Stück eine der schönsten, sinnreichsten und herrlichsten Hypothesen eures Jahrhunderts beweisen, nämlich ›wie der Mensch voraus und ursprünglich auf Vieren gegangen, und wie er am Baum der Erkenntnis aufrecht gehen gelernt, samt allem, was daraus erfolgt ist‹, sehr tragi-komisch zu lesen.« (S. 560)

Das heißt also: Phylogenetisch gesehen beschreibt laut Herder die Szene am Baum der Erkenntnis den Schritt vom Tier zum Menschen; ontogenetisch beschreibt sie die Aufrichtung des Säuglings in der Fremdelphase zum aufrechten Stand; ethogenetisch beschreibt sie die Fähigkeit dazu, Ja und Nein zu sagen, beschreibt also den ersten Schritt seiner Emanzipation zur Person, auch wenn die Person in dieser Phase vorerst nur ein Persönchen sein mag. Und im entschlossenen Vorgriff auf den systematischen Teil dieser Studie über das Lachen füge ich gleich hinzu: Gelogenetisch gesehen beschreibt die Szene die Emanzipation des Säuglings vom völlig unverfügbaren Lachen zur personalen Lachmündigkeit. Und schon aus diesem Grund müssen wir hier ausführlich auf diese Szene eingehen. 837 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Herder macht von allem Anfang an klar, daß es sich beim sogenannten Sündenfall nicht um einen primordialen Sturz des Menschen aus den Höhen irgendeiner Art von Vollkommenheit in irgendeinen Zustand von Korrumpiertheit handelt, sondern um einen völlig natürlichen Entwicklungsschritt jenseits von Gut und Böse und jenseits von Verdienst und Schuld. Aus diesem Grund erzählt er die Schöpfungsgeschichte des Menschen selber noch mal in eigenen Worten und mit einem leicht ironisch humoristischen Unterton, indem er zunächst auf seine berühmte Untersuchung Über den Ursprung der Sprache von 1771 verweist, in der er den Menschen zwar als Mängelwesen 11, aber auch als das unspezialisierteste und deshalb auch lernfähigste Wesen bestimmt hatte. Dann beschreibt er den sogenannten Sündenfall am Baum der Erkenntnis als eine Szene, in der der Mensch die ihm immer schon innewohnende göttliche Natur als seine Entelechie erkennt und verwirklicht: »Unter den Tieren des Feldes ward der Mensch erschaffen und ging also einst (…) auf Vieren. (…) Das war das Paradies. (…) Zum Unglück aber war er (…) das perfektibelste unter den Tieren: in ihm schliefen Fähigkeiten, Kräfte, Vollkommenheiten, die er aufwecken konnte, und so ward er Herr aller Welt: das war (verzeihe mir, heiliger Moses, daß ich deine Worte zu Lästerzungen entweihen muß!) Bild Gottes im Menschen. (…) Er dorfte sie aber nicht aufwecken, seine Gottesfähigkeiten, so blieb er im Paradies glücklich, das ist, ein Tier unter Bäumen und Tieren.« (S. 560)

Aber dann kommt die Erweckung zur Erkenntnis seiner selbst und bewirkt, daß alles, was in ihm an unerweckten Möglichkeiten schlummerte, zur Wirklichkeit wird. Herder sagt zwar nicht so explizit wie die Wertheimer Bibel, daß die Schlange diese maieutische Funktion übernimmt, das Geschäft der Selbstaufklärung des Menschen vorantreibt und ihn dazu bringt, sich aufzurichten, aber er muß es wohl so gemeint haben, denn er fährt fort: »Der erste Zufall (…), der diesen Schlummernden aufweckte, perfektionierte ihn, d. i. machte das Tier zum Menschen. Und der Zufall (…) konnte kein andrer sein, als daß der Vierfüßige aufrecht gehen lernte. Von dieser kleinen und großen Veränderung (…) hingen alle künftigen Veränderungen ab.« (S. 561)

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Und wie kam der Mensch zu diesem Zufall? – »Er kletterte auf Bäume, sich einen Apfel zu holen, und so lernte er (seht Affen und Bären) Perpendikularstellung« (S. 561), also die Aufrichtung zur Vertikalen, und weil der Mensch laut Herder weitaus perfektibler ist als »sein Stiefbruder, der Affe« (S. 561), der auf halbem Wege stehen blieb und nur gebückt geht, kam der Mensch »zum Unglück so weit, daß er das glückliche Gehen auf Vieren verlernte« (S. 561). Und das heißt: »Sogleich wandelte sich Alles.« (S. 561) Für die Entstehung dieses fundamental neuen Verhältnisses zur Welt durch den aufrechten Stand bietet Herder in Kalligone von 1800, seinen Überlegungen zu einer phänomenologischen Ästhetik, noch einen weiteren tiefsinnigen Gedanken an, denn er verfolgt dort den vertikalen Impuls als die allgemeine Tendenz des Menschen, sich aufzurichten, bis hin zu einer Theorie des Erhabenen und greift in dem Zusammenhang nochmal den Gedanken auf, wie dieses so folgenreiche paradiesische »Aufrechtgehen am Baume« (S. 561) wohl zustande gekommen sein könnte. Herder setzt hier bei der allgemeinen Fähigkeit des Menschen zum »Mitgehen« 12, zu mimetischer Resonanz und Einleibung an, auf der nicht nur das Erlebnis von Kunstwerken beruht, sondern grundsätzlich jede Art von sinnlicher Wahrnehmung, und schreibt: »Jede Form der menschlichen Gestalt spricht zu uns, weil wir selbst, mit dieser Form bekleidet, den Geist fühlen, der sich in jener Form offenbaret. (…) Mein Arm erhebt sich mit jenem Fechterarm; meine Brust schwillt mit jener Brust, auf welcher Antäus erdrückt wird. Meine Gestalt schreitet mit Apollo, oder lehnt sich mit ihm, oder schaut begeistert empor.« (15,205 f.)

Aber auch natürliche Objekte nehmen wir laut Herder auf diese Weise mit allen Sinnen und »mit dem Bauch« wahr und verspüren dabei bestimmte Bewegungssuggestionen entsprechend den Anmutungsqualitäten der jeweiligen Objekte. Auf dieses Phänomen sind wir schon im Kapitel über die Katharsis-Theorie des Aristoteles und bei der Wahrnehmungs-Theorie von Laurent Joubert gestoßen. Deshalb kann es nicht verwundern, wenn Herder behauptet, auch die Betrachtung eines Baumes lade allein durch dessen machtvoll aufragende Gestalt dazu ein, sich selbst ebenfalls straff auf839 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zurichten und dabei die angenehme Anmutung von Weitung, Erhabenheit und Würde zu empfinden: »Siehe da den Baum der Erkenntnis, an dem der Mensch aufrecht ward. (…) Nun war er Göttergleich, sah, was er sonst nicht gesehn hatte, konnte sich sogar moralische Unterschiede des Guten und Bösen (…) denken.« (S. 562)

Nun aber empfindet Herders Gott fast den klassischen Götterneid und gerät beinahe in Panik: »›Siehe Adam ist worden als unser Einer!‹ Er geht, wie die Götter aufrecht einher (…) und damit er nicht auch seine Hand ausstrecke, in der ihm jetzo Verstand wohnet, und uns auch die Unsterblichkeit weghasche, wie er uns Gestalt und Weisheit weggenommen hat: siehe so entließ ihn Gott dem Paradiese, seinem glücklichen Tiergarten, und nun fing sich leider! unser gesellschaftliches, gesittetes, vernünftiges Acker- und Hausleben an. Alles vom Baum der Weisheit und der aufrechten Göttergestalt unsres Körpers.« (S. 564)

Wo soll hier also Ungehorsam sein, wo Schuld und Sünde, wo Hoffart und Anmaßung? Worin soll sich, mit Herder zu sprechen, »Überspannung« zeigen, also die superbia, von der angeblich »das Übel des Menschengeschlechts« (S. 565) herrührt? Herder kann von all dem in seiner Lesart des biblischen Szenarios nichts erkennen. Sehr wohl aber ist Adam in seinen Augen ein Opfer von Betrug, Verführung und Mißgunst, und deshalb setzt Herder zu einer Klage über »Vater Adam« an: »Lieber Vater aber, du wurdest betrogen, nicht von der Schlange, nicht vom Weibe, sondern, zittre nicht! – von Gott betrogen, der die Schlange dahin sandte, dich betrügen zu sollen.« (S. 615)

Mit diesem Argument, auf das wir schon bei Reimarus gestoßen sind, wird die These von der durch Adams Hoffart verursachten Erbsünde sofort hinfällig, die denn auch von Adam selbst rundweg abgestritten wird (vgl. S. 616 f.), der schließlich selbst zu einer Predigt ansetzt, in der er alle Menschen auffordert, sich die Erbsünde nicht mehr länger einreden zu lassen: »Laßt euch nichts zurechnen!« (S. 617) Steht also auch Herder neben Reimarus auf dem Boden der Gnosis? Zeichnet auch er den biblischen Schöpfergott als bösartigen Pfuscher und mißgünstigen orientalischen Despoten, der seine 840 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Geschöpfe wieder zum Teufel wünscht? – Offensichtlich nicht, denn Herder zieht aus all seinen Überlegungen folgende Bilanz: »Der erste Ungehorsam im Gewande der Scham, die Scham im Gewande der Schuld, die Lasten der Menschheit, heilige Bürde der väterlichen Strafe, der Erste kleine Fehltritt, das Spiel eines Apfels, Arznei bis zum jüngsten der Tage - - . Und alles wie leicht, wie jugendlich, wie im Scherz der Versehung! Ihr seht in der ganzen Geschichte keinen ergrimmten Blick, keinen betrogenen zornigen Richter.« (S. 618)

Was wir laut Herder sehen, ist eine Geschichte mit einem eher glücklichen Ausgang, denn was der Mensch erreicht hat, ist die aufrechte göttliche Gestalt und das Wissen um Ja und Nein, sodaß sein Schöpfer über ihn ohne Neid und Mißgunst, ja sogar mit Zufriedenheit und Wohlwollen sagen kann: »Siehe der Mensch ist worden wie unser Einer« (S. 619), weil er all das, was an göttlichen Potenzen in ihm angelegt war, verwirklicht hat. Was er nicht besitzt, um diesem Schöpfergott völlig zu gleichen, ist die Unsterblichkeit, aber die braucht er ja auch nicht, und so verläßt Herders Adam das Paradies nicht als elender Verstoßener oder als Opfer seiner eigenen Hoffart, sondern aufrecht, würdig und stolz, als mündiges Wesen und freier Mann. Und deshalb schreibt Herder in den Ideen, in denen er diesen Hymnus auf die aufrechte »erhabene Göttergestalt« (3,131) fortsetzt: »Der Mensch ist der erste Freygelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Wage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.« (3,173)

In den Ideen, seinem philosophischen Hauptwerk, in dem Herder den vertikalen Impuls in seinen phylogenetischen, ontogenetischen und völkergeschichtlichen Auswirkungen breit darstellt, ist eigentlich nur der erste Band für unsere Fragestellung von Bedeutung, in dem er das biblische Szenario von Sündenfall, Erbsünde und Vertreibung nochmal darstellt, allerdings ohne daß grundsätzlich neue Aspekte hinzutreten würden, und so hinterläßt auch die Lektüre der Ideen den Eindruck einer gründlichen Kritik und Revision traditioneller theologischer Positionen mit dem generellen Impetus: »Los von Augustinus!«. Ideengeschichtlich gesehen liest sich diese entschiedene Revision kanonischer Glaubenssätze z. T. als Rehabilitierung frühchristlicher Häresien, wie man dies auch bei Wielands und Hallers Anleihen 841 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bei Origenes sehen kann, z. T. aber auch als nachträgliche Rechtfertigung einer frühchristlichen Anthropologie, die durch die Übermacht augustinischer Theologie ins Abseits gedrängt und dann vergessen worden ist. So erinnert Herders Argumentation stark an die in Kapitel 2.6.2 vorgestellte Anthropologie der Kirchenväter Clemens von Alexandrien und Laktanz, ohne daß er selbst jedoch auf diese Beziehungen verweisen würde. Im Gegensatz zu Augustinus, der die Tendenz hatte, gelebte Räumlichkeit auf die Vertikale zu reduzieren, dabei aber überall nur Aufstand, Auflehnung, Selbstüberhebung und Hoffart/Hochmut sehen konnte und deshalb die superbia zum Dreh- und Angelpunkt seines Denkens erhob, sahen Clemens und Laktanz in der aufrechten Haltung gerade nicht Hoffart, sondern Stolz und Würde, bzw. sie unterschieden sehr genau zwischen Stolz und Hoffart, zwischen aufrechter würdiger Haltung und überdehntem Aufbäumen. Sie knüpften mit ihren Hymnen auf die aufrechte Haltung auch an die klassischen heidnischen Schöpfungsmythen an, die sich in Platons Timaios und in Ovids Metamorphosen finden und die Augustinus sicher kannte, mit denen er aber durchaus nichts gemein haben wollte, weil er im antiken Ethos von Stolz und Würde nur heidnische Hoffart und Anmaßung erkennen konnte. So lesen wir z. B. bei Clemens: »Von Natur aus ist der Mensch ein aufrechtes und stolzes Wesen und dazu bestimmt, das Schöne zu suchen, weil er ein Geschöpf des einzig Schönen ist.« (II,169)

Bei Laktanz kann man lesen: »Der Mensch aber in seiner aufrechten Stellung, mit dem emporgerichteten Antlitz ist zur Betrachtung des Weltalls geschaffen und tauscht mit Gott den Blick, und die Vernunft erkennt die Vernunft.« (S. 79)

Damit spielte Laktanz auf die Metamorphosen des Ovid an, wo es über den Schöpfergott heißt, er habe den Menschen »nach der Gestalt der allobwaltenden Götter gebildet«: »Während die übrigen Thiere gebeugt die Erde betrachten, Gab er erhab’nes Gesicht dem Menschen, und ließ ihn den Himmel Schau’n, und gerichtet empor ihn den Blick zu den Sternen erheben.« (I,V. 84–86)

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Und in Herders Ideen ruft »Mutter Natur« dem Menschen zu: »Blick also auf gen Himmel, o Mensch! und erfreue dich schauernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer an ein so einfaches Principium, deine aufrechte Gestalt, knüpfte. Gingest du wie ein Thier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für Mund und Nase geformt, und darnach der Gliederbau geordnet; wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit, unsichtbar in dich gesenket?« (3,152)

Denn: »Dir selbst überlassen, wärest du Thier wie andre Thiere; aber durch meine besondre Huld und Liebe gehe aufrecht, und werde der Gott der Thiere.« (3,132) 13

Herder knüpft also an der durch Augustinus gekappten antiken heidnischen Argumentationstradition wieder an, will mit dieser grundsätzlich positiven Deutung der biblischen Genesis als Szenario einer Emanzipation zur Mündigkeit aber nicht ein neues Paradies der flauen Konfliktlosigkeit ausmalen, sondern betont ausdrücklich, daß der Mensch gerade durch seine Freiheit und Mündigkeit sein Leben selbst in die Hand nehmen und in einem fort Entscheidungen treffen muß, die ihm niemand abnehmen kann. Wer aber entscheiden kann, kann auch irren, und nur wer sich aufgerichtet hat, kann auch wieder fallen, und deshalb gilt: »Der Mensch ist der erste Freygelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Wage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwey freye Hände zu Werkzeugen gab, und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten: so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu seyn auf der Wage! Er kann dem trüglichsten Irrthum Schein geben, und ein freywilliger Betrogner werden: er kann die Ketten, die ihn, seiner Natur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherley Blumen bekränzen. Wie es also mit der getäuschten Vernunft ging, so gehet’s auch mit der mißbrauchten oder getäuschten Freyheit; sie ist bey den meisten das Verhältniß der Kräfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Gewohnheit sie festgeschnallt haben. Selten blickt der Mensch über sie hinaus, und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn fesseln, und abscheuliche Gewohnheiten ihn binden, ärger als ein Thier werden.« (3,173 f.)

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An diesem Punkt setzten auch Kant und Schiller mit ihrer Argumentation an, um Herders Anknüpfung an die heidnische Antike fortzuführen: Kant in seiner Abhandlung Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, die er 1786 als Beitrag für die Berlinische Monatsschrift verfaßte, und Schiller mit seiner Vorlesung Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, die er 1789 in Jena hielt. Genau wie Herder sieht auch Kant den paradiesischen Adam als ein noch vormenschliches Naturwesen an, das zunächst allein vom Instinkt geleitet wird, »dieser Stimme Gottes, der alle Tiere gehorchen« (VI,87). Den sogenannten Sündenfall, der den Menschen dann aus der Natur heraushebt, versteht Kant zunächst ganz im Sinne von Augustinus und Luther als experimentum medietatis suae und als conversio ad se ipsum 14 und übersetzt dies als Anspruch des Menschen, »selbst Zweck zu sein« (VI,91). Damit erweist Kant sich jedoch durchaus nicht als orthodoxer Lutheraner, sodaß er darin die Grundsünde des Menschen sehen müßte, sondern verweist sofort auf die fundamentale Ambivalenz einer solchen Form von Selbstbehauptung, indem er betont: »Dieser Schritt ist aber zugleich mit Entlassung desselben aus dem Mutterschoße der Natur verbunden: eine Veränderung, die zwar ehrend, aber zugleich sehr gefahrvoll ist, indem sie ihn aus dem harmlosen und sicheren Zustande der Kinderpflege, gleichsam aus einem Garten, der ihn ohne seine Mühe versorgte, heraustrieb und ihn in die weite Welt stieß, wo so viel Sorgen, Mühe und unbekannte Übel auf ihn warten.« (VI,91)

Von nun an hat der Mensch also die Fröste der Freiheit zu gewärtigen und ist ständig der regressiven Versuchung ausgesetzt, »in den Stand der Rohigkeit und Einfalt zurück zu kehren« (VI,92). Aber von Schuld ist auch bei Kant nicht die Rede. Dieser emanzipatorische Schritt als »Ausgang aus dem Paradies«, als »Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit«, »aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« (VI,92) ist für Kant, wie man an den verwendeten Metaphern ablesen kann, ein Vor844 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gang, der sich in der Ontogenese wie in der Phylogenese des Menschen vollzieht, genau so, wie auch schon Herder dies gesehen und dargestellt hatte. Aber diese Freiheit, so betont Kant, ist immer zugleich auch die Freiheit zum Bösen, und auch hier bleibt er in der Spur, die Herder vor ihm gelegt hatte. Wenn Kant das Szenario von Aufklärung und Selbstaufklärung in das mythisch-biblische Szenario zurück projiziert, so deutet er durch die Analogisierung von ontogenetischen und phylogenetischen Aspekten dieses Vorgangs die biblische Paradies-Erzählung als ein Szenario von erwachender Selbstbehauptung, das nicht irgendwann einmal illo tempore in grauer Vorzeit als singuläres Ereignis stattgefunden hat, sondern als eine immer wieder neu zu erbringende Lebensleistung des Menschen. Allerdings kann diese Lebensleistung auch scheitern, wenn in bestimmten Situationen der regressive Sog gar zu groß wird. Zu diesen Regressionsversuchungen zählt Kant auch die romantischen Wahnvorstellungen, man könne irgendwann und irgendwo völlig heile und konfliktfreie Welten als neue paradiesische Zustände schaffen. Wenn man also überhaupt von einem Sündenfall reden will, so wäre dies der Sündenfall des schon Emanzipierten zurück in die Knechtschaft, zurück in die Natur, zurück in die paradiesische Unmündigkeit, zurück in die Sackgasse auswegloser personaler Regression. An Kants Aufsatz orientiert sich wiederum Schiller in seiner Vorlesung, denn auch für ihn ist der sogenannte Sündenfall ein Szenario der Emanzipation und ein Akt der Selbstaufklärung »aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft (…) zu einem Paradies der Erkenntniß und der Freiheit«, und auch für ihn ist dieser Weg zur moralischen Freiheit »ein gefährlicher Weg« (10,382): »Wenn wir also jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntniß verbot, in eine Stimme seines Instincts verwandeln, der ihn von diesem Baume zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders, als ein Abfall von seinem Instincte, also erste Aeußerung seiner Selbstthätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseyns. Dieser Abfall des Menschen vom Instincte, der das moralische Uebel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin

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möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte; von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt.« (10,382)

Man merkt an Schillers Pathos, daß er diesen Text zu der Zeit schrieb, als in Paris ein anderer großer Aufbruch der Menschengeschichte sich ereignete, und man geht wohl nicht zu weit, wenn man Schillers Text als Echo zur Erklärung der Menschenrechte versteht, die die Französische Nationalversammlung am 26. August 1789 feierlich verkündet hatte. Daß der damalige Papst Pius VI. umgehend seinen flammenden Protest gegen diese Erklärung der Menschenrechte erhob, war das dunkle Echo aus der anderen Richtung, weil der Papst in diesem Akt natürlich den Aufstand der civitas saecularis gegen die civitas dei sehen mußte, ganz so wie auch Augustinus selbst es gesehen hätte. Joseph de Maistre hat dies in seiner theologisch-politischen Deutung der Französischen Revolution auch explizit so formuliert und in ihr die Wiederholung des luziferischen Sündenfalls in der Geschichte gesehen. (Wir kommen darauf zurück.) Schiller entwickelt dann aber noch einen ganz überraschenden Gedanken, der ihn über seinen philosophischen Mentor Kant hinausführt, denn für ihn ist der Schritt aus der Unmündigkeit in die Mündigkeit der moralischen Freiheit zugleich ein Schritt aus der naiven Heiterkeit in den Ernst, und hier stoßen wir auf verblüffende Analogien zwischen Schiller und Wilhelm von Conches. Wie wir in Kapitel 2.7.5 gesehen haben, war Wilhelm von Conches zu dem Schluß gekommen, der Adam vor dem Sündenfall müsse ein Sanguiniker gewesen sein. Genauso scheint es auch Schiller zu verstehen, denn er schreibt über diesen »prälapsarischen« Adam: »Mit den Augen eines Glücklichen sah er jetzt noch herum in der Schöpfung; sein frohes Gemüth faßte alle Erscheinungen uneigennützig und rein auf, und legte sie rein und lauter in einem regen Gedächtniß nieder. Sanft und lachend war also der Anfang des Menschen, und dies mußte seyn, wenn er sich zu dem Kampfe stärken sollte, der ihm bevorstand.« (10,381)

Dann kommt es zum sogenannten Sündenfall, der Mensch wird 846 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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mündig und aus dem Paradies der unschuldigen Heiterkeit vertrieben, verläßt zugleich damit auch »die wollüstige Ruhe ewiger Kindheit« (10,381) und steht nun vor der Aufgabe, sich die Heiterkeit, die ihm vorher im unschuldig-unmündigen Zustand gleichsam geschenkt war, von nun an selbst zu bereiten: »Was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt für sich übernehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden. (…) Er sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlor, wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft.« (10,382)

Damit wäre jedes heitere Lachen ein Rückfall in die Befindlichkeit des lachenden prälapsarisch-unschuldigen Adam, gleichsam ein von der Vernunft geleiteter Rückfall zurück hinter den Sündenfall jenseits von Gut und Böse, eine momentane Regression in den vorvernünftigen Zustand instinktgeleiteter Natur, aber ein Rückfall in eine momentane, sekundäre und gleichsam mündige Unmündigkeit, die man sich locker leisten kann, weil man sich jederzeit wieder in die Mündigkeit zurückrufen kann. Dieser Fall liegt vor bei allen Formen von verfügbarem Lachen. Aber auch bei den tendenziell unverfügbaren Formen von exzessivem Gelächter werden wir nicht für immer in tierische Unmündigkeit und tierische Haltungen zurückgeworfen, auch wenn wir uns noch so biegen oder gar wälzen vor Lachen und dadurch die aufgerichtete »erhabene Göttergestalt« zu verlieren drohen, weil der uroborische Impuls, der jedem personalen Lachen innewohnt, bewirkt, daß wir uns alsbald wieder aufrichten und unsere »erhabene Göttergestalt« wieder einnehmen. So gesehen könnte man den uroborischen Impuls in gewisser Weise als eine Variante des vertikalen Impulses verstehen, den Herder überall in der Natur am Werk sah. Das von Schiller formulierte Programm, den Stand der Unschuld durch Vernunft erneut zurückzugewinnen, das er selbst im wesentlichen als ein Programm ästhetischer Erziehung verstand, ist auch das viel umfassendere Programm einer Heiteren Aufklärung, die sowohl eine Aufklärung zum Heiteren ist als auch eine Aufklärung des Heiteren 15 und die deshalb sowohl das Lachen zum Zweck der Aufklärung instrumentalisiert, so weit dies möglich ist, als auch die Selbstaufklärung des Lachens als gelotologische Theorie voran847 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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treibt. Allerdings reicht die Bandbreite des Lachens weit über den Bereich des Heiteren hinaus, und deshalb werden wir bald auch auf Formen von Gelächter stoßen, die die Grenzen Heiterer Aufklärung sprengen. 2.12.2.2 Der metaphysische Optimismus Das Stichwort für den metaphysischen Optimismus der Aufklärung hatte Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury (1671– 1713) in seiner Abhandlung The Moralists von 1709 geliefert, die er als »philosophische Rhapsodie« über verschiedene Gegenstände der Natur und der Moral verstand und die 1711 auch im Rahmen seines Hauptwerks Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times 16 erschien. Shaftesbury referiert dort eine philosophische Auseinandersetzung, die er mit jemandem geführt und in deren Verlauf er eine grundsätzlich optimistische und teleologisch orientierte Weltsicht vertreten hatte. Dieses heitere Weltbild wird nun von ihm eigens bekräftigt und gegen verschiedene Einwände verteidigt, und dann fährt der Autor fort: »Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn durch Erdbeben, Stürme, pestilenzialische Seuchen, Wasserfluthen, irdisches und himmlisches Feuer, die lebendigen Geschöpfe oft Schaden leiden, und vielleicht ganze Geschlechter derselben auf einmal zu Grunde gehen. Viel weniger aber darf es uns befremden, wenn entweder durch äußerliche Verlezungen oder durch innerliches Gift einer feindseligen Materie, einzelne Geschöpfe selbst in ihrer ersten Empfängniß verunstaltet werden, wo die Krankheit den Siz der Zeugung angreift, und die Saamentheile verdorben und in ihrer Wirkung verhindert werden. Nur dann kommen Mißgeburten zum Vorschein: die Natur wirkt dabey nicht anders, wie gewöhnlich, weder verkehrt, noch irrig, weder nachlässig, noch kraftlos, sondern durch einen höhern Gegner, durch die siegende Kraft einer andern mächtigern Natur, überwältigt. Eben so wenig dürfen wir uns wundern, wenn der innere Bau, die Seele und das Temperament an dieser zufälligern Verunstaltung Theil nimmt, und oft mit ihrem Gatten sympathesiert. Was ist natürlicher, als daß die Schwachheit oder Verderbniß eines Geistes, der in einen so

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gebrechlichen Körper eingeschlossen ist, von so kränklichen Organen abhängt!« (II,264 f.)

Das hört sich zunächst so an, als wolle Shaftesbury zu einer großen Klage über all das Übel in der Welt anheben, aber genau das Gegenteil ist der Fall, denn dieser Auflistung aller möglicher Übel folgt alsbald ein trotzig-gläubiges »Und dennoch!«, denn Shaftesbury fährt fort: »Aber alles dies ist natürlich und gut. Das Gute behält immer die Oberhand; und jede der Verderbniß unterworfene und sterbliche Natur ist mit ihrer Sterblichkeit und Verderbniß nur einer besseren zinsbar, alle aber jener harten und höchsten Natur, welche unverderblich und ewig ist.« (II,265)

Mit dieser »harten und höchsten, unverderblichen und ewigen Natur« ist natürlich der christliche Gott gemeint. Fast gleichzeitig mit Shaftesbury veröffentlichte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) seine Theodizee-Lehre 1710 in Amsterdam: Essais sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal. Leibniz selbst übersetzte den Titel als: »Versuch einer Theodicaea oder Gottrechts-Lehre von der Güthigkeit Gottes, Freyheit des Menschen und Ursprung des Bösen.« Unter »Theodizee« versteht Leibniz unter Anlehnung an den Apostel Paulus (Römerbrief 3,5) die Behauptung, daß die Gerechtigkeit Gottes angesichts der menschlichen Sündhaftigkeit umso heller strahle. Ausgangspunkt für Leibniz wie schon für Shaftesbury ist die Passage aus dem biblischen Schöpfungsbericht (Genesis 1,31), in der der Schöpfer sein fertiges Werk besieht und zu dem Schluß kommt, alles sei bestens gelungen. 17 Obwohl damit zugleich gesagt wird, diese Welt könne gar nicht besser sein als sie eben sei, schließt die damit behauptete Harmonie aller Dinge in einem optimalen Gesamtzusammenhang sehr wohl ein, daß es in dieser Welt auch Übel geben könne, die als solche auch in den Rahmen dieses optimalen Gesamtzusammenhangs gehören und das Glück des Individuums begrenzen können. Das Übel, das den Einzelnen oder auch eine Gruppe von Individuen betrifft, kann laut Leibniz und Shaftesbury so schlimm erscheinen wie es immer mag: Im Gesamtzusammenhang der Schöpfung sei dies aber irrelevant und müsse als gottgewollt 18 hingenommen werden. 849 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wieland, der in seinen frühen Werken ein begeisterter Anhänger dieser optimistischen Weltanschauung war, geht in seinem Lehrgedicht Die Natur der Dinge oder die vollkommene Welt von 1751 sogar so weit, daß er die frühchristlich-häretische Lehre des Origenes, derzufolge »das Uebel sich allmählich selbst verzehret« (25,135), zur theologischen Abstützung der TheodizeeLehre heranzieht, denn sein Lehrgedicht endet mit einer Hymne auf die Apokatastasis-Lehre: »So schwindet nach und nach das Uebel aus der Welt, Das jetzt die Ordnung stört und unser Glück vergällt; So wird die Zukunft erst des Schöpfers Güte preisen. Dann löst sich alles auf; dem zweifelreichen Weisen, So wie dem Grübler, der vor Witz die wahre Bahn Verfehlte, wird das Buch des Schicksals aufgethan; Wer jetzt im Dunkeln tappt, wird dann im Lichtmeer schwimmen, Und jeder Mißton rein, zum Klang der Sphären stimmen; Dann wird von jeder Noth, die jetzt die Welt noch drückt, Im allgemeinen Glück die Spur nicht mehr erblickt; Die ganze Schöpfung wird von ew’gem Dank erschallen, Und du, Unendlicher, wirst Alles seyn in Allen!« (25,136 f.) 19

Daß Shaftesbury und Leibniz alsbald begeisterte Anhänger für ihre optimistische Metaphysik fanden, lag wohl auch daran, daß beide an das altvertraute Argumentationsmodell der Großen Kette der Wesen 20 anknüpfen konnten, das ebenfalls einen harmonischen, teleologisch und hierarchisch geordneten Gesamtzusammenhang der Welt behauptet, und auf der Idee beruht, den Gegensatz der Prädikate »seiend« und »nicht seiend« als polarkonträren Gegensatz zu verstehen, sodaß man zwischen den beiden Polen des höchsten und des nulligsten Seins eine unendliche Reihe von Seinsgraden annehmen konnte, genauso wie man zwischen den Polen »heiß« und »kalt« oder »groß« und »klein« beliebig viele Grade von Größe oder Wärme bestimmen kann. Bei echten polarkonträren Gegensätzen wie groß/klein, heiß/ kalt, alt/jung, lang/kurz etc. ist dies weiter kein logisches, sondern bestenfalls ein meßtechnisches Problem, aber beim Gegensatz seiend/nichtseiend erhebt sich sofort die Frage, ob man hier tatsächlich von einem polarkonträren Gegensatz sprechen und beliebig viele 850 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Abstufungen zwischen dem höchsten Grad von Sein, der dann auch noch mit Gott identifiziert wird, und dem nulligsten Grad, der als Nichts gilt, annehmen darf. Prädikatenlogisch gesehen ist dies zwar Unsinn, weil es sich hier gar nicht um einen polarkonträren, sondern um einen kontradiktorischen Gegensatz handelt (tertium non datur), aber trotzdem konnte man schon in der Antike der Versuchung nicht widerstehen, an diesem ontologischen Komparativ entlang zu philosophieren und einen Ständestaat des Seienden als die Große Kette der Wesen zu entwerfen, an deren oberem Ende Gott steht, am unteren Ende aber das Nichts. Der Mensch bewegt sich in dieser Hierarchie irgendwo dazwischen, aber relativ weit oben, also weit über den Tieren, aber natürlich noch unterhalb der Engel. Besonders beliebt war dieses Spiel mit dem ontologischen Komparativ im Ständestaat des Seienden natürlich zu all den Zeiten, in denen man auch sonst streng hierarchisch dachte, also auch noch im 18. Jahrhundert, und natürlich auch bei so standesbewußten Aufklärern wie dem Freiherrn Leibniz und dem Lord Shaftesbury. Aber bei ihnen verbindet sich mit dem Bild der Großen Kette der Wesen noch die Idee einer teleologischen Umzu-Kette 21, derzufolge jedes Glied der Großen Kette um des jeweils höher stehenden geschaffen ist und diesem zu dienen hat. Demzufolge seien alle Wesen »unterhalb« des Menschen für ihn da, während er wiederum allem zu dienen habe, das »über« ihm steht. Tut er dies nicht, akzeptiert er also seinen Platz in der vorgegebenen Hierarchie nicht und zeigt auch nicht das damit verbundene genauso strikt vorgegebene Verhalten, so verstößt er damit zugleich auch gegen die vorgegebenen Harmonie des gesamten Weltgebäudes und gefährdet dessen Bestand. Aus diesem Grund ist es im Gefüge dieser Hierarchie genau in dem selben Maß verwerflich, ob man voller Neid nach »oben« oder voller Stolz nach »unten« schaut, denn in beiden Fällen droht man dem Hochmut und der Lächerlichkeit zu verfallen. Auf dieses Problem sind wir ja schon bei den Höflingen am streng hierarchischen absolutistischen Hof gestoßen. Aus diesem Grund warnt denn auch Alexander Pope (1688–1744) in seinem berühmten Lehrgedicht An Essay on Man 22 von 1734 in deutlicher Anspielung an Thomas Hobbes und seiner Warnung vor sudden glory: 851 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»In pride, in reas’ning pride, our error lies; All quit their sphere and rush into the skies. Pride still is aiming at the best abodes, Men would be angels, angels would be gods.«

In einer zeitgenössischen Übersetzung liest sich das so: »Im Hochmut liegt der Grund von unsern falschen Schlüssen. Man will empor, man eilt, von ihm dahin gerissen, Auf alle Himmel los: da will der Stolz hinein; Ein Engel will der Mensch, ein Gott der Engel sein.« 23

Wer sich hingegen mit seinem Platz bescheidet, der ihm im Ständestaat des Seienden von Gott zugewiesen ist, von seinem eigenen Standort absieht, nur auf das Ganze blickt und diesen uneingeschränkt und freudig akzeptiert, erlangt dadurch eine grundsätzlich optimistische Sicht auf die Welt und auf sich selbst und ist deshalb auch geneigt, diese Welt, so wie sie ist, tatsächlich für die beste zu halten. Und so steht es ja auch explizit in Popes Gedicht am Ende der ersten Epistel: »Whatever is, is right.« (S. 36) Daß Alexander Pope im Jahr 1688 geboren wurde, hat eine gewisse Symbolik, denn in diesem Jahr wurde in England mit der Glorreichen Revolution der große historische Kompromiß geschlossen, der dem Dichter gleichsam als Geschenk in die Wiege gelegt wurde und den er mit seinem berühmten Satz »Whatever is, is right« gleichsam ins Kosmische und Metaphysische ausgeweitet hat. Aber, so Lovejoy: »Die Behauptung, dies sei die beste aller möglichen Welten, besagt keineswegs, daß sie absolut gut sei; sie besagt nur, daß jede andere metaphysisch mögliche Welt schlechter wäre.« (S. 251)

Aber trotzdem verlangt eine solche These gewaltige Glaubens- und Abstraktionsleistungen, weil man im vermeintlich Ungeordneten die göttliche Ordnung, im vermeintlich Zufälligen die göttliche Absicht, im vermeintlich Wirren die von Gott gestiftete Harmonie und im vermeintlichen Übel für das Individuum das Gute für die Allgemeinheit zu erkennen hat. Und wenn man dies partout nicht erkennen kann, dann befindet man sich eben leider im Irrtum: Gefordert wird also das alte Credo quia absurdum. Genauso steht es auch bei Pope: »All Nature is but Art, unknown to thee; All Chance, Direction, which thou canst not see;

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All Discord, Harmony, not understood; All partial Evil, universal Good: And, spite of pride, in erring Reson’s spite, One truth is clear, ›Whatever is, is right.‹« (S. 36)

Diese Überzeugung, in der relativ besten aller denkbaren Welten zu leben, die wir bei den Autoren der frühen Aufklärung wie Leibniz, Shaftesbury, Pope, Brockes, Haller, Uz und v. a. auch bei den physikotheologischen Lyrikern 24 finden, erzeugte in der Sprache des 18. Jahrhunderts ein breitgefächertes Vokabular optimistischer Heiterkeit, in dem v. a. die Wortfelder »Vergnügen« und »Scherz« dominieren. Der klassische Titel stammt von Barthold Heinrich Brockes (1680–1747), dessen Hauptwerk den stolzen Titel Irdisches Vergnügen in Gott 25 trägt, in neun Bänden von 1721 bis 1748 erschien und einige tausend Seiten umfaßt. In dieses Bild einer neuen literarischen Heiterkeitskultur paßt auch der Umstand, daß es in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts Dutzende von Werken gibt, die das Wortfeld »Scherz/scherzhaft« 26 im Titel führen, und daß in der gleichen Zeit auch das komische Epos 27 eine neue Blüte erlebt. All dies erinnert ein bißchen an den Schub an heiterer Literatur, den Wilhelm von Conches um 1150 mit seiner These vom heiteren Schöpfergott und seinem sanguinischen Geschöpf Adam im Mittelalter erzeugt hatte, aber auch an den Schub an heiterer Literatur in der Renaissance durch die Rezeption des Aristoteles. Wie konsequent und standhaft z. B. Brockes dieses irdische Vergnügen in Gott auch bei schlimmsten Heimsuchungen durchlebte und darzustellen wußte, zeigt sich besonders schön in dem Gedicht Der Zahn von 1727 aus dem zweiten Band seines Hauptwerks. Dort wird über Seiten hinweg in grausiger Genauigkeit beschrieben, wie dem Autor ein vereiterter Zahn gezogen wird, den er dann endlich aus den blutigen Händen des Arztes entgegen nehmen und »mit Lust bey aller Pein« betrachten kann. Und dieser Anblick eröffnet ihm wieder einmal, wie wunderbar planvoll Gott diese Schöpfung doch aufgebaut habe und daß der biblische Schöpfergott sein Schöpfungswerk mit vollem Recht loben konnte, denn: »Je mehr ich nun auf unsre Zähne merke, Je mehr find’ ich in ihnen Wunder-Werke.

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Daß unsre vordre Zähn’ im Munde Die dünnsten, scharf und schneidend seyn; Das hat vermuthlich dieß zum Grunde, Und giebt es selbst der Augenschein: Damit die Speisen desto besser, Ja gleichsam als mit einem Messer, Dadurch geschnitten werden können. Bewundernd seh’ ich auch die andern Spitzen, Die nahe bey den ersten sitzen, Und die wir Hunde Zähne nennen. Durch diese wird, was zäh’, ereilet, Zerdrückt, zermalmt, zertheilet. Ist dieses noch nicht Weisheit gnug; So laßt uns auch die Backen-Zähn’, Und ihre sondre Form besehn! Daß wir bequemlich und mit Fug Das Essen Zermalmen können, reiben, pressen; Sind diese nicht nur platt und breit, Nein zu besondrer Nutzbarkeit, Mit kleinen Tiefen und mit Höhn Recht wunderbar versehn. Wenn nur allein die scharf- und spitzen Zähne hinden, Die breiten vorn, im Munde stünden; Wie mühsam würd’ alsdann uns allen Das itzt so leichte Käuen fallen! Bewundre doch, o Mensch, dieß Wunder! stell’ es dir Dem Schöpfer, ders gemacht, zum Ruhme, doch öfters für! Bey jedem Bissen freu dich seiner Güte, Und weil er ja für das, was er bescheret, Nichts als ein fröhlich Herz begehret, So opfer’ ihm ein dankbares Gemüthe!« (II,421 f.)

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Dankbarkeit gegenüber seinem Schöpfer ist für Brockes auch schon deshalb angebracht, weil dieser dem Menschen neben vielen anderen Fähigkeiten auch das Lachen geschenkt hat, das Brockes im siebten Band von 1743 eigens mit einem Gedicht feiert: Das Lachen Daß GOtt, vor allen andern Thieren, auf Erden uns vergnügen wollen, Und daß es eigentlich Sein Wille, daß wir uns hier vergnügen sollen, Davon scheint in der That das Lachen ein deutlicher Beweis zu seyn, Als welches allen Thieren fehlt, es hat es bloß der Mensch allein. Sprich nicht: Ja, ja, wir können lachen; wie aber wird’s ums Weinen stehen? Im selben können wir nicht minder ein Merkmal der Betrübniß sehen. Nein, wenn du es recht überlegst; so kann das Weinen dieß nicht hindern; Es dient nicht, unser Leid zu mehren; vielmehr dasselbige zu lindern, Wie uns ja die Erfahrung lehrt. Wenn ein Betrübter weinen kann; So greift der schwarze Gram sein Herz so heftig, wie vorher, nicht an; Ja, Thränen können einen Trost in andern uns sogar erregen, Und öfters andere zu Thränen, zum Mitleid, ja zur Hülf ’, bewegen; Drum bleibt mein erster Lehr-Satz fest, zu welchem ich mich wieder lenke: Das Lachen selbst zeigt GOttes Güte, und ist ein göttliches Geschenke. (VII,687)

Diese Aufmunterung angesichts der Vollkommenheit der Welt, aber auch angesichts der eigenen Unvollkommenheit, hätte Brockes sich auch aus den Schriften des Halleschen Philosophen Christian Wolff holen können, der sich ganz der Erläuterung der Leibnizschen Theodizee-Lehre verschrieben hatte, und dessen Deutsche Metaphysik von 1719 mit den Sätzen endet: »§ 1088 Keine Kreatur kan den größten Grad von Vollkommenheit erreichen. Denn soferne dies geschehen solte, müste ihr Wesen in das Wesen GOttes verkehret werden. Wir wissen aber, daß kein Wesen in das andre sich verwandeln lässt. Da nun GOttes Seeligkeit in dem Besitze der höchsten Vollkommenheit bestehet; so kan sie auch keiner Creatur mitgetheilet werden.

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§ 1089 Die allerhöchste Seligkeit bringet bey GOtt ein beständiges Vergnügen, und zwar im allerhöchsten Grade: weil die anschauende Erkäntniß der Vollkommenheit dessen Ursache ist. Sie bringet aber auch völlige Zufriedenheit: denn, da GOtt alles im höchsten Grade hat; so bleibet nichts mehr übrig, was er sich noch über dieses wünschen könte. Und dennoch ist sein Wunsch in allem völlig erfüllet: welches abermahl von keiner Creatur gesagt werden kann.«

Dieses »beständige Vergnügen« in und an Gott und seiner vollkommenen Welt war für Brockes Thema und Grundlage einer aufgeklärt heiteren Weltfrömmigkeit, die sich in der Betrachtung der Natur erfüllte und die er eigens in einem Gedicht darstellte und rechtfertigte. Dabei machte er deutlich, daß er sich damit sowohl von der engbrüstigen lutherischen Orthodoxie als auch von der pietistischen Verachtung der Adiaphora, vor allem aber von jeglicher Form von »Raserey in Glaubens-Dingen« (VIII,618) distanzierte, von allem also, was er als religiös oder konfessionell begründete Form von »Zank, Haß und Mord« (VIII,618) verabscheute. Von einem elaborierten Sündenbewußtsein lesen wir bei Brockes nichts, und auch nichts vom »ängstlichen Harren der Kreatur«, von dem Paulus im Römerbrief 8,19 ff. spricht, weil sich die Offenbarung für die Kinder Gottes eben in dieser Natur selbst tagtäglich auf das prachtvollste vollzieht. Deshalb lautet sein Glaubensbekenntnis in dem Gedicht Der vernünftige Gottes-Dienst von 1746 wie eine poetische Umschreibung dessen, was sein Freund Hermann Samuel Reimarus in seinem bibelkritischen Werk Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes 28 begrifflich formuliert hat und in dem er die »Vernunft-Religion« auf ein System lehrbarer Tugenden reduziert. Bei Brockes lauten diese Prinzipien: »In Gottes Werken Voll stets bewundernden Vergnügens, Sein’ Allmacht, Lieb’ und Weisheit merken; Nach den Gesetzen der Natur vergönnte Freud’, erlaubte Lust, Zum Ruhm Des, Der sie schenkt, geniessen, befreyt von aller Laster Wust; Den Nächsten, unser Mitgeschöpf, wie uns zu lieben, uns bestreben,

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Und, in gelaßner Zuversicht auf Seine Liebe, Gott erheben: Dieß scheint ein wahrer Gottes-Dienst, und Gott, was Gottes ist, gegeben.« (VIII,619)

Dieses Vergnügen an der vollkommenen und letztlich hoch heilen Welt bekundet eine Generation später Albrecht von Haller (1708– 1777) in seinem großen Theodizee-Gedicht Über den Ursprung des Übels von 1734 29, das im gleichen Jahr wie Popes Lehrgedicht entstanden ist und mit dem auch er dem metaphysischen Optimismus im Gefolge von Shaftesbury, Leibniz und Wolff seinen Tribut zollt. In Hallers Gedicht kann man dem Schöpfergott der Heiteren Aufklärung gleichsam bei der Arbeit zuschauen, denn dort heißt es zu Beginn des zweiten Teils: »Im Anfang jener Zeit, die Gott allein beginnet, Die ewig ohne Quell und unversiegend rinnet, Gefiel Gott eine Welt, wo, nach der Weisheit Rat, Die Allmacht und die Huld auf ihren Schauplatz trat. Verschiedner Welten Riß lag vor Gott ausgebreitet, Und alle Möglichkeit war ihm zur Wahl bereitet; Allein die Weisheit sprach für die Vollkommenheit, Der Welten würdigste gewann die Würklichkeit.« (S. 59 f.)

Genauso sieht es auch Wieland (1733–1813), der in seinem Lehrgedicht Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt von 1751 im fünften Buch über den allwissenden Demiurgen schreibt: »So gab der höchste Geist, der Schöpfer aller Welten, Dem All die beste Form: es floh vor seinem Schelten Das Chaos schüchtern hin, er streute seinen Schein Und Ordnung und Verstand dem Stoff der Dinge ein. Welch eine Schönheit glänzt in allen seinen Reichen? Wie weislich weiß er sie zu Einem Zweck zu gleichen? Wie find’t ein tiefer Blick selbst in der Dämmerung, Die unsre Augen schwärzt, Stoff zur Bewunderung! Wie strahlt die Creatur vom mitgetheilten Lichte, Wie schmückt der Schatten sie vom göttlichen Gesichte, Wie malt, was, ohne ihn, dem Nichts sein Hoffen gab, So prächtig einen Gott in hellen Spiegeln ab!« (25,105)

Im Gegensatz zu Wieland, der in seinem »antilukrezischen Lehr857 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gedicht« 30 ausführlich naturwissenschaftliche Theorien referiert, argumentiert Haller eher traditionell naturphilosophisch und schildert, wie sein Gott den frisch geschaffenen Arten von Seiendem »nach Stufen Art« die unterschiedlichen Seinsgrade zuweist und sie in seinem Ständestaat des Seienden einordnet, »(d)ie, ungleich satt von Glanz des mitgeteilten Lichts, / In langer Ordnung stehn von Gott zum öden Nichts« (S. 60). Und: »Gott sah und fand es gut.« (S. 60). Mit all dem bewegt sich Haller noch ganz selbstverständlich und ungebrochen auf dem Boden der Theodizee-Lehre. Sobald er aber zum eigentlichen Thema kommt, zu Existenz und Ursprung des Übels in der Welt, taucht mit einem Mal ein ganz neuer, höchst irritierter und auch irritierend ernster Ton in diesem Lehrgedicht auf, der sich bei Brockes und Pope und auch beim frühen Wieland, so weit ich sehe, nirgendwo findet, denn Haller wagt es, die Theodizee-Lehre aus der Perspektive des leidenden Hiob zu befragen, der sich in Qualen windet und seinen Gott anklagt, daß dieser ihn nicht nur quält, sondern ihn in seiner Qual auch noch verspottet, wie dies in Hiob 9,23 angesprochen wird. Hier schwindet auch bei Haller sofort alles irdische Vergnügen in und an Gott, und alle Weltfrömmigkeit erscheint plötzlich frivol und zynisch, denn da scheint sich nur noch dieser Gott selbst zu vergnügen: »Indessen ist die Welt, die Gott zu seinem Ruhm Und unserm Glücke schuf, des Übels Eigentum: In allen Arten ist das Los des Guten kleiner, Wo tausend gehen zur Qual, entrinnt zur Wohlfahrt einer, Und für ein zeitlich Glück, das keiner rein genießt, Folgt ein unendlich Weh, das keine Ruh beschließt. O Gott voll Gnad und Recht, darf ein Geschöpfe fragen: Wie kann mit deiner Huld sich unsre Qual vertragen? Vergnügt, o Gott, dich deiner Kinder Ungemach? War deine Lieb erschöpft? Ist dann die Allmacht schwach? Und konnte keine Welt des Übels ganz entbehren, Wie ließest du nicht eh ein ewig Unding währen?« (S. 72 f.)

Haller selbst konnte (oder wollte) sich all diese Fragen nicht beantworten. Aber in Wolffs Deutscher Metaphysik hätte er eine Antwort lesen können, in der Wolff erst ausführlich über die teleologi858 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sche Struktur der Welt spricht, derzufolge allem, was geschieht, letztlich doch eine göttliche Absicht und Zielsetzung erkennbar zugrunde liege, wenn man nur bereit sei, diese als solche zu erkennen, und dann fortfährt: »Und solchergestalt gehören auch die Glücks- und Unglücks-Fälle mit unter die göttlichen Absichten: indem auch GOtt in Ansehung ihrer Zusammenstimmung in denen übrigen Dingen, als welche mit zu der Vollkommenheit der Welt gehöret, die Welt erwählet.« (§ 1030, S. 635)

Aber ist dies wirklich ein Trost? Oder ist es purer Zynismus? Und ist es überhaupt ein plausibles Argument? Oder bloß eine besonders harte Herausforderung an den Glauben? Für Wolff selbst war es ein Argument, und zwar ein zentrales, weil es die Klammer für das ganze Gedankengebäude bildete. Da aber das poetische Gewissen der Dichter allemal weitaus sensibler reagiert als das intellektuelle Gewissen der Denker, bleiben wir zunächst bei Haller, der offenbar gemerkt hatte, daß er nun schon zum zweiten Mal mit seinen Fragen an den Rand der Blasphemie geraten war, denn schon im ersten Teil hatte er ausgerufen: »Elende Sterbliche! Zur Pein erschaffne Wesen, O daß Gott aus dem Nichts zum Sein euch auserlesen! O daß der wüste Stoff einsamer Ewigkeit Noch läg im öden Schlund der alten Dunkelheit!« (S. 58)

Aber dann reißt er sich doch wieder zurück – »Doch wo gerat ich hin? Wo werd ich hingerissen?« (S. 58) – und schämt sich seiner Zweifel und des Verdachts, dieser Gott habe vielleicht doch »Lust an unsrer Qual« und »Freud an unsern Schmerzen« (S. 58) und schließlich gibt er sich die Sporen zu einem machtvollen Finale, in dem er all seine Zweifel jubelnd niederschreit: »Nein, deine Huld, o Gott, ist allzu offenbar! Die ganze Schöpfung legt dein liebend Wesen dar: Die Huld, die Raben nährt, wird Menschen nicht verstoßen, Im Kleinen bist du groß, unendlich groß im Großen. Wer zweifelt dann daran? Ein undankbarer Knecht! Drum werde, was du willst, dein Wollen ist gerecht! Noch Unrecht, noch Versehn kann vom Allweisen kommen, Du bist an Macht, an Gnad, an Weisheit ja vollkommen!« (S. 74)

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Heitere Aufklärung

Noch lauter schreit Johann Peter Uz (1720–1796), ein Epigone Hallers, in seinem Gedicht Theodicee 31, in dem er sich als militanter Streiter für seinen gerechten Gott präsentiert und herrisch verkündet: »Ich will die Spötter niederschlagen, Die vor dem Unverstand, o Schöpfer!, dich verklagen: Die Welt verkündige der höhern Weisheit Ruhm! Es öffnet Leibnitz mir des Schicksals Heiligthum; Und Licht bezeichnet seine Pfade, Wie Titans Weg vom östlichen Gestade.«

Denn jeder, der nicht völlig verblendet ist durch »stolze Blindheit« und »Maulwurfswahn«, müsse doch endlich die Wahrheit der Theodizee einsehen und dies nicht nur hier auf Erden, sondern in allen denkbaren Welten: »Seht, wie in ungemessner Ferne Orion und sein Heer, ein Heer bewohnter Sterne Vor seinem Schöpfer sich in lichter Ordnung drängt. Er sieht, er sieht allein, wie Sonn an Sonne hängt, Und wie zum Wohl oft ganzer Welten Ein Uebel dient, das wir im Staube schelten. Er sieht mit heiligem Vergnügen Auf unsrer Erde selbst sich alle Theile fügen, Und Ordnung überall, auch wo die Tugend weint: Und findet, wenn sein Blick, was bös’ und finster scheint, Im Schimmer seiner Folgen siehet, Daß, was geschieht, aufs beste stets geschiehet.« (S. 138)

So konnte man 1753, also kurz vor dem Erdbeben von Lissabon am 1. 11. 1755 vielleicht noch schreiben, und Uzens Gedicht wirkte zu dem Zeitpunkt vielleicht ein bißchen übermütig und allzu selbstsicher, aber verglichen mit Voltaires Protest gegen die Katastrophe von Lissabon im Namen der Vernunft32 wirkt das Gedicht geradezu gespenstisch. In dem Gedicht Die Strafgerichte Gottes deutet Uz das Erdbeben von Lissabon ganz orthodox christlich als eines der vielen Strafgerichte Gottes »zum Dienste der Gerechtigkeit«, die angesichts der vielen Sünden ja auch immer wieder mal erfolgen müssen: 860 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung

»Es zittert die Natur, wann sich der Höchste regt: Die Erde bebt und wird bewegt, Wenn auf den Fittigen der Winde Gott unter schwarzen Wolken geht, Und eines ganzen Volkes Sünde Vor seinem Antlitz steht.« (S. 197)

Man kann dieses Gedicht allerdings auch als Illustration der christlich-stoischen ars moriendi lesen, die Uz in seinem langen Lehrgedicht Versuch über die Kunst, stets fröhlich zu seyn von 1760 in engster Anlehnung an Seneca verkündet hatte, denn dieses Gedicht zieht in den letzten Versen die Bilanz: »Nur wer zu sterben weiß, kann stets zufrieden leben! Die wahre Freude nur, nach der die Weisen streben, Versüßt dem Sterblichen die Reise durch die Zeit, Und folgt, unsterblich selbst, ihm zur Unsterblichkeit.« (S. 278)

Wenn man will, kann man solche Verse mit viel gutem Willen noch als Tröstungsversuch lesen. Vergleicht man Uzens Theodizee-Gedicht aber mit seinem Gedicht Das Erdbeben von 1768, heben sich seine aggressiv-ideologischen Züge sofort noch krasser heraus, weil dieses Gedicht von 1768 polemisch mit all denen ins Gericht geht, die das Erbeben von Lissabon zum Anlaß genommen haben, die Theodizee als frommen Wahn zu verhöhnen. Diese ideologischen Nachbeben sind für Uz sogar noch schlimmere Übel als das Erdbeben selbst, und deshalb beginnt dieses Gedicht mit den Versen: »Die Erde hat gebebt und ihr zerborstner Grund Die Königinn am Meer verschlungen, Und schwärzre Trübsal noch droht unsrem armen Rund Von schwärmender Propheten Zungen: (…) Propheten wimmeln stets in trüber Zeit hervor: Der leichte Pöbel glaubt, er zittert, Wie dürres Laub im Herbst, und wie das schwache Rohr Der Flügel eines Wests erschüttert.«

Dann ruft der Autor seine Musen an und bedankt sich bei ihnen für den heiteren anakreontischen Optimismus und das »nil admirari« des christlich-stoischen Weisen, zu dem sie ihn erzogen haben: »Zufrieden dank ich euch, daß immer gleiche Lust In meiner Seelen helle scheinet,

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Heitere Aufklärung

Und euer stiller Freund nicht, an der Thorheit Brust, Nach Fantasien lacht und weinet.« (S. 149 f.)

Und dann bittet er seine Musen, weiterhin für seine ideologische Festigkeit zu sorgen, damit er auch künftig unbeirrbar als stoischanakreontischer Heiterkeits-Funktionär und christlich-optimistischer Theodizee-Verkünder agieren könne, und schließt sein Gedicht mit den Versen: »O laßt, zu aller Zeit, mein Antlitz heiter seyn, Nicht bloß in sonnenvollen Tagen, Wann mich die Freude sucht, und Saitenspiel und Wein Die Wolken vor mir her verjagen: (…) Es müss’ auf meiner Stirn, wann schon die Erde bebt, Der göttliche Gedanke schimmern, Daß Tugend glücklich ist und meine Seele lebt, Auch unter ganzer Welten Trümmern!« 33

Wie man sieht, hat sich die heitere Weltfrömmigkeit, die bei Brokkes noch glaubhaft wirken mochte, in eine verbissene OptimismusDogmatik verwandelt, die lächelnd auch über Leichen gehen kann, denn ein Antlitz, das »zu aller Zeit« heiter ist, muß zu einer Heiterkeits-Maske erstarren, wenn das stoische Prinzip nil admirari sich zu ideologisch bedingter Indolenz verhärtet: Der christlich-stoische Weise glaubt angesichts der Katastrophen unbeirrt weiterhin an seine Theodizee, auch wenn der Pöbel jammert und sich über die vermeintliche Ungerechtigkeit der Welt erregt. Auf ein so hoch ideologisierte Heiterkeits-Dogma »zu aller Zeit« sind wir in Kapitel 2.8.6.2 schon bei Castigliones notorisch heiteren Hofleuten und bei den Thelemiten von Rabelais gestoßen, die nicht weniger verblendet wirken als dieser notorisch heitere Anakreontiker Johann Peter Uz. Und deshalb ist es nur konsequent, daß Uz in seinem Lehrgedicht Versuch über die Kunst, stets fröhlich zu seyn von 1760 ausdrücklich Popes Formel »Whatever is, is right!« wiederholt und stoisch heitere Gelassenheit angesichts der Übel in der Welt empfiehlt: »Die Bösen schaden mir; und sollt ich schmähn und fluchen? Es ist der Bösen Art, daß sie zu schaden suchen. Erzürnt ein Weiser sich, daß eine Nessel brennt?

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Die grundlegenden Impulse zur Aufklärung

Es ist der Nessel Art; ihr weichet, wer sie kennt. Mein Unmuth ändert nicht die Ordnung aller Dinge, Wenn ich voll Ungeduld die wunden Hände ringe. Genug! sie kömmt von Gott, und Gott ist weis’ und gut, Als Schöpfer und Regent; und recht ist, was er thut. Was ist, ist alles recht, doch im Zusammenhange, Den ich nicht einzusehn vermag, auch nicht verlange. Der eine Welt gemacht, kennt ihren ganzen Plan Und aller Theile Zweck: er ordnet alles an, Macht gut, was böse war, und lenkt Begebenheiten Zu seiner Absicht um, auch wenn sie mit ihr streiten, Und mischt, wenn’s heilsam ist, aus weiser Lieb’ allein, Der Wermuth Bitterkeit in unsern Becher ein.« (S. 262 f.)

Wie wahrhaftig wirkt dagegen die flammende Empörung Voltaires in seinem Lissabon-Gedicht, auch wenn ein solcher Protest im Namen der Vernunft noch so sehr an den edlen Wahn des Ritters Don Quijote erinnern mag. Und wie wahrhaftig wirkt auch das bittere Hohngelächter, das er angesichts der Leichenberge von Lissabon auf all die Philosophen und Dichter anstimmt, die die These »Tout est bien!« (S. 61) bzw. »Whatever is, is right.« in die Welt hinaus posaunt haben. Aber dieses bittere Gelächter Voltaires, auf das wir in Johann Karl Wezels Roman Belphegor und in Lessings Komödie Minna von Barnhelm nochmal stoßen werden, hat mit der heiteren Weltfrömmigkeit und aufgeklärten Vergnügtheit eines Brockes schon nichts mehr gemein. In Hallers großem Gedicht meldet sich zum ersten Mal jener »Abgrund dunklen Empfindungen« (8,18), den Herder in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) als Grenze heiterer Aufklärung benennt, und damit macht er deutlich, wie zerbrechlich das Gebäude der Theodizee ist, wie eng die Grenzen einer heiteren Aufklärung gezogen sind, und wie leicht der metaphysische Optimismus in metaphysischen Katzenjammer oder in puren Nihilismus umschlagen kann, wenn sich all diese schönen Denkwerke als Anmaßungen der Metaphysik und als Begriffsdichtungen auf der Grundlage problematischer Urteile erweisen.

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2.12.3 Shaftesbury als Anwalt Heiterer Aufklärung Die eigentliche Heitere Aufklärung beginnt mit Shaftesbury, an dessen Werk sich alle Aufklärer der nachfolgenden Generationen orientierten. Die für unser Thema wichtigsten Beiträge Shaftesburys sind seine Lehrbriefe, die er ab 1708 in rascher Folge erscheinen ließ und 1711 unter dem Titel Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times zu einem dreibändigen Werk zusammenfaßte, das im 18. Jahrhundert viele Auflagen erlebte und 1776 auch von Johann Heinrich Voß und Ludwig Heinrich Hölty, zwei Mitgliedern des Göttinger Hainbundes, ins Deutsche übertragen wurde und Shaftesburys Ruhm in Deutschland34 begründete. Mit dem Titel Characteristicks stellte sich Shaftesbury in eine Reihe mit den Charakteren des Aristoteles-Schülers Theophrast und den Caractères des Moralisten La Bruyère, orientierte sich aber weniger an Theophrast, der mit seinen Charakteren bestimmte Rollenfächer der Mittleren Komödie beschrieben hatte, sondern eher an La Bruyère, der 1688 ein sehr kritisches Bild der Sitten und Unsitten seiner Zeit aus der Sicht des absolutistischen Hofes vorgelegt hatte. Als Motto für sein Werk wählte Shaftesbury ein bekanntes Zitat aus den Satiren des Horaz: »Ridentem dicere Verum Quid vetat?« »Was spricht denn dagegen, lachend die Wahrheit zu sagen?«

Man könnte aber auch übersetzen: »… das lachende Wahre zu sagen«, weil uns diese Übersetzung sofort auf den für unsere Fragestellung zentralen Ansatz von Shaftesburys Verständnis von Aufklärung verweist, nämlich auf den berühmten test of ridicule, die Probe auf die Lächerlichkeit, die er als das wichtigste Instrument der Aufklärung verstand und propagierte. Aus diesem umfangreichen Werk sind für uns eigentlich nur drei Abhandlungen von größerer Bedeutung: Der Brief über den Enthusiasmus an Mylord …, mit dem das ganze Werk eröffnet wird, und der zweite Lehrbrief mit dem Titel Sensus communis; ein Versuch über die Freyheit des Witzes und der Laune. Beide Texte stammen aus dem Jahr 1708. Dazu kommt noch die 864 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Shaftesbury als Anwalt Heiterer Aufklärung

Abhandlung Die Moralisten von 1709, die für den Optimismus der Aufklärung das entscheidende Stichwort geliefert hat und auf die wir schon eingegangen sind. Obwohl Shaftesbury für seine Abhandlungen gern die literarische Form des Lehrbriefes wählt, verfällt er doch nie ins Dozieren, wie dies z. B. Seneca in seinen berühmten Lehrbriefen an seinen Schüler Lucilius tut, sondern führt mit seinem Partner eher einen Diskurs auf Augenhöhe, so wie dies z. B. bei Johann Jakob Engel in seiner Mimik geschieht. Er hatte auch allen Grund, in dieser respektvollen, aber auch respektheischenden Art mit seinem Briefpartner umzugehen und dadurch das Decorum zu wahren, denn in diesem Briefwechsel wiederholt sich gleichsam im kleinen eine Form gesellschaftlichen Umgangs, die Shaftesbury zugleich auch als Bedingung der Möglichkeit Heiterer Aufklärung ansah. Oder anders formuliert: Der Briefwechsel in dieser Form wiederholt den Umgangston, wie er im Club üblich ist. Aber was ist ein Club? Und: Wie müssen die gesellschaftlichen Voraussetzungen beschaffen sein, daß die Geselligkeitsform eines Clubs überhaupt möglich ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zu einem kleinen historischen Exkurs ausholen. Shaftesbury stammte aus einer Familie, die im damaligen England eine wichtige politische Rolle bei der Durchsetzung liberaler Grundsätze gespielt hatte, und deshalb kann man verstehen, daß er auf diese Erfolge der englischen Whigs entsprechend stolz war. Die wichtigsten Meilensteine dieses englischen Liberalismus waren die Habeas-Corpus-Akte von 1679, die unblutige und deshalb so genannte »Glorreiche Revolution« von 1688 und v. a. die Bill of Rights von 1689, durch die England zu der konstitutionellen Monarchie wurde, die es auch heute im Kern noch ist. Hand in Hand mit der Bill of Rights wurde 1689 auch die Habeas-Corpus-Akte als Toleranz-Akte ausdrücklich erneuert und bekräftigt, um nicht nur die persönliche Unantastbarkeit des Bürgers durch Organe des Staates zu gewährleisten, sondern auch die freie Religionsausübung für alle Konfessionen. Im Gegensatz dazu wurde in Frankreich zur gleichen Zeit 1685 das Toleranzedikt von Nantes wieder aufgekündigt, was dann sofort zu neuen Religionskriegen zwischen der Staatsmacht und den Camisarden, den hugenottischen Gotteskriegern, führte. 865 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Das Modell für den historischen Kompromiß von 1688/89 war der große historische Kompromiß, der die Bürgerkriege im Römischen Reich beendet hatte und den Römern die legendäre Pax Romana des Jahres 30 v. Chr. bescherte, also das Augusteische Zeitalter, weshalb man die britische Situation ab 1688/89 auch als Pax Britannica bezeichnen könnte. Da die Pax Romana von Horaz als dem repräsentativen Dichter dieser Epoche so hymnisch besungen wurde, ist es in sich auch ganz konsequent, daß Horaz ab 1700 in England und Deutschland aufs neue als paradigmatischer Anakreontiker entdeckt, zur poetischen Leitfigur erhoben und fleißig übersetzt wurde, weil man über den Anakreontiker Horaz an der glücklichen Atmosphäre der Pax Romana teilhaben wollte. Mit diesem großen historischen Kompromiß zwischen Krone und Parlament, Bürgertum und Adel, und auch zwischen Anglikanern, Puritanern und Katholiken war ein modus vivendi gefunden, der nun auch für England lange Zeit inneren Friedens brachte, die für ganz Europa das ersehnte und erstrebte Vorbild bot, ganz so wie es einst die Pax Romana gewesen war. Die schrecklichen Jahre von Revolution und Restauration, von Bürgerkrieg, Militärdiktatur und Anarchie seit 1640 waren überwunden. Daß das Jahr 1679, in dem die Habeas-Corpus-Akte als gesetzliche Garantie bürgerlicher Grundrechte verkündet wurde, zugleich auch das Todesjahr von Thomas Hobbes war, hat einen gewissen symbolischen Wert, weil mit dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung durch staatliche Organe zugleich auch dem Wolfsgesetz des Leviathans, des Bürgerkriegs aller gegen alle, zumindest im politischen Leben enge Grenzen gesetzt waren. Man könnte auch sagen: Die politische Aufklärung hatte ein erstes unverzichtbares Ziel erreicht, die Durchsetzung eines Naturrechts auf persönliche Integrität. Aus diesem Grund ist es nicht übertrieben, wenn Shaftesbury gleich in den ersten Sätzen seines Briefes über den Enthusiasmus schreibt: »Nie kannte man bey unserer Nation eine Zeit, da Thorheit und Ausschweifung von jeder Art mit mehr Schärfe untersucht, oder mit mehr Witz lächerlich gemacht wurden. (…) Es kann kein unparthyeyischer und freyer Tadel der Sitten Statt finden, wo irgend eine besondre Ge-

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Shaftesbury als Anwalt Heiterer Aufklärung

wohnheit, oder Nationalmeynung ausgenommen wird, und nicht nur ungerügt bleibt, sondern sogar die größten und feinsten Schmeicheleyen bekommt. Nur in einer freyen Nation, wie die unsrige ist, hat der Betrug kein Privilegium; und weder das Ansehn des Hofs, noch die Macht des Adels, noch die Heiligkeit der Kirche schützt ihn vor der Gerechtigkeit, die ihn in jeder Gestalt, in jeder Verkleidung vor Gericht fodert.« (I,10 f.)

Das Instrumentarium, um all diesen Autoritäten den Prozeß zu machen, ist für Shaftesbury der Test des Lächerlichmachens (test of ridicule), das Säurebad des Witzes, in dem all das zerfressen wird, was keine echte Substanz hat, aus dem aber auch alles, was Bestand hat, umso sauberer und strahlender hervorgeht. Mit diesem Lächerlichkeitstest hat Shaftesbury gleichsam die Kehrseite der Habeas-Corpus-Akte formuliert: So wie die HabeasCorpus-Akte das Recht des Bürgers auf persönliche Integrität und Achtung seiner Menschenwürde sichern und ihn vor staatlicher Willkür schützen soll, so soll der test of ridicule das Recht des Bürgers anmahnen, all das lächerlich machen zu dürfen, was verdient, lächerlich gemacht zu werden, weil sich erst dadurch dessen wahrer Wert zeigt, und dies gilt sowohl für Personen wie für Institutionen. Aber Shaftesburys test of ridicule ist nicht nur die Kehrseite der Habeas-Corpus-Akte, sondern auch deren Erbe, weil es ohne die Habeas-Corpus-Akte dieses Mindestmaß an Spielraum von Ironisierungsmöglichkeiten im damaligen England nicht hätte geben können, ohne den der humorvolle Witz nicht gedeihen kann. Daß der aggressive politische Witz in gesellschaftlichen Systemen, die die persönliche Integrität ihrer Bürger mit Füßen treten, besonders gut gedeiht, weil er sich als Vehikel personaler Selbstbehauptung anbietet, weiß jeder, der Diktaturen von innen kennt. Er weiß aber auch, daß dieser aggressive politische Witz Außenstehende nie in dem Maß zum Lachen reizt wie den Bürger der jeweiligen Diktatur. Alle Honecker-Witze wirken heute irgendwie schal, auch wenn sie noch so witzig formuliert sein mögen. Durch den großen historischen Kompromiß von 1688/89 war in England die Grundlage dafür geschaffen, daß in dieser nunmehr relativ entspannten Situation Shaftesburys heitere GeselligkeitsPhilosophie die Bürgerkriegs-Philosophie von Thomas Hobbes ab867 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lösen konnte, und das hatte nun auch weitreichende gelotologische Konsequenzen, weil beide Philosophien ein unterschiedliches Menschenbild und sehr unterschiedliche Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens mit den entsprechenden gelotologischen Implikationen vertreten. Es ist ganz aufschlußreich, von hier aus einen Blick auf das zeitgenössische absolutistische Frankreich zu werfen, das 1685 das Edikt von Nantes aufgekündigt hatte und durch die dadurch provozierte Abwanderung vieler Hugenotten und den Guerillakrieg der camisardischen Gotteskrieger schon 1688 den Staatsbankrott ausrufen mußte. In diesem Klima eines allgemeinen Niedergangs des Absolutismus erschien 1701 gleichsam als absolutistischer Gegenentwurf zu Shaftesburys Aufforderung zum Lächerlichmachen aller selbsternannten Autoritäten eine Abhandlung aus der Feder des Abbé Jean Baptiste Morvan de Bellegarde mit dem Titel Réflexions sur le ridicule et les moyens de l’éviter où sont représentez les différents caractères et moeurs de ce siècle 35, die auch sofort ins Englische und Deutsche übersetzt wurde und viele Auflagen erlebte. Die englische Übersetzung trug den Titel: Reflections upon ridicule, die deutsche Übersetzung stammt von dem Pietisten Sinold von Schütz, erschien 1708 in Leipzig und trug den Titel: Betrachtungen über die Auslachens-Würdigkeit und über die Mittel, selbige zu vermeiden, Darinnen die unterschiedlichen Gemüths-Beschaffenheiten und Sitten derer Personen dieser Zeit vorgestellet werden 36 Die geistigen Mentoren dieser spätabsolutistischen Schrift sind natürlich La Bruyére, an dessen Caractères von 1688 sich der Autor schon im Titel anlehnt, sowie La Rochefoucauld und dessen Maxime Nr. 326, derzufolge Lächerlichkeit entehrender ist als direkter Ehrverlust. Daß diese Abhandlung des Abbé de Bellegarde derart viele Auflagen erlebte, deutet darauf hin, daß das absolutistische Verhaltensideal immer noch für viele Zeitgenossen als verbindlich galt, insbesondere in Deutschland, wo man den Absolutismus gleichsam nachholen mußte, und dies läßt ahnen, wie schwer es eine Heitere Aufklärung im Stil von Shaftesbury hierzulande gehabt haben muß. 868 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Shaftesbury als Anwalt Heiterer Aufklärung

Aus der Darstellung von Fritz Schalk über das Lächerliche im französischen Spätabsolutismus geht hervor, daß der Begriff des Lächerlichen in dieser Epoche einen deutlichen Wandel erfährt. La Rochefoucauld und La Bruyère argumentieren noch ganz in der Tradition des Jansenismus und stehen damit noch ganz im Banne der Gelotologie, die Augustinus für das mittelalterliche Christentum verbindlich festgelegt hatte, und derzufolge alles Lachen letztlich Auslachen-von-oben und damit Bekundung von Hochmut (superbia) sei, als solche aber wieder ein Affront gegenüber Gott und damit die schwerste Sünde überhaupt. Lächerlichkeit sei somit im höfischen Leben nicht nur entehrender als direkter Ehrverlust, sondern darüber hinaus auch noch eine Sünde, weil sie den Lachenden zur Sünde der Hoffart verführt. Im Gegensatz dazu verrät die Abhandlung des Abbé de Bellegarde schon im Titel, daß dieser theologische Aspekt der Lächerlichkeit seine Bedeutung allmählich verliert und der Begriff der Lächerlichkeit zum Begriff einer rein säkularen Ethik und Ästhetik wird. Die Angst vor der Lächerlichkeit, die von nun an die Menschen umtreibt, läßt sich also nicht mehr in die Frage fassen: Wie stehe ich vor meinem Gott, wenn ich durch meine Lächerlichkeit andere zur Sünde des hoffärtigen Lachens verführe?, sondern lautet von nun an: Wie stehe ich in der Welt und vor meinen Mitmenschen da, wenn ich mich lächerlich mache, bzw. wenn es jemandem gelingt, mich lächerlich zu machen? Wie stark leiden mein Ruf, mein Ansehen, meine Ehre? Werde ich dadurch zur gesellschaftlichen Unperson? Bin ich gesellschaftlich vernichtet? In diesem schon völlig profanen, rein am System gesellschaftlicher Normen ausgerichteten Verständnis übernimmt Shaftesbury den Begriff der Lächerlichkeit und instrumentalisiert ihn nun für seinen test of ridicule. Durch alle Abhandlungen Shaftesburys zieht sich wie ein roter Faden die Polemik gegen Thomas Hobbes und dessen Bürgerkriegs-Philosophie, die sich für Shaftesbury in dem Satz zusammenfassen läßt, der gesellschaftliche Normalzustand sei die Anarchie als der Kampf aller gegen alle, und deshalb sei der Mensch dem Menschen ein Wolf. Vorgetragen wird diese Polemik gegen Thomas Hobbes in konzentrierter Form in dem Brief über den Sensus communis. 869 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Der Begriff sensus communis ist für Shaftesbury nicht wie für Descartes ein physiologischer Begriff, bezeichnet also nicht das Zentrum der sinnlichen Wahrnehmung, sondern ist ein Begriff der politischen Theorie und bezeichnet hier den Gemeinsinn als den gesamtgesellschaftlichen Erwartungshorizont, das also, was man mit einiger Sicherheit bei allen Leuten als gültig voraussetzen und woran man auch getrost appellieren darf. Man könnte auch sagen, der sensus communis sei der Nomos, also das, was im gesellschaftlichen eigentlich als Selbstverständlichkeit gelten müßte, als der gemeinsame ethisch-moralische Nenner für alle, die weder böswillig noch schwachsinnig und nicht durch irgendwelche verrückten Vorurteile verbogen sind. Mit Aristoteles könnte man auch sagen, der sensus communis sei das gesellschaftliche proprium hominis. Inhaltlich definiert ist damit der sensus communis aber noch lange nicht, denn auch Hobbes hätte den Begriff verwenden, ihn aber so bestimmen können, daß der sensus communis eben das Wolfsgesetz ist. Hier wird deutlich, daß erst der Blick auf den großen historischen Kompromiß von 1688/89 Shaftesburys Begriff des sensus communis inhaltlich zu füllen vermag, weil erst die dadurch ermöglichte Situation relativer gesellschaftlicher Entspannung auch einen einigermaßen aggressionsfreien Erwartungshorizont schafft, innerhalb dessen sich auch eine bestimmte aggressionsfreie Lachkultur entwickeln kann. Vor diesem Hintergrund konnte Shaftesbury auch auf Aristoteles zurückgreifen, der in seiner Politik gelehrt hatte, der Mensch sei von Natur aus auf friedliche Vergesellschaftung angelegt, da ja schon sein Sprachvermögen diesem Zweck diene. Wenn Günther Bien in seiner Einleitung zur Politik des Aristoteles schreibt, Thomas Hobbes formuliere zu jedem Aristotelischen Axiom bewußt und konsequent die Gegenthese (vgl. S. XXVII), so kann man ganz analog sagen, Shaftesbury formuliere seinerseits wiederum zu jedem Hobbesschen Axiom seine Gegenthese unter konsequentem Rückgriff auf Aristoteles, und diese umfassende Rehabilitierung der Aristotelischen Politik hat die weitreichendsten Konsequenzen bis hin zur Sicht auf das Lachen. Mit anderen Worten: Nicht nur das Lachen und die Sprache, sondern auch die aggressionsfreie Geselligkeit ist laut Aristoteles 870 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ein proprium hominis. Orientiert ist all dies am Ideal der Autarkie, womit aber nicht die Selbstgenügsamkeit des vereinzelten Individuums gemeint ist, sondern die Selbstgenügsamkeit einer Sozietät, so klein oder groß diese immer auch sein mag. Deshalb schreibt Aristoteles in seiner Politik: »Hieraus erhellt also, daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches (d. h. politisches) Wesen ist.« (S. 4)

Für Thomas Hobbes war, wie wir gesehen haben, der sensus communis das Wolfsgesetz, das das vereinzelte Individuum mit der allfälligen Sorge konfrontiert: Was droht von woher? Und dieselbe Sorge prägte auch das Verhalten des Höflings am absolutistischen Hof, wie sie bei La Rochefoucauld und dem Abbé de Bellegarde ja auch deutlich zur Sprache kommt, auch wenn es bei ihnen »nur« die Angst davor ist, lächerlich zu erscheinen, da für sie beide der sensus communis am absolutistischen Hof die Rangelei der Höflinge um die Gunst des Herrschers ist. Aber vor dem Hintergrund des großen historischen Kompromisses von 1688/89 kann Shaftesbury ganz anders argumentieren und von einem grundsätzlich angstfreien sensus communis ausgehen, weshalb er in scharfer Wendung gegen Hobbes die rhetorische Frage stellt: »Sollten wir jedem Grundsatz der Religion und Moral in die Haare fallen, alles natürliche und gesellige Wohlwollen leugnen und den Menschen soviel Wolfssinn als möglich dadurch gegeneinander einprägen, daß wir sie alle als Wölfe beschrieben und sie wie solche Ungeheuer und Bösewichter abzumalen suchten, als die ärgsten unter ihnen mit den ärgsten Absichten nie werden könnten?« (I,112)

Dann aber erinnert er seinen Briefpartner an den gesellschaftspolitischen Rahmen, in dem diese Wolfs-Philosophie entstanden ist, aber nicht, um deren Autor zu entschuldigen, sondern um die unendlich glücklichere eigene Situation nach der Habeas-CorpusAkte von 1679 deutlich zu machen, und fährt fort: »Und doch wurde ein geschickter und kluger Philosoph unserer Nation, wie Sie wissen, von einem solchen Abscheu dieser Art besessen, daß er gegen Politik und Moral geradezu im Geiste des Niedermetzelns verfuhr. Das Schrecken, das ihn bey dem Anblick der damaligen Be-

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herrscher (gemeint ist Cromwells Militärdiktatur) ergriff, die sich mit Unrecht die Gewalt des Volkes anmaßten, brachte ihm einen solchen Abscheu gegen alle Volksregierung und gegen den Begriff der Freyheit selbst bey, daß er, um sie auf ewig abzuwürgen, die Ausrottung der Wissenschaften selbst anempfiehlt. (…) Ist dies nicht in der That etwas gothisch? Und hat nicht unser Philosoph etwas Wildes an sich?« (I,113 f.) 37

Wie wir im Kapitel über Hobbes gesehen haben, hatte Hobbes die Tendenz, die Vielfalt des Lachens einzig auf das Auslachen-vonoben als dem Ausdruck von sudden glory zu reduzieren. Es müßte auch deutlich geworden sein, daß in diesem plötzlichen Gefühl triumphaler Überlegenheit immer auch ein Mindestmaß an Erleichterung mitschwingt, eine allfällig drohende Gefahr zumindest für diesen einen Moment siegreich abgewendet zu haben. Somit könnte man sagen, das normale Lachen sei für Hobbes das erleichterte Auflachen des Angstbeißers, das dieser als Triumph empfindet. Wenn Shaftesbury sich nun so entschieden von Hobbes und dessen Bürgerkriegs-Philosophie absetzt, so ist es nur konsequent, wenn er dies auch gelotologisch tut und sein Augenmerk auf all die Formen von Gelächter richtet, die eine friedliche Vergesellschaftung fördern, begleiten und bekunden, und dazu gehören insbesondere all die Formen von Lachen in der aristotelisch-ciceronischen Tradition einer eutrapelistischen Lachkultur, weil sich diese, und nur diese, als Formen des vernünftigen und gemäßigten Lachens verstehen und rechtfertigen lassen. Dazu kommen außerdem alle Arten von Gelächter und Geloiastik, die im Dienste der Vernunft geschehen, also z. B. wenn man sie beim test of ridicule anwendet. Alle »wilden«, gleichsam barbarisch »gothischen« Arten von Gelächter, also alle aggressiven und exzessiv ekstatischen, verfallen dann dem Verdikt aufgeklärter Heiterkeit und scheiden aus der Lachpalette aufgeklärter Heiterkeit als Bekundung von Unvernunft aus. Dies zieht nun sofort die Frage nach sich, wie der gesellschaftliche Rahmen beschaffen sein müßte, innerhalb dessen eine Lachkultur dieser Art gepflegt und der historische Kompromiß von 1688/ 89 im kleinen wiederholt, institutionalisiert und eingeübt werden kann, um die durch Revolution und Restauration, Bürgerkrieg und Anarchie geschlagenen Wunden durch die Einübung von Toleranz 872 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Shaftesbury als Anwalt Heiterer Aufklärung

und wechselseitiger Achtung wieder zu heilen und dort im kleinen einen Gemeinsinn entstehen zu lassen, der einen für die gesamte Gesellschaft akzeptablen Nomos bilden könnte. In seinem Lehrbrief über den Sensus communis benennt Shaftesbury diese Keimzelle des neuen Gemeinsinnes in aller gebotenen Deutlichkeit und schreibt: »Denn Sie müssen sich erinnern, mein Freund, daß ich bloß zur Vertheidigung der Ungebundenheit kleinrer Gesellschaften (liberty of the club) und der Art von Freyheit schreibe, die man sich unter Leuten von Erziehung (gentlemen) und Freunden herausnimmt, die einander vollkommen vertrauen. Wie natürlich es für mich ist, die Freyheit mit dieser Einschränkung zu vertheidigen, können Sie aus dem Begriffe selbst schließen, den ich von der Freyheit habe.« (I,95 f.)

Ich habe in diesem Zitat an zwei Stellen die Formulierungen aus dem englischen Original hinzugefügt 38, um deutlich zu machen, mit welchen Schwierigkeiten die zeitgenössischen Übersetzer Voß und Hölty hier zu kämpfen hatten, denn sie mußten hier deutsche Wörter für Sachen finden, die es im damaligen Deutschland gar nicht gab, denn es gab eben keine Clubs und keine Gentlemen, weil die gesellschaftspolitische Zurückgebliebenheit im kleinstaatlichen Deutschland im Vergleich zu England gar zu groß war. In Deutschland hatte es leider keinen großen historischen Kompromiß gegeben, weil der Westfälische Frieden die gesellschaftlichen Zustände nicht angetastet und die Klüfte innerhalb der deutschen Gesellschaft durch das Prinzip cuius regio eius religio eher noch vertieft hatte. In England bildeten sich die Clubs ab 1690, also unmittelbar nach der Glorreichen Revolution von 1688 und der Bill of Rights von 1689 zuerst in London und dann in allen größeren Städten, bald aber auch auf dem Land. Getragen und frequentiert wurden die Clubs von der Gentry, einer neuen gesellschaftlichen Schicht, die sich aus Adel und Bürgertum zusammensetzte und im Gentleman ein neues gesellschaftliches Ideal sah. Auf den ersten Blick erinnert diese Gentry an die Schicht, die man im absolutistischen Frankreich la cour et la ville genannt hatte 39, weil sich auch diese aus Adel und Bürgertum zusammensetzte. Schaut man aber etwas genauer hin, so erkennt man bald entscheidende Unterschiede, 873 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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denn der adelige Anteil der Gentry war kein Hofadel, sondern Landadel, weshalb sich die Gentry in ihrem Selbstverständnis auch nicht an Hof und König orientierte, wie dies bei la cour et la ville im absolutistischen Frankreich der Fall war, sondern mit dem Ideal des Gentleman einen neuen normativen Typ entwickelte, in dem der historische Kompromiß von 1688/89 gleichsam Gestalt geworden war. Mit den englischen Clubs gab es nun wieder eine gesellschaftliche Institution, die das Erbe des idealen Hofes im Sinne von Pontano und Castiglione antreten konnte, und deshalb häufen sich auch im frühen 18. Jahrhundert die englischen Übersetzungen von Castigliones Buch40 über den Hofmann. Vor allem aber gab es wieder ein Forum für die ars iocandi et ridendi und für die Bildung neuer Lach-Gemeinschaften, also für eine Lachkultur auf Augenhöhe, allerdings unter strikter Beachtung des Nomos der eutrapelistischen Lachkultur, denn auch Shaftesbury betont ausdrücklich: »Die Freyheit des Scherzes (freedom of raillery), die Macht, alles in einem anständigen Ton (in decent language) zu bezweifeln, und die Erlaubniß, jede Behauptung ohne Beleidigung des Behaupters (without offence to the arguer) zu enthüllen, oder zu widerlegen, sind die einzigen Mittel, die eine solche philosophische Unterredung auf einige Weise angenehm machen können.« (I,88)

Mit diesen Einschränkungen, die jedes Mitglied eines Clubs akzeptieren und so weit verinnerlichen mußte, daß sie ihm zur zweiten Natur werden und er dadurch zum Gentleman wird, war in den englischen Clubs wieder eine Situation geschaffen, in der »unser Lachen« aufs neue möglich wurde, und allein dieses Lachen darf laut Shaftesbury als »unser Lachen« auch beim test of ridicule provoziert werden, mit dessen Hilfe sich die Menschen gegenseitig aufklären können, zunächst im Rahmen eines Clubs, also gleichsam im Experimentalstadium, und dann draußen in der Gesellschaft als ganzer. Die Logen der Freimaurer, die sich seit 1713 entwikkelten, könnte man als ernstes Gegenstück zu den Lachgemeinschaften der Clubs verstehen, aber auch sie waren Institutionen, in denen sich Adel und Bürgertum auf Augenhöhe begegnen konnten.

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Die Misere einer »verspäteten Nation«

2.12.4 Die Misere einer »verspäteten Nation« »In einer freyen Nation, wie die unsrige ist, hat der Betrug kein Privilegium; und weder das Ansehn des Hofs, noch die Macht des Adels, noch die Heiligkeit der Kirche schützt ihn vor der Gerechtigkeit, die ihn in jeder Gestalt, in jeder Verkleidung vor Gericht fodert. Es kann vielleicht scheinen, daß diese Freyheit zu weit geht; und man kann uns vielleicht beschuldigen, daß wir sie mißbrauchen.« (I,11 f.)

So hatte Shaftesbury in seinem Enthusiasmus-Brief voller Stolz auf sein Land geschrieben. Dann aber hatte er sofort hinzugefügt: »So sagt jeder, wenn er sich selbst getroffen, und seine Meynung frey untersucht findet. Doch wer soll entscheiden, was man frey untersuchen darf, und was nicht; und wie weit sich diese Freyheit erstrecken dürfe? Welche Arzeneyen soll man dagegen überhaupt verschreiben? Woher nimmt man sie besser, als von der Freyheit selbst, worüber man sich beklagt?« (I,12)

Wenn ein deutscher Publizist damals all diese Fragen gestellt hätte, wären es keine rhetorischen Fragen gewesen, sondern bittere Klagen, denn hierzulande ging allen Amtsträgern immer noch alles zu weit. In Deutschland als einer »verspäteten Nation« (Plessner) hatte es eben keinen großen historischen Kompromiß zwischen Krone und Parlament gegeben, schon deshalb nicht, weil es keine Hauptstadt, keine Zentralmacht und kein Parlament gab, sondern eine Vielzahl spätabsolutistischer Höfe unterschiedlicher Größe bis herab zum Liliput-Format, die sich aber gleichwohl am Modell von Versailles zu orientieren suchten. Deshalb konnte es auch keinen historischen Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum geben, aus dem sich ein deutsches Gegenstück zur englischen Gentry hätte bilden können. Und der historische Kompromiß zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen, der auf dem Westfälischen Frieden nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges beschlossen worden war, hatte die konfessionelle Spaltung der deutschen Gesellschaft eher noch vertieft, sodaß die verschiedenen Konfessionen strikt getrennt nebeneinander lebten. Ein fataler Nebeneffekt dieser tiefen Trennung der Gesellschaft bestand darin, daß die geistige Kultur Deutschlands wesentlich durch das protestantische Pfarr-

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Heitere Aufklärung

haus geprägt wurde und die Katholiken aus dem geistigen Leben erst mal völlig ausschieden. Nicht mal der innere Frieden war gesichert, weil zwei deutsche Mächte sich einen ständigen Kampf um die Vormacht im Reich lieferten, der dann im siebenjährigen Krieg zum offenen Konflikt wurde. Die durch den Sieg Friedrichs II. ausgelöste fritzisch-patriotische Euphorie, die Goethe in seiner Autobiographie so ausführlich beschreibt und die sich in einer Fülle patriotischer Gedichte z. B. bei Gleim niederschlug, führte nach dem Hubertusburger Frieden von 1763 jedoch gerade nicht zu einem Gefühl nationaler Einigkeit, sondern spaltete das Land aufs neue. Vom Ideal einer Pax Romana, an dem die Briten sich nach ihrem großen historischen Kompromiß von 1688/89 orientieren konnten, war das Deutschland des 18. Jahrhunderts also noch unendlich weit entfernt, und dies ist auch bis zum 3. 10. 1990 so geblieben. Wie mir scheint, bringt Johann Peter Uz mit seinem Gedicht Das bedrängte Deutschland von 1746 die deutsche Misere auf den Punkt, wenn er mit der Klage anhebt: »Wie lang zerfleischt mit schwerer Hand Germanien sein Eingeweide? Besiegt ein unbesiegtes Land Sich selbst und seinen Ruhm, zu schlauer Feinde Freude? (…) Wem ist nicht Deutschland unterthan! Es wimmelt stets von zwanzig Heeren: Verwüstung zeichnet ihre Bahn; Und was die Armuth spart, hilft Ubermuth verzehren. Vor ihnen her entflieht die Lust; Und in den Büschen öder Auen, Wo vormals an geliebter Brust Der satte Landmann sang, herrscht Einsamkeit und Grauen.«

Dann beschwört Uz die Zeiten der alten Germanen und den Heros Hermann, zuckt aber sofort wieder zurück, weil er sich damit ja auf das Gebiet politischer Gesinnungslyrik begeben würde, orientiert sich deshalb lieber an Anakreon als an Alkaios und beendet sein Gedicht mit einem Aufruf zu einer Gesinnungsemigration, die das 876 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Misere einer »verspäteten Nation«

anakreontische Scherzen im geschichtslosen und politikfreien Raum zum Ideal erhebt: »Doch mein Gesang wagt allzuviel! O Muse! fleuch zu diesen Zeiten Alkäens kriegrisch Saitenspiel, Das die Tyrannen schalt, und scherz auf sanftern Saiten.« (S. 39–43)

Die einzige gesellschaftliche Institution, an der oder in deren Umkreis das englische Modell Heiterer Aufklärung im damaligen Deutschland aufgenommen und durch die Einrichtung von anakreontisch orientierten Freundeskreisen, thematisch geprägten Zirkeln und gelehrten Tischgesellschaften 41 zumindest ansatzweise umgesetzt werden konnte, waren die deutschen Universitäten, aber auch diese lagen weitab von den Zentren politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht, also nie in Residenzstädten in unmittelbarer Nähe eines Hofes oder in den großen Handelsmetropolen, sondern durchweg in winzigen Kleinstädten wie z. B. Tübingen, Ingolstadt, Altdorf, Marburg, Jena, Halle, Göttingen, Wittenberg, Frankfurt/Oder und Königsberg mit weniger als 5000 Einwohnern. Unter den größeren Städten wie München, Augsburg, Nürnberg, Frankfurt und Dresden hatte nur die Messestadt Leipzig eine Universität. Schon aus diesen Gründen konnte in Deutschland kein wirkliches Äquivalent zur englischen Gentry und zu den englischen Clubs entstehen. 2.12.4.1 Pietistische Innerlichkeit Da es im Deutschland des 18. Jahrhunderts auch kein Äquivalent zu den englischen Freiheitsrechten in der Art der Habeas-CorpusAkte gab, die dem Bürger ein Mindestmaß an personaler Unantastbarkeit garantiert hätten, war die Versuchung groß, den Ausweg nach innen anzustreben und zumindest im eigenen Innern oder in ganz engen Zirkeln Bereiche unantastbarer Souveränität zu errichten. Aus diesem Grund unterschieden sich auch die englischen, französischen und deutschen religiösen Erweckungsbewegungen dieser Zeit so deutlich von einander. Tendierten die Quäker und Camisarden dazu, ihre ekstatischen Erfahrungen extravertiert in 877 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die Öffentlichkeit zu tragen und dort coram publico auszuagieren, so suchten die deutschen Pietisten als die »Stillen im Lande« im Rahmen kleiner Zirkel eine Art von introvertierter Öffentlichkeit zu schaffen, um dort ihren Kult der Innerlichkeit und des ergriffenen Ernstes zu pflegen. Dieser deutsche Pietismus, der das geistige Leben Deutschlands im 18. Jahrhundert auf das tiefste geprägt hat, sollte sich für das Projekt einer Heiteren Aufklärung als das massivste Hindernis erweisen, weil jede Art von Heiterkeit einen generellen Impuls zu umfassender Weitung, Öffnung und Zentrifugalität in sich trägt, wohingegen der Pietismus ganz auf Konzentration, Sammlung, Innerlichkeit und Zentripetalität ausgerichtet ist. Man muß nur einmal einen Blick in August Langens Auflistung des pietistischen Wortschatzes 42 werfen, um zu sehen, wie weit dieser Wortschatz der Innerlichkeit ausdifferenziert war. Dazu kommt, daß der deutsche Pietismus das reformatorische Gebot zu neuer Ernsthaftigkeit, dem wir zuerst beim Kampf der Reformatoren gegen das Osterlachen begegnet sind, so überaus konsequent befolgt hat, daß er zum neuen Hort der Lachfeindschaft wurde und somit nahtlos an die altchristliche Lachfeindschaft bei Johannes Chrysostomus, Aurelius Augustinus, Benedikt von Nursia und Bernhard von Clairvaux anknüpfen konnte, und so wurde die immer wieder zitierte Passage Epheser 5,4 gleichsam zum Grundgesetz pietistischen Verhaltens erhoben. Lachen und Scherzen in jeder Form rückte dadurch wieder einmal in den Rang eines Adiaphoron und wurde genauso entschieden als »Lusthandlung« verdammt wie all die anderen Mitteldinge auch: Musik, Tanz, Theater, Spaziergang, Kochkunst, Alkohol und Tabak sowie jede Art von Geselligkeit und Spiel. All diese Restriktionen geselliger heiterer Lebensführung hatten schon die englischen Puritaner und Methodisten vorexerziert, denen die deutschen Puritaner hier willig folgten. Die Lehre von den Adiaphora beruft sich i. a. auf zwei Passagen aus dem Matthäus-Evangelium und aus dem ersten Brief an die Korinther. Bei Matthäus zürnt Jesus seinen Zuhörern: »Ihr Otterngezücht, wie könnt ihr Gutes reden, dieweil ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. (…)

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Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben.« (Matth. 12,34–36)

Und im Brief an die Korinther schreibt Paulus: »Ich habe es alles Macht; es frommt aber nicht alles. Ich habe es alles Macht; es soll mich aber nichts gefangennehmen.« (1. Kor. 6,12, auch 10,23)

Die Adiaphora sind demnach also nicht direkt Sünden oder Laster, sondern nur Dinge, die man tun, die man aber auch lassen kann, weil sie zunächst mal ethisch neutral sind, also in der Mitte zwischen Tugenden und Lastern liegen. Da sie aber jemanden auch »gefangennehmen« können, wenn er allzu großen Gefallen daran findet, im Extremfall ihn sogar so süchtig machen können, daß er nur noch sie im Blick hat, können sie auch gefährlich werden. Wer sich selbst und allen anderen einiges an Selbstbeherrschung und bewußter Lebensführung zutraut, wird wohl auch den Adiaphora gegenüber eine liberale und tolerante Haltung an den Tag legen und der Grauzone des nicht ausdrücklich Verbotenen keine engen Grenzen setzen wollen. Wer hingegen ganz buchhalterisch engherzig um sein Seelenheil besorgt ist, wird in allem Weltlichen nur Versuchungen des Teufels wittern, der ihn »gefangennehmen« will, und deshalb so viele Mitteldinge wie irgend möglich zu verbieten suchen. Der eifernde Kampf der Pietisten gegen die Adiaphora verrät also einiges über das Mißtrauen, das sie sich selber gegenüber empfunden haben müssen. Als besonders gefährlich empfanden die Pietisten das Lachen wohl deshalb, weil es viel ansteckender und deshalb auch weitaus verführerischer ist als all die anderen Adiaphora, und aus diesem Grund finden sich in dem Standardwerk des Halleschen Pietismus von Johann Porst (1668–1728) Theologia practica regenitorum oder Wachsthum der Wiedergebornen (Halle 1726), in dem exemplarische Lebensläufe mit der paradigmatischen Ontogenese eines pietistischen Wiedergeborenen beschrieben werden, die vom »Kind in Christo« über den »Jüngling in Christo« bis zum »Vater in Christo« reicht, immer wieder ernste Warnungen vor dem Lachen, meist in Verbindung mit pädagogischen Ratschlägen, wie man der Versuchung zum Lachen am wirkungsvollsten begeg879 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nen könne. So gesehen liest sich Porsts Werk wie ein pietistisches Seitenstück zum Werk des Abbé de Bellegarde, in dem es im wesentlichen um Mittel und Wege geht, das Verlachtwerden zu vermeiden. Besonders groß ist die Versuchung zum Lachen und Scherzen natürlich für all die Pietisten, die sich noch im Stadium »Kind in Christo« befinden, denn: »Bald reden sie schandbare Wort und Narrentheidinge, garstige Zoten und unfläthige Dinge von Sünden wider das sechste Gebot, oder treiben unanständigen Schertz, den sie noch wol dazu mit dem Heyden Aristotele für eine Wohlanständigkeit (eutrapelian) angeben. Eph.5,4.« 43

In den zwei Bänden mit Bußpredigten von August Hermann Francke, die Johann Porsts Werk beigebunden sind, geht Francke in seiner Bußpredigt vom 3. 9. 1704 selbstverständlich auch auf die klassische Passage Epheser 5,4 ein, in der »schandbare Wort und Narrentheidung und Schertz« verboten werden, und schärft seiner Gemeinde eigens nochmal ein: »Wer demnach noch schandbare Worte redet, und Narrentheidunge treibet, allerley unnütze Schertz-Reden vorbringet, dadurch andere zum Gelächter gereitzet werden, und was dergleichen mehr ist, siehe derselbe handelt wider CHristum, und wider das wahre und rechtschaffene Wesen, das in ihm ist.« (II,60)

In der berühmten Historie der Wiedergebohrnen von Johann Heinrich Reitz (1655–1720) 44, einem der Bestseller des deutschen Pietismus, der ab 1698 erschien, bis 1729 auf fünf Bände anwuchs und exemplarische Lebensläufe von wiedergeborenen historischen Personen darstellt und zur Nachahmung empfiehlt, findet sich ebenfalls immer wieder die Warnung vor dem Lachen. So wird z. B. in der 18. Historie die Edelfrau Margareta Corbet ausdrücklich für ihre pädagogischen Erfolge bei der pietistischen Erziehung ihrer Kinder gepriesen, die ganz konsequent im Sinne von Epheser 5,4 geschehen sein muß, denn dort heißt es: »Ein drittes Kind / und zwar ein Töchterlein / welches kaum deutlich genug / wegen der Kindheit reden konnte / sagte gegen seinen Vater: GOtt der Allmächtige wollte nicht segnen solche Leute / die mit ihren Reden Schertze treiben; sie wollte lieber sterben / dann schertzen! Also fern hat die gute Auferziehung ihrer Mutter gefruchtet.« (II,166)

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Das direkte Vorbild für Reitz war John Bunyan (1628–1688) und dessen Autobiographie eines wiedergeborenen Sünders Grace Abounding to the Chief of Sinners von 1666, das 1698 ins Deutsche übertragen worden war, und das natürlich wieder die Autobiographie und Bekehrung von Aurelius Augustinus 45 zum Vorbild hatte. Diese pietistische Verpönung alles Heiteren reichte sogar bis tief in die medizinische Literatur hinein. Hatten die Renaissance-Ärzte jede Form von Heiterkeit geradezu als medizinische Therapie verschrieben, so warnten die pietistisch orientierten Ärzte mit allem Nachdruck davor. Als ein Beispiel für viele steht Georg Ernst Stahl (1659–1734), einer der berühmtesten Ärzte seiner Zeit, Professor in Halle und lange Jahre Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I., der 1695 in Halle eine Abhandlung Über den mannigfaltigen Einfluß der Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper herausgab, in der er u. a. die vier Temperamente daraufhin untersuchte, für welche Art von Krankheiten jedes dieser Temperamente im besonderen Maße anfällig mache. Wer nun meint, das sanguinische Temperament müßte eigentlich das gesündeste sein, muß sich von Stahl belehren lassen, daß es eher das gefährdetste von allen sei, da Sanguiniker allen Arten von weltlichen Sünden im besonderen Maße zuneigen und dadurch in der Gefahr sind, nicht nur ihr Seelenheil aufs Spiel zu setzen, sondern auch ihre Lebenskraft zu zerrütten: »Wie zahlreichen, bedeutenden Leiden und deren Anzeichen sind doch die Sanguiniker in ihrem Leben ausgesetzt! Sie lassen ihrer Begierlichkeit, ihrer entarteten Vergnügungssucht die Zügel schießen, fröhnen der Gaumenlust, treiben Abusus Veneris, legen die Verdauung lahm, zerrütten die Lebenskraft. Daher Apepsie, Anorexie, Arthritis, Gicht, Lues venerea, Lähmung und Schlagfluß! Daher Fieber usw. usw. Welche Krankheiten ziehen sie sich nicht zu!? Besonders wenn noch fauler Müßiggang, zu dem sie neigen, hinzukommt! Stockung der Säfte der verschiedensten Art und Entzündungen folgen hinterher.« 46

Die Diagnose »Zerrüttung der Lebenskraft« war für Stahl die schlimmste Diagnose überhaupt, weil »Lebenskraft«47 das zentrale Prinzip seiner vitalistisch ausgerichteten, strikt anti-cartesianischen medizinischen Theorie war, die mit dem Begriff der Lebenskraft an 881 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den Begriff des Seelen-Pneumas aus der hellenistischen Epoche anknüpfte. Bei den anderen drei Temperamenten taucht diese Gefahr übrigens nicht als gefährliche Neigung auf, und zu dieser Sonderstellung des sanguinischen Temperaments paßt auch, daß in keinem der Kapitel über die drei anderen Temperamente sich ein einziges Ausrufungszeichen findet, wohingegen es in dem Kapitel über die Sanguiniker von Ausrufungszeichen nur so wimmelt, was darauf schließen läßt, mit welch heiligem Zorn der fromme Herr Professor das Kapitel über die sündigen Sanguiniker geschrieben haben dürfte. Daß man Stahl aber nicht auf den Typ des pietistischen Eiferers reduzieren darf, wird sich sofort zeigen, wenn wir in einem späteren Kapitel auf das von ihm und seinen Schülern propagierte Prinzip der Selbstorganisation und Selbstkorrektur lebendiger Organismen und das sich daraus ergebende synergetische Prinzip im Verhältnis von Leib und Seele eingehen werden. 2.12.5.2 Das Modell Halle Halle war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl das Zentrum des deutschen Pietismus als auch das Zentrum der deutschen Aufklärung, sodaß hier diese beiden wichtigsten geistigen Strömungen der Zeit 48 mit besonderer Heftigkeit aufeinander prallten. Auf der einen Seite standen die Halleschen Stiftungen mit August Hermann Francke an der Spitze, auf der anderen Seite die neu gegründete Universität mit den Philosophen Christian Thomasius, Christian Wolff und Georg Friedrich Meier, dem Kreis der Anakreontiker und den Zeitschriften Der Gesellige und Der Mensch. Die Kämpfe, die sich diese beiden Parteien lieferten, darf man mit gutem Recht als repräsentativ für ganz Deutschland ansehen, weil in Halle die Idee aufgekommen war, zunächst Preußen und dann ganz Deutschland in einen pietistischen Gottesstaat zu verwandeln, in dem Aufklärung nicht nötig sei, und eine Heitere Aufklärung schon gar nicht. Der leitende Kopf des Halleschen Pietismus war der Theologe August Hermann Francke (1663–1727), der selbst wieder seine 882 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wichtigsten Anregungen von Philipp Jacob Spener (1635–1705), dem eigentlichen Begründer des deutschen Pietismus übernommen hatte. Der radikale Lutheraner Spener war in seinem Hauptwerk Pia desideria 1675 zu dem Ergebnis gekommen, der Zustand der aktuellen Welt, auch der der Kirchen und vor allem der der protestantischen, sei völlig verderbt und bedürfe einer umfassenden Erneuerung durch eine Umkehr in der Art, wie aus dem ChristenVerfolger Saulus der Christus-Verkünder Paulus geworden ist. Deshalb müsse die Erneuerung von Welt und Mensch als deren Wiedergeburt eine »Wiedergeburt in Christo« sein, die man sich bei den Pietisten als plötzlichen »Durchbruch zu Christus« vorstellte, wobei dieser Durchbruch aber nicht als aktive Leistung zu verstehen sei, sondern als plötzliches gnadenhaftes Widerfahrnis, das sich am Pietisten vollzieht und seinen langen qualvollen »Bußkampf« beendet, den man als die Geburtswehen der Wiedergeburt bezeichnen könnte. Die genaueste Beschreibung dieser Durchbrucherlebnisse, die ich kenne, stammt von Franz von Baader, der zwar selbst kein Pietist war, sondern ein überaus konservativer Katholik, der aber als großer Verehrer Jakob Böhmes dessen tiefsinnige Überlegungen zum plötzlichen Aufleuchten des inneren Lichtes sehr genau kannte, die sich wiederum als phänomenologische Analyse von Durchbruchs- und Bekehrungs-Erlebnissen allgemein lesen lassen und die von den Pietisten auch so verstanden wurden. Ganz profan gesehen lassen sie sich außerdem als eine Phänomenologie der Pointe und eines überwältigenden Heureka-Erlebnisses verstehen, weshalb wir später nochmal darauf zurückkommen werden. In seinem Aufsatz Über den Blitz als Vater des Lichtes von 1815 bezeichnet Baader »dieses Durchbrechen als ein Durchblitzen«, als »ein Explodieren der Angstspitze« (S. 55), wobei nach dieser Erleuchtung der Erleuchtete »jenem Blitz (Feuergeist) als Hülle oder Leib dient, in dem nun auch jener nicht mehr durchbrechender, gleichsam zürnender unfaßlicher Blitz (als unfaßlicher, jede Natur unter sich verneinender Herr) seine zerstörende (verzehrende) Macht äußert, sondern als innewohnendes, sich faßlich machendes und zu fassen gebendes, bildendes, nährendes Licht (gleichsam versöhnt und besänftigt) kundgibt. Denn Er (der

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Blitz oder Vater) hat nun eine Stätte zu seiner Innewohnung gefunden, nach welcher Ihn gelüstet, als Seine Beleibung, daher nun sein stilles befriedigtes Bleiben (Innewohnen).« (S. 56)

In der Sprache der Pietisten würde dies heißen: Der wiedergeborene Pietist »wohnt« nach dem Durchbruch zu Christo in Christo, und Christus »wohnt« wiederum in ihm. Aus dem eher erbaulichen Aufruf Speners machte Francke, der offenbar ein strenger Systematiker und genialer Organisator war, ein umfassendes theologisch-politisch-pädagogisches Programm und fing um 1700 an, es in Halle in die Tat umzusetzen. Der erste Schritt war die Gründung der Franckeschen Stiftungen, die zunächst Waisenhäuser waren, (in denen die Kinder selbstverständlich nicht spielen durften!), sich aber alsbald in Orientierung an Platon, Augustinus und Bernhard von Clairvaux zu einer Res publica Platonica ausweiteten, also zu einem pietistischen Kloster als Keimzelle eines pietistischen Gottesstaates und zur Ausbildungsstätte für eine pietistische Elite, die diesen neuen Gottesstaat in die Hand nehmen sollte. Was Francke unter einer Wiedergeburt der sozialen Welt verstand, legte er 1702 in der Denkschrift Großes Projekt von einer Universalverbesserung in allen Ständen 49 nieder, in der er ein Institut entwarf, das die Ausbildung in allen denkbaren Berufen vom Handwerk bis hin zu den traditionellen akademischen Studiengängen und allen militärischen Berufen anbieten sollte. Mit diesem Entwurf einer pietistischen Universal-Gesamthochschule war der Konflikt mit der neu gegründeten staatlichen Universität vorprogrammiert, die für Francke als säkular orientierte Universität die Quelle alles Bösen war, da sie für ihre führenden Köpfe zugleich den Ort, das Forum und den Ausgangspunkt der Aufklärung bildete. Francke dachte also konsequent in den Kriterien von Augustinus: Sein eigenes Institut entsprach der augustinischen civitas Dei, die staatliche Universität der teuflischen civitas saecularis. Der Konflikt verschärfte sich noch weiter dadurch, daß Francke selbst auch als Professor für Theologie und ab 1714 sogar als Rektor an der Universität Halle wirkte und diese Macht skrupellos ausnutzte, um mißliebige anti-pietistische und aufklärerische Kollegen aus dem Amt zu treiben. Diese Gelegenheit bot sich ihm eigentlich erst ab 1713, als 884 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Friedrich Wilhelm I. den preußischen Thron bestieg, denn nun befand sich der preußische Pietismus in der Situation, in der sich das Christentum im Jahr 391 befunden hatte, als es Staatsreligion des Römischen Reiches wurde, denn durch die engen Beziehungen Franckes zum neuen König wurde der Pietismus praktisch die preußische Staatsreligion und erlebte genau den Schub an gesteigerter Ernsthaftigkeit, den schon das antike Christentum mit dem Jahr 391 erlebt hatte und den wir an der Abhandlung De officiis ministrorum und an der gnadenlosen Gnadenlehre des Augustinus von 397 haben ablesen können. Und so wie das antike Christentum ab 391 die Sprache der Macht sprach, so sprach auch der preußische Pietismus ab 1713 die Sprache der Macht und begann, das öffentliche Leben mit einem unerhört intoleranten Absolutheitsanspruch pietistisch gleichzuschalten. Das Preußen des »Soldatenkönigs« sollte also im Gleichschritt in einen pietistischen Gottesstaat marschieren. Wie sich diese Entwicklung aus der Sicht eines schwäbischen Pietisten darstellte, kann man den begeisterten Briefen von Johann Albrecht Bengel (1687–1752) entnehmen, der 1713 eine Wallfahrt nach Halle unternommen hatte, und später der führende Kopf des schwäbischen Pietismus 50 wurde. Auf all die Kämpfe, die sich aus dieser Konfliktlage in Halle ergaben, müssen wir hier nicht im einzelnen eingehen, da man sie in der vorzüglichen Studie von Carl Hinrichs nachlesen kann. Uns interessiert nur, in welcher Weise bei diesen erbitterten Kämpfen zwischen Pietismus und Aufklärung unser Thema zur Sprache kommt, und dies ist der Fall beim Streit zwischen Francke und Thomasius 51 und später in verschärfter Form beim Streit zwischen Francke und Wolff. 52 Christian Thomasius (1655–1728) war ein Jurist und Philosoph, der schon 1694 bei der Gründung der Universität Halle als repräsentativer Reform-Universität mitgewirkt hatte und seitdem dort lehrte. Er war ins Visier der Pietisten geraten, weil er ein spätabsolutistisch-höfisches Programm vertrat, das sich am französischen Modell la cour et la ville orientierte und deshalb darauf abzielte, das protestantische Bildungsbürgertum mit dem Hofadel der deutschen Residenzen unter Orientierung am galanten höfischen Decorum so zusammenzuführen, daß eine neue Form bürgerlicher Weltläufig885 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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keit entstehen sollte. Man könnte auch sagen, sein Ziel habe darin bestanden, dem in Deutschland nachgeholten höfischen Absolutismus eine breitere gesellschaftliche Basis zu sichern. Die englische Gentry war also eindeutig nicht sein Modell, konnte es auch gar nicht sein, weil die gesellschaftlichen Voraussetzungen in Deutschland dafür nicht gegeben waren, sondern in Deutschland konnte es laut Thomasius nur darum gehen, das Bürgertum tendenziell zu adeln. Wenn man will, kann man den Weimarer Musenhof als die geglückteste Verwirklichung dieses Konzepts ansehen. Faktisch lief dieses Programm darauf hinaus, die höfische Form der ars iocandi et ridendi, wie wir sie in den Schriften von Pontano und Castiglione kennengelernt haben, auf diese neue, aber erst noch zu bildende Schicht aus höfischem Adel und Residenz-Bürgertum zu übertragen. Für den deutschen Pietismus war dieses Ideal heiterer galanter Weltläufigkeit selbstverständlich ein Affront, der bei August Hermann Francke auf erbitterten Widerstand stieß. Das deutsche Bürgertum in Halle, in Preußen und letztlich in ganz Deutschland sah sich somit vor die Frage gestellt, ob es bereit sei, mit Thomasius und der Aufklärung guten Mutes »den langen Weg nach Westen« (Winkler) anzutreten oder mit den Pietisten in tiefer Ernsthaftigkeit den deutschen Sonderweg nach innen zu gehen. Claus Hinrichs formuliert diese Alternative folgendermaßen: »Wird der dritte Stand, wenn auch immer auf dem Hintergrund christlicher Ehrbarkeit und in einem gemäßigten Sinne ›Welt‹ bekommen, wird er freies munteres savoir vivre erwerben, das ohne (pietistische) Lebensfeindschaft, Schwerfälligkeit und Enge ist und sich ohne Scheu dem herrschenden, vom Hofe bestimmten Zeitgeist anpaßt und die weltlichen Bildungsgehalte guten Gewissens aufnimmt – oder wird er (gut pietistisch, also) düster, streng, nüchtern, asketisch, allem Äußerlichen und Modischen abhold, alle gesellschaftlichen Vergnügungen und Zerstreuungen (also alle Adiaphora oder Mitteldinge) verpönend nur seiner Arbeit und seinem Ziele frönend, die Welt nach seinem Bilde, dem Bilde eines Gottesreiches der Austerität und strengen Perfektion zu bilden? Wird er, äußerlich betrachtet, im tressenbestickten à-la-mode-Kostüm mit gepuderter Perücke, oder im dunklen schmucklosen Anzug und im eigenen Haar einhergehen?

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Wird er adelige Standessitte übernehmen und modifizieren, oder wird er einen besonderen, ernsten, arbeitsamen und enthaltsamen Stil entwickeln, – mit einem Wort, wird der Pietismus ein besonderes ›Decorum‹ der absoluten Einfachheit und Schmucklosigkeit, der Sobrität, hervorbringen und mit religiös bestimmter Unduldsamkeit zur Alleinherrschaft zu bringen suchen?« (S. 360 f.)

Man könnte, weit vorausgreifend, diese Alternative mit Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner auch in die Frage kleiden: Wird Deutschland sich am Ideal der ernsten Gemeinschaft nach dem Modell der pietistischen Gemeinde oder am Ideal der lachmündigen Gesellschaft nach dem Modell der eutrapelistischen Runde orientieren? Diese Alternative, personifiziert in Thomasius und Francke, führte schon 1699 zum offenen Streit zwischen beiden, als kurz nach der Gründung der Universität Halle Francke sein Paedagogium als Gegen-Universität gründete, Thomasius ein ablehnendes Gutachten darüber verfaßte und Francke sofort beim preußischen König gegen Thomasius intrigierte, allerdings zunächst ohne Erfolg, und so verlief der Kampf zwischen beiden zunächst unentschieden. Dies änderte sich 1713 mit dem Thronwechsel, denn nun hatte Francke den neuen König Friedrich Wilhelm I. auf seiner Seite, und setzte ohne jede Hemmung all die Möglichkeiten, die sich ihm nun boten, gegen Thomasius ein. Dieser ließ sich jedoch nicht einschüchtern und konterte schon 1714 mit der Veröffentlichung einer eudämonistischen Ethik, was Francke noch weiter erboste, weil jede Art von Eudämonie zwangsläufig zur emphatischen Aufwertung aller Adiaphora führt, und deshalb machte Thomasius auch klar, worauf man verzichten müßte, wenn Franckes Vision eines pietistischen Gottesstaates konsequent umgesetzt würde, denn zu diesen Adiaphora gehört: »Viel und delicat essen, zum Überfluß trinken, der Gebrauch starken Getränkes, Entblößung der Gliedmaßen, herzen, küssen, auch Mannes und Weibes, spielen, tanzen, spazierengehen, zur Lust arbeiten, zum Zeitvertreib oder aus Gewohnheit in die Kirche gehen, jauchzen, hüpfen, springen, scherzen, lachen.« 53

Und schließlich gehören auch alle Künste 54 zu den pietistisch verpönten Lusthandlungen. 887 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Schützenhilfe bekam Thomasius von seinem jüngeren Kollegen Christian Wolff (1679–1754), der 1707 nach Halle gekommen war, dort höchst erfolgreich als Mathematiker, Logiker und Philosoph wirkte, sehr bald als der führende Kopf der deutschen Aufklärung galt und mit seinem berühmten Buch Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt von 1719 ein Werk vorlegte, das dem universalen weltreformerischen Anspruch Franckes, alles nach pietistischen Kriterien dogmatisch zu gestalten, mit aller Entschiedenheit, aber genau demselben Universalitätsanspruch im Namen der Vernunft entgegen trat. Vor allem aber klärte er schon im Titel seines Werks, daß auch das Nachdenken über Gott selbst der Vernunft zu unterwerfen sei, und wenn er die Vorrede an den geneigten Leser mit den Worten beginnt, »Verstand, Tugend und Gesundheit« seien die drei wichtigsten Dinge, nach denen der Mensch streben solle, so hieß dies für einen Pietisten, daß das erstrebenswerte Ziel im Leben des Menschen eben nicht die Wiedergeburt in Christo und nicht die ewige Seligkeit ist. So gesehen war Wolff eine viel größere Provokation für die Pietisten als es Thomasius gewesen war, dessen eudämonistische Ethik Wolff in seiner Moralphilosophie von 1721 eigens bekräftigte durch eine Ethik des vernünftigen Lebensgenusses aus dem Geiste des Aristoteles, die in der These gipfelt, »daß alle Lust unschuldig ist und ohne Bedenken kann genossen werden, soferne man verhüten kann, daß sie nichts Mißbräuchliches nach sich ziehet.«55 Zum Eklat kam es 1721, als Wolff bei der feierlichen Übergabe des Rektorats an seinen Nachfolger, den Theologen Johann Joachim Lange, der ein fanatischer Anhänger Franckes war, in seinem Festvortrag Konfuzius als Lehrer reiner Sittlichkeit56 pries. Francke intervenierte sofort beim König, weil Wolff mit dieser Lobrede auf die konfuzianische Ethik die alleinseligmachende christliche Ethik faktisch relativiert hatte, und dieser erließ nach einigem Hin und Her den königlichen Befehl, »daß besagter Wolff binnen 48 Stunden nach Empfang dieser Ordre die Stadt Halle und alle unsere übrigen Königl. Lande bei Strafe des Stranges räumen solle.« 57 Wolff ging nach Marburg, erlangte aber durch seine spektakuläre Verjagung aus Halle sofort europäischen Ruhm als ein Märtyrer 888 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Philosophie. Akademien in ganz Europa boten ihm die Ehrenmitgliedschaft an, seine Werke wurden in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt, und Halle erschien mit einem Schlag als das Schilda der Philosophie und als ein modernes Abdera, das seinen Demokrit verloren hatte. Als mit Friedrich II. ein Freund der Aufklärung 1740 den preußischen Thron bestieg, bestand eine seiner ersten Verfügungen darin, Wolff nach Halle zurückzurufen, und Wolff auch im Triumphzug 58 zurück. Die Aufklärung schien in Halle letztlich doch gesiegt zu haben. Aber wie nachhaltig war dieser Sieg? Und war es überhaupt ein Sieg? Für die Anakreontiker in Halle war es auf jeden Fall ein Sieg, weil sie ihr Verständnis von Heiterer Aufklärung und heiterer Dichtung nunmehr rundum gerechtfertigt sahen. Die Anakreontiker waren eine von vielen Gruppen von Dichtern, die sich im Umkreis der damaligen deutschen Universitäten sammelten – man denke auch an den Hainbund in Göttingen oder an die Stürmer und Dränger in Straßburg – und die noch am ehesten die Geselligkeitsform englischer Clubs aufgreifen und nachleben konnten, da in diesen Kreisen von der ständischen Herkunft der Mitglieder am leichtesten abgesehen werden konnte. Die Halleschen Anakreontiker bzw. die Mitglieder der Halleschen Dichterschule, zu denen u. a. Autoren wie Friedrich von Hagedorn, Ewald von Kleist, Johann Wilhelm Gleim, Samuel Gotthold Lange, Jacob Immanuel Pyra und Johann Peter Uz gehörten, die man heute kaum mehr kennt, versuchten eine Art von Geselligkeit in einer entspannten Atmosphäre zu schaffen, in der, wie Hagedorn es formulierte, »Anmut Witz gebiert und Witz ein sichres Scherzen« 59. Wie eine eutrapelistische Witz-, Scherz- und Lachkultur im Gefolge von Aristoteles, Cicero und Castiglione und in Anlehnung an das horazische Motto Carpe diem! aussehen könnte, hatte Friedrich von Hagedorn (1708–1754) in dem anakreontischen Programm-Gedicht Tag der Freude 1729 beschrieben: Ergebet euch mit freyem Herzen Der jugendlichen Fröhlichkeit: Verschiebet nicht das süße Scherzen, Ihr Freunde, bis ihr älter seid:

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Umkränzt mit Rosen eure Scheitel, Noch stehen euch die Rosen gut, Und nennet kein Vergnügen eitel, Dem Wein und Liebe Vorschub tut. Was kann das Totenreich gestatten? Nein, lebend muß man fröhlich sein. Dort herzen wir nur kalte Schatten: Dort trinkt man Wasser und nicht Wein. 60

Anakreontische Rollengedichte dieser Art wirken auf uns heute zwar seltsam forciert und brav zugleich, etwa wie lächeln auf Kommando; im pietistischen Halle des Jahres 1729 war ein solches harmloses Gedicht jedoch nicht weniger provokativ für den neu errichteten pietistischen Gottesstaat als die Philosophie von Christian Thomasius oder Christian Wolff. Noch der strenge Literaturhistoriker Hermann Hettner aus dem 19. Jahrhundert erkannte in solchen Texten nichts als »erlogene anakreontische Heiterkeit« (II,106) und rügte, daß auch noch die nächste deutsche Dichtergeneration, also Autoren wie Friedrich Gottlieb Klopstock, Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Wilhelm Zachariae, Johann Friedrich von Cronegk und Heinrich Wilhelm von Gerstenberg auf anakreontische Art Rollengedichte schrieben, also mit Rosen im Haar und »ohne Reim und scherzhaft und verliebt« (II,106). Er hielt solche Literatur für Rokoko-Kokolores und fand all das geradezu »widerlich« (II,107), übersah dabei aber den provokativen Impuls, der allein in den unschuldigen Wortfeldern »Witz/witzig« und »Scherz/ scherzhaft/scherzen«61 für eine pietistische Lebensführung steckt, denn die Apologie von Anakreontik und Scherzen mit Witz und Anmut galt im pietistischen Gottesstaat als weltverfallenes Neuheidentum im Gefolge des »Heyden Aristoteles« (Porst). 2.12.4.3 Das Modell Abdera Angesichts der Misere einer verspäteten deutschen Nation hatte man hierzulande einen ungleich schärferen Blick für die Hindernisse, die einer Heiteren Aufklärung im Sinne Shaftesburys und seines tests of ridicule im Weg standen, und deshalb finden wir eine ganze 890 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Reihe recht skeptischer Einwände gegen Shaftesbury trotz der grundsätzlichen Zustimmung zu seinem Programm. So fegte z. B. Lessing, der sehr wohl wußte, daß nur der Verstand hat, der ihn über bestimmten Dingen auch verlieren kann, Shaftesburys Test unwirsch vom Tisch mit dem Argument: »Philosophische Köpfe, weiß ich wohl, mochten einmal, und möchten noch gern die Spötterei zum Probierstein der Wahrheit machen. – Aber eben darum waren und sind sie auch keine Philosophen, sondern nur philosophische Köpfe.« 62

Herder wertete Shaftesburys Briefe in Adrastea als schätzenswerte Dokumente der Toleranz und fand, sie seien »in wohlthätiger Absicht« (9,182) geschrieben und rückte deshalb Shaftesburys Humor in eine Reihe mit Sokrates, Horaz, Erasmus und Cervantes als Musterbeispiele »heiterer Vernunft« und »munteren Frohsinns«, »die die angestrengten Gesichtsfalten sowohl als die alten Hirnkrämpfe angenehm löset« (9,183). Dann aber wird er konkret kritisch, verweist mit Nachdruck auf die kathartische Funktion des Lachens und schreibt: »Da Lachen und Scherz, Witz und Humor Uebergänge sind und mehr nicht als solche seyn wollen; wer wollte diese frohen Internuncien63 zwischen Wahrheit und Albernheit oder Thorheit verrufen oder lästern? Wer wollte sie aber auch zu lezten, höchsten Endurtheilen erwählen?« (9,185)

Ähnlich streng urteilte der philosophische Arzt Johann Georg Zimmermann (1728–1795) im dritten Band seiner Abhandlung Ueber die Einsamkeit (1784), wo er kühl feststellt: »Mit Unrecht glaubte Lord Shaftesbury, Witz und Laune seyen die kräftigsten Gegenmittel wider die Erfahrung des schädlichen Aberglaubens. Bloßer Scherz vertreibet das Vorurtheil nur zum Scheine. Aus Furcht, verspottet zu werden, suchet man höchstens seine Albernheit zu verheimlichen. Man spottet wohl selbst mit, wo dieser Ton herrschet, und ist in seinem geheimsten Schlafgemache (…) nichts desto weniger verführter und verführender Schwärmer.« 64

Was man im 18. Jahrhundert unter Schwärmerei verstand, liest man am besten bei Wieland nach, der nicht nur eine ganze Reihe von Romanen im Gefolge von Shaftesburys Heiterer Aufklärung geschrieben hat, in denen irgendwelche Schwärmer von ihrer 891 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Schwärmerei geheilt werden, sondern der auch in seinen Vermischten Schriften als Psychologe und Philosoph intensiv über das Phänomen des Schwärmertums in seinen verschiedenen Ausformungen nachgedacht hat. So schreibt er z. B. in dem Aufsatz über Enthusiasmus und Schwärmerei von 1775, das Wort »Schwärmerei« könne man synonym mit »Fanatismus« gebrauchen (35,135), und zum Unterschied von Schwärmerei und Enthusiasmus heißt es: »Schwärmerei ist Krankheit der Seele, eigentliches Seelenfieber. Enthusiasmus ist ihr wahres Leben.« (35,136) Und weiter: »Enthusiasmus ist ein Affekt, Schwärmerei eine Leidenschaft« (35,137), aber »Enthusiasmus« dürfe man wiederum nicht mit »Begeisterung« gleichsetzen (35,136), »denn der Geister sind mancherlei. Der Schwärmer ist begeistert wie der Enthusiast; nur daß diesen ein Gott begeistert und jenen ein Fetisch« (35,136 f.). Damit unterscheidet auch Wieland ganz traditionell zwischen Ergriffenheit und Besessenheit als den zwei Formen ekstatischen Verhaltens. Enthusiasmus ist demnach eine momentane Aufwallung als Ergriffenheit von etwas Erhabenem und damit ein Zustand von uroborischer Struktur, aus dem man sich alsbald auch wieder lösen kann, also genau das, was Shaftesbury als den echten philosophischen Enthusiasmus bezeichnet hatte, der den davon Ergriffenen kreativ macht. Im Gegensatz dazu wäre Schwärmerei ein Zustand längerfristiger Besessenheit, dem man verfällt und in dem man einigermaßen wehrlos ist, und damit wäre Schwärmerei ein pathologischer Zustand, weshalb Wieland Schwärmerei auch als »Seelenfieber« und damit als »Krankheit der Seele« bezeichnet. Man könnte auch sagen, der kurzfristige uroborische Enthusiasmus gleiche einem Rausch, perennierende Schwärmerei hingegen einer schweren Vergiftung, die auch zum seelischen Tod führen kann. Damit deckt der Ausdruck »Schwärmerei« ziemlich genau das ab, was Locke und Shaftesbury verächtlich als »Enthusiasterey« bezeichnet und als ein Phänomen verstanden hatten, das den gesellschaftlichen Frieden ernsthaft gefährden kann, weil es ihn latent bedroht. Genauso sieht es auch der Ritter Zimmermann in seinem Kampf gegen den religiösen Fanatismus und kommt zu dem Schluß, daß Shaftesburys Konzept einer Heiteren Aufklärung ausschließlich auf Sozietäten von reduzierter Öffentlichkeit und in 892 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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herrschafts- und sanktionsfreier Atmosphäre angewendet werden könne, wie sie in »Clubs« (I,30) gegeben sei, denn allein der Club sei der gesellschaftliche Ort für ein »wahres gesellschaftliches Vergnügen« als »freundliches und zutrauliches Austauschen wechselseitiger Gedanken und Gefühle«, gleichsam ein »öffentlicher Ergiessungsort« (III,128 f.). Außerhalb dieses Forums aufgeklärter Vernunft regiere laut Zimmermann die Masse der belehrungsund spottresistenten Schwärmer, die sich sofort als Märtyrer ihres Aberglaubens fühlen, sobald sie verspottet werden und sich deshalb noch verbissener in sich selbst verbeißen. Ist das nun schon Resignation und Verzicht auf Aufklärung oder ist es realistische Erkenntnis der Möglichkeiten und Grenzen, Heitere Aufklärung als gesellschaftliches Therapeutikum einzusetzen? Die Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir Wielands Entwicklung als Autor verfolgen. Christoph Martin Wieland (1733– 1813) hatte als Pietist begonnen und in dieser ersten Epoche seiner Werksgeschichte viel frommen Kitsch produziert, bis er um 1760 durch die Bekanntschaft mit dem Werk Shakespeares, das er z. T. auch übersetzte, gleichsam eine säkulare Wiedergeburt erlebte und sich nach diesem anti-pietistischen Durchbruch hinfort der Heiteren Aufklärung im Sinne Shaftesburys verschrieb. Gleich das erste literarische Zeugnis dieses Durchbruchs war ein Roman mit dem programmatischen Titel Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva (1764), den Wieland ausdrücklich als Lach-Therapie 65 für den Leser konzipiert hatte, um diesen in genau dem Maße von seinen unvernünftigen Lastern und Krankheiten zu heilen, wie der Held des Romans davon geheilt wird. Diesem Selbstverständnis bestimmter Autoren, sich als humoristische Therapeuten ihrer Leser zu verstehen, sind wir ja schon bei den Dichter-Medizinern von Rabelais bis Kortum begegnet, die nun durch Shaftesburys Programm einer Heiteren Aufklärung aufs neue eine philosophische Weihe erhielten. Da Shaftesbury aber ausdrücklich betont hatte, die ars iocandi et ridendi müsse auf Augenhöhe und without offence erfolgen, mußte Wieland in seinen frühen humoristischen Romanen ein Verhältnis zwischen Autor, Romanheld und Leser herstellen, das ebenso unaggressiv versöhnlich gestimmt ist wie die ent893 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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spannte Atmosphäre eines Clubs oder eines idealen Hofes, in dem alle zu »unserem Spott« ansetzen und dann »unser Lachen« anstimmen können. Aus diesem Grund sind laut Ludwig Müller die frühen Romane Wielands geprägt durch die versöhnlich stimmende Einsicht, »im verlachten Schwärmer der allgemeinen, also auch eigenen menschlichen Natur zu begegnen. Die Physiognomie des Helden trägt dazu bei, daß der Roman in so heiterer Weise das Therapeuticum Lachen vor dem Spiegel der Selbsterkenntnis verabreichen kann.« (S. 111)

Zehn Jahre nach dem Roman über den harmlosen und deshalb auch geheilten Schwärmer Don Sylvio schrieb Wieland seinen Roman über Abdera und die Abderiten und übernahm dabei das bekannte Szenario: »Die Abderiten sind Narren, ohne es zu wissen. Eben deshalb erscheint ihnen Demokrit als Narr, ohne es zu sein.« (Müller, S. 117)

Dieser Roman Die Abderiten (1776) resp. Geschichte der Abderiten (1781) sollte zwar auch zum Lachen anregen, und dieses Lachen 66 sollte zwar auch als Mittel der Erkenntnis dienen, aber das Lachen, das hier provoziert wird, ist deutlich anders als im Don Sylvio: Es ist ein bitteres, böses, aggressives und verächtliches Lachen, weil Wieland die bekannte Geschichte aus dem hellenistischen Briefroman um Demokrit und Hippokrates um das Motiv des kollektiven Wahns erweitert, der sich an immer wieder anderen Themen entzündet. Dadurch herrscht in Wielands Abdera die vergiftete Atmosphäre von kollektivem religiösem Fanatismus, und dieses Fieber wird durch die Priester immer wieder neu aufgeheizt, sodaß es sich nicht uroborisch selbst verzehren kann. Auch das Verhältnis zwischen Autor, Romangestalten und Leser hat sich nun verändert: Auf der einen Seite stehen Autor, Leser und die Romangestalten Demokrit und Hippokrates mit ihrem höhnisch verächtlichen Gelächter, auf der anderen Seite das von oben herab verlachte Abdera mit seinen lächerlichen Pfaffen und Narren. Dieses Lachen erstirbt denn auch irgendwann und weicht der puren Verachtung, wenn z. B. nach dem Prozeß um des Esels Schatten die fanatisierte Menge sich auf das unschuldige Vieh stürzt: »Und in wenigen Augenblicken war es in tausend Stücke zerrissen. Jedermann wollte auch einen Bissen davon haben. Man riß, zerrte,

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kratzte, balgte und raufte sich darum mit einer Hitze, die gar nicht ihresgleichen hatte. Bei einigen ging die Wut so weit, daß sie ihren Antheil auf der Stelle roh und blutig auffraßen; die meisten aber liefen mit dem, was sie davongebracht, nach Hause, und da ein jeder eine Menge hinter sich her hatte, die ihm seinen Raub mit großem Geschrei abzujagen suchte, so wurde der ganze Markt in wenig Minuten so leer als um Mitternacht.« (14,114 f.)

Dieses Verhalten der Abderiten ist nun gewiß nicht mehr komisch und nicht mehr lächerlich, sondern nur noch ekelerregend, auch wenn die Abderiten selbst dies ganz anders sehen und über ihren Ausbruch »fiebriger Raserei« (14,117) noch lachen können, weshalb Demokrit Abdera angewidert verläßt. Aus dem humoristischen Roman ist eine ätzende Satire geworden, die aber zugleich die Grenzen des satirischen Romans reflektiert, denn zu dem Personal der lächerlichen Abderiten gesellt sich im fünften Buch der Philosoph Korax, der sich dezidiert als Aufklärer versteht und dem Wahn anhängt, er könne die religiösen Fanatiker Abderas mit seiner verbissen satirischen Art von ihrem Fanatismus heilen und damit die Stadt von ihrer selbstverschuldeten Froschplage, dem nächsten Thema kollektiven Wahns, befreien. Er merkt also nicht, daß sein Verständnis von Aufklärung selbst wieder der Aufklärung bedürfte und seine verbissene Art von Aufklärung gegen verbissenen Fanatismus nichts auszurichten vermag, da er mit seinem Gegner auf einer Stufe steht, sich in ihn verbeißt und ihm dadurch selbst ausgeliefert ist. Dazu Lothar Müllers rundum überzeugende Bilanz: »Zunächst bestärkt der Roman den Leser in seinem Lachen über die sich gesund und vernünftig dünkenden Abderiten, wenn er die Machinationen der religiösen Orthodoxie und der Oberpriester Abderas nach Maßgabe der Priestertrugstheorie mit verstärkter satirischer Schärfe als Symptom der Herrschaft kollektiven Wahns darstellt. Reflexives Raffinement aber gewinnt der Roman, wenn er den Vertreter der Vernunft in Abdera, den Aufklärer Korax, seinerseits als Teil des Verblendungszusammenhangs und nicht als sein Gegenüber zeichnet. Korax repräsentiert den Typus des polemischen Aufklärers und eine Konstellation von Lachen, Aufklärung und Krankheit, die Wieland offenbar als Risiko der Aufklärung verdeutlichen wollte. Denn Korax

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vertritt zwar im Kern religionskritische Argumente, doch bleibt er dadurch dem Wahn, den er bekämpft, verhaftet, daß er die Waffe des satirischen Gelächters eher im Dienste einer ›persuasiven Rhetorik‹ als im Dienste der Erkenntnis der menschlichen Natur anwendet. In der Bedenkenlosigkeit, mit der von Korax ›das Lächerlichmachen der gegnerischen Position der eigentlichen Widerlegung vorgezogen wird‹ 67, zeigt sich der ›abderitische‹ Charakter seiner Aufklärung.« (S. 119)

Aber, so muß man hier wohl fragen, läßt sich denn ein Wahn, und gar ein Massenwahn, überhaupt »widerlegen«? Ist religiöser oder ideologischer Fanatismus, gerade weil er, wie Wieland meint, eine Krankheit ist, nicht gegen alles immun, gegen vernünftige Argumente genauso wie gegen Hohn und Spott, und gegen sanfte Ironie sowieso, und insbesondere dann, wenn dieser Wahn von ideologischen Pfaffen aller Couleur immer wieder aufs neue bestärkt wird? Ist ideologischer Fanatismus, in welcher Form auch immer, letztlich nicht doch eine uneinnehmbare Festung, die man grundsätzlich nicht erstürmen und erobern, sondern bestenfalls aushungern kann? Sollte man als Aufklärer und Anwalt der Vernunft also nicht die Strategie grundsätzlich ändern und nicht so sehr auf die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten setzen, sondern eher darauf vertrauen, daß in jedem Fieber die uroborische Tendenz wirkt, sich irgendwann selbst zu verzehren? Oder sollte man, wie Wielands Demokrit es tut, einer ideologisch fanatisierten Gesellschaft nicht eher angewidert den Rücken kehren und sie in ihrem selbstverschuldeten Wahn einfach verrecken und zur Hölle fahren lassen, wie dies Sebastian Brant mit den Sündernarren seines Narrenschiffes tut? Wieland jedenfalls scheint dieser Meinung gewesen zu sein, zumindest verstehe ich ihn so, weil er Fanatismus ausdrücklich als »Seelenfieber« (35,136) definiert, an der seine Abderiten schließlich auch zugrunde gehen. Damit wäre im Sinne Wielands die angemessene Haltung gegenüber jeder Art von ideologischem Fanatismus nicht so sehr diskursive Argumentation zum Zweck der Widerlegung absurder Argumentation, auch nicht ein mehr oder weniger aggressiver Spott oder gar ein mildes Verzeihen, sondern eher eine kritische Distanz, gegründet auf defensive Geduld und wache 896 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Selbstbehauptung. Und für den Fall, daß ideologischer Fanatismus gewalttätig wird, hilft nur pure Gegengewalt, denn, so Heinrich Heine, schon auf dem Olymp trägt die Göttin der Weisheit immer Helm und Panzer und behält stets den Speer in der Hand. 2.12.5 Grenzen Heiterer Aufklärung Die Grenzen Heiterer Aufklärung decken sich weitgehend mit den Grenzen, die der Aufklärung ganz allgemein gezogen sind, und da Aufklärung immer zugleich auch Selbstaufklärung ist, und zwar Selbstaufklärung der Aufklärung wie des Aufklärers, liegen diese Grenzen zum einen in den vorgegebenen gesellschaftlichen, politischen und materiellen Umständen der jeweiligen Zeit, die Aufklärung behindern oder verhindern können, zum anderen aber auch in den Aufklärern selbst, die ihr Vorhaben durch ihre eigenen Vorurteile und durch allzu große Selbstgewißheit ungewollt hintertreiben können. So hat z. B. die legendäre Borniertheit Friedrich Nicolais die ganze Berliner Aufklärung in Mißkredit gebracht, und alle Feinde der Aufklärung haben nur allzu gern Goethes Verhöhnung des Aufklärers von Tegel als »Proktophantasmist« 68 zum Anlaß genommen, die gesamte Aufklärung als lachhaften »Aufkläricht« abzutun. Daneben gibt es aber auch Grenzen, die nicht immer schon vorgegeben sind, sondern sich erst im Prozeß der Aufklärung ergeben, so wie sich Schatten erst beim Ausleuchten zeigen. Deshalb kann Aufklärung immer auch durch sich selbst gefährdet sein, weil sie, wenn sie nicht reflektiert genug geschieht, selbst wiederum dogmatisch werden und zu einer neuen Ideologie entarten kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Impulse, auf die sie gegründet ist, sich bei kritischer Analyse als unhaltbare metaphysische Spekulationen herausstellen und deshalb korrigiert oder gar verabschiedet werden müssen. Dies war z. B. beim metaphysischen Optimismus der Fall, der sich durch die kritische Wende in Kants Denkwerk als ein Wunschgebäude auf metaphysischem Moorboden erwiesen hat. Allerdings darf man all diese Hinweise auf die Grenzen der Aufklärung nicht als hämische Triumphe der Gegenaufklärung verstehen, sondern als Selbstkritik der Aufklärung, die gewillt ist, sich nur 897 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

dann selbst ernst zu nehmen, wenn sie ihre eigenen Grenzen kennt und diese auch respektiert. Die Grenzen einer Heiteren Aufklärung decken sich zwar in etwa mit den hier skizzierten Grenzen der Aufklärung allgemein. Da unser Thema aber das Lachen in all seinen Erscheinungsformen umfaßt, Heitere Aufklärung aber nur das heitere Lachen und somit nur einen kleinen Ausschnitt aus der großen Lachpalette in seinem Programm hat, wird sich zeigen, daß sich jenseits der Grenzen der Heiteren Aufklärung und des heiteren Lachens aufs neue ein weites Feld des Lachens auftut, bei dessen Erforschung sich ganz neue Fragen stellen werden. 2.12.5.1 Elitäre Vorurteile Für Shaftesbury war, wie wir gesehen haben, der Club das Forum, auf dem sich die von ihm ins Auge gefaßte eutrapelistische Scherzund Lachkultur abspielte, auf dem sie begann und auf dem sie endete. Denn, so seine Überzeugung, je größer der gesellschaftliche Rahmen wird, innerhalb dessen diese wechselseitige Aufklärung vollzogen werden soll, desto enger werden auch die Grenzen, in denen der Nomos eutrapelistischer Lachkultur Gültigkeit beanspruchen darf, wenn es darum geht, Unvernunft, Verstocktheiten und Vorurteile aller Art zu bekämpfen: Was im Club noch als Scherz vorgetragen werden kann, wandelt sich auf dem öffentlichen Forum schon zur Satire; was im Club noch sanguinisch-humorig formuliert werden kann, verlangt im politischen Meinungskampf schon ein Mindestmaß an Galle, und hier darf auch die dezente Ausdrucksweise mehr oder weniger auf der Strecke bleiben, denn kein historischer Kompromiß kann so umfassend sein, daß sich der politische Meinungsstreit erübrigen würde, und so ist im Parlament und auf dem Forum immer ein Mindestmaß an Aggressivität (offence) nötig, insbesondere dann, wenn es gilt, Rechte und Besitzstände anzugreifen oder zu verteidigen: »Wenn den Leuten verboten ist, ihre Meynung über gewisse Dinge im Ernste zu sagen, so werden sie es ironisch tun. Wenn ihnen verboten ist, überall von solchen Dingen zu reden, oder wenn sie es wirklich

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Grenzen Heiterer Aufklärung

gefährlich finden, so verdoppeln sie ihre Verstellung, verhüllen sich in ein geheimnißvolles Wesen, und reden so, daß die, welche auf ihr Verderben lauern, sie nicht verstehen, oder wenigstens ihre Meynung nicht völlig enträthseln können. Dadurch wird der (eutrapelistische) Scherz mehr in Schwang gebracht und schweift über die Schranken (des Nomos eutrapelistischer Lachkultur) hinaus. Der Geist der Verfolgung hat den Geist der Spötterey hervorgerufen; und der Mangel an ächter Höflichkeit, und die Verderbniß, oder der falsche Gebrauch des Scherzes und der Laune hat in dem Mangel der Freyheit seinen Grund. Wenn wir in diesem Betracht das rechte Maaß der sogenannten Urbanität (d. h. der urbanitas i. S. v. Eutrapelie) überschreiten, und bisweilen ein possenhaftes bäuerisches Wesen annehmen; so haben wir dieß der lächerlichen Feyerlichkeit, und sauertöpfischen Laune unsrer Lehrmeister zu danken; oder sie haben es sich viel mehr selber zu danken, wenn sie besonders diese Art der Begegnung am schwersten fühlen. Denn sie wird natürlicher Weise mit ihrer schwersten Last dahin fallen, wo der Zwang am ärgsten war. Je größer der Druck ist, desto bittrer wird die Satyre seyn: je härter die Sklaverey, desto ausgelaßner das Possenreißen.« (I,91 f.)

Dann verweist Shaftesbury auf das angeblich possenhafte Wesen der Italiener und erklärt dies damit, daß in Italien durch die Pfäfferei der katholischen Kirche »die geistliche Tyranney aufs höchste gestiegen ist« (I,92), wohingegen in freien Gesellschaften wie in England öffentliche Possenreißerei nicht nötig sei. Mit dieser umfassenden Rechtfertigung des aggressiven politischen Witzes nimmt Shaftesbury sein Eutrapelie-Ideal also nicht etwa zurück, sondern begrenzt nur dessen Geltung auf Sozietäten mit entspannter Atmosphäre. Liegt diese entspannte Atmosphäre nicht vor, darf der politische Witz um so aggressiver und unflätiger sei, je dreister ein politisches Regime sich gottgleiche Vollkommenheit anmaßt und von seinen Bürgern auch noch dessen enthusiastische Akklamation einfordert. Hier ist dann offence und gallbittere aggressive Gegengewalt in allen denkbaren Formen angebracht. Je lächerlicher sich also die Exponenten eines derartigen Regimes bei diesem test of ridicule erweisen, desto triumphaler kann sich die politische Selbstbehauptung des Individuums erweisen und in triumphalem Hohngelächter bekunden. 899 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

Shaftesbury sieht aber noch andere Probleme, die einer Heiteren Aufklärung Grenzen setzen, und diese Grenzen werden für ihn durch Fanatismus und falschen Enthusiasmus markiert, die im politischen und religiösen Leben ihr Unwesen treiben. Wenn man Shaftesbury parteipolitisch einordnen will, so war er im damaligen politischen Spektrum Englands eindeutig ein Whig, also ein Liberaler, ein entschiedener Vertreter von Freihandel und freiem Unternehmertum, so wie dies auch die große Mehrheit derer war, die die Gentry ausmachten und die Mitglieder der Clubs stellten. Deshalb zitiere ich nochmal sein Lob auf die Freiheiten der Clubs, um diesen Text im Hinblick auf seine politisch-ideologischen Implikationen zu prüfen und damit zu klären, wogegen sich Shaftesbury hier absetzt, denn dann liest sich manches etwas anders und enthüllt sofort seinen entschieden elitären Charakter als Tendenz, sich »nach unten« gegen den »Pöbel« abzugrenzen. Aus diesem Grund betont er so entschieden seinem Partner gegenüber, sozusagen von Lord zu Lord, »daß ich bloß zur Vertheidigung der Ungebundenheit kleinrer Gesellschaften (liberty of the club) und der Art von Freyheit schreibe, die man sich unter Leuten von Erziehung (gentlemen) und Freunden herausnimmt. Wie natürlich es für mich ist, die Freyheit mit dieser Einschränkung (restriction) zu vertheidigen, können Sie aus dem Begriffe selbst schließen, den ich von dieser Freyheit habe.« (I,95 f.)

Worin die Grenzen und Restriktionen dieses speziellen altliberalen Begriffs von Freiheit bestehen, wird sofort in den nächsten Sätzen deutlich, wenn Shaftesbury seinen Blick auf den politischen Meinungskampf in der breiten Öffentlichkeit richtet, denn er fährt fort: »Es ist gewiß eine Beleidigung der Freyheit der öffentlichen Zusammenkünfte, wenn jemand den Rednerstuhl besteigt, den man weder dazu gerufen, noch eingeladen hat. Wer Fragen aufwirft, oder Untersuchungen anstellt, die das Ohr des Publikums beleidigen, verstößt wider die Hochachtung, die man der Gesellschaft schuldig ist. Von solchen Dingen sollte entweder gar nicht öffentlich, oder auf eine solche Weise gesprochen werden, daß kein Ärgerniß und keine Verwirrung daraus entstünde. (…) Was wider die gute Lebensart ist, ist in diesem Betracht eben so sehr wider die Freyheit. Nur Leute von sklavischen Grundsätzen maßen sich eine Oberherrschaft über das Volk

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an, und verachten den großen Haufen. Die Menschenfreunde hingegen ehren die Zusammenkünfte und Gesellschaften der Menschen. Es ist die größte Ungerechtigkeit, wenn Leute in vermischten Gesellschaften, und an Orten, wo sie sich ohne Unterschiede versammelt haben, um sich ein Vergnügen zu machen, oder Angelegenheiten abzuthun, Dinge hören müssen, die ihnen mißfallen.« (I,96)

In diesem Ton fährt Shaftesbury dann fort, die vornehme Atmosphäre »ausgesuchter Gesellschaften« gegen die breite Öffentlichkeit »vermischter Gesellschaften«, den Club gegen den Markt, die Gentry gegen den »Mob« auszuspielen und das Recht auf freie Meinungsäußerung letztlich doch wieder Restriktionen zu unterwerfen und es auf die Angehörigen der Oberschicht zu begrenzen, der er selbst angehörte. Hier hallt offensichtlich immer noch der Schrekken der puritanischen Epoche unter Cromwell und seinen Rundköpfen nach, der Shaftesbury zu dem fatalen Schluß verleitete, Meinungskämpfe müßten umso fanatischer sein, je öffentlicher sie seien und wären umso vernünftiger, je privater sie geführt würden. 2.12.5.2 Fundamentalistische Enthusiasterey Dieses tiefsitzende Unbehagen an allem, was »von unten« aus dem Volk kommt, sah Shaftesbury insbesondere durch bestimmte Entwicklungen im religiösen Leben seiner Zeit bestätigt, die ihm die Grenzen Heiterer Aufklärung in aller Deutlichkeit aufzuzeigen schienen. In England hatte sich nämlich auf dem Höhepunkt der revolutionären Erregung um 1650 um den Schuster George Fox eine Sekte gebildet, die für sich das Recht auf prophetische Inspiration beanspruchte und die man quakers (Zitterer) nannte, weil es sie intensiv schüttelte, wenn der Geist über sie kam, der für sie der Geist Gottes war. Das Vorbild für die Quäker war natürlich die urchristliche Pfingstgemeinde, wie sie in der Apostelgeschichte des Lukas dargestellt ist, und deshalb bekamen die Quäker auch sofort sowohl den Zorn der anglikanischen Amtskirche als auch den der Puritaner zu spüren: Der Zorn der Puritaner richtete sich gegen den ekstatischen Charakter dieser Art von Frömmigkeit, weil alles Ekstatische 901 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dem puritanischen Gebot umfassender Nüchternheit zuwiderlief. Den Zorn der Amtskirche erregten die Quäker, weil für die anglikanische Orthodoxie die Epoche prophetischer Inspiration mit der Niederschrift der Evangelien als beendet galt und jeder spätere Anspruch auf prophetische Eingebungen als gotteslästerliche Anmaßung erschien. Aus diesem Grund wurde George Fox, sobald er sich in der Öffentlichkeit als ekstatischer Prophet präsentierte, zusammen mit einigen seiner Freunde auf richterlichen Befehl verprügelt, weil Prügel als probates Mittel gegen dämonische Besessenheit galten 69, und für ein halbes Jahr ins Gefängnis 70 gesteckt. Die Verfolgung der Quäker endete erst mit der Toleranzakte im Rahmen des historischen Kompromisses von 1688/89, der auch den Frieden für die Quäker mit sich brachte. Aber schon um 1700 ergoß sich eine neue Welle religiöser Enthusiasten über England, als die hugenottischen Camisarden aus Frankreich flüchteten, nachdem sie nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes 1685 einen heiligen Krieg gegen die Truppen des Königs geführt und diesen verloren hatten. Der prophetische Enthusiasmus der Camisarden war sogar noch heftiger als der der Quäker, weil er noch apokalyptisch unterfüttert war, glaubten sie doch, im Jahr 1734 breche der Jüngste Tag an. Da es in allen Offenbarungsreligionen immer wieder Schübe von religiösem Schwärmertum gibt, muß auch immer wieder der Kampf um die Offenbarungshoheit zwischen charismatischen Propheten und dogmatischer Theologie, spontaner Gotterfahrung und kultischem Ritual, allgemeinem Prophetentum ohne Ansehen der Person und einer Hierarchie gelehrter berufsmäßiger Priester ausgefochten werden. Dieser Konflikt läßt sich schon in den Richter-, Samuel- und Königs-Büchern des Alten Testaments nachlesen und bewirkt in der Geschichte der Offenbarungsreligionen bis in unsere Zeit hinein die Abspaltung immer neuer Sekten. Der zentrale Punkt in diesem Streit ist stets die Frage, ob die Geschichte der Offenbarungen grundsätzlich offen oder irgendwann abgeschlossen ist, und hier gilt die Regel: Für jeden staatlich sanktionierten Kult ist sie selbstverständlich ein für alle Mal abgeschlossen, für jeden religiösen Schwärmer selbstverständlich nach wie vor offen, zumindest aber noch offen für die eigene Offenbarung. 902 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Grenzen Heiterer Aufklärung

Über Art und Inhalt der prophetischen Offenbarungen, auf die Shaftesbury in seinem Enthusiasmus-Brief eingeht, gibt es eine ganze Reihe zeitgenössischer Zeugnisse, die Ronald A. Knox in seinem Werk über christliches Schwärmertum 71 zusammengestellt hat und durch die man Shaftesburys Darstellung ergänzen kann. Das ist auch nötig, da Shaftesbury zu diesen »Erzenthusiasten« (I,34) ein durchaus ambivalentes Verhältnis aus Ekel und Faszination hatte. Deshalb hatte er auch größte Schwierigkeiten, sie wirklich ernst zu nehmen und sah bei ihnen einen fatalen pathologischen Hang zu religiösem Masochismus am Werk, der sich seiner Meinung nach schon bei den frühen Christen manifestiert hatte. Und so schreibt er z. B. über die apokalyptisch erregten Camisarden: »Sie haben den Geist des Märtyrertums in ihrem Vaterlande in Schwung gebracht; und sie wünschen auch hier Proben davon abzulegen, wenn wir ihnen nur Erlaubniß und Gelegenheit dazu geben wollen; das ist, wenn wir ihnen die Gnade erweisen wollen, sie aufzuhängen, oder einzusperren; wenn wir nur die Gefälligkeit für sie haben wollen, ihnen, nach ihrer Landessitte mit dem Rade die Gebeine zu zerschmettern, ihren Eifer anzufachen, und die Kohlen der Verfolgung aufs neue in Glut zu setzen. Allein sie können bisher diese Gefälligkeit von uns nicht erhalten.« (I,34)

Und dann fährt er fort mit blankem Hohn: »Allein wie barbarisch, wie mehr als heidnisch grausam sind wir duldsamen Engländer noch immer! Denn wir haben, nicht damit zufrieden, diesen prophezeyenden Enthusiasten die Ehre der Verfolgung zu versagen, sie der größten Verachtung von der Welt überliefert.« (I,35)

Mit diesem Hohn auf die frommen Erzenthusiasten folgte Shaftesbury seinem Mentor John Locke (1632–1704), der seinerseits schon in seinem Hauptwerk An Essay Concerning Human Understanding, das ab 1690 mehrere Auflagen erlebte, gegen die »Enthusiasterey« gezürnt hatte, »als welche die Vernunft bei Seite setzet und nur ohne dieselbe die Offenbarung aufrichten will«. 72 Dies empfindet Locke als skandalös, weil für ihn Vernunft und Offenbarung zwei Kriterien sind, die nur im ebenbürtigen Zusammenspiel und in wechselseitiger Ergänzung gültig sein können, und weil jede Art von »Enthusiasterey« dieses Zusammenspiel untergraben muß: 903 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Sie hebt dadurch in der Tat beides, die Vernunft und die Offenbarung, auf und setzet an deren Stelle unbegründete Einbildungen, welche sich in eines Menschen seinem eigenen Gehirne entspinnen.« (S. 111)

Denn: »Die Vernunft ist eine natürlich Offenbarung, vermittelst deren der ewige Vater des Lichts und der Brunnquell aller Erkenntnis dem menschlichen Geschlechte denjenigen Teil der Wahrheit mitteilet, welchen zu erlangen er ihre natürlichen Kräfte fähig gemacht hat. Die Offenbarung hergegen ist die natürliche Vernunft, die durch einen neuen Vorrat von Entdeckungen, die Gott unmittelbar mitgeteilet hat, vermehret ist, deren Wahrheit die Vernunft durch das Zeugnis und die Beweisgründe bestätiget, die sie darreicht, uns zu überführen, daß sie von Gott kommen. So daß derjenige, der die Vernunft verwirft, um der Offenbarung Platz zu machen, das Licht von beiden auslöschet.« (S. 111 f.) »Dies, glaube ich, ist die rechte Enthusiasterei, welche, ob sie sich gleich weder von der Vernunft, noch auf die göttliche Offenbarung gründet, sondern von den Einbildungen eines erhitzten oder aufgeblasenen Gehirns kömmt, dennoch, wo sie einmal Wurzel gefaßt hat, weit kräftiger in die Meinungen und Handlungen der Menschen wirket als die Vernunft oder die Offenbarung oder beide zusammen.« (S. 112 f.)

Damit deutlich wird, warum für Locke und Shaftesbury das Prophetentum der Camisarden nicht weniger barbarisch-»gothisch« erscheinen mußten als ein afrikanischer Besessenheitskult für einen anglikanischen Missionar, zitiere ich einen zeitgenössischen Bericht aus der Studie von Knox, denn dort heißt es: »Der Prophet zittert an allen Gliedern wie im Fieber, dann fällt er mit schäumendem Mund zu Boden und bleibt regungslos, mit geschwollenem Bauch und Hals liegen; dieser Zustand konnte mehrere Stunden andauern. War eine größere Menge versammelt, so rief der Prediger mehrere Male Miséricorde, und die Menge wiederholte es. Dann schlug er sich unter erneuten Rufen auf den Kopf, und hieß die Hörer, indem er sie wie ein Orchester dirigierte, zu Boden fallen. Gehorchte man nicht, so war dies ein Zeichen der Verwerfung. Dann fiel der Prediger in Zuckungen, die die eigentliche Predigt einläuteten. Ob auch bei den Hörern

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derartige Zuckungen erwartet wurden, wird nicht deutlich; aber zuweilen kam es dazu, selbst bei Fremden, die zufällig anwesend waren. Den Umstehenden war es unmöglich, den Konvulsionen Einhalt zu gebieten; der Betroffene selbst war in einem Trancezustand, spürte nichts und war gleich darauf wieder bei bester Gesundheit. Manchmal fielen die Propheten von zwölf Fuß hohen Felsen herab, nahmen aber keinen Schaden. Einige trieben sich Messer ins Fleisch, die nicht die geringste Spur hinterließen, oder bestanden die Feuerprobe. Obwohl sie keinerlei Vorbildung hatten, lehrten sie eine tiefere Gottesfurcht und wußten geschickt die Schrift anzuführen. Es kam auch vor, daß sie in Sprachen redeten, die sie unmöglich gelernt haben konnten; daß sie Dinge vorhersagten, oder von solchen berichteten, die in der Ferne geschahen und sich später bestätigten. Solange die Verzückung anhielt, wußten sie meist nichts von dem, was sie sagten oder taten.« (S. 323, vgl. auch S. 465 f.)

Da aber der Geist weht, wo er will, gibt Knox auch Berichte, wie den folgenden über die Versammlungen der Quäker wieder: »Anfänglich wurden sie in ihren Zusammenkünften von heftigem Zittern und zuweilen von Erbrechen befallen; dabei behaupteten sie, daß der Geist sie gewaltig treibe. Aber das ist jetzt vorbei; sie kommen nur noch zusammen, und wer behauptet, daß der Geist ihn bewegt, der redet; zuweilen aber sagen sie gar nichts, verharren eine Stunde oder länger in Schweigen und gehen dann auseinander.« (S. 144)

Für Shaftesbury war all das pure lachhafteste Unvernunft, die vor dem test of ridicule nicht im geringsten bestehen kann, Aufspreizungen des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aber wie eine Religion beschaffen sein müßte, die den Ansprüchen der Vernunft stand hält, erfahren wir von ihm nicht. Da müssen wir schon seinen um eine Generation jüngeren Zeitgenossen Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) befragen, denn dessen Hauptwerk verspricht dies ja schon im Titel: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Eine vernünftige Religion ist laut Reimarus, anders als für John Locke, für den Vernunft und Offenbarung gleichrangig waren, eine Religion, die sich gar nicht auf übernatürliche Offenbarungen gründet und sich außerdem leicht auf ein System vernünftiger sittlicher Vorschriften reduzieren läßt. Diese Beschreibung hätte wohl 905 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch Shaftesbury akzeptieren können. Die Bilanz, die Reimarus dann nach mehr als tausend Seiten philologisch orientierter Bibelkritik zieht, ist zwangsläufig für das Christentum vernichtend, weil eben auch das Christentum eine typische Offenbarungsreligion ist, und deshalb stellt Reimarus apodiktisch fest: »Sehet nun, ob nicht das gantze Lehrgebäude des apostolischen Christenthums vom Anfange bis zum Ende auf lauter falschen Sätzen beruhe; und zwar auf solchen Sätzen, die den Grund und das Wesen dieser Religion ausmachen sollten, mit welchen es folglich in sich zerfallen muß. Diesen inneren Mangel der Wahrheit können keine äusserlichen Stützen wieder gut machen. Keine Erzehlung von geschehenen Wundern, kein göttlicher Fortgang des Christenthums bey Juden und Heyden, keine Standhaftigkeit der Bekenner, und selbst die gottseligste Sittenlehre, kann das, was an sich selbst in seinen Glaubens-Artikeln errichtet, widersprechend, und durch die Facta selbst wiederlegt ist, zur wahren göttlichen Religion machen.« (II,346)

Somit ist und bleibt das Christentum für Reimarus als Lehre »Betrug und Blendwerk« und als religiöse Praxis nichts als »blinder Aberglaube« (II,346). Ein paar Seiten nach dieser vernichtenden Bilanz geht Reimarus nochmal explizit auf das zentrale Ereignis der Apostelgeschichte des Lukas ein und analysiert ganz in der Art von Shaftesburys Enthusiasmus-Brief die dort beschriebene Ausgießung des heiligen Geistes, wobei er diese aber dezidiert »unbegeistert, d. i. mit gelassener Vernunft« (II,348) betrachten will und deshalb Shaftesburys Haltung defensiver Spötterei schon bei den von Lukas beschriebenen Augenzeugen erkennt, die die vom heiligen Geist erfüllten Jünger schlicht für besoffen hielten: »Die Apostel müssen sich demnach so geberdet haben, wie etwa eine Gesellschaft betrunkener Leute, welche wild durcheinander schreyen und allerley ausschweiffende Bewegungen machen, als ob sie unsinnig und toll wären. Das sollte denn, nach ihrer Absicht, lassen (d. h. so wirken), als setzte sie der Enthusiasmus, die übernatürliche Einwirkung des heiligen Geistes, der über sie gekommen wäre, ausser sich; als wären sie von einem furore prophetico ergriffen. Denn das gewöhnliche Betragen der weissagenden Propheten bey den Hebräern war so wenig von dem Anschein des Rasens unterschieden, daß ein und das-

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selbe Wort Hitnabbe 73 so wohl Weissagen, als Unsinnig seyn, bedeuten kann. Und es war auch bey den heydnischen Völkern ein gemeiner Wahn, daß die Einwirkung des göttlichen Geistes zu Weissagungen, Offenbarungen, Orakeln, u. d. gl. bey den Menschen fast nicht anders als durch Zerrüttung ihrer Sinne, Entzückungen und Convulsionen geschehen könne.« (II,350 f.)

Und damit klar ist, daß er nicht nur eine religionsgeschichtliche Studie vorlegen, sondern Aufklärung im Stil von Shaftesbury betreiben will, fährt er fort: »Der Wahn hat sich bis auf unsere Zeiten fortgepflantzt. Wir haben Fanaticos, Inspirirte, Convulsionärs, so wie die Alten ihre Sibyllen und Pythiaden gehabt.« (II,351)

Und genau wie Locke und Shaftesbury hält auch Reimarus die selbsternannten Propheten seiner eigenen Zeit für Scharlatane und Betrüger – er dachte wohl an die berüchtigte Buttlarsche Rotte – oder er drängt alle ekstatischen Phänomene ab ins Pathologische. Mit einem Wort: Alles nichts als »Einbildung, Verstellung, Prahlerey« (II,352), »enthusiastiger Paroxysmus« (II,353) und alles in allem »ein Hauffen Non-Sense« (II,353), der vor den Ansprüchen der Vernunft und einer vernünftigen Religion nicht bestehen kann. All diese Einwände gegen religiöses Schwärmertum hätte auch Shaftesbury so formulieren können, aber bei ihm kam noch ein Aspekt hinzu, um sich von den ekstatisch geschüttelten Quäkern und Camisarden abgestoßen und angeekelt zu fühlen, denn in den Versammlungen der religiösen Schwärmer lag für ihn auch eine gehörige Portion von sozialrevolutionärem Sprengstoff, der ihn an die gefürchteten puritanischen Levellers erinnerte. Deshalb versucht Shaftesbury den Enthusiasmus-Begriff etwas genauer zu bestimmen, um dieses für ihn so unheimliche Phänomen intellektuell in den Griff zu bekommen und entsprechend einzuordnen. Dabei geht er so vor, daß er ausgehend von der alten Unterscheidung zwischen Ergriffenheit und Besessenheit 74 zwei Formen von Enthusiasmus unterscheidet: den philosophischen Enthusiasmus in Anlehnung an Platons Phaidros und den prophetischen Enthusiasmus, den er mit Locke abfällig als »Enthusiasterey« (I,25) bezeichnet und als Ausdruck von »Milzsucht« (I,25), also von Selbsthaß und krankhaft trübsinniger Aggressivität versteht. 907 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wegen dieses pathologischen Charakters hält Shaftesbury jede Form von Enthusiasterey auch politisch für gefährlich, weil die in solchen ekstatischen Versammlungen freigesetzten Erregungen durch wechselseitige Einleibung ansteckend wirken und das politische Klima vergiften könnten: »Man kann mit gutem Grunde jede Leidenschaft panisch nennen, die unter einem großen Haufen ausbricht, und sich durch den Anblick oder gleichsam durch Berührung und Sympathie mittheilt. So kann man die Volkswut panisch nennen, wenn sie den Pöbel, wie wir bisweilen erfahren haben, außer sich setzt; besonders wenn Religion im Spiel ist. Und in diesem Zustande sind sogar die Blicke ansteckend. Die Wut (Erregung) fliegt von Gesicht zu Gesicht; und die Krankheit theilt sich beym ersten Anblick mit. Personen, die, bey einem besseren Gemüthszustande, einen Haufen Volks unter der Tyranney dieser Leidenschaft sahen, haben gestanden, daß sie in den Gesichtern der Leute etwas weit Schreckhafters und Fürchterlichers bemerkten, als sich sonst bey den heftigsten Ausbrüchen der Leidenschaften zeiget. Einen solchen Einfluß hat die Gesellschaft sowohl bey bösen als bey guten Leidenschaften; und so viel stärker ist jede Neigung, wenn sie gesellig ist, und sich mittheilet.« (I,19 f.)

Ob Shaftesbury hier auch an kollektive Ausbrüche von Gelächter gedacht hat, geht aus dem Kontext dieses Zitats nicht hervor. Aber daß man diese Beschreibung »panischer« Zustände auch als die Beschreibung kollektiven Gelächters lesen kann, liegt auf der Hand und zieht sofort die Frage nach sich, ob man auch bestimmte Formen von Gelächter als Ausdruck von Ergriffenheit oder gar von Besessenheit verstehen könnte. Ekstatische Phänomene sind die Varianten exzessiven Lachens allemal, und damit gehören auch sie zunächst zum Anderen der Vernunft. Auch so gesehen hat Shaftesbury Recht, wenn er fortfährt: »Es gibt also, Mylord, noch mehr panische Leidenschaften unter den Menschen, als blos die Furcht, (…) wenn irgendeine Art von Enthusiasmus die Oberhand gewinnet.« (I,20)

Aber all diese panischen Leidenschaften empfand Shaftesbury als bedrohlich, archaisch wild und »gothisch« und damit als Bekundung von Unvernunft, wie dies typisch ist für den »Pöbel« und die »Wilden«, die deshalb auch ein Verhalten an den Tag legen, das für 908 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den test of ridicule nicht mehr erreichbar ist. Hier im religiösen Fanatismus stößt für Shaftesbury also jede Art von Aufklärung an ihre Grenzen, weil religiöser Fanatismus sich weder durch Argumente noch durch Spott irritieren läßt. In seinem Abscheu vor den Quäkern und Camisarden versteigt sich Shaftesbury sogar zu der Behauptung, sie gehörten eigentlich in eine außerchristliche »heidnische Tradition« (I,61), obwohl sich beide doch so eng an der urchristlichen Pfingstgemeinde orientierten, und aus ihnen spreche »der böse Geist der Prophezeiung« (I,59), von dem schon im Neuen Testament die Rede sei. Mit anderen Worten: Shaftesbury attestiert den religiösen Ekstatikern seiner Zeit nicht Ergriffenheit, sondern Besessenheit und hätte ihnen wohl am liebsten einen Exorzismus nach dem Rituale Romanum an den Hals gewünscht, wenn er denn selber an den geglaubt hätte. Und so zieht er die etwas zwiespältige Bilanz zum EnthusiasmusProblem: »Die einzige Folgerung, die ich hieraus ziehen will, ist diese, daß der Enthusiasmus eine sehr große Gewalt, und einen sehr weiten Umfang hat; daß eine vollkommene und deutliche Kenntniß desselben viel Scharfsinn erfodert, und die schwerste Sache von der Welt ist. (…) Denn die Eingebung ist ein wirkliches, und der Enthusiasmus ist ein falsches Gefühl von der göttlichen Gegenwart. Doch die Leidenschaft, die sie erregen, sieht sich sehr gleich.« (I,59)

2.12.5.3 Dogmatisch verengte Vernunft Aber welches ist das Kriterium, das »wirkliche« vom »falschen« Gefühl göttlicher Gegenwart zu unterscheiden? Worin liegt der Unterschied zwischen dem »edlen Enthusiasmus« (I,70), der den großen Rednern, Künstlern, Philosophen und Staatsmännern ihre Eingebungen vermittelt, und der bloßen Enthusiasterey, der die proletarischen Quäker zum Zittern bringt und zum Reden in fremden Zungen antreibt? Wirken hier zwei verschiedene Arten von Enthusiasmus oder wirkt derselbe Enthusiasmus, der sich jedoch bei verschiedenen Personen unterschiedlich manifestiert? Teilt sich die göttliche Gegenwart vielleicht klassen- und ständespezifisch mit, 909 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und gibt es vielleicht sogar ein ständespezifisches Monopol auf den Empfang des Heiligen Geistes? Oder dürfen nur Personen von spezifischem Temperament derlei Eingebungen beanspruchen? Oder anders gefragt: Hat sich hier vielleicht eine ganz neue säkulare Dogmatik in Shaftesburys aufklärerische Argumentation eingeschlichen, ohne daß er dies gemerkt hätte? Und vor allem: Wird hier vielleicht ein Begriff von Aufklärung und Vernunft unbefragt vorausgesetzt, der selbst wieder der Aufklärung bedürfte? Das für Shaftesbury entscheidende Kriterium ist der jeweilige Umgang mit dem Erregungspotential, das bei jeder Art von Eingebung freigesetzt wird und das mit allen enthusiastischen Widerfahrnissen obligatorisch verbunden ist, und deshalb schreibt er: »Wenn die Seele mit einem Gesichte beschäftigt ist, und ihre Aufmerksamkeit entweder auf einen wirklichen Gegenstand, oder auf ein bloßes Phantom von Gottheit heftet; wenn sie etwas Wundervolles und Übermenschliches sieht, oder zu sehen glaubt, so wird ihr Schrecken, ihr Vergnügen, ihre Verwirrung, ihre Furcht, ihre Verwunderung, oder sonst für Leidenschaften dabey aufsteigen, oder bey dieser Gelegenheit herrschen, etwas Ungeheures (…) haben.« (I,69)

Wer aber, so Shaftesburys Frage, ist in der Lage, einer solchen Fülle der Gesichte standzuhalten oder sie gar kreativ zu nutzen und daraus etwas zu gestalten? Ist z. B. erst ein Gedicht die angemessene Umsetzung enthusiastischer Inspiration oder darf auch schon das Zungenreden als solche gelten? Muß irgendein kommunizierbares Werk entstehen oder darf die Inspiration gleichsam ins Leere gehen? Shaftesbury antwortet: »Es wird sich immer etwas Ausschweifung und Wut (Erregung) äußern, wenn die empfangenen Ideen, oder Bilder zu groß sind, als daß das schwache menschliche Gefäß sie fassen könnte.« (I,69)

Und deshalb steht für Shaftesbury fest, daß die vor Verzückung stammelnden und zitternden Quäker und Camisarden nicht die angemessenen Adressaten des echten edlen Enthusiasmus sein können. Aber wer wäre es dann? Diesen Adressaten kennen wir schon: Es ist natürlich wieder einmal der stoische Weise, den wir schon in seinen Metamorphosen als benediktinischen Mönch, später als absolutistischen Höfling und jesuitischen Funktionär kennengelernt haben und der nun bei Shaftes910 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bury in der Gestalt des Gentleman aufs neue die Bühne der Gesellschaft betritt und etwas später auch noch in der Gestalt des Edlen Wilden, speziell des Edlen Huronen75 erscheinen wird. Deshalb schreibt Shaftesbury mit einer kleinen Verbeugung vor Huarte: »Denn wenn wir die Geister prüfen wollen, ob sie von Gott sind, so müssen wir zuvor unsern eigenen Geist prüfen, ob er von der Vernunft und von dem gesunden Menschenverstande ist; ob er auch ruhig, kaltblütig, unpartheyisch, frey von jeder überwältigenden Leidenschaft, von jeder schwindlichten Einbildung, oder melancholischen Laune sey, und daher urtheilen könne.« (I,71)

Mit einem Wort: Wer es schafft, als stoischer Weiser immer ausgeglichen, gelassen und bei guter Laune zu bleiben, ist laut Shaftesbury auch »mit einem Gegengifte gegen den Enthusiasmus versehen.« (I,72) Aber braucht man dieses Gegengift denn unbedingt? Bilden die ekstatischen Ausbrüche der Quäker denn wirklich eine solche Provokation für die Vernunft? Folgen nicht auch sie einer inneren Logik, die mit zur Natur des Menschen gehört? Ist, aristotelisch gesprochen, das Vermögen, ekstatische Zustände zu erleben, nicht auch ein proprium hominis, das den gleichen Respekt verdient wie alle anderen propria hominis auch? Und vor allem: Gehören die Ausbrüche kollektiven Gelächters nicht auch zu diesen ekstatischen Erlebnissen, da sie ebenfalls mit Konvulsionen verbunden sind und genauso ansteckend wirken? Oder bedarf, wie schon einmal gefragt, der Begriff der Aufklärung, der ekstatische Phänomene dogmatisch verpönt und als das Andere der Vernunft weit von sich weist, selbst wieder der Aufklärung, sodaß dieser erweiterte Begriff von Aufklärung sich nicht darin erschöpfen würde, sich bloß mutig des eigenen Verstandes zu bedienen, sondern aller geistiger und seelischer Vermögen und deshalb mit Jean Paul auch den Blick ins eigene »wahre innere Afrika« (60,81) zu wagen, sich dort mit Herder als »Wilden« (29,20) zu erkennen und ungeniert die eigene Geschichte als »die Geschichte eines vernünftigen Wahnsinnes« (29,20) zu schreiben, gleichsam als Vorarbeit für eine »Kritik der ekstatischen Vernunft«. Genau diesen Blick wollte Shaftesbury jedoch nicht tun, weil dieser Blick auf das Archaische, Wilde, »gothisch« Ekstatische für ihn zugleich auch der unvoreingenommene Blick auf den »Pöbel« 911 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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hätte sein müssen, den sich jeder stoische Weise seit Platon schon immer zu verbieten pflegte, denn von dort droht auch seinem eigenen Stoizismus die Gefahr, von Affekten aller Art überwältigt zu werden und den vollen Selbstbesitz zu verlieren: »Wir tragen einen Vorrath von brennbaren Materialien in uns, die, wenn der geringste Funke hineinfällt, in Flammen auflodern; besonders ist dieß der Fall, wenn ein Geist in einen ganzen Schwarm von Leuten gefahren ist. Kein Wunder, daß die Flamme so plötzlich ausbricht, wenn unzählige Augen von der Leidenschaft glühen, und wallende Busen vor Begeisterung pochen; wenn nicht bloß die Miene, sondern selbst der Athem und die Ausdünstung der Menschen ansteckt, und die begeisternde Seuche sich durch unmerkliche Transpiration mittheilt.« (I,59)

Hier wäre zu fragen: Woher diese Ambivalenz von Ekel und Faszination? Woher die Angst, von dieser »Seuche« angesteckt zu werden und den Kopf zu verlieren? Woher dieser Horror, in eine Situation »primitiver Gegenwart« (Schmitz) zu geraten und dort zu vergehen? Woher aber auch die insgeheime Lust, dies doch einmal zu versuchen? Man fühlt sich an Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig erinnert, in der der würdige Herr Aschenbach ähnliche Träume träumt und ähnliche Ängste hegt. Man fühlt sich bei Shaftesburys Ängsten und Lüsten aber auch an die Studie von Horkheimer und Adorno über die Dialektik der Aufklärung erinnert, in der es im Sirenen-Kapitel um die Angst des aufgeklärten Subjekts geht, »das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben«, wobei die Autoren aber sofort auch auf Rettende verweisen: »Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart. Der narkotische Rausch, der für die Euphorie, in der das Selbst suspendiert ist, mit todähnlichem Schlaf büßen läßt, ist eine der ältesten gesellschaftlichen Veranstaltungen, die zwischen Selbsterhaltung und -vernichtung vermitteln, ein Versuch des Selbst, sich selber zu überleben.« 76

Diese Zuversicht, auch in einem Schwarm Ergriffener »sich selber zu überleben«, hatte Shaftesbury offensichtlich nicht, und dies liegt, 912 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wie mir scheint, daran, daß Shaftesbury keinen Blick hatte für die uroborische Struktur ekstatischer Phänomene und deshalb auch nicht sehen konnte, daß ekstatische Zustände die Tendenz haben, sich selbst wieder zu verzehren, sofern sie nicht pathologischer Natur sind. Es gibt also gar keinen Grund, vor der Erfahrung ekstatischer Erlebnisse zurückzuschrecken; man wird zwar in ekstatischen Zuständen »davongetragen«, man wird aber auch wieder »zurückgeholt« und überlebt somit tatsächlich sich selbst. Steht also die Aufklärung nicht erst auf ihrem Höhepunkt mit Kant im Konflikt mit den Mächten entfesselter Einbildungskraft, sondern, wie die Brüder Böhme in ihrem wegweisenden Werk Das Andere der Vernunft darlegen, von allem Anfang an und immerzu? Oder gilt dies nur für eine bestimmte dogmatische Variante von Aufklärung, die selbst erst der Aufklärung bedürfte? Dazu die Brüder Böhme: »Aufklärer wie Locke, Shaftesbury, Kant fühlen sich geradezu persönlich bedroht – zumindest herausgefordert und irritiert durch das Auftreten von Sehern, Mystikern und Wundermännern. Die ›Zusammenrottungen‹ des einfachen Volkes – Erscheinungen, so anders als die Idee einer Diskursgemeinschaft freier Bürger –, die religiösen Bewegungen, das massenweise Zusammenkommen im Sog charismatischer Figuren war ihnen unheimlich. Fasziniert wie abgestoßen müssen sie sich immer wieder mit diesem Phänomen beschäftigen. Shaftesbury mischt sich unter die Anhänger Casimards 77, Kant sieht sich persönlich das Treiben um den Ziegenpropheten an. Manche Aufklärer ahnen, daß sie hier das Andere ihrer selbst erblicken.« (S. 249)

Das ganze 18. Jahrhundert war ja auch voll von solchen höchst seltsamen Gestalten, bei denen schwer zu entscheiden ist, ob es sich um dreiste Scharlatane handelte oder ob sie tatsächlich von prophetischen Visionen heimgesucht wurden. Bei Wolfgang Promies 78, Hans Graßl 79, Ernst Benz 80, Hans-Jürgen Schings 81, Lothar Müller 82 und Eckehard Catholy 83 kann man nachlesen, wie sich all diese seltsamen Gestalten in historischer Distanz präsentieren, bei Shaftesbury, Friedrich Nicolai 84, Karl Philipp Moritz 85 und Kant, wie sie aktuell erlebt wurden; bei Kant z. B. 1766 in seiner Polemik gegen den »Geisterseher« Emanuel Swedenborg, die mit den Sätzen beginnt: 913 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden sie ein unbegrenztes Land, wo sie nach Belieben anbauen können. Hypochondrische Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder lassen es ihnen an Bauzeug nicht ermangeln.« (I,923)

Und dann, am Ende des dritten Kapitels, wird er sackgrob und schreibt im Sperrdruck: »Wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobet, so kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt; geht er abwärts, so wird daraus ein F—, steigt er aber aufwärts, so ist es eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung.« (I,959 f.)

Damit gehören für ihn auch die ekstatischen Visionen aller Art zu den »Krankheiten des Kopfes«, über die er zur gleichen Zeit eine kleine Abhandlung (I,885–901) veröffentlicht. Im Gegensatz dazu kommt Ernst Benz in seiner Studie über Swedenborg zu dem Schluß: »Swedenborg war ein echter Visionär von einem charismatischen Typus, der sich durch die ganze Geschichte der christlichen Propheten und Visionäre vom Verfasser der Johannesapokalypse über Hermas und den mittelalterlichen Visionären wie Joachim de Fiore bis ins 17. und 18. Jahrhundert verfolgen läßt. Wollte man seine Offenbarungen als Wahnsinn ablehnen, weil sie sich auf Visionen berufen, so müßte man gleichermaßen alle christlichen Visionäre einschließlich des Autors der Johannes-Offenbarung als Wahnsinn ablehnen.« (S. 571)

Ob man das müßte, muß hier nicht entschieden werden. Die Frage, die hier zu beantworten wäre, stellt sich auch ganz anders und lautet: Müssen bei einer derart einseitigen Ausleuchtung der Welt nicht zwangsläufig neue Schatten entstehen? Ist also Kants Geisterseher Swedenborg aus dem Schattenreich der Einbildungskraft vielleicht Kants eigener, als solcher aber unerkannter Schatten, in dem er »das Gegenbild seiner selbst erblickte, von dem sich zu trennen für ihn lebenswichtig war« (Böhme/Böhme, S. 251), obwohl er doch in seinem berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung? ausdrücklich dazu ermuntert hatte, sich nicht vor Schatten (VI,61) zu fürchten. Die Droste wagte diesen Blick auf den eigenen Schatten in ihrem Spiegelbild und entsetzte sich entsprechend – »Phantom, du bist nicht meinesgleichen!« –, rang sich dann aber mit einem ent914 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schlossenen »und dennoch!« dazu durch, dieses verstörende Bild letztlich doch anzuerkennen, denn das berühmte Gedicht Das Spiegelbild endet mit den Versen: »Es ist gewiß, du bist nicht Ich, Ein fremdes Dasein, dem ich mich Wie Moses nahe, unbeschuhet, Voll Kräfte, die mir nicht bewußt, Voll fremden Leides, fremder Lust; Gnade mir Gott, wenn in der Brust Mir schlummernd deine Seele ruhet! Und dennoch fühl ich, wie verwandt, Zu deinen Schauern mich gebannt, Und Liebe muß der Furcht sich einen. Ja, trätest aus Kristalles Rund, Phantom, du lebend auf den Grund, Nur leise zittern würd ich, und, Mich dünkt – ich würde um dich weinen!«86

Ist es so gesehen nicht naheliegend, daß ein Verständnis von Aufklärung, das all die Möglichkeiten der Einbildungskraft als etwas ihr Fremdes so schroff von sich stößt und entschlossen verdrängt, gerade dadurch Irrationalismen aller Art aus dem Schattenreich heraufbeschwört und diese dann wieder tief erschreckt von sich weist, ohne das »und dennoch!« zu wagen, das sich leitmotivisch durch das Gedicht der Droste zieht? Wird dieses verkürzte Verständnis von Aufklärung aber verabsolutiert zur Aufklärung schlechthin, so muß man den Eindruck gewinnen, »als seien Aufklärer und Phantasten aneinander gebunden (und) riefen in immer neuen Auftritten sich wechselseitig auf die Bühne« (Böhme/Böhme, S. 246). Über dieses verkürzte Verständnis von Aufklärung heißt es bei den Brüdern Böhme weiter: »Was Vernunft ist, definiert sich selbst – das ist das Programm der kritischen Philosophie –, das Andere ist nur das Andere, das Irrationale, ein wolkiges Gemisch, das allenfalls in der Polemik noch auf einen Nenner gebracht wird: Einbildungskraft. Die erhitzte, die ungezügelte, die kranke Einbildungskraft soll für alles verantwortlich sein. Der Historiker wird diese Verkürzung nicht mitmachen. Der Versuch, das

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Andere der Vernunft wieder zur Sprache zu bringen, muß gerade zeigen, daß dieses ›Andere‹ nicht bloß Einbildung ist, muß also vom Leib, von den atmosphärischen Gefühlsmächten, von sozialen Bewegungen, von Natur und ihrer Aneignung reden.« (S. 246 f.)

Und das heißt doch wohl: Wer von diesem Anderen der Vernunft reden will, muß auch vom Lachen reden, und eine Heitere Aufklärung muß dies wohl erst recht. Deshalb müßte der Begriff aufgeklärten Selbstverständnisses in der Weise erweitert werden, daß er auch die ganze Palette ekstatisch-uroborischer Phänomene ganz selbstverständlich mit einschließt. Edgar Morin nennt diese Phänomene in einer ersten Annäherung und in deutlicher Orientierung an Georges Bataille, aber reichlich ungenau »das Verzehrende« und schließt die rhetorische Frage an, ob man denn ernsthaft eine Anthropologie betreiben könne, »die nicht auch dem Fest, dem Tanz, dem Lachen, den Konvulsionen, den Tränen, der Lust, dem Rausch, der Ekstase ihren Platz einräumte«. 87 Dazu war Shaftesbury, wie wir gesehen haben, jedoch nicht bereit, ja er geht sogar so weit, auch das exzessive Lachen seinem test of ridicule zu unterziehen, und kommt dabei zu dem vernichtenden Ergebnis, nichts sei so lächerlich wie das exzessive Gelächter des Pöbels, weil es gar so unästhetisch wirkt. »Denn nichts ist lächerlich als das Ungestalte (deformed); nichts ist probefest (proof ) als das Schöne und Wahre.« (I,168)

Das Schöne und Wahre aber ist immer auch das Gemäßigte, der sichere goldene Mittelweg des Aristoteles zwischen den Extremen. Damit hat Shaftesbury die Grenzen Heiterer Aufklärung sehr eng gezogen, und seine Gefolgsleute in Deutschland sind ihm hier treulich gefolgt, denn wir werden sehen, welch tiefsitzendes Unbehagen auch bei den deutschen Vertretern Heiterer Aufklärung, wie z. B. Georg Friedrich Meier, »Lach-Paroxysmen« aller Art hervorgerufen haben. Wir werden aber auch feststellen, daß seine deutschen Gefolgsleute etwas genauere Fragen stellten und den Nomos eutrapelistischer Lachkultur weiter ausdifferenzierten, wohl auch deshalb, weil die Hindernisse für eine Heitere Aufklärung in Deutschland erheblich größer waren als in England und schon deshalb eine genauere 916 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Argumentation verlangten. Aber trotzdem blieb Herders Hinweis auf die Notwendigkeit einer »Geschichte des vernünftigen Wahnsinns« und auf die »Abgründe unter dem Zwergfell, vor denen unsrer hellen und klaren Philosophie graut« (8,18), lange ungehört und wurde erst von Goethe wirklich ernst genommen und im Werk umgesetzt. 2.12.5.4 Der Schock von Lissabon Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, bei dem die schönste Stadt der Welt in sich zusammenstürzte, erschütterte auch alle Denkwerke und Glaubensbekenntnisse, die bis dahin scheinbar unerschütterlich gültig gewesen waren, und selbstverständlich konnte dieses Jahrhundertereignis auch die Vertreter und Anhänger einer Heiteren Aufklärung nicht unberührt lassen, denen ihr Lachen erst mal im Hals stecken blieb, und die sich gezwungen sahen, die Grundlagen ihrer geistigen Welt einer peinlichen Prüfung zu unterziehen. Der eine grundlegende Impuls zur Aufklärung, die emanzipatorische Tendenz zu Aufrichtung und Selbstbehauptung, mußte sich durch die Katastrophe von Lissabon in keiner Weise beeinträchtigt sehen, sondern konnte sich sogar bestätigt fühlen, weil sie Trotz freisetzen konnte, der jedem Neuansatz förderlich ist und dann dem Wiederaufbau einer zerstörten Welt zugute kommt. Ganz anders stand es um Shaftesburys test of ridicule, der angesichts der Leichenberge von Lissabon nur noch als frivole oder zynische Spielerei erscheinen mußte. Noch viel problematischer, ja geradezu als wahnhaft erschien mit einem Mal aber der metaphysische Optimismus und das heitere Bewußtsein, in der besten aller Welten zu leben, die von einem allwissenden, gütigen und gerechten Gott erschaffen worden sei und weiterhin in ihrem Lauf gelenkt werde. Nun konnte man sich mit gutem Recht wie Haller fragen: »Hat seinen Kindern Gott kein besser Glück gegönnt? Hat er es nicht gewollt, hat er es nicht gekönnt?« 88

Die gesamte Theodizee-Lehre stand damit zur Disposition, und die Zweifel, die Albrecht von Haller in seinen großen Lehrgedichten 917 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zwar angemeldet, sich dann aber doch immer wieder verboten hatte, waren nunmehr nicht mehr so leicht zum Schweigen zu bringen und erhoben sich aufs neue. Wie wir gesehen haben, verhärtete Johann Peter Uz in seinem langen Lehrgedicht von 1760 über die Kunst stets fröhlich zu sein und in seinem Erdbeben-Gedicht von 1768 die Theodizee zu einer erfahrungsresistenten Ideologie und ließ seine anakreontisch lächelnde Heiterkeit zu einer frostigen Maske von demonstrativer Heiterkeit erstarren. Wie sein philosophischer Mentor in Halle wohl auf die Katastrophe von Lissabon regiert hätte, können wir nicht wissen, denn Christian Wolff starb schon 1754. Und ob Brockes auch nach der Katastrophe von Lissabon weiterhin das irdische Vergnügen in Gott gepriesen hätte, wissen wir auch nicht, denn er starb schon 1747. Eine ganz andere Reaktion als die dogmatischen Wolffianer zeigte Voltaire (1694–1778) im ideologischen Nachbeben, der neben und nach seinem Protest-Gedicht gegen das Erdbeben von Lissabon auch noch den satirischen Roman Candide ou l’Optimisme (1759) veröffentlichte, in dem er die Vertreter der optimistisch teleologischen Theodizee als lächerliche Idioten verhöhnte. Das deutsche Pendant zu Voltaires satirischem Roman, Johann Karl Wezels philosophischer Roman Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne 89 von 1776, ist zwar viel weniger bekannt, aber philosophisch weitaus gewichtiger, weil Wezel (1747–1819) die optimistisch teleologische Ideologie der Theodizee nicht bloß verhöhnt, wie Voltaire dies getan hat, der sich somit als ein Aufklärer von der Art des Abderiten Korax erweist, sondern weil Wezel die Theodizee auch philosophisch unterminiert und sprachkritisch zur Implosion bringt, indem er sie als ein Denkwerk charakterisiert, das auf lauter »problematischen Urteilen« (Kant) aufgebaut ist, auf kognitiven Aussagen also, die man weder beweisen noch widerlegen, sondern nur glauben kann, und die man deshalb in philosophischen Diskursen auch nicht verwenden sollte. Wezel läßt in seinem Roman drei Gestalten auftreten, die gemäß ihrem Naturell die Welt erfahren und dementsprechend auf sie reagieren: Der Fatalist Fromal mit einer zynisch-stoischen Ethik des amor fati, der idealistische Choleriker Belphegor als »Rebell wider Natur und Schicksal« (S. 216), und der bieder gläubige Medardus, 918 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der als Anhänger der Theodizee die Welt als »die abgezweckte Anordnung einer nach Plan und Absicht handelnden Vorsicht (Vorsehung)« (S. 299) ansieht, was ihm so viel heitere Gelassenheit verleiht, daß er ohne jede Anfechtung von Glaubenszweifeln jeden Augenblick glücklich genießen kann. Wer will, mag in diesem Medardus auch ein Porträt des anakreontischen Theodizee-Poeten Johann Peter Uz sehen. Daneben gibt es noch eine vierte Gestalt in dem weisen Derwisch, der als ruhender Pol den philosophischen Gehalt des Romans auf den Punkt bringt, indem er dem Titelhelden den Rat gibt: »Vergrabe dich in ruhige einsame Stille! und dann alle Fittige deiner Einbildungskraft angespannt! laß sie fliegen so hoch sie die Luft trägt, bis zum Aether! überlaß dich ganz den süßesten Illusionen, die die Menschheit ersinnen mag: dem Glauben an Vorsicht (Vorsehung), Unsterblichkeit und Erhabenheit der Seele: setze deine Natur und also auch dich selbst auf die höchste Staffel der Wesen, rücke sie der Gottheit nahe: weide dich an diesen Schauspielen der Imagination und der Empfindung: sey mehr Geist als Thier, lebe mehr in der Idee als in der Wirklichkeit und kenne nichts auf der Erde außer dir!« (S. 298 f.)

An dieser Stelle des Romans meldet sich der Autor selbst zu Wort und kommentiert den Vortrag seiner Romanfigur mit einem eigenen Kommentar, in dem er zeigt, wie sehr er sich philosophisch auf der Höhe seiner Zeit befindet, denn er schreibt da: »Unter Illusion versteht der gute Alte wahrscheinlicher Weise die Meynungen, die nicht mit einer solchen Strenge bewiesen werden können, daß gar kein Zweifel mehr übrig bleibt, sondern wo im Grunde allemal der ausschlaggebende Grund Ueberzeugung angenommen und nicht durch Beweise allein gewirkt wird; und in diesem Falle wäre im Grunde die ganze Philosophie Illusion. Alle Meynungen, die jemals von Philosophen erdacht sind, oder künftig erdacht werden, sind nichts als verschiedene Vorstellungsarten von den Dingen: die Dinge selbst kennt niemand.« (S. 298 f.)

Man glaubt Kant zu hören, der durch seine kritische Wende, die in etwa in dieselbe Zeit fällt, in der Wezel seinen Roman schrieb, alle Denkwerke, die auf »problematischen Urteilen« 90 aufgebaut sind, als unerlaubbare und unzumutbare Anmaßungen der Metaphysik verworfen hat, und dazu gehört fast alles, was auch die Grundlage 919 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Heiteren Aufklärung ausmachte: der metaphysische Optimismus, die teleologische Weltsicht, die Theodizee als Rechtfertigung Gottes aus seiner Schöpfung und vor allem alle Beweise für die Existenz Gottes, weshalb der katholische Anti-Kantianer Benedikt Stattler Kant als »Alleszermalmer« glaubte bezeichnen zu müssen. All diese metaphysischen Prachtbauten werden als pure Spekulation, als unvertretbare Überschreitung der Grenzen der Vernunft gnadenlos verworfen, »weil, wenn Dinge unter einem Begriffe, der bloß problematisch ist, subsumiert werden, die synthetischen Prädikate derselben (…) ebensolche (problematischen) Urteile, sie mögen nun bejahend oder verneinend sein, vom Objekt abgeben müssen, indem man nicht weiß, ob man über etwas oder nichts urteilt.« (Kant V,512)

Denn: »Es kann nicht allein nicht ausgemacht werden, ob Dinge der Natur, als Naturzwecke betrachtet, für ihre Erzeugung eine Kausalität von ganz besonderer Art (die nach Absichten) erfordern, oder nicht; sondern es kann auch nicht einmal darnach gefragt werden.« (V,511)

Was also bleibt nach diesem erkenntnistheoretischen Großreinemachen noch übrig? Übrig bleibt auf jeden Fall alles, was Kant nach der kritischen Wende geschrieben hat, und dazu gehört auf jeden Fall einer der zentralen Impulse der Aufklärung, die philosophisch-anthropologische Rechtfertigung der Aufrichtung zur Mündigkeit, da man die kritische Destruktion aller Denkwerke, die auf problematischen Glaubensbekenntnissen aufgebaut sind, selbst wiederum als einen Aspekt eben dieser Aufrichtung zur Mündigkeit und zum Selberdenken werten kann. Kants Aufforderung »Sapere aude!« ist dann ebenfalls eine Aufforderung, nicht nur den Wissenserwerb und das mündige Selberdenken zu wagen, sondern darüber hinaus die Aufforderung, auch die Grenzen des Wissensmöglichen möglichst exakt zu bestimmen, und sich strikt innerhalb dieser Grenzen zu bewegen, sodaß man all das, was sich innerhalb dieser Grenzen befindet, mit gutem Gewissen zu erforschen sucht, aber auch alles, was außerhalb dieser Grenzen liegt, auf sich beruhen läßt. Mit der philosophisch-anthropologischen Rechtfertigung der Aufrichtung zur Mündigkeit durch Herder, Kant und Schiller ver920 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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fällt deren theologisch-mythologische Deutung sofort dem Verdikt. Auch wenn sie nach wie vor als Mythos von der Erbsünde ein Kernstück christlicher Theologie bleiben mag, erscheint sie aus philosophisch-anthropologischer Warte eher als ein regressionslüsternes mythologisches Konstrukt, das man energisch und mit guten Gründen zurückweisen muß. Es wird sich zeigen, daß immer dann, wenn die christliche Deutung von Sündenfall und Erbsünde philosophisch instrumentalisiert wird, sofort auch die massivsten und reaktionärsten politischen Implikationen sichtbar werden. In der Ära der Heiligen Allianz ist dies oft genug geschehen, wie man bei Joseph de Maistre und Baudelaire nachlesen kann. Was bleibt noch übrig? Laut Kant nur die säuberliche Trennung von Vernunft und Offenbarung, die für die christlich geprägte Philosophie von Origenes und Augustinus über Thomas von Aquin bis herauf zu John Locke noch als vereinbar galten, und das heißt: die säuberliche Trennung von Denkwerken auf der Basis von verifizier- und falsifizierbaren Aussagen einerseits und von Ideologien auf der Grundlage von Glaubensbekenntnissen andererseits. Deshalb kommt Kant in seiner Abhandlung Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee von 1791 zu dem Fazit, die Theodizee, die »die Sache Gottes verfechten« soll (VI,105), sei »im Grunde nichts mehr als die Sache unserer anmaßenden, hiebei ihre Schranken verkennenden, Vernunft« (VI,105), und deshalb überhaupt keine Philosophie, zumindest keine kritische, sondern »eine Glaubenssache« (VI,119), also genau das, was Wezels weiser Derwisch als »Illusion« bezeichnet hatte. Gegen Ende seiner theodizee-kritischen Abhandlung kommt Kant naturgemäß auf das Buch Hiob und auf Hiobs Anklage gegen seinen Gott zu sprechen und stellt fest, daß Hiobs Freunde sich als Sprachrohr Gottes gerieren und ungerührt von seinem Schicksal weiterhin ihre Rechtfertigung Gottes verkünden, ganz so wie Uz dies in seinem Erdbeben-Gedicht tut, und diese Rede geschieht natürlich in problematischen Aussagen, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. In solchen Sätzen scheint auch Hiob zu sprechen, allerdings nur auf den ersten Blick. Hört man etwas genauer hin, merkt man aber, daß er auf eine Weise redet, für die man eine neue Bezeichnung braucht: 921 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Hiob spricht, wie er denkt, und wie ihm zu Mute ist, auch wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Mute sein würde; seine Freunde sprechen dagegen, wie wenn sie in Geheim von dem Mächtigern, über dessen Sache sie Recht sprechen, und bei dem sich ihr Urteil in Gunst zu setzen ihnen mehr am Herzen liegt als an der Wahrheit, behorcht würden.« (VI,117)

Die Freunde artikulieren sich also in unbedrängter Besonnenheit, überlegt und taktisch-ideologisch, Hiob hingegen spontan und wahrhaftig. Weder für Hiobs Rede noch für die seiner Freunde läßt sich das Kriterium »wahr oder falsch?« geltend machen, für Hiobs Freunde nicht, weil sie problematische Aussagen verwenden, für Hiobs Rede nicht, weil sie aus Affektbekundungen besteht, die nur grammatikalisch gesehen Aussagesätze sind und weder wahr noch falsch sein können, sondern nur wahrhaftig oder geheuchelt. Wenn Hiob also von seinem Gott sagt »Er macht’s wie er will«, so liegt diese Äußerung auf einer ganz anderen Ebene, als wenn seine Freunde dies sagen würden, denn aus deren Mund wäre es ein ideologieträchtiges problematisches Urteil in unbedrängter Distanz, aus Hiobs Mund ist es Klage und Anklage, Zorn und Empörung, also die wahrhaftige Bekundung tiefster Betroffenheit, nach deren faktischer Wahrheit man gar nicht mehr fragt, weil solche Rede nicht überprüft werden, sondern ernst genommen und durch ein entsprechendes Verhalten beantwortet werden will. Anders formuliert: Die Rede der Freunde in dieser Situation ist, mit Franz Koppe zu sprechen, »apophantische Rede«, die bestimmte Behauptungen aufstellt, die Rede Hiobs »endeetische Rede« 91, also expressive bedürftigkeits- und betroffenheitsbekundende Rede. Im 18. Jahrhundert hätte man gesagt: Die Sprache der Freunde von Hiob ist die »Sprache der Verstellung« 92, die Sprache Hiobs hingegen »Sprache des Herzens«. Diese Unterscheidung von zwei grundsätzlich verschiedenen Arten der Artikulation, die ganz der literatur- und theatertheoretischen Diskussion des 18. Jahrhunderts entspricht, ist auch gelotologisch gesehen von größter Bedeutung, denn auch das Lachen gehört in diesen Bereich der »Sprache des Herzens«; das wußte ja schon Laurent Joubert. Aber auch dann, wenn wir bei der Sprache im engeren Sinn bleiben, hat Kant hier einen Weg gewiesen, wie 922 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bestimmte Texte, die vor dem Forum kritischer Vernunft nicht mehr bestehen können, doch wieder ein achtbares Maß an Würde zurückgewinnen können, wenn man sie auf eine bestimmte Art und mit einem neu definierten Erkenntnisinteresse liest, das der jeweiligen Textsorte angemessen ist. Goethe hat dies in dem oben zitierten Aphorismus aus Maximen und Reflexionen vorgeführt, wie man bestimmte Texte der Physikotheologie »retten« kann, auch wenn die kritische Philosophie ihnen den philosophischtheologischen Boden entzogen hat und man dies ausdrücklich billigt, denn nun werden die Grenzen der Aufklärung nicht mehr allein durch Aussagen gezogen, die man »in kalter Besonnenheit« (Herder) trifft, sondern auch durch wahrhaftige Bekundungen. Darauf hatte Herder in der oben zitierten Passage aus der Abhandlung Ueber Bild, Dichtung und Fabel mit größtem Nachdruck hingewiesen, in der er davon spricht, daß wir alle dazu neigen, »an allem Wirkenden der Naturkräfte persönliche Wesen zu dichten«, insbesondere in Situationen, in denen der »Zustand kalter Besonnenheit« reduziert ist und uns zu »Wilden« macht, also in Zuständen von »Traurigkeit, Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung«. Spricht man in solchen Situationen, so ist diese Rede immer »endeetisch«. Ein gutes Beispiel für eine Grenze der Aufklärung, die auf diese Weise gezogen wird, ist Goethes unheimliche Ballade vom Erlkönig von 1782 93, die sich wie die poetische Illustration von Herders Abhandlung liest. Goethe schildert hier, wie sowohl ein fieberndes Kind, das in allen möglichen Naturphänomenen das Walten des bösartigen Elfenkönigs wittert, als auch ein aufgeklärter Vater, der sich bemüht, die Natur konsequent zu entdämonisieren, von einer atmosphärischen Macht überwältigt werden und in Panik geraten, denn schließlich graut es auch den Vater vor diesem »Abgrunde dunkler Empfindungen, Kräfte und Reitze« (8,18), von dem Herder in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele von 1778 spricht. Und deutlich wird auch, daß Vater und Kind konsequent aneinander vorbei reden, weil das Kind nur in »endeetischen« Bekundungen spricht, der Vater hingegen nur in »apophantischen« Feststellungen. Daß in dieser Ballade das Scheitern von Aufklärung 923 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sichtbar wird, heißt jedoch nicht, daß man diesen Text als schadenfrohen Triumph der Gegenaufklärung 94 lesen müßte, sondern als Beispiel für eine Aufklärung, die deshalb scheitert, weil sie nicht um ihre Grenzen weiß. Aber nicht nur philosophiegeschichtlich, sondern auch mentalitätsgeschichtlich gesehen war der Schock von Lissabon ein Wendepunkt, weil von nun an bestimmte Formen von Gelächter aufkamen, von denen vorher nie die Rede war, denn durch die ideologischen Nachbeben wurden wahre Abgründe an ideologischem Katzenjammer, Nihilismus und Bitterkeit aufgerissen, die man bislang nur aus dem Buch Hiob und aus Shakespeares Tragödien kannte, aus Texten also, die nun, nach Lissabon, ganz neu gelesen und vielleicht sogar überhaupt erst angemessen verstanden werden konnten. Das Hohngelächter, das Voltaire in seinem Candide, Wezel in seinem Belphegor und Wieland in seinen Abderiten angestimmt hatten, kennen wir schon als das notorische Hohngelächter Demokrits. Aber dieses blasphemische Verzweiflungs-Lachen, das Lessing seinen Major Tellheim in Minna von Barnhelm (IV,6) anschlagen läßt, hatte man bis dahin nur in besonders frommen Werken hören können, z. B. in Klopstocks Messias (1748 ff.) oder in Salomon Geßners Prosagesängen Der Tod Abels (1759) aus dem Mund höllischer Gestalten, und in einer Komödie schon gar nicht. Auch der mit Wahnsinn geschlagene Ajas des Sophokles lachte nicht so. Minna gerät denn auch fast in Panik darüber: »O, ersticken Sie dieses Lachen, Tellheim! Ich beschwöre Sie! Es ist das schreckliche Lachen des Menschenhasses!«

Da Tellheim aber nicht aufhört mit diesem bitteren Gelächter, fährt sie fort: »Ihr Lachen tötet mich, Tellheim! Wenn Sie an Tugend und Vorsicht (Vorsehung) glauben, Tellheim, so lachen Sie so nicht! Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören, als Sie lachen.« (2,347)

Aber was ist das für ein Lachen, das Minna so tief verstört? Das Hohngelächter des Misanthropen Demokrit ist es nicht, denn dieses Lachen ist ein höhnisches Auslachen-von-oben, das uns schon bekannte la’ag-Lachen Jahwes und seiner in den Augen der Christen hoffärtigen Nachahmer. Das zynische Lachen der »Kotseele«, das 924 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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von Rameaus Neffen, der voller Selbstverachtung von unten auf sich herabschaut und sich selbst voller Verachtung verlacht, ist es auch nicht, denn Lessing hat seinen Tellheim als einen Mann von Ehre gekennzeichnet. Allerdings ist diese Ehre tief verletzt, weil man ihn durch eine unglückliche Verquickung von Umständen für korrupt hält. Daß wir eine derartige Kränkung gewöhnlich als »bitter« bezeichnen und auch ein Gelächter als »bitteres Lachen« verstehen, verdankt sich der alten Humoralpathologie, die dieses spezielle Lachen auf ein Übermaß an gelber sowie schwarzer Galle zurückführt und bitteres Lachen damit auf ein Gemisch von Zorn und narzißtischer Trauer. Und so reagiert Tellheim auf den vermeintlichen Zusammenbruch seines Kosmos an Werten mit einem Lachen, in dem sich genauso viel Zorn und Trauer bekundet wie in Voltaires Protest-Gedicht gegen das Erdbeben von Lissabon. So gesehen deutet Minna Tellheims Lachen also recht genau, wenn sie beklagt, daß jemand, der auf diese Weise lacht, den Glauben an Tugend und Vorsehung und damit an einen gerechten Gott und eine gerechte Weltordnung verloren haben muß. Schiller wird seinen Franz Moor in den Räubern (1781) ein ähnliches Lachen anschlagen lassen, mit dem dieser seinen berühmten Schurken-Monolog einleitet, aber dieser Franz Moor argumentiert schon rein materialistisch und hadert deshalb nicht mehr mit Gott, sondern mit der Natur, weil diese ihn in jeder Hinsicht benachteiligt habe, weshalb er sich zum luziferischen Rächer an allem und jedem ernennt: »Ich will Alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich seyn, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht.« (2,23)

Dieser Art von misanthropischem Gelächter werden wir in der Literatur aber erst wieder nach der Französischen Revolution in den Gestalten der Schwarzen Romantik begegnen, wenn das Weltbild der Theodizee endgültig zertrümmert ist. (Wir kommen darauf zurück.) Gewisse Zweifel an der Theodizee hatten wir ja schon bei Albrecht von Haller gefunden, der sie in seinen großen Lehrgedichten immer wieder angesprochen, sie aber auch immer wieder mit einem barschen »Basta!« verdrängt hatte. In dem Gedicht Gedan925 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben schildert er ebenfalls die Übel der Welt so beredt, daß man einen Misanthropen zu hören meint, um sich dann nach 324 Versen endlich zur Ordnung zu rufen und sich die Verse abzuringen: »Genug, es ist ein Gott; es ruft es die Natur, Der ganze Bau der Welt zeigt seiner Hände Spur.« (S. 35)

Und in dem Gedicht Die Falschheit menschlicher Tugenden, das sogar noch misanthropischer anmutet, weil er sich in die Reihe der »Menschen-Feinde« Hobbes und Swift einreiht, reißt er sich am Ende noch entschlossener zusammen, indem er ausruft: »Nein, Nein, der Himmel kann, was er erschuf, nicht hassen; Er wird der Güte Werk dem Zorn nicht überlassen.« (S. 51)

So gesehen hat Karl S. Guthke sicher Recht, wenn er die Ambivalenz in Hallers Lehrgedichten als repräsentativ für die Selbstzweifel der Aufklärung 95 generell ansieht und Haller außerdem in die Nähe von Lessings Tellheim rückt. Wenn Minna über dieses bitter verzweifelte Auflachen Tellheims erschrickt, so artikuliert sie damit aber nicht nur ihre Sorge um das Wohl des geliebten Mannes, sondern benennt zugleich auch die Grenzen, innerhalb derer sich eine Komödien-Handlung abspielen muß, zumindest die einer Aufklärungs-Komödie, die die Korrektur eines etwas verschrobenen Helden zum Ziel hat, der durch eine letztlich wohlwollende Intrige zu seinem Glück gezwungen wird. Dies aber verlangt einen grundsätzlichen Optimismus, der alle Handlungen leitet, und den Glauben an eine sinnvoll geordnete Welt, deren Ordnung zwar etwas gestört sein darf, aber jederzeit wieder ins Lot gebracht werden kann. Zerbricht diese Ordnung, oder zerbricht auch nur der Glaube daran, so ist diese Art von Komödie nicht mehr möglich, weil sie die Grundstimmung Heiterer Aufklärung voraussetzt, und ein ganz anderer Typ von Komödie muß erfunden werden.

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Die Aufklärung des Heiteren

2.12.6 Die Aufklärung des Heiteren als Erbe von Aufklärung, Pietismus und physiologischer Theorie 2.12.6.1 Überblick Da der Begriff »Heiterkeit« mehrdeutig ist, muß die Aufklärung des Heiteren mit der Klärung des Begriffs »Heiterkeit« selbst beginnen, indem wir zwischen perennierender Heiterkeit im Sinne einer heiteren Stimmung oder Atmosphäre und uroborischer Heiterkeit im Sinne eines Heiterkeits-Ausbruchs unterscheiden. Beide Formen von Heiterkeit unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer zeitlichen Struktur und ihrer Verlaufs-Gestalt als auch hinsichtlich der damit verbundenen Lacharten, denn ein uroborischer HeiterkeitsAusbruch platzt aus uns als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis heraus und verzehrt sich dann selbst, wohingegen eine Atmosphäre von Heiterkeit gezielt erstellt und dann über längere Zeit hinweg durch bestimmte tendenziell verfügbare Formen von Gelächter geringerer Intensität auf gleicher Höhe gehalten werden kann. Es wird sich zeigen, daß diese Unterscheidung deshalb nötig ist, weil die Vertreter Heiterer Aufklärung sich zwar sehr um die Pflege heiterer Stimmungen bemühten, alle ekstatischen Ausbrüche von Gelächter jedoch als unschicklich empfanden und als »Lach-Paroxysmus« (Meier) strikt ablehnten, denn an diesem Lachen erkannte man den Narren und damit das Andere der Vernunft. Das war ja schon bei Shaftesbury so und steht in einer langen Tradition, die bis zu den »salomonischen« Weisheitstexten zurückreicht. Somit deckt sich der Begriff des Heiteren bei den Vertretern Heiterer Aufklärung weitgehend mit dem Begriff des Fröhlichen, Unbeschwerten, Vergnügten oder Vergnüglichen, was man bei Autoren wie Brockes oder Uz nachlesen kann, die umfangreiche Werke über das irdische Vergnügen in Gott oder über die Kunst, stets heiter und fröhlich zu sein, geschrieben haben. Da aber bei weitem nicht jedes Lachen unbeschwerte Heiterkeit bekundet, ist eine weitere Vorüberlegung nötig. Wir haben gesehen, daß in der Zeit um 1500 das Wortfeld »Narr/Narrentum/närrisch/narrhaft« sich so weit aufgefächert hatte, daß es nötig war, nicht nur den Begriff des Narren genauer zu definieren und dessen 927 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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einzelne Spielarten eigens zu benennen, sondern auch einen Oberbegriff für all diejenigen einzuführen, die durch ihr Handeln und Verhalten andere zum Lachen bringen, unabhängig davon, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen dies geschieht und unabhängig auch davon, ob dies gezielt und kalkuliert geschieht oder nicht, und hierfür bot sich der Begriff des Geloiasten an: Ein Geloiast ist also jeder, der andere zum Lachen bringt. Darauf greife ich nun zurück und weite dieses Wortfeld dahingehend aus, daß mit dem Begriff des Geloiastischen all das gemeint sein soll, was irgendeine Art von Gelächter auslöst. Damit ist der Begriff des Geloiastischen zugleich der Oberbegriff für das Komische und Lächerliche und deckt sich somit weitgehend mit dem Begriff humour im heutigen angelsächsischen Sprachgebrauch. Doch das Geloiastische erschöpft sich bei weitem nicht darin, sondern umfaßt alles, wodurch jemand irgendwie zum Lachen gebracht wird. Zur geloiastischen Praxis zählt somit auch der gesamte Bereich Heiterer Aufklärung. Aus diesem Grund kann die hier zu leistende Aufklärung des Heiteren auch nur einen begrenzten Sektor gelotologischer Fragestellungen klären und nur einige Formen von Gelächter etwas genauer bestimmen, und deshalb darf man sich von diesem Kapitel nicht umfassende systematische Einsichten in Wesen und Funktion des Lachens erwarten. Einiges aber doch, und dies schon deshalb, weil wir den Rahmen des heiteren Lachens zwar ausmessen, aber immer wieder auch werden überschreiten müssen. So werden wir z. B. zu prüfen haben, ob und in welchem Maße man Shaftesburys test of ridicule tatsächlich zum Erkenntnisprinzip erheben kann, und welche Erkenntniskriterien dabei genauer zu bestimmen sind, damit dies auch möglich ist. Anders gefragt: Dürfen wir dem eigenen Gelächter denn wirklich trauen, wenn wir uns dem test of ridicule anvertrauen? Kann es nicht auch hier Fehlleistungen und Irrtümer geben wie bei jeder anderen Art sinnlicher Wahrnehmung auch? Was verschafft uns die Gewißheit, daß etwas tatsächlich lächerlich ist, wenn und weil wir es als lächerlich empfinden? Gibt es also objektiv Lächerliches? Und gibt es analog dazu objektiv Komisches? Und wieder anders gefragt: Kann und darf der test of ridicule tatsächlich anderen Kriterien wie der Frage nach 928 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Aufklärung des Heiteren

Wahrheit, Wahrhaftigkeit und immanenter Stimmigkeit gleichrangig an die Seite treten? Gibt es also eine Evidenz von Gelächter erzwingenden Situationen? Und wenn ja, auf welchem Weg wären sie zu erschließen? Der erste Schritt auf diesem Weg wird darin bestehen, die Grenzen zwischen Vernunft, Verstand, Scharfsinn und Witz genauer zu bestimmen, denn erst dies wird uns in die Lage versetzen, weitere Elemente geloiastischer Praxis ins Auge zu fassen, und dazu gehört z. B. das Wesen von Witz, Scherz und Pointe, die Georg Friedrich Meier zur Grundlage seiner Kritik der scherzenden Vernunft gemacht hat. Außerdem werden wir wieder auf das lachsoziologische Modell der Eutrapelie stoßen, das Meier dort aufgegriffen und auf die Gegebenheiten seiner Zeit angewendet hat, um die geistigen und organisatorischen Grundlagen für die Stiftung von Atmosphären perennierender Heiterkeit und heiterer Geselligkeit zu schaffen. Da das 18. Jahrhundert auch die Zeit war, in der durch Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs die physiologische Theorie in heftige Diskussionen gestürzt wurde, konnten die sich daraus ergebenden massiven Paradigmenwechsel auch nicht ohne Folgen für die Sicht auf die physiologischen Aspekte des Lachens bleiben, sodaß sich die Gelotologie wieder einmal vor ganz neue Fragen gestellt sah, und diese lauteten z. B.: Muß die mechanistische Hydraulik der Lebensgeister à la Descartes aufgegeben werden, oder kann die cartesische Mechanistik beibehalten, durch »rettende Kritik« vielleicht sogar aufs neue und tiefer begründet werden? Läßt sich das dualistische Menschenbild aufrechterhalten oder muß das Verhältnis von Körper und Seele ganz neu gesehen werden oder wird der Dualismus als ganzer obsolet, weil er eine falsch gestellte Frage ist, der durch das Modell des »ganzen Menschen« ersetzt werden muß? Diskutiert wurden diese Fragen im Ausgang von den physiologischen Theorien der philosophischen Ärzte Friedrich Hoffmann, Albrecht von Haller und Georg Ernst Stahl, woraus sich wiederum neue Fragestellungen für die Gelotologie ergeben haben. Wir werden aber sehen, daß dieser Streit im 18. Jahrhundert nicht entschieden werden konnte und sich im 19. Jahrhundert aufs neue erhob. Endgültig entschieden ist er ja auch heute noch nicht. Und schließlich werden wir sehen, auf welche Weise sogar der 929 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ansonsten so lachfeindliche deutsche Pietismus seinen Teil zur Analyse des Lachens beigetragen hat, und, so paradox das auch klingen mag, sogar zur Analyse seiner weltlichsten und »heidnischsten« Form in Gestalt des durch eine überwältigende Pointe ausgelösten ekstatischen Gelächters, das völlig unverfügbar aus uns herausplatzt. Aber weil im Zentrum pietistischen Interesses der Durchbruch zur Wiedergeburt aus einer krisenhaften Situation steht, hat der Pietismus durch diesen Kult der Innerlichkeit und der Selbstbeobachtung eine ganz neue Sensibilität für den Blick auf Befindlichkeiten geschaffen, der, wenn man ihn entschlossen säkularisiert, auch den Blick für ganz profane Krisen- und Durchbruchs-Erlebnisse aller Art schärft und dadurch sichtbar werden läßt, wie diese den ganzen Menschen ergreifen und vom Grund her aufwühlen. So gesehen sind wir heute alle auf irgendeine Weise Erben des deutschen Pietismus, wenn wir anthropologische Forschung betreiben, und sollten dies auch wissen und respektieren. 2.12.6.2 Britische Vorgaben: Die Emanzipation von Hobbes Wie wir gesehen haben, folgt Shaftesburys Philosophie generell dem Impuls: »Los von Hobbes!« und dieses Streben nach umfassender Emanzipation von Hobbes prägt auch die Überlegungen von Shaftesburys Schülern, deren wichtigster für unsere Fragestellung Francis Hutcheson ist, weil er für die Klärung einiger moralphilosophischer Aspekte des Lachens entscheidende Beiträge geliefert hat. Francis Hutcheson (1694–1746), Professor für Moralphilosophie in Glasgow, tat dies in seinen Reflections upon Laughter and Remarks upon the Fable of the Bees, die 1725 im Dubliner Weekly Journal als Folge von Artikeln und 1729 als Buch erschienen, wofür Hutcheson das programmatische Pseudonym »Philomeides« wählte, was man mit »Lächelfreund« oder »Gernlächler« übersetzen könnte. Dieses Werk erlebte mehrere Auflagen und wurde in der Ausgabe von 1750 nochmal 1971 nachgedruckt.96 Die Artikelserie, in deren Rahmen Hutchesons Beiträge erschie930 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nen, hatte die Natur des Komischen und des Lachens zum Thema, woraus man schließen darf, daß dieses Thema damals wohl von öffentlichem Interesse war, und als einer der Beiträger auch die Theorie von Hobbes vertrat, wandte sich Hutcheson mit all der polemischen Schärfe, die im Rahmen eines öffentlich geführten Disputes überhaupt möglich ist, gegen die Hobbessche Verabsolutierung des aggressiven Auslachens-von-oben und stellte in enger Anlehnung an Shaftesbury seine eigenen Überlegungen vor. Ansatzpunkt für Hutcheson ist die Definition des Komischen in der Poetik des Aristoteles, wobei Hutcheson aber eigens betont, Aristoteles habe damit nur eine bestimmte Art von Gelächter erfaßt, ohne die Absicht, damit eine Definition für alle Arten von Gelächter zu bieten, denn derer gebe es unendlich viele. Demgegenüber habe Hobbes das Lachen ganz dogmatisch auf eine einzige Art von Gelächter reduziert und damit eine Theorie des Lachens von offenkundiger Absurdität (palpaple absurdity) (S. 6) geliefert, die man nur als widernatürlichen Unsinn (ill-natured nonsense) (S. 6) bezeichnen könne, wenn er uns mit seiner reduktionistischen Theorie glauben machen will, Lachen sei letztlich nichts anderes als die Bekundung eines plötzlichen Gefühls der Überlegenheit. Dann zitiert Hutcheson ausführlich aus dem neunten Kapitel von Human Nature und der dort vertretenen These aus dem Geiste von Augustinus und La Rochefoucauld und bemerkt dazu sarkastisch: »Sein großer Wurf bestand also darin, alles menschliche Verhalten einzig aus der Eigenliebe (Self-Love) abzuleiten; aber unglücklicherweise hat er dabei alles übersehen, was im menschlichen Verhalten großzügig und sanftmütig ist.« (S. 6)

Diese extrem reduktionistische Sicht menschlichen Verhaltens aber sei bestenfalls die von klein Moritz oder die eines Feiglings und Angsthasen, der jeder Art von Freundschaft, Liebe und Geselligkeit mißtraut und überall nur Heuchelei, Eigennutz, Mißgunst, Angst und Sorge wittert. Im Gegensatz dazu müsse man sich an dem deutschen Aufklärer Samuel Pufendorf (1632–1694) orientieren, der in seinen rechtsphilosophischen Schriften unter Berufung auf Aristoteles schon ge931 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gen Hobbes eingewendet habe, nicht der rücksichtslose Egoismus und der Krieg aller gegen alle seien Ausgangspunkt und Ziel menschlichen Verhaltens, sondern Friedfertigkeit und Geselligkeit, eine These, die ja auch Shaftesbury selbst in seinem Lehrbrief Sensus communis vertreten und zur Grundlage seiner Philosophie bestimmt hatte, und die dann auch zum Gemeingut der gesamten Aufklärung erhoben worden ist. Weil also nicht der Krieg aller gegen alle, sondern Geselligkeit das wahre Wesen des Menschen sei, müsse, so Hutcheson, auch das Lachen aus eben dieser Quelle stammen. Mit einem Wort: Das wahre Lachen ist das gesellige Lachen, und damit ein Lachen, das die Menschen nicht trennt, sondern verbindet. Wir könnten auch sagen, das gesellige Lachen sei das Lachen aus dem Geiste der großen historischen Kompromisse nach dem Vorbild der Pax Romana. Dann zeigt Hutcheson die Schwachpunkte der Hobbesschen Theorie im einzelnen auf, indem er immer wieder auf den ihr immanenten reduktionistischen Impuls verweist. Sein zentraler Einwand lautet: Wenn Lachen, wie Hobbes unterstellt, ausschließlich auf dem mißgünstigen Vergleich der eigenen Person und der eigenen Verfassung mit anderen Personen und deren Verfassung gegründet wäre, dürfte man auch nicht lachen können, wenn man zufällig mal keinen derartigen Vergleich anstellt. Und außerdem müßte man auch bei jedem Vergleich lachen, bei dem die eigene Überlegenheit offenkundig wird. All dies sei aber durchaus nicht der Fall, sondern »das genaue Gegenteil« (S. 10). Und dann folgt gleich das zweite, nicht weniger gewichtige Argument: »Wenn Lachen tatsächlich aus der Vorstellung unserer Überlegenheit entspringen würde, dann müßte die Freude darüber umso heftiger sein, je unterlegener uns jemand vorkommt; und je mehr uns jemand gleichen würde, bzw. je ähnlicher uns jemand in seinem Verhalten wäre, desto weniger würde uns dies zum Lachen reizen.« (S. 10 f.)

Wir sehen aber, so Hutcheson, daß auch hier das genaue Gegenteil der Fall ist, weil wir eben sehr viel häufiger auf Augenhöhe scherzen und lachen, oder, wie Hutcheson es selbst formuliert, weil unser Lachen meist gebunden ist an eine »chearful conversation among friends« (S. 14). Das aber heißt in letzter Konsequenz, daß unser Lachen über932 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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haupt erst »unser Lachen« im Sinne von Cicero ist, wenn wir auch über uns selbst lachen, und damit ist der Humor als Fähigkeit und Bereitschaft, auch mal über sich selbst zu lachen, zu einem neuen Verhaltensideal heiterer Geselligkeit erhoben und der Nomos des traditionellen lachsoziologischen Modells eutrapelistischer Heiterkeit um einen wichtigen Aspekt erweitert, der nun in das Ideal des Gentleman integriert werden kann: Der Gentleman zeichnet sich also u. a. dadurch aus, daß er aufgrund seiner souveränen Selbstdistanz in bestimmten Situationen auch über sich selbst lachen kann, ohne an Selbstachtung und Ansehen zu verlieren. Und daran schließt sich sofort das nächste Argument: »Stolz (pride) oder eine hohe Meinung von uns selbst müßte dann ja völlig unvereinbar sein mit Ernst und Würde, weil jeder, der irgendeine Art von Überlegenheit in sich fühlt, ständig lachen müßte. Und die gescheitesten Leute, wie z. B. die Philosophen, müßten sich geradezu wälzen vor Gelächter, und eben dieses Gelächter wäre dann das wahre Kennzeichen des Philosophen, nicht der lange Bart. Und das heißt wieder: Einzig der notorisch lachende Demokrit wäre ein echter Philosoph.« (S. 12)

Hier schießt nun aber auch Hutcheson selbst weit übers Ziel hinaus, denn in all seinem Eifer, Hobbes zu widerlegen und lächerlich zu machen, unterschlägt er gerade das Element der Hobbesschen Theorie, das seiner zeitbedingten Bürgerkriegs-Philosophie am allerwenigsten verpflichtet ist, weil es eine allgemein menschliche Erfahrung benennt. Ich meine das Durchbruchs-Erlebnis des Plötzlichen. Hobbes hatte ja nie von pride, glory oder eminency allein gesprochen, sondern immer und ausdrücklich von sudden glory, vom überwältigenden Erlebnis plötzlicher Überlegenheit oder plötzlicher Erleichterung, die einen explosionsartig hochreißt und sich in einem ekstatischen Lach-Paroxysmus manifestiert. Vielleicht hat Hutcheson sogar selbst gemerkt, daß er sich mit seiner Polemik gegen Hobbes etwas vergaloppiert hatte, denn er bricht die Auseinandersetzung mit Hobbes und seinen Epigonen alsbald ab und wendet sich einer anderen Frage zu: der Unterscheidung zwischen den Gründen und Anlässen zum Lachen und dem Lachen selbst. Er moniert nämlich, man habe bisher nie genau genug zwischen den Bedeutungen von Laughter und Ridicule unterschieden, 933 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»wobei das letztere nur eine spezielle Form (particular species) des ersteren ist, wenn wir z. B. über die Verrücktheiten anderer lachen, und in diesem Fall mag es darin begründet sein, daß jemand sich diese Überlegenheit einbildet. Aber dann gibt es ja noch ungezählt viele andere Situationen, in denen gelacht wird, ohne daß man sich über jemanden lustig macht, und außerdem auch noch solche Situationen, in denen jemand lacht, ohne sich mit irgendwem oder irgendwas zu vergleichen.« (S. 13)

Was kann er damit gemeint haben? »Laughter« heißt eindeutig »Lachen oder Gelächter aller Art«; »ridicule« hat als Substantiv die Bedeutung »das Lächerliche«, bezeichnet aber auch Hohn und Spott von unterschiedlicher Aggressivität, wie dies auch in Shaftesburys test of ridicule der Fall ist, der sowohl als Versuch zu verstehen ist, etwas lächerlich zu finden, d. h. das Lächerliche an ihm zu entdecken und zu benennen, als auch als Versuch, etwas lächerlich zu machen. Aber, so muß Hutcheson sich fragen lassen, ist »ridicule« tatsächlich nur eine besondere Form des Lachens selbst, oder ist es nicht vielmehr eine besondere Form von Geloiastik, also eine besondere Form der Erregung von Gelächter aller Art, ein besonderer Lach-Anlaß? Sonderlich genau argumentiert also auch Hutcheson hier nicht, und dadurch wird deutlich, wie notwendig die Einführung des Terminus »Geloiastik« war. Aber diese Grenzverwischung zwischen Geloiastik und Gelotologie hat leider Tradition bis herauf zu Nietzsche, Bergson und Ritter, wenn Bergson und Ritter z. B. im Titel eine Abhandlung über das Lachen ankündigen und dann eine Theorie des Komischen bieten 97 oder wenn Nietzsche etwas über das Komische 98 ankündigt und dann eine Theorie über den Ursprung des Lachens bietet. Im zweiten Artikel geht Hutcheson auf Fragen der Geloiastik ein und untersucht einige Gründe und Anlässe, die uns zum Lachen bringen, insbesondere verschiedene Formen von Komik, wobei er einige Anregungen des »ingenious Mr. Addison« (S. 16) aufgreift. Gemeint ist damit der Essayist Joseph Addison (1672– 1719), der als der berühmteste Mitarbeiter der beiden Wochenschriften Tatler und Spectator galt und im Spectator u. a. einen Traktat über die Vergnüglichkeiten der Einbildungskraft (Pleasures of Imagination) veröffentlicht hatte. 934 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Für Hutcheson gibt es v. a. zwei geloiastische Effekte, den Kontrast und die Überraschung, und deshalb kommt er zu dem Ergebnis: »Der Kontrast zwischen den Ideen der Größe, Würde, Heiligkeit und Vollkommenheit einerseits und den Ideen der Mittelmäßigkeit, Niedrigkeit und Profanität andererseits scheint das zentrale Element (spirit) am komischen Effekt zu sein, und der größte Teil unserer Spöttereien und Scherze gründet sich eben darauf. (…) Außerdem werden wir zum Lachen gebracht, wenn der Verstand dadurch überdehnt wird, daß wir beim Vergleichen Verschiedenheiten als Ähnlichkeiten behandeln.« (S. 19)

Das letztere gilt vor allem beim Spiel mit Worten und Bedeutungen, auf das schon Aristoteles verwiesen hat und in der rhetorisch orientierten Diskussion über das Komische immer als zentrales Thema behandelt worden ist. Es wird auch, wie wir gleich sehen werden, bei der von Christian Wolff und seinem Schüler Georg Friedrich Meier vorgelegten Apologie des Witzes und des Scherzes als zentrales Thema wiederkehren. Wenn man will, kann man dieses Spiel mit prädikativen »Internuncien« (Herder) und »Bisoziationen« (Koestler) auch als eine Form des Spielens mit Kontrasten verstehen, aber alle diese Spiele gründen sich auf den vergnüglichen Überraschungs-Effekt (pleasure of surprise) (S. 21), genauer: auf den vergnüglichen Effekt einer unbedrohlichen und deshalb erleichternden Überraschung, was sich nun wiederum fast mit der Hobbesschen Theorie der sudden glory deckt, da auch die Überraschung immer das Moment des Plötzlichen enthält, und auch die Entdeckung der eigenen Überlegenheit eine überraschende Entdeckung ist. Als weitere Gründe, die uns zum Lachen bringen können, führt Hutcheson Stürze aller Art an, die mit grotesken Verrenkungen des Körpers verbunden sind (S. 21), unfreiwillige Selbstbeschmutzungen (S. 21) und natürliche Körperfunktionen, die man normalerweise nicht in der Öffentlichkeit vollzieht (S. 21), Beispiele also, die auch schon Joubert angeführt hatte und die man ebenfalls wieder als Kontrast zwischen dem Erwarteten und dem tatsächlich Vollzogenen bzw. als überraschende, aber ungefährliche Abweichung von der erwarteten Norm verstehen kann, unabhängig davon, ob 935 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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diese erwartete Norm eine gesellschaftliche oder die natürliche Norm des »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne Goldsteins darstellt. Auf diesen Nenner lassen sich im Grunde alle Beispiele bringen, die Hutcheson sonst noch anführt, wie z. B. extrem dämliches, aber ungefährliches Verhalten (S. 21). Da die Kontrast-Theorie so überzeugend ist, kommt Hutcheson zu dem Ergebnis, daß sogar die Hobbessche Theorie des Lachens sinnvoll sein kann, aber nur dann, wenn man sie mit Shaftesburys test of ridicule verbindet, wobei dann eine Art zu lachen entsteht, auf die wir schon bei den Kynikern gestoßen sind und die Hutcheson als »biting laughter« (S. 21) bezeichnet, als beißendes Gelächter, gleichsam als fröhliche Wissenschaft mit Biß. Gemeint ist damit das respektlos trotzige Auslachen-von-unten, mit dem man Aufdringlichkeiten und Anmaßungen aller Art zurückweist und sich in einem plötzlichen Gefühl eigener Überlegenheit lachend darüber erhebt. Auf diesem Prinzip beruht z. B. der politische Witz als Akt politischer Selbstbehauptung vor den Anmaßungen gottgleicher Potentaten und mündet immer in der Entdeckung: Der Kaiser ist ja nackt! Da dieses Prinzip des tests of ridicule auch der literarischen Parodie zugrunde liegt, weist Hutcheson in seinem dritten Artikel mit großem Nachdruck darauf hin, wo die Grenzen der Parodierbarkeit liegen. Er gibt zwar unumwunden zu, daß es auch Parodien und Travestien der ganz großen Autoren gibt und nennt hier Homer und Vergil, betont aber, daß all diese Travestien die Verehrung für diese Autoren nicht zu mindern vermag, weil eben nur angemaßte Größe und Erhabenheit beim test of ridicule durchfallen, wahre Größe und Erhabenheit aber verlach-resistent sind (S. 28 f.) und der »application of ridicule« (S. 29) problemlos standhalten. Dieser Gedanke wird einige Seiten später nochmal aufgegriffen und durch die Unterscheidung zwischen wahrer und angemaßter Erhabenheit weiter vertieft, wenn Hutcheson schreibt: »Wenn irgend etwas im Vergleich mit uns selbst als groß erscheint, oder wenn man drauf und dran ist, in Verehrung zu ersterben, wenn etwas also geradezu zum Fürchten ist, so mag ein schwaches Gemüt dazu neigen, in panischem, unvernünftigem und ohnmächtigem Schreck davon zu laufen. Aber durch unseren Sinn für das Lächerliche

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(sense of ridiculous) sind wir in diesen beiden Fällen befähigt, diese Versuchung zur angenehmen Selbstpreisgabe (well-wither) zurückzuweisen, weil wir auch noch über andere und effektivere Mittel verfügen als das feierliche und gemessene Argumentieren. Denn nichts ist so gut geeignet, angemaßter Größe (false grandour) entgegenzutreten, sei es nun guter oder böser Natur, als sie lächerlich zu machen. Nichts kann uns besser vor der Versuchung bewahren, vor scheinbarer Größe in Verehrung zu ersterben, oder durch das, was vielleicht wirklich groß ist, verführt zu werden, und das, was in Wahrheit bloß banal ist, zu akzeptieren und nachzumachen.« (S. 32)

Damit ist Hutcheson eigentlich schon bei Überlegungen für ethisch-moralische Regeln beim Einsatz des test of ridicule angelangt, um die Grenzen zu klären, innerhalb derer dieser Test sinnvoll angewendet werden kann, und dadurch dessen Mißbrauch zu verhindern, der ja immer und überall möglich ist. Hutcheson nennt zwei Regeln, deren erste lautet: »Entweder niemals das lächerlich machen, was auf irgendeine Art bedeutend (great) ist, ob es nun ein bedeutendes Wesen (being), eine bedeutende Person oder ein wahrhaftiges Gefühl ist; oder, wenn unser Witz (wit) manchmal in banalen Situationen selbst in die Irre geht und sich zu allzu großen Gefühlen versteigt, niemals in Gesellschaft derer etwas lächerlich machen, die kein Gespür für wahre Größe haben.« (S. 35)

Im Hinblick auf Objekte, die von »gemischter Natur« und teils groß, teils banal sind, soll die andere Regel gelten: »Niemals das Banale lächerlich machen, wenn man nicht zugleich anerkennt, was wirklich bedeutend ist und die dementsprechende Verehrung dafür hegt.« (S. 35)

Mit diesen moralischen Überlegungen zum Einsatz des test of ridicule, oder, wie wir auch sagen könnten, zu einem Nomos der aggressiven Kultur des Verlachens, der als das ästhetisch-moralische Gewissen des aggressiven Verlachens dem Nomos der eutrapelistisch heiteren Kultur des Belachens an die Seite tritt und diesen ergänzt, hat sich Hutcheson als der beste Schüler Shaftesburys erwiesen, der, wie jeder gute Schüler, die Lehren des Meisters nicht nur bewahrt, sondern auch ergänzt und weiterführt. Ein wichtiger, wenn auch vielleicht sogar unbeabsichtigter 937 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Nebeneffekt von Hutchesons Regelwerk besteht darin, daß damit Verlachen und Belachen als die zwei wichtigsten Grundformen des Interaktions- und des Bekundungs-Lachens gleichrangig nebeneinander gestellt werden und daß damit zugleich auch dem moralisch geregelten und dadurch gerechtfertigten aggressiven Verlachen der Ruch des Verwerflichen genommen ist, den das ungeregelte aggressive Verlachen seit den Tagen Platons und Augustins an sich hatte. Aber auch mit einem anderen Gedanken betritt Hutcheson gelotologisches Neuland, denn nachdem er auf der Grundlage der Kontrast-Theorie erst einige geloiastische Effekte geklärt hat, geht er im dritten Beitrag auf einige Effekte des Lachens selbst ein. Daß Lachen entspannt, wissen wir seit Aristoteles und Cicero, daß es aber auch ansteckend (contagious) (S. 27) wirken kann, ist ein Aspekt, den schon Shaftesbury erkannt und eigentlich auch gefürchtet hatte, den Hutcheson aber ohne Vorbehalte als Phänomen akzeptiert und für klärungsbedürftig hält: »Wie andere affektive Anmutungen (affections) ist auch Lachen sehr ansteckend (very contagious). Unsere ganze Natur ist so auf Geselligkeit angelegt (sociable), daß das heitere Betragen eines einzigen als Heiterkeit auf viele andere überströmen kann; denn es sind eben nicht alles Narren, die zum Lachen neigen, schon bevor sie einen Scherz gehört haben.« (S. 27)

Durch diesen Hinweis auf das Resonanz-Lachen ist Hutcheson, soweit ich sehe, der erste, der einen Blick für die atmosphärischen Valenzen des Lachens hat, dafür also, daß gemeinsames Lachen die Signatur der Atmosphäre ist, die sie schafft und zugleich »denotiert«. Dies aber gilt für alle Arten von kollektivem Gelächter, nicht nur für das humorvoll heitere eutrapelistische Lachen in einer entspannten Situation, sondern auch für das hoch aggressive Lachen einer Lach-Meute, die ein wehrloses Lach-Opfer durch ihr vernichtungslüsternes Verlachen in katastrophale Scham 99 zu treiben sucht. Dies gilt eigentlich auch für das Verlachen, das letztlich in wohlwollender Absicht geschieht, wie dies in der aufklärerischen Verlach-Komödie der Fall ist, und deshalb schließt Hutcheson noch eine kurze Rechtfertigung eben dieser Verlach-Komödie an, da die938 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ses Verlachen ja im Namen der Vernunft geschieht und einem letztlich wohlwollenden pädagogischen Impuls folgt. Lessing hat dies etwas genauer gesehen, wenn er im 28. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie auf die Probleme dieser Verlach-Komödie eingeht und die rhetorische Frage stellt: »Wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich (d. h. erregt Gelächter). Aber lachen (i. S. v. belachen) und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen.« (10,134)

Im 29. Stück führt er diesen Gedanken weiter aus und schreibt: »Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerlichen (d. h. Gelächter erregenden) Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt im Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken; es unter Bemäntelungen von Leidenschaft und Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken.« (10,134)

Hätte Lessing sich der Terminologie von Christian Wolff bedient, so hätte er wohl geschrieben, der wahre allgemeine Nutzen der Komödie liege in der Übung, Schärfung und Vervollkommnung des Witzes, denn Witz ist laut Wolff die Fähigkeit, das Ähnliche im Verschiedenen zu entdecken, genau wie dies bereits Hutcheson formuliert hatte, und damit zugleich auch das, was uns zum Lachen bringen kann. All das, was uns zum Lachen bringen kann, bezeichnet Lessing als das Lächerliche, wofür ich aber lieber den Begriff des Geloiastischen verwenden will, damit der Begriff des Lächerlichen frei wird für die Bezeichnung all des Geloiastischen, das Verlachen auslöst, im Gegensatz zum Komischen, das ein Lachen auslöst, das ich im folgenden als »Belachen« bezeichnen will. Damit ergibt sich für uns die Prädikatorenregel: Komisches wird belacht; Lächerliches wird verlacht; und Komisches und Lächer939 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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liches sind zwei Formen des Geloiastischen neben vielen anderen. Ich orientiere mich dabei etwas an Jean Paul, der in seiner Vorschule der Ästhetik unter § 28 diese Unterscheidung nahelegt: »Verlachen, d. h. vernichtendes Lachen, entspringt in edleren Naturen aus moralischem Unwillen; dagegen verlacht die Frivolität das Gute, und dieses vor Allem.« (49,109)

2.12.6.3 Wolffs Apologie des Witzes Paul Böckmann, auf dessen berühmte Studie über das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung ich schon einmal zurückgegriffen habe, zitiert dort u. a. auch Friedrich von Hagedorn, der das Ideal anakreontischer Geselligkeit als eine Situation beschreibt, »wo Anmut Witz gebiert und Witz ein sichres Scherzen« (S. 476). Was unter Anmut zu verstehen ist, glauben wir auch heute zu wissen, aber was der von Anmut gestiftete Witz sei, der dann wiederum ein geschmackssicheres Scherzen ermöglicht, muß eigens geklärt werden, weil sich in diesem Wortfeld seit dem frühen 18. Jahrhundert einiges an Bedeutungswandel ergeben hat. Klar ist, daß diese geschmackssichere Kunst des Scherzens in der Tradition der ars iocandi et ridendi steht, auf die wir schon im Kapitel über die Renaissance ausführlich eingegangen sind, und daß diese Kunst des Scherzens immer noch das Ziel hat, »unser Lachen« zu ermöglichen. Und geschmackssicher muß dieses Scherzen sein, weil ein geschmackloses Scherzen gegen den Nomos der eutrapelistischen Lachkultur verstoßen würde, wenn er bei den Umstehenden Zorn oder Scham erzeugt. Klar ist auch, daß die geforderte Sicherheit des Geschmacks 100 in das jeweilige normative Verhaltensideal der Gesellschaft eingebunden sein muß, die den jeweiligen Rahmen für das lachsoziologische Modell der Eutrapelie abgibt und daß dieses Ideal das der jeweiligen gesellschaftlichen Elite ist. Im höfischen Ambiente war dies der Cortegiano Castigliones, bzw. der honnête homme Farets oder der Discreto Graciàns, im Rahmen der englischen Clubs und der englischen Gentry war es der Gentleman, wie Shaftesbury ihn beschrieben hat, und in dem gesellschaftlichen Kontext, dem wir 940 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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uns nun zuzuwenden haben, ist es der Anakreontiker aus der Zeit der Pax Romana, wie er in den Gedichten des Horaz geschildert wird, also nicht wie der Höfling oder der Gentleman ein real und aktuell existierender gesellschaftlicher Typus, sondern eine Kunstfigur, ein Rollenfach aus der Literatur. Klar muß schließlich auch sein, daß es hier um den Witz geht, den man hat, nicht um den, den man macht, denn dafür verwendete man damals das Wort »Scherz«. Und um die literarische Gattung Witz, also um den Witz, den man erzählt, geht es schon gar nicht, denn diese literarische Gattung gab es im 18. Jahrhundert noch nicht. Böckmann verweist zur weiteren Klärung des Witz-Begriffs auf Christian Wernicke, der 1697 geschrieben hatte: »Der Witz bestehet in einer gewissen Hitze und Lebhaftigkeit des Gehirns, welche der Klugheit zuwider ist, indem diese langsam und bedachtsam zu Werk gehet. Ein witziger Mann, sagt man (unter Berufung auf Horaz und Quintilian), verliert lieber zehn Freunde als einen guten Einfall, da hergegen ein kluger Mann lieber zehn ganze Gedichte verbrennen, als einen guten Freund verlieren wollte.« (S. 493 f.)

»Klug« steht hier wohl für das Wortfeld »lebensklug/weise/verständig/vernünftig«, nicht aber für »scharfsinnig«, weil man sehr wohl witzig und scharfsinnig sein und sich trotzdem extrem dämlich und taktlos anstellen kann, wenn man sich nicht zu benehmen weiß, sodaß »klug« hier auch die Sicherheit des Geschmacks mit einschließt, denn an anderer Stelle heißt es bei Wernicke zum selben Thema in einem Gedicht als Warnung: »Witz hast du mehr als gnug; Doch schreibst du, wenn du schreibst, als wärst du nicht recht klug; Dein scharf und spitzer Kiel verletzet den Verstand. (…) Und deine Thorheit wird durch deinen Witz berühmt.« (S. 494)

Was Wernicke hier anmahnt, ist also ein Mindestmaß an Takt und Geschmackssicherheit, ein selbstverständliches Wissen darum, wie weit man in bestimmten Situationen seinem Witz, also seiner Begabung, Pointen zu setzen, die Zügel schießen lassen darf, denn Geschmackssicherheit fungiert hier gleichsam als ein ethisch-ästhetisches Gewissen, das genauso spontan und untrüglich urteilt wie 941 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das ethisch-moralische Gewissen. Oder anders formuliert: Die Geschmackssicherheit beim Scherzen ist gegründet im Nomos eutrapelistischer Lachkultur. Daß es daneben auch einen Nomos der mehr oder weniger aggressiven Verlachkultur geben kann, haben wir bei Hutcheson gesehen. Ähnliche Absichten wie Wernicke verfolgt auch der Hallesche Philosoph Christian Thomasius (1655–1728), geht aber ganz andere Wege in seinem Traktat über politische Klugheit 101 von 1710, der sich, wie es im Titel heißt, als Anleitung zu einer »gescheiden Conduite« versteht und dessen achtes Kapitel, das von der Klugheit in bürgerlicher Gesellschaft handelt, u. a. auch auf den Witz eingeht. Witz wird hier mit Geschicklichkeit gleichgesetzt und als »kluge Erwegung und fertige Ergreiffung aller Gelegenheiten« (S. 211) verstanden, was wir heute wohl als »Cleverneß« oder »Pfiffigkeit« bezeichnen würden. Aber diese Bedeutung von »Witz« ist mittlerweile verschwunden und nur ein Rest dieser Bedeutung klingt heute noch nach in Ausdrücken wie »Mutterwitz«, »Aberwitz« oder »vorwitzig« 102. Ganz anders und höchst folgenreich wird das Wort »Witz« hingegen bei Christian Wolff und seinen Schülern besetzt, wo es aus dem ausschließlich ethisch-moralischen Wortschatz gelöst und in den erkenntnistheoretischen und schließlich in den ästhetischen Wortschatz übertragen wird. Wolff, ursprünglich Mathematiker und Logiker, unterscheidet in seiner Deutschen Metaphysik zwischen »witzig«, »sinnreich« und »scharfsinnig« und erläutert diese Nuancen anhand des Prinzips der »Verkehrung«, also im Umgang mit logischen Gegensätzen, und dabei rückt »witzig« in die Bedeutung »einfallsreich/erfindungsreich/fantasievoll«. Über dieses Spiel mit logischen Oppositionen schreibt Wolff, es könne überhaupt nur von solchen Geistern betrieben werden, die in der Lage sind, Ähnlichkeiten und Unterschiede aller Art leicht als solche zu erkennen: »Wer hierzu aufgeleget ist, den nennet man sinnreich. Und die Leichtigkeit die Aehnlichkeit wahrzunehmen, ist eigentlich dasjenige, was wir Witz heissen. Also gehöret ausser der Kunst zu schliessen (d. h. dem Scharfsinn) zum Erfinden auch Witz, und man kan ohne diesen durch jene allein nicht zu rechte kommen: welches die zur Genüge

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erfahren, die sich im Erfinden üben, sie mögen entweder von anderen bereits erfundene Wahrheiten für sich heraus zu bringen suchen, oder aufs neue dencken, oder auch nur darauf acht haben, wie sie von anderen heraus gebracht worden.« (S. 223, § 366)

Ganz analog argumentiert er in seiner Deutschen Ethik, in der er ebenfalls betont, daß zum Erfinden Witz nötig sei (S. 203, § 308). Damit bestimmt Wolff Witz, Fantasie und Scharfsinn als kreative Fähigkeiten, weil alle drei entdeckerhaft operieren und Aha-Erlebnisse aller Art erstreben: Fantasie mehr produktiv, Scharfsinn und Witz mehr rezeptiv ausgerichtet; oder, wie wir auch sagen könnten: Scharfsinn mehr analytisch, Witz und Fantasie mehr synthetisch. Unter § 858 der Deutschen Metaphysik heißt es nämlich: »Wer scharfsinnig ist, der kan sich deutlich vorstellen, auch was in den Dingen verborgen ist und von andern übersehen wird. Wenn nun die Einbildungs-Kraft (also die Fantasie) andere Dinge hervorbringet, die er vor diesem erkannt, welche mit den gegenwärtigen etwas gemein haben; so erkennet er durch dasjenige, was sie mit einander gemein haben, ihre Aehnlichkeit. Derowegen da die Leichtigkeit die Aehnlichkeit wahrzunehmen der Witz ist; so ist klar, daß Witz aus einer Scharfsinnigkeit und guten Einbildungs-Kraft und Gedächtniß entstehet.« (S. 532)

Das heißt aber zugleich auch: »Wo es an Scharfsinnigkeit fehlet, da nimmet man nur Aehnlichkeit wahr, die bald in die Augen fället: hingegen wo man scharfsinnig ist, da entdecket man Aehnlichkeiten, die nicht ein jeder gleich wahrnimmet.« (S. 532 f., § 859)

Denn: »Je mehr einer also Aehnlichkeiten zu entdecken weiß, je mehr hat er Witz und je sinnreicher ist er: ingleichen je verborgenere Aehnlichkeiten einer entdecken kan, je grösser ist sein Witz. Hingegen ist einer mit geringerem Witze begabet, wenn er gar schwerlich Aehnlichkeiten entdecken kan: und ohne allen Witz ist, der nicht sehen kan, wenn ein Ding dem andern ähnlich ist.« (S. 533, § 860)

Gottfried Gabriel bringt Wolffs Unterscheidungen auf die knappe Formel, »daß der Witz Ähnlichkeiten im Verschiedenen, der Scharfsinn dagegen Verschiedenheiten im Ähnlichen entdeckt. Denkt man Unter-

943 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schiede durch begriffliche Grenzen bestimmt, so ist es der Scharfsinn, der neue Grenzen sieht und auch zieht, während der Witz bestehende Grenzen überschreitet.« 103

In jedem Fall aber handelt es sich um ein Absehen-von und ein Hinsehen-auf, und daraus zieht Gabriel die wissenschaftstheoretische Schlußfolgerung: »Der Scharfsinn ist das Erkenntnisvermögen des logischen Denkens in ›scharf begrenzten‹ Begriffen und der Witz das Erkenntnisvermögen des analogischen Denkens in ›Familienähnlichkeiten‹.« (S. 101)

Für Gabriel stehen beide Haltungen in einem ständigen Konflikt, den er als den Konflikt »zwischen ästhetischer und wissenschaftlicher Weltauffassung« versteht, denn: »Im Erkenntnisvermögen des Witzes manifestiert sich die analogischästhetische, im Erkenntnisvermögen des Scharfsinns die logisch-wissen-schaftliche Weltauffassung.« (S. 101)

Wir könnten auch sagen: Der Scharfsinn sucht nach logisch-begrifflicher Exaktheit, der Witz nach phänomenaler Evidenz. Wenn wir diese Unterscheidungen auf unsere Fragestellung nach Wesen, Formen und Funktionen des Geloiastischen und des Lachens übertragen, so gehört unser Thema eindeutig in den Bereich des Witzes, die Gelotologie jedoch selbstverständlich in den Bereich des Scharfsinns wie jede andere Form von Wissenschaft und Philosophie auch. Und natürlich gehört auch Shaftesburys test of ridicule eindeutig in den Bereich des Witzes, ist sogar ein besonders typischer Fall für die Erhebung des Witzes zu einem Prinzip kritischer Erkenntnis, weil das Erkennen geloiastischer Qualitäten wie Komik oder Lächerlichkeit ein besonders dankbares Feld für die Anwendung dieser Art von Erkenntnis ist. Shaftesbury hat ja seinen Lehrbrief über den Sensus communis nicht von ungefähr als Essay on the Freedom of Wit and Humour bezeichnet, auch wenn er das Wesen des Witzes dort nicht eigens und ausführlich definiert, denn das konnte er durch die Vorarbeit von John Locke als bekannt voraussetzen, der in seinem Essay Concerning human Understanding von 1690 wit schon als Form vergnüglicher Erkenntnis 104 bestimmt hatte. Allerdings verschiebt sich schon bei Shaftesbury die Bedeutung von »wit/Witz« weg vom Bereich der Erkenntnis, hin zum Bereich der Poiesis, also weg vom Witz, den man hat, 944 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und hin zum Witz, den man macht. Deshalb unterscheidet Shaftesbury im Gefolge von Aristoteles zwischen »dem feinsten Witze und den unflätigsten Schalksnarrenpossen« (I,80) und fügt eigens hinzu: »Allein diese niedrige Art des Witzes verliert durch die Freyheit des Umgangs sein Ansehn. Denn der Witz ist seine eigne Arzeney. Freyheit und Umgang legen ihn auf seinen rechten Probierstein.« (I,80)

Das heißt aber zugleich auch, daß das Feld des Witzes weit über den Bereich des sprachlich Fixierten hinausgeht, weil Witz, so verstanden, nicht nur nach verborgenen Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen sprachlichen Äußerungen sucht und dabei komische »Internuncien« (Herder) entdeckt und weil Lachen ja nicht nur durch sprachliche Äußerungen ausgelöst wird, sondern weil Witz natürlich auch im außersprachlichen Bereich das Ungestalte als Anlaß für Gelächter aller Art zu entdecken, aber auch zu organisieren vermag. Das muß man immer wieder eigens betonen, weil fast alle Theorien des Komischen prädikativ orientiert sind, weil sie sich von der rhetorisch orientierten Argumentationstradition einfach nicht lösen können. Daß Christian Wolff diese scharfsinnige Unterscheidung zweier verschiedener Weltauffassungen vorgenommen und somit u. a. auch die erkenntnistheoretische Rechtfertigung für Shaftesburys test of ridicule gleichsam nachgeliefert hat, ist eines seiner größten wissenschaftstheoretischen Verdienste, weil dadurch nicht nur die schönen Wissenschaften als eigenständige und legitime Disziplin den altvertrauten Disziplinen als den logischen Wissenschaften der Artistenfakultät an die Seite treten konnten, sondern weil auch die Frage nach der Evidenz des Geloiastischen und nach dem dadurch ausgelösten Lachen mit einer neuen Unschuld gestellt werden konnte. Wolffs Schüler Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier und in gewisser Weise auch Ernst Anton Nicolai haben dies getan, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise und mit sehr unterschiedlichem Erkenntnisinteresse: Baumgarten in der Form, daß er die philosophische Ästhetik als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis«105 begründete; Meier in der Form, daß er eine Kritik der scherzenden Vernunft schrieb 106 und Nicolai mit einer Abhandlung über das Lachen 107, die das Lachen allerdings 945 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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vornehmlich unter physiologischen Aspekten untersuchte und sich deshalb eher am Erkenntnisvermögen des Scharfsinns orientierte. Wissenschaftspolitisch gesehen ist für unsere Fragestellung v. a. der Schritt bedeutsam, den Georg Friedrich Meier über seinen Lehrer Baumgarten hinaus getan hat, weil Meier in seiner dreibändigen Abhandlung Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften von 1748/50 den auf sinnlicher Erkenntnis gegründeten schönen Wissenschaften einen zentralen Platz im menschlichen Leben zuweist und damit letztlich schon Schillers Programm ästhetischer Erziehung im Prinzip vorwegnimmt, wenn er dort im Vorwort schreibt: »Die schönen Wissenschaften beleben den ganzen Menschen. Sie hindern die Gelehrsamkeit nicht, sondern machen sie menschlicher.« 108

Und dazu schreibt Dieter Kimpel: »Indem die Wolff-Schüler gegenüber dem auch bei ihnen unbestrittenen Recht des Kalkülbegriffs die Bedeutung des konkret existierenden Allgemeinen, dem Essenz und Existenz keine Gegensätze sind, am Paradigma des ›poetischen Einzelwesens‹ aufweisen und für die Bildung des ›ganzen Menschen‹ hervorkehren, schärfen sie den Sinn der zeitgenössischen Wissenschaft für Vorstellungs- und Handlungsräume, die sich dem nomologisch rationalistischen Gesetzestypus entziehen und doch nicht als irrational abzutun sind. Bezeichnenderweise verbindet Meier in seinem Bestreben, die gnoseologia inferior (das untere Erkenntnisvermögen) zur gnoseologia superior (dem oberen Erkenntnisvermögen) in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen, eine unverhohlene Präferenz des menschlich vollkommenen und gefälligen Aesteticus gegenüber der ›schulfüchsigen und düsteren Kreatur‹ des Logicus mit dem von solcher Einschätzung ausgehenden Erkenntniszuwachs für Politik und Historie.« (S. 216)

Damit hatte sich Meier am Kreuzweg zwischen oberen und unteren Erkenntniskräften, zwischen formaler Logik und Ästhetik, zwischen »regelgeleitetem rationalistischem Verstand und evidenter urteilsfähiger Sinneserfahrung« (Kimpel, S. 217), zwischen begrifflicher Schärfe und phänomenaler Evidenz, zwischen Scharfsinn und Witz eindeutig den Weg in Richtung Witz gewählt und damit den Weg in Richtung Aufklärung des Geloiastischen und des Lachens. Da Baumgarten aber alle Formen sinnlicher Erkenntnis schon 946 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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als »unteres Erkenntnisvermögen« 109 verstanden hatte, hatte er es auch vermieden, beim noch weiter »unten« lokalisierten, also noch fundamentaleren Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen der Einleibung anzusetzen, wie dies Joubert in seinem Traktat über das Lachen vorgemacht hatte, und war deshalb auf gelotologische Fragestellungen gar nicht weiter eingegangen. Er ging noch nicht einmal der Frage nach, ob nicht auch Shaftesburys test of ridicule eine legitime und vielleicht sogar besonders aufschlußreiche Form sinnlicher Erkenntnis sein könnte, und deshalb können wir Baumgartens Überlegungen zur Ästhetik im Hinblick auf unsere Fragestellung auf sich beruhen lassen, und uns gleich seinem Schüler und Nachfolger Georg Friedrich Meier zuwenden, um zu prüfen, in welcher Art und Weise und mit welchen Erträgen er das Feld des Witzes bearbeitet hat, indem er den Schritt vom Witz zum Scherz und zur Frage nach dem angemessenen gesellschaftlichen Rahmen für eine Kunst des Scherzens tat. Matti Schüsseler, der der Frage nach dem Verhältnis von Witz und Scherz in einer ausführlichen Studie mit dem verheißungsvollen Titel Unbeschwert aufgeklärt 110 nachgegangen ist, setzt bei der aristotelischen Unterscheidung von Akt und Potenz bzw. Wirklichkeit und Möglichkeit an, die auch in der neueren Linguistik seit de Saussure wieder aufgegriffen worden ist, und kommt zu dem Ergebnis: »Ganz im Gegensatz zur heutigen faktischen Gleichsetzung beider Worte im Sinne von ›belustigender Äußerung‹ gibt es jedoch in der damaligen Zeit einen ganz grundsätzlichen Unterschied: Witz bezeichnet eine Fähigkeit – Scherz den pragmatischen Status einer Äußerung. Linguistisch ausgedrückt: Witz ist die Kompetenz, Scherz die Performanz. Scherzhaft dichten und reden heißt im 18. Jahrhundert, von seinem Witz einen bestimmten Gebrauch zu machen. Der Scherz ist die Realisierung einer der vom Witz eröffneten pragmatischen Möglichkeiten, nämlich der Belustigung. Diese kann im heutigen, engeren Sinn die auf Komik basierende Erheiterung meinen, aber auch das bloße Beschreiten einer Kommunikationsebene spielerischer Uneigentlichkeit.« (S. 44)

Oder anders und extrem knapp formuliert: »Witz erzeugt Erkenntnisvergnügen, Scherz zusätzlich Affektvergnügen.« (S. 45) Und wir 947 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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können noch hinzufügen: Beide Arten von Vergnügen sind Aha-Erlebnisse mit einem mehr oder weniger überwältigenden HeurekaEffekt, der das Lachen der Erleuchtung zeitigt. Über die zeitliche Struktur derartiger Aha-Erlebnisse ist damit allerdings noch nichts ausgesagt und muß erst durch die Analyse der Pointenhaftigkeit dieser Aha-Erlebnisse geklärt werden, weil auf diesem Wege vielleicht auch die Art des dadurch ausgelösten Gelächters geklärt werden könnte. Allerdings muß man hier schon ausdrücklich betonen, daß auf dem Weg über Witz und Scherz nur ein relativ kleiner Teilbereich geloiastischer Praxis in den Blick gerückt werden kann, weil eine der rhetorischen Argumentationstradition verpflichtete Kritik des Scherzes ausschließlich die mit sprachlichen Mitteln erzeugte Belustigung und hier wiederum nur die absichtlich und gezielt erzeugte Heiterkeit im Auge hat und über alle Formen unfreiwilliger und nichtsprachlicher Geloiastik relativ wenig auszusagen weiß. Deshalb muß der traditionelle rhetorisch orientierte Ansatz durch bestimmte Erkenntnismethoden gezielt ergänzt werden, um auch die außersprachliche Evidenz des Geloiastischen als solche erkennen und auf den Begriff bringen zu können. Erste Schritte dazu haben wir im Kapitel über Laurent Jouberts Traité du Ris schon getan, und weitere müssen durch die Analyse der Pointenstruktur geloiastischer Phänomene und durch die Analyse des Ekstatischen folgen. Aber wo wäre hier anzusetzen? Anzusetzen wäre z. B. bei Wielands spöttisch-polemischer Frage, wie man denn die Wahrnehmung vielsagender atmosphärisch getönter Anmutungen, die ja immer den ganzen Menschen ansprechen, plausibel erklären könne, wenn man den Menschen in zwei grundverschiedene Substanzen aufteilt und außerdem die Erkenntniskräfte auch so strikt hierarchisiert. Wieland wirft diese Frage in seinem großen antilukrezischen Lehrgedicht Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt auf, das er als blutjunger Student 1751 in Tübingen geschrieben hatte. Dort stellt er im dritten Buch drei erkenntnistheoretische Modelle vor, die in der Tradition von Descartes das Commercium von Körper und Seele erklären sollen, und legt ganz wie Gassendi dies gegenüber Descartes schon getan hatte, den Finger sofort auf die schwächste Stelle des cartesi948 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schen Modells, wenn er auf die zeitgenössische Influxus-Theorie verweist, derzufolge Körper und Seele zwar zwei grundverschiedene Substanzen sind, aber trotzdem durch Lebensgeister oder durch Nervensaft aufeinander einwirken. Und so spricht er den deutschen Hauptvertreter der Influxus-Theorie, Friedrich Hoffmann von der Universität Halle, gleichsam direkt an: »Sag an, der du dem Leib die Seele mischen willt, Wie drücket sich in sie ein körperliches Bild? Wie kann was Theile hat das Ungedehnte rühren? Wie kann der Nervensaft sein Wesen selbst verlieren? Entkörpert sich des Hirns äther’sche Flut vielleicht, Und wird schnell zur Idee, wenn sie die Seel’ erreicht? Und wenn der Nervensaft auch durch geheime Gänge, Die kein Verstand entdeckt, bis in die Seele dränge; Wie kann sein Eindruck doch so oft verändert seyn, Als Bilder andrer Art sich in die Seele streu’n?« (25,62)

Und dann kommt er zu seinem eigentlichen Einwand, zur Unfähigkeit dieser Art von Erkenntnistheorie, die Wahrnehmung von komplexen, synästhetisch wirkenden vielsagenden Anmutungen plausibel auf den Begriff zu bringen, indem er eine anakreontische Arkadien-Atmosphäre beschwört, die wie jede andere Atmosphäre auch, als ganze und mit allen Sinnen und vor allem intuitiv und im Augenblick wahrgenommen, ja gleichsam aufgesaugt wird: »Dich trägt ein hoher Wald von Jovial’schen Eichen, Mit lust’gem Laub umkränzt und duftenden Gesträuchen, Der Sonne wallend Gold wirft dort ein zitternd Licht Auf grüne Wipfel hin, und blendet dein Gesicht; Ein perlenfarbner Bach durchmurmelt hier die Auen, Erfreut, die junge Zucht der Flora zu bethauen; Der Rosen holdes Roth, zwar reizend, doch so schön, Als Chloens Lippen nicht, wenn Zephyrn sie umwehn, Lacht deine Augen an, und hauchet süße Düfte, Den feinen Nerven zu, durch die erwärmten Lüfte; Dieß siehst, dieß fühlest du, der ganze Hain regt sich, Und jedes Blatt wird Ton, und singet froh um dich; Sprich, wie fällt dieses Bild, das du im Augenblicke Von allen Sinnen nimmst, in deinen Geist zurücke,

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Der gänzlich einfach ist? Muß nicht zu gleicher Zeit (Gesetzt, dein Satz sey wahr, den die Vernunft verbeut) Ein ungezähltes Herr von körperlichen Bildern Durch tausendfachen Druck des Safts in ihm sich schildern?« (25,62 f.)

Auf Wielands eigene Lösung des Problems, die in der Annahme eines Ätherleibs besteht, müssen wir hier nicht weiter eingehen, da auch diese Lösung nichts anderes ist als faustdicke vorkritische Metaphysik. Anzusetzen wäre aber auch bei Herders Rehabilitierung der von Wolff so geschmähten »unteren« und »untersten« Erkenntniskräfte, die er in der Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) vorträgt und damit bei seiner These, daß Interesse, Erkennen und Empfinden im Erkenntnisprozeß grundsätzlich Hand in Hand gehen und auch Hand in Hand gehen müssen, denn »Erkennen ohne Wollen ist nichts, ein falsches, unvollständiges Erkennen« (8,45). Oder anders formuliert: »Ist jede gründliche Erkenntniß nicht ohne Wollen, so kann auch kein Wollen ohne Erkenntniß seyn: sie sind nur Eine Energie der Seele.« (8,47)

Das aber heißt: »Die Innigkeit, Tiefe und Ausbreitung, mit der wir Leidenschaft empfangen, verarbeiten und fortpflanzen, macht uns zu den flachen oder tiefen Gefäßen, die wir sind. Oft liegen unter dem Zwergfell Ursachen, die wir sehr unrichtig und mühsam im Kopfe suchen; der Gedanke kann dahin nicht kommen, wenn nicht die Empfindung vorher an ihrem Orte war. Wie fern wir an dem, was uns umgiebt, Theil nehmen, wie tief Liebe und Haß, Eckel und Abscheu, Verdruß und Wollust ihre Wurzeln in uns schlagen; das stimmt das Saitenspiel unsrer Gedanken, das macht uns zu denen Menschen, die wir sind.« (8,18)

Und dann fährt er in offener und unverstellter Polemik gegen die dogmatisch verengte rationalistische Aufklärung im Stil von Christian Wolff fort: »Vor solchem Abgrunde dunkler Empfindungen, Kräfte und Reitze graut unsrer hellen und klaren Philosophie am meisten: sie segnet sich davor, als vor der Höhle unterster Seelenkräfte, und mag lieber auf dem Leibnitzischen Schachbret mit einigen tauben Wörtern und Classificationen von dunklen und klaren, deutlichen und verworrenen Ideen,

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vom Erkennen in und außer sich, mit sich und ohne sich selbst u. dgl. spielen.« (8,18)

Wir könnten auch sagen, jede Art von Erkennen orientiere sich immer auch an einem emotionalen Kompaß. Diese scharfe Polemik macht Herder selbstverständlich nicht zu einem Vertreter der Gegenaufklärung 111, sondern ist lediglich eine aufklärungsimmanente Korrektur der dogmatisch rationalistischen und oberflächlich heiter-optimistischen Variante der Aufklärung, die vor diesen »Abgründen dunkler Empfindungen, Kräfte und Reize« die Augen verschließt. Deshalb muß man Hans Adler entschieden zustimmen, wenn er schreibt, Herders »Gnoseologie des Dunklen« sei »zu ihrer Zeit kein Obskurantismus, sondern eine historische Form der Philosophie- und Wissenschaftskritik«.112 Wie fruchtbar und notwendig diese Korrektur war, wird sich zeigen, wenn wir auf Herders Analyse ekstatischer Phänomene eingehen werden, die für die von Herder bekämpfte Variante der Aufklärung nie ein würdiges Thema waren. Anzusetzen wäre auch bei einem anderen direkten Angriff auf Wolffs Philosophie, der von Kant geführt wurde. Kant beantwortete 1791 die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften, welche Fortschritte die Metaphysik seit den Zeiten von Leibniz und Wolff in Deutschland gemacht habe, nämlich mit dem vernichtenden Argument, eine vorkritische Metaphysik im Stil von Leibniz und Wolff, die nur auf problematischen Urteilen aufgebaut sei, biete lediglich »vermeinte Eroberungen im Felde des Übersinnlichen, wo vom absoluten Naturganzen, was kein Sinn fasset, ingleichen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit die Frage ist« (III,594). Im Gegensatz zu solchen Spekulationen müsse man darauf bestehen, »daß Dinge im Raum, nicht bloß durch Verstandesbegriffe als Dinge an sich, sondern auch ihrer sinnlichen Anschauung nach als Erscheinungen vorgestellt werden müssen, um erkannt zu werden (…) und daß reine Verstandesbegriffe für sich allein keine Erkenntnis abgeben.« (III,614 f.)

Wir werden sehen, welch weitreichende Konsequenzen Kant selbst aus diesen Überlegungen für seinen eigenen Beitrag zur Gelotologie gezogen hat, da er auch im Lachen, ganz im Sinne Herders, »nur Eine Energie der Seele« am Werk sieht. 951 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Anzusetzen wäre aber vor allem bei Schopenhauers Kritik an Wolffs Hierarchie der Erkenntniskräfte, die von Schopenhauer buchstäblich auf den Kopf gestellt wird, wenn er die intuitive anschauliche Erkenntnis zum Fundament jeglicher Erkenntnis bestimmt und die begrifflich reflektierende für sekundär erklärt: »Denn die ganze Welt der Reflexion ruht und wurzelt auf der anschaulichen Welt. Alle letzte, d. h. ursprüngliche Evidenz ist eine anschauliche.« (I,109)

Da diese Polemik gegen das von Wolff praktizierte deduktive Verfahren zugleich die Rehabilitierung der unverfälschten naiv-natürlichen Lebenserfahrung ist, kann Schopenhauer auch direkt gegen Wolffs »Philosopheme« (I,612) gerichtet schreiben: »Daher auch legt der natürliche Mensch immer viel mehr Werth auf das unmittelbar und anschaulich Erkannte, als auf die abstrakten Begriffe, das bloß Gedachte: er zieht die empirische Erkenntniß der logischen vor. Umgekehrt aber sind diejenigen gesinnt, welche mehr in Worten, als Thaten leben, mehr in Papier und Bücher, als in die wirkliche Welt gesehen haben, und die in ihrer größten Ausartung zu Pedanten und Buchstabenmenschen werden. Daraus allein ist es begreiflich, wie Leibniz nebst Wolf und allen ihren Nachfolgern, so weit sich verirren konnten (…), die anschauliche Erkenntniß für eine nur verworrene abstrakte zu erklären!« (I,132 f.)

Macht man sich Schopenhauers Kritik an Wolff in diesem Punkt zueigen, so kommt man nicht umhin, in der Kompetenz, die Wolff als die des Witzes bezeichnet, geradezu ein Musterbeispiel für die Fähigkeit zu anschaulicher Erkenntnis zu sehen, die schlagartig und intuitiv die Evidenz des Komischen und Lächerlichen erkennt und augenblicklich mit Gelächter quittiert, ohne erst lang darüber nachdenken zu müssen, warum das auf diese Weise Wahrgenommene so zum Lachen reizt. Hat man sich ausgelacht, kann man ja immer noch über das Wesen des Geloiastischen und des Lachens nachdenken und es in Begriffe zu fassen suchen. Schopenhauers eigene Erkenntnistheorie beruht auf dem Grundsatz, daß die intuitive Erkenntnis der reflektierenden prinzipiell vorausgeht, sodaß die Operationen des Verstandes lediglich dazu dienen, »jenes unmittelbar Verstandene aufzunehmen, zu fixiren und zu verknüpfen, nie das Verstehen selbst hervorzubringen« 952 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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(I,55). Dies gilt laut Schopenhauer überall dort, wo Entdeckungen und Erfindungen aller Art zu machen sind, also in den Wissenschaften, in den Künsten und, wie sich gleich zeigen wird, auch im Bereich des Heiteren, also überall dort, wo Aha-Erlebnisse aller Art in ein »Heureka!« münden sollen. Schopenhauer selbst erläutert seine Theorie intuitiver Erkenntnis zunächst an berühmten Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte, z. B. an dem fallenden Apfel, der Newton den blitzartigen Einfall eingab, die dann zur Gravitationstheorie führte, und fährt dann fort: »Jede Naturkraft und (jedes) Naturgesetz, jeder Fall, in welchem sie sich äußern, muß zuerst vom Verstande unmittelbar erkannt, intuitiv aufgefaßt werden, ehe er in abstracto für die Vernunft ins reflektirte Bewußtseyn treten kann. (…) Daher sind auch jene großen Entdeckungen alle, eben wie die Anschauung und jede Verstandesäußerung, eine unmittelbare Einsicht und als solche das Werk des Augenblicks, ein apperçu, ein Einfall, nicht das Produkt langer Schlußketten in abstracto; welche letztere hingegen dienen, die unmittelbare Verstandeserkenntniß für die Vernunft, durch Niederlegung in ihre abstrakten Begriffe, zu fixiren, d. h. sie deutlich zu machen, d. h. sich in den Stand zu setzen, sie Anderen zu deuten, zu bedeuten.« (I,55 f.)

Er hätte aber auch auf unmittelbare Einsichten jenseits der Wissenschaften und Künste verweisen können, z. B. auf Bekehrungserlebnisse oder sonstige Durchbrüche, die ebenfalls »das Werk des Augenblicks« sind, zieht es aber vor, seine Theorie intuitiver Erkenntnis am Beispiel des Geloiastischen deutlich zu machen, wo sie ganz besonders einleuchtend ist, weil nur der von Schopenhauer behauptete prinzipielle Vorrang des intuitiv Erkannten vor dem diskursiv und reflektiert Erkannten verständlich machen kann, warum man Pointen oder die überwältigende Komik bestimmter Situationen niemandem erklären kann, der diese Komik nicht selbst schon intuitiv erkannt und mit Lachen quittiert hat. Wenn man dies trotzdem versucht, wird man durch derartige Erklärungen nie Lachen auslösen können, weil nur das selbsterkannte Risible Lachen freisetzen kann. Die intuitive Erkenntnis des Risiblen und das dadurch ausgelöste Lachen gehören also immer zusammen und sind in ihrer Zugleichheit immer ein »Werk des Augenblicks«, 953 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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eine Reaktion ohne Reaktionszeit. Aber warum ist das so? Und warum muß es auch so sein? Schopenhauer selbst erklärt es in dem berühmten Kapitel Zur Theorie des Lächerlichen damit, daß bei intuitiver Erkenntnis der Weltwille, der in all seinen Objektivationen ganz und ungeteilt und deshalb auch gleichzeitig und zugleich vorhanden ist, sich gleichsam selbst bespiegelt, wenn der Umweg über den Intellekt vermieden wird. »Denn das Anschauen ist die ursprüngliche, von der thierischen Natur unzertrennliche Erkenntnißweise, in der sich Alles, was dem Willen ein unmittelbares Genügen giebt, darstellt: es ist das Medium der Gegenwart, des Genusses und der Fröhlichkeit: auch ist dasselbe mit keiner Anstrengung verknüpft. Vom Denken gilt das Gegentheil.« (II,115)

Dies deshalb, weil Denken Zeit braucht, nicht im Augenblick geschehen kann und daher den zu bedenkenden Phänomenen immer hinterdrein hinkt. Das hatte schon Laurent Joubert so gesehen und damit erklärt, daß das Risible vom Herzen wahrgenommen wird und nicht vom Gehirn, und das Herz überhaupt weitaus schneller wahrnimmt als das Gehirn, also durch Einleibung in leiblicher Resonanz mit dem Risiblen. Wenn man der hoch spekulativen Willens-Metaphysik Schopenhauers nicht folgen will, wofür es gute Gründe gibt, und nur seine Beschreibung der Phänomene selbst gelten läßt, so bietet sich eine viel plausiblere Erklärung für die intuitive augenblickliche Wahrnehmung geloiastischer Phänomene ohne Reaktionszeit an, wenn man mit Hermann Schmitz intuitive Wahrnehmung als eine Form von Einleibung versteht, die ja tatsächlich ohne Reaktionszeit erfolgt und somit immer und grundsätzlich »das Werk des Augenblicks« ist. Das würde heißen, daß auch die Wahrnehmung des Risiblen durch Einleibung erfolgt, die ja laut Schmitz die Grundlage jeglicher Wahrnehmung ist. Und so ist es auch! Doch hier taucht sofort ein neues Problem auf: Laut Schopenhauer ist das Angeschaute, verglichen mit dem Gedachten, immer im Recht und ist somit »gar nicht dem Irrthum unterworfen, bedarf keiner Beglaubigung von außerhalb, sondern vertritt sich selbst« (II,114 f.). Das würde heißen, daß auch der Lachende mit 954 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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seinem Lachen immer im Recht ist, weil man bei der Wahrnehmung evident risibler Phänomene nicht irren kann, wenn man das evident Risible mit dem eigenen Gelächter in seiner geloiastischen Evidenz erkennt, gleichsam ratifiziert und ad hoc beglaubigt. Nun kennt aber jeder Situationen, in denen unser Gelächter schlagartig verstummt und uns buchstäblich im Hals stecken bleibt, sobald wir merken, daß jemand, dessen Sturz auf uns umwerfend komisch wirkte, sich bei diesem Sturz verletzt hat. Diese Situation wird ja auch schon bei Joubert ausführlich beschrieben und analysiert. Aber dieser Fall ist letztlich doch kein Einwand gegen Schopenhauers Theorie, sondern eher eine Bestätigung, weil diese Erkenntnis im Augenblick des ausbrechenden Gelächters noch gar nicht gegeben war. Sobald sie aber gegeben ist, liegt eine völlig neue Situation vor und zugleich damit eine ganz neue intuitive Anschauung, die zwar noch »das Medium der Gegenwart« ist, aber nicht mehr »das Medium des Genusses und der Fröhlichkeit«, sondern das der Betroffenheit und damit des Ernstes, denn auch der Schmerz des Verletzten, von dem man vorher gar nichts wußte, wird nun durch Einleibung intuitiv und ohne Reaktionszeit mitempfunden. Das von Schopenhauer aufgeworfene Problem ist damit aber noch nicht ganz gelöst, denn es ist ja auch der Fall denkbar, daß jemand angesichts des Verletzten weiterhin lacht. Ist also auch er »dem Irrtum nicht unterworfen« und lacht mit vollem Recht? Des Rätsels Lösung liegt darin, daß dieses Lachen dann ein ganz anderes Lachen ist, kein Bekundungs-Lachen, in dem und mit dem das Komische einer Situation »denotiert« wird, sondern ein InteraktionsLachen, in dem und mit dem jemand jemanden höhnisch verlacht. In beiden Fällen ist das Lachen wahrhaftig, aber nur im ersten Fall wird die Komik der Situation beglaubigt, im zweiten Fall der miese Charakter des Lachenden. Einen vorsichtigen Versuch zur Rechtfertigung intuitiver Erkenntnis gab es allerdings auch schon in der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige 113, die Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange in Halle ab 1748 herausgaben, also in einer der Hochburgen der Aufklärung und gleichsam unter den Augen Christian Wolffs, denn dort findet sich 1751 im 140. Stück ein höchst 955 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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seltsamer Artikel über Sympathie und Antipathie in Form eines Leserbriefes, in dem der anonyme Verfasser in Anlehnung an das Daimonion des Sokrates diese innere Stimme als »innere Stimme der Natur« (III,359) bezeichnet und den ausdrücklichen Rat erteilt, dieser inneren Stimme immer zu folgen, auch wenn dies nur »dunkle Vorempfindungen« (III,359) sind und keine klaren, rationalisierbaren Erkenntnisse. Deshalb bekennt der Verfasser mit sichtbar schlechtem Gewissen: »Es giebt zwar allerdings gewisse Fälle, dadurch die Sympathie und Antipathie erleutert werden kan; allein, es giebt auch welche, die ganz keine Auslegung und Herleitung aus Gründen zulassen. Eine Lehre der Sinlichkeit, die die besondern Dinge abhandelt, würde Gründe an die Hand geben, warum uns bey dem ersten Anblick eine Person gefällt oder mißfällt. Es hat jeder Mensch einen dunklen Begrif von dem Schönen und Häßlichen, ohnerachtet er keine Rechenschaft davon abgeben kan. Dergleichen Sachen fallen mehr in die Empfindung, als in die Kraft der deutlichen Begriffe. Daher mißfällt und gefällt uns oft etwas, ohne daß wir selbst wissen, warum.« (III,353 f.)

Dann stellt der anonyme Verfasser die Vermutung an, daß auch die intuitive Empfindung von Sympathie und Antipathie »nicht ohne Gründe und Gesetze« verlaufe, fügt aber sofort hinzu: »Allein, es ist noch was übrig, das ich nicht zu nennen weiß.« (III,356) Der Verfasser empfindet also intuitive Wahrnehmung als ein »je ne sais quoi«, als ein unerklärliches Etwas, dessen Existenz und Wirkung er zwar spürt, aber mit der ihm zur Verfügung stehenden Terminologie nicht auf den Begriff bringen kann, weshalb er immer wieder seine Ratlosigkeit bekundet und die bange Frage stellt: »Solte man Ahndungen leugnen, weil man sie nicht demonstriren kann? (…) Sokrates nent sie seinen Gott, der ihm dieses verwehre und jenes zulasse. Solten wir nicht, ohne auf die Enthusiasterey oder Aberglauben zu gerathen, eine geheime Stimme der Natur glauben. Man nenne sie, wie man wolle, Antipathie, Sympathie, ich nenne sie die geheime Stimme der Natur. Wo sie herkomme, und worinnen sie bestehe, weiß ich nicht; genug, wenn ich ihr folge, so befinde ich mich sehr wohl. Es sey daß unsere Seele noch eine besondere Kraft habe, oder daß ein gütiger Geist für uns sorge, oder daß ein verborgener Zusammenhang der Dinge in uns Einfluß habe; kurz, es sey was es sey,

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so glaube ich doch nicht, daß man die ganze Sache bloß deswegen leugnen könne, weil man sie nicht begreifen kan.« (III,357 f.)

Man spürt diesem Text an, wie sich hier ein Aufklärer an die Grenzen seiner selbstgewissen Rationalität zum Anderen der Vernunft vortastet und den Versuch unternimmt, die von Wolff so geschmähten »untersten« Erkenntniskräfte intuitiver Wahrnehmung vorsichtig zu rehabilitieren, durch die man vielsagend diffuse, aber unbestreitbare Anmutungen gleichsam »mit dem Bauch« erspürt. Ja, der anonyme Briefschreiber geht sogar so weit, gewisse Formen und Grade von Ergriffenheit und Besessenheit für möglich zu halten: »Ich halte es für möglich, daß Geister auf unsere Seele wirken können, wenn sie noch mit den Leibern verbunden sind: wenn nun dieses geschiehet, so bekomt unsere Seele Eindrücke und Empfindungen, die sie sogleich dem Leibe mittheilet, und dadurch wird der Mensch in einen außerordentlichen Zustand gesetzet.« (III,361)

Ich denke, daß der Verfasser dieses Leserbriefes, der sich unter dem Kürzel »I. H. L.« verbirgt und wahrscheinlich Samuel Gotthold Lange selbst war, die von Herder und Schopenhauer gerechtfertigte intuitive Wahrnehmung im Auge hatte, aber auf die traditionellen Begriffe »Sympathie« und »Antipathie« zurückgreifen mußte, weil ihm keine andere Begrifflichkeit zur Verfügung stand, um sich die Phänomene Einleibung und leibliche Kommunikation verständlich zu machen. In der Analyse von Wolffs Apologie des Witzes hat sich also wieder mal gezeigt, daß die dogmatische Verabsolutierung der rein rationalen Vernunft nicht genügt, geloiastische Phänomene angemessen auf den Begriff zu bringen, weil auch hier nur Anleihen bei der intuitiven Erkenntnis als dem Anderen dieser Vernunft zur Aufklärung des Heiteren beitragen können. 2.12.6.4 Meiers Apologie eutrapelistischer Praxis Georg Friedrich Meiers (1718–1777) Grundlegung und Apologie eutrapelistischer Praxis ruht auf zwei Säulen. Die eine ist seine »Kritik der scherzenden Vernunft«, die er in seinen Gedancken von 957 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Schertzen (1744) vorträgt, die andere ist die Zeitschrift Der Gesellige, die er von 1748 bis 1750 zusammen mit Samuel Gotthold Lange (1711–1781) herausgab und von 1751 bis 1756 unter dem Titel Der Mensch 114 fortführte, und die die Aufgabe hatte, die in seiner Kritik des Scherzens erarbeiteten Erkenntnisse weiter zu verfolgen, einem größeren Publikum vorzustellen und anhand konkreter Beispiele zu erläutern. Außerdem galt es, den gesellschaftlichen Rahmen genauer zu bestimmen, innerhalb dessen eine eutrapelistische Praxis angesichts der damals aktuellen gesellschaftlichen Zustände in Deutschland am besten gedeihen könnte. Die Ziele, die Meier mit diesen beiden Unternehmungen verfolgte, bestehen somit • in der Behebung der deutschen Misere durch die Verbesserung des Geschmacks; • in der Verbesserung des Geschmacks durch die Pflege vernünftiger Heiterkeit; • in der Pflege vernünftiger Heiterkeit durch die Pflege heiterer Geselligkeit; • in der Pflege heiterer Geselligkeit durch die Emanzipation vom Pietismus; • die Emanzipation von der pietistischen Gemeinde durch die Stiftung und Pflege profan-heiterer Lachgemeinschaften in neuen gesellschaftlichen Gruppierungen. Man könnte auch mit Helmuth Plessner sagen, Meiers Ziel sei die Überwindung des pietistischen Gemeinschaftsideals durch ein urbanes Gesellschaftsideal gewesen, wie dies ja schon bei seinen Vorgängern Christian Thomasius und Martin Schmeizel der Fall war. Außerdem geht es Meier um die Klärung bestimmter systematischer Probleme der Geloiastik und Gelotologie 115, was für unsere Fragestellung besonders wichtig ist, sowie um die Apologie der Theodizee, was uns hier nur am Rande interessiert. Meier beginnt die Vorrede zu seiner »Critik der Schertze« mit den Sätzen: »Die Verbesserung des Geschmacks ist eine so edle Beschäftigung, daß sich jederzeit, die erhabensten Geister eines Volcks, derselben unterzogen haben. Dadurch unterscheiden sich, unter andern, die Patrioten eines Landes, von den übrigen Hauffen ihrer Mitbürger, daß sie entweder selbst an der Reinigung des Geschmacks, es sey nun in was für Stük-

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ken es wolle, arbeiten; oder doch dieses lobenswürdige Unternehmen gerne sehen, wünschen, und befördern helfen. Ich habe mich daher, auf eine lebendige Art, zu überzeugen gesucht, daß es die Pflicht eines redlich gesinten Deutschen mit sich bringe, sich zur Parthey dieser Patrioten zu schlagen, und so viel sein Vermögen ihm erlaubt, auf alle mögliche Art, den Geschmack seiner Landsleute feiner zu machen.« (S. 1)

Der Ansatz hierfür ist für Meier die klassische ars iocandi, weshalb er fortfährt: »Ich stehe in der Meinung, daß der verdorbene und pöbelhafte Geschmack am häuffigsten noch in den Schertzen herrsche« (S. 4), insbesondre in den Scherzen, die auf der Schaubühne vorgetragen werden. Damit spielt Meier wohl auf Gottsched und die Neuberin an, die im Herbst 1737 in Leipzig einen, wie sie glaubten, entscheidenden Schritt zur Reinigung des Geschmacks im Theater getan hatten, indem sie in einem eigens geschriebenen Vorspiel den Hanswurst vor ein Gericht des guten Geschmacks gestellt, zum Tode verurteilt und in effigie verbrannt 116 hatten. Mit dieser theatralischen Haupt- und Staatsaktion sollte das Rollenfach Hanswurst oder Harlekin auf ewige Zeiten von der deutschen Bühne verbannt sein. Offenbar fand auch Meier Gefallen an dieser Art von Theaterreform, obwohl er mit Gottsched jahrelang in Fehde lag, weil offensichtlich auch er den Hanswurst als »Gegenfigur des guten Geschmacks« (I,448) empfand und deshalb im 54. Stück seiner Zeitschrift schreibt, es sei »in unsern Tagen der gute Geschmack zu einem solchen Durchbruch gelangt, daß auch die mittelmäßigen Kunstrichter117 die lächerliche Person des Pickelhärings, Polichinello und Hanswurst von dem Theater verbannen.« (I,442)

Meier rechtfertigt diese Verbannung des Harlekin von der Bühne mit dem Argument, Witz verlange das Unerwartete und Überraschende, weshalb eine Bühnengestalt, die »eher aus der Kleidung als aus der Handlung« (I,443) ihre Lächerlichkeit anzeige, nicht wirklich komisch sein könne. Bekanntlich hat Lessing Gottscheds theatralische Haupt- und Staatsaktion als Schildbürgerstreich empfunden und sich im 18. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie darüber lustig gemacht, aber leider nicht auf die viel tiefer greifende Überwindung 959 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Commedia dell’arte-Dramaturgie durch Marivaux verwiesen, der schon 1720 in dem Einakter Harlequin poli par l’amour durch die intensive Psychologisierung dieser Gestalt den Durchbruch des Harlekins von der Chargen-Rolle zur Charakter-Rolle zum Thema gemacht hatte. Und so wie Herder den paradiesischen Adam als »den ersten Freigelassenen der Natur« gefeiert hatte, so könnte man Marivaux’ Harlekin als den ersten Freigelassenen des komischen Rollenfaches, als den zum Charakter und zur komischen Person emanzipierten oder wiedergeborenen Harlekin feiern, der damit genauso schicksalsfähig geworden ist wie es die ernsten Rollenfächer immer schon waren. Die Nähe von Marivaux’ Dramaturgie zu Herders Anthropologie ergibt sich auch aus dem Umstand, daß Marivaux seinen Harlekin diesen Prozeß personaler Emanzipation in einem Akt der Aufrichtung118 erleben läßt, ganz so, wie sich ein Säugling in der Fremdelphase zur Person erhebt. Aber von solchen dramaturgisch-anthropologischen Überlegungen war Meier weit entfernt. Viel dringlicher war für ihn die Klärung der Fragen, was ein geschmackssicherer Scherz selbst sei, wo der feine Geschmack in Deutschland schon angesiedelt sei und was der Verbesserung des Geschmacks noch im Wege stehe. Den argumentativen Rahmen für die ars iocandi boten für ihn natürlich die klassischen Autoritäten Aristoteles, Cicero, Quintilian und Horaz, zu denen als Zeitgenossen auch noch Wolff mit seiner Deutschen Metaphysik und Christian Thomasius mit seiner politischen Klugheitslehre traten, denn bei Thomasius konnte er in dem Kapitel über die Klugheit in täglicher Konversation lesen: »Wenn man mit höheren Personen umgehet / würde es sehr schulfüchsig lassen (wirken)/ wenn man mit einer großen Assemblée gleichsam Lectiones halten wollte. Eine lustige Expression, wenn sie die der Sittsamkeit nicht überschreitet / wird viel besser à propos kommen. Wenn man aber auch mit seines gleichen umgehet / muß man kundig seyn / ob sie nützliche / kluge und gottselige Unterredungen annehmen können / und sich darüber nicht ärgern. Denn die Perlen vor die Säue zu werffen wäre eine sehr grosse Thorheit.« (S. 132) »Im übrigen ist nichts / daß die Warheit und nützlichen Lehren angenehmer machet / als ein zugelassener und höflicher Schertz / denn lä-

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chelnd darff man allezeit die Warheit sagen. Ich sage lächelnd / nicht aber mit vollem Lachen / daran man die Narren kennet; Denn ein Weiser lächelt auch und schertzet bißweilen / aber mit Maßen / und gebraucht sich der Schertz-Reden wie ein Koch des Saltzes. Wer allen Schertz vor unanständig und läppisch ausgiebet / weiß entweder selbst nicht / was er haben will / oder giebet sich bloß / daß er ein grundverdrießlicher und widerwärtiger Kerl sey. (…) Doch muß man im Schertzen wohl beachten / daß man keinen aus der Compagnie damit anzwacke / auch nicht mit zweydeutigen RedensArten; denn ein Schertz muß allezeit unschädlich seyn / und man soll niemanden in der Gesellschaft so geringe achten / daß man andern zu Gefallen ihn sich zum Feinde machen solte.« (S. 133)

Wie wir schon gesehen haben, neigte Thomasius dazu, sich an der höfischen Welt und damit am französischen Vorbild des honnête homme zu orientieren, um das ästhetisch-moralische Gewissen des guten Geschmacks zu kultivieren. Das ließ sich aber schlecht mit Meiers patriotischen Ambitionen vereinbaren, und da auch das englische Vorbild des Gentleman nicht als Nomos zur Kultivierung des ästhetisch-moralischen Gewissens dienen konnte, weil es in Deutschland keine Gentry gab, sah sich Meier gezwungen, den Anakreon des Horaz aus der Ära der Pax Romana zum fiktiven Zeitgenossen zu ernennen und mit einer Runde anakreontisch gesinnter Geselligkeit als gesellschaftlichen Rahmen für die ars iocandi et ridendi vorlieb zu nehmen, die es allerdings erst noch zu bilden galt. Durch diesen Mangel an fester Verortung in der realen zeitgenössischen Gesellschaft tragen alle Überlegungen in Meiers Buch über den Scherz und in seiner moralischen Wochenschrift unverkennbar Züge einer sozialethischen Utopie 119 und verweisen somit auf die leichte Zerbrechlichkeit dieses Konstrukts institutionalisierter anakreontischer Heiterkeit, die Mitte der fünfziger Jahre durch den Schock von Lissabon und den Siebenjährigen Krieg weiter an Wirklichkeitsnähe verlor und in ideologische Verhärtung abglitt. Dieser Mangel an konkreter gesellschaftlicher Verortung konnte auch durch die langfristige Polemik gegen den Pietismus nicht behoben werden, weil mit der Beschwörung und der Feier anakreontischer Adiaphora nur eine Art von »Gesinnungsemigration« (Koselleck) gegen eine andere ausgespielt wurde. 961 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Aber trotz dieser Vorbehalte bieten Meiers Abhandlung über den Scherz und das Scherzen sowie seine Beiträge im Geselligen doch immer noch so viel an systematischen Einsichten zu geloiastischen und gelotologischen Problemen, daß sich eine genaue Analyse dieser Texte sehr wohl lohnt. Da Meier sich aber so eng an den Klassikern der ars iocandi et ridendi orientiert, müssen wir all das, was wir bisher darüber herausgefunden haben, nicht nochmal eigens wiederholen und konzentrieren uns nur auf das, was er an neuen Erkenntnissen, Ergänzungen und Korrekturen auf dem Gebiet eutrapelistischer Praxis anzubieten weiß. Neben diesen problemgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Aspekten darf man aber auch die biographischen und psychodynamischen Aspekte von Meiers gelotologischen Arbeiten nicht übersehen, da sie eben auch Dokumente seiner eigenen Emanzipation von seiner pietistischen Erziehung sind, die er als Zögling des Waisenhauses in den Franckeschen Stiftungen genossen und wohl auch erlitten hat, und wo man ihm natürlich auch die Lebensregeln von August Hermann Francke eingebleut haben wird. Dieser »Pietisten-Knigge« von 1695 umfaßt 30 Regeln, die das gottwohlgefällige Verhalten des Pietisten in allen Lebenslagen sichern sollten. Regel Nr. 24, eine der umfangreichsten, widmet sich dem Lachen, verpönt es unter Berufung auf die klassische Stelle Epheser 5,4 ganz im Stil von Johannes Chrysostomus und Bernhard von Clairvaux, und läßt nur noch den risus cordis als einzige spezifisch christliche Form von Heiterkeit gelten, denn dort heißt es: »Hüte dich vor unnützen Lachen. Alles Lachen ist nicht verbothen. Denn es geschiehet wol / daß sich der Allerfrömmste nicht über weltliche / sondern über Göttliche Dinge also inniglich erfreuet / daß sein Mund mit einem bescheidenen Lachen von der Liebligkeit / die in seinem Gemüthe entstanden / Zeugnüß giebet: Aber es wird gar leicht damit gesündiget / und dem Hertzen zu einer gefährlichen Zerstreuung des Sinnes (B. der Weißheit IX,15) der Weg gebahnet / welches bald wird gewahr werden/ daß es zu leichtsinnig worden / wenn es sich wieder in tieffer Demuth zu dem allgegenwärtigen GOTT nahen will. Insonderheit wenn andere über Schertz und Narentheidung (gemeint ist Eph. 5,4) lachen / so hüte dich / daß du nicht mit lachest. Denn es

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gefället GOtt nicht / warumb gefällt es dann dir? Gefällt es dir aber nicht / warumb lachestu dann darüber? Lachest du / so hast du mit gesündiget. Siehest du ernsthafft / so hast du schon die Sünde in der unnützen Schwätzer ihrem Gewissen gestraffet.« 120

Man könnte auch sagen, hier werde das Verbot der Eutrapelie gleichsam zum 11. Gebot erhoben, und vor diesem Hintergrund wird überhaupt erst deutlich, welch eine Provokation Meiers Theorie des Scherzens und Schmeizels Klugheitslehre für ihre pietistischen Väter und Erzieher gewesen sein müssen und wie sehr sie von ihnen als verlorene Söhne empfunden worden sein müssen. Meier beginnt seine Abhandlung über den Scherz damit, daß er sich erst mal ideologisch verortet, indem er sich strikt von den Pietisten absetzt, jener Art »ernsthafter Leute, welche es überhaupt zur Sünde machen will, wenn man schertzet und lachet« (S. 4) und denen er beweisen will, »daß ein vollkommener Schertz, der ohne allen Fehler ist, einen sehr großen Witz und Scharfsinnigkeit, zwey grosse Vollkommenheiten der Seele, zum Grunde habe, und also unmöglich Sünde seyn könne.« (S. 5)

Dies gilt aber nur für den vollkommenen, gut gelungenen Scherz, nicht für den mißratenen, der zwar auch keine Sünde ist, aber sehr wohl ein ästhetisch-moralisches Ärgernis, weil er von schlechtem Geschmack zeugt. Damit stellt Meier klar, daß seine Unternehmung in den Bereich »der so genannten Aesthetik« (S. 9) gehört, der von seinem Lehrer Baumgarten eben erst neu begründeten »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntniß« (S. 9 f.): »Folglich ist der Schertz eine sinnliche Vorstellung und Rede, und gehört in das Feld der Aesthetik, dieses merckwürdigen Theils, ja ich will sagen, dieses gantzen Inbegriffs der schönen Wissenschaften.« (S. 10)

Da aber diese Wissenschaft, wie jede andere Wissenschaft auch, ein methodisch geregeltes Verfahren ist, gelten auch für die schönen Wissenschaften und damit auch für das Scherzen bestimmte Regeln, die sich wieder auf den guten Geschmack gründen und die es in einer »Critik der Schertze« (S. 8) darzulegen gilt. Da in der spezifisch deutschen Situation aber keine in sich ruhende gesellschaftliche Elite von normativer Kraft vorhanden sei, zu deren Nomos eben auch der gute Geschmack gehören würde und auf die 963 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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man problemlos verweisen könnte, könnten diese Regeln nicht empirisch soziologisch, sondern nur philosophisch-anthropologisch und erkenntnistheoretisch ermittelt werden. Die Kriterien dafür sieht Meier in den »Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten der sinnlichen Erkenntnißkräfte der Seele, insonderheit des sinnlichen Witzes und der Scharfsinnigkeit. Aus diesen Quellen müssen die Regeln der Beurtheilung und Einrichtung eines Spaßes, erwiesen werden.« (S. 13)

Damit aber kein Mißverständnis über die Tragfähigkeit derartiger Regeln aufkommt, fügt er sofort hinzu: »Aber so wenig man sagen kan, daß es keine künstliche (also allein durch erlernte Regeln zu leistende) Vernunftlehre gebe, weil zur Ausübung derselben ein guter Mutterwitz erfodert wird; eben so wenig wird die Wissenschaft der Schertze, und die Theorie derselben, geläugnet werden können, weil man mit allen Regeln keinen Menschen zu einem schertzhaften Kopfe machen kan, der keine natürliche Geschicklichkeit zu schertzen empfangen hat. Ein anders ist die Regeln zu schertzen verstehen, und dieselben geschickt ausüben können.« (S. 14)

Aus dieser Warnung vor dem Glauben an die Allmacht von Theorie und Dressur ergibt sich für Meier sofort das normative Kriterium, das Castiglione als sprezzatura 121 bezeichnet hatte, das Ideal, einen Scherz so vorzutragen, als habe er sich »wie von selbst« aus der aktuellen Situation ergeben und nicht aufgrund langer theoriegeleiteter Überlegungen. Mit einem Wort: Ein Scherz muß »unvermuthet«, »gleichsam im Vorbeygehen« (S. 125) und »mit einer anständigen Dreistigkeit und Unerschrockenheit« (S. 125) vorgetragen werden, denn allein durch das Prinzip celare artem, d. h. durch das Prinzip, die eigene Kunst als Natur erscheinen zu lassen, sei man laut Meier fähig, »frostige Scherze« zu vermeiden und »feurige Scherze« zu erfinden und vorzutragen. Diese Feuer- und Flammen-Metaphorik, die sich durch Meiers gesamte Abhandlung 122 zieht und die sich schon bei Cicero (S. 328) findet, verwenden wir auch heutzutage noch, wenn wir z. B. von einem »zündenden Witz« oder einer »zündenden Pointe« sprechen, und dient seit jeher zur Beschreibung ekstatischer Phänomene aller Art. Bei Meier, der als Sohn eines pietistischen Predigers 964 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und als Zögling des Waisenhauses in den Franckeschen Stiftungen aus einem tief pietistischen Milieu stammt, hat diese klassische inflammatio-Metaphorik jedoch außerdem noch ganz konkrete religiöse Konnotationen, die er jedoch entschlossen und konsequent profanisiert. Seine Kritik des Scherzens versteht sich somit als ein antipietistisches weltliches Evangelium bzw. als eine fröhliche Wissenschaft über die Ausgießung des eutrapelistischen Geistes in Form feuriger Scherze, die die Mitglieder einer anakreontischen Pfingstgemeinde zum Lachen bringen sollen. Um zu klären, was ein wahrhaft feuriger Scherz ist, bleibt Meier ganz im Gefolge von Wolff und unterscheidet erst mal in den §§ 14 und 15 den Witz als Vermögen, Analogien zu erkennen, von der Scharfsinnigkeit als dem Vermögen, Differenzen zu entdecken, und bestimmt dann in § 18 dieses Vermögen des Witzes näher durch einige weitere Kriterien: »Der sinnliche Witz ist um so viel größer und vollkommener, 1) je mehr Dinge mit einander verglichen werden. (…) 2) Je unbekannter die Dinge sind, die mit einander verglichen werden. (…) 3) Je verschiedener die Dinge sind, deren Uebereinstimmung der Witz erkennet. (…) 4) Je mehr Uebereinstimmungsstücke erkannt werden. (…) 5) Je größere Uebereinstimmungen entdeckt werden. (…) 6) Je stärcker die Vorstellungen gewesen, die vor der Uebung des Witzes vorhergegangen, ja je stärcker die Vorstellungen sind, welche bey seiner Uebung zugleich in der Seele angetroffen werden, wenn diese Vorstellungen von anderer Art, als die Vorstellungen des Witzes, sind. (…) Ein Witz der mitten unter diesen Hindernissen dennoch würcksam seyn kann, muß grosse Hindernisse übersteigen. (…) 7) Je klärer, richtiger, gewisser und lebendiger, doch aber auf eine undeutliche Art, die Uebereinstimmung vorgestellet wird.« (S. 22 ff.)

Die wichtigsten dieser sieben Kriterien sind wohl die beiden letztgenannten, weil sie, wie wir sehen werden, die innere Spannung ansprechen, die in jeder geloiastischen Materie enthalten sein muß und für deren erheiternd entspannende Wirkung entscheidend ist. Nachdem Meier damit das Wesen des Witzes so weit wie nötig 965 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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geklärt hat, tut er den Schritt vom Witz zum Scherz, den Schritt von der Kompetenz zur Performanz, vom Scherz-Potential zur aktuellen Scherz-Rede, und bestimmt, »daß ein Scherz eine Rede sey, wodurch wir Vorstellungen, die von dem scharfsinnigen Witze gewürcket worden, vortragen, und welche zu nächsten Zwecke hat, andere zum lachen zu reizen.« (S. 26)

Und so, wie er eine Palette von Kriterien über die Beschaffenheit des vollkommenen Witzes erstellt hatte, tut er dies nun auch für den vollkommenen Scherz, dessen »Feuer« oder »Kälte« teils »in der Stärcke und Mattigkeit des scharfsinnigen Witzes« liegen, teils aber auch »in der Geschicklichkeit des Vortrags« (S. 30) liegt, und stellt eine Palette von neun Hauptregeln für einen »glücklichen und feurigen Scherz« zusammen. Ein Scherz entspricht demnach diesem Ideal, »1) Wenn viele Dinge verglichen werden. 2) Wenn die Vorstellungen, die den Schertz ausmachen, unbekannt sind. 3) Wenn die verglichenen Sachen sehr verschieden sind. 4) Wenn er viele und grosse Uebereinstimmungsstücke entdeckt. 5) Wenn kurtz vor dem Schertze, sehr starcke Vorstellungen von anderer Art, vorhergegangen. 6) Wenn er mitten unter solchen Vorstellungen vorgetragen wird, die sehr starck und von anderer Art sind. 7) Wenn er selbst eine sehr starcke und grosse sinnliche Vorstellung ist. 8) Wenn er sehr geschickt ist, ein Lachen hervorzubringen, oder wenigstens dazu sehr lebhaft zu reitzen. 9) Wenn er auf eine geschickte Art vorgetragen wird.« (S. 31)

Wie man sieht, steuert Meier zielsicher auf eine Theorie des Scherzes zu, die einem Scherz ein Höchstmaß an innerer Spannung verleiht, weshalb er auch Kontraste aller Art so deutlich betont. Diese neun Kriterien werden dann ausführlich dargelegt und unter Berufung auf Aristoteles, Cicero, Quintilian und Horaz gerechtfertigt, aber all das ist für uns nicht neu, da es sich ganz im Rahmen der rhetorisch orientierten Argumentationstradition bewegt. Es gibt aber doch auch einige Punkte, auf die wir eigens eingehen müssen, und das sind die Kapitel, in denen Meier auf die 966 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Wahrheit« eines Scherzes, auf das Wesen des Komischen und auf die besondere Art des Lachens, das durch die Kunst des Scherzens ausgelöst werden soll, denn hier betreten wir den Kernbereich Heiterer Aufklärung und hier nimmt Meier einige eminent wichtige Einsichten heutiger Kommunikationstheorie vorweg. Sartre bezeichnet in seinem Essay Was ist Literatur? 123 Lesen als »gelenktes Schaffen«, als »eine Synthese von Wahrnehmung und Schaffen«, denn der Leser liest immer im Bewußtsein, »gleichzeitig zu enthüllen und zu schaffen, im Schaffen zu enthüllen und durch Enthüllen zu schaffen« (S. 28). Die Aufgabe des Autors bzw. die seines Textes besteht demnach darin, für diese Erkenntnis- und Entdeckungsleistungen den Rahmen und das Material bereitzustellen: »So bleibt für den Leser noch alles zu tun, und doch ist alles schon getan; das Werk existiert nur genau auf der Ebene seiner Fähigkeiten; während er liest und schafft, weiß er, daß er in seiner Lektüre immer weitergehen, daß er immer tiefgründiger schaffen könnte; und deshalb kommt das Werk ihm unerschöpflich und undurchdringlich vor wie ein Ding.« (S. 29)

Diesen Gedanken Sartres nimmt Meier vorweg, wenn er schreibt, ein Scherz müsse so beschaffen sein, daß er dem Zuhörer die vielfältigsten Möglichkeiten bietet, Übereinstimmungen und Verschiedenheiten aller Art zu entdecken, sodaß also auch das Vergnügen an einem Scherz ein »gelenktes Schaffen« ist, denn Meier betont: »Man muß seinem Zuhörer nur ein weites Feld eröfnen, die Uebereinstimmungsstücke selbst zu errathen, man muß ihn aber auch gleichsam zu dieser Untersuchung zwingen.« (S. 66)

Und dann heißt es über einen gelungenen Scherz: »Er muß einem Abgrunde ähnlich seyn, in welchem man immer mehr erblickt, je länger man in denselben hinein sieht.« (S. 66)

Und je kürzer, knapper und verdichteter ein Scherz formuliert sei, desto mehr Witz-Potential könne in ihm entdeckt werden, weshalb er in § 69 noch ein weiteres Bild verwendet, um das durch den Scherz gelenkte Schaffen des Zuhörers auf den Begriff zu bringen: »Es verhält sich wie mit den Lichtstrahlen. So lange dieselben zerstreut bleiben, bringen sie zwar ein Licht hervor, welches aber lange nicht so starck und durchdringend ist, als wenn sie durch einen Brennspiegel

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gesamlet, und in einen Punct (also in eine Pointe) gedrengt werden. Folglich muß ein Scherz zwar sehr vieles in sich fassen, aber dasselbe nicht durch eine weitläufige Vorstellung zerstreuen, sondern mit einemmal dem Gemüth vorstellen. Man kan auch mit wenig Worten sehr viel sagen. Wenige Vorstellungen sind oft ein Inbegriff unendlich vieler andern. Bey einem Schertz muß ungleich mehr gedacht als gesagt werden. Man muß dem Zuhörer nur Gelegenheit geben, und dabey zwingen selbst nachzudenken.« (S. 90)

Durch diesen Appell an die mitschöpferischen Fähigkeiten des Zuhörers, die dessen Erkenntnis- und Lachmündigkeit immer schon voraussetzt, diese zugleich aber auch noch weiter kultiviert, erweist sich Georg Friedrich Meier als echter Aufklärer im Sinne Kants, und seine »Kritik der scherzenden Vernunft« erweist sich in der Tat als ein deutscher Schlüsseltext Heiterer Aufklärung. Mit diesem Appell an die aufgeklärte Lachmündigkeit und das intuitive blitzartige Verstehen komischer Pointen ist zugleich auch die Frage beantwortet, welche Art von Lachen diese Art von Aufklärung im Blick hat und kultivieren will. Natürlich ist es das heitere Belachen des harmlos Komischen, das als unbedrohlich Ungestaltes, Difformes oder »Ungereimtes« (S. 107) zu verstehen ist, ganz so, wie es der eutrapelistischen Tradition seit Aristoteles entspricht. Meier selbst charakterisiert dieses Lachen als Aspekt und Signatur einer heiteren Atmosphäre, als Gegenentwurf zum pietistischen »Jammerstand der Seele« (Langen, S. 371), wenn er in § 80 schreibt: »Man kan aus und mit Verdruß lachen, man kan aber auch aus Vergnügen lachen, und das Lachen kan unser Gemüth dergestalt aufheitern, daß dadurch alle bange Ernsthaftigkeit aus der Seele vertrieben wird. Man kan sagen, daß ein solches Lachen den Winden ähnlich ist, die die Wolcken zertheilen, vertreiben, und den Himmel aufheitern. Ein solches Lachen ist eine so starcke Bewegung des Gemüths, die fähig ist, der Seele eine Munterkeit und aufgeräumtes Wesen zu geben, so der Betrübniß entgegengesetzt ist. Man wird mir ohne Schwierigkeit einräumen, daß die letzte Art des lachens diejenige sey, die durch einen Schertz muß gesucht werden. Der Schertz muß das Gemüth auf eine angenehme Art erschüttern, und die verwirrte Bewegung verursachen, die wir das Lachen nennen.« (S. 105 f.)

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Dieses Lachen muß aber natürlich auch »unser Lachen« im Sinne Ciceros 124 sein und nicht das derbe Gelächter, das durch abgeschmackte Scherze und Fratzen aller Art beim Pöbel provoziert wird, denn in diesem Fall gilt: »Der schertzende macht sich alsdenn zu einem Narren und Harlekin. Man lacht nicht über seinen sinreichen Einfall, sondern über sein ungereimtes Betragen. Kurtz, Reden die nicht eher zum lachen bewegen, bis sie mit tausend närrischen Verzuckungen der Glieder des Körpers begleitet werden, sind Narrenspossen. Und man kan sagen, daß ihr Feuer nicht geistig, sondern bloß körperlich sey, weil sie alle ihre Lebhaftigkeit durch die Mißhandlungen des Körpers bekommen.« (S. 112 f.)

Derartige Exzesse von scurrilitas gehören für Meier bestenfalls auf die Schaubühne, »und auch da hat man sie schon weg gepeitscht« (S. 114). Wir werden aber sehen, daß Meier Jahre später auch der scurrilitas, die er dann mit »Lustigkeit« übersetzt, unter bestimmten Bedingungen ein gewisses Existenzrecht im menschlichen Verhalten einräumt. In den letzten Kapiteln seines Werks geht Meier noch kurz auf die Grenzen eutrapelistischer Lachkultur ein, verweist darauf, daß Zoten und Spott über die Religion sich eigentlich von selbst verbieten (S. 134 ff.) und daß bestimmte Situationen, z. B. die Nähe des Todes, sogar »strengste Ernsthaftigkeit« (S. 141) verlangen. Neben dieser Kultivierung des eutrapelistischen Belachens tritt in Meiers Beiträgen für den Geselligen immer wieder die programmatische Orientierung an der aufklärerischen Komödie, die das »lastertötende Verlachen« (Gottsched) pflegt, denn gleich in der ersten Nummer, die die programmatische Ausrichtung dieser Moralischen Wochenschrift vorstellt, heißt es: »Bald werden wir mit freundlichem Ernst den Ungeselligen bereden, sich der menschlichen Gesellschaft würdiger und brauchbarer zu machen; bald soll ein munterer Scherz die strenge Tugend angenehm und das Laster lächerlich darstellen; bald soll der Satyr die Dumheit auszischen, um dem guten Geschmack Raum zu schaffen.« (I,6)

Allerdings soll all dies unter strikter Beachtung dessen geschehen, was sich für uns bisher als Nomos eutrapelistischer Lachkultur herausgeschält hat, denn es heißt hier ausdrücklich: 969 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Es ist nichts mehr gegen den Zweck des Geselligen als die Spötterey, die Verhöhnung und die Verbitterung; und man kan ein Haufen artige Sachen sagen, ohne des Nächsten Ehre anzugreifen.« (I,10)

Diese extreme Einengung des Argumentationsspielraums ist umso bemerkenswerter als die beiden Beiträger des Geselligen ihren Lesern als Rollengestalten gegenüber traten, die durch sprechende Namen gekennzeichnet sind, Lange als »Frommhold unser Geistlicher«, Meier als »Freymund unser Weltweiser« (I,15), und unter diesen Masken genauso als »Allesdürfer« hätten auftreten können wie die Vertreter philologischen oder philosophischen Narrentums im Stil von Folengo, Trömer oder Erasmus dies taten, die ihre »poetische Maskenfreiheit« (Jean Paul) bis zum Exzeß ausgekostet hatten. Aber genau das wollten Lange und Meier gerade nicht, weshalb sie betonen: »Daß wir unbekant bleiben, und nicht in unserer gewöhnlichen Gestalt erscheinen, diese gelehrte Maskenfreyheit, hat ihre Gesetze. Wir dürfen wol auf diese Art sinnreiche Scherze und unverhofte Lehren, aber nicht ehrenrührige Spötterey vorbringen.« (I,10)

Und so herrscht in dieser Moralischen Wochenschrift denn auch ein etwas penetranter Ton von Biederkeit und Betulichkeit, besonders in den Beiträgen Samuel Gotthold Langes, was nicht verwunderlich ist, wenn sich ein dichtender Landpfarrer und Horaz-Übersetzer aus seiner ländlichen Idylle unter dem sprechenden Namen Frommhold zu Wort meldet. Wer welchen Beitrag geschrieben hatte, wurde den Lesern erst in der letzten Nummer der Zeitschrift (VI,398 ff./431) enthüllt, als man beschlossen hatte, die Zeitschrift wieder einzustellen. Im 21. Stück des Geselligen geht Meier eigens nochmal auf diese Unterscheidung zwischen dem anzustrebenden »geselligen« Scherz und dem zu vermeidenden »spottenden« Scherz ein, und da der ganze Artikel unter einem Motto aus den Satiren des Horaz steht, es gebe leider Leute, die nicht mal einen Freund verschonen, wenn sie denn einen Lacher erzeugen können125, stellt er die Frage, welche Gründe zu diesem unhöflichen, ungeselligen und unvernünftigen Verhalten führen könnten. Fest steht für ihn, daß die hellsten Köpfe dieser Versuchung am meisten ausgesetzt sind, weil auch nur sie über dieses Höchstmaß an Witz und Scharfsinn ver970 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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fügen und deshalb auch ein Höchstmaß an Selbstdisziplin nötig haben. Fehlt es an dieser Bereitschaft zu Verzicht und Selbstzurücknahme, droht sofort Gefahr, denn: »So wenig die meisten im Stande sind, das Lachen zu verbeißen; so wenig können grosse Geister sich der Spötterey enthalten. Es sey ein Freund oder Feind, der ihrem erhitzten Witze in den Wurf komt, der beissende Scherz muß heraus, und solte man auch durch denselben sich tausend Unbequemlichkeiten aussetzen. Der Verlust der Freundschaft, die Erbitterung des Verspotteten, der Verlust des eigenen Glücks, und tausend andere Unbequemlichkeiten, sind nicht vermögend, den erregten Spottgeist im Zaume zu halten.« (I,179)

Erinnert diese Schilderung schon stark an die Schilderung eines unbezähmbaren Lachanfalls, die Bernhard von Clairvaux in seiner Abhandlung Über die Stufen der Demut und des Stolzes 126 bietet, so erinnert die Auflistung der Gründe, die zu dieser suchtartigen Lust am bissigen Verspotten führen, erst recht an Bernhards Hydraulik der sündhaften ventositas, denn die von Meier erwähnten Laster Bosheit, Feindschaft, Eigenliebe, Ruhmsucht, Neid, Ehrgeiz und Hochmut tauchen auch bei Bernhard auf, vor allem aber die Eitelkeit, denn vom Eitlen heißt es bei Bernhard: »Er wird also reden oder platzen. Er ist ja voll von Worten, und der Geist in seinem Inneren drängt ihn. Er hungert und dürstet nach Zuhörern, vor denen er seine Torheiten ausschütten kann, denen er kundtut, was für ein großer Mann er doch ist.« (II,107)

Bei Meier heißt es ganz ähnlich: »Spottende Scherze, die aus Bosheit herrühren, sind verfluchenswürdig, weil sie einem teufelischen Laster ein schimmerndes Gewand umhängen.« (I,180)

Oder: »Ein eiteler Mensch fühlt sich selbst in seiner Vollkommenheit. Seine unüberwindliche Begierde, die Zahl seiner Verehrer und Bewunderer zu vermehren, läßt ihn nicht mit sich selbst sich begnügen. (…) Seine spottenden Scherze sind eine Art eines versteckten und feinen Eigenlobes.« (I,181)

Oder: »Seine eigene Vollkommenheit erhöhet er unendlich, und vergißt darüber seiner Unvollkommenheiten. (…) Ein Hochmütiger will in allen

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Gesellschaften angebetet seyn. Allerwegen verlangt er den Vorzug vor allen übrigen.« (I,182)

Obwohl sich bei Meier nirgendwo ein Verweis auf Thomas Hobbes findet, läßt sich dieses Sündenregister wie schon bei Shaftesbury und seinen britischen Gefolgsleuten auch als Distanzierung von der Hobbesschen Reduktion des Lachens auf das Gefühl von Überlegenheit und das Auslachen-von-oben lesen, denn all das ist natürlich im höchsten Maße ungesellig, weil diese Art von Spott und Gelächter dem Nomos eutrapelistischer Lachkultur und dem Prinzip des Scherzens und Lachens auf Augenhöhe strikt zuwiderläuft. Es gibt allerdings eine Form von bissigem Spott, die Meier für akzeptabel hält, und dies ist dann der Fall, wenn zwei ebenbürtige Gegner »einander bissig schrauben« (vgl. I,183), d. h. wenn sich zwei ebenbürtige Spötter zum Vergnügen der Umstehenden einen sportlichen Verspottungswettbewerb liefern, weil dann das Aggressionspotential gleichsam neutralisiert wird. Damit ist Meier in seinem Argumentationsgang so weit gekommen, daß er daraus einige »Regeln« (I,183) ableiten kann, die beim spottenden Scherzen beachtet werden müssen, wenn dabei das Prinzip der Geselligkeit nicht verletzt werden soll. Diese Regeln entsprechen weitgehend dem, was wir bisher schon als Nomos eutrapelistischer Lachkultur erschlossen haben: »1) Der Schertz muß ein vollkommen feuriger Schertz seyn. 2) Die Spötterey muß (darf ) durchaus nicht aus Bosheit, Feindschaft, Neid, Hochmuth oder Ehrgeiz herrühren. Folglich muß der spottende Scherz niemanden auf irgend eine Art nachtheilig werden. (…) und wir müssen durch unsere Spötterey dem Verspotteten gar keinen Verdruß oder Zorn verursachen. 3) Der spottende Scherz muß den andern nicht dahin bringen, daß er seine Freundschaft mit uns aufhebt. 4) Man muß nur Gegenwärtige und Anwesende scherzend verspotten. (…) Ein Anwesender kan sich gleich durch einen spottenden Scherz rächen, und folglich alles wieder in ein Gleichgewicht bringen. 5) Man muß nur diejenigen spotten, die wieder spotten können. Wer eines Menschen spottet, der die Gabe zu scherzen nicht besitzt, ist ein Poltron (Feigling); indem er nicht das Herz hat, sich an einen zu

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wagen, der ihn in gleicher Münze bezahlen kan, und es scheint, als könne er wol Scherze austheilen, nicht aber einnehmen; eine Beschaffenheit, die dem geselligen Wesen zuwider ist.« (I,183 f.)

Dieses Regelwerk scheint Meier aber nicht umfassend genug gewesen zu sein, weshalb er im 110. Stück des Geselligen weitere Aspekte hinzufügt, um den geselligen Charakter des eutrapelistischen Scherzens und Lachens noch genauer zu bestimmen, indem er auf einige »ungesellige Fehler« (III,497) hinweist. Ansatzpunkt ist für ihn die Frage nach der kommunikativen Resonanz von Scherz und Gelächter, bzw. von Scherzenden und Lachenden. Im Idealfall gilt hier das Prinzip der adäquaten Reaktion ohne Reaktionszeit, weshalb er fordert: »Ein Scherz muß in einem Augenblick vorgetragen und belacht werden.« (III,117) Geschieht dies nicht, so kann es daran liegen, daß solche Zuhörer »ein zu kaltes Gehirn« (III,116) haben, in dem auch der feurigste Scherz nicht zünden kann, und ein solcher Tropf ist für Meier eine lächerliche Gestalt. Genauso lächerlich und unhöflich-ungesellig aber ist es, laut Meier, wenn jemand, nachdem er einen Scherz endlich begriffen hat, gar nicht mehr aufhören kann vor Lachen und dann gleichsam ein Lach-Solo abliefert. Und am schlimmsten ist für ihn privates Gelächter ohne ersichtlichen Grund, weshalb er auf diesen Fall ausführlich eingeht und dazu schreibt: »Es streitet offenbar wider das gesellige Denken, wenn ein Mensch mitten in einer Gesellschaft vor sich allein lacht, und noch dazu nicht sagen will, worüber er lacht. Mehrentheils ist dieses Verhalten eine wirkliche ungeschliffene Grobheit. Dieser Lacher bemerkt etwas in der Gesellschaft, welches, wenigstens seiner Meinung nach, lächerlich ist; und besitzt er nicht so viel Gewalt über sich, daß er sich des Lachens enthalten könte. Man kan es daher niemals einer Gesellschaft verdenken, wenn sie sich durch ein solches Verhalten für beleidiget hält, und auf die eine oder andere Art Genugthuung fodert. Es ist wahr, es kan einem vernünftigen Geselligen ofte die Fatalität begegnen, daß er in einer Gesellschaft etwas lächerliches bemerkt, worüber er aber ohne Verletzung der Höflichkeit nicht laut auflachen darf. In diesem Falle gebe ich den Rath, daß man entweder sich zwinge, nicht zu lachen, oder wenn einem der Paroxismus des Lachens gar zu

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stark anwandelt, so muß man gleich etwas sagen können, worüber andere auch lachen können; und alsdann kan man mit Anstand über das, was man bemerkt hat, lachen. Ofte aber geschieht es, daß ein Lacher mit seinen Gedanken ganz abwesend ist. Es fällt ihm was Lächerliches ein, welches der Gesellschaft gar nichts angeht, und alsdenn lacht er vor sich selbst. Dieser Fehler kan von keinem wahren Geselligen leicht begangen werden. Ein wahrer Geselliger ist mit seinen Gedanken in der Gesellschaft zugegen, und wenn ihm ja von ohngefehr etwas Lächerliches einfällt, so ist er im Stande, es auch mit Anständigkeit der Gesellschaft mitzutheilen, und die ist ihm dazu noch verbunden. Wenn kleine Kinder in Gesellschaften ins Lachen kommen, so verbietet man es ihnen, und wenn sie nicht aufhören, so schlägt man sie hinter die Ohren, damit ihnen das Lachen vergehe. Was soll man aber mit erwachsenen Leuten anfangen, welche in Gesellschaften auf ihre eigene Hand lachen?« (III,118 f.)

Hier wird deutlich, daß das Prinzip der adäquaten Reaktion auf einen Scherz strikt gebunden ist an das Prinzip integraler geselliger Öffentlichkeit, und das heißt: Ein Scherz hat sich gefälligst an alle Anwesenden zu wenden, sodaß er auch von allen belacht werden kann. Damit verbietet sich zugleich jede Art von privatem Gelächter inmitten einer geselligen Öffentlichkeit, weil nur das von allen gelachte gesellige Lachen »unser Lachen« sein kann und sein darf. Aber warum, so muß man wohl fragen, wird privates Lachen »vor sich allein« hier so strikt zum Tabu erklärt? Wir haben gesehen, daß das lachsoziologische Modell eutrapelistischer Geselligkeit schon bei Aristoteles, Cicero, Castiglione und Shaftesbury die Gleichheit der Geselligen und deren Umgang auf Augenhöhe verlangt, so hierarchisch die Gesellschaft »draußen« auch sein mag. Dies gilt natürlich ebenso für gesellige Runden in Form von anakreontischen oder gelehrten Tischgesellschaften, Logen, Clubs und Dichterbünden oder ähnlichen Vereinigungen, wie sie im 18. Jahrhundert 127 sich bildeten, und gilt deshalb auch für die Form von Geselligkeit, die Meier und Lange im Auge hatten, als sie ihre Zeitschrift gründeten. Für all diese geselligen Runden gilt laut Habermas: 974 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Über die Schranken der gesellschaftlichen Hierarchien hinweg treffen sich hier die Bürger mit den sozial anerkannten, aber politisch einflußlosen Adligen als ›bloßen‹ Menschen. Nicht sowohl die politische Gleichheit der Mitglieder als vielmehr ihre Exklusivität gegenüber dem politischen Bereich des Absolutismus überhaupt ist das Entscheidende: die soziale Gleichheit war zunächst nur als eine Gleichheit außerhalb des Staates möglich. Der Zusammenschluß der Privatleute zum Publikum wird deshalb im Geheimen, Öffentlichkeit noch weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit antizipiert.« (S. 50 f.)

Das aber heißt auch für eutrapelistische Geselligkeit, daß der Zusammenschluß von Privatleuten zu einer integralen Öffentlichkeit von Geselligen keinerlei Inseln weiterer Privatheit inmitten seiner selbst dulden kann, weil die Abschottung nach draußen mit der totalen Integration im Innern einhergehen muß. Oder anders formuliert: Der Ausschluß der Öffentlichkeit »draußen« verlangt zugleich auch den Ausschluß von Privatheit »drinnen«. Und wenn wie in Meiers und Langes Konzept eutrapelistischer Geselligkeit die für solche Zirkel obligatorischen Rituale zeremonieller Brüderlichkeit im Scherzen und Lachen bestehen, darf es auch keine Formen von privatem Scherzen und Lachen mehr geben, weil einzig das gesellige Scherzen und Lachen der Kitt ist, der eine derart konzipierte Form von geselliger Öffentlichkeit zusammenhält. Wie ungesellig dieses private, gleichsam monologisierende Scherzen und Lachen wirken kann, läßt sich auch noch unter einem anderen Aspekt zeigen. Jeder kennt wohl die frostig-peinliche Stille, die immer dann entsteht, wenn jemand in einer Runde etwas erzählt, das nur er selbst als unendlich komisch empfindet, weshalb er seine Erzählung in eine Suada von heftigem eigenem Gelächter einbettet, um deren Komik zu illustrieren. Die Atmosphäre von Betretenheit und Peinlichkeit, die dieses ohne Resonanz bleibende und deshalb gleichsam ins Leere gehende Lachen bei den Zuhörern erzeugt, resultiert wohl aus einem ohnmächtigen, aber stillen Zorn, weil man merkt, daß einem hier ein Lachen angesonnen wird, zu dem man sich ganz und gar nicht fähig sieht und das zu lachen man auch nicht gewillt ist, weil einem ein Lachen weit unter dem eigenen Niveau zugemutet wird. Man ist schlichtweg beleidigt und grollt in sich hinein. 975 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mit diesen Überlegungen hat Meier dem bislang erschlossenen Nomos eutrapelistischer Lachkultur einen weiteren wichtigen Aspekt hinzugefügt und dieser lautet: Es genügt nicht, daß das Scherzen weder Scham noch Zorn erregen darf, sondern dies gilt auch für das Lachen selbst, das die Öffentlichkeit geschlossener eutrapelistischer Runden nicht durch neue Enklaven von Privatheit in sich aufspalten darf.

Wenn man will, kann man in dieser Tabuisierung des privaten Lachens »vor sich allein« inmitten einer geselligen Runde noch letzte Reste pietistischer Gemeinschaftsideologie sehen, wenn auch in strikt verweltlichter Form, weil die pietistische Gemeinde von ihren Mitgliedern das Pathos rückhaltloser Aufrichtigkeit in allen Lebenslagen verlangte und deshalb keinerlei Reste von Privatheit in der Öffentlichkeit der pietistischen Gemeinde dulden konnte, und zu dieser Forderung nach bedingungsloser Öffnung des Herzens allen anderen gegenüber heißt es in Georg Stanitzeks Studie »Blödigkeit«: »Hat mithin die Individualisierung des Glaubens zum persönlichen Glaubenserlebnis den verstärkten Bezug auf Öffentlichkeit sowohl zur Bedingung wie zur Folge, so ist die Dynamik permanenter Veröffentlichung dessen konsequente Verlaufsform. Im Intimen, das als ›Geheimnis‹ den Gegenpol zur Öffentlichkeit bildet, identifiziert der Pietist die Seele, die er dem ›Publikum‹ der Gemeinde präsentiert, sich damit seiner selbst zu vergewissern. Die geforderte forcierte Identität läßt sich derart nur einlösen, indem der einzelne ununterbrochen das Innere nach außen kehrt und jedes mögliche Geheimnis liquidiert. Und ist der Prozeß der Veröffentlichung, den die zweifelnde Problematisierung des Darstellungsverhältnisses von Innen und Außen zur Folge hat, erst einmal eingeleitet, so ist er tendenziell unendlich. (…) Pietistische Aufrichtigkeit ist allerdings nicht mit jedem Publikum vereinbar, wenn sie dem einzelnen auch generell überall und immer abgefordert wird. So bildet sie ihr eigenes, das der Gemeinde.« (S. 87 f.)

Und diese Gemeinde ist ein Musterbeispiel dessen, was man später bei Tönnies und Plessner als »Gemeinschaft« im Gegensatz zu »Gesellschaft« bezeichnen wird. Hier erhebt sich aber sofort die Frage: Ist Scherzen und Lachen allein ein ausreichend starkes Bindemittel, um einer geselligen Runde auf längere Zeit oder gar auf Dauer ihren Zusammenhalt zu ga976 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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rantieren? Und das heißt zugleich: Widersetzt sich nicht gerade der dem Lachen eigene Impuls, sich uroborisch selbst zu verzehren und sich dadurch selbst ein Ende zu bereiten, diesem Ziel, ein gesellschaftliches Gebilde auf Dauer zu stellen? Wir haben ja schon bei Castiglione gesehen, daß die von ihm geschilderte eutrapelistische Lachkultur sich am Ideal perennierender Heiterkeit orientierte, die noch am ehesten auf einige Dauer gestellt werden kann, dadurch aber umso empfindlicher auf Störungen von »draußen« reagiert und jederzeit in Ernüchterung umschlagen kann, wenn sich gebieterisch der Ernst des Lebens meldet, der ja nicht auf Dauer ausgeblendet werden kann. Dieses Problem scheinen auch Meier und Lange gesehen zu haben, weshalb sie in ihrer Zeitschrift zwei sich ergänzende Argumentationsstrategien verfolgten: Die eine besteht darin, alle uroborischen Formen von Heiterkeit, also alle ekstatischen Formen als unvernünftige und lächerliche »Paroxysmen« abzuqualifizieren und entsprechend zu bekämpfen. Die andere besteht darin, alle Formen perennierender Heiterkeit ideologisch zu rechtfertigen und zum Ideal von Heiterkeit schlechthin zu erheben, wobei sie sich aber nicht an Castiglione orientieren, dessen Name überhaupt nie fällt, sondern an der Anakreontik des Horaz. Die Polemik gegen das unvernünftige und ungesellige uroborische Lachen findet sich gleich im Anschluß an die eben zitierten Ausführungen über Fehler der Ungeselligkeit in Form eines Briefes, den ein gewisser »Gottfried Lacher« an die Herausgeber des Geselligen geschrieben haben soll, der aber von Meier selbst stammt. Dort wird von einem neu gegründeten Lachclub berichtet, in dem all die Fehler bis zum Exzeß kultiviert werden, die Meier eben erst in aller Form als ungesellig, unvernünftig und lächerlich gerügt hatte, und dort heißt es: »Wir kommen alle Tage zusammen; und so bald wir versammlet sind, so fänget einer an zu lachen, darauf lachen wir alle so lange, bis wir nicht mehr können.« (III,119)

Begründet wird diese Praxis rein physikalisch mit der klassischen Sympathienlehre: »Wenn einer gähnt, so gähnt der andere auch, und ich mag ein gewisses schmuziges Beyspiel, von den Hunden, nicht anführen. Da nun das

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Lachen eine Handlung von eben der Art ist, so haben wir’s gewagt, eine Lachgesellschaft zu stiften.« (III,119) »Wir lachen nicht aus Spötterey, auch nicht über Spasse, denn bey uns wird kein Wort geredet; wir können vor lachen nicht einmal denken.« (III,120)

Zweck und Ziel dieser Lach-Praxis ist für den fiktiven Briefschreiber eine humoralpathologisch inspirierte Therapie: »Wir haben eine gute Motion; keiner von uns kan die Milzsucht bekommen, und wir reinigen den Leib von vielen Feuchtigkeiten, indem wir durchs Lachen viele Thränen aus den Augen pressen.« (III,120)

Und dann entwirft dieser Gottfried Lacher ein direktes Kontrastprogramm zum eutrapelistischen Geselligkeitsideal des Geselligen und der dort propagierten Lachkultur und lädt alle Narren, Harlekine und Possenreißer ein, seinem Lachclub beizutreten, sich dort »krank zu lachen« (III,120) und damit sein Programm zu einer umfassenden Korruption des guten Geschmacks zu unterstützen, also »1) alle diejenigen, welche eine besondere Gabe haben, ohne Ursache zu lachen. (…) 2) Alle diejenigen, welche die Gabe haben, sehr laut zu lachen, und dasselbe mit vielen närrischen Geberden, Fratzengesichtern, und unmäßigen Stellungen des Leibes zu begleiten. (…) 3) Alle diejenigen, welche nicht erst aufhören können, wenn sie einmal angefangen haben.« (III,120)

Mit diesem fiktiven Kontrastprogramm als dem Anderen vernünftiger Lachkultur und Heiterer Aufklärung knüpft Meier in gewisser Weise an die indignierte Beschreibung an, die Shaftesbury in seinem Brief über den Enthusiasmus von den ekstatischen Propheten der Quäker und Camisarden geliefert hatte, und in deren Gebaren er nur krankhafte Besessenheit und »Enthusiasterey« erblicken konnte. Man denkt aber sofort auch an Kants Zorn über Swedenborgs ekstatische Reisen, in denen Kant nur »Krankheiten des Kopfes« erblicken konnte, oder an Wielands Deutung des ideologischen Fanatismus, wenn man liest, daß Meier im 182. Stück des Geselligen, das von der »Enthusiasterey« handelt, diesen explizit als »Krankheit« (IV,343), als »blinden Eifer« und »Fieber der Seele« 978 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und damit letztlich als eine Form von dämonischer Besessenheit verstehen kann, denn er schreibt da: »Eine Hitze überfält die Seele, vermöge welcher sie ohne gehörige Ueberlegung und Einsicht alle ihre Kräfte auf den Gegenstand ihrer Enthusiasterey wendet. Ich glaube, daß der Leib nicht so verschiedenen Gattungen von Fiebern unterworfen ist, als die Seele von tausenderley Arten des blinden Eifers geplagt wird. Diese Enthusiasterey entstehet, wenn des Menschen ganze sinliche Kraft von etwas eingenommen wird, dem er sich mit solchem Eifer übergibt, als wenn er von irgend einem Gott getrieben würde. (…) Er geräth außer sich.« (IV,343)

Dann beschreibt Meier einen derartigen außer sich geratenen Enthusiasten in seinem Paroxysmus etwas genauer: »Die Röthe steiget ihm ins Gesicht; das Feuer blitzet aus den Augen: und die Hände, die Füsse, die Gelenke des Leibes und der Kopf gehorchen den heftigen Bewegungen des Gemüths, mit einer solchen Arbeit, daß wenn die Seele wieder zu sich kömt, ein solcher Mensch alsdenn sich verpustet, und der Ruhe nöthig hat.« (IV,344)

Was hier als Anfall von falschem Enthusiasmus beschrieben wir, ist doch wohl eindeutig ein Lach-Anfall, das klassische Cachinnus-Lachen, wie es Joubert beschrieben hat, und das Meier hier als ekstatisches Phänomen von uroborischer Struktur bestimmt, aber eben auch als eine Form von Ergriffenheit oder gar Besessenheit durch den Gott Gelos. Dann beschreibt Meier in der Art von Theophrast verschiedene lächerliche Charaktere im Grenzbereich zwischen harmlosen Spinnereien, fixen Ideen, Suchten, Wahn, Dünkel und Fanatismus als Enthusiasmus der Erotik, der edlen Gerechtigkeit, der Reinlichkeit, der Religion etc., ohne jedoch zwischen perennierenden Dispositionen und uroborischen Anfällen zu unterscheiden. Wichtig für ihn ist einzig der Aspekt, daß man dabei in irgendeiner Form außer sich gerät. Geschieht dies angesichts von Kleinigkeiten und anderen »billigen Dingen« (IV,352), verdient diese Art von Enthusiasterey ein lastertötendes Verlachen im Stil der aufklärerischen Verlach-Komödie, geschieht dies jedoch angesichts erhabener Gegenstände und Anlässe, so ist dieser Enthusiasmus gegen Shaftesburys test of ridicule immun, denn weil hier erhabene Gemüter erfüllt werden, ist Enthusiasmus in diesen Fälle »rühmlich und himlisch« (IV,352). 979 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Dazu aber zählt ekstatisches Gelächter eindeutig nicht, weil man nur über Kleinigkeiten lachen kann, über Erhabenes jedoch nicht. Damit hatte Meier sich ein weiteres Mal den Weg verbaut, ekstatisches Lachen ernst zu nehmen: Ekstatisches Gelächter bleibt für ihn weiterhin das Andere Heiterer Aufklärung und damit zugleich auch das Andere der Vernunft, genauer: das Andere seines eigenen Verständnisses von Vernunft. Aus diesem Grund bereitete ihm die ansteckende Macht des Lachens auch ein großes Unbehagen, auf die er schon in seinem Buch über den Scherz kurz eingegangen war und später in seinem fiktiven Brief über den Lachclub der Narren ausführlicher dargestellt hatte, da er, genau wie Shaftesbury, dies nur als Verführung durch die »sympathetische Kraft« der Unvernunft verstehen konnte und entsprechend fürchten mußte, weil sich hier etwas Unverfügbares zu manifestieren scheint, das den Selbstbesitz drastisch reduziert, denn: »Es darf nur einer lachen, so lacht die gantze Gesellschaft, ohne zu wissen warum.« (S. 123) Er geht in seinem Buch über den Scherz diesen Fragen jedoch nicht weiter nach, offenbar deshalb, weil er merkte, daß er durch seine rein rhetorische Orientierung nicht über das methodische Rüstzeug verfügte, dieses seltsame Phänomen angemessen auf den Begriff zu bringen. Wie wir gesehen haben, hatte ja auch schon Shaftesbury vor dem Enthusiasmus-Problem seine Ratlosigkeit eingestehen müssen, denn bei ihm konnten wir lesen: »Die einzige Folgerung, die ich hieraus ziehen will, ist diese, daß der Enthusiasmus eine sehr große Gewalt, und einen sehr weiten Umfang hat; daß eine vollkommene und deutliche Kenntniß desselben viel Scharfsinn erfodert, und die schwerste Sache von der Welt ist.« (I,59)

Ganz anders sein Gefolgsmann Hutcheson, der in der ansteckenden Macht des Enthusiasmus den sensus communis in seiner elementarsten Form gesehen und dies damit erklärt hatte, »daß unsere ganze Natur auf Geselligkeit angelegt ist« (S. 27). Hier hätte auch Meier ansetzen können und Resonanzverhalten jeglicher Art als Form des »untersten« und elementarsten Erkenntnisvermögens verstehen und akzeptieren können, sodaß er das Resonanz-Lachen als elementarste Form von Geselligkeit hätte werten können. Das hat er aber offensichtlich nicht getan, und so blieb 980 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dieses Problem für ihn nicht nur ungelöst, er hat es wohl nicht einmal als Problem gesehen. Es wird sich zeigen, daß erst Herder in Kalligone am Ende des Jahrhunderts diesen »tieferen Gründen des Sympathetischwirksamen« (15,206) nachgegangen ist, und eine plausible Lösung gefunden hat. Die Geselligen um Meier und Lange erlaubten sich die sympathetische Kraft des Lachens allenfalls in homöopathischer Dosierung, also nur als Atmosphäre ritualisierter Heiterkeit und Freundlichkeit, die gezielt durch einen Kult des Resonanz-Lächelns gestiftet und getragen werden sollte. Ich spreche hier bewußt von Kult und Ritual, weil die von Meier und Lange in ihrer Zeitschrift propagierte heitere Geselligkeit letztlich nur vor dem Hintergrund der Theodizee-Ideologie verständlich wird, als deren Kult sie durch bestimmte Rituale dargelebt und der pietistischen »Leidentlichkeit« (Langen, S. 218) polemisch als heitere Diesseitsreligion gegenübergestellt werden sollte. Im 12. Stück des Geselligen schreibt Meier nämlich: »Die Natur ladet uns zu einer beständigen Frölichkeit ein. Die ganze Welt ist zu einem Haus der Freude so geschicklich eingerichtet, daß dieselbe auf uns, wenn wir wollen, allerwegen zuströmet. Es ist erstaunlich, daß ein Einwohner dieser besten Welt beständig und überwiegend betrübt seyn kan. Der menschliche Verstand ist nicht vermögend, alles das Gute zu zählen, so wir in dieser Welt antreffen. (…) Ein melancholischer Mensch scheint durch einen Irrthum sich in diese Welt verirrt zu haben, wenigstens muß man ihn zu den Ausnahmen von den Regeln der Vollkommenheit in der besten Welt rechnen.« (I,101 f.) 128

Durch welche Rituale dieser Kult perennierender Heiterkeit gestiftet und gesichert und die Heiterkeit gleichsam zu einer zweiten Natur der Geselligen werden sollte, wird ausführlich beschrieben und liest sich z. T. recht ulkig: »In unseren Zusammenkünften herrscht eine beständige lebhafte Unterredung, welche mit Scherzen und angenehmem Ernste untermengt wird; und wenn wir auch einige Minuten stillschweigen solten, so sehen wir unterdessen einander lächelnd und freundlich an, und wir nennen dasselbe das gesellige Stillschweigen. Wir haben daher das Gesetz gemacht, daß niemand von uns unsere Gesellschaft besuchen darf, der nicht frölich und gutes Muths ist. Und wer nicht wenigstens durch

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ein freudiges Gesicht, welches wir ein geselliges Gesicht nennen, das Seinige zu unserer Unterredung beyträgt, der muß sich so lange hinter den Ofen setzen, bis er einen artigen Einfall ersonnen, den er mit freudigen und ungezwungenen Minen vortragen, und den wir alle mit geselligen Gesichtern anhören können.« (I,97 f.)

Denn: »Ein Mensch, der ein guter Gesellschafter seyn will, muß frölich seyn.« (I,98)

Hier wird deutlich, wie der Glaube an die Lehre von der besten aller möglichen Welten die inszenierte Heiterkeit dieser Geselligen zu einer Lächel-Maske erstarren läßt, mit der man nicht mehr auf die jeweilige Lebenssituation angemessen reagieren kann. Ähnlich wie Johann Peter Uz dies in seinem großen Lehrgedicht von 1760 über die Kunst, stets fröhlich zu sein, darstellt, zeigt sich im Geselligen die Tendenz, die rollenhaft dargelebte Heiterkeit zu einer von der gesellschaftlichen Realität abgehobenen Heiterkeitsideologie zu verhärten, die das damit ursprünglich verfolgte Ziel Heiterer Aufklärung ungewollt wieder in Frage stellt. In sich konsequent ist das von Meier und Lange vorgestellte Projekt anakreontischer Heiterkeit zwar schon, weil das maskenhaft starre Dauerlächeln auch eine Komponente der anakreontischen Rollenfächer ist, die man ausagieren wollte, und weil die Anonymität unter der »gelehrten Maskenfreyheit« dem ganzen Unternehmen eine gewisse spielerische Unverbindlichkeit verlieh. Aber all das ist eben zugleich auch Ausdruck der gesellschaftlichen Ortlosigkeit dieses ganzen Projekts und damit wiederum Ausdruck der Misere einer verspäteten Nation, die von einem großen historischen Kompromiß im Stil der Pax Romana oder der Pax Britannica bestenfalls träumen und die dort herrschende entspannte politische Situation nur durch sehr gekünstelte Rituale und durch eine Gesinnungsemigration im Miniaturformat erahnbar machen konnte. Die im Geselligen immer wieder beschworene Anakreontik des Horaz 129 dient deshalb nur ganz vordergründig gesehen der poetologischen Reflexion, sondern ist in viel höherem Maße die sehnsüchtige romantische Beschwörung einer heileren Welt, obwohl die faktisch bestehende Welt doch angeblich schon die beste aller möglichen Welten war. 982 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Dieser tiefe Widerspruch zwischen sehnsüchtiger Beschwörung der Pax Romana und der horazischen Anakreontik einerseits und der Propaganda für die Theodizee-Ideologie andererseits wird im Geselligen nie wirklich gelöst, und auch nicht in der nachfolgenden Zeitschrift Der Mensch, denn dort wird z. B. das Erdbeben von Lissabon im 440. Stück mit genau derselben ideologischen Starrheit gedeutet, die wir schon bei Johann Peter Uz angetroffen haben. Und als dann ein Jahr später auch noch der Siebenjährige Krieg begann, sahen sich Meier und Lange gezwungen, ihre Zeitschrift alsbald einzustellen, weil die Diskrepanz zwischen dem Ernst des Lebens »draußen« und ihrer anakreontischen Heiterkeitsideologie doch zu schmerzhaft geworden war. Im Jahr 1755 kommt Meier im 389. Stück seiner Wochenschrift Der Mensch in einem Beitrag über die Lustigkeit nochmal auf die Grenzen seines Entwurfs eutrapelistischer Praxis zurück. Er unterscheidet dort genau zwischen vernünftiger eutrapelistischer Fröhlichkeit und unvernünftiger Lustigkeit, wobei Lustigkeit als eine kurzfristig ins Unvernünftige gesteigerte Fröhlichkeit verstanden wird und ziemlich genau dem entspricht, was die antiken Klassiker, die christlichen Kirchenväter und die Scholastiker als scurrilitas bezeichnet hatten. Wir könnten auch sagen, der Unterschied zwischen Fröhlichkeit und Lustigkeit entspreche dem zwischen perennierender und uroborischer Heiterkeit, also zwischen langfristig wirkender Disposition und kurzfristiger Befindlichkeit. Das Ziel dieser mustergültigen moralphilosophischen Untersuchung, die in vielem an die pönitentialkasuistische Analyse des Lachens und speziell der der scurrilitas erinnert, die Alexander von Hales 130 in seiner Summa theologica im 13. Jahrhundert vorgelegt hatte, besteht darin, die dogmatische Verurteilung der scurrilitas von Seiten der pietistischen Orthodoxie zurückzuweisen. Und wie so oft bei Meier, Lange und den anderen Anakreontikern gibt auch hier wieder Horaz die Richtung vor. Schon 1744 hatte Georg Friedrich Meier in seiner Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt eine heftige Polemik gegen den altheidnischen und neuchristlichen Stoizismus geführt, der die »gäntzliche Ausrottung« (S. 12 u. S. 101) der Leidenschaften erstrebte. Da Meier die gänzliche Ausrottung 983 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Affekte jedoch für ein wahnhaftes Ziel ideologischer Verstiegenheit hielt, galt es für ihn, die Affekte möglichst genau zu kennen und vorurteilslos zu erforschen, weil er tief überzeugt davon war, daß die genaue Kenntnis der menschlichen Leidenschaftlichkeit ein unabdingbarer Teil menschlicher Selbsterkenntnis sei. Diese Überzeugung untermauert Meier mit zwei gewichtigen Argumenten, deren erstes lautet: »Der erste Nutzen, den diese Wissenschaft verursachen kan, ist eine genauere Erkenntniß der menschlichen Seele, ja, des gantzen Menschen. Die Leidenschaften machen, einen grossen Theil der gewöhnlichen und natürlichen Veränderungen des Menschen, aus. Sie sind eine Quelle, woraus ein Strom unzäliger Veränderungen entsteht. Tausend Veränderungen tragen sich in dem Körper zu, die man für, ich weis nicht, was halten wird, wenn man die Leidenschaften nicht genau kennet. Ja, ein Mensch handelt niemals ungezwungener und unverstelter, als wenn er durch eine Gemüthsbewegung begeistert worden. Mitten in der Wuth der Leidenschaften entdecken sich die geheimsten Triebfedern und Neigungen der Seele. Ich sage also, daß niemand die menschliche Natur überhaupt recht verstehen, ja sich selbst nicht völlig erkennen kan, wenn er nicht eine genaue Erkenntniß der Gemüthsbewegungen besitzt.« (S. 13 f.)

Aber die Affekte, so das zweite Argument, sind laut Meier auch erkenntnisleitend, eine These, die Meiers philosophischer Mentor Christian Wolff mit Sicherheit nicht gern gelesen haben dürfte, weil er die These vertrat, Affekte müßten das Erkenntnisvermögen prinzipiell eintrüben. Und so schreibt Meier eben direkt gegen Wolff gerichtet: »In den Leidenschaften herrscht eine grosse lebhafte Erkenntniß. Diese erweckt tausend andere Vorstellungen, die sie als ihr zugehörig betrachtet, und ihr einverleibet. Dadurch wird sie selbst immer grösser und lebhafter.« (S. 132)

Erläutert wird dies dann am Beispiel des Zorns, der eben gerade nicht blind macht, sondern um so hellsichtiger, allerdings auch nur all das entdeckt, was ihn steigert oder zumindest am Kochen erhält: »Ein zorniger entdeckt immer, je länger sein Zorn dauret, mehr und mehr böses und beleidigendes in dem Verhalten seines Feindes. Er ist

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Die Aufklärung des Heiteren

überaus scharfsinnig, nach und nach alles zur Verstärckung und Rechfertigung seines Eiffers zu brauchen. Ja, es mischen sich unter seinen Zorn, nach und nach andere Leidenschaften, die er gleichsam zur Verstärckung seiner Parthey zu Hülfe ruft. Er fängt an, seinen Feind zu verspotten, es entsteht in ihm Scham, eine Freude über seiner Rache, und wer weiß wie viele Gemüthsbewegungen mehr.« (S. 133)

Da Meier also schon 1744 in seiner Affektenlehre den Affekten eine gewisse Erkenntnisfunktion zugebilligt hatte, konnte er jetzt umso leichter auch der unvernünftigen Lustigkeit eine gewisse Erkenntnisfunktion zusprechen, zumindest aber eine Existenzberechtigung, und ihr deshalb ein Mindestmaß an Toleranz angedeihen lassen. Diese Abhandlung über die Lustigkeit ist, so weit ich sehe, auch der einzige Ort im Werk von Georg Friedrich Meier, wo er den Formen ekstatischer uroborischer Heiterkeit ein gewisses Recht einräumt und damit zugleich auch der Bereitschaft zu personaler Regression als dem Anderen der Vernunft, wenn auch nur unter bestimmten Umständen. Deshalb lautet seine These: »Die Lustigkeit des Gemüths ist ein ganz besonderer und bedenklicher Zustand desselben. Ein Mensch, welcher lustig wird, ist weder so gut, als er seyn soll, noch so schlim, als er zu seyn scheint. Der Mensch selbst, welcher in eine lebhafte Lustigkeit versetzt wird, vergißt alsdenn seiner selbst, und begeht hunderterley kleine Thorheiten, deren er sich schämt, so bald er von dieser Art der Berauschung wieder frey ist. Und diejenigen, welche einen solchen Menschen mitten in diesem Zustande der Lustigkeit erblicken, und ihn so beurtheilen, wie er ihnen vor Augen ist, die fällen gemeiniglich ein zu hartes und schlechtes Urtheil von seiner Gemüthsart.« (X,129)

Im Unterschied zu einem vernünftigen Menschen, der immer auch »ein angenehmer Gesellschafter« und »ein aufgeräumter, aufgeweckter, vergnügter Mensch« (X,129) ist, ist ein kurzfristig Lustiger »mit sehr vielen, aber kleinen angenehmen Gedanken angefült, die zusammengenommen einen freudigen Affect erwecken, der auf keine wichtige Sache gerichtet, sondern welcher über lauter Kleinigkeiten entsteht und unterdessen stark genug ist, das Gemüth so sehr anzugreifen, daß es darüber ermüdet.« (X,129 f.)

In der Pönitentialkasuistik würde man hier wohl von »läßlichen 985 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Sünden« sprechen, die durch die entsprechende Buße wieder abgearbeitet werden können, indem man sich in einem privaten kleinen Fegefeuerchen der Zerknirschung (contritio) und Scham hingibt und danach heiter weiter sündigt. Bedenklich ist für den Aufklärer Meier dieser Zustand deshalb, weil der Lustige »zu der Zeit seiner Lustigkeit keiner ernsthaften Ueberlegung fähig« (X,130), d. h. nur begrenzt zurechnungsfähig ist. »Es ist demnach offenbar, daß ein Mensch, mitten in der Lustigkeit, die gehörige Fassung des Gemüths verliehre; daß er keinen gehörigen Gebrauch des Verstandes, der gesunden Vernunft, und der Beurtheilungskraft behalte; und daß er in ein leichtsinniges und flatterhaftes Wesen gerathe.« (X,130)

Dann beschreibt Meier ausführlich allerlei Arten von Lustigkeit in Form von dummen Streichen, Ausschweifungen und Albernheiten, mit denen v. a. junge Leute über die Stränge schlagen, und zieht daraus die erste Bilanz dahingehend, »daß die Lustigkeit ein sehr gefährlicher Zustand sey« (X,131), fügt aber sofort hinzu: »Und wird der Mensch dadurch gleich kein Bösewicht, so wird er doch ein Taugenichts.« (X,133)

All das liest sich wie ein Kommentar zu Zachariaes komischem Heldenepos Der Renommist 131, das 1754 unmittelbar vor Meiers Aufsatz anonym erschienen war, und das einen derartigen studentischen Taugenichts in all seinem prahlerischen Leichtsinn im Stil des großen heroischen Epos und unter Anrufung einschlägiger Musen besungen hatte. Dann aber wendet sich die Argumentation entschieden gegen die strikte dogmatische Verurteilung der Lustigkeit ohne wenn und aber, und Meier reitet wieder mal eine Attacke gegen den Pietismus unter dem Banner des Horaz, denn er fährt fort: »Eben so sind diejenigen zu tadeln, die niemals Anwandelungen von der Lustigkeit bekommen, und welche in einem so hohen Grade gravitätisch sind, daß sie alles lustige Wesen schlechterdings für unanständig, läppisch und kindisch halten. Solche Leute sind ohne Zweifel von einer mürrischen, finstern, melancholischen und gar zu steifen Gemüthsart. Ein Mensch muß so klug seyn, daß er, nach Horazens Ausspruch, in den gehörigen Umständen ein wenig närrisch seyn kan.

986 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wer also alle Lustigkeit verdamt, der verräth dadurch ein unfreundliches Gemüth. Und gleichwie derjenige, der gar zu stark und gar zu ofte lustig ist, mit der Zeit ein Stocknarre und Pickelhering wird; also ist derjenige, der gar nicht oder zu selten und zu schwach lustige Augenblicke bekomt, ohne Zweifel ein Sauertopf und ein mürrischer Menschenfeind. Diejenigen Sittenlehrer demnach, welche alle Lustigkeit als eine Sünde verwerfen, und alles dasjenige, was man aus Lustigkeit thut, schlechterdings für eine grosse Sünde halten, die verrathen dadurch zur Genüge, daß sie auf eine stoische und gar zu unfreundliche Art das menschliche Verhalten beurtheilen.« (X,133)

Meier spielt hier auf die zwölfte Ode aus dem vierten Buch der horazischen Carmina an, in der Vergil zum Gelage bei einem extra guten Schoppen eingeladen wird, und dort heißt es in der letzten Strophe: »Verum pone moras et studium lucri Nigrorumque memor, dum licet, ignium Misce stultitiam consilis brevem: Dulce est desipere in loco.« 132

In der Ausgabe von Hans Färber lauten sie: »Auf und säume nicht lang! Rechne den Preis nicht nach! Denk, es lodert auch uns bald schon die letzte Glut! Drum, solang es vergönnt, mische mit Lust den Ernst: Süß ist Leichtsinn am rechten Ort!« (S. 211)

In der deutschen Ausgabe von Hermann Fleischer lauten diese Verse: »Zögre länger mir nicht! Rechne nicht, wer gewinnt! Denk der kommenden Nacht! Laß mit verständigem Wort Uns kurzweiligen Scherz mischen, solang es geht: Süß ist’s, schwärmen zur rechten Zeit!« 133

Es geht also um die anakreontische Maxime Carpe diem! und um die Lust daran, sich auch mal so richtig gehen zu lassen, auf die Vernünftigkeit auch mal zu verzichten und diese momentane Unvernunft sogar noch zu genießen, wenn die Situation dies zuläßt oder dies vielleicht sogar nahelegt, aber auch nur in diesen Situationen, in loco, in denen es sich anbietet, die kantisch-horazische Maxime der Aufklärung Sapere aude! durch die Maxime Insipere aude! zu ergänzen: 987 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wage es, in bestimmten Situationen auf die Stimme der Vernunft auch mal nicht zu hören und dich auch mal gehen zu lassen!

Oder anders formuliert: Wage die personale Regression!

Meier schränkt dies allerdings noch etwas ein, wenn er schreibt: »Ein vernünftiger Mensch muß (darf ) also nur in lauter solchen Umständen mäßig lustig seyn, in denen es sich schickt, sonst verhält er sich allemal als einen Thoren.« (X,134)

Da sich Meier aber trotz all dieser Einschränkungen in den Augen der Pietisten nach wie vor angreifbar gemacht hatte, wechselt er nach dieser Bilanz noch einmal die Argumentationsstrategie und argumentiert von da ab nur noch theologisch und pönitentialkasuistisch in einer Art, der wir schon bei Alexander von Hales 134 begegnet sind. Er stellt also die Frage, was an lustigen Verhaltensweisen sündhaft sein könnte. Wie für Alexander von Hales ist auch für ihn die Gesinnung das entscheidende Kriterium und außerdem die Frage, ob die Sünden, die in solchen Anfällen von Lustigkeit begangen werden, gezielt und gewollt begangen werden, also mit Vorsatz (iudicium) und Überlegung (cogitatio). All das wird von ihm eindeutig verneint, denn: »Mitten in der Lustigkeit ist der Mensch nicht einmal vermögend, eine Bosheitssünde mit Ueberlegung zu begehen. Denn die Lustigkeit macht ganz unbedachtsam. Und wo keine Ueberlegung ist, da kann unmöglich ein boshafter Vorsatz stat finden. Es ist wahr, ein Mensch kann in der Lustigkeit beleidigende Reden führen, und beleidigende Handlungen vornehmen; allein das geschieht aus bloßer Leichtsinnigkeit, und es ist eine Uebereilungssünde. Ein Mensch, welcher tückische Bosheit unter einer äusserlichen Lustigkeit verbirget, der ist in der That kein lustiger Mensch. Der Lustige will nur vergnügen, und er kan also nicht boshaft handeln.« (X,134)

Denn: »In der Lustigkeit sagt ein Mensch vieles, welches sehr böse zu seyn scheint, so er eben nicht böse meint; und er thut manches, so einen sehr bösen Schein hat, und welches auch wol eine Sünde ist, so er aber nicht aus einem bösen Gemüthe, aus Bosheit und aus bösen Absichten thut.« (X,135)

Aus all diesen Gründen plädiert Meier für Toleranz und Nachsicht 988 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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in der Beurteilung lustiger Gesellen, »denn die wahre Menschenliebe kehrt alles zum Besten« (X,136). Dieses Plädoyer für Nachsicht in der Beurteilung gelegentlich praktizierter Unvernunft richtet sich aber nicht nur gegen die Pietisten-Väter, sondern liest sich auch wie Meiers Emanzipation vom eben gerade verstorbenen philosophischen Übervater Christian Wolff, denn Wolff hatte in seiner Deutschen Metaphysik jede Art von Hingabe an die Affekte mit genau derselben Härte verurteilt wie die antiken Stoiker und die christlichen Kirchenväter und die uneingeschränkte Herrschaft der reinen Vernunft in allen Lebenslagen gefordert, weil das Affektleben eine Irrnis der Vernunft sei und den Menschen buchstäblich versklave. Mit einem Wort: Er deutete ganz wie Platon die Hingabe an Affekte als Sklavenaufstand der »unteren Bereiche« der menschlichen Seele: »Durch die Affecten wird der Mensch hingerissen dieses und jenes zu thun oder zu lassen, und machen sie die sinnliche Begierde und den sinnlichen Abscheu stärcker, als er sonst seyn würde. Da nun aber bey den Affecten der Mensch nicht bedencket, was er thut, und er demnach seine Handlungen nicht mehr in seiner Gewalt hat; so wird er gleichsam gezwungen zu thun und zu lassen, was er sonst nicht thun, noch lassen würde, wenn er deutlich begriffe, was es wäre. Derowegen weil die Affecten von den Sinnen und der Einbildungs-Kraft herrühren; so macht die Herrschaft der Sinnen, der Einbildungs-Kraft und Affekten die Sclaverey des Menschen aus. Und nennet man dannenhero auch Sclaven diejenigen, welche sich durch ihre Affekten regieren lassen, und bloß bey der undeutlichen Erkänntniß der Sinnen und Einbildungs-Kraft verbleiben.« (S. 298 f.)

Mit diesem erstaunlichen, zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr sonderlich mutigen Plädoyer dafür, in bestimmten Situationen auch das Andere der Vernunft gelten zu lassen und sich bestimmten Formen von Unvernunft willig hinzugeben, hatte Meier den Nomos eutrapelistischer Praxis um einen weiteren und letzten Aspekt erweitert und war damit an die Grenze dessen gestoßen, was mit seinem Verständnis von Heiterer Aufklärung gerade noch vereinbar war. Wenn wir von hier aus allerdings einen Blick in Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik 135 werfen und die Frage stellen, 989 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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welche Art von Scherzen, Lachen und Geselligkeit in diesem utopischen Entwurf vorgestellt wird und wie vernünftig all dies ist, fällt das Urteil über die anakreontische Romantik von Meier und Lange etwas milder aus, denn Klopstocks Werk ist zwar auch ein Dokument von »Gesinnungsemigration« (Koselleck), aber so heillos verstiegen und verschroben, daß man erschrecken möchte, und außerdem ist es ein Dokument entschlossener Gegenaufklärung mit allen Konsequenzen. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) hatte 1749 die ersten drei Teile seines Messias in Halle anonym veröffentlicht, Meier hatte eine hymnische Besprechung geschrieben, die entscheidend dazu beitrug, Klopstock als Autor durchzusetzen, sodaß sich, als nach und nach weitere Gesänge des monumentalen Werks erschienen, ein wahrer Kult um diesen Autor bildete, den insbesondere die Mitglieder des Göttinger Hainbundes um Voß und Hölty pflegten. 1773 war das Werk endlich vollendet, und Klopstock galt als der repräsentative Autor der deutschen Literatur und fühlte sich deshalb berufen, gleich ein Jahr später in seiner Deutschen Gelehrtenrepublik Überlegungen anzustellen, wie das kulturelle und speziell das literarische Leben in Deutschland sinnvoll neugeordnet werden müßte. Das Modell, an dem er sich orientierte, war jedoch nicht eine Gesellschaft von Gleichen, die sich auf Augenhöhe über ihre literarischen Werke beraten, sich gegenseitig kritisieren und fördern, sondern die Hierarchie von Platons Politeia, allerdings in der Maskierung eines altfränkischen Ständestaates, und deshalb heißt es schon im ersten Satz seines Werks: »Die Republik besteht aus Aldermännern, Zünften und Volke. Wir müssen auch, weil dieses einmal nicht zu ändern ist, Pöbel unter uns dulden.« (8,3)

Dann werden verschiedene mögliche Bezeichnungen für das Volk abgeschmeckt, »das ganze Volk, der große Haufen, der gemeine Mann« (8,3), aber alle werden verworfen, sodaß es bei der Bezeichnung »Pöbel« bleibt. Denn: »Es thut nicht noth, ihn zu beschreiben. Er hat keine Stimme auf den Landtagen; aber ihm wird ein Schreier zugelassen, der, so oft man nach einer Stimmensammlung ausruht, seine Sache recht nach Herzenslust,

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doch nur eine Viertelstunde lang, vorbringen darf. Er ist gehalten, einen Kranz von Schellen zu tragen. Nach geendetem Landtage wird er allezeit Landes verwiesen.« (8,3)

Dann werden über viele Seiten hinweg die einzelnen Stände dieser Republik und das darauf abgestimmte System von Lob und Tadel beschrieben. Was uns an alledem allein interessiert, ist das Kapitel »Von den Strafen«, in dem Klopstock ein altfränkisch-zünftiges Pennalsystem zum Zweck literarischer Kritik entwirft, denn hier wird ein lachsoziologisches Modell vorgestellt, das sich in allen Punkten als eine explizite Kontrafaktur zu dem von Shaftesbury bzw. zu dem von Meier und Lange propagierten Modell aufgeklärter Heiterkeit erweist, weil genau die Formen von Gelächter streng ritualisiert eingesetzt werden, die die Heitere Aufklärung im Gefolge Shaftesburys und in Absetzung von Hobbes ausdrücklich verpönt hatte: »Das Stirnrunzeln zeigt nicht Spott, sondern nur Verdruß an. Das Lächeln ist angehender Spott. Das laute Lachen ist voller herzlicher Spott. Das Naserümpfen ist Spott und Verachtung zugleich. Das Hohngelächter ist beides im höchsten Grade. Zwei einheimische Folianten tragen, nennen wir: den Hund tragen; vier ausländische: den Sattel tragen. Diese beiden Strafen sind durch sehr alte und lang abgekommene deutsche Gesetze veranlaßt worden. Wer den Hund trägt, geht hundert Schritte, und wer den Sattel, tausend. Kein Freier oder Edler trägt den Sattel. Den tragen nur Knechte. (…) Die Landesverweisung geschieht durch den Herold mit diesem Zurufe: Geh, du trinkst nicht mehr aus der Quelle dieses Hains! und wärmst dich nicht mehr an unserm Feuer! Einem die Todtenfackel anzünden, heißt: ihm durch den Herold zurufen lassen, daß seine Schrift todt sey, ob er gleich selbst noch lebe.« (8,18 f.)

Wie man sieht, ist Literaturkritik für Klopstock eine Form ritualisierter Bestrafung, und das ganze System von Strafen zielt darauf ab, den Delinquenten so tief wie irgend möglich zu verletzen, zu beschämen und zu demütigen, letztlich also als Person und Autor zu vernichten, und diesem Ziel dienen auch die hierfür vorgesehenen Formen von Gelächter. Was Klopstock hier entwirft, ist also die direkte und konsequente Zurücknahme des Nomos eutrapelisti991 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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scher Lachkultur, wie er seit Aristoteles über Cicero und Castiglione bis herauf zu Shaftesbury und Meier entworfen und immer weiter verfeinert worden ist, durch ein selbsterfundenes Pennalsystem in der Tradition der Zünfte. Die besondere Pointe dieses Entwurfs liegt darin, daß zum Hohngelächter auch »voller herzlicher Spott im höchsten Grade« gehört, weil dies die Frage nahelegt, was Klopstock wohl unter »herzlich« verstanden haben mag. Beantwortet wird diese Frage in dem Gedicht: An den, der’s versteht Aus deutscher herzensvoller Lache (Fern laß vollhalsiges Gelächter seyn; Und streu’ des Lächelns Würze sparsam ein). Besonders aber auch Aus Sitt’ und Brauch Aus eigner Laun’ und Geist, vereine du und mache Ein neues schönes Sonderding, Das nicht von fremder Flitter gleiße, Und das so Vornehm wie Gering Deutschkomisch heiße. (8,148)

Wenn man einen Punkt sucht, an dem inmitten der Aufklärungsepoche die deutsche Gegenaufklärung als explizite Zurücknahme der Aufklärung einsetzt, so müßte man Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik von 1774 an erster Stelle nennen, v. a. auch deshalb, weil schon hier Heitere Aufklärung als etwas Undeutsches und Fremdes denunziert und das »deutschkomische« aggressive Auslachen-von-oben als der spezifisch deutsche Sonderweg von Lachkultur angepriesen wird.

2.12.6.5 Explodierende Intensitäten oder Die Frage nach der Pointenstruktur krisenhafter Prozesse 2.12.6.5.1 Methodologische Vorüberlegung In den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts setzte in Deutschland eine rege Diskussion über das Wesen der Pointe ein, die sich über viele Jahre hinzog und schließlich in Lessings und Herders Überle992 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gungen zum Epigramm ihren Abschluß fand. Ausgangspunkt dieser Diskussion war die Scherzkunst der anakreontischen Dichter und Intellektuellen in Halle, und deshalb begann diese Diskussion über das Wesen der Pointe auch auf dem Feld der Literaturtheorie und bewegte sich zunächst ganz im Rahmen der rhetorisch orientierten Argumentationstradition, wurde aber bald durch Fragestellungen ergänzt und gefördert, die sich aus den krisenhaften Bußkämpfen und Durchbrüchen im pietistischen Milieu ergaben, sofern man gewillt war, diese Erfahrungen und den dafür entwikkelten Wortschatz vorurteilslos zu übernehmen und auf rein weltliche und ästhetische Fragstellungen zu übertragen. In dieser Weise soll auch hier vorgegangen werden, weil auch unsere Fragstellung keine literarische ist, sondern nur dort ansetzt und dann sofort weit darüber hinaus geht, um schließlich nach Pointen jenseits des Literarischen und jenseits des Komischen zu fragen, also nach der pointenhaften Struktur krisenhafter Prozesse und Phänomene allgemein, die bestimmte Formen von Gelächter auslösen können. Damit ist aber zugleich gesagt, daß bei weitem nicht jede Pointe dieser Art Gelächter auslösen muß. Aus diesem Grund ist für unsere Fragstellung eine Studie wie Ralph Müllers Theorie der Pointe 136, die rein rhetorisch orientiert ist und nur die pointenhafte Struktur bestimmter literarischer Gattungen wie Epigramm, Anekdote, Aphorismus und Sketch untersucht, nur bedingt hilfreich, weil ihr Erkenntnisinteresse viel enger begrenzt ist als das, welches wir hier verfolgen müssen. Dies zeigt sich sofort, wenn man sich Müllers Definition der Pointe vor Augen hält, denn diese lautet: »Genau dann, wenn ein Text inkongruente Elemente aufweist, die durch ihren unvermuteten Zusammenhang sinnvoll erklärt werden können, und wenn dieser Text tektonisch und konzise und zusätzlich kondensiert oder auch gebrochen kohärent oder auch uneigentlich präsentiert ist, dann ist er pointiert und kann pointen-wirksam sein.« (S. 126)

Viel kürzer und präziser formuliert es Gero von Wilpert, wenn er schreibt, eine Pointe sei »der eigentliche, unerwartete Sinn, in den ein Witz ausläuft; sie entsteht durch überraschende Umwendung des Gesagten«. 137 Im »Wahrig« lautet die Definition: »Geistreicher, 993 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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überraschender Höhepunkt einer Erzählung oder Darstellung, besonders eines Witzes.« 138 Ähnliche Definitionen ließen sich auch aus vielen anderen Nachschlagewerken zitieren, die aber alle ebenfalls der rhetorischen Tradition verpflichtet sind und Pointen ausschließlich als Elemente bestimmter literarischer Texte definieren. Und selbst wenn sie eher wirkungsästhetisch orientiert sind wie bei Wilpert oder Wahrig, sind sie kaum übertragbar auf pointenhafte Strukturen außerhalb literarischer Texte, aber gerade darum geht es hier ja. Aus diesem Grund müssen wir uns methodologisch ganz anders orientieren und setzen deshalb zum einen bei dem Anagnorisisund Peripetie-Begriff des Aristoteles an, zum anderen bei Herders und Jean Pauls Phänomenologie des eigenleiblichen Spürens im Umgang mit bestimmten ästhetischen Gegenständen. Aristoteles schreibt im 11. Kapitel seiner Poetik über Anagnorisis und Peripetie in einer dramatischen Handlung, die überwältigende Wiedererkennung sei »ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück (wie in der Komödie) oder Unglück (wie in der Tragödie) bestimmt sind. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie es bei der im ›Ödipus‹ der Fall ist. (…) Denn eine solche Wiedererkennung und Peripetie bewirkt Jammer und Schaudern.« (S. 35)

Sie kann den, der da plötzlich merkt, was er getan hat, aber nicht nur vernichten, wie dies bei Ödipus oder Ajas der Fall ist, sie kann die dramatische Person (und den Zuschauer mit ihr) auch erheben und zu Erkenntnisjubel und Lachausbrüchen hinreißen, wenn der plötzliche Umschlag von Nichtwissen zu Wissen beglückend und erheiternd ist. Entscheidend bei diesen vernichtenden oder erhebenden Aha-Erlebnissen von überwältigender Evidenz ist allein die Plötzlichkeit des Durchbruchs zur jeweils anderen Befindlichkeit. So gesehen ist eine Pointe auch nur eine Möglichkeit unter vielen, diesen Umschlag von Nichtwissen in Wissen in Gang zu setzen, da die Pointe der Punkt ist, an dem das Aha-Erlebnis der Anagnorisis einsetzt. Derlei Peripetien gibt es bekanntlich auch außerhalb literarischer Texte zuhauf, insbesondere in ekstatischen Durchbruchs994 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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erlebnissen aller Art, wenn man nur noch »Heureka!« schreien kann. Nun zu Herder und Jean Paul. Für Herder liegt die Quelle des eigenleiblichen Spürens in der Zugleichheit von Erkennen und Empfinden, woraus sich für ihn die Konsequenz ergibt, die »unteren« Sinne und »untersten« vorprädikativen Erkenntniskräfte zu rehabilitieren, und so wurde er, lange nach Laurent Joubert, wieder zum Entdecker von Einleibung und leiblicher Kommunikation, die er in seiner Kalligone im Kapitel über Kunst und Kunstrichterei als eine Form sanfter Ekstase und mimetischer Resonanz beschreibt, durch die der Betrachter eines Kunstwerks in dieses gleichsam hinübergleitet, ohne sich selbst aber dabei zu verlieren: »Jede Form der menschlichen Gestalt spricht zu uns, weil wir selbst, mit dieser Form bekleidet, den Geist fühlen, der sich in dieser Form offenbaret. Wie wollt ihr einem Kinde ein zorniges oder ein freundliches Gesicht begreiflich machen, d. i. ihm den Zorn oder die Freundlichkeit durch Unterricht beibringen, wenn es den Naturausdruck dieser Affekten sym- oder antipathetisch nicht in sich fühlte? Nicht anders fühlen wir den Gemüthscharakter jedes ächtgebildeten Werkes der Kunst, den Geist, der es bewohnet; schnell oder sanft geht er in uns über. Mein Arm erhebt sich mit jenem Fechterarm; meine Brust schwillt mit jener Brust, auf welcher Antäus erdrückt wird. Meine Gestalt schreitet mit Apollo, oder lehnt sich mit ihm oder schaut begeistert empor. Laokoons oder Niobes Seufzer dringen nicht etwa in mein Ohr; sie heben meine Brust selbst mit stummem Schmerz. (…) Der Ausdruck der plastischen Kunst ist leibhaft, also auch mittelst lebhafter Formen geisthaft, d. i. sympathetisch wirksam.« (15,205 f.)

Eine entscheidende Funktion bei diesem erkennenden Empfinden und empfindenden Erkennen hat für Herder der tastend zugreifende Blick, der Fern- und Nahsinne aneinander bindet und damit zugleich auch Erkennen und Empfinden, weshalb er seinem Leser zuruft: »Vergessen wir den Sinn des tastenden Gefühls nicht! der in dem, was er uns gibt, mit Unrecht zu den gröberen Sinnen gezählt wird. Nicht blos als Helfer und Prüfer stehet er dem Gesicht und Gehör bey; jenem giebt er sogar seine festesten Grundbegriffe, ohne welche das Auge nur flächen, Umrisse und Farben wahrnähme.« (15,22)

995 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Und: »Setzen wir hinzu, daß mittelst des Lichtstrahls, wo meine Hand nicht hintasten kann, mein Auge hintastet.« (15,46)

Was dieser tastend zugreifende Blick an Erkenntnis vermitteln kann, erläutert Herder dann anhand der Betrachtung von Pyramide und Kegel, an Gestalten also, die in einer Spitze münden, bis zu der »Auge und Gefühl« (15,23) hinaufgleiten. Richtet sich dieser tastende und erkennend empfindende Blick auf solcherart pointierte Gestalten wie Pyramide und Kegel, so eilt er »wie eine Flamme« (15,25) zu deren Spitze hinauf und bildet dabei eine bestimmte Linie der Bewegung und zugleich einen bestimmten Verlauf der Empfindung. Diese aufsteigende Bewegung und Empfindung ist laut Herder für jedermann unmittelbar verständlich und nachvollziehbar, weil sie seinem eigenen tief empfundenen Impuls zur Aufrichtung entspricht und entgegenkommt und diesen auch denotiert, denn dieser Impuls zur Aufrichtung gehört, wie wir schon gesehen haben, für Herder zur Natur des Menschen selbst, aber eben nicht nur die Aufrichtung zur Mündigkeit, sondern auch die Aufrichtung zu ekstatischen Verhaltensweisen aller Art. Endet dieser tastend zugreifende Blick und das dazugehörige Empfinden aber in einem Punkt, also z. B. in der Spitze einer Pyramide, so gilt ihm dieser Punkt als das »Maximum ihres Daseyns« bzw. als der »Punkt ihrer Vollkommenheit« (15,33). Wir könnten auch sagen: als die Pointe ihrer Gestalt, oder noch kürzer: als ihre Pointe. Dieser Argumentation werden wir in Herders Abhandlung über das Epigramm wieder begegnen. Hier setzt nun Jean Paul an, der in § 27 seiner Ästhetik die Natur des Erhabenen ebenfalls anhand einer gigantischen Pyramide beschreibt und ebenfalls den tastend zugreifenden Blick und das damit verbundene erkennende Empfinden zum Ausgangspunkt all seiner Überlegenen macht, wenn er schreibt: »Weder die Mitte noch die Spitze der Pyramide ist erhaben, sondern die Bahn des Blicks.« (49,113)

Diesen Gedanken greift er gleich im nächsten Kapitel wieder auf, das die Natur des Komischen analysiert, und kommt hier zu dem Ergebnis, »daß also das Komische, wie das Erhabene, nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte« (49,116). Allerdings werden wir 996 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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diese These in ihrer Radikalität dahingehend beschneiden müssen, daß das Komische nicht nur im Objekt, sondern zugleich auch im Subjekt wohnt und wirkt, weil Jean Paul hier von Einleibung spricht. Plausibel wird diese These erst, wenn wir ganz im Sinne Herders nach dem entsprechenden eigenleiblichen Spüren dessen fragen, der eine Pyramide betrachtet. Denn wenn jemand am Fuß einer Pyramide steht, wird sein Blick zwangsläufig zu deren Spitze hinauf geführt. Wir könnten auch sagen: Die Form einer Pyramide ist derart suggestiv, daß unser Blick förmlich zu ihrer Spitze hinauf gezwungen wird. Wenn man dies aber tut, so erzwingt dies eine ganz bestimmte leicht überdehnte konvexe und ekstatische Körperhaltung, bei der man außerdem auch eine ganz bestimmte leicht überhöhte Körperspannung aufbaut, die dadurch, daß man die Luft stützend anhält, noch weiter gesteigert wird. So gesehen »wohnt« das Erhabene also nicht im vielberedeten »Aufschwung der Seele« 139, sondern in einem ganz bestimmten ekstatisch-konvexen Habitus und damit wieder in einer bestimmten Körperspannung. Gleitet der Blick von der Spitze der Pyramide wieder zurück, entspannt man sich wieder zur normalen Körperspannung. Implodiert diese Spannung jedoch an ihrem höchsten Punkt, eben in der Pointe, so explodiert sie als Gelächter, das tendenziell unverfügbar aus uns herausplatzt und uns bis zur Erschöpfung entspannen kann, bis wieder eine neue Körperspannung aufgebaut wird. Diese schlagartige Entspannung empfinden wir als äußerst lustvoll, sodaß man also in Anlehnung an Jean Paul fragen darf: Wohnt und wirkt also auch die Pointe im Subjekt? Und wenn ja, in welchen Formen eigenleiblichen Spürens wohnt und wirkt sie dann? Damit habe ich aber schon weit vorgegriffen und will nun versuchen, die Diskussion der Heiteren Aufklärung über die Theorie der Pointe im Lichte von Jean Pauls Phänomenologie des eigenleiblichen Spürens zu rekonstruieren und bis zum ekstatischen »Explodieren der Angstspitze« (Baader) zu verfolgen. Rein phänomenologisch gesehen besteht ein krisenhafter Prozeß dieser Art in der strikten Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase. Problem- und diskursgeschichtlich gese997 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

hen beginnt die Analyse dieses Prozesses allerdings mit der Klärung des Pointen-Begriffs, und da es sich anbietet, im problemgeschichtlichen Teil dieser Studie auch dem Verlauf der Diskursgeschichte zu folgen und nicht der Abfolge eines krisenhaften Prozesses selbst, modifiziere ich diese Abfolge und spreche im folgenden von Zuspitzungen, Anspannungen, Durchbrüchen und Ekstasen allgemein, um die Abgehobenheit der Diskursgeschichte von der Struktur krisenhafter Prozesse deutlich zu machen. 2.12.6.5.2 Zuspitzungen Wenn wir uns die bisher analysierten geloiastischen und gelotologischen Texte der Aufklärungsepoche vor Augen halten, können wir sehen, wie sich die Vertreter der Heiteren Aufklärung Schritt für Schritt an eine Theorie der Pointe herangearbeitet haben. Der Ausgangspunkt war dabei immer der acumen-Begriff der klassischen Rhetorik, der dem Wortfeld »Spitze/Stachel/Sporn/Biß/Stich/ Stoß/Schärfe/Gipfel/ Punkt« entstammt und somit »epikritische« 140 Anmutungen aller Art benennt. Aus diesem Grund konnte er leicht mit dem Wortfeld »Witz/Scharfsinn/Spitzfindigkeit/Pointe« in Beziehung gebracht werden. In diesem Sinne wird das Wort acumen auch bei Cicero verwendet, der im zweiten Buch seiner Rhetorik schreibt: »In der Form aber wirkt der Effekt komisch (ridiculum), der durch eine bestimmte Pointe des Ausdrucks oder Gedankens (verbi aut sententiae quodam acumine) hervorgebracht wird.« (S. 364 f.)

Der Cicero-Übersetzer Harald Merklin verwendet hier natürlich das Wort »Pointe«, das sich heute anbietet. Aber wie hätte man »acumen« ins Deutsche übersetzen sollen, als es das Wort »Pointe« im Deutschen noch nicht gab? Schon bei Christian Wernicke fanden wir um 1700 die Mahnung, Witzigkeit nicht zu weit zu treiben und nicht zu überspitzen, sondern durch Lebensklugheit zu zügeln, »denn ein scharf und spitzer Kiel verletzet den Verstand« 141. Georg Friedrich Meier orientiert sich vierzig Jahre später an einem etwas anderen Bild, wenn er in seinem Buch über das Scherzen Ciceros acumen-Begriff wiederzugeben sucht: 998 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Aufklärung des Heiteren

»Es verhält sich wie mit den Lichtstrahlen. So lange dieselben zerstreut bleiben, bringen sie zwar ein Licht hervor, welches aber lange nicht so starck und durchdringend ist, als wenn sie durch einen Brenspiegel gesamlet, und in einen Punct gedrengt werden. Folglich muß ein Schertz zwar sehr vieles in sich fassen, aber dasselbe nicht durch eine weitläufige Vorstellung zerstreuen, sondern mit einemmal dem Gemüth vorstellen. Man kann auch mit wenig Worten sehr viel sagen.« (S. 90)

Sein Freund und Kollege Lange verwendet in seinem Aufsatz über das Lachen 1751 in der Zeitschrift Der Mensch nicht das Wort »Punkt« oder »Brennpunkt« als Übersetzung von »acumen«, sondern schreibt, ein Scherz müsse eine »Spitze« (5,35) haben, um erheiternd wirken zu können. Faßt man beide Formulierungen zusammen, wäre das acumen der Punkt, in dem verschiedene Vorstellungen oder Bedeutungen wie Linien in einem spitzen Winkel zusammen laufen und sich dann aber auch noch aneinander reiben. Aber auch diese Bestimmung erwies sich offensichtlich als ungenügend, weil die Pointe, die immer auch »im Subjekte wohnt«, bei all diesen Bemühungen nicht in den Blick geraten kann. Dies geschah erst, als eine Generation später Lessing mit seinen Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm und einige Epigrammisten (1771) in die Debatte eingriff und sie schlagartig auf ein anderes Niveau hob, denn er betrachtete Ciceros acumenBegriff nicht mehr isoliert als ein rhetorisches Element unter anderen, sondern als integralen Bestandteil des dramatischen Zusammenspiels von »Erwartung« und »Aufschluß«. Zugleich damit hatte er auch wirkungsästhetische Kategorien in die Debatte mit einbezogen, die »im Subjekte wohnen«, und dies sollte sich als ein außerordentlich glücklicher Lösungsansatz erweisen. Ein Epigramm ist zunächst nicht viel mehr als eine Aufschrift oder Inschrift, z. B. auf einem Grabstein, und enthält dann auch nicht viel mehr als die Lebensdaten der betreffenden Person. Als künstlerisch anspruchsvolle literarische Gattung hingegen hat es den Ehrgeiz, Leben und Wirken einer Person in möglichst knapper Form und auf witzige Weise »auf den Punkt zu bringen«, tendiert also immer zur Pointe und eignet sich deshalb auch besonders gut, das Wesen der Pointe zu bestimmen. Heute würde man dies wohl 999 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nicht mehr anhand der Analyse von Epigrammen, sondern anhand von Witzen tun, aber diese literarische Gattung gab es zu Lessings Zeiten noch nicht. Ein Musterbeispiel eines literarisch anspruchsvollen Epigramms findet sich in Boxbergers Lessing-Ausgabe, das zwar nicht von Lessing stammt, aber sehr wohl von ihm stammen könnte, denn diese »Grabschrift auf einen Gehängten« lautet: »Hier ruht er, wenn der Wind nicht weht.« (1,170)

Lessing übersetzt das Wort »Epigramm« mit »Sinngedicht« und definiert es wie folgt: »Das Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen Aufschrift unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen.« (12,379)

Entscheidend ist also nicht, daß Aufmerksamkeit und Neugierde bloß erregt und dann irgendwie befriedigt werden, sondern daß sie erregt und hingehalten, also gezielt gespannt und gesteigert werden, weil sie Widerstände zu überwinden haben, um dann aber mit einem Mal befriedigt zu werden, und diese zu überwindenden Hemmnisse werden sich, wie wir sehen werden, als überaus wichtiges Kriterium für die Bestimmung der Pointenstruktur erweisen. Was Lessing hier unter Berufung auf Scaliger »Vorausschickungen« (12,379) nennt, also Vorahnungen oder Vermutungen im Hinblick auf den zu erwartenden Aufschluß, würden wir heute wohl als »Protentionen«142 oder als »Vorverständnis« bezeichnen oder, noch genauer, als Zusammenspiel von »mitgebrachtem« und »vorgreifendem Vorverständnis« 143, das dann im Aufschluß blitzartig zum vollen Verständnis und zur vollen Gewißheit aufgelöst werden kann. Damit ist Lessing in seiner Argumentation so weit gekommen, daß er unter Berufung auf die Literaturtheorie des Abbé Charles Batteux von 1765 das Epigramm als Zusammenspiel von Exposition, Durchführung und Auflösung eines Gedankens bestimmen kann, das wie ein klassizistisches Miniaturdrama funktioniert, denn Batteux sagt in Lessings Übersetzung: »Das Epigramm hat notwendiger Weise zwei Teile: der erste ist der Vortrag des Subjekts (l’exposition du sujet) 144, der Sache, die den Gedanken hervorgebracht oder veranlasset hat; und der andere der Ge-

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danken selbst (la pensée même), welchen man die Spitze (pointe) nennt, oder dasjenige, was den Leser reizt (pique), was ihn interessieret.« 145

Dieses Zusammenspiel von Exposition, allmählichem Aufbau und plötzlicher Lösung von Spannung erläutert Lessing dann genauer durch einen Vergleich des dramatisch und hypotaktisch strukturierten Epigramms mit der episch und parataktisch strukturierten Fabel, indem er schreibt: »Der wesentliche Unterschied, der sich zwischen dem Sinngedicht und der Fabel befindet, beruhet aber darin, daß die Teile, welche in dem Sinngedichte eines auf das andere folgen, in der Fabel in eins zusammenfallen und daher nur in der Abstraktion Teile sind. Der einzelne Teil der Fabel kann keine Erwartung erregen, weil man ihn nicht ausgehöret haben kann, ohne daß der Aufschluß zugleich mit da ist; sie macht einen einzigen Eindruck und ist keiner Folge verschiedner Eindrücke fähig. Das Sinngedicht hingegen enthält sich eben deshalb entweder überhaupt solcher einzelner Fälle, in welchen eine allgemeine Wahrheit anschauend zu erkennen wäre, oder läßt doch diese Wahrheit beiseite liegen und ziehet unsere Aufmerksamkeit auf eine Folge, die weniger notwendig daraus fließt. Und nur dadurch entsteht Erwartung, die dieses Namens wert ist, wo wir das, was wir zu erwarten haben, schon völlig voraussehen.« (12,391)

Werden wir bei dieser Erwartung durch irgendwelche Hemmnisse mehr oder weniger hingehalten, so ist die Erwartung noch größer und noch gespannter, und deren Auflösung im Aufschluß wirkt noch erlösender, noch erleichternder und noch befriedigender, und der plötzliche Umschlag von Nichtwissen in Wissen ist noch vollkommener. Und genau dies ist die Funktion des acumen, weshalb Lessing, nachdem er über viele Seiten hinweg klassische Beispiele von Epigrammen unter diesem Aspekt analysiert hat, endlich die Bilanz ziehen kann, »daß das Sinngedicht ohne dergleichen acumen oder pointe schlechterdings nicht sein kann«, und das Sinngedicht deshalb »notwendig eine dergleichen pointe haben müsse.« (12,408)

Damit war das Wort »Pointe« als literaturtheoretischer Begriff ins Deutsche eingeführt. Aber das genügte Lessing offenbar noch nicht, weshalb er sofort die Überlegung anschließt, ob man diese 1001 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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anhand des Epigramms erschlossene Pointenstruktur nicht auch auf Bereiche außerhalb der Literatur und der Literaturtheorie ausweiten und anwenden könne, und zwar überall dort, wo es darum geht, »jede erregte Erwartung immer mit einem neuen und doch wahren, mit einem scharfsinnigen und doch ungekünstelten Aufschlusse zu befriedigen.« (12,408)

Diese Überlegung zur Ausweitung der Pointenstruktur über das Epigramm und die geloiastische Literatur hinaus auf andere Bereiche ist deshalb so wichtig und wegweisend, weil es auch Pointen jenseits des Komischen gibt, die Gelächter aller Art auslösen können, und weil damit zugleich klargestellt werden kann, daß die Bindung des Lachens ans Komische in keiner Weise zwingend ist. Zwingend ist einzig die Pointenstruktur, das Zusammenspiel von gespannter Erwartung und plötzlichem Aufschluß, oder, noch allgemeiner: das Zusammenspiel von allmählicher Anspannung und plötzlicher Entspannung. Lessing weist zwar darauf hin, »daß dergleichen Spiele des Witzes Lachen erregen können« (vgl. 12,397), hat das von ihm entdeckte Zusammenspiel von gespannter Erwartung und plötzlichem Aufschluß aber nicht zur Grundlage einer Theorie des Lachens gemacht. Dies tat erst Kant zwanzig Jahre später in seiner Ästhetik, in der er aus Lessings Ansatz die berühmte Definition des Lachens ableitet: »Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« (V,437)

Allerdings müssen wir hier gleich klarstellen, daß damit einzig das Bekundungs-Lachen näher bestimmt ist, nicht das Interaktions-Lachen und schon gar nicht das Resonanz-Lachen. Und daß Kants Definition lückenhaft ist und einiger Ergänzungen bedarf, werden wir auch sehen, wenn wir später ausführlicher auf Kants Beiträge zur Gelotologie eingehen werden. Die weitere Geschichte des Wortes »Pointe« ist schnell erzählt: Schon Johann Joachim Eschenburg verwendet das Wort als Terminus in seinen literaturtheoretischen Schriften synonym mit »Aufschluß«146, und genauso verfährt Herder in seinen Anmerkungen über das griechische Epigramm (1781), der das Wort »Pointe« 1002 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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mit der gleichen Selbstverständlichkeit verwendet, aber mit der Tendenz, die Wörter »acumen« und »Pointe« von ihrem Wortfeld »Spitze/Stachel/Sporn« abzulösen und wirkungsästhetisch neu zu deuten, weshalb er sich auch eher an Meiers Bild vom Brennpunkt orientiert, in dem Lichtstrahlen gebündelt werden, denn er schreibt: »Was aber jedes Epigramm haben muß, ist lebendige Gegenwart und fortgehende Darstellung derselben, Energie auf den letzten Punkt der Wirkung. (…) Aus dem Begriff der Aufschrift folget sie nicht: denn will jeder gestochen seyn, der eine Aufschrift lieset? leiden alle Gegenstände einen solchen Stachel? und wäre überhaupt der Begriff des Stichs der Sinn des Wort Pointe (acumen) und aller Epigramme trefflichste Wirkung? Mit nichten; der Ausdruck selbst will etwas Anderes sagen. Jeder Gegenstand nämlich, der vorgezeigt werden soll, bedarf Licht, damit er gesehen werde; der Künstler also, der für’s Auge arbeitet, muß auf Einen Gesichtspunkt arbeiten und für ihn das Moment seines Subjekts147 wählen. Was dem Künstler dieser Gesichtspunkt von außen oder das Moment dieses Gegenstandes von innen ist; das ist dem Epigramm die Pointe. Der lichte Gesichtspunkt, aus dem der Gegenstand gesehen werden soll, auf welchen also das Epigramm vom Anfange bis zum Ende arbeitet, oder wenn es Epigramm für die Empfindung ist, das Moment seiner Energie, der letzte scharfgenommene Punkt seiner Wirkung.« (26,229 f.)

Diese Wirkung kann Gelächter sein, kann aber auch tragische Erschütterung, Erhebung oder Rührung sein, was Herder gleich an einigen Beispielen aus der antiken Literatur illustriert. Und dann zieht er die Bilanz: »Man entkäme also dem meisten Mißverstande dieser Regeln, wenn man statt Kürze Einheit, statt Anmuth lebendige Gegenwart, und statt der Pointe den Punkt der Wirkung verlangte, der das Ganze energisch vollendet.« (29,231)

Damit hatte Herder das von Lessing erarbeitete Zusammenspiel von Erwartung und Aufschluß, von Spannung und Lösung um einen ganz neuen Aspekt erweitert, von dem bei Lessing noch nicht die Rede gewesen war, den aber Meier mit seinem Bild vom Brennpunkt schon anvisiert hatte. Ich meine den Aspekt der Intensität, 1003 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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demzufolge eine Pointe als die finale und extreme Intensivierung einer schon aufgebauten Spannung erscheint, die zu einer explosionsartigen Entladung drängt. Wenn wir uns nun wieder an Jean Pauls Diktum erinnern, nicht die Form der Pyramide sei erhaben, sondern die Bahn des Blicks beim Betrachten einer Pyramide und das dabei sich einstellende eigenleibliche Spüren, und dieses Argumentationsschema auf die so verstandene Pointe übertragen und dann außerdem noch mit Jean Paul fragen, wo denn die so verstandene Pointe im Subjekte wohne, so kommen wir zu dem Ergebnis, daß auch das eigenleibliche Spüren in bestimmten Situationen und beim Umgang mit bestimmten Objekten, die eine pointenhafte Struktur aufweisen, als finale und extreme Intensivierung erlebt wird, die zu einer explosionsartigen Entladung drängt. Eine Entladung dieser Art neben vielen anderen ist die gestotterte Explosion des Lachens, das tendenziell unverfügbar aus uns herausplatzt und die Pointenstruktur des Erlebten denotiert. Franz von Baader nennt diesen Durchbruch bei der »Akme« mit einer sehr glücklichen Formulierung »das Explodieren der Angstspitze« 148, und diese Formulierung werden wir fortan beibehalten. Daß Baader diesen überaus treffenden Ausdruck nicht im Zusammenhang mit gelotologischen Fragen gebraucht, sondern bei der Erörterung von religiösen Durchbruchs- und WiedergeburtsErlebnissen, wie er sie bei Jakob Böhme gefunden hatte, und daß man außerdem auch Orgasmen aller Art mit derselben Formulierung treffend auf den Punkt bringen kann, wie dies schon Hildegard von Bingen getan hat 149, deutet darauf hin, daß wir es hier offenbar mit einem proprium hominis zu tun haben, das sich in den verschiedensten Situationen manifestieren kann, aber seinen festen Sitz im Leben hat. Das muß hier aber nicht weiter verfolgt werden. Wir bleiben deshalb bei der Pointenstruktur geloiastischer Phänomene und Situationen und verfolgen zunächst die Rezeptionsgeschichte des Wortes »Pointe« etwas weiter. Um 1800 scheint sich das Wort offenbar allgemein durchgesetzt zu haben, denn Goethe verwendet es in diesem Herderschen Sinn 1801 in seiner Rezension der humoristischen Gedichte von Johann Konrad Grübel in Nürnberger 1004 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mundart 150, ebenso Jean Paul 1804 in seiner Ästhetik, in der er die Pointe als »Reiz des Lachens« (49,165) bezeichnet. Eine Ausnahme bildet Friedrich Schleiermacher, der lieber bei dem Wort »Spitze« blieb, der Debatte um das Wesen der Pointe aber einen neuen Aspekt hinzufügte, wenn er unter Anlehnung an Georg Friedrich Meier schreibt: »In den modernen Formen des Epigramms ist die Spitze die Hauptsache. Diese aber ist eben die Beziehung auf das Gegebene in möglichster Schärfe. Sie entsteht wie ein Blitz im Moment.« 151

Weil sich das Wort nun allgemein durchgesetzt hatte, fehlte es auch nicht an Versuchen der Sprachpuristen, das Fremdwort »Pointe« wieder zu »entwelschen« und durch ein »ächt teutsches« zu ersetzen. So schlug z. B. Joachim Heinrich Campe 1801 in seinem Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke vor, »Pointe« durch »Gedankenspitze«, »Witzpunkt«, »Witzstachel« oder »Sinnspitze« 152 zu ersetzen, doch all diese Vorschläge haben sich nicht durchgesetzt. Campe mußte sich für seine puristischen Bemühungen sogar noch von Goethe verspotten lassen, der ihm das Xenion Der Purist ins Stammbuch schrieb: »Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern; Nun so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht.« (2,327)

Wieder eine Generation später spielt Heinrich Heine in seinem Wintermärchen auf das übermütigste mit den verschiedenen Aspekten des Wortes, wenn er die preußischen Leutnants im Rheinland und zugleich damit den Romantiker auf dem preußischen Thron lächerlich macht: »Nicht übel gefiel mir das neue Kostüm Der Reuter, das muß ich loben, Besonders die Pickelhaube, den Helm, Mit der stählernen Spitze nach oben. Das ist so ritterlich und mahnt An der Vorzeit holde Romantik, An die Burgfrau Johanna von Montfaucon, An den Freiherrn Fouqué, Uhland, Tieck.

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Das mahnt an das Mittelalter so schön, An Edelknechte und Knappen, Die in dem Herzen getragen die Treu Und auf dem Hintern ein Wappen. Das mahnt an Kreuzzug und Turnei, An Minne und frommes Dienen, An die ungedruckte Glaubenszeit, Wo noch keine Zeitung erschienen. Ja, ja, der Helm gefällt mir, er zeugt Vom allerhöchsten Witze! Ein königlicher Einfall wars! Es fehlt nicht die Pointe, die Spitze! Nur fürcht ich, wenn ein Gewitter entsteht, Zieht leicht so eine Spitze Herab auf Euer romantisches Haupt Des Himmels modernste Blitze.« (7,582)

Man möchte seitenlang weiter zitieren. Aber auch wenn man Heines witzige Bosheiten mit noch so großer Begeisterung liest, wird man wohl kaum in das ekstatisch explodierende Cachinnus-Lachen ausbrechen, sondern eher kichern und schmunzeln, vielleicht mal kurz auflachen und dann wieder schmunzelnd und kichernd weiterlesen, obwohl die Pointen in diesem Text so dicht aufeinander folgen. Aber warum ist das so? Gibt es einen strikten genetischen Zusammenhang von Pointe und Gelächter, einen Zusammenhang also von der Art, daß bestimmte Formen von Gelächter bestimmte Pointen »denotieren«? Wir haben schon bei Meiers Apologie eutrapelistischer Praxis gesehen, daß er die ausgeprägte Tendenz hatte, in der Tradition von Shaftesbury alle Formen von Lach-Paroxysmen als unvernünftig und unästhetisch abzuqualifizieren und alle Formen gemäßigter, aber perennierender Heiterkeit zum Ideal zu erheben. Die eutrapelistische Scherzkunst, die diese Atmosphäre perennierender, aber gemäßigter Heiterkeit zu stiften hat, verlangt deshalb zwar auch eine bestimmte Form von Pointen und verlangt auch das Zusam1006 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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menspiel von Erwartung und Aufschluß, von allmählich gesteigerter Anspannung und plötzlicher Entspannung, aber dieses Spiel von Anspannung und Entspannung erfolgt in kürzesten Zeiträumen und auf relativ niederem Spannungsniveau, sodaß die Pointen dicht aufeinander folgen und die Atmosphäre perennierender Heiterkeit aufrecht erhalten können. Dieses »Feuerwerk von Pointen«, das den Gelächter-Teppich perennierender Heiterkeit ausbreitet, wollen wir episodisch nennen. Im Gegensatz dazu baut die finale Pointe ein viel höheres Maß an Spannung auf, die sich dann im explodierenden tendenziell unverfügbaren Cachinnus-Lachen entlädt, das so lange und bis zur Erschöpfung des Lachers gelacht wird, bis es sich uroborisch selbst verzehrt hat. Soll dieses Cachinnus-Gelächter gezielt organisiert werden, so geschieht dies heutzutage meist im Witz, der immer zielsicher auf die eine finale Pointe zusteuert. Aber auch diese Unterscheidung zwischen episodischer und finaler Pointe und, analog dazu, zwischen dem tendenziell unverfügbaren krachend herausplatzenden Lachen und dem tendenziell verfügbaren Lächeln, Schmunzeln, Kichern und Meckern ist eine Frage des Intensitätsniveaus, auf dem Lachen erregt und Lachen gelacht wird. 2.12.6.5.3 Spannungen Wie wir gesehen haben, hatte Lessing die Pointenstruktur des Epigramms auf das Zusammenspiel von »Erwartung« und »Aufschluß« zurückgeführt und dabei betont, die Wirkung einer Pointe sei umso größer, je größer die Spannung zwischen gezielt erzeugter und geschürter Erwartung und endlich geliefertem Aufschluß sei, insbesondere dann, »wenn unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen« (12,379). Lessing hatte also Spannung einzig als gespannte Erwartung auf Künftiges und als Vorwegnahme von Künftigem verstanden, im Sinne von Heidegger und Emil Staiger also allein als »zeitliche Ekstase« 153. Da Spannung aber mehr ist als Gespanntheit auf Künftiges, stellt sich die Frage, ob auch andere Formen von Spannung zu dergleichen »Spielen des Witzes« (Lessing) einladen und dann even1007 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tuell Lachen erregen können, und ob das von Lessing betonte Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung auch dann noch gilt. So sprechen wir z. B. von »gespannten Beziehungen« 154 zwischen Personen, Gruppen und Staaten, vom Spannen eines Bogens 155, vom Aufspannen von Saiten auf eine Gitarre, von der Intensität einer Körperspannung (»Stütze«), aber auch von der Spannung, unter der eine elektrische Leitung steht, und schließlich vom tonos der stoischen Physik, der den gesamten Kosmos und jedes einzelne Lebewesen durchdringt und dessen Verhalten prägt. Wenn wir nun fragen, was all diese Arten von Spannung gemein haben, so findet sich die Antwort eigentlich schon in dem oben angeführten Lessing-Zitat, nämlich in Lessings Hinweis auf einen hinhaltenden gegenläufigen Impuls, der dem jeweiligen manifesten Impuls entweder von außen entgegen wirkt oder ihm sogar schon von vornherein immanent ist. So gesehen entpuppen sich die verschiedenen Formen von Spannung rasch als Varianten von Intensität. 156 Wenn wir uns von hier aus nochmal die schöne Bogen-Anekdote des Wüstenvaters Antonius aus Kapitel 2.6.6.3 vor Augen halten, in der Antonius als Anwalt der Entspannungsdiätetik von Aristoteles und Cicero und als Kenner der stoischen tonos-Lehre auftritt und den überasketischen Jäger belehrt, ein Mensch vertrage nun mal nur ein bestimmtes Maß an Spannung, ohne zu zerbrechen wie ein überspannter Bogen, so wird deutlich, daß hier das Bild des gespannten Bogens ganz in dem Sinn das eigenleibliche Spüren denotiert wie Jean Paul das Erhabene in der Bahn des Blicks findet, der zur Spitze der Pyramide hoch wandert oder wie der Bogenschütze in Eugen Herrigels berühmtem Buch im Spannen des Bogens die Auseinandersetzung mit sich selbst sucht und sich dabei vielleicht sogar trifft. Deshalb bietet es sich an, hier an Hermann Schmitz anzuknüpfen, der über die »Kampfnatur der Intensität«157 schreibt: »Alle Intensität ist unmittelbar oder in projizierter und verkappter Form leibliche Intensität und besteht in der simultanen Konkurrenz von Spannung und Schwellung.«158

Und leibliche Spannung und Schwellung bestehen wiederum in der simultanen Konkurrenz von Engung und Weitung, also in der simultan wirkenden Konkurrenz zentripetaler und zentrifugaler Im1008 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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pulse. So gesehen läßt sich nun auch die stoische tonos-Lehre etwas genauer verstehen. Schon Sambursky hatte bereits auf die Tendenz der antiken Physiker aufmerksam gemacht, physikalische Phänomene der unbelebten Natur nach Maßgabe von Organismen 159 zu verstehen und zu beschreiben. Schmitz argumentiert hier noch etwas konkreter und interpretiert die stoische tonos-Lehre als eine der vielen verkappten Formen leiblicher Intensität in der stoischen Physik und Kosmologie, wenn er schreibt: »Nach Ansicht der Stoiker gibt es eine tonische Bewegung an den Körpern, die sich zugleich nach innen und nach außen richtet; ihre nach außen gerichtete Komponente ist verantwortlich für Größen und Qualitäten, die nach innen gerichtete aber für die Einigung und den Bestand (usia) der Körper. Als durchdringender pneumatischer Tonos hält diese Bewegung den Kosmos zusammen. Dabei handelt es sich um die Wirksamkeit des aus Feuer und Luft entstandenen pneuma, das durch alle Körper hindurchgeht und diesen so beigemischt ist, daß ihr Sein von ihm abhängt; dieses pneuma ist zugleich aus sich heraus und in sich hinein bewegt, so daß seine Bewegung, durch die es die von ihm durchdrungenen Dinge zusammenhält, zugleich in Entgegengesetztes hinein verläuft. Es ist die den ganzen Kosmos durchziehende Seele, von der nach Kleanthes ein Stück, an dem wir Anteil haben, uns beseelt. Daher hat auch unsere Seele diese Struktur einer durch entgegengesetzte Tendenzen nach innen und außen gekennzeichneten Spannung; nicht beliebiges, sondern nur durch den tonos qualifiziertes Feuer und pneuma gilt den Stoikern als Seele. Das eingewachsene Warme, das Natur und Seele ist, erhält sich in ständiger Unruhe durch zwei entgegengesetzte Bewegungen, die einander beständig auffangen und dadurch in Gang halten: Die Bewegung nach außen und oben ist Entfaltung oder Ausbreitung (hexaplosis) und würde sich ohne Konkurrenz mit ihrem Gegenspieler, der Bewegung nach innen und unten, zerstreuen und dadurch verzehren; die andere Bewegung, die nach innen, würde sich ohne Antagonisten bald bis zur Unbeweglichkeit konzentrieren; nur durch die Konkurrenz beider Bewegungstendenzen wird die ewige Unruhe von psyche und pneuma erhalten. So hält die Seele die beseelten Körper durch eine von der Mitte zu den Enden und zugleich umgekehrt von den Enden zur Mitte verlaufenden Bewegung zusammen.« 160

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Lockert sich das Band, das diese beiden antagonistischen Impulse aneinander bindet, so macht sich einer von beiden gleichsam selbständig. Das kann in der Form geschehen, daß wir z. B. im Schreck »zu Stein erstarren« und gleichsam implodieren; das kann aber auch in der Form geschehen, daß wir gleichsam explodieren, wie dies z. B. in einem ekstatischen Lachanfall geschieht. Da dieses Band aber letztlich doch nicht reißt, sondern sich immer nur kurzfristig lockert, wird es durch den uroborischen Verlauf des Lachens, in dem dieses sich selbst verzehrt, wieder aufs neue geknüpft. Die Pointe wäre demnach der Punkt, an dem sich diese plötzliche Lockerung dieses Bandes ereignet, bzw. der Augenblick, in dem sich der Knoten in diesem Band plötzlich löst. Aber wodurch wird er denn gelöst? Hier gibt uns Edmund Burke (1729–1797) mit seiner Studie über das Erhabene und Schöne von 1756 161 einen wichtigen Hinweis. Ansatzpunkt ist für ihn das Gefühl, bei der Erfahrung des Erhabenen von etwas Überwältigendem bedroht zu werden, vor dem man flüchten möchte, dem man aber gleichwohl die eigene Selbstbehauptung entgegensetzt, sodaß man zwischen den beiden antagonistischen Impulsen flüchten und standhalten schwankt, die einen in einen Zustand höchster Spannung versetzen. Burke erläutert dies näher am Beispiel von Schmerz und Furcht, womit er den phobos der aristotelischen Tragödientheorie meint, und kommt zu dem Schluß, »daß Schmerz und Furcht in einer unnatürlichen Nervenspannung bestehen – in einer Spannung, die bisweilen unnatürlich stark ist und bisweilen plötzlich in eine außerordentliche Schwäche übergeht. (…) Das ist die Natur aller krampfhaften Erschütterungen, besonders bei den schwächeren Subjekten, die den stärksten Eindrücken von Schmerz und Furcht am meisten zugänglich sind. Der einzige Unterschied zwischen Schmerz und Furcht besteht darin, daß Dinge, die Schmerz verursachen, unter Vermittlung des Körpers auf das Gemüt wirken, – während Dinge, die Schrecken verursachen, die körperlichen Organe im allgemeinen durch eine Tätigkeit des Gemüts affizieren, die auf die Gefahr hindeutet. Wie aber Schmerz und Furcht darin übereinstimmen, daß sie – primär oder sekundär – eine Spannung, Zusammenziehung oder heftige Erregung der Nerven hervor-

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bringen, so stimmen sie in gleicher Weise in allen anderen Dingen überein.« (S. 171 f.)

Und daraus zieht Burke den Schluß, »daß alles, was eine Spannung zu erzeugen tauglich ist, auch eine dem Schrecken ähnliche Leidenschaft (besser: einen dem Schrecken ähnlichen Affekt) hervorbringen muß; infolgedessen muß es auch eine Quelle des Erhabenen sein, selbst wenn keine Gefahr mit ihm verknüpft sein sollte.« (S. 173 f.)

Auf die Frage, was geschieht, wenn diese Spannung plötzlich gelöst wird, unabhängig davon, ob diese Spannung aus dem Gefühl des Erhabenen resultiert oder aus einer gespannten Erwartung, also aus Hoffen und Bangen, oder aber aus einem Druck, gegen den man sich mit aller Macht stemmt, geht Burke nicht ausführlicher ein, denn er thematisiert nur »allmähliche Änderungen« 162, was auch seiner konservativen Natur entspricht, die ihn alle plötzlichen Änderungen als unnatürlich und häßlich 163 empfinden läßt. Die Frage nach dem Effekt eines plötzlichen Spannungsabfalls stellt erst Kant, indem er Spannung auf gespannte Erwartung reduziert und dann zu dem Ergebnis kommt, Lachen sei »ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« (V,437) Damit wäre nun auch unsere Frage beantwortet, wodurch denn der Knoten gelöst wird, der die antagonistischen Impulse gelebter Intensität aneinander knüpft, und diese Antwort lautet: Gelöst wird dieser Knoten durch den Einbruch des Plötzlichen. Im Kapitel über Thomas Hobbes haben wir schon festgestellt, daß die Erfahrung des Plötzlichen an die Epiphanie des Unerwarteten und Neuen geknüpft ist, das wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Welt einen Augenblick lang überhell ausleuchtet und uns das Gefühl von überwältigender Evidenz bereitet, das Aristoteles als den plötzlichen Umschlag von Nichtwissen in Wissen bezeichnet. Franz von Baader bezeichnet diese Erfahrung in Anlehnung an Jakob Böhmes Qualitätenlehre 164 als »Explodieren der Angstspitze«, um deutlich zu machen, daß in dieser Spitze ein Impuls massiver zentripetaler Engung, was er »Angst« nennt, in exzessive zentrifugale Weitung umschlägt, was er als »Explodieren« bezeichnet, und hat damit, soweit ich sehe, die bislang bündigste und pointierteste Definition der Pointe geliefert. 1011 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Aber diese Erfahrung von überwältigender Evidenz ist durchaus nicht allein an die Pointenstruktur bestimmter Texte gebunden, sondern manifestiert sich überall dort, wo uns erschütternde Erlebnisse aller Art ergreifen, also überall dort, wo wir mit Richard Dehmel sagen können: »Plötzlich stehst du überwältigt.« 165 Schon Erwin Straus, dem wir die früheste Analyse des Plötzlichen verdanken, hatte darauf verwiesen, daß dieses Erlebnis überwältigender Evidenz mit der Zerreißung vertrauter oder auch nur vermeintlich vertrauter Sinnzusammenhänge einhergeht und deshalb besonders häufig bei Bekehrungserlebnissen 166 auftritt, die ja auch als ein Umschlagen von Nichtwissen in Wissen empfunden werden, und so kann es nicht verwundern, daß der deutsche Pietismus, dessen Theologie ganz auf die Gnadengabe der Wiedergeburt abgestimmt war, für Erlebnisse dieser Art eigens einen Wortschatz entwickelt und diesen Urknall religiöser Individuation als »Durchbruch«167 bezeichnet hat. Der Durchbruch zur Wiedergeburt wäre somit die finale Pointe im krisenhaften Bußkampf eines Pietisten. Aus diesem Grund ist es schon aus methodologischen Gründen sinnvoll, Beschreibungen derartiger Durchbruchs-, Bekehrungsund Wiedergeburts-Erlebnisse genauer zu analysieren, weil hier Erfahrungen beschrieben werden, die offensichtlich weit über den religiösen Bereich hinaus von Bedeutung sind. 2.12.6.5.4 Durchbrüche Die weitaus berühmteste Beschreibung eines derartigen Durchbruchs ist die Bekehrung des Kirchenvaters Augustinus, die er in seinen Bekenntnissen ganz in der Tradition und im Wortschatz der Penthos-Lehre beschrieben hat, in der, wie wir in Kapitel 2.6.3 gesehen haben, immer wieder dargestellt wird, mit welcher Macht auf diesem »Weg des Weinens« der »göttliche Einstich« (Katanyxis) dem Sünder ins Herz fährt und diesen zur Contritio bringt. Augustinus bezeichnet dort seine Situation ausdrücklich als »Krisis« im Sinne der Medizin (S. 136), die durch »Gottes Stachel« (S. 175) zum Höhepunkt geführt wird, an dem gleich zwei böse Naturen und zwei böse Seelen in ihm miteinander kämpfen, bis schließlich 1012 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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durch den Zuruf »Tolle, lege!« im achten Buch die eigentliche Bekehrung erfolgt. Diese medizinische Metaphorik behält er auch weiterhin konsequent bei. Daß Augustinus hier vom »Stachel Gottes« (acumen dei) spricht, mit dem ihm dieser buchstäblich die Sporen gibt, um seine Lebenskrise zum Höhepunkt und Wendepunkt zu treiben, zeigt wieder einmal, wie tief er durch die rhetorische Argumentationstradition geprägt war, aus der diese acumen-Metaphorik stammt und wie eng diese sich hier an die traditionelle Katanyxis-Lehre anschmiegt, denn er fährt in der Rede an seinen Gott fort: »Unter der heilenden Kraft deiner geheimnisvoll wirkenden Hand schwand meine Geschwulst dahin und meines Geistes getrübte und verdüsterte Hellsicht ward durch die scharfe Salbe heilsamer Schmerzen allmählich geheilt.« (S. 175)

Ihm wurde also von seinem Gott gleichsam der Star gestochen, was dann den Umschlag vom Nichtwissen zum Wissen bewirkte und ihm das »Licht des Glaubens« aufgehen ließ. Man könnte nun über viele Seiten hinweg zitieren, wie ausführlich Augustinus immer wieder Stürze und Aufrichtungen während seiner Krise beschreibt; wie er nach einem Sturz in der Haltung eines Fötus vor der Geburt am Boden liegt und gleichsam auf die Geburt zu warten scheint; mit welchen Rückschlägen er zu kämpfen hat; welchen Versuchungen er sich dabei ausgesetzt sieht; wie er sich in tiefster Zerknirschung und Weinkrämpfen am Boden wälzt, und dergleichen mehr. Das ist spannend beschrieben, mit allen Künsten der Rhetorik komponiert und mündet schließlich in den letzten Sätzen des achten Buches in die Situation, daß alle Trauer in Freude verwandelt ist. Analoge Beschreibungen finden sich in der einschlägigen Studie von Barbara Müller Der Weg des Weinens, in der die Penthos- und KatanyxisLehre ausführlich dargestellt wird. Dieser Licht- und Auferstehungsmetaphorik bedient sich auch Jakob Böhme (1575–1624) in seinem Erstlingswerk Aurora oder Morgenröte im Aufgang von 1612 168, in dem er im 19. Kapitel seine Bekehrung beschreibt. Ausgangspunkt für Böhme ist die Erfahrung, »daß in allen Dingen Böses und Gutes war, in den Elementen sowohl als in den Kreaturen« (S. 361) und somit auch in ihm selbst, und dies wirft ihn in tiefste Depression. Dann aber 1013 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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kommt bei seiner Krise die Wende wie bei seinem Namensvetter, dem biblischen Jakob an der Furt Jabok: »Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist – den ich wenig und nichts verstund, was er war – ernstlich in Gott erhub als mit einem großen Sturme, und mein Herz und Gemüte samt allen andern Gedanken und Willen sich alles darein schloß, ohne Nachlassen, mit der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu ringen und nicht nachzulassen, er segnete mich denn, das ist: er erleuchtete mich denn mit dem Hl. Geiste, damit ich seinen Willen möchte verstehen und meiner Traurigkeit los werden; – so brach der Geist durch.« (S. 361 f.)

Und nun kann er nur noch im »sudden glory« strahlen wie die Auferstandenen und in diesem Lichte wandeln, und alles erscheint ihm in einem völlig neuen Licht: »Was aber für ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht schreiben oder reden. Es läßt sich auch mit nichts vergleichen als nur mit dem, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, und vergleicht sich mit der Auferstehung von den Toten. In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen und an allen Kreaturen, sowohl an Kraut und Gras, Gott erkannt, wer der sei und wie der sei und was sein Wille sei. Und so ist alsbald in diesem Lichte mein Wille gewachsen, mit dem großen Trieb das Wesen Gottes zu beschreiben.« (S. 362)

Am Modell dieser beiden Bekehrungen orientieren sich im Grunde alle Biographien, die Johann Heinrich Reitz in seiner Historie der Wiedergebohrnen zusammengestellt hat, und an Augustinus und Böhme orientiert sich natürlich auch die paradigmatische Bekehrungsgeschichte von August Hermann Francke, die zur Pflichtlektüre eines jeden deutschen Pietisten gehörte. Ganz wie Augustinus beschreibt auch Francke sich hier erst ausführlich als großen Sünder voller Weltverfallenheit, Eitelkeit und Zweifel, der schließlich, obwohl er doch Theologie studiert, auf dem Tiefpunkt seiner religiösen Existenz angelangt ist: »Denn ich glaubte auch keinen Gott im Himmel mehr, und damit war alles aus. (…) Es war bey mir eine solche ruchlosigkeit, daß ich aus weltlich gesinnetem Hertzen die warheit Gottes in den wind geschlagen hätte. Wie gerne hätte ich alles geglaubet, aber ich konnte nicht. Ich suchte auff diese und jene weise mir selbst zu helffen, aber es reichte nichts hin. (…) Dieser Jammer pressete mir viel thränen aus den

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Augen, dazu ich sonst nicht geneiget bin. Bald saß ich an einem Ort und weynete, bald ging ich in großem Unmuth hin und wieder, bald fiel ich nieder auff meine Knie, und ruffte den an, den ich doch nicht kante.« 169

Diese Schilderung notorischer Unruhe und Orientierungslosigkeit erstreckt sich über einige Seiten, um deutlich zu machen, daß Francke in Sündenqual und Bußkampf buchstäblich hin und her gerissen wird: »Denn ich fühlete es gar zu hart, was es sey, keinen Gott haben, an den sich das Hertz halten könne.« (S. 27) Dann aber stellt er ganz im Stil Jakob Böhmes seinem Gott gleichsam ein Ultimatum, und es geschieht die Auferstehung zum Wiedergeborenen: »In solcher großen angst legte ich mich nochmals an erwehntem Sontag abend nieder auff meine Knie, und rieffe an den Gott, den ich noch nicht kante, noch Glaubte, um Rettung aus solchem Elenden zustande, wenn anders warhafftig ein Gott wäre. Da erhörete mich der Herr, der lebendige Gott, von seinem h. Thron, da ich noch auf meinen Knien lag. So groß war seine Vater-Liebe, daß er mir nicht nach und nach solchen zweiffel und unruhe des Hertzens wieder benehmen wollte, daran mir wol hätte genügen können, sondern damit ich desto mehr überzeuget würde, und meiner verirreten Vernunfft ein zaum angeleget würde, gegen seine krafft und Treue nichts einzuwenden, so erhörete er mich plötzlich. Denn wie man eine Hand umwendet, so war aller mein Zweiffel hinweg, ich war versichert in meinem Hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich kunte Gott nicht allein Gott sondern meinen Vater nennen, alle Traurigkeit und unruhe des Hertzens ward auff einmahl weggenommen, hingegen ward ich als mit einem Strom der Freude plötzlich überschüttet, daß ich aus vollem Muth Gott lobete und preisete, der mir solche Gnade erzeiget hatte. Ich stund gar anders gesinnet wieder auff, als ich mich niedergeleget hatte. Denn mit großem Kummer und zweiffel hatte ich meine Knie gebogen, aber mit unaußsprechlicher Freude und großer Gewißheit stand ich wieder auf.« (S. 27 f.)

Dann folgt eine lange Beschreibung großer motorischer Unruhe, aber diesmal wird der wiedergeborene Francke nicht mehr von ambivalenten Impulsen hin und her gerissen, sondern gerät förmlich in Ekstase, weil ihn das strahlende Lachen der Auferstandenen, von 1015 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dem schon Clemens von Alexandrien gesprochen hatte, fast zerreißt: »Ich kunte mich nicht die Nacht über in meinem Bette halten, sondern ich sprang für freuden herauß und lobete den Herrn meinen Gott. Ja es war mir viel zu wenig, daß nur ich Gott loben solte, ich wünschte daß alles mit mir den Namen des Herrn loben möchte. Ihr Engel im Himmel, rieff ich, lobet mit mir den Namen des Herrn, der mir solche Barmhertzigkeit erzeiget hat. Meine vernunfft stund gleichsam von ferne, der Sieg war ihr aus den Händen gerissen, denn die Krafft Gottes hatte sie dem Glauben unterthänig gemachet.« (S. 28)

Um klarzustellen, daß diese Art von Freude und Heiterkeit mit den Ausbrüchen weltlicher Heiterkeit und weltlichem Lachen nicht vergleichbar ist, fährt Francke unter Orientierung an der klassischen christlichen Opposition von Natur und Gnade fort: »Doch gab sie (die Vernunft) zuweilen in den Sinn, sollte man nicht auch von natur solche große Freude empfinden können; aber ich war dagegen gantz und gar überzeuget, daß alle welt mit aller Lust und Herrligkeit solche süssigkeit im menschlichen Hertzen nicht erwecken könnte, als diese war, und sahe wol im Glauben, daß nach solchem Vorschmack der Gnade und Güte Gottes die welt mit ihren reitzungen zu einer weltlichen Lust wenig mehr bey mir ausrichten würde. Denn die Ströme des lebendigen wassers waren mir alzu lieblich worden, daß ich leicht vergessen konnte der stinckenden mistpfützen dieser welt.« (S. 28)

Diese neue Sicht auf die Dinge hat ihn denn auch dazu gebracht, in seinen dreißig schriftmäßigen Lebensregeln, einem »Knigge« für Pietisten, ausdrücklich vor dem »unnützen Lachen«170 zu warnen. Aber was ein frommer Pietist sich verbietet, muß sich ein weltlicher Mensch noch lange nicht verbieten oder verbieten lassen, und außerdem sind derlei plötzliche und tiefgreifende biographische Peripetien durchaus nicht auf religiöse Bekehrungen beschränkt, sondern können sich in allen Lebensbereichen ereignen. Und sie ereignen sich dann auch in durchaus analogen Szenarien, denn immer sind derartige Durchbrüche an die Erfahrung des Plötzlichen gebunden, das, wie Erwin Straus in seiner Studie Geschehnis und Erlebnis betont, einen bis dahin vertrauten Sinnzusammenhang zerreißt, der mit einer fundamentalen »Umwertung der persönlichen Vergangenheit« verbunden ist: 1016 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Während in den Bekehrungserlebnissen die Vergangenheit mit dem Auftauchen neuer Ordnungen des Seins und neuer Aufgaben versinkt und abgetan ist, der Bekehrte gleichsam auf einer höheren Stufe erwacht und von Neuem beginnt, kehrt der von sich selbst Enttäuschte in Reue und Verzweiflung immer wieder zur eigenen Vergangenheit zurück, er kommt von dem Geschehenen nicht mehr los.« (S. 79 f.)

Michel Onfray nennt eine derartige Peripetie in Anlehnung an Sartre einen »existentiellen Hapax« 171, also einen einmaligen Augenblick von existentieller Bedeutung, und hat eine ganze Reihe derartiger Wendepunkte im Leben wichtiger Intellektueller von Augustinus bis Nietzsche zusammengestellt, verrennt sich bei deren Deutung im Gefolge von Bataille aber bald in Spekulationen über das Quantum der dabei verbrauchten Lebensenergie und übersieht v. a. auch bei all diesen Selbstdarstellungen den mehr oder weniger ausgeprägten Hang zur Selbststilisierung. Dies gilt insbesondere für Augustinus, Descartes und Nietzsche. Insbesondere aber übersieht Onfray, daß derlei Durchbrüche durchaus nicht einmalige Ereignisse sein müssen, weil sie sich der ihnen eigenen Struktur nach in jedem ekstatischen Erlebnis ereignen, also z.B. in jedem Lachanfall und nach jeder Pointe, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Intensität, sodaß wir analog zu episodischen und finalen Pointen mit vollem Recht von episodischen und finalen Durchbrüchen reden dürfen. Und ganz so, wie die episodischen Pointen bei weitem nicht die Intensität einer finalen Pointe erreichen und das Gelächter, das sie »denotiert«, bei weitem nicht die Ausgeprägtheit eines ekstatischen Cachinnus-Lachens erreicht, so können die Konsequenzen, die sich aus verschiedenen Durchbrüchen ergeben, äußerst unterschiedlicher Art sein: Die einen bilden den Grundeinfall für ein ganzes Lebenswerk, die anderen nur für einen neuen Witz. Immer aber folgt auf einen Durchbruch ein ekstatisch-euphorischer Zustand, wenn auch von sehr unterschiedlicher Intensität. Wer sich in Leben und Werk Goethes etwas auskennt, wird wissen, daß Goethe den heuristischen Grundeinfall zu seiner Farbenlehre wie einen klassischen pietistischen Durchbruch beschrieben hat. Im erkenntnistheoretischen Teil seiner Maximen und Reflexionen kommt er auf dieses überwältigende Erlebnis 1017 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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plötzlicher unumstößlicher Gewißheit zurück und bringt es auf die Formel: »Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originellen Wahrheitsgefühles, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist die Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt.« (4,81)

2.12.6.5.5 Ekstasen Wir haben immer wieder gesehen, mit welchem Unbehagen die meisten Aufklärer von Shaftesbury bis Kant auf ekstatische Phänomene reagierten, die sie abfällig als Enthusiasterey bezeichneten und hinter denen sie die Gefahr witterten, die von ihnen erstrebte Mündigkeit wieder mehr oder weniger einzubüßen. Aus diesem Grund wird bei diesen Vertretern der Aufklärung stets der stoische Weise als Ideal beschworen, der sich in allen Situationen völlig in der Gewalt hat und durch nichts aus der Fassung zu bringen ist. Allerdings hat schon Lessing dieses stoische Ideal entschieden angezweifelt, wenn er seine Philosophin Orsina zu Odoardo Galotti sagen läßt: »Glauben Sie mir: wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.« (2,431)

Herder sah es ähnlich, weshalb auch er sich von dieser stoischen Ideologie verbissener Selbstbehauptung distanziert, wenn er in seiner Abhandlung Ueber Bild, Dichtung und Fabel von 1787 schreibt: »Der Zustand unsrer kalten Besonnenheit ist ein künstlicher, durch Erfahrung, Lehre und Gewohnheit allmählich erworbener Zustand, dessen Besitz uns in völlig unerwarteten Fällen zu erhalten oft schwer wird.« (29,20)

Denn: »Die Furcht, zumal in der Finsterniß, die Traurigkeit, Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung und jede andre Leidenschaft macht in unver-

1018 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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mutheten Augenblicken uns alle noch zu Wilden, denen bald dieser, bald jener Gegenstand zu leben scheint, und in sonderbaren Eindrükken auf sie wirket.« (29,19 f.)

Aus diesem Befund, daß wir in bestimmten Situationen, insbesondre bei affektiven Schüben, potentielle »Wilde« sind, zieht Herder aber nicht die Konsequenz, solche Abstürze in Wildheit seien grundsätzlich verwerflich und unwürdig, auch wenn »vor solchem Abgrunde dunkler Empfindungen unsrer hellen und klaren Philosophie am meisten graut« (8,18), sondern er plädiert dafür, auch diese Phänomene unvoreingenommen zu betrachten und zu erforschen. Das Ergebnis wäre »ein Nymphäum dieser Phantasien unsers Geschlechts« (29,20), »die Geschichte eines vernünftigen Wahnsinnes, die Probe vom Reichthum und der Anmuth aller menschlichen Erfahrung« (29,20). Hinter diesem energischen Plädoyer, auch das Andere der Vernunft nicht dogmatisch zu verleugnen, zu verdrängen und bedingungslos zu bekämpfen, sondern ernst zu nehmen und ihm auf Augenhöhe gegenüber zu treten, um ihm dort, wo es wirklich gefährlich werden kann, offensiv begegnen zu können, steht bei Herder die Überzeugung, unsere Selbsterkenntnis gründe sich vor allem auch auf diese Begegnung mit dem Anderen unserer selbst, also auf die Begegnung mit dem Wilden in uns selbst, mit dem eigenen »wahren inneren Afrika« 172, wie Jean Paul es nennt. All dies, so meine These in Anlehnung an Herder und Jean Paul, muß auch für den Umgang mit ekstatischen Phänomenen aller Art gelten. Wenn wir von hier aus nochmal auf Georg Friedrich Meier zurückblicken und nach der Ätiologie der Enthusiasterey fragen, die er anbietet, so lesen wir: »Ich glaube, daß der Leib nicht so verschiedenen Gattungen von Fiebern unterworfen ist, als die Seele von tausenderley Arten des blinden Eifers geplagt wird. Diese Enthusiasterey entstehet, wenn des Menschen ganze sinnliche Kraft von etwas eingenommen wird, dem er sich mit solchem Eifer übergibt, als wenn er von irgend einem Gott getrieben werde. (…) Er geräth außer sich.«173

Aber, so muß man wohl fragen, wie weit gerät er denn außer sich? Und wie weit kann und darf er denn außer sich geraten, ohne sich zu verlieren? Und in welchen Situationen geschieht dies? Geschieht 1019 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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es vornehmlich individuell oder kollektiv? Und geschieht es schmelzend oder sprengend, also durch allmähliche Erosion des Selbstbesitzes oder als plötzlicher Durchbruch zur Regression? Geschieht es durch gezielte Einwirkung anderer oder von selbst? Und wo liegt die Grenze zwischen dem Normalen und Gesunden und dem Pathologischen? All diesen Fragen haben sich die meisten Vertreter der dogmatischen Aufklärung strikt verweigert und jede Form von Enthusiasterey unbesehen verworfen. Nun gibt es leider, so weit ich sehe, bis heute keine Phänomenologie des Ekstatischen, die all diese Fragen systematisch klären würde. Klar ist aber, daß eine derartige Studie beim Phänomen der Einleibung als der elementarsten Form der Selbsttranszendierung anzusetzen hätte, auf das Joubert in seinem Traité du Ris und Herder in seiner Kalligone als erste verwiesen haben und das Herder dann zur Grundlage seiner Wirkungsästhetik erhoben hatte. Und klar müßte auch sein, daß eine derartige Phänomenologie des Ekstatischen alle ekstatischen Phänomene in das lockere Zusammenspiel von »Konzentration und Expansion«, von »Verselbstung und Entselbstung« einbetten müßte, wie Goethe dies in den berühmten Schlußsätzen des achten Buches von Dichtung und Wahrheit (23,299 f.) entworfen und Hermann Schmitz, dessen Philosophie der Leiblichkeit von diesen Sätzen Goethes ihren alles entscheidenden Impuls empfing, als Zusammenspiel von personaler Emanzipation und personaler Regression systematisch ausgeführt hat. Was es bislang gibt, sind nur Vorstudien zu einzelnen Formen und Graden von Ekstatik, die von hingegebener Aufmerksamkeit über Varianten mimetischer Resonanz 174 und Selbstverlust175 über Ergriffenheit, Entrücktheit176 und Besessenheit 177 bis hin zu somnambulen, hypnotischen und schizophrenen Zuständen beim Einzelnen und kollektiven Ekstasen reicht, die religiöser, aber auch ganz weltlicher Art sein können, wie ein Blick auf die Zuschauer in den Sportstadien und auf die Teilnehmer der Love Parade zeigt. Zu diesen Formen kollektiver Ekstasen zählt aber auch die durchbrechende Mordlust bei Pogromen und andere Arten von Blutrausch, wie sie z. B. Truman Capote in seinem Buch In Cold Blood dargestellt hat. Der generelle Nenner für all diese Verhal1020 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tensweisen ist ein Mindestmaß personaler Regression, bei denen, wie schon Herder betont hat, der Zustand kalter Besonnenheit mehr oder weniger lang aussetzt. Erste Ansätze für eine derartige Phänomenologie des Ekstatischen sehe ich in der Studie von Edgar Morin Das Rätsel des Humanen (1974), auf die ich weiter oben schon einmal verwiesen habe, weil Morin den Menschen nicht nur als homo sapiens, sondern eben auch als homo demens sieht und deshalb sowohl den Zustand vernünftiger Besonnenheit als auch den Zustand exzessiver Affektivität als legitime und ernstzunehmende Formen menschlichen Verhaltens versteht. Da der Zustand personaler Emanzipation, bedingt durch die uroborische Struktur all dieser ekstatischen Zustände, sich alsbald wieder einstellt, sofern diese Zustände nicht pathologischer Natur sind und nicht durch gezielte Manipulationen künstlich verlängert werden, gibt es keinen Grund, derlei ekstatische Verhaltensweisen generell und unbesehen in dem Maß zu verteufeln, wie dies seit Platon, den Stoikern und ihren christlichen und weltlichen Nachfolgern bis auf den heutigen Tag getan wird. Es gibt also keinen Grund, ganz dogmatisch »das Pathos des Beisichseins, des Sichbesitzens, des Sich-nicht-aus-der-Hand-geben-wollens«178, also das Prinzip des ungeschmälerten Verfügens über sich selbst verbissen zu kultivieren, sondern man kann sich vielen dieser ekstatischen Zustände ruhig überlassen und dabei dem Anderen der Vernunft einen Besuch abstatten, weil sie uns irgendwann wieder unbeschädigt in die Besonnenheit entlassen. Genau dies empfiehlt ja auch Goethe, »wenn nur anerkannt wird, daß wir uns in einem Zustand befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu drücken scheint, dennoch Gelegenheit gibt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben und die Absichten der Gottheit dadurch zu erfüllen, daß wir, indem wir von der einen Seite uns zu verselbsten genötigt sind, von der andern in regelmäßigen Pulsen uns zu entselbsten nicht versäumen.« (23,300)

All dies gilt natürlich auch für das Lachen in all seinen Graden von Intensität, und deshalb hatte Georg Friedrich Meier auch Recht, aus seinem Horaz sein Plädoyer für die Maxime Insipere aude in loco! abzuleiten. Diese Maxime läßt sich sogar bei Kant als dem 1021 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Aufklärer schlechthin finden, denn man kann zwar seitenweise Passagen aus seinem Werk zitieren, die unter dem Motto »Nur keine Hingabe!« 179 stehen und die sich als Illustration seiner stoizistischen »Festungsmentalität« 180 in dem Kant-Buch von Hermann Schmitz und der Studie der Brüder Böhme zuhauf finden, es gibt aber auch einen Punkt, an dem Kant diese schroff-dogmatische Haltung ablegte, und dies ist, wie wir sehen werden, seine Apologie des Lachens, in der Kant seine eigene Versöhnung mit dem Anderen der Vernunft feierte. Es war allerdings auch seine einzige.

2.12.6.6 Gelotologie zwischen psychophysischem Dualismus und leiblicher Synergetik 2.12.6.6.1 Überblick Wenn man die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts über das Lachen und verwandte Phänomene überblickt, so stellt man schell fest, wie effizient das »Modell Halle« 181 auch hier war, denn diese Diskussion ballte sich im wesentlichen auf die Jahre zwischen 1740 und 1760 zusammen und wurde im wesentlichen in Halle ausgetragen, gleichsam in Stellvertretung für die gesamte deutsche Gelehrtenrepublik, da sich hier nicht nur Aufklärung und Pietismus mächtig aneinander rieben, sondern auch die verschiedenen physiologischen Schulen im Gefolge von Georg Ernst Stahl, Friedrich Hoffmann und Albrecht von Haller. Eine Chronologie der thematisch einschlägigen Ereignisse und Publikationen zeigt, wie intensiv diese Diskussion geführt worden sein muß: Georg Ernst Stahl stirbt 1734. Johann Gottlieb Krüger: Naturlehre, Bd. I, Halle 1740 Friedrich Hoffmann stirbt 1742. Johann Gottlieb Krüger: Naturlehre, Bd. II, Halle 1743 Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, Halle 1744 Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen, Halle 1744 Ernst Anton Nicolai: Gedanken von den Wirkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper, Halle 1744

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Johann Gottlob Krüger: Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit, Halle 1745 Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, Halle 1746 Johann August Unzer: Gedancken vom Einflusse der Seele in ihren Körper, Halle 1746 Ernst Anton Nicolai: Abhandlung von dem Lachen, Halle 1746 Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, Halle 1746 Julien Offray de La Mettrie: L’homme machine, Leiden 1747 Johann August Unzer: Abhandlung vom Seufzen, Halle 1747 Ernst Anton Nicolai: Gedanken von Thränen und Weinen, Halle 1748 Johann Andreas Roeper: Die Würckung der Seele in den menschlichen Cörper, Halberstadt 1748 Johann Gottlieb Krüger: Naturlehre, Bd. III, Halle 1750 Johann August Unzer: Philosophische Betrachtungen des menschlichen Körpers überhaupt, Halle 1750 Johann Christian Bolten: Gedancken von Psychologischen Curen, Halle 1751 Ernst Anton Nicolai: Gedanken von den Würkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper, zweite, völlig umgearbeitete Auflage, Halle 1751 Samuel Gotthold Lange: Vom Lachen / Vom Weinen, in: Der Mensch 1751 Christian Wolff stirbt 1754. Johann Gottlob Krüger: Träume, Halle 1754 Hermann Boerhaave: Physiologie, Halle 1754 Georg Friedrich Meier: Von der Lustigkeit, in: Der Mensch 1755 Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre, Halle 1756 Albrecht von Hallers Abhandlungen zur Irritabilitätslehre erscheinen in Lausanne 1756 Johann Friedrich Zückert: Von den Leidenschaften, Halle 1764

Wie man schon an den Titeln sieht, ging es im wesentlichen darum, wie man das Problem des commercium mentis et corporis zu klären hätte, das Descartes der Gelehrtenrepublik als Hypothek hinterlas1023 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sen hatte, denn die ontologische Trennung des Menschen in eine »denkende« und eine »ausgedehnte Substanz« hatte ja auch weitreichende methodologische und damit wiederum wissenschaftspolitische Konsequenzen, weil sie die Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften182 auf Jahrhunderte hinaus begründete. Dieser Prozeß läßt sich etwa ab 1740 auch an den Titeln der Werke ablesen, die sich speziell der Erforschung des Lachens widmen, in denen man von nun an säuberlich die Grenzen absteckte und genau zwischen den körperlich-physiologischen und seelisch-psychologischen Ursachen und Manifestationen des Lachens zu unterscheiden suchte. Wenn sich Ärzte zum Thema äußerten, argumentierten sie rein physiologisch, wenn es Philosophen waren, so argumentierten sie psychologisch, und für beide scheint diese Grenzziehung so selbstverständlich gewesen zu sein, daß nach ihrer Berechtigung gar nicht mehr weiter gefragt wurde. Da Körper und Seele beim aktuellen Verhalten aber doch in irgendeiner Weise zusammenhängen und auch zusammenspielen, brauchte man zusätzliche Argumentationsmodelle, um dieses rätselhafte Commercium 183 zu erklären. Descartes selbst hatte, wie wir gesehen haben, die Zirbeldrüse zur Transitstelle für den Grenzverkehr zwischen beiden Substanzen bestimmt und sah in den Lebensgeistern das vermittelnde Element zwischen ihnen, weshalb er ihnen eine Beschaffenheit am Rande der Substanzhaftigkeit zugewiesen hatte, damit sie an beiden Substanzen teilhaben und zwischen ihnen vermitteln könnten. Diese Konstruktion erwies sich aber schon aus rein anatomischen Gründen als unhaltbar und auch, weil man überzeugt war, daß die Kräfte, die auf Körper einwirken, von grundsätzlich anderer Natur sein müßten als die, die auf eine Seele einwirken können. Weil man also ein Prinzip brauchte, das den beiden Bereichen Körper und Seele gleichsam vorgeschaltet ist, verkündete Leibniz die Idee einer prästabilierten Harmonie, die besagt, daß beim aktuellen Verhalten körperliches und seelisches Geschehen sich so absolut synchron vollziehen wie der Gang zweier synchron laufender Uhren. Diese Harmonie ist laut Leibniz von Gott vorgegeben und gehört sich auch so für die beste aller Welten. Wolff referiert diese These in § 765 seiner Deutschen Metaphysik folgendermaßen: 1024 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Da nun die Seele ihre eigene Kraft hat, wodurch sie sich die Welt vorstellet: hingegen auch alle natürliche Veränderungen des Leibes in seinem Wesen und seiner Natur gegründet sind; so siehet man leicht, daß die Seele das ihre für sich thut, und der Cörper gleichfals seine Veränderungen für sich hat, ohne daß entweder die Seele in den Leib, und der Leib in die Seele (durch einen influxus) würcket, oder auch GOtt durch seine unmittelbare Würckung solches verrichtet, nur stimmen die Empfindungen und Begierden der Seele mit den Veränderungen und Bewegungen des Leibes überein. Und solchergestalt verfallen wir auf die Erklärung, welche der Herr von Leibnitz von der Gemeinschaft des Leibes mit der der Seele gegeben, und die vorherbestimmte Harmonie oder Uebereinstimmung genennet.« (S. 478 f.) »Da nun die Vorstellungen in der Seele in eben solcher Zeit geschehen, da dasjenige, was sie vorstellen, vorgehet; so müssen die Empfindungen jederzeit mit den Veränderungen in den Gliedmassen der Sinnen übereintreffen, und es ist nicht möglich, daß die Empfindung zu frühe oder zu späte kommet. Und hieraus ersiehet man auch, wie die Empfindungen in der Seele in dem Augenblicke da sind, da die Veränderung in den Gliedmassen der Sinnen sich ereignet, und die Bewegung in anderen Gliedmassen des Leibes gleichfals in dem Augenblicke erfolget, wenn die Seele diese Bewegung will: denn beydes geschiehet zu gleicher Zeit, und ist also zugleich da.« (S. 483)

Daß man dieses Prinzip prästabilierter Harmonie aber letztlich weder beweisen noch widerlegen, sondern nur glauben kann, liegt auf der Hand und zeigt, daß dieses Konstrukt ein typisches Produkt vorkritischer Metaphysik auf der Grundlage problematischer Urteile im Sinne Kants ist, und deshalb mußte dieses Konstrukt auch irgendwann der Kantischen Kritik zum Opfer fallen. Vorerst wurde die Idee prästabilierter Harmonie aber von den Autoren, mit denen wir uns nun zu beschäftigen haben, fest geglaubt, die sich denn auch ausdrücklich als »Harmonisten« bezeichneten. So bestimmt z. B. Georg Friedrich Meier in seiner Affektenlehre von 1744 Gemütsbewegungen als »die Veränderungen der Seele und die (damit) übereinstimmenden Veränderungen des Körpers« 184. Meier argumentiert hier zwar konsequent dualistisch, aber im Gegensatz zu Descartes, der die Gemütsbewegungen als »Leiden 1025 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Seele« (S. 37) gedeutet habe, betont Meier, die Affekte seien »Handlungen der Seele« (S. 39) und fügt dann ganz im Sinne von Leibniz und Wolff hinzu: »Vermöge der vorherbestimmten Uebereinstimmung sind alle natürlichen Veränderungen der Seele ihre eigenen Handlungen, bey welchen sie zu gleicher Zeit auf eine idealische Art (also nicht mechanisch durch die Hydraulik der Lebensgeister) von dem Körper leidet. Ich bin also genöthiget, eben dieses von den natürlichen Gemüthsbewegungen der Seele zu behaupten.« (S. 39)

Dies deshalb, weil er später eine Art von Bilanz zieht und dezidiert erklärt: »Aus dieser bisherigen Betrachtung kan ich beyläufig die Frage entscheiden, ob die Bewegung des Blutes und der Lebensgeister, die Ursache der Gemüthsbewegungen in der Seele sey? Die Erfahrung sagt nichts weiter, als daß diese Bewegung mit den Leidenschaften zugleich da sey, und auf dieselbe folge. Ich bekümmere mich nicht viel darum, wie ein Influxionist oder ein Occasionalist diese Frage beantwortet. Ich rede als ein Harmonist und sage, 1) daß die Bewegungen des Körpers die (idealischen) Ursachen der Gemüthsbewegungen sind. Die Würcklichkeit der letztern kan ja aus der erstern erkant werden. Alles das aber, woraus die Würcklichkeit eines andern erkant werden kan, wird eine Ursache derselben genennt. 2) Daß die Bewegungen des Körpers die Leidenschaften durch einen idealischen Einfluß des Körpers in die Seele würcken, niemals aber durch einen physischen (also durch die Hydraulik der körperhaften Lebensgeister).« (S. 395)

All das behauptet Meier aber »nicht als ein Naturlehrer« (S. 390), sondern als ein »Metaphysicus« (S. 390) und betont damit eigens noch einmal die methodologischen und wissenschaftspolitischen Konsequenzen aus der ontologischen Vorentscheidung, die von Descartes seinen Nachfolgern aufgebürdet worden war. Ganz analog argumentiert auch Samuel Gotthold Lange in seinen beiden Aufsätzen Vom Lachen und Vom Weinen, die er 1751 in seiner Moralischen Wochenschrift Der Mensch veröffentlichte, und in denen er säuberlich das körperliche vom seelischen Lachen und Weinen trennt. 1026 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Die von Meier erwähnte »occasionalistische« Position in der Tradition von Malebranche finden wir in der gelotologischen Literatur der Zeit, soweit ich sehe, nicht vertreten, sehr wohl aber die »influxionistische«, die in Halle von Friedrich Hoffmann (1660– 1742) und seinen Schülern vertreten wurde und die davon ausgeht, daß Körper und Seele aufeinander einen Einfluß (influxus) ausüben, entweder einseitig oder gegenseitig, aber immer auf mechanische Art. Diese leicht revidierte cartesische Position hatte ja auch schon Wolff in seiner Deutschen Metaphysik 185 vertreten. Hoffmann war ein konsequenter Mechanist186 im Stil von Descartes und Boerhaave, allerdings mit dem Unterschied, daß die Hydraulik der Körpermaschine seiner Ansicht nach durch ein »Nervenfluidum« in Gang gehalten wird, das nicht nur in den einzelnen Körpern wirkt, sondern im ganzen Kosmos, von dort aus in den Menschen einströmt und zwischen seinen beiden Teilen als vis motrix vermittelt, weshalb er dieses Nervenfluidum auch als »Nervenäther« bezeichnete. Dieser im ganzen Kosmos wirkende Äther ist für Hoffmann neben dem Blutkreislauf der Antrieb für alle Lebensprozesse, bei denen Körper und Seele zwar wechselweise aufeinander einwirken, die Macht der Seele jedoch eindeutig die geringere ist, und dies gilt für alle normalen wie für alle pathologischen Abläufe in der Körpermaschine in gleicher Weise. Wie die Lebensgeister ist auch der Nervenäther eine äußerst feine Materie an der Grenze zum Immateriellen, sodaß er faktisch eine Art Zwischenzustand zwischen der völlig immateriellen Seele und dem materiellen Körper bildet. Der Medizinhistoriker Karl Edward Rothschuh faßt Hoffmanns Position wie folgt zusammen: »Er war Kartesianer hinsichtlich des Biomechanismus, zugleich Dynamist im Sinne von Helmont, Wedel und Leibniz, und schließlich noch Dualist im altüberlieferten Sinne mit der kleinen Korrektur, daß nicht die Seele (direkt) auf den Körper und umgekehrt (der Körper direkt auf die Seele) wirkt, sondern daß jeweils die geistig-fluiden spiritus animales (eben der Nervenäther) den Transfer der Wirkungen besorgen.« 187

Hoffmann gibt zwar seinen Patienten den Rat, »Sey allzeit frölich und ruhigen Gemüthes«188 und steht mit diesem Rat ganz in der Bewegung der halleschen Anakreontik, eine Abhandlung über das Lachen hat er jedoch nicht geschrieben. Das tat kurz nach seinem 1027 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Tod erst sein Schüler Ernst Anton Nicolai mit seiner Abhandlung von dem Lachen (1746), auf die wir ausführlich eingehen werden. Die dritte Position, die ab 1740/50 die anthropologische Diskussion entscheidend bestimmte und sogar bis heute nachwirkt, ist Albrecht von Hallers Irritabilitäts- und Sensibilitätslehre, die er um 1750 aufgrund ausführlicher Experimente in Göttingen entwickelt hatte. Mit diesen Experimenten war das Argumentationsmodell von Reiz und Reaktion auf eine solide Grundlage gestellt und eröffnete die Möglichkeit, menschliche und tierische Körper als Mechanismen zu beschreiben, aber eben als Bio-Mechanismen, ohne das gar zu primitive Maschinenmodell im Gefolge von Descartes oder das hoch spekulative Modell der energetisch autarken Monaden-Maschine im Gefolge von Leibniz und Wolff bemühen zu müssen. Dazu Haller selbst: »Denjenigen Teil des menschlichen Körpers, welcher durch das Berühren von außen kürzer wird, nenne ich reizbar (irritabilis); sehr reizbar ist er, wenn er durch ein leichtes Berühren, wenig reizbar aber, wenn er erst durch eine starke Ursache sich zu verkürzen veranlaßt wird. (…) Empfindlich (sensibilis) nenne ich einen solchen Teil des Körpers, dessen Berührung sich die Seele vorstellt; und bei den Tieren, von deren Seele wir nicht so viel erkennen können, nenne ich diejenigen Teile empfindlich, bei welchen, wenn sie gereizt werden, ein Tier offenbare Zeichen eines Schmerzes oder einer Unruhe zu erkennen gibt. (…) Unempfindlich nenne ich hingegen diejenigen Teile, bei welchen, wenn sie gleich gebrannt, gehauen, gestochen und bis zur Zerstörung zerschnitten werden, dennoch kein Zeichen eines Schmerzes, kein krampfichtes Zucken und keine Veränderung in der Lage des ganzen Körpers erregt wird.« 189

Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, ob nicht nur der Körper, sondern auch die Seele gereizt werden könne, und wenn ja, wie dies zu geschehen habe und ob sie dann mit einem Zucken oder mit einer Schmerzempfindung reagiert. In der christlich geprägten Tradition von Augustinus bis Descartes galt ja, wie wir erfahren haben, der Grundsatz, daß nur die Seele Schmerz empfinden könne. Eine Antwort auf diese Fragen hatte Haller schon lange vor seinen physiologischen Experimenten und Entdeckungen in seinem großen Theodizee-Gedicht von 1734 gegeben, in dem er die Übel 1028 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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als legitimen und notwendigen Teil dieser besten aller Welten zu rechtfertigen sucht und unter diesem Aspekt auch dem Schmerz eine lebensnotwendige Funktion zuerkennt, weil er der Selbstregulierung und Selbstheilung dienen kann. Und dies gilt laut Haller sowohl für den körperlichen wie für den seelischen Schmerz, womit er sich deutlich von der christlichen Tradition absetzt, wenn er schreibt: »Noch weiter wollte Gott für unsre Schwachheit sorgen: Ein wachsames Gefühl liegt in uns selbst verborgen, Das nie dem Übel schweigt und immer leicht versehrt, Zur Rache seiner Not den ganzen Leib empört. (…) Allein im weichen Mark der zarten Lebens-Sehnen Wohnt ein geheimer Reiz, der, zwar ein Brunn der Tränen, Doch auch des Lebens ist, der wider einen Feind, Der sonst wohl unerkannt uns auszuhöhlen meint, Uns zwingt zum Widerstand; er schließt die regen Nerven Vor Frost und Salze zu, verflößet alle Schärfen Durch Zufluß süßen Safts und kühlt gesalznes Blut Durch Zwang vom heißen Durst, mit Strömen dünner Flut. In aller Arten Not, die unsre Glieder fäulet, Ist Schmerz der bittre Trank, womit der Leib sich heilet. Weit nötiger liegt noch, im Innersten von uns, Der Werke Richterin, der Probstein unsers Tuns: Vom Himmel stammt ihr Recht; er hat in dem Gewissen Die Pflichten der Natur den Menschen vorgerissen; Er grub mit Flammenschrift in uns des Lasters Scheu Und ihren Nachgeschmack, die bittre Kost der Reu. Ein Geist, wo Sünde herrscht, ist ewig ohne Frieden, Sie macht uns selbst zur Höll und wird doch nicht gemieden!« (S. 64 f.)

Damit ist klar: So wie körperlicher Schmerz den Körper zu Selbstkorrektur und Heilung zwingt, so zwingt das dem Menschen von Gott eingegebene Gewissen die Seele zur Selbstkorrektur, indem sie ihr durch die Zerknirschung Höllenqualen bereitet. Aber beide Arten von Schmerz sind notwendig, und beide sind heilsam, so bitter sie auch immer sein mögen. Was Haller hier nicht klärt, ist die Frage, worin die Reize der Gewissensbisse eigentlich bestehen, auf die 1029 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die Seele reagiert, aber das hielt er wohl eher für eine Frage, für die die Theologen zuständig sind. Es hätte nahe gelegen, von hier aus z. B. die Frage zu stellen, worin denn die Reize bestehen, auf die wir mit Gelächter aller Art reagieren, insbesondere, wenn es sich um einen ekstatischen Lachanfall handelt, der ebenfalls »den ganzen Leib empört« und in Konvulsionen zwingt und durch dessen kathartisch-uroborischen Impuls ja auch »der Leib sich heilet«. Anders formuliert: Es hätte nahe gelegen, die intensiveren Formen von Gelächter als eine Art Krise mit einem ihr immanenten teleologischen Impuls zu sehen, der sich uroborisch selbst verzehrt. Diese Frage stellt Albrecht von Haller allerdings nicht, sie drängt sich einem frommen Calvinisten auch nicht gerade auf. Aber Poinsinet de Sivry stellt sie 1768 in seinem anonym veröffentlichten Traktat über die körperlichen und seelischen Ursachen des Lachens im Hinblick auf die Kunst, zum Lachen zu reizen. Wir werden gleich sehen, zu welchen Ergebnissen er dabei kommt. Wir haben schon festgestellt, welch absurde Experimente Duchenne als später Nachfahr Hallers im 19. Jahrhundert bei seinen Reizungen des Lachmuskels angestellt und welch absurde Schlüsse er aus diesen Experimenten gezogen hat, weil er glaubte, er habe damit das Lachen rein physiologisch erklärt. Derart naiv hätte Haller selbst sicher niemals argumentiert, denn er war sich offenbar darüber im klaren, daß die Irritabilität der Muskelfaser und die Sensibilität der Nervenfaser nur inhaltsleere, gleichsam »blinde« Reaktionen auf einen Reiz sind, da sie dem Reiz nur der Intensität nach entsprechen, ihn aber in keiner Weise »denotieren«. Oder anders formuliert: Die Reaktion auf einen Reiz ist keine inhaltliche Antwort eines Organismus auf eine Situation und kann es auch nicht sein, weshalb das Reiz-Reaktions-Modell auch nur sinnvoll angewendet werden kann, wenn man gezielt reduktionistisch verfährt und von ihm nicht allzuviel an Erklärungen erwartet. In Analogie zu dem Satz von Erwin Straus »Der Mensch denkt, nicht das Gehirn« 190 könnte man also gegen Duchenne einwenden: »Der Mensch lacht, nicht sein Lachmuskel«, aber durchaus im Sinne Hallers und mit Erwin Straus behaupten: »Der Mensch reagiert auf Situationen, Muskel- und Nervenfasern regie1030 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ren nur auf Reize«. Oder wieder anders formuliert: Die von Haller entdeckte Reizbarkeit (vis irritabilis) ist, wenn überhaupt, nur ein Aspekt des Lebendigen neben vielen anderen, deren Gesamtheit er aber nicht kannte. Dies gab er auch unumwunden zu und weigerte sich deshalb ganz im Stil Newtons, über das, was experimentell geklärt werden kann, hinauszugehen und drauflos zu spekulieren (hypotheses non fingo) und begründet diese Selbstbescheidung folgendermaßen: »Was hindert uns also zu glauben, die Reizbarkeit könne wohl eine Eigenschaft der Muskelfaser sein, vermöge derer sie sich zusammenzieht, wenn sie berührt und gereizet wird; wovon aber nicht nöthig ist, eine weitere Ursache anzugeben, ebenso wie keine wahrscheinliche Ursache des Anziehens und der Schwere bei der Materie angegeben werden kann.« 191

Derartige Skrupel hatte Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) nicht, der zusammen mit Albrecht von Haller in Leiden bei Hermann Boerhaave Medizin studiert hatte und 1748 seine berühmtberüchtigte Abhandlung L’homme machine 192 veröffentlichte, in der er die These verkündete: »Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfedern (ressorts) aufzieht – ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung (mouvement perpétuel).« (S. 35)

Heutzutage würde er wohl den menschlichen Körper als einen sich selbst programmierenden Computer bezeichnen. Um diese steile These etwas plausibler zu machen, wird La Mettrie an anderer Stelle etwas konkreter und betont, »daß der Mensch nur ein Tier oder eine Zusammensetzung von Triebfedern ist, die sich alle gegenseitig aufziehen, ohne daß man sagen könnte, an welchem Punkt des menschlichen Kreises die Natur den Anfang gemacht hat. Wenn diese Triebfedern sich voneinander unterscheiden, so ist es doch nur durch ihre Lage und durch eine Kraftgrade (degrés de force), und niemals durch ihre Beschaffenheit; und folgerichtig ist die Seele nur ein Bewegungsprinzip (neben vielen anderen) bzw. ein empfindlicher materieller Teil des Gehirns (une Partie matérielle sensible du Cerveau) den man – ohne einen Irrtum befürchten zu müssen – als eine Haupttriebfeder (ressort principal) der ganzen Maschine betrachten kann, die einen sichtbaren Einfluß auf alle anderen hat und

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sogar als erste geschaffen zu sein scheint; so daß alle anderen nur eine Emanation von ihr wären.« (S. 111)

Aufgrund dieser konsequent mechanistischen Ausrichtung hat La Mettrie für Stahls Seelen- und Organismus-Begriff auch nur Hohn, Spott und Verachtung übrig und nennt Stahl einen religiösen »Fanatiker« (S. 113), der durch die besondere Gunst seines Gottes wohl »eine andere Art von Seele erhalten haben müsse als der Rest der Menschheit« (S. 115). Hallers warnender Hinweis auf Spekulationen über weitere Ursachen »hinter den Phänomenen« 193 richtet sich wohl ebenfalls gegen seinen Kollegen Georg Ernst Stahl aus Halle, der als weitere Ursache »hinter den Phänomenen« eine allgemeine »Lebenskraft« (vigor) angenommen und seiner Theoria medica vera von 1708 zugrunde gelegt hatte. Diese hatte er näher als motus tonicus vitalis definiert, was man als »Spannungsbewegung des Lebendigen« übersetzen könnte und reichlich mißverständlich als »Seele« bezeichnet hat. Was ist damit gemeint? Man wird dem Mediziner Stahl wohl nur gerecht, wenn man ihn vor seinem pietistischen Hintergrund befragt, denn er sah sich gleichsam als die medizinische Stimme des deutschen Pietismus, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß er seine medizinischen Hauptwerke im Waisenhaus-Verlag der Franckeschen Stiftungen in Halle erscheinen ließ. Als frommer Pietist kannte er natürlich den Psalter und vor allem die Psalmen, die das Lebensgefühl und die Lebensführung des Pietisten besonders intensiv bestimmten, und zu diesen Psalmen gehört u. a. auch Psalm 27, in dem die Lebenskraft direkt mit Gott identifiziert wird, denn dieser Psalm beginnt mit den Sätzen: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten! Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen! (…) Denn er deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit, er verbirgt mich heimlich in seinem Gezelt und erhöht mich auf einem Felsen.«

Und natürlich war für ihn auch das anthropologische Modell verbindlich, das im Schöpfungsbericht der Luther-Bibel (Genesis 2,7) entworfen wird, denn dort wird beschrieben, wie Gott dem schon fertigen Menschenkörper seinen »lebendigen Odem« in die Nasen1032 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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löcher einbläst: »Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.« Dieser von Gott stammende lebendige Odem heißt im Bibel-Hebräisch nephesch, was man auch mit »Leben« oder »Lebenskraft« übersetzen könnte, und deshalb lautet die Stelle bei Martin Buber: »Und Er, Gott, blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens, und der Mensch wurde zum lebendigen Wesen.«

In der Bibel »in heutigem Deutsch« wird nephesch ebenfalls mit »Lebenshauch« übersetzt und dann heißt es etwas prosaisch: »So wurde der Mensch lebendig.« Damit müßte klar sein: Die Seele als das belebende Prinzip stammt von Gott und macht den erst noch leblosen Körper zu einem lebendigen Wesen. Durch die Autorität der Luther-Bibel, die den fertigen Menschen als eine »lebendige Seele« bezeichnet, bekommt die Seele in Stahls pietistisch-lutherisch geprägtem Menschenbild also eine so machtvolle Dominanz, daß ein Pietist wie Stahl auch als Mediziner auf das Wort »Seele« einfach nicht verzichten konnte und die daraus sich ergebenden Mißverständnisse eben hinnahm. Wir tun deshalb gut daran, überall da, wo Stahl von der Seele spricht, das Wort »Leben«, »Lebenskraft« oder »Lebensenergie« einzusetzen, weil sein Seelenbegriff ein völlig anderer ist als der Seelenbegriff von Descartes, mit dem eigentlich immer nur die Denkseele der aristotelischen Argumentationstradition gemeint war. Vor allem hier liegt der Grund dafür, daß Stahl und seine cartesischen Gegner, insbesondere sein Kollege Friedrich Hoffmann in Halle, in einem fort in einem windschiefen Dialog aneinander vorbei redeten. Es empfiehlt sich auch schon deshalb, Stahls Seelen-Begriff mit dem Wortfeld »Leben/Lebenskraft/Lebensenergie« wiederzugeben, weil dies bereits Stahls Zeitgenossen, Schüler und geistige Erben getan haben, insbesondere seit den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts. So schreibt z. B. Kant, der sich diesen Begriff in den 80er Jahren angeeignet zu haben scheint, in einer Abhandlung von 1796, »daß man itzt, statt des Worts Seele, das der Lebenskraft zu brauchen beliebt hat (woran man auch Recht tut: weil von einer Wirkung gar wohl auf eine Kraft, die sie hervorbringt, aber nicht sofort auf eine besonders zu dieser Art Wirkung geeignete Substanz geschlossen werden kann).« (VI,405)

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Möglicherweise war Kant zu diesem Wortgebrauch durch Herders Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) angeregt worden, dem er eine ausführliche Besprechung (VI,781–806) widmete, denn dort ist »Lebenskraft« der zentrale Begriff überhaupt. Herder folgt hier mit seinem Wortschatz einem Trend im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, bei dem das Wort »Lebenskraft« in zwei ganz unterschiedlichen Fragestellungen zum Schlüsselbegriff wird. Die eine ist die Frage nach der energetischen Grundlage jeglichen Verhaltens (eine Frage, auf die wir erst in Kapitel 2.14 eingehen werden), die andere Frage ist die nach dem Zusammenspiel von Körper und Seele, die uns hier interessiert. Eine Antwort auf die Frage, was diese ominöse Lebenskraft sei, hat Herder eben in seinen Ideen versucht, wo er die Lebenskraft als »genetische Kraft« versteht, die »die Mutter aller Bildungen auf der Erde ist« (4,91). Somit wirkt also laut Herder in allem tierischen und menschlichen Leben, in Natur und Kultur »eine lebendige, organische Kraft; ich weiß nicht, woher sie gekommen? noch was sie in ihrem Innern sey? aber daß sie da sey, daß sie lebe, daß sie organische Theile sich aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das sehe ich, das ist unläugbar.« (4,92)

Und fest steht für Herder auch, »daß die unsichtbare Kraft nicht willkührlich bilde, sondern daß sie sich ihrer innern Natur nach gleichsam nur offenbare. Sie wird in einer ihr zugehörigen Masse sichtbar und muß, wie und woher es sey, den Typus ihrer Erscheinung in ihr selbst haben. (…) So sind wir, so sind alle lebende Wesen gebildet: jedes nach der Art seiner Organisation; aber alle nach dem unverkennbaren Gesetz Einer Analogie, die durch alles Lebendige unsrer Erde herrschet.« (4,93)

Und dabei gilt: »Die eingebohrne, genetische Schöpferkraft ist in dem Geschöpf, das durch sie gebildet worden, in allen Theilen und in jedem nach seiner Weise, d. i. organisch noch einwohnend. Allenthalben ist sie ihm aufs vielartigste gegenwärtig; da es nur durch sie ein lebendiges Ganze ist, was sich erhält, wächst und wirket.« (4,94)

In dieser Art hatte ja auch schon Kant in seiner Polemik gegen die cartesische Lokalisation der Seele in der Zirbeldrüse argumentiert, wenn er sagt: 1034 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Teile.« (I,931 f.)

Und ganz im Sinne von Stahl und Kant fährt Herder fort: »Und diese Lebenskraft haben wir alle in uns: in Gesundheit und Krankheit stehet sie uns bey, assimilirt gleichartige Theile, sondert die Fremden ab, stößt die Feindlichen weg, sie ermattet endlich im Alter und lebt in einigen Theilen noch nach dem Thode.« (4,94)

Dann fügt er aber eigens hinzu, daß diese Lebenskraft als Seele auf keinen Fall mit der Denkseele der aristotelischen und cartesischen Argumentationstradition verwechselt werden darf, weil für die Stahlsche Seele ja gilt, daß sie sich nach dem Prinzip Mens agitat molem ihren Körper baut, weshalb diese cartesische Denkseele nur als ein Aspekt der Lebenskraft neben etlichen anderen angesehen werden darf, und fährt deshalb fort, die Lebenskraft noch genauer zu bestimmen: »Das Vernunftvermögen unserer Seele ist sie nicht; denn dieses hat sich den Körper, den es nicht kennet, und ihn nur als ein unvollkommenes, fremdes Werkzeug seiner Gedanken braucht, gewiß nicht selbst gebildet. Verbunden ist es indeß mit jener Lebenskraft, wie alle Kräfte der Natur in Verbindung stehen: denn auch das geistige Denken hängt von der Organisation und Gesundheit des Körpers ab und alle Begierden und Triebe unsres Herzens sind von der animalischen Wärme untrennbar.« (4,94)

Diese Identität von Denkseele und Lebenskraft wäre für Herder schon allein deshalb undenkbar, »weil der größeste Theil der Lebensverrichtungen in uns ohne das Bewußtseyn und den Willen der (Denk-)Seele fortgeht. Nicht unsre Vernunft war’s, die den Leib bildete, sondern der Finger der Gottheit, organische Kräfte.« (3,209)

Und deshalb kann er abschließend sagen: »So gewiß ich weiß, daß ich denke, und kenne doch meine denkende Kraft nicht: so gewiß empfinde und sehe ich’s, daß ich lebe, wenn ich auch gleich nie weiß, was Lebenskraft sey. Angebohren, organisch, genetisch ist dies Vermögen: es ist der Grund meiner Natur-Kräfte, der innere Genius meines Daseyns.« (4,95)

Wir könnten auch sagen: Was Lebenskraft sei, muß eigenleiblich gespürt werden, und aus diesem Grund empfiehlt es sich, zur wei1035 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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teren Bestimmung von Stahls Begriff der Lebenskraft oder Lebensenergie diese mit dem Begriff des tschi/qi aus der chinesischen Medizin zu vergleichen, der ebenfalls traditionell mit dem Wort »Lebensenergie« übersetzt wird. Allerdings ist hier eine Art von Energie gemeint, die man nicht quantitativ beschreiben kann wie physikalische Energie, sondern die man nur eigenleiblich spüren kann, und deshalb bestimmt Gudula Linck diesen Begriff des qi dahingehend, daß für das chinesische Denken qi das sei, was die Welt und jeden lebendigen Organismus im Innersten zusammenhält, in sinnvolle Bewegung versetzt und befähigt, auf Situationen aller Art sinnvoll zu reagieren: »qi wurde (im chinesischen Denken) zur treibenden Kraft einer sich selbst bewegenden Welt, die personifizierter Götter im Grunde nicht bedurfte. Doch selbst so gesehen sollten wir, wenn von traditionellen Konzepten die Rede ist, uns vor einem reduktionistischen Verständnis hüten, etwa im Sinne einer rein energetischen Interpretation. (…) Vielmehr legen die Beschreibungen des qi und seiner Wirkungen (…) Zeugnis ab von einer Ergriffenheit, die nur aus der Erfahrung einer mächtigen numinosen Atmosphäre herrühren konnte.« 194

Damit, denke ich, sind wir schon ganz nahe bei Stahls Verständnis von »Lebensenergie«, »Lebenskraft« und »Seele«, aber im Gegensatz zum chinesischen Denken, das personale Götter eigentlich nicht kennt, war der Gott der Pietisten selbstverständlich durch und durch personhaft gedacht, der jedoch als atmosphärisch gespürte und schützende Umhaftigkeit empfunden wurde, weshalb der 139. Psalm, der genau wie der 27. Psalm diesem Gefühl göttlicher Allgegenwart Ausdruck verleiht, der Lieblingstext aller Pietisten war, denn dort heißt es: »Herr, du erforschest mich, und kennest mich. (..) Ob ich gehe oder liege, so bist du um mich, und suchest alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht Alles wissest. (…) Wo soll ich hingehen, vor deinem Geist? Und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Führe ich zum Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, so bist du auch da.

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Nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe ich am äußersten Meer, So würde mich doch deine Hand daselbst führen, und deine Rechte mich halten.« (Ps. 139,1–9)

Wenn wir uns also den von Gott eingeblasenen Lebenshauch gleichsam als die »Innenseite« dieser göttlichen Atmosphäre vorstellen, hätten wir, wie mir scheint, ziemlich genau das, was sich Georg Ernst Stahl unter »Lebenskraft«, »Lebensenergie« oder »Seele« vorstellte. Weicht diese Seele aus dem Organismus, ist er tot. Deshalb bestehen Zweck und Ziel dieser Lebenskraft in der Selbsterhaltung, Selbstkorrektur und gegebenenfalls sogar in der Selbstheilung eines Lebewesens, wobei der Arzt laut Stahl nur unterstützend mitwirken sollte, weshalb Stahl die biblische nephesch mit der aristotelischen Entelechie kombiniert, die, wie ihr Name bezeugt, ihr Ziel in sich selbst hat, also vornehmlich in der Selbsterhaltung. Ein Aspekt der Entelechie ist der uroborische Impuls, auf den wir schon des öfteren zu sprechen gekommen sind, aber diese Vorstellung findet sich bei Stahl, so weit ich sehe, nicht. Der für unsere Fragestellung zentrale Text Stahls ist seine Abhandlung Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus 195 von 1714, in der er die cartesianische Mechanistik als »völlig irrige Ansicht« (S. 49) vom Tisch fegt und dann dezidiert erklärt: »Keine Maschine – und sei sie noch so kunstvoll verfertigt – kann aus sich selbst heraus einen derart bewunderungswürdigen Effekt hervorbringen, zurichten und dirigieren, es sei denn, der Künstler richte deren Materie so zu, füge sie so zusammen und ordne sie derart, daß nur dieser und kein anderer Motus, nur ein ganz bestimmter Endzweck (intentio finalis) daraus folgte. Diese Wirkkraft also benützt die mechanische Konstitution des Körpers und seiner Teile, erregt sie und instruiert sie, um durch gerichtete Bewegungen den richtigen Endzweck und Effekt zu bewirken. Diese Motus erfolgen nämlich nicht von ungefähr; sie sind nicht Ergebnis eines Zufalls, sie sind auch nicht unbeständig und ausschweifend, sondern sie zielen auf einen bestimmten Endzweck ab, nämlich auf die Erhaltung des Leibes.« (S. 49)

Denn schon die alten Philosophen hätten gewußt, »daß in der vernunftgemäßen Betrachtung eines Endzwecks zugleich eine gewisse moralische Absicht und Ursache enthalten sind.« (S. 49 f.)

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Damit ist zunächst deutlich, daß Stahl tendenziell alle Bewegungen eines lebendigen Organismus als intentionale Bewegungen versteht, als sinnvolle Antworten eines Organismus auf irgendwelche für ihn relevante Situationen, weshalb er in seiner Polemik gegen die Mechanisten fortfährt: »Daher können nun einmal die vitalen Zielsetzungen, die durch die Lebensbewegungen bewirkt werden, nicht so obenhin den mechanischen Zurüstungen der Teile zugeschrieben werden. Ebensowenig kann man das Direktorium dieser Bewegungen verwegen und unbelehrbar einer simplen Konnexion der Materie zumessen. Vielmehr muß man die Natur und Beschaffenheit des (einzelnen) Organs nach philosophischen Grundsätzen als ein Instrument betrachten, das gewissermaßen ein Subjekt ist, von einem höheren Prinzip zu einem Endzweck bewegt und angetrieben. Ein solches Instrument schließt ein Principium moraliter activum (d. h. ein verständiges Wesen) in sich ein, das die einzelnen Teile, die mit mechanischer Einrichtung und Beweglichkeit begabt sind, zu entsprechenden Bewegungen, die auf einen gewissen Endzweck abzielen, erregt und antreibt.« (S. 50)

Damit postuliert Stahl zugleich auch ein Prinzip organischer Vernunft, gleichsam die Idee eines mündigen Organismus, auch wenn er damit nicht das Wirken der aristotelisch-cartesischen Denkseele meint, die vom Organismus durchaus getrennt ist und in ihm nur ein Instrument sieht, wohingegen für ihn diese Seele als Lebenskraft dem Organismus in all seinen Teilen innewohnt. Natürlich brachte ihm dies von seiten seiner mechanistischen Kollegen, insbesondere von La Mettrie, nur Hohn und Spott ein, von seiten Kants hingegen entschiedene Unterstützung, der in seiner Kritik der Urteilskraft die strikte Unterscheidung von natürlich entstandenem Organismus und künstlich erzeugtem Mechanismus eigens unter teleologischen Aspekten vornahm, auch wenn ihm Stahls Vermengung von Theologie und Naturwissenschaft vermessen erschien und dementsprechend unangenehm war, denn er schreibt dort: »In einem solchen Produkt der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn es könnte auch Werkzeug der Kunst sein, und so nur als

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Zweck überhaupt vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.« (V,485 f.)

Dann erläutert er das Prinzip eines Mechanismus kurz am traditionellen Beispiel einer Uhr und fährt fort: »Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (…): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.« (V,486)

Im Anschluß bestreitet Kant entschieden, daß man einen Organismus als ein »Analogon der Kunst« (V,486) bezeichnen könne, also als fertiges Produkt aus der Hand eines Schöpfergottes; man müsse ihn eher als »Analogon des Lebens« (V,487) ansehen, und dann verweist er sofort auf die Konsequenzen, die sich aus diesem Schritt ergeben: »Aber da muß man entweder die Materie als bloße Materie mit einer Eigenschaft (Hylozoism) begaben, die ihrem Wesen widerstreitet, oder ihr (wie Stahl dies tut) ein fremdartiges mit ihr in Gemeinschaft stehendes Prinzip (eine Seele) beigesellen: wozu man aber, wenn ein solches Produkt ein Naturprodukt sein soll, organisierte Materie als Werkzeug jener Seele entweder schon voraussetzt, und jene also nicht im mindesten begreiflicher macht, oder die Seele zur Künstlerin dieses Bauwerks machen, und so das Produkt der Natur (der körperlichen) entziehen muß. Genau zu reden hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen.« (V,487)

Stahls Konzept ist die zweite der hier angeführten Konsequenzen, das Postulat einer Seele, die den Organismus von innen her organisiert, und die er als »Lebenskraft« bezeichnete; aber da er diese Lebenskraft mit einem Principium moraliter activum ausgestattet sah, zog er sich von Schopenhauer eine heftige Rüge zu, denn Schopenhauer polemisiert in seiner Abhandlung Über den Willen in der 1039 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Natur von 1836 auf das heftigste gerade gegen dieses von Stahl postulierte Prinzip organischer Vernunft, weil laut Schopenhauer der in all seinen Objektivationen voll und ungeteilt vorhandene Weltwille eben blind, erkenntnislos und vernunftfern zu sein hat, weshalb er dort über Stahl schreibt: »Für den Gegenstand unserer gegenwärtigen Betrachtung war ein solches Hinderniß die sogenannte Vernunft-Idee der Seele, dieses metaphysischen Wesens, in dessen absoluter Einfachheit Erkennen und Wollen ewig unzertrennlich Eins, verbunden und verschmolzen waren. So lange sie bestand, konnte keine philosophische Physiologie zu Stande kommen; um so weniger, als mit ihr zugleich auch ihr Korrelat, die reale und rein passive Materie, als Stoff des Leibes, nothwendig gesetzt werden mußte. Jene Vernunft-Idee der Seele also war Schuld, daß am Anfange des vorigen Jahrhunderts der berühmte Chemiker und Physiolog Georg Ernst Stahl die Wahrheit verfehlen mußte, welcher er ganz nahe gekommen war und sie ganz erreicht haben würde, wenn er an die Stelle der anima rationalis den nackten, noch erkenntnißlosen Willen, der allein metaphysisch ist, hätte setzen können. Allein hinter dem Einfluß jener Vernunft-Idee konnte er nichts Anderes lehren, als daß jene einfache, vernünftige Seele es sei, welche den Körper sich baue und alle inneren, organischen Funktionen desselben lenke und vollzöge, dabei aber doch, obschon Erkennen die Grundbestimmung und gleichsam Substanz ihres Wesens sei, nichts von dem Allem wisse und erführe. Darin lag etwas Absurdes, welches die Lehre schlechterdings unhaltbar machte.« (III,218 f.)

Mit dem sicheren Instinkt des Gegenaufklärers hatte Schopenhauer also sofort den aufklärerischen Impuls erkannt, der in Stahls Anthropologie trotz all seiner Verhaftetheit im Halleschen Pietismus am Werk ist und diese prägt. Diesen Hinweis Schopenhauers kann man nur dankbar aufgreifen, auch wenn dies ganz gegen seine Absicht geschieht, denn wenn laut Stahl in allen menschlichen Lebensäußerungen dieses Principium moraliter activum als Vernunftprinzip am Werk ist, dann muß es auch in allen Formen von Gelächter am Werk sein, dem damit eine ganz eigene Art von Vernunft zugesprochen wird, wie wir dies schon bei Shaftesbury gesehen haben, und dies müßte auch für die scheinbar vernunftfernsten ekstatischen Formen von 1040 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Gelächter gelten. Aber damit habe ich schon viel zu weit vorgegriffen, und kehre deshalb wieder zur Stahlschen Anthropologie zurück. Der Sitz der Seele resp. der Lebenskraft ist laut Stahl überall im Körper, sodaß sie auch überall zugleich und unmittelbar wirken kann und deshalb nicht auf den Umweg über die Hydraulik der Lebensgeister oder des Nervenfluidums angewiesen ist. Stahl formuliert dies so, daß die Seele »von innen« wirkt. Damit bleibt Stahl dem traditionellen Leib-Seele-Dualismus zwar immer noch verbunden; da er aber beide Substanzen so eng ineinander verknotet, wirken sie, funktional gesehen, faktisch als zwei Aspekte ein und desselben Organismus, und damit liegt letztlich doch ein neues anthropologisches Modell vor. Dieses Prinzip der unmittelbaren und integralen Wirkung der Lebenskraft bezeichnet Stahl als Synergie, derzufolge ein Organismus immer als ganzer 196 auf eine Situation antwortet und zwar immer zugleich mit allem, was er ist, hat, kann und tut, nicht aber mit einer Folge einzelner Reaktionen auf einzelne Reize. Bei der Antwort auf die Frage nach der spezifischen Beschaffenheit dieser Seele resp. dieser Lebenskraft orientierte sich Stahl an der klassischen tonos-Lehre der stoischen Physik, auf die wir oben in Kapitel 2.12.6.5.3 ausführlich eingegangen sind, weshalb er die Lebenskraft auch als motus tonicus vitalis bezeichnet und sie als ein jedem lebenden Organismus immanentes Gewoge von Intensitäten und gleichsam kämpferisches Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung versteht. Damit wäre die Position Stahls in äußerster Kürze umrissen. Aber obwohl sie eine sehr tragfähige Basis für eine gelotologische Theorie abgegeben hätte, hat, so weit ich sehe, weder Stahl selbst noch einer seiner Schüler diesen Schritt getan und eigens eine Abhandlung über das Lachen geschrieben, und da fragt man sich schon etwas verwundert, warum dies wohl so gewesen ist. Wir stehen also vor derselben Situation, die wir schon bei den Stoikern angetroffen haben, die in ihrer tonos-Lehre ja ebenfalls eine tragfähige Grundlage für eine gelotologische Theorie gehabt hätten, sich dem Thema jedoch ebenfalls verweigert haben. Der Grund für die stoische Verweigerung lag, wie wir gesehen haben, darin, 1041 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Heitere Aufklärung

daß das Lachen sie einfach nicht interessierte; der Grund für Stahls Verweigerung liegt wohl im grundsätzlichen Mißtrauen des deutschen Pietismus gegenüber jeder Form von Gelächter. Die apodiktische Verwerfung der Eutrapelie durch den Apostel Paulus im Brief an die Epheser wirkte offenbar doch zu stark nach und trug nun ihre unseligen Früchte. Dankbar aufgegriffen wurde Stahls Anthropologie jedoch von Johann Jakob Engel, der der in seinen Ideen zu einer Mimik von 1784/85 demonstriert, wie außerordentlich anregend Stahls Synergie-Prinzip 197 für die Theorie der Schauspielkunst sein kann. Aber das ist hier nicht unser Thema. Sehr wohl aber gehört zu unserem Thema, mit welchem Erfolg Kant sich Stahls Anregungen zueigen gemacht und daraus eine schlüssige Theorie des Lachens entwickelt hat, obwohl er gewiß kein Pietist war und die Pietisten sogar heftig verabscheute, denn für ihn war Sündenstolz dieser Wiedergeborenen, wie er im Streit der Facultäten ausführt, »bei allem Schein der Demut, stolze Anmaßung, sich als übernatürlich-begünstigte Kinder des Himmels auszuzeichnen, wenn gleich ihr Wandel, so viel man sehen kann, vor dem der von ihnen so benannten Weltkinder, in der Moralität nicht den mindesten Vorzug zeigt.« (VI,326)

Er hatte aber auch Anregungen von Herder aufgegriffen und mit diesem erkannt, daß sich im Lachen nur »Eine Energie der Seele« (8,47) synergetisch manifestiert. 2.12.6.6.2 Von Hoffmann zu Nicolai oder Die Aporien des mechanistischen Dualismus Ernst Anton Nicolai (1722–1802) war ein direkter Schüler von Friedrich Hoffmann und wie dieser zunächst ein konsequenter Dualist. Wenn man nachprüft, auf wen er sich in seiner Abhandlung von dem Lachen 198 von 1746 beruft, stößt man auf den »weltberühmten Herrn Baron Wolf« (S. 23), auf den »unvergleichlichen Herrn Boerhave« (S. 28), den Lehrer seines Lehrers Friedrich Hoffmann in Leiden, und auf den »vortrefflichen Herrn Hofrath Haller« (S. 28), allesamt erklärte Dualisten. Gegen Ende seiner Ab1042 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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handlung verweist Nicolai allerdings auch auf einen anderen »ehemaligen Lehrer, den vortrefflichen Herrn Professor Krüger« (S. 58) und auf dessen Naturlehre, deren ersten Band von 1740 Friedrich Hoffmann mit einer wohlwollenden Einleitung versehen hatte. Gemeint ist damit Johann Gottlieb Krüger (1715–1759), der sich allerdings bald von Hoffmanns Dualismus lossagte 199 und ins Lager der Stahlianer überwechselte. Nicolais Abhandlung liest sich auf weiten Strecken wie ein Gegenstück zu Meiers Affektenlehre von 1744, die zwar ebenfalls streng dualistisch argumentiert, ihr Thema jedoch aus der Sicht eines »Metaphysicus« behandelt hatte. Diese methodologisch-wissenschaftspolitische Abgrenzung übernimmt nun auch Nicolai und eröffnet deshalb seine Abhandlung mit den Sätzen: »Bey dem Lachen hat man auf zweierley zu sehen, nemlich auf die Veränderungen, welche in der Seele und in dem Körper vorgehen. Was das Lachen in Absicht auf die Seele betrift, so gehörte diese Betrachtung eigentlich in die Lehre von der Seele, und ich muß mich sehr wundern, daß sie darinnen gar nicht ist abgehandelt, noch viel weniger vollständig ausgeführet worden. Ich könnte also das Lachen in Absicht auf die Seele mit Stillschweigen übergehen, und zwar mit weit größerem Rechte, als die Psychologisten, zumal, da ich mir vorgenommen habe, das Lachen, als ein Artzneygelehrter, und nicht als ein Psychologist zu betrachten. Indessen aber, scheint mir diese Betrachtung des Lachens, in so weit es die Seele angeht, wo nicht unentbehrlich und nothwendig zu seyn, doch wenigstens dazu zu dienen, daß diese Materie weit besser begriffen werden, und dem Leser mehr Nutzen und Vergnügen schaffen kan, als wenn ich bey dem Lachen bloß alleine auf den Körper und dessen Veränderungen sehen wollte, und darum will ich mich bemühen, ob ich diejenige Veränderung errathen kan, welche bey dem Lachen in der Seele vorgehet.« (S. 12 f.)

Schuld an dieser Notwendigkeit, die mittlerweile schon akzeptierten Grenzen der wissenschaftlichen Ressorts übertreten und leider auch noch Psychologie betreiben zu müssen, tragen laut Nicolai »die Herren Psychologisten« durch ihre »Nachläßigkeit« (S. 13). Dann zählt er reichlich unsystematisch eine ganze Reihe von Lach-Anlässen auf, z. B. Kitzel, Scherze, Schadenfreude, närrisches Verhalten aller Art, wobei man stets die Quellen erraten kann, aus 1043 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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denen Nicolai schöpft, und die im wesentlichen in Descartes’ Affekten-Traktat und aus Meiers Scherz-Buch stammen. Eigentliche Quellenangaben dazu finden sich bei Nicolai nicht. Fest steht jedenfalls für ihn, »daß mit dem Lachen jederzeit ein Vergnügen verknüpft ist, und daß dasselbe sich öfters in einem hohen Grade dabei befindet. Kurtz, niemand wird lachen, der nicht zugleich ein Vergnügen empfinden sollte, es mag nun wahr oder scheinbar seyn. (…) Man kan also sagen, daß kein Lachen möglich ist, dabey sich nicht zugleich ein Vergnügen finden sollte.« (S. 16 f.)

Ist kein Vergnügen damit verbunden, muß es sich um ein pathologisches Lachen handeln, was er am Fall eines stadtbekannten harmlosen Irren demonstriert, der auf Befehl endlos lange lachen konnte und deshalb als »hallischer Democritus« oder als »Lachfriede« (vgl. S. 15 f., 25 f.) bezeichnet wurde. Dieser entrüstungsfreie klinisch kühle Blick Nicolais auf die Phänomene zeigt, wie sehr in Nicolais Studie das Lachen schon entmoralisiert und enttheologisiert ist, was für den lachfeindlichen halleschen Pietismus eine gehörige Provokation dargestellt haben dürfte. Als zentrale Anlässe zum Lachen nennt Nicolai »seltsame Kleinigkeiten« (S. 21), also genau das, was Meier in seinem ScherzBuch als »Ungereimtheiten« bezeichnet hatte, und deshalb beruft er sich denn auch direkt auf Christian Wolff (S. 23) und andere »Weltweisen«, »welche das Lachen durch einen hohen Grad des Vergnügens erklären, das über eine seltsame, doch unschädliche Ungereimtheit entstehet.« (S. 22)

Georg Friedrich Meier hatte in seiner Affektenlehre davon gesprochen, daß alle Veränderungen in Leib und Seele durch die prästabilierte Harmonie strikt synchron ablaufen und zwar auch »der Grösse nach« (S. 392). Diesen Gedanken übernimmt nun auch Nicolai und leitet daraus das Argument ab, »daß das Lachen in Absicht auf die Seele dem Grade nach verschieden, und bald starck bald geringe seyn kan. Und eben so verhält es sich im Körper, weil alle Veränderungen der Seele und des Körpers der Grösse nach übereinstimmen.« (S. 26)

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Dieser Gedanke, ausdrücklich von unterschiedlichen Intensitätsgraden des Lachens zu sprechen, ist in der gelotologischen Literatur völlig neu und verdient deshalb, festgehalten zu werden. Man muß sich aber auch darüber im klaren sein, daß die Rede von Intensitätsgraden des Lachens sofort methodologisch-heuristische Konsequenzen nach sich zieht, denn nun gilt es danach zu fragen, welcher zum Lachen führende Impuls denn auf einer Skala zwischen zwei polarkonträren Gegensätzen angesiedelt werden könnte. Oder anders formuliert: Wer von Graden des Lachens spricht, muß notgedrungen auch von Ambivalenzen sprechen, durch die das Lachen immanent geprägt wird, und von Polaritäten, zwischen denen es sich hin- und herbewegen kann, und schließlich auch von Impulsen, durch die die einzelnen Grade des Lachens mehr oder weniger intensiv geprägt sind. Genau dies tut Nicolai jedoch nicht, denn ganz offensichtlich hat er gar nicht gemerkt, wie fundamental wichtig der Gedanke war, den er da fast nebenbei formuliert hat, und welche enormen methodologischen Konsequenzen die Rede von den »Graden des Lachens« (S. 26) in sich birgt. Aus diesem Grund bestehen die heuristischen Konsequenzen, die er selbst aus seiner Entdeckung zieht, zunächst lediglich darin, daß er »ein heftiges, mittelmäßiges und schwaches Lachen« (S. 26) unterscheidet und darauf verweist, »daß man den geringsten Grad des Lachens ein Lächeln zu nennen pfleget.« (S. 26) Dann aber geht er einen Schritt weiter und leitet aus der Existenz von Graden des Lachens das heuristische Prinzip ab, daß das eigentliche Wesen und der innerste Kern des Lachens in seiner ausgeprägtesten Form am deutlichsten sichtbar werden müssen. Damit bekommt das exzessive ekstatische cachinnus-Gelächter, das bei allen Vertretern von Anstand, Würde und Gelassenheit seit der Antike so verpönt war und vor dem sich, wie wir gesehen haben, auch noch die Vertreter der Heiteren Aufklärung geniert hatten, mit einem Schlag eine heuristische Schlüsselfunktion für die Analyse des Lachens generell. Auch dieser Gedanke ist in der gelotologischen Literatur neu und verdient festgehalten zu werden. Es stellt sich aber auch hier wieder die Frage, was Nicolai aus diesem Einfall macht, und ob er die Tragweite dieses Einfalls wirklich begriffen hat 1045 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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oder ob er den Ideengeschichtler auch hier dazu zwingt, ihn gemäß der alten hermeneutischen Maxime »besser zu verstehen als er sich selbst verstanden hat«. Nicolai geht so vor, daß er zunächst einmal über drei Kapitel hinweg die Schilderung eines Lachenden wiedergibt, bei der sichtbar wird, mit welcher Intensität bei diesem Lachanfall Atmung, Gesicht, Bewegungen und Haltung überformt und z. T. auch deformiert werden, und diese Beschreibung lautet: »Wenn er anfänget heftig zu lachen, so holet er tief und geschwinde hintereinander Athem, oder ziehet sehr viel Luft schnell hintereinander in die Brust hinein, behält sie eine Weile darinnen, und läßt sehr wenig oder gar nichts davon herausgehen. In der Zeit, welche verfließt, indem man sonst gewöhnlicher Weise die Luft hineinziehet und wieder herausläßt, wird die Brust heftig und mit Gewalt beweget, ihre Wände werden geschwind und stark hintereinander erschüttert, bis er endlich die Luft wiederum hintereinander mit Gewalt herausstößt und einen starken, aber kurz unterbrochenen Laut von sich giebt; welches man ein Gelächter nennet. Dieser unterbrochene Laut, oder das oft wiederholte starke Herausstossen der Luft und Hineinziehen, folgen hernach ungemein geschwinde auf einander. Indessen gehet nicht so viel Luft aus der Lunge heraus, als hineingebracht worden ist, und die Brust wird nicht völlig von der Luft ausgeleeret, welche im Anfange ist hineingezogen worden. Und hernach noch hineingelassen wird, indem man einen starken und oft wiederholten Laut von sich giebet. Man kan also gewiß sagen, daß bey einem heftigen Lachen wenig von der Luft, welche in die Lunge ist eingezogen worden, wiederum herausgehet, und daß allemal mehr Luft in der Lunge bleibet und hineingelassen wird, als wiederum herausgehet.« (S. 27 f.)

Dann verweist Nicolai auf seine Gewährsleute, den »unvergleichlichen Herrn Boerhaave und den vortrefflichen Herrn Hofrath Haller«, die auch schon ähnlich argumentiert hätten, und fährt fort: »In dem Gesichte gehen bey einem heftigen Lachen unzählige Veränderungen vor, davon ich nur die vornehmsten und merklichsten berühren will. Die Augenwimpern lassen sich herunter, die Stirne dehnt sich auseinander, die Augenlieder schliessen sich und nähern sich in ihren Winkeln zusammen, die Haut, womit sie bedeckt sind, nimmt

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eine unebene Gestalt an, und legt sich in kleine Falten, die Augen selbst werden beynahe auf die Helfte verborgen und ganz kleine. Die Feuchtigkeit, welche sich natürlicher Weise in den Augen befindet, sammlet sich häufiger, und macht, daß sie glänzen und funkeln. Selbst diejenigen müssen alsdenn Thränen vergiessen, welche ihnen niemals auch der heftigste Schmerz hat herausgepreßt. Die Nase dehnt sich von einander, die Lefzen ziehen sich in die Länge zurück und von einander, die Backen heben sich in die Höhe, schwellen etwas auf und formiren in ihrer Mitte bey manchen Personen eine recht artige Höle und Grube, welche die Poeten vor den Sitz des Lachens und des angenehmen Wesens gehalten haben. Der Mund thut sich auf, daß man die Zunge sehen kan. Diese hebt sich in die Höhe, und bewegt sich in dieser Lage hin und her. Die Stimme besteht bloß in einem starken Laut der unterbrochen ist, und den man mit Gewalt von sich geben muß, wenn man nicht haben will, daß einem der Athem vergehen soll. Der Hals wird dicke, die Adern am Kopfe und Halse schwellen auf, und das ganze Gesicht nimmt eine lebhafte angenehme und liebliche Gestalt an, und es mag noch eine so blasse Farbe haben, und so ernsthaft aussehen als es immer will, so verändert es sich doch und bekommt, nebst einer freundlichen Mine, eine Röthe, und der Schweiß bricht an ihm hervor. Alles dieses ist noch nichts gegen die starken Veränderungen, welche die anderen Theile des Leibes vom Lachen erleiden. Die Bewegungen der Brust habe ich schon beschrieben und diese sind so heftig, daß man kaum Athem holen und weder reden noch schlucken kan. In der Seite an den kurzen Rippen empfindet man einen so heftigen Schmerz, welcher eine solche Empfindung verursachet, als wenn die inneren Theile zerreissen und zerplatzen wollten. Man dreht und biegt den Leib bald auf diese bald auf jene Seite, man krümmt sich und legt und druckt die Arme feste um die Brust und Rippen herum. Die Stimme offenbahret sich durch Schlucken und Seufzer, welche aber in ihrem Ausbruche ersticket werden. Bisweilen sind alle diese Veränderungen so heftig, daß sie auch die gefährlichsten Wirkungen hervorbringen. (…) Der Kopf und die Arme empfinden die Heftigkeit der Bewegungen eben so wie die Brust und Seiten, dabey aber werfen sie sich unordentlich und geschwinde bald hier bald dahin, hernach fallen sie von einer Seite zur andern, gleich als wenn sie alle ihre Kraft und Stärke verlohren hätten. Die Hände sinken nieder und werden ganz schlaf, die Beine

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können die Last des Körpers nicht mehr unterstützen und tragen, daher muß er endlich fallen.« (S. 27–31)

Daß man sich nach einem solchen Lachanfall sofort wieder aufrichtet, erschöpft, aber auch erfrischt und wie neugeboren, erwähnt Nicolai nicht, und da das jeder weiß, der jemals einen derartigen Lachanfall als »Opfer« oder als Zeuge erlebt hat, stimmt dies sofort mißtrauisch und man fragt sich, was an dieser Schilderung, so genau und eindrucksvoll sie auch immer sein mag, nicht stimmt. Wer die gelotologische Literatur bis hin zu Nicolai kennt, weiß schon nach den ersten Sätzen, daß Nicolai diese Beschreibung eines Lachanfalls mit Ausnahme der eingeschobenen Passagen, die ich hier ausgelassen habe, wortwörtlich aus der Affektenlehre von Marin Cureau de la Chambre Les charactères des passions (Paris 1640) abgeschrieben 200 hat. Aber auch Cureau hat sie wieder aus verschiedenen Kapiteln 201 von Laurent Jouberts Traité du Ris von 1579 zusammengestellt und abgeschrieben, selbstverständlich ohne Angabe der Quelle. Wir werden gleich sehen, daß genau dieselbe Passage auch in Louis Poinsinet de Sivrys Traité des causes physiques et morales du rire relativement à l’Art de l’exciter auftauchen wird, den Poinsinet 1768 anonym veröffentlichte, und dort wird diese Passage ebenfalls ohne Angabe der Quelle zitiert. Da nun weder bei Cureau noch bei Nicolai noch bei Poinsinet die eigentliche Quelle, nämlich Laurent Jouberts Traité du Ris, genannt wird, fragt man sich natürlich, warum das so ist. Waren all diese Herren bloß skrupellose Plagiatoren? Oder war diese Praxis damals üblich, weil es noch kein Urheberrecht auf Texte gab und weil ganze Bücher als Raubdrucke nachgedruckt wurden, sodaß auch Cureau, Nicolai und Poinsinet kein allzu schlechtes Gewissen gehabt haben müssen? Oder wußten Nicolai und Poinsinet schon gar nicht mehr, aus welcher Quelle Cureau geschöpft hatte? Das darf man wohl annehmen, denn Joubert war zu dieser Zeit schon in tiefe Vergessenheit geraten. Doch dann verschiebt sich die Frage dahin, warum Cureau de la Chambre 1640 so rüde mit seiner Quelle umgegangen ist. Diese Frage beantwortet sich sofort, wenn wir nachprüfen, was er aus Jouberts Text gestrichen hat, denn dann zeigt sich, daß das 1048 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Motiv dafür eindeutig ein wissenschaftspolitisch-ideologisches war. Es ist nämlich im höchsten Maß symptomatisch, daß schon Cureau aus Jouberts Text alle Passagen gestrichen hat, die dem Herzen Intentionalität zuschreiben, denn seit Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs 1628 war offenbar auch für Cureau das Herz nur noch ein Motor für den Blutkreislauf, eine Pumpe, die blind und stumpfsinnig vor sich hinpumpt, ohne von sich aus auf die Situationen zu antworten, in denen der Organismus, dem sie dient, als ganzer sich befindet. Denn unmittelbar nach der Beschreibung der Lachgrübchen (gelasins), die laut Joubert dadurch entstehen, daß bei einem allgemeinen Weitungs-Impuls das Herz besonders viele Lebensgeister und Blutdünste auch in die Wangen schickt, fährt Joubert fort: »Denn wenn das Herz sich weitet, ist es weder fähig noch willens, Lebensgeister und Blutdünste bei sich zurückzuhalten, und so treibt es sie voran, um das willkommene Objekt auch willkommen zu heißen.« (S. 76)

Wir könnten auch im Sinne Jouberts sagen: Das Herz bewillkommnet die willkommenen Objekte mit allem, was es ist, hat, kann und tut, also in erster Linie mit Lebensgeistern und Blutdünsten, aber auch damit, daß es »aufmacht«. Dergleichen Passagen gibt es, wie wir gesehen haben, bei Joubert viele, da er durchgehend die Tendenz verfolgt, körperliches Verhalten im Sinne des Aristoteles entelechial zu deuten, sodaß der Mensch auch beim Lachen mit allem, was er ist, hat, kann und tut, auf eine für ihn existentiell relevante Situation antwortet. Für Joubert, der von der Existenz eines Blutkreislaufs noch nichts wußte, war deshalb das Herz, wie wir gesehen haben, der Leib im kleinen und damit ein intentionales Organ. Aber diese Sicht der Dinge war offenbar schon für Cureau völlig unvorstellbar, und für Descartes, Boerhaave, Hoffmann und Nicolai erst recht. Georg Ernst Stahl, der sich, soweit ich sehe, nie über Joubert geäußert hat, hätte hier sicher sofort zugestimmt, da sich Jouberts Anthropologie mit seinem Organismuskonzept gut vertragen hätte, und er ja selbst eine Art von organischer Vernunft postuliert hatte und jedes einzelne Organ eines Organismus geradezu als »verständiges Wesen« betrachtete, das »gewissermaßen ein Subjekt«202 ist, 1049 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das von sich aus auf Situationen zu reagieren weiß, die den gesamten Organismus betreffen. Daß Nicolai Cureaus Quelle nicht gekannt haben kann, geht auch aus dem Umstand hervor, daß Nicolai meint, man könne vor Lachen sogar sterben (vgl. S. 51), was Joubert ja entschieden bestritten hatte. Joubert gibt zwar zu, daß man aus übergroßer reiner Freude und übergroßem reinem Kummer sterben könne, vor Lachen aber auf keinen Fall, weil Lachen auf zwei ambivalente Impulse und somit auf ein gemischtes Gefühl gegründet ist, die sich immer in etwa die Waage halten und in der konvulsivischen Gestalt des Lachens ja auch sichtbar werden. Deshalb erklärt er ja auch in aller Form: »Wenn wir nun lachen, so halten wir die Mitte zwischen diesen beiden gegensätzlichen und einander widerstrebenden Affizierungen, die in ihrer extremen, reinen und ungemischten Form lebensgefährlich wären. Man kann also das Lachen als die Bekundung von unechter Freude und unechtem Unbehagen zugleich verstehen, da es an beiden teil hat, und keine von beiden Affektionen in reiner natürlicher Form wirkt. Aus diesem Grund wirkt es auch so erholsam auf den Menschen, dem es zwar als Lust verliehen ist, da es weitab von den Extremen des Zuviel und Zuwenig liegt und die Natur das Mittlere liebt. Aus demselben Grund kann man vor Lachen auch nicht sterben, weil das Lachen nie in dem Maße gesteigert werden kann, daß das Herz sich wie bei übermäßiger reiner Freude zu sehr weitet, sondern sich sofort wieder zusammenzieht.« (S. 88)

Hier kann man nur wehmütig fragen, zu welchen Ergebnissen Nicolai wohl hätte kommen können, wenn er Jouberts Traktat über das Lachen gekannt hätte, aber diese Frage muß leider ohne Antwort bleiben. Nicolai beschreibt zwar in den folgenden Kapiteln ausführlich, welche Muskeln sich beim heftigen Lachen »sehr geschwind hintereinander zusammenziehen« (S. 33), und sich »nicht nur geschwind hintereinander, sondern auch heftig zusammenziehen« (S. 33), kann aber nicht erklären, warum dies so ist und warum es auch so sein muß. Es fehlt ihm einfach ein Ambivalenz-Prinzip, das diese mehr oder weniger intensive Konvulsions-Rhythmik organisieren würde, und auch das deutet darauf hin, daß er Jouberts Traktat 1050 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nicht gekannt haben kann, weil dort ein derartiges AmbivalenzPrinzip vorgestellt wird. Der Hinweis darauf, daß diese Veränderungen der Seele und des Körpers »der Grösse nach übereinstimmen und bey einem heftigen Lachen eine starke Veränderung in der Seele vorgehet« (S. 33), ist ja keine Erklärung des Phänomens, weil damit nicht geklärt wird, worin diese Veränderungen der Seele bestehen. Und der Hinweis auf die Reizbarkeit der Muskeln, die sich bei Reizungen zusammenziehen und sich danach wieder ausdehnen (S. 35), ist eigentlich auch keine Erklärung, weil die Frage offenbleibt, worin denn diese Reize bestehen sollten. Auch der Hinweis auf die Hydraulik des Nervensaftes, der die Konvulsionen eines Muskels bewirkt, »wenn sich der Nervensaft heftig und wechselweise in ihm beweget, und wider unsern Willen ein gewaltsames Zusammenziehen verursachet« (S. 49), löst das Problem nicht, weil auch hier die Frage offenbleibt, was wiederum den Nervensaft in diese ruckhaft rhythmische, gleichsam »gestotterte« Hydraulik versetzt. Da Nicolai offenbar selbst gemerkt hat, daß er die Probleme, die er zu lösen versprochen hatte, nur vor sich her schieben kann, beginnt er in Kapitel 29 mit einer völlig neuen Argumentation, die man heute wohl als »Einführung des Subjekts in die Physiologie« bezeichnen würde, und stellt nun nicht mehr nur die Frage, wie einzelne Muskeln auf einzelne Reize reagieren, die durch die Hydraulik des Nervensafts vermittelt werden, sondern die Frage, wie der Mensch als ganzer auf Situationen antwortet. Dieses Kapitel 29 ist methodologisch und wissenschaftspolitisch-ideologisch gesehen also der Wendepunkt, an dem Nicolai sich von der reduktionistischen Sicht des mechanistischen Dualismus im Gefolge von Descartes, Boerhaave und Hoffmann etwas zögerlich abwendet, jedoch ohne sich dessen voll bewußt zu sein und ohne sich dies in aller Form einzugestehen. Offenbar wirkt hier schon der Einfluß seines zweiten Mentors, des Stahlianers Johann Gottlob Krüger, denn Nicolai schreibt hier: »Es ist in der Natur der Menschen gegründet, daß sie alle unangenehmen Empfindungen verabscheuen, und sich von denselben zu befreyen, oder wenigstens doch sie zu lindern suchen. Sie nehmen daher verschiedene willkührliche Bewegungen vor, dadurch sie dieses be-

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werkstelligen wollen. Wer heftig lacht, empfindet von den Seiten einen empfindlichen Schmerz, und bekommt eine Bangigkeit und Angst ums Herz. Darf man sich also wundern, daß ein solcher den Leib krümmt, bald hier und bald dahin beuget, die Arme um die Rippen herumschlinget, und sie nebst dem Kopfe unordentlich hier und dahin wirft? Denn alles das geschiehet aus keiner andern Ursache als daß er der unangenehmen Empfindungen loszuwerden, oder sie doch wenigstens zu lindern suchet. Der Einwurf, daß sich die Seele des Entschlusses, was für Bewegungen sie bey einem starken Lachen unternehmen will, nicht bewußt sey, ist so schlecht gegründet, daß er keiner Antwort bedarf. Wie viele Veränderungen gehen nicht in der Seele vor, deren sie sich nicht bewußt ist, und von deren Daseyn wir doch gewiß überzeuget sind?« (S. 49 f.)

Hier hätte sich wieder ein ambivalentes Prinzip angeboten, diesmal in Form eines »innerseelischen« Widerstreits, das Nicolai aber ebenfalls gleich wieder wegschiebt. Hätte Nicolai diesen von Krüger und damit von Stahl vermittelten Ansatz, nach der Art und Weise zu fragen, wie der Mensch als ganzer, also mit allem, was er ist, hat, kann und tut, auf Situationen reagiert und was er dabei leiblich verspürt, wirklich ernst genommen, so hätte er sofort weiter fragen können, auf welche Situationen wir denn mit welchen bestimmten Formen von Gelächter zu antworten pflegen. Aber genau das tut er nicht; er zuckt geradezu davor zurück, weil er dann ja wieder die Grenze seines Faches hätte überschreiten müssen, und beschreibt statt dessen wieder anatomische und physiologische Phänomene, die bei heftigem Lachen tatsächlich oder angeblich auftreten, und außerdem bestimmte Formen von pathologischem Gelächter, die hier nicht weiter interessieren. Mit anderen Worten: Nicolai mußte sich wohl oder übel eingestehen, daß eine rein physiologisch orientierte Analyse des Lachens gar nicht möglich ist, weil nicht die Physiologie des Menschen lacht, sondern dieser selbst und damit auf Situationen aller Art antwortet, und weil diese rein physiologisch orientierte Sicht auf die Phänomene mit derart viel Reduktionismus erkauft werden muß, daß die Phänomene selber sich bis zur Unkenntlichkeit verändern und schließlich gar verschwinden. Am Ende weiß man gar nicht mehr, wonach man eigentlich fragen wollte, wenn man Lachen 1052 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nur als physiologisches Geschehnis und nicht auch als existentielles Erlebnis sieht. So scheint es auch Nicolai ergangen zu sein, der aus diesen Gründen den Reduktionismus auch bald aufgab, den er sich mit der Orientierung am dualistischen Mechanismus der cartesianischen Schule eingehandelt hatte, und sich als Arzt und medizinischer Schriftsteller eher der Stahlschen Richtung203 zuwandte. Die dabei entstandenen rein medizinischen Publikationen sind für uns allerdings ohne Interesse, weil sie unser Thema nicht berühren. 2.12.6.6.3 Von Wolff zu Lange oder Das Lachen des homo duplex im Duett mit sich selbst Samuel Gotthold Langes Aufsatz Vom Lachen im 5. Stück seiner Moralischen Wochenschrift Der Mensch (1751) ist in keiner Weise originell, denn alles, was Lange dort über das Lachen zu sagen weiß, kennen wir schon aus anderen Quellen. Was den Aufsatz aber trotzdem zitierwürdig macht, ist eher seine methodologische Biederkeit, da hier Wolffs Dualismus ganz brav auf das Thema Lachen übertragen wird und gerade durch diese Biederkeit die Aporien dieses Dualismus deutlich macht. Dasselbe Verfahren wendet Lange auch in dem Aufsatz Vom Weinen an, der im 100. Stück derselben Zeitschrift erschien. So gesehen sind beide Aufsätze recht aufschlußreiche Dokumente für das Auseinanderdriften von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften in der Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, und unter diesem Aspekt lesen sie sich auch wie ein geisteswissenschaftliches Echo auf Ernst Anton Nicolais naturwissenschaftliche Publikationen Abhandlung von dem Lachen und Gedancken von Thränen und Weinen, die kurz vorher in Halle erschienen waren und ihm bekannt gewesen sein müssen. Lange beginnt seinen Aufsatz mit einer kleinen Verbeugung vor Aristoteles und sieht wie dieser das Lachen als ein proprium hominis, denn: »Wir können mit Gewißheit sagen, daß eben das, wodurch ein Mensch ist, der Grund seines Lachens sey. Nun macht die Verbindung eines vernünftigen Geistes mit einem Cörper einen Menschen aus. Wir haben also den Grund des Lachens eben darin zu suchen, daß wir eine vernünftige Seele besitzen.« (I,33)

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Daraus ergibt sich für Lange sofort die methodologische und wissenschaftspolitische Konsequenz, den homo ridens als homo duplex zu beschreiben: »Ich überlasse den cörperlichen Theil des Lachens den Physicis und Aerzten über, und betrachte den geistlichen Theil desselben; und dieses um so vielmehr, weil es eine Art von Lachen giebt, die man nur bey verstandlosen Personen und im Tollhause suchen muß. Zu dem Lachen, davon ich gegenwärtig handeln will, gehöret Vernunft, und noch über dieses die Fertigkeit unsers Geistes, welche wir Witz nennen.« (I,33)

Noch deutlicher wird die enge Orientierung an Wolffs Menschenbild und seiner Hierarchie der Erkenntniskräfte, wenn Lange fortfährt: »Eine Erklärung, was das Lachen sey, ist eine ungemein schwere Sache; und dieses um so viel mehr, da das Lachen etwas Sinnliches ist, und weil alles Sinnliche nur in dunkeln Vorstellungen bestehet.« (I,34)

Die folgenreichste methodologische Konsequenz dieser reduktionistisch-geisteswissenschaftlichen Sicht auf das Lachen besteht darin, daß Gelotologie auf Geloiastik reduziert wird, d. h. daß eigentlich nur noch nach den Gründen und Anlässen für das geloiastische Gelächter gefragt wird, insbesondre wenn es um die Definition des Komischen geht, und das Lachen selbst aus dem Blick gerät und bestenfalls als Epiphänomen behandelt wird. Und das hat wiederum die Konsequenz, daß Lachen im wesentlichen als Reaktion auf Komisches und Lächerliches verstanden wird. Diese fatale Entwicklung, die mit Platon begann, wird hier bei Lange erneut bekräftigt und setzt sich dann über Bergson und Ritter bis in die zeitgenössischen philosophischen Wörterbücher204 fort. Was Lange selbst über Geloiastik zu berichten weiß, deckt sich weitgehend mit dem, was wir schon aus Meiers »Kritik der Scherze« kennen, und so listet Lange eine ganze Reihe von Lach-Anlässen auf: Die Erleichterung nach dem Entkommen aus einer bedrohlichen Situation; die Reaktion auf Abgeschmacktes, Difformes und Ungestaltes, das jedoch nicht wichtig und nicht bedrohlich sein darf; ungefährliche Unfälle aller Art; das groteske Mißverhältnis zwischen »sehr kleiner Handlung« und »außerordentlichem 1054 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ernst«, mit dem sie vollzogen wird (vgl. I,36). Genau wie Meier steuert also auch Lange gezielt auf eine Theorie des komischen Kontrastes zu und kommt dann zu dem vorläufigen Ergebnis: »Ich beschreibe also das Lachen und erkläre es durch ein ausbrechendes Vergnügen über eine unvermuthet entdeckte Thorheit, Ungereimtheit und Unförmlichkeit.« (I,38)

Diese Bilanz führt ihn dann wieder zu seiner Ausgangsthese zurück, das Lachen sei ein proprium des vernunftbegabten Menschen, und deshalb fährt er fort: »Vermöge dieser Erklärung sehen wir, daß nur der Mensch im eigentlichen Verstande lachen könne, weil er wegen der Kräfte seiner Seele, insbesondere des Witzes, die lächerliche Entdeckung machen kan, und vermöge des Körpers sein Vergnügen durch die Verziehung der Muskeln, und durch den Ton der Stimme ausbrechen zu lassen im Stande ist; wie er denn auch, vermöge seiner Selbstliebe, dieses Vergnügens fähig ist, und es suchet, oder wenn es ihm dargeboten wird, es mit Eifer annimmt.« (I,38)

Damit ist aber nur das »geistige Lachen« erklärt und vor der Vernunft gerechtfertigt, weil es eben auf dem Vermögen des Witzes gegründet ist. Vom rein »körperlichen Lachen« gilt all dies laut Lange nicht. Lachen, genauer: das vernünftige Lachen ist also für Lange ein Geschehen, das gleichsam auf zwei verschiedenen Etagen des Seienden stattfindet, einmal im Geiste resp. in der Seele, denen das Vergnügen durch den Witz geliefert wird, und synchron dazu im Körper, der sich sein spezifisches Vergnügen durch ungefährliche Muskelzuckungen verschafft. Man könnte aber auch sagen: Laut Lange lachen Körper und Seele im Menschen im harmonisch prästabilierten Duett, oder auch: Der Mensch lacht als homo duplex zweistimmig mit sich selbst im harmonisch prästabilierten Duett. Im Aufsatz Vom Weinen wird Lange noch etwas deutlicher, denn hier schreibt er: »Wir unterscheiden das (seelische) Weinen von der Vergiessung der Thränen; dieses ist eine physikalische, und jenes eine moralische Handlung. Durch das Weinen verstehe ich die Empfindungen unsers Gemüthes, welche auf unsern Leib wirken, daß daher die Thränen, oder das Weinen der Augen entstehet.« (III,108 f.)

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Das heißt also, daß auch das Weinen in harmonischer Synchronie von Körper und Seele erfolgt. Oder anders formuliert: Der Mensch als homo duplex lacht nicht nur, er weint auch mit sich selbst im Duett. Daß sich Lange hier eine kleine Anleihe bei der Influxus-Theorie gestattet, derzufolge Leib und Seele in irgendeiner Weise aufeinander einwirken, zeigt an, daß selbst ein so getreuer Wolffianer wie Lange Ausschau nach anderen Argumentationsmodellen hielt und Wolffs Autorität schon leicht verblaßte. Das ansteckende Lachen findet noch Gnade vor Langes strengem Blick, aber das »dumme Lachen«, an dem man den Narren erkennt, das Hohnlachen, das rechthaberische Lachen und vor allem das schadenfrohe Lachen, das er als »unmenschlich« und als »ein Lachen des Teufels« (III,41) empfindet, muß laut Lange strikt gemieden werden. Dies gilt auch für alle Formen ekstatischen Gelächters, bei dem man kurzfristig völlig außer sich gerät, denn: »Das laute Gelächter ist fast niemals zu entschuldigen, denn es ist niederträchtig, und beleidigt die Hochachtung, die ein Mensch dem andern schuldig ist.« (III,42)

Und außerdem gehört dieses ekstatische Gelächter zum rein körperlichen Lachen, weil es ein unverfügbares Widerfahrnis ist, und deshalb gehört es für Lange eindeutig in das Wissenschaftsrevier der Naturwissenschaft, für das allein Ärzte wie Ernst Anton Nicolai zuständig sind. 2.12.6.6.4 Von Haller zu Poinsinet oder Das Lachen als Krise Wir hatten gesehen, daß Albrecht von Haller in seinem großen Lehrgedicht über die Notwendigkeit des Übels in der besten aller Welten auch körperlichen und seelischen Schmerz als notwendigen Reiz beschreibt, »womit der Leib sich heilet«, auch wenn dies »den ganzen Leib empört« und in eine tiefe Krise stürzt, aber gerade dadurch zur Selbstheilung zwingt. Daß man auch einen ekstatischen Lachanfall, bei dem man förmlich zusammenbricht, als eine derartige umfassende regressive Krise deuten kann, hat offenbar erst Poinsinet gesehen, der diese Erkenntnis in seinem Traité des causes physiques et morales du rire, relativement à l’Art de 1056 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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l’exciter von 1768 verkünden läßt. Allerdings unterschlägt er dabei den Aspekt der uroborischen Selbstkorrektur, der für Haller so eminent wichtig war, weil man sich aus einer derartigen regressiven Krise zwar erschöpft, aber auch erfrischt wieder aufrichtet. Die Gründe für diese pessimistische Haller-Rezeption liegen, wie wir sehen werden, darin, daß Poinsinet Hallers Glauben an die Theodizee nicht mehr teilt. Wir könnten auch sagen: In Poinsinets Traktat wird der Optimismus der Aufklärung verabschiedet und weicht einer tiefen Ernüchterung. Louis Poinsinet de Sivry (1733–1804) wurde in Versailles als Sohn eines Intendanten des Duc d’Orléans geboren, wuchs also im Milieu des Ancien Régime und in der Nähe des Hofes auf und war ein entschiedener Gegner der Enzyklopädisten. Als Aristophanes-Übersetzer und als Autor von Lustspielen scheint er nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein, da er in keiner der gängigen Literaturgeschichten erwähnt wird. Was wir von ihm wissen, verdanken wir im wesentlichen den Forschungen von William Brooks, der Poinsinets Traktat 205 mit einem ausführlichen Kommentar 1986 ediert hat. Poinsinet empfand sich wohl als Opfer des Geschmackswandels, der in Frankreich um 1730 zur Dramatik bürgerlicher Empfindsamkeit geführt hatte und von Autoren wie Marivaux und Diderot durchgesetzt worden war. Wie er selbst Aufgabe und Funktion der Komödie sah, geht aus dem Vorwort zu seiner Aristophanes-Übersetzung von 1784 hervor, wo er behauptet, die Komödie habe das Ziel, »bösartig-bissigen Spott (raillerie maligne)« dramaturgisch zu organisieren, weil das bissige Verlachen das sicherste Mittel zur mentalen Sanierung der Gesellschaft sei, »denn wen man einmal verlacht hat, den wird man nicht mehr irrtümlich bewundern« (S. XI). So gesehen argumentiert Poinsinet also in etwa im Sinne Shaftesburys, allerdings mit deutlicher Präferenz für das bissige Lachen im Sinne von Hobbes, was bei einem Aristophanes-Übersetzer auch nicht verwundern kann. Die eigentliche Diskussion über das Lachen und seine Ursachen und Gründe legt Poinsinet drei Protagonisten in den Mund, dem Komödien-Autor Philippe Néricault Destouches (1680–1750), dem Literaten Bernard le Bouvoir de Fontenelle (1657–1757), des1057 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sen Unterhaltungen über die Vielzahl der Welten (1680) allein in Frankreich mehr als dreißig Auflagen erlebten und in alle europäischen Sprachen übersetzt wurden, und dem Staats- und Rechtsphilosophen Charles-Louis de Secondat, Baron den Montesquieu (1689–1755). Alle drei waren Mitglieder der Académie française und zu der Zeit, als der Traité erschien, längst tot. Dabei fingiert Poinsinet eine Art von Vortragswettbewerb, widmet das Ergebnis in einem Vorspruch einer namenlosen »Madame«, hinter der sich wohl Madame Lambert versteckt, die damals in Paris einen Salon führte, in dem auch Poinsinet zu verkehren pflegte, und bescheidet sich selbst mit der Rolle des anonymen Herausgebers. Diese literarische Camouflage wurde offenbar schon von dem anonymen zeitgenössischen deutschen Übersetzer nicht durchschaut, der seine Übersetzung als Sammelwerk von Destouches, Fontenelle und Montesquieu ausgibt. Diese seltsame Blindheit für das literarische Spiel fingierter Herausgeberschaft haben bestimmte Leser und Interpreten von Poinsinets Traktat offenbar bis heute nicht durchschaut, weil z. B. für Lothar Fietz 206 hier tatsächlich Destouches, Fontenelle und Montesquieu selbst zu Wort kommen, und daß der ihm vorliegende englische Traktat eine Übersetzung aus dem Französischen ist, scheint sich bis zu Fietz auch noch nicht herumgesprochen zu haben. Auch Markus Fauser scheint von Poinsinet noch nie etwas gehört zu haben, weil er in seiner Dissertation den Traktat mit den Worten vorstellt: »Wesentliche Anregungen zu einer erneuten Auseinandersetzung (mit dem Thema Lachen) bot eine rasch übersetzte französische Traktatsammlung, die Aufsätze von drei berühmten Schriftstellern enthielt. Der Wegbereiter des rührenden Lustspiels Philippe Néricault Destouches, Bernard Fontenelle und Charles Montesquieu, alle bereits Angehörige der älteren Aufklärung, waren in einem posthum edierten Band vertreten.«207

Über die Gründe dafür, daß Poinsinet sich als Autor so sorgfältig verdeckt hielt, kann man nur mehr oder weniger plausible Vermutungen anstellen. Sie könnten z. B. darin gelegen haben, daß Poinsinet als erklärter Gegner der Enzyklopädisten 208 sich deren Kritik nicht aussetzen und seinen eh schon beschädigten Ruf als Dramatiker nicht noch weiter ruinieren wollte. 1058 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Viel wichtiger aber scheinen politische Gründe gewesen zu sein, da in dem Traktat alle drei fiktiven Beiträger das Lachen als mehr oder weniger tiefe existentielle Krise deuten, das Wort »Krise« in Frankreich ab 1760 aber das Reizwort schlechthin209 war. Als Vertreter des Ancien Régime wollte Poinsinet wohl nicht mit all den Kritikern und Gegnern des Ancien Régime in einen Topf geworfen werden, die ständig das Wort »Krise« im Munde führten, weil sie das Land, die Gesellschaft und den Staat in einer tiefen existenzbedrohenden Krise sahen. Vor diesem Hintergrund bekommt die lange und eindrucksvolle Schilderung eines Lachanfalls als Abdankung der Vernunft, als Zustand der Irrnis, als Anarchie des Körpers und als regressiver Zusammenbruch, die Poinsinet in seinem Traktat »Fontenelle« vortragen läßt, sofort eine Aura politischer Assoziationen, sodaß man hinter dieser Schilderung schon das Gespenst von Anarchie, Revolte und Zusammenbruch auch des »Staatskörpers« erblicken konnte, wenn man es so sehen wollte. Und wenn Poinsinet dazu noch die These vertreten läßt, man könne vor Lachen sogar sterben, so konnte man hinter einem solchen Satz schon die These wittern, die Anarchie im revoltierenden Staatskörper könne auch zu dessen Tod führen. Mit anderen Worten: Ich vermute, daß es Poinsinet im wesentlichen darum ging, der französischen Zensur auszuweichen, und daß er deshalb seinen Traktat anonym und außerdem auch noch im liberalen Holland erscheinen ließ. Wie gefährlich es damals sein konnte, in die Fänge der französischen Zensur zu geraten, läßt sich an Rousseaus Erziehungsroman Émile ablesen, der 1762 ebenfalls anonym in Holland erschienen war und sofort von der französischen Zensur konfisziert wurde. Da Rousseau aber so unvorsichtig war, sich als der Autor dieses Werks zu bekennen, erging sofort ein Haftbefehl gegen ihn; Rousseau mußte fliehen und war von da an jahrelang auf der Flucht vor den französischen Behörden und wäre wohl in der Bastille 210 gelandet, wenn man seiner habhaft geworden wäre. Dieses Schicksal hätte durchaus auch Poinsinet widerfahren können, wenn er so unvorsichtig wie Rousseau gewesen wäre, da er genau wie dieser das Reizwort »Krise« zum Generalnenner für die ätiologische Bestimmung des Lachens erhoben hatte und damit gewissermaßen in den Spu1059 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ren von Rousseau gewandelt war, auch wenn ihm Rousseau als Mensch und Autor nicht sonderlich sympathisch gewesen sein kann. Es war nämlich genau dieser Erziehungsroman Émile, durch den das Wort »Krise« im vorrevolutionären Frankreich der sechziger Jahre populär wurde. Dazu Reinhart Koselleck in seinem berühmten Buch Kritik und Krise: »Rousseau, der als erster seine Kritik nicht nur gegen den bestehenden Staat, sondern mit gleicher Schärfe gegen die den Staat kritisierende Gesellschaft gerichtet hatte, erfaßte ihr Wechselverhältnis auch als erster unter dem Begriff ›Krise‹. (…) Die Gesellschaftsordnung (so schreibt er im Émile) sei zwangsläufigen Umwälzungen ausgesetzt, und man berufe sich darauf, die Umwälzungen weder vorhersehen noch sie verhüten zu können; er aber, Rousseau, hält es ›für eine Unmöglichkeit, daß die großen Monarchien Europas noch lange dauern‹. Die Revolution, die Rousseau prognostiziert, wird die bestehende Herrschaftsordnung stürzen; die Staaten werden nicht unpolitisch absterben, fortschrittlich umgewandelt in einer glücklichen Revolution (nach dem Modell der Glorious Revolution von 1688/89), (…) sondern mit dem Umsturz beginnt das Stadium einer Krise.« (S. 133)

Denn, so Rousseaus Prophezeiung, wir nähern uns einem Zustand der Krise auf Dauer und einem Jahrhundert der Revolutionen. Ich habe Koselleck resp. Rousseau so ausführlich zu Wort kommen lassen, um deutlich zu machen, welche politisch brandgefährlichen Assoziationen der ursprünglich rein medizinische Begriff der Krise im vorrevolutionären Frankreich der sechziger und siebziger Jahre beim französischen Leser und der französischen Zensur freisetzen mußte und auf welch gefährlichem Terrain sich Poinsinet mit diesem auf den ersten Blick so unpolitischen Traktat über die Ursachen des Lachens bewegte, da die französische Zensur dieser Zeit auch noch außerordentlich einfallsreich war, selbst den harmlosesten Text211 politisch zu interpretieren. In der gelotologischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts taucht Poinsinets Traktat des öfteren auf. So erwähnt ihn z. B. Johann Jakob Engel in seiner Mimik von 1784/85 im 12. Brief, aber ohne den Verfasser zu kennen. Arthur Schopenhauer weist 1060 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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1844 im Ergänzungsband zu seinem Hauptwerk im Kapitel »Zur Theorie des Lächerlichen« (II,106 ff.) auf den Traktat hin, auch er ohne den Verfasser zu kennen, muß aber zugeben, dieses Werk sei »als Ventilation des Gegenstandes nicht ohne Verdienst« (II,106), was bei Schopenhauer schon als enthusiastisches Lob gelten darf. Aber schon 1832 hatte der »lachende Philosoph« Carl Julius Weber Poinsinet als Verfasser genannt, hatte auch die Thesen der drei fiktiven Protagonisten knapp und korrekt wiedergegeben, nicht aber den Titel, denn dieser lautet bei ihm: »Traité des causes du rire, Paris 1768« (I,212), woraus man nur schließen kann, daß Weber nicht den Traktat selbst in der Hand gehabt haben kann, sondern ihn irgendwo zitiert fand, und außerdem schreibt er auch noch den Namen des Verfassers (»Poisinet«) falsch. Aber woraus Weber hier zitiert und wie er auf den Namen des Verfassers gekommen war, verrät er nicht, und ich selbst konnte es auch nicht ausfindig machen. Alle späteren wichtigen Beiträger zum gelotologischen Diskurs erwähnen Poinsinets Traktat nicht mehr, insbesondere Helmuth Plessner nicht, der Poinsinets Thesen resp. der seines »Fontenelle« thematisch am nächsten steht, da auch Plessner das Lachen als Krise deutet. Poinsinet selbst meldet sich als Herausgeber nur einmal in einer Vorbemerkung an den Leser zu Wort, wo er das literarische Spiel der fiktiven Herausgeberschaft einfädelt und dann den Leser zu bedenken bittet, »daß ein Traktat über das Lachen kein Schwank (facétie) zum Lachen« (S. 2) sei, weil man genau unterscheiden müsse »zwischen einem gefälligen Text, der einen zum Lachen bringen soll, und einer Abhandlung, in der man mit kühlem Verstand nachprüft und darlegt, durch welche Prinzipien man zum Lachen gebracht wird.« (S. 2)

Dann betont er noch mal eigens, daß in diesem Traktat nur die Auffassungen der drei Kombattanten wiedergegeben werden, wie dies auch in einem Drama der Fall ist, wo nicht der Autor selbst spricht, sondern seine Gestalten sprechen läßt. Aber auch dieser Hinweis gehört natürlich mit zum Spiel fiktiver Herausgeberschaft, da die drei Kombattanten ja Geschöpfe von Poinsinets Gnaden sind, und aus diesem Grund stellt sich erst recht die Frage, welcher der drei Beiträger Poinsinets eigene Sicht der Dinge wiedergibt. Aus 1061 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Anordnung des Traktats nach dem Schema von These, Antithese und Synthese sollte man eigentlich annehmen, daß »Montesquieu« Poinsinets Sprachrohr sei, der in der »geschmeichelten Eigenliebe« die »verborgene Quelle« und den »beständigen Antrieb« für das Lachen sieht (S. 57), aber das muß nicht heißen, daß die Argumente der beiden anderen Beiträger nicht noch gewichtiger sein könnten. Wir werden sehen. Der wirkliche Destouches war ein Autor im Gefolge Molières, der durch Typen-Komödien und Plautus-Übersetzungen bekannt geworden war, durch Stücke also, die ganz in der Tradition der Verlach-Komödie stehen. Ähnlich argumentiert auch Poinsinets »Destouches«, der seine Aufgabe darin sieht, sein Publikum durch das Verlachenlassen von unvernünftigem Verhalten zu erziehen. Damit vertritt er eine Dramaturgie, die Poinsinet als Dramatiker und Aristophanes-Übersetzer selbst auch befolgte. Da aber diese Dramaturgie durch die gesellschaftliche und politische Entwicklung des französischen Publikums schon überholt war, weil die große Koalition la cour et la ville im Spätabsolutismus zerbrochen war, ist die Position, die Poinsinets »Destouches« im Traktat vertritt und die die sittlich-moralischen und psychologischen Ursachen des Lachens benennen soll, die schwächste von allen dreien. »Destouches’« These lautet: »Weil das Lachen das Gegenteil des Weinens ist, muß die Freude (joye) die Quelle des Lachens sein, genauso wie die Trauer offensichtlich die Quelle der Tränen ist.« (S. 6)

So absurd reduktionistisch hatte nicht einmal Augustinus argumentiert, weil man ja auch aus Freude und vor Glück und Rührung weinen kann und weil man außerdem auch jemanden voller Haß und Verachtung verlachen kann. Da »Destouches« aber selbst zu merken scheint, wie angreifbar diese Argumentation ist, verwirft er diese Arten von Lachen und Weinen sofort als uneigentlich, wesensfern und äußerlich und unterscheidet sie vom »wahren« Lachen und Weinen, um sein dürftiges Theorielein zu retten, und verweist lieber erst mal auf weitere Gründe und Anlässe des uneigentlichen, weil physiologisch bedingten Lachens: »Ich beginne damit, daß ich hier bei der Frage nach dem wahren Lachen all das ausscheide, was ihm wesensfremd ist. Es ist ja in der Tat

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nicht einzusehen, welche Analogie zwischen einer so angenehmen Bewegung der Seele und den bizarren Wirkungen irgendwelcher giftiger Kräuter bestehen sollte; zwischen einem Zeichen der Freude und dem Stich eines Insekts, zwischen der Wirkung eines Scherzes (bon mot) und dem schmerzhaften Messerstich in das Innere des Körpers. All das, was man sich also von den Attacken der Tarantel, vom Gift des Lachkrauts, das in Sardinien wächst, und von den Verletzungen des Zwerchfells erzählt, und dann versichert, daß all dies ein krankhaftes Lachen erzeuge, das oft genug auch zum Tode führt, – all diese Phänomene, so behaupte ich, haben nicht das geringste mit dem Lachen zu tun, das aus der Freude erwächst, genau so wenig, wie die Freudentränen mit denen zu tun haben, die man aus Kummer vergießt.« (S. 7)

Die Argumente, die »Destouches« hier vorträgt, sind also tatsächlich etwas schief, vielleicht auch gezielt schief, weil er eindeutig pathologische Formen des Lachens dazu benutzt, all die Formen von Lachen, die nicht in sein reduktionistisches Theorielein passen, als uneigentlich und wesensfremd auszuscheiden. Wenn er aber so weit geht, die klassische Definition von Aristoteles anzugreifen, das Risible sei eine »Difformität ohne Ausdruck von Schmerz« (S. 7) und dies mit dem Hinweis auf die Sphinx, die ja auch eine Difformität sei, in ihrem Ausdruck keinerlei Schmerz bekunde und trotzdem nicht komisch wirke und zum Lachen reize, so bekommt er sofort etwas mehr Boden unter die Füße und gibt zu bedenken, ob man das Prinzip des Risiblen statt als »difformité sans douleur« nicht besser mit »difformité non révoltante« (S. 8) bestimmen sollte, also als das »nicht empörende Ungestalte«, denn dies ist in der Tat ein akzeptables Argument. Allerdings wird dieses Argument sofort wieder dadurch entwertet, daß er auf Ovids Schilderung des Chaos in den ersten Versen seiner Metamorphosen verweist, das die Difformität schlechthin sei und trotzdem nicht zu Lachen reize, denn er verwechselt hier einfach das Difforme mit dem Formlosen, das Ungestalte mit dem Ungestalteten, die mißratene oder korrumpierte Form mit dem Zustand vor jeder Geformtheit. Auch die Thesen, die das Lachen als Bekundung von Verwunderung (admiration) oder Überraschung (surprise) deuten und aus Descartes’ Affektenlehre stammen, finden vor »Destouches« keine 1063 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Gnade als innerseelische Ursachen des Lachens, weil hier das Lachen nicht die eigentliche Reaktion auf den Reiz von Verwunderung und Überraschung selbst sei, sondern die Reaktion auf die Reaktion. Oder anders formuliert: Man lacht laut »Destouches« nicht aus Überraschung oder Verwunderung, sondern man lacht erst dann, wenn man sich aus dem Zustand von Verwunderung und Überraschung wieder löst, denn wenn man wirklich überrascht und verwundert ist durch etwas völlig Neuem und Ungewohntem, so erzeuge dies erst mal »eine Art von Schock (choc) und eine unfreiwillige Krise (crise)« (S. 9), und das Lachen sei genau genommen erst die Befreiung aus diesem Schock- oder Krisen-Zustand. Dieses Argument ist nun wirklich plausibel und verdient, festgehalten zu werden. Das ebenfalls von Aristoteles stammende klassische Argument, Lachen sei ein proprium hominis, weshalb Tiere auch nicht lachen könnten, bringt »Destouches« dann zu seiner eigentlichen These, das echte Lachen habe seinen Ursprung in einer »vernünftig begründeten Freude (joye raisonnée), die deshalb auch nur einem vernünftigen Wesen (espèce raisonnable) eigen sei und eigen sein könne.« (S. 10) Aus dieser »vernünftigen Freude« leitet »Destouches« dann zwei Arten von echtem Gelächter ab: »Die eine ist rein unschuldig und gemäßigt und bekundet die Lauterkeit des Herzens (candeur), die andere grenzt an das Laster und setzt, wie es heißt, eine mehr oder weniger sensible Mischung von Wohlgefallen und Mißgunst (plaisir & méchanceté) voraus. Dieser Kontrast zwischen beiden Arten von Gelächter resultiert aus der Unterschiedlichkeit der Ansätze, aus denen die Freude entspringt, denn diese Objekte sind manchmal rühmenswert (dignes de louanges), manchmal aber auch mit Mängeln behaftet (défectueux). Und so gereicht es uns zur Ehre, sich der einen zu erfreuen; aber gehört es sich auch, die anderen zu verlachen? Diese Frage ist, wie mir scheint, ein würdiges Thema für die Pönitential-Kasuistik, liegt aber weit ab von meinem Thema.« (S. 11)

Das ist nun allerdings wieder eine reichlich seltsame Argumentation, die der Komödien-Autor Poinsinet dem Komödienautor »Destouches« hier in den Mund legt, denn das Verlachen des Lasters und der Unvernunft im Namen des gesellschaftlichen Nomos war 1064 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ja genau die Dramaturgie der Verlach-Komödie, die der echte Destouches als Autor des ruhmredigen Großmauls in seinem berühmtesten Stück Le Glorieux und in seinen Plautus-Übersetzungen befolgt und die auch Poinsinet selbst seinen Aristophanes-Übersetzungen zugrunde gelegt hatte. Es war aber auch die Komödiendramaturgie, die die Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert als Norm propagierte, denn dort heißt es: »Das Prinzip, auf dem die Komödie beruht, ist die natürliche Häme (malice) der Menschen im Umgang miteinander. Wir sehen die Schwächen und Fehler unserer Mitmenschen mit einem Gemisch aus Freude und Mißgunst, sofern diese Fehler und Schwächen weder so gravierend sind, daß sie unser Mitleid, noch so empörend (révoltant), daß sie unseren Haß hervorrufen, und auch nicht so bedrohlich, daß sie uns erschrecken lassen. Diese Phänomene bringen uns zum Schmunzeln (sourire), wenn sie mit Feinheit gezeichnet sind, und sie bringen uns zum Lachen, wenn die Pfeile dieser Schadenfreude so gezielt wie unverhofft auch noch durch eine überraschende Pointe zugespitzt sind (si les traits de cette maligne joye sont aiguisés par la surprise).« 212

Im Gegensatz zu diesem Prinzip des Verlachens aus reiner Schadenfreude ist die vernünftige Freude, die »Destouches« als Quelle des echten Lachens im Auge hat, eine unschuldige Freude, der man sich hingeben kann, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, denn diese vernünftige Freude sei auch »die natürliche Befindlichkeit des glücklichen honnête-homme.« (S. 11) Und vor allem: Das Lachen, das ein Mann von Welt lacht, ist ein dezentes, vernünftiges Lachen, das um sich selbst weiß und sich gleichsam im Griff hat, und deshalb ist dieses Lachen laut »Destouches« den unbeherrschten Ausbrüchen von Gelächter entschieden vorzuziehen. Mit einem Wort: Poinsinet läßt seinen »Destouches« das neostoische Ideal des beherrschten Höflings vortragen, wie es schon Faret und Graciàn verkündet hatten und wie es auch Poinsinets Zeitgenosse Lord Chesterfield in den Briefen an seinen Sohn 213 vorträgt, der genau wie Poinsinet selbst ein Epigone der absolutistischen Epoche war. Obwohl »Destouches« ausschließlich vom Bekundungs-Lachen redet, scheint er das Lachen generell für tendenziell verfügbar zu 1065 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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halten, weil er in seiner weiteren Argumentation das unverfügbare uneigentliche »erzwungene Lachen« (rire forcé) so deutlich von ihm absetzt und als pathologisch versteht. Dieses pathologische erzwungene und unverfügbare Lachen stürzt einen laut »Destouches« in eine tiefe Krise, die sogar so tief sein kann, daß man daran auch sterben kann, und schon deshalb habe man sich davor zu hüten, weil bei dieser Art von Gelächter eben auch die Vernunft gelähmt oder ganz ausgeschaltet sei. Mit anderen Worten: Das Lachen als Krise ist der vernunftferne und gefährliche Leerlauf der Körpermaschine. »Fontenelle«, der danach das Wort ergreift, erklärt die psychologisch orientierte Ätiologie des Lachens, die »Destouches« vorgetragen hatte, schlichtweg für »absurd« (S. 17) und setzt ganz auf die physiologischen Ursachen und körperlichen Symptome des Lachens, weshalb er seine Kronzeugen denn auch in erster Linie bei den Ärzten sucht, die sich mit diesem Thema befaßt haben. Aber auch er sieht das Lachen als eine tiefe Krise, in die der Mensch dabei gestürzt wird. Daß Poinsinet diese quasi materialistische Position ausgerechnet von einem Schöngeist wie »Fontenelle« vortragen läßt, ist auf den ersten Blick etwas verwunderlich, weil der echte Fontenelle sicher nie so argumentiert hätte. Viel besser hätte »Fontenelles« Argumentation vielleicht zu La Mettrie gepaßt, der beim Erscheinen des Traktats ja auch schon tot war und somit ebenfalls für dieses literarische Maskenspiel zur Verfügung gestanden hätte. »Fontenelle« geht denn auch gleich medias in res und zitiert die lange Passage aus Cureau de la Chambres Affektenlehre, die dieser aus Jouberts Traité du Ris zusammengestellt hatte und die wir auch schon in Nicolais Abhandlung von dem Lachen angetroffen hatten. Sie lautet hier bei Poinsinet: »Wenn Sie das Gesicht (eines Lachenden) betrachten, so sehen Sie, daß die Stirn sich weitet, die Augenbrauen sich senken, die Augenlider sich gegen die Augenwinkel hin ziehen, und all die Haut um die Augen sich verzieht und Falten wirft. Das Auge, das wie geschmerzt blickt und halb geschlossen ist, hat nur noch den Glanz von dunkler Feuchte. Diejenigen, denen der Schmerz nie Tränen entlocken hat können, werden jetzt zum Weinen gezwungen. Die Nase runzelt sich und spitzt

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sich mehr oder weniger zu; die Lippen ziehen sich etwas zurück und wirken breiter; die Zähne werden entblößt; die Wangen erheben sich und schwellen etwas an, wobei sich die Backenmuskeln rhythmisch anspannen und wieder entspannen, wobei sich Grübchen bilden, die bei den einen hübsch wirken, bei den andern jedoch eher ungestalt. Der Mund, der sich gezwungenermaßen öffnet, läßt die frei hängende Zunge sichtbar werden, die in heftigen Stößen bewegt wird. Die Stimme, die nur noch als ein gestotterter Ton hörbar ist, wirkt manchmal lebhaft und durchdringend, manchmal schwach und klagend. Gleichzeitig bläht der Hals sich auf; alle Adern sind geschwellt und gespannt; und das Blut, das sich in wilden Stößen gegen die äußersten Äderchen der Haut drängt, bewirkt, daß das Gesicht dunkelrot anläuft, ganz so wie bei einem Erstickungs-Anfall. Aber all dies ist nichts im Vergleich mit dem, was sich in den übrigen Körperteilen abspielt. Der Brustkorb arbeitet so heftig, daß man nicht mehr richtig atmen, geschweige denn auch nur ein Wort aussprechen kann. In den Flanken spürt man, wie sich ein schmerzender Druck ausbreitet; die Eingeweide scheinen verrückt zu spielen (se déchirent), und man hat das Gefühl, als würde man auseinanderbrechen. Man sieht also, wie in dieser Krise (crise) der gesamte Körper sich biegt, sich verdreht und mit sich selbst zu ringen scheint (se ramasse). Die Hände fuchteln hin und her oder stemmen sich in die Flanken. Das Gesicht überzieht sich mit Schweiß, die Stimme verliert sich in Geschluchze und die Atmung in gestottertem Geseufze. Auf dem Höhepunkt dieser Erregung zeigen sich manchmal Effekte, wie sie auch auftreten, wenn man ein giftiges Gesöff geschluckt hat, sodaß man an allen Gliedern zittert und in Ohnmacht fällt und manchmal auch stirbt. Solange diese Art von Anfall (sorte de supplice) dauert, werden Kopf und Arme von denselben Erschütterungen heimgesucht wie der Brustkorb und die Flanken. Man sieht also, wie alles am Körper sich in Aufruhr und Unordnung befindet und wie man schließlich entnervt und geschwächt in sich zusammenfällt. Die Hände werden schwach, die Knie werden weich, und die gesamte Körpermaschine versinkt in einem Zustand der Erschöpfung (défaillance).« (S. 18)

Daß diese Desorganisation von Atmung und Körperhaltung, Mimik und Gestik zwar eine tiefe Krise und ein massiver Regressionsschub ist, aber eben nur ein momentaner Einbruch im personalen 1067 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Selbstbesitz, aus dem man sich wie Phönix aus der Asche wieder erhebt, wird schon bei Cureau nicht gesagt, und auch »Fontenelle« und Nicolai erwähnen es nicht. Das ist auf den ersten Blick etwas verwunderlich, denn dieses uroborische Prinzip der Selbstheilung, Selbstkorrektur und Restabilisierung eines Organismus müßte aus den physiologischen Experimenten Hallers bekannt gewesen sein. Und außerdem müßte dieses Prinzip der Selbstkorrektur einem Konservativen wie Poinsinet eigentlich doch sehr willkommen und der Würdigung wert gewesen sein. Andererseits müßte einem Konservativen wie Poinsinet der Umstand wiederum mächtig peinlich sein, daß man diese kurzfristige Regression in die körperliche Anarchie durchaus als lustvoll erlebt, worauf ja schon Horaz verwiesen und woraus er die Maxime »Desipere aude in loco!« abgeleitet hatte. Viel wichtiger ist für »Fontenelle« ein methodologisches Argument, denn er fügt hinzu, dies sei zwar die Beschreibung eines »heftigen Lachens« (rire véhément), nicht die des viel häufigeren »gemäßigten Lachens« (rire médiocre) und schon gar nicht die des Lächelns (S. 18), aber letztlich gelte auch hier das Prinzip der Homogenität eines Phänomens in all seinen Intensitätsgraden, und das heißt hier: »Ein Lach-Anfall (rire immodéré) und ein Lächeln sind homogene Phänomene, und der Unterschied zwischen ihnen ist nur der zwischen groß und klein.« (S. 18)

Dieses Argument fanden wir schon bei Nicolai, und Nicolai hatte auch schon das heuristische Prinzip formuliert, man müsse die Natur eines Phänomens an seinen ausgeprägtesten und intensivsten Formen ablesen, nicht an seinen Schwundstufen. Von hier aus gesehen ergibt sich vielleicht doch eine Antwort auf die Frage, warum Poinsinet diese Argumentation ausgerechnet »Fontenelle« und nicht eher einem »La Mettrie« in den Mund gelegt hat, da der wirkliche Fontenelle als Neostoiker und ausgeprägter Lachmuffel galt, La Mettrie hingegen als Lebenskünstler und wüster Genießer. Ich vermute also, daß es für Poinsinet überzeugender erscheinen mußte, die Darstellung des exzessiven Lachens von einem Neostoiker und notorischen Agelasten vortragen zu lassen, weil man es ihm eher abnahm, wenn er das exzessive Lachen als 1068 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Krise und Kapitulation bürgerlicher Würde, als Anarchie der Körpermaschine, als Manifestation personaler Regression, als Zustand der Irrnis und als Beleidigung der Vernunft darstellte. Aus diesem Grund fährt »Fontenelle« denn auch fort: »Der Mensch lacht selten, wenn er allein ist, weil er in dieser Situation mehr bei sich selbst ist und in höherem Maß in der Lage ist, das Orakel seiner Vernunft zu befragen. Aber sobald ein unvorhergesehenes Objekt oder eine ungewöhnliche Idee ihn zerstreut, dehnt sich der Nerv seiner Aufmerksamkeit, die Vernunft schweift ab, und das Lachen bricht aus ihm heraus. Und diese empfindliche Erschütterung seiner körperlichen Organe ist nur die äußere Seite seiner inneren Verstörung (désordre intime) und der heimlichen Zerrüttung (déroute) des Prinzips Vernunft.« (S. 28)

Deshalb mündet seine gesamte Argumentation in dem Fazit: »Und so ist nichts so gewiß als daß das Lachen, allgemein gesprochen, seine Wurzel in der menschlichen Irrnis (folie) hat.« (S. 29)

Oder anders formuliert: Lachen ist für »Fontenelle« eine Beleidigung der Vernunft, weshalb für ihn die Wörter »Gelächter« und »Delirium« (S. 29) austauschbar sind und weshalb man dem Grafen Oxenstierna nur grimmig zustimmen könne, wenn dieser das laute Lachen als »die Posaune der Torheit« 214 bezeichnet. Sehr viel anders als »Fontenelle« hätten wohl auch die christlichen Kirchenväter Johannes Chrysostomus und Aurelius Augustinus unter Berufung auf den weisen König Salomon, auf Platon und die Stoiker nicht über das Lachen geurteilt. Poinsinets »Fontenelle« argumentiert sich also gezielt in die Position des lachfeindlichen Vernunft-Dogmatikers, der auf das horazische Motto »Dulce est desipere in loco« nur mit Hohn, Spott und Verachtung reagieren konnte, und deshalb referiert er im folgenden auch all die ihm bekannten physiologischen Zusammenhänge, die er braucht, um seine These zu belegen, das Lachen sei die vernunftferne Anarchie der Körpermaschine, das seinen Sitz tief unten im Zwerchfell habe und sich von dort aus als anarchischer Bewegungssturm über den ganzen Körper ausbreitet. Mit anderen Worten: Was für den Staatskörper die Revolution ist, das ist für den menschlichen Körper das Lachen; beide zerstören deren Ordnung von unten her. 1069 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Bei dieser Sicht der Dinge kann es nicht überraschen, daß »Fontenelle« als Gegentyp zum homo ridens wieder einmal den stoischen Weisen beschwört, der für ihn im Edlen Wilden, resp. im Edlen Huronen repräsentiert ist, denn dieser Edle Wilde lacht niemals. Sollte er aber doch mal in den Zustand der Irrnis verfallen und tatsächlich lachen, so verfällt der heidnische Hurone auch sofort tief in die Zerknirschung des christlichen Sündenbewußtseins, weil er sich schämt, seinen stolzen stoischen Selbstbesitz so kläglich verloren zu haben. Nachdem »Destouches« eine eher psychologisch und »Fontenelle« eine eher physiologisch orientierte Ätiologie des Lachens vorgetragen haben, soll nun »Montesquieu« gleichsam die Synthese aus beiden Theorien gewinnen, und dieser bestimmt als den Ursprung des Lachens das Prinzip »Orgueil« (S. 32), also das Prinzip Hochmut/Hoffart/Selbstüberhebung, oder, mit Augustinus gesprochen, das Prinzip superbia. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, inwiefern Selbstüberhebung eine körperlich-physiologische Ursache des Lachens sein soll, da wir doch Selbstüberhebung traditionell seit Augustinus als Gesinnung oder Disposition, kurz: als »innere Haltung« im Sinne von Jürg Zutt215 zu verstehen pflegen. Und tatsächlich scheint »Montesquieu« zunächst ausschließlich psychologisch-moralisch im Stil von Platon, Augustinus, La Rochefoucauld und Hobbes zu argumentieren, ohne sich jedoch direkt auf sie zu berufen. Sein zentrales Argument lautet: »So kann man ganz allgemein sagen, daß das Lachen seinen Ursprung (naissance) in der Art von Mißbrauch der Vernunft (abus de la raison) haben muß, die man Selbstüberhebung (orgueil) nennt, und daß es im allgemeinen mit einem angenehmen Gefühl und selbst mit einer gewissen Freude verbunden ist. In der Tat wird die Eigenliebe (amour propre) in uns allein durch die Urteilskraft (jugement) gebändigt, die sie in ihre Schranken verweist und durch diese ernsthaft aufmerksame Wachheit, die jeder Mensch haben muß, um sich selbst über die Bewegungen seiner Seele Rechenschaft abzulegen. Also steht unser Hochmut (orgueil) ständig unter Druck und Streß (contrainte & gêne). Er leidet also; er beobachtet sich selbst; er wagt nicht einmal, frei auszuatmen; aber wenn uns Freude überkommt und diese Balance von Ver-

1070 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nunft und Hochmut stört, zerbrechen zugleich auch die Dämme, die die Eigenliebe in Grenzen halten, und der Geist greift diesen Impuls auf und liefert sich diesem ekstatischen Durchbruch (licence effrénée) und diesem peinlichen Überschwang (pétulance) aus, die das Lachen bewirken.« (S. 38)

Hinter dieser Schilderung steht nun eindeutig nicht mehr ein anthropologisches Modell in der Tradition des cartesischen Dualismus, sondern ein Menschenbild in augustinisch-jansenistischer Tradition, das den Menschen als Schlachtfeld eines latenten inneren Bürgerkriegs zeigt, auf dem antagonistische Kräfte erbittert um die Vorherrschaft ringen und in denen die »von unten« revoltierenden Mächte dominieren, sobald der Mensch lacht. Ähnlich hatte schon Thomas Hobbes argumentiert. Dieser »innere Bürgerkrieg« ist aber kein rein innerseelischer, sondern ergreift den ganzen Menschen mit allem, was er ist, hat, kann und tut, sodaß es schwer fällt, hier psychologische und physiologische Ursachen und Aspekte säuberlich zu trennen. So gesehen ist die von »Montesquieu« ins Zentrum seiner Argumentation gestellte Selbstüberhebung also tatsächlich eine »innere Haltung« im Sinne von Jürg Zutt mit der Konsequenz, »daß alle unsere Handlungen durch die innere Haltung gestaltet bzw. modifiziert werden.« (S. 7) Neben Poinsinets »Destouches« und »Fontenelle« zeigt also auch sein »Montesquieu« das Lachen als Krisenzustand, der den ganzen Menschen erfaßt und diesen sich selbst entfremdet. Man kann sogar so weit gehen, »Montesquieus« Ätiologie des Lachens als Kontrafaktur zur Bekehrungsgeschichte Augustins zu lesen und zu deuten, die Augustinus ja ausdrücklich als tiefe Krise 216 geschildert hat, allerdings als Krise mit dem glücklichen Durchbruch zur Genesung »in Christo«. Diese Deutung der Ätiologie des Lachens aus dem Geiste Augustins bestätigt sich noch, wenn wir bei »Montesquieu« lesen, der Mensch werde mit dem Hochmut als Erbsünde schon geboren (S. 41) und sei dem Hochmut schon seit dem ersten Atemzug verfallen, denn die Erbsünde prägt laut Augustinus den Menschen tatsächlich mit allem, was er ist, hat, kann und tut. Und weil der Hochmut »eher eine Krankheit der Vernunft als ein Vermögen der Urteilskraft ist« (S. 42), ist das Lachen für »Montesquieu« alles in 1071 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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allem eine »schmerzliche Krise« (S. 42) und man kann mit Augustinus nur darüber weinen, daß die Leute lachen. Dann macht »Montesquieu« noch eine kleine Verbeugung vor La Rochefoucauld und Thomas Hobbes, den prominentesten Gelotologen aus dem Geiste Augustins und zieht damit seine Bilanz und die Bilanz des ganzen Traktats mit den Worten: »Die geschmeichelte Eigenliebe ist also die verborgene Quelle und der beständige Antrieb, mit einem Wort: das physiologische und psychologische Prinzip, auf das Lachen generell zurückgeführt werden muß.« (S. 57)

Wenn wir annehmen, daß dies auch die Meinung von Poinsinet selbst ist, so liegt damit also wieder einmal eine typische reduktionistische Ätiologie des Lachens vor, die die Vielfalt dieses Phänomens einzig auf das Bekundungs-Lachen reduziert und somit in keiner Weise neu ist. Höchst bemerkenswert ist sie aber dadurch, daß sie das Krisenhafte des ekstatischen Gelächters mit sicherem Blick erkennt. Aber diesen sicheren Blick für Krisen aller Art hat wohl nur ein sensibler Konservativer, der die gesamte gesellschaftliche Situation und damit auch die eigene als bedroht sieht, diese Situation aber nicht zu ändern vermag. Hier liegt wohl auch der Grund dafür, daß Poinsinet diese augustinisch geprägte Ätiologie des Lachens von »Montesquieu« vortragen läßt, da der echte Montesquieu 1734 Betrachtungen über Größe und Untergang des Römischen Reiches veröffentlicht und damit gezeigt hatte, welch genauen Blick er für gesellschaftliche und politische Krisen aller Art hatte, auch für die Krise, in der sich Frankreich selbst befand. Ob Poinsinet selbst dies auch so sah, wissen wir nicht, dürfen es aber vermuten. Poinsinets Traktat hat also wieder einmal gezeigt, daß der gelotologische Diskurs sich nicht in einem politikfreien Raum abspielt, sondern massive politische Implikationen enthält, weil es beim Diskurs über das Lachen immer zugleich auch um die Verfügbarkeit des Lachens geht, also um Fragen des Selbstbesitzes und der Selbstbeherrschung, mit einem Wort: um Machtfragen. Und so wie die Pax Britannica nach der Glorreichen Revolution von 1688/89 den gelotologischen Paradigmenwechsel von Hobbes zu Shaftesbury gefördert hat, so förderte nun die Krisensituation, in der sich das vor1072 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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revolutionäre Frankreich um 1770 befand, einen erneuten gelotologischen Paradigmenwechsel, der nach der Französischen Revolution wieder ganz neue Aspekte des Lachens sichtbar werden ließ. 2.12.6.6.5 Von Stahl zu Kant oder Das Lachen als Versöhnung der Aufklärung mit dem Anderen der Vernunft Immanuel Kant hat sich in seinem Werk mehrfach etwas ausführlicher zum Thema Lachen geäußert. Die frühesten dieser Äußerungen finden sich in seinen Vorlesungen zur Anthropologie im WS 1772/73, die uns in der Mitschrift von Collins 217 erhalten sind. Im WS 1781/82 greift Kant diese Sicht auf das Lachen erneut in seiner Vorlesung zur Menschenkunde auf und gelangt dort zu einer ätiologischen Definition des Lachens, die er dann leicht verändert in das thematisch einschlägige Kapitel seiner Kritik der Urteilskraft von 1791 und in seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 übernimmt, denn er schreibt dort: »Das Lachen entsteht aus einer plötzlichen, aber unschädlichen Umkehrung unserer Erwartung, so daß das Umgekehrte vom dem erfolgt, was wir erwarteten. Alles Plötzliche bringt bei uns eben dasselbe hervor, was das Gezwicke einer gespannten Saite thut, und diese Bewegung ist bebend.« (AA,1139)

Grundlage und Ausgangspunkt für diese Erklärung des Lachens ist eine bestimmte und für Kant sehr typische Interpretation des psychophysischen Problems, denn in der Vorlesung vom WS 1772/73 hatte er zum ersten Mal das Lachen als ein Synergie-Phänomen bestimmt, denn laut Kant denkt die Seele niemals allein, sondern immer nur »im Laboratorio des Cörpers«, und das heißt: »So wie die Seele denckt, bewegt sie den Cörper mit.« (AA,145) Und das heißt wiederum: »Das Lachen ist also nicht idealisch« (AA,1139), sondern ein ganz spezielles seelisch-leibliches Geschehen, das, »als eine innere Motion, das ganze Lebensgeschäft im Körper befördert.« (V,436) So wie seine Zeitgenossen Meier, Nicolai, Lange und Poinsinet scheint sich also auch Kant in seinen Beiträgen zur Gelotologie im Rahmen des psychophysischen Dualismus zu bewegen. Da er aber, anders als sie, das unmittelbare eigenleibliche Spüren als Quelle der 1073 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Erkenntnis ernst nimmt, kommt er, vielleicht sogar ungewollt, zu bestimmten Ergebnissen, die das Dogma des psychophysischen Dualismus schon im Kern in Frage stellen. Deutlich wird dies schon in einer noch früheren Polemik gegen die »Träume der Metaphysik« (I,921), in der er Descartes als den prominentesten neueren Propagandisten des psychophysischen Dualismus frontal angreift. Dieser hatte in § 33 seiner Affektenlehre geschrieben: »Was nun die Meinung derjenigen angeht, die behaupten, die Seele empfange ihre Widerfahrnisse im Herzen, so ist diese Meinung keinerlei Beachtung wert, denn sie gründet sich allein auf die Annahme, daß die affektiven Anmutungen (passions) dort irgendeine Veränderung bewirken. Es ist aber leicht festzustellen, daß eine solche Veränderung nur gleichsam im Herzen gefühlt wird, in Wirklichkeit aber nur vermittelt und gespürt wird durch einen kleinen Nervenstrang, der vom Hirn zum Herzen hinunter führt, ganz so, wie der Schmerz, der auch so gefühlt wird, als ob er im Fuß sitze, in Wirklichkeit aber nur mittels eines Nervs im Fuß gefühlt wird.« (PA, S. 54 f.)

All das sind für Kant Behauptungen, die vor dem spontanen und unverbildeten eigenleiblichen Spüren in keiner Weise bestehen können und die man deshalb »gar nicht beweisen« und auch nur »schwach widerlegen« (I,933) kann. Stattdessen gilt für ihn: »Wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin eben so unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe. Ich bin es selbst, der in der Ferse leidet und welchem das Herz im Affekte klopft. Ich fühle den schmerzhaften Eindruck nicht an einer Gehirnnerve, wenn mich ein Leichdorn (Hühnerauge) plagt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich, einige Teile meiner Empfindung von mir entfernt zu halten, mein unmittelbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirnes (eben die Zirbeldrüse als Sitz der Seele) zu versperren, um von da aus den Hebezug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden.« (I,931)

Genauso wenig war Kant bereit, das Gehirn als ganzes als spezielles »Organ der Seele« zu akzeptieren, weshalb er sich über Soemmerring nur lustig machen konnte (vgl. VI,255 ff.), der diese Theorie 1796 in Königsberg veröffentlicht und »unserm Kant« 218 gewidmet hatte. Aus diesem Grund setzt er gegen die Lokalisation der Seele in 1074 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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einem bestimmten körperlichen Organ die These: »Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Teile.« (I,931 f.) Und das heißt wiederum: »Derjenige Körper, dessen Veränderungen meine Veränderungen sind, dieser Körper ist mein Körper, und der Ort desselben ist zugleich mein Ort« (I,931), denn die Seele könne sich selbst »nur durch den inneren Sinn, den Körper aber (…) nur durch äußere Sinne wahrnehmen.« (VI,259. Und wenn diese Seele denkt, so gilt, wie schon gesagt: »Unsere Seele denckt niemals allein, sondern im Laboratorio des Cörpers, es ist immer eine Harmonie zwischen ihnen beyden. So wie die Seele denckt, bewegt sie den Cörper mit.« (AA,145)

Aber diese Harmonie ist nicht die prästabilierte Harmonie im Sinne von Leibniz, Wolff und Meier, die für Kant ja auch nur ein »Traum der Metaphysik« ist, sondern eine leibhaftig gespürte Synergie im Sinne von Georg Ernst Stahl, sodaß wir auch sagen können: Wenn die Seele denkt, oder besser: wenn der Mensch denkt oder empfindet, so denkt und empfindet er mit allem, was er ist, hat, kann und tut. Aus diesem Grund kann Kant auch schreiben: »In der Bangigkeit oder der Freude scheint die Empfindung ihren Sitz im Herzen zu haben. Viele Affekten, ja die mehrsten, äußern ihre Hauptstärke im Zwerchfell. Das Mitleiden bewegt die Eingeweide und andere Instinkte äußern ihren Ursprung und ihre Empfindsamkeit in anderen Organen.« (I,932)

Und aus demselben Grund erscheint Kant auch das Stahlsche Organismus-Konzept von all den oben vorgestellten physiologischen und psychophysischen Argumentationsmodellen am plausibelsten, wenn es darum geht, »Prinzipien des Lebens« (I,938) zu klären, die das Zusammenspiel der unkörperlichen und körperlichen Substanzen regeln, weshalb er schreibt: »Gleichwohl bin ich überzeugt, daß Stahl, welcher die tierischen (d. h. animalischen) Veränderungen gerne organisch erklärt, oftmals der Wahrheit näher sei, als Hoffmann, Boerhaave u. a. m., welche die immateriellen Kräfte aus dem Zusammenhange lassen, sich an die mechanischen Gründe halten, und hierin einer mehr philosophischen Methode folgen, die wohl bisweilen fehlt, aber mehrmalen zutrifft, und die auch allein in der Wissenschaft von nützlicher Anwendung ist, wenn anderseits von dem Einflusse der Wesen von unkörperlicher

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Natur höchstens nur erkannt werden kann, daß er da sei, niemals aber, wie er zugehe und wie weit sich seine Wirksamkeit erstrecke.« (I,939 f.)

Seit den 80er Jahren scheint Kant sich den Begriff der Lebenskraft zu eigen gemacht zu haben, vielleicht angeregt durch Herders Ideen von 1784, denen er eine ausführliche Rezension (VI,781– 806) widmete. Er war hier aber durchaus nicht der einzige, denn 1796 redet er davon, »daß man itzt, statt des Worts Seele, das Wort Lebenskraft zu brauchen beliebt (woran man auch Recht tut)« (III,405), und tatsächlich wurde, wie wir in Kapitel 2.14.2 sehen werden, zu dieser Zeit der Ausdruck »Lebenskraft« geradezu inflationär gebraucht. Durch diese Orientierung an Stahl war Kant in der Lage, gleichsam die Abhandlung über das Lachen nachzureichen, die auch schon Stahl selbst hätte schreiben können, die er sich als strenger agelastischer Pietist aber versagen mußte. Diese Vermutung wird durch den Umstand noch bestärkt, daß Kant bei all seinen Beiträgen zur Gelotologie in die Rolle eines Arztes zu schlüpfen scheint, mit dem Blick des Arztes auf das Lachen schaut und das Lachen vorrangig unter dem Aspekt untersucht, ob und in welchem Maße seine Wirkung auf die Lebenskraft heilsam sei, oder, etwas konkreter formuliert, ob, in welcher Weise und in welchem Umfang Lachen als »heilsame Bewegung des Zwerchfells das Gefühl der Lebenskraft stärke.« (VI,594) Allerdings ist nicht zu verkennen, daß Kant in seinen gelotologischen Schriften mit Stahl gegen Stahl argumentiert, genauer: mit dem Physiologen Stahl gegen den Pietisten Stahl, der im Lachen ja gerade eine Gefährdung der Lebenskraft und im lachbereiten Sanguiniker das gefährdetste Temperament überhaupt gesehen hatte. Aber von diesen pietistischen Skrupeln war Kant frei, da er die Pietisten sowieso nicht ausstehen konnte. Was Kant an Stahls medizinischer Theorie in besonderer Weise fasziniert haben muß, dürfte Stahls Lehre vom motus tonicus vitalis gewesen sein. Ich habe ja schon oben in Kapitel 2.12.6.5.3 darauf verweisen, daß Stahl sich hier an der tonos-Lehre der Stoiker orientierte, und deshalb soll diese noch mal kurz in Erinnerung gerufen werden, um deutlich zu machen, wo Kant anknüpfen konnte: 1076 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Nach Ansicht der Stoiker gibt es eine tonische Bewegung an den Körpern, die sich zugleich nach innen und nach außen richtet. (…) Als durchdringender pneumatischer Tonus hält diese Bewegung den Kosmos zusammen. (…) Dieses pneuma ist zugleich aus sich heraus und in sich hinein bewegt, so daß seine Bewegungen, durch die es die von ihm durchdrungenen Dinge zusammenhält, zugleich in Entgegengesetztes hinein verläuft. Es ist die den ganzen Kosmos durchziehende Seele. (…) Daher hat auch unsere Seele diese Struktur einer durch entgegengesetzte Tendenzen nach innen und außen gekennzeichneten Spannung. (…) Nur durch die Konkurrenz beider Bewegungstendenzen wird die ewige Unruhe von psyche und pneuma erhalten. So hält die Seele die beseelten Körper durch eine von der Mitte zu den Enden und zugleich umgekehrt von den Enden zur Mitte verlaufenden Bewegung zusammen.« 219

An dieser tonos-Lehre der stoischen Physik hatte sich Kant schon in einem seiner frühesten Werke orientiert, als er 1755 eine Theorie des Himmels veröffentlichte, in der er, anders als Newton, aber ganz im Sinne der stoischen Physik zwei antagonistisch wirkende Grundkräfte ansetzte, eine zentripetal wirkende »Anziehungskraft« und eine zentrifugal wirkende »Zurückstoßungskraft«, also »zwei Kräfte, welche beide gleich gewiß, gleich einfach und zugleich ursprünglich und allgemein sind.« (I,242) Ganz analog argumentiert er 1786 in der Abhandlung Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in der er die Dynamik (V,47 ff.) ebenfalls auf die beiden Prinzipien Anziehungskraft und Zurückstoßungskraft gründet. Wenn nun die Brüder Böhme unter Berufung auf Schmitz schreiben, die metaphysischen Anfangsgründe der Kantischen Philosophie seien »leiblich fundiert« (S. 101), weil auch der gespürte Leib durch diese beiden Impulse von zentripetaler Engung und zentrifugaler Weitung geprägt ist, und dann, ausgehend davon, behaupten, Kants Theorie des Himmels sei »der Schlüssel zur Psychodynamik der Kantschen Philosophie – der vorkritischen und kritischen« (S. 86), so darf man dies dahingehend ergänzen, daß Kants Theorie des Himmels auch der Schlüssel zu Kants Gelotologie ist und ihm überdies auch den Weg zu Stahls Lehre vom motus tonicus vitalis gewiesen hat. Vielleicht war es auch umgekehrt so, 1077 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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daß Kants Theorie des Himmels schon eine Frucht von Stahls Anregungen war. Aber das ist für uns nicht entscheidend. Entscheidend für uns sind hier nur die auffallenden Analogien zwischen stoischer Physik, Stahls medizinischer Theorie und Kants Gelotologie, die alle drei auf dem Prinzip der ambivalenten Spannung aufbauen. Der eigentliche Ansatzpunkt für Kant scheint Stahls Unterscheidung von Konvulsion und Spasmus gewesen zu sein, zwei Verhaltensweisen, bei denen der labile Spannungszustand des motus tonicus vitalis durch bestimmte Affekte plötzlich aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Dann ergeben sich laut Stahl »plötzliche, heftige, ja bisweilen höchst gewaltsame Aufregungen der vitalen tonischen Bewegung« 220, die sich dann je nach Affekt entweder rein tonisch als Spasmus oder tonisch-klonisch als Konvulsion manifestieren, also entweder als blockierte Verkrampfung oder als krampfhafte Hin-und-her-Bewegung. Diese Konvulsionen bestehen laut Stahl »in abwechselnden Bewegungen der fleischlichen Teile, welche in kurzen Zeiträumen wirken und nachlassen, also zuckend und reißend, während der Spasmus als eine Exazerbation (extreme Steigerung) der (zentripetalen) tonischen Bewegung geschildert wird, wobei einzelne Glieder einige Zeit starr zusammengezogen werden.« 221

Für unsere Fragstellung sind hier nur die Konvulsionen von Interesse, weil auch das Lachen als Konvulsion gedeutet werden kann, und von Konvulsionen gilt laut Stahl: »Diese Konvulsionen sind nur teilweise final ausgerichtet, denn in der gewaltsamen Anstrengung liegt ein Moment der Überspannung der tonischen Kraft, so daß häufige Konvulsionen schädlich sein können. Heilsam sind sie soweit, als durch sie mit Anstrengung dasjenige beseitigt wird, was gleichzeitig im Körper als etwas Lästiges oder Schädliches vorhanden war.« 222

Konvulsionen können also auch kathartische Effekte haben. Stahl denkt hier wohl an die uroborisch-kathartische Funktion des Fiebers 223 und bestimmter anderer Krisen. Ganz analog argumentiert Kant, der in seiner Anthropologie die Affekte und ihre körperlichen Auswirkungen ebenfalls am Kriterium der tonischen Intensität mißt, wenn er in Anlehnung an John Browns Reiz-Theorie 224 schreibt: 1078 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Affekten sind überhaupt krankhafte Zufälle (Symptomen) und können (…) in sthenische, aus Stärke, und asthenische, aus Schwäche eingeteilt werden. Jene sind von der erregenden (d. h. anspannenden), dadurch aber oft auch erschöpfenden, diese von einer die Lebenskraft abspannenden, aber oft dadurch auch Erholung vorbereitenden Beschaffenheit.« (VI,585)

Als Beispiele für die ungehemmten, allzu erregenden und dadurch erschöpfenden Affekte nennt Kant »ausgelassene Freude« und »versinkende Traurigkeit« (VI,584), die beide zum Tode führen können, weshalb er an anderer Stelle auch ausdrücklich vor dem allzu ausgelassenen Lachen glaubt warnen zu müssen: »Das unmäßige Lachen ist schädlich, denn die Nerven und Fasern werden dadurch schlaf.« (AA,145) Diese Warnung, mit der sich Kant in eine Argumentationstradition einreiht, die sich wie ein roter Faden durch die gelotologische Literatur von Aristoteles bis herauf zu Nicolai zieht, verdankt sich natürlich wieder seiner stoizistischen »Festungsmentalität« und der Maxime: »Nur keine Hingabe!«. Diese stoizistische »Festungsmentalität« hat ihn v. a. in seinen frühen Schriften des öfteren zu außerordentlich harten Urteilen über Affekte verleitet, er verstieg sich sogar einmal in Anlehnung an Senecas Studie über den Zorn (I,173) zu der Forderung, man müsse alle Affekte »ausrotten« (AA,1124): »Denn jeder Affeckt ist eine Degradation der Menschheit (der menschlichen Natur), weil als denn beym Menschen die Thierheit prävalirt, und er nicht mehr nach Ueberlegung über seinen ganzen Zustand disponiret.« (AA,422) »Hat die Natur Affecte in uns gelegt? Sie hat Anlagen zu Affecten in uns gepflanzt, aber nur provisorisch so, daß die Vernunft die Regierung darüber übernehmen kann. Allein wenn das so ist, so ist es der Endabsicht der Natur bei dem Menschen zuwider, daß er Affecten nährt.« (AA,1120)

Um so bemerkenswerter ist deshalb später Kants Bereitschaft, sich dem Affekt des Lachens willig und genußvoll zu überlassen. Aber auch nur diesem! Denn hier prävaliert die Tierheit eben nicht, wenn das Lachen ein »Lachen aus Ideen« ist, das außerdem auch noch die Mühseligkeiten des Lebens leichter zu ertragen hilft. Als Beispiel für entspannend-erholsame Affekte nennt Kant 1079 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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eben bestimmte Formen von Lachen und Weinen, Verhaltensweisen also, die durch ihnen immanente ambivalente Impulse geprägt sind und sich deshalb in Konvulsionen äußern, also in gestotterter Aus- oder Einatmung, denn: »Lachen mit Affekt ist eine konvulsivische Fröhlichkeit. Weinen begleitet die schmelzende Empfindung eines ohnmächtigen Zürnens mit dem Schicksal, oder mit einem anderen Menschen, gleich einer von ihnen erlittenen Beleidigung; und diese Empfindung ist Wehmut. Beide aber, Lachen und Weinen, heitern auf; denn es sind Befreiungen von einem Hindernis der Lebenskraft durch Ergießungen (man kann nämlich auch bis zu Tränen lachen, wenn man bis zur Erschöpfung lacht).« (VI,585)

Hier scheint Kant wieder an die uroborisch-kathartische Wirkung von Lachen und Weinen gedacht zu haben, die Stahl den Konvulsionen generell zugesprochen hatte, und deshalb beantwortet Kant die Frage nach der aufheiternden und befreienden Wirkung des Lachens mit dem überraschenden Argument: »Die wahre Fröhlichkeit des Lachens ist die mechanische.« (AA,145)

Denn: »Die dabei stoßweise (gleichsam konvulsivisch) geschehende Ausatmung der Luft (…) stärkt durch die heilsame Bewegung des Zwerchfells das Gefühl der Lebenskraft. (…) So ist das Lachen immer Schwingung der Muskeln, die zur Verdauung gehören, welche dieses weitbesser befördert, als es die Weisheit des Arztes tun würde. Auch eine große Albernheit einer fehlgreifenden Urteilskraft kann (…) eben dieselbe Wirkung tun.« (VI,594 f.)

Damit ist aber klar: »Der Gedancke der beim Lachen ist, macht nicht fröhlich, sondern die innere Bewegung durchs Lachen.« (AA,145)

Das heißt doch wohl: Nicht die Pointe heitert auf, sondern allein die Konvulsionen bewirken dies, die durch diese Pointe synergetisch ausgelöst worden sind, weil nur diese uroborisch-kathartischen Konvulsionen eine rundum heilsame Wirkung haben. Die Pointe ist also nur der Hebel oder das Vehikel, um diese heilsamen Konvulsionen in Gang zu setzen, und die Konvulsionen des Zwerchfells sind die Art und Weise, eine Pointe »mit dem Bauch« synergetisch zu verstehen und synergetisch zu »denotieren«. Man 1080 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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könnte auch sagen: Die Konvulsionen des Zwerchfells »denotieren« synergetisch den Umschlag von Nichtwissen in Wissen. Mit einem Wort: Man denkt sich nicht gesund, sondern schüttelt sich gesund. Allerdings muß diese Reizung in der passenden Intensität geschehen, um eine heilsame Wirkung zu entfalten, weil laut Brown eine zu geringe Reizung gar nicht erst wirkt, eine überstarke aber wiederum schädlich ist. Das heißt aber wiederum nicht, daß man sich auch ohne Pointen-Komik gesund lachen könnte, denn wenn Lachen rein mechanisch ausgelöst wird, also z. B. durch Kitzeln, so entsteht laut Kant ein Lachen, das auch schon Joubert als defiziente Form von Gelächter verworfen hatte, und das auch Kant verwirft, denn »es führt keine Fröhlichkeit bei sich, und hat nicht die heilsame Wirkung, welche das Lachen aus Ideen hat.« (AA,1138) Für Kant ist das echte, weil heilsame Lachen nämlich ausschließlich »eine Gemüthsbewegung, die von Ideen anfängt, aber durch körperliche Bewegung bis zum Affect erhöht wird« (AA,1138), wenn man sich dieser konvulsivischen Erschütterung des Körpers willig »überläßt« (AA,1138) und sich dem uns allen eingegebenen motus tonicus vitalis vertrauensvoll hingibt, denn nur auf diesem Wege erlebt man die Gnade des Lachens in rechter Dosierung als Steigerung der Lebenskraft und damit als Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens. Die weitaus wichtigste Form zur gezielten Organisation und kulturellen Ritualisierung dieses »Lachens aus Ideen« ist für Kant die ars iocandi et ridendi, also die eutrapelistische Lachkultur, denn das Scherzen ist für Kant ein Spiel mit Ideen, eine spielerische Hinund-her-Bewegung von Gedanken, die sogar auch mehr oder weniger albern sein kann, auf jeden Fall aber ein interessenfreies Spiel sein muß, ein Spiel »mit ästhetischen Ideen, oder auch Verstandesvorstellungen, wodurch am Ende (zwar) nichts gedacht wird, und die bloß durch ihren Wechsel, und dennoch lebhaft vergnügen können; wodurch sie ziemlich klar zu erkennen geben, daß die Belustigung (…) bloß körperlich sei, ob sie gleich von Ideen des Gemüts erregt wird, und daß das Gefühl der Gesundheit, durch eine jenem Spiele (synergetisch) korrespondierende Bewegung der Eingeweide, das ganze, für so fein und geistvoll gepriesene, Vergnügen einer aufgeweckten Gesellschaft ausmacht.« (V,436)

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Deshalb gilt laut Kant für das Scherzen und Musizieren in Gesellschaft: »Nicht die Beurteilung der Harmonie in Tönen oder Witzeinfällen, die mit ihrer Schönheit nur zum notwendigen Vehikel dient, sondern das (synergetisch durch leibhaftige Empfindung) geförderte Lebensgeschäft im Körper, der Affekt, der die Eingeweide und das Zwerchfell (in wohldosierter Reizung) bewegt, mit einem Worte das Gefühl der Gesundheit (welches sich ohne solche Veranlassung sonst nicht fühlen läßt) machen das Vergnügen aus, welches man daran findet, daß man dem Körper durch die Seele beikommen und diese zum Arzt von jenem brauchen kann.« (V,436)

Laut Kant reagieren wir auf risible Objekte, Handlungen und Situationen also nicht erst mit einem intellektuellen Urteil, z. B. mit einem Stutzen und einem »Ach ja!«, das sich dann auch noch nach einer entsprechenden Reaktionszeit dem Körper mitteilt, der daraufhin in bestimmte konvulsivische Schwingungen versetzt wird, die sich dann als Lachen äußern, sondern wir beantworten die geloiastische Situation spontan und ohne Reaktionszeit ganzheitlich, d. h. mit allem, was wir sind, haben, können und tun, und genau dies bezeichnete Stahl als Synergie der Kräfte bzw. als synergetisch, denn, so Kant, »unsere Seele denkt niemals allein, sondern im Laboratorio des Cörpers; es ist immer eine (synergetische) Harmonie zwischen ihnen beyden. So wie die Seele denckt, bewegt sie den Cörper (synergetisch) mit.« (AA,145)

Wie dieses synergetische Stutzen angesichts einer Pointe und der blitzartige Durchbruch beim Kapieren nach dem Schema »Aber nein! – Oder doch? – Und doch Ja!« gleichsam als motus tonicus intellectualis vor sich geht, und wie man dabei synergetisch immer zugleich auch »mit dem Bauch« denkt, empfindet und antwortet, erläutert Kant sehr schön, wenn er schreibt: »Merkwürdig: daß in allen solchen Fällen der Spaß immer etwas in sich enthalten muß, welches auf einen Augenblick täuschen kann (›Aber nein!‹); daher, wenn der Schein in nichts verschwindet, das Gemüt wieder zurücksieht (›Oder doch?‹), um es mit ihm noch einmal zu versuchen (›Und doch ja!‹), und so durch schnell hinter einander folgende Anspannung und Abspannung hin- und zurückgeschnellt

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und in Schwingung gesetzt wird: die, weil der Absprung von dem, was gleichsam die Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein allmähliches Nachlassen) geschah, eine Gemütsbewegung und mit ihr harmonierende inwendige körperliche Bewegung verursachen muß, die unwillkürlich fortdauert, und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die Wirkung einer zur Gesundheit gereichenden Motion) hervorbringt. Denn wenn man (mit Stahl) annimmt, daß mit allen unsern Gedanken zugleich irgend eine Bewegung in den Organen harmonisch (d. h. synergetisch) verbunden sei: so wird man so ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Versetzung des Gemüts bald in einen (›Aber nein!‹), bald in den andern Standpunkt (›Aber ja!‹), um seinen Gegenstand zu betrachten, eine wechselseitige Anspannung und Abspannung (des motus tonicus intellectualis und zugleich damit) der elastischen Teile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mitteilt, korrespondieren könne (…), wobei die Lunge die Luft mit schnell einander folgenden Absätzen ausstößt, und so eine der Gesundheit zuträgliche Bewegung bewirkt, welche allein und nicht das, was im Gemüte vorgeht, die eigentliche Ursache des Vergnügens an einem Gedanken ist, der im Grunde nichts vorstellt.« (V,438 f.)

Da Kant die mimetische Resonanz des Lachenden mit dem risiblen Objekt am eigenleiblichen Spüren festmacht, und dieses wiederum darauf gegründet ist, daß man sich dieser als unschädlich erkannten affektiven Erschütterung willig, ja sogar mit Genuß »überläßt« (AA,1138), kann Kant denn auch ein Loblied auf das Lachen anstimmen, wie man es in der gelotologischen Literatur seit Laurent Joubert nicht mehr hat lesen können, denn er schreibt im gleichen Kontext in Anspielung auf Voltaires Versepos über Henri IV: »Voltaire sagte, der Himmel habe uns gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung, und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können.« (V,439)

Diese Hymne auf das Lachen ist für Manfred Geier 225 der Ansatzpunkt, von Kant das Bild eines unbeschwert heiteren Philosophen zu entwerfen und heftig gegen das Kant-Bild der Brüder Böhme zu polemisieren, die in ihrem Werk Das Andere der Vernunft Kant angeblich zu einer »lächerlichen Figur« (S. 216) gemacht hätten, die ein Leben geführt habe, »das von Abwehr, Verdrängung, Lust1083 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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feindlichkeit, Triebkontrolle, Zwang, Panzerung und Humorlosigkeit beherrscht war.« (S. 126) Wahr ist allerdings, daß die Brüder Böhme auf Kants Beiträge zur Gelotologie mit keinem Wort eingehen, und auch Hermann Schmitz tut dies in seinem Kant-Buch nicht, weil er auf dieses Thema schon an anderer Stelle 226 eingegangen war. Und wahr ist auch, daß es den heiteren Kant Manfred Geiers in bestimmten Situationen, insbesondere als Gesellschafter, zweifellos gegeben hat. Dies widerlegt das Kant-Bild, das die Brüder Böhme entworfen haben, jedoch in keiner Weise, weil die eigentliche Frage darin besteht, wie beide Aspekte in Kants Leben und Werk zusammengehören. Offensichtlich hat Geier Kants Loblied auf das Lachen auch nicht genau genug gelesen und nicht ernst genug genommen, denn dort ist ja ausdrücklich von den »Mühseligkeiten des Lebens« und von dem Lachen als Palliativ die Rede, und derlei melancholische Bekundungen lassen sich aus Kants Werken so viele zitieren, daß Kants Lachen deutlich als ein Lachen auf dunklem Grund erscheint. So schreibt er z. B. in seiner Anthropologie von »der Last, die ursprünglich im Leben überhaupt zu liegen scheint« (VI,469), und an anderer Stelle wird er noch deutlicher, wenn er in entwaffnender Offenheit gesteht: »Ich habe wegen meiner flachen und engen Brust, die für Bewegungen des Herzens und der Lunge wenig Spielraum läßt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruß des Lebens grenzte.« (VI,379)

Man denkt bei solchen Geständnissen natürlich sofort an Nietzsches Aphorismus: »Das leidendste Tier auf Erden erschuf sich das Lachen.« (III,467) Und deshalb kann man gar nicht umhin, auch Kants Lob des Lachens vor diesem biographischen Hintergrund eines leidenden und latent gefährdeten Menschen zu sehen, der aufgrund seiner körperlichen Konstitution nur durch ein hohes Maß an Selbstdisziplin das Leben überhaupt ertragen konnte und deshalb jede Art von Aufheiterung umso freudiger und dankbarer aufgriff, um sich mit seiner mißgestalteten und defekten Körperlichkeit zumindest einigermaßen versöhnen zu können, und sich allen Affekten um so williger überließ, die diese Versöhnung mit dem eigenen Körper herbeiführen können. Und von hier aus gesehen 1084 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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erklärt sich auch wieder, warum Kant das Lachen immer mit dem Blick des Arztes und im Hinblick auf seinen heilsamen Effekt betrachtete und bewertete, sodaß man mit einem gewissen Recht sagen kann, das Lachen sei für Kant das Vehikel zu einer Selbsttherapie gewesen. Dies gilt allerdings nicht für jede Form von Gelächter, denn das von Joubert so gern beschriebene ekstatische Cachinnus-Lachen, das den Lachenden buchstäblich umhaut, hätte Kant angesichts seiner körperlichen Konstitution gar nicht ohne Herzbeschwerden oder einen Erstickungsanfall lachen können. Deshalb denkt Kant, wenn er vom Lachen spricht, immer an das gemäßigte und gesittete Lachen der eutrapelistischen Lachkultur, weil er nur diese bestimmte Art von Gelächter seiner eigenen Konstitution zumuten konnte und weil er bei John Brown hatte lesen können, daß alle Reizungen der Lebenskraft nur heilsam sind, wenn sie im rechten Maß geschehen. Deshalb schreibt er über diesen behutsamen Umgang mit sich selbst: »Die Überlegung, daß die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloß mechanisch und nicht zu (be-)heben sei, brachte mich bald dahin, daß ich mich an sie gar nicht kehrte, und während dessen, daß ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit herrschte, die ich auch in der Gesellschaft, nicht nach abwechselnden Launen (wie Hypochondrische pflegen), sondern absichtlich und natürlich mitzuteilen nicht ermangelte. (…) Die Beklemmung ist mir geblieben; denn ihre Ursache liegt in meinem körperlichen Bau. Aber über ihren Einfluß auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden, durch Abkehrung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nicht anginge.« (VI,379 f.)

Was Kant hier so eindrucksvoll und glaubwürdig beschreibt, ist die Haltung des heiteren stoischen Weisen, der genau seine Grenzen kennt, diese akzeptiert und sich strikt daran hält, gerade deshalb aber Herr seiner selbst bleibt, wenn auch nur innerhalb dieser vorgegebenen unverrückbaren Grenzen. Im Unterschied zum klassischen stoischen Weisen à la Seneca, der sich auch das Lachen strikt verbietet, entwirft Kant hier allerdings das Bild eines heiteren Stoikers, dem wir auch schon bei Horaz und in dem Lehrgedicht Ver1085 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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such über die Kunst, stets fröhlich zu seyn des Anakreontikers Johann Peter Uz begegnet sind. Ich habe oben schon einmal darauf hingewiesen, daß Kant, wenn er vom Lachen spricht, immer das Lachen im Augen hat, das zur eutrapelistischen Lachkultur gehört, und das gilt sowohl ethologisch als auch typologisch, und damit ist dieses Lachen immer ein gemäßigtes Lachen, immer ein Bekundungs-Lachen als Antwort auf Pointen-Komik und damit immer ein »Lachen aus Ideen« (AA,1138), und außerdem ist es immer ein »geselliges Lachen« (VI,598). Der gesellschaftliche Rahmen für dieses eutrapelistische Scherzen und Lachen auf Augenhöhe ist für Kant nicht ein Club, den es im kleinen Königsberg auch nicht gab, sondern eine Tischgesellschaft, die er sich in sein eigenes Haus einlud, für die aber der bislang erschlossene Nomos eutrapelistischer Lachkultur in genau derselben Strenge galt wie in einem Club der Gentry oder an einem idealen Hof, auch wenn sich Kant dort, wo er über die Regeln (vgl. VI,621 f.) spricht, die eine derartige heitere Tischgesellschaft braucht, mit keinem Wort auf all die Autoren bezieht, aus deren Texten wir bisher diesen Nomos eutrapelistischer Lachkultur erschlossen haben. Da für Kant eine derartige heitere Runde auf den drei Säulen »Erzählen, Räsonnieren und Scherzen« (vgl. VI,620) ruht, sieht er sich genötigt, für das Räsonnieren eigens noch mal einige Regeln zu formulieren, die dem bisher erschlossenen Nomos eutrapelistischer Lachkultur allerdings doch noch etwas ergänzen, denn neu ist Kants Forderung, beim Räsonnieren jede Art von interessengeleiteter Ernsthaftigkeit strikt zu vermeiden, damit kein Streit aus Rechthaberei und Interessekonflikten entstehen kann, und deshalb sollte man, »da diese Unterhaltung kein Geschäft sondern nur ein Spiel sein soll, jene Ernsthaftigkeit durch einen geschickt angebrachten Scherz abwenden.« (VI,621) Denn: »Alles Interesse macht ernsthaft; sobald sich aber das Interesse verliert, geht man aus dem Ernste ins Lachen.« (AA,1139)

Und wenn Kant in Anlehnung an die Horazische Maxime »Desipere aude in loco!« auch noch empfiehlt, die Muskeln, die zur Verdauung gehören, durch eine »große Albernheit« (VI,595) anzuregen, so 1086 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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fühlt man sich an die Lach-Diäten der Renaissance-Ärzte erinnert, die sich ja ebenfalls ausdrücklich an dieser Horazischen Maxime orientierten, wenn sie rieten, einen Geloiasten als Garanten einer besseren Verdauung zu beschäftigen. So heißt es z. B. bei Widmann 1555: Sei unweis und thöricht, wenn do die Zeit des fordert und die sach, daß man die menschen frölich mach! Darumb all arzet rathen, so man an dem tisch hab braten sonst ander speis und guten wein, so soll das mal gewürzet sei mit lecherlich bossen, schimpfred (Scherzrede). Denn so das mal solch würz nit hett, so wirt es als für nichts geacht. 227

Ganz so hielt es nämlich auch Kant, wenn er über eine Abendgesellschaft schreibt: »Ein Harlekin, der behenden Witz hat, bewirkt durch seine Einfälle eine wohltätige Erschütterung ihres Zwerchfells und der Eingeweide: wodurch der Appetit für die darauffolgende gesellschaftliche Abendmahlzeit geschärft und durch Gesprächigkeit gedeihlich wird.« (VI,596)

Wenn man den Berichten der Zeitgenossen 228 glauben darf, scheint bei den Tischgesellschaften, die Kant in seinem eigenen Haus abhielt, tatsächlich eine Atmosphäre gelöster Heiterkeit geherrscht zu haben, um diese »heilsame Bewegung des Zwerchfells« beim Essen und Verdauen in Gang zu setzen, und Kant scheint auch streng darauf geachtet zu haben, daß der Nomos eutrapelistischer Lachkultur von seinen Gästen tatsächlich auch befolgt wurde. Die Quintessenz von Kants Gelotologie ist die vielzitierte ätiologische Definition des Lachens, die er in § 54 seiner Kritik der Urteilskraft vorstellt, und die verrät, daß er bei dieser Definition des Lachens eigentlich nur das geloiastische Bekundungs-Lachen im Auge hat, denn sie lautet: »Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« (V,437)

Angeregt wurde Kant zu dieser Formulierung nicht nur, wie wir schon gesehen haben, durch die tonos-Lehre von Stahl und die De1087 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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finition der Pointe von Lessing, sondern auch durch Edmund Burkes Abhandlung Vom Erhabenen und Schönen, die Kant in der Übersetzung von Christian Garve (vgl.V,368) gelesen hatte. Dort unterscheidet Burke zwei Arten von Affekten: die Affekte wehrlos schmelzender Hingabe, die den Umgang mit dem Schönen prägen, und die Affekte wehrhaft tapferer Selbstbehauptung, auf die sich die Antwort auf die einschüchternde Erfahrung des Erhabenen gründet. Wehrlos schmelzende Hingabe ist also eine kontinuierliche Erosion der eigenen Körperspannung, wohingegen tapfere Selbstbehauptung ein mehr oder weniger hohes Maß von Intensitätsspannung erzeugt, da Selbstbehauptung ein ambivalenter Habitus ist, der sich der Zugleichheit der beiden antagonistischen Impulse Flüchten und Standhalten verdankt, sodaß man sich buchstäblich »zusammenreißt« und ganz leicht nach hinten gebeugt mit hoher Körperspannung und angehaltenem Atem dasteht. In der von Kant zitierten Übersetzung Garves lautet Burkes Bestimmung des Erhabenen dahingehend, »daß das Gefühl des Erhabenen sich auf dem Triebe zur Selbsterhaltung und auf Furcht, d. i. einem Schmerze, gründe, der, weil er nicht bis zur wirklichen Zerrüttung der körperlichen Teile geht, Bewegungen hervorbringt, die, da sie die feineren und gröberen Gefäße von gefährlichen und beschwerlichen Verstopfungen reinigen, im Stande sind, angenehme Empfindungen zu erregen, zwar nicht Lust, sondern eine Art von wohlgefälligem Schauer, eine gewisse Ruhe, die mit Schrecken vermischt ist.« 229

Löst sich diese Spannung allmählich, so fühlt man sich wohler und wohler, wie wenn sich ein Muskelkrampf löst; löst sie sich plötzlich, so platzt sie als Gelächter heraus, sodaß man sagen kann: Die Implosion des Erhabenen manifestiert sich in der Explosion des Bekundungs-Lachens, und das ist dann in der Tat die plötzliche Verwandlung eines gespannten Zustandes in nichts. Aus diesem Grund läßt sich Kants ätiologische Definition des Lachens sogar etwas weiter fassen, weil diese plötzliche Entspannung nicht unbedingt die Auflösung einer gespannten Erwartung sein muß, sondern auf jede Art von Spannung übertragen werden kann. Man denke nur an das heitere Auflachen bei plötzlicher Erleichterung, oder an das gepreßte Auflachen aus Verzweiflung oder 1088 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Verbitterung oder gar an das Phobos-Lachen nach überstandener Todesangst. Ganz anders liegt der Fall laut Burke bei der Erfahrung des Schönen, die Burke mit der Erfahrung von Liebe vergleicht, denn hier hält man den Atem nicht an, hier reißt man sich auch nicht zusammen, sondern gibt sich widerstandslos hin, und ist mit allem, was man ist, hat, kann und tut, darauf aus, sich dem Anderen und dem Schönen zu öffnen. Laut Burke und Kant ist also alles gestimmt »auf die Nachlassung, Losspannung und Erschlaffung der Fibern des Körpers, mithin auf Erweichung, Auflösung, Ermattung, ein Hinsinken, Hinsterben, Wegschmelzen vor Vergnügen.« 230

Worauf Kant seltsamerweise überhaupt nicht eingeht, ist die Frage, ob nicht auch der Affekt schmelzender Hingabe bestimmte Formen von Lachen auslösen könnte, und dies zeigt wieder, wie sehr er auf das geloiastische Bekundungs-Lachen als Reaktion auf Pointen-Komik fixiert war, denn was ist denn ein Lächeln, das sich auf dem Gesicht protopathisch ausbreitet und dabei das Gesicht selbst wiederum verschönt, anderes als eine Form schmelzender Hingabe, unabhängig davon, ob es die Reaktion auf Schönes ist oder ein an die geliebte Person gerichtetes Interaktions-Lachen. Daß Kant dieser Frage nicht weiter nachging, liegt wohl wieder an seiner »Festungsmentalität«, die zwangsläufig zu der Maxime »Nur keine Hingabe!« führen mußte. Gelotologisch genutzt hat Burkes Unterscheidung von schmelzender Hingabe und tapferer Selbsterhaltung erst Helmuth Plessner in seinem berühmten Buch Lachen und Weinen von 1941. Er ging dabei aber nicht so weit, ganz konsequent auch nach der Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe und der Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung zu fragen und reduzierte deshalb das Lachen genau wie Kant im wesentlichen ebenfalls auf das Bekundungs-Lachen. Einigermaßen verwunderlich ist auch der Umstand, daß Kants eben zitierte ätiologische Definition des Lachens aus der Kritik der Urteilskraft in einem wichtigen Punkt hinter der zurückbleibt, die er in der anthropologischen Vorlesung von 1781/82 formuliert hatte, denn dort hieß es: 1089 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Das Lachen entsteht aus einer plötzlichen, aber unschädlichen Umkehrung unserer Erwartung, so daß das Umgekehrte von dem erfolgt, was wir erwarten. Alles Plötzliche bringt bei uns dasselbe hervor, was das Gezwicke einer gespannten Saite thut, und diese Bewegung ist bebend, so daß plötzlich das Gegentheil von dem, was wir erwarten sich ereignet, d. h. Lachen, z. B. wenn eine Sache, auf die wir eine Wichtigkeit setzen, mit einemmale ihren ganzen Werth verliert.« (AA,1139)

Mit diesem Hinweis auf das Unschädliche der getäuschten Erwartung knüpft Kant an das klassische und überaus wichtige Argument an, das schon Aristoteles in den gelotologischen Diskurs eingebracht hat und das v. a. bei Laurent Joubert eine so entscheidende Rolle spielt. Kant verbindet dieses Argument der Unschädlichkeit der getäuschten Erwartung aber noch mit einem anderen und ebenfalls überaus wichtigem Argument, wenn er fortfährt: »Alles Interesse macht ernsthaft, so bald sich aber das Interesse verliert, geht man aus dem Ernst ins Lachen.« (AA,1139)

Um darzulegen, daß die frühere Formulierung tatsächlich weitaus genauer ist, nehmen wir z. B. an, jemand habe sich um eine Stelle beworben, die für ihn die Erfüllung all seiner beruflichen Wünsche wäre, und erhalte nach einiger Zeit ein Antwortschreiben, das nichts als leeres Papier enthält. Dies wäre zwar tatsächlich eine plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts, aber lachen wird er mit Sicherheit nicht und das heißt doch wohl, daß getäuschte Erwartungen nur dann Lachen auslösen können, wenn sich diese Erwartungen nicht auf die Befriedigung existentiell wichtiger Bedürfnisse und Begehrungen gerichtet haben, d. h. wenn die je eigene Bedürftigkeit nicht privativ berührt wird. Ist dies aber der Fall, so wird man auf getäuschte Erwartungen mit Betroffenheit, Trauer, Zorn oder Scham reagieren, niemals aber mit einem Ausbruch von Heiterkeit. Und wenn man tatsächlich doch mal mit Gelächter reagieren sollte, dann wäre es ein Gelächter weit jenseits von Heiterkeit, ein schwarzes, bitteres und grelles Gelächter, also ein durch und durch ernstes Lachen, dem wir bisher auch nur bei Lessings Major Tellheim begegnet sind, und vor dem sich Minna denn auch so entsetzt. Alles Interesse macht also tatsächlich ernsthaft. 1090 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Auch unter einem anderen Aspekt ist die Formulierung von 1781/82 etwas genauer, denn Kant spricht hier nicht von der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts, sondern von einer Umkehrung unserer Erwartung, was aber nicht unbedingt eine Umkehrung in das genaue Gegenteil oder in nichts sein muß, sondern auch die Umkehrung in etwas ganz anderes sein kann, das sich dann überraschenderweise aber ebenfalls als Erfüllung unserer Erwartung erweisen kann, denn genau dieses Spiel organisiert ja die Pointen-Komik durch den Impuls gestotterter Erkenntnis als motus tonicus intellectualis: »Aber nein! So nicht! – Oder vielleicht doch so? – Und doch Ja!« Da Kants Ätiologie des Bekundungs-Lachens als Implosion der Körperspannung in Form konvulsivischer Erschütterungen und gestotterter Ausatmung so überzeugend ist, stellt sich die Frage, ob man diese Kriterien auch verwenden könnte, um das InteraktionsLachen auf den Begriff zu bringen. Dies führt natürlich sofort zu der Frage, wodurch beim Interaktions-Lachen die obligatorische Spannung erzeugt wird, die beim Bekundungs-Lachen aus der gespannten Erwartung oder aus irgendeinem Leidensdruck stammt. Die Antwort kann nur lauten: Diese Spannung ergibt sich beim Interaktions-Lachen aus dem Blickkontakt, ohne den InteraktionsLachen überhaupt nicht zustande kommt, da jede Art von Interaktions-Lachen personal adressiert ist, und zwar adressiert durch eben den Blickkontakt, denn nur durch diesen Blickkontakt bilden beide Blickpartner eine gemeinsame, aber spannungsreiche Situation und leiben sich gegenseitig ein zu einem neuen spannungsreichen leiblichen Verbund. Eine nennenswerte Spannung erzeugt der Blickkontakt aber nur dann, wenn es bei dieser Interaktion in irgendeiner Form um Selbstbehauptung geht, wie z. B. beim Auslachen. Beruht die Interaktion jedoch auf wechselseitiger Hingabe, so verschmelzen beide Interaktionspartner gleichsam miteinander und agieren harmonisch in mimetischer Resonanz. Die Auflösung einer derartigen Spannung erfolgt beim Interaktions-Lachen auch nicht unbedingt nur als plötzliche Implosion, sondern viel häufiger als progressiv schmelzende Erosion, weshalb das Interaktions-Lachen denn auch eine breite Palette von Lacharten minderer Intensität aufweist und somit weitaus vielgestaltiger 1091 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ist als das Bekundungs-Lachen. Aber all dies war für Kant leider kein Thema, weshalb wir all diese Fragen später noch einmal aufwerfen müssen. Trotzdem gilt: Obwohl Kant die Anregungen von Lessing, Stahl und Burke beiweiten nicht so gründlich ausgeschöpft hat, wie dies möglich gewesen wäre, sind seine Beiträge zur Erforschung des Lachens doch so gewichtig, daß man ihn mit Recht neben die beiden anderen bisher entdeckten Leuchttürme der Gelotologie Aristoteles und Laurent Joubert stellen darf. Dies dürfen wir auch deshalb, weil Kants Ätiologie des Lachens geeignet ist, wichtige Befunde seiner Vorgänger »aufzuheben«, denn auch Platons Ableitung des Lachens aus der Konkurrenzsorge phthonos und Hobbes’ These, Lachen sei allemal Ausdruck von sudden glory, lassen sich problemlos als Varianten plötzlicher Implosion der Körperspannung deuten, wenn man das eigenleibliche Spüren dabei mit ins Kalkül zieht. Aber auch viele von Kants Nachfolgern im 19. Jahrhundert, insbesondere die Anhänger der Theorie des komischen Kontrastes, argumentieren ganz in der von Kant gespurten Bahn, wenn z. B. Friedrich Theodor Vischer 231, der vom komischen Kontrast zwischen dem echten und dem nur scheinbaren oder angemaßten Erhabenen ausgeht, erst ausführlich Kants Ätiologie des Lachens aus der Kritik der Urteilskraft (V,438 f.) zitiert (S. 207) und dann illustriert, »wie das Erhabene plötzlich zu Boden plumpt« (vgl. S. 176): »Man beobachte nur, wie dem komischen Erzähler alle Gesichter angespannt horchen, bei der Katastrophe zuerst eine Pause von Staunen mit offenem Munde, dann aber das helle Gelächter eintritt. Jener sich ankündigende Schmerz rührt von dem scheinbaren Aufschwunge ins Erhabene her, mit welchem das Komische anhebt, indem es aussieht, als komme etwas Besonderes, das mehr sein will denn andere: die Lust beruht auf der plötzlichen Befreiung von dieser Anspannung. Diese Anspannung wiederholt sich dann in vergeblichen Versuchen, das Ungereimte dennoch zu reimen, aber nur, um sogleich wieder zu zerfließen, und so ergeht sich das Gemüt an der Skala des Gelächters in der unbedingtesten, zwecklos heitersten Willkür.« (S. 208)

Wie Vischer als humoristischer Autor dieses Spiel mit seinem Leser selbst ästhetisch organisiert, kann man in seinem Roman Auch 1092 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

Einer nachlesen, wenn er den Kampf seines Helden mit der »Tükke des Objekts« beschreibt. Wenn man will, kann man auch die Vertreter der energetischen Schule von Herbert Spencer bis Sigmund Freud und Konrad Lorenz in diese von Kant begründete Argumentationstradition einreihen, da auch sie bei der Kontrast-Theorie ansetzen und das Lachen aus der plötzlichen »Abfuhr psychischer Energie« in entspanntere körperliche Zustände erklären. Vor allem aber gilt, daß Kant, genau wie seine großen Vorgänger Aristoteles und Joubert, das Lachen rein phänomenal gesehen und gedeutet und es dadurch vom Ruch des moralisch Problematischen befreit hat, in das es durch die platonisch-augustinische Argumentationstradition gebracht worden war. Und deshalb darf man auch sagen, daß sich in Kant die Heitere Aufklärung vollendet, weil sich Kant durch seine Gelotologie mit dem Lachen als dem Anderen der Vernunft endlich versöhnt hat. Daß es der nach-kritische Kant war, der dies geleistet hat, heißt zugleich auch, daß Heitere Aufklärung weiterhin betrieben werden kann, wobei man aber von nun an auf all die metaphysischen Spekulation und Vorgaben, denen durch Kants Kritik der Boden entzogen worden ist, verzichten kann. Und das heißt wieder: Die neue Grundlage Heiterer Aufklärung und Aufklärung des Heiteren ist die philosophische Anthropologie. 2.12.7 Bilanz Von den vielen Fragen, die wir im Überblick aufgeworfen haben, konnten die meisten geklärt werden. So konnten wir z. B. klären, daß Lachen tatsächlich eine gewisse Erkenntnisfunktion hat bzw. als Indikator für eine spezifische Form von Erkenntnis fungiert, weil die Evidenz des Risiblen sich so blitzartig offenbart, daß der test of ridicule fast noch schneller funktioniert als die rein rationale Erkenntnis, und sicherer und unbeirrbarer erfolgt er allemal. So gesehen liegt im Auflachen über Risibles und im Nachvollzug einer Pointe also immer ein blitzartiges Umschlagen von Nichtwissen in Wissen vor. Durch die Vorliebe der Heiteren Aufklärung für die eutrapelisti1093 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sche Lachkultur, die von Shaftesbury über Meier bis Kant reicht, konnte der Nomos dieser spezifischen Form von Lachkultur immer genauer bestimmt werden, sodaß er nunmehr als definiert gelten darf. Zugleich damit hat sich allerdings auch gezeigt, daß die Heitere Aufklärung durch diese Vorliebe für die eutrapelistische Lachkultur die unendliche Vielfalt des Lachens leider weitgehend auf das heitere Bekundungs-Lachen reduzierte, sodaß dadurch wieder einmal das Vorurteil bestätigt und noch weiter verfestigt wurde, dieses spezifische Lachen sei das Lachen schlechthin und Lachen sei wesensmäßig an die Erfahrung des Komischen und Lächerlichen gebunden. Doch davon kann überhaupt keine Rede sein. Durch diese Reduktion des Lachens auf das Bekundungs-Lachen blieb der enorme Erkenntnisgewinn, den Kants Bestimmung des Lachens als plötzliche Implosion der Körperspannung anbietet, leider begrenzt, sodaß man, um diesen Erkenntnisgewinn wirklich voll auszukosten, entschlossen mit Kant über Kant hinausgehen muß. Wie dies geschehen könnte, habe ich kurz angedeutet und soll später wieder aufgegriffen und weiter verfolgt werden. Wichtige Erkenntnisse, die es festzuhalten gilt, sind auch Poinsinets Bestimmung des Lachens als Symptom einer Krise des personalen Selbstverhältnisses und Nicolais Hinweis darauf, daß lautes Lachen als gestotterte Ausatmung und atmungsneutrales Lächeln nicht zwei grundverschiedene Phänomene sind, sondern nur zwei Ausprägungen desselben Phänomens von unterschiedlicher Intensität. Weitgehend unbeantwortet blieb allerdings die von Herder aufgeworfene Frage nach den Formen und Grenzen eines »vernünftigen Wahnsinns« und die von Goethe gestellte Frage nach der Macht des Atmosphärischen, sodaß wir auf die ekstatischen Formen und die atmosphärische Macht des Lachens nicht recht eingehen konnten. Daß sich hierfür in den Texten der Aufklärungsepoche keine Ansatzpunkte fanden, um diesen Fragen intensiver nachzugehen, liegt im Horror der Heiteren Aufklärung vor allem Ekstatischen und aller Enthusiasterey, letztlich also im Nachwirken stoizistischer Ideale, und deshalb werden wir in späteren Kapiteln all diese Fragen selber noch einmal aufwerfen müssen. Dabei wird sich zeigen, welch eine aufschließende Kraft Edmund Burkes Un1094 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

terscheidung der beiden Grundhaltungen von schmelzender Hingabe und tapferer Selbstbehauptung in sich birgt, weil auch jede Form von Ekstatik und jede Erfahrung von Atmosphären sich auf diese schmelzende Hingabe gründet, die außerdem auch noch bestimmte Formen des Interaktions-Lachens und das Resonanz-Lachen als ganzes prägt. Anmerkungen 1 Ich zitiere Wolff nach der Ausgabe im Rahmen des Neudrucks der »Gesammelten Werke«: Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr, Hildesheim/Zürich/New York 1983. Die in diesem Kapitel besonders oft benutzten Werke von Kant, Wieland, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul und Schopenhauer werden nach folgenden Ausgaben mit bloßer Band- und Seitenzahl zitiert: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1960; C. M. Wielands sämmtliche Werke, Leipzig 1855; Lessings Werke. Herausgegeben von R. Boxberger, Berlin/Stuttgart o. J.; J. G. v. Herders Werke, Carlsruhe 1820; Goethes Werke. Vollständige Ausgabe in vierzig Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu herausgegeben von Karl Alt, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart o. J.; Schillers sämmtliche Werke in zwölf Bänden, Stuttgart/Tübingen 1847; Jean Paul’s Werke, Berlin 1879; Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Eduard Grisebach, Leipzig o. J. 2 Brontotheologie ist die theologisch-poetische Betrachtung, Beschreibung und Bewunderung der ganz großen kosmischen Ereignisse wie Blitz, Donner, Gewitterstürme, Erdbeben und Sturmfluten, Niphotheologie die der ganz winzigen Dinge, z. B. die von Schneeflocken. Vgl. dazu das Werkverzeichnis physikotheologischer Literatur bei Sara Stebbins: Maxima in minimis, Frankfurt a. M./Bern/Cirencester 1980, S. 253 ff., sowie die Studie von Olaf Briese: Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1998. Durch die Erfindung des Blitzableiters durch Franklin 1752 und das Erdbeben von Lissabon 1755 bekam die Diskussion über Brontotheologie einen erneuten Auftrieb, weil der Blitzableiter die elementare Natur als tendenziell beherrschbar und verfügbar erscheinen ließ, das Erdbeben von Lissabon diese Hoffnung aber sofort wieder zunichte machte. Durch die entscheidende Verbesserung des Mikroskops durch Anton van Leeuwenhoek bekam aber auch die andächtige Betrachtung des Winzigen einen mächtigen Schub. Ein besonders typischer Vertreter dieser Richtung neben dem Großmeister der Physikotheologie Barthold Heinrich Brockes ist Martin Frobenius Ledermüller mit seinen »Mikroskopischen Gemüths- und Augenergötzungen«, Nürnberg 1769 ff., der immer wieder beschreibt, mit welcher Begeisterung er sein

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»Perspectiv« zur Hand nimmt und sich auf Entdeckungsreisen in den Grenzbereich des Sichtbaren begibt, der nun ebenfalls als verfügbar erscheint. 3 Ich zitiere Auerbach nach der Ausgabe: Berthold Auerbach: Schwarzwälder Dorfgeschichten, 4 Bde, Stuttgart 1861, hier Bd. III, S. 228 f. 4 Noch in Ibsens Stück »Gespenster« von 1882 traut sich der Pastor Manders keine Feuerversicherung für das von ihm errichtete Heim abzuschließen, das dann auch prompt abbrennt. Auerbachs Erzählung diente übrigens als Vorlage für Ludwig Anzengrubers Stück »Der Pfarrer von Kirchfeld« (1870), das im 19. Jahrhundert eines der meistgespielten Stücke auf deutschen Bühnen war, weil es durch die aufklärungsfeindliche Politik des Papstes Pius IX. als besonders aktuell empfunden wurde. 5 Vgl. dazu Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen, S. 88 ff., sowie das Kapitel über die Wertheimer Bibel in der vorzüglichen Dissertation von Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1983, S. 92 ff. Außerdem verweise ich auf: Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, 2 Bde, Braunschweig 3/1979, Bd. I, S. 266 ff. Bei Hettner sind auch noch weitere Passagen aus der Wertheimer Bibel abgedruckt, weil Hettner sie auch als literarisches Dokument wertet und sie als solches allerdings erbärmlich dürr findet. Ein längeres Kapitel »Der Wertheimer« findet sich auch in dem Standardwerk von Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920/23), hg. v. Ludger Lütkehaus, 4 Bde, Aschaffenburg 2011, hier Bd. III, S. 226–244. Die gründlichste neuere Darstellung des Streits um die Wertheimer Bibel stammt von Ursula Goldenbaum: Der Skandal der Wertheimer Bibel. Die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern, in: Ursula Goldenbaum: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Berlin 2004, Bd. I, S. 175–508. 6 Zit. nach Schmidt-Biggemann, S. 88. 7 Hermann Samuel Reimarus: APOLOGIE oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde, hg. v. Gerhard Alexander, Frankfurt/M. 1972, hier Bd. II, S. 455. 8 Vgl. dazu Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie, München 2008, das Kapitel: »Reimarus, Goeze und die theologische Auseinandersetzung: 1776–1779«, S. 702 ff. 9 Ich zitiere hier nach der Ausgabe: Johann Gottfried Herder: Schriften zum Alten Testament, hg. v. Rudolf Smend, Frankfurt a. M. 1993. 10 Die wichtigste Anregung stammt von Pietro Moscati, der Herder auf den vertikalen Impuls verwiesen hat; vgl. dazu die Anmerkung des Herausgebers Rudolf Smend auf S. 1415, sowie die ausführlich referierende Rezension Kants (VI,767 f.). 11 Vgl. dazu Arnold Gehlens Hymne auf Herder in seiner Anthropologie (Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiebelsheim 14/2004), wo er schreibt: »Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit.« (S. 84)

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Anmerkungen 12

Vgl. dazu meine Anmerkungen über das Mitgehen in: Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, hg. v. Michael Großheim, Berlin 1995, S. 141 ff. 13 Vgl. dazu die Studie von Paul Leroy: Angst und Lachen. Versuch zur Würdigung des Gleichgewichtes, Wien/Bad Bocklet/Zürich 1954, die den vertikalen Impuls gelotologisch nutzbar zu machen sucht, diesen fruchtbaren Ansatz aber leider dilettantisch verspielt. Wir kommen darauf zurück. 14 Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, S. 77–150, v. a. S. 116 ff. 15 Vgl. dazu den schönen Sammelband: Heiterkeit. Konzepte in Literatur und Geistesgeschichte, hg. v. Petra Kiedaisch und Jochen Bär, München 1997. 16 Ich zitiere Shaftesbury nach der Ausgabe: Des Grafen von Shaftesbury philosophische Werke. Übersetzt von Johann Heinrich Voss und Ludwig Heinrich Hölty, 3 Bde, Leipzig 1771, Neudruck-Ausgabe Eschborn o. J., hg. v. Heike Menges. 17 Vgl. dazu den Sammelband: Leibniz. Le meilleur des mondes, hg. v. Albert Heinekamp und André Robinet, Stuttgart 1992, dem ich viele Anregungen verdanke. Dies gilt auch für das Werk von Karl S. Guthke: Die Mythologie der entgötterten Welt. Ein literarisches Thema von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 1971, v. a. für die beiden ersten Kapitel: »Die Mythologie der entgötterten Welt« und »Der Alptraum der Vernunft«, in denen Wege und Irrwege der Theodizee dargestellt werden. 18 Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, S. 10 ff. 19 Die für die Orthodoxie anstößigste Pointe der Apokatastasis-Lehre besteht darin, daß am Ende der Zeiten sogar der Teufel Gnade vor Gott findet und erlöst wird. Daher die Formulierung »Und du, Unendlicher, wirst Alles seyn in Allen«, die auch in Hallers Theodizee-Gedicht vorkommt, in dem es heißt, »daß Gott die späte Reu (also die Reue Satans) sich endlich läßt gefallen, / Uns alle zu sich zieht und alles wird in allen« (vgl. Anmerkung 29). Zur Origenes-Rezeption des 18. Jahrhunderts und speziell des Pietismus vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998, S. 538 ff. u. S. 573 ff. Das Thema scheint aber auch für heutige Theologen immer noch aktuell zu sein. Vgl. dazu: Lothar Lies: Origenes’ ›Peri Archon‹. Eine undogmatische Dogmatik. Einführung und Erläuterung, Darmstadt 1992, S. 140–168, und Werner van Laak: Allversöhnung. Die Lehre von der Apokatastasis. Ihre Grundlegung durch Origenes und ihre Bewertung in der gegenwärtigen Theologie bei Karl Barth und Hans Urs von Balthasar, Sinzig 1990. 20 Vgl. dazu das Standardwerk von Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M. 1993. 21 Vgl. dazu Kapitel VI bei Lovejoy, S. 221 ff.; Christian Wolff hat diese umfassende Umzu-Kette in seiner »Deutschen Teleologie« dargestellt: Vernünfftige Gedanken von den Absichten der natürlichen Dinge, Frankfurt/Leipzig 2/1726, Neudruck Hildesheim/New York 1980.

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Alexander Pope: Vom Menschen. Englisch – Deutsch. Übersetzt von Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung hg. v. Wolfgang Breidert, Hamburg 1993. 23 Zit. nach Lovejoy, S. 242 aus der zeitgenössischen Übersetzung von Heinrich Christian Kretsch, Altenburg 1759. Es gab von Popes Gedicht ein gutes Dutzend zeitgenössischer Übersetzungen, u. a. auch eine von Brockes. 24 Vgl. dazu Sara Stebbins: Maxima in minimis, sowie den Aufsatz von Wilhelm Totok: Die »beste Welt« in der Dichtung der deutschen Aufklärung, in dem Sammelwerk von Heinekamp u. Robinet über Leibniz, S. 247–260. 25 Ich zitiere Brockes nach der Reprint-Ausgabe: B. H. Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physikalischen- und Moralischen Gedichten, 9 Bde, Bern 1970, verweise aber auch auf den Auswahlband von Hans-Georg Kemper, Stuttgart 1999. 26 Vgl. dazu die Liste von Titeln in: Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen (1744), mit Einleitung, Zeittafel und Bibliographie von Klaus Bohnen, Kopenhagen 1977, S. 145 ff., und die noch umfangreichere Bibliographie bei Matti Schüsseler: Unbeschwert aufgeklärt. Scherzhafte Literatur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1990. 27 Beispiele dafür wären Werke wie Popes »Lockenraub« oder die berühmte »Jobsiade« von Kortum, aber auch heute vergessene Werke wie »Der Renommist«, »Das Schnupftuch« oder »Der Phaeton« von Friedrich Wilhelm Zachariä, oder »Der Kobold« von Christian Felix Weiße. 28 Ich zitiere nach der Ausgabe: Hermann Samuel Reimarus: APOLOGIE oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde, hg. v. Gerhard Alexander, Frankfurt a. M. 1972. Zu Reimarus vgl. auch Mauthner Bd. III, S. 244– 262. 29 Ich zitiere Haller nach dem Auswahlband: Albrecht von Haller: Die Alpen und andere Gedichte. Auswahl und Nachwort von Adalbert Elschenbroich, Stuttgart 2004. 30 Wieland übernimmt zwar den Titel von Lukrez für sein Lehrgedicht, polemisiert in ihm aber heftig gegen den lukrezischen Materialismus. 31 Sämtliche poetische Werke von J. P. Uz, hg. v. A. Sauer, Stuttgart 1890, Reprint Nendeln 1968, S. 135–140, hier S. 136. »Jemanden niederschlagen« ist ein typisch pietistischer Ausdruck und bedeutet soviel wie »jemanden in die Zerknirschung (contritio) des Bußkampfes treiben«, damit dieser dann den heilsamen »Durchbruch zu Gott« oder die »Wiedergeburt in Gott« erleben soll. Vgl. dazu August Langen: Wortschatz des deutschen Pietismus, S. 76 f. und S. 238 ff., v. a. S. 240 f. 32 Voltaire: Poème sur le désastre de Lisbonne ou Examen de cet axiome »Tout est bien«, in: Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, hg. v. Wolfgang Breidert. 33 Uz, S. 150. Vgl. dazu auch den Sammelband: Dichter und Bürger in der Provinz. Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach, hg. v. Ernst Rohmer und Theodor Verheyen, Tübingen 1998, v. a. die beiden Aufsätze von Wilhelm Kühlmann: »Laßt mein Antlitz heiter seyn«: Uzens Gedicht Das Erdbeben im historischepochalen und im Werkkontext, S. 99–132, und von Jürgen Stenzel: Uz ein Meta-

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Anmerkungen

physiker! Bemerkungen zur philosophischen Lehrdichtung des Johann Peter Uz, S. 133–156. 34 Zur Rezeption Shaftesburys in Deutschland ist immer noch grundlegend: Christian Friedrich Weiser: Shaftesbury und das deutsche Geistesleben (1916), Darmstadt 2/1969. 35 Vgl. dazu Weiser, S. 119 und Fritz Schalk: Das Lächerliche in der französischen Literatur des Ancien Régime, in: Fritz Schalk: Studien zur französischen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1977, S. 164–205. Außerdem verweise ich auf: Georg Braungart: Le ridicule. Sozialästhetische und moralische Sanktionen zwischen höfischer und bürgerlicher Gesellschaft – Kontinuitäten und Umwertungen, in: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, hg. v. Lothar Fietz, Joerg O. Fichte, Hans-Werner Ludwig, Tübingen 1996, S. 228–251, hier S. 230 ff. 36 Vgl. Schalk, S. 201. 37 Shaftesbury hat hier die Kapitel 29, 31 und 44 von »Leviathan« im Blick. 38 Als Vorlage diente die Studie von Verena Alberti: La pensée et le rire. Etude des théories du rire et du risible, Diss. Siegen 1993, S. 282. 39 Vgl. dazu Erich Auerbach: Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts, München 1933. 40 Vgl. Peter Burke: Die Geschichte des »Hofmann«, S. 207. 41 Vgl. dazu Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986, sowie Ulrich im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982, und das Kapitel über die Dialektik von Öffentlichkeitsforderung und Arkanpraxis in der Studie von Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974, S. 226–254, in dem der Montagsclub und die Mittwochsgesellschaft dargestellt werden, die seit 1749 bzw.1783 in Berlin bestanden und in denen Nicolai Mitglied war. 42 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 1954. Eine sehr knappe Einführung in den deutschen Pietismus und seine verschiedenen Strömungen bietet das Handbuch von Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 1990. 43 Johann Porst: THEOLOGIA PRACTICA REGENITORUM; Oder Wachsthum der Wiedergeborenen, / Da gezeiget wird, Wie sie aus einem Alter in CHristo ins andere fortgehen / und endlich zur seligen Ewigkeit vollendet werden. Halle 2/ 1726. Angebunden sind in meinem Exemplar eine Sammlung von Bußpredigten von August Hermann Francke, 2 Bde, Halle 4/1724, und ein Register. 44 Johann Heinrich Reitz: Historie der Wiedergebohrnen/ Oder Exempel gottseliger / so bekannt- und benannt- als unbekannt- und unbenannter Christen / Männlichen und Weiblichen Geschlechts / In Allerley Ständen / Wie Dieselbe erst von GOTT gezogen und bekehret / und nach vielen Kämpffen und Aengsten / durch GOTTes Geist und Wort / zum Glauben und Ruh ihres Gewissens gebracht seynd, 4 Bände, Berleburg 5/1724.

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Vgl. Schings: Melancholie u. Aufklärung, S. 127 ff. Georg Ernst Stahl: Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper, sowie einige andere Schriften, Halle 1695. Eingeleitet, ins Deutsche übersetzt und erläutert von Bernward Josef Gottlieb, Leipzig 1961, S. 27. 47 Stahl: Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus (1714), ebenda, S. 48–53. Zum Begriff des Seelen-Pneumas verweise ich auf Hans Leisegang: Der heilige Geist, Darmstadt 1967, S. 76 ff., und auf den Aufsatz von Jochen Schmidt: Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung, in dem Sammelband von Barbara Neymeyr/Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Berlin 2008, Bd. 1, S. 215–227. 48 Vgl. dazu die äußerst anregenden Sammelbände: Zentren der Aufklärung I. Halle. Aufklärung und Pietismus, hg. v. Norbert Hinske, Heidelberg 1989, speziell den Beitrag von Theodor Verweyen: »Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis«, S. 209–238; Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001; Jörn Garber/Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrundert, Tübingen 2004; Manfred Beetz/Jörn Garber/Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007. 49 Vgl. dazu Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 52. 50 Vgl. dazu die beiden Studien: Johann Christian Friedrich Burk: Dr. Johann Albrecht Bengels’ Leben und Wirken meist nach handschriftlichen Materialien, Stuttgart 1931, S. 29 ff., und: Karl Hermann: Johann Albrecht Bengel. Der Klosterpräzeptor von Denkendorf, Stuttgart 1937, S. 189 ff. 51 Vgl. dazu Hinrichs, S. 352–387, sowie den Aufsatz von Werner Schneiders: Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre, in: Hinske: Halle, S. 91–110. 52 Vgl. dazu Hinrichs, S. 338–441, sowie den Beitrag von Bruno Bianco: Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff, in: Hinske: Halle, S. 111– 156. 53 Zit. nach Hinrichs, S. 367. Vgl. dazu auch die umfangreiche Liste an Lusthandlungen im Beitrag von Verweyen in: Hinske: Halle, S. 226 f. 54 Vgl. dazu die Dissertation von Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der Künste. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert, Diss. Köln 1958, sowie die äußerst materialreiche Studie von Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989, die in dem Kapitel »Hallescher Pietismus und schöne Literatur« (S. 76–181) auch speziell auf die Situation im pietistischen Halle eingeht. 55 Zit. nach Hinrichs, S. 394. 56 Vgl. Hettner Bd. I, S. 238 ff. 46

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Anmerkungen 57

Zit. nach Hettner Bd. I, S. 241. Vgl. Hettner Bd. I, S. 253 ff. 59 Vgl. Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Literatur. Bd. I: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Der Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter zur Neuzeit, Hamburg 3/1967, S. 476. 60 Zit. nach Böckmann, S. 474. 61 Vgl. dazu Wolfram Mauser: Anakreon als Therapie?, in: Lessing Yearbook 20, 1988, S. 87–120, und Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989, S. 76–181: Hallescher Pietismus und schöne Literatur. 62 Zit. nach Schings, S. 389, dessen Kapitel »Enthusiasmus und Vernunft« (S. 171–184) überhaupt viele Anregungen enthält. Vgl. aber auch Müller: Seele, S. 109 ff. 63 »Internuncien« sind Vermittlungen/Übergänge/Durchgänge/Zwischenstufen/ Passagen etc., also Orte, an denen mindestens zwei Geltungsbereiche gleichzeitig gelten oder miteinander vermittelt werden. Vgl. dazu: Heinz Otto Luthe: Komik als Passage, München 1992, der den kleinen Grenzverkehr zwischen verschiedenen Bedeutungsbereichen für eine Ätiologie des Komischen nutzt. Ähnlich argumentiert Arthur Koestler in seiner Studie: Der göttliche Funke, Bern/München/Zürich 1968, der die Internuncien als die Bereiche der Bisoziation bestimmt. 64 Johann Georg Zimmermann: Ueber die Einsamkeit, 4 Bde, Leipzig 1784, Bd. III, S. 66. 65 Vgl. dazu Müller: Seele, Kapitel: Lachen als Therapeuticum, S. 109 ff., sowie den Aufsatz von Mauser: Anakreon als Therapie? Ich verweise auch auf die schon mehrfach angeführte Studie von Heinz-Günter Schmitz: Physiologie des Scherzes, Hildesheim/New York 1972. 66 Vgl. dazu auch den Aufsatz von Ulrike Böhmel Fichera: Das kathartische Lachen über die »erschrecklichen Ideale vom Schönen und Vollkommenen«. Wielands Geschichte der Abderiten (1774/1781) in: Annali / Sezione Germanica, Bd. 7, 1997, S. 121–163, der die Erwartungen, die er mit diesem Titel weckt, aber bei weitem nicht einlöst. 67 Müller zitiert hier aus dem Aufsatz von Erwin Rotermund: Massenwahn und ästhetische Therapeutik bei Christoph Martin Wieland. Zu einer Neuinterpretation der »Geschichte der Abderiten«, in: GRM, NF Bd. 28, S. 417–451, hier S. 437. 68 Vgl. dazu Faust, V. 4144 ff. u. 4158 ff. Das Wort »Proktophantasmist« ist eine Erfindung von Goethe, das Albrecht Schöne in seinem »Faust«-Kommentar (S. 358) mit »Arsch-Hirngespinstler« übersetzt und das sich einer ulkigen Therapie gegen die Wirkung von Gespenstererscheinungen verdankt, der sich Nicolai unterzogen hatte. Der berühmte Physiologe Johannes Müller hingegen, der sich selbst ausführlich mit Phantasmen aller Art beschäftigt und darüber auch die Studie »Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen« (Coblenz 1826) veröffentlicht hatte, nimmt Nicolais Berichte durchaus ernst, erklärt diese Visionen als Wirkung spezifischer Sinnesenergien und geht auch in seinem »Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen« (Coblenz 1840), Bd. II, S. 563–567, auf Nicolais 58

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Erlebnisse ausführlich ein. Im gleichen Kontext (S. 567) berichtet Müller, ein entschiedener Anhänger von Goethes Farbenlehre, von einem Gespräch mit Goethe von 1828 über Phantasmen aller Art, in dem Goethe faszinierende Einblicke in die Arbeitsweise seiner poetisch-morphologischen Einbildungskraft gewährt. Goethe verhöhnte Nicolai in dieser derben Art, weil er es gewagt hatte, eine ziemlich dämliche Kontrafaktur zum »Werther« unter dem Titel »Freuden des jungen Werthers« (1775) zu veröffentlichen. 69 Vgl. dazu P. Adolf Rodewyk S.J.: Die dämonische Besessenheit in der Sicht des Rituale Romanum, Aschaffenburg 1963, S. 53 f. 70 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1974, S. 484 f. 71 Ronald Knox: Christliches Schwärmertum. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte, Köln/ Olten 1957. 72 Ich zitiere Locke nach der zeitgenössischen deutschen Übersetzung von Heinrich Engelhard Poley von 1757 in dem Sammelband: Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise, hg. v. Fritz Brüggemann (1938), Darmstadt 1972, S. 109 ff., hier S. 111. 73 Vgl. dazu Alfred Jepsen: Nabi. Soziologische Studien zur alttestamentlichen Literatur- und Religionsgeschichte, München 1934. »nabi« bedeutet »Prophet«. 74 Vgl. dazu den Sammelband: Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Gespräch über transkulturell-anthropologische und -psychiatrische Fragen, hg. v. Jürg Zutt, Bern/München 1972. 75 Die klassische Darstellung des Edlen Huronen in der deutschen Literatur stammt von Johann Gottfried Seume, dessen Gedicht »Der Wilde« mit den Versen schließt: »›Seht, ihr fremden, klugen weißen Leute, / Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen!‹ / Und er schlug sich seitwärts in die Büsche.« Zit. nach der Anthologie von Elschenbroich, S. 408. Zum Topos des edlen Indianers in der amerikanischen Literatur vgl. das Standardwerk von Roy Harvey Pearce: Rot und Weiß. Die Erfindung des Indianers durch die Zivilisation, Stuttgart 1991. 76 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1969, S. 40. Daß »jemand sich selbst überlebt«, ist ein Befund, den man in diesem apokalyptisch-pessimistischen Werk eigentlich nicht erwarten würde, spricht aber nicht gegen diesen Befund. 77 Hier muß sich eine bizarre Fehlleistung in den Text eingeschlichen haben. 78 Wolfgang Promies: Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus, München 1966. 79 Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte, 1765–1785, München 1968. 80 Ernst Benz: Emanuel Swedenborg. Naturforscher und Seher, München 1948. 81 Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. 82 Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser, Frankfurt a. M. 1987,

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Anmerkungen 83

Eckehard Catholy: Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft, Tübingen 1962. 84 Vgl. Schings, S. 144. 85 Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman (1785), München 1987. 86 Zit. nach der Anthologie: Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Auswahl und Einleitung von Edgar Hederer, Frankfurt a. M. 1957, S. 237. 87 Edgar Morin: Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie, München/Zürich 1974, S. 130. Gemeint ist wohl der von Bataille zum metaphysischen Prinzip erhobene Impuls zur energetischen Selbstverschwendung oder Verausgabung (dépense). Vgl. dazu Peter Wiechens: Bataille zur Einführung, Hamburg 1995, S. 67 ff., sowie: Gerd Bergfleth: Theorie der Verschwendung. Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München 2/1985, S. 84, und den Aufsatz von Hans-Thies Lehmann: Ökonomie der Verausgabung – Georges Bataille, in: Merkur 463/464 (1987), S. 835–849. 88 Die beiden Verse stammen aus einer frühen Fassung von Hallers Theodizee-Gedicht und wurden später durch die oben zitierten Verse ersetzt: »Vergnügt, o Vater, dich der Kinder Ungemach? / War deine Lieb erschöpft ist dann die Allmacht schwach?« Zit. nach Karl S. Guthke: Der Glaube des Zweiflers. Glanz und Krise der Aufklärung in Hallers Lyrik, in: Guthke: Haller im Halblicht. Vier Studien, Bern/München 1981, S. 9–28, hier S. 19. 89 Johann K. Wezel: Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Mit einem Nachwort von Lenz Prütting (S. 453–502), Frankfurt a. M. 4/ 1984. 90 Vgl. dazu die Urteilstafel Kant II,111. 91 Vgl. dazu Franz Koppe: Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1983, S. 125, sowie Koppes Dissertation: Sprache und Bedürfnis. Zur sprachkritischen Grundlage der Geisteswissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, und seinen Aufsatz: Kunst und Bedürfnis. Ein Ansatz zur sprachkritischen Wiederaufnahme systematischer Ästhetik, in dem Sammelband Kolloquium Kunst und Philosophie 1. Ästhetische Erfahrung, hg. v. Willi Oelmüller, Paderborn/München/Wien/Zürich 1981, S. 74–93. 92 Vgl. dazu Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992. 93 Vgl. dazu den Aufsatz von Wilhelm Kühlmann: Die Nachtseite der Aufklärung. Goethes Erlkönig im Lichte der zeitgenössischen Pädagogik (C. G. Salzmanns Moralisches Elementarbuch), in dem Sammelband: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung, hg. v. Ortrud Gutjahr/Wilhelm Kühlmann/Wolf Wucherpfennig, Würzburg 1993, S. 145–158. 94 So argumentiert z. B. Ludger Lütkehaus in seiner Einleitung zu einer Anthologie von Texten zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud und rechnet deshalb Herder absurderweise zur Gegenaufklärung: »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, hg. v. Ludger Lütkehaus, Frankfurt

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a. M. 1989, S. 23. Vgl. zum Thema auch den Sammelband: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Jochen Schmidt, Darmstadt 1989, in dem v. a. drei Beiträge Herder einzuordnen suchen: Jochen Schmidt selbst in der Einleitung: Aufklärung, Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung, S. 1–32, sowie: Ulrich Gaier: Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder, S. 261– 276, und: Jürgen Brummack: Herders Polemik gegen die »Aufklärung«, S. 277– 293. Zur Selbstkritik der Aufklärung vgl. auch den Aufsatz von Peter Bürger: Über den Umgang mit dem andern der Vernunft, in dem Sammelwerk: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, hg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt a. M. 1983, S. 41–51. 95 Vgl. dazu Guthke: Der Glaube des Zweiflers, S. 27. Außerdem verweise ich nochmal mit Nachdruck auf das Kapitel »Der Alptraum der Vernunft« in Guthkes Werk: Die Mythologie der entgötterten Welt, S. 51–89. 96 Francis Hutcheson: Reflections upon Laughter and Remarks upon the Fable of the Bees, Reprint New York 1971. Ich zitiere in eigener Übersetzung. 97 Vgl. dazu Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Darmstadt 1988; Joachim Ritter: Über das Lachen, in: Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S. 62–92. Man könnte auch auf den Artikel von Wolfgang Preisendanz im Historischen Wörterbuch der Philosophie (4,889 ff.) verweisen, der die Überschrift »Komische (das), Lachen (das)« trägt und damit suggeriert, man könne das Lachen nur unter dem Aspekt des Komischen thematisieren. 98 Vgl. dazu den Aphorismus 169 aus dem ersten Band von »Menschliches, Allzumenschliches« mit dem Titel »Herkunft des Komischen« (I,558 f.). 99 Vgl. dazu Lenz Prütting: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 17, 2006, 1/2, S. 123–136. 100 Vgl. dazu die beiden ersten Kapitel bei Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 2/1974. 101 Christian Thomasius: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit / auch selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen / und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen; Allen Menschen/ die sich klug zu seyn düncken / oder die noch klug werden wollen / zu höchst-nöthiger Bedürffnis und ungemeinem Nutzen / aus dem Lateinischen des Herrn THOMASII übersetzet, Frankfurt/ Leipzig 1710, Reprint Frankfurt a. M. 1971. Als Ergänzung dieser Klugheitslehre entwarf Thomasius 1688 auch eine Theorie des Scherzens als Auseinandersetzung mit Aristoteles; vgl. dazu den Aufsatz von Martin Disselkamp: Lachen als Freisetzung von Kritik und Umgangskompetenz bei Christian Thomasius. Zu den Entwürfen eines Aristoteles-Romans in den Monatsgesprächen, in: Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730), hg. v. Stefanie Arend, Thomas Borgstedt, Nicola Kaminski und Dirk Niefanger, Amsterdam/New York 2008, S. 49–70. Ganz im Sinne von Thomasius argumentiert auch sein hallescher Kollege Martin Schmeizel in seiner Klugheitslehre: Die Klugheit zu leben und zu

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Anmerkungen

Conversiren, zu Hause, auf Universitäten und auf Reisen, Halle 1737, in der er ebenfalls auf die Kunst des Scherzens eingeht und die Frage aufwirft, »wie weit nemlich, eine Schertz-Rede oder kurzweilige Redensart differire, von Zoten und Narrentheidingen, von der Raillerie und Schrauberei, und diese wieder, von sinnreichen Einfällen, dergleichen die Franzosen un bon mot zu nennen pflegen.« Zit. nach: Kay Junge: Humor und Geselligkeit, in: Frank E. P. Dievernich (Hg.): Kommunikationsausbrüche. Vom Witz und Humor der Organisation, Konstanz 2001, S. 69–114, hier S. 75, A.11. 102 Zur Wort- und Begriffsgeschichte von »Witz« vgl. die Studien von Otto F. Best: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip, Darmstadt 1989, und Wolfgang Schmidt-Hidding: Wit and Humour, und Karl Otto Schütz: Witz und Humor, beide in der Monographie über Europäische Schlüsselwörter: Humor und Witz, hg. v. Wolfgang Schmidt-Hidding, München 1963, S. 37–157 und S. 161–244. 103 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn/München/Wien/ Zürich 1997, S. 100 f. 104 Vgl. dazu Best: Witz, S. 8 ff. 105 Vgl. dazu Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur der Ästhetik. Übersetzt und hg. v. Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, und: Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aestetica« (1750/58). Übersetzt und hg. v. Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1988. 106 Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen (1744) mit Einleitung, Zeittafel und Bibliographie von Klaus Bohnen, Kopenhagen 1977. 107 Ernst Antons Nicolai der Arzneygelahrtheit Doktors Abhandlung von dem Lachen in einem Glückwünschungsschreiben an Herrn Christian Gottl. Koetschken, als derselbe die Doktorwürde in der Arzneygelahrtheit auf der Universitaet zu Halle erhielte, Halle 1746. 108 Zit. nach Dieter Kimpel: Christian Wolff und das aufklärerische Programm der literarischen Bildung, in dem Sammelband: Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur, hg. v. Werner Schneiders, Hamburg 1983, S. 203–236, hier S. 216. 109 Vgl. dazu Baumgarten: Texte, S. 9, und Theoretische Ästhetik, S. VII. 110 Matti Schüsseler: Unbeschwert aufgeklärt. Scherzhafte Literatur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1990. 111 Vgl. dazu Anmerkung 94. 112 Hans Adler: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, DVjS 62, 1988, S. 197–220, hier S. 219. 113 Ich zitiere nach der Ausgabe: Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Neu herausgegeben von Wolfgang Martens, 3 Bde, Hildesheim/Zürich/New York 1987. 114 Ich zitiere nach der Ausgabe: Der Mensch. Eine Moralische Wochenschrift. Herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Neu herausgegeben von Wolfgang Martens, 6 Bde, Hildesheim/Zürich/New York 1992.

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Im Anschluß an diese Zeitschrift gaben Lange und Meier auch noch die Zeitschriften »Das Reich der Natur und der Sitten« (1757–1762) und »Der Glückselige« (1763–1768) heraus. Die Zeitschrift »Der Mensch« ist für unsere Fragestellung fast völlig unergiebig; die beiden anderen konnte ich nicht einsehen. 115 Einige wichtige Anregungen konnte ich den beiden Aufsätzen von Wolfram Mauser und Wolfgang Martens entnehmen: Wolfram Mauser: Georg Friedrich Meiers Apologie des geselligen Lachens, in: Dichtungstheorie der deutschen Frühaufklärung, hg. v. Theodor Verweyen und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1995, S. 120–132; Wolfgang Martens: Zur Thematisierung von »schöner Literatur« in Samuel Gotthold Langes und Georg Friedrich Meiers Moralischer Wochenschrift Der Gesellige und Der Mensch, im selben Sammelband von Verweyen und Kertscher, S. 133–145. Eine wahre Fundgrube zu dieser Fragestellung ist die Dissertation von Eckart Schörle: Die Verhöflichung des Lachens. Lachgeschichte im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2007. 116 Vgl. dazu Nisbet, S. 57 f., sowie die beiden Kapitel bei Promies: »Die Verbannung Hanswursts vom Theater der Aufklärung«, S. 14 ff., und »Anno 1761: der frei gesprochene Harlekin«, S. 118 ff. 117 Zur literarischen Fehde, die Meier über Jahre hinweg mit Gottsched ausfocht, vgl. die Edition: Georg Friedrich Meier: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in 3 Teilen, hg. v. Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk, 3 Bde, Halle 1999/2002, v. a. Bd. II: Der »kleine Dichterkrieg« zwischen Halle und Leipzig, Halle 2000. 118 Vgl. dazu den Aufsatz von Rainer Warning: Marivaux und die Commedia dell’Arte, in: Roger Bauer und Jürgen Wertheimer (Hg): Das Ende des Stegreifspiels. Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas, München 1983, S. 1–8, v. a. S. 2 ff. 119 Vgl. dazu den Aufsatz von Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750, in: Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert, hg. v. Karl Eibl, Hamburg 1989, S. 5–36. Diesem Aufsatz verdanke ich entscheidende Anregungen. Ich verweise auch auf die Studie von Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999. 120 August Hermann Francke: Werke in Auswahl, hg. v. Erhard Peschke, Berlin 1968, S. 354. 121 Vgl. dazu Kapitel 2.8.6.2. 122 Vgl. dazu S. 26–32, 86 f., 97, 105 ff. 123 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay, Reinbek 1963. 124 Vgl. S. 115, sowie Cicero, S. 363–371. 125 Das Motto aus den Satiren des Horaz lautet: »Dummodo risum / Excutiat sibi, non hic cuiquam parcet amico.« (I,4,34 f.) 126 Vgl. Kapitel 2.7.3. 127 Vgl. dazu Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 7/1975, S. 50 ff.

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Anmerkungen 128

Weitere ausführlichere Rechtfertigungen der Theodizee finden sich in den Stücken 30,88 und 123. 129 Vgl. dazu v. a. die Stücke 11, 13, 64 und 77. 130 Vgl. dazu Kapitel 2.7.7. 131 Der Renommist. Ein scherzhaftes Heldengedicht, in: (Just Friedrich Wilhelm Zachariae:) Scherzhafte Epische Poesien nebst einigen Oden und Liedern, Braunschweig und Hildesheim 1754, S. 1–112. 132 Die Gedichte des Horaz. Lateinisch und deutsch, hg. v. Hans Färber, München 4/1949, S. 210. 133 Horaz’ sämtliche Dichtungen, hg. v. Hermann Fleischer, Stuttgart o. J., S. 116. 134 Vgl. v. a. Kapitel 2.7.7.2. 135 Ich zitiere nach der Ausgabe: Die deutsche Gelehrtenrepublik, ihre Einrichtung, ihre Gesetze, Geschichte des letzten Landtags. Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar, in: Klopstocks sämmtliche Werke, Leipzig 1854, Bd. 8. 136 Ralph Müller: Theorie der Pointe, Paderborn 2003. 137 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 4/1964. 138 Deutsches Wörterbuch, hg. v. Gerhard Wahrig, Hildegard Kramer und Harald Zimmermann, Wiesbaden 1983, Bd. 5. 139 Vgl. dazu den Sammelband: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hg. v. Christine Pries, Weinheim 1989, S. 309. 140 Vgl. dazu Schmitz: Leib, S. 143, wo mit dem Hinweis auf die Grundbedeutung »Ort« = »Spitze« als kurze Formel angegeben wird: »Epikritisch ist die ortsfindende, protopathisch die der Ortsfindung entgegenwirkende Tendenz.« Wenn man’s als Pointe formulieren will, könnte man auch sagen, man könne diesen Gegensatz auch schmecken als Gegensatz von krossen Fritten und kremigem Püree oder als Gegensatz von Lustbiß und Zungenkuß. 141 Vgl. Böckmann: Formgeschichte, S. 494. 142 Vgl. dazu Schmitz: Gegenstand, S. 56, wo unter Hinweis auf Husserl Protentionen als »unwillkürlich erwartete Sachverhalte« bestimmt werden. 143 Vgl. dazu Otto Friedrich Bollnow: Philosophie der Erkenntnis. Das Vorverständnis und die Erfahrung des Neuen, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1970, S. 107 ff. 144 Hier liegt ein übersetzerisches Interferenzphänomen vor. Gemeint ist nicht das Subjekt, das etwas vorträgt, sondern der Sachverhalt (frz. sujet), der vorgetragen wird. 145 Lessing 12,380; Ergänzungen nach Müller: Pointe, S. 62. 146 Müller: Pointe, S. 16, Anmerkung 11. 147 Herder folgt hier Lessings Eindeutschung von frz. sujet im Sinn von »Sachverhalt« oder »Thema«. 148 Baaders Wendung stammt aus dem Aufsatz »Über den Blitz als Vater des Lichtes« von 1815 in: Schriften Franz von Baaders. Ausgewählt und herausgegeben von Max Pulver, Leipzig 1921, S. 46–59, hier S. 55. 149 Vgl. Hildegard von Bingen: Heilkunde, S. 224 und S. 230 f. 150 Vgl. Goethe 32,247: »Manchmal ergötzt er sich an mehr oder minder bekannten Vademekumsgeschichten, bei welchen aber durchgängig die Ausführung des

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Details im Hinschreiten zu der letzten Pointe als das Vorzügliche und eigentümliche anzusehen ist.« Im »Eberhard«, dessen erste Auflage 1802 erschien, wird »Pointe« immer noch nicht als deutsches Fremdwort erwähnt, sondern als französisches Pendant zu »Gipfel«, »Wipfel« oder »Spitze«. Vgl. Johann August Eberhard’s synonymisches Wörterbuch der deutschen Sprache, für alle, welche sich in dieser Sprache richtig ausdrücken wollen. Zwölfte Ausgabe. Durchgängig umgearbeitet, vermehrt und verbessert von Dr. Friedrich Rückert, Berlin 1863, S. 436 f. 151 Zit. nach Heiko Christians: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen, Berlin 1999, S. 69. 152 Vgl. Müller: Pointe, S. 16. 153 Vgl. dazu Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Zürich 6/1963, das Kapitel: »Dramatischer Stil: Spannung«, S. 143–201. 154 Vgl. oben Kapitel 2.2.5. 155 Vgl. dazu Eugen Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschießens, Bern/München/Wien 42/2002, v. a. S. 26 ff. 156 Vgl. dazu Christians: Schmerz, S. 47 ff. 157 Schmitz: Leib, S. 112. 158 Schmitz: Leib, S. 114. 159 Vgl. dazu Sambursky: Das physikalische Weltbild, S. 183. 160 Schmitz: Leib, S. 500 f. Wir werden sehen, daß mit diesen Worten zugleich auch der motus tonicus vitalis des pietistischen Mediziners Georg Ernst Stahl beschrieben ist, auf den wir in Kapitel 2.12.6.6 einzugehen haben. 161 Ich zitiere Burke nach der Ausgabe: Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Neu eingeleitet und herausgegeben von Werner Strube, Hamburg 1989. 162 Vgl. dazu das Kapitel »Allmähliche Änderung«, S. 154 ff. 163 Vgl. dazu Burke, S. 156 und S. 164. In diesem tiefen Unbehagen angesichts plötzlicher Veränderungen ist wohl auch Burkes spätere entschiedene Polemik gegen die Französische Revolution begründet. 164 Vgl. dazu Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 196 ff. 165 Vgl. oben die Anmerkung 11 im Kapitel 2.11 über Hobbes. 166 Vgl. dazu Straus: Geschehnis und Erlebnis, S. 25 f. 167 Vgl. dazu Langen: Wortschatz, S. 238 ff. 168 Ich zitiere nach der Ausgabe: Jakob Böhme: Aurora oder Morgenröte im Aufgang, hg. v. Gerhard Wehr, Frankfurt a. M. und Leipzig 1992. 169 August Hermann Francke: Lebenslauf, in: August Hermann Francke: Werke in Auswahl, hg. v. Erhard Peschke, Berlin 1968, S. 4–29, hier S. 26. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Friedrich de Boor: Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis A. H. Franckes als Grundlage für den Kampf des Hallischen Pietismus gegen die Aufklärung, in: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag, hg. v. Heinrich Bornkamm, Friedrich Heyer, Alfred Schindler, Bielefeld 1975, S. 120–138. 170 Francke, S. 354. 171 Michel Onfray: Philosophie der Ekstase, Frankfurt a. M. 1993, S. 59.

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Anmerkungen 172

Jean Paul 59,81. Vgl. dazu auch Fritz W. Kramer: Schriften zur Ethnologie, Frankfurt a. M. 2005, S. 78 ff. 173 Der Mensch IV,343. 174 Vgl. dazu Lenz Prütting: Über das Mitgehen. Einige Anmerkungen über das Phänomen transorchestraler Einleibung, in: Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, hg. v. Michael Großheim, Berlin 1995, S. 141–152. 175 Vgl. dazu Lenz Prütting: Schwimmen, Hängen, Aussetzen. Drei Formen personaler Regression auf der Szene. Ein Beitrag zur Anthropologie des Schauspielers, in: Forum Modernes Theater, Band 14 (1999), Heft1, S. 3–30. 176 Vgl. dazu den überaus materialreichen Sammelband: Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Gespräch über transkulturell-anthropologische und -psychiatrische Fragen, hg. v. Jürg Zutt, Bern und München 1972. 177 Vgl. dazu z. B. Alfred Jepsen: Nabi, München 1934, Ronald Knox: Christliches Schwärmertum, Köln/Olten 1957, Adolf Rodewyk S.J.: Die dämonische Besessenheit in der Sicht des Rituale Romanum, Aschaffenburg 1963 und Fritz W. Kramer: Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika, Frankfurt a. M. 1987. 178 Hermann Schmitz: Was wollte Kant? Bonn 1989, S. 144. 179 Schmitz: Kant, S. 170. 180 Der Ausdruck »Festungsmentalität« ist eine Anspielung auf Seneca, der im 82. Brief seinem Schüler Lucilius den Rat gibt: »Mit der (stoischen) Philosophie müssen wir uns umgeben, einer unsichtbaren Mauer, die das Schicksal, auch wenn es sie mit vielen Belagerungsmaschinen angreift, nicht überschreitet.« (Seneca IV,187) Da das Bild der Seele als Festung auch bei den christlichen Kirchenvätern sehr beliebt war, insbesondere bei Johannes Chrysostomus, konnte es bis heute leicht in jedes neue Männlichkeitsideal wie Mönch, Priester, Höfling, Offizier, Funktionär und Philosoph eingebaut werden. 181 Über das »Modell Halle« und die dazu gehörenden vielfältigen personellen und institutionellen Querverbindungen, soweit sie für unsere Fragestellung von Bedeutung sind, unterrichten u. a. das Nachwort von Carsten Zelle zu seiner Edition von: Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, Halle 1995, S. 70 ff., desgleichen Wolfram Mauser in seinem Aufsatz »Anakreon als Therapie?«, S. 89 ff., und Johanna Geyer-Kordesch in ihrer Stahl-Monographie, S. 242 ff. Vor allem aber sind zu nennen: Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New York 2003 (über Krüger, Unzer, Platner und Wezel); Tanja van Hoorn: Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen. Johann Gottlieb Krügers Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit (1745), Hannover-Laatzen 2006. 182 Vgl. dazu Wilhelm Kamlah: Die Formierung der »Geisteswissenschaften« in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, in: Propädeutik der Literaturwissenschaft, hg. v. Dietrich Harth, München 1973, S. 9–22. 183 Einen guten Überblick über die verschiedenen Commercium-Theorien vermittelt die Monographie von Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller.

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Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«, Würzburg 1985. Wie Descartes’ Physiologie durch die anatomischen und physiologischen Entdeckungen des 17. und 18. Jahrhunderts der Boden entzogen wurde, erläutert das Kapitel »René Descartes und die Theorie der Lebenserscheinungen« in: K. E. Rothschuh: Physiologie im Werden, Stuttgart 1969, S. 96–111, v. a. S. 104 ff. 184 Georg Friedrich Meiers theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, Halle 1744, Reprint Frankfurt/Main 1971, S. 20. 185 Vgl. dazu Wolff: Vernünftige Gedanken, S. 475 ff., sowie Wilhelm SchmidtBiggemann: Maschine und Teufel, Freiburg 1974, S. 62–88. 186 Zu Friedrich Hoffmanns medizingeschichtlicher Einordnung vgl. Gernot Rath: Die Neuropathologie am Anfang des 18. Jahrhunderts, in: Von Boerhaave bis Berger. Die Entwicklung der kontinentalen Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Neurophysiologie, hg. v. K. E. Rothschuh, Stuttgart 1964, S. 35–47, sowie: Karl Eduard Rothschuh: Leibniz, die prästabilierte Harmonie und die Ärzte seiner Zeit, in: Studia leibnitiana supplementa, Bd. II, Wiesbaden 1969, S. 231–254. 187 Rothschuh: Leibniz, S. 23 f. 188 Zit. nach: Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2001, S. 48. 189 Zit. nach G. Rudolph: Hallers Lehre von der Irritabilität und Sensibilität, in: Von Boerhaave bis Berger, hg. v. Rothschuh, S. 22 f. Vgl. dazu auch die Monographie von Richard Toellner: Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten, Wiesbaden 1971, S. 128 ff. Aufschlußreich ist in dem Zusammenhang auch die Untersuchung von Frank Baasner: Der Begriff der ›sensibilité‹ im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1988, weil hier die vielfältigen Querverbindungen zwischen physiologischer und ästhetischer Theorie deutlich gemacht werden. 190 Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne, S. 112. 191 Zit. nach Erna Lesky: Medizin im Zeitalter der Aufklärung, in: Joachim Jungius-Gesellschaft (Hg.): Lessing und die Zeit der Aufklärung, Göttingen 1968, S. 77–99, hier S. 82. 192 Ich zitiere nach der Ausgabe: Julien Offray de La Mettrie: L’homme machine. Die Maschine Mensch, übersetzt und herausgegeben von Claudia Becker, Hamburg 1990. 193 Erna Lesky spielt immer wieder auf Goethes Warnung in seinen »Maximen und Reflexionen« an, in denen es unter Nr. 156 heißt: »Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.« (4,21) 194 Gudula Linck: Yin und Yang. Die Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken, München 2000, S. 28. Rein energetische Interpretationen der »Lebenskraft« resp. der »Nervenkraft« im Sinn von »Lebensenergie« oder »Nervenenergie« gibt es im 18. Jahrhundert schon bei den Physiologen William Cullen und Johann August Unzer, führt zu dieser Zeit aber noch nicht zu gelotologischen Theorien. Dies ge-

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Anmerkungen

schieht erst mit Herbert Spencer im 19. Jahrhundert und soll in Kapitel 2.14 über die Metamorphosen der organischen Energie behandelt werden. 195 Georg Ernst Stahl: Vier Abhandlungen, hg. v. Bernward Josef Gottlieb, Leipzig 1961, S. 48–53. Zur medizingeschichtlichen Einordnung Stahls verweise ich auf die Arbeiten von Johanna Geyer-Kordesch, insbesondere auf die umfangreiche Monographie: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und das Werk Georg Ernst Stahls, Tübingen 2000, sowie auf die Aufsätze: Die »Theoria medica vera« und Georg Ernst Stahls Verhältnis zur Aufklärung, in: Georg Ernst Stahl (1659–1734). Hallesches Symposium 1984, hg. v. Wolfram Kaiser und Arina Völker, Halle 1985, S. 89–98; Die Nachtseite der Naturwissenschaft: Die ›okkulte‹ Vorgeschichte zu Franz Anton Mesmer, in: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, hg. v. Heinz Schott, Stuttgart 1985, S. 13–30; Die Medizin im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Pietismus. Das unbequeme Werk Georg Ernst Stahls und dessen kulturelle Bedeutung, in: Halle. Aufklärung und Pietismus, hg. v. Norbert Hinske, Heidelberg 1989, S. 255–274, außerdem auf das Kapitel über Stahl in der medizingeschichtlichen Darstellung von Werner Leibbrand und Annemarie Wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie, Freiburg/München 1961, S. 314–328. Sehr anregend waren für mich auch die Aufsätze von Wolfram Mauser über Georg Ernst Stahl wegen der vielen Querverweise zwischen medizinischer Theorie und Literatur: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung, in: Lessing Yearbook XX, 1988, S. 87–120, und: Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, in: Melancholie in Literatur und Kunst, hg. v. Dietrich von Engelhardt u. a., Hürtgenwald 1990, S. 48–88, sowie die bislang vorliegenden Arbeiten aus einem von Carsten Zelle geleiteten Forschungsprojekt in dem Sammelband: »Vernünftige Ärzte«. Die Halleschen Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001 196 Vgl. dazu das Sammelwerk: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, hg. v. Hans-Jürgen Schings, Stuttgart/Weimar 1994. 197 Vgl. dazu v. a. die Briefe 14–16. 198 Ich zitiere nach der Ausgabe: Ernst Antons Nicolai der Artzneygelahrtheit Doktors Abhandlung von dem Lachen in einem Glückwunschungsschreiben an Herrn Christian Gottl. Koetschken, als derselbe die Doktorwürde in der Arzneygelahrtheit auf der Universitaet zu Halle erhielte. Halle 1746. Da ich Schwierigkeiten hatte, dieses Werk über die Fernleihe auszuleihen, hat mir Carsten Zelle von der Ruhr-Universität Bochum eine Kopie seiner Kopie zugeschickt, wofür ich ihm ganz herzlich danke. Zu Nicolais Beziehungen zu seinem im Titel genannten Halleschen Kollegen Koetschke vgl. den Aufsatz von Rainer Godel: Der Mensch – ein »lächerliches Tier«? Eine psychophysische Theorie des Lachens bei Ernst Anton Nicolai und Georg Friedrich Meier und ihre Folgen, in: Aufklärung 17, 2005, S. 187– 214, der im Rahmen des oben in Anmerkung 195 erwähnten Forschungsprojekts entstanden ist.

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Heitere Aufklärung 199

Vgl. dazu Geyer-Kordeschs Stahl-Monographie, S. 242 ff. Den Nachweis, daß Poinsinet von Cureau abgeschrieben hat, führt William Brooks in seiner Edition des Traktats von Poinsinet: Traité des causes physiques et morales du rire relativement à l’Art de l’exciter. Texte présenté et annoté par William Brooks, University of Exeter 1986, S. 62. Obwohl Brooks sich immer wieder bemüht, einen Einfluß Jouberts auf Poinsinet nachzuweisen, hat er nicht gemerkt, was Cureau wortwörtlich von Joubert abgeschrieben hat. Höchst seltsam! Eine stark gekürzte Variante dieser Beschreibung des Lachens zitiert Renate Jurzik in ihrem Buch: Der Stoff des Lachens, Frankfurt/New York 1985, S. 22 f. und in ihrem Aufsatz »Die zweideutige Lust am Lachen. Eine Symptomanalyse« in dem Sammelwerk: Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, hg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt a. M. 1986, S. 39–51, hier S. 41 f., übernimmt diese Beschreibung aber aus dem Buch von Raymond A. Moody: Lachen und Leiden. Über die heilende Kraft des Humors, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 17 f., und Moody zitiert wiederum aus dem Aufsatz von G. V. N. Dearborn: The Nature of Smile and Laugh, in: Science 11, 1900. 201 Es sind dies im wesentlichen die Kapitel 11 und 18–24. Vgl. dazu auch oben Kapitel 2.9.7. 202 Vgl. Stahl: Abhandlungen, S. 50. 203 Vgl. Geyer-Kordeschs Stahl-Monographie, S. 246 f. 204 Vgl. dazu Anmerkung 97 zu diesem Kapitel. 205 Es gibt vom Traité auch eine anastatische Reprint-Ausgabe bei Slatkine Genf 1970, allerdings ohne Nachwort und Kommentar. Deshalb zitiere ich nach der Ausgabe: Louis Poinsinet de Sivry: Traité des causes physiques et morales du rire relativement à l’Art de l’exciter. Texte présenté et annoté par William Brooks, University of Exeter 1986 und in eigener Übersetzung. Zwei zeitgenössische deutsche Übersetzungen des Traité, eine anonyme von 1771 und eine von Wilhelm Friedrich August Mackensen von 1794, sind bei Google digitalisiert. Durch eine hübsche Fehlleistung macht Brooks (S. XXI) aus dem Übersetzer Mackensen allerdings einen Beuteschotten namens MacKensen. Eine englische Übersetzung wird von Lothar Fietz zitiert in seinem Aufsatz »Möglichkeiten und Grenzen einer Semiotik des Lachens« in dem Sammelwerk: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, hg. v. Lothar Fietz, Joerg O. Fichte, Hans-Werner Ludwig, Tübingen 1996, S. 7–20, hier S. 13. 206 Vgl. dazu Fietz, S. 13. 207 Jörg Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991, S. 395. 208 Die Feindschaft scheint durchaus gegenseitig gewesen zu sein, weil Diderot in »Rameaus Neffe« (Goethe 34,36) die Vettern Antoine Poinsinet de Noirville und Louis Poinsinet de Sivry in einem Atem mit Palissot, Fréron, und Baculard nennt, von deren »Niederträchtigleiten« spricht und sie mit der »Kotseele« des Neffen auf eine Stufe stellt. Antoine Poinsinet war Autor von »pikanten« Boulevard-Komödien (vgl. Wielands Rezension 35,29 f.) und wird in »Rameaus Neffe« und in Goethes 200

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Anmerkungen

Anmerkungen dazu öfters erwähnt (Bd. 34, S. 13, 36, 49, 102, 103), aber immer in abfälligem Ton. Charles Palissot de Montenoy hatte die Gruppe der Enzyklopädisten in seiner Komödie »Les Philosophes« (1760) auf das übelste verhöhnt, sehr zum Ärger Goethes, der in den Anmerkungen zu seiner Diderot-Übersetzung (36,94 ff.) dazu Stellung nimmt. Vgl. dazu auch die Anmerkungen in: Denis Diderot: Ästhetische Schriften, hg. v. Friedrich Bassenge, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1968, Bd. II, S. 823. 209 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973, S. 132 ff., v. a. S. 140. 210 Vgl. dazu Gudrun Gersmann: Im Schatten der Bastille. Die Welt der Schriftsteller, Kolporteure und Buchhändler am Vorabend der Französischen Revolution, Stuttgart 1993, S. 41 ff. 211 Beispiele hierfür finden sich bei Gersmann, S. 30 ff. 212 Zitiert nach Poinsinet/Brooks, S. 60. 213 Vgl. dazu Lord Chesterfield: Briefe an seinen Sohn, 2 Bde, München/Leipzig 1912, Bd. II, S. 158 ff. und S. 246 ff.; vgl. dazu auch den Aufsatz von Virgil B. Hetzel: Chesterfield and the anti-laughter tradition, in: Modern philology 26, 1928, S. 73–90. 214 S. 29. Die Formulierung findet sich in dem kurzen Aufsatz »Von dem Lachen« in dem Band: Kurzer Begriff oder Auszüge derer Gedanken des Herrn Grafen von Oxenstirn über unterschiedliche Materien in Sechs Theile verfasset. Wegen seiner Vortrefflichkeit und sonderbaren Moral aus dem Französischen in das Teutsche übersetzet, Frankfurt/Leipzig 4/1759, Bd. I, S. 121. 215 Jürg Zutt: Die innere Haltung, in: Jürg Zutt: Auf dem Weg zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–87. 216 Vgl. dazu Augustinus: Bekenntnisse, S. 135–216, v. a. S. 136. 217 Ich zitiere Kants Vorlesungen nach Band XXV der Akademie-Ausgabe, Berlin 1997 unter »AA«. 218 Samuel Theodor Soemmerring: Über das Organ der Seele, (Königsberg 1796), Reprint Amsterdam 1966; vgl. dazu den Sammelband: Gehirn – Nerven – Seele. Anatomie und Physiologie im Umfeld S. Th. Soemmerrings, hg. v. Gunter Mann und Franz Dumont, Stuttgart/New York 1988, und Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt a. M. 2008. 219 Schmitz: Leib, S. 500 f. Ich verweise nochmals auf den Aufsatz von Jochen Schmidt: Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung, in dem Sammelband von Barbara Neymeyr/Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Berlin 2008, S. 215–227. 220 Zit. nach: Werner Leibbrand/Annemarie Wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychotherapie, Freiburg/München 1961, S. 326. 221 Leibbrand/Wettley, S. 326. 222 Leibbrand/Wettley, S. 326. 223 Vgl. dazu den Aufsatz von Johanna Geyer-Kordesch: Fevers and other Fundamentals. Dutch and German Medical Explanations c. 1680 to 1730, in: William

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Heitere Aufklärung

Bynum/Vivian Nutton (Hg.): Theories of Fevers from Antiquity to the Enlightenment, London 1981, S. 110 ff. 224 Vgl. dazu Thomas Henkelmann: Zur Geschichte des pathophysiologischen Denkens. John Brown (1735–1788) und sein System der Medizin, Berlin/Heidelberg/New York 1981, S. 25 ff. 225 Manfred Geier: Worüber kluge Menschen lachen. Kleine Philosophie des Humors, Reinbek bei Hamburg 2006. 226 Vgl. dazu Schmitz: Leib, S. 554–566, v. a. S. 562 ff. 227 Vgl. dazu Anmerkung 8 zu Kapitel 2.8.2. 228 Vgl. dazu Geier, S. 129 ff., und Böhme/Böhme, S. 455 ff. 229 Kant V,369 bzw. Burke, S. 176 f. 230 Kant V,369, bzw. Burke, S. 192. 231 Friedrich Theodor Vischer: Über das Erhabene und Komische und andere Texte zur Ästhetik. Einleitung von Willi Oelmüller, Frankfurt a. M. 1967.

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2.13 Charles Baudelaire oder Die Frage nach dem Lachen jenseits des Heiteren

2.13.1 Überblick Baudelaires Aufsatz über das Wesen des Lachens, den er 1845 begonnen hatte, erscheint durch seine theologische Ausrichtung auf den ersten Blick geradezu bizarr anachronistisch und epigonal und überhaupt nur deshalb erwähnenswert, weil er mit größtem Nachdruck auf das Lachen jenseits des Heiteren verweist, dieses schwarze Lachen zur Lachart einer École du Mal erhebt und dadurch bestimmte Aspekte des Lachens sichtbar macht, auf die wir bisher eher selten gestoßen sind. Schaut man aber etwas genauer hin, ist Baudelaires Aufsatz ein sehr typisches Dokument der geistigen Kämpfe zwischen Restauration und Revolution um 1848 und somit ganz und gar nicht anachronistisch. Will man Baudelaires Aufsatz in die Ideengeschichte der Gelotologie einordnen, so gehört er in die von Platon und Augustinus ausgehende und bis zu Hobbes reichende Argumentationstradition, die durch die Atmosphäre von Krieg und Bürgerkrieg geprägt ist, denn mit der Französischen Revolution hatte wieder einmal eine Phase gesamteuropäischer Bürgerkriege begonnen, die eine Rehabilitierung gerade dieser platonisch-augustinisch geprägten Argumentation mit sich brachte, von der sich die Heitere Aufklärung entschieden losgesagt hatte, die aber nunmehr wieder zum normativen Modell wurde, an der sich nahezu alle gelotologischen Entwürfe explizit oder stillschweigend orientierten. Außerdem ordnet sich Baudelaires Aufsatz durch seinen theologischen Ansatz auch sehr genau in die reaktionäre Politik der Pius-Päpste und ihrem Bestreben ein, die als »Aufkläricht« 1 denunzierte Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit all ihren Konsequenzen 1115 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Baudelaire

wieder zurückzunehmen. Wie sich diese Bestrebungen in der Wertschätzung des heiteren Lachens und der Eutrapelie auswirkte, zeigt ein kleines, aber höchst aufschlußreiches Detail, denn ganz so, wie Ambrosius in dem Augenblick, in dem das Christentum 391 zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben wurde, mit seinem Traktat De officiis ministrorum den eutrapelie-freundlichen Traktat De officiis von Cicero zurücknahm und damit das Lachen aus der Kirche verbannte, so verbannten auch die Päpste zur Zeit der Heiligen Allianz die Bogenschützen-Anekdote, mit der der Wüstenvater Antonius die Eutrapelie im Sinne Ciceros rechtfertigt, aus den Volksausgaben der Legenda aurea 2, weil sie keinen scherzenden und lachenden Wüstenvater Antonius dulden wollten. Baudelaires Aufsatz De l’essence du rire 3, den er 1845 begann und 1855 veröffentlichte, liest sich wie ein Versuch, nicht nur die Heitere Aufklärung zurückzunehmen, sondern die Aufklärung als ganze, und argumentiert deshalb ganz in den Bahnen christkatholischer Lachfeindschaft, die mit Johannes Chrysostomus und Aurelius Augustinus begann, von Bernhard von Clairvaux und Charles Bossuet weitergeführt wurde und mit den Pius-Päpsten des 19. Jahrhunderts immer noch nicht endete. Schon nach den ersten Sätzen möchte man meinen, ein Theologe habe ihn geschrieben, genauer: ein Vertreter der politischen Theologie der Gegenaufklärung zur Zeit der Heiligen Allianz. Deutlich wird dies in der engen Anlehnung Baudelaires an Joseph de Maistre (1753–1821), die sich nicht nur in diesem Aufsatz zeigt, sondern sich durch das ganze Werk Baudelaires zieht, denn nicht umsonst bekennt Baudelaire in seinem Tagebuch, de Maistre und Poe hätten ihm das Denken beigebracht (S. 401). Und so wie de Maistre in seinem Werk über den Papst 1812 schreiben konnte, das Wesen der Französischen Revolution sei »ein satanisches« 4, so schreibt auch Baudelaire in seinem Aufsatz, das Lachen sei seinem Wesen nach »satanisch« (S. 694). Er fügt allerdings gleich hinzu, »und deshalb zutiefst menschlich« (S. 694). Das hätte allerdings auch de Maistre von der Französischen Revolution sagen können, weil beides für beide aus ein und derselben Wurzel stammt, aus der Erbsünde und damit aus der satanischen Auflehnung gegen Gott. 1116 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!«

Aber, so wird man fragen, wieso sollte Baudelaires Aufsatz über das Wesen des Lachens in den Kontext der politischen Theologie der Gegenaufklärung gehören, da er doch gar kein politischer Text ist, zumindest auf den ersten Blick nicht. Das gilt es nun zu prüfen. 2.13.2 »Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!« Wie politische Theologie argumentiert, wird sofort deutlich, wenn man Edmund Burkes Darstellung der Französischen Revolution mit der von de Maistre vergleicht. Als Burke (1729–1797) seine Reflections on the Revolution in France 5 im Herbst 1790 abgeschlossen hatte, war der Prozeß der Revolution so weit fortgeschritten, daß die Menschen- und Bürgerrechte schon verkündet waren, und der damalige Papst sie schon feierlich verflucht hatte; das Feudalsystem und der erbliche Adel waren abgeschafft, die Klöster aufgehoben, die Kirchengüter schon verstaatlicht und zum Verkauf freigegeben und der König hatte schon vor der konstituierenden Versammlung den Eid auf die Nation abgelegt. Es bestanden also alle Chancen, daß Frankreich sich zu einer säkular ausgerichteten konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild hätte entwickeln können. Aber trotzdem war Burkes Ablehnung dieser Revolution umfassend und unerbittlich, weil er feststellen mußte, daß hier gesellschaftliche und politische Institutionen, die über Jahrhunderte hinweg entstanden waren, mit einem Federstrich beseitigt worden waren. Ob diese Institutionen überhaupt noch sinnvoll funktioniert hatten, fragte er nicht, und daß die Französische Revolution letztlich mit dem Staatsbankrott von 1788 begonnen hatte, der ja der Beweis dafür war, daß etwas faul war im Ancien Régime, und daß dieses System seine Unfähigkeit zu irgendwelchen Reformen deutlich genug bewiesen hatte, war für Burke ebenfalls keine Frage, der er hätte nachgehen wollen. Stattdessen läßt er in seinem Werk das vorrevolutionäre Frankreich in einem verklärenden Licht erscheinen, in dem es keinerlei Krisenbewußtsein gab, wenn er schreibt: 1117 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Baudelaire

»Es ist unleugbar, daß Europa im ganzen genommen an dem Tag, welcher die französische Revolution vollendete, in einem blühenden Zustand war.« (S. 133)

Und dann setzt er zu einer Hymne auf Ludwig XVI. an: »Niemals werde ich mich dazu überreden lassen, daß dieser Fürst, dessen ganze Regierung eine Reihe von Zugeständnissen war, der sich bereit erklärt hatte, seine Gewalt einzuschränken, einen Teil seiner Prärogationen aufzugeben, seinen Untertanen Freiheiten einzuräumen, die ihre Vorfahren nicht gekannt, vielleicht nie gewünscht hatten, daß ein solcher Fürst, sollte er auch Schwachheiten, die das Los der Menschen und Fürsten sind, unterworfen sein, sollte er auch beim Ausbruch verzweifelter Anschläge auf seine Person und auf die letzten Reste seiner Macht an gewaltsame Rettungsmittel gedacht haben, verdient hätte, der Gegenstand des grausamen und schimpflichen Triumphs zu werden. (…) Ich zittere für die Sache der Freiheit, wenn ich dies warnende Beispiel für Könige sehe.« (S. 139)

Burke meint hier den legendären »Aufstand der Weiber« vom 5./6. Oktober 1789, bei dem der König von Versailles nach Paris überführt worden war und der für ihn offenbar die zentrale Schockszene der ganzen Revolution bis 1790 darstellte, den er allerdings so entsetzt beschreibt, als wäre es der Sturm auf die Tuilerien vom 10. August 1792 oder gar die Enthauptung des königlichen Paares am 21. Januar 1793 gewesen. Obwohl Burke also das Ancien Régime und den König in einem allzu rosigen Licht zeigt und das alte Frankreich allzu romantisch verklärt, ist seine Argumentation zwar stockkonservativ und entsprechend verblendet, aber eindeutig politischer Natur. Ganz anders steht es um de Maistres Considérations sur la France 6 von 1797, die er zur Zeit der Direktorial-Verfassung und der napoleonischen Eroberungen schrieb, als das revolutionäre Frankreich auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Zwar hatte sich schon Burke über die antichristlichen und antikirchlichen Maßnahmen empört, die die Revolution im Gefolge der atheistischen Aufklärung durchgeführt hatte, weil er die Religion als ein proprium hominis ansah und in den Institutionen und Riten der katholischen Kirche alterwürdige kulturelle Traditionen erblickte, die es grundsätzlich zu schützen gilt, weshalb er schreibt: 1118 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!«

»Wenn wir also in einem Augenblick der Ausgelassenheit, sinnlos berauscht von den glühenden Essenzen, die jetzt in tausend Höllenküchen für Frankreich gesotten werden, unsre Blöße aufdecken wollten, indem wir eine Religion von uns stießen, die seither unser Ruhm und unsre Stütze und ein mächtiges Hilfsmittel der Kultur bei uns und so vielen anderen Kulturen war: – so würden wir zittern (denn eine gänzliche Leere wird das Gemüt nicht dulden), daß irgendein roher, verderblicher, erniedrigender Aberglaube sich einfände, um von ihrer Stelle Besitz zu nehmen.« (S. 151 f.)

Wenn Burke hier von »tausend Höllenküchen« spricht, so ist dies nichts als Metaphorik und rhetorisches Pathos, wie dies in politischen Pamphleten üblich ist. Aber wenn de Maistre von dem göttlichen und päpstlichen »Fluch« (S. 46) spricht, der auf der französischen Republik seit der Revolution und der Enthauptung des Königs laste, und davon, daß in der Französischen Revolution »etwas Teuflisches« (S. 47) liege, so ist das ganz und gar nicht metaphorisch zu verstehen und auch keine pathetische Rhetorik, sondern ganz wörtlich gemeint, weil de Maistre in der Französischen Revolution tatsächlich den Teufel am Werk sah, ganz so, wie seine Mentoren Augustinus und Bossuet 7 Gott in der Geschichte am Werk gesehen hatte. Somit argumentiert de Maistre letztlich auch nicht historisch-politisch, sondern heilsgeschichtlich bzw. unheilsgeschichtlich, weil politische Theologie dieser Art nicht konkrete individuelle historische Geschehnisse als Handlungen individueller Personen in konkreten politischen und gesellschaftlichen Situationen untersucht und beschreibt, sondern ein heilsgeschichtliches Gesamtszenario voraussetzt, in das diese konkreten historischen Ereignisse eingeordnet und gemäß den ideologischen Vorgaben dieses Szenarios gedeutet werden. Das für de Maistre verbindliche heilsgeschichtliche Szenario stammt letztlich von Augustinus, der es in seinem Gottesstaat als weltgeschichtliches Panorama entfaltet und reich bebildert, und läßt sich in aller Kürze auf die Formel bringen: • Erschaffung einer heilen Welt einschließlich des Menschen durch einen wohlwollenden und kompetenten Schöpfergott; • Sündenfall als Empörung der Schöpfung gegen ihren Schöpfer aus wahnhafter Selbstüberhebung; 1119 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Baudelaire

• Wiederherstellung des ursprünglich heilen Zustandes von Welt und Mensch durch einen Erlöser. Wird dieses heilsgeschichtliche Szenario auf konkrete historische Ereignisse als Deutungsvorlage angewendet, so setzt man beim zweiten Schritt an, d. h. beim unheilsgeschichtlichen Teilszenario innerhalb des heilsgeschichtlichen Gesamtszenarios, insgesamt aber gilt laut Schmidt-Biggemann: »Je historisch umfassender der Rahmen ist, in dem erzählt wird, desto abstrakter werden die Akteure. Das gilt für Nationalgeschichten, bei denen die Akteure immer für etwas (…) stehen, das gilt für internationale Geschichte, in denen die Hauptakteure etwa für Nationen oder Religionen stehen, und das gilt für Universalgeschichte, wo die Akteure die Menschheit oder den Glauben oder die Erlösung repräsentieren.« (S. 15)

Immer also stehen die Akteure »für etwas«, immer agieren sie nach dem Schema »figuram implere« 8, immer spielen sie einen primordial vorgegebenen Part, auch wenn sie dies nicht wissen, »damit erfüllet werde, was geschrieben steht« im vorgegebenen heilsgeschichtlichen Szenario, denn, so Schmidt-Biggemann, »es gibt in diesen Geschichten nur Akteure, die die heilsgeschichtliche Realität repräsentieren« (S. 12), nicht aber die individuelle geschichtliche Realität einschließlich der dort manifesten Interessen. Oder anders formuliert: »Die Figuren und die Geschichten der Heilsgeschichte haben deshalb gar keinen individuellen Charakter (sie haben auch keinen zu verlieren). Vielmehr sind sie Typen, die präsent bleiben und auf die sich die erzählten Geschichten je beziehen – sei es ektypisch, sei es antitypisch.« (S. 14)

Als unheilsgeschichtliches Teilszenario innerhalb des heilsgeschichtlichen Gesamtszenarios gilt seit Origenes und Augustinus der hoffärtige Aufstand Satans gegen Gott, der den anschließenden Sturz durch Gott zwingend nach sich zieht. In der ursprünglichen Fassung dieses Stoffes durch Origenes umfaßte der dritte Schritt des Gesamtszenarios sogar noch die Erlösung Satans, aber diese Apokatastasis-Lehre wurde schon bald als Häresie verurteilt, tauchte aber immer wieder auf und spielte, wie wir gesehen haben, auch noch im 18. Jahrhundert eine große Rolle. Nicht jedoch bei de Maistre, 1120 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

»Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!«

der sich strikt an Augustinus hält und wie dieser die ewige Verdammnis aller Aufrührer propagiert. Ja, de Maistre geht sogar so weit, auch jede Art von Unglück als gerechte Strafe Gottes zu erklären, denn unverschuldetes Unglück gibt es für ihn nicht, weil bei jedem Unglück Gott Rache an den Menschen übt und all diese Übel nur der Lohn für unsere Sünden 9 seien. Da der luziferische Aufstand gegen Gott und jede andere Art von Obrigkeit sich in der Geschichte laufend wiederholt, erfand Augustinus seine Theorie der beiden Reiche, die er unmittelbar im Anschluß an die Darstellung des Sündenfalls entwickelt und die darin besteht, daß die civitas dei und die civitas diaboli bzw. das obere und das untere Jerusalem neben einander bestehen und um den Vorrang streiten, wobei die civitas diaboli zwar immer wieder mal den Aufstand proben darf, die civitas dei sich jedoch letztlich immer als siegreich erweist. Es gibt bei Augustinus auch die Variante, daß der Gegensatz dieser beiden Reiche sich in zwei feindlichen Brüdern verkörpert, z. B. in Abel und Kain, Jakob und Esau oder Isaak und Ismael, von denen der eine von Gott erwählt und geliebt, der andere jedoch von vornherein verstoßen wird, und immer ist es so, daß der verstoßene gleichsam als der ewige Rebell gegen den von Gott geliebten Bruder und damit zugleich gegen Gott revoltiert, um dann aber um so tiefer zu stürzen. Für Joseph de Maistre war die Französische Revolution ein solches unheilsgeschichtliches Teilszenario als satanischer Aufstand gegen Gott, die Kirche, den Papst und den König und damit der Sündenfall der Weltgeschichte schlechthin. Und die Akteure der Revolution wie Robespierre oder Napoleon erschienen ihm, heilsgeschichtlich gesehen, nicht mehr als konkrete individuelle Personen in konkreten politischen Situationen, sondern als Masken Luzifers, die nach dem Prinzip »figuram implere« auf satanischen Bahnen wandelten, um dort ihren unheilsgeschichtlich vorgegebenen Part zu spielen. Für de Maistre fing die eigentliche Revolution mit der feierlichen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte am 26. August 1789 an, die ja auch vom damaligen Papst Pius VI. sofort als »widerchristlich« und »widernatürlich« in aller Form verworfen 1121 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wurden, und die Erklärung des Vatikans dürfte für de Maistre wohl die nachhaltigste Aufforderung gewesen sein, gegen die Revolution in Wort und Tat vorzugehen, denn auch er sah darin »den Ektypus des archetypischen Sündenfalls, in dem der Mensch glaubte, seine Existenz auf sich selbst zu gründen und sich von Gott emanzipieren zu können.« (Schmidt-Biggemann, S. 16)

Der Höhepunkt dieses Sündenfalls der Weltgeschichte war für ihn natürlich die Enthauptung des Königpaares am 21. Januar 1793, der die Gegenrevolution gemäß dem heilsgeschichtlichen Szenario unmittelbar erwarten ließ, und deshalb konnte de Maistre auch schreiben: »In der französischen Revolution liegt etwas Teuflisches, das sie von allem unterscheidet, was man bisher erlebt hat und noch erleben wird.« (S. 47)

Daß de Maistre hier so selbstgewiß Prophezeiungen wagt, entspricht ganz der Argumentationsweise politischer Theologie, weil das vorgegebene heilsgeschichtliche Gesamtszenario derartige Voraussagen explizit legitimiert, und weil auf den luziferischen Aufstand gegen Gott unweigerlich der Höllensturz der Rebellen folgen muß. Dies gilt auch für jeden einzelnen Akteur der Revolution. Also muß Robespierre auf dem Schafott enden, weil er durch die Einführung des luziferischen Kultes der menschlichen Vernunft sich gegen Gott erhoben hatte. Und Napoleon muß auf einer Insel im tiefsten Süden enden, weil er sich selbst zum Kaiser gekrönt und sich dadurch maßlosester Selbstüberhebung hingegeben hatte. Heilsgeschichtlich gesehen ist also jede Form luziferischer Selbstüberhebung jeder anderen analog und mit jeder anderen »gleichzeitig«, ob es sich nun um den Aufruhr der Massen beim Sturm auf die Bastille handelt oder um die Erklärung der Menschenrechte oder um die Selbstkrönung Napoleons oder um den Aufruhr des Fleisches beim Lachen – immer ist es laut Augustinus und seinem Gefolge letztlich nichts anderes als Ungehorsam gegen Gott. Bezogen auf den Staatskörper heißt dies: »Die königliche Majestät ist ein Ausfluß der göttlichen Allmacht: die Könige sind die Statthalter Gottes auf Erden; der Gehorsam des Untertanen ist eine religiöse Pflicht; denn die Idee der Autorität, das Prinzip der Ordnung ist göttlich.« 10

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»Wehe, ach wehe, Sturz wird dein Steigen!«

Noch deutlicher formuliert es der spanische Reaktionär Donoso Cortés 11, wenn er die Revolution von 1848 mit den Worten kommentiert: »Das Übel kommt nicht von den Regierungen, es kommt von den Regierten. Das Übel besteht bekanntlich darin, daß sich die Regierten allmählich nicht mehr regieren lassen.« (S. 67)

Die Gründe für dieses Übel liegen für ihn, genau wie für Augustinus und de Maistre, natürlich in der Erbsünde, wenn sie in Politik umgesetzt wird: »›Ihr werdet sein wie die Reichen!‹ So lautet die Parole sozialistischer Revolutionen gegen den Mittelstand. ›Ihr werdet sein wie die Adeligen!‹ So lautet die Parole des Mittelstandes gegen die Adeligen. ›Ihr werdet sein wie die Könige!‹ So lautet die Parole der Revolutionen des Adels gegen die Könige. (…) ›Ihr werdet sein wie die Götter!‹ So lautet die Parole der ersten Empörung des ersten Menschen gegen Gott selbst. Von Adam, dem ersten Empörer, bis auf Proudhon, den bislang letzten Gottesleugner, ist dies die Parole aller Revolutionen.« (S. 37)

Und bezogen auf den einzelnen Menschen heißt dies laut Augustinus: »Denn worin sonst besteht des Menschen Elend wenn nicht im eigenen Ungehorsam gegen sich selbst, da er nun will, was er nicht kann, während er einst nicht wollte, was er konnte? (…) Denn wer zählte es auf, wie vieles er will, was er doch nicht kann, weil er sich selbst nicht gehorcht, das ist, weil der Geist und das unter ihm stehende Fleisch seinem Willen nicht gehorcht? (…) Ist doch nicht zu bezweifeln, daß durch die Gerechtigkeit des Weltherrschers, dem wir nicht untertan sein und dienen wollten, uns nun das einst unterworfene Fleisch durch Unbotmäßigkeit lästig wird.« (Gottesstaat II,188 f.)

Da aber das heilsgeschichtliche Gesamtszenario den letztlichen Sieg der göttlichen Partei zwingend vorschreibt, gibt es immer noch Hoffnung, weil jede Revolution dieser Art letztlich doch durch eine Gegenrevolution im Namen Gottes triumphal niedergeschlagen wird, und deshalb endet de Maistres Buch über die Französische Revolution denn auch mit den Sätzen: »Die Franzosen können sich nicht genug mit dieser großen Wahrheit vertraut machen: die Wiederherstellung der Monarchie, die man Ge-

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genrevolution nennt, wird nicht eine entgegengesetzte Revolution sein, sondern das Gegenteil einer Revolution.« (S. 120)

Das Gegenteil einer Revolution deshalb, weil sie die Wiederherstellung der heilen Welt ist, gleichsam eine ins Politische gewendete Apokatastasis. Daß politische Theologie, methodologisch gesehen, eine der vielen Varianten von Historizismus im Sinne Poppers 12 darstellt, interessiert uns hier nur insofern, als diese Art von Argumentation besonders stark zur Typisierung der Phänomene und deshalb auch zu reduktionistischen Fragestellungen neigt, wenn man sie auf Phänomene überträgt, die eher eine systematisch orientierte Betrachtung verlangen. Auf diese Probleme sind wir schon im Kapitel 2.6.5.5 über Augustinus gestoßen, der das heilsgeschichtliche Teilszenario vom luziferischen Aufstand und Sturz Satans für die Deutung des Lachens instrumentalisiert und deshalb die Vielfalt des Lachens allein auf das höhnische Auslachen-von-oben reduziert hatte, also allein auf das biblische la’ag-Lachen, das allein Gott vorbehalten ist, jedem Menschen aber verboten werden muß, weil es nichts als luziferische Anmaßung bekundet. Lacht er dieses Lachen aber trotzdem, so ist dieses Lachen Aufstand und Absturz zugleich: Aufstand des Menschen gegen Gott, Aufstand des Fleisches gegen den menschlichen Willen und Absturz in die Tiefen der eigenen unverfügbaren Fleischlichkeit, also Selbstüberhebung und Selbstentmachtung zugleich. Dieser Argumentation begegnen wir auch bei Baudelaire als der Zugleichheit von Aufstieg zum Göttlichen und Absturz zum Satanischen, denn er entwirft in seinen Tagebüchern das Selbstporträt eines in sich zerrissenen Menschen, wie wir es auch aus dem Römerbrief des Apostels Paulus kennen, wenn er schreibt: »Es gibt in jedem Menschen immerfort zwei zugleich wirksame Bestrebungen: die eine zu Gott, die andere zu Satan. Die Anrufung Gottes, also die Spiritualität, ist das Verlangen, stufenweise aufzusteigen; die Anrufung Satans, also die kreatürliche Animalität, ist die Lust am Sturz. Und in der Liebe zu Frauen und im innigen Umgang mit Tieren, z. B. Hunden oder Katzen, manifestiert sich dieser Hang zum Animalischen.« (S. 409)

Wir werden aber auch sehen, auf welche Weise Baudelaire das heils1124 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das satanische Lachen

geschichtliche Szenario sprengt, im Rahmen dessen er auf den ersten Blick zu argumentieren scheint, indem er das unheilsgeschichtliche Teilszenario politischer Theologie zu einem umfassenden Gesamtszenario aus dem Geist der Gnosis erweitert, in dem jede Art von Erlösung der unheilen Welt ausgeschlossen ist. Hand in Hand damit ändert sich auch das Rollenfach der beiden Protagonisten dieses Szenarios: Gott bekommt die satanischen Züge des gnostischen Demiurgen, und Satan bekommt die Züge des edlen, doch ewig scheiternden tragischen Rebellen. Aber der fremde ErlöserGott der Gnosis tritt bei Baudelaire nicht auf, und so verharrt Baudelaire im ausweglosen Zustand der Akedia, die sich als »ma triste misère« wie ein dunkel tönender Bordun durch sein gesamtes Werk zieht und auch seine Sicht auf das Lachen prägt, denn so wie Baudelaire keinen Erlöser-Gott kennt, so kennt er auch kein erlösendes Lachen und schon gar keine Apokatastasis, in der »alles in einem« sein wird. De Maistres Gegenrevolution fand für ihn nicht statt. 2.13.3 Das satanische Lachen Ausgangspunkt für Baudelaires Abhandlung über das Wesen des Lachens ist das Komische in den bildenden Künsten, insbesondere in der Karikatur, die die Gestalt des Dargestellten ins Groteske verzerrt. Somit zielt Baudelaires Interesse zwar auf eine Ästhetik des Häßlichen, wobei er aber nicht das »nicht-häßliche Häßliche« Ciceros im Auge hat, sondern das wirklich Häßliche, dessen Wesen darin besteht, dem Menschen »seine eigene moralische und physische Häßlichkeit« (S. 690) und damit die satanische Signatur der Erbsünde vor Augen zu führen. Da auch das Lachen die Züge verzerren kann (vom Lächeln, das ein Gesicht verschönt, spricht Baudelaire nie), ist für Baudelaire ein Gesicht, wenn man lauthals lacht, ein zur Karikatur verzerrtes häßliches Gesicht und verweist durch diese Häßlichkeit auf die satanische Erbsünde. Aus diesem Grund beginnt Baudelaire seinen Essay mit dem Zitat: »Der Weise lacht nur zaghaft (qu’en tremblant).« (S. 691) Man könnte auch übersetzen: »Der Weise lacht nur mit Zittern und Zagen.« Und dann läßt er den Leser raten, von wem diese »selt1125 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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same und treffende Maxime« (S. 691) wohl stammen könnte. Aus den »salomonischen« Weisheitsschriften stamme sie nicht, obwohl sie dort sehr wohl stehen könnte. Von Joseph de Maistre, »diesem erleuchteten Streiter des Heiligen Geistes« (S. 691) stamme sie auch nicht, werde aber bei ihm irgendwo zitiert, aber wo dies der Fall ist, verrät Baudelaire nicht. Dann nennt er noch die Schriften der beiden Hofprediger Bossuet und Bourdaloue als mögliche Quellen, gibt aber auch hier die Quelle nicht an. Doch wenn Baudelaire fortfährt, möchte man erst vermuten, daß diese Maxime aus Bossuets Maximes sur la Comédie, seiner Polemik gegen das Theater Molières und Racines von 1694 stammen könnte, in der sich Bossuet immer wieder auf den Kampf der christlichen Kirchenväter Tertullian, Chrysostomus und Augustinus gegen die Schauspiele ihrer Zeit beruft. Die Formulierung orientiert sich aber an Psalm 2, 11, in dem der Psalmist fordert: »Dienet dem Herrn mit Furcht, und freuet euch mit Zittern«, und stammt von Louis Bourdaloue 13 und nicht von Bossuet. Baudelaire fährt fort: »Der Weise zittert davor, gelacht zu haben; der Weise fürchtet das Lachen so wie er die weltlichen Schauspiele, also die Begehrlichkeit (concupiscentia) fürchtet. Er betritt nicht die Gefilde des Lachens, genau so wie er die Gefilde der Versuchung meidet. Es gibt also für den Weisen einen gewissen geheimen Widerspruch zwischen seinem Charakter als Weisen und der grundsätzlichen Beschaffenheit des Lachens.« (S. 691)

Insbesondere aber gilt dies für den Weisen schlechthin, der »das fleischgewordene Wort« ist und »niemals gelacht hat« (S. 691), also für Jesus selbst. Baudelaire beruft sich somit auf das Bild Jesu, wie es bei Johannes Chrysostomus und im Lentulus-Brief gezeichnet und lange Zeit im christlichen Mittelalter überliefert worden ist, obwohl er den Namen Jesus strikt vermeidet, denn: »In den Augen dessen, der alles weiß und alles kann, gibt es das Komische nicht. Und trotzdem hat das eingeborene Wort den Zorn gekannt; ja es hat sogar die Tränen gekannt.« (S. 691)

Aber gelacht habe Jesus nie. Daß Baudelaire den Namen Jesus oder auch Jesus Christus so strikt umgeht, obwohl er doch eng der lachfeindlichen christlichen Argumentationstradition zu folgen scheint, hat Gründe, auf die wir später werden eingehen müssen, denn auch in seinen Dichtungen taucht Jesus fast nie auf, und dies deutet dar1126 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auf hin, daß Baudelaires Katholizismus eher ein »ruinöses Christentum« 14 ist, ein Christentum, das sich weit mehr am Gnostiker Marcion als an Thomas von Aquin orientiert, und an Guillaume de Conches schon gar nicht. Aus diesem Grund sind es auch eher die gnostisch beeinflußten Theologen der frühen Christenheit wie Paulus und Augustinus, von denen Baudelaire sein christliches Menschenbild und seine Sicht auf das Lachen bezieht, denn es heißt weiter: »Vom Standpunkt der orthodoxen christkatholischen Lehre aus gesehen ist es sicher so, daß das menschliche Lachen eng mit dem unheilvollen Widerfahrnis (accident) eines uranfänglichen Sturzes (chute), einer physischen und psychischen Degradation verknüpft ist, denn das Lachen, genau wie der Schmerz, bekundet sich durch Organe, in denen die Verfügungsmacht und das Wissen um gut und böse wohnen: in den Augen und im Mund. Im irdischen Paradies (…), d. h. in dem Milieu, in welchem dem Menschen alles Erschaffene als gut erschien, zeigte sich die Freude nicht im Lachen. Da keine Sorge ihn bedrückte, war das Gesicht des Menschen entspannt (simple) und unverstellt, und das Lachen, das heute die Menschen in Wallungen bringt, verzerrte nicht seine Züge. Gelächter und Tränen gibt es im Paradies der Freuden nicht. Beide sind Kinder des Schmerzes, denn es gibt sie erst, seit der entnervte menschliche Körper nicht mehr die Kraft hat, sie zurückzuhalten. Laut meinem christlichen Philosophen (und das kann nur Augustinus sein) ist das Lachen seiner Lippen ebenso das Zeichen großen Elends wie die Tränen seiner Augen. Das Wesen, das im Menschen sein Ebenbild schaffen wollte, hat ihm zwar nicht das Gebiß des Löwen verliehen, aber trotzdem ist es so, daß der Mensch mit seinem Lachen beißt (que l’homme mord avec le rire).« (S. 691 f.)

In dieser Passage, dem theologischen Kern von Baudelaires Theorie des Lachens, wird einerseits deutlich, wie eng sich Baudelaire am Gottesstaat des Augustinus orientiert, denn dort heißt es im 14. Buch, vor dem Sündenfall habe es keine Affekte, keine Leidenschaften, auch keine Gebrechen gegeben, die den Menschen hätten heimsuchen können, und deshalb auch keinen »Aufruhr des Fleisches« (II,154 ff.), also auch keinerlei Art von Gelächter: »Ungetrübt war die Liebe zu Gott und der Gatten untereinander, die in inniger, treuer Gemeinschaft lebten, und aus dieser Liebe erwuchs die

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schönste Freude, da, was geliebt ward, stets auch genossen werden konnte. In ruhiger Sicherheit ward die Sünde gemieden, und solange dies andauerte, konnte nirgendwoher ein Übel, das Trübsal verursacht hätte, hereinbrechen. (…) So glücklich wie sie damals waren, als noch keine Leidenschaften ihre Seelen verwirrten, keine Gebrechen ihren Leib heimsuchten, ebenso glücklich wäre das ganze Menschengeschlecht gewesen, hätten sie nicht das Böse getan, das sie dann (durch die Erbsünde) auf ihre Nachkommen übertrugen. (…) Dann hätte dieses Glück fortgedauert.« (II,177 f.)

Zugleich mit dem Sündenfall, der Vertreibung aus dem Paradies und der Last der Erbsünde änderte sich jedoch alles mit einem Schlag: Der Aufruhr des Fleisches, der Ungehorsam des Menschen gegen Gott und sich selbst wird nun zum Dauerzustand sowohl im Menschen selbst als auch in der Welt, manifestiert sich als Kampf der beiden einander feindlichen Gesinnungen und bestimmt von nun an den Lauf der Weltgeschichte: »Demnach wurden die zwei Staaten durch zweierlei Liebe begründet, die irdische durch Selbstliebe, die sich bis zur Gottesverachtung steigert, die himmlische durch Gottesliebe, die sich bis zur Selbstverachtung erhebt. Jener rühmt sich seiner selbst, dieser ›rühmt sich des Herrn‹ (2. Kor.10,17). (…) Jener erhebt in Selbstruhm sein Haupt, dieser spricht zu seinem Gott: ›Du bist mein Ruhm und hebst mein Haupt empor.‹ (Ps.3,4) In jenem werden Fürsten und unterworfene Völker durch Herrschsucht beherrscht, in diesem leisten Vorgesetzte und Untergebene einander in Fürsorge und Gehorsam liebevollen Dienst.« (II,210 f.)

Und im Geiste de Maistres könnte man fortfahren: Jener verkündet stolz die Menschenrechte, dieser erfüllt seine Pflicht als Untertan seiner Könige und Päpste in freudigem Gehorsam. So gelesen argumentiert Baudelaire also noch ganz in der Spur von Augustinus, Bossuet und de Maistre, aber mit dem letzten Satz sprengt er den von seinen Mentoren vorgegebenen Rahmen in einer Art, vor der sich alle drei wohl entsetzt hätten, denn wenn Baudelaires Schöpfergott im Menschen, der mit dem Lachen beißt, ein Ebenbild seiner selbst geschaffen hat, dann beißt doch wohl auch dieser Gott, wenn er lacht, und dann ist sein Lachen einzig das biblische la’ag-Lachen, das sadistische vernichtungslüsterne Aus1128 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lachen-von-ganz-oben, das auch Hiob an seinem Gott entdeckt (Hiob 9,23), das aber auch Miltons Satan seinem göttlichen Gegner zuschreibt, und das Miltons Jesus sogar ausdrücklich billigt, denn Milton legt ihm im fünften Buch die Worte in den Mund: »Mächtiger Vater, nur gerecht verhöhnst Du deine Widersacher und verlachst In Ruhe ihre eitlen Machenschaften Und eitel Pochen, die mir ja zum Ruhm, Da mich ihr Haß verherrlicht, nur gereichen, Wenn sie an mich die königliche Macht Verliehen sehen, ihren Stolz zu fällen, Und es sich weisen wird, ob ich geschickt, Deine Rebellen unter dich zu zwingen.« 15

Baudelaires Gottesbild gleicht dem der Gnosis, wie es v. a. Marcion gezeichnet hat, das Bild eines eifersüchtigen, sadistischen und widergöttlichen Demiurgen, dessen Schöpfung ein pfuscherhaftes Machwerk ist. Oder anders formuliert: Baudelaires Gott ist eine Bestie und hat sich im bissig-bestialisch lachenden Menschen sein Ebenbild geschaffen, und deshalb kann Baudelaire auch sagen, dieses Lachen sei seinem Wesen nach »satanisch« und auch das Komische und Groteske müsse man als satanisch bezeichnen, als ein »verdammungswürdiges Element«, das »einer der deutlichsten satanischen Züge des Menschen« (S. 692) sei. Man könnte aber sagen, Baudelaire habe hier das Gottesbild seines Mentors Augustinus bis zur Kenntlichkeit verzerrt, indem er dessen gnostischen Kern enthüllt. So verstehe ich auch Kurt Flasch, der in seinem Augustinus-Buch die »gnadenlose Gnadenlehre« dieses Kirchenvaters ausführlich darstellt und dann als Bilanz seiner Erbsünden-Lehre schreibt: »Der Gott Augustins nimmt Züge persönlicher Willkür an. Er wird einem spätantiken Imperator immer ähnlicher. Man muß es noch deutlicher sagen: Er wird ein Ungeheuer. Er will nicht, daß alle Menschen gerettet werden. Er erschafft die Mehrheit der Menschen nur zu dem Zweck, um an ihren Höllenqualen seine Gerechtigkeit zu demonstrieren.«16

Und schließlich könnte man auch sagen, Augustinus habe sich dieses Ungeheuer von Gott nach seinem eigenen Bild geschaffen. Dies 1129 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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könnte man aber ebenso von Baudelaire sagen, der in manchen seiner Tagebuchnotizen selbst als Ungeheuer erscheint, wenn er z. B. Überlegungen anstellt, wie eine »hübsche Verschwörung zur Vernichtung der Jüdischen Rasse (extermination de la Race Juive)« (S. 424) aussehen könnte. Ganz im Sinne von Augustinus und Hobbes führt Baudelaire seinen Gedankengang dann fort, indem er Lachen auf das höhnische Auslachen-von-oben reduziert, das für Augustinus und offenbar auch für Baudelaire immer zugleich ein kynisches Auslachen Gottes von unten ist, also ein Akt dreistester Anmaßung, denn er behauptet, diese Deutung, das Lachen bekunde letztlich nur die eigene Überlegenheit, sei »die einhellige Meinung der Physiologen des Lachens« (S. 693), um dieses »monströse Phänomen« (S. 693) auf den Begriff zu bringen. Diese Behauptung konnte er sogar mit einigem Recht aufstellen, denn kurz vor seinem Aufsatz hatte Paul Scudo eine Studie über das Lachen veröffentlicht, in der er in Anlehnung an Hobbes die These vertritt, hervorgerufen werde das Lachen »durch eine Unzulänglichkeit, von der wir uns ausgenommen dünken. Im Lachen bekunden wir also unsere Überlegenheit und verletzen die Selbstachtung der andern. Man lacht also immer auf Kosten eines andern.« 17

Diese These wird später auch Bergson vertreten und von Adorno dafür auf das heftigste gerügt werden, denn für den Gnostiker Adorno gibt es kein wahres Lachen im Falschen, weshalb er im Hinblick auf Bergson und Baudelaire schreibt: »In der falschen Gesellschaft hat Lachen als Krankheit das Glück befallen und zieht es in ihre nichtswürdige Totalität hinein. Das Lachen über etwas ist allemal das Verlachen, und das Leben, das da Bergson zufolge die Verfestigung durchbricht, ist in Wahrheit das einbrechende barbarische, die Selbstbehauptung, die beim geselligen Anlaß ihre Befreiung vom Skrupel zu feiern wagt. Das Kollektiv der Lacher parodiert die Menschheit. Sie sind Monaden, deren jede dem Genuß sich hingibt, auf Kosten jeglicher anderen, und mit der Majorität im Rückhalt, zu allem entschlossen zu sein. Das Teuflische des falschen Lachens liegt eben darin, daß es selbst das Beste, Versöhnung, zwingend parodiert.« 18

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Die Argumentation Scudos ist Baudelaire aber nicht genau genug, weshalb er hinzufügt, es sei nicht unsere faktische Überlegenheit über einen andern, die uns ihn auslachen läßt, sondern: »Es hätte heißen müssen: Das Lachen resultiert aus der Idee der eigenen Überlegenheit. Was für eine satanische Idee, wenn es denn je eine solche gegeben hat! Hoffart (orgueil) und Selbstverkennung (aberration)!« (S. 693)

Aus diesem Grund ist Lachen, reduziert auf das Auslachen-vonoben, für Baudelaire nichts als »Irrnis (folie) und maßloser Größenwahn (supériorité outre mesure)« (S. 693). Anders hätten auch Platon und Augustinus nicht argumentiert und auch nicht der »Montesquieu« von Poinsinet. Ganz im Sinne von Augustinus, für den die Anmaßung des Lachens ja immer zugleich auch die peinliche Erfahrung von Selbstentmachtung ist, fährt Baudelaire deshalb fort, indem er dessen theologische und pönitentialkasuistische Argumentation in den medizinischphysiologischen Jargon des 19. Jahrhundert übersetzt: »Und in der Tat: Gibt es denn ein markanteres Zeichen der Entmachtetheit (débilité) als eine Konvulsion der Nerven, einen unverfügbaren, dem Niesen vergleichbaren Spasmus, dessen Ursache und Anlaß der Anblick fremden Unglücks ist? Dieses Unglück resultiert fast immer aus einer Schwäche des Geistes (faiblesse d’esprit). Aber gibt es etwas Beklagenswerteres als eine Schwäche, die sich über die Schwäche eines andern lustig macht?« (S. 693)

Dann beschreibt und analysiert Baudelaire den Sturz eines Passanten auf der Straße, bei dem sich der Gestürzte sogar verletzt, die Umstehenden jedoch trotzdem lachen, und erklärt diese Reaktion damit, daß diese Passanten sich im Genuß ihrer augenblicklichen Erhabenheit über den Gestürzten geradezu wälzen, wenn sie auf Kosten dieses andern lachen können: »Ich bin ja nicht hingefallen; ich gehe ja noch aufrecht einher; ich stehe ja noch fest auf beiden Beinen, und mir würde so was Dummes doch nie passieren.« (S. 693)

Wenn wir diese Analyse der Reaktion auf den Sturz eines andern mit der vergleichen, die Laurent Joubert in seinem Traktat 19 vorgelegt hat, sehen wir sofort, wie ungleich differenzierter Joubert argumentiert, weil er von den unterschiedlichen Einstellungen der 1131 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Unfallzeugen zum Unfallopfer ausgeht und daraus ableitet, ob sie überhaupt lachen und wenn ja, auf welche Weise. Und wenn wir damit wiederum Henri Bergsons Analyse einer analogen Szene 20 vergleichen, so sieht man wiederum, wie dogmatisch Bergson bei allen Unfallzeugen eine »vorübergehende Anästhesie des Herzens« (S. 15) voraussetzt, wenn sie mit ihrem höhnischen Gelächter auf den Gestürzten gleichsam einbeißen, weil es für Bergson ausschließlich dieses spezifische mitleidlos zubeißende Lachen gibt und es ein anderes gar nicht geben kann: »Ausgesprochen gefühlvolle Seelen dagegen, in denen jedes Erlebnis seinen sentimentalen Nachhall findet, werden das Lachen (nicht etwa: dieses Lachen) weder kennen noch begreifen.« (S. 14)

Die archetypische Szene eines Sturzes und das aggressiv zubeißende Lachen der Umstehenden hat auch Elias Canetti vor Augen, wenn er zu seiner Analyse des Lachens ansetzt, wobei er aber das Aggressions-Szenario Baudelaires und Bergsons grotesk überbietet, wenn er schreibt: »Das Lachen ist als vulgär beanstandet worden, weil man dabei den Mund weit öffnet und die Zähne entblößt. Gewiß enthält das Lachen in seinem Ursprung die Freude an einer Beute oder Speise, die einem als sicher erscheint. Ein Mensch, der fällt, erinnert an ein Tier, auf das man aus war und das man selbst zu Fall gebracht hat. Jeder Sturz, der Lachen erregt, erinnert an die Hilflosigkeit des Gestürzten; man könnte es, wenn man wollte, als Beute behandeln. Man würde nicht lachen, wenn man in der Reihe der geschilderten Vorgänge weitergehen und sich’s wirklich einverleiben würde. Man lacht, anstatt es zu essen. Die entgangene Speise ist es, die zum Lachen reizt.« 21

Canetti versteht das aggressiv zubeißende Lachen wohl als eine Folge von Übersprungbewegungen im Sinne der Ethologie, die »eine Reihe von inneren Schlingbewegungen des Leibes zusammenfassend ersetzen« (S. 248). Und dann führt er als Beweis für seine ulkige Theorie auch noch als argumentatorische Gruselnummer die Hyänen an, weil diese angeblich lachen, wenn man ihnen einen Bissen hinhält und ihnen den dann doch wieder entzieht. Deshalb lieber zurück zu Baudelaire! Für Baudelaire ist das satanische Lachen zwar nur jenes Lachen, das »all die melodramatischen Ungläubigen, all die Verfluchten und 1132 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Verdammten (anschlagen), fatal gezeichnet durch ein Lachmaul (rictus), das von einem Ohr zum andern reicht« (S. 693 f.); da wir aber, laut Augustinus, alle durch die Erbsünde gezeichnet sind, ist es letztlich doch das Lachen schlechthin. Und dann fügt er, indem er einen ganz neuen Gedankengang beginnt, noch hinzu: »Und im übrigen sind sie fast alle legitime oder auch illegitime Wiedergänger des berühmten Wanderers Melmoth, der großen satanischen Schöpfung des Reverend Maturin.« (S. 694)

Charles Robert Maturins Schauerroman Melmoth der Wanderer von 1820 war für Baudelaire das Meisterstück der »satanischen Schule« der Schwarzen Romantik, von der er glaubte, sie allein habe »das primordiale Gesetz des Lachens« (S. 693) wirklich verstanden und gültig dargestellt, womit er natürlich allein das satanische Lachen meint. Baudelaire hätte auch schreiben können, alle, die diese satanische Lache anschlagen, seien Masken des ewigen Wanderers Melmoth, die nach dem Prinzip »figuram implere« in dessen Spuren wandeln, wobei Melmoth selbst wiederum nach demselben Prinzip in den Spuren Satans wandelt und dessen satanisches Lachen lacht. Aber welcher Satan ist hier gemeint? Der Satan, der sich noch voller Anmaßung gegen Gott auflehnt und gegen ihn rebelliert? Oder der nach seiner Rebellion stürzende? Oder aber der schon gestürzte Satan, der seinen Sturz jedoch nicht ergeben hinnimmt, sondern weiterhin gegen Gott rebelliert mit dem Wissen, daß er der ewig scheiternde Rebell bleiben werde, also ein Satan in den Spuren des Sisyphos? Eine Antwort auf diese Fragen finden wir, wenn wir einen Blick in John Miltons Epos Paradise Lost (1684) werfen, das Baudelaire sehr geschätzt haben muß, weil er in den Tagebüchern vermerkt, Miltons melancholischer Satan sei für ihn »der vollkommenste Typus männlicher Schönheit« (S. 394). Milton beschreibt in seinem Epos, in dem er u. a. auch die eigenen Erfahrungen als Parteigänger Cromwells während der puritanischen Revolution reflektiert, den Aufstand Satans und seines Gefolges gegen Gott und die daraus sich ergebenden Folgen für die Menschheit ganz so, wie er dies bei Augustinus lesen konnte, aber mit einer deutlichen Sympathie für diesen Rebellen Satan. Die für uns und sicher auch für Baudelaire 1133 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zentrale Stelle des Werks ist der berühmte Schurken-Monolog im vierten Buch, in dem der schon gestürzte Satan Gott, die Welt, alles Gute und eben auch sich selbst verflucht: »So sei denn seine (Gottes) Liebe nun verflucht, Da Liebe oder Haß, so oder so, Mir gleicherweise ewig Leiden schafft. Nein, dir sei Fluch; da gegen seinen Willen Der deine frei erkor, was ihn nun reut. Ich Unglückseliger! Wo entflieh ich, ach, Endlosem Zorn, unendlicher Verzweiflung? Wohin ich flieh, ist Hölle, ich bin Hölle; Und in der tiefsten Hölle lauert stets Noch eine tiefere und tut sich auf Und droht, mich zu verschlingen, gegen die Die Hölle, die ich leide, himmlisch scheint.« (S123)

Dann aber reißt er sich zusammen und bäumt sich erneut auf: »Oh, so erweiche ich; ist nirgendwo Weder für Reue noch Vergebung Platz? Nirgends, es denn durch die Unterwerfung, Und dieses Wort verbietet mir der Stolz. (…) Doch angenommen, Ich könnte büßen, und ein Akt der Gnade Erhöbe mich auf meinen alten Stand, Wie bald entspränge da dem hohen Rang Der Geist hochfahrend wieder, und wie bald Würd’ ich meineidig des verfluchten Schwurs Der Unterwerfung! (..) Es kann nie Wahre Versöhnung wachsen, wo die Wunden Tödlichen Hasses einst so tief geschürft, Das müßte nur zu schwerem, neuem Sturz Und schlimmerem Rückfall führen, und es wäre Mit Überqual die kurze Ruh’ erkauft. Dies weiß mein Peiniger, und so ist er denn auch So weit davon entfernt, den Frieden mir Zu geben, wie ich es bin, darum zu flehen: Und nun jedwede Hoffnung ausgeschlossen, (…) So lebe wohl die Hoffnung, und mit ihr

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Fahr hin die Furcht und fahre hin die Reue: Denn alles Gute ist für mich dahin. Böses, sei du mein Gutes!« (S. 124 f.)

Wenn man will, beginnt mit diesem Satans-Monolog die École du Mal in der europäischen Literatur. Baudelaire dürfte es wohl so gesehen haben, weshalb er von Miltons Satan nicht weniger fasziniert war als von Maturins Melmoth und von Poes Verbrechern. Die Affektlage, die Milton seinem Satan hier verleiht, ist denn auch genau die, aus der auch das gallbittere und verzweifelt höhnische satanische Lachen entspringt, denn Milton fährt kommentierend fort: »So sprechend, wallte jede Leidenschaft Ihm dreimal ins Gesicht: der bleiche Zorn, Der Neid und die Verzweiflung.« (S. 125)

Dies gilt auch für das Lachen Melmoths, das genauso gallbitter, genauso voller Zorn und Qual ist wie das des Miltonschen Satan, und Baudelaire fügt noch den Aspekt hinzu, Melmoths Gelächter sei »das notwendige Ergebnis seiner Natur, die, gemessen am Menschen unendlich erhaben ist, gemessen an Gott jedoch unendlich niedrig und gemein« (S. 694), und somit sei Melmoth »ein wandelnder Widerspruch« (S. 694): »Er hat sich aus den fundamentalen Gesetzen des menschlichen Lebens verabschiedet; seine Organe ertragen sein Denken nicht mehr, und das ist der Grund dafür, daß dieses sein Gelächter solche Schmerzen bereitet und uns im Innersten gefrieren läßt.« (S. 694) »Denn es ist ein Lachen, das niemals erlischt; wie eine Krankheit, die unerbittlich voranschreitet und den ihr vorgegebenen Verlauf nimmt. So erfüllt auch das Lachen Melmoths, das die äußerste Bekundung von Hoffart ist, beständig seine Funktion, indem es die Lippen dessen zerbeißt und versengt, der gezwungen ist, dieses Lachen zu lachen.« (S. 694)

Daß Melmoths Lachen, wie Baudelaire sagt, an ihm selbst nagt, ihn selbst verletzt und niemals erlischt, daß es also den uroborischen Impuls nicht kennt, kennzeichnet es als ein unerlöst pathologisches, da es nicht sich selbst uroborisch verzehrt, sondern statt dessen den Lachenden angreift und diesen verzehrt, und illustriert dadurch deutlich die Unerlöstheit und Unerlösbarkeit dieser Gestalt, die auch die erlösende contritio 22 nicht kennt, sondern nur die ewig nagende Seelenqual der akedia. 1135 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Aus all dem zieht Baudelaire ganz im Sinne Augustins die reduktionistische Bilanz, alles Lachen sei, wie das Lachen Melmoths, satanisch, aber auch zugleich »zutiefst menschlich«: »Es resultiert aus der tief im Menschen schlummernden Vorstellung seiner eigenen Überlegenheit, und in der Tat: so wie das Lachen wesenhaft menschlich ist, ist es auch wesenhaft ambivalent, d. h. es ist die Signatur seiner unendlichen Größe, und zugleich die Signatur seiner unendlichen Misere, und das wiederum heißt: seiner unendlichen Misere bezogen auf das höchste Seiende (Être absolu), das er sich vorstellen kann, und seiner unendlichen Größe bezogen auf die Tiere. Und der beständige Zusammenprall (choc) dieser beiden Unendlichkeiten ist die Quelle des Lachens. Denn das Komische, das, was uns zum Lachen bringt, wohnt im Lachenden selbst, und ganz und gar nicht im risiblen Objekt.« (S. 694)

Mit dem Hinweis auf die »unendliche Misere« meint Baudelaire natürlich die Erbsünde, auf die Baudelaire in Anlehnung an seine zeitgenössischen Mentoren Joseph de Maistre und Edgar Allan Poe auch in seinem übrigen Werk immer wieder zu sprechen kommt. Am nachdrücklichsten geschieht dies in dem Essay über Poe, von dem er ja vieles übersetzte, wenn er auf Poes Erzählung The Imp of the Perverse 23 zu sprechen kommt und dort die »natürliche Perversität des Menschen« exemplarisch dargestellt findet, »die ihn unaufhörlich zum Mörder und Selbstmörder, zum Verbrecher und Henker macht« (S. 591), aber auch zum Lachenden, der mit seinem Gelächter aggressiv um sich beißt und sogar ins eigene Fleisch. Der Schauerroman Melmoth der Wanderer 24 des irischen Geistlichen Charles Robert Maturin (1780–1824) ist ein typisches Produkt der Schwarzen Romantik 25, zu der auch die Werke von Byron, Blake, Shelley, Lewis, Hoffmann und Klingemann gehören, und in der der Teufel eine neue literarische Karriere 26 erlebt, nachdem ihn die Aufklärung aus der Literatur verbannt hatte. Melmoth, ein fanatisch wissensdurstiger Astrologe, hat seine Seele dem Teufel verschrieben, um sich alles Wissen der Welt zu sichern, kann aber aus diesem Pakt wieder aussteigen, wenn er jemanden findet, der statt seiner in diesen Pakt eintritt, weshalb er überall nach Personen sucht, die verzweifelt genug sind, um zu diesem Schritt verleitet 1136 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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werden zu können. Am Ende wird er aber schließlich doch vom Teufel geholt und noch auf dem Sterbebett liegt ihm sein satanisches Lachen als »gespenstisches Grinsen« (S. 898) festgefroren auf dem Gesicht. Somit hat Melmoth Züge des Teufelsbündlers Faust, des ewigen Juden, des Don Giovanni und eben auch Züge des Miltonschen Satan. Was diesen ewigen Wanderer für die Zeitgenossen der Schwarzen Romantik so unheimlich und zugleich so faszinierend machte, war vor allem sein Gelächter, das im Roman zum ersten Mal ertönt, als Melmoth den Tod eines Liebespaares, das vom Blitz erschlagen wird, mit einem satanischen Hohnlachen kommentiert. Dieses Lachen hallt dann wie ein immer wiederholtes Echo durch den gesamten Roman und wird beschrieben als »laut, unbändig und lang anhaltend« (S. 52), als »grauenhaft und undeutbar« (S. 76), als »hemmungslos, mißtönend und unnatürlich« (S. 564), als »schrecklich und bitter« (S. 632) und »grausig« (S. 964) und immer wieder als »gespenstisch« (S. 898) und »voller Selbstverachtung« (S. 562). An zentraler Stelle heißt es dann über Melmoth: »Er lachte jenes schreckliche Gelächter, darin sich Leichtsinn und Verzweiflung mischen, und das den Hörer im Zweifel läßt, ob sich Verzweiflung da vor Lachen schüttelt, oder dies Lachen an sich selbst verzweifelt.« (S. 632)

Denn: »Die Leichtfertigkeit seines Sarkasmus stand ja im geraden furchtbaren Verhältnis zu dem Maß seiner Verzweiflung. Mag sein, daß dies auch unter weniger entsetzlichen Umständen, bei weniger grausamen Charakteren der Fall ist. Solche lustlose Heiterkeit ist ja nur zu oft die Maske, hinter welcher sich die verkrampften, verzerrten Züge der Seelenpein verbergen – und jenes Gelächter, das niemals ein Ausdruck von Begeisterung oder des Entzückens gewesen, es ist häufig genug die einzige verständliche Sprache des Irrsinns und der Verzweiflung. Die Verzückung, sie lächelt bloß – die Sprache der Verzweiflung aber ist das (wohl besser: dieses) Lachen.« (S. 642)

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Charles Baudelaire

2.13.4 Das gnostische Lachen Einem Gelächter dieser Art sind wir zur Zeit der Aufklärung zum ersten Mal im verzweifelten Auflachen Tellheims begegnet, das Minna so entsetzt, weil sie darin einen Ausbruch an Menschen-, Welt- und Selbsthaß erblickt, doch dieses Lachen Tellheims löst sich alsbald in erlöste Heiterkeit auf, weil sich alles zum Guten wendet. Ganz anders lacht am Vorabend der Französischen Revolution Mozarts sanguinischer Sünder Don Giovanni, der in seinem Übermut alle Autoritäten verlacht und ohne jede Reue zur Hölle fährt, aber auch hier sorgt die Dramaturgie des Stücks dafür, daß die moralische Weltordnung letztlich unangetastet bleibt. In der Epoche der Schwarzen Romantik nach der Französischen Revolution und mitten in der Epoche allumfassender Restauration wird dieses Haß-Lachen Tellheims jedoch notorisch, und dies deutet darauf hin, daß hier ein tiefer mentalitätsgeschichtlicher Bruch stattgefunden haben muß, der auch und vor allem das Lachen überformte. Dieses schwarze Lachen der Schwarzen Romantik ertönt, so weit ich sehe, zum ersten Mal 1804 in den Nachwachen des Bonaventura von August Klingemann 27, wo der Nachtwächter in der vierzehnten Nachtwache die heile Welt der Theodizee-Ideologie als notorisch lachender gnostischer Demokrit höhnisch verlacht, wenn er ausruft: »Wo giebt es denn überhaupt ein wirksameres Mittel jedem Hohne der Welt und selbst dem Schicksale Troz zu bieten, als das Lachen? Vor dieser satanischen Maske erschrickt der gerüstetste Feind, und selbst das Unglück weicht erschrocken von mir, wenn ich es zu verlachen wage! – Was beim Teufel, ist auch diese ganze Erde, nebst ihrem empfindsamen Begleiter dem Monde, anders werth als sie auszulachen – ja sie hat allein darum noch einigen Werth weil das Lachen auf ihr zu Hause ist. Es war alles auf ihr (als der angeblich besten aller Welten) so empfindsam und gut eingerichtet, daß es dem Teufel, der sie einst zum Zeitvertreibe sich beschaute, zum Ärger gereichte; um sich an dem Werkmeister (dem göttlichen Demiurgen des Alten Testaments aus der Sicht der Gnosis) zu rächen, schickte er das Gelächter ab, und es wußte sich geschickt und unbemerkt in der Maske der Freude einzuschlei-

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Das gnostische Lachen

chen, die Menschen nahmen’s willig auf, bis es zuletzt die Larve abzog und als Satire sie boshaft anschaute. – Laßt mir mein Lachen mein lebelang, und ich halte es hier unten aus!« (S. 173 f.)

Ob Maturin, als er seinen Melmoth-Roman schrieb, diesen Text gekannt hat, weiß ich nicht zu sagen, aber wenn Melmoth selbst sein Lachen kommentiert, dann klingt dies fast wie ein Echo von Bonaventuras und Don Giovannis Gelächter, wenn er höhnt: »Ich lache über diese Menschheit, ich lache über ihre schale Heuchelei, mit der sie es wagt, ihr Herz zur Schau zu stellen! Ich lache über ihre Leiden, ihre Sorgen! Die Tugenden und Laster sind mir eins, die Religion ist mir ein Gelächter so gut wie alle Ehrfurchtslosigkeit!« (S. 389)

Das Echo dieser Stelle in Maturins Roman ist wieder der Ausbruch von Haß gegen das unschuldige Naturkind Immalee, das bereit ist, sein Los mit Melmoth zu teilen, denn hier ruft Melmoth: »So hasse mich denn, verfluche mich! (…) Hasse mich, dieweil auch ich dich hasse, – so wie ich alles Lebendige hasse, – und alles Tote, so haßerfüllt und gehaßt wie ich bin!« (S. 578)

Auf eine vergleichbare Haß- und Lach-Arie sind wir im 18. Jahrhundert allenfalls im Schurken-Monolog Franz Moors gestoßen, den man wiederum als Echo des Schurken-Monologs von Miltons Satan und seiner Maxime »Böses, sei du mein Gutes!« verstehen darf, denn wenn Schillers Franz Moor seinen großen SchurkenMonolog mit einem grellen Lachen einleitet und am Ende seines Monologs zu dem Entschluß kommt, alles auszurotten, was ihn daran hindert, Herr über alles zu sein, so spricht aus ihm derselbe Menschen-, Welt- und Selbsthaß als der notorische Haß des Ungeliebten, der sich schließlich selbst richtet und unversöhnt stirbt. Eine vergleichbare Lach-Arie voller Welt-, Gott- und Menschenverachtung haben wir aber auch schon in den frühen Zeugnissen der Gnosis im Zweiten Logos des großen Seth kennengelernt, in denen der gnostische Seth-Christus die gesamte jüdisch-christliche Heilsgeschichte mit einer demokritischen LachArie 28 verhöhnt, die in den Sätzen gipfelt: »Ja, zum Lachen war dieser Archon selbst (der Gott der Juden), der da sagte: ›Ich bin Gott, und es gibt keinen, der größer ist als ich. Ich allein bin der Vater; und es gibt keinen anderen außer mir. Ich bin ein eifersüchtiger Gott, der ich bringe die Sünden der Väter über die Kinder

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bis zu drei und vier Generationen.‹ Und so (..) hielten wir seine Lehre nieder, weil er aufgeblasen ist in eitlem Ruhm und nicht übereinstimmt mit unserem Vater. Ja, zum Lachen war es, ein (Selbst-)Gericht und falsche Prophetie.« 29

Diese verblüffende Analogie zwischen der Gnosis zur Zeit der frühen Christenheit und der Schwarzen Romantik deutet darauf hin, daß der mit der Französischen Revolution verbundene mentalitätsgeschichtliche Bruch offensichtlich zu einer Renaissance gnostischer Denkweise geführt hat. Das heißt aber nicht, daß die Französische Revolution selbst diese Renaissance der Gnosis bewirkt hätte oder gar diese selbst gewesen sei, sondern nur, daß erst deren Deutung als Sündenfall der Weltgeschichte durch die politische Theologie der katholischen Gegenrevolution in der Art von Joseph de Maistre und seiner Gefolgsleute 30 dies bewirkt hat, zu denen eben auch Baudelaire zählte, als er seinen Aufsatz über das Wesen des Lachens 1845 begann. Aber war er auch noch ein treuer Anhänger de Maistres und seiner politischen Theologie, als er diesen Aufsatz nach der Revolution von 1848 und nach dem Staatstreich des Louis Bonaparte von 1851 veröffentlichte? Manches spricht dafür, manches spricht aber auch entschieden dagegen. Dafür spricht, daß er im Demokratieverächter Poe einen ganz nahen Geistesverwandten sah, de Maistre und Poe des öfteren in einem Atemzug nennt (S. 592, S. 401) und deren Erbsünden-Lehre uneingeschränkt gutheißt. Dafür spricht auch, daß er Molière wegen seines Tartuffe als »Canaille« (S. 421) bezeichnet. Eindeutig dagegen spricht, daß Baudelaire bei der Revolution von 1848 selber auf der Barrikade stand und eine ganze Reihe von Gedichten schrieb, bei deren Lektüre sich sein Mentor de Maistre sicher vor Entsetzen bekreuzigt hätte. Ich meine damit Gedichte wie Un fantôme (S. 28), L’Héautontimorouménos (S. 57), L’Irrémédiable (S. 58), La Destruction (S. 82) und Le Rebelle (S. 126), vor allem aber die Gedichte Le Possédé (S. 28), Le Reniement de saint Pierre (S. 90), Abel et Caïn (S. 91 f.) und Les Litanies de Satan (S. 92 f.), in denen der Aufstand gegen den jüdisch-christlichen Gott proklamiert und Satan als der neue Erlöser gefeiert wird, denn dort heißt es an exponierter Stelle: 1140 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Ô mon cher Bélzebuth, je t’adore!« (S. 28)

Und: »Race de Caïn, au ciel monte Et sur la terre jette Dieu!« (S. 92)

Und: »Ô Satan, prends pitié de ma longue misère!« (S. 92 f.)

Und schließlich gibt es auch noch das große Gedicht Le Cygne (S. 63 f.) als Baudelaires elegisch-melancholischen Schwanengesang auf die Revolutionsepoche 1848–1852, das Baudelaire Victor Hugo gewidmet hat. Wie paßt das zusammen? Wolfgang Fietkau, Oskar Sahlberg und Peter Fischer 31 ernennen Baudelaire zu einem Anarchisten und einem wesentlich politischen Dichter, indem sie in Baudelaires Aufruf, Kain solle den biblischen Gott vom Thron stürzen, nur eine Metapher für den politisch-weltlichen Aufstand gegen Thron und Altar sehen. Jean-Paul Sartre 32 argumentiert psychologisch, sieht in Baudelaires widersprüchlichem Verhalten eher eine infantil masochistische Tendenz am Werk und bezeichnet ihn deshalb als ein ewig nach Schuld und Bestrafung lüsternes Kind, das nie richtig erwachsen (S. 36) wurde, denn »Baudelaire ging es nämlich weniger darum, erlöst, als darum, gerichtet zu werden« (S. 40), gerichtet von wem auch immer: von der Mutter, vom Stiefvater, vom Vormund, vom weltlichen Richter, von der Akademie, von einem gnadenlosen Gott: »Er rief nach ihrer Peitsche.« (S. 34) Und dies sei auch der Grund dafür, daß er diese Vorliebe gerade für scheiternde Rebellen wie Miltons Satan gehabt habe, denn: »Der Revolutionär will die Welt verändern; er überschreitet sie in Richtung auf die Zukunft, in Richtung auf eine Weltordnung, die er selbst erfindet. Der Aufrührer aber sorgt dafür, daß die Mißstände, unter denen er zu leiden hat, bestehen bleiben, damit er sich weiterhin gegen sie auflehnen kann.« (S. 36)

Mit dieser Entscheidung, nicht Revolutionär zu werden, sondern ewiger Rebell zu bleiben, habe Baudelaire seine »Urwahl« getroffen: »Indem er sich für das Böse entschied (wozu laut Sartre eben auch die Teilnahme an der Revolution von 1848/52) gehörte), hat Baudelaire gewählt, sich schuldig zu machen, sich schuldig zu fühlen.« (S. 53 f.)

Genau dies, meint Sartre, bedeute die Wendung »la conscience dans le Mal«. 1141 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Gerhard Zacharias ordnet Baudelaire in die Tradition des literarischen Satanskultes 33 ein, der im 19. Jahrhundert v. a. in Italien und Frankreich betrieben wurde, und weist darauf hin, daß sich 1846 in Paris eine Gruppe von jungen Leuten gebildet habe, die jeden Sonntag regelrechte Satansmessen (S. 126 ff.) veranstaltet hätten, daß Baudelaire dieser Gruppe eng verbunden gewesen sei und seine Litanies de Satan in diesem Kontext entstanden seien. Ein Blick in die Hymnen Ad Arimane von Giocomo Leopardi und A Satana von Giosuè Carducci (S. 130 ff.) zeigt aber, daß in diesen aggressiv blasphemischen Hymnen Satan zwar als der Gott des Bösen (dio del male) (S. 131) besungen wird, daß diese Hymnen aus dem Geist der Freimaurerei aber die atheistische Variante der Aufklärung verkünden und verwirklichen wollten, wenn es bei Carducci z. B. heißt »Salute, o Satana, O ribellione, O forza vindice De la ragione« (S. 138),

da dieser Satan eben als die rächende Macht der aufgeklärten Vernunft verstanden, angerufen und gepriesen wird. Von alledem ist Baudelaires Anrufung Satans weit entfernt, denn Baudelaire wollte eben gerade nicht die Aufklärung weiterführen und damit zugleich die Sündenfall- und Erbsünden-Lehre des Augustinus zurücknehmen, sondern sie gnostisch überbieten. Man könnte auch sagen: Auf die »katholische Verschärfung« (Carl Schmitt) der politischen Theologie der Gegenrevolution und Restauration durch Joseph de Maistre folgt durch Baudelaire deren gnostische Überbietung mit der Konsequenz, daß nun nicht mehr die Französische Revolution als der politisch-religiöse Sündenfall der Weltgeschichte gilt, sondern die Welt selbst der kosmische Sündenfall des Schöpfergottes ist, denn nun erscheint der biblische Schöpfergott genauso als Täter und Opfer eines primordialen Sündenfalls wie Satan und Adam bei Augustinus. So formuliert es Baudelaire denn auch in den Intimen Tagebüchern: »Was ist der Sündenfall (la chute)? – Wenn er die zur Zweiheit entzweite Einheit ist, dann ist es Gott selbst 34, der gefallen ist (qui a chuté). Oder mit anderen Worten: Wäre dann die Schöpfung nicht überhaupt der Sündenfall Gottes?« (S. 413)

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Mit dieser gnostischen Überbietung der politischen Theologie der Gegenrevolution ist Baudelaire also entschlossen aus dem Schatten seines Mentors Joseph de Maistre herausgetreten, obwohl er weiterhin dessen Wortschatz und Denkmodelle verwendet, denn durch diese gnostische Überbietung schrumpft das unheilsgeschichtliche Teilszenario des heilsgeschichtlichen Gesamtszenarios zu einer eher unbedeutenden Episode inmitten eines unheilsgeschichtliches Gesamtszenarios, das man nicht weiter ernst nehmen muß: Denn was ist schon dieser vermeintlich weltgeschichtliche Sündenfall wie die Französische Revolution gemessen am kosmischen Sündenfall dieser ganzen Welt anderes als ein maßlos übertriebener lächerlicher Zwischenfall? Eine weitere Konsequenz dieser gnostischen Überbietung politischer Theologie besteht darin, daß auch jeder Rebell gegen diese lächerliche Welt des lächerlichen biblischen Schöpfergottes zu einem lächerlichen Helden wird, genauso lächerlich wie jeder, der eine derart lächerliche Revolution durch eine genauso lächerliche Gegenrevolution wieder zurücknehmen will. Ist Miltons ewig erfolglos rebellierender Satan noch eine Gestalt, die nach all ihren Niederlagen immer noch voller Stolz und Selbstachtung von unten zu sich selbst aufschaut, so ist der Baudelaire nach dem Staatsstreich von Louis Bonaparte ein geschlagener Rebell, der genau wie Rameaus Neffe mit einem höhnisch verächtlichen Grinsen von unten auf sich herabschaut, und so formuliert er es auch in seinen Intimen Tagbüchern: »Mein Rausch von 1848. Von welcher Art war dieser Rausch eigentlich? – Rachsucht. Kreatürliche Lust am Zerstören. Literaten-Betroffenheit und angelesenes Zeug aus zweiter Hand. Der 15. Mai (der Aufstand des Proletariats von Paris unter der Führung von Blanqui gegen das eben gewählte bürgerliche Parlament). Immer diese Lust am Zerstören, eine legitime Lust, insofern alles Natürliche auch legitim ist. Der Schrecken des Juni (die Niederschlagung dieses proletarischen Aufstands). Wahnsinn des Volkes und Wahnsinn der Bourgeoisie. Kreatürliche Lust am Verbrecherischen. Meine Wut beim Staatsstreich (durch Louis Bonaparte am 2. 12. 1851). Wie ich im Gewehrfeuer meinen Mann gestanden habe! Und dann noch ein Bonaparte! Was für eine Schande! (…)

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1848 war nur deshalb amüsant, weil jeder seinen Utopien und Luftschlössern nachjagte. Der Reiz von 1848 war nichts als ein Exzeß an Lächerlichkeit.« (S. 407)

Und zwar ein Exzeß an Lächerlichkeit, der nach dem Staatsstreich von Louis Bonaparte in der Tat noch überboten wurde, als diese operettenhafte Gestalt sich auch noch als Napoleon III. zum Kaiser krönen ließ, aber fortan nur »das Napoleonerl« (le petit Napoléon) genannt wurde, weshalb Karl Marx 35 diese pompöse Inszenierung denn auch als »Farce« bezeichnete und das Napoleonerl als »Idioten«. Lächerlich ist ein Rebell aber vor allem dann, wenn er glaubt, im Bewußtsein des Bösen auf beiden Seiten der Barrikade zugleich stehen zu können, denn Sartres Baudelaire-Bild erscheint noch plausibler, wenn man sich die Notizen durchliest, die Baudelaire 1865 sich für ein geplantes Buch über Belgien und die Belgier gemacht hatte. Im Epilog zu diesen Notizen, in denen er seinem unendlichen Abscheu gegenüber den Belgiern freien Lauf läßt, weil Belgien ihm als das Land erscheint, zu dem auch Frankreich geworden wäre, wenn das Regime des Bürgerkönigtums durch die Revolution von 1848 nicht weggefegt worden wäre, findet sich nämlich ein außerordentlich erhellendes politisches Bekenntnis, das Fietkau auch zitiert, obwohl es eigentlich gegen sein eigenes Baudelaire-Bild spricht, denn dieses politische Selbstbekenntnis ist so ambivalent, wie es die conscience dans le Mal und die mauvaise foi laut Sartre überhaupt nur sein können, denn Baudelaire schreibt da: »Wenn ich zustimme, Republikaner zu sein, so tue ich das Böse mit vollem Bewußtsein. Ja! Trotzdem! Aber ich, ich bin nicht der Genasführte, ich bin es nie gewesen! Ich sage ›Es lebe die Revolution!‹ Wie ich sagen würde ›Es lebe die Zerstörung! Es lebe die Sühne! Es lebe die Bestrafung! Es lebe der Tod!‹ Nicht nur, daß ich glücklich wäre, Opfer zu sein, ich würde es nicht hassen, Henker zu sein, um die Revolution von beiden Seiten zu fühlen.« (S. 377)

Diese Selbsteinschätzung Baudelaires als lächerlichen Rebellen auf beiden Seiten der Barrikade bestätigt sich weiterhin, wenn wir unsere Fragestellung nun wieder etwas enger fassen und danach fragen, in welcher Art bei all diesen so disparaten Zeugnissen das Lachen sonst noch thematisiert wird, da es uns ja nicht um eine 1144 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Deutung von Leben und Werk Baudelaires geht, sondern in erster Linie um eine Analyse seines Aufsatzes über das Wesen des Lachens. So ist z. B. im ersten Sonett des großen Gedichts Un fantôme die Rede von einem »Dieu moqueur«, der mit sadistischer Freude einen Künstler dazu verurteilt, sein eigenes Herz zu kochen und zu fressen und sich somit als Selbstquäler und Selbsthenker an seiner Kunst und durch seine Kunst selbst zu verzehren, genauso wie Melmoth dies durch sein Lachen tut, das an ihm nagt und ihm die Lippen zerfetzt, anstatt sich selbst uroborisch zu verzehren. Und das Gedicht über den Heautontimoroumenos endet mit der zornigen Klage, zu einem ewigen, nie enden wollenden Lachen (rire éternel) verdammt zu sein, aber nicht einmal lächeln zu können. Hier nimmt Baudelaire eine oben zitierte Passage aus Maturins Roman (S. 642) auf, in der es heißt, Seligkeit bekunde sich im Lächeln, die Sprache der Verzweiflung aber sei das satanische Lachen. Wie das Lachen des ewigen Wanderers Melmoth ist also auch das hier angesprochene Lachen wieder ein Lachen ohne uroborischen Impuls und ohne kathartischen Effekt, also das unerlöst verzweifelte Lachen der Acedia. Mit anderen Worten: Baudelaire entwirft hier das Bild eines richtenden Gottes, das wir aus dem Buch Hiob, aus den Texten der Gnosis, aus den Schriften Marcions 36, aus der gnadenlosen Gnadenlehre des Kirchenvaters Augustinus 37 und aus Miltons Epos kennen, das Bild eines satanisch bösartigen sadistischen Ungeheuers, gemessen an dem der christliche Satan geradezu in mildem Licht erscheint. Deshalb heißt es wohl auch in den letzten Versen des Gedichts L’Irrémédiable (Das Unheilbare), angesichts dieses unheilbaren Geschicks müsse man sich zu der Einsicht durchringen: »Was Satan tut, ist wohlgetan« (à penser que le Diable / Fait toujours bien tout ce qu’il fait) (S. 58), und deshalb wiederum bleibe als Ruhm und Trost nur noch die Wahl, ein ironisch-satanisches Leuchtfeuer von Satans Gnaden anzufachen und im vollen Bewußtsein seiner Verdammtheit durch den christlichen Gott trotzig ergeben im Bösen zu verharren. Was also bleibt, ist tatsächlich nur noch »la conscience dans le Mal« (S. 59). Genau dies ist ja auch die Urwahl von Miltons Satan, Klingemanns Bonaventura und Maturins Melmoth. 1145 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Karl Rosenkranz, der seine Ästhetik des Häßlichen 38 vier Jahre vor Baudelaires Fleurs du Mal veröffentlichte, schreibt dort über das ästhetisch Böse in einer Art, daß man glauben möchte, er habe Baudelaires Gedichte schon gelesen, denn wir lesen da über das satanistische Programm: »Das Diabolische an und für sich, wie es sich frank und frei als dasselbe weiß und will und bekennt und wie es an der hämischen Zerrüttung der göttlichen Weltordnung sein Wohlgefallen hat, können wir das Satanische nennen.« (S. 341)

Denn: »Nur als selbstbewußtes Zerrbild des an sich in ihm daseinsollenden göttlichen Urbildes ist es möglich. Es erinnert sofort an das Gute, dessen Vernichtung seine Lust ist; es grinst es als den Widersinn an; es fletscht ihm die Zähne entgegen – aber es kann nicht von ihm loskommen, denn wenn das Gute nicht wäre, wäre es selber gar nicht.« (S. 340 f.)

2.13.5 Problemgeschichtlicher Rückblick auf das schwarze Lachen Wenn man dieses schwarze Lachen bis zu seinem problemgeschichtlichen Ursprung in der Neuzeit 39 zurückverfolgt, zeigt sich alsbald, daß es mit tiefen politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen engstens verknüpft ist und somit auch selbst eine geschichtliche Entwicklung hat. Es liegt nahe, daß satanisches Gelächter vornehmlich in explizit christlicher Dichtung ertönt, die ohne Satans-Gestalten ja schlecht denkbar ist. Daß diese Gestalten aber nicht nur als zu verlachende lächerliche Gestalten dargestellt werden, sondern als lachende, und dieses Gelächter auch noch ein trotzig-höhnisches ist, verrät, daß der christliche Wertekosmos irgendwelche Risse und Schrammen bekommen haben muß und problematisch geworden war. Und so ist es sicher kein Zufall, daß John Milton sein überaus frommes Epos Paradise Lost als Echo der Englischen Revolution von 1648/49 schrieb, die in der Hinrichtung des Königs Karl Stuart ihren Höhepunkt fand, und daß Klopstock in seinem Messias, 1146 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Problemgeschichtlicher Rückblick auf das schwarze Lachen

den er in den späten 1740er Jahren begann, den Schock von Lissabon (1751) zu verarbeiten hatte, durch den auch das ideologische Gebäude der Theodizee in sich zusammenkrachte. In beiden Epen geht es um den Aufruhr gegen Gott und in beiden Epen wird deshalb auch das schwarze blasphemische Lachen zum Thema gemacht. So empören sich z. B. in Miltons Epos die satanischen Rebellen immer wieder dagegen, daß ihr Gott inmitten seiner himmlischen Heerscharen sie von oben herab schadenfroh auslacht: »So standen sie und höhnten gutgelaunt Uns aus, denn unter ihnen wuchs bereits Der Übermut des zweifellosen Sieges. Sie glaubten sich mit der Erfindung schon In dem Besitze ewiger Macht und lachten.« 40

Das Lachen, das hier gelacht wird, ist natürlich das la’ag-Lachen Jahwes über all seine Gegner und Rivalen, die den Aufstand gegen ihn proben, das wir aus dem zweiten Psalm kennen: »Warum toben die Heiden, und die Völker reden so vergeblich? Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Herren ratschlagen miteinander wider den Herren und seinen Gesalbten: ›Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile!‹ Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, der Herr spottet ihrer. Er wird einst mit ihnen reden in seinem Zorn, und mit seinem Grimm wird er sie schrecken.« (Psalm 2,1–5)

Wird diesem unendlich überlegenen Auslachen-von-ganz-oben ein satanisches oder gar ein menschliches Trotz-Lachen entgegengesetzt, so kann dies nur ein Trotz-Lachen ewig und notwendig scheiternder Rebellen sein, das bitter und gallig klingt, denn aus ihm spricht, wie Satan es selbst in seinem großen Monolog bekennt, nichts als »der bleiche Zorn, der Neid und die Verzweiflung.« (S. 125) Ganz so sieht es auch Helmuth Plessner, denn für ihn ist dieses »hohle, harte, gequälte Lachen widernatürlich, höllisch, weil es nach Trotz, Hohn oder Betrug klingt.« (VII,327) Laut Klopstock herrscht in der Hölle »zischender Spott und brüllendes Höllengelächter« (II,127) als Echo des la’ag-Lachens, das der biblische Gott von oben ertönen läßt, und deshalb lachen auch alle satanischen menschlichen Rebellen in seinem Epos dieses 1147 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachen. Das gilt v. a. für den Hohepriester Philo am Ende des 13. Gesangs, als er sehen muß, daß das Grab Jesu leer ist und der derart vom Tode Auferstandene, den er lange mit all seinem Haß verfolgt hatte, tatsächlich der Messias gewesen sein muß. Nach dieser Niederlage kann er sich nur noch unter »fürchterlichem Gelächter« (II,147) umbringen: »Er reißt dem Hauptmann sein Schwert von den Hüften und stößt sich’s Wüthend ins Eingeweide mit beiden Armen hinunter, Schleudert es weit von sich weg und taumelt nieder zu sterben. Als er sich wälzt’ in rauchendem Blute, riß er die Wund’ auf, Spritzete Blut gen Himmel: Ha, Nazaräer, ruft er, Starb.« (II,149)

Mit diesem Selbstmord Philos ist für Klopstock die vorgegebene göttliche Ordnung denn auch wieder hergestellt, genauso wie in Miltons Epos der Aufstand Satans gegen Gott erfolgreich niedergeschlagen worden war. Klopstock geht aber noch weiter und inszeniert im 19. Gesang ein Apokastasis-Szenario, in dem dem satanischen Empörer die göttliche Gnade zuteil wird: »Komm, Abbadonna, zu deinem Erbarmer!« (III,117) Dieser überaus versöhnliche Schluß, der um 1770 geschrieben wurde und die durch den Schock von Lissabon problematisch gewordene Theodizee-Ideologie nicht nur wieder sanieren, sondern sogar noch theologisch-poetisch überbieten sollte, liest sich in dem hier skizzierten problemgeschichtlichen Kontext so, als habe Klopstock genau wie Johann Peter Uz die Zweifel am Walten eines gerechten und gütigen Gottes mit aller Macht niederschlagen wollen und zugleich damit auch Albrecht von Hallers quälende Frage: »Hat seinen Kindern Gott kein besser Glück gegönnt? Hat er es nicht gewollt, hat er es nicht gekönnt?« 41

Für Lessings Tellheim stand fest, daß es diesen gerechten und gütigen Gott, »der alles so herrlich regieret«, nicht gibt oder auch nicht mehr gibt, zumindest nicht mehr für ihn, und deshalb verlacht er zum Entsetzen Minnas in seinem gellenden Gelächter diesen Gott der Theodizee-Ideologie. Daß der reitende Bote am Ende des Stücks dann doch wieder alles ins Lot bringt und Tellheim Gerechtigkeit widerfährt, liest sich fast wie eine Parodie auf die Theodizee, 1148 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das verächtliche Lächeln des Dandys

die nun selbst Gegenstand des Spottes geworden ist. Und damit wäre, zumindest für Tellheim, eine der beiden Fragen Hallers beantwortet: Er hat es vielleicht doch nicht gekönnt. Mit Friedrich Maximilian Klingers dunklen Helden Guelfo in dem Sturm-und-Drang-Drama Die Zwillinge (1776) und Friedrich Schillers Franz Moor in den Räubern (1781) tauchen dann satanisch-blasphemisch lachende Gestalten im Gefolge von Miltons Satan und Klopstocks Philo auf, die mit ihrem Gott noch härter ins Gericht gehen, wie schon Hiob dies getan hatte, weil sie ihn als ungerecht, ja geradezu als Sadisten empfinden, sodaß für sie feststeht: Er hätte es wohl gekonnt, hat es aber nicht gewollt! Nach der Französischen Revolution verdüstert sich dieses Gottesbild weiter ins Gnostische, weil dieser gnostisch gesehene Gott als bösartiger Pfuscher erscheint, der es weder will noch kann, und deshalb seine Geschöpfe inmitten eines lächerlichen Machwerks von Welt sadistisch quält. Dieser gnostisch gesehene Gott wird dann von den Gestalten der Schwarzen Romantik und der école du mal in bester kynischer Tradition verhöhnt und verlacht, und wer dieses schwarze Hohngelächter anschlägt, verhöhnt, verlacht und verachtet zwangsläufig auch sich selbst, weil er es sich nicht verzeihen kann, daß er diesen Gott überhaupt noch ernst nimmt. 2.13.6 Das verächtliche Lächeln des Dandys Was bleibt bei so viel Lächerlichkeit, Verzweiflung und Selbstverachtung noch übrig an Möglichkeiten für Gelächter jenseits des Heiteren? Eigentlich nur noch das blasiert-verächtliche Lächeln des Dandys, das wir von Baudelaire bis herauf zu Thomas Manns Adrian Leverkühn42 finden, denn wenn Leverkühn sagt, »Es soll nicht sein. Ich will es zurücknehmen«43, so meint er damit eben nicht nur Beethovens neunte Symphonie und Schillers Ode an die Freude, sondern das heitere Lachen insgesamt, das er selbst nie lachen konnte. So gesehen schließt Thomas Manns Faustus-Roman die Serie der Werke ab, die das »Verlorene Lachen« (Keller) zum Thema machen. 1149 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Baudelaire

Diesen Weg in die Sackgasse elitärster Verstiegenheit wählte schon Baudelaire und rechtfertigt diese Lebensform um 1860 in einer ganzen Reihe von Aphorismen und einem kurzen Essay, in dem er den Dandysmus als den ästhetizistischen Protest gegen die alles nivellierende Demokratie darstellt, in der das völlig mißlungene Werk des biblischen Schöpfergottes seinen Höhepunkt gefunden habe. Und auch diese Lebensform bekundet sich, wie wir sehen werden, in einem ganz spezifischen Lachen von reduzierter Intensität, aber hoher Verfügbarkeit: »Der Mann mit Geld und Muße, der bei aller Blasiertheit mit nichts anderem beschäftigt ist, als seinem Glück nachzuspüren; der im Luxus aufgewachsen und von Jugend an gewohnt ist, daß man ihm gehorcht; und schließlich der Mann, dessen einzige Berufung im Kult seiner Eleganz besteht, – dieser Mann wird sich stets durch seine besonderte, durch und durch einzigartige Aura (physiognomie) auszeichnen. Das Dandytum ist eine gesellschaftlich nur ungenau bestimmte Institution, ebenso absonderlich (bizarre) wie das Duell; es ist sehr alt, weil Caesar, Catilina und Alkibiades uns dafür eklatante Beispiele liefern; es ist sehr allgemein verbreitet, weil Chateaubriand es auch in den Wäldern und an den Ufern der Großen Seen in der Neuen Welt (in der Gestalt des Edlen Huronen) angetroffen hat. Obwohl das Dandytum außerhalb des bürgerlichen Gesetzes steht, ist es doch eine Existenzform mit ganz eigenständigen strengen Gesetzen, denen all ihre Adepten unterworfen sind, so leidenschaftlich und eigenwillig sie ansonsten auch sein mögen. (…) Ein Dandy hat keine andere Aufgabe als die, in seiner Person die Idee des Schönen zu kultivieren, seinen Lüsten zu frönen, all seine Sinne zu bemühen und all dies in höchster Bewußtheit zu tun. Er hat also all die Zeit und all das Geld in Hülle und Fülle, um all diese Lüste zu befriedigen, denn ohne dieses Vermögen müßte er sich mit längeren Gedankenspielen zufrieden geben. (…) Doch hängt der Dandy nicht am Geld um des Geldes willen; ihm würde schon ein unbeschränkter Kredit genügen, denn die ordinäre Gier nach Geld überläßt er den gewöhnlichen Sterblichen. Das Dandytum besteht nicht einmal, wie viele gedankenlose Leute zu glauben scheinen, in einem übermäßigen Hang zur Pflege der äußeren Aufmachung und zur Eleganz der Erscheinung. All dies ist für den perfek-

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Das verächtliche Lächeln des Dandys

ten Dandy nur von symbolischer Bedeutung, um die aristokratische Überlegenheit seiner Gesinnung zu demonstrieren. (…) Und diese besteht in der brennenden Sorge (besoin ardent) um Originalität, um Einzigartigkeit im Rahmen dessen, was sich ziemt. Das Dandytum ist also eine Art Kult seiner selbst, der über der Suche nach dem Glück steht, das in einem anderen Menschen, z. B. einer Frau, zu finden wäre, ja der sogar über alledem steht, was man Illusionen nennt. Dandytum ist der Genuß daran, andere in Erstaunen zu stürzen und die hochmütige Befriedigung darüber, selbst nie erstaunt zu sein. Ein Dandy kann ein blasierter, er kann sogar ein leidender Mensch sein, aber selbst wenn er leidet, wird er dies lächelnd ertragen wie jener Spartaner, als der Fuchs ihn beißt.« (S. 806 f.)

Wie man sieht, haben wir im Dandy 44 wieder eine neue Variante des stoischen Weisen vor uns, der das horazisch-stoische Ideal »nil admirari« mit geradezu religiöser Inbrunst in einem narzißtischen Kult ausagiert. Soziologisch gesehen könnte man aber auch sagen, der Dandy sei der perfekte absolutistische Höfling, allerdings ein Höfling ohne Hof und ohne König und mit all den Tabus, denen der absolutistische Höfling unterworfen war, aber auch mit all den Privilegien, die er hatte, um auch in demokratischen Zeitläuften weiterhin eine parasitäre Existenz führen zu können. Wenn man mit Baudelaire den Dandy als »rebellisch oppositionellen Charakter« (S. 806) versteht, ist der Dandy gleichsam der »Rebell nach oben«, genauer: der Rebell von oben aus der angemaßten Höhe einer »neuen Aristokratie« (S. 807) und somit das Gegenstück zum Proletarier als »Rebellen von unten«, und deshalb vergleicht Arnold Hauser mit Recht den stoischen Dandy mit dem kynischen Bohemien als seinem Gegenstück am anderen Rand der Gesellschaft und schreibt, der Dandy sei »der nach oben deklassierte bürgerliche Intellektuelle, während der Bohemien der zum Proletariat herabgesunkene Künstler ist. Die gewählte Eleganz des Dandys erfüllt die gleiche Funktion wie die Verwahrlosung und Verlotterung der Boheme. Sie verkörpern den gleichen Protest gegen die Routine und die Trivialität des bürgerlichen Lebens. (…) Für Baudelaire ist der Dandy die lebende Anklage gegen die nivellierende Demokratie. Er vereinigt für ihn sämtliche heute noch möglichen Herrentugenden in sich; er ist jeder Situation gewachsen

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und ist über nichts erstaunt, er wird nie vulgär und bewahrt stets das kühle Lächeln des Stoikers. Das Dandytum ist die letzte Offenbarung des Heroismus in einer Zeit der Dekadenz, ein Sonnenuntergang, ein letzter leuchtender Strahl des menschlichen Stolzes.« 45

Baudelaires Zeitgenosse Karl Rosenkranz erkennt im Dandy vor allem das satanische Element. Deshalb verweist er zunächst auf die großen Schurken der Literatur wie z. B. Judas, Richard III., Marinelli, Franz Moor, Wurm, Roquairol und Manfred, fügt dann aber hinzu, deren Bosheit werde von bestimmten Typen durch deren unersättlichen »Hunger nach Ichheit« (S. 357) noch weit übertroffen, weil in ihnen »der Mensch selber zum Teufel wird« (S. 357), denn »nicht einzelne Momente des Bösen kommen hier ins Spiel, wie Wollust, Herrschsucht u. dgl., sondern der Abgrund der absoluten, bewußten Selbstsucht« (S. 357), was für Rosenzweig absolut verwerflich ist: »In jenen handelnden Bösewichtern ist noch eine gewisse naive Gesundheit des negativen Prinzips, in diesen kontemplativen Teufeln aber geht das Böse durch das sophistische Spiel einer schlechten, hohlen Ironie in eine scheußliche Verwesung über. Aus den unruhig ermatteten, genußgierig impotenten, übersättigt gelangweilten, vornehm zynischen, zwecklos gebildeten, jeder Schwäche willfahrenden, leichtsinnig lasterhaften, mit dem Schmerze kokettieren Menschen der heutigen Zeit hat sich ein Ideal satanischer Blasiertheit entwickelt, das in den Romanen der Engländer, Franzosen und Deutschen mit dem Anspruch auftritt, für edel gehalten zu werden, zumal diese Helden gewöhnlich viel reisen, sehr gut essen und trinken, die feinste Toilette machen, nach Patschouli duften und elegante weltmännische Manieren haben. Aber diese Noblesse ist nichts als die jüngste Form der anthropologischen Erscheinung des satanischen Prinzips.« (S. 357 f.)

Man könnte in Baudelaires Dandy aber auch den stoisch-aristokratischen Zwillingsbruder von Stirners kynisch-plebejischem Einzigen sehen, denn Max Stirner beschreibt in seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum von 1844 diesen Einzigen ebenfalls als Abgrund der absoluten, bewußten Selbstsucht mit einem unersättlichen Hunger nach Ichheit, also als »den Eigner seiner selbst«, der genauso entschlossen wie der Dandy der luziferischen 1152 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das verächtliche Lächeln des Dandys

Maxime »sicut ille sub nullo« 46 folgt und genauso entschlossen wie dieser den narzißtisch-autistischen Kult seiner selbst betreibt, mit dem Unterschied jedoch, daß Baudelaires Dandy sich selbst feiert, Stirners Einziger sich jedoch selbst uroborisch verzehrt, denn Stirners Apotheose des Einzigen endet mit den Sätzen: »Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigartigkeit und erbleicht vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell’ Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner selbst, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen: Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt.« 47

Gemessen an den theologischen und pönitentialkasuistischen Kriterien Augustins und de Maistres ist der Dandy natürlich genau wie Stirners Einziger ein Ausbund an sündhaftester Hoffart und wahnhafter Selbstüberhebung und somit wiederum nichts als la conscience dans le Mal. Und wenn man die Frage stellt, ob es wohl eine für den Dandy spezifische Form von Gelächter gebe, lesen wir bei Baudelaire, ein Dandy könne, wenn er denn überhaupt mal lache, nur das la’ag-Lachen Jahwes lachen, das nur Göttern vorbehalten ist, das aber gerade deshalb auch dem Dandy zusteht: »Kann man sich einen Dandy vorstellen, der zum Volke spricht, außer um es mit Hohn und Spott zu überschütten?« (S. 410)

So scheint auch Baudelaire selbst gelacht zu haben, denn Walter Benjamin erwähnt in seiner Studie über Baudelaire 48, daß Baudelaires Zeitgenossen immer wieder auf das Erschreckende hingewiesen hätten, das in seiner Art zu lachen gelegen habe. Es dürfte wohl das von Rosenzweig beschriebene zähnefletschende Grinsen der Vernichtungslust gewesen sein. Daneben gibt es natürlich auch noch das zum Kult der Kälte gehörende kühle, ironische und verächtliche Lächeln, mit dem der Dandy von seiner Umgebung Distanz einfordert, weil er sich jedes Lachen verbeißt, in das ein anderer einstimmen könnte, und weil er niemanden findet, an den er es richten könnte, da jeder andere eben gar zu weit unter ihm steht. Wir sehen also auch hier wieder, wie eng Baudelaire in den Bahnen von Augustinus und Hobbes denkt, in der Tendenz aber gegen sie, denn er führte ja selbst jahrelang eine Dandy-Existenz. 1153 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Baudelaire

Allerdings mußte er auch hier seinen luziferischen Absturz erleben, denn er wurde schon mit 23 Jahren durch den Familienrat entmündigt, weil er als Dandy gar zu viele Schulden angehäuft hatte, und bekam einen Vormund verordnet, von dem er dann jeden Franc einzeln erbetteln mußte. Und dadurch hatte er wieder einen neuen Gott, gegen den er rebellieren und aus ohnmächtiger Abhängigkeit trotzig-verzweifelt verlachen konnte. So gesehen liest sich sein Porträt des Dandys nicht so sehr als kühl distanziertes Selbstzeugnis, sondern eher als elegischer Wunschtraum und längeres Gedankenspiel. Wenn man das Dandytum aber mentalitäts-geschichtlich einordnet, so ist der Dandy »ein hochgezüchteter Abkömmling der romantischen Ironie (…) im Zeichen der rezessiv entfremdeten Subjektivität«49, der sich selbst so fremd geworden ist, daß er sich selbst im Rahmen eines vorgegebenen oder ad hoc erfundenen Rollenfachs regelrecht spielen muß, und der den Kult der Ich-Distanz so weit getrieben hat, daß er dem Wahn verfällt, er könne durch nichts mehr betroffen gemacht werden, weil er über sich selbst die absolute allmächtige Verfügungsgewalt 50 besitzt. 2.13.7 Bilanz Die Bilanz, die wir aus Baudelaires Essay über das Wesen des Lachens ziehen können, ist also, rein gelotologisch gesehen, eigentümlich mager, weil Baudelaire tatsächlich keinen einzigen Gesichtspunkt anführt, der systematisch oder methodologisch über das hinausgeht, was wir bisher schon über das Wesen des Lachens erschlossen haben. So gesehen ist Baudelaires Essay also epigonal. Aufregend neu ist er aber, insofern er, mentalitätsgeschichtlich betrachtet, das schwarze Lachen jenseits des Heiteren ins Zentrum all seiner Überlegungen stellt, auf das wir vor ihm eher selten gestoßen sind. Diese Fixierung auf das bösartige Lachen geht bei Baudelaire sogar so weit, daß er es selbst im unschuldigsten Lachen eines Kindes zu entdecken glaubt. Im fünften Kapitel seines Essays setzt er nämlich zum Entwurf einer Lachpalette an und referiert den Einwand, 1154 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

»das Lachen sei doch recht vielgestaltig (divers). Man genieße in ihm durchaus nicht immer nur das Unglück, die Schwäche oder die Unterlegenheit eines andern. Vieles, das uns zum Lachen bringt, sei doch auch ganz unschuldig gemeint, und darin bekundeten sich nicht nur die Freuden der Kindheit, sondern auch all die vielen anderen Vergnügungen, die uns die Artisten bereiten, entsprängen durchaus nicht dem Geiste des Satanischen.« (S. 695)

Diesen Einwand läßt Baudelaire aber nicht gelten und behauptet, man müsse die Freude genau vom Lachen unterscheiden, denn die Freude sei etwas in sich Identisches und Homogenes (la joie est une), wohingegen das Lachen »in sich widersprüchlich« sei und »ein gemischtes Gefühl« bekunde, weshalb es sich auch als »Konvulsion« (S. 695) manifestiere. Und dann referiert er weiter, »so unterscheide sich denn auch das Lachen der Kinder, wie man mir als ein vermeintliches Gegenbeispiel entgegenhalten möchte, sogar in seiner Verlaufsgestalt (forme) und als körperliche Ausdrucksform durchaus von dem Lachen des Erwachsenen, der sich eine Komödie anschaut oder eine Karikatur betrachtet, oder gar von dem schrecklichen Lachen des Melmoth. Denn Melmoth sei deklassiert, ausgesetzt auf die Grenzen zwischen dem Behaustsein im Menschlichen und der Teilhabe am höheren Leben und somit in keinem von beidem geborgen. Melmoth sei ewig im Glauben, er könne sich aus seinem höllischen Pakt wieder befreien und ewig in der Hoffnung, er könne seine unglückselige Macht noch gegen das reine Gewissen eines Unwissenden tauschen, den er um seine Unschuld beneidet. Kinder hingegen lachten so wie eine Blüte sich öffnet. Ihr Lachen bekunde die Freude der willigen Hinnahme, die Freude des Atmens, die Freude der sich öffnenden Hingabe, die Freude des Betrachtens, des Lebendigseins, des Wachsens, und dies sei eine pflanzenhaft unschuldige Freude. Deshalb bekunde sie sich weit eher als Lächeln, als ein Verhalten also, das man mit dem Schwanzwedeln eines Hundes oder dem Schnurren einer Katze vergleichen könne.« (S. 695 f.)

Diesen Einwand, so plausibel er auch immer ist, wischt Baudelaire aber brüsk vom Tisch, indem er fortfährt: »Dennoch muß man sich vor Augen halten, daß das Lachen der Kinder sich immer noch von diesen Bekundungen animalischer Behaglichkeit strikt unterscheidet, weil auch das Lachen der Kinder in keiner Weise

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Charles Baudelaire

frei von Hoffart (ambition) ist, wie dies bei so einem Fratz, der schon die Fratze Satans in sich birgt, auch sein muß (ainsi qu’il convient à des bouts d’homme, c’est-à-dire à des Satans en herbe).« (S. 696)

Wir sehen also, wie sich Baudelaire hier durch die Erbsünden-Ideologie den Blick verstellen läßt, weil laut Augustinus schon dem ungebornen Kind die Erbsünde als Erbschuld aufgebürdet ist, sodaß es prinzipiell kein unschuldiges Verhalten geben kann und also auch kein unschuldiges Kinderlachen. Hier liegt, so paradox dies auch klingen mag, das eigentliche systematische Verdienst von Baudelaires Essay über das Wesen des Lachens, denn er hat endgültig verdeutlicht, daß die von ihm so dogmatisch vertretene und dann sogar noch gnostisch überbotene Erbsünden-Ideologie als methodologische Grundlage für eine phänomenologisch vorurteilslose Analyse und Deutung des Lachens absolut unbrauchbar ist, weil sie den Blick auf die unschuldig heiteren Formen des Lachens völlig versperrt, denn wo es keine Unschuld gibt, kann es auch kein unschuldiges Lachen geben, und wenn ein Lachen unschuldig zu sein scheint, muß dessen Unschuld schlichtweg geleugnet werden. Mit einem Wort: Eutrapelistische Lachkultur kann und darf es nicht geben, wenn man an die Erbsünde glaubt. Man leugnet es und nimmt es, wie Adrian Leverkühn, zurück. Was geleugnet werden muß, sind aber auch die für die Deutung des Lachens unabdingbaren anthropologischen Erkenntnisse der Aufklärung, hinter die man aber nicht mehr zurückkehren kann, ohne sich selbst zu verdummen, auch wenn man die Aufklärung noch so sehr als »Aufkläricht« verhöhnt. Versucht man dies trotzdem, wird man sich sofort in die Sackgasse reduktionistischer Dogmatik verrennen. Ein Beispiel dafür ist die Studie des protestantischen Theologen Werner Thiede 51, für den die ätiologische »Grundformel des Lachens« (S. 26) in der »Befreiung von einem bedrückenden zu einem beglückenden Gefühl« (S. 34) besteht: »Solcher Jubel ist im Kern jedes Lachen: Ausdruck von Glücksgefühl und Freude.« (S. 31) Daß es dieses erleichterte Auflachen als eine Form des Bekundungs-Lachen neben vielen anderen gibt, wird natürlich niemand leugnen; aber daß man jedes Lachen als Variante dieses erleichter1156 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ausblick

ten Auflachens zu verstehen hat, ist absurd dogmatischer Reduktionismus. Und die These, daß Freude und Jubel nur die Freude auf die verheißene Auferstehung sein könne, resultiert wiederum aus dem fromm verengten Tunnelblick des Theologen. Andere Ätiologien des Lachens aus theologischer Sicht gibt es, soweit ich sehe, aus neuerer Zeit nicht, und dies läßt vermuten, daß von theologischer Seite wohl auch keine grundlegenden Erkenntnisse über das Wesen des Lachens mehr zu erwarten sein dürften. 2.13.8 Ausblick Im Vergleich mit Baudelaires Aufsatz über das Wesen des Lachens, den man, wie gesehen, als Abgesang auf die theologisch orientierte Gelotologie deuten darf, sind die beiden nunmehr zu behandelnden Ansätze zur Erforschung des Lachens, die zur selben Zeit wie Baudelaires Aufsatz konzipiert wurden, methodologisch gesehen revolutionär, weil sich hier grundlegende Umbrüche zeigen, die auch heute noch unser Denken bestimmen. Ich meine damit die Entdekkung des Energie-Erhaltungs-Satzes durch Mayer, Helmholtz und Joule und die entschlossene Ausweitung des historischen Denkens auf alle Erscheinungen der belebten und unbelebten Natur durch Darwin. Wir sehen also, wie sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur gleichen Zeit drei völlig unterschiedliche Denkansätze um die Deutung des Lachens bemühen, und als Ergebnis dieser Bemühungen wird sich zeigen, welcher dieser drei Deutungsansätze so fruchtbar war, daß seine Befunde heute noch überzeugen. Die Entdeckung des Energie-Erhaltungs-Satzes legte es nahe, auch das Lachen unter energetischen Gesichtespunkten zu sehen und als eine der vielen Metamorphosen der Lebenskraft resp. der »organischen« oder »psychischen Energie« zu deuten, was Spencer und Freud denn auch getan haben. Und durch die Ausweitung des historischen Denkens auf die gesamte Natur erschien die Welt mit einem Schlag nicht mehr als das abgeschlossene Werk eines Schöpfergottes, sondern als aktuelle Momentaufnahme eines Entwicklungsprozesses, der irgendwann illo tempore im Dunkeln begonnen hatte und noch lange nicht abgeschlossen ist, weil er ewig weiter1157 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Baudelaire

gehen kann. Somit erschien mit einem Mal auch das Lachen wie jede andere Verhaltensweise als ein historisches Phänomen, nach dessen Ursprung und Entwicklung man fragen konnte, und da Darwin auch dem Menschen eine vor-menschliche Vorgeschichte verliehen hatte, erschien auch das Lachen nicht unbedingt mehr als ein proprium hominis allein, sondern konnte sehr wohl auch eine vormenschliche Vorgeschichte haben, nach der sich zu fragen lohnt. Das Lachen erschien aber ebenso als ein physikalisches Phänomen, das man mit den gleichen Methoden glaubte erforschen zu können wie andere physikalische Phänomene auch. Mit einem Wort: Naturund Geisteswissenschaften hatten sich zwar endgültig getrennt, machten aber bei einander wechselseitig methodologische Anleihen: Die Biologie argumentierte historisch, die Psychologie physikalisch. Daß die energetisch und die evolutionistisch orientierte Erforschung des Lachens in etwa zur gleichen Zeit begonnen hat, daß beide Forschungsansätze bis in unsere Zeit nebeneinander herliefen und sich manchmal auch gegenseitig beeinflußt haben, und daß in dieser Zeit außerdem noch weitere ganz anders orientierte gelotologische Ansätze aufkamen, bereitet einer chronologisch ausgerichteten ideen- und problemgeschichtlich orientierten Darstellung einige Probleme. Das schwierigste dieser Probleme besteht darin, daß man Entwicklungen, die nebeneinander herlaufen, nur nacheinander darstellen kann. Ein anderes Problem besteht darin, daß man immer dann, wenn ein Autor der einen Schule bestimmte Anleihen bei der anderen macht, diese beim Leser schon als bekannt voraussetzen muß, obwohl sie noch gar nicht explizit vorgestellt worden sind. Deshalb muß ich mit einer captatio benevolentiae an die Geduld und den langen Atem des Lesers appellieren, wenn ich mit dem Kapitel über die energetisch orientierte Gelotologie beginne und diese Argumentationslinie bis herauf zu ihrem Abgesang bei Arthur Koestler darstelle, dann aber wieder hundert Jahre zurückspringe und in der Zeit um 1860 bei Charles Darwin nochmal beginne und den gleichen Zeitraum erneut ideen- und problemgeschichtlich abschreite, weil mir daran gelegen ist, einen gelotologischen Forschungsansatz in einem Bogen darzustellen und bis an sein Ende zu verfolgen. 1158 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ausblick

Daß ich mit dem Energetik-Kapitel beginne, hat seinen Grund darin, daß die energetisch orientierte Argumentation mit der Diskussion um die Lebenskraft etwas früher ansetzt als die evolutionistisch orientierte, vor allem aber, weil die energetisch orientierte sich als Sackgasse erwiesen hat und heute beendet ist, wohingegen die evolutionistische auch heute noch munter weitergeht. Da diese drei so unterschiedlichen Ansätze zur Deutung des Lachens in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind, also in einer Zeit härtester ideologischer Auseinandersetzungen, tragen alle drei Ansätze auch die Spuren dieser Kämpfe in sich. Beim gescheiterten Rebellen Baudelaire ist dies in all seinen Texten nachzulesen. Aber auch die auf den ersten Blick so unpolitisch erscheinenden energetisch orientierten Gelotologien von Herbert Spencer, Henri Bergson und Sigmund Freud und ebenso die evolutionsgeschichtlich argumentierende Gelotologie der Verhaltensforschung im Gefolge von Charles Darwin bis herauf zu Konrad Lorenz und Arthur Koestler weisen massive politische Implikationen auf, weil sie sich alle eng an der Bürgerkriegs-Philosophie von Thomas Hobbes orientieren und deshalb dazu tendieren, das Lachen auf das aggressive Auslachen zu reduzieren. Als Grundtenor für alle drei Ansätze läßt sich deshalb ein Aufsatz über Lachen und Weinen lesen, in dem der Hegel-Schüler Johann Erdmann im Revolutionsjahr 1848 unmittelbar vor Beginn dieser Debatte in der Tradition der schwarzen Romantik und des dort gepflegten Topos vom kalten Herzen 52 Bergsons These vom anästhesierten Herz vorwegnimmt und kühn behauptet: »Weil wir aber nur dort lachen, wo das Fehlschlagen der Absicht u. s. w. uns nicht selbst tangiert, über Ungeschick und Mißgeschick, das uns fern steht und äußerlich bleibt, deswegen bezieht das Lachen seinen Stoff besonders durch den Sinn, der uns das Fernste zeigt und was uns am meisten äußerlich ist, durchs Auge. (…) Wo aber die Außenwelt zum Menschen spricht durch den kältesten und herzlosesten der Sinne, durchs Auge, da bleibt das Auge stumm, da macht des Menschen Antwort sich hörbar in dem kalten, herzlosen, darum so oft verletzenden Lachen. In der That ist das Lachen herzlos (und wir sollten nicht so viel vom herzlichen Lachen sprechen), denn wenn es auch nicht wie bei dem Lachen der Schadenfreude, das

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Unglück des Andern ist, worüber gelacht wird, so sind es doch wenigstens seine kleine malheurs, welche unsere Heiterkeit hervorrufen, und das Gefühl, daß es ein Lachen ganz ohne Bosheit nicht gebe, ist ja der Grund, warum wir z. B. Christum nicht lachend denken können.« 53

So gesehen ist das 19. Jahrhundert, mit Gottfried Keller gesprochen, tatsächlich eine Epoche des »verlorenen Lachens«54, die eine Epoche »im Lichte fröhlicher Aufklärung« 55 ablöste. Anmerkungen 1

Vgl. dazu Kap. 2.12.2. Von der »Legenda aurea« erschienen im 19. Jahrhundert auf deutsch zwei Übersetzungen und Bearbeitungen für den Hausgebrauch des einfachen katholischen Kirchenvolkes: P. Matthäus Vogel’s Legende der Heiligen. Ein Betrachtungs- und Erbauungsbuch auf alle Tage des Jahres. Neu bearbeitet von einem Vereine mehrerer Priester, 2 Bde, München 2/1958, sowie: Große illustrirte Haus-Legende von den Heiligen Gottes auf alle Tage des Jahres. Bearbeitet von Alfred Werfer und Franz Xaver Steck. Mit vielen bischöflichen Approbationen. Zehnte Auflage, Ulm 1858. 3 Ich zitiere Baudelaire in eigener Übersetzung nach der Ausgabe: Baudelaire. Œuvres complètes. Préface de Claude Roy. Notices et notes de Michel Jamet, Paris 1980. 4 De Maistre: Vom Papste, hg. v. Joseph Bernhart, 2 Bde, München 1923, Bd. I, S. 12. Die Übersetzung von Moritz Lieber stammt aus der ersten deutschen Gesamtausgabe de Maistres in fünf Bänden aus den Jahren 1822–1824. Vgl. dazu auch das für dieses Kapitel grundlegend wichtige Werk von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004, S. 52. 5 Edmund Burke: Betrachtungen über die französische Revolution. In der deutschen Übertragung von Friedrich Gentz. Bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Lore Iser. Einleitung von Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1967. 6 Joseph de Maistre: Betrachtungen über Frankreich. Herausgegeben und mit einem Nachwort und einer Bibliographie versehen von Günter Maschke, Wien 1991. Vgl. dazu auch Daniel Vouga: Baudelaire et Joseph de Maistre, Paris 1957. 7 Vgl. dazu Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 5/1967, S. 129 ff. 8 Vgl. dazu Erich Auerbach: Mimesis, S. 74 ff., sowie Auerbachs Aufsatz »Figura« in: Erich Auerbach: Gesammelte Abhandlungen zur romanischen Philologie, Bern/ München 1967, S. 55–92. 9 Vgl. dazu Joseph de Maistre: Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung, hg. v. Jean-Jacques Langendorf und Peter Weiß. Mit einer Einleitung von Pierre Glaudes und einem Essai von Jean-Jacques 2

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Anmerkungen

Langendorf, Wien/Leipzig 2008, S. 194,202, 230. Durch de Maistres »Abende«, einer Lieblingslektüre Baudelaires, zieht sich wie ein roter Faden die These, jedes Unglück, das einem widerfährt, habe man wegen der Erbsünde auch verdient. An den angegebenen Stellen geht es um das Erdbeben von Lissabon. 10 So Peter Richard Rohden in der Einleitung zu seiner Ausgabe von de Maistres »Betrachtungen über Frankreich«, Berlin 1924, S. 16. Vgl. dazu seine Studie: Joseph de Maistre als politischer Theoretiker. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Staatsgedankens in Frankreich, München 1929. 11 Donoso Cortés: Der Abfall von Europa. Dokumente, Wien 1948. Vgl. dazu Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 8/2004, S. 57 ff., sowie Richard Faber: Politische Dämonologie. Über modernen Marcionismus, Würzburg 2007, S. 93 ff. 12 Vgl. dazu Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 3/1971, S. 125 f., sowie Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 92, wo Löwith auch auf Baudelaires Spekulationen über das Ende der Welt eingeht. 13 Vgl. dazu James S. Patty: Baudelaire and Bossuet on Laughter, in: Publications of the Modern Language Association, Sept.1965, S. 459 ff., und Theodor Reik: Lust und Leid im Witz: Sechs psychoanalytische Studien, Wien 1929, S. 115. 14 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Reinbek 1960, S. 34; vgl. dazu auch Erich Auerbach: Baudelaires »Fleurs du Mal« und das Erhabene, in: Auerbach: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern/München 1967, S. 275–290. 15 John Milton: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von Hans Heinrich Meier. Mit 12 Illustrationen von William Blake, Stuttgart 2008, S. 194; vgl. auch die Passagen S. 50, S. 58, S. 267 und S. 428. 16 Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 3/2003, S. 203. Vgl. dazu auch: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397. Herausgegeben, erläutert und mit einem Nachwort von Kurt Flasch, Mainz 2/1995. 17 Paul Scudo: Philosophie du rire, Paris 1840, S. 124, zit. nach: Catherine Kintzler: Baudelaire et la théorie classique du rire: Comment se moquer du monde, in: Karin Westerwelle (Hg.): Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg 2007, S. 123–138, hier S. 125. 18 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969, S. 149. 19 Vgl. dazu Kapitel 2.9.4.1. 20 Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Darmstadt 1988, S. 14–17. 21 Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980, S. 248. 22 Vgl. dazu Kapitel 2.6.6.10. 23 Vgl. dazu Edgar Allan Poe: Werke. Deutsch von Arno Schmidt und Hans Wollschläger, Olten/Freiburg 1967, Bd. III, S. 828–838. 24 Charles Robert Maturin: Melmoth der Wanderer. Mit einem Nachwort von Dieter Sturm, Frankfurt a. M. 1991.

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Charles Baudelaire 25

Vgl. dazu Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 3/1988, Kapitel II und III. 26 Vgl. dazu Max Milner: Le diable et la littérature française de Cazotte à Baudelaire 1772–1861, 2 Bde, Paris 1960; über Baudelaire Bd. II, S. 423 ff. 27 August Klingemann: Nachtwachen des Bonaventura. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 1974. 28 Vgl. dazu Kapitel 2.6.1.2. 29 Nag Hammadi II,587 bzw. Bibel der Häretiker, S. 417 bzw. Rudolph, S. 163. 30 Vgl. dazu Faber: Politische Dämonologie, S. 93 ff. 31 Wolfgang Fietkau: Schwanengesang auf 1848. Ein Rendezvous am Louvre: Baudelaire, Marx, Proudhon, Victor Hugo, Reinbek 1978; Baudelaire 1848: Gedichte der Revolution, herausgegeben und kommentiert von Oskar Sahlberg und Peter Fischer, Berlin 1981. 32 Jean-Paul Sartre: Baudelaire, Reinbek 6/2007. 33 Gerhard Zacharias: Satanskult und Schwarze Messe. Ein Beitrag zur Phänomenologie der Religion, Wiesbaden 2/1970, S. 126 ff. 34 Baudelaire orientiert sich also am syrisch-ägyptischen Modell der Gnosis, das den Abfall Gottes von sich selbst lehrt und das Böse als ein sekundär böse gewordenes Gutes versteht, wie schon sein Mentor Augustinus dies getan hat. Vgl. dazu Kapitel 2.6.5.1. 35 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentiert von Hauke Brunkhorst, Frankfurt a. M. 2007, S. 9. 36 Vgl. dazu Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlagen der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion, Darmstadt 1960, S. 121 ff., sowie Ernst Bloch: Atheismus im Christentum, Frankfurt a. M. 19968, S. 231 ff. 37 Vgl. oben Anmerkung 16. 38 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Kliche, Stuttgart 2007. Vgl. dazu auch Norbert Bolz: Das Böse jenseits von Gut und Böse, in: Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen. Herausgegeben von Carsten Colpe und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Frankfurt a. M. 1993, S. 256–273, sowie die Studie von Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen, München 2010, die jedoch auf das satanische Lachen nicht eigens eingeht. 39 Vgl. dazu den Aufsatz von Stefan Busch: Blasphemisches Lachen in Klopstocks Messias und Lessings Minna von Barnhelm. Zur Herausbildung eines literarischen Leitmotivs der Moderne, in: Lessing Yearbook, 2001, 33, S. 27–54. Dieser Aufsatz ging auch ein in Buschs Dissertation: Verlorenes Lachen. Blasphemisches Gelächter in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, S. 41 ff. Außerdem verweise ich auf den Aufsatz von Ulrich Gaier: Das Lachen des Aufklärers. Über Lessings »Minna von Barnhelm«, in: Der Deutschunterricht, 1991, 43, S. 42–56. 40 S. 227; vgl. auch analoge Passagen auf den Seiten 50, 58, 73, 194 u. 428.

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Anmerkungen 41

Zit. nach Karl S. Guthke: Haller im Halblicht. Vier Studien, Bern/München 1981, S. 19. 42 Vgl. dazu den Aufsatz von Werner Röcke: Teufelsgelächter. Inszenierungen des Bösen und des Lachens in der »Historia von D. Johann Fausten« (1587) und in Thomas Manns »Doktor Faustus«, in: Thomas Mann. Doktor Faustus 1947– 1997, hg. v. Werner Röcke, Bern/Berlin/Frankfurt a. M./New York/Oxford/Wien 2001, S. 187–206. 43 Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Frankfurt a. M. 1997, S. 631. 44 Vgl. dazu die Anthologie von Gerd Stein: Dandy – Snob – Flaneur. Exzentrik und Dekadenz. Kultfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1985, sowie Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988. 45 Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953, S. 966. 46 Walther Rehm: Jean Paul – Dostojewski. Zur dichterischen Gestaltung des Unglaubens, Göttingen 1962, S. 5. 47 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981, S. 412. Vgl. dazu auch Michael Maier: De Maistres Papst. Stirners Einziger. Jean Pauls Himmelsstürmer, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006. 48 Vgl. dazu Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 176. 49 Hermann Schmitz: Husserl und Heidegger, Bonn 1996; S. 16. 50 Schmitz: Husserl und Heidegger, S. 18 f. 51 Werner Thiede: Das verheißene Lachen. Humor in theologischer Perspektive, Göttingen 1986. 52 Vgl. dazu Manfred Frank: Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne, Frankfurt a. M. 1989, S. 9 ff. 53 Johann Erdmann: Ueber Lachen und Weinen, in: J. E. Erdmann: Ernste Spiele. Vorträge, theils neu theils längst vergessen, Berlin 1870, S. 1–20, hier S. 9 f. 54 Vgl. dazu Kellers Werke, hg. v. Max Nußberger, Leipzig und Wien 1921, Bd. 5, S. 144 ff.: »Das verlorene Lachen«. Ich verweise auch auf das schöne Buch von Gisbert Kranz: Das göttliche Lachen, Würzburg 1970, in dem Kranz dem für das 19. Jahrhundert typischen bösartigen Lachen ein eigenes Kapitel (S. 23–34) widmet. 55 Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung, hg. v. Thomas Böning und Gerhard Kaiser, Frankfurt a. M. 2007, S. 28.

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2.14 Im Irrgarten der Energetik oder Die Frage nach den Metamorphosen organischer Energie

2.14.1 Überblick Ich habe bisher immer versucht, gelotologische Theorien nicht nur aus sich selbst zu verstehen, sondern auch aus der historischpolitischen Situation, in der sie entstanden sind und auf die sie antworteten. Dies soll natürlich ebenso für den gelotologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts gelten, der sich inmitten der ideologischen Nachbeben der Französischen Revolution abspielte. Aus diesem Grund weisen auch die gelotologischen Theorien des 19. Jahrhunderts und ihre philosophischen Grundlagen massive politische Implikationen auf, wie wir dies ja schon bei Baudelaire gesehen haben. Bei den nunmehr zu behandelnden Autoren zeigt sich nämlich, daß die materialistischen Kritiker der Lebenskraft durchwegs bürgerliche Liberale und Sympathisanten der 48er Revolution waren, auch wenn sie darin nicht direkt involviert waren oder gar selbst auf den Barrikaden standen, wohingegen alle Apologeten der Lebenskraft wie Müller, Autenrieth und Schopenhauer ausnahmslos streng konservativ gesinnt waren. Das kann kein Zufall sein und verrät, daß in beiden wissenschaftstheoretischen Orientierungen politische Implikationen vorhanden gewesen sein müssen, unabhängig davon, ob dies den Protagonisten bewußt war oder nicht, denn wer die Natur »faustisch« unterwerfen will, tendiert wohl eher dazu, auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse nach eigenen Vorstellungen gestalten zu wollen. Dazu kommt, daß die durch die Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn beginnende Industrialisierung durchaus nicht wertneutral gesehen wurde, sondern von den bürgerlichen Libera1164 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Überblick

len eher als eine Chance zur bürgerlichen Emanzipation begrüßt, von den Konservativen hingegen als massive Bedrohung der eigenen Position und des ihnen vertrauten Menschenbildes empfunden wurde, das aus der platonisch-stoisch-christlichen Tradition stammt und als Primat des Geistes über die Materie bezeichnet werden könnte, sodaß sie das ganze maschinelle Szenario als einen bedrohlichen Aufstand des Materiellen glaubten verstehen zu müssen. Dieses massive Unbehagen an der beginnenden industriellen Epoche drückt z. B. der Wiener Dichter Ferdinand Avist 1843 in einem Gedicht aus, das sich wie eine moderne Illustration von Platons Ängsten liest, denen er mit dem Entwurf seiner Politeia begegnen wollte: Eisenbahn Seht dort eine Stadt voll Menschen, Adler, scheint es, tragen sie, Während Donnerkeile brausen eine Siegesharmonie. Eh’mals war der Leib ein Sklave, und der Geist beherrschte ihn, Dieser flog, und jener mußte keuchend nach dem Herrscher zieh’n. Jetzt seh’ ich die Leiber fliegen, während unsre Geister kriechen, Jene sind jetzt frei und kräftig, während diese ewig siechen. Was bewirkte dieses Wunder? Eine Kleinigkeit – der Dampf! Mit dem Leib ist er verbrüdert, mit dem Geiste stets im Kampf. Leiber darf man nicht verderben, denn man brauchet ja Maschinen, Die, vom Dampf getrieben, rastlos so wie stumme Sklaven dienen. Geister aber braucht man niemals, denn sie sind dem Dampfe gram, Und sie tragen seine Ketten nur mit Wehmut und mit Scham. Nimmer wollen sie ihm dienen, nie sich knechtisch vor ihm neigen, Mög’ er von den Höhen qualmen, oder aus der Tiefe steigen, Sie zertheilen seine Wolken, sie empfangen ihn mit Fluch, In die reinen Herzen wollen sie nicht athmen Pestgeruch. 1

Im Gegensatz dazu antwortet der Dichter Peter Krauß 1856 auf ein Gedicht des konservativen Romantikers Justinus Kerner über die Eisenbahn, der dort genau wie Ferdinand Avist einige Jahre vor ihm die »dampfestolle« Zeit 2 in einem Gedicht verflucht hatte, mit einem eigenen Gedicht, in dem er die Industrialisierung als politische Chance bürgerlicher Emanzipation feiert: 1165 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

Liebguter Dichter, welche Grillen Weckt dir der Pfiff der Eisenbahn. Was hat denn dir das muntere Schrillen Des Dampfes Tonkunst Leids getan? Dein Lied, verzeih, mit seinen Klagen Wie Mißton durch die Mitwelt dringt, So laß denn, Dichter, dir auch sagen, Wie ihr der Pfiff der Dampfkraft klingt! Ihr ist, hört sie das Dampfroß schrillen Als hörte sie den Geist der Zeit, Der nimmer wird sein Rufen stillen, Als bis die Menschheit sich befreit. 3

So gesehen kann es nicht verwundern, daß im beginnenden Zeitalter der Industrie das Wort »Energie« zum neuen Schlüsselbegriff wurde, ganz so wie das Wort »Vernunft« der Schlüsselbegriff des 18. Jahrhundert gewesen war. Aber wie durfte/konnte/mußte man diesen neuen Schlüsselbegriff Energie verstehen? Metaphysisch im Sinne des Aristoteles, also als energeia, oder im Sinne der Physik als physikalische Größe, die sich in mannigfaltigen Metamorphosen manifestieren kann und sich dennoch gleich bleibt und weder verschwindet noch sich von sich aus vermehrt, wie der Satz von der Erhaltung der Energie lehrt, der in den vierziger Jahren von Mayer, Helmholtz und Joule entdeckt worden war? Und wie konnte man diesen physikalisch-energetisch verstandenen Energie-Begriff auf organische Gebilde anwenden und letztlich auch für eine physikalisch-energetisch orientierte Ätiologie des Lachens verwenden? Und dann stellte sich die Frage, ob der aristotelische Begriff der energeia für die Erforschung und Beschreibung lebendiger Organismen nicht doch der fruchtbarere sei. Und schließlich stellte sich auch noch die Frage, ob die nunmehr beginnende industrielle Epoche notwendigerweise eine Epoche des »verlorenen Lachens« (Keller) sein mußte. All diese Fragen sind, wie wir sehen werden, mit viel Leidenschaft diskutiert worden, aber die Ergebnisse, die diese Ansätze zu einer physikalisch-energetisch orientierten Ätiologie des Lachens erbracht haben, sind eigentlich nicht sehr überzeugend gewesen. 1166 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts

Ja, man muß sogar feststellen, daß Energetiker wie Sigmund Freud und Konrad Lorenz sich letztlich doch wieder an der Hydraulik der Lebensgeister orientiert haben, auf die wir schon bei Joubert, Descartes und Hobbes gestoßen sind, und daß auch Henri Bergson mit seinem Begriff des élan vital die alte Vorstellung von der Lebenskraft wiederbelebt hat. 2.14.2 Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts häufen sich in Deutschland Publikationen, in denen versucht wird, den Begriff der Lebenskraft 4 genauer zu bestimmen. Den Anfang macht Friedrich Casimir Medicus mit seiner Studie Von der Lebenskraft (1774), dann folgte Johann Friedrich Blumenbach mit seiner einflußreichen und vielzitierten Abhandlung Ueber den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte (1781), dann Johann Gottfried Herder mit seinem Hauptwerk Ideen (1784/1791), in dem er, wie wir schon erfahren haben, die Lebenskraft in hymnischen Tönen als »Finger der Gottheit« (3,209) preist. Um 1795 erscheint dann gleich eine ganze Serie von Publikationen zum Thema Lebenskraft, wie z. B.: Joachim Dietrich Brandis: Versuch über die Lebenskraft, Hannover 1795 Johann Christian Reil: Von der Lebenskraft, Leipzig 1795 Heinrich Friedrich Link: Über die Lebenskräfte in naturhistorischer Rücksicht und die Classifikation der Säugthiere, Rostock/Leipzig 1795 Christoph Wilhelm Hufeland: Ideen über Pathogenie und Einfluß der Lebenskraft auf Entstehung und Form der Krankheiten, Jena 1795 Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik oder die Kunst, das Leben zu verlängern, Jena 1796 Samuel Hahnemann: Versuch über ein neues Princip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen, nebst einigen Blicken auf die bisherigen, Jena 1796 Theodor Georg August Roose: Grundzüge der Lehre von der Lebenskraft, Braunschweig 1797

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Im Irrgarten der Energetik

Jakob Fidelis Ackermann: Versuch einer physischen Darstellung der Lebenskräfte organisierter Körper, Frankfurt a. M. 1800 Gottfried Reinhold Treviranus: Biologie oder Philosophie der lebenden Natur, Göttingen 1802 Johann Jakob Wagner: Über das Lebensprinzip, Leipzig 1803.

Bei dieser Häufung von Publikationen zum selben Thema kann es nicht verwundern, wenn Kant in seinen Überlegungen zur Möglichkeit eines ewigen Friedens in der Philosophie 1796 schreibt, »daß man itzt, statt des Wortes Seele, das der Lebenskraft zu brauchen beliebt hat«. Und dann fügt er hinzu, das sei so auch ganz in Ordnung, »weil von einer Wirkung gar wohl auf eine Kraft, die sie hervorbringt, aber nicht sofort auf eine besondere zu dieser Art Wirkung geeignete Substanz geschlossen werden kann, das Leben aber in der Einwirkung reizender Kräfte (dem Lebensreiz) und dem Vermögen, auf reizende Kräfte zurückzuwirken (dem Lebensvermögen) setzt, und denjenigen Menschen gesund nennt, in welchem ein proportionierlicher Reiz weder eine übermäßige noch eine zu geringe Wirkung hervorbringt.« (III,405)

Lebenskraft wird somit von Kant als ein Reiz verstanden, der einem Organismus ständig zugeführt werden muß, um diesen am Leben zu erhalten, diesen aber nur dann gesund erhält, wenn dies in der passenden Dosierung geschieht. Lachen z. B. gilt, wie wir gesehen haben, für Kant als eine sehr heilsame Zufuhr von Lebenskraft, weil durch die heilsame rhythmische Bewegung des Zwerchfells »das Gefühl der Lebenskraft« (VI,594) gestärkt werde. Schlafen hingegen gilt Kant als potentiell gefährlich, weshalb es ratsam ist, ausgiebig zu träumen, denn er meint, »daß die Lebenskraft, wenn sie im Schlafe nicht durch Träume immer rege gehalten würde, erlöschen und der tiefste Schlaf zugleich den Tod mit sich führen müßte.« (VI,477)

So gesehen sind Träume für Kant nicht, wie später für Freud, »Hüter des Schlafes«, sondern Hüter des Lebens überhaupt, weil die dort ausagierten Affekte die Lebenskraft immer wieder aufs neue erregen und der allzu abspannenden Wirkung des tiefen Schlafes entgegenwirken. Wenn man nun nachprüft, in welcher Weise in der zeitgenössi1168 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts

schen belletristischen Literatur von Lebenskraft gesprochen wird, zeigt sich, daß Kant hier ganz analog argumentiert. So legt z. B. Goethe seinem Faust im Bild »Wald und Höhle« des »Faust«-Fragments von 1790 dieselbe Argumentation in den Mund, als Mephisto auftritt und ihn verhöhnt, er wisse ja gar nicht zu leben und sei ein hoffnungslos verkopfter Intellektueller: »Verstehst du, was für neue Lebenskraft / Mir dieser Wandel in der Öde schafft?« (V. 3278 f.) Auch hier wird Lebenskraft als eine Art von Energie verstanden, die vermehrt, vermindert und erneuert werden kann und dem Menschen von außen zugeführt werden muß. Es wird aber auch klar, daß man die Quelle dieser Kraft nicht exakt angeben kann. Und unklar bleibt auch, ob diese Lebenskraft als eine objektive Größe oder als eigenleiblich gespürte Energie zu verstehen ist, so wie man z. B. Müdigkeit oder Frische spürt. Da die Theorie der Lebenskraft aber in erklärter Opposition zum mechanistischen Denken im Gefolge von Descartes und La Mettrie entwickelt worden war, um all die an Organismen beobachteten Phänomene wie Reproduktion, Regeneration und Selbstbewegung zu erklären, bei deren Erklärung die mechanistischen Deutungsmodelle versagt hatten, tendierten die Anhänger der Lebenskraft-Theorie, soweit sie philosophische Ärzte waren, dahin, die Lebenskraft als eine objektive, empirisch erfahrbare, wenn auch nicht exakt meßbare Größe zu verstehen. Für Georg Ernst Stahl als den ersten Vertreter dieser Theorie war, wie wir gesehen haben, die Lebenskraft die dem Menschen von Gott eingehauchte unsterbliche Seele, wobei er sich als erklärter Pietist guten Gewissens auf den biblischen Schöpfungsbericht und auf Psalm 27,1 (»Der Herr ist meines Lebens Kraft.«) berufen durfte. Stahls zweite Quelle war die stoische Naturphilosophie, wie sie v.a von Kleanthes vertreten und durch Ciceros Abhandlung Über das Wesen der Götter 5 überliefert wurde, und aus der Stahl auch seine Phlogiston-Theorie ableitete, um zu erklären, warum bestimmte Materialien brennen und Wunden sich entzünden. Kleanthes hatte eine in allen Dingen wirkende und wärmende Kraft (vis caloris) als Ableger eines Urfeuers postuliert, das in allen organischen und anorganischen Prozessen wirkt. Dazu Cicero über Kleanthes Postulat einer Weltseele: 1169 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

»Alles, was sich nährt und wächst, trägt eine Wärmekraft (vim caloris) in sich, ohne die es sich weder nähren noch wachsen könnte. Denn alles, was warm und feurig ist, wird durch seine eigene Bewegung angeregt und hin- und hergetrieben. Was sich aber nährt und wächst, zeigt eine bestimmte, gleichmäßige Bewegung. Solange diese in uns wirkt, bleiben Empfindungsfähigkeit und Leben erhalten; erkaltet oder erlischt jedoch die Wärme, sterben und verlöschen wir. (…) Also lebt alles Lebendige, sei es ein beseeltes Wesen, sei es eine Pflanze, aufgrund der in ihm enthaltenen Wärme. Dem muß man entnehmen, daß diese natürliche Wärme eine Lebenskraft (vim vitalem) in sich birgt, die sich durch das ganze Weltall (per omnem mundem) erstreckt.« (S. 137/139)

Viel schwieriger war die Bestimmung der Lebenskraft für all die Physiologen, die sich weder an der Bibel noch an der stoischen Physik orientieren wollten und sich deshalb an Aristoteles hielten, der drei Seelen bzw. drei Aspekte der Seele postuliert hatte: • Die »Pflanzenseele« oder vegetative Seele, die Ernährung und Fortpflanzung organisiert; • die »Tierseele« oder animalisch-sensitive Seele, die Selbstbewegung und Empfindungen aller Art organisiert; • die »Menschenseele« oder »Denkseele«, mit der wir alle intellektuellen Operationen, also Denken, Wollen und Entscheiden ausführen. Die Lebenskraft müßte bei diesem Modell also irgendwo im Bereich der vegetativen oder animalisch-sensitiven Seele angesiedelt werden, weil sehr viele Phänomene organischen Lebens auch beim Menschen als unverfügbares und unbewußtes Geschehen weit unterhalb der Schwelle der Aufmerksamkeit wie von selbst ablaufen. 2.14.2.1 Friedrich Casimir Medicus oder Die Lebenskraft als organisches perpetuum mobile Diesen Schritt auf Aristoteles zu machte als erster der Arzt und Botaniker Friedrich Casimir Medicus (1736–1808) mit seinem Vortrag Von der Lebenskraft (1774) 6, in dem er zwar Stahls Begriff der Lebenskraft übernimmt, sich aber doch auch wieder deutlich von Stahl absetzt. Dazu Alfred Noll: 1170 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts

»Nach seinen Darlegungen besteht der Mensch aus Materie und Seele. Den Körper betrachtet er als eine zwar sehr künstlich organisierte Materie, die aber keine besonderen Kräfte besitzt, welche ihm aus seiner eigentümlichen Zusammensetzung erwachsen könnten. Zur Erklärung seiner Lebensverrichtungen hält er die physischen und mechanischen Gesetze nicht für ausreichend. Aber auch aus der Seelentätigkeit möchte er nicht, wie Stahl es tut, die Körperfunktionen herleiten. Denn die Seele habe nur Beziehung zum Denken und Wollen, sie habe aber keinen Einfluß auf die unbewußt ablaufenden körperlichen Vorgänge, wie z. B. auf Verdauung, Absonderung, Herzschlag.« (S. 8)

Wie man sieht, unterstellt Medicus dem Pietisten Stahl einen aristotelisch geprägten Seelen-Begriff, den er auch noch auf die Denkseele reduziert und der sich mit dem alttestamentlichen Begriff der nephesch in keiner Weise deckt, weshalb er sich genötigt sieht, Stahls alttestamentarischen Seelen-Begriff nephesch in zwei Aspekte aufzuteilen und analog dazu ein alternatives Organismusmodell zu entwerfen, und schreibt deshalb: »Diese Gründe haben mich bewogen, einer eigenen Meinung zu folgen, und außer der organisierten Materie und der Seele (i. S. v. Denkseele) noch eine einfache Substanz anzunehmen, die der Schöpfer allen organischen Körpern als die belebende Kraft mitgeteilt hat. Diese belebende Kraft ist in dem Pflanzenreiche und in dem Tierreiche das einzige, was die organisierte Materie belebt; in dem Menschen ist sie ebenfalls gegenwärtig und die Triebfeder des tierischen, oder wie andere wollen, des mechanischen Lebens. Aber außer dieser organisierten Materie und außer der einfachen Substanz, der Lebenskraft, hat der Mensch noch eine vernünftige Seele, die in ihm denkt und will; folglich würde der Mensch, nach meiner Meinung, aus zwei einfachen Substanzen, einer Seele und einer Lebenskraft, und aus einer dritten, aus der organisierten Materie, bestehen.« 7

Um diese Unterscheidung zwischen Seele und Lebenskraft noch weiter zu verdeutlichen, und von Stahls biblischer Anthropologie abzugrenzen, dergemäß die Seele die Lebenskraft selbst ist und überall im Körper sitzt, urteilt Medicus auch hier entschieden anders: »Ich setze voraus, daß die (Denk-)Seele im Haupte wohne, (…) denn wenn ich denke, so merke ich, daß ich nicht im Bauche, im Fuße oder

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Im Irrgarten der Energetik

im Arm denke, sondern daß ich wirklich im Kopfe denke. Die Gedanken sind entweder eine Folge anderer Gedanken, und alsdann verändert sich nur meine Seele, oder es werden durch die Sinne der Seele neue Begriffe überliefert, oder die Seele läßt durch den Körper ihre Befehle und ihren Willen in Vollstreckung bringen; in den letzteren Fällen verändert sich der Körper mit meiner Seele. Alles dieses sind Handlungen, die aus der Gemeinschaft der Seele mit dem Leibe fließen und die alle ein gewisses charakteristisches Kennzeichen an sich haben, nämlich eine Ermüdung des Körpers, eine Entkräftung; und wenn diese Handlungen nicht mit großer Bescheidenheit eingeschränkt werden, so bedrohen sie die gänzliche Auflösung des Körpers. Ein langwieriges Nachdenken verursacht uns Kopfpein, anhaltendes scharfes Sehen verursacht Schmerzen und Blödigkeit in den Augen; ein zu lautes oder zu lang anhaltendes Getön betäubt uns, und zu langes Gehen oder sonstige körperliche Arbeiten ermüden uns. Diese Ermüdung, die von dem Einflusse der Seele in den Körper herrührt, empfinden wir aber gar nicht bei dem Einflusse der Lebenskraft in den Körper. Das Herz kann sich in einer Stunde von 4500 bis auf 4800, ja auch bei 5000 mal zusammenziehen und erweitern. (…) Und so geht es bei allen Verrichtungen des tierischen Lebens. Hier ist keine Ruhe, kein erquickender Schlaf nötig; ihre Bemühungen dauern unausgesetzt fort und bei der erfolgten Ruhe ist das Leben des Körpers auf ewig verschwunden.« (S. 9 f.)

Damit ist klar: Die Lebenskraft ist als Antrieb des Organismus ein perpetuum mobile. Wir könnten auch sagen: Aus Stahls alttestamentarischer nephesch als belebendem Hauch Gottes wird ein perpetuum mobile, und aus der Unsterblichkeit der christlich verstandenen Seele wird die Unermüdbarkeit der Lebenskraft. Wird die Lebenskraft aber als perpetuum mobile verstanden, dann ist sie auch ein für unseren Zugriff unverfügbares, absolut autonomes Kraftwerk, das uns klarmacht, daß wir als leibhaftige Wesen nicht Herr im eignen Hause sind, und deshalb führt Medicus als weitere Unterscheidung zwischen Seele und Lebenskraft an: »Ein zweiter und noch merkwürdigerer Unterschied zwischen der Seele und der Lebenskraft ist dieser, daß die Seele offenbar nach und nach ihre Fähigkeiten entwickelt und nur durch vielerlei Grade ihrer mehreren Vollkommenheit sich nähert. Diese Entwicklung der Seelen-

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fähigkeiten nehmen wir offenbar bei heranwachsenden Kindern wahr, und je mehr ein Mann seine Denkungskräfte anwendet, desto fähiger wird er, hingegen je weniger er sie anwendet, desto eingeschränkter bleiben sie. (…) Die Seelenfähigkeiten der Menschen sind also ausnehmend verschieden, und bei jedem einzelnen können sie nur nach und nach entwickelt werden und bleiben gar oft wegen nicht gehöriger Anwendung unentwickelt. Aber so ist es nicht mit der Lebenskraft. Gleich in der Stunde der Empfängnis hat sie ihre Richtung empfangen, und es hängt nicht von der Willkür des Menschen ab, sie zu vermehren oder zu vermindern. Wenn sich der Mensch noch so sehnlich bemüht, sein Herz ruhen zu lassen, so ist sein Eifer und seine Bemühung dennoch vergeblich.« (S. 10)

Das heißt im Umkehrschluß aber auch, daß die Lebenskraft unfähig ist, dazuzulernen, und somit sind alle Individuen einer Gattung im Hinblick auf die Lebenskraft mit identischen Möglichkeiten und Fähigkeiten ausgestattet. Den Umstand, daß wir nicht Herr im eignen Hause sind, sondern der Lebenskraft zu gehorchen haben, empfindet Medicus jedoch nicht als Beschämung oder narzißtische Kränkung, sondern als »Merkmal göttlicher Weisheit, voll der tröstlichsten Aussichten« (S. 10). Die einzige Möglichkeit, über die Lebenskraft zu verfügen, sieht Medicus im Selbstmord, den er allerdings als »freventliche Zerstörung« (S. 10) empfindet. Daß Medicus immer die Denkseele im Auge hat, wenn er von der Seele spricht, wird besonders beim dritten Unterschied zwischen Seele und Lebenskraft deutlich, denn hier weist er der Lebenskraft Fähigkeiten zu, die nicht erst erworben werden müssen, sondern angeboren sind, und die wir heute den Instinkten zuweisen oder als Reflexe oder als Automatismen bezeichnen würden, die aber alle »auf die Erhaltung des Lebens abzielen« (S. 11): »Hieraus fließt der dritte Unterschied zwischen der Seele und der Lebenskraft, nämlich, daß meine Seele nichts tut, was ich nicht will. Alle Seelenhandlungen haben das unauslöschliche Merkmal des Willens an sich, und alle Handlungen, die ich schlechterdings ohne meinen Willen vollbringe, sind niemals Seelenhandlungen gewesen. Aber die Handlungen der Lebenskraft sind gänzlich außer dem Gebiete meines Willens, ich habe auch nicht das Vermögen, ihrer mich zu

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Im Irrgarten der Energetik

besinnen, ich schließe nur aus der Wirkung, daß ich sie tue, sonst weiß ich nichts davon.« (S. 10 f.)

Wo er den Sitz der Lebenskraft im Körper lokalisieren soll, weiß Medicus nicht so recht zu sagen; er ist sich aber sicher, daß dieser Sitz der Lebenskraft nicht im Gehirn in unmittelbarer Nähe zur Seele sein kann und tendiert dazu, ihn ins zentrale Nervensystem zu verlegen. Diese Bestimmung der Lebenskraft als perpetuum mobile wurde jedoch bei weitem nicht von allen Theoretikern der Lebenskraft geteilt, weil man dann, konsequent gedacht, auch die Sterblichkeit von Organismen hätte leugnen müssen. So war z. B. der philosophische Arzt Friedrich Schiller (1759–1805) fest davon überzeugt, daß man die Lebenskraft sehr wohl vermehren und vermindern als auch gezielt manipulieren könne, und läßt deshalb in seinen Räubern (1781) Franz Moor im zweiten Schurken-Monolog Überlegungen zum perfekten, spurenfreien Mord anstellen, und dabei kommt dieser zu dem Ergebnis, die Lebenskraft seines kranken Vaters durch eine diabolische Psychagogik 8 so weit zu schwächen, daß er stirbt, »denn Leidenschaften mißhandeln die Lebenskraft – der überladene Geist drückt sein Gehäuse zu Boden« (2,47). 2.14.2.2 Christoph Wilhelm Hufeland oder Die Lebenskraft als organische energeia Franz Moors Schurken-Monolog liest sich wie eine vorweggenommene Kontrafaktur zu Hufelands berühmtem Buch Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern 9, sozusagen als »Mikrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben gezielt zu verkürzen«, denn beide argumentieren ganz analog, weil sie in der Lebenskraft das Prinzip sehen, das einen Organismus zwar im Innersten zusammenhält, aber trotzdem umsorgt und umhegt, aber eben auch gezielt vermehrt und vermindert werden kann. Hufeland (1762–1836) beginnt sein Buch mit einem Blick auf die Große Kette der Wesen und schreibt in deutlicher Anlehnung an Herder: 1174 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts

»Durch die ganze Natur weht und wirkt jene unbegreifliche Kraft, jener unmittelbare Ausfluß der Gottheit, den wir Leben nennen. Überall stoßen wir auf Erscheinungen und Wirkungen, die ihre Gegenwart, obgleich in unendlich verschiedenen Modifikationen und Gestalten unverkennbar bezeugen, und Leben ist der Zuruf der ganzen uns umgebenden Natur. Leben ist’s, wodurch der Stein sich ballt und kristallisiert, die Pflanze vegetiert, das Tier fühlt und wirkt, – aber im höchsten Glanz von Vollkommenheit, Fülle und Ausbildung erscheint es im Menschen, dem obersten Gliede der sichtbaren Schöpfung. Wir mögen die ganze Reihe der Wesen durchgehen, nirgends finden wir eine so vollkommene Verbindung aller lebendigen Kräfte der Natur, nirgends so viel Energie (!) des Lebens, mit solcher Dauer vereinigt als hier. Kein Wunder also, daß der vollkommenste Besitzer dieses Gutes auch einen so hohen Wert darauf setzt, und daß schon der bloße Gedanke von Leben und Sein so hohen Reiz für uns hat. Jeder Körper wird uns um so interessanter, je mehr wir ihm eine Art von Leben und Lebensgefühl zutrauen können.« (S. 15)

Wie man sieht, argumentiert Hufeland, etwas anders als Medicus, ganz im Sinne von Stahls Medica vera und Herders Ideen, aber ebenso im Sinne von Kleanthes, da auch für ihn die Lebenskraft als solche »unerschöpflich« und »unendlich«, mit einem Wort: »ein wahrer ewiger Hauch der Gottheit« (S. 36) ist, denn er sieht diese Lebenskraft auch in der unbelebten Natur »wehen und wirken«. Und deshalb fährt er fort: »Unstreitig gehört die Lebenskraft unter die allgemeinsten, unbegreiflichsten und gewaltigsten Kräfte der Natur. Sie erfüllt, sie bewegt alles, sie ist höchstwahrscheinlich der Grundquell, aus dem alle übrigen Kräfte der physischen, vorzüglich der organischen Welt fließen. Sie ist’s, die alles hervorbringt, erhält, erneuert, durch die die Schöpfung nach so manchem Tausende von Jahren noch jeden Frühling mit eben der Pracht und Frischheit hervorgeht, als das erstemal, da sie aus der Hand des Schöpfers kam.« (S. 36)

Und für diese Kraft aller Kräfte gilt: »Sie ist’s endlich, die, verfeinert und durch eine vollkommene Organisation exaltiert, sogar die Denk- und Seelenkraft entflammt 10, und dem vernünftigen Wesen zugleich mit dem Leben auch das Gefühl und das Glück des Lebens gibt.« (S. 36)

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Im Irrgarten der Energetik

Auch den Unterschied zwischen Mechanismus und Organismus sieht Hufeland ganz wie Stahl, wenn er schreibt: »Durch den Beitritt der Lebenskraft wird ein Körper aus der mechanischen Welt in eine neue, die organische oder belebte, versetzt. (…) Alle Eindrücke werden in einem belebten Körper anders modifiziert und reflektiert, als in einem unbelebten. Daher ist auch in einem belebten Körper kein bloß mechanischer oder chemischer Prozeß möglich, und alles trägt den Charakter des Lebens.« (S. 39)

Und zu diesem »Charakter des Lebens« gehört auch, daß die Lebenskraft, wie schon Blumenbach und Kant betont hatten, als »plastische Kraft«, als »Reproduktionskraft« und »Bildungstrieb« (S. 48) fungiert, denn, so Kant: »In einem solchen Produkt der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist; (…) nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.« (V,485 f.)

In dieser Weise hatte schon Blumenbach (1752–1840) in seinem Werk über den Bildungstrieb argumentiert, auf das Kant mehrfach verweist, denn dort heißt es, »daß in allen belebten Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder bis zum Schimmel herab, ein besondrer, eingebohrner, lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen. Ein Trieb (oder Tendenz oder Bestreben, wie man’s nennen will), der sowol von den allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt, als auch von den übrigen eigenthümlichen Kräften der organisirten Körper insbesondre, gänzlich verschieden ist; der eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduktion zu seyn scheint, und den ich hier, um aller Misdeutung zuvorzukommen, und ihn von den andern Naturkräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungs-Triebes (Nisus formativus) belege.« 11

Hufeland betont außerdem, daß auch die von Haller entdeckten Fähigkeiten der Organismen zur Sensibilität der Nervenfaser und Irritabilität der Muskelfasern (vgl. S. 49) weitere Manifestationen der Lebenskraft sind. 1176 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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All dies gilt laut Hufeland für die Lebenskraft also solche, und deshalb erscheint auch bei ihm, wie schon bei Medicus, die Lebenskraft als ein unerschöpfliches perpetuum mobile. Für die Lebenskraft eines einzelnen Organismus gilt dies jedoch nicht, denn diese ist sehr wohl begrenzt, und deshalb fährt Hufeland mit einem völlig neuen Gedanken fort und geht zur Frage über, wie sich Leben und Lebenskraft zu einander verhalten. Als Argumentationsmodell dient ihm hier die Akt-Potenz-Lehre, die Aristoteles in Kapitel VIII,6 seiner Metaphysik entwickelt, derzufolge eine aktuelle Handlung (energeia) die Verwirklichung eines Vermögens (dynamis) ist, und schreibt: »Leben eines organischen Wesens heißt der freie wirksame Zustand jener Kraft und die damit unzertrennlich verbundene Regsamkeit und Wirksamkeit der Organe. – Lebenskraft ist also nur Vermögen (potentia, dynamis); Leben selbst Handlung (actus, energeia).« (S. 49)

Wir könnten aber auch sagen: Leben ist verwirklichte, aktualisierte, umgesetzte Lebenskraft bzw. Lebenskraft ist Lebensmöglichkeit, oder auch: Lebenskraft und Leben stehen zueinander im Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, wie Können und Tun, wie Kompetenz und Performanz, wie Handlungsschema und aktuelle Handlung 12, wie Entelechien und Energien 13. Aber dann fährt Hufeland fort: »Jedes Leben ist folglich eine fortdauernde Operation von Kraftäußerungen. Dieser Prozeß hat also notwendig eine beständige Konsumtion oder Aufreibung der Kraft und der Organe zur unmittelbaren Folge, und diese erfordert wieder eine beständige Ersetzung beider, wenn das (Lebens-)Licht fortdauern soll. Man kann also den Prozeß des Lebens als einen beständigen Konsumtionsprozeß ansehen und sein Wesentliches in einer beständigen Aufzehrung und Wiederersetzuung unsrer selbst bestimmen. Man hat schon oft das Leben mit einer Flamme verglichen, und wirklich ist es ganz einerlei Operation. Zerstörende und schaffende Kräfte sind in unaufhörlicher Tätigkeit in einem beständigen Kampf in uns, und jeder Augenblick unsrer Existenz ist ein sonderbares Gemisch von Vernichtung und neuer Schöpfung. Solange die Lebenskraft noch ihre erste Frische und Energie (!) besitzt, werden die lebensschaffenden Kräfte die Oberhand behalten, und in diesem Streite sogar noch ein Überschuß für sie bleiben; der Körper wird wachsen

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und sich vervollkommnen. Nach und nach werden sie ins Gleichgewicht kommen, und die Konsumtion wird mit der Regeneration in so gleichem Verhältnis stehen, daß nun der Körper weder zu- noch abnimmt. Endlich aber mit Verminderung der Lebenskraft und Abnutzung der Organe wird die Konsumtion die Regeneration zu übertreffen anfangen, und es wird Abnahme, Degradation, zuletzt gänzliche Auflösung die unausbleibliche Folge sein.« (S. 49 f.)

In dieser Passage, dem methodologischen Kern des ganzen Werks, sieht man, wie Hufelands Argumentation aus einer an Aristoteles orientierten ontologischen in eine quantifizierende physikalisch-energetische umkippt, und »Lebenskraft« nicht mehr »Lebensmöglichkeit« bedeutet, sondern eine Kraftmenge benennt, eben die Menge an Lebenskraft, die der einzelne Organismus jeweils zur Verfügung hat. Analog dazu wandelt sich ihm auch unter den Händen der Begriff der Energie, der nun plötzlich nicht mehr im Sinne von Aristoteles als energeia, also als Verwirklichung eines Vermögens, verstanden wird, sondern mit dem Kraft-Begriff verschmilzt. Dies hat Schule gemacht, sodaß man mit einem gewissen Recht sagen kann, die energetische Schule des 19. Jahrhunderts beginne mit Christoph Wilhelm Hufeland. So gesehen ist es auch ganz konsequent, wenn Hufeland im folgenden immer wieder von der »Summe der Lebenskraft, die dem Geschöpf beiwohnt« (S. 50), spricht und davon, daß man mit diesem »Vorrat an Lebenskraft« (S. 54) sorgfältig und sparsam umgehen müsse, um möglichst lang zu leben. Wie dies zu geschehen habe, wird dann ausführlich dargelegt, interessiert uns hier aber nicht mehr weiter, denn auf das Lachen als Möglichkeit, auf diesen Vorrat an Lebenskraft irgendwie einzuwirken, geht Hufeland mit keinem Wort ein. Und mit welchem Maß dieses Quantum an Lebenskraft zu messen wäre, fragt Hufeland erst recht nicht. Aber auch das hat Schule gemacht und den Energetikern ein Problem beschert, das sie nie zu lösen vermochten. Und so sehen wir, daß schon am Beginn der energetischen Schule die methodologischen Aporien dieser Denkweise offen zutage liegen.

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Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts

2.14.2.3 Johann Christian Reil oder Die Lebenskraft als Eigenschaft der Materie selbst Am entschiedensten von Stahls biblisch geprägtem Begriff der Lebenskraft distanziert sich der zu seiner Zeit hochberühmte Arzt Johann Christian Reil (1759–1813) in seiner Studie Von der Lebenskraft 14, wenn er Anregungen von Medicus aufnimmt, sie aber dahingehend radikalisiert, daß er die Lebenskraft als eine Eigenschaft der Materie selbst bestimmt und auf den Begriff der individuellen Seele ganz verzichtet, eine für einen Pfarrersohn recht bemerkenswerte Entscheidung. Für Reil muß also die Lebenskraft nicht zu einem toten materiellen Mechanismus erst hinzutreten, um aus ihm einen Organismus zu machen, sondern sie ist der Materie immer schon inhärent, ganz so wie Kleanthes lehrte. Diese These, die dann unter der Bezeichnung »Hylozoismus« diskutiert wurde, vertrat u. a. auch Goethe, weil er den tieferen Grund des Hylozoismus darin sah, der Natur »Würde und Heiligkeit« (26,109) zuzusprechen. So heißt es in Reils Abhandlung gleich in den ersten Sätzen in deutlicher Abgrenzung von Aristoteles, Stahl und Herder: »Eine Seele, als Substanz betrachtet, die den absoluten Grund der Vorstellungen enthält, ist ein Ding, für welches wir in der Erfahrung keinen Beweis haben. Wir können sie daher auch nicht als einen Erklärungsgrund oder als Ursache tierischer (animalischer) Erscheinungen in einer rationellen Naturlehre annehmen. Die Vorstellungen sind übrigens mit einer bewegenden Kraft begabt, wirken auf die Materie und nehmen Wirkungen von der Materie an.« (S. 2)

Daraus ergibt sich für ihn sofort die Konsequenz, die Seele durch das Gehirn zu ersetzen, das aber auch nur Materie ist, und dies formuliert er dann in der traditionellen cartesianischen Terminologie: »Die Erscheinungen belebter Körper haben also entweder in der Materie, nämlich in dem beweglich Ausgedehnten (res extensa), oder in den Vorstellungen (res cogitans) ihren Grund. (…) Vorstellungen können also nicht der Grund tierischer Erscheinungen (animalischer Phänomene) sein, ehe Sinnesorgane wirken, ehe ein Gehirn da ist, oder wenn das Gehirn verletzt oder zerstört ist. Vorstellungen wirken nur auf das

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Im Irrgarten der Energetik

Gehirn; und ihre Veränderungen, die sie in andern Teilen des Körpers erregen, sind Fortsetzungen der Tätigkeit des Gehirns. Die meisten tierischen Erscheinungen, aller bloß tierischen Erscheinungen, aller Erscheinungen, die vor der Ausbildung des Gehirns, vor der Wirkung der Sinne, bei Tieren, deren Gehirn verletzt ist, oder die kein Gehirn haben, bei Mißgeburten ohne Kopf, im Schlaf, wenn keine Vorstellungen vorhanden sind, usw. stattfinden, müssen also allein in dem Räumlichen, in der Materie (also in der cartesianischen res extensa) gegründet sein.« (S. 2)

Und daraus ergibt sich für Reil sofort ein Programm der Physiologie zur Erforschung animalisch-organischer Phänomene: »Nie muß (darf ) der empirische Physiologe tierische Erscheinungen von Vorstellungen ableiten, wenn keine da sein, oder wenn sie mit den beobachteten Erscheinungen keine erfahrungsmäßige Gemeinschaft haben. Von einer Seele, als einer übersinnlichen unerwiesenen Substanz, darf er gar keine tierische Erscheinungen ableiten, weil er sonst aus einem hypothetischen Prinzip erklären würde.« (S. 2)

Aus dieser Verneigung vor Newtons Wissenschaftsverständnis ergibt sich dann für Reil sein eigenes Programm als Physiologe, weshalb er fortfährt: »Ich werde daher den Grund aller Erscheinungen tierischer Körper, die nicht Vorstellungen sind, oder nicht mit Vorstellungen als Ursache oder Wirkung in Verbindung stehen, in der tierischen Materie und in der Mischung und Form derselben suchen.« (S. 3)

Dann folgt ein kurzer ideengeschichtlicher Rückblick auf die verschiedenen Versuche, nach dem Schema »Der Geist X belebt die Materie M« animalische Phänomene zu erklären, die Reil jedoch alle schlichtweg ablehnt: »Die Alten nahmen in den Bäumen Nymphen, van Helmont einen Archaeus, und Stahl eine Seele als Prinzip der Erscheinungen an. Allein für die Existenz der Geister haben wir durch die Erfahrung keinen Beweis.« (S. 3)

Die Annahme derartiger Geister aller Art sei aber auch gar nicht nötig, denn, so Reil: »Es gibt belebte Dinge, Pflanzen und Tiere, an denen sich, ob wir ihnen gleich weder Vernunft noch Seele zuschreiben, doch deutliche Lebensbewegungen zeigen.« (S. 3 f.)

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Die Lebenskraft im Meinungsstreit des 18. Jahrhunderts

Das heißt aber wiederum, daß ein wirkendes Prinzip, also die Lebenskraft (vis vitalis), in der Materie selbst stecken muß, da sich ja schon in der unbelebten Natur zweckmäßig formende Kräfte manifestieren und Körper hervorbringen, »die eine bestimmte Grenze und eine mehr oder weniger symmetrische oder zweckmäßige Gestalt und Struktur haben« (S. 6). Und das wiederum heißt: »Form, Struktur, Bildung, Organisation der Materie ist schon die Folge ihrer Eigenschaft; also Erscheinung, und ändert nur die Gestalt und Richtung der Phänomene ab, ohne ihre Natur zu ändern. Wir legen also der Materie, insofern sie die Eigenschaft hat, durch Erscheinungen unsern Sinnen bemerkbar zu werden, Kraft bei.« (S. 7) »Kraft ist also etwas von der Materie Unzertrennliches, eine Eigenschaft derselben, durch welche sie Erscheinungen hervorbringt.« (S. 23)

Und diese ominöse Kraft ist für Reil die Lebenskraft. Diese Apotheose der Lebenskraft liest sich fast so, als wolle Reil die alte Physikotheologie der Heiteren Aufklärung durch eine Anleihe bei Kleanthes und Spinoza erneuern, aber eben als Physikotheologie ohne Gott, indem er eine von Gott emanzipierte, sich selbst organisierende Materie an die Stelle Gottes als Urheber und Prinzip aller Gestaltung setzt. Doch hier taucht ein Problem auf. Da Reil nämlich die Lebenskraft einerseits als Energie versteht, andererseits aber auch, ähnlich wie die Lebensgeister, als eine Substanz an der Grenze der Stofflichkeit, die durch Beimischung zur gröberen Materie diese erst »veredelt« und »erst fähig macht, den zureichenden Grund tierischer Erscheinungen zu enthalten« (S. 13), wird Reils Lebenskraft, ontologisch gesehen, zu einem seltsamen Zwitterwesen, ähnlich wie Stahls Phlogiston, nur mit dem Unterschied, daß Stahls Phlogiston die Verbrennung von Materie bewirkte, die Lebenskraft hingegen deren Selbstorganisation: »Einerseits ist sie ein feiner unbekannter Stoff, der der groben tierischen Materie beigemischt wird, andererseits ist sie als ›organische Kraft‹ nur eine Eigenschaft der letzteren.« 15

Als Kraft oder Energie wie als Stoff kann sie laut Reil im Organismus zum Zweck »animalischer Ökonomie« (S. 63) auf den Nervenbahnen hin- und hergeschoben, angesammelt und neu verteilt wer1181 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

den, ganz wie die Lebensgeister der cartesischen Physiologie, die ja auch ontische Zwitterwesen waren, und auch ganz wie die »nervöse Energie« Spencers, die »psychische Energie« Freuds oder die »aktionsspezifische Energie« von Konrad Lorenz, sodaß man sagen könnte, Reil habe diesen Lebensgeistern bloß die weitere Eigenschaft zugewiesen, auch noch Energie zu sein. So gesehen hat also nicht nur Hufeland, sondern auch Reil den Energetikern von Spencer bis Freud und Lorenz ein Problem hinterlassen, an dem sie sich, wie wir sehen werden, genauso vergeblich abarbeiteten, weil sie sich letztlich nie aus den Widersprüchen befreien konnten, die sie sich mit der Vorstellung von Quanten energetischer Stofflichkeit bzw. von Quanten stofflicher Energie eingehandelt hatten. Die Kritik, die die Physiologen des 19. Jahrhunderts am Prinzip der Lebenskraft übten, setzte aber nicht hier an, sondern am Energieund Kraft-Begriff und an der zu großen Nähe dieses Denkens zur romantischen, aber auch zur Goetheschen Naturphilosophie, denn für Physiker ist Energie nicht Ursprung oder Ursache einer Bewegung, sondern nichts als das Maß dieser Bewegung, und so erschien den physikalisch orientierten Physiologen des 19. Jahrhunderts nach der Entdeckung des Energie-Erhaltungs-Satzes durch Mayer, Helmholtz und Joule das Konzept einer unerschöpflichen Lebenskraft geradezu als romantisches Hirngespinst. Aber damit hatte sich sofort wieder ein neues Problem ergeben, denn womit man das Maß organischer Bewegung messen könnte, wußten auch sie nicht zu sagen. Aber nur wenige waren so ehrlich wie Emil Du Bois-Reymond, sich zu einem »Ignoramus, ignorabimus!« durchzuringen. 2.14.3 Der moderne Mythos vom Elementenkind Hans Dampf Zeitgleich mit der Diskussion um die Lebenskraft begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Siegeslauf einer ganz neuen Art von Maschine als Energiequelle, denn als der schottische Ingenieur James Watt 1776 die erste funktionierende Dampfmaschine baute und ihr einige Jahre später auch noch einen Fliehkraftregler hinzufügte, um die Drehzahl des Schwungrades und damit deren 1182 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der moderne Mythos vom Elementenkind Hans Dampf

Energieumsatz und Arbeitsleistung gezielt konstant zu halten, war eine Maschine mit einem sich selbst regulierenden eigenen Antrieb erfunden, die sich in weit höherem Maß anbot, als mechanistisches Modell für Organismen aller Art zu dienen als dies die im Vergleich dazu primitiven Uhren waren, die einen Antrieb von außen brauchten und seit Descartes und La Mettrie als mechanistische Paradigmata für Organismen gedient hatten. Dazu kam, daß der Dampf, der hier durch die Ventile flitzte, ganz stark an die Lebensgeister der mechanistischen Physiologie erinnerte und somit auch diesen wieder eine ganz neue Art von Plausibilität verschaffte. Und außerdem bot es sich an, den Motor dieser neuen Maschine mit der individuellen Lebenskraft eines Organismus als dessen Antrieb zu vergleichen, der sich seine Energie aus dem unerschöpflichen Reservoir der allgemeinen Lebenskraft holt, und diese dann in die einzelnen Glieder und Organe eines Organismus schickt, um dort alle möglichen organischen Leistungen zu vollbringen, ganz so wie dies der Dampf in der Dampfmaschine tut, wenn man den Kessel nur ausreichend mit Brennstoff und Wasser beschickt. Die schon im 18. Jahrhundert beliebte Metapher »Körpermaschine« hatte also einen ganz neuen und weitaus plausibleren Sinn bekommen, und konnte nunmehr mit bestem Gewissen verwendet werden. Wenn Schiller in seiner medizinischen Dissertation Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen 1780 die Thesen aufstellt »Geistiges Vergnügen befördert das Wohl der (körperlichen) Maschine« (10,24) bzw. »Geistiger Schmerz untergräbt das Wohl der Maschine« (10,26) und seinen Franz Moor bei seiner psychagogisch-physiologischen Intrige gegen den eigenen Vater dann auch entsprechend handeln läßt, so folgt er dabei völlig dem Sprachgebrauch der Zeit. Es bot sich alsbald sogar an, die Natur selbst als arbeitende Maschine 16 zu verstehen, und somit hat Dolf Sternberger wohl recht, wenn er schreibt, aus der durch die mechanistische Physik neu erschaffenen Maschinenwelt sei hier »die moderne Mythologie« 17 entstanden, und eine dieser neuen mythologischen Gestalten ist, wie wir sehen werden, der Junker Hans Dampf. Da der Arzt Julius Robert Mayer 1842 zum Energie-ErhaltungsGesetz aufgrund von Überlegungen zur Wärmedynamik gekom1183 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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men war, lag es für ihn ganz besonders nahe, Vergleiche und Analogien zwischen dem Verbrennungsprozeß in Organismen und Dampfmaschinen zu ziehen, was er auch ungeniert tat. Herbert Breger listet sie in seiner Dissertation über Mayer wie folgt auf: »Bei Tieren wie bei Dampfmaschinen ist die Bewegungsproduktion an einen Wärmekonsum gebunden; der Nahrung von Tier und Mensch entsprechen die Kohlen der Dampfmaschine; der Abnutzung der Organe eines Lebewesens entspricht die auch bei der Dampfmaschine erforderliche Reparatur; bei Dampfmaschinen und Lebewesen ist die Zufuhr von Luft für die Verbrennung und die Abfuhr schädlicher Stoffe gleichermaßen wichtig; Muskel, Dampfmaschine und Gewehr stimmen darin überein, daß jeweils nicht die gesamte chemische Energie in mechanische Energie verwandelt wird. (…) Einmal vergleicht Mayer über sieben Seiten hin die Fähigkeit des lebendigen Gewebes, chemische in mechanische Energie zu verwandeln, mit der Fähigkeit der Gase, Wärme in mechanische Energie zu verwandeln (also den in der Dampfmaschine stattfindenden Vorgang). Diese Analogien zwischen Muskelirritabilität und Elastizität der Gase nennt Mayer ausdrücklich eine ›naturgemäße Vergleichung‹. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Bewegungsapparate der kaltblütigen Tiere im allgemeinen den permanenten Gasen, das der warmblütigen Tiere den Dämpfen analog sei. ›Wäre sonst nichts als Bewegung und Wärme ins Auge zu fassen, so könnten wir eine Dampfmaschine auch ein warmblütiges Tier nennen.‹« (S. 182 f.)

Mit Beginn des industriellen Zeitalters stellt sich die Lebenskraft also in erster Linie als menschliche und maschinelle Arbeitskraft dar, und es beginnt, wie Gottfried Keller es in seiner Novelle nennt, die Epoche eines neuen Ernstes als Epoche des »verlorenen Lachens«. Wird die Analogisierung von Dampfmaschine und Organismus aber auf die Gelotologie übertragen, so lautet die neue Ätiologie des Lachens: Im Lachen faucht der Organismus überflüssige oder unverwendbare Energie ab, und damit erscheint Lachen als Verschwendung von kostbarer organischer Energie. Dieses Argumentationsmodell, so geistesschlicht es immer auch sein mag, finden wir nun tatsächlich bei allen energetisch orientierten Ätiologien des Lachens von Herbert Spencer über Sigmund Freud und Konrad Lorenz bis herauf zu Georges Bataille. 1184 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der moderne Mythos vom Elementenkind Hans Dampf

Die Kehrseite dieser Vermaschinisierung von Organismen ist die Anthropomorphisierung und Theriomorphisierung von Maschinen im frühen 19. Jahrhundert als ein weiterer Aspekt dieser neuen modernen Mythologie, wenn man z. B. von »Dampfrössern«, von »Dampfmenschen« oder gar vom »Junker Hans Dampf« 18 spricht, der von Feuer und Wasser in einer chymischen Hochzeit als »Elementenkind«19 gezeugt wird und dann als der moderne Proteus auftritt und sich ans Werk macht. In diesen neuen Varianten der alten Golem-Sage treten als Protagonisten dieser modernen Mythologie allerlei Mischwesen halb menschlicher und halb maschineller Herkunft und außerdem auch noch rein mechanische Automaten mit ganz neuen und z. T. recht unheimlichen Fähigkeiten auf, die die Fantasie der Autoren und des Lesepublikums 20 intensiv beschäftigten. Ein sehr typisches Beispiel dafür ist Theodor Fontanes frühes Gedicht vom Junker Dampf aus dem Jahr 1845: Aus einem edlen Stamme Sproß er, der Junker Dampf: Das Wasser und die Flamme, Sie zeugten ihn im Kampf; Doch hin und her getragen, Ein Spielball jedem Wind, Schien aus der Art geschlagen Das Elementenkind. Ja, frei an Füß’ und Händen Ist er ein lockrer Fant, Doch hinter Kerkerwänden, Da wird er ein Gigant: In tausend Trümmerreste Zerschlägt er jede Haft, Mit ihrer Dicht’ und Feste Wächst seine Riesenkraft. Selbst da, wo seiner Zelle Ein schmales Pförtlein blieb, Ringt er nach Luft und Helle Mit solchem Sturmestrieb,

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Daß, wenn ihn beim Entwischen Des Tores Enge hemmt, Den Kerker unter Zischen Er auf die Schulter klemmt. Und so, trotz eh’rner Fessel An Füßen noch und Hand, Reißt er den Kerkerkessel Im Fluge mit durchs Land, Reißt ganze Häuserreihen Mit fort im Wirbelwind, Bis wieder er im Freien Nichts als – ein spielend Kind. (S. 366 f.)

Wenn man die Texte dieser Dampf-Poesie durchliest, fällt auf, daß sie alle sehr ernst gestimmt sind und daß das Elementenkind Hans Dampf immer als durchaus ernstes und finsteres Gegenstück zum strahlend lachenden göttlichen Kind im Sinne von Vergil erscheint und deshalb auch niemals lachend dargestellt wird, ja daß dieser Junker Hans Dampf sogar eher als eine latent bedrohliche Gestalt erscheint, die ihr Lachen genauso verloren hat wie Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl (1814) seinen Schatten. Keiner dieser neuen Mythologen kommt also auf die Idee, diesem Knaben Hans Dampf in Anlehnung an Vergil zuzurufen: »Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem et patrem!«, weil Hans Dampf zwar kein infernalisches Wesen als »Satan en herbe« ist, als das Baudelaire ihn wohl gestaltet hätte, aber eben auch kein göttliches Kind mehr mit strahlend heiterem Lachen, sondern bloß noch ein titanisches Elementenkind, stinkend, lärmend, aggressiv und von Qualm umwabert. Im Vergleich zu Fontanes (1819–1898) Dampf-Gedicht von 1845 ist der Ton von Geibels Dampf-Poesie schon erheblich düsterer, was man diesem Goldschnitt-Lyriker gar nicht zugetraut hätte, denn Emanuel Geibel (1815–1884) entwirft in seinem langen Gedicht Mythos vom Dampf von 1856 sogar ein apokalyptisches Szenario als Götterdämmerung und Ragnarök der technisierten Welt, das damit beginnt, daß zwei uranfänglich miteinander verfeindete Elementargeister, eine »Meerfey« und ein »Feuergeist«, vom Menschen als dem neuen »Herrn der Schöpfung« mit Gewalt 1186 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der moderne Mythos vom Elementenkind Hans Dampf

aus ihrer natürlichen Umgebung gerissen, verkuppelt und ins Brautbett gezwungen werden und dadurch ihren ehemals göttlichen Charakter verlieren. Das in dieser chymischen Hochzeit gezeugte Riesenkind wird dann als Dampf vom Menschen zu niederen Diensten versklavt und brütet während seiner Arbeit eine apokalyptische Rache-Orgie aus, bei deren Erfüllung die entmachteten Naturgötter an einem »Tag des Zorns« (dies irae) in ihren eigenen Untergang auch die technikgläubige Menschheit mit hinein reißen: Und sieh, aus ihrem dunkeln Bunde, Aus Lieb’ und Abscheu, Brunst und Kampf Erwächst in mitternächt’ger Stunde Das starke Riesenkind, der Dampf. Mit wildem Tosen hochgestaltig Entspringt er aus der Wiege Haft, Durch all sein Wesen gährt gewaltig Des Vaters Zorn, der Mutter Kraft. Er fühlt’s in seinen Adern sieden, Ihn dünkt kein Werk zu schwer, zu groß, Doch, ach, es ward ihm nicht beschieden Ein Feld des Ruhms, ein Heldenlos. Nicht darf er in die Wolken greifen, Nicht spielen mit des Blitzes Loh’n, In Lüften nicht die Welt durchschweifen, Ein freigeborner Königssohn. Nein, wo der Mensch von Eisenschienen Sein unabsehbar Netz gespannt, Da muß in hartem Frohn er dienen, Ein Herkules im Knechtsgewand, Da muß er mit des Windes Flügel Wettlaufen in erglühter Hast Und über Heide, Strom und Hügel Dahinziehn die getürmte Last. Des Mühlrads ungeheure Speichen Muß er im Schwunge rastlos drehn,

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Im Irrgarten der Energetik

An’s Schiff geschmiedet muß er keichen Als Ruderknecht bei Sturmeswehn, Er muß den Riesenhammer führen Zu ewig wiederholtem Schlag, Des Webstuhls Spulen sausend rühren; Ein neues Werk bringt jeder Tag. Seit Jahren trägt er’s, doch im stillen Gedenkt er seines Stammes noch; Und feindlich allem Menschenwillen, Ingrimmig knirscht er in sein Joch. O wenn von seiner Kraft getrieben Ihr nachts durchflogt ein weit Gebiet, Vernahmt ihr bei der Funken Stieben, Vernahmt ihr nie sein dräuend Lied? Frohlocket nur, ihr Herrn der Erde! Ihr Staubgebilde, bläht euch nur, Daß ihr uns herzwangt zur Beschwerde, Die alten Götter der Natur! Ein schnöder Raub ist eure Krone, Ein Hochverrat ist euer Ruhm; Denn uns verstießet ihr vom Throne Und teiltet unser Fürstentum. Wohl dienen wir euch nun als Knechte, Und dulden eurer Geißel Schlag; Doch murren wir im Schoß der Nächte, Und harren auf der Sühnung Tag. Es bleibt des Glückes Sonnenwende Für kein Geschlecht von Herrschern aus; Auch euer Reich hat einst ein Ende! Auch euer Bau zerfällt in Graus! Wenn ihr dereinst in Eisenbande Des letzten Eilands Wildnis schlagt, Wenn prunkend ihr durch alle Lande Die Fackel stolzer Weisheit tragt, Wenn dann von euren Königssesseln

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Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

Ihr greifet nach des Himmels Schein: Dann springen jählings unsre Fesseln, Dann bricht der Tag des Zorns herein. Dann wird des Vaters Krone blitzen, Und jeder Blitz ist Weltenbrand; Dann wird bis zu der Berge Spitzen Die Mutter ziehn ihr Schaumgewand; Dann will ich selbst auf freier Schwinge Durch’s All, Zerstörung brausend, wehn, Und überm Trümmersturz der Dinge Aufjauchzen, und in’s Nichts vergehn. 21

So gesehen kann es eigentlich auch nicht überraschen, daß bei der durchaus ernsten Grundstimmung dieser Zeit zu Beginn der Industrialisierung das Lachen kein Thema war, an dem sich die Philosophen, Psychologen und Physiologen intensiv hätten abarbeiten wollen, und wenn dieses Thema überhaupt zur Sprache kommt, dann ist es das Lachen weit jenseits des Heiteren, das im Zentrum des Interesses steht, wie wir dies schon bei Baudelaire gesehen haben. Und daß das Lachen im Zeitalter der Dampflok vornehmlich als zorniges Fauchen verstanden wurde, kann eigentlich auch nicht mehr sonderlich überraschen.

2.14.4 Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts 2.14.4.1 Alfred Wilhelm Volkmanns Vorbehalte Die Kritik an der Lehre von der Lebenskraft setzt eher leise ein, wie man an der populärwissenschaftlich gehaltenen Einführung in die Physiologie und Anatomie des Menschen ablesen kann, die Alfred Wilhelm Volkmann (1801–1877) 1837 unter dem Titel Die Lehre von dem leiblichen Leben des Menschen 22 veröffentlichte. In der Vorrede zu seinem Werk verweist Volkmann auf den Enthusiasmus, mit dem in der gebildeten Öffentlichkeit seiner Zeit die neuesten Entdeckungen der Naturwissenschaften begrüßt wer1189 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den 23, und mahnt deshalb an, daß es an der Zeit sei, auch sich selbst als leibliches Wesen in seiner anatomisch-physiologischen Beschaffenheit zu entdecken. Ausgangspunkt seiner gesamten Argumentation ist die alte, in der romantischen Naturphilosophie wieder aufgegriffenen Lehre der Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos, weshalb, wie er in der Vorrede schreibt, auch der menschliche Leib »nicht bloß menschlicher Leib (ist), sondern Thierleib und Pflanzenleib, (denn) alle Erscheinungen der Welt im Großen kehren in ihm wieder«. Von hier aus gesehen erscheint die Lebenskraft als das beseelend-belebende Prinzip, das einen Organismus von einem unbelebten Körper unterscheidet, als das mikrokosmische Analogon zur Weltseele, die den gesamten, ebenfalls als Organismus verstandenen Kosmos beseelt und belebt, also als »ein Theil des Lebensathems, der das Weltall durchweht« (S. 75). Diesem hoch spekulativem System gegenüber, auf dessen Spuren wir schon bei Herder gestoßen sind und das dann bei Goethe und Schelling 24 weiter ausgebaut wurde, empfindet Volkmann ein gewisses Unbehagen, weil es, wenn es konsequent durchdacht wird, dazu führt, daß es die Idee der Freiheit ausschließen muß, die für ihn in der spontanen zweckmäßigen Selbstbewegung eines Organismus (vgl. S. 70 ff.) liegt, und deshalb meldet er die entsprechenden Zweifel an. Dann referiert er knapp, aber korrekt die beiden wichtigsten Lebenskraft-Konzepte, die wir auch schon kennengelernt haben, und charakterisiert sie als materialistisch-pantheistisch, womit er das Konzept von Reil meint, resp. als spiritualistisch, womit er Stahls Ansatz meint: »Die Materialisten lassen Kraft und Materie zusammenfallen, indem ihnen Kräfte nichts anderes sind, als Eigenschaften der Materie selbst. Die Eigenschaften der Materie hängen von der Form und Mischung, und die Lebensthätigkeiten der Organismen von der organischen Form und Mischung ab. Umgekehrt verfahren die Spiritualisten, die entweder die Materie selbst aus der Kraft hervorgehen lassen, oder doch jedenfalls die Kraft als unabhängig von der Materie betrachten, und ein wirkliches Sein auch ohne Raumerfüllung annehmen. Nach ihnen ist die Lebenskraft früher als der Organismus, und verhält sich zu diesem, wie Ursache zur Wirkung. Der Spiritualist unterscheidet

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Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

daher auch die Seele vom Körper, und betrachtet sie wohl gar als Ursache aller Lebenserscheinungen, und als Baumeisterin ihres Körpers, wie Stahl lehrte.« (S. 76)

Welcher dieser beiden Lehren er selbst zuneigt, verrät er jedoch nicht, er fügt sogar hinzu: »Noch weniger können wir wagen, eine eigne Ansicht zu entwickeln, da dies eine vorläufige Verständigung über Principien voraussetzen würde, die außerhalb der Grenzen der Erfahrung, und also in einem Gebiete liegen, dessen Vermeidung der Plan dieses Werkes nothwendig mit sich bringt.« (S. 76)

Ob man diese Haltung nun als indifferent, feige, vorsichtig, zurückhaltend, diplomatisch oder pragmatisch deuten will, kann man hier noch nicht entscheiden; denn diese rundum neutrale Haltung zeigt zunächst nur, daß um 1840 ein Paradigmenwechsel in der Beurteilung des Lebendigen stattgefunden haben muß, und deshalb kommt Volkmann zu dem vorläufigen und recht pragmatischen Schluß: »Demungeachtet werden wir das Wort Lebenskraft brauchen, aber nur um eine Bezeichnung zu haben für das unbekannte Princip, welches dem Leben zum Grunde liegt. Die Untersuchung der Lebenserscheinungen ist das Mittel, jenes unbekannte Princip zu ergründen, und in so weit wir die Erscheinungen des Lebens schon kennen, muß es sogar erlaubt sein, der Lebenskraft gewisse Qualitäten zuzuschreiben.« (S. 76)

Im Kapitel über das Seelenleben (S. 139 ff.) kommt er aber nicht umhin, doch Farbe zu bekennen, entscheidet sich aber auch hier für keine der beiden Positionen, wenn er einerseits schreibt, es sei nicht zu leugnen, »daß sehr viele Erscheinungen des Seelenlebens die materialistische Ansicht zu unterstützen scheinen« (S. 164), weil Verletzungen des Gehirns die Seelenkräfte beeinträchtigen, und hinzufügt: »Wir kennen keine Erfahrung, welche dem Materialismus stärker das Wort spräche, als diese, indem sie anzudeuten scheint, daß die Lebenserscheinungen überhaupt und die Seelenthätigkeiten insbesondre aus den chemischen Konflikten verschiedener organischer Stoffe hervorgehen.« (S. 164 f.)

Er fügt aber auch hinzu: 1191 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

»Eine Menge Thatsachen begünstigen die Ansicht, daß die Seele nur eine Qualität der thierischen Materie sei, aber nicht eine Thatsache beweist sie. Vielmehr erlauben alle jene Thatsachen, welche der Materialismus zu seinen Gunsten in Anspruch nimmt, noch eine andere Deutung, und die spiritualistische Ansicht, welche die Seele als ein dem Organismus innewohnendes Wesen eigner Art betrachtet, steht mit der materialistischen insofern in gleichem Range, als die empirische Physiologie sie weder erweisen noch widerlegen kann. Zwar ist richtig, daß Kraft nur an Materie gebunden vorkommt, aber erschlichen ist die Folgerung, daß das Spiel der Kräfte eine Folge der materiellen Veränderungen sei. Für diesen zweiten Theil der Behauptung giebt es keine empirischen Belege. Die Identität von Bewegtem und Bewegendem, von Materie und Kraft, ließe sich nur dann erweisen, wenn wir im Stande wären, zu zeigen, nicht nur daß Veränderungen der Materie Veränderungen in den Kräften hervorbringen, sondern auch daß bestimmte Veränderungen in der Materie gerade die Veränderungen in den Kraftäußerungen hervorbringen müssen, welche zur Erscheinung kommen. Einen solchen Beweis können wir aber nicht führen, weil uns das Wesen der Materie verborgen ist. Was aber die Hypothese anlangt, so würde sie, um auf Wahrscheinlichkeit Anspruch machen zu können, nachzuweisen haben, daß, wenigstens so weit unsere Blicke in die Natur eindringen, die Veränderungen der Materie und der an sie gebundenen Kräfte gleichen Schritt halten. Im organischen Leben aber und vorzugsweise im Seelenleben sind die Fälle zahllos, wo eine Wechselbeziehung zwischen materieller Veränderung einerseits und Kraftäußerungen andererseits durchaus nicht nachweisbar ist. Die Behauptung, daß die organischen Kräfte nur Eigenschaften der organischen Atome wären, ist so wenig erwiesen, daß man mit gleichem Rechte behaupten kann, die organische Kraft habe als zeugendes Princip schon bestehen müssen als der Keim des ersten Organismus erschaffen wurde.« (S. 165 f.)

Aus all diesen wohlabgewogenen Überlegungen zieht Volkmann mit vorsichtiger Zurückhaltung den Schluß: »Aus Allem ergiebt sich, daß das Verhältniß der Seele zum Körper für die empirische Physiologie ein Problem bleibt. Aber auch dieses negative Resultat ist von Wichtigkeit. Es ist von Wichtigkeit, weil es falschen Folgerungen vorbeugt, und namentlich dem Materialismus die

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Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

Spitze bietet, welcher nicht selten mit der Anmaßung auftritt, als ob nur sein System mit einer gesunden Naturanschauung vereinbar sei.« (S. 167)

Mit welcher Anmaßung die materialistischen Kritiker der Lebenskraft dann tatsächlich aufgetreten sind, werden wir gleich sehen. Volkmann konnte in seinem Buch das gleichzeitig entstandene Werk von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth Ansichten über Natur- und Seelenleben 25 nicht mehr berücksichtigen, das leider Fragment geblieben ist und deshalb von Autenrieths Sohn herausgegeben wurde. Der erste Teil ist angelegt als naturphilosophische Summe der Lebenskraft-Theorien und als Gegenentwurf zur Naturphilosophie Schellings, dessen Name übrigens nie fällt, der zweite Teil über das Seelenleben fehlt fast völlig. Aus einigen bruchstückhaften Kapiteln (S. 454 ff.) kann man aber mit der gehörigen Vorsicht mutmaßen, daß Autenrieth im Sinn hatte, aus den Fähigkeiten der Lebenskraft auch die Unsterblichkeit der Seele und die leibliche Auferstehung nach dem Tode als Form pietistischer Wiedergeburt abzuleiten. Autenrieth (1772–1835) war Mediziner und Biologe, Leiter einer Klinik in Tübingen, Kanzler der dortigen Universität und erklärter Anhänger der Stahlschen Richtung in der Medizin und vertrat deshalb die These, daß die Lebensursache für alle Organismen »in einer selbstständigen Kraft liege, welche hinzutretend zu dem an sich todten Körper diesen belebe, und ihn bei ihrem Entweichen wieder todt zurücklasse« (S. 13). Diese »Einkörperung« der Lebenskraft in die Materie erfolgt, ganz wie bei Stahl, nach dem biblischen Modell, da auch Autenrieth tief im Pietismus verankert war, und läßt sich, frei nach Joh. 1,14 auf den Nenner bringen: So wie das Wort Fleisch wird und unter uns wohnt, so körpert sich auch die Lebenskraft in einen Organismus ein, wohnt in ihm und zwingt ihm ihre eigene Dynamik und ihre eigenen Fähigkeiten auf, kann diesen aber auch wieder verlassen und evtl. im Fall von Scheintod und Wiederbelebung erneut entsprechend ihren Eigenschaften zu einem zweiten Leben erwecken. Die Lebenskraft selbst versteht Autenrieth als »unwägbare Flüssigkeit« (S. 7), also als ein »Fluidum« oder Pneuma, ein nicht-materielles, deshalb auch nicht meßbares energetisches Prinzip, das 1193 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

mit den anderen »Imponderabilien« Wärme, Licht, Magnetismus, Elektrizität und Ansteckungskraft vieles gemein hat, außerdem aber noch einige zusätzliche Eigenschaften und Fähigkeiten aufweist, die tote Materie zu lebenden Organismen macht, sobald sie dieser »beitritt«. Zu diesen speziellen Belebungsfähigkeiten, durch die die Lebenskraft sich von den anderen genannten »unwägbaren« Kräften grundsätzlich unterscheidet, zählt Autenrieth die Fähigkeit zu integraler Selbsterhaltung, Selbstheilung und Selbstergänzung, die Fähigkeit zu ambivalenter Selbstbegrenzung, Selbststeigerung und Selbstdifferenzierung, sowie die Fähigkeit zu unverminderter Selbstreproduktion. Autenrieths enge Orientierung an Stahl und an der pneumatischen Physik der Stoa wird deutlich, wenn er schreibt: »Nimmt man die Ursache des organischen Lebens als in einer hinzutretenden selbstständigen Kraft liegend an, so bestände das Einkörpern der Lebenskraft, die selbst in doppelter Richtung der Ausdehnung oder Bewegung vom Mittelpunkt hinweg und der Zusammenziehung oder der Bewegung gegen den Mittelpunkt zu sich äußert, zunächst in einem Verschmelzen dieser Lebenskraft mit dem jedem Körper neben dem sonstigen Grunde seiner Eigenthümlichkeit wesentlich zukommenden Verhältniß zwischen ausdehnender und zusammenziehender Kraft. Dieses letztere dynamische Verhältniß ist untrennbar vom Daseyn des Körpers, als eines solchen; die Lebenskraft aber wäre von ihm wieder scheidbar. Durch ihre vorübergehende Verschmelzung aber mit jenem der körperlichen Materie zukommenden dynamischen Verhältnisse setzte sie den organischen Körper, der ihr nun folgen muß, in Stand, auch äußerlich alle diejenigen Veränderungen kund zu thun, welche ihn als einen nun lebenden bezeichnen, also auch Kräfte zu äußern, welche er nicht aus der umgebenden Außenwelt entlehnt, sondern die gleichsam aus seinem Innersten heraus neu in das Daseyn treten, aber auch aus diesem sich wieder zurückzuziehen vermögen, ohne daß der belebt gewesene Körper dadurch auch als Körper aus der Welt verschwände.« (S. 13)

Im Gegensatz zu den anderen Imponderabilien Wärme, Licht, Magnetismus und Elektrizität, die sowohl in der belebten wie in der unbelebten Natur am Werk sind, aber gleichsam geschichtslos wirken und sich ewig gleich bleiben, hat die Lebenskraft, weil sie aus1194 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

schließlich in belebbaren Organismen wirkt, laut Autenrieth eine ihr immanente Tendenz zur Negentropie, womit Darwins und Bergsons Evolutionstheorien im Ansatz schon vorweggenommen werden, denn bei Autenrieth heißt es ausdrücklich: »Zugleich trit aber die Lebenskraft als ein Wesen höherer Art, als alle (anderen) Imponderabilien, durch das ihr mit jener Fortpflanzungsfähigkeit inwohnende, ihr ebenso wesentliche Vermögen auf, steigend einer immer höhere Vielseitigkeit in ihren Aeußerungen durch eine innere Veränderung zu erreichen, so ferne wir nach unserm Maßstabe messen und eine Kraft, welche, obschon selbst noch willenlos und bloßer Nothwendigkeit in ihrer Thätigkeit folgend, doch einer zunehmenden vielartigen Entwicklung vom kleinsten Anfange aus fähig ist, für höher gestellt und vollkommener erachten müssen, als die Kräfte der an sich todten Welt der wägbaren Stoffe und die immer in sich unveränderbar bleibenden unwägbaren Flüssigkeiten, obschon auch bereits diese nur in ununterbrochener Thätigkeit ihr Daseyn kund thun. Es bleibt selbst die Elekricität, sey sie positive oder negative, mag sie unter Umständen entwickelt werden, unter welchen sie will, immer dieselbe, wie das magnetische Fluidum und wie die Wärme gleich bleiben. Auch das Licht, es mag stark oder schwach seyn, zeigt, getrennt, immer nur dieselben Prismafarben, nie eine neue, dagegen aber trit schon in jedem Individuum der organischen Welt eine neue Seite des Lebens nach der andern auf, so daß das Vollendete oft den Anschein einer völlig verschiedenen Art von der des ersten Anfangs gewinnt.« (S. 36 f.)

Und das heißt wiederum: »So erweis’t schon jedes organische Einzelwesen jene Fähigkeit der Lebenskraft, zu immer höherer Vielseitigkeit sich auszubilden, und so erweis’t sich auch dadurch die Lebenskraft als etwas von jeder andern unwägbaren Kraft oder Flüssigkeit wesentlich Verschiedenes.« (S. 37)

Zu welchen Ergebnissen Autenrieth sonst noch gekommen wäre, wenn er sein Werk hätte vollenden können, wissen wir natürlich nicht, insbesondere zu welchen Ergebnissen bei seinen Ansichten über das Seelenleben, aber auch so war seine Art von Naturphilosophie für die Biophysik des 19. Jahrhunderts schon Provokation genug, weil er es gewagt hatte, die physikalischen Phänomene Licht, Wärme, Magnetismus und Elektrizität als »unwägbar« zu bezeich1195 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

nen, die Physiker aber mit dem Ziel angetreten waren, gerade diese physikalischen Phänomene rein quantitativ zu beschreiben wie alle anderen physikalischen Phänomene auch, und deshalb richtete sich ihr Zorn und Hohn vornehmlich auf Autenrieth, wenn sie die Lehre von der Lebenskraft angriffen. Weitaus bedeutender als Autenrieth war der damals führende deutsche Physiologe Johannes Müller (1801–1858), der durch die Entdeckung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien 26 berühmt geworden war. Müller hatte das Wort »Energie«, ähnlich wie Hufeland, noch ganz im aristotelischen und nicht im physikalisch-energetischen Sinn verwendet und war deshalb auch ein entschiedener Anhänger von Goethes Farbenlehre. In seinem berühmten Handbuch der Physiologie des Menschen 27 von 1840 rekapituliert er noch, ähnlich wie Volkmann kurz vorher, ganz unvoreingenommen die zwei uns schon bekannten wichtigsten Lebenskraft-Theorien des 18. Jahrhunderts (II,505–513), deren eine eine Seele postuliert, die zur Materie eigens hinzutreten muß, wohingegen die andere, zu der er selbst neigte 28 und die er als »pantheistisch« (II,511) bezeichnet, darin besteht, daß »das Princip des Lebens aller Materie einwohnt (…), eine Kraft der Materie selbst ist« (II,511). Namen nennt er hier nicht, aber man erkennt in beiden Ansätzen sofort die Konzepte von Stahl, Herder und Hufeland bzw. von Blumenbach und Reil wieder. Die fundamentale Kritik am Konzept einer Lebenskraft, wie immer sie auch konzipiert sein mochte, war konsequent materialistisch orientiert und setzt erst unmittelbar nach der Veröffentlichung von Autenrieths Naturphilosophie und Müllers Handbuch mit der Generation der direkten Müller-Schüler ein, die man später »Helmholtz-Schule« nannte, und zu der Emil Du Bois-Reymond (1818–1896), Ernst Brücke (1819–1892), Carl Ludwig (1816– 1895), Hermann Helmholtz (1821–1894) selbst und Rudolf Virchow (1821–1902) gehörten. Zu dieser Schule kann man auch den Physiologen und Philosophen Hermann Lotze (1817–1881) als einen Verbündeten im Geiste rechnen, obwohl Lotze kein direkter Müller-Schüler war, sondern ein Schüler von Volkmann. Man könnte auch sagen, die fundamentale Kritik am Konzept der Lebenskraft wurde von der »Generation von 1820« geleistet. 1196 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

Das Programm dieser Gruppe formulierte Du Bois-Reymond, der Müllers Assistent war und später sein Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl für Physiologie wurde, knapp und bündig folgendermaßen: »Brücke und ich wir haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen.« 29

2.14.4.2 Hermann Lotzes mechanistische Kritik der Lebenskraft Diesem Programm konnte auch Hermann Lotze voll zustimmen, der in entschiedener Opposition zu Müller und in vorsichtiger Distanz zu seinem Lehrer Volkmann sein Werk Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Wissenschaften (1842) veröffentlicht und schon im Titel deutlich gemacht hatte, wie weit er sich von einer Physiologie im Gefolge romantischer Naturphilosophie abzusetzen gewillt war, wie sie von Autenrieth, Schelling und Müller oder auch von Gottfried Reinhold Treviranus (1776– 1837) 30 betrieben worden war, und deshalb setzte Lotze auch sofort zu einer grundsätzlichen Kritik der Lebenskraft an, die in Rudolph Wagners Handwörterbuch der Physiologie 1843 veröffentlicht 31 wurde. Lotze beginnt mit einer ausführlichen Polemik gegen jede Art teleologischer Betrachtung der Natur, aus der er die methodologische Bilanz zieht, »nie einen Zweck für die Ursache der Verwirklichung und die Qualität einer Erscheinung anzugeben« (S. 153), und untersucht dann die Theorie der Lebenskraft unter dem Aspekt der Kraft, die er jedoch strikt physikalisch versteht, sodann unter dem Aspekt der Unterscheidung von Organismus und Mechanismus und schließlich unter dem Aspekt, was als Idee der Natur verstanden werden müsse. Gegen das Konzept einer Lebenskraft führt Lotze zwei Argumente an: ein psychologisch-erkenntnistheoretisches Argument, das darauf hinausläuft, daß wir geneigt sind, menschliches Verhalten in die Natur zu projizieren, wie dies Herder in seiner Abhandlung Ueber Bild, Dichtung und Fabel ja explizit durchgeführt 1197 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

hat, und ein rein physikalisches Argument, das am Kraft-Begriff selbst ansetzt, und schreibt dazu: »Durch einen unwiderstehlichen Hang, über dessen Ursprung man sich aus der Metaphysik 32 unterrichten mag, wird der denkende Geist angetrieben, dasjenige, was den Dingen in ihrem Zusammensein begegnet, als Verdienst oder Schuld, als That überhaupt eines Subjects anzusehen, und die bloss denkbare Möglichkeit, in gewisse Verhältnisse zu kommen, als eine reale Eigenschaft des Dinges zu betrachten und sie so in Gestalt einer den späteren Erfolg herbeiführenden Kraft in das Innere des Dinges zu verlegen.« (S. 154)

Demgegenüber muß aber laut Lotze das physikalische Prinzip gelten, »dass Kräfte gar nichts in den Dingen wirklich Vorhandenes, noch weniger etwas Fertiges, ihnen ein für allemal Inhärentes sind, sondern dass die Dinge solche Kräfte zuweilen erlangen, in dem Momente nämlich, wo aus dem Zusammenkommen ihrer Eigenschaften mit denen anderer in irgendeiner Beziehung eine Folge hervorgeht.« (S. 154)

Denn: »Die Dinge wirken nicht, weil sie Kräfte haben, sondern sie haben dann scheinbare Kräfte, wenn sie etwas bewirken.« (S. 154)

Dieses Argument richtete sich direkt gegen Reils und Blumenbachs Verlagerung der Lebenskraft in die Materie selbst als deren inhärenter Eigenschaft und somit auch gegen Goethes Naturphilosophie auf der Grundlage des Hylozoismus, zielte aber ebenfalls gegen Hufelands »Wehen und Wirken der Lebenskraft als unmittelbarer Ausfluß der Gottheit«, und erst recht natürlich gegen Georg Ernst Stahl, der Organe »gleichsam als Subjekte« gesehen und deshalb ein Prinzip organischer Vernunft postuliert hatte. Als zweites Argument führt Lotze an, daß man, wenn man überhaupt von Kraft reden wolle, immer nur von antagonistischen Kräften, also von »Wirkung und Gegenwirkung« (S. 155) reden dürfe, denn »es gibt für die Physik keine Anziehung und Abstossung, die ein Körper einseitig auf den andern ausübte, ohne sie von ihm auch wieder zu erleiden« (S. 155), weil die Physik nie von Kräften sprechen könne, »ohne mindestens zwei Träger derselben zu haben, zwischen denen als den zwei Prämissen der künftigen 1198 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Folge, die Kraft der Bewirkung getheilt wird« (S. 155). Im Gegensatz dazu spreche man »überall nur von ›der‹ Lebenskraft« (S. 155), ohne eine analoge antagonistische Gegenkraft angeben zu können, und dies sei, physikalisch gesehen, purer Dilettantismus: »Ich tadle nicht, dass man diese (physikalisch korrekte) Ausbildung des Begriffs bis jetzt nicht gefunden hat, aber ich tadle, dass man sie gar nicht gesucht, und dass man endlich, als von allen Seiten die Beobachtungen darauf hindrängten, dennoch bei dem falschen Begriff einer einzigen bewirkenden Kraft des Lebens stehen geblieben ist, der, weil er ein metaphysischer Irrthum ist, jeden Fund unmöglich machen musste.« (S. 156 f.)

Und dann verweist er auf den wunden Punkt in der Argumentation von Reil, auf den wir auch schon gestoßen sind, also auf die ontische Zwitterhaftigkeit der Lebenskraft: »Die Definition der Lebenskraft aber, welche die Kraft als Ursache betrachtet, bringt sogleich den Irrthum herbei, dass, entweder die Kraft mit irgend einem Stoffe identificirt wird, dessen ganz Eigenschaft darin besteht, diese Kraft zu haben, oder dass Kräfte als eigenthümliche seiende Wesen betrachtet werden, die nichts weiter voraussetzen, sondern ebenso gut für sich existiren, wie die Dinge.« (S. 157)

Diese gravierenden Denkfehler werden dann an zwei zeitgenössischen naturphilosophischen Publikationen von Treviranus und Autenrieth ausführlich nachgewiesen, hätten sich aber auch an den Texten von Stahl, Medicus, Herder, Reil, Blumenbach und Hufeland aufzeigen lassen, was wir ja selbst schon getan haben, sodaß wir Lotzes Polemik in diesem Punkt nicht weiter verfolgen müssen. Lotzes Polemik zielt aber auch auf Schopenhauers Willensmetaphysik, da Schopenhauer den Weltwillen mit der Lebenskraft direkt identifizierte und den Weltwillen nicht nur als Ding behandelte, sondern schlechthin als das Ding an sich verstand. Zur Unterscheidung von Organismus und Mechanismus schreibt Lotze in apodiktischer Schärfe, zwischen beiden bestehe eigentlich gar kein wesentlicher Unterschied, weshalb er ja auch Pathologie und Therapie als »mechanische Wissenschaften« verstanden hatte. Hier knüpft er nun an und schreibt: »Organismus ist für uns nichts Anderes, als eine bestimmte, einem Naturzweck entsprechende, Richtung und Combination rein mecha-

1199 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

nischer Processe; das Studium des Organischen kann nur darin bestehen, nachzuweisen, mit welcher Auswahl, mit welchen bestimmten Gewohnheiten die Natur jene Processe combinirt, und wie sie eine von künstlichen Vorrichtungen vielleicht vielfach abweichende Reihe so combinirter Vorgänge gewissermassen als complexe Atome des Geschehens zu Grunde legt.« (S. 161)

Den naheliegenden Einwand, wie man denn dann die charakteristischsten Fähigkeiten von Organismen wie z. B. das Reproduktionsvermögen auf dieser mechanistischen Basis verständlich machen könnte, schiebt Lotze unwirsch hinweg und erklärt: »Ausdrücke wie Bildungstrieb, Selbsterhaltungstrieb können schon deswegen, weil auch sie der physikalischen Abstractionen entbehren und nicht, wie die Electricität, ein angebbares Gesetz befolgen, jederzeit nur zu Classificationen, niemals zu Erklärungen der (organischen) Erscheinungen dienen.« (S. 162)

Und zu diesen typisch organischen Phänomenen gehören für Lotze auch Phänomene wie »Sensibilität, Irritabilität, Reproduction« (S. 162), die ja gerade dazu geführt haben, Sein und Wirken einer Lebenskraft zu postulieren. Das heißt doch wohl, daß alle Phänomene, die sich in der Sprache der Physik nicht beschreiben lassen, als Problem im Grunde gar nicht existieren, und hier hätte wiederum eine grundsätzliche Kritik an Lotze selbst und seinem Verständnis von Wissenschaft anzusetzen. Schließlich geht Lotze noch eigens auf Georg Ernst Stahl als dem Urvater der Lebenskraft-Theorie ein, der durch die romantische Naturphilosophie gerade wieder neu entdeckt worden war, und greift dessen Verfahren an, »die Seele als Substanz zum Princip des Lebens (zu) erheben« (S. 172). Stahl hatte in seiner Abhandlung Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus von 1714 behauptet, man könne unmöglich die »vitalen Zielsetzungen« den »mechanischen Zurüstungen« eines Organismus zuschreiben und deren sinnvolle Abstimmung untereinander »einer simplen Konnexion der Materie« (S. 50) zumessen: »Vielmehr muß man die Natur und Beschaffenheit des (jeweiligen) Organs nach philosophischen Grundsätzen als ein Instrument betrachten,

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das gewissermaßen ein Subjekt ist, von einem höheren Prinzip (eben der Seele als dem Anhauch Gottes) zu einem Endzweck bewegt und angetrieben. Ein solches Instrument schließt ein Principium moraliter activum (also ein verständiges Wesen) in sich ein, das die einzelnen Teile, die mit mechanischer Einrichtung und Beweglichkeit begabt sind, zu entsprechenden Bewegungen, die auf einen gewissen Endzweck abzielen, erregt und antreibt.« (S. 50)

Stahl hatte also ein Prinzip organischer Vernunft postuliert, das im Organismus als ganzem und in jedem seiner Organe sitzt und wirkt und das er »Seele« oder »Lebenskraft« nannte. Damit hätte sich Lotze eigentlich sogar anfreunden können, weil auch er auf die Existenz der Seele nicht verzichten wollte, fährt aber dann doch fort: »Allein andere Bedenken heben das Gute dieser Ansicht Stahl’s wieder auf und führen auf mechanische Grundlagen zurück. Die Erfahrung lehrt uns, dass die zweckmässigen organisirenden Thätigkeiten des Lebens ohne unser Wissen und Wollen geschehen. (…) Wir würden mithin die zweckmässigen Thätigkeiten, welche die bewusste (Denk-)Seele weder erfindet, noch begreift, der unbewussten (Tier- und Pflanzen-)Seele, der willenlosen, nicht wählenden Substanz der Seele zuschreiben müssen. Dies that Stahl. Allein Zweckmässigkeit der Handlungen, deren Erklärung zu Liebe er dies that, wird uns ja nur, sobald sie nicht determinirte Consequenzen schon vorhandener Prämissen sein sollen, durch Bewusstsein, Ueberlegung, Wahl des Willens und Freiheit begreiflich.« (S. 172)

Und daraus zieht er dann den Schluß, Stahl habe sich sein Organismus-Konzept geradezu ermogelt, merkt aber nicht, daß auch er selbst eine logische Subreption begeht, indem er dem am biblischen Seelen-Begriff orientierten Pietisten Stahl den Seelen-Begriff des Aristoteles unterstellt, denn er fährt fort: »Stahl’s Ansicht beruht daher auf einer logischen Subreption, indem die Erklärlichkeit zweckmässiger Actionen, die aus der Seele nur unter Voraussetzung ihrer Nota specifica des Bewusstseins und Willens folgt, auch dem Allgemeinbegriffe der Substanz zu Gute geschrieben wird, welchen die Seele mit der körperlichen Materie gemein hat. Insofern kann also eine bewusstlose Seele keine neuen theoretischen Principien zur Erklärung des Lebens einführen; daher würde es auch unangemes-

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Im Irrgarten der Energetik

sen sein, ein solches Princip, wo nicht die Erfahrungen selbst auf seine Mitwirkung hinweisen, was hier nicht der Fall ist, einzuführen, da der Begriff eines psychisch-physikalischen Mechanismus, der hier zu Grunde gelegt werden müsste, eine Schwierigkeit hervorbrächte, die hier ganz unnöthig ist.« (S. 173)

Lotze unterscheidet Mechanismen und Organismen auch noch unter energetischen Aspekten, indem er allzu kühne Behauptungen der älteren Mechanisten im Stil von La Mettrie ausdrücklich korrigiert und darauf verweist, daß nur geschlossene mechanische Systeme wie z. B. ein Planetensystem als ein Triebwerk verstanden werden könnten, »das sich selbst aufzieht« (S. 184). Ein Organismus hingegen sei aber gerade kein geschlossenes energetisches System, sondern gleiche eher den modernen Maschinen mit eigenem Antrieb, denen jedoch ständig neue Energie zugeführt werden müsse, damit sie überhaupt funktionieren: »Wo in der Natur Grundkräfte frei wirken, da rufen gerade die einfachsten mechanischen Verhältnisse jenes sich selbst erhaltende Bewegungsspiel eines perpetuum mobile hervor, während die organischen Körper nicht solchen freien Mechanismen der Natur, sondern den Maschinen der Kunst ähnlicher sind, da sie fortwährend eines neuen Ersatzes und Anstosses bedürfen.« (S. 184)

Auch für ihn gilt also Hufelands Prinzip energetischer Ökonomie, und damit ist er in seiner Argumentation so weit geraten, daß er eine erste Bilanz ziehen kann: »So wenig es nun Frucht brachte oder nothwendig war, die Bildung des Körpers von einer transcendenten Lebenskraft abhängig zu machen, so wenig haben wir Ursache, diese zur Erklärung der Lebenserscheinungen des ausgebildeten lebenden Körpers herbeizuziehen. Wir sehen vielmehr den Körper an als ein System zusammengeordneter und in sich verwickelter physikalischer Massen, aus deren proportionalen physikalischen Einzelkräften unter den gegebenen Angriffspunkten und in Wechselwirkung mit äusseren Einflüssen der Ablauf der Lebenserscheinungen hervorgeht. Lebenskraft theilen wir diesem System nicht als den Grund oder die Ursache seiner Existenz zu, so dass es etwa selbst aus ihr erklärt werden könnte, sondern nur als eine Fähigkeit zu einer bestimmten Grösse der Leistung nach aussen, welche selbst aus den Verhältnissen der Gegenwirkungen im Körper erklärt werden muss.« (S. 203)

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Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

Dieses Maß an Leistung, das in Organismen umgesetzt wird, nennt Lotze, um es vom Begriff der Lebenskraft der Naturphilosophie abzusetzen, »lebendige Kraft«, und dieser Begriff ist dann von den Biophysikern des 19. Jahrhunderts auch weitgehend übernommen worden. Ganz analog argumentiert z. B. Gustav Theodor Fechner (1801–1887) in seinem Werk Elemente der Psychophysik (1860), wenn er von der »lebendigen Kraft« als dem »Maß der körperlichen Bewegung« spricht und hinzufügt: »Die lebendige Kraft, von der hier die Rede ist, ist in keiner Weise mit der Lebenskraft der Philosophen zu verwechseln.«33

Und auch Hermann von Helmholtz verwendet 1847 den Begriff »lebendige Kraft« in seinem berühmten Vortrag über die Erhaltung der Kraft im Sinne von kinetischer Energie. Die Lebenskraft resp. die lebendige Kraft ist somit, wie jede andere Kraft auch, physikalisch gesehen, nicht die Ursache, sondern allein das Maß von Bewegungen aller Art. Aber die sofort auftretende Frage, nach Maßgabe welcher Kriterien, also mit welchem Messungssystem und in welchen Größen man den Umfang dieser Bewegungen messen könnte, kann Lotze jedoch nicht beantworten und redet sich deshalb damit heraus, daß in lebendigen Körpern, auch wenn sie als Mechanismus oder als moderne Maschine betrachtet werden, »ein Princip immanenter Störungen aufgenommen ist, die durchaus keinem mathematischen Gesetze ihrer Stärke und Wiederkehr folgen.« (S. 204) Das sah Fechner bekanntlich ganz anders und formulierte das Weber-Fechnersche Gesetz, um bestimmte organische Leistungen und Empfindungen mathematisch-quantitativ zu beschreiben, scheiterte damit aber letztlich ebenfalls und mußte sich von Hermann Lotze, der als Philosoph bald selbst zu der Einsicht in die erkenntnistheoretische Unhaltbarkeit jeglicher Art von Psychophysik gekommen war, vorhalten lassen, er habe das psychophysische Problem 34 überhaupt nicht gelöst, sondern nur elegant umformuliert und dies dann als dessen Lösung ausgegeben. Jetzt stehen wir also wieder, wie schon bei Hufeland, vor dem Problem, daß das Prinzip energetischer Ökonomie angeblich zwar gilt, und energetische Prozesse in Organismen zwar an der Größe ihrer Leistung gemessen werden sollen, daß aber kein exaktes Mes1203 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

sungssystem angegeben werden kann, nach Maßgabe dessen dies geschehen soll. Aber damit bricht das Prinzip moderner Physik, die systematische Kombination von Beobachtung, Analyse, Experiment und mathematischer Beschreibung sofort in sich zusammen, wenn es auf organische Prozesse angewendet wird, und die mathematisch-physikalisch orientierten Energetiker müssen sich Mephistos höhnischen Kommentar gefallen lassen: »Daran erkenn’ ich den gelehrten Herrn! Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern, Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar, Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr, Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht, Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht.« (V. 4917 ff.)

2.14.4.3 Der Energie-Erhaltungs-Satz Durch die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie durch Julius Robert Mayer, Hermann von Helmholtz und James Prescott Joule in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts schien es aber plötzlich doch so, als könne man diese mathematisch quantifizierende Betrachtung und Analyse organischer Prozesse auf eine exakte mathematische Grundlage stellen. Der schwäbische Arzt Julius Robert Mayer (1814–1878) hatte schon 1842 aufgrund wärmedynamischer Überlegungen den Energie-Erhaltungs-Satz 35 formuliert; Hermann von Helmholtz kam kurz danach zu demselben Ergebnis, erkannte die Priorität Mayers auch unumwunden an und veröffentlichte seine Befunde zum ersten Mal in Form eines Vortrags vor der Physikalischen Gesellschaft in Berlin am 23. Juli 1847, zu der sich die Müller-Schüler Emil Du Bois-Reymond, Ernst Brücke, Carl Ludwig und Helmholtz selbst zusammengeschlossen hatten, und deren Programm darin bestand, die rein physikalische Betrachtungsweise organischer Phänomene wissenschaftstheoretisch zu klären und wissenschaftspolitisch 36 durchzusetzen. Helmholtz beginnt seinen Vortrag Über die Erhaltung der Kraft 37, der allgemein als einer der Meilensteine in der Geschichte der exakten Naturwissenschaft gilt, mit der These, 1204 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»dass die Begriffe von Materie und Kraft in der Anwendung auf die Natur nie getrennt werden dürfen. Eine reine Materie wäre für die übrige Natur gleichgültig, weil sie nie eine Veränderung in dieser oder in unseren Sinnesorganen bedingen könnte; eine reine Kraft wäre etwas, was dasein sollte und doch wieder nicht dasein, weil wir das Daseiende Materie nennen. Ebenso fehlerhaft ist es, die Materie für etwas Wirkliches, die Kraft für einen bloßen Begriff erklären zu wollen, dem nichts Wirkliches entspräche; beides sind vielmehr Abstractionen von dem Wirklichen, in ganz gleicher Art gebildet; wir können ja die Materie eben nur durch ihre Kräfte, nie an sich selbst wahrnehmen.« (S. 5)

Das Ergebnis seiner ganzen vornehmlich mathematisch orientierten Argumentation läuft auf den Satz hinaus, daß Bewegungsenergie und Lageenergie ineinander restlos konvertierbar sind, weshalb er die Bilanz ziehen kann: »Es ist also stets die Summe der vorhandenen lebendigen und Spannkräfte constant. In dieser allgemeinsten Form können wir unser Gesetz als das Princip von der Erhaltung der Kraft bezeichnen.« (S. 14)

Vollständig formuliert war der Energie-Erhaltungs-Satz allerdings erst, nachdem Joule gezeigt hatte, daß er für alle Arten von Energie gilt, worauf ja schon Mayer hingewiesen hatte. Gegen Ende seiner Ausführungen geht Helmholtz noch auf die Frage ein, ob sich das eben entdecke Prinzip auch auf organische Prozesse anwenden lasse und kommt zu dem vorsichtig abwägenden Schluß, diese Frage könne »wenigstens annähernd bejaht werden« (S. 52), weil die Pflanzen ja Sonnenenergie absorbieren und in Wachstum umsetzen, und weil Tiere durch die Atmung Sauerstoff und durch die Ernährung organische Materie aufnehmen und durch ihren Stoffwechsel »Wärmequantitäten« (S. 51) erzeugen, um ihre Körpertemperatur konstant zu halten. Aber dies sei alles noch längst nicht genügend erforscht und bedürfe weiterer Klärung. Mit diesen wegweisenden Ausführungen hatte Helmholtz zwar noch keine definitive Kritik der Lebenskraft vorgelegt, aber als Grundlage für eine energetische Kritik der Lebenskraft schienen sie sich sehr wohl anzubieten.

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2.14.4.4 Emil Du Bois-Reymonds energetische Kritik der Lebenskraft Als Emil Du Bois-Reymond 1848 seine Abhandlung Über die Lebenskraft 38 schrieb, konnte er schon auf das durch Mayer, Helmholtz und Joule entdeckte Prinzip aufbauen und viel entschiedener als Lotze vorgehen, um sein »biophysikalisches Programm« zu verkünden, mit dem er der Lehre von der Lebenskraft endgültig den Todesstoß glaubte versetzen zu können und die letzten Anhänger dieser Lehre, zu der ja auch sein eigener Lehrer Johannes Müller 39 noch zählte, in die Schranken zu weisen. Seine Kritik richtete sich aber auch gegen Lotze, da dieser noch an die Möglichkeit eines perpetuum mobile geglaubt hatte, was nach der Entdeckung des Energie-Erhaltungs-Satzes nicht mehr möglich war. Was er von Lotze übernehmen konnte, übernahm er jedoch bereitwillig, denn auch für ihn gilt, daß die Kraft »das Maß, nicht die Ursache der Bewegung« (S. 15) ist, und daß die Rede von der Lebenskraft »aus der Verwechselung des Maßes der Wirkung mit der Ursache, des richtigen Begriffes der Kraft mit dem irrigen« (S. 15) resultiert. Dieses physikalisch-energetische Argument nimmt Du BoisReymond ausdrücklich auf und schreibt, die »Irrlehre von der Lebenskraft« (S. 15) führe in letzter Konsequenz dazu, daß man aufs neue dem alten Wahngebilde des perpetuum mobile nachjage, das doch nun endgültig als Wahngebilde entlarvt sei, weshalb jede Thematisierung von Kräften aller Art nur noch auf der Grundlage dieses neu entdeckten energetischen Prinzips erfolgen dürfe. Dann holt er weit aus zu einer ätzenden Schmährede voller Hohn und Spott auf die Lebenskraft und all ihre Anhänger unter Naturphilosophen, Ärzten und Physiologen, die diese ominöse Lebenskraft »als Ursache und obersten Ordner aller Lebenserscheinungen« (S. 10) postulieren, allerdings ohne zwischen den einzelnen Lebenskraftkonzepten genauer zu unterscheiden. Der ätzende Hohn dieser Diatribe deutet darauf hin, daß hier eine hoch emotional besetzte Abrechnung mit den Gründervätern des eigenen Faches stattfindet, denn ganze Passagen dieser Diatribe kehren in seiner Gedächtnisrede auf Johannes Müller 40 von 1858 fast wortwörtlich wieder, und deshalb lohnt es sich, hier ein1206 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

mal ausführlich zu zitieren, denn eine derartige Schmährede hat es in der Wissenschaftsgeschichte selten gegeben: »Diese Kraft bewohnt den ganzen Körper, ihr unbewußt-bewußtes Wesen treibend auf dem geheimnisvollen, übersinnlichen Hintergrunde eines Schauplatzes, auf dessen äußerster Vorbühne allein alles sinnlich Erreichbare, Erklärliche spielt. Sie ist im Innersten verschieden von den in der unorganischen Natur waltenden physikalischen und chemischen Kräften, und den ohnmächtigen Methoden unzugänglich, welche deren Wirkungen durchschaut haben. Dennoch vermag sie mit diesen Kräften in Konflikt zu geraten, und sie müssen sich vor ihr beugen. Gesetze kennt sie nicht; ihr ist gegeben, zu binden und zu lösen, wie ihr gefällt. Sie bemächtigt sich der eingeführten Nahrung, macht sie zu belebter Materie, verwendet sie eine Zeitlang zu ihren Zwecken und stößt dann das Untauglichgewordene wieder von sich. Sie widersteht während des Lebens der feindseligen Gefräßigkeit des Sauerstoffs, der nach unserer Kohle lechzt. Sie verbietet der Fäulnis Platz zu greifen, solange sie Herr im Hause ist. Nach dem Tode zieht sie sich bescheiden und ohne daß eine Spur von ihr übrig bliebe, hinter die Kulissen zurück. Bei der Fortpflanzung aber überträgt sie sich, ohne selber etwas einzubüßen, auf den Keim des neuen Geschöpfes, in welchem sie, wie im Samenkorn, im unbebrüteten Ei, lange schlummern kann, wie sie denn auch in Scheintod und Narkose latent geworden ist. Einerseits dem geheimnisvollen in den Nerven wirksamen Prinzip, der Muskelkraft, auch wohl der tierischen Wärme und Elektrizität verwandt, oft mit ihnen verwechselt und für den letzten Grund der tierischen Bewegung ausgegeben, ist sie andererseits mit der bewußten Seele so eng verschwistert, daß sie Manchen nur für eine verschiedene Erscheinungsweise derselben gilt. Diese Dienstmagd für alles besitzt übrigens sehr mannigfaltige Kenntnisse und Fertigkeiten. Denn sie leitet die Entwickelung und organisiert nach vorbestimmtem Plane; sie baut nach allen Regeln der Mechanik, Physik und Chemie Sinnes-, Bewegungs- und Verdauungswerkzeuge; sie assimiliert, sezerniert, resorbiert und unterscheidet dabei das Heilsame vom Gifte, das Nützliche vom Unbrauchbaren; sie heilt Wunden und Krankheiten und macht Krisen; endlich aus jedem Stücke des zerschnittenen Polypen reproduziert sie ein neues Individuum, ja sie ergänzt das abgesetzte Bein des Salamanders.

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Im Irrgarten der Energetik

So dargestellt erscheint die Lehre von der Lebenskraft in der Tat als ein solches Gewebe der willkürlichsten Behauptungen, sie häuft auf ein Phantasiegebilde solche Summe unmöglichster Attribute und undenkbarer Tätigkeiten, daß es schwer hält, sie ernst zu nehmen, und ihrer offenkundigen Abgeschmacktheit nicht einfach mit dem verdienten Spotte zu begegnen.« (S. 10 f.)

Im Lichte der eben erst entdeckten energetischen Grundlage für ein reduktionistisches biophysikalisches Programm ist diese Kritik an der Lebenskraft natürlich vernichtend, denn Du Bois-Reymond fügt noch weitere Argumente triumphierend hinzu: »Der Erhaltung der Kraft nun widersprechen offenbar ein paar Hauptzüge der Lehre von der Lebenskraft. (…) Denn sie soll bei der Fortpflanzung ohne Verlust übertragen und dergestalt ins Unbegrenzte vermehrt werden. Im Tode soll sie, ohne entsprechende an ihrer Stelle auftretende Wirkung, ein unbedingtes Ende nehmen, um den gemeinen physikalischen und chemischen Kräften das Feld zu räumen. Beides ist, wie man leicht bemerkt, mit der Erhaltung der Kraft unvereinbar.« (S. 18)

Unvereinbar damit ist für Du Bois-Reymond auch die Hypostasierung der Lebenskraft zu einer eigenständigen objektiven Größe, wie wir dies bei Herder gesehen haben, weshalb er noch als weiteres Argument anführt: »Es ist nämlich klar, daß es unter diesen Umständen gar keinen Sinn mehr bietet, wenn die Rede ist von einer Kraft als von einem selbständigen Dinge, welches der Materie gegenüber ein unabhängiges Dasein behaupte; welches außerhalb ihrer befindlich, auf sie wirke, wenn sie zufällig in seinen Bereich gerät; welches ihr ferner zeitweise zuerteilt und wieder von ihr abgelöst werden könne.« (S. 16)

Dann fährt er in engster Anlehnung an Helmholtz fort: »Nur die unerforschliche Zweieinheit, in der wir vereint Materie und Kraft erkennen, kann bewegend und bewegt werdend in Wechselwirkung geraten mit ihresgleichen, dem gleichen Unerforschlichen. Die Materie ist nicht wie ein Fuhrwerk, davor die Kräfte der Pferde nach Belieben nun angespannt, dann wieder abgeschirrt werden können.« (S. 16)

Als Grund dafür, daß diese angeblich so absurde Lehre von der Lebenskraft überhaupt aufgekommen ist und sich so lange und so 1208 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

hartnäckig gehalten hat, führt Du Bois-Reymond ein Argument an, auf das wir schon bei Herder, Reil und Lotze gestoßen sind: »Die Kraft in jenem Sinne ist nichts als eine verstecktere Ausgeburt des uns eigenen unwiderstehlichen Hanges zur Personifikation, gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff unseres Intellekts, das (sic!) zur tropischen Wendung greift, weil ihm zum reinen Ausdruck die Klarheit der Vorstellung fehlt. In den Begriffen der Kraft und Materie kehrt derselbe Dualismus wieder, der in den Vorstellungen von Gott und Welt, von Seele und Leib sich zu erkennen gibt. Es ist, nur verfeinert, immer noch dasselbe Bedürfnis, welches einst die Menschen trieb, Busch und Quell, Fels, Luft und Meer mit Geschöpfen ihrer Einbildungskraft zu bevölkern. Was ist gewonnen, wenn man sagt, es sei die gegenseitige Anziehungskraft, wodurch zwei Stoffteilchen sich einander nähern? Nicht der Schatten einer Einsicht in das Wesen des Vorganges! Aber, seltsam genug, es liegt für das uns innewohnende Trachten nach den Ursachen eine Art von Beruhigung in dem unwillkürlich vor unserem inneren Auge sich hinzeichnenden Bilde einer Hand, welche die träge Materie leise vor sich herschiebt.« (S. 14)

Wie man sieht, kommt Du Bois-Reymond nicht im entferntesten auf die Idee, daß dieser Hang zur Personifizierung natürlicher Prozesse auch seine Berechtigung haben könnte, und hätte Herders Ausführungen in dessen Abhandlung Ueber Bild, Dichtung und Fabel wohl mit demselben Hohn von sich gewiesen wie die Lehre von der Lebenskraft, weil Herder dort behauptet, »jede Physik (sei) eine Art Poetik für unsre Sinne« (29,19), denn, so Herder: »Alles, was da ist, sehen wir wirken; und schließen mit Recht, daß der Wirkung eine wirkende Kraft, mithin ein Subject zum Grunde liege; und da wir Personen sind, so dichten wir uns an allem Wirkenden der Naturkräfte persönliche Wesen.« (29,18 f.)

Und schon gar nicht hätte er Goethe zugestimmt, der in seinen Maximen und Reflexionen erst etwas gönnerhaft über Kant urteilt, dann eine phänomenologisch orientierte ehrfürchtige Sicht auf die Natur entwirft und schließlich über die Erfahrung machtvoller Atmosphären schreibt: »Den teleologischen Beweis vom Dasein Gottes hat die kritische Vernunft beseitigt; wir lassen es uns gefallen. Was aber nicht als Beweis gilt, soll uns als Gefühl gelten. (…) Sollten wir im Blitz, Donner und

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Im Irrgarten der Energetik

Sturm nicht die Nähe einer übergewaltigen Macht, in Blütenduft und lauem Luftsäuseln nicht ein liebevoll sich annäherndes Wesen empfinden dürfen?« (4,93) 41

Und außerdem hätte er wohl nur gefeixt, wenn man ihm gesagt hätte, man könne von Lebenskraft ja auch im Sinne einer eigenleiblich gespürten Energie sprechen, die sich einer physikalisch-energetischen Thematisierung grundsätzlich entzieht, weil es neben physikalisch zu betrachtender Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Energetik auch noch gelebte Räumlichkeit, gelebte Zeitlichkeit und gespürte Energetik gibt, die nur durch phänomenologische Analysen thematisiert werden können. Oder sollten die Reduktionisten um Du Bois-Reymond tatsächlich geglaubt haben, man könne mit irgendeiner Uhr messen, wie sich die Zeit bei Langeweile dehnt oder mit einem Bandmaß, wie eng einem bei Bangigkeit ums Herz wird? Mit anderen Worten: Du Bois-Reymond klammert aus dem sehr vielgestaltigen Begriff der Lebenskraft alles aus, was nicht als prinzipiell meßbare Größe, sondern als Phänomen eigenleiblich gespürter Befindlichkeit gelten kann und beurteilt den Rest dogmatisch physikalistisch als »Unding« (S. 13) und als »Gespenst, das endlich gebannt werden muß« (S. 12). Er argumentiert also außerästhetisch und vor-phänomenologisch und besteht darauf, daß nur energetisch beurteilt werden darf, was als meßbare Energie gelten kann. Das heißt aber noch lange nicht, daß die Energetiker, die in seinem Gefolge das Lachen als eine Objektivation organischer Energie werteten, auch in seinem Sinne argumentiert hätten, denn sie verstanden, obwohl sie von Mengen organischer Energie redeten, die dabei hin- und hergeschoben, verwandelt und abgeführt werden, die dabei sich manifestierende organische Energie nach wie vor als Ursprung und als Maß einer Bewegung und redeten deshalb munter von »Antriebsenergie«, »Trieben« und »Triebkräften«, Freud sogar von »Trieben und Triebschicksalen«, sodaß sich Du Bois-Reymond wohl sehr gewundert hätte, wenn er all das noch zu Gesicht bekommen hätte. Das hatte, wie wir sehen werden, zur Folge, daß die hier in Rede stehende organische Energie als »nervöse Energie« (Spencer), »psychische Energie resp. Libido« (Freud), »élan vital« (Bergson) oder »aktionsspezifische Energie« (Lorenz) ontologisch 1210 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gesehen wieder zu dem seltsamen Zwitterwesen wurde, das sie im 18. Jahrhundert schon mal gewesen war. 2.14.4.5 Rudolf Virchows vitalistische Kritik der Lebenskraft Spätestens hier stellt sich die Frage, ob Lotzes und Du Bois-Reymonds Polemik gegen die Lebenskraft aus der Perspektive der Physik nicht eigentlich ein Kampf gegen ein Phantom gewesen ist. Oder anders gefragt: Hätten beide diese Polemik auch so führen können, wie sie sie geführt haben, wenn Luther den 27. Psalm, aus dem Stahl ja den Begriff der Lebenskraft übernommen hatte, anders übersetzt und auf das Wort »Kraft« verzichtet hätte? Wo hätten sie wohl angesetzt mit ihrer Kritik, wenn Luther nicht übersetzt hätte »Der Herr ist meines Lebens Kraft«, sondern »Der Herr ist meines Lebens Leben« oder »Der Herr ist meines Lebens Schutz und Schirm«, denn daß auch diese Übersetzungen möglich gewesen wären, zeigt Martin Buber, bei dem die Passage lautet: »Die Trutzwehr meines Lebens ist Er.« 42 Hätten Stahl, Medicus, Reil, Hufeland, Autenrieth und alle anderen also nicht von »Lebenskraft«, sondern von »Lebensprinzip« oder bloß von »Leben« gesprochen, hätte die physikalisch orientierte Kritik an dieser Art von Vitalismus gar nicht ansetzen können und den Begriff der Lebenskraft nicht am physikalischen Begriff der Kraft messen und dementsprechend verwerfen können. In diese Richtung argumentiert schon Rudolf Virchow (1821– 1902), auch er ein Schüler von Johannes Müller vom »Jahrgang 1820« in seinem Aufsatz Alter und neuer Vitalismus 43 von 1856, wenn er die Kritik von Hermann Lotze und Emil Du BoisReymond an den »gefährlichen Abwegen« der »älteren vitalistischen Doktrinen« (S. 77) kurz referiert, die grundsätzliche Berechtigung vitalistischer Argumentation zwar zugibt, die grundsätzliche Berechtigung der Kritik daran jedoch ebenfalls nicht in Frage stellt, denn: »Man sucht einen einheitlichen Erklärungsgrund für die so mannigfaltigen Vorgänge des Lebens, dessen Eigentümlichkeit gegenüber der übrigen (unbelebten) Natur sich durch die zahlreichen Züge offenbart,

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und dessen regelmäßiger Verlauf bis jetzt auf rein mechanische Weise nicht zu erklären gewesen ist. Die Erfahrung lehrte uns bis jetzt diesen Erklärungsgrund nicht kennen, und man entschließt sich daher kurzweg, eine Kraft dafür einzusetzen, in deren Eigentümlichkeit jede Besonderheit des Lebens schon im voraus begründet sei. Statt einen Schritt weiter zu gehen und mit Thomas von Aquino und Georg Ernst Stahl auch die geistigen Erscheinungen dieser Kraft beizulegen und die Seele als höchsten Erklärungsgrund alles Lebens zuzulassen, macht man vorher schon halt, weil man sich scheut, die Seele auch den Tieren oder gar den Pflanzen44 zuzuerkennen, denen man doch das Leben nicht absprechen kann. So gewinnt man eine Kraft, die im besten Falle nicht alles erklärt, eine Kraft, welche nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgend einer anderen der bekannten Naturkräfte hat, sondern durch die Art ihrer Wirkungsweise jeder physikalischen Erfahrung widerstreitet, eine Kraft, die, um wirksam zu sein, wiederum als lebendig gedacht werden muß und deren Zusammenhang mit dem Stoffe, an dem sie zur Äußerung kommt, ein ganz äußerlicher sein würde. Weder der Körper des Menschen, noch der Leib des Tieres oder der Pflanze würden eigentlich lebend sein, sondern auch sie wären nur lebloser Stoff, an dem die Lebenskraft ihre Wirkungen entfaltet, leblos wie die Natur, aus der sie bezogen wird.« (S. 77 f.)

Aufgrund all dieser Einwände lehnt Virchow also sowohl den Lebenskraft-Begriff der älteren Vitalisten als ein philosophisches Unding als auch die Polemik der Biophysiker dagegen gezielt ab, und fährt deshalb fort: »Welches Recht hat diese (alte) Art von Vitalismus, ihre Lebenseinheit als Lebenskraft, Vis vitalis, zu bezeichnen, da sie doch nichts mehr und nichts weniger als einen Lebensgeist, Spiritus vitalis, im Sinne hat? Darin liegt eben die ganze Schwierigkeit dieser Streitigkeiten, daß man den Vitalisten der alten Schule ihre Lebenskraft als Kraft zugesteht. Eine Kraft mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Strebungen, Triebe und Zwecke, die sich nicht bloß die Wege, sondern auch die Mittel zur Erreichung ihrer Ziele aussucht, die nicht nur nach einem prästabilierten Plane, sondern je nach Umständen auch nach freier, aber stets zweckmäßiger Wahl den Stoff gestaltet, das ist nicht mehr eine Kraft, sondern es ist ein Wesen, ein lebendiger Organismus immaterieller Art, kurzweg ein Geist. Wozu sich mit jemand um die

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Die Kritik der Lebenskraft durch die Biophysik des 19. Jahrhunderts

Lebenskraft streiten, der trotz alles Leugnens sich einen Lebensgeist erdacht hat?« (S. 78)

Und das heißt: »Nicht die Vis vitalis, sondern der Spiritus vitalis ist es, gegen den alle Angriffe, alle Deklamationen gerichtet sind.« (S. 78 f.)

Und sie sind laut Virchow auch mit vollem Recht gegen diesen Spiritus vitalis gerichtet, der für ihn letztlich nichts anderes ist als die christliche Seele in einem neuen sprachlichen Gewand, weil Metaphysik in den Naturwissenschaften nichts verloren habe, und deshalb verschärft er den Ton seiner Argumentation und verweist darauf, daß die christliche Theologie seit Augustinus von Besessenheit rede, also von immateriellen Wesen, die sich angeblich organischer Materie bemächtigen und deren Verhalten bestimmen könnten: »Ist es nötig, besonders zu erklären, daß wir den Aberglauben, unter welcher Form er auch auftritt, aus der Naturwissenschaft zurückweisen? Denn nicht eine Irrlehre, sondern reiner purer Aberglaube ist diese alte Doktrin von der Lebenskraft, die ihre Verwandtschaft mit der Lehre vom Teufel und mit dem Forschen nach dem Stein des Weisen nicht zu verleugnen vermag. Wer sie ohne Verhüllung betrachtet, entdeckt sofort den komplizierten Geist, der sich hinter der Maske einer einfachen Kraft einzuschleichen bestrebt ist. Darum darf man es dem alten Vitalismus gar nicht gestatten, unter der Fahne des Dynamismus zu kämpfen; er muß seine wahre Farbe bekennen und sich als Spiritualismus verteidigen.« (S. 79)

Hier hatte er wohl nicht nur Stahl im Auge, sondern auch seinen eigenen Zeitgenossen Autenrieth. Virchows eigene Position, die er als metaphysikfreien »Vitalismus neuer Art« versteht, könnte man als Fortführung von Reils materialistischem Ansatz ansehen, der die Lebenskraft als Eigenschaft der Materie selbst bestimmt hatte, jedoch mit dem Unterschied, daß Virchow viel konkreter argumentiert und das belebende Prinzip im Organismus nicht der Materie allgemein, sondern der lebenden Zelle als der kleinsten Einheit organisierter Materie zuweist, denn: »Der Naturforscher kennt nur Körper und Eigenschaften von Körpern; was darüber ist, nennt er transzendent, und die Transzendenz

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betrachtet er als eine Verirrung des menschlichen Geistes. (…) Wenn der Naturforscher von Lebenskraft redet, so kann er darunter also nur dasjenige Bewegungsgesetz verstehen, dessen sinnlich wahrnehmbares Resultat Zellenbildung ist, denn in diesem Gemeinschaftlichen begegnen sich die beiden Reihen des Lebendigen, Pflanzen und Tiere. Das Gesetz ist ein ewiges, überall zur Geltung kommendes, wo die Bedingungen gegeben sind, unter denen seine Manifestation möglich ist. (…) Überall, wo wir die Zellenbildung verfolgen, finden wir, daß sie von ebenso bestimmten chemischen und physikalischen, d. h. mechanischen Bedingungen abhängt wie jede andere Bewegung in der Natur, und wir schließen daraus, daß sie ein ebenso mechanischer Vorgang sein müsse wie z. B. die Kristallbildung.« (S. 80)

Allzu viele Freunde machte sich Virchow mit dieser These nicht, weder bei den Vitalisten alter Schule noch bei deren Kritikern von seiten der Biophysik 45, aber auch nicht bei den späteren tonangebenden Vertretern des Neovitalismus wie z. B. Hans Driesch, der ihn in seiner Geschichte des Vitalismus und seiner Kritiker 46 nicht einmal erwähnt. Aber trotzdem war Virchows Konzept, bei der Zelle als der kleinsten Funktionseinheit lebender Organismen anzusetzen, wegweisend und wurde später von Jakob von Uexküll weiter ausgebaut, der es allerdings auch noch mit Müllers Theorie spezifischer organischer Energie und mit Stahls Postulat einer organischen Vernunft jenseits des Bewußtseins verbunden hat. 2.14.5 Herbert Spencer oder Die Physiologie des Lachens als Frage nach den Metamorphosen der nervösen Energie in der Körpermaschine Herbert Spencer (1820–1903) war, so weit ich sehe, der erste, der den Versuch unternommen hat, eine Ätiologie des Lachens auf der Grundlage des neuen energetisch orientierten Denkens vorzulegen. Sein Aufsatz On the Physiology of Laughter von 1859 ist in mehrfacher Hinsicht für die Frage nach den Metamorphosen der organischen Energie exemplarisch und prototypisch, weil sich alle Aporien der energetischen Schule schon bei ihm finden, sein Auf1214 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Herbert Spencer

satz aber trotzdem eine bemerkenswert positive Rezeptionsgeschichte erlebt hat. Trotzdem ist Spencer, der seine berufliche Karriere als Ingenieur bei der britischen Eisenbahn begonnen hatte, bevor er sich der Philosophie und Soziologie zuwandte, heute kaum noch als Philosoph bekannt und taucht allenfalls noch im Zusammenhang mit Charles Darwin auf, mit dem er gut befreundet war und dessen Evolutionstheorie er durchzusetzen 47 half. Ausgangspunkt aller Überlegungen war natürlich auch für ihn der Energie-Erhaltungs-Satz, den sein Landsmann James Prescott Joule (1818–1889) gleichzeitig mit Julius Robert Mayer und Hermann Helmholtz in der Variante als energetische Äquivalenz von Wärme und Bewegung entdeckt hatte. Für einen gelernten Eisenbahningenieur, dem es zur zweiten Natur geworden ist, alles nach dem Modell einer Maschine zu sehen und zu deuten, mußte es erst recht verführerisch sein, dieses Energie-Erhaltungs-Prinzip auch auf den menschlichen Organismus anzuwenden und diesen ebenfalls als arbeitende Maschine zu deuten, und dies legte es nahe, den Ansatz bei der Physiologie als der neuen Leitwissenschaft für alle anthropologischen Fragen zu suchen. Die britische Physiologie des 18. Jahrhunderts war entscheidend geprägt durch William Cullen (1710–1790) und seine Schüler 48, die das Konzept des Nervenfluidums oder Nervensafts, auf das wir schon bei Hoffmann und Nicolai gestoßen sind, aufgegriffen und dahingehend verändert hatten, daß sie aus dem NervenSaft eine Nerven-Kraft machten, und damit war das Nervensystem zum neuen Schauplatz der lebendigen Kräfte im Organismus und damit wiederum zum Sitz aller wichtigen Lebensphänomene 49 geworden. Diese Kräfte aber manifestieren sich laut Cullen nicht mehr mechanisch-hydraulisch, sondern energetisch, also nicht mehr als Bewegung von Materie, so fein diese Materie auch immer sein mag, sondern als Austausch von Energie, und damit war die lange Geschichte der Entmaterialisierung der Lebensgeister, die wir bisher verfolgen konnten, endlich abgeschlossen und das hydraulische Modell als Leitvorstellung der Physiologie konnte von Cullen und seinem Schüler und späteren Gegner John Brown (1735–1788) 50 durch ein rein energetisches Modell ersetzt werden. 1215 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Nicht weniger wichtig waren die Entdeckungen von Marshall Hall (1790–1857), der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die unbewußt ablaufenden Reflexfunktionen des Gehirns 51 erforscht hatte, von denen, wie wir gesehen haben, ja schon Schopenhauer sich hatte anregen lassen, und in den vierziger Jahren dann seine bahnbrechenden Forschungen über das Nervensystem vorlegen konnte, die ebenfalls schon ganz energetisch ausgerichtet waren. Hier konnte Spencer ansetzen, um auch das Lachen unter physiologisch-energetischen Aspekten zu deuten. Ob er dabei wirklich konsequent war, wird sich gleich zeigen. Spencer beginnt seinen Aufsatz 52 mit der Darstellung einiger komischer Situationen, die er dann auf der Grundlage einer Kontrast-Theorie des Komischen analysiert. So stellt er z. B. die Frage, warum wir lachen, wenn wir sehen, daß ein Kind sich den Hut seines Vaters aufsetzt und sein Gesicht darin völlig verschwindet, oder wenn wir hören, daß der sehr korpulente Edward Gibbon bei einer flammenden Liebeserklärung vor seiner Angebeteten in die Knie ging und dann nicht mehr hochkam. Als Erklärung für den komischen Effekt, der sich bei derartigen Situationen ergibt, bietet sich ihm eine der vielen Theorien des komischen Kontrastes an, die er als die Wahrnehmung einer Unangemessenheit (incongruity) zwischen Gewolltem und Geleistetem interpretiert. Im Fall des komischen Liebhabers erweist sich die erstrebte grandiose Geste als harmlos-kläglich, und im Fall des Kindes versucht der kleine Knirps sich als groß zu präsentieren, erscheint dann aber umso kleiner. Deshalb spricht Spencer hier von einer »descending incongruity«, also von einem harmlos komischen »degradierenden Kontrast«, bei dem jedoch niemand um den Verlust seiner Würde und seines Ansehens bangen muß. All dies bewegt sich also noch ganz in der Argumentationstradition britischer Geloiastik, die bei den Shaftesbury-Schülern Hutcheson und Beattie begonnen hatte und bis zu Spencers Zeitgenossen Alexander Bain (1818–1903) reicht. Aber schon bei Bain 53 beginnt die Rehabilitierung der Gelotologie von Thomas Hobbes, weil Bain das Prinzip der Degradierung auch schon mit dem aggressiven Auslachen-von-oben verbindet. Aber, so Spencer, all diese Theorien des komischen Kontrastes, so stimmig sie auch immer sein mögen, fragen nur nach den Bedin1216 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Herbert Spencer

gungen, Anlässen und Gründen des Lachens, nicht aber nach dem Lachen selbst, bewegen sich also immer nur im Bereich der Geloiastik, und bleiben vor dem Problem der Gelotologie stehen, das es zu lösen gilt, und deshalb stellt er, genau wie Joubert 300 Jahre vor ihm, die schon von Cicero nicht beantwortete Frage, woher das Lachen eigentlich komme und was das Lachen eigentlich sei: »Woher kommt denn, wenn man sehr erheitert ist oder wenn man von einem unerwarteten komischen Kontrast von Vorstellungen beeindruckt ist, diese Kontraktion bestimmter Muskeln im Gesicht, in der Brust und im Bauch?« (S. 298)

Mit dem Hinweis auf diese seltsamen Bewegungen ist für Spencer zwar die Frage beantwortet, was das Lachen sei, nämlich die konvulsivische Bewegung bestimmter Muskelpartien, nicht aber die Frage, wodurch diese Bewegungen ausgelöst werden, und die Antwort auf diese eigentliche Frage kann, wenn es denn überhaupt eine gibt, für ihn »einzig die Physiologie« (S. 298) geben, weshalb sein Aufsatz auch den programmatischen Titel On the Physiology of Laughter hat, und im Rahmen der Physiologie ist es wiederum die Theorie der Reflexe in der Tradition von Marshall Hall, die den Schlüssel zur Ätiologie des Lachens anbietet. Also setzt er, ähnlich wie dies schon Schopenhauer getan hatte, bei der Beschreibung einiger Reflexe an und schreibt: »Noch jedes Kind hat den Versuch gemacht, seinen Fuß still zu halten, wenn es gekitzelt wird; und noch keinem ist dies je gelungen. Und wahrscheinlich gibt es auch keines, das nicht vergeblich versucht hätte, das Blinzeln zu unterdrücken, wenn eine Hand plötzlich vor seinen Augen erscheint. Diese Beispiele von Muskelbewegungen, die ohne Einfluß unseres Willens ablaufen, oder auch entgegen unserem Willen, sind ein Beispiel für das, was die Physiologen Reflex-Bewegungen nennen, wozu auch das Niesen und das Husten gehört. Zu dieser Art von Phänomenen, bei denen unwillkürliche Bewegungen im Verbund mit Empfindungen auftreten, muß man auch noch eine weitere Art von körperlichen Phänomenen zählen, bei denen unwillkürliche Bewegungen nicht im Verbund mit Empfindungen auftreten: – wie z. B. der Herzschlag oder die Arbeit des Magens bei der Verdauung.« (S. 298)

Dann verweist er kurz auf das Gesetz der Erregungsäquivalenz von zentripetal-afferenter und zentrifugal-efferenter Nerventätigkeit, 1217 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das er offenbar als allgemein bekannt voraussetzt, weil dies der spezifisch britische Beitrag 54 zur Physiologie des 18. und 19. Jahrhunderts war, und nunmehr nach der Entdeckung des Energie-Erhaltungs-Satzes eine ganz neue Plausibilität gewonnen hatte. Aus all dem zieht Spencer den Schluß, daß das Prinzip der Äquivalenz von Afferenz und Efferenz nicht nur für unwillkürliche Bewegungen gelten müsse, sondern ganz allgemein auch für willkürliche Bewegungen, daß also jede Art von Nervenreizung dazu tendiert, sich in energetisch adäquaten Muskelbewegungen aller Art zu manifestieren, »entweder mit oder ohne Beteiligung des Willens« (S. 299). Immer aber sei das Maß der muskulären Bewegung strikt adäquat zur Stärke des Reizes, und je stärker der Reiz sei, desto unwillkürlicher und unverfügbarer sei die entsprechende muskuläre Bewegung. Damit kann er eine erste Bilanz ziehen, und diese lautet: »Somit ist klar, daß nicht nur Emotionen und Empfindungen dazu tendieren, körperliche Bewegungen zu erzeugen, sondern daß das Maß dieser Bewegungen strikt proportional 55 zur Intensität dieser Emotionen und Empfindungen ist.« (S. 299)

Spencer hätte auch schreiben können: Die zugeführte Erregungsenergie entspricht genau der ausgelösten Bewegungsenergie. Dieses Äquivalenz-Prinzip gilt laut Spencer aber auch innerhalb des Nervensystems selbst, sodaß bestimmte Mengen von Erregungsenergie von dem einen Nervenbereich auf einen anderen verschoben werden können, und das heißt: »Die Spannung (tension), die in bestimmten Nerven oder Nervengruppen am Werk ist, erzeugt, wenn sie in uns bestimmte Empfindungen, Ideen oder Gefühle hervorbringt, eine äquivalente Spannung in irgendwelchen anderen Nerven oder Nervengruppen, mit denen sie in Verbindung steht. Und wenn dieser Energiefluß (flow of energy) vonstatten geht, erstirbt die eine Idee oder die eine Empfindung, indem sie die nächste erzeugt.« (S. 300)

Hier haben wir schon den nächsten Vertreter der modernen Mythologie aus dem Geiste der technischen Zivilisation, denn die Spencers nervöse Energie erscheint als der neue Proteus, der, wie es in Ovids Metamorphosen heißt, das Recht und die Macht hat, »in mehrere Formen zu treten«, und doch bei allen Verwandlungen derselbe bleibt: 1218 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Denn bald wirst Du als Jüngling und bald als Löwe gesehen, Bist jetzt wüthiger Eber, und, die zu berühren man fürchtet, Schlange, sodann, und es machen auch bald Dich Hörner zum Stiere; Oftmals konntest ein Stein, auch oft ein Baum Du erscheinen; Jezuweilen, den Schein nachahmend der lauteren Wasser, Bist Du ein Strom, bisweilen der Fluth feindseliges Feuer.« (VIII,732 ff., S. 296)

Auf dieser Grundlage kann Spencer nun ein weiteres Argument anbringen und fährt deshalb fort: »Wenn wir nun von der unbestreitbaren Wahrheit ausgehen, daß die jeweils vorhandene Menge an frei verfügbarer Nervenkraft oder Nervenenergie (nerve-force), die auf eine unerforschliche Weise in uns den Zustand produziert, den wir Gefühle nennen, sich in irgend eine Richtung ausdehnen muß 56, so folgt daraus ganz offenkundig, daß sie, wenn von den verschiedenen Wegen, sie einschlagen kann, der eine völlig oder teilweise versperrt ist, eben umso entschlossener auf einen anderen ausweichen muß. Wenn aber zwei versperrt sind, wird die Entladung (discharge) über den verbleibenden noch intensiver sein. Und daß, wenn umgekehrt doch durch irgendeinen Umstand die Abfuhr (efflux) in eine einzige Richtung erfolgt, die Abfuhr in andere Richtungen nur in verminderter Form erfolgen wird.« (S. 301)

Wie man sieht, hat Spencer deutlich das Bild einer Dampfmaschine vor Augen, deren Dampfspannung schon einen hohen Grad erreicht hat, und deren Dampf über die verschiedensten Ventile in bestimmte Zylinder gelenkt werden kann, um dort die Kolben in Bewegung zu setzen, aber auch über bestimmte andere Ventile als Pfiff abgeführt werden kann. Die Grenzen zwischen mechanischhydraulischer und rein energetischer Betrachtung sind also immer noch fließend, bzw. sind aufs neue fließend geworden, weil Dampf eben eine genauso feine Materie ist, wie es die Lebensgeister des alten mechanistischen Körpermodells bei Fernel, Joubert, Descartes und Hobbes gewesen sind. Und außerdem sieht man, daß Spencer auch unter einem anderen Aspekt nicht wirklich konsequent energetisch im Sinne der neuen Physik denkt, weil er Kraft und Energie immer als Antriebs-Kraft und Antriebs-Energie versteht und deshalb stets vom »inneren Antrieb« und »äußeren Effekt« 1219 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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spricht. Hätte er nicht die Dampfmaschine, sondern einen Elektromotor als Argumentationsmodell vor Augen gehabt, so wäre ihm diese Rematerialisierung der Antriebsenergie möglicherweise nicht unterlaufen; aber vielleicht hätte er auch dann vom »Stromfluß« gesprochen und die elektrische Energie ebenfalls rematerialisiert. Wir werden sehen, in welcher Art diese Argumentation bei den Energetikern späterer Generationen Schule gemacht hat, die dieser Verführung zur Rematerialisierung der organischen Energie ebenfalls nicht widerstehen konnten. Wie er sich das Phänomen der Stauung von Energie in der Körpermaschine vorstellt, erläutert er an folgenden Beispielen: »Es ist allgemein bekannt, daß die Unterdrückung der äußeren Zeichen eines Gefühls dessen Intensität steigert. Der tiefste Schmerz ist stummer Schmerz. Aber warum? Einfach deshalb, weil die nervliche Erregung (nervous excitement), die nicht über Muskelbewegungen abgeführt wird, sich in andere Nervenerregungen entlädt und zahlreichere aktuelle und weiter zurück liegende traurige Erinnerungen wachruft und somit das Quantum der aktuell relevanten Gefühle insgesamt vermehrt. Leute, die ihren Zorn hinunterschlucken, neigen gewöhnlich zu größerer Rachsucht als solche, die laut brüllend und mit heftigen Gesten vor Zorn explodieren. Und warum ist dies so? Einfach deshalb, weil, wie beim anderen angeführten Fall, das Gefühl aufgestaut wird und dadurch sich vermehrt und intensiviert.« (S. 301)

Aber auch das Gegenteil gilt, die Erleichterung, die durch die Abfuhr nervöser Energie entsteht, wenn »körperliche Aktivität Emotionen schwinden (deaden) läßt« (S. 301), weil sie gleichsam über ein Ventil entweichen können. Schließlich führt Spencer noch den Fall an, daß die nervöse Energie plötzlich in ihrem Fluß gehemmt, gestaut und umgelenkt wird, was v. a. durch plötzliche Einfälle oder plötzlich einsetzende Gefühle geschieht, und damit ist er schon bei seiner energetisch orientierten Ätiologie des (Bekundungs-)Lachens angekommen, die von folgenden Prämissen ausgeht: • Der menschliche Körper und sein Verhalten werden in Analogie zur Dampfmaschine als eine thermodynamische Maschine mit eigenem Antrieb, aber mit eng begrenzten Möglichkeiten eigener Steuerung verstanden, da Spencer vornehmlich die unwill1220 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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kürlich ablaufenden Vorgänge des menschlichen Organismus im Auge hat und sich deshalb am Reiz-Reaktions-Modell orientiert. • Das Innere und Äußere des menschlichen Verhaltens, also Emotionen und Gedanken einerseits und körperliche Aktionen andererseits verhalten sich zueinander wie Wärmeenergie und Bewegungsenergie, die gleichsam wie kommunizierende Röhren zueinander in Verbindung stehen, sodaß die Vermehrung der einen Energieform immer nur auf Kosten der anderen erfolgt. Aus diesem Argumentationsmodell ergeben sich sofort einige weitere Prämissen, die die Grundlage seiner gesamten physiologischenergetischen Ätiologie des (Bekundungs-)Lachens bilden: • Lachen ist als körperliche Bewegung der Ausdruck von Muskelreizungen (display of muscular excitement). • In diesen körperlichen Bewegungen manifestieren sich vor allem Gefühle. • Besonders relevant sind plötzlich auftretende Gefühle und Einfälle, die nach Ausdruck verlangen. • »Es ist nicht der Sinn für das Komische allein, der dies bewirkt, und es sind auch nicht die verschiedenen Formen heiterer Gefühle allein, die als zusätzliche Gründe für Gelächter gelten könnten« (S. 302), denn es gibt, wie er unter Berufung auf Alexander Bain schreibt, eine ganze Reihe von Lacharten, die keineswegs heiterer Art sind, wie das sardonische oder das hysterische Lachen, die beide pathologischer Natur sind. Dazu kommen noch das Kitzel-Lachen und das Auflachen bei bestimmten Schmerzattacken. • All diese spezifischen Formen körperlicher Bewegung, die sich beim Lachen manifestieren, sind zweckfreie und ziellose (purposeless) Bewegungen, sind also letztlich Verschwendung57 frei gewordener nervöser Energie, denn diese »quasi konvulsivischen Bewegungen« (S. 303) von Brustkasten und Gliedern zielen nicht auf ein Objekt, sondern sind nur das Ergebnis einer »unkontrollierten Abfuhr von nervöser Energie« (S. 303). • Wenn diese ungezielte Abfuhr überflüssiger Energie erfolgt, so erfolgt sie »über die Muskeln, die die Gefühle für gewöhnlich am meisten reizen« (S. 304). 1221 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Im Irrgarten der Energetik

• »Die Zahl der gereizten Muskeln ist umso größer, je größer das Gefühl ist, das sich ausdrücken will.« (S. 304) Dann geht Spencer ausführlich auf die Theorie des komischen Kontrastes als Anlaß für Gelächter ein, die er unter physiologischenergetischen Aspekten dahingehend rekonstruiert, daß komische Kontraste Gefühls-Kontraste erzeugen, daß unerwartet neue oder unerwartet große Ideen und Gefühle ein hohes Maß an frei verfügbarer nervöser Energie »absorbieren« (S. 305). Sobald man aber merke, daß man so viel Energie gar nicht braucht, um all dies zu verarbeiten, werde diese überflüssige Energie plötzlich frei und fließe in Form von sinnlosen ungezielten und zweckfreien Bewegungen, also in Form von Gelächter ab. Und damit ist seine Ätiologie des Lachens fertig formuliert und lautet: »Gelächter entsteht gewöhnlich nur dann, wenn Aufmerksamkeit und Bewußtsein (consciousness) (und damit eben nervöse Energie) unversehens (unawares) von großen Dingen auf kleine übertragen werden, also nur dann, wenn sich das ergibt, was man als absteigende Unangemessenheit (descending incongruity) bezeichnen könnte.« (S. 307)

An dieser Definition wird später Sigmund Freud in seiner Untersuchung über den Witz ansetzen, weil sie sich »in unseren Gedankenkreis vortrefflich einfügt«. 58 Bei »aufsteigender Unangemessenheit« (ascending incongruity) hingegen, wenn die von uns mobilisierte nervöse Energie vom jeweiligen Objekt gleichsam aufgesaugt wird, weil man z. B. nur noch staunen kann, werde man ganz ruhig und ernst, weil keine frei verfügbare nervöse Energie mehr übrig bleibt, die sich in irgendwelchen sinnlosen Bewegungen manifestieren könnte. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, warum diese plötzlich frei gewordene Menge an Energie ausgerechnet in Form von Lachen abfließen soll und nicht z. B. in Form von Zittern, Trampeln, Händeringen oder als Sprint ums Haus, was ja auch denkbare Kanäle zur Abfuhr kinetischer Energie wären, oder warum die Abfuhr von Energie nicht in Form von Wärmeenergie, also z. B. als Fieber, geschieht, in dem die überflüssige Energie abgestrahlt werden könnte. Aber diese Fragen stellt sich Spencer nicht, und kann sie deshalb auch nicht beantworten, weil er ganz auf sein Dampfmaschinenmodell fixiert ist. Er stellt ja nicht einmal die Frage nach 1222 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Herbert Spencer

der besonderen Verlaufsgestalt des Lachens und kommt deshalb auch nicht im entferntesten auf die Idee, danach zu fragen, ob diese konvulsivische Bewegung-auf-der-Stelle und Bewegungs-Wiederholung vielleicht daher rühren könnte, daß hier zwei antagonistische Bewegungs-Impulse als Kraft und Gegenkraft sich antagonistisch aneinander abarbeiten. Und erst recht nicht fragt er nach der Einbettung der muskulären Lach-Bewegung in ein körperliches Gesamtgeschehen, bei dem außerdem auch noch Gestus, Vultus, Habitus und Atmung intensiv spezifisch überformt werden. Mit anderen Worten: Spencers reduktionistisch-energetische Dogmatik macht ihn völlig blind für einen phänomengerechten Blick auf das Lachen, der synergetisch-synästhetisch orientiert sein müßte, um den ganzen Menschen und sein Lachverhalten in bestimmten Situationen im Blick zu haben, und deshalb kann es nicht verwundern, wenn die Fülle der Phänomene beim Lachen ihm unter den Händen zu einer Folge angeblich sinnloser Muskelbewegungen verkommt. Man könnte mit Erwin Straus auch sagen: Lachen ist für Spencer ausschließlich »Geschehnis« und nie »Erlebnis«. Der eigentliche Grund für diesen verengenden Tunnelblick liegt, wie mir scheint, darin, daß Spencer das Lachen bei diesem reduktionistischen Verfahren gar nicht als Phänomen sui generis sehen kann, sondern als ein Ersatzverhalten ansehen muß, das sich statt eines anderen vollzieht, das eigentlich ausagiert werden sollte, und somit gleichsam immer maskiert auftritt, ohne sein wahres Gesicht je zeigen zu können. Deshalb erscheinen Spencer die muskulären Bewegungen beim Lachen auch so unsinnig, weil Spencer das Lachen als Phänomen und als spezifisch menschliches Verhalten letztlich nicht wirklich ernst nimmt, sondern nur das sehen und ernst nehmen will, was angeblich »hinter« ihm steht, also organische Energie. Volkmann hätte sich deshalb in seiner Warnung vor der Anmaßung der Materialisten wohl bestätigt gefühlt, wenn er Spencers Text zu Gesicht bekommen hätte, und Goethe hätte seine ernste Warnung wiederholen müssen, ja nichts »hinter den Phänomenen« suchen zu wollen, weil sie selbst die Lehre sind. Leider hat diese reduktionistische Sicht auf das Lachen als einem Abfallprodukt des organischen Energiehaushaltes Schule gemacht 1223 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und hat, stilistisch-rhetorisch gesehen, die Konsequenz gezeitigt, daß sich durch alle energetisch orientierten Ätiologien des Lachens wie ein roter Faden die Wendung zieht, das Lachen sei »letztlich« und »eigentlich« doch »nichts als« Abfuhr von unverwendbarer organischer, psychischer oder aktionsspezifischer Energie, oder »nichts als« ein Übersprungverhalten, oder »nichts als« ein Luxusreflex, oder »nichts als« Verausgabung. Es war also nicht nur Spencer, der im Irrgarten der Energetik in eine Sackgasse geraten war, aber er war der erste, der sich dort verirrt hatte. Und so muß man sich schon sehr wundern, daß ein derart dürftiges Theorielein eine solche Rezeptionskarriere machen konnte, die, vermittelt durch Lipps und Heymans, durch Freuds Buch über den Witz von 1905 bis in die heutige Zeit reicht, obwohl die Mängel dieser Ätiologie des Lachens gar zu offenkundig sind. (Wir kommen im Kapitel 2.14.7 über die Neohydrauliker darauf zurück.) 2.14.6 Kritik und Selbstkritik der Biophysik 2.14.6.1 Arthur Schopenhauer oder Die Metaphysik des Lachens als Rehabilitation der Lebenskraft Du Bois-Reymonds ätzender Hohn auf die Naturphilosophie und deren Lehre von der Lebenskraft blieb nicht lange unbeantwortet, denn Arthur Schopenhauer (1788–1860) polemisierte in seiner Abhandlung Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur (1851) in gleicher Schärfe zurück: »Das heut zu Tage Mode werdende Polemisieren gegen die Annahme einer Lebenskraft verdient, trotz seiner vornehmen Mienen 59 nicht sowohl falsch, als geradezu dumm genannt zu werden. Denn wer die Lebenskraft leugnet, leugnet im Grund sein eigenes Daseyn, kann sich also rühmen, den höchsten Gipfel der Absurdität erreicht zu haben.« (V,176) »Ihnen verwandt sind die Physiologen, welche die Lebenskraft leugnen, und derselben chemische Kräfte substituiren wollen.« (V,125)

Natürlich ist Schopenhauer weit davon entfernt, das Wirken chemischer und physikalischer Kräfte in einem Organismus zu leugnen: 1224 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Aber was diese zusammenhält und lenkt, so daß ein zweckmäßiger Organismus daraus wird und besteht – das ist die Lebenskraft: sie beherrscht demnach jene Kräfte und modificirt ihre Wirkung, die hier also nur eine untergeordnete ist. Hingegen zu glauben, daß sie für sich allein einen Organismus zu Stande brächten, ist nicht bloß falsch, sondern, wie gesagt, dumm.« (V,177)

Denn: »An sich ist die Lebenskraft der Wille.« (V,177)

Ja, mehr noch: »Die Lebenskraft ist geradezu identisch mit dem Willen, so daß was im Selbstbewußtseyn als Wille auftritt, im bewußtlosen, organischen Leben jenes primum mobile desselben ist, welches sehr passend als Lebenskraft bezeichnet worden. Bloß aus Analogie mit dieser schließen wir, daß auch die übrigen Naturkräfte (in der unbelebten Natur) im Grunde mit dem Willen identisch sind, nur daß er in diesen auf einer niedrigeren Stufe seiner Objektivation steht.« (V,178)

Schopenhauer sah also in der Polemik der Physiker und Physiologen seiner Zeit gegen die Lehre von der Lebenskraft seine eigene Philosophie im Kern angegriffen und geleugnet sowie sich selbst verhöhnt, und nur das erklärt die unerhörte Schärfe seiner Polemik, weil gemäß seiner Philosophie der Weltwille, physikalisch gesehen, als Kraft aller Kräfte und Triebkraft der Welt tatsächlich ein perpetuum mobile ist, denn: »Die Lebenskraft ist nur eine, welche – als Urkraft, als metaphysisch, als Ding an sich, als Wille – unermüdlich, also keiner Ruhe bedürftig ist.« (V,179)

Lotze, Helmholtz und Du Bois-Reymond haben, so weit ich sehe, auf Schopenhauers Polemik nie explizit geantwortet, weil sie ihn offenbar nicht ernst genommen und als schrulligen Metaphysiker abgetan haben. Für unser Thema ist Schopenhauers Rehabilitation der Lebenskraft jedoch von größter Bedeutung, weil darin der Ansatz zu einer energetischen Ätiologie des Lachens jenseits der physikalisch orientierten Physiologie sichtbar wird, denn in Schopenhauers frühen Aufzeichnungen finden sich einige Überlegungen dazu, auch das Lachen, genauer: das Bekundungs-Lachen, das als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis aus uns herausplatzt, als Manifestation 1225 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dieses Weltwillens und damit eben der Lebenskraft zu deuten. In einer frühen Notiz von 1814, als er gerade dabei war, sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung zu entwerfen, heißt es nämlich: »Gewissermaßen sind die drei größten, uns ganz nahe liegenden Probleme Lachen, Weinen und Musik.« 60

Wenn wir mal annehmen, daß für Schopenhauer diese drei Probleme von gleichrangiger Bedeutung waren und daß ihm für sie außerdem auch noch eine analoge Lösung vorschwebte, dann müßte all das, was er jemals über Musik geschrieben hat, in etwa auch für Lachen und Weinen gelten. Der oben zitierten Notiz von 1814 folgt aber nur eine tiefsinnige und hoch spekulative Überlegung, derzufolge »jede vollsinnige Musik ein Analogon der Welt« (HN I,183), also ein Analogon des Weltwillens sei. Im Hauptwerk (I,340 ff.) und im Ergänzungsband dazu (II,524 ff.) wird dieser Gedanke dann breit ausgeführt und dahingehend präzisiert, daß die Musik sich von allen anderen Künsten grundsätzlich unterscheidet: »Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des Willens wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste; denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.« (II,340)

Da die Wirkung von Lachen und Weinen sicher nicht weniger ergreifend und ansteckend ist als die von Musik, weil Lachen und Weinen ebenso »unter die Haut geht« und somit genauso unmittelbar verstanden wird wie Musik und deshalb eine genauso intensive Deutung verdient hätte, wie sie Schopenhauer der Musik hat angedeihen lassen, weil alle drei Phänomene aus der gleichen Tiefe des Weltgrundes kommen, stellt sich natürlich sofort die Frage, warum er keine Deutung dieser Art vorgelegt hat. Es gibt zwar in seinem Werk einige aufschlußreiche Überlegungen zum Wesen des Komischen (II,106 ff.), in denen er eine der vielen Kontrast-Theorien entwickelt und somit von Lach-Reizen und Lach-Anlässen handelt, aber eine systematische Behandlung 1226 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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von Lachen und Weinen findet sich in seinem Werk nicht, sodaß man versucht ist, Schopenhauers Grundgedanken auf eigene Faust, aber in seinem Sinne, weiter zu führen, da sich in seinem Werk auch noch einige weitere wegweisende Bemerkungen finden lassen. Dieser Grundgedanke würde dann lauten: In Lachen, Weinen und Musik artikuliert sich der Weltwille ganz unmittelbar und unverstellt; alle drei sind somit unmittelbare und unverstellte Bekundungen des Weltwillens resp. der Lebenskraft und in sich selbst genauso ambivalent wie der Weltwille selbst. In seinen Überlegungen zur Naturphilosophie schreibt Schopenhauer, die Lebenskraft sei auch die Kraft, aus der sich »Irritabilität, Sensibilität und Reproduktivität« (V,179) nähren. Dann kommt er auf das von Marshall Hall 61 erforschte Zusammenspiel von Reiz und Reflex-Reaktion zu sprechen, was ihn schon deshalb interessiert, weil Reflexe »unwillkürliche Actionen« (V,183) sind, die, »nicht durch den Intellekt vermittelt« (V,183), unmittelbare und unverfügbare Reaktionen des Willens resp. der Lebenskraft sind und somit von selbst geschehen. Daß Schopenhauer hier nicht deutlich zwischen Reflexen und Automatismen unterscheidet, und beide Phänomene unter dem Begriff »Reflex« zusammenfaßt, wird deutlich, wenn er fortfährt: »Mich wundert, daß Marshall Hall zu den Reflexbewegungen nicht auch Lachen und Weinen zählt. Denn ohne Zweifel gehören sie dahin, als entschieden unwillkürliche 62 Bewegungen. Wir können sie nämlich so wenig, wie das Gähnen, oder das Niesen, durch bloßen Vorsatz zu Wege bringen; sondern von Diesen nur eine schlechte sogleich erkannte Nachahmung: ebenfalls sind alle Vier gleich schwer zu unterdrükken.« (V,185)

Damit ist zunächst klar, daß Schopenhauer immer nur das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen als direkte Reaktion des unbewußten Willens im Auge hat, wenn er vom Lachen spricht. Und dies wird noch deutlicher, wenn er fortfährt: »Daß Lachen und Weinen auf bloßen Stimulus mentalis (Schlüsselreiz) eintreten, haben sie mit der Erektion, welche den Reflexbewegungen beigezählt wird, gemein: überdies kann das Lachen auch ganz physisch, durch Kitzeln, erregt werden. Seine gewöhnliche, also mentale Erregung, muß man sich daraus erklären, daß die Gehirnfunktion,

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mittelst welcher wir plötzlich die Inkongruenz einer anschaulichen Vorstellung und einer ihr sonst angemessenen abstrakten Vorstellung 63 erkennen, eine eigenthümliche Einwirkung auf die Medulla oblongata, oder sonst einem dem excitor-motorischen System angehörigen Theil (des Gehirns) hat, von dem sodann diese seltsame, viele Theile (des Körpers) zugleich erschütternde Reflexbewegung anspricht. Das par quintum und der nervus vagus scheinen den meisten Antheil daran zu haben.« (V,185)

Diese anatomisch-physiologischen Ausführungen deuten darauf hin, daß Schopenhauer mit sicherem Blick den Sitz des Lachens in den entwicklungsgeschichtlich älteren Regionen des Gehirns ansiedelt, in den Regionen also, die weitgehend unabhängig vom Großhirn funktionieren 64 und damit zugleich auch weit unterhalb des Bewußtseins liegen, aber umso näher am Willen. Hier wäre nun der Ansatzpunkt für Schopenhauer gewesen, in Analogie zu seiner Philosophie der Musik eine Philosophie des Lachens und Weinens zu entwickeln, wenn alle drei als unmittelbares Abbild des Weltwillens gelten dürfen: In der tendenziellen Unverfügbarkeit von Bekundungs-Lachen und Weinen hätte er die Blindheit und Erkenntnislosigkeit des Willens »als einen blinden Drang, ein finsteres dumpfes Treiben, fern von aller unmittelbaren Erkennbarkeit« (I,211) sehen können. Die konvulsivische Verlaufsgestalt von Lachen und Schluchzen hätte er als die Signatur der »dem Willen wesentlichen Entzweiung mit sich selbst« (I,207) deuten können. Ja selbst den dem Lachen und Weinen eigenen uroborischen Impuls hätte er als Manifestation des sich selbst verzehrenden Willens dingfest machen können, da er in seinem Hauptwerk über die »Selbstentzweiung des Willens« schreibt: »Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Thier die Beute und Nahrung eines andern wird, d. h. die Materie, in welcher seine Idee sich darstellte, zur Darstellung einer andern abtreten muß, indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben (der laut Schopenhauer in all seinen Objektivationen voll und ganz enthalten ist) durchgängig (uroborisch) an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist,

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bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht, dasselbe Geschlecht jedoch auch (…) in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart, und homo hominis lupus wird.« (I,208)

Wie wir schon des öfteren und zuletzt bei Baudelaire gesehen haben, hätte Schopenhauer also auch beim wölfisch zubeißenden aggressiven Auslachen ansetzen und es als wieder andere »Objektität des Willens« (I,161) deuten können, wenn er über die »teleologische Erklärbarkeit des Leibes« (I,161) und all seiner Äußerungen schreibt: »Die Theile des Leibes (in denen sich der Wille ebenfalls ungeteilt objektiviert) müssen deshalb den Hauptbegehrungen, durch welche der Wille sich manifestirt, vollkommen entsprechen, müssen der sichtbare Ausdruck derselben seyn: Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivirte Hunger; die Genitalien der objektivirte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen.« (I,161)

Und, so könnte man ergänzen, das wölfisch zubeißende Lachen wäre dann der objektivierte Wille zur Vernichtung des jeweils verlachten Anderen. Je weiter man also Schopenhauers wenige Ausführungen zum Thema verfolgt, desto mehr muß man sich wundern, warum er selbst nicht diese Folgerungen aus seinem Ansatz gezogen hat. Wir stehen also wie schon des öfteren vor dem Sachverhalt, daß jemand auf einen an sich fruchtbaren Ansatz für eine Ätiologie des Lachens gestoßen ist, aber davor zurückzuckt, ihn weiter zu verfolgen und ihn systematisch zu einer Gelotologie auszuformulieren. Diese Verwunderung legt sich aber bald wieder, weil man eben auch merkt, wie sich die gnostische Ausrichtung seines gesamten Denkwerks mehr und mehr als eine negative Theodizee enthüllt, denn diese Welt und damit auch der Weltwille in all seinen Objektivationen ist für Schopenhauer »als das Werk unserer eigenen Schuld etwas, das besser nicht wäre« (V,314), etwas also, das man besser verneinen und uroborisch wieder in sich selbst zurücknehmen sollte, weshalb er sich sogar zu dem Satz versteigt, es sei »allein die Geschichte vom Sündenfall, die mich mit dem Alten Testament versöhnt« (V,315). 1229 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Mit einem Wort: Die Welt ist für Schopenhauer der Sündenfall des Willens, und da dieser in all seinen Objektivationen voll und ungeteilt vorhanden ist, gehört durch die Zurücknahme dieses Sündenfalls auch diese ganze Welt verneint und zurückgenommen und dadurch von sich selbst erlöst. Dies aber geschieht nur durch bewußte Erkenntnis und Verneinung des Willens, also durch Gnosis. Aus diesem Blickwinkel sieht und deutet Schopenhauer auch die Affekte, in denen sich ja ebenfalls der Wille unmittelbar und unverfügbar bekundet, weshalb auch sie etwas sind, »das besser nicht wäre«, und deshalb schreibt er in seinen Psychologischen Bemerkungen: »Der Wille, als das Ding an sich, ist der gemeinsame Stoff aller Wesen, das durchgängige Element der Dinge: wir haben ihn sonach mit allem und jedem Menschen, ja, mit den Thieren, und sogar noch weiter abseits (mit den Objekten der unbelebten Natur) gemein. In ihm, als solchem, sind wir sonach Jedem gleich; sofern Alles und Jedes vom Willen erfüllt ist und davon strotzt. Dagegen ist das, was Wesen über Wesen, Menschen über Menschen erhebt, die Erkenntniß (also Gnosis). Deshalb sollten unsere Aeußerungen, soviel als möglich, sich auf jene beschränken, und nur sie sollte hervortreten. Denn der Wille als das durchaus Gemeinsame ist eben auch das Gemeine. Demgemäß ist jedes heftige Hervortreten desselben gemein: d. h. es setzt uns herab zu einem bloßen Beispiele der Gattung: denn wir zeigen alsdann eben nur den Charakter derselben. Gemein aber ist aller Zorn, unbändige Freude, aller Haß, alle Furcht, kurz, jeder Affekt (und eben auch Lachen und Weinen), d. h. jede Bewegung des Willens, wann sie so stark wird, daß sie, im Bewußtseyn, das Erkennen (also Gnosis) entschieden überwiegt und den Menschen mehr als ein wollendes, denn als ein erkennendes Wesen erscheinen läßt. Einem solchen Affekte hingegeben, wird das größte Genie dem gemeinsten Erdensohne gleich. Wer hingegen schlechthin ungemein, also groß seyn will, darf nie die überwiegenden Bewegungen des Willens sein Bewußtseyn ganz einnehmen lassen, wie sehr er auch dazu sollicitirt (gereizt) werde.« (V,632)

Damit beschwört also auch Schopenhauer wieder einmal das alte Ideal des stoischen Weisen, allerdings das Ideal eines stoischen Weisen auf gnostischer Grundlage und reiht sich ein in die Tradition 1230 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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platonisch-stoisch-augustinischer Lachfeindschaft, denn die von ihm geforderte Verneinung des Willens impliziert eben die Verneinung des Lachens, weil somit das Lachen als etwas erscheint, »das besser nicht wäre«. Und außerdem reiht sich Schopenhauer, wie schon Baudelaire, in die Front einer extremen Gegenposition zur Heiteren Aufklärung ein, wie sie sich in Kant vollendet hatte. Und wenn das heitere Lachen, wie Kant meinte, tatsächlich die Lebenskraft stärkt, dann ist es für Schopenhauer erst recht etwas, »das besser nicht wäre«, weil dies dem gnostischen Imperativ zur Verneinung des Weltwillens direkt entgegenwirken würde. So gesehen bestärkt also auch Schopenhauer den Eindruck, das 19. Jahrhundert sei eine Epoche des »verlorenen Lachens« (Keller). Wir könnten aber auch sagen, die »Generation von 1820«, zu der außer Schopenhauer praktisch alle der hier in diesem Kapitel behandelten Autoren gehören, habe das heitere Lachen aus den Augen verloren oder habe es verdrängt. 2.14.6.2 Ewald Hecker oder Die Physiologie des Lachens als Rehabilitierung der organischen Vernunft Die Kritik am reduktionistischen Programm der Biophysiker um Lotze, Du Bois-Reymond, Brücke, Ludwig, von Helmholtz und Virchow kam nicht nur von Schopenhauer, der ja physiologischer Laie war, sondern auch von Physiologen selbst und artikulierte sich im wesentlichen als Rehabilitierung der Naturphilosophie von Johannes Müller und damit zugleich auch als Rehabilitierung von Georg Ernst Stahl und seiner fundamentalen Kritik am mechanistischen Verständnis von Organismen. Ansatzpunkt war dabei Müllers Theorie der speziellen Energie organischer Funktionseinheiten, die er in seinem frühen Werk Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere 65 von 1826 zunächst als Theorie der spezifischen Energie der Sinne entwickelt und später auch auf andere organische Funktionseinheiten ausgedehnt hatte. Der zentrale Gedanke dieser Theorie, zu der er entscheidend durch Goethes Farbenlehre 66 angeregt worden war, besteht in der These, daß sinn1231 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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liche Wahrnehmung kein rein passives Widerfahrnis ist, sondern eine Art von Dialog zwischen dem Sinnesorgan und dem jeweiligen Reiz, ein Dialog allerdings, der immer in der Sprache des jeweiligen Sinnesorgans geführt und je nach Intensität des Reizes mehr oder weniger intensiv geführt wird. Die Repliken des jeweiligen Sinnesorgans in diesem Dialog nennt Müller dessen Energien, wobei er dieses Wort jedoch keineswegs energetisch im Sinne der Physik verwendet und verstanden wissen will, sondern strikt aristotelisch im Sinn von energeia. Goethe hatte diesen Dialog zwischen Auge und Licht im Didaktischen Teil seiner Farbenlehre auf die Formel gebracht, »im Auge wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt werde«, auf daß »das innere Licht dem äußeren entgegentrete« (39,76). Für Müller ergibt sich daraus die Konsequenz, »daß die Energieen des Lichten, des Dunkeln, des Farbigen, nicht den äußeren Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsinnsubstanz selbst immanent sind, daß die Sehsinnsubstanz nicht afficirt werden könne, ohne in ihren eingebornen Energieen des Lichten, Dunkeln, Farbigen thätig zu seyn; daß das Lichte, das Schattige und die Farben nicht dem Sinn als etwas fertiges Aeußerliches existiren, von welchem berührt der Sinn nur die Empfindung desselben habe, sondern daß die Sehsinnsubstanz von jedwedem Reiz, welcherlei Art er immer sey, aus ihrer Ruhe zu Affection bewegt, diese Affection in die Energieen des Lichten, Dunkeln, Farbigen sich selbst zur Empfindung bringe.« 67

Dies gilt aber auch für alle anderen Sinne, weshalb er fortfährt: »Der Sehnerve kann gar nicht afficirt werden, ohne zu sehen sich selbst beleuchtend, der Hörnerve nicht afficirt werden, ohne zu tönen, der Geschmacksnerve nicht, ohne zu schmecken u. s. w. Der Sehnerve sieht nicht darum, weil die Netzhaut mit dem in Berührung kommt, was wir physikalisches Licht nennen; der Hörnerve hört nicht darum, weil er durch die Schallleitung, oder besser Schwingungsleitung mitschwingt.« (S. 45)

Denn: »Es ist gleichgültig, von welcher Art die Reize auf den Sinn sind; ihre Wirkung ist immer in den Energieen des (jeweiligen) Sinnes. Druck, Erschütterung, Friction, Kälte und Wärme, (…) der galvanische und

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electrische Gegensatz, chemische Reagentien, die Pulse (Impulse) des eigenen Körpers, die Entzündung der Netzhaut, die Sympathien endlich des Auges mit anderen Theilen des Körpers; kurz alle nur denkbare Reize, welche in was immer für einer Form auf die Sehsinnsubstanz zu wirken vermögen, wirken auf diese nur so, daß sie ihre Dynamis, die Empfindung des Dunkeln, welche sie auch ohne Reiz hat, zu ihren Energieen, zur Empfindung des Lichten und des Farbigen treiben.« (S. 45 f.)

Mit diesem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien hat sich Müller also endgültig vom Denken in Signaturen nach dem Prinzip similia similibus verabschiedet, denn er betont eigens: »Alle Substanzen, alle Reize, welche auf das lebende Organische wirken, setzen weder ihre eigene Wirksamkeit in das Organische, wie im mechanischen Proceß, noch auch verbindet sich die einwirkende Substanz mit der leidenden (affizierten) Organischen zu einem (neuen) neutralen Product; sondern alle einwirkenden Substanzen bewirken in dem thierischen Proceß ein Anderes, als sie selbst sind, und die Art der Reaction hängt nicht wesentlich von dem Reiz ab, sondern sie ist eine von den in der thierischen Wesenheit gelegenen Energieen.« (S. 47 f.)

Dieses neu entdeckte Prinzip, daß der Dialog zwischen Reiz und organischer Funktionseinheit immer in der Sprache der jeweiligen organischen Funktionseinheit geführt wird, gilt nun laut Müller aber nicht nur für die Sinnesorgane, sondern auch für die Muskulatur, weshalb er fortfährt: »So bewirken alle denkbaren Arten von Reiz auf die Bewegungsnerven nicht das ihnen Gleiche, eine mechanische, eine galvanische Aeußerung u. s. w., sondern die organische Contraction des Muskels.« (S. 48)

Obwohl sich Müller hier nicht explizit auf Georg Ernst Stahl bezieht, ist die Nähe zu Stahls Polemik gegen die Mechanisten doch deutlich genug, denn schon Stahl hatte nicht nur dem Organismus als ganzem, sondern auch den einzelnen Funktionseinheiten eines Organismus eine Art von selbstbestimmter Mündigkeit zugesprochen, als er behauptet hatte, daß jedes Organ »gewissermaßen ein Subjekt ist, von einem höheren Prinzip zu einem Endzweck bewegt und angetrieben.« 68 Ja, er hatte sogar behauptet, der Organismus als ganzer und jedes einzelne Organ seien nicht die willenlosen Opfer all der Reize, die auf sie einwirken, weil sie, da sie »gewissermaßen 1233 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Subjekte« sind, eigenverantwortlich auf sie antworten, und das heißt: »Ein solches Instrument schließt ein Principium moraliter activum (ein verständiges Wesen) in sich ein, das die Teile, die mit mechanischer Einrichtung und Beweglichkeit begabt sind, zu entsprechenden Bewegungen, die auf einen gewissen Endzweck abzielen, erregt und antreibt.« (S. 50)

Oder anders formuliert: Der Reiz ist nicht die direkte Ursache einer erzwungenen Reaktion, sondern eher das Stichwort für eine organisch sinnvolle Replik im Dialog zwischen Organismus und Umwelt. In seinem Handbuch der Physiologie bezieht und beruft sich Müller aber sehr wohl und gleich auf den ersten Seiten explizit auf Georg Ernst Stahl, indem er sich dessen Verständnis von Seele resp. von Lebenskraft zueigen macht und dann darüber schreibt, »dass die vernünftige Seele selbst das primum movens der Organisation, sie selbst der letzte und einzige Grund der organischen Thätigkeit sey, dass die Seele ihren Körper nach den Gesetzen ihrer Wirksamkeit zweckmäßig baue und erhalte, und dass durch ihre organische Thätigkeit die Heilung der Krankheiten geschehe. Stahls Zeitgenossen und Nachfolger haben diesen großen Mann zum Theil nicht verstanden, wenn sie glaubten, nach seiner Ansicht sollte die Seele, welche vorstellt, mit Bewußtseyn und Absicht, auch die Organisation betreiben.« (I,24)

Und dann verweist er eigens noch auf das dabei wirkende Principium moraliter activum, fügt aber einschränkend hinzu: »Stahls Seele (Lebenskraft im Sinne Stahls) ist die nach vernünftigem Gesetz sich äußernde Kraft der Organisation selbst. Allein Stahl ist darin zu weit gegangen, wenn er die mit Bewußtseyn verbundenen Seelenäusserungen in gleichen Rang mit der zweckmässig, aber nach blinder Nothwendigkeit sich äussernden Organisationskraft (Lebenskraft im Sinne Müllers) stellte.« (I,24)

Dieses Postulat einer organischen Vernunft jenseits des Bewußtseins, die jedem Organismus in all seinen Funktionseinheiten inhärent ist und diese sinnvoll leitet, finden wir auch bei Jakob von Uexküll (1864–1944) wieder, der sich um 1920 in seinem Werk Theoretische Biologie ausdrücklich auf Müllers Gesetz der spezifischen Energien 69 beruft, um seine eigene Theorie vom Funk1234 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tionskreis aus »Merkzeichen« und »Wirkzeichen« zu erläutern und zu begründen, und auf den ich hier kurz eingehe, um Müllers und Stahls Entdeckungen weiter zu verdeutlichen, denn auch für Uexküll sind schon die kleinsten Einheiten eines lebenden Organismus »gewissermaßen Subjekte«, weil für ihn feststeht, daß ein für einen Organismus relevanter Reiz »von einem Subjekt gemerkt werden muß« 70, wer immer dieses Subjekt auch sei. Und daraus ergibt sich für ihn die Konsequenz, daß ein lebender Organismus grundsätzlich nicht als Maschine verstanden werden könne, vielmehr müsse der Grundsatz gelten, »daß (schon) jede lebende Zelle ein Maschinist ist, der merkt und wirkt und daher ihm eigentümliche (spezifische) Merkzeichen und Impulse oder ›Wirkzeichen‹ besitzt. Das vielfältige Merken und Wirken des ganzen Tiersubjektes ist somit auf das Zusammenarbeiten kleiner Zellmaschinisten zurückzuführen, von denen jeder nur über ein Merk- und Wirkzeichen verfügt.« 71

Dieses kleinste organische Element bezeichnet Uexküll als »das Autonom« 72 organischer Materie, der spezifischen Energie alles Lebendigen, denn: »Die Eigengesetzlichkeit, d. h. die Abhängigkeit von einer eigenen Regel, ist das wesentliche Kennzeichen des Lebendigen und die bestimmende Regel wird von der spezifischen Lebensenergie diktiert. Sie äußert sich entweder in einem Merken der rezeptorischen oder in einem Wirken der effektorischen Zellen und Drüsen. Man kann daher die rezeptorische Zelle ein Merkautonom nennen und die effektorische Zelle mit der Bezeichnung Wirkautonom benennen.« 73

All dies gilt natürlich ebenso für den menschlichen Organismus, und so stellt sich sofort die Frage, ob auch der menschliche Organismus über derartige autonome Verhaltensprogramme im Sinne von Müllers spezifischer Lebensenergie oder von Uexkülls Merkund Wirkzeichen verfügt, mit denen er autonom und in seiner eigenen Sprache auf bestimmte Reize antworten kann, und ob auch das Lachen zu diesen Antworten zu zählen sei. Die Frage lautet also, anders formuliert: Ist auch das Lachen ein effektorisches Wirkzeichen im Sinne Uexkülls, mit dem wir als Subjekte auf rezeptorische Merkzeichen sinnvoll antworten? Dies zieht sofort die zweite Frage nach sich: Welche Arten rezeptorischer Merkzeichen gibt es über1235 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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haupt, auf die wir mit Lachen organisch sinnvoll antworten, sodaß Lachen als eine Bekundung organischer Vernunft erscheint und darüber hinaus als eine spezifische Energie des menschlichen Organismus? Fragen dieser Art hat, so weit ich sehe, als erster der Physiologe und Psychologe Ewald Hecker gestellt, der das Lachen als ein physiologisch vorgegebenes energeia-Programm verstanden und beschrieben hat, mit dem wir auf die Reizung durch Kitzel und Komik organisch sinnvoll antworten, und dabei stehen Lachen und Kitzel resp. Lachen und Komik zueinander wie energeia und dynamis, wie Akt und Potenz, wie Wirkzeichen und Merkzeichen. Die Analyse des Kitzels und des Lachens ist bei diesem Programm Aufgabe der Physiologie, die Analyse des Komischen Aufgabe der Psychologie, und deshalb trägt seine Studie 74 von 1873 den Titel Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen. Ewald Hecker (1843–1909) war Nervenarzt am Klinikum seines Mentors Karl Ludwig Kahlbaum (1828–1899) in Görlitz, dem die Studie auch gewidmet ist, und war durch eine heute noch zitierte Studie über Hebephrenie 75 bekannt geworden. Angelegt ist Hekkers Argumentation so, daß er, ähnlich wie Schopenhauer, das Lachen, aber auch das Weinen, Gähnen, Niesen und Husten als Reflex versteht, genauer: als einen »respiratorischen Reflexkrampf« (S. 4), also als einen Automatismus, und somit als weitgehend autonom ablaufendes Antwortverhalten, aber Hecker sieht, anders als Schopenhauer, der hier nur den blinden erkenntnislosen Willen erkannte, in all diesen Automatismen (»Reflexkrämpfen«) außerdem auch noch eine organische Vernunft am Werk, die ein organisch sinnvolles Schutzverhalten organisiert, das allerdings unterhalb des Bewußtseins und »ganz ohne Einfluß des Willens« (S. 1) abläuft. So hatte es schon Müller gesehen, der im zweiten Band seines Handbuchs kurz auf Lachen und Weinen eingeht. Dort unterteilt er Bewegungen in drei Klassen als »Bewegungen, die durch bloße Vorstellungen bedingt werden; leidenschaftliche Bewegungen; willkürliche Bewegungen« (II,89). Lachen und Weinen gehören für ihn zu den unwillkürlichen Bewegungen, die durch bestimmte Vorstellungen hervorgerufen werden und sich als Überformung des Atems manifestieren, wobei 1236 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»selbst ohne alle Leidenschaft ein so schneller Uebergang der Vorstellungen, wie er bei dem Eindruck des Lächerlichen stattfindet, jene Entladungen bewirkt, die sich dann in den Gesichtsmuskeln und Athemmuskeln äussert.« (II,89 f.)

Kommen aber Leidenschaften hinzu, insbesondere gemischte Leidenschaften, so erfolgen die Bewegungen »zitternd« und »convulsivisch« (II,91). Immer aber sind es »Entladungen von Spannungen« (vgl. II,95). Hier setzt nun auch Hecker an. Nachdem er erst genau zwischen »modificirbaren Antwortbewegungen« (S. 4), die durch den Willen gesteuert werden, und »blindwirkenden« (S. 5) Reflexbewegungen unterschieden hat, die unverfügbar stereotyp ablaufen, schreibt er: »Zu diesen letzteren, die uns hier vorzugsweise interessiren, (…) gehört namentlich eine Zahl von krampfartigen Bewegungen, sog. Reflexkrämpfe, die als Husten, Niesen, Lachen, Weinen (d. h. Schreien und Schluchzen) und Gähnen allgemein bekannt sind. Es liegt nahe, auch von diesen Bewegungen anzunehmen, dass sie einen bestimmten, vernünftigen Zweck verfolgen, und so haben wir ja auch die Zweckmässigkeit des Niesens schon anerkennen müssen, indem wir beobachteten, dass der durch die Nase getriebene Luftstrom offenbar die Aufgabe erfüllt, den die Schleimhaut reizenden Körper hinauszuschleudern. Ganz ebenso sehen wir beim Husten durch die gewaltsamen krampfartigen Athemstösse die Ausstossung von Schleim und Staubpartikelchen aus der Luftröhre erfolgen. Es werden diese Bewegungen nicht durch unseren Willen hervorgerufen (wenn derselbe auch einen gewissen Einfluß auf sie ausüben kann), sie sind auch ferner im Gegensatz zu den sog. ›Antwortbewegungen‹ nicht modificirbar und verrathen ihr von der Ueberlegung unabhängiges Auftreten z. B. dadurch, dass wir auch niesen, wenn ein Federbart unsere Nase kitzelt, obschon doch voraussichtlich der Luftstrom beim Niesen nicht Kraft genug haben würde, ihn zu entfernen. (…) Es beruhen die Reflexkrämpfe also so zu sagen auf einem blindwirkenden Mechanismus, der durch die Organisation unseres Nervensystems vorgebildet ist.« (S. 4 f.)

Daß Hecker sich tatsächlich an Müllers Gesetz der spezifischen Energien orientiert, wird besonders deutlich, wenn er die erste Bi1237 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lanz zieht und die These formuliert, die er dann durch seine Studie argumentativ einholen und erläutern will, denn diese These lautet, »dass das Lachen infolge eines Kitzels einerseits, weit entfernt davon etwas Zufälliges oder ›angewöhnt Willkürliches‹ 76 zu sein, vielmehr auf einer weisen Vorsorge der Natur beruhend, bestimmte materielle Aufgaben erfülle, andererseits aber auch Lachen über komische Vorstellungen mit derselben Nothwendigkeit eintreten müsse, indem das Komische bei seiner Einwirkung auf unser Gemüth (physiologisch nachweisbar) dieselben organischen Veränderungen hervorruft, wie der Kitzel. Ganz Aehnliches gilt vom Weinen (resp. Schreien), sofern es durch körperlichen Schmerz und psychische Rührung, vom Gähnen, sofern es durch körperliche Abspannung und Langeweile entsteht.« (S. 6)

Bei der Analyse des Zusammenhangs von Kitzel und Lachen setzt Hecker bei dem Umstand an, daß zwar durch Husten und Niesen ein irritierender Körper weggehustet oder weggeniest werden kann, durch Lachen jedoch nicht. Also, so Hecker, kann die organische Zweckmäßigkeit des Lachens nicht so direkt offensiv defensiv sein wie beim Husten oder Niesen, sondern muß seine organische Zweckmäßigkeit irgendwie anders begründet sein und in der heilsamen Selbstregulierung des Organismus liegen: »Es liegt dabei die Annahme nahe, dass diese Krampfbewegung nicht direct mit dem Kitzel selbst, sondern erst indirect mit einer durch den Kitzel hervorgerufenen Veränderung im Organismus zusammenhänge. Deshalb erscheint es nothwendig, zuvor die Frage zu stellen, welche Einwirkungen ein Hautreiz, wie ihn der Kitzel darstellt, auf unsern Organismus ausübt.« (S. 7)

Nun habe ich ja schon im Aristoteles-Kapitel 2.3.2.3 den Kitzel als eine rhythmische Folge von »epikritischen Berührungs-Pointen« bezeichnet, um darauf hinzuweisen, daß Bekundungs-Lachen sowohl durch physiologisches Empfinden über Nahsinne als auch durch epistemisches Erkennen über Fernsinne ausgelöst werden kann, immer aber auf einen Durchbruch des Plötzlichen angewiesen ist, den Baader als das »Explodieren der Angstspitze« bezeichnet. Und im Kapitel 2.12.6.5 haben wir gesehen, daß sich die Pointenstruktur kritischer Prozesse als eine Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase darstellt. 1238 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ganz ähnlich argumentiert nun auch Ewald Hecker, indem er diesen Gedanken ins Physiologische übersetzt. Er weist nämlich darauf hin, daß jede leichte Berührung der Haut auch schon weit diesseits der Schmerzgrenze sofort dazu führt, daß die Blutgefäße des Gefäßsystems sich in einer Art von Schreckreaktion verengen, daß man also bei einer derartigen »epikritischen« Reizung synergetisch mit allem, was man hat, ist, tut und kann, sich in sich selbst zusammenzieht und die Luft anhält, wodurch sich die Spannung im gesamten Körper intensiviert. Für Hecker heißt das: »Wir haben in Folge des leisen Reizes sensibler Nerven eine Verengerung der Blutgefässe (auch) an fernliegenden Organen beobachtet, und es wird diese Erscheinung nach dem Eingangs Gesagten offenbar als eine Reflexwirkung, d. h. als ein directes ›Umsetzen‹ des Empfindungsreizes in eine Bewegung aufgefasst werden müssen. Die hier in Thätigkeit gezogenen Muskeln sind die Ringmuskel der Gefäße, welche bei ihrer Zusammenziehung eine Verengerung des Gefässrohres verursachen; und die jene Muskeln versorgenden Nerven, auf welche die Empfindung reflectirt ist, sind die sog. vasomotorischen Nerven, welche zum grössten Theil im Grenzstrange des Nervus sympathicus (…) verläuft. Wir haben es hier also mit einer Reflexreizung des Nervus sympathicus zu thun, denn wir beobachten dieselben Erscheinungen, die wir sonst nach directer Reizung dieses Nerven auftreten sehen, d. h. zunächst Verengerung der Gefässe, namentlich der an glatten Muskelfasern reicheren kleinen Arterien.« (S. 9)

Dann weist Hecker darauf hin, daß bei dieser rhythmisch intermittierenden Reizung des Sympathikus durch Kitzeln auch die kleinen Arterien im Gehirn sich rhythmisch verengen und wieder erweitern, sodaß letztlich im gesamten Organismus und namentlich im Gehirn »eine nicht unbeträchtliche Schwankung (Ab- und Zunahme) im Tonus der Gefässe« (S. 11) eintritt. Mit anderen Worten: Kitzeln bewirkt, daß im gesamten Organismus und namentlich im Gehirn eine rhythmische Abfolge von Engungs- und Weitungs-Reaktionen eintritt, die zugleich eine rhythmische Abfolge von Anspannung und Entspannung sind, weil der Druck in den Gefäßen rhythmisch steigt und fällt. Das gesamte Gefäßsystem des Körpers pulsiert also gleichsam wie ein Herz. Damit aber dieser Spannung als Druck in den Gefäßen und ins1239 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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besondere im Gehirn nicht zu groß wird, fungiert nun laut Hecker die Atmung als »besonderer Schutzapparat« (S. 13), indem sie durch die »forcirte Ausathmungsbewegungen« (S. 14 f.) des Lachens den Blutdruck auf ein erträgliches Maß reduziert, »um den in Folge des Kitzels drohenden Gefahren entgegenzuwirken« (S. 15). »Denn was ist das Lachen anders, als eine rhythmisch unterbrochene äusserst forcirte, durch die damit verbundene Tonbildung erschwerte Ausathmung?« (S. 15)

Und damit kann er seine erste Bilanz ziehen: »Wir dürfen somit, das Resultat unserer Untersuchung zusammenfassend, das Lachen als eine zweckmässige Reflexbewegung ansehen, welche die Aufgabe erfüllt, die durch den Kitzel verursachten negativen Druckschwankungen im Gehirn durch eine entsprechende Drucksteigerung zu compensiren.« (S. 15)

Mit anderen Worten: (Bekundungs-)Lachen ist, genau wie Husten oder Niesen, ein autonom ablaufendes Schutzverhalten, durch das ein gefährlich hoher körperlicher Tonus abgelacht wird. Das heißt aber zugleich auch, daß Bekundungs-Lachen sowohl die Manifestation als auch die Korrektur einer körperlichen Krise ist, wie dies ja schon Poinsinet de Sivry erkannt hatte, und wie dies später auch Plessner betonen wird. Oder wieder anders formuliert: Lachen hat, auch rein physiologisch gesehen, eine uroborisch-kathartische Funktion. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob es sich bei dem von Hekker beschriebenen Schutzverhalten überhaupt um einen Reflex handelt und nicht eher um einen Automatismus, eine Frage, auf die wir schon oben in Kapitel 2.10.5 gestoßen sind. Hecker scheint den Unterschied zwischen Reflex und Automatismus nicht zu kennen, doch aus der Art und Weise, wie er den »Reflexkrampf« Lachen beschreibt, der den gesamten Organismus erfaßt, geht hervor, daß er hier gar nicht von einem echten Reflex spricht, sondern von einem unverfügbar als Selbstlauf wirkenden Automatismus, da Reflexe nur auf Reize, Automatismen aber auf Situationen antworten und in der Art und Weise, wie sie antworten, der jeweiligen Situation Rechnung tragen. Reflexe sind also strikt stereotype und gleichsam »blinde« Reaktionen, Automatismen hingegen situati1240 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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onsspezifische, sodaß sie immer auch in einer gewissen Bandbreite variabel sind. Und hinsichtlich ihrer Schutzfunktion gilt: Reflexe schützen nur ein Organ oder eine Einzelfunktion, Automatismen immer den gesamten Organismus, und genauso hat Hecker es gemeint. Wenn wir nun eine erste eigene Bilanz ziehen und Heckers Physiologie des Lachens mit der von Spencer vergleichen, zeigt sich sofort, wie unendlich viel fruchtbarer Heckers Ansatz ist, weil Lachen für Hecker eben keine sinnlose Bewegung irgendwelcher Muskeln ist, sondern eine vital notwendige Schutzfunktion für den gesamten Organismus darstellt, und weil Hecker darüber hinaus auch plausibel machen kann, warum Lachen die Verlaufsgestalt gestottert explodierender Ausatmung aufweist, was Spencer nicht einmal eine Frage wert war. Und außerdem kann Hecker plausibel machen, warum es als synergetisches Geschehen den gesamten Organismus ergreift, was der physiologische Dilettant Spencer mit seinem energetisch orientierten Dampfmaschinenmodell in keiner Weise auf den Begriff zu bringen vermochte. Schon allein durch diesen Vergleich zwischen Spencer und Hecker zeigt sich, welch ein heilloser Irrweg der mechanistisch-energetische Ansatz für die Gelotologie gewesen ist, weil nur Heckers Studie die Bezeichnung »Physiologie des Lachens« verdient. Allerdings muß man aber auch Kritik an Hecker selbst üben, denn er geht mit keinem Wort auf den Umstand ein, daß man nicht ins Lachen gerät, wenn man sich selber kitzelt, denn hier liegt ja, rein physiologisch gesehen, genau dieselbe rhythmische Reizung des Sympathikus vor, die denselben Effekt zeitigen müßte. Und außerdem kann er nicht erklären, warum man nicht lacht, wenn einem eine Fliege übers Gesicht krabbelt, die genau denselben Kitzel-Reiz verursacht. Es müssen also für die Erregung von Gelächter durch Kitzeln noch zusätzliche Umstände und Voraussetzungen vorliegen, die physiologisch nicht erfaßt werden können. Aber welche sind das? Da wir erst im systematischen Teil ausführlich auf das Problem des Kitzel-Lachens eingehen werden, muß ich mich hier mit einigen Andeutungen begnügen, um diese Frage ansatzweise zu beantworten, und diese Antwort läuft darauf hinaus, daß der Kitzelreiz 1241 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nur dann nicht als lästige Irritation empfunden, sondern mit Gelächter aller Art beantwortet wird, wenn er in einer Situation wohlig-williger Hingabe erfolgt, d. h. wenn dem Widerfahrnis des Kitzelreizes auf der Basis der »konkreten Einstellung« 77 die Bereitschaft vorausgeht, sich ekstatisch ergreifen zu lassen. Entscheidend ist also die Einstellung williger Hingabe. Dies aber ist kein physiologisches Phänomen, sondern eine »innere Haltung«78, die nur psychologisch-phänomenologisch auf den Begriff gebracht werden kann. Hätte Hecker den Titel seines Werks wirklich ernst genommen, hätte er auch bei der Analyse des Kitzel-Lachens physiologische und psychologische Aspekte berücksichtigen müssen. Der nächste Schritt in Heckers Argumentation setzt bei der These an, »dass bei Einwirkung des Komischen dieselben physiologisch-anatomischen Veränderungen eintreten, wie nach dem Kitzel, das heisst eine intermittirende Contraction der Gehirngefässe als Folge einer intermittirenden Symathicusreizung.« (S. 16)

Zunächst referiert Hecker die uns schon bekannten Kontrast- und Inkongruenz-Theorien des Komischen von Aristoteles, Kant, Schopenhauer und Vischer (S. 19 ff.), breitet dann eine ganze Palette verschiedener Formen von Komik (S. 40 ff.), Witzen und Wortspielen (S. 56 ff.) aus und bringt all dies auf den Generalnenner Ambivalenz, ohne allerdings auf Platon zu verweisen, der diesen Gedanken ja als erster formuliert hatte. Das Wesen des Komischen und Lächerlichen bestimmt Hecker demnach psychologisch-physiologisch »als einen beschleunigten Wettstreit der Gefühle, d. h. als ein schnelles Hin- und Herschwanken zwischen Lust und Unlust« (S. 81). Und dann fährt er fort: »Mit dieser Auffassung stimmen aber die auf ganz anderem Wege gewonnenen Resultate der metaphysisch-ästhetischen Untersuchungen von Vischer und die Ansichten Kant’s völlig überein. Kant hebt hervor, dass beim Lächerlichen (Komischen), wenn der Schein, der uns auf einen Augenblick getäuscht hat, in Nichts verschwindet, das Gemüth wieder zurücksieht, um es mit ihm noch einmal zu versuchen (›Aber nein! – Oder doch? – Und doch ja!‹) und so durch schnell hintereinanderfolgende Anspannung hin- und zurückgeschnellt und in Schwankung versetzt wird, die, weil der Absprung von dem, was gleichsam die

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Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein allmähliches Nachlassen) geschah, eine Gemüthsbewegung und mit ihr harmonirende inwendige körperliche Bewegung verursachen muss, die unwillkürlich fortdauert und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die Wirkung einer zur Gesundheit gereichenden Motion) hervorbringt.« (S. 81) 79

Auch bei Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) ist für Hecker der Wettstreit der ambivalenten Gefühle der Schlüssel zur Ätiologie des Komischen, weil sie »ein gegensätzlich bewegtes Lustgefühl« (S. 81) bewirken, denn bei Vischer heißt es explizit: »›Die gegensätzlichen Glieder bilden eine widerspruchsvolle Einheit und ihr Ineinander nöthigt das Gefühl, zwischen ihnen herüber und hinüber zu gehen, was als ein rascher Wechsel von Lust und Unlust empfunden wird, so zwar, dass jene durch diese verdoppelt, aber auch durch sie bedingt wird.‹ – ›Es ist also Lust durch Unlust, doppelte, weil durch Unlust gewürzte Lust, aber doch Lust mit Unlust. Es ist ein durchaus bewegtes Gefühl, worin Unlust in Lust, Lust in Unlust hinüberzittert.‹« (S. 81)

Damit ist für Hecker das Wesen des Komischen so weit geklärt, daß er es mit eigenen Worten als »eine intermittirende rhythmisch unterbrochene, freudige Gefühlsbewegung« (S. 82) bestimmen kann. Diesen ästhetisch-psychologischen Befund übersetzt er dann ins Physiologische und kommt zu dem Ergebnis: »Demnach wird eine intermittirende freudige Erregung, wie wir sie als Wesen des Komischen nachgewiesen haben, eine intermittirende Sympathicusreizung erwarten lassen.« (S. 83)

Und diese intermittierende Reizung des Sympathikus manifestiert sich eben als Lachen, genauer: als Bekundungs-Lachen. Hätte Hermann Lotze diese Ätiologie des Lachens gelesen, so hätte er wohl nur höhnisch gelacht, denn er hatte sich schon einige Jahre vorher in seiner Geschichte der Aestetik in Deutschland 80 über Kants Physiologie des Lachens lustig gemacht, an der sich ja Hecker ausdrücklich orientiert hatte. Für Lotze ist Kants Erklärung des Lachens eine »altfränkische« (S. 344), ganz und gar »unverständliche« sowie »wunderliche Darstellung« (S. 343), die er folgendermaßen wiedergibt: »Musik und Stoff zum Lachen sind ihm (Kant) zweierlei Arten des Spiels mit ästhetischen Ideen und Verstandesvorstellungen, wodurch

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am Ende Nichts gedacht wird und die blos durch ihren Wechsel und dennoch lebhaft vergnügen, wodurch sie klar zu erkennen geben, daß die Belebung durch beide blos körperlich sei und das Gefühl der Gesundheit, durch eine jenem Spiel correspondirende Bewegung der Eingeweide, das ganze für so fein und geistvoll gepriesene Vergnügen einer aufgeweckten Gesellschaft ausmacht. Im Lachen entspringe dieser Affect aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts; doch müsse in allen solchen Fällen der Spaß immer etwas enthalten, welches auf einen Augenblick täuschen kann; daher, wenn der Schein in Nichts verschwindet, das Gemüth wieder zurücksieht, um es noch einmal mit ihm zu versuchen, und so durch schnell hinter einander folgende Anspannung und Abspannung hin- und zurückgeschnellt und in Schwankung gesetzt wird; mit dieser Gemüthsbewegung verbinde sich eine harmonirende inwendige körperliche Bewegung, die unwillkürlich fortdauert und Ermüdung, dabei aber auch Erheiterung hervorbringt.« (S. 342 f.)

Und dann stellt er die polemisch-rhetorische Frage, woher denn diese »plötzliche Explosion aus den unbekannten Tiefen des Organismus entspringe« (S. 343), und warum man in einer derartigen Situation nicht etwa niese oder sich erbreche. Seine eigene Antwort lautet: »Hierauf kann höchstens die Physiologie antworten, daß gerade die Respiration, welche auf kurze Zeit großen Wechsel ihres Rhythmus und ihrer Intensität ohne weitere Folge für die Oekonomie des Lebens verträgt, überhaupt der gewöhnlichste Schauplatz ist, auf welchem Gemüthserschütterungen, in deren Natur kein Ansatz zu einem bestimmten Handeln liegt, den bloßen Aufruhr ihrer Bewegung unschädlich und ohne etwas Bestimmtes zu bewirken, zur Erscheinung zu bringen (vermag). Lachen, Seufzen, Schluchzen, Gähnen und zorniges Schauben sind verschiedene Belege hierfür.« (S. 343)

Damit gibt Lotze zwar ausdrücklich zu, daß sich Affekte über die Modifikation der Atmung bekunden, merkt aber nicht, daß der physiologische Laie Kant physiologisch viel genauer argumentiert hat als er selbst, weil er offenbar nicht erkannt hat, daß die Explosion des Lachens gestottert sein muß, weil sie eine in sich ambivalente Befindlichkeit ausdrückt, wohingegen Niesen und Erbrechen ungehemmte und deshalb ungestotterte Ausdrucksbewegungen sein können. 1244 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Nach anderen Quellen, Anlässen und Formen des Lachens jenseits des Bekundungs-Lachens fragt Hecker nicht, auch nicht danach, warum das Lachen nicht nur die Atmung, sondern auch Gestus, Vultus und Habitus so intensiv überformt, obwohl er hier auf weiten Strecken auch rein physiologisch hätte argumentieren können. Aber trotz dieser Einschränkungen darf man Heckers Studie als ein geglücktes Modell physiologisch orientierter Gelotologie ansehen, und deshalb erhebt sich um so dringlicher die Frage, warum Heckers Ansatz nicht Schule gemacht hat, sondern alsbald in Vergessenheit geriet und so gut wie nie zitiert wird. Das liegt möglicherweise an Theodor Lipps (1854–1914), einem der Psychologie-Päpste des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der sich in seiner Studie Komik und Humor 81 von 1898 ausführlich mit Heckers psychologisch orientierter Theorie des Komischen auseinandersetzt und sie als »Theorie des Gefühlswettstreites« (S. 2–14) rundum verwirft, obwohl er sie dann doch wieder selbst verwendet und als »Hin- und Hergehen der komischen Vorstellungsbewegung« (S. 147 ff., S. 152 ff.) aufgreift. Der eigentliche Grund für die Ablehnung von Heckers Ansatz liegt aber woanders, denn so, wie viele Autoren glauben, sie könnten das Lachen nur diesseits des Komischen thematisieren, so glaubt Lipps, er könne Komik nur jenseits des Lachens zum Thema machen, weshalb er dezidiert erklärt: »Das Lachen als solches ist für das Verständnis des Komischen völlig bedeutungslos.« (S. 64)

Und deshalb handelt seine Studie »ausschliesslich von der Komik, nicht vom Lachen, auch nicht von ausserkomischen Lustgefühlen« (S. 64). Im Gegensatz dazu hatte Hecker darauf bestanden, Lachen und Komik müßten grundsätzlich zusammen thematisiert und sogar aus einer gemeinsamen Wurzel erklärt werden, sodaß Lachen und Komik zueinander im Verhältnis von Akt und Potenz stehen und das herausplatzende (Bekundungs-)Lachen als die Beglaubigung des vorgegebenen komischen Potentials erscheint. Ganz woanders setzt Plessners Kritik an Hecker (VIII,283 f.) an, weil schon Hecker das Lachen als Manifestation und Bewältigung einer Krise gesehen hatte. Aber Plessner hält Heckers Theorie letztlich doch für »unhaltbar«, weil sie »den exemplarischen Fehler be1245 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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geht, die zwangsmäßige Antwortreaktion auf den Kitzelreiz, das Kichern, mit dem echten Lachen zu verwechseln« (VIII,284), weil »echtes Lachen« für Plessner ausschließlich im tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Lachen besteht, mit dem wir auf Komik aller Art antworten oder mit dem wir Verlegenheit oder Verzweiflung bekunden. Aus demselben Grund ist auch das Lächeln für Plessner kein »echtes Lachen«, auch keine Schwundstufe des echten Lachens von geringerer Intensität, sondern »eine Ausdrucksform sui generis« (VIII,425), obwohl er andererseits wieder zugeben muß, daß sich sehr oft das Lachen aus einem Lächeln entwickelt oder darin ausklingt und das Lachen sogar vertreten (VIII,424) kann. Hier müßte wiederum die Kritik an Plessner ansetzen, weil Plessner mit der Reduktion des Lachens auf das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen selbst einen exemplarischen Fehler begangen hat. Woraus dieser Fehler aber resultiert, ist eine Frage, auf die wir erst im Plessner-Kapitel ausführlich eingehen werden. 2.14.6.3 Ignoramus, ignorabimus: Die Selbstkritik der mechanistischen Biophysik durch Emil Du Bois-Reymond Am 14. August 1872 hielt Emil Du Bois-Reymond vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig einen Vortrag mit dem Titel Über die Grenzen des Naturerkennens 82, der sich wie das naturwissenschaftliche Echo von Kants Kritik der reinen Vernunft liest und wohl so gedacht war, denn so wie es Kant darum ging, die Grenzen der Vernunft abzustecken, so geht es auch Du Bois-Reymond darum, die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu bestimmen. Wer aber Grenzen absteckt, bestimmt dadurch nicht nur, wie weit sein eigenes Revier reicht, sondern zugleich, wo das Revier des anderen aufhört. So gesehen war diese Rede offensiv und defensiv zugleich, und da sie mitten im Streit um Darwin 83 und im beginnenden Kirchenkampf nach der Erklärung des Unfehlbarkeits-Dogmas gehalten wurde und Du Bois-Reymond nie einen Hehl aus seiner strikt antiklerikalen Haltung gemacht hatte, wurde diese Rede auch in der weiteren 1246 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Öffentlichkeit jenseits des rein wissenschaftstheoretischen Diskurses über Jahre hinweg erbittert diskutiert. Ein sehr sprechendes Beispiel dafür ist der Kommentar eines katholischen Publizisten, der die Empfindung ausdrückt, diese Rede schlage »nicht nur der Theologie, sondern jeder Religion überhaupt in’s Gesicht« 84, weil sie »die Vertreter der christlichen Weltanschauung als armselige Phantasten oder als boshafte Volksverführer« 85 kennzeichne, denn: »Sie ist im letzten Grunde nichts anderes, als der Ausdruck jenes selbstgefälligen Unfehlbarkeitsdünkels, der, anfangs freilich auf der Grundlage inductiver Forschung fussend, bald – man möchte nachgerade annehmen unbewusst – den festen Boden verliess und sich empor speculirte zu der ›eisigen Höhe‹ einer selbstconstruirten Weltanschauung, von welcher er selbstbewusst wie ein Alleinherrscher herabschaut.« 86

Die Rede wurde also allgemein als »Kant’sche Tat« 87 und vom klerikalen Establishment dementsprechend als Kant’sche Untat angesehen, und die klerikalen Alleserklärer empfanden Du Bois-Reymond als den »Alleszermalmer«, als den sie schon Kant hundert Jahre vorher empfunden hatten. Du Bois-Reymond war als Ordinarius für Physiologie, als Ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften und als Rektor der Berliner Universität der damals wohl einflußreichste Wissenschaftsmanager in Deutschland, und sein Auditorium dürfte sich als die Elite der deutschen Naturwissenschaft gefühlt haben. Und weil die Rede sofort auch auf Englisch und Französisch 88 publiziert wurde, erreichte sie auch ein internationales Publikum weit über Deutschland hinaus und wurde auch dort intensiv diskutiert. Acht Jahre später bekräftigte Du Bois-Reymond in einer weiteren Rede Die sieben Welträtsel 89 vor der Akademie der Wissenschaften seine Ausführungen eigens noch einmal und präzisierte sie weiter. Seine Kernthese lautet: »Unser Naturerkennen ist also eingeschlossen zwischen den beiden Grenzen, welche einerseits die Unfähigkeit, Materie und Kraft, andererseits das Unvermögen, geistige Vorgänge aus materiellen Bedingungen zu begreifen, ihm ewig stecken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Naturwissenschaftler Herr und Meister, zergliedert er und baut er auf, und niemand weiß, wo die Schranke seines Wissens und seiner Macht

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liegt; über diese Grenzen hinaus kann er nicht, und wird es niemals können.« (I,460)

Dann fügt er noch die Überlegung hinzu: »Schließlich entsteht die Frage, ob diese beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämlichen sind, d. h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zugrunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt.« (I,464)

Und dann beendet er seine Rede mit rhetorisch machtvollem Pathos und verkündet: »Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ›Ignoramus‹ auszusprechen. (…) Gegenüber den Rätseln aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: ›Ignorabimus‹.« (I,464)

Das waren nun wahrlich starke Worte für jemanden, der die Naturwissenschaft als »die Weltbesiegerin unserer Tage« (I,441) und als »die emporwachsende neue Weltmacht« (II,66) verstand, und es dürften für sein Publikum einigermaßen schockierende Sätze gewesen sein, das, wie er selber zugeben muß, seine Rede »kühl« aufnahm (II,66) und vielleicht als Provokation empfand, vielleicht aber auch als eine Kapitulation des bekennenden Materialisten vor der katholischen Kirche, die kurz vorher das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündet und damit die alleinige Deutungshoheit für die Welträtsel unüberhörbar beansprucht hatte. Du Bois-Reymond betonte auch sofort, daß er nicht zur »schwarzen Bande« (II,67) gezählt werden möchte, aber trotzdem fürchteten viele seiner Kollegen, allein diese Rede habe schon einen tiefgreifenden Autoritätsverlust für die Wissenschaft im allgemeinen und für die Naturwissenschaften im besonderen bewirkt und den Anspruch auf eine rein wissenschaftlich begründete umfassende Weltanschauung untergraben: »Denn wenn es unüberwindliche Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gibt, dann kann auf ihrer Basis kein vollständiges Weltbild begründet werden. Ein solches Weltbild wird notwendigerweise Lücken aufweisen, die mit religiösen, mystischen, idealistischen Elementen gefüllt werden können, ohne daß diese naturwissenschaft-

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lich zu widerlegen sind. Kurz: Wenn Du Bois-Reymond recht hatte, dann waren alle Aspirationen auf eine vollständige Weltanschauung auf materialistischer oder darwinistischer Basis hinfällig.« 90

Es bestand also, anders formuliert, die Gefahr oder zumindest das Risiko, daß die Freiräume, die Du Bois-Reymond durch seine Grenzziehungen eröffnet hatte, durch Ideologien und andere Glaubensgewißheiten aufgefüllt würden, die zwar auf unbeweisbaren und unwiderlegbaren »problematischen Urteilen« im Sinne von Kant beruhten, die aber gleichwohl mit dem Anspruch auftraten, den empirischen exakten Wissenschaften nicht nur gleichwertig, sondern sogar überlegen zu sein, weil sie mit dem Bewußtsein antraten, schlichtweg alles erklären zu können. Für einen Theologen ist es doch überhaupt kein Problem, Du Bois-Reymond zu überbieten, indem er als den Urheber der ersten Bewegung seinen Gott angibt, oder indem er das Bewußtsein mit der von Gott dem Menschen eingehauchten Seele identifiziert, oder indem er das Wesen der Materie dadurch erklärt, daß er es als die Schöpfung seines Gottes ausgibt. Kurz: Die Theologen konnten gelassen auf den biblischen Schöpfungsbericht und auf die Lehren der Kirchenväter und Päpste verweisen, in denen angeblich all das bündig erklärt wird, was Du Bois-Reymond nicht erklären konnte. Gefahr drohte aber nicht nur von den Kirchen, sondern auch von bestimmten Vertretern der Wissenschaft selbst, die sich eher als Sektengründer verstanden und ihrerseits einen Anspruch auf Allwissenheit anmeldeten, denn schon bald antwortete der Monist Ernst Haeckel (1834–1919) aus Jena auf Du Bois-Reymonds Rede und auf eine Rede seines eigenen Lehrers Rudolf Virchow, der vor dem gleichen Auditorium fünf Jahre nach Du Bois-Reymond die Parole »Restringamur« ausgegeben hatte, mit den Sätzen: »Wenn Du Bois-Reymond sein ›Ignorabimus‹ (Wir werden nichts wissen) und Rudolf Virchow sein noch viel weiter gehendes ›Restringamur‹ (Wir müssen uns beschränken) zur Parole der Wissenschaft erheben wollen, so tönt ihnen aus Jena, wie aus hundert anderen Bildungsstätten der Ruf entgegen: Impavidi progrediamur! (Unerschrocken schreiten wir vorwärts!)« 91

Haeckel schritt sogar so unerschrocken voran, daß er glaubte, er habe mit seinem Buch Die Welträthsel (1899) tatsächlich alle 1249 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Welträtsel gelöst, und ließ sich in diesem Wahn deshalb 1904 in Rom sogar zum monistischen Gegenpapst krönen. Ausgangspunkt für Du Bois-Reymonds Argumentation ist natürlich das reduktionistische Dogma der »Firma der organischen Physik« 92, also das Energie-Erhaltungs-Gesetz: »Bewegung kann nur Bewegung erzeugen, oder in potentielle Energie zurück sich verwandeln. Potentielle Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches Gleichgewicht erhalten, Druck und Zug ausüben. Die Summe der Energie bleibt stets dieselbe. Mehr als dies Gesetz bestimmt, kann in der Körperwelt nicht geschehen, auch nicht weniger; die mechanische Ursache geht rein auf in der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des (mechanischen) Kausalgesetzes, und schon darum sind sie nicht zu verstehen, so wenig, wie ein Mobile perpetuum es wäre. Aber auch sonst sind sie unbegreiflich.« (I,457 f.)

Und dann fährt er fort: »Damit ist die andere Grenze unseres Naturerkennens bezeichnet. Nicht minder als die erste ist sie eine unbedingte. Nicht mehr als im Verstehen von Kraft und Materie hat im Verstehen der Geistestätigkeit aus materiellen Bedingungen die Menschheit seit zweitausend Jahren, trotz allen Entdeckungen der Naturwissenschaft einen wesentlichen Fortschritt gemacht: Sie wird es nie.« (I,460)

Hier erheben sich natürlich sofort einige Fragen: Wenn es tatsächlich so sein sollte, daß die Geistestätigkeit aus materiellen Bedingungen prinzipiell nicht verstanden werden kann, dann könnte dies ja auch daran liegen, daß sich die Naturwissenschaft hier auf ein Gebiet gewagt hat, für das sie gar nicht zuständig ist. Und daraus könnte man wieder den Schluß ziehen, daß es eben ganz anderer als rein naturwissenschaftlicher Forschungen bedarf, um geistige Vorgänge aller Art zu verstehen. Die angemessene Konsequenz bestünde dann darin, den Primat der Naturwissenschaften als dreiste Anmaßung zurückzuweisen und die Resignation Du Bois-Reymonds als weise Zurückhaltung wohlwollend zu akzeptieren. Will man aber auf den Primat der Naturwissenschaften nicht verzichten, müßte die Konsequenz darin bestehen, alle geistigen Vorgänge auf materielle zu reduzieren, Psychologie also z. B. auf 1250 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Kritik und Selbstkritik der Biophysik

Physiologie, sodaß auch dort das mechanistische Kausalgesetz als Erhaltung der Energie weiterhin gelten kann. Nur mußte man dann klären, von welcher Art von Energie man spricht. Diesen Weg hatte bereits Herbert Spencer 1859 mit seiner Physiologie des Lachens eingeschlagen, der von »nervöser Energie« sprach und sie strikt wie physikalische Energie behandelte. Die Neo-Hydrauliker Sigmund Freud, Konrad Lorenz, Arthur Koestler und Georges Bataille werden ihm hier folgen, weitere Formen von organischer Energie erfinden und Lachen als die Metamorphose eben dieser Energien erklären. Und wieder andere Formen organischer Energie werden Wilhelm Reich und Hans Hass erfinden, diese aber nicht für eine Ätiologie des Lachens nutzbar machen. Wenn Du Bois-Reymond zugestehen muß, das Wesen der Kraft sei selbst für einen Physiker unerkennbar, dann könnte man daraus auch die Konsequenz ziehen, erneut auf das alte Konzept der Lebenskraft zurückzugreifen, dieses Prinzip organischer Wirkungen aber so zu formulieren, daß man den Begriff der Kraft vermeidet, um ihn der Kritik der Physiker zu entziehen, und die Lebenskraft einfach umzutaufen. Diese Maskierung der Lebenskraft finden wir im Neo-Vitalismus und bei Henri Bergson, der nicht mehr von »Lebenskraft« spricht, sondern vom élan vital, aber letztlich genau dasselbe meint. Und wenn Du Bois-Reymond erklärt, die geistigen Vorgänge stünden außerhalb des mechanischen Kausalgesetzes und seien deshalb rein naturwissenschaftlich nicht zu verstehen, so konnte Bergson dies geradezu als Einladung dazu auffassen, das irrational Schöpferische zum proprium hominis zu erheben, das nur jenseits der Naturwissenschaft angemessen thematisiert werden könne, und so hat er ja auch in seinen beiden Werken Sur les données immédiates de la conscience (1889) und Évolution créatrice (1907) argumentiert. Wenn Du Bois-Reymond schließlich noch behauptet, durch den leeren Raum »in die Ferne wirkende Kräfte« seien »an sich unbegreiflich, ja widersinnig« (I,448) und »ein Unding« (I,448), weil »alle Bewegung auf Stoß, Druck oder Zug beruht« und nur »durch Übertragung in Berührungsnähe« (I,448) zustande kommen kann, so leugnet er ganz dogmatisch die Möglichkeit von physikalischen 1251 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Feldern und Feldtheorien, die durch den leeren Raum wirkende Kräfte ganz problemlos begreiflich machen. Von James Maxwells Entdeckung des elektromagnetischen Feldes hätte er als Physiker eigentlich Kenntnis haben müssen, weil Maxwells Arbeiten dazu schon in den sechziger Jahren erschienen waren. Das reduktionistische »Auflösen der Naturvorgänge in die Mechanik der Atome« (I,442) ist ja nur eine Art von Physik seit Demokrit und Lukrez, neben der es seit Maxwell mindestens noch eine zweite gibt. Hier hat sich Du Bois-Reymond mit seinem Ignoramus, ignorabimus als Physiker schlichtweg blamiert, weil er behauptete, man werde etwas nie wissen, was andere längst schon wußten. Und vollends unvorstellbar und unverständlich wäre es für ihn gewesen, wenn man ihn auf Phänomene mimetischer Resonanz wie das Mitgehen oder das Resonanz-Lachen verwiesen hätte, also auf Einleibungs- und »Einherzungs«-Phänomene im Sinne von Schmitz und Joubert, die auf Fernwirkung beruhen und nicht durch Übertragung von Stoß oder Zug »in Berührungsnähe« zustande kommen, weil hier auch nicht Körper auf Körper wirken, sondern Leiber auf Leiber. Im Hinblick auf unser Thema kann man Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede eigentlich nur begrüßen, weil sie klar gemacht hat, daß unser Thema weit außerhalb der Grenzen dessen liegt, was mechanistische Physik für erkennbar und erklärbar hält und wofür mechanistisch-energetische Argumentationsmodelle zuständig sind und wofür nicht, denn damit dürfte klar sein, daß eine energetisch-mechanistische Argumentation für eine Ätiologie des Lachens letztlich unbrauchbar ist. Wer sie aber trotzdem verwendet, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er, methodologisch gesehen, wieder weit hinter Du Bois-Reymonds »Kant’sche Tat« zurückfällt und mit wissenschaftsgeschichtlichen Ladenhütern hausieren geht. Aber das haben wir ja schon bei Herbert Spencers Physiologie des Lachens gesehen, und bei den Neohydraulikern Freud, Lorenz und Koestler werden wir wieder darauf stoßen.

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Kritik und Selbstkritik der Biophysik

2.14.6.4 Die Kritik der mechanistischen Biophysik durch Henri Bergson als Rehabilitierung der Lebenskraft Henri Bergsons Hauptwerk Évolution créatrice von 1907 liest sich nicht nur wie eine nachträgliche Rechtfertigung von Stahls Aufsatz Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus von 1714, sondern auch wie eine Fortführung von Stahls Ansatz auf der Grundlage des biologischen Wissenstandes nach der Entdeckung der Evolutionstheorie, denn Stahl ging natürlich noch vom biblischen Weltbild aus, das eine einmalige Schöpfung postuliert, die als solche ewig unverändert bleibt, wohingegen Bergson (1859–1941) eine ständig sich wandelnde lebendige Schöpfung resp. eine ständige schöpferische Wandlung des Lebens vor Augen steht, weshalb er seinem Hauptwerk auch den Titel Schöpferische Entwicklung 93 gegeben hat. 2.14.6.4.1 Der élan vital als evolutionäre Lebenskraft Durch diesen enormen Zuwachs an biologischem Wissen kann Bergson weitere fundamentale Unterschiede zwischen Organismen und Mechanismen anführen, an die man im 18. Jahrhundert noch gar nicht denken konnte, z. B. das Kriterium der Dauer (durée) 94 als »Weiterführung der Vergangenheit durch die Gegenwart« (S. 29) resp. als »Fortbestehen der Vergangenheit in der Gegenwart« (S. 29), sodaß »Vergangenheit und Gegenwart nur Eines bilden« (S. 28). Denn: »Je stärker die Dauer ein Lebewesen mit ihrem Siegel stempelt, um so offenbarer scheidet sich der Organismus vom bloßen Mechanismus, über den die Dauer hinweggleitet, ohne ihn zu durchdringen.« (S. 43)

Vom Vermögen eines Organismus zur Regeneration hatte zwar bereits Stahl gesprochen und seine gesamte medizinische Theorie auf dieses Vermögen der Lebenskraft gegründet, konnte aber noch nicht wissen, wie umfassend dieses Prinzip im großen wie im kleinen wirkt, sodaß Bergson ihm gleichsam den Beweis nachliefert, wenn er schreibt: »Eben hierin ja besteht die Fortpflanzung der einzelligen Organismen; das Lebewesen teilt sich in zwei Hälften, deren jede ein vollständiges

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Individuum ist. Bei den zusammengesetzteren Tieren lokalisiert die Natur zwar die Kraft zur Neuzeugung des Ganzen in beinah selbständigen sogenannten Sexualzellen. Etwas von dieser Kraft aber kann, wie die Fälle von Regeneration beweisen, durch den übrigen Organismus verteilt bleiben, und man nimmt an, daß sie in gewissen bevorzugten Fällen in latentem Zustand ungebrochen weiter besteht, um sich bei erster Gelegenheit zu offenbaren.« (S. 21)

Aus diesem einem Organismus innewohnenden Potential zur Regeneration seiner selbst ergibt sich für Bergson die Konsequenz, daß sich in allen Organismen »ein natürliches Suchen nach Individualität bekundet und zur Bildung isolierter, natürlich geschlossener Systeme drängt« (S. 21). Dieses beständige Suchen nach Individualität, das zu immer neuen Formen des Lebens führt, beruht laut Bergson auf einem dem Leben immanenten zentrifugalen Impuls, einer »Explosivkraft, die das Leben in sich trägt« (S. 104), und die den Effekt bewirkt, daß der Strom des Lebens sich wie ein Mündungsdelta ständig in weitere Flüsse, Bäche und Altwässer aufspaltet, sodaß er auch von der »Garbenform« (S. 105) der Evolution spricht, die das Leben in immer neue Gattungen, Arten, Rassen und Individuen aufspaltet: »Denn das Leben ist Tendenz, und Wesen einer Tendenz ist es, sich in Garbenform zu entwickeln, und so durch die bloße Tatsache ihres Wachstums divergierende Richtungen zu schaffen, zwischen die ihre Schwungkraft sich teilt.« (S. 105)

Diese Schwungkraft (élan) versteht Bergson als einen ständig wirkenden explosiven Schub, als »Kraft a tergo«, weshalb er gegen die finalistisch orientierte Evolutionstheorie, die heute noch von frommen Fundamentalisten als Theorie des »intelligent design« vertreten wird, die These setzt: »Verwirklichte das Leben einen Plan, es müßte je im Maß seines Vorrückens eine immer höhere Harmonie offenbaren. (…) Ruht dagegen die Einheit des Lebens ausschließlich in der (zentrifugal wirkenden) Schwungkraft, die es in der Bahn der Zeit vorwärts treibt, dann liegt die Harmonie nicht im Künftigen, sondern im Vergangenen. Die Einheit entstammt einer vis a tergo: am Ausgangspunkt, als Impuls, ist sie gegeben, nicht als Lockung ans Ende gesetzt. Mehr und mehr, indem sie sich mitteilt, spaltet sich die Schwungkraft. Mehr und mehr, je wei-

1254 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Kritik und Selbstkritik der Biophysik

ter sie vorschreitet, zerfasert sich das Leben in Manifestationen, die sich zwar dank der Gemeinsamkeit ihres Ursprungs in gewisser Hinsicht ergänzen, die aber darum nicht weniger antagonistisch, nicht weniger unversöhnlich bleiben. Es wird also die Disharmonie der Arten stetig an Schärfe zunehmen.« (S. 109)

Aber diese Aufteilung des élan vital geschieht laut Bergson nicht so, daß sie sich z. B. bei einer Gabelung halbieren würde, sondern sie wirkt in allen Gabelungen, also in allen Grannen der Garbe bzw. in allen Flüssen des Deltas unvermindert fort, ganz so wie Schopenhauers Weltwille in all seinen Objektivationen ganz und ungeteilt vorhanden ist. Und deshalb kann die Entwicklung des Lebens laut Bergson auch nicht ermüden, sondern der Strom des Lebens behält seine zentrifugale Schwungkraft und damit seinen Impuls zu schöpferischer Entwicklung und Weiterentwicklung ewig unvermindert bei: »Vor der Entwicklung des Lebens bleiben die Tore breit offen. Schöpfung ist sie, die sich kraft einer Ursprungsbewegung folgt und folgt ohne Ende. Und diese Bewegung ist es, die die Einheit der organischen Welt ausmacht; eine fruchtbare, eine grenzenlos reiche Einheit; allem überlegen, was ein Verstand je träumen könnte; da ja dieser Verstand selbst nichts als eine ihrer Ansichten oder Erzeugungen ist.« (S. 110)

Diese »Kraft a tergo«, diesen Antrieb zur schöpferischen Entwicklung des Lebendigen nennt Bergson élan vital, was Gertrud Kantorowicz ganz wörtlich mit »Lebensschwungkraft« übersetzt. Sie hätte natürlich auch auf Stahls Begriff »Lebenskraft« zurückgreifen können, hat es aber wohl deshalb nicht getan, weil Bergson selbst nicht von force vitale, sondern eben von élan vital spricht, um deutlich zu machen, daß diese Lebenskraft die Organismen nicht nur belebt, sondern sie auch zur Bildung immer neuer Formen treibt. Mit anderen Worten: Bergson brauchte einen Begriff, der klar macht, daß die Lebenskraft in seinem Verständnis eine in Hinblick auf Zeit und Raum gerichtete Größe ist, die ein Evolutionspotential in sich birgt. Dies wird besonders deutlich, wenn man Bergsons Begriff élan vital mit Schopenhauers Weltwillen vergleicht, da bereits Schopenhauer, wie wir gesehen haben, die Stahlsche Lebenskraft mit dem Weltwillen explizit gleichgesetzt hatte, denn dann wird auch deut1255 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lich, worin sich Bergsons élan vital und Schopenhauers Weltwille fundamental unterscheiden. In seiner Abhandlung Ueber den Willen in der Natur geht Schopenhauer u. a. auch auf Lamarcks Evolutionstheorie ein und bezeichnet sie als einen »genialen Irrthum« (III,243), denn Lamarck habe zwar gesehen, »daß der Wille des Thiers das Ursprüngliche ist und dessen Organisation bestimmt hat. Das Falsche hingegen fällt dem zurückgebliebenen Zustand der Metaphysik in Frankreich zur Last, (…) wohin die große so überaus folgenreiche Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit, mithin auch alles in ihnen sich Darstellenden, noch nicht gedrungen ist. Daher konnte de Lamarck seine Konstruktion der Wesen nicht anders denken, als in der Zeit, durch Succession, (…) konnte nimmer auf den Gedanken kommen, daß der Wille des Thiers, als Ding an sich, außer der Zeit liegen und in diesem Sinne ursprünglicher seyn könne, als das Thier selbst.« (III,243)

Diese fundamentale Kritik an Lamarcks Evolutionstheorie hätte Schopenhauer aber ebenso an jeder anderen Evolutionstheorie geübt, also auch an der Darwins und natürlich auch an der Bergsons, weil sein eigener Begriff von Lebenskraft eben gerade keine in Raum und Zeit gerichtete Größe ist. Schopenhauer geht sogar so weit, Geschichtlichkeit95 generell zu leugnen. Mit anderen Worten: Schopenhauer kennt das Prinzip Fortschritt oder Entwicklung nicht, und schon gar nicht diesen optimistischen Blick auf die Entwicklung des Lebens, wie Bergson ihn bekundet, wohingegen Bergsons Begriff der Lebenskraft als élan vital das »innere Prinzip der Entwicklungsrichtung« (S. 82) ist. Aus diesem Grund greift Bergson immer wieder zu Metaphern, die das Fließende, Strömende, vorwärts Drängende und Explosive der Lebenskraft 96 verdeutlichen sollen und bezeichnet deshalb den élan vital als »Triebkraft« (S. 24), als »Fortpflanzungsenergie« (S. 33), als »Strom, der von Keim auf Keim überfließt« (S. 33/91/93), als »Strom von Leben, der sich verteilt an die Arten, versprüht an die Individuen, ohne jemals von seiner Kraft einzubüßen« (S. 32) und immer noch drängender wird, je weiter er vordringt, außerdem als »ungeheueren inneren Drang« (S. 104), als »vis a tergo« (S. 105), als »Total-Impuls des Lebens« (S. 57) und als »eine Schwungkraft, die Generation um 1256 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Generation durchwaltend, Individuum an Individuum, Art an Art bindet und aus der gesamten Reihe der Lebewesen eine einzige große, gegen die Materie anströmende Woge macht« (S. 254), denn: »Das Entscheidende (am élan vital) ist die Kontinuität des ins Unendliche gehenden Fortschritts, eines unsichtbaren Fortschritts, darin jeder sichtbare Organismus die kurze Zeitspanne lang, die ihm zu leben gegönnt ist, mitwandert.« (S. 33)

Wie schon für Stahl ist also auch für Bergson die Lebenskraft etwas, das zur toten und trägen Materie eigens hinzutreten und von außen auf sie einwirken muß, um diese zu beleben, und zwar gegen deren Widerstand, denn, so Bergson, die Lebenskraft sei »im Grunde ein Verlangen nach Schöpfung« (S. 255) und wiederhole die uranfängliche Schöpfung immer wieder auf neuen Stufen der Entwicklung, und dies stets gegen den Widerstand der Materie, die eigentlich unbewegt und unentwickelt bleiben will, weil in ihr ein genereller zentripetaler Impuls 97 wirkt, sodaß die Materie sich gleichsam in sich selbst verkrampfen möchte. Aus diesem Grund gilt für die Lebenskraft: »Sie kann nicht absolut schöpferisch sein, weil sie die Materie, d. h. (in der Materie) die Umkehrung ihrer eigenen Bewegung vorfindet. Wohl aber bemächtigt sie sich dieser Materie, ihrer, die reine Notwendigkeit ist, und danach trachtet, eine größtmögliche Summe von Indeterminiertheit und Freiheit in sie hineinzutragen.« (S. 255)

Somit hat die Lebenskraft laut Bergson den Widerstand der Materie nicht nur im Entwicklungsprozeß selbst, sondern auch bei der Sammlung und Verausgabung von organischer Energie zu überwinden, denn das oben angesprochene Maß an Indeterminiertheit und Freiheit, also von schöpferischem Potential, versteht Bergson ganz als organische Energie, genauer: als potentielle organische Energie, die im Organismus stetig angesammelt wird, dort der Verwendung harrt, und im gegebenen Moment verausgabt wird. Man könnte auch etwas salopp sagen, diese im Organismus gespeicherte potentielle organische Energie sei Kreativität im Wartestand oder Lebenskraft auf dem organischen Sparbuch mit augenblicklicher Kündigungsfrist. Diese Lebenskraft stammt als Energie letztlich von der Sonne (S. 120, 257 f.), wird in den Pflanzen durch Photosynthese gebun1257 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den, gelangt über die Nahrungskette auch zu Tier und Mensch und wartet dann als potentielle Energie auf die Situation, in der sie verwendet werden soll. Für diese Art von organischer Energie aber gilt laut Bergson zwar der Energie-Erhaltungs-Satz, nicht jedoch das Prinzip mathematischer Meßbarkeit, und damit wendet sich Bergson ausdrücklich gegen Du Bois-Reymond, der in seiner Ignorabimus-Rede verkündet hatte: »Es läßt eine Stufe der Naturerkenntnis sich denken, auf welcher der ganze Weltvorgang durch eine mathematische Formel vorgestellt würde, durch ein unermeßliches System simultaner Differentialgleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit jedes Atoms im Weltall zu jeder Zeit ergäbe.« (S. 44, bzw. Reden II,442 f.)

Solchen Hoffnungen erteilt Bergson eine entschiedene und schroffe Absage, wenn er schreibt: »Vom organischen Schaffen, von den Entwicklungsphänomenen, die das Leben eigentlich ausmachen, ahnen wir nicht einmal, wie sie einer mathematischen Behandlung überhaupt unterworfen werden könnten.« (S. 26)

Und dies gilt auch für die in den organischen Gebilden als potentielle Energie gespeicherte Lebenskraft, denn: »Gesetzt, es gibt (…) auf dem Grunde des Lebens einen Drang, der Notwendigkeit der physikalischen Kräfte die größtmögliche Summe von Indeterminiertheit aufzuokulieren, dann kann es das Ziel dieses Dranges nicht sein, Energie zu schaffen; oder aber, wenn er sie schafft, so gehört das geschaffene Quantum nicht der Größenordnung an, die unseren Sinnen und unseren Meßinstrumenten, unserer Erfahrung und unserer Wissenschaft zugänglich sind. Alles vielmehr wird sich so abspielen, als ob jener Drang einfach nur auf die bestmögliche Ausnützung einer schon vorhandenen, zu seiner Verfügung stehenden Energie zielte. Hierzu aber dient einzig ein Mittel: es muß die Materie zu einer derartigen Aufhäufung potentieller Energie vermocht werden, daß jener Drang, je im gegebenen Moment, wie durch Abschnellen einer Feder die Arbeit geleistet erhält, deren er zur Wirkung bedarf. Er selbst besitzt nichts als dies Vermögen der Auslösung. Doch wird seine auslösende Leistung (…) um so wirksamer sein, (…) je beträchtlicher die aufgehäufte und verfügbare Summe potentieller Energie sein wird.« (S. 120)

1258 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Daß Bergson derart großen Wert darauf legt, daß diese als potentielle organische Energie gespeicherte Lebenskraft grundsätzlich nicht mathematisch meßbar, sondern nur als Drang intuitiv spürbar ist, deutet darauf hin, daß er sich diese gespeicherte potentielle organische Energie als Ambivalenz von Spannung und Schwellung, also als Intensität 98 denkt, worauf ja auch die von ihm so ausführlich bemühte Kampf-Metaphorik (S. 258 f.) verweist. All diese Überlegungen münden schließlich in ein organischenergetisches Gesamtszenario, mit dem Bergson seinen Gedankengang abschließt: »Die Entwicklung des Lebens ist die Weiterführung eines uranfänglichen Impulses; und dieser Impuls, der die Entwicklung der Chlorophyll-Funktion in der Pflanze und des sensomotorischen Systems im Tiere hervorgerufen hat, führt das Leben durch Herstellung und Verwendung immer mächtigerer Explosivstoffe zu immer wirksameren Taten. Was aber bedeuten diese Explosivstoffe, wenn nicht eine Aufspeicherung solarer Energie, deren Entwerdung so an einigen Punkten ihres Verströmens vorläufig aufgehoben ist? Im Moment freilich der Explosion wird die im Explosivstoff geborgene verwendbare Energie ausgegeben; aber sie hätte sich früher verausgabt, wenn kein Organismus dagewesen wäre, ihrer Verschwendung zu steuern, sie aufzubewahren und in sich zu steigern, (…) um sie zu plötzlicher, wirkungsstarker Verausgabung (…) bereit zu haben?« (S. 250 f.) »Also erscheint das gesamte tierische und vegetabilische Leben seinem Wesen nach als eine Anstrengung, Energie aufzuhäufen, und diese dann in biegsame, umformbare Kanäle ausfließen zu lassen, an deren Endpunkt sie unendlich mannigfache Leistungen vollbringt. Dies ist es, was die Lebensschwungkraft beim Durchwalten der Materie auf einem Wurf durchsetzen möchte. Und sicher, es würde ihr gelingen, wenn ihre Kraft unbegrenzt wäre, oder wenn ihre irgend Hilfe von außen kommen könnte. Jedoch die Schwungkraft ist endlich, sie ist ein für allemal gegeben. Sie kann nicht alle Hindernisse besiegen. Die von ihr eingegebene Bewegung wird bald abgekrümmt, bald zerteilt, immer aber behindert, und de Entwicklung der organischen Welt ist nichts als das Abrollen dieses Kampfes.« (S. 258) »Daher die unzählbaren Kämpfe, deren Schauplatz die Natur ist.« (S. 259)

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So gesehen besteht »die Gesamtbewegung des Lebens« (S. 259) letztlich darin, »nutzbare Energie einzufangen, um sie in explosiven Akten auszugeben« (S. 125/260). Und damit sind wir endlich bei unserem Thema angelangt, denn wer dächte bei der Formel »allmähliches Aufstapeln von Energie und plötzliche Entladung« (S. 260) nicht an das explosionsartig herausplatzende Lachen beim Zünden einer Pointe! Und wem würde sich bei Bergsons bisher dargestellten Überlegungen nicht der Gedanke aufdrängen, im herausplatzenden Bekundungs-Lachen diese von Bergson so plastisch dargestellte Urtendenz und Gesamtbewegung des Lebens in nuce zu sehen, denn Bergsons Argumentation scheint doch ganz suggestiv auf diese Pointe hinzuführen, von hier aus eine lebensphilosophisch orientierte Metaphysik des Lachens zu entwerfen und das Lachen als ein Phänomen zu bestimmen, auf das die gesamte Evolution zuläuft, bis es schließlich als proprium hominis zutage treten kann. Im Lachen würde sich also der élan vital in seiner endgültigen und reinsten Form manifestieren, und der Evolutionsprozeß erschiene dann als ein Analogon zur Pointenstruktur krisenhafter Prozesse, wie sie in Kapitel 2.12.6.5 dargestellt sind, nämlich als Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase. In dieser Art hätte Bergson also argumentieren können; er hat es aber nicht getan, sondern er bricht seinen Gedankengang einfach ab und geht zu einer erneuten Kritik des mechanistischen Denkens und zu einer Kritik von Spencers Evolutionstheorie über, was uns hier jedoch nicht interessiert. Den Schritt, bei der stetigen Ansammlung und plötzlichen Verausgabung organischer Energie anzusetzen, tut erst eine Generation später Bergsons Epigone Georges Bataille (1897–1962), der daraus sogar eine umfassende Kulturtheorie 99 entwickelt, die auf dem Prinzip der »Verausgabung« (dépense) beruht, und in deren Rahmen auch das Lachen eine gewisse Rolle spielt, kommt aber, rein gelotologisch gesehen, nicht zu sonderlich bemerkenswerten Ergebnissen, weshalb es sich nicht lohnt, ausführlicher darauf einzugehen, wie das eigentlich immer der Fall ist, wenn jemand nicht dies oder das erklären will, sondern bloß alles.

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2.14.6.4.2 Das kalte Lachen diesseits des Komischen Aber warum hat Bergson selbst diesen Schritt nicht getan, sein Hauptwerk in eine Metaphysik des Lachens einmünden zu lassen, obwohl er die Grundlagen dafür doch schon gelegt hatte? Gründe wie bei Schopenhauer, bei Stahl und den Stoikern können es nicht gewesen sein, weil sich bei Bergson nirgendwo Spuren einer irgendwie gearteten Lachfeindschaft feststellen lassen, da er ja unmittelbar vor seinem Hauptwerk das Buch Das Lachen 100 geschrieben hat. Allerdings zeigt dieses Werk nicht die geringsten Querverbindungen mit dem energetischen Szenario, das Bergson in seinem Hauptwerk entworfen hat, und auch in späteren Auflagen findet sich kein Versuch, dieses Werk zu ergänzen oder gar umzuschreiben. Oder sollte Évolution créatrice (1907) gar Le rire (1900) zurücknehmen und korrigieren, weil dort beschrieben wird, wie die Gesellschaft individuelle Freiheiten, die sich jemand nimmt, durch Gelächter gnadenlos abgestraft werden, wohingegen das Hauptwerk geradezu eine Hymne auf schöpferische Freiheiten aller Art singt? Ich muß gestehen, ich stehe hier vor einem Rätsel und kann mir nur verwundert die Augen reiben, denn es kommt noch hinzu, daß im Vergleich mit dem genialen Wurf, den Bergson mit Évolution créatrice vorgelegt hat, Le rire geradezu ein Machwerk von bestürzender moralischer und intellektueller Dürftigkeit und außerdem ein Exzeß an Reduktionismus ist und damit die Garbenform der Evolution geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Reduktionistisch ist Bergsons Verfahren in diesem Werk zunächst insofern, als er mit dem Titel des Buches zwar eine Analyse des Lachens verspricht, aber schon im Untertitel deutlich macht, daß er ausschließlich über das Lachen diesseits des Komischen und über Komik als solche reden werde, ganz so, als ob es nur das Lachen diesseits des Komischen gäbe. Aber auch dieses Lachen wird wiederum reduziert auf das Auslachen, und dieses wiederum auf das aggressive Auslachen-von-oben, sodaß das Komische wiederum auf das Lächerliche reduziert wird. Auf den letzten Seiten zieht er nämlich die Bilanz und macht deutlich, daß das Lachen, das er ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückt, nicht 1261 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das Lachen einer Lach-Gemeinschaft ist, sondern das einer LachMeute: »Das Lachen ist, ich wiederhole es, ein Korrektiv und dazu da, jemanden zu demütigen. Infolgedessen muß es in der Person, der es gilt, eine peinliche Empfindung hervorrufen. Durch ihr Gelächter rächt sich die Gesellschaft für die Freiheiten, die man sich ihr gegenüber herausgenommen hat. Das Lachen würde seinen Zweck verfehlen, wenn es von Sympathie und Güte gekennzeichnet wäre.« (S. 123 f.)

Damit erscheint das aggressive Auslachen des Einzelnen durch die Vielen als ein gesetzmäßig wirkender Automatismus der Gesellschaft, störende Elemente unschädlich zu machen, ganz so, wie man Staubpartikel hinausniest oder hinaushustet oder wie man Gift hinauskotzt, also ganz so, wie Hecker das Lachen als Schutzmechanismus beschrieben hat, denn für diese Lach-Kotze gilt: »Das Lachen kann also nicht immer restlos gerecht sein. Es soll auch nicht gütig sein. Es soll einschüchtern, indem es demütigt. Diese Funktion könnte es nicht erfüllen, hätte nicht die Natur zu diesem Zweck noch im besten Menschen eine kleine Spur von Bosheit oder zumindest Schalkhaftigkeit hinterlassen.« (S. 124)

Im Nachwort von 1919 bekräftigt Bergson seine These, das aggressive Auslachen diene der gesellschaftlichen Gleichschaltung der komischen resp. lächerlichen Außenseiter, wenn er schreibt: »Irgend etwas Angriffiges (und zwar spezifisch Angriffiges) muß in der Ursache der Komik stecken, gewissermaßen der Ansatz zu einem Attentat auf das soziale Leben, wie anders ließe sich erklären, daß die Gesellschaft mit einer Geste antwortet, die mir ganz nach einer Abwehrreaktion aussieht.« (S. 130)

Und dieses Lachen als automatisch einsetzende Abwehrreaktion ist nichts als »die Auswirkung eines Mechanismus, den die Natur, oder, was auf dasselbe hinauskommt, eine jahrelange Gewohnheit im Umgang mit der Gesellschaft in uns eingebaut ist. Es bricht von ganz allein und schlagartig los. Es hat keine Zeit für lange Zielübungen. Das Lachen straft gewisse Fehler etwa so, wie eine Krankheit gewisse Exzesse straft; es trifft Unschuldige, verschont Schuldige, zielt nur auf ein Gesamtergebnis ab und ist außerstande, jedem einzelnen Fall die Ehre einer Sonderbehandlung angedeihen zu lassen.« (S. 124)

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Diese Abwehrreaktion ist aber laut Bergson notwendig und letztlich auch heilsam für die gesamte Gesellschaft, wenn auch nicht unbedingt für den verlachten Einzelnen, denn: »Hier wie überall hat die Natur dafür gesorgt, daß das Böse dem Guten dient. (…) Uns schien, die Gesellschaft erziele eine immer größere Anpassungsfähigkeit ihrer Glieder, je mehr sie sich selbst vervollkommne; sie finde ein immer besseres Gleichgewicht; sie dränge die in einer so großen Masse unvermeidlichen Störungen an ihre Oberfläche, und das Lachen erfülle dabei eine nützliche Funktion, weil es uns die Umrisse dieser unruhigen Bewegungen erkennen lasse.« (S. 125)

Das aggressive Lachen ist also der Würgereiz, mit dem die Gesellschaft sich von ihren als komisch oder lächerlich empfundenen Dissidenten freikotzt. Man könnte auch sagen: Bergsons Standardszenario öffentlichen Lachens ist die explizite Zurücknahme des von Aristoteles bis Kant entwickelten Nomos eutrapelistischer Lachkultur, dem es wesentlich um die Wahrung menschlicher Würde und die Vermeidung von Zorn und Scham ging. Und deshalb kann ich Klaus Heinrichs Entsetzen über Bergsons Ätiologie des Lachens auch verstehen, weil er in ihr eine explizite Verhöhnung menschlicher Würde sieht, denn er schreibt: »Bergsons präfaschistische Lachtheorie, heute noch einmal gelesen, erweckt Grauen. Elegant formuliert, in der Tradition der großen neostoizistischen 101 Moralisten seines Landes, stellt er uns das ungeschminkte Bild der Barbarei vor Augen. Lachen, nur unter Menschen möglich und nur verbunden mit einer gewissen (…) Empfindungslosigkeit, gilt dem Nicht-Lebendigen, Starren, Mechanischen, Dinghaften, Unangepaßten. Die Gesellschaft ein Körper, der, wie ›Leben‹ überhaupt, der Gespanntheit und Elastizität bedarf. Was dieser Forderung nicht entspricht, ist – im Interesse des Lebens – auszumerzen. Stellvertretend hierfür steht die Strafe – eine soziale Geste – des Lachens.« 102

Wie später in Évolution créatrice setzt Bergson also auch in seinem Werk über das Komische beim Gegensatz organisch vs. mechanisch an, genauer: beim Gegensatz mechanisch-starr vs. organisch-fließend und kommt dadurch zu der recht einfachen Formel: Komik entsteht immer dann, wenn etwas, das sich eigentlich organisch fließend bewegen müßte, zu einer starr mechanischen Bewegung gerinnt, oder wenn aus einer organisch sinnvollen Bewegung 1263 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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eine sinnlose Bewegung auf der Stelle oder eine maschinenhafte Hin-und-her-Bewegung wird: »Etwas Mechanisches überdeckt etwas Lebendiges.« (S. 39 u. S. 43) Er hätte auch sagen können: Komik entsteht, wenn der élan vital zu einem Staccato maschineller Bewegung erstarrt. Das klingt auf den ersten Blick überzeugend, weil man hierin auch ein auf ungefährliche und unbedrohliche Weise zerstörtes »ausgezeichnetes Verhalten« im Sinne Goldsteins sehen könnte, also die ungefährliche und unbedrohliche Verletzung einer empirischen Norm. Aber es klingt eben nur auf den ersten Blick plausibel, denn wenn es so wäre, so müßte jede Form von Konvulsion, also z. B. auch ein Schüttelfrost oder gar ein epileptischer Anfall 103 und vor allem auch das Lachen selbst geradezu saukomisch wirken. Da Bergsons These so offenkundig falsch ist, muß Bergson eine zusätzliche Annahme gemacht haben, die er als ganz selbstverständlich voraussetzt und deshalb auch nicht weiter expliziert. Fragen wir also etwas genauer und analysieren das Standardbeispiel der gelotologischen Literatur, das sich von Platon über Joubert und Baudelaire bis zu Bergson selbst findet, und das man als die Tücke der Situation bezeichnen könnte: Jemand stolpert und fällt hin. Bergson schildert diese Szene wie folgt: »Ein Mann läuft auf der Straße, stolpert und stürzt. Die Passanten lachen. Ich glaube, man würde nicht lachen, wenn man annehmen könnte, er habe sich plötzlich entschlossen, sich hinzusetzen. Das Lachen wird also nicht durch den unvermuteten Wechsel seiner Stellung erzeugt; es ist das Unfreiwillige an diesem Wechsel, es ist die Ungeschicklichkeit, die uns lachen macht. Vielleicht lag ein Stein auf der Straße. Er hätte langsamer laufen oder das Hindernis umgehen sollen. Aber weil er ungelenk oder zerstreut war oder weil ihm sein Körper infolge irgendeiner Versteifung oder wegen des schon erreichten Tempos nicht gehorchte, bewegten sich seine Muskeln im gleichen Rhythmus weiter, auch als die Umstände schon längst etwas anderes von ihm verlangten. Deshalb ist der Mann gestürzt, und darüber lachen die Passanten.« (S. 17)

Baudelaire hatte das Gelächter der Passanten bei einer ganz analogen Szene in Anlehnung an Augustinus und Hobbes auf deren Genuß ihrer plötzlich sichtbar werdenden aktuellen Überlegenheit 1264 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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über den Gestürzten zurückgeführt und ihnen den Text in den Mund gelegt: »Ich bin ja nicht hingefallen; ich gehe ja noch aufrecht einher; ich stehe ja noch fest auf den Beinen, und mir würde so was Dummes doch nie passieren.« (S. 693)

Ganz anders und unendlich viel genauer und einfühlsamer analysiert Joubert eine analoge Szene in seinem Traité du Ris, indem er das jeweilige Lachen der Passanten von deren Einstellung zum Gestürzten abhängig macht, wenn er schreibt: »Aus demselben Grund lachen wir, wenn jemand in den Dreck fällt, weil dies ebenfalls sehr häßlich ist und ohne jede Gefahr, die in uns Mitleid wecken könnte. Und je unpassender der Sturz ist, desto größer ist das Gelächter. Ich nenne den Sturz unpassend, wenn er ungewöhnlich, also unerwartet ist; denn die Überraschung ist hier das entscheidende Moment. So fallen Kinder und Betrunkene des öfteren hin und bringen uns zum Lachen. Aber wir lachen unvergleichlich heftiger, wenn eine große und gewichtige Persönlichkeit, die mit großer Würde einherschreitet, plötzlich an einen Stein stößt und im hohen Bogen im Schlamm landet. Dies ist dann allerdings sehr häßlich und provoziert auch keinerlei Mitleid, sofern es nicht ein naher Verwandter oder ein enger Freund ist, für den wir uns schämen oder für den wir Mitleid empfinden müßten. Noch beschämender aber wäre ein solcher Sturz, wenn er vor vielen Zeugen geschähe und wenn der Gestürzte aufwendig gekleidet und darauf auch noch recht stolz wäre. Nichts aber liegt so formvollendet daneben und nichts weckt weniger Mitleid in uns, wenn die betreffende Person außerdem auch des Ranges unwürdig ist, den sie bekleidet und die Ehrerbietung nicht verdient, die man ihr erweist, wenn diese Person wegen ihres Stolzes und ihrer Überheblichkeit gehaßt wird, wenn sie also, wie das Sprichwort sagt, einem Affen in der Purpurrobe gleicht. Wer könnte sich wohl das Lachen verkneifen, wenn er einen solchen Kerl stolpern und stürzen sieht? Wenn jemand jedoch von sehr hoch droben in den Dreck fällt, lachen wir kaum, weil solch ein Sturz uns gefährlich erscheint und wir befürchten, der Stürzende könnte sich verletzen. (…)

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Sobald sich also auch nur ein Hauch von Sorge um den Gestürzten einstellt, regt sich das Mitleid und das Lachen erstirbt.« (S. 18 ff.)

Damit ist klar, was Bergson so unbedenklich ausgeblendet hat, damit seine Theorie stimmt: Es ist die von Joubert so sehr betonte jeweilige Einstellung der Passanten zum Gestürzten, die ihre Reaktion gleichsam filtert und das Lachen mal zuläßt und mal verhindert, und das Lachen, wenn es denn zugelassen wird, auch noch in seiner Intensität überformt. Aber daran verschwendet Bergson keinen Gedanken, sondern kennt einzig das höhnische Auslachen des Gestürzten als normale Reaktion, wenn er behauptet: »Das Lachen ist meist mit einer gewissen Empfindungslosigkeit verbunden. Wahrhaft erschüttern kann die Komik offenbar nur unter der Bedingung, daß sie auf einen möglichst unbewegten, glatten seelischen Boden fällt. Gleichgültigkeit ist ihr natürliches Element. Das Leben hat keinen größeren Feind als die Emotion. Ich will nicht behaupten, daß wir über einen Menschen, für den wir Mitleid oder Zärtlichkeit empfinden, nicht lachen könnten – dann aber müßten wir diese Zärtlichkeit, dieses Mitleid für eine kurze Weile unterdrükken.« (S. 14)

Oder anders formuliert: »Die Komik bedarf also einer vorübergehenden Anästhesie des Herzens, um sich voll entfalten zu können.« (S. 15)

Und das wiederum heißt im Umkehrschluß: »Ausgesprochen gefühlvolle Seelen dagegen, in denen jedes Erlebnis seinen sentimentalen Nachhall findet, werden das Lachen weder kennen noch begreifen.« (S. 14)

Und dieses gnadenlose Lachen mit kaltem Herzen ist laut Bergson »immer das Lachen einer Gruppe« (S. 15), also das Gelächter einer Lach-Meute, die sich über einen Wehrlosen hermacht, diesen zu demütigen und in vernichtende Scham 104 zu stürzen sucht, ganz so, als hätte die Gesellschaft all ihre Dandys und deren Kult der Kälte 105 zum Wächter der Moral bestimmt. Dieser Kult der Kälte erscheint auf den ersten Blick noch irritierender, wenn man sich vor Augen hält, wie emphatisch Bergson in seinem Hauptwerk Schöpferische Entwicklung von Sympathie spricht. Diese Irritation weicht aber alsbald, wenn man sich die Beispiele anschaut, durch die er zu verdeutlichen sucht, was er unter 1266 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Sympathie versteht, denn hier gilt: »Instinkt ist Sympathie.« (S. 181) Er hätte auch schreiben können »Sympathie ist Instinkt«, denn er meint eigentlich »Sympathetik«. Bergson erläutert dies am Beispiel einer Grabwespe, die eine Raupe durch einen gezielten Stich lähmt, aber nicht tötet und dann ein Ei auf sie ablegt, damit die daraus schlüpfende Wespenmade die Raupe bei lebendigem Leib auffressen kann. Zwischen der Wespe und der Raupe herrscht laut Bergson eine durch Instinkt gesteuerte Sympathie/Sympathetik, »eine Sympathie, die sie (die Wespe) gewissermaßen von innen her über die Verletzbarkeit der Raupe unterrichtet« (S. 178). Die Wespe verfügt also durch ihre Instinkte über eine bestimmte Form von nicht-intellektuellem, aber extrem spezialisiertem und untrüglichem Wissen, das es ihr ermöglicht, exakt und fehlerfrei genau das zu leisten, was für ihre Nachkommen überlebenswichtig ist; aber sie kann eben nur dies: »Wenigstens aber ergreift sie dieses von innen her, ganz anders als in einem Prozeß des Erkennens; ergreift es kraft einer – eher gelebten als vorgestellten – Intuition; einer Intuition, die dem zweifellos ähnelt, was bei uns divinatorische Sympathie genannt wird.« (S. 180)

Mit diesem Hinweis auf Schleiermachers Einfühlungstheorie 106, die auf die Forderung hinausläuft, sich rückhaltlos in das Innere des Anderen zu versetzen und somit »bei ihm einzukehren« (S. 181) und mit ihm in völligem Gleichklang zu agieren, ganz so, als ob man der oder das Andere selbst wäre, sucht Bergson ein Erkenntnisprinzip zu bestimmen, das in der Natur als Sympathetik und Instinkt, im menschlichen Leben aber analog als Intuition fungiert und anders und direkter das Lebendige erkennen kann, das dem Intellekt laut Bergson prinzipiell verschlossen bleibt, weil dieser nur Lebloses zu erkennen und messend, zählend und qualifizierend zu bestimmen vermag, denn: »Ins Innere des Lebens selber würde die Intuition, ich meine der uninteressierte (besser wohl: der interesselose), der seiner selbst bewußte Instinkt führen; er, der fähig wäre, über seinen Gegenstand (auch noch) zu reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern.« (S. 181)

Dies aber vermag laut Bergson eigentlich nur der Künstler bzw. nur der, der in irgendeiner Weise so schöpferisch tätig ist wie das Leben selbst. 1267 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Bergson kommt also, ganz anders als Laurent Joubert, für den die Sympathie ein spezifisch menschlicher Weg der Erkenntnis107 ist und für den das Risible mit dem Herzen wahrgenommen und beantwortet wird, nicht im entferntesten auf die Idee, daß Komik auch intuitiv durch vor- und außer-prädikative Wahrnehmung als solche wahrgenommen werden könnte, sondern besteht auf der These: »Die Komik bedarf einer vorübergehenden Anästhesie des Herzens, um sich voll entfalten zu können. Sie wendet sich an den reinen Intellekt.« (S. 15)

Und weil der Intellekt laut Bergson eben nur Lebloses und Mechanisches als solches erkennen kann, besteht Komik allein in der Überlagerung des Lebendigen durch etwas Lebloses, Mechanisches, Steifes und Starres. Im dritten Kapitel, in dem er eine Analyse von Molières Charakterkomödie Le Misanthrope vorlegt, scheint sich Bergson auf den ersten Blick Jouberts Argumentation und der aristotelischen Theatertheorie anzunähern, wenn er schreibt: »Die Komik, sagten wir, wendet sich an den reinen Intellekt; das Lachen verträgt sich nicht mit dem Gemüt. Ein Fehler kann noch so leicht sein, wenn man ihn mir so darstellt, daß er meine Sympathie oder meine Furcht oder mein Mitleid erregt, dann vergeht mir das Lachen. Man zeige mir umgekehrt ein ausgesprochenes und abstoßendes Laster, und ich werde es als komisch empfinden, sofern man dafür gesorgt hat, daß es mich ungerührt läßt. Ich sage nicht, dann werde das Laster komisch; ich sage, dann könne es komisch werden. Es darf mich nicht bewegen, das ist die einzig wirklich notwendige Bedingung, auch wenn sie bei weitem nicht genügt. Wie aber kann der komische Dichter vermeiden, daß er mein Gemüt bewegt? Eine heikle Frage.« (S. 92 f.)

Bergsons Antwort auf diese heikle Frage lautet natürlich wieder dahingehend, daß der Dramatiker die Gestalt als steif, hölzern und ungelenk erscheinen lassen muß, was laut Bergson dann ganz automatisch die Wirkung hat, komisch zu erscheinen und Gelächter zu erregen, denn: »Es gibt eine Kunst, die unsere Empfindsamkeit betäubt und ihr Träume suggeriert. Es gibt (aber) auch eine Kunst, die unsere Sympathie

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just in dem Augenblick, da sie erwachen könnte, tötet, so daß wir sogar eine ernste Situation nicht mehr ernst nehmen. Diese zweite Kunst wird der komische Dichter mehr oder weniger bewußt anwenden.« (S. 93)

Und diese zweite Kunst besteht laut Bergson darin, durch die gezielte Darstellung mechanischer Starrheit und Steifheit den mitgehenden Zuschauer gleichsam emotional auszukühlen und ihm die eventuell sich einstellende Sympathie mit der Dramengestalt sofort wieder auszutreiben, weil dies nicht so sein soll. Aber ist das wirklich so einfach? Stellt sich die »momentane Anästhesie des Herzens« beim Publikum tatsächlich so automatisch ein wie ein bedingter Reflex? Könnte, ganz im Gegenteil, eine solche Gestalt in all ihrer hilflosen Steifheit auf das Publikum nicht erst recht anrührend wirken? Setzt Bergson beim Publikum die Entschlossenheit, sich nicht bewegen zu lassen, den Kult des kalten Herzens schon ins Theater als Vorleistung mitzubringen und seine Empathie gleichsam an der Garderobe abzugeben, einfach voraus, damit seine Theorie stimmt? Bergson würde derlei Fragen unumwunden bejahen, denn das Lachen soll eben auch im Theater »nicht gütig sein. Es soll einschüchtern, indem es demütigt« (S. 124), ganz so, wie es die Alte Komödie des Aristophanes in Athen erstrebt hatte. Wenn man nun zur Kritik an Bergsons Argumentation ansetzen will, so bietet es sich an, auf die erschreckend inhumane Tendenz dieser Theorie des Lachens zu verweisen, die u. a. auch darin begründet ist, daß Bergson das Lachen im Sinne von Erwin Straus nicht als »Erlebnis« eines lachenden Menschen sieht, sondern als ein »Geschehnis«, das sich an ihm und mit ihm vollzieht, sich an ihm und mit ihm aber in dieser Art nur vollziehen kann, wenn er seine Menschlichkeit weitgehend abstreift und sich willig dem emotionalen Wärmetod ausgeliefert hat. Vom herzlichen Lachen, das Joubert so hymnisch beschreibt, finden wir bei Bergson keine Spur. Hätte Joubert Bergsons Werk gekannt, wäre er wohl zu dem Schluß gekommen, Bergson lache nicht herzlich (par coeur), sondern »hirnlich« (par cerveau). Aber auf dieses Problem hat ja schon Heinrich verwiesen, offensichtlich angeregt durch Horkheimer und Adorno, die das von 1269 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Bergson beschriebene aggressive und vernichtungslüsterne Auslachen mit Baudelaires satanischem Lachen in Beziehung bringen, wenn sie in ihrer Dialektik der Aufklärung schreiben: »In der falschen Gesellschaft hat Lachen als Krankheit das Glück befallen und zieht es in ihre nichtswürdige Totalität hinein. Das Lachen über etwas (und über jemanden) ist allemal Verlachen, und das Leben, das da Bergson zufolge die Verfestigung durchbricht, ist in Wahrheit das einbrechende barbarische, die Selbstbehauptung, die beim geselligen Anlaß ihre Befreiung vom Skrupel zu feiern wagt. Das Kollektiv der Lacher parodiert die Menschheit. Sie sind Monaden, deren jede dem Genuß sich hingibt, auf Kosten jeglicher anderen, und mit der Majorität im Rückhalt, zu allem entschlossen zu sein. In solcher Harmonie bieten sie das Zerrbild der Solidarität. Das Teuflische des falschen Lachens liegt eben darin, daß es selbst das Beste, Versöhnung, zwingend parodiert.« (S. 149)

So gesehen ist also auch Bergsons Werk über die Komik ein weiteres Dokument des »verlorenen Lachens« (Keller), genauer: des verlorenen heiteren Lachens und der verlorenen eutrapelistischen Lachkultur, die das Scherzen und Lachen einer Lachgemeinschaft auf Augenhöhe in einer entspannten Atmosphäre pflegt und dabei »unser Lachen« lacht. Sigmund Freud sah dies allerdings ganz anders, denn er entnahm, wie er in seinem Buch über den Witz schreibt, »dem schönen und lebensfrischen Buche von Bergson« (S. 235) vor allem die Anregung, »den gesuchten spezifischen Charakter des Komischen in die Erwekkung des Infantilen zu verlegen, das Komische als das wiedergewonnene ›verlorene Kinderlachen‹ zu erfassen.« (S. 237)

Als Horkheimer und Adorno dieses vernichtende Urteil über Bergson und die Unterhaltungsindustrie fällten, hatten sie das kommerzielle Fernsehen Amerikas vor Augen, das sie wohl entsetzt und angeekelt haben muß. Als Bergson zur Zeit der Dreyfus-Affäre 108 seine drei Aufsätze über Komik schrieb, orientierte er sich offensichtlich an der damaligen Unterhaltungsindustrie von Paris, die im wesentlichen durch die rein kommerziell ausgerichteten Boulevardtheater organisiert wurde, die die farcenhaften Komödien von Feydeau, Labiche und Hennequin spielten. Selbst die Komödien Molières sah Bergson allein durch diese Brille. 1270 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Die Dramaturgie dieser farcenhaften Boulevard-Komödien besteht im wesentlichen darin, das gnadenlose Verlachen bestimmter Gestalten szenisch zu organisieren, wobei man auch nicht davor zurückschreckte, Gestalten mit körperlichen Gebrechen dem Gespött preiszugeben. Zwar besteht auch Molières Komödien-Dramaturgie darin, bestimmten Protagonisten ihre fixen Ideen durch eine komische Intrige auszutreiben, aber diese Intrige ist immer eine letztlich wohlwollende und erfolgt immer im Namen der Vernunft. Davon aber kann im französischen Boulevardtheater des späten 19. Jahrhunderts überhaupt keine Rede sein, weil es hier ausschließlich darum geht, eine als komisch empfundene und eher hilflose Gestalt lächerlich zu machen, zum Gaudium des Publikums zu degradieren und dem Gelächter des Publikums preiszugeben. Somit argumentiert Bergson ganz auf der Linie dieser Art von Theater, wenn er schreibt, das Lachen »soll einschüchtern, indem es demütigt« (S. 124). Bei einer gelotologisch orientierten Kritik von Bergsons Lachtheorie im engeren Sinn wäre an dem Punkt anzusetzen, daß das laute Lachen durch seine konvulsivische Verlaufsgestalt ja selbst etwas Mechanisches an sich hat und laut Bergson selbst komisch wirken müßte. Joubert hätte hier wohl so argumentiert, daß das Lachen als mechanisch gestotterte Ausatmung das Mechanische des Komischen »denotiert«. Aber so argumentiert Bergson nicht, offensichtlich deshalb, weil das Lachen selbst gar nicht sein Thema ist, sondern nur das Komische, bzw. eine bestimmte Form von Komik, sodaß er die regressiven Züge am Lachen gar nicht in den Blick bekommt, obwohl seine Lachtheorie ja gerade als Abrechnung mit dem mechanistischen Denken angelegt war. 2.14.7 Die Neohydrauliker Wir haben in den Kapiteln über die Renaissance-Ärzte (2.8.2), über Joubert (2.9), Descartes (2.10), Hobbes (2.11) und die Mechanisten des 18. Jahrhunderts (2.12.6.6) gesehen, daß es eine durchgehende Tendenz gegeben hat, die Lebensgeister immer weiter zu entmaterialisieren und nur noch als Energieträger zu verstehen, bis 1271 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sie schließlich durch das Postulat einer völlig immateriellen Lebenskraft (Kap. 2.14.2) ersetzt werden konnten, die als eine Art organischer Energie verstanden wurde. Dieses naturphilosophische Konstrukt wurde jedoch von der »Generation von 1820« auf das entschiedenste bekämpft, weil die Entdeckung des Energie-Erhaltungs-Satzes eine ganz neue Thematisierung von Energie erzwang und die Möglichkeit anzubieten schien, auch alle organischen Prozesse wieder rein mechanistisch-energetisch und quantitativ zu beschreiben und zu interpretieren. Und nun teilten sich die Wege: Die Vitalisten und Neovitalisten von Schopenhauer bis Bergson versuchten sich an der Rehabilitierung der Lebenskraft; die neuen Mechanisten aber kehrten, verführt durch den Siegeszug von Dampfkraft und Elektrizität, zur Hydraulik der Lebensgeister zurück, obwohl sie den Begriff »Lebensgeister« selbst nicht mehr verwendeten, weil dieser ihnen wohl zu vitalistisch klang, und tendierten dazu, die als Energie verstandenen Lebensgeister erneut zu materialisieren und sie dementsprechend als körperhafte Substanzen zu sehen, die wie der Dampf auf Stoß und Sog reagieren, quantitativ beschreibbar sind, und gemäß dem Energie-Erhaltungs-Satz sich mal als potentielle und mal als kinetische Energie manifestieren können, sodaß sie auch verdrängt, verschoben, übertragen und abgeführt und, übertragen auf das Lachen, als Lach-Bewegung abgefaucht, abgelacht, abgezittert oder sonstwie abreagiert werden können. Begründet wurde diese neue gelotologische Argumentationstradition durch Herbert Spencer um 1860, als deren letzte Vertreter nun Sigmund Freud, Konrad Lorenz und einige ihrer Schüler darzustellen sind. 2.14.7.1 Sigmund Freud oder Lachen als Hydraulik psychischer Energie Unser Thema ist nicht Freud (1856–1939) als Psychoanalytiker oder gar die Psychoanalyse als solche, sondern uns interessiert hier einzig, was Freud zu unserem Thema beizutragen hat. Aus diesem Grund stehen neben dem Buch über den Witz v. a. seine »metapsychologischen« Schriften im Zentrum unseres Interesses und unter 1272 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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diesen wiederum nur die, in denen er die energetischen Grundlagen 109 für seine Ätiologie des Lachens erarbeitet hat. Die Studie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten von 1905 110 ist das einzige Werk, in dem sich Freud ausführlicher zum Thema Lachen geäußert hat. Ein Blick in dieses Werk zeigt aber sofort, daß das Lachen selbst nicht sein eigentliches Thema ist, sondern weit eher die Mittel und Wege, durch Witze Lachen zu erregen. So gesehen gehört Freuds Buch über den Witz eher in die Tradition der Geloiastik als in die der Gelotologie, und deshalb entwickelt Freud auch eine breite Palette des Komischen, der verschiedenen Witztechniken und deren Beziehungen zum Traum und zum Unbewußten, fragt aber nicht einmal nach den unterschiedlichen Arten von Gelächter, mit denen man auf Witze und Scherze aller Art reagieren kann. Und die ganze Vielfalt der Lachanlässe jenseits des Komischen interessiert ihn schon gar nicht. Dies gilt übrigens auch für seine späte Studie über den Humor von 1927. Aus diesen Gründen muß man etwas Vorsicht walten lassen, wenn man versucht, Freuds Ätiologie des Lachens auf das Lachen generell zu übertragen. Am ertragreichsten für unsere Fragestellung erweist sich der »synthetische« Teil von Freuds Studie, in dem Freud ausführlich auf den »Lustmechanismus« und die Psychogenese des Witzes eingeht und den Witz und das dadurch hervorgerufene Lachen als »sozialen Vorgang«, also als soziales Szenario analysiert. 2.14.7.1.1 Witz- und Lach-Szenarios Freud beginnt seine Studie mit dem Verweis auf einige Autoren, denen er wichtige Anregungen verdankt, und nennt hier u. a. Bergson, Bain und Dugas (S. 158 ff.), vor allem aber Theodor Lipps und dessen Werk Komik und Humor 111 von 1898, in dem Lipps das Wesen des Komischen ausdrücklich jenseits des Lachens zu analysieren sucht, weil er der seltsamen Meinung war, das Lachen als solches sei »für das Verständnis des Komischen völlig bedeutungslos« (S. 64). Gelotologisch interessant wird Freuds Studie für uns erst ab Kapitel III, wenn er verschiedene »Tendenzen« des Witzes analysiert 1273 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und dabei den »tendenziösen Witz« vom nicht-tendenziösen »harmlosen Witz« (S. 104) unterscheidet und den tendenziösen Witz wiederum in den entblößenden »obszönen«, den »aggressiven« und den blasphemisch »zynischen« Witz (S. 129) unterteilt. Was Freud hier als »harmlosen Witz« bezeichnet, haben wir bisher als Scherz oder Scherzrede im Rahmen der eutrapelistischen Lachkultur von Aristoteles bis Kant kennengelernt, deren ideale Praxis durch einen spezifischen Nomos geregelt wird und darin besteht, bei jemandem, auf dessen Kosten ein Scherz gemacht und belacht wird, weder Scham noch Zorn zu erregen, sodaß auch das Lachopfer selbst unbeschwert ins allgemeine Gelächter mit einstimmen kann. Aber diese Tradition eutrapelistischer Lachkultur scheint Freud überhaupt nicht gekannt zu haben, weil er sie mit keinem Wort erwähnt. Deshalb interessiert ihn auch das dort kultivierte heitere Lachen auf Augenhöhe nicht weiter, weil er meint, die Lustwirkung des harmlosen Witzes sei zumeist »eine mäßige« (S. 110), denn »fast niemals erzielt der tendenzlose Witz jene plötzlichen Ausbrüche von Gelächter, die den tendenziösen so unwiderstehlich machen« (S. 110). Und daraus zieht er dann den Schluß: »Da die Technik bei beiden die nämliche sein kann, darf in uns die Vermutung rege werden, daß der tendenziöse Witz kraft seiner Tendenz über Quellen der Lust verfügen müsse, zu denen der harmlose Witz keinen Zugang hat.« (S. 110)

Um diese ominösen »Quellen der Lust« zu ergründen, bestimmt Freud zunächst zwei Arten des tendenziösen Witzes etwas genauer und schreibt: »Er ist entweder feindseliger Witz (der zur Aggression, Satire, Abwehr dient) oder obszöner Witz (welcher der Entblößung dient).« (S. 110)

Und das heißt mit anderen, eigenen Worten: Der tendenziöse Witz organisiert • entweder das aggressive kynische Auslachen-von-unten, das der Selbstbehauptung und der Aufrechterhaltung der Selbstachtung gegenüber angemaßten Autoritäten dient und vor allem als politischer Witz fungiert; • oder er organisiert das genauso aggressive zynische Auslachenvon-oben, das die eigene Person erhöhen, die verlachte Person aber demütigen soll, was am besten gelingt, wenn dies im Rah1274 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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men einer Lach-Meute geschieht, die sich über eine relativ wehrlose Person hermacht, genauso wie Bergson dies beschreibt; • eine spezifische Variante dieses aggressiven zynischen Auslachensvon-oben ist die Zoterei, durch die eine Meute von Männern eine Frau sexuell zu demütigen und virtuell zu entblößen sucht. Der tendenziöse Witz organisiert also immer ein aggressives und adressiertes Auslachen. Bei der Analyse des tendenziösen Witzes fängt Freud bei der Zote an, die genau wie die Blasphemie in der Tradition der eutrapelistischen Lachkultur immer auf das schärfste verpönt war, weil sie in besonderem Maß geeignet ist, beim Lachopfer Zorn und Scham, Verlegenheit und Peinlichkeit zu erregen. Aber genau dies ist ja das erklärte Ziel der Zoterei. Wie abgründig Freud hier argumentiert, zeigt sich, wenn er schreibt, die Zote sei eigentlich immer an eine bestimmte Person gerichtet, »von der man sexuell erregt wird und die durch das Anhören der Zote von der Erregung des Redenden Kenntnis bekommen und dadurch selbst sexuell erregt werden soll. Anstatt dieser Erregung mag sie auch in Scham oder Verlegenheit gebracht werden, was nur eine Reaktion gegen ihre Erregung und auf diesem Umweg ein Eingeständnis derselben bedeutet. Die Zote ist also ursprünglich an das Weib gerichtet und einem Verführungsversuch 112 gleichzusetzen. Wenn sich dann ein Mann in Männergesellschaft mit dem Erzählen oder Anhören von Zoten vergnügt, so ist die ursprüngliche (Verführungs- oder Vergewaltigungs-)Situation, die infolge sozialer Hemmnisse nicht verwirklicht werden kann, dabei mit vorgestellt. Wer über die gehörte Zote lacht, lacht wie ein Zuschauer bei einer sexuellen Aggression.« (S. 111)

Demgemäß wäre Zoterei der imaginierte Ersatz für die kollektive Vergewaltigung einer Frau durch eine Meute von Männern als deren »Ritus der gemeinsamen Einverleibung«113 dieser erlegten weiblichen Sexualbeute. Aber, so muß sich Freud fragen lassen, wird bei derartigen sexuellen Einverleibungen denn wirklich gelacht? Und welche Art von Gelächter wäre dies dann? Meint er vielleicht das von Bergson beschriebene Lachen, das in der verlachten Person eine »peinliche Empfindung« (S. 124) hervorrufen soll und das »einschüchtert, 1275 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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indem es demütigt« (S. 124)? Oder meint er gar das vernichtungslüsterne la’ag-Lachen, das ein essentielles Element eines sadistischen Szenarios ist? Offensichtlich ist dies so, denn Freud landet alsbald bei dem Argument, daß die Weigerung von Frauen, sich jederzeit willig vergewaltigen zu lassen, die Zoterei der sexuell frustrierten Männer geradezu erzwingt: »Wo nämlich die Bereitschaft des Weibes (zum Geschlechtsverkehr ad hoc) sich rasch einstellt, da ist die obszöne Rede kurzlebig, sie weicht alsbald der sexuellen Handlung. Anders, wenn auf die rasche Bereitschaft des Weibes nicht zu rechnen ist, sondern an deren Statt die Abwehrreaktionen desselben auftreten. Dann wird die sexuell erregende Rede als Zote Selbstzweck; da die sexuelle Aggression in ihrem Fortschreiten zum Akt aufgehalten ist, verweilt sie bei der Hervorrufung der Erregung und zieht Lust aus den Anzeichen derselben beim Weibe. Die Aggression ändert dabei wohl auch ihren Charakter in dem nämlichen Sinne wie jede libidinöse Regung, der sich ein Hindernis entgegenstellt; sie wird direkt feindselig, grausam, ruft also die sadistische Komponente des Geschlechtstriebes gegen das Hindernis zur Hilfe.« (S. 113)

Und das heißt: »Die Unnachgiebigkeit des Weibes ist die Bedingung für die Ausbildung der Zote.« (S. 113)

Wenn Männer also über Zoten lachen, wird der sexuelle männliche Frust, also die aufgestaute, aber unerfüllte sexuelle Energie ersatzweise über das Lachen abgeführt, weshalb diese »Abfuhr« in Form des explosiv herausplatzenden Lachens auch so sehr einem Orgasmus gleicht. Ganz ähnlich hatte schon Hildegard von Bingen 114 argumentiert, die in der Zoterei den dunklen »Geschlechtswind« am Werk sah, der aus den Hoden hoch qualmt. Ähnlich aufschlußreich wie Freuds Analyse der Zoterei ist seine Analyse des nicht sexuell aufgeladenen aggressiven Witzes, allerdings nur dann, wenn man seine Analyse im Lichte der bisher schon geklärten Lachszenarien und der dabei relevanten Lacharten liest. Festzuhalten ist zunächst, daß der eutrapelistische Witz im allgemeinen unadressiert ist und ein unadressiertes BekundungsLachen auslöst, mit dem dieser Witz oder Scherz belacht wird, 1276 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wohingegen der tendenziöse Witz sich immer an und gegen eine Person richtet, die dadurch verlacht werden soll, unabhängig davon, ob diese Person als Lachopfer aktuell anwesend ist oder nicht. Und hier gilt das Prinzip: Beim tendenziösen Witz wird die Komik des Witzes belacht, aber diesem Bekundungs-Lachen ist ein adressiertes Auslachen inhärent, mit dem die lächerlich gemachte Person verlacht wird. Der tendenziöse Witz organisiert also ein indirektes Auslachen und das dabei erstellte Lachszenario kann, je nachdem, ein kynisches Auslachen-von-unten oder ein zynisches Auslachen-von-oben oder ein Auslachen im Rahmen einer Lachmeute sein. Nehmen wir zur Verdeutlichung ein paar Beispiele: Zuerst zwei Leber-Verse 115 aus der Tradition der eutrapelistischen Lachkultur, wie sie seit der Renaissance bis auf unsere Tage in den heiteren Symposien nach dem Vorbild des Convivium fabulosum des Erasmus von Rotterdam erfunden und belacht worden sind. Der erste soll angeblich von Lessing stammen, der zweite stammt von mir: Die Leber ist vom Hecht und nicht von einem Biber. Dem einen ist sein eignes Weib, dem anderen sind andere lieber. Die Leber ist vom Hecht und nicht von einer Flunder. Den Tango tanzt man eckiger; den Walzer tanzt man runder.

Man könnte hier auch auf die Klapphorn-Verse oder auf Limericks verweisen, denn all dieser fröhliche Unsinn folgt der horazischen Maxime: Dulce est desipere in loco. Zweites Bespiel: Als unsere Tochter drei Jahre alt war, deutete sie im Garten auf ein Nest von Ameisen und sagte mit Entschiedenheit: »Die Armeisen heißen Armeisen, weil sie so arm sind.« Und als ich das in Zweifel zog, schrie sie empört auf: »Da, Papa, schau sie doch an! Sind die vielleicht reich!?« Für Freud wären diese beiden Bespiele typische Muster für den harmlosen Witz, der, wie die Beispiele zeigen, entweder gezielt ausgedacht und zelebriert wird oder aber unabsichtlich und gleichsam als logisches Mißgeschick entsteht. Und wenn man darüber lacht, 1277 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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so belacht man eben die Komik, aber man lacht sein Kind nicht aus, weil es Unsinn geredet hat, sondern küßt es lachend ab. Drittes Beispiel: Ein Mann kehrt vom Stammtisch heim, an dem man über die allgemeine Untreue der Frauen gelästert hatte, und betrachtet nachdenklich ein Foto seiner großen Kinderschar. Seine Frau kommt dazu und fragt ihn, warum er denn gar so nachdenklich schaue, worauf der Mann auf den Jüngsten deutet und fragt: »Ist der Seppl wirklich von mir?« Da gerät die Frau in Rage und schreit ihn an: »Wie kannst du bloß so fragen? Was heißt denn das: Ist der von mir? Ist der von mir? – Grad der Seppl ist von dir!« Viertes Beispiel: Ceaus¸escu fährt übers Land. In einem Dorf überquert ein Briefträger die Straße, worauf sich Ceaus¸escu an seinen Adjutanten wendet und folgender Dialog entsteht: Ceaus¸escu: »Was ist denn das?« Adjutant: »Das ist ein Briefträger, Genosse Conducator.« Ceaus¸escu: »Und was macht der da?« Adjutant: »Der trägt seine Briefe aus, Genosse Conducator.« Ceaus¸escu: »Der trägt seine Briefe aus?« Adjutant: »Jawohl, Genosse Conducator, der trägt seine Briefe aus.« Ceaus¸escu: »Ja, warum schickt der seine Briefe denn nicht mit der Post?« Für Freud wäre das dritte Beispiel wohl auch noch ein harmloser Witz, aber das Gelächter, das er auslöst, dürfte wohl etwas heftiger sein als das über die beiden Leber-Verse, aber nicht, weil er sich aggressiv gegen jemanden wendet, da die beteiligten Personen ja anonym sind, sondern weil die Technik dieses Witzes durch ihre Überbietungs-Dramaturgie einfach besser ist und die aggressive Rechtfertigung der Frau sich als Pointe schlagartig gegen sie selbst wendet und ihre erregte Argumentation gleichsam implodieren läßt. Der Witz über Ceaus¸escu, den ich 1978 in Rumänien erzählt bekam, ist das Musterbeispiel eines hoch aggressiven politischen Witzes, mit dem der allmächtige Diktator als der letzte Depp dargestellt wird, als das also, was in der Geloiasten-Palette von Kapitel 2.8.3 als »Narr(NT)« bezeichnet wurde, als lächerlich eitler und selbstgerechter, aber hemmungslos dämlicher ambitionierter Tor, der das Verlachtwerden geradezu kategorisch einklagt. Politische 1278 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Witze dieser Art, die der Selbstbehauptung des Bürgers und der Bewahrung seiner Selbstachtung vor der angemaßten Allmacht und Allwissenheit der hohen Herren dienen, gedeihen, wie man weiß, in Diktaturen besonders gut, weil sie dort geradezu existenznotwendig sind. Würde die Frage, warum der Briefträger seine Briefe denn nicht mit der Post schickt, ein kleines Kind in all seiner unschuldigen Einfalt stellen, so wäre diese Frage sicher auch ein Grund zum Lachen, aber dieses Lachen wäre dann eben reines Bekundungs-Lachen, mit dem bloß die krause Logik dieser Frage belacht, nicht aber zugleich auch das Kind ausgelacht würde. Hier aber dient die absurde Logik des allmächtigen Diktators dazu, nicht nur ein Bekundungs-Lachen zu provozieren, sondern zugleich damit auch das kynische Auslachen-von-unten zu organisieren, mit dem sich Erzähler und Hörer des Witzes über die grenzenlose Dämlichkeit des allmächtigen Diktators für einen Moment virtuell erheben und ihn von oben herab verlachen können. Aber auch dieser bösartige Witz wirkt heute lange nicht mehr so komisch wie damals in Rumänien, als Ceaus¸escu auf der Höhe seiner Macht stand, und das heißt, daß die aggressive Komik politischer Witze offensichtlich situationsabhängig ist und, analog dazu, auch die Intensität des dadurch ausgelösten Gelächters. Je stärker also die jeweils aktuelle virtuelle Bedrohung durch eine Macht empfunden wird, desto größer ist offensichtlich die allgemeine Spannung, unter der man als Bürger eines solchen Regimes steht, und desto größer ist auch die ad hoc durch den politischen Witz erzeugte Spannung, die durch die Pointe plötzlich gelöst und im ekstatisch herausplatzenden Lachen uroborisch abgelacht werden kann. Und das heißt umgekehrt: Je anonymer das Personal eines Witzes ist, desto weniger kann er tendenziös sein und desto weniger kann er veralten, weil er nicht dem je aktuellen Machtkampf der Interessen dienen muß. Hier liegt auch der Grund dafür, daß die tendenziöse politische Komödie im Stil eines Aristophanes oder das politische Kabarett von gestern heute kaum noch das Gelächter provozieren kann, das sie zu ihrer Zeit vielleicht provoziert hat, da man eben nur den verlachen kann, den man kennt und zu dem 1279 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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man außerdem eine negative affektive Beziehung hat, sodaß man es freudig genießt, wenn diese Gestalt lächerlich gemacht wird. Im Gegensatz dazu bleiben rein fiktive Gestalten wie z. B. das Personal von Gogols Revisor überall und zu allen Zeiten komisch und können von jedermann gleich intensiv belacht werden. Die Ätiologie des nicht obszönen tendenziösen Witzes beruht für Freud auf dem gleichen Mechanismus kulturell verdrängter Aggressivität, die sich dadurch gleichsam staut und auf »Abfuhr« in irgendeiner kulturell geduldeten Form drängt. Kulturell gezähmte Aggressivität ist für Freud also geradezu ein proprium hominis, ein Produkt des Zivilisationsprozesses im Sinne von Norbert Elias, der die allfällig latente Aggressivität zu kulturellen Ritualen sublimiert. Und so wie man laut Freud nicht einfach über die nächstbeste Frau herfallen und sie vergewaltigen kann, wie dies einst in der guten alten Steinzeit bei der legendären Urhorde der Fall gewesen sein soll, und sie deshalb ersatzweise mit Zotereien anpöbelt, so dient der aggressive Witz als Ersatz für die Ausübung manifester Gewalt: »Die feindseligen Impulse gegen unsere Nebenmenschen unterliegen seit unserer individuellen Kindheit wie seit den Kindertagen menschlicher Kultur den nämlichen Einschränkungen, der nämlichen fortschreitenden Verdrängung wie unsere sexuellen Strebungen. (…) Auch tragen alle Moralvorschriften der Beschränkung im tätigen Haß noch heute Anzeichen an sich, daß sie ursprünglich (nur) für eine kleine Gemeinschaft von Stammesgenossen gelten sollten. So wie wir uns alle als Angehörige eines Volkes fühlen dürfen, gestatten wir uns, von den meisten dieser Beschränkungen gegen ein fremdes Volk abzusehen. Aber innerhalb unseres eigenen Kreises haben wir doch Fortschritte in der Beherrschung feindseliger Regungen gemacht; wie es Lichtenberg drastisch ausdrückt: Wo man jetzt sagt: Entschuldigen Sie, da schlug man einem früher ums Ohr. Die gewalttätige Feindseligkeit, vom Gesetz verboten, ist durch die Invektive in Worten abgelöst worden.« (S. 116 f.)

Diese »Invektive in Worten«, die laut Freud an sich schon lustvoll ist, weil sie ein archaisches, in der Natur des Menschen liegendes Bedürfnis befriedigt, wird noch lustvoller, wenn sie im aggressiven Witz ausagiert wird, der uns die Möglichkeit bietet, unsere Aggres1280 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sionen gegen andere auch noch lustvoll lachend zu genießen und außerdem andere unbeteiligte Dritte dazu zu bringen, in dieses aggressive Auslachen mit einzustimmen. Wir könnten auch sagen: Der aggressive Witz dient dem intellektuellen Bürgerkrieg aller gegen alle, und seine Waffe ist das gegenseitige aggressive Verlachen. Oder mit Freud gesprochen: »Der (aggressive tendenziöse) Witz wird uns gestatten, Lächerliches am Feind zu verwerten, das wir entgegenstehender Hindernisse wegen nicht laut oder nicht bewußt vorbringen durften, wird also wiederum Einschränkungen umgehen und unzugänglich gewordene Lustquellen eröffnen. Er wird ferner den Hörer durch seinen Lustgewinn (beim Lachen) bestechen, ohne strengste Prüfung unsere Partei zu nehmen. (…) ›Die Lacher auf seine Seite ziehen‹, sagt mit vollkommen zutreffendem Ausdruck unsere Sprache.« (S. 117)

Hier zeigt sich, wie eng Freuds Argumentation der von Thomas Hobbes 116 verwandt ist, wie sehr sich das Menschenbild beider gleicht, und wie fremd Freud der Heiteren Aufklärung gegenübersteht, die sich ja explizit als Emanzipation von Hobbes 117 verstanden und deshalb das Ideal der eutrapelistischen Lachkultur in entspannter Atmosphäre gepflegt hat, in der nicht Lach-Meuten, sondern Lach-Gemeinschaften geloiastisch agieren. Eine ganz andere Frage ist, ob man Freuds Position als illusionslose Korrektur der Heiteren Aufklärung verstehen darf oder aber als Rückfall hinter sie oder gar als Rückfall hinter die Aufklärung generell verstehen soll, und eine wieder andere Frage ist die, ob Freud hier nicht seine eigene aggressive Grundhaltung als allgemein menschlich zu rechtfertigen sucht. Doch diese Fragen müssen wir hier nicht entscheiden. Das allgemeine soziale Szenario des tendenziös aggressiven Witzes folgt laut Freud dem Schema: A macht einen Witz über B, über den C dann lacht, sodaß C nicht nur über den Witz, sondern auch über B lacht, oder genauer: sodaß C den Witz belacht und B verlacht. Wir haben es also mit einer sozialen Interaktion als einer bestimmten indirekten »Technik der Schmähung« (S. 117) zu tun, »die auf die Anwerbung dieses Dritten 118 gegen unseren Feind abzielt. Indem wir den Feind klein, niedrig, verächtlich, komisch (zeigen und dadurch lächerlich) machen schaffen wir uns auf einem Umwege den

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Genuß seiner Überwindung, den uns der Dritte, der keine Mühe aufgewendet hat, durch sein Lachen bezeugt.« (S. 116)

Der tendenziöse Witz braucht und sucht also ein Publikum, den oder die lachenden Dritten, die als ad hoc gebildete Lachmeute das jeweilige Lachopfer verlachen helfen. Freud sieht auch mit sicherem Blick, daß der Lustgewinn bei diesem Verlachen auf Umwegen dann besonders groß ist, wenn dabei nicht nur die allgemein bestehenden kulturellen Hindernisse, sondern auch ein möglichst großes Machtgefälle übersprungen wird und der tendenziöse Witz sich gegen aktuell Mächtige richtet, wie dies im politischen Witz in besonderem Maße der Fall ist, und zitiert deshalb auch einen sehr schönen Serenissimus-Witz, in dem Serenissimus einem Fremden, dessen Ähnlichkeit mit seiner eigenen Person ihm aufgefallen ist, die Frage stellt, ob seine Mutter denn einmal die Residenz besucht habe, worauf dieser Fremde schlagfertig antwortet: »Nein, meine Mutter nicht, aber mein Vater.« (S. 118) Hier haben wir das zynisch-kynische Szenario in Reinkultur vor uns, ganz so, wie es von dem legendären rotzfrechen Hofnarren Markolf 119 am Hofe Salomos erzählt wird, also den bissigen Witz, der eine herablassende herrenzynische Frechheit erfolgreich von unten nicht nur kontert, sondern an kynischer Frechheit sogar noch überbietet. Freud dürfte dieser Witz wohl auch deshalb so gefallen haben, weil er so sehr an das Ideal defensiv aggressiver Chuzpe erinnert, das für den traditionellen jüdischen Witzes so charakteristisch ist. Und deshalb schreibt Freud mit Recht: »Die Verhinderung der Schmähung oder beleidigenden Entgegnung durch äußere Umstände ist ein so häufiger Fall, daß der tendenziöse Witz mit ganz besonderer Vorliebe zur Ermöglichung der Aggression oder der Kritik gegen Höhergestellte, die Autorität in Anspruch nehmen (diese aber nicht verdienen), verwendet wird. Der Witz stellt dann eine Auflehnung gegen solche Autorität, eine Befreiung von dem Drucke derselben dar. In diesem Moment liegt ja auch der Reiz der Karikatur, über welche wir selbst dann lachen, wenn sie schlecht geraten ist, bloß weil wir ihr die Auflehnung gegen die Autorität als Verdienst anrechnen.« (S. 119)

Ähnlich wie die Karikatur verfährt die literarische Parodie, da auch sie das Verlachen einer Person durch das Publikum der unbeteilig1282 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ten Dritten organisiert, indem sie stilistische und inhaltliche Eigentümlichkeiten eines Autors bis zum Exzeß übertreibt und dadurch lächerlich macht. Wer einmal Robert Neumanns Heidegger-Parodie Was ist existentionell? 120 gelesen hat, wird den späten Heidegger kaum noch lesen können, ohne ins Lachen zu geraten, weil er ihn in der Maske des grübelnden Schwarzwaldbauern einfach nicht mehr ernst nehmen kann. So gesehen steht der tendenziöse Witz mit all seinen Varianten deutlich in der kynischen Tradition von Shaftesburys test of ridicule, der Autoritäten aller Art einer peinlichen Inquisition unterzieht und nur noch diejenigen gelten läßt, die diese Prüfung unangreifbar bestehen, die anderen aber hohnlachend verwirft. Literarische Parodien können übrigens genauso veralten und wirken dann genauso schal wie der politische Witz aus vergangenen Zeiten, weil auch sie nur treffen, solang der parodierte Autor als aktuelle Größe im literarischen Betrieb gilt. Einen unbekannten oder längst vergessenen Autor kann man zwar parodieren, aber eben ohne Lacherfolg, und somit ist die Wirkung von literarischen Parodien genauso situationsabhängig wie die des politischen Witzes. Über den blasphemischen Witz, der in derselben Tradition steht, äußert sich Freud kaum. Das ist eigentlich auch nicht nötig, da er sich vom übrigen aggressiven Witz nur dadurch unterscheidet, daß er sich nicht gegen eine Person wendet, um sie dem höhnischen Verlachen preiszugeben, sondern gegen abstrakte Gebilde, also z. B. gegen bestimmte Wertewelten, Ideologien, Religionen oder Institutionen aller Art. Als erste Bilanz von Freuds Buch über den Witz läßt sich sagen, daß seine geloiastische Analyse der Witz- und Lach-Szenarien weitgehend überzeugen, wenn man sie etwas ergänzt. Für seine Ätiologie des Lachens selbst gilt dies aber bei weitem nicht in dem Maße, denn hier bleibt er ganz ein Epigone von Herbert Spencers Hydraulik psychischer Energie.

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2.14.7.1.2 Die energetische Basis: Ökonomie-Prinzip und kathartische Abfuhr Die methodologische Grundlage für diese Ätiologie des Lachens hatte sich Freud schon zehn Jahre vor seinem Buch über den Witz in seinem Entwurf einer Psychologie 121 geschaffen, der wiederum auf dem Theorie-Kapitel der Studien über Hysterie 122 aufbaut, die Freud zusammen mit seinem Kollegen Josef Breuer (1842–1925) verfaßt hatte. Dieses Theorie-Kapitel stammt zwar von Breuer und nicht von Freud selbst, aber Freud hat sich auch in späteren Werken immer wieder darauf berufen, sodaß man annehmen darf, daß sich Freud und Breuer hier völlig einig waren und Breuer nur deshalb als Autor zeichnete, weil er der ältere der beiden Verfasser der Studien über Hysterie war. Für unsere Fragestellung sind aus diesem Theorie-Kapitel zwei Themen von besonderer Bedeutung: Einmal das Prinzip der kathartischen Abfuhr und dann das Prinzip der energetischen Ökonomie, die beide zusammen die methodische Grundlage dieser Studien bilden und von Freud auch zeit seines Lebens als energetische Argumentationsgrundlage beibehalten worden sind. Das Prinzip der kathartischen Abfuhr besagt, daß der die Hysterie begründende Affekt in irgendeiner Form »abreagiert« werden muß, weil er nur dadurch erledigt und unschädlich gemacht werden kann. Die Möglichkeiten dazu reichen »vom Weinen bis zum Racheakt« (S. 32). »Wird die Reaktion (aber) unterdrückt, so bleibt der Affekt mit der Erinnerung verbunden« (S. 32) und der kränkende Affekt wirkt weiterhin traumatisch. Dieses Prinzip der kathartischen Abfuhr ist für Freud und Breuer zwar »von fundamentaler Wichtigkeit« (S. 210), aber nur in Verbindung mit dem Prinzip der energetischen Ökonomie, hinter dem der Energie-Erhaltungs-Satz steht, den Theodor Lipps schon 1883 in seinen Grundtatsachen des Seelenlebens 123 auf das psychische Geschehen übertragen hatte und bei Freud, wie er im Brief an Fließ vom 25. 5. 1895 schreibt, als »quantitative Betrachtung, (als) eine Art Ökonomie der Nervenkraft« (S. 107) auftritt. Analog zur Physik unterscheiden Freud und Breuer deshalb auch in ihrem Werk über die Hysterie zwischen potentieller, 1284 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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also gespeichert ruhender und kinetischer lebendiger Energie, die sich in körperlichen Bewegungen aller Art manifestiert, und damit erweisen sich beide als treue Anhänger der Helmholtz-Schule in der Biophysik und als ergebene Schüler ihres Lehrers Ernst Brücke 124, an dessen Wiener Institut sie beide jahrelang gearbeitet hatten. Deshalb heißt es in dem Theorie-Kapitel der Studien über Hysterie: »Wir hätten also außer der potentiellen Energie, welche in dem chemischen Bestande der Zelle ruht, und jener uns unbekannten (!) Form kinetischer Energie, welche im Erregungszustande der (Nerven-)Faser abläuft, noch einen ruhenden Zustand von Nervenerregung anzunehmen, die tonische Erregung oder Nervenspannung.« (S. 212)

Das Ziel jeder kathartischen Behandlung muß demnach darin bestehen, diese tonische Erregung auf Dauer so erträglich wie möglich zu halten, also den Zustand der Eutonie herzustellen, die als angenehm empfundene Grundspannung. Ein totaler Mangel an Reizen von außen her oder aus dem eigenen Körper ist aber eher unangenehm und kann als Langeweile oder gar als quälende Pein empfunden werden (vgl. S. 214), und deshalb gilt: »Die vollständig restituierten Hirnelemente machen also auch in der Ruhe ein gewisses Maß von Energie frei, welches, funktionell nicht verwertet, die intrazerebrale Erregung steigert. Dies erzeugt ein Unlustgefühl. Solche entstehen immer, wenn ein Bedürfnis des Organismus nicht Befriedigung findet. Da die hier besprochenen schwinden, wenn das frei gewordene überschüssige Quantum von Erregung funktionell verwendet wird, so schließen wir, daß diese Wegschaffung des Erregungsüberschusses ein Bedürfnis des Organismus sei, und treffen hier zum ersten Male auf die Tatsache, daß im Organismus die ›Tendenz zur Konstanterhaltung der intrazerebralen Erregung‹ (Freud) besteht. Ein Überschuß davon belastet und belästigt, und es entsteht der Trieb, ihn zu verbrauchen. Ist ein Verbrauch durch Sinnes- oder Vorstellungstätigkeiten nicht möglich, so strömt der Überschuß in zweckloser motorischer Aktion ab, im Aufundabgehen u. dgl., welches wir auch weiterhin als die häufigste Art der Entladung übergroßer Spannungen antreffen werden.« (S. 214 f.)

Als weitere Möglichkeiten für die kathartische Abfuhr übergroßer Erregungen resp. übergroßer Energiemengen werden die »motori1285 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schen Leistungen des Sexualaktes« (S. 218) und bestimmte Szenarien der Affektbekundung genannt, denn: »Das Jauchzen und Springen der Freude, der gesteigerte Muskeltonus des Zornes, die Zornrede und die vergeltende Tat lassen die Erregung in Bewegungsakten abströmen. Der psychische Schmerz entladet dieselbe in respiratorischen Anstrengungen und in einem sekretorischen Akte, Schluchzen und Weinen. (…) Was da ausgegeben wird, ist eben die gesteigerte zerebrale Erregung.« (S. 219)

In diesen wenigen Sätzen ist Freuds energetische Ätiologie des Lachens eigentlich bereits formuliert, weil auch Lachen als eine solche »respiratorische Anstrengung« und als »zwecklose motorische Aktion« verstanden werden kann, ganz so, wie dies schon Herbert Spencer gesehen hatte. Aber warum dieses Abreagieren überflüssiger Energie ausgerechnet durch konvulsivische Bewegungen geschieht, war schon Spencer keiner Frage wert und ist auch für Freud selbst nie ein Thema gewesen, obwohl doch gerade hier der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt. Was bei Freuds und Breuers Darstellung der kathartischen Methode sofort auffällt, ist das seltsame terminologische Schwanken zwischen einem medizinisch-magischen und einem uroborischen Katharsis-Begriff. Einerseits ist die Rede von »tonischen Erregungen«, vom »Muskeltonus« und von »übergroßen Spannungen«, was auf einen uroborischen Katharsis-Begriff schließen läßt, den ja auch Jakob Bernays 125, der Onkel von Freuds Frau, vertreten hatte; andererseits ist aber auch die Rede von »Abfuhr/Abströmen/Ausgeben/ Wegschaffen«, was eine Orientierung am magisch-medizinischen Katharsis-Begriff nahelegt. Aus dem Umstand, daß Freud in seinen späteren Schriften ausschließlich den magisch-medizinischen Katharsis-Begriff verwendet, darf man also vermuten, daß beide Autoren sich hier doch nicht so ganz einig waren und daß es wohl nur Breuer gewesen sein dürfte, der den uroborischen Katharsis-Begriff bevorzugte. Breuer verstand wohl auch das von Fechner stammende Konstanz-Prinzip in der Psyche 126 als Eutonie, wohingegen Freud darunter die feste Bindung und Stillstellung kinetischer Energie zu potentieller verstand und deshalb später auch vom »Nirwana-Prinzip« 127 als dem Ideal psychischer Windstille spricht. In diesen Unschärfen könnte auch einer der Gründe dafür liegen, daß die 1286 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Freundschaft zwischen Freud und Breuer mit dem Abschluß des Buches über die Hysterie ihr Ende fand, zumal sich Breuer zu diesem Zeitpunkt auch noch in aller Form von der Helmholtz-Schule lossagte und sich dem Neovitalismus 128 zuwandte, wohingegen Freud dieser Schule weiterhin ganz dogmatisch verhaftet blieb. Nun haben wir im Aristoteles-Kapitel 2.3.3.9 gesehen, daß man vier verschiedene Katharsis-Begriffe unterscheiden kann: den moralistischen, den medizinischen, den magischen und den uroborischen. Auf den moralistischen, bei dem es um die Reinigung der Affekte selbst geht, müssen wir hier nicht eingehen. Der magische und medizinische Begriff der Katharsis stimmen darin überein, daß irgendwelche schädlichen Substanzen durch Abführmittel oder irgendwelche Dämonen durch bestimmte Beschwörungsrituale aus dem menschlichen Körper entfernt werden, denn eben dies, so Schadewaldt, »das Ausscheiden, Beseitigen, Fortschaffen von störenden und beschwerlichen Stoffen (und Erregungen) aus dem Organismus ist ganz eindeutig der Sinn von (medizinisch-magischer) Katharsis.« 129

Handelt es sich um Dämonen, die von einem Menschen Besitz ergriffen haben, so werden diese durch einen Exorzismus vertrieben, und in diesem Sinn läßt Robert Musil die Freudsche Psychoanalyse auch durch einen Kardinal charakterisieren, für den sie letztlich nichts anderes ist, »als was die Kirche schon in ihren Anfängen gemacht hat: den Teufel austreiben und die Besessenen heilen. Bis ins einzelne geht die Übereinstimmung mit dem Ritual des Exorzismus (dem Rituale Romanum), zum Beispiel, wenn sie (die Psychoanalytiker) mit ihren Mitteln versuchen, den Besessenen dahin zu bringen, daß er von dem zu erzählen anfängt, was in ihm steckt: das ist auch nach der Kirchenlehre genau der Wendepunkt, wo sich der Teufel zum erstenmal anschickt auszufahren. Wir (Kleriker) haben uns bloß entgehen lassen, das rechtzeitig den Bedürfnissen anzupassen und statt von Unfläterei und Teufel von Psychose und Unbewußtem und dergleichen heiligem Zeug zu reden.« 130

Genauso sah es auch der Marxist Karl Kautsky, der Freuds Psychoanalyse immer entschieden verachtete und deshalb voller Hohn schreibt: 1287 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Die Freudsche Psychoanalyse in der medizinischen Praxis scheint mir im Grunde nichts als eine Übertragung der katholischen Beichtmethode in die Sprechstunde des Arztes.« 131

Und schließlich sah auch Freud selbst diese Analogie zwischen der antiken magisch-medizinischen Katharsis und seiner eigenen kathartischen Methode bei der Behandlung von Hysterien, wenn er am 19. 1. 1897 an seinen Freund Wilhelm Fließ schreibt: »Was sagst Du übrigens zu der Bemerkung, daß meine ganze neue Hysterie-Urgeschichte bereits bekannt und hundertfach publiziert ist, allerdings vor mehreren Jahrhunderten? Erinnerst Du Dich, daß ich immer gesagt, die Theorie des Mittelalters von der Besessenheit sei identisch mit unserer Fremdkörpertheorie und Spaltung des Bewußtseins?« (S. 161 f.)

Was aber »ausgetrieben« wird und dann »abfließt« oder »abströmt«, muß in irgendeiner Form substanzhaft sein und als »Fremdkörper« gestoßen oder verdrängt werden können, was mit Energiemengen schlecht möglich ist, und deshalb stellt sich die Frage, ob hier bloß eine ungenaue Metaphorik vorliegt, oder ob sich über diese »Fremdkörpertheorie« nicht doch wieder die alte Vorstellung von der Hydraulik der Lebensgeister in modern energetischer Maskierung eingeschlichen hat, da die Lebensgeister ja immer als stoßfähige materielle Teilchen an der Grenze zum Immateriellen verstanden worden sind. Dieser Verdacht erhärtet sich noch, wenn Freud in seinem Entwurf einer Psychologie von 1895 sogar vom »Prinzip der Neuronen-Trägheit« (S. 305) spricht und Reflexbewegungen aller Art darauf zurückführt, daß diese Neuronen als winzige Energiemassen in der Psyche hin und her geschubst werden und schließlich in die »Muskelmaschine« (S. 306) hinausbefördert werden, um die Psyche möglichst reizfrei zu halten und diesen Zustand möglichst lange konstant zu halten. Auch das ganze Wortfeld »Verdrängung/Verdichtung/Verschiebung« orientiert sich deutlich an der aristotelisch-cartesischen Physik, die physikalische Prozesse einzig als Folge von Stoßbewegungen zwischen Körpern bestimmt. Und dazu paßt wiederum, daß Freud auch Gehirn und Bewußtsein als eine regelrechte Maschine ansieht, die von einem perpetuum mobile als Motor angetrieben wird, denn er schreibt am 1288 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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20. 10. 1895 triumphierend an Fließ nach der erneuten Durchsicht seines Entwurfs einer Psychologie: »Es schien alles ineinander zu greifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen. Die drei Systeme von Neuronen, der freie und gebundene Zustand von (Energie-)Quantität, der Primär- und Sekundärvorgang, die Haupttendenz und die Kompromißtendenz des Nervensystems (zum Konstanzprinzip), die beiden biologischen Regeln der Aufmerksamkeit und der Abwehr (aus der Außenwelt und aus dem Körperinneren), die Qualitäts-, Real- und Denkzeichen, der Zustand der psychosexuellen Gruppe – die Sexualitätsbedingung der Verdrängung, endlich die Bedingung des Bewußtseins als Wahrnehmungsfunktion – das alles stimmt und stimmt heute noch! Ich weiß mich vor Vergnügen natürlich nicht zu fassen!« 132

Zu diesen Reizen aus der Außenwelt gehört auch die Wahrnehmung von Komik, die eine Erregung erzeugt, die das NirwanaPrinzip der Seelenruhe gefährdet und deshalb über das Lachen so bald wie möglich wieder abgeführt, also abgelacht werden muß. Lachen bekommt damit als Reaktion auf eine drohende Krise eine apotropäische Funktion, ganz so, wie dies schon Ewald Hecker gesehen hatte, dessen Studie Freud aber nicht gelesen zu haben scheint, wahrscheinlich deshalb, weil Lipps sie so entschieden abgelehnt hatte. Die weitaus wichtigste Anregung für Freuds energetische Ätiologie des Lachens aber war Herbert Spencers Aufsatz On the Physiology of Laughter von 1859, den Freud bereitwillig aufnahm, »weil er sich in unsren eigenen Gedankengang vortrefflich einfügt« (S. 159), und das heißt: »Nach Spencer ist das Lachen ein Phänomen der Abfuhr seelischer Erregung und ein Beweis dafür, daß die psychische Verwendung dieser Erregung plötzlich auf ein Hindernis gestoßen ist.« (S. 159)

Außerdem verweist Freud noch auf Dugas und Bain, die Lachen als »détente« bzw. als »release from constraint« (S. 160), also als Entspannung verstanden haben. Allerdings deutet Freud Entspannung auch hier wieder nicht im Sinne der stoischen Physik und Physiologie als uroborische Selbstverzehrung der Spannung, sondern ganz im Sinne Spencers als Abfuhr von Energie und als Ausgleich einer 1289 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Energiedifferenz. Diese zwei unterschiedlichen Auffassungen standen, wie wir gesehen haben, ja schon in den Studien über Hysterie unvermittelt nebeneinander, und deshalb legt sich Freud diese Anregungen von Spencer, Bain und Dugas unter Rückgriff auf seinen Entwurf einer Psychologie von 1895 so zurecht, daß er sagen kann, »das Lachen entstehe, wenn ein früher zur Besetzung gewisser psychischer Wege verwendeter Betrag von psychischer Energie unverwendbar geworden ist, so daß er freie Abfuhr erfahren kann.« (S. 160)

Und zur weiteren Klärung fährt er fort: »Die Begriffe ›psychische Energie‹, ›Abfuhr‹ und die Behandlung der psychischen Energie als einer Quantität sind mir zur Denkgewohnheit geworden, seitdem ich begonnen habe, mir die Tatsachen der Psychopathologie philosophisch zurecht zu legen.« (S. 160)

Gemeint ist damit natürlich die Übertragung des Energie-Erhaltungs-Satzes auf psychische Vorgänge und auf die in ihrer Natur immer ungeklärte und deshalb auch nicht meßbare psychische Energie. Aber, so fährt Freud fort: »Die Erfahrungen über die Verschiebbarkeit der psychischen Energie längs gewisser Assoziationsbahnen und über die fast unverwüstliche Erhaltung der Spuren psychischer Vorgänge (gemäß dem Energie-Erhaltungs-Satz) haben es mir in der Tat nahegelegt, eine solche Verbildlichung für das Unbekannte (eben die psychische Energie) zu versuchen.« (S. 161)

Und damit ist Freud so weit, daß er eine erste physiologisch-energetische Bilanz seiner libido-hydraulischen Ätiologie des Lachens formulieren kann, in der man deutlich die Hydraulik der Lebensgeister wiedererkennt, die hier fröhliche Urständ feiern: »Beim Lachen sind also nach unserer Annahme die Bedingungen dafür gegeben, daß eine bisher zur Besetzung verwendete Summe psychischer Energie der freien Abfuhr unterliege, und da zwar nicht jedes Lachen, aber doch gewiß das Lachen über den Witz ein Anzeichen von Lust ist, werden wir geneigt sein, diese Lust auf die Aufhebung der bisherigen Besetzung zu beziehen.« (S. 161)

Bildlich gesprochen ist also die Psyche genau wie schon bei Spencer eine Art Dampfkessel, dessen Wände von kulturell erworbenen Hemmungen zusammengehalten werden. Da dieser Kessel aber 1290 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch über Ventile verfügt, kann der im Kessel gestaute und unter Druck stehende Betrag von Energie jederzeit abgeführt werden, sobald der Druck im Kessel zu hoch wird, wobei jedoch gemäß dem Energie-Erhaltungs-Satz nicht mehr abgedampft werden kann, als im Kessel enthalten ist. Und deshalb kann Freud auch ganz im Sinne Spencers sagen: »Der Hörer eines Witzes lache mit dem Betrag von psychischer Energie, der durch die Aufhebung der Hemmungsbesetzung frei geworden ist; er lache diesen Betrag gleichsam ab.« (S. 162)

Wie schon Spencer und Lotze muß sich aber auch Freud fragen lassen, warum diese Verwandlung von potentieller in kinetische Energie ausgerechnet als gestotterte Bewegung erfolgt und nicht als ungehemmte. Aber das scheint ihm gar nicht aufgefallen zu sein. Wir sehen also wieder, wie wenig diese physiologisch-energetische Ätiologie des Lachens den Phänomenen gerecht wird, weil sie seine spezifische Verlaufsform überhaupt nicht als das Problem sieht, das es doch ins Auge zu fassen und zu klären gilt, weil auch Freud lieber etwas »hinter« den Phänomenen suchte, als die Phänomene selbst zu untersuchen. Hier rächt sich, daß Freud die Anregungen von Ewald Hecker nicht aufgenommen hat, der bei seiner physiologischen Analyse des Lachens gerade am konvulsivischen Charakter der Lach-Bewegung angesetzt hatte. Es rächt sich hier aber auch, daß er die Anregungen von Heymans, auf die er in seinem Buch über den Witz mehrfach verweist, nur sehr selektiv aufgenommen hat, denn Heymans stellt sich in seinem Aufsatz über das Komische 133 zwar rückhaltlos hinter die Lippssche Theorie des Komischen und preist sie als dessen »endliche und definitive Lösung« (S. 31) des Problems und argumentiert mit dem Prinzip von »Verblüffung und Erleuchtung«, das Lipps in seinem Buch Komik und Humor als das generelle Prinzip des Witzes (S. 93) bestimmt hatte, operiert aber selbst eher mit der Dialektik von »Spannung und Entspannung« (S. 36 ff.) bzw. von »Erschwerung und Erleichterung« (S. 342 ff.) und kommt zu dem Ergebnis: »Die Lust am Komischen tritt momentan ein und trägt durch die Schärfe des Kontrastes zwischen starker Spannung und völliger Entspannung einen heftigen konvulsivischen Charakter; da sie auf dem

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plötzlichen Wegfall eines interessanten Bewußtseinsinhaltes beruht, ist sie mit einer merklichen Störung des psychischen Gleichgewichtes verbunden; indem neu sich herandrängende Vorstellungen alsbald das Bewußtsein wieder erfüllen, vergeht sie ebensoschnell, als sie entstanden ist, und zwar meistens für immer, da das Vorwissen um die Entspannung keine rechte Spannung der Aufmerksamkeit mehr zu stande kommen läßt.« (S. 352)

Heymans’ Argumentation pendelt also genauso zwischen energetischer und phänomenologischer Sicht hin und her, wie dies schon bei Lipps und auch in Freuds und Breuers frühem Werk über Hysterie der Fall war. Freud jedoch versteifte sich hartnäckig auf eine rein energetische Betrachtungsweise und verrannte sich somit in die Sackgasse seiner energetisch-mechanistischen Psychohydraulik. 2.14.7.1.3 Lachen als Regressionsphänomen Sehr viel anregender als diese rein physiologische Ätiologie des Lachens sind Freuds Ausführungen, wenn er das Lachen als Regressionsphänomen 134 deutet. In Anlehnung an das Biogenetische Grundgesetz 135 von Ernst Haeckel, demzufolge die Ontogenese die Phylogenese strikt wiederholt, und im Gefolge von Ewald Herings Theorie des unbewußten Gedächtnisses 136 sah Freud das Unbewußte gleichsam als ein Archiv, in dem die Erinnerungsspuren der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung aufbewahrt werden. Und ganz wie Haeckel sah er in Kindern, »Wilden« und Neurotikern unsere zeitgenössischen Vorfahren, deren rezentes Verhalten Rückschlüsse auf unser eigenes Verhalten auf früheren Stufen unserer Entwicklung zuläßt. Diesen Gedanken hatte der Darwinist James Sully als erster auch auf die Analyse des Lachens angewendet und deshalb in seinem Essay on Laughter 137 eigens das Lachen der Kinder und der »Wilden« untersucht, weil er glaubte, hier das Lachen in seiner eigentlichen, kulturell noch nicht überformten Gestalt vor sich zu haben. Freud scheint Sullys Werk nicht gekannt zu haben, argumentiert aber ganz ähnlich und sieht deshalb nicht nur in der Logik des Witzes, sondern auch im Lachen einen Rückfall in infantile Zustände und damit einen Rückfall in die Tiefen des eigenen Unbewußten. Deshalb be1292 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schreibt er in seinem Buch über den Witz zunächst einige Szenen, in denen Kinder ungehemmt Schadenfreude bekunden und fügt dann etwas zögerlich hinzu: »Gewisse Lustmotive des Kindes scheinen uns Erwachsenen (durch die kulturelle Überformung unseres Verhaltens) verloren gegangen zu sein, dafür verspüren wir unter den gleichen Bedingungen das ›komische‹ Gefühl als Ersatz für das Verlorene. Dürfte man verallgemeinern, so erschiene es recht verlockend, den gesuchten spezifischen Charakter des Komischen in die Erweckung des Infantilen zu verlegen, (das Lachen über) das Komische als das wieder gewonnene ›verlorene Kinderlachen‹ zu erfassen.« (S. 237)

Und weil für ihn das Prinzip gilt »Komisch ist das, was sich für den Erwachsenen nicht schickt« (S. 240), nehmen wir uns laut Freud eben die Freiheit heraus, beim absichtlich komischen Verhalten und beim Lachen darüber uns lustvoll in die Infantilität zurückfallen zu lassen. Dieser Gedanke ist nun sicher nicht neu, denn die horazische Maxime Dulce est desipere in loco sagt ja nichts anderes. Aber leider hat Freud diesen Gedanken nicht konsequent weiter verfolgt und auf das Lachen angewendet. Ich sage »leider«, weil er dann wohl bald auf die Lebensfunktion des Lachens als Jungbrunnen gestoßen wäre und auf die Erkenntnis, daß sich ein erfülltes Leben nur im Rhythmus von personaler Emanzipation und personaler Regression führen läßt, weil man nur im wiederholten Rückgriff auf das »Ewig Kindliche« (Goethe) der emotionalen Verödung und Verblödung entgehen kann. Aber Freud hat diese Spur wohl deshalb nicht weiter verfolgt, weil er Regression ausschließlich als Verlust und Abstieg verstand und weil er außerdem immer eher das aggressive Lachen im Auge hatte. Im Spätwerk ab Jenseits des Lustprinzips verdüsterte sich sein Welt- und Menschenbild noch weiter, bis er schließlich unversehens »in den Hafen der Philosophie Schopenhauers einlief« (Jenseits, S. 234) und sich mit der Annahme eines Todestriebes der Weltsicht der Gnosis zuwandte, derzufolge die Welt etwas ist, das auch laut Schopenhauer »besser nicht wäre« (II,134). Doch das ist schon nicht mehr unser Thema. Sehr wohl aber ist es die Frage, warum dieser überaus fruchtbare Gedanke, das Lachen als ein Regressionsphänomen zu sehen, bei 1293 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Freud so unergiebig bleibt, und das hat sicher zwei Gründe. Der eine liegt im energetischen Ansatz begründet, der schon Spencer dazu verführt hatte, Lachen als ein überflüssiges Abfallprodukt und als sinnlose Bewegung zu sehen und deshalb nicht wirklich ernst zu nehmen. Der andere Grund liegt darin, daß Freud sich zwar für das regressive Element bei der Entstehung von Lachanlässen, nicht aber beim Lachen selbst und seiner eigentümlichen Verlaufsgestalt interessierte. Es ist also wieder die Reduktion der Gelotologie auf Geloiastik, die ihn dazu bringt zu schreiben: »Das Infantile ist nämlich die Quelle des Unbewußten, die unbewußten Denkvorgänge sind keine anderen, als welche im frühen Kindesalter einzig und allein hergestellt werden. Der Gedanke, der zum Zweck der Witzbildung ins Unbewußte eintaucht, sucht dort nur die alte Heimstätte des einstigen Spieles mit Worten auf. Das Denken wird für einen Moment auf die kindliche Stufe zurück versetzt, um so der kindlichen Lustquelle wieder habhaft zu werden. (…) Es ist bloß nicht sehr leicht, dieses infantile Denken mit seinen im Unbewußten des Erwachsenen erhaltenen Eigentümlichkeiten beim Kinde zu erhaschen, weil es meist sozusagen in statu nascendi korrigiert wird. In einer Reihe von Fällen gelingt es aber doch, und dann lachen wir jedesmal über die ›Kinderdummheit‹. Jede Aufdeckung eines solchen Unbewußten wirkt auf uns überhaupt ›komisch‹.« (S. 183)

Die Formulierung komisch wirkender Wörter und Sätze wäre somit die Beute, die man bei diesem Abstieg in die eigene ontogenetische und phylogenetische Vergangenheit, bei dieser »Rückkehr des Seelenlebens auf den embryonalen Standpunkt« (S. 184) zu Tage fördert. Und die Erfahrung, daß Kinder Behauptungen wie die über die Armut der Ameisen mit größtem Ernst vorbringen, wodurch sie erste recht komisch wirken, scheint Freuds Darstellung zunächst zu bestätigen. Aber wie sollte man dann die unendliche Fülle des komisch wirkenden nicht-sprachlichen Verhaltens erklären? Ist auch der viel bemühte Sturz des Thales in die Zisterne eine »Rückkehr auf den embryonalen Standpunkt« oder das Ausrutschen auf einer Bananenschale? Und wenn man das Lachen selbst als ein Regressionsphänomen wertet, dann ist dies doch nur sinnvoll, wenn man es nicht einfach als Rückkehr zum kindlichen Verhalten sieht, sondern als momen1294 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tanen und unbedrohlichen Verlust des je aktuellen Niveaus personaler Emanzipation, also des je aktuellen Optimalverhaltens, das ablesbar ist am relativen Einbruch von Gestus und Habitus, Vultus und Spiritus, Attentio und Majestas. Doch diesem unbefangenen Blick auf die Phänomene hat Freud sich schlicht verweigert. Hätte er das Phänomen Lachen wirklich unbefangen ins Auge gefaßt, so hätte er sofort merken können, daß all diese regressiven Zusammenbrüche des Optimalverhaltens nur ganz kurzfristig erfolgen, weil man alsbald wieder erfrischt auf das gewohnte Niveau seines Verhaltens zurückkehrt. 2.14.7.1.4 Zur Kritik der energetischen Hydraulik Wenn wir nun die Bilanz aus Freuds Beiträgen zur Gelotologie ziehen wollen, so müssen wir bei dem energetisch-physiologischen Fundament ansetzen, auf dem seine Ätiologie des Lachens aufgebaut ist. Die früheste Kritik an Freuds Ätiologie des Lachens stammt von dem Psychologen und Physiologen Johannes von Kries (1853–1928) und findet sich in dem Aufsatz Vom Komischen und vom Lachen von 1925. Obwohl in diesem Aufsatz 138 der Name Freuds kein einziges Mal fällt, und der Aufsatz sich eigentlich mit Spencer befaßt, ist er doch deutlich gegen Freud geschrieben, weil alle Einwände, die von Kries gegen Spencers physiologischenergetische Ätiologie des Lachens aus der Sicht des physiologischen Wissensstandes von 1925 vorbringt, erst recht auch als Einwände gegen Freud verstanden werden können, und so dürften sie auch gemeint gewesen sein. Als besonderen Affront gegen Freud muß man es wohl auch verstehen, wenn von Kries schreibt, Spencers Ansatz sei später von Lipps und Heymans aufgegriffen worden, aber auch hier Freud demonstrativ übergeht, denn Freuds Buch über den Witz muß von Kries gekannt haben. Im Kapitel »Sperrung und Durchbruch der nervösen Energie« rekapituliert von Kries Spencers und damit auch Freuds Argumentation folgendermaßen: »Bei den Vorgängen des Zentralnervensystems können wir das Entstehen und die Umwandlung gewisser Formen ›nervöser Energie‹ beobachten. Bei den Erregungen der Sinne strömt nervöse Energie dem

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Sensorium zu. Bei der Ausführung von Bewegungen tritt nervöse Energie aus dem Zentralnervensystem hinaus, um der Körpermuskulatur zuzufließen. Ein ähnlicher Abstrom findet gegen die Eingeweide hin statt (viscerale Energie). Endlich aber sind auch die psychischen Erscheinungen selbst, intellektuelle und besonders emotionelle, in ähnlicher Weise durch hin- und herströmende nervöse Energie getragen. Ein allgemeines biologisches Gesetz (Fechners Konstanzprinzip) bringt es nun mit sich, daß zwischen den entstehenden oder zugeführten und den abströmenden Mengen nervöser Energie auf die Dauer ein wenigstens annäherndes Gleichgewicht eingehalten werden muß. Vorübergehend freilich können mehr oder weniger beträchtliche Quantitäten derselben angesammelt sein, und es ergeben sich so Zustände, die etwa als ›Ladungen‹, ›Anspannungen‹ u. dgl. bezeichnet werden können. Eigentümliche Erscheinungen ergeben sich besonders, wenn derjenige Weg, gegen den der Strom der nervösen Energie zunächst gerichtet ist, und auf dem er unter gewöhnliche Verhältnissen seinen Abzug findet, aus irgendeinem Grunde verlegt oder versperrt wird. Dann kann es dahin kommen, daß die angesammelte oder vorbereitete Ladung durchbricht und einen Abzug auf anderem Wege findet, und zwar in die Bahnen der Skelettmuskulatur. Auf weitere, hier nicht zu berührende Tatsachen gestützt, sucht es Spencer auch verständlich zu machen, daß es gerade die Wege der Atmungsmuskulatur und speziell in der Form des Lachens sind, die hierbei eingeschlagen werden. So haben wir denn in der Lachbewegung die seelische Energie zu erblicken, die, von ihrem gewöhnlichen Wege abgesperrt, gewissermaßen auf die Skelettmuskulatur durchbricht. Ich möchte, um diese Anschauung zu kennzeichnen, kurz von der Annahme einer Energiesperrung und eines Energiedurchbruchs sprechen.« (S. 241 f.)

Wie man sieht, rekapituliert Johannes von Kries hier mit dem Wortschatz des deutschen Pietismus 139 im wesentlichen das Theorie-Kapitel aus den Studien über Hysterie (S. 210–233) und die Passagen aus Freuds Buch über den Witz, in denen er seine »Denkgewohnheiten« (S. 160) über die Abfuhr der quantitativ verstandenen psychischen Energie darlegt. Freud hatte dort diese ominöse psychische Energie zwar als etwas »Unbekanntes« (S. 161) oder als eine »unbekannte Form kinetischer Energie« (Hysterie, S. 212) bezeichnet, hatte auch später noch zugeben müssen, daß die Annah1296 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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me psychischer Energie eine »Spekulation« (Jenseits, S. 209) und »ein großes X sei« 140, aber gleichwohl unbeirrt weiter damit argumentiert und sein ganzes Denkwerk darauf aufgebaut, was Johannes von Kries, da er selbst ein direkter Helmholtz-Schüler war und die reine Lehre des Meisters jenseits aller Spekulationen zu verteidigen suchte, als eine schlimme Verirrung empfunden haben muß. Den Entwurf einer Psychologie von 1895 konnte Johannes von Kries nicht kennen, weil dieser erst lange nach Freuds Tod 1950 aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde, die anderen Werke Freuds aber sehr wohl. Und hier setzt er nun mit seiner massiven Kritik an und prügelt munter auf den Sack Spencer ein, meint aber den Esel Freud, wenn er fortfährt: »Wenn wir den Spencerschen Gedanken vom Standpunkt moderner physiologischer Anschauung aus betrachten, so kann es recht zweifelhaft erscheinen, ob es zulässig ist, dem gesamten Geschehen des zentralen und peripheren Nervensystems einen solchen einheitlichen Begriff der ›nervösen Energie‹ zugrunde zu legen. Namentlich, ob wir quantitative Betrachtungen in so einfacher Form daran anknüpfen können, ob z. B. das, was an seelischer Energie im ganzen durch Denkund Gefühlsvorgänge betätigt und verausgabt wird, sich mit dem dekken muß, was durch den Energiewert der innerlichen Eindrücke als Zufuhr gegeben ist, das ist wohl zur Zeit überaus fraglich.« (S. 242)

Fünf Jahre nach Johannes von Kries wiederholte Erwin Straus (1891–1975) dessen Kritik in seiner Studie Geschehnis und Erlebnis (1930) in verschärfter Form. Der direkte Ansatzpunkt für Straus war Freuds späte Studie Hemmung, Symptom und Angst von 1926, doch die dort vorliegende quantifizierende »pseudoenergetische Betrachtung« (S. 8) psychischer Phänomene praktizierte Freud ja in all seinen Arbeiten, weshalb Straus ihm vorwirft, er verstehe ganz generell subjektive Erlebnisse als objektive Geschehnisse und verstehe sie damit fundamental falsch, denn: »Freud erklärt (…) das psychische Trauma aus dem den seelischen Energiehaushalt beherrschenden ökonomischen Prinzip. Letzten Endes ist für das psychische Trauma demnach nicht die Eigenart des Erlebnisses selbst, sondern dessen Wirkung auf den seelischen Apparat, die Störung in der Bilanz von Erregungszuwachs und motorischer Abfuhr charakteristisch.« (S. 7)

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Und das wirft für Straus sofort eine Fülle von Fragen auf: »Reiz, Reizzuwachs, Erregungsmenge, Erledigung (durch motorische Abfuhr), das sind uns allen vertraute und für viele durch ihre scheinbare Sinnfälligkeit verführerische Ausdrücke. Aber wenn wir darauf dringen, genau zu erfahren, was in unserem Falle Reiz, Erregungsmenge, (kathartische) Bewältigung bedeuten soll, so wird sich alsbald die Unzulänglichkeit dieser Ausdrücke zeigen. Kann man denn die Erregungsmenge durch irgendwelche beliebigen motorischen Entladungen zur Abfuhr bringen? Kann nicht die bloße Berichtigung einer traumatisch wirkenden Nachricht die sog. Erregungsmenge schon zum Schwinden bringen? Besteht überhaupt eine quantitative Beziehung zwischen dem ›Reizzuwachs‹ und dem, was an einer Handlung, die zu seiner Bewältigung dient, meßbar ist? Kann nicht in einer dramatisch zugespitzten Situation ein einziges Wort, ein ›Ja‹ oder ›Nein‹ schon die Spannung aufheben? (…) Blindes Toben kann ein Ersatz des Handelns sein, aber dabei tritt nicht eine ungeordnete Folge von Bewegungsabläufen mit größerer Energieabgabe an die Stelle einer geordneten Folge mit geringerem Energieverbrauch, sondern eine Handlung, die wirklichkeitsfern einen Sinngehalt symbolisiert an die Stelle einer Handlung, die ihren Sinngehalt wirklichkeitsadäquat realisiert. (…) Denn nicht die meßbare Energie sondern der Sinn eines Tuns bedeutet Erledigung oder Bewältigung von Aufgaben.« (S. 7 f.)

Und dann attackiert Straus Freuds »pseudoenergetische Betrachtung« (S. 8) prinzipiell mit dem schlagenden Argument, das wir schon von Johannes von Kries kennen: »Eine Energie, die nicht meßbar ist, und zwar prinzipiell nicht meßbar ist, nicht etwa nur, weil der derzeitige Stand der methodischen Technik die Messung noch nicht erlaubte, ist ein wissenschaftlich wertloser und irreführender Begriff. Denn mit der Hervorhebung der prinzipiellen Unmöglichkeit einer Messung ist nichts anderes gesagt, als daß der Versuch, die Psychologie auf eine nach dem Lustprinzip quantitativ regulierte Biologie zu gründen, undurchführbar ist. Der naturwissenschaftliche Begriff der Energie hat nur innerhalb des naturwissenschaftlichen Zeitsystems eine mögliche Stelle. Wer ihn auf die Psychologie anwendet, verkennt die ganz andersartige Zeitstruktur des Erlebens und ist gezwungen, die Lebensgeschichte summierend aus einzelnen Momenten aufzubauen. (…) Die energetische Betrachtung

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bannt ihn (Freud) in eine atomisierende Psychologie. Damit ist der Zugang zu allen Erlebnissen, die an eine bestimmte Bedeutungsstruktur und historische Modalität gebunden sind, wie das Trauma, letzten Endes versperrt.« (S. 8 f.)

Und das heißt wiederum: »Die energetische Betrachtung bleibt notwendig an das in der Sinnespsychologie übliche Reiz-Reaktionsschema gebunden.« (S. 9)

Dieses Reiz-Reaktions-Schema hat Erwin Straus dann in seinem Hauptwerk Vom Sinn der Sinne von 1937 einer fundamentalen und überzeugenden Kritik unterzogen. Paul Ricoeur, der Freuds Entwurf einer Psychologie schon kannte, als er 1965 seine Studie über Freud schrieb, urteilt genauso entschieden und kommt zu dem Befund, »daß nichts (von Freud) so überholt ist wie der explikative Plan des Entwurfs und nichts so unerschöpflich wie sein Beschreibungsprogramm« (S. 86), fügt aber hinzu, daß in dieser Skizze von 1895 auch schon Freuds spätere Wendung von der Energetik zur Hermeneutik angelegt sei, in der er das eigentliche Verdienst Freuds sieht, denn: »Je tiefer man in den Entwurf eindringt, desto mehr gewinnt man den Eindruck, daß der quantitative Rahmen und der neuronische Träger (psychischer Energie) in den Hintergrund treten, bis sie nur noch einen gegebenen und unmittelbar verfügbaren Bezugsrahmen bilden, welcher den Zwang liefert, dessen der Ausdruck für ungeheure (hermeneutische) Entdeckungen bedarf.« (S. 86)

Auf Freuds Defizit an phänomenologischer Hermeneutik der spezifischen Verlaufsgestalt des Lachens sind wir bereits schon gestoßen und dort habe ich seine Weigerung, das Lachen als Phänomen wirklich ernst zu nehmen, entsprechend moniert und beklagt. Doch diese Blindheit vor den Phänomenen findet sich nicht nur bei Freud, sondern, wie wir gesehen haben, auch bei all den anderen energetisch orientierten Ätiologien des Lachens. Noch entschiedener als Paul Ricoeur urteilt Dieter E. Zimmer, der sich in seinem Buch Tiefenschwindel 141 mit ätzendem Hohn über Freud hermacht, denn für ihn ist die energetische Grundlage von Freuds Metapsychologie nicht mehr bloß »überaus fraglich« oder »überholt«, sondern der bare Unsinn, »eine hoffnungslos veraltete Neurophysiologie« (S. 137), und deshalb faßt er seine Kritik 1299 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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in dem Satz zusammen: »Die psychische Energie ist das Phlogiston der Psychoanalyse« (S. 144), etwas also, das es gar nicht gibt, eine längst widerlegte Hypothese aus dem Papierkorb der Wissenschaftsgeschichte. Wie Johannes von Kries, Erwin Straus und Paul Ricoeur setzt auch Dieter E. Zimmer bei Freuds metapsychologischen Schriften an und gibt deren Argumentation, so weit ich sehe, auch korrekt wieder (S. 138–141), sodaß wir all dies hier nicht wiederholen müssen, und natürlich schließt er diese Wiedergabe genüßlich mit einem Zitat aus Jenseits des Lustprinzips ab, in dem Freud gestehen muß, daß er bei all diesen energetischen Überlegungen stets »mit einem großen X« 142 operieren müsse, weil die Natur der psychischen Energie eigentlich nicht bekannt sei. Zimmers zentrales Argument lautet: »Das Gehirn und mit ihm 143 die Psyche (ist) keineswegs ein Organ zur Sammlung und Veredelung und Beseitigung elektrischer oder sonstiger Energieformen. Es ist kein Akkumulator, sondern ein Signalsystem. Von außen fließt keine Energie ein. (…) Auch aus dem Körper fließt keine Energie ins Gehirn. Wie alle Körperzellen erzeugen sich die Nervenzellen, auch die des Gehirns, selber alle Energie, die sie zu ihrer Arbeit benötigen, und zwar schlicht dadurch, daß sie den Zucker spalten, der mit dem Blutstrom durch den ganzen Körper geschwemmt wird. Das Gehirn muß sich also auch keiner elektrischen Ladungen entledigen; es muß keine Energie ›abführen‹.« (S. 141)

Bezogen auf den Zusammenhang von »Reizschutz« und »Nirwanaprinzip« heißt dies: »Der normale Zustand der Nervenzelle ist auch nicht der ungeladene, ›unbesetzte‹: Die untätige Nervenzelle besitzt ein ›Ruhepotential‹, eine selbsterzeugte, nicht von außen in sie eingeströmte schwache elektrische Ladung.« (S. 141)

Und diese Ladung, die offensichtlich das physiologische Pendant zur Eutonie ist, kann sich situationsspezifisch erhöhen, kann sich aber auch wieder verlieren, d. h. sie kann sich uroborisch selbst verzehren: »Nicht der reizlose Zustand also ist es, den das Gehirn herstellen möchte; die Seele benötigt ein mittleres Reizniveau; sie kann gesund nur funktionieren, wenn sie ständig maßvoll stimuliert wird.« (S. 142)

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Der Zustand sensorischer Deprivation wird ja geradezu als Folter empfunden (S. 142) und ruft die wildesten Halluzinationen hervor, wie man von Gefangenen in Einzelhaft weiß. Mit einem Wort: Nicht das »Nirwanaprinzip«, die Leere des Bewußtseins, kann also das erstrebte Ziel sein, sondern die maßvoll gestimmte Eutonie und damit die Möglichkeit zur situationsgerechten Anspannung und uroborischen Entspannung, und eine der vielen Möglichkeiten, dieses Spiel von spezifischer Anspannung und uroborischer Entspannung ist eben das Lachen, aber nicht nur das Lachen diesseits der Komik, sondern weit darüber hinaus. »Aber daß das Gehirn seine – immer nur selbsterzeugten – Erregungen auch selber wieder (uroborisch) beseitigen kann, hatte Freuds Modell an keiner Stelle vor- oder vorhergesehen.« (S. 142)

Wie wir gesehen haben, klang in dem von Breuer verfaßten Theorie-Kapitel der Studien über Hysterie dies manchmal an, wenn dort z. B. von »tonischer Erregung oder Nervenspannung« (S. 212) die Rede ist, aber schon bei der Analyse der von Breuer und Freud erstrebten kathartischen Methode in der Tradition des magisch-medizinischen Katharsis-Begriffs der Antike hat sich gezeigt, daß sie Katharsis nicht als uroborische Selbstverzehrung von Spannungen aller Art, sondern als mechanischen Transport, eben als »Abfuhr« substanzhaft verstandener Energiequantitäten von »innen« nach »außen« gedeutet haben. Nach dieser wahrhaft vernichtenden Kritik am energetisch-hydraulischen Argumentationsmodell bleibt eigentlich nur noch die Möglichkeit übrig, diese Art von energetischer Argumentation mit einem Achselzucken auf sich beruhen zu lassen und tief im Papierkorb der Wissenschaftsgeschichte zu begraben. 2.14.7.2 Von Freud zu Reik oder Vom Ablachen zum Abzittern Dies gilt allerdings nicht für Theodor Reik (1888–1969) als dem ersten von Freuds Jüngern, der sich ebenfalls der Erforschung des Lachens widmete und in seiner Studie Lust und Leid im Witz 144 von 1929, in der er sechs Aufsätze zusammenfaßt, die zwischen 1301 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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1913 und 1929 entstanden sind, das Ziel verfolgte, »Freuds Forschungen nach bestimmten Richtungen weiterzuführen« (S. 5). Weil diese Weiterführung aus dem Irrgarten der Energetik hinaus führen sollte, argumentiert Reik auch nicht mehr dogmatisch energetisch im Sinne des Meisters, sondern eher psychologisch-hermeneutisch. Aber ob dies schon eine Reaktion auf die Kritik von Johannes von Kries ist, weiß ich nicht zu sagen, könnte aber gut möglich sein; aber selbst wenn es so gewesen sein sollte, hätte Reik sich gehütet, dies einzugestehen, denn Freud kannte kein Pardon, wenn einer seiner Schüler die reine Lehre verriet, denn das war immer nur seine eigene. Aufschlußreich sind für uns v. a. die beiden Aufsätze Zur Psychologie des jüdischen Witzes und Die zweifache Überraschung, in denen deutlich wird, daß Reik sich im wesentlichen an der von Lipps verwendeten Dialektik von »Verblüffung und Erleuchtung« orientiert. Im ersten Aufsatz charakterisiert Reik den jüdischen Witz als »latente Aggression« und »melancholisches Wüten« (S. 54) und zitiert dann als typisches Beispiel für diese Art von Galgenhumor auf dunklem Grund den Ausspruch eines Sterbenden: »Lachen möcht’ ich, wenn drüben auch nix wär!« (S. 54) Dann setzt er zum Entwurf einer Lachpalette an, um die strikte Anbindung des Lachens an das Komische und Lächerliche aufzubrechen und schreibt dazu: »Das Lachen ist keineswegs immer Zeichen einer verspürten Lust intellektueller Art. Wir lernen in der Analyse eine Art Lachen kennen, das sich einstellt, wenn ein Stück Verdrängtes plötzlich wiedererkannt wird; wir wissen von Fällen von Zwangslachen, das viele Nervöse bei Trauerfällen überkommt. Es gibt auch ein Lachen der Verzweiflung, ein bitteres, höhnisches, ein schmerzliches Lachen. Nichts berechtigt uns, anzunehmen, daß jenes ›Lachen möcht’ ich …‹, das der Sterbende spricht, einen Ausdruck der Heiterkeit bedeuten müsse. Wenn es aber ein solcher Ausdruck wäre, so wäre diese Heiterkeit selbst von besonderer, sozusagen schmerzgetränkter Art, schwer von einer großen Traurigkeit.« (S. 54 f.)

Dann verweist er auf den plötzlichen Stimmungsumschlag von Melancholie in Manie, der sich auf einer ganzen Skala gehobener Stimmungen manifestiert, 1302 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»von der Linie einer besonders gehobenen, still vergnügten Laune oder behaglicher Heiterkeit bis zum Gefühl überströmender Kraft oder ausgelassener Lustigkeit.« (S. 55)

Aber dann verfolgt er das Thema »Verblüffung und Erleuchtung« doch nicht systematisch weiter, möglicherweise deshalb, weil er es auf energetischer Basis nicht tun wollte, aber keine andere Basis fand, auf der es dies hätte tun können. Viel aufschlußreicher sind seine Ausführungen, wenn er in dem zweiten Aufsatz auf sein eigentliches und eigenes Thema zu sprechen kommt: dem plötzlich einbrechenden Erschrecken, das sich als ein Zittern-und-Zagen vor Autoritäten aller Art manifestiert, und dem er auch noch eine ganze Reihe anderer Untersuchungen145 gewidmet hatte. Im Jargon der Psychoanalyse ist dieses Erschrecken das Erschrecken vor den plötzlich auftretenden Forderungen und Drohungen des Über-Ichs; bei den Griechen war es der phobos, der ein ganzes Heer in panikartige Flucht versetzen konnte; und in der Sprache der Religionswissenschaftler ist es der Gottesschrecken im Sinne von Exodus 23,27, wo Jahwe seinem Volk beim Zug durch die Wüste verspricht: »Ich will mein Schrecken vor dir her senden, und alles Volk verzagt machen, dahin du kommst; und will dir geben alle deine Feinde in die Flucht.« 146

Phänomenologisch gesehen ist es die tiefe Betroffenheit beim Einbruch des Plötzlichen, wobei das Stutzen-und-Staunen bis zum Sturz in primitive Gegenwart 147 gesteigert werden kann. Und gelotologisch gesehen ist dieses Zusammenzucken die »Angstspitze« (Baader), die dann im Lachen explodiert, also genau das, was Lipps mit der glücklichen Formel »Verblüffung und Erleuchtung« benennt. Hier setzt auch Reik an und sieht die zweifache Überraschung des Witzes, die wir mit einem herausplatzenden Lachen quittieren, darin, daß wir »sowohl darüber lachen, wie er etwas sagt, als auch darüber, was er sagt. Jene zweite Wirkung wird durch die erste ermöglicht« (S. 101). Aber dieses Lachen erfolgt laut Reik immer auf dem dunklen Grund uralter und stets latenter Ängste, die bei jedem Auftritt von unerwartet Neuem wie ein Geysir plötzlich wieder hoch kochen und die Explosion des schlechten Gewissens bewirken: 1303 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Eine versunkene Angst, eine Unheilserwartung, die wir längst aus unserem Bewußtsein verbannt haben, taucht nun, durch einen plötzlichen Reiz aufgeweckt, in uns auf und gewinnt die Herrschaft über das Seelenleben. Jene Unheilserwartung ist längst, auch unter dem Einfluß rationaler Momente, unbewußt geworden; nun erscheint das traumatische Ereignis, das rasch den Menschen antritt, wie eine plötzliche Bestätigung dafür, daß die alte Angst berechtigt war. Das gefestigte Ich hat plötzlich die drohende Macht des Schicksals, dieses letzten Vaterrepräsentanten, zu verspüren bekommen und reagiert auf dieses Menetekel wie das schuldbewußte und eingeschüchterte Kind auf das plötzliche Erscheinen des Vaters.« (S. 109 f.)

Daneben gibt es für Reik aber immer auch noch »die alte unbewußte Lust, die bereit liegt und nur auf den Augenblick der Befreiung wartet« (S. 113). Hätte Reik vom Kult des Gottes Gelos in Sparta gewußt oder vom metakritischen Phobos-Lachen, mit dem man die aktuell verspürte Todesangst ekstatisch ablacht, so hätte er seine Argumentation wohl auf eine viel breitere Grundlage stellen können. Aber auch so ist Reiks Hinweis auf das kathartische Lachen jenseits des Komischen von größter Bedeutung. Dieses allfällig lauernde ambivalente Nebeneinander und Ineinander von »Gedankenschreck« (S. 110) und »Befreiungslust« (S. 110), von schreckhaftem Zusammenzucken und ekstatischer Euphorie beim »Explodieren der Angstspitze« (Baader) manifestiert sich nun laut Reik auch, wenn die Pointe eines Witzes zündet: »Die Aufeinanderfolge dieser blitzartigen Vorgänge wäre also: unbewußtes Erfassen des Witzsinnes – Erweckung der verdrängten Triebregungen – Abwehr in Form des Gedankenschreckens – Bewältigung der Angst – reaktiv verstärkte, unbewußte Befriedigung jener Triebimpulse.« (S. 112)

Und deshalb ändert Reik Freuds Formel, im Lachen werde frei gewordene psychische Energie »abgelacht«, dahingehend, daß er sagt, im Lachen würden uralte Ängste und aktueller Schrecken »abgezittert« (S. 113), um auch dem konvulsivischen Gestaltverlauf des Lachens gerecht zu werden Dann verweist er noch auf den Satz des Kanzelredners Louis Bourdaloue, mit dem schon Baudelaire seinen Aufsatz über Wesen 1304 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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des Lachens148 begonnen hatte, und demzufolge der Weise nur mit Zittern-und-Zagen lache: »Le sage ne rit qu’en tremblant.« (S. 115) Aber Bourdaloue und Baudelaire meinten damit, daß man nur mit schlechtem Gewissen lachen dürfe, wohingegen Reik meint, daß man nur aus schlechtem Gewissen lachen könne. Mit diesen Überlegungen ist Theodor Reik nun tatsächlich einen großen Schritt über Freud hinausgegangen, was ihm offensichtlich nur deshalb gelingen konnte, weil er sich von Freuds energetischhydraulischer Argumentation freigemacht und sich einer psychologisch-hermeneutisch-phänomenologischen zugewendet hatte, denn erst dies bot ihm die Möglichkeit, eine Erklärung für die konvulsivisch gestotterte Verlaufsgestalt des Lachens zu suchen, die Freud nie einer Überlegung wert war. Er hätte vielleicht noch darauf verweisen können, daß es auch den freudigen Schreck gibt, den man genauso durch Lachen »abzittern« kann wie den mit Angst besetzten. Leider hat Reiks Ansatz bei den Freudianern nicht Schule gemacht, und deshalb blieben die späteren Studien zum Lachen aus der psychoanalytischen Schule durchwegs der von Freud vorgegebenen Methode energetisch-hydraulischer Ätiologie verpflichtet, und so irren viele Freudianer auch heute noch im Irrgarten der Energetik umher und drängeln sich dort in den Sackgassen. 2.14.7.3 Von Reik zu Leroy oder Vom Abzittern zur Wiederauferstehung Reiks Idee, im Lachen das Andere der Angst zu sehen, war jedoch nicht neu, sondern findet sich schon bei Nietzsche, der als gelernter Altphilologe vom metakritischen Phobos-Lachen der Antike natürlich gewußt haben muß und der im ersten Buch von Menschliches, Allzumenschliches diesen Gedanken tatsächlich auch vorträgt, wo er das erleichterte Auflachen als uroborisch kathartische Abfuhr kreatürlicher Todesangst deutet, die zu einer ruckhaften Aufrichtung führt: »Wenn man erwägt, daß der Mensch manche hunderttausend Jahre ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Tier war, und daß alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein

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hieß, ja daß selbst später, in sozialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Tätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, daß bei allem Plötzlichen, Unerwarteten, in Wort und Tat, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, ins Gegenteil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit – der Mensch lacht.« (I,558 f.)

Diese Passage dürfte mit Sicherheit auch Reik gekannt haben, weil es im Kreis um Freud und seine Schüler zwischen 1900 und 1910 eine intensive Nietzsche-Rezeption 149 gegeben und Reik ja Philosophie studiert hatte. Diese Passage dürfte aber auch Paul Leroy gekannt haben, als er sein Buch Angst und Lachen 150 schrieb, auch wenn er dort Nietzsche und Reik kein einziges Mal erwähnt, sondern sich eher an Thomas Hobbes, dem »Zwillingsbruder der Angst« 151 orientiert, wenn er die These aufstellt, »die bewußt gewordene Todesangst« (S. 23) habe den Menschen »zur scheitelgerechten Aufstellung veranlaßt« (S. 23). »Hobbes bezeichnet das Lachen als den Ausdruck des Stolzes auf die Überlegenheit unseres Wesens, die man plötzlich gegenüber der Inferiorität fremder oder früherer eigner Schwächen bemerkt. Der letzte Teil des Satzes nähert sich beinahe unserer Auffassung. Wir legen aber Wert auf das, was wir hinzufügen und worin wir abweichen. Den Stolz auf persönliche Superiorität lassen wir nicht gelten, sondern nur die Befreiung von der allgemeinen menschlichen Angst durch Wiederherstellung unseres Gleichgewichts.« (S. 153)

Und damit ist Leroy bei seiner anderen zentrale These angelangt, auf die er seine Theorie des Lachens aufbaut, nämlich beim Aufweis der aufrechten Haltung als der zentralen Signatur des körperlichen und seelischen Gleichgewichts, das im Lachen und durch das Lachen allererst erlangt, dann aber modifiziert werden, schließlich auch mehr oder weniger verloren gehen, aber endlich doch wieder gewonnen werden kann: »Der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier ist der aufrechte Gang, die vertikale Haltung des Menschen in labilem Gleichgewicht. Man kann sich vorstellen, daß die Gewöhnung daran für einen Affen-Menschen mit schweren Anstrengungen verknüpft

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war, und daß es viele Generationen gedauert haben mag, bis eine von ihnen der aufrechten Stellung und Fortbewegung mächtig wurde. Es muß eine ernste Veranlassung vorgelegen haben, die den Strebenden an der Erreichung des Zieles nicht hat verzagen lassen. Es war die Angst vor Tod und Vernichtung, die zu diesem wichtigsten Schritt auf dem Wege der Humanisierung führte. Die aufrechte Stellung ist die Stellung des Angriffs, auch bei Tieren. Der Vor-Mensch, umgeben von größeren und stärkeren Lebewesen als er, mußte jeden Augenblick auf seine Verteidigung bedacht sein und daher dauernd in Angriffsstellung bleiben. Die Angst, die ihn hierzu getrieben hat, ist nie von ihm gewichen, und sie ist es, die ihn zwingt, das kostbarste Gut, die vertikale Stellung, zu bewahren. Es ist die Angst um das Gleichgewicht, die unser ganzes Leben beherrscht. Alles, was das Gleichgewicht ins Schwanken bringt, ist peinlich, was es erschwert, gefährlich, was es umwirft, tödlich.« (S. 21 f.)

Zu den Widerfahrnissen, die Gleichgewicht und aufrechte Haltung beeinträchtigen können, gehört für Leroy vor allem auch das Lachen, ja er bezeichnet das Lachen sogar als die »mimische Abbildung des schwankenden Gleichgewichtsspiels« (S. 136), und das heißt, daß das Lachen einerseits die angstvolle Gefährdung des Gleichgewichts mit sich bringt, andererseits aber zugleich auch die glückliche Wiederherstellung von Gleichgewicht und aufrechter Haltung bewirkt. Oder anders formuliert: Man lacht sich nicht nur krumm, man lacht sich auch wieder gerade, denn das Lachen wiederholt beides: »die Erschütterung und die Wiederherstellung des Gleichgewichts« (S. 139 f.). Und dann schreibt er unter Anspielung auf Homer im Jargon der Energetiker: »Dort wo die Alten den Sitz der Seele vermuteten, im Zwerchfell, staut sich in körperlicher Enge der angstgezwängte Lebensstrom (also die vitale Energie). Sein Drängen bewirkt den Krampf der Bauchmuskeln, der sich nach überwundenem Schock, nach Not und Ansturm versäuselt in der Geste des Lachens. Die Stauung hat sich gelöst. Beruhigt fühlt man: es war gar nicht so schlimm; und man spielt mit dem Gleichgewicht, man ahmt sein Schwanken nach, man wiederholt es im Übermut.« (S. 136)

Da Leroy äußere und »innere Haltung« 152, körperliches und seelisches Gleichgewicht immer in strikter Analogie sieht, bietet für 1307 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ihn das Lachen Mittel und Wege an, auch das innere Gleichgewicht und sogar das »Gleichgewicht unseres Weltbildes« (S. 158), das durch das Erlebnis des Komischen in ein Stutzen-und-Staunen und ein angstbereites Schwanken geraten war, wieder herzustellen, sodaß das Lachen sogar eine therapeutische Funktion bekommt: »Die vom Lachen geschüttelte, aber nicht erschütterte Festigkeit des (körperlichen und seelischen) Gleichgewichts kann sich nunmehr ohne Angst vor Gefährdung etwas zumuten.« (S. 158)

Obwohl Leroy die aufrechte Haltung als das proprium des Menschen ansieht und zum Ausgangspunkt all seiner Überlegungen bestimmt, macht er sich doch nie die Mühe nachzuprüfen, was er von der einschlägigen anthropologischen Literatur zu diesem Thema an Forschungsergebnissen hätte nutzbar machen können. Die große Studie von Buytendijk Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung 153 und der berühmte Aufsatz von Erwin Straus über die aufrechte Haltung 154 lagen 1949, als Leroy sein Buch schrieb, noch nicht vor, sehr wohl aber die grundlegende Untersuchung von Kurt Goldstein Der Aufbau des Organismus (1934), in der Goldstein ausführlich auf das Phänomen des »ausgezeichneten Verhaltens« 155 eingeht, zu dem beim Menschen eben auch die aufrechte Haltung gehört. Hier hätte Leroy fündig werden können, weil Goldstein auch ausführlich auf die Bevorzugung der Vertikalen (S. 227 ff.) eingeht. Noch fündiger hätte er aber bei Herder 156 und in Johann Jakob Engels genialer Mimik 157 werden können, die für jeden physiognomisch-phänomenologisch Interessierten eine wahre Fundgrube darstellt. All dies hat er jedoch nicht getan. Er hat leider auch nicht gefragt, wofür die aufrechte Haltung sonst noch steht, womit sie also immer strikt verbunden ist und welchen heuristischen Wert die Modifikation der aufrechten Haltung z. B. für die Klassifikation der verschiedenen Formen des Lachens haben könnte. All dies ist deshalb so enttäuschend, weil Leroy das Lachen doch ausdrücklich als die »mimische (d. h. mimetische) Abbildung des schwankenden Gleichgewichts« (S. 136) bezeichnet. Ob jemand mit konkaver Haltung in sich hineinkichert oder ob jemand beim triumphalen Auflachen in konvexer Haltung den Kopf in den Nacken wirft, ob 1308 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sich jemand bloß »biegt« vor Lachen oder ob er sich vor Lachen wälzen möchte: – all das sind Habitusvarianten, die strikt mit bestimmten Lach-Situationen verbunden sind und geradezu danach rufen, zur Klassifizierung der verschiedenen Formen des Lachens und deren Intensitätsgrade verwendet zu werden. Der erhellende Einfall, das Lachen als mimetische Signatur des schwankenden Gleichgewichts und damit zugleich auch als mimetischen Nachvollzug des Lach-Anlasses zu sehen, hat ihn leider auch nicht dazu gebracht, das allen Formen von Lachen zugrunde liegende Ambivalenz-Phänomen als zentrales gelotologisches Thema zu erkennen, das sich in der rhythmischen Hin-und-her-Bewegung oder als Bewegung-auf-der-Stelle manifestiert. Und schließlich hatte er mit der Bemerkung, im Lachen gehe das Gleichgewicht nicht nur verloren, sondern werde auch wieder zurückgewonnen, ein weiteres Thema angeschnitten, dessen Tragweite er nicht einmal annähernd zu erkennen vermochte, obwohl er doch das »angstfreie Gleichgewicht« (S. 141 f.) als den Idealzustand der Eutonie bezeichnet. Auch hier, bei der Frage nach der Lebensfunktion des Lachens und den therapeutischen Möglichkeiten, die das Lachen in sich bergen kann, stand Leroy, wie so oft, vor einem großen Tor, ohne es aufzustoßen und durchzugehen, weil er das Tor gar nicht als solches erkannte. Im Gegensatz zu vielen anderen Theoretikern des Lachens zeigt sich bei Leroy jedoch kein reduktionistischer Impuls, der eine ganz bestimmte Form des Lachens zum Lachen schlechthin verallgemeinert, – meist ist dies das Lachen als Reaktion auf das Komische –, sondern Leroy listet sehr wohl eine ganze Reihe von Varietäten des Lachens auf, wobei er aber wieder ohne erkennbare Systematik vorgeht. So verweist er ganz in der Tradition von Darwin, Sully und Freud z. B. auf die verschiedenen Intensitätsgrade des Lachens und deren Abhängigkeit von unterschiedlich hohen Graden der Entwicklung, wenn er schreibt: »Je jugendlicher und naiver nach Lebensalter, Kultur und Geist die Menschen sind, desto weitere Kreise ziehen die Wellen des Lachens. Kinder und Wilde hüpfen, johlen, tanzen und jubeln; einfache Leute schlagen sich auf die Schenkel, den Nachbarn auf die Schulter und mit der Hand auf die Tischplatte. Ihr Lachen ist laut und langdauernd da,

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wo der erwachsene, erkenntnisreiche, kultivierte Mensch seine Muskeln nur in schwächere Bewegung setzt.« (S. 135)

Aber auch hier fragt er wieder nicht systematisch weiter, ob Lachen nicht generell die mehr oder weniger stark ausgeprägte Signatur personaler Regression 158 sein könnte, sondern geht sofort weiter zur Auflistung bestimmter Gründe und Anlässe des Lachens jenseits des Komischen und nennt das Gefühl der »Befriedigung« (S. 137), das »dumme Lachen der Verlegenheit« (S. 138) und schließlich noch das durch Kitzeln, also durch einen »scherzhaften Angriff« (S. 139) ausgelöste Lachen. Die große Enttäuschung, die man empfindet, wenn man Leroys Buch durchgelesen hat, rührt wohl vor allem daher, daß hier jemand ein großes Thema und wunderbare Einfälle buchstäblich verschenkt, weil er es versäumt hat, der Frage nach der Vertikalen konsequent nachzugehen und eigens hierfür den physiognomischen Blick zu kultivieren, den man braucht, um eine derartige Fragestellung wirklich sinnvoll zu verfolgen. 2.14.7.4 Konrad Lorenz oder Lachen als Hydraulik aktionsspezifischer Energie Wie wir gesehen haben, hatte Johannes von Kries Spencers und Freuds energetischer Ätiologie des Lachens als Zusammenspiel von »Energiesperrung« und »Energiedurchbruch« äußerst skeptisch beurteilt und v. a. die mechanistische Übertragung des Energie-Erhaltungs-Satzes auf organisches und speziell auf psychisches Geschehen als »überaus fraglich« bezeichnet. Dies hat die deutsche Verhaltensforschung der dreißiger Jahre jedoch in keiner Weise davon abgehalten, aufs neue auf Spencers Energie-Hydraulik zurückzugreifen und einen neu definierten Instinkt-Begriff damit zu verbinden. Das Ergebnis war ein weiteres energetisches Szenario 159 als Zusammenspiel von »aktionsspezifischer Energie« oder »aktionsspezifischer Erregung«, »Schlüsselreizen« resp. »angeborenen Auslösemechanismen« und situationsspezifischen »Instinkt-Handlungen«, in dessen Rahmen nun auch wieder das Zusammenspiel von »Ener1310 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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giesperrung«/»Energiestau« und »Energiedurchbruch« seine Funktion fand. Entwickelt wurde dieses neue Argumentationsmodell im wesentlichen von Konrad Lorenz (1903–1989) und Niko Tinbergen (1907–1988), Lorenz dann in dem berühmten Aufsatz Über die Bildung des Instinktbegriffes 160 von 1937 präsentiert. Ausgangspunkt ist auch für Lorenz die Akt-Potenz-Lehre von Aristoteles. Vorausgesetzt wird also ein vorgegebenes Können, das gleichsam auf ein Stichwort hin aufgerufen und dann ausagiert wird, und dieses vorgegebene Können ist laut Lorenz »die instinktmäßig angeborene Bereitschaft, auf eine ganz bestimmte Reizkombination anzusprechen. Bestimmte Kombinationen von Reizen stellen oft sehr spezifisch wirkende Schlüssel zu bestimmten Reaktionen dar; diese Reaktionen können dann auch durch sehr ähnliche Reizkombinationen nicht ausgelöst werden. Es besteht also zu bestimmten Schlüsselreizen ein rezeptorisches Korrelat, das etwa nach Art eines Kombinationsschlosses nur auf ganz bestimmte Zusammenstellungen von Reizeinwirkungen anspricht und damit die Instinkthandlung in Gang bringt.« (TMV I,299)

Diese rezeptorischen Korrelate nennt Lorenz auch »angeborene Auslöse-Schemata« (S. 299) oder »angeborene Auslöse-Mechanismen (AAM)« (S. 299), die, ähnlich wie Reflexe, sich bei bestimmten Reizen ganz automatisch einstellen, sich als Automatismen von puren Reflexen aber in etwa so unterscheiden wie ein musikalisches Motiv von einem einzelnen Ton, weshalb Lorenz auch das Wort »Reflex« in diesem Zusammenhang mit Recht meidet und lieber von »Instinkthandlung« (TMV I,328 ff.) spricht. Damit eine derartige Instinkthandlung als automatische Antwort auf einen Schlüsselreiz hin tatsächlich erfolgt, muß dieser Schlüsselreiz nicht nur die entsprechende Reizkombination enthalten, sondern diese Reiz- oder Erregungs-Kombination muß auch in der nötigen Intensität angeboten werden, damit der entsprechende »Erregungsdruck« (TMV I,332) entsteht, der dann die jeweilige Instinkthandlung in Gang setzt. In der Wortwahl von Konrad Lorenz merkt man schon, wie sehr auch er in den Vorstellungen der aristotelisch-cartesischen Physik befangen ist, die alle Bewegungen als Stoßbewegung versteht, obwohl diese Metaphorik von Stoß und Druck hier gar nicht zwingend nötig wäre. 1311 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Ganz anders und viel eingängiger argumentiert z. B. Rudolf Bilz (1898–1976) im Kapitel über »Trieb, Instinkt und Reflex« in seinem Werk Pars pro toto von 1940, wenn er das Wortfeld »Szene/ Stichwort/Schauplatz/Auftritt« (S. 28 ff.) verwendet, denn auf der Grundlage dieser theatralen Metaphorik läßt sich nun sagen: Das Stichwort für den Auftritt darf nicht zu leise sein, sonst bleibt der Schauspieler in der Kulisse stehen und die Szene kommt gar nicht zustande. Bleibt dieser erwartete Schlüsselreiz aber über längere Zeit aus, so »staut« sich laut Lorenz die für die Ausführung der Instinkthandlung bereitgestellte Energie und es kommt »zu einem reizunabhängigen Hervorbrechen der Instinkthandlung«, zu einer »Leerlaufreaktion« (TMV I,332) oder »Übersprungbewegung« 161, denn: »Bei höheren Graden allgemeiner Erregung kommt es vor, daß Instinktbewegungen, die ihrem eigentlichen arterhaltenden Sinne nach gar nicht zu der betreffenden Situation gehören, sozusagen ›irrtümlich‹ ausgelöst werden. Besonders scheint dies dann stattzufinden, wenn die normale, der Situation adäquate Bewegung aus irgendwelchen Gründen am Ablauf verhindert wird. Dann ›springt‹ die spezifische Erregung sozusagen in eine andere Bahn ›über‹, und es erfolgt eine ebenso unerwartete wie unpassende Bewegungsweise. Auch der Mensch zeigt viele Beispiele für diesen Vorgang. Am bekanntesten ist das Kopfkratzen bei Verlegenheit. (…) Ganz ebenso, wie die von einer ›autochthonen‹ Reaktionsenergie hervorgebrachten (situations-adäquaten) Intentionsbewegungen durch optisch wirksame ›mimische‹ Übertreibung kennzeichnender Bewegungsphasen zu bizarren Symbolen ihrer selbst werden, so können auch die durch ›Übersprung‹ aktivierten Bewegungen in ihrer stammesgeschichtlichen Höherentwicklung einer so starken Formalisierung unterliegen, daß wir wie bei jenen die vergleichende Untersuchung vieler verwandten Formen brauchen, um ihren Ursprung entschleiern zu können.« (TMV II,20 f.)

Damit ist Lorenz an dem Punkt angelangt, sein energetisches Gesamtszenario vorstellen zu können und entwirft deshalb ein »Psychohydraulisches Modell« 162, das sich von dem Freudschen »Abfuhr«-Modell oder von Spencers Dampfmaschinen-Physiologie faktisch in nichts unterscheidet. Und genauso wie Sigmund Freud 1312 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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über das »unbekannte große X« der psychischen Energie mit etwas schlechtem Gewissen sprach, dann aber trotzdem weiterhin munter damit argumentierte, so muß auch Konrad Lorenz mit einer captatio benevolentiae erst einen kleinen Anlauf nehmen, um seine Hydraulik aktionsspezifischer Erregungsenergie vorzustellen: »Ich bin im allgemeinen kein großer Freund physikalischer Denkmodelle für biologische Vorgänge, weil man durch sie allzuleicht in dem Glauben gewiegt werden kann, man habe einen Vorgang voll kausal-analytisch erfaßt, von dem man in Wirklichkeit nur ein sehr unvollkommen zutreffendes Modell verstanden hat. Trotzdem glaube ich, mit obigem Vorbehalt, ein physikalisches Gleichnis dafür gebrauchen zu dürfen, wie sich die Instinkthandlung und die sie auslösenden Reize bei und zwischen den Abläufen verhalten. Wir haben schon mehrmals gleichnismäßig von einem ›Erregungsdruck‹ gesprochen, und tatsächlich verhält sich das Tier während der Zeit, in der ein bestimmter Ablauf ungebraucht bleibt, ganz genauso, als würde irgendeine reaktionsspezifische Energie kumuliert. Es ist, als würde ein Gas dauernd in einen Behälter gepumpt, in dem der Druck daher kontinuierlich im Wachsen ist, bis es unter ganz bestimmten Umständen zu einer Entladung kommt. Die verschiedenen Reize, die zur Entladung des kumulierten ›Erregungsdruckes‹ führen, möchte ich als Hähne symbolisieren, die das angesammelte Gas wieder aus dem Behälter strömen lassen. Dabei entspricht der adäquate Reiz, genauer gesagt, die adäquate Kombination von Reizwirkungen, einem einfachen Hahn, der den Druck im Behälter bis auf das Maß des Außendruckes zu erniedrigen imstande ist. Allen anderen, mehr oder weniger unadäquaten Reizen, entsprechen Hähne, denen ein Hindernis in Gestalt eines Federventiles vorgeschaltet ist, das erst von einem bestimmten Binnendruck aufwärts Gas ausströmen läßt. Daher vermögen diese Hähne den innerhalb des Behälters herrschenden Druck nie vollständig zu entspannen, und zwar um so weniger, je stärker die Feder des vorgeschalteten Ventiles ist, d. h., je unähnlicher der auslösende Ersatzreiz der normalen, adäquaten Reizsituation ist. Die rasche Ermüdbarkeit, die der instinktmäßige Ablauf bei unadäquater Auslösung zeigt, läßt sich auf diese Weise sehr gut und wahrscheinlich auch in einer ihr Wesen treffenden Weise versinnbildlichen. Unser Vergleich hinkt aber in bezug auf einen wichtigen Punkt, weil er die Leerlaufreaktion nicht, oder nur schlecht

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modellmäßig darzustellen vermag. Das elementare, geradezu explosive Hervorbrechen der Reaktion, welches das Tier bis zur Erschöpfung ›auspumpt‹, läßt sich unmöglich als ein Druckablassen durch eine Art Sicherheitsventil darstellen; es ließe sich am besten noch durch ein Platzen des ganzen Behälters versinnbildlichen.« (TMV I,334 f.)

Das für unsere Fragestellung zentrale Thema ist natürlich die energetische Ätiologie der »Leerlaufreaktion« und das »elementare, geradezu explosive Hervorbrechen« der Reaktionen, durch die ein Lebewesen »bis zur Erschöpfung ausgepumpt« wird, weil damit auch die von Lorenz angebotene energetische Ätiologie des herausplatzenden Lachens formuliert ist. Lachen erscheint also auch bei Lorenz als eine »sinnlose Instinkthandlung« und als eine »objektlos ablaufende Leerlaufreaktion« (TMV I,340), deren biologischer Sinn allenfalls in der Abfuhr überflüssiger oder gefährlich bedrängender Erregungsenergie besteht, weil der Organismus sonst zerrissen werden würde. Lachen hätte hier, wie schon bei Hecker, eine apotropäische Funktion und wäre damit das Anzeichen einer existentiellen Krise. Weil es aber zugleich auch die Bewältigung dieser Krise ist, die die Zerstörung des Organismus verhindert und sogar zu dessen Regeneration führt, hinkt das von Lorenz angebotene physikalische Modell gleichsam auf allen Füßen. Trotzdem hat er es aber immer beibehalten. War schon Zimmers Kritik an Freud vernichtend, so ist es die von Gerhard Roth am psychohydraulischen Modell von Lorenz und seiner Schule nicht minder 163, weil auch die Lorenz-Schule genauso weit hinter dem ihr schon möglichen physiologischen Wissensstand zurückgeblieben war wie dies bei Freud und den Freudianern der Fall war, und so darf man auch hier das böse Diktum Zimmers übernehmen und sagen: Die aktionsspezifische Energie ist das Phlogiston der Verhaltensforschung. Das sieht wohl auch Gerhard Roth so, wenn er schreibt: »Ein Modell instinktiven Verhaltens, sofern es die oben genannten Steuermechanismen zwischen Außenreizen, propriozeptiven Reizen, angeborenem Auslösemechanismus und Instinktzentrum berücksichtigt, kann ohne die Annahme einer aktionsspezifischen Energie und der ihr von Lorenz zugeschriebenen Triebstaueigenschaften auskommen. Aufgrund der heutigen Erkenntnisse aus der Neuro- und Stoff-

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Hydraulisches Modell nach Lorenz, wiedergegeben in KdV, S. 160. wechselphysiologie läßt sich sagen, daß die im Verhalten eines Organismus verbrauchte Energie relativ unspezifisch ist; ebenso relativ unspezifisch sind auch die bei der Übertragung von Impulsen im Nervensystem auftretenden elektrischen und chemischen Prozesse. Spezifisch ist offenbar allein die neurale Information, die in verschiedenen Energieformen verschlüsselt sein kann. Auf die Information als solche lassen sich jedoch keinerlei Vorstellungen von Stau-Phänomenen anwenden; gerade mit der Tatsache, daß Information – zumindest in hochmolekularen Strukturen – fast beliebig lange gespeichert und je nach Bedarf mehr oder weniger schnell abgerufen werden kann, ohne dabei zerstört zu werden, ist die Möglichkeit eines Informations-Staus analog zum Energiestau im Lorenzschen Modell unvereinbar.« (KdV, S. 188)

Und so versenken wir also auch das energetische Argumentationsmodell von Konrad Lorenz genauso tief im Papierkorb der Wissenschaftsgeschichte wie wir dies mit Freuds energetischem Argumentationsmodell getan haben. Dies können wir auch mit gutem Gewissen tun, weil beide Ar1315 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gumentationsmodelle in ein und demselben Paradigma verwurzelt sind, das Wolfgang Wieser als die »Antriebstheorie des Verhaltens« (S. 34) bezeichnet: »Diese Verwurzelung drückt sich am deutlichsten darin aus, daß die Wechselbeziehung zwischen Organismus und Umwelt implizit oder explizit als die Auseinandersetzungen eines in dunklen Tiefen entspringenden Stromes mit irgendwelchen Hindernissen angesehen wird, die ihn aufstauen und auf mannigfache Art umleiten und ablenken können. Diese Strom- oder Triebtheorie teilt die Ethologie mit der Freudschen Psychoanalyse, wenn auch das Problem der Quellen von diesen beiden Lehren unterschiedlich behandelt wird: Die Ethologen lokalisieren sie in den Genen, die klassischen Psychoanalytiker im ›Charakter‹, wobei über dessen Beziehungen zu den Genen keine definitiven Aussagen gemacht werden.« (S. 34 f.)

Und die Wurzeln dieses Triebmodells sieht Wieser in den »alten Lebenskraftvorstellungen« (S. 35) aus dem 18. und 19. Jahrhundert, auf die wir ja ausführlich eingegangen sind. Und nun müßte auch deutlich geworden sein, warum wir so weit ausholen und so tief ins 18. Jahrhundert zurückgehen mußten. In der Generation der Verhaltensforschung nach Konrad Lorenz scheint sich jedoch ein ähnlicher Emanzipationsprozeß vom energetisch-hydraulischen Denkmodell wie in der psychoanalytischen Schule nach Freud vollzogen zu haben, sodaß man in den jüngeren Arbeiten von Stau und Durchbruch aktionsspezifischer Erregungsenergie kaum noch spricht. Ablesbar ist dies z. B. an den Arbeiten von Irenäus Eibl-Eibesfeldt 164, der diese energetische Begrifflichkeit eigentlich nur noch verwendet, wenn er ältere ethologische Literatur referiert. Am Postulat einer angeborenen Aggressivität als einem proprium hominis hält aber auch er fest, und damit letztlich am klassischen Antriebsmodell, demzufolge jedoch nicht mehr eine irgend geartete Lebenskraft als Antrieb allen Verhaltens fungiert, sondern ein Aggressionstrieb, der sich in vielfältigsten Metamorphosen manifestiert und zum Verhalten antreibt. So gesehen sind also auch die bisher dargestellten gelotologischen Beiträge der zweiten Generation der Lorenz-Schule durchaus enttäuschend. Ob dieser Befund korrigiert werden muß, wird sich zeigen, wenn wir im Kapitel über Darwin erneut auf die Ethologie 1316 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zurückkommen, denn dort wird zu prüfen sein, ob und in welcher Weise das Antriebs-Paradigma durch andere Argumentationsmodelle überwunden werden kann. 2.14.8 Bilanz Wie wir gesehen haben, beruht die energetisch orientierte Gelotologie darauf, den Energie-Erhaltungs-Satz auch auf Organismen zu übertragen und zu diesem Zweck eigens das Walten einer organischen Energie zu postulieren, für die der Energie-Erhaltungs-Satz in gleicher Weise gilt wie für mechanische, chemische, elektrische und magnetische und thermodynamische Prozesse auch. Dieses Prinzip der Helmholtz-Schule wurde nicht nur von den Mitgliedern der »Generation von 1820« und ihren direkten Schülern in ein wissenschaftliches Forschungsprogramm umgesetzt, sondern von Wilhelm Ostwald (1853–1932) in seinen Vorlesungen über Naturphilosophie von1901 165 auch einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Ostwald postulierte hier eine Vielzahl von Energieformen (vgl. S. 228 ff.), die er geradezu hymnisch besang, und sprach deshalb auch von »vitaler Energie« (S. 312 ff.), »Nervenenergie« (S. 381 ff.) und »geistiger Energie« (S. 577 ff.), ja er ging sogar so weit, die Energie als die einzig existierende Substanz zu postulieren, sodaß für ihn letztlich alles irgendeine Form von Energie war. Dieser Energie-Monismus scheint für viele seiner Zeitgenossen faszinierend gewesen zu sein, sodaß er bald als »der Führer der energetischen Schule« 166 galt. Dieser inflationäre Gebrauch des Wortes »Energie« führte aber auch schon bald zu entschiedener Kritik. So ging z. B. Hans Driesch (1867–1941) bereits 1907 in seinen Gifford-Vorlesungen, die er ein Jahr später unter dem Titel Philosophie des Organischen als Buch herausgab, mit Ostwald hart ins Gericht. Die für unser Thema wichtigsten Passagen dieses Werks sind die, in denen Driesch zu einer ganz neuen Art von Naturphilosophie ansetzt (S. 391 ff., v. a. S. 421 ff.) und zum Konzept der Lebenskraft zurückkehrt, wobei er jedoch das Wort »Lebenskraft« strikt vermeidet, um sich deutlich sowohl von den Energetikern aller Art als 1317 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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auch von der romantischen Naturphilosophie abzusetzen, und deshalb den aristotelischen Begriff der Entelechie verwendet. Und dann wirft er die Frage auf: »Ist es in irgend einem, selbst einem künstlichen und unnatürlichen Sinne möglich, von einer subsidiären oder potentiellen Energie zu sprechen, die mit dem Naturfaktor, welchen wir Entelechie nennen, identisch wäre?« (S. 426)

Seine Antwort auf diese rhetorische Frage ist natürlich ein klares Nein, und deshalb polemisiert Driesch ganz heftig gegen das Postulat einer organischen oder vitalen Energie und schreibt voller Hohn: »Daß die fragliche (vitale) Energie subsidiär wäre, würde nicht ohne weiteres gegen sie sprechen. Die sogenannte chemische Energie ist das auch: es wird die Differenz zwischen zwei Beträgen von thermischer Energie ›chemische‹ potentielle Energie genannt – das ist alles. Aber die vitalistische Energie würde freilich in einer Beziehung eine sehr sonderbare Energieart sein: sie wäre nämlich vollständig unentdeckbar, da sie sich ja nicht als Differenz zwischen zwei entdeckbaren Energien darstellen soll. Überall wenigstens, wo es eine ökonomische Gleichung gibt (d. h. wo der Satz von der Erhaltung der Energie als Ökonomie-Prinzip gilt), würde gar kein Platz für eine ›neue‹ Energie sein. Eine vitalistische Energie würde daher nur einen Durchgangs- oder Umwandlungspunkt bekannter Energien bezeichnen und würde in keiner Weise stapelfähig sein. Aber auch das wäre noch keine absolute Schwierigkeit.« (S. 426)

Das aber heißt, daß das Spiel von Energie-Stau und EnergieDurchbruch bei vitaler Energie gar nicht denkbar ist, und deshalb fährt Driesch fort und verweist auf eine weitere und noch schwerer wiegende Aporie beim Konzept organischer Energetik: »Es gibt nun aber noch eine weitere Schwierigkeit gegen die Auffassung der Entelechie als eines Typus der Energie; und diese ist absolut. Alle ›Energien‹, seien sie wirklich bekannt oder seien sie erfunden, um das allgemeine energetische Schema zu vervollständigen, sind Quantitäten, und beziehen sich auf Phänomene, zu deren Kennzeichen Quantität gehört. Indem diese Phänomene als energetische angesehen werden, wird gleichzeitig behauptet, daß es ein Mehr oder Weniger von ihnen geben kann, und daß dieses Mehr oder Weniger in deutlicher

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Weise die Fähigkeit besitzt, meßbar zu sein, indem es einem Mehr oder Weniger an wirklicher ›Arbeit‹ äquivalent ist. Aber der Entelechie (Lebenskraft) fehlen alle quantitativen Kennzeichen: Entelechie erschöpft sich in Ordnungsleistungen und in nichts anderem.« (S. 426)

Da die von den Energetikern immer wieder beschworene Abfuhr von Nerven-, Erregungs-, Affekt- oder aktionsspezifischer Energie aber in keiner Weise meßbar ist und weil auch keiner der Energetiker eine diesbezügliche Maßeinheit angeben konnte, was Freud selbst ja auch zugeben mußte, weshalb er sich gezwungen sah, hier von einem »großen X« zu reden, gilt laut Driesch: »Es ist also nicht nur ziemlich nichtssagend, von einer vitalen Energie zu sprechen, wie es ja in gewisser Hinsicht auch nicht eben allzuviel bedeutet, andere Arten potentieller Energie zu erfinden, sondern es ist geradezu falsch und widerspricht den Grundprinzipien aller Definition und der Terminologie.« (S. 427)

Und deshalb kommt der Vitalist Driesch zu dem Schluß: »Ich lehne also so entschieden wie möglich jede Art von ›energetischem Vitalismus‹ ab.« (S. 427)

Wie man sieht, sind Drieschs Argumente gegen das Postulat einer organischen Energie schlagend und hätten auch von Freud und Lorenz sowie ihren Schülern akzeptiert werden müssen. Das war aber durchaus nicht der Fall, denn noch Jahrzehnte nach Drieschs vernichtender Kritik hielten die Energetiker unbeirrt weiter am Postulat einer organischen Energie fest. So zitiert z. B. Arthur Koestler (1905–1983) noch 1968 wohlwollend zustimmend die energetisch orientierte Theorie des Lachens des englischen Psychologen Cyril Burt (1883–1971), die zu dem Ergebnis kommt: »Lachen kann als Sicherheitsventil für den Überschuß an Affektenergie angesehen werden, die unbewußt bei der Wahrnehmung einer spezifischen, den Instinkt automatisch reizenden Situation angeregt wird, bei deren näherer Betrachtung sich jedoch erweist, daß sie keinerlei energetische Aktion erfordert. (…) Das Ventil des Lachens ist dazu da, die überschüssige Affekterregung augenblicklich zu entladen.« 167

Die letzten Epigonen der energetischen Schule Wilhelm Reich (1897–1957), Hans Hass (geb. 1919) und Georges Bataille (1897–1962) haben sogar noch in den fünfziger und sechziger Jah1319 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ren neue Arten vitaler Energie erfunden und hoch spekulative Denkgebäude auf dem Postulat dieser kosmisch-organischen Fluida errichtet: Wilhelm Reich erfand das »Orgon« 168, Hans Hass das »Energon« 169 und Georges Bataille baute Bergsons Postulat einer kosmischen Lebensenergie zu einer kosmisch-organischen Ökonomie 170 aus, die ebenfalls auf dem Spiel von Sammlung, Stauung und Verausgabung (dépense) von Energie beruht. Daß all dies geschehen ist, muß Gründe haben, die dazu verführen, dies zu tun, obwohl es doch genügend Gründe gibt, dies nicht zu tun. Aber worin liegt diese Verführung? Warum klingt das hier postulierte Zusammenspiel von allmählichem Energie-Stau und plötzlicher Energie-Abfuhr auf den ersten Blick so plausibel? Die Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir Burts oben zitierte Bilanz nochmal prüfen, in der er einmal von einem »Überschuß an Affekt-Energie« spricht und dann von einer »überschüssigen Affekt-Erregung«. Freud und Lorenz hatten, wie wir gesehen haben, beide Begriffe immer synonym verwendet, und so verstand es sicher auch Burt. Aber wenn man dies tut, so überlagern sich zwei ganz unterschiedliche Arten von Argumentation, deren eine im Sinne von Erwin Straus von einem energetischen Geschehnis spricht, die andere aber von einem affektiven Erlebnis. Das aber heißt wiederum, daß ein affektives Erlebnis zwar als affektives Erlebnis empfunden, aber als energetisches Geschehnis gedeutet und dadurch anscheinend objektiviert wird, aber eben nur scheinbar und nur vermeintlich objektiviert wird. Mit anderen Worten: Das eigene subjektive Erleben wird als ein objektives Geschehen wahrgenommen, dessen Zeuge man ist wie ein unbeteiligter Zuschauer, und der gespürte schlagartige Wechsel von Anspannung und zu Entspannung, das »Explodieren der Angstspitze« (Baader) scheint die These zu bestätigen, hier werde tatsächlich ein Quantum von meßbarer angestauter Energie von »innen« nach »außen« abgeführt, beweist diese These aber in keiner Weise. Denn wäre es tatsächlich so, so müßte man auch messen können, um wieviel schwerer uns alle Glieder bei Erschöpfung werden oder um wieviel erleichtert wir uns fühlen, wenn wir einer kritischen Situation entkommen sind oder wie lang uns die Zeit beim Warten wird. Doch diese Meßgeräte und Maßeinheiten gibt es 1320 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

eben nicht und kann es auch nicht geben, denn Erlebnisse können eben nicht als Geschehnisse quantitativ objektiviert werden. Wenn wir nun zur Kritik von Hans Driesch und Johannes von Kries am energetischen Argumentationsmodell noch die oben schon zitierte von Gerhard Roth und Dieter E. Zimmer hinzunehmen, so bleibt unterm Strich die ernüchternde Bilanz, daß die Energetiker sich tatsächlich in einem ausweglosen Irrgarten verrannt haben. Dies wird noch deutlicher, wenn wir die Kritik von Hanna-Maria Zippelius und Norbert Bischof hinzufügen. Zippelius nennt die energetisch orientierte Ethologie im Stil von Konrad Lorenz eine rundum »vermessene Theorie« 171, weil es ihr bisher noch nie gelungen ist, ihre Thesen experimentell zu untermauern. Nachdem Zippelius erst eine ganze Reihe von Experimenten geschildert hat, die leider ganz und gar nicht im Sinne der Theorie verlaufen sind, sondern sie eher falsifiziert haben, kommt sie zu der ernüchternden Bilanz: »Eine Theorie, die für jedes beliebige Protokoll eine ›Erklärung‹ liefert, ist empirisch gehaltlos, d. h. sie ist für ein empirisches Fach wertlos.« (S. 229)

Das gilt aber nicht nur für die Verhaltensforschung von Konrad Lorenz im ganzen, sondern zugleich auch für deren energetische Grundlage, d. h. für das Postulat einer aktionsspezifischen Energie, die angeblich das Appetenzverhalten antreibt, um bestimmte ererbte Instinkte in Gang zu setzen, und hier kommt Zippelius zu dem vernichtenden Befund, daß die ominöse aktionsspezifische Energie einmal als unerschöpfliche Lebenskraft, dann aber wieder als begrenztes Energie-Quantum verstanden wird, wie es eben gerade paßt: »Das ›spontane‹ Appetenzverhalten wird durch die Triebenergie einer Erbkoordination in Gang gesetzt, verbraucht aber selbst keine Triebenergie. Diese Annahme ist rein intuitiv verständlich, da anderenfalls bei andauerndem Appetenzverhalten die Triebenergie aufgebraucht sein könnte, ehe das Ziel des Apppetenzverhaltens, die auslösende Situation für die Erbkoordination, erreicht ist. Es könnte auch eintreten, daß die auslösende Situation zwar noch durch die Appetenz erreicht würde, daß aber dann nicht mehr ausreichend aktionsspezifische Energie zur Durchführung der angestrebten Erbkoordination als Endhand-

1321 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lung vorhanden wäre. Insofern erscheint es sinnvoll festzulegen, daß Appetenzverhalten keine aktionsspezifische Energie verbraucht. Aus dieser Annahme ergeben sich eine Reihe von Problemen. So wird in der Theorie nichts darüber ausgesagt, wie das Appetenzverhalten durch die spezifische Energie einer Erbkoordination angetrieben wird. Setzt sich das Appetenzverhalten aus einer oder mehreren Erbkoordinaten zusammen, so verbrauchen sie – im Gegensatz zu der Erbkoordination, in deren Diensten sie eingesetzt sind – weder eigene Triebenergie, noch die der Erbkoordination, durch die sie angetrieben werden. Ist eine dieser Erbkoordinationen das Ziel der Appetenz, so verbraucht sie dagegen Triebenergie. Somit gibt es zweierlei Erbkoordinationen, je nachdem, welche Funktion ihnen vom Betrachter zugewiesen wird. Wird eine Erbkoordination als zugehörig zum Appetenzverhalten interpretiert, so kann sie ohne Einschränkung beliebig lange ausgeführt werden. Gilt sie als Ziel des Appetenzverhaltens, so unterliegt sie den Restriktionen, die die Theorie vorgibt, wie Triebstau und aktionsspezifische Ermüdung. Es entsteht der Eindruck, daß man sich mit einer rein phänomenalen Beschreibung dieser Zusammenhänge zufrieden gibt, ohne die Konsequenzen einer solchen willkürlichen Festlegung, welcher Erbkoordination eine Rückwirkung auf den Antrieb zukommt und welcher nicht, im Rahmen der Theorie zu bedenken.« (S. 89 f.)

Offensichtlich ist dieses fatale »Auseinanderklaffen von Theorie und Empirie« (S. 228) den energetisch orientierten Ethologen nie völlig bewußt geworden, weil sie nie den Versuch unternommen haben zu klären, um welche Art von Energie es sich bei dieser sogenannten »aktionsspezifischen Energie« eigentlich handle und wie sie eigentlich gemessen werden könnte, denn: »Ein Schlüsselexperiment, in dem einerseits der Anstieg der speziellen Triebenergie einer Erbkoordination in Abhängigkeit von der Zeit unter kontrollierten Versuchsbedingungen gemessen wurde, wie ebenso der Abbau der Energie durch ein- oder mehrmaliges Agieren, liegt bis jetzt nicht vor. Einer kritischen Betrachtung können die zum Thema ›Messung der Motivation‹ vorgelegten Arbeiten nicht standhalten. Dagegen liegen sehr viele Befunde vor, die offensichtlich im Widerspruch zur Theorie stehen.« (S. 229 f.)

Und damit hätte sich die energetisch orientierte Ethologie tatsächlich als eine im mehrfachen Sinn »vermessene« Theorie enthüllt. 1322 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

An diesem wunden Punkt der Theorie setzt auch der Verhaltensforscher Norbert Bischof an, der zu dem Ergebnis kommt: »Alle Rede von ›Energie‹, im Singular oder Plural (ist) im Grunde nur eine Metapher. Was uns wirklich interessiert, ist der Kausalnexus, das System der Wirkungszusammenhänge. Natürlich wird bei jeder Sinnesreizung, bei jeder Nervenerregung, bei jeder Muskelzuckung auch Arbeit geleistet, und die braucht Energie. Aber es handelt sich hier stets um ganz banale Stoffwechselenergie, die nicht das Geringste mit dem zu tun hat, was in den verschiedenen Literaturen als ›Libido‹, ›Aktivation‹ oder meinetwegen auch als ›aktionsspezifische Energien‹ geführt wird. (…) Was wirklich zählt, läßt sich einfach so ausdrücken: Ein Motiv von der und der Stärke verursacht eine Leistung von dem und dem Umfang. Wenn hier quantitative Zusammenhänge bestehen, dann gewiß nicht, weil von der Ursache zur Wirkung Energie fließt.« 172

Wolfgang Wieser greift in seiner Kritik der Verhaltensforschung noch etwas weiter aus, wenn er schreibt: »Wahrscheinlich hat der deutschen Ethologie nichts so sehr geschadet wie die verschwommene Grenzziehung zwischen den Begriffen ›Instinkt‹, ›Spontaneität‹ und ›reaktionsspezifische Energie‹. Was immer heutzutage unter ›Instinkt‹ verstanden werden soll: diesem Begriff muß doch immer die Vorstellung zugrunde liegen, daß es sich hier um – ererbte – Verhaltensmuster oder um für bestimmte Verhaltesweisen verantwortliche zentralnervöse Programme handelt. Unabhängig davon gibt es auch noch spontan, also ohne Reizung von außen, ablaufende nervöse Prozesse. (…) Es war nun ein besonders unglückseliger Gedanke einiger Ethologen, diese Spontaneität nervöser Entladungsmuster mit der Existenz geschlossener, als ›Instinkte‹ bezeichneter Verhaltensprogramme zu identifizieren und darüber hinaus die Tatsache der spontanen Impulsentladungen in Nervenzellen als Beweis für die Existenz ›reaktionsspezifischer Energien‹ anzusehen. Der Gedankengang läuft da etwa folgendermaßen: ›Nervenzellen sind spontan aktiv; dies ist der Ausdruck spezifischer energetischer (weil elektrochemischer) Prozesse; Instinkthandlungen laufen ebenfalls spontan ab, denn sie sind ja von Außenreizen unabhängig; Instinkthandlungen sind also Ausdruck spontaner, reaktionsspezifischer Energien.‹« (S. 36 f.)

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Denn: »Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Verhalten durch spezifische oder unspezifische Energien im Zentralnervensystem gesteuert wird, ja daß es so etwas überhaupt gibt. Spezifisch ist allein die Information und ist die nervöse Struktur, in der sie wirksam wird. Es sollte also prinzipiell nicht mehr von Kräften, Trieben oder Energien als den Quellen spezifischer Verhaltensweisen gesprochen werden, sondern von nervösen Strukturen und informationsverarbeitenden Prozessen.« (S. 40)

Und das heißt für uns methodologisch gesehen, daß auch wir unser Augenmerk hinfort mehr auf das Zusammenwirken von Programmen, Szenarios, Automatismen und Situationen zu richten haben werden, durch das Lachen ausgelöst und geprägt werden kann. Was also bleibt? Eigentlich nur das, was die physiologisch-energetisch orientierten Gelotologen vor und nach Freud und Lorenz trotz ihrer energetischen Orientierung und unabhängig davon übers Lachen herausgefunden haben. Ich denke da z. B. an Ewald Heckers Entdeckung, Lachen sei die Signatur einer Krise, habe eine ambivalente Struktur und könne eine apotropäische Funktion haben. Ich denke auch an Bergsons genaue Analyse des zynischen Auslachens, an Freuds genaue Untersuchung des tendenziösen Witzes und seinen energischen Hinweis auf den regressiven Charakter des Lachens. Ganz wichtig ist ebenfalls Reiks Hinweis auf die dunklen Gründe, aus denen das Lachen kommen kann, sodaß bestimmte Formen von Lachen auch als das Abzittern des Schreckens fungieren können. Wir sehen also, daß gerade dort, wo das Lachen nicht als energetisches Geschehnis, sondern als affektives Erlebnis angesehen wird und dadurch eine uroborisch kathartische Lebensfunktion zugewiesen bekommt, der Gewinn an gelotologischen Erkenntnissen besonders hoch ist. Es gibt aber noch einen zweiten fundamentalen Irrtum, den sich die Energetiker geleistet haben, und dieser besteht darin, daß sie das Lachen nur als Abfuhr irgendwelcher Energien angesehen, aber nicht nach einem antagonistischen Prinzip gefragt haben, das dieser Abfuhr in irgendeiner Weise hätte entgegenwirken und damit die spezifische Verlaufsgestalt des Lachens als gestotterte Ausatmung hätte erklären können, die für sie überhaupt keiner Frage wert war. 1324 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

Und damit dürfte sich eine energetisch orientierte Ätiologie des Lachens endgültig als Irrweg erwiesen haben. So bleibt uns nur noch die Hoffnung, daß die nunmehr zu behandelnden evolutionsgeschichtlichen, axiologischen und phänomenologischen Ansätze uns tiefere Erkenntnisse über das Lachen vermitteln werden. Anmerkungen 1 Zit. nach dem Katalog: Literatur im Industriezeitalter, Marbach 1987, Bd. I, S. 77. 2 Literatur im Industriezeitalter, Bd. I, S. 74 f. 3 Literatur im Industriezeitalter, Bd. I, S. 75 f. 4 Hilfreich für dieses Kapitel waren mir folgende Studien: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1875), Bd. II, Waltrop/Leipzig 2003; Georg Helm: Die Lehre von der Energie historisch-kritisch entwickelt, Leipzig 1887; Alfred Noll: Die »Lebenskraft« in den Schriften der Vitalisten und ihrer Gegner, Leipzig o. J.; Wilhelm Ostwald: Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig 1902; Hans Driesch: Der Vitalismus als Geschichte und Lehre, Leipzig 1905; Eduard von Hartmann: Das Problem des Lebens. Biologische Studien, Bad Sachsa im Harz 1906; Karl Braeunig: Mechanismus und Vitalismus in der Biologie des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1907; Wilhelm Haberling: Johannes Müller. Das Leben des rheinischen Naturforschers, Leipzig 1924; Karl E. Rothschuh: Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert, Freiburg/München 1968; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte, Freiburg/München 1975; Wolfram Kaiser/Reinhard Mocek: Johann Christian Reil, Leipzig 1979; Eve-Marie Engels: Die Teleologie des Lebendigen. Kritische Überlegungen zur Neuformulierung des Teleologieproblems in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie. Eine historisch-systematische Untersuchung, Berlin 1892; Henri Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten, Zürich 1985; Michael Sonntag: Die Biologie vor 1859, in: Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, hg. v. Jean Clair, Cathrin Pichler, Wolfgang Pircher, Wien 1989, S. 543–550; Brigitte Lohff: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik. Ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medizin, Stuttgart/New York 1990; Johannes Müller und die Philosophie, hg. v. Michael Hagner und Bettina Wahrig, Berlin 1992; Heinz Schott: Nerven, Gehirn und Seele: Johann Christian Reil und die »Physiologie« um 1800, in: Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie, hg. v. Ernst Florey und Olaf Breidbach, Berlin 1993, S. 14–38; Klaus SachsHombach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, Freiburg/München

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1993; Reinhard Mocek: Johann Christian Reil (1759–1813). Das Problem des Übergangs von der Spätaufklärung zur Romantik in Biologie und Medizin in Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995; Stefan Goldmann: Von der Lebenskraft zum Unbewußten. Konzeptwandel in der Anthropologie um 1800, in: Homöopathie und Philosophie & Philosophie der Homöopathie, hg. v. Rainer G. Appell, Eisenach 1898, S. 149–174; Günter Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Tübingen 1999; Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt a. M. 2008; Barbara Neymeyr/Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, 2 Bde, Berlin 2008. 5 M. Tullius Cicero: De natura deorum. Über das Wesen der Götter. Lateinisch/ Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister. Nachwort von Klaus Thiede, Stuttgart 1995. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Jochen Schmidt: Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin, in: Neymeyr/ Schmidt/Zimmermann, Bd. 1, S. 215–229. 6 Da es ist mir nicht gelungen ist, das Buch von Medicus über die Fernleihe zu besorgen, muß ich Medicus weitgehend indirekt zitieren, meist nach Nolls Monographie über die Lebenskraft. Über die neovitalistischen Lebenskraft-Theorien des 19. Jahrhunderts unterrichtet Eduard von Hartmann, S. 78 ff. 7 Zit. nach Noll, S. 8 f.; auch die folgenden Zitate nach Noll. 8 Vgl. dazu den Aufsatz von Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewußte. Die Inversionen des Franz Moor, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37, 1993, S. 198–220. 9 Ich zitiere nach der Ausgabe: Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik oder die Kunst, das Leben zu verlängern. Mit einem Brief Immanuel Kants an den Autor sowie einem modernen Nachwort von Rolf Brück, München 1978. 10 Die Inflammatio-Metapher verrät, daß auch Hufeland seinen Cicero kannte. 11 Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Mit einem Vorwort und Anmerkungen von Dr. L. v. Karolyi, Stuttgart 1971, S. 12 f.; vgl. auch Sonntag: Biologie vor 1859, S. 544. 12 Vgl. dazu Kamlah/Lorenzen, S. 53 ff. 13 Vgl. dazu Hedwig Conrad-Martius: Der Selbstaufbau der Natur. Entelechien und Energien, Hamburg 1944. 14 Ich zitiere nach der Ausgabe: Johann Christian Reil: Von der Lebenskraft. Eingeleitet vom Herausgeber (Karl Sudhoff ), Leipzig 1910. 15 Schott: Reil, S. 27. 16 Vgl. dazu Herbert Breger: Die Natur als arbeitende Maschine. Zur Entstehung des Energiebegriffs in der Physik 1840–1850, Frankfurt a. M. 1982; Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1974, S. 22–45, v. a. S. 42 ff.; Maria Osietzki: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik, in: Physiologie und industrielle Gesellschaft. Stu-

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Anmerkungen

dien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Philipp Sarasin und Jakob Tanner, Frankfurt a. M. 1998, S. 313–346. 17 Sternberger, S. 38. 18 Vgl. dazu den Katalog zur Marbacher Ausstellung »Literatur im Industriezeitalter«, 2 Bde, Marbach 1987, Bd. 1, S. 46 ff. 19 Theodor Fontane: Sämtliche Werke, hg. v. Walter Keitel, München 1964, VI,367. 20 Vgl. dazu Marbacher Katalog I,13 ff. 21 Emanuel Geibel: Neue Gedichte, Stuttgart 25/1897, S. 5 ff. Das Motiv des »zornigen Elements« hatte Ferdinand Freiligrath 1846 in seinem Gedicht »Von unten auf!« in dem Band »Ça ira« einem »Proletarier-Maschinisten« in den Mund gelegt, der als Heizer den Kessel eines Raddampfers beschickt und dabei über die Revolution gegen den König von Preußen nachdenkt, den dieser Dampfer rheinabwärts trägt: »Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat, / Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat!« Dann aber beschwichtigt er den rumorenden Dampfkessel gleich wieder mit den Worten: »Heut, zornig Element, noch nicht!« Vgl. Ferdinand Freiligrath’s gesammelte Dichtungen, Stuttgart 5/1886, Bd. 3, S. 124 ff. Freiligraths Gedicht von 1846 wurde 50 Jahre später von Hugo von Hofmannsthal mit dem Gedicht »Manche freilich« explizit als Kontrafaktur zurückgenommen, nur ist bei Hofmannsthal das Staatsschiff nicht mehr ein Schaufelraddampfer, sondern eine Galeere, und selbstverständlich gibt es bei Hofmannsthal keine zornigen Elemente, sondern nur freudige Bejahung des vorgegebenen Orts im Ständestaat des Seienden. 22 Alfred Wilhelm Volkmann: Die Lehre von dem leiblichen Leben des Menschen. Ein anatomisch-physiologisches Handbuch zum Selbstunterricht für Gebildete, Leipzig 1837. 23 Wie recht Volkmann mit dieser Behauptung hat, zeigt z. B. ein Blick in den zeitgenössischen »Brockhaus«, der die damals aktuelle naturwissenschaftliche Diskussion ausführlich referiert, allerdings keinen Artikel zum Thema Lebenskraft enthält: Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur. In vier Bänden, Leipzig 1832. 24 Vgl. dazu den Artikel »Weltseele« von Johannes Zachhuber im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Sp. 516–521, und Mocek: Reil, S. 97 ff. 25 Ansichten über Natur- und Seelenleben von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth, nach seinem Tode herausgegeben von seinem Sohne Hermann Friedrich Autenrieth, Stuttgart/Augsburg 1836; zu Autenrieth vgl. Hagner: Homo cerebralis, S. 171 ff., und Eberhard Stübler: Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth 1772– 1835. Professor der Medizin und Kanzler der Universität Tübingen, Stuttgart 1948. 26 Johannes Müller: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826; vgl. dazu auch Rudolf Weinmann: Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, Hamburg 1895, und Ulrich Ebbecke: Johannes Müller, der große rheinische Physiologe, mit einem Neudruck von Johan-

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nes Müllers Schrift: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, Hannover 1951. 27 Johannes Müller: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Coblenz 1840, Bd. II, S. 505–513. 28 Vgl. dazu Müller: Handbuch der Physiologie, Bd. I, 20 ff., und Noll: Lebenskraft, S. 42 ff. 29 Zit. nach Osietzki: Körpermaschinen, S. 328. 30 Lotze bezieht sich hier auf das Werk von Gottfried Reinhold Treviranus: Die Erscheinungen und Gesetze des organischen Lebens, 2 Bde, Bremen 1831/33. Treviranus hatte sich aber schon in einer viel früheren Publikation ähnlich geäußert: Biologie oder Philosophie der lebenden Natur, Göttingen 1802. Vgl. dazu Noll, S. 28 ff. Schopenhauer zitiert Treviranus mehrfach zustimmend als den »vortrefflichen Treviranus« (III,225). 31 Ich zitiere nach der Ausgabe: Hermann Lotze: Kleine Schriften, 3 Bde, Leipzig 1885, Bd. I, S. 139–220. Rund zehn Jahre nach dem Aufsatz über die Lebenskraft kommt Lotze in seinem Werk »Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele« (Leipzig 1852) noch mal auf das Thema zurück (S. 30–45, v. a. S. 40 f.), um klar zu machen, daß man zwar von einer Seele sprechen dürfe, nicht jedoch von einer Lebenskraft, obwohl er den Begriff auf S. 281 dann sogar selbst verwendet, wo er vom »Allgemeingefühl« resp. »Lebensgefühl« spricht, »welches dem Bewusstsein die ganze Summe und Elasticität der vorhandenen, disponiblen Lebenskraft zur Wahrnehmung bringt.« Was Lotze in diesem Werk übers Lachen (S. 530) zu sagen weiß, ist völlig unerheblich. Auch in seiner »Metaphysik« (Leipzig 1879) kommt Lotze nochmal auf das Thema Lebenskraft (S. 440–451) zurück, wiederholt aber nur seine alte These: »Der Zusammenhang der Lebenserscheinungen erfordert durchaus eine mechanische Behandlung.« (S. 447) Vgl. dazu auch Sachs-Hombach: Philosophische Psychologie, S. 298 ff., der Lotze jedoch als Anti-Mechanisten vorstellt. 32 Lotze bezieht sich hier wohl auf Kants Kritik der reflektierende Urteilskraft (V,513 ff.) bzw. auf die von Herder beschriebene Tendenz zu Personifizierung natürlicher Kräfte (29,21 ff.). 33 Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik (1860), 2 Bde, Reprint Amsterdam 1964, Bd. II, S. 22. 34 Vgl. zu Fechner Michael Heidelberger: Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung, Frankfurt a. M. 1993, S. 217 ff., und zur Kritik der Psychophysik Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt a. M. 1987, Kapitel 3: Die unbewußte Empfindung und das psychophysische Labyrinth, S. 53 ff. 35 Vgl. dazu neben Breger: Die Natur als arbeitende Maschine, auch: Karl E. Rothschuh: Physiologie, S. 253 ff. 36 Vgl. dazu Siegfried Bernfeld/Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der FreudBiographik. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 1981, S. 62 ff., sowie Frank J. Sulloway: Freud. Biologie der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende, Hohenheim 1982, S. 109 ff.

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Anmerkungen 37

Ich zitiere nach der Ausgabe: Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft (1847), Leipzig 1889. 38 Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden, hg. v. Estelle Du Bois-Reymond, Leipzig 1912, Bd. I, S. 1–26. In seiner Rede »Über Neo-Vitalismus« (Reden II, S. 492–515) von 1894 kommt Du Bois-Reymond nochmal in unverminderter Schärfe auf das Thema Lebenskraft zurück und empört sich darüber, daß der NeoVitalismus, insbesondere dessen Vorkämpfer Hans Driesch, »die Irrlehre der Lebenskraft« aufs neue propagiert. Auf das Postulat einer »göttlichen Allmacht« (S. 514) möchte aber auch Du Bois-Reymond nicht verzichten, über die er schreibt: »Ihrer würdig allein ist sich zu denken, daß sie vor unvordenklicher Zeit durch Einen Schöpfungsakt die ganze Materie so geschaffen habe, daß nach den der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren, einfachste Lebewesen entstanden, aus denen ohne weitere Nachhilfe die heutige organische Natur (…) ward. (…) So kämen wir mit Einem Schöpfungstage aus, und ließen, ohne alten und neuen Vitalismus, die organische Natur rein mechanisch entstehen.« (S. 515) Zur zeitgenössischen Kritik am Neovitalismus, der den Begriff der Lebenskraft reaktivierte, vgl. auch Braeunig, S. 64 ff., wo Braeunig mit Blick auf den Energie-Erhaltungs-Satz die Bilanz zieht: »Diesem Gesetz verdankt die heutige Naturwissenschaft diejenige Läuterung des Kraftbegriffes, die es uns unmöglich machen sollte, eine ›nicht energetische Kraft‹ anzunehmen, sei es nun, daß diese ›Lebenskraft‹, ›Dominante‹, ›Bildungstrieb‹, ›Entelechie‹ oder wie sonst auch immer genannt werde.« (S. 101) 39 Vgl. dazu Müller: Handbuch der Physiologie II, S. 505–513, sowie Du BoisReymond: Gedächtnisrede auf Johannes Müller, in: Reden I,135–317, hier S. 205 ff. 40 Vgl. Du Bois-Reymond: Reden I, S. 205 ff. 41 Vgl. dazu Du Bois-Reymonds Rede zum 50. Todestag Goethes am 15. Oktober 1882 in der Aula der Berliner Universität: »Goethe und kein Ende« (Reden II, S. 157–183). 42 Martin Buber: Die Schriftwerke, Köln & Olten 1962, S. 42. In den beiden Varianten der Vulgata lautet die entsprechende Passage »Dominus fortitudo vitae meae«, wobei »fortitudo« das ganze Wortfeld »Kraft/Macht/Stärke/Mut/Tapferkeit/Energie/Tatkraft« abdeckt, bzw. »Dominus protector vitae meae«, wobei sich für »protector« die Übersetzung »Schutz und Schirm« anbietet. 43 Ich zitiere Virchow nach Noll, S. 77 ff. 44 Virchow denkt hier wohl an Fechners Buch »Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen« von 1848. 45 Vgl. dazu Du Bois-Reymonds Rede »Über Neo-Vitalismus« von 1894, Reden II, S. 492–515. 46 Vgl. dazu Hans Driesch: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905, und Eduard von Hartmann: Das Problem des Lebens, Bad Sachsa im Harz 1906. 47 Vgl. dazu Thomas Gondermann: Evolution und Rasse. Theoretischer und institutioneller Wandel in der viktorianischen Anthropologie, Bielefeld 2007, S. 81 ff.

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Im Irrgarten der Energetik 48

Vgl. dazu Leibbrand/Wettley: Wahnsinn, S. 341ff Vgl. dazu Rothschuh: Physiologie, S. 125 ff. 50 Vgl. dazu Henkelmann: John Brown, S. 11 ff. 51 Vgl. dazu Hagner: Homo cerebralis, S. 244 ff. 52 Spencers Aufsatz ist 1859 entstanden und zuerst in Macmillan’s Magazine erschienen. Ich zitiere nach der Ausgabe: Herbert Spencer: Essays on education and kindred Subjects, London/Toronto 1977, einem Reprint der Ausgabe von 1911, in eigener Übersetzung. 53 Vgl. dazu Alexander Bain: The emotion and the will (1859), wo der Begriff der degradation durch Gelächter i. S. v. Hobbes eingeführt wird. Auch Freud beruft sich in seinem Buch über den Witz mehrfach auf Bain. 54 Vgl. dazu Hagner: Homo cerebralis, S. 238 ff. 55 Das kurz vor Spencers Aufsatz formulierte Weber-Fechnersche Gesetz ist der Versuch, diesen Zusammenhang mathematisch zu fassen. 56 Gemeint ist damit die zentrifugale Efferenz. 57 Arthur Koestler (Der göttliche Funke, S. 297) bezeichnet Lachen (und Weinen) sogar als »Luxusreflexe«, die als »Abflußkanäle für unsere Emotionen dienen« und »ohne ersichtlichen Nutzen« sind. 58 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. Einleitung von Peter Gay, Frankfurt a. M. 9/2009, S. 159. 59 Wohl eine Anspielung auf Kants Diatribe »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie« (III,375 ff.), in der er gegen »sein-wollende Philosophen« (III,383) polemisiert, welche »die Polizei im Reiche der Wissenschaften nicht dulden kann« (III,394). 60 Arthur Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß, hg. v. Arthur Hübscher, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1966 (zit. als HN I/II), hier: HN I, S. 183. 61 Zu Marshall Hall vgl. Hagner: Homo cerebralis, S. 244 ff. 62 Schopenhauer unterscheidet streng zwischen dem individuellen Willen, mit dem man Entscheidungen fällt und den er immer »Willkür« nennt, und dem Willen im Sinn von »Weltwillen«. Alle Vorgänge, die unwillkürlich ablaufen, sind demnach Äußerungen des (Welt-)Willens. 63 Hier zitiert Schopenhauer die Kernthese seiner Theorie des Komischen, die er in § 8 des Ergänzungsbandes zum Hauptwerk (II,106 ff.) unter dem Titel »Zur Theorie des Lächerlichen« entwickelt. 64 Der Physiologe Walter Rudolf Hess berichtet in seinem Werk »Psychologie in biologischer Sicht« (Stuttgart 2/1968) über die Auslösung von Gelächter durch elektrische Reizung bestimmter Regionen im Zwischenhirn und fügt dann hinzu: »War der Patient aufgefordert worden nicht zu lachen, konnte er es doch nicht unterdrücken. Nachher äußerte er sich dahin, daß beim Einschalten des Reizes ihm alles komisch vorkomme oder ihm eine gleich lustige Situation aus einem früheren Leben einfalle.« (S. 43) 65 Johannes Müller: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826. Vgl. dazu auch Rudolf Weinmann: 49

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Anmerkungen

Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, Hamburg 1895, und Martin Müller: Über die philosophischen Anschauungen des Naturforschers Johannes Müller, Leipzig 1927, S. 21 ff., sowie zur späteren Rezeptionsgeschichte von Müllers Theorie: Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt a. M. 1987, S. 31 ff. und S. 169 ff., und zu Müller allgemein: Klaus Sandfuhr: Das Verständnis vom Leben und vom Organismus im Werk von Johannes Müller (1801–1858). Die Eigenart des Lebendigen und die Methode seiner Erforschung, Diss. Bonn 1979. 66 Vgl. dazu Müller: Gesichtssinn, Kap. VIII: Fragmente zur Farbenlehre, insbesondere zur Goetheschen Farbenlehre, S. 391–434, und Johannes Müller: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum, den Philosophen und Aerzten gewidmet (1826), Reprint München 1967, sowie Haberling: Müller, S. 60 ff. 67 Müller: Gesichtssinn, S. 44 f. 68 Stahl/Gottlieb, S. 50. 69 Vgl. dazu Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie. Mit einem Vorwort von Rudolf Bilz, Frankfurt a. M. 1973, S. 174 ff. 70 Jakob von Uexküll/Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Bedeutungslehre. Mit einem Vorwort von Adolf Portmann und einer Einleitung von Thure von Uexküll, Frankfurt a. M. 1970, S. 9. 71 Uexküll/Kriszat, S. 9. 72 Uexküll: Theoretische Biologie, S. 177. 73 Uexküll: Theoretische Biologie, S. 177. 74 Ewald Hecker: Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen. Ein Beitrag zur experimentellen Psychologie für Naturforscher, Philosophen und gebildete Laien, Berlin 1873. 75 Vgl. dazu Leibbrand/Wettley: Wahnsinn, S. 560 ff. 76 Hecker bezieht sich hier auf einen Artikel von Johann Christian Friedrich Harleß über Temperamente in Wagner’s Handwörterbuch der Physiologie, in dem dieser eine antimechanistische, aber eher behavioristische Theorie aus dem Geiste Lamarcks vertreten hatte. 77 Vgl. dazu Kurt Goldstein: Über Zeigen und Greifen, in: Der Nervenarzt, 4, 1931, S. 453–466. 78 Jürg Zutt: Die innere Haltung, in: Zutt: Auf dem Weg zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg1963, S. 1– 87. 79 Hecker zitiert hier Kant V,439. 80 Hermann Lotze: Geschichte der Aesthetik in Deutschland, München 1868. 81 Theodor Lipps: Komik und Humor. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung, Hamburg/Leipzig 1898. Vgl. dazu auch Theodor Piderits Kritik an Hekker in: Mimik und Physiognomik, Detmold 4/1925, S. 126–132, die aber eher unergiebig ist.

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Im Irrgarten der Energetik 82

Reden I, 441–473. Hilfreich für dieses Kapitel waren für mich der Sammelband: Der Ignorabimus-Streit, Bd. 3 des Sammelbandes: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, hg. v. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, Hamburg 2007 und darin wiederum die Beiträge von Andrea Reichenberger: Emil du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede: ein diplomatischer Schachzug um Forschungsfreiheit, Verantwortung und Legitimation der Wissenschaft, S. 63–87, Cord Friebe: Das bleibende Rätsel der Kraft: Du Bois-Reymonds erstes Ignorabimus im Lichte der modernen Physik, S. 117–131, und Myriam Gerhard: Du Bois-Reymonds Ignorabimus als naturphilosophisches Schibboleth, S. 241–252. 83 Vgl. dazu Reichenberger, S. 71 ff., und Johannes Hemleben: Ernst Haeckel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 106 ff. 84 Zit. nach Reichenberger, S. 71. 85 Zit. nach Reichenberger, S. 71. 86 Zit. nach Reichenberger, S. 77. 87 Du Bois-Reymond: Reden II, S. 66. 88 Vgl. Reden I, S. 465. 89 Reden II, S. 65–98. 90 Bayertz/Gerhard/Jaeschke: Einleitung, S. 9. 91 Zit. nach Hemleben, S. 108. 92 Diese Formulierung stammt aus einem Brief Du Bois-Reymonds an Helmholtz von 1849. Vgl. dazu Christoph Gradmann: Hermann von Helmholtz und die organische Physik von 1847. Eine biographische Interpretation, in dem Sammelband: Hermann von Helmholtz. Vorträge eines Heidelberger Symposions anläßlich des einhundertsten Todestages, hg. v. Wolfgang U. Eckert und Klaus Volkert, Pfaffenweiler 1996, S. 39–61, hier S. 40. 93 Ich zitiere nach der Ausgabe: Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena 1921. 94 Vgl. dazu Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung. Bd. 2: Nachantike Philosophie, Freiburg/München 2007, Kap. 44.1: Bergson, S. 628–635, hier S. 631 f. 95 Vgl. dazu Schopenhauers Aufsatz »Ueber Geschichte« (III,515–524), in dem er gegen Hegel gerichtet schreibt: »Die wahre Philosophie der Geschichte besteht nämlich in der Einsicht, daß man, bei allen diesen endlosen Veränderungen und ihrem Wirrwarr, doch stets nur das selbe, gleiche und unwandelbare Wesen vor sich hat, welches heute das Selbe treibt, wie gestern und immerdar. (…) Die Devise der Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter.« (III,521 f.) 96 Man denkt hier natürlich sofort an die floralen Elemente im zeitgenössischen Jugendstil. 97 Diese Analogien zur stoischen Physik konnten wir schon bei Stahl feststellen; vgl. dazu Kap. 2.5.4 bzw. Anmerkung 219 zu Kap. 2.12. 98 Vgl. dazu Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Hamburg 1994, Kap. I: Von der Intensität der psychologischen Zustände, S. 9–60, hier S. 29 ff., sowie Schmitz: Leib, Kap. Die Kampfnatur der Intensität, S. 112 ff.

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Anmerkungen 99

Vgl. dazu Peter Wiechens: Bataille zur Einführung, Hamburg 1995, S. 67 ff., sowie: Gerd Bergfleth: Theorie der Verschwendung. Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München 2/1985, S. 84: »Die Skala dieser Selbstverschwendung ist auch heute noch, trotz der Herrschaft des Produktionswahns, ungeheuer reich. Sie umfaßt, um nur die wichtigsten Formen zu nennen: die Kategorie der agonalen Verausgabungen: Wettkämpfe, Spiele aller Art; die affektiven Formen: Lachen und Weinen und dgl.; die symbolischen Formen: Literatur, Kunst, Musik; die eigentlich exzessiven Formen: die diversen Formen des Rausches, der Erotik und Orgien aller Art; und zuletzt und zuhöchst das, was ich die heutigen Formen des Heiligen nennen möchte: die Revolte, das revolutionäre Opfer, das Todesfest als Fest des Lebens, das hier erfahrbar wird. In all diesen Formen verschwende ich das, was ich bin, nicht das, was ich habe.« Eine ähnliche Auflistung findet sich in dem Aufsatz von Hans-Thies Lehmann, der Batailles Begriff der Verausgabung sogar für einen »Jahrhundertgedanken« hält: Ökonomie der Verausgabung – Georges Bataille, in: Merkur 463/464 (1987), S. 835–849, hier: S. 844. In der Literatur über Bataille geht eigentlich nur Rita Bischof etwas ausführlicher auf die Art und Weise ein, wie Bataille das Lachen selbst thematisiert, sieht dies aber im wesentlichen durch die Brille Bachtins und kann deshalb auch nicht zu wesentlichen Erkenntnissen über das Lachen kommen. Vgl. dazu Rita Bischof: Souveränität und Subversion. Georges Batailles Theorie der Moderne, München 1984, S. 33 ff., sowie ihren Aufsatz: Lachen und Sein. Einige Lachtheorien im Lichte von Georges Bataille, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt a. M. 1986, S. 52– 38. In Rita Bischofs Studie: Tragisches Lachen. Die Geschichte von Acéphale, Berlin 2010, wird das Thema Lachen (vgl. S. 203 ff.) nur gestreift. Auf die thematische Nähe Batailles zu Bergson geht die aktuelle Literatur über Bataille so gut wie gar nicht ein; wahrscheinlich deshalb nicht, weil Bataille selbst sich schon bemüht hat, diese Spur zu verwischen. Dies gilt jedoch nicht für den Aufsatz von Katja Gvozdeva: Das ABC des heiligen Lachens. Atheologie im theoretischen und literarischen Werk (»Abbé C.«) Georges Batailles, in: »risus sacer – sacrum risibile«. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, hg. v. Katja Gvozdeva und Werner Röcke, Frankfurt a. M. 2009, S. 237–273, der, soweit ich sehe, besten Darstellung von Batailles Theorie des Lachens überhaupt, weil hier die enge Anlehnung Batailles an Nietzsche, Bergson und Freud deutlich wird. 100 Ich zitiere nach der Ausgabe: Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Nachwort Karsten Witte, Darmstadt 1988. 101 Heinrich hat hier wohl die Nähe von Bergsons Lachern zu Baudelaires Bild des Dandys im Auge, die sich beide am stoischen Ideal der Empfindungslosigkeit orientieren. Bergson steht problemgeschichtlich gesehen aber auch in der Argumentationstradition Platon/Augustinus/Hobbes, obwohl er in seiner Literaturliste (S. 8 f.) keinen einzigen dieser Autoren anführt, auch Baudelaire selbst nicht und Schopenhauer ebenfalls nicht. 102 Klaus Heinrich: »Theorie« des Lachens, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf

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Im Irrgarten der Energetik

(Hg.): Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt a. M. 1986, S. 17–38, hier S. 28. 103 Vgl. dazu Arthur Koestler: Der göttliche Funke, S. 36–42, hier S. 39 und Schmitz: Person, S. 139–142, hier S. 140. 104 Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 17, 2006, 1/2, S. 123–136. 105 Vgl. dazu Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988. Hiltrud Gnüg zieht im wesentlichen Beispiele aus der französischen Literatur heran, verweist aber nicht auf Bergson. 106 Vgl. dazu Heide Göttner: Logik der Interpretation, München1973, S. 62 ff., sowie F. D. E. Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977, S. 167 ff. 107 Vgl. dazu Kap. 2.9.5.3. 108 Vgl. dazu Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, München 5/2000, S. 90 ff. Die aufgeheizte Atmosphäre während der Dreyfus-Affäre, in der der französische Faschismus in Gestalt der Action française entstand, begünstigte offenbar wieder einmal die Reduktion des Lachens auf das aggressive Auslachen, wie dies in Zeiten härtester ideologischer Auseinandersetzungen immer geschieht. 109 Wichtige Anregungen konnte ich folgenden Arbeiten entnehmen: Erwin Straus: Geschehnis und Erlebnis. Zugleich eine historiologische Deutung des psychischen Traumas und der Renten-Neurose, Berlin 1930; Paul Ricoeur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1969; Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974; Wolfgang Wieser: Konrad Lorenz und seine Kritiker. Zur Lage der Verhaltensforschung, München 1976; Dieter Wyss: Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Entwicklung, Probleme, Krisen, Göttingen 5/1977; Siegfried Bernfeld/Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der Freud-Biographik. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 1981; Wolfgang Mertens (Hg.): Neue Perspektiven der Psychoanalyse, Stuttgart 1981; Frank J. Sulloway: Freud. Biologie der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende, Köln-Lövenich 1982; Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 1985; Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick, Frankfurt a. M. 1987; Dieter E. Zimmer: Tiefenschwindel. Die endlose und die beendbare Psychoanalyse, Reinbek bei Hamburg 1990; Klaus Sachs-Hombach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Entstehung und Problemgeschichte, Freiburg/München 1993; Roland Burkholz: Reflexe der Darwinismus-Debatte in der Theorie Freuds, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995; Han Israels: Der Fall Freud. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge, Hamburg 1999; Günter Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopenhauer – Nietzsche – Freud, Gießen 2/2009. Außerdem waren mir zwei Nachschlagewerke sehr hilfreich zur schnellen Orientierung: Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1972, und: Humberto Nagera (Hg.): Psychoanalytische Grund-

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Anmerkungen

begriffe. Eine Einführung in Sigmund Freuds Terminologie und Theoriebildung, Frankfurt a. M. 1987, zit. als »Vokabular« und »Grundbegriffe«. 110 Ich zitiere nach der Ausgabe: Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. Einführung von Peter Gay, Frankfurt a. M. 9/ 2009. 111 Theodor Lipps: Komik und Humor. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung, Hamburg/Leipzig 1898. 112 Bei Freud weiß man nie so recht, ob er, wenn er von »Verführung« spricht, tatsächlich Verführung oder aber Vergewaltigung meint. Freud vertrat ja zunächst die sog. »Verführungstheorie« zur Ätiologie von Neurosen, rückte dann ab 1897 wieder davon ab, ersetzte sie durch das Ödipus-Modell und verfolgte jeden seiner Schüler, der die Verführungstheorie wieder aufgriff, mit Haß und Ächtung. Als in den 80er Jahren die Verführungstheorie als Vergewaltigungstheorie abermals aufgegriffen wurde, protestierten diesmal die orthodoxen Freudianer genauso heftig im Sinne des Meisters. Bezeichnenderweise waren es nun vor allem Frauen wie Marianne Krüll, Alice Miller, Florence Rush, Judith Herman, Louise Armstrong und Josephine Rijnaerts, die z. T. selbst als Kind Opfer von sexuellen Attacken gewesen waren. Daß die Abwehr dieser Verführungstheorie mit derartig hohem emotionalen Einsatz geführt wurde, liegt wohl daran, daß sie ein Thema in Freuds eigener Familie gewesen sein muß, da Freuds eigener Vater Jakob Freud sich an seinen Töchtern vergangen zu haben scheint, wie aus Freuds Brief an Fließ vom 11. 2. 1897 hervorgeht, der in der Brief-Ausgabe von 1950 jedoch unterschlagen wurde, wofür wohl Freuds Tochter Anna gesorgt hatte. Vgl. zu diesem heiklen Thema: Marianne Krüll: Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung, München 1979; Jeffrey M. Masson: Was hat man dir, du armes Kind, getan. Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, Reinbek bei Hamburg 1986; Josephine Rijnaerts: Lots Töchter. Über den Vater-Tochter-Inzest, München 1991, sowie Massons Edition: Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ, Frankfurt a. M. 1986, und zur Geschichte dieser Edition und ihren Folgen für Masson vgl. Rijnaerts, S. 83 ff. 113 Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980, S. 125; vgl. auch das Kapitel »Ergreifen und Einverleiben«, S. 223 ff. Seltsamerweise erwähnt Canetti bei der Auflistung der verschiedenen Meuten weder eine Vergewaltigungs- noch eine Lach-Meute. 114 Vgl. Kap. 2.7.6. 115 Vgl. dazu Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Vers-Schule, Bern 1961, S. 66 ff. 116 Vgl. dazu Elmar Waibl: Gesellschaft und Kultur bei Hobbes und Freud, Wien 1980, S. 35 ff. u.59 ff., sowie das Vorwort von Alfred Lorenzer und Bernhard Görlich zu ihrer Ausgabe: Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/N.10/2007, S. 18 ff. 117 Vgl. dazu Kap. 2.12.6.2. 118 Vgl. dazu die Studie von Sarah Kofman: Die lachenden Dritten. Freud und der Witz, München/Wien 1990, die aber leider völlig unergiebig ist, weil sie lediglich Freuds Witz-Buch ergeben nachbetet. Dies gilt auch für die Studie von Martin

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Grotjahn: Vom Sinn des Lachens. Psychoanalytische Betrachtungen über den Witz, das Komische und den Humor, München 1957, was besonders in dem Kapitel »Der Ursprung des Lachens« (S. 207 ff.) deutlich wird: Witz spart Energie ein, Lachen setzt sie wieder frei. Eng an Freud orientiert sich auch Eike Christian Hirsch mit seinem Werk: Der Witzableiter oder Schule des Lachens, München 3/2005, bietet aber eine unendliche Fülle an Witzen an, über die man sich krumm lachen kann. 119 Vgl. dazu Kap. 2.8.6.1. 120 Vgl. dazu Robert Neumann: Meisterparodien, hg. v. Jens Jessen, Zürich 1988, S. 79 ff. 121 Ich zitiere den »Entwurf einer Psychologie« nach der Ausgabe: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902, hg. v. Marie Bonaparte, Anna Freud und Ernst Kris, Frankfurt a. M. 2/1962, S. 297 ff., desgleichen Freuds Briefe an Wilhelm Fließ unter »Anfänge«. 122 Ich zitiere nach der Ausgabe: Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Einleitung von Stavros Mentzos, Frankfurt a. M. 6/2007. 123 Theodor Lipps: Grundtatsachen des Seelenlebens, Bonn 2/1912, Kap. III: Von der Begrenztheit der seelischen Kraft, S. 151 ff. Im Brief an Fließ vom 31. 8. 1898 schreibt Freud: »Bei Lipps habe ich die Grundzüge meiner Einsicht ganz klar wiedergefunden, vielleicht etwas mehr, als mir recht ist.« (Anfänge, S. 226) 124 Vgl. dazu Bernfeld/Cassirer Bernfeld: Bausteine, S. 54 ff.; Ellenberger: Entdekkung, S. 750 ff.; Gödde: Traditionslinien, S. 167 ff.; Sulloway: Freud, S. 171 ff.; Ricoeur: Interpretation, S. 82 ff., sowie Grundbegriffe, S. 348 ff. und Vokabular, S. 357 ff. 125 Vgl. dazu Kap. 2.3.3.9, sowie Schmitz: Person, S. 149 ff. 126 Vgl. dazu Grundbegriffe, S. 348 ff. und Vokabular, S. 357, sowie Gödde S. 192 ff. 127 Vgl. dazu Vokabular, S. 33, und Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 240. Ich zitiere die metapsychologischen Schriften Freuds »Triebe und Triebschicksale« (1915), »Die Verdrängung« (1915), »Das Unbewußte« (1915), »Trauer und Melancholie« (1917), »Jenseits des Lustprinzips« (1920) und »Das Ich und das Es« (1923) nach der Ausgabe: Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Einleitung von Alex Holder, Frankfurt a. M. 12/2007. 128 Vgl. dazu Burkholz: Darwinismus-Debatte, S. 156 ff. 129 Schadewaldt/Luserke: Katharsis, S. 269. 130 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 847. 131 Zit. nach Peter Gay: »Ein gottloser Jude«. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1988, S. 50 f.; vgl. dazu auch das Vorwort von Alfred Lorenzer und Bernhard Görlich zu Freuds kulturtheoretischen Schriften S. 9 ff., wo weitere einschlägige Passagen angeführt werden. 132 Anfänge, S. 115; vgl. dazu Ricoeur, S. 82 ff. 133 Gerardus Heymans: Ästhetische Untersuchungen in Anschluß an die Lipps’sche

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Anmerkungen

Theorie des Komischen, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11, 1896, S. 31–43 u. 333–352. 134 Vgl. dazu Grundbegriffe, S. 436 ff., und Vokabular, S. 436 ff., sowie Burkholz, S. 194–230, v. a. S. 219 ff. 135 Vgl. dazu Burkholz, S. 57 ff. 136 Diese Theorie hatte Ewald Hering 1870 in seiner berühmt gewordenen Wiener Akademie-Rede »Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie« (Leipzig 3/1921) erstmals vorgetragen. Freud muß diese Rede schon sehr früh gekannt haben, da Hering der Lehrer von Breuer war. Vgl. dazu Burkholz, S. 129–148, v. a. S. 141 f., sowie Gödde, S. 559 ff. u. 585 ff., und Sommer, S. 168 ff. Auf Herings Rede dürfte auch Freuds Lamarckismus zurückgehen, an dem er zeit seines Lebens eisern festhielt. 137 Vgl. dazu James Sully: An Essay on Laughter. Its forms, its causes, its development and its value, London/New York/Bombay 1902, S. 155 ff. u. 220 ff. 138 Johannes von Kries: Vom Komischen und vom Lachen, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 74, 1925, S. 241–263. Ob Johannes von Kries zu dieser Kritik am Postulat einer vitalen Energie durch Hans Drieschs »Philosophie des Organischen« (Leipzig 1908 u. 1921), S. 425 ff., angeregt worden ist, vermag ich nicht zu sagen, könnte aber gut möglich sein. 139 Vgl. dazu Kap. 2.12.6.5. 140 Vgl. dazu Jenseits des Lustprinzips, S. 215 f., sowie Ricoeur, S. 87. Die Kritik Ricoeurs an Freuds Energetik wird v. a. in dem Sammelband von Wolfgang Mertens »Neue Perspektiven der Psychoanalyse« in den Beiträgen von Wolfhard H. König (S. 83 ff.) und Michael Jeron (S. 161 ff.) aufgegriffen und weitergeführt. 141 Vgl. Zimmer: Tiefenschwindel, Kap. 6: Die Seele als Dampfmaschine. Über psychische Energie, S. 136 ff. Zimmers Hohn steigert sich noch, wenn er von Freuds metapsychologischen Schriften zu den eigentlichen psychoanalytischen übergeht, v. a. im Kapitel über die Wolfsmann-Analyse S. 243 ff. Und natürlich zitiert Zimmer auch genußvoll das boshafte Diktum von Karl Kraus: »Die Psychoanalyse ist die Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.« (S. 57) Hätte Zimmer Marianne Krülls Buch »Freud und sein Vater« gekannt, so hätte er wohl die in »Totem und Tabu« dargestellte Urhorde im Lichte dieser Studie gelesen, in dieser ominösen Urhorde Freuds eigene Familie erkannt und das Diktum von Karl Kraus wohl intensiv instrumentalisiert. Doch all das ist nicht unser Thema. Zu dem Titel »Tiefenschwindel« hat sich Zimmer offenbar von dem Diktum von Karl Kraus anregen lassen: »Psychologen sind Durchschauer der Leere und Schwindler der Tiefe.« Vgl. Karl Kraus: Beim Wort genommen, München 1965, S. 224. 142 Zimmer, S. 140 f. bzw. Jenseits, S. 216. 143 Hier könnte man zu einer Kritik an Zimmers eigenem physiologischem Materialismus ansetzen, aber auch das ist hier nicht unser Thema. Ich verweise nur auf Manfred Velden: Biologismus – Folge einer Illusion, Göttingen 2005, S. 15 ff., und Velden: Psychophysiologie, München 1994. 144 Theodor Reik: Lust und Leid im Witz. Sechs psychoanalytische Studien, Wien 1929.

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Vgl. dazu Reiks Studien »Der eigene und der fremde Gott« (1923), »Geständniszwang und Strafbedürfnis« (1925) und »Der Schrecken« (1929). 146 Vgl. dazu auch Josua 2,9, wo die Funktion des Gottesschreckens beim Einfall der Israeliten nach Kanaan beschrieben wird. 147 Vgl. dazu Schmitz: Person, S. 283 ff. 148 Vgl. dazu Kap. 2.13.3. 149 Vgl. dazu Gödde: Traditionslinien, S. 293 ff. 150 Paul Leroy: Angst und Lachen: Versuch einer Würdigung des Gleichgewichtes, Wien/Bad Bocklet/Zürich 1954. Biographische Daten über Leroy konnte ich nicht ausfindig machen. 151 Vgl. dazu Kap. 2.11.1. 152 Jürg Zutt: Die innere Haltung, in: Zutt: Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1– 88; vgl. dazu auch Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 157–174: Fassung als Spielraum der Person. 153 F. J. J. Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956. 154 Erwin Straus: Die aufrechte Haltung, in: Straus: Psychologie der menschlichen Welt, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 224–235. 155 Kurt Goldstein: Der Aufbau des Organismus, Haag 1934, S. 219 ff. 156 Vgl. dazu Kap. 2.12.2.1. 157 J. J. Engels Mimik, Berlin 1845. 158 Vgl. dazu Schmitz: Person, S. 12–104. 159 Hilfreich für dieses Kapitel waren mir die Studien: Rudolf Bilz: Pars pro toto. Ein Beitrag zur Pathologie menschlicher Affekte und Organfunktionen, Leipzig 1940; Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie, Frankfurt a. M. 1973; Kritik der Verhaltensforschung. Konrad Lorenz und seine Schule, hg. v. Gerhard Roth, München 1974 (zit. als »KdV«); Wolfgang Wieser: Konrad Lorenz und seine Kritiker. Zur Lage der Verhaltensforschung, München 1976; Hanna-Maria Zippelius: Die vermessene Theorie. Auseinandersetzung mit der Instinkttheorie von Konrad Lorenz und verhaltenskundliche Forschungspraxis, Braunschweig/Wiesbaden 1992; Roland Burkholz: Reflexe der Darwinismus-Debatte in der Theorie Freuds, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995; Norbert Bischof: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie, München 5/2001; Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Neue, vollständig überarbeitete Ausgabe Frankfurt a. M. 2003 (zit. als »Roth FDH«). 160 Konrad Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, 2 Bde, München 1970 (zit. als »TMV I/II«), Bd. I, S. 283–342. Vgl. dazu auch Roth FDH, S. 53 ff. 161 Vgl. dazu Paul Leyhausen: Theoretische Überlegungen zur Kritik des Begriffes der »Übersprungbewegung«, in: Konrad Lorenz/Paul Leyhausen: Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. Gesammelte Abhandlungen, München 1968, S. 77–88.

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Anmerkungen 162

Vgl. dazu Roth FDH, S. 53 ff. und die Abbildung S. 56, sowie KdV, S. 156 ff., und Bischof, S. 141 und 152. 163 Vgl. Roth FDH, S. 62 f. 164 Vgl. dazu die Studien: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung (1967), München 3/1972; Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, München 1972; Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten, München 1976; Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie (1984), München 5/2004. 165 Wilhelm Ostwald: Vorlesungen über Naturphilosophie. Gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig, Leipzig 1902. Vgl. dazu auch Ostwalds Arbeiten: Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft, Leipzig 1909, und: Der energetische Imperativ, Leipzig 1912. Der »energetische Imperativ« Ostwalds lautet: »Vergeude keine Energie, verwerte sie.« (S. 85) 166 Hans Driesch: Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen, gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908, Leipzig 2/1921, S. 425; vgl. dazu oben Anmerkung 38 zu diesem Kapitel. 167 Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, Bern/München/Wien 1968, S. 94 f. Zum wissenschaftlichen Ethos von Cyril Burt vgl. Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. 1988, S. 259 ff., und Richard Lewontin/Steven Rose/Leon J. Kamin: Die Gene sind es nicht …, München-Weinheim 1988, S. 80 ff. 168 Vgl. dazu Wilhelm Reich: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus, Köln 8/2004. Reich postuliert hier eine »orgastische Potenz« als »Fähigkeit zur Hingabe an das Strömen der aus dem Kosmos kommenden biologischen Energie ohne jede Hemmung, (und als) die Fähigkeit zur Entladung der hochgestauten sexuellen Erregung durch unwillkürliche lustvolle Körperzuckung« (S. 81), geht in dem Zusammenhang jedoch nicht auf das Lachen ein. Zu Reich vgl. v. a. Harry Mulisch: Das sexuelle Bollwerk, München 1997, und Bernd A. Laska: Wilhelm Reich mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 5/1999, sowie Zimmer: Tiefenschwindel, S. 144 ff., und den Sammelband von Karl Fallend und Bernd Nitzschke: Der ›Fall‹ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M. 1997, S. 207 ff. u. S. 233 ff. Reichs Orgon-Energetik wurde von seinen Schülern Alexander Lowen, Elsworth F. Baker und John C. Pierrakos als »Bio-Energetik« resp. als »Core Energetik« weitergeführt, wobei der dort gebrauchte schillernde Energie-Begriff ständig zwischen gespürter Lebenskraft und physikalisch angeblich meßbarer Energie hin und her springt. Vgl. dazu: Alexander Lowen: Bio-Energetik. Therapie der Seele durch Arbeit mit dem Körper, Reinbek bei Hamburg 1979, und: Bioenergetik als Körpertherapie. Der Verrat am Körper und wie er wiedergutzumachen ist, Bern/ München/ Wien 1990; Elsworth F. Baker: Der Mensch in der Falle. Das Dilemma unserer blockierten Energie: Ursachen und Therapie, München 1980; John C. Pierrakos: Core Energetik. Zentrum Deiner Lebenskraft, Essen 1987. 169 Vgl. dazu Hans Hass: Das Energon. Das verborgene Gemeinsame, Wien/ Mün-

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Im Irrgarten der Energetik

chen/Zürich 1970. Hass ist ein später Gefolgsmann von Wilhelm Ostwald, der dessen »energetischen Imperativ« zu einer umfassenden Weltsicht auszubauen versucht. Unter »Energonen« versteht Hass »energieerwerbende Systeme«, die »nicht durch ein besonderes Aussehen, sondern durch eine besondere Wirkung« (S. 11) definiert sind, eben durch die Wirkung, Energie aufzunehmen und in einer meßbaren Weise zu nutzen. Deshalb geht er von der These aus, daß alle Energone, also »Pflanzen, Tiere, menschliche Erwerbskörper und Staatsgebilde eine gemeinsame, uns bisher verborgen gebliebene Struktur haben« und »daß alle diese Energone durch Stammesverwandtschaft verbunden sind« (S. 13), denn »die Evolution ist längst über uns hinweggeflossen. Sie setzt sich in den von uns gebildeten Berufskörpern, Erwerbsbetrieben und Staatsgebilden fort – in denen der Mensch nur eine Art von steuernder Keimzelle ist.« (S. 13) 170 Batailles zentrale These lautet in seinem Werk »Die Aufhebung der Ökonomie« (München 3/2001): »Der lebende Organismus erhält, dank des Kräftespiels der Energie auf der Erdoberfläche, grundsätzlich mehr Energie, als zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Die überschüssige Energie (der Reichtum) kann zum Wachstum eines Systems (zum Beispiel eines Organismus) verwendet werden. Wenn das System jedoch nicht mehr wachsen und der Energieüberschuß nicht gänzlich vom Wachstum absorbiert werden kann, muß er notwendig ohne Gewinn verlorengehen und verschwendet werden willentlich oder nicht, in glorioser oder in katastrophischer Form.« (S. 45) Vgl. dazu auch Anmerkung 99 zu diesem Kapitel. 171 Hanna-Maria Zippelius: Die vermessene Theorie, Braunschweig/Wiesbaden 1992. 172 Bischof: Ödipus, S. 171 f.; vgl. auch S. 141 ff. u. S. 152 ff.

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2.15 Charles Darwin oder Die Frage nach dem phylogenetischen Erbe

2.15.1 Überblick Sie stritten sich beim Wein herum, Was das nun wieder wäre; Das mit dem Darwin wär gar zu dumm Und wider die menschliche Ehre. Sie tranken manchen Humpen aus, Sie stolperten aus den Türen, Sie grunzten vernehmlich und kamen zu Haus Gekrochen auf allen vieren.1

Dieses Gedicht von Wilhelm Busch (1832–1908) aus den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts vermittelt eine gewisse Ahnung von der narzißtischen Kränkung, die Darwin bei seinen Zeitgenossen mit seiner Evolutionstheorie 2 ausgelöst haben muß. Das Gedicht zeigt aber auch, wie genau der angehende Humorist Wilhelm Busch seinen Darwin gelesen hat, weil ihm offenbar sofort klar war, wie sehr Darwins Evolutionstheorie den Blick für Regressionsphänomene aller Art schärft und welches Potential an umwerfender Komik entdeckt werden kann, wenn man nach dem durch Darwin postulierten tierischen Erbe im menschlichen Verhalten bzw. nach dem latent Menschlichen im tierischen Verhalten sucht und den Menschen als die »Krone der Schöpfung« dadurch vom Thron seiner Gottähnlichkeit schubst. Entwicklungshöhe heißt eben auch Fallhöhe. Aus diesem Grund wimmelt es in Buschs Bildergeschichten von spektakulären Stürzen aller Art, denn wer entwicklungsgeschichtlich besonders hoch steht, kann durch Regressionen aller Art auch besonders tief stürzen. 1341 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

Auf diese Thematik sind wir ja schon bei Augustinus und Baudelaire 3 gestoßen, die beide christlich theologisch argumentierten und im Lachen die Wiederholung des Sündenfalls und den Sturz ins sündhaft Animalische sahen. Doch im Unterschied zu Augustinus und Baudelaire sieht der neue Heide Wilhelm Busch die komischen Stürze seiner Helden gerade nicht als Sündenfall, sondern ganz wertfrei als komisches Phänomen und erweist sich hier als Parteigänger Darwins, der das tierische Erbe im menschlichen Verhalten ebenfalls nicht als »unbewältigte Vergangenheit« 4 des Menschen ansah, die nicht vergehen will und derer man sich schämen müßte und schon gar nicht als Analogon zur christlichen Erbsünde 5, die nach Erlösung verlangt, sondern als etwas, das es vorurteilsfrei wissenschaftlich zu erforschen gilt. So gesehen stehen Darwin und Wilhelm Busch deutlich erkennbar in der Tradition von Aristoteles. 6 2.15.2 Von Lamarck zu Darwin Die erste systematische Darstellung einer Evolutionstheorie findet sich in der Philosophie zoologique (1809) von Jean Baptiste Lamarck (1744–1829), in der es heißt: »Die Arten oder Species der Organismen sind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und zeigen nur eine relative, zeitweilige Beständigkeit; aus Varietäten gehen Arten hervor. Die Verschiedenheit der Lebensbedingungen wirkt verändernd auf die Organisation, die allgemeine Form und die Teile der Tiere ein, ebenso der Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe. Im ersten Anfang sind nur die allereinfachsten und niedrigsten Tiere und Pflanzen entstanden und erst zuletzt diejenigen von der höchstzusammengesetzten Organisation. Der Entwicklungsgang der Erde und ihrer organischen Bevölkerung war ganz kontinuierlich, nicht durch gewaltsame Revolutionen unterbrochen. Das Leben ist nur ein physikalisches Phänomen. Alle Lebenserscheinungen beruhen auf mechanischen, auf physikalischen und chemischen Ursachen, die in der Beschaffenheit der Materie selbst liegen. Die einfachsten Tiere und die einfachsten Pflanzen, welche auf der tief-

1342 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Lamarck zu Darwin

sten Stufe der Organisationsleiter stehen, sind entstanden und entstehen noch heute durch Urzeugung (generatio spontanea). Alle lebendigen Naturkörper oder Organismen sind denselben Naturgesetzen wie die leblosen Naturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Ideen und Tätigkeiten des Verstandes sind Bewegungserscheinungen des Zentralnervensystems. Der Wille ist in Wahrheit niemals frei. Die Vernunft ist nur ein höherer Grad von Entwickelung und Verbindung der Urteile.« 7

Mit diesen wenigen Sätzen, in denen Lamarck seine Evolutionstheorie zusammenfaßt, hat er nicht nur das biblisch-christliche Weltbild, sondern auch die gesamte Naturphilosophie seit Aristoteles buchstäblich vom Tisch gefegt und einen in sich konsequenten revolutionäre Entwurf dagegen gesetzt, der in all seinen Details eine Fülle von ideologischem Sprengstoff birgt. Im einzelnen heißt das: • Nicht nur die kulturellen Phänomene unterliegen dem historischen Wandel, sondern auch die Natur selbst ist einem ständigen Wandel unterworfen, bei dem Neues entsteht und Altes vergeht, sodaß der je aktuelle Bestand an Arten und deren Gestalt nur eine Momentaufnahme im ewigen Prozeß dieser Naturgeschichte ist. Das aber hat die Konsequenz, daß der biblische Schöpfungsbericht nicht mehr ernst genommen werden muß, sondern bestenfalls nur noch als frommes Märchen gelesen werden kann. • Es gibt Gesetzmäßigkeiten, die diesen Prozeß der Evolution beginnen lassen und vorantreiben, und diese liegen in der Materie selbst. Diese Gesetzmäßigkeiten bestehen in der Vererbung erworbener Eigenschaften und Fähigkeiten, die sich aus dem Gebrauch oder Nichtgebrauch bestimmter Organe ergeben. Das aber heißt: Die Arten entstehen durch Urzeugung von selbst, entwickeln sich von selbst und bedürfen deshalb auch keiner Kraft, die von außen auf sie einwirken müßte, und schon gar keines Schöpfergottes. Ob das Postulat einer Urzeugung nicht ein genauso frommes Märchen ist wie die biblische Genesis, ist eine Frage, die sich Lamarck allerdings nicht stellt. • Es gibt unterschiedlich hohe Grade oder Stufen der Entwicklung, aber nicht im Sinne eines vorgegebenen Ständestaats des Organischen gemäß einem ebenfalls vorgegebenem Schöpfungsplan, 1343 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

der jeder einzelnen Art seinen ewig unveränderlichen »natürlichen Ort« als »Ort seiner Form« (Aristoteles) zuweist, sondern die verschiedenen Entwicklungsgrade dokumentieren nur die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen resp. die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Damit ist auch das altehrwürdige Denkmodell der »Kette der Wesen« (Lovejoy) obsolet geworden, das den Ständestaat des Seienden durch eine streng geordnete Hierarchie zwischen dem Nichts und Gott veranschaulichen sollte. • Der Prozeß der Entwicklung bewirkt durch die Vererbung erworbener Eigenschaften und Fähigkeiten eine kontinuierliche Steigerung organischer Komplexität, weil Individuen und Arten ständig dazulernen. Das aber heißt, daß der jeweilige Stand organischer Komplexität direkte Rückschlüsse auf das Alter einer Art zuläßt. • Alle organischen Phänomene lassen sich unter einem einzigen Aspekt, dem der Entwicklung und der jeweiligen Entwicklungshöhe erfassen und erklären. Und das heißt wieder, daß auch die Annahme einer speziellen Lebenskraft oder Seele, die eigens zum Organismus hinzutreten müßte, um diesen zu beleben, durch diesen Evolutions-Monismus obsolet geworden ist. • Auch der Mensch selbst und das jeweilige kulturelle Leben sind nur Teilaspekte dieses allgemeinen evolutionären Naturgeschehens und deren nur vorläufiger Endpunkt, weil diese Evolution zu noch höherer Komplexität weiterschreiten kann und wohl auch weiterschreiten wird. Wie weit diese Evolution aber gehen wird, hat der Mensch zum Teil sogar selbst in der Hand, je nachdem, welche seiner Organe er in welcher Art gebraucht oder auch nicht gebraucht. Wir sehen also, wie konsequent Lamarck das Programm einer materialistisch orientierten Aufklärung im Sinne einer Selbstermächtigung des Menschen durchgeführt hat. Allerdings ist diese Selbstermächtigung des Menschen nur eine scheinbare, weil Lamarck den Menschen sofort wieder dem anonymen Walten von Naturgesetzen ausliefert und deshalb die Existenz eines freien Willens leugnen muß. Aus diesem Grund setzt er sich entschieden von den naturphilosophischen Konzepten seiner Vorgänger ab, wenn er schreibt: 1344 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Lamarck zu Darwin

»Die alten Philosophen hatten die Notwendigkeit einer besonderen Ursache, welche die organischen Bewegungen hervorruft, wohl gefühlt; weil sie jedoch die Natur nicht hinreichend studiert hatten, haben sie dieselbe außerhalb derselben gesucht: Sie haben sich eine Lebenskraft gedacht, eine Seele der Tiere, haben auch selbst den Pflanzen eine solche zugeschrieben, und anstatt positiver Kenntnisse haben sie bloß Worte zuwege gebracht, mit denen man nur unbestimmte und unbegründete Begriffe verbinden kann. Jedesmal aber, wenn wir die Natur verlassen, um uns den phantastischen Eingebungen der Einbildungskraft hinzugeben, verlieren wir uns ins Unbestimmte und in Irrtümer.« (S. IXf )

Lamarcks Überlegungen zur Physiologie einzelner Organismen bauen ebenfalls auf dem Prinzip der Vererbung erworbener Eigenschaften und Fähigkeiten auf, sodaß sich durch diesen Mechanismus nicht nur der Phänotyp einer Art entsprechend ändert, sondern sich auch immer neue Reflexe und Instinkte durch pure Gewohnheit ausbilden und dann weiter vererben. Daß bestimmte Verhaltensweisen zur »zweiten Natur« werden können, interpretiert Lamarck also nicht individuell ontogenetisch, kulturell und soziologisch, wo es ganz legitim wäre, sondern rein biologisch, wo es, wie sich alsbald herausstellen sollte, unsinnig ist, weil Lamarck von den Gesetzen, nach denen sich Vererbung vollzieht, noch keine rechte Ahnung hatte. Wie Lamarck sich den Mechanismus der Vererbung erworbener Eigenschaften und Fähigkeiten im einzelnen vorstellte, entwickelt er im 7. Kapitel seiner Zoologischen Philosophie (S. 68–84) und faßt dies in zwei Gesetzen zusammen, die das Zusammenwirken von Organismus und Umwelt als Spiel von Frage und Antwort beschreiben: »Bei jedem Tiere, welches den Höhepunkt seiner Entwickelung noch nicht überschritten hat (und deshalb noch veränderbar ist), stärkt der häufigere Gebrauch und dauernde Gebrauch eines Organs dasselbe allmählich, entwickelt, vergrößert und kräftigt es proportional der Dauer dieses Gebrauchs; der konstante Nichtgebrauch eines Organs macht dasselbe unmerklich schwächer, verschlechtert es, vermindert fortschreitend seine Fähigkeiten und läßt es endlich verschwinden.« (S. 73)

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Charles Darwin

»Alles, was die Individuen durch den Einfluß der Verhältnisse, denen ihre Rasse (Art) lange Zeit hindurch ausgesetzt ist, und folglich durch den Einfluß des vorherrschenden Gebrauchs eines Organs erwerben oder verlieren, wird durch die Fortpflanzung auf die Nachkommen vererbt, vorausgesetzt, daß die erworbenen Veränderungen beiden Geschlechtern oder den Erzeugern dieser Individuen gemein sind.« (S. 73)

Kurz: »Die Gewohnheiten werden zur anderen Natur.« (S. 74)

Diese These Lamarcks wurde dann nicht nur von Darwin und Spencer übernommen, sondern auch von den meisten Physiologen und Biologen des 19. Jahrhunderts, bis sie schließlich von Gregor Mendel (1822–1884) und August Weismann (1834–1914) definitiv widerlegt 8 wurde. Das hinderte Freud jedoch nicht, diese These noch in seinen letzten Werken zu vertreten. Als Darwin (1809–1882) 1859 sein epochales Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection 9 veröffentlichte, argumentierte er zwar weitgehend auf der Grundlage von Lamarcks Evolutionstheorie, fügte aber einige entscheidende Aspekte hinzu, die ihn dann doch weit über Lamarck hinausführten. Lamarck hatte die Arten als ewig identische Wesenheiten gesehen, die sich gleichsam auf parallelen Einbahnstraßen nebeneinander entwickeln, sodaß die Zahl der Arten ewig gleichbleibt. Dies ließ sich sogar noch in etwa mit dem biblischen Schöpfungsbericht vereinbaren, weil dort jede Art einzeln erschaffen wird. Darwin hingegen ging von der These aus, daß alle Arten letztlich einen gemeinsamen Ursprung haben, sich in immer neue Arten aufspalten, von denen einzelne auch wieder aussterben, sodaß sich in der Evolution der Arten ein ganzes Gewirr von Abzweigungen, Wegkreuzungen und Sackgassen ergibt, und die Gesamtzahl der Arten nie gleich bleibt. Weil Darwin aber auch den Menschen in dieses Strauchwerk von Arten eingliederte, sodaß der Mensch letztlich mit allen Arten in irgendeiner Weise mehr oder weniger verwandt ist und am engsten mit den rezenten Affen, barg seine Evolutionstheorie das weitaus größere Provokationspotential in sich als die Theorie Lamarcks, die die Sonderstellung des Menschen noch ge1346 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Lamarck zu Darwin

wahrt hatte. Der Bannstrahl des Vatikans 10 kam denn auch prompt und Darwins Werk landete auf dem Index. Aber auch die Kirchenmänner der anderen christlichen Konfessionen 11 reagierten nicht weniger gereizt. Nicht weniger provokativ war Darwins These, daß sich auch die Menschheit auf unterschiedlicher Entwicklungshöhe befindet, sodaß man mit gutem Recht von höher und höchst entwickelten, also gleichsam erwachsenen menschlichen Rassen und primitiveren und primitivsten, also gleichsam noch kindlichen Rassen 12 sprechen darf. Im Zeitalter des europäischen und insbesondere des britischen Kolonialismus verschaffte diese These den Kolonialmächten ein äußerst gutes Gewissen, wenn man den unterentwickelten »Wilden« die europäische Zivilisation brachte, da diese ja doch nur, wie Rudyard Kipling es ausdrückte, »half devil and half child« 13 waren. Der Antrieb für diese ständige Aufspaltung des Lebens in immer neue Arten ist für Darwin der »Kampf ums Dasein« (vgl. S. 98 ff.), durch den nicht nur, wie bei Lamarck, bestimmte Organe, sondern sogar ganze Arten sich verändern, indem sie sich veränderten Lebensbedingungen anzupassen suchen, was dann zur Folge hat, daß entweder neue und besser angepaßte Arten entstehen, andere Arten aber aussterben, weil ihnen die Anpassung an die neue Situation nicht gelungen ist. Dieses Prinzip »Kampf ums Dasein« resp. »Überleben des Anpassungsfähigsten«, das Darwin von Spencer übernommen hatte, zeigt, daß Darwin sich hier an der Bürgerkriegs-Philosophie von Thomas Hobbes orientiert, indem er die menschliche »Konkurrenzsorge« (Gadamer) auf die gesamte Natur überträgt, sodaß die allfällige Machtfrage auch hier lautet: »Wer wen?« Der für unsere Fragestellung wichtigste Aspekt der Darwinschen Evolutionstheorie ist die These von der Bildung rudimentärer Organe und Verhaltensweisen (vgl. S. 627 ff.), die auf den ersten Blick den »Stempel der Nutzlosigkeit« (S. 627) tragen, und die dadurch entstehen, daß sie durch die Veränderung der Umwelt und der bislang darauf abgestimmten Lebensweise überflüssig geworden sind. Darwin vergleicht sie mit »den Buchstaben eines Wortes, die zwar beim Buchstabieren zur Geltung kommen, jedoch bei der Aussprache unnötig sind, die aber die Abstammung des Wortes erklären« (S. 635). Aus diesem Grund vermitteln rudimentäre 1347 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Organe und Verhaltensweisen einen Blick auf frühere Entwicklungsstadien einer bestimmten Art und sind deshalb für eine evolutionsgeschichtlich orientierte Betrachtung des Verhaltens von höchstem heuristischem Wert. Sie sind gleichsam organismus-immanente Fossilien oder Luxusprodukte14 der Evolution. Da auch für Darwin die Evolution kumulativ vor sich geht, ist die Wahrscheinlichkeit, daß derartige rudimentäre Organe und Verhaltensweisen entstehen, umso größer, je höher der Entwicklungsgrad einer Art ist, besonders groß natürlich beim Menschen als der am höchsten entwickelten Art. Dies schafft andererseits aber auch wieder die Möglichkeit, daß derlei Organe und Verhaltensweisen, die im Hinblick auf die Erhaltung der Art, also im Hinblick auf Fortpflanzung, Nahrungserwerb und Verteidigung unmittelbar nutzlos sind, umgewidmet und neuen Zwecken nutzbar gemacht werden können. Eines dieser Luxusprodukte der Evolution könnte vielleicht auch das Lachen sein, und deshalb setzt die evolutionsgeschichtlich orientierte Ätiologie des Lachens genau an diesem Punkt an. Im engen Zusammenhang mit dem Hinweis auf rudimentäre, atrophierte und abortive Organe hatte Darwin auch die Vermutung geäußert, es sei »sehr wahrscheinlich, daß bei vielen Tieren das embryonale oder Larvenstadium mehr oder weniger vollkommen den Zustand der ganzen Gruppe in seinem erwachsenen Zustand spiegelt.« (S. 625)

Diese noch etwas vorsichtige Vermutung übernahm Ernst Haeckel und dogmatisierte sie sofort zum »Biogenetischen Grundgesetz« 15, demzufolge die Ontogenese die Phylogenese strikt und lückenlos wiederholt. Haeckels Rekapitulationsgesetz wurde zwar schon bald von Karl Ernst von Baer (1792–1876) widerlegt 16, erwies sich aber als derart verführerisch, daß es trotzdem noch sehr lange die evolutionsgeschichtliche Debatte geprägt und deshalb auch auf die evolutionsgeschichtlich orientierte Ätiologie des Lachens eingewirkt hat, weil es die Möglichkeit zu bieten schien, das Lachen als einen Rest von archaisch-infantilem Verhalten zu deuten, das wir an unseren zeitgenössischen Vorfahren, also an Kindern, »Wilden« und Idioten in seiner reinen, kulturell noch unüberformten Gestalt wahrnehmen und studieren können. 1348 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Lamarck zu Darwin

So ganz neu war dieser Gedanke jedoch nicht, denn er findet sich schon bei den Anthropologen des 18. Jahrhunderts. So lesen wir z. B. in Engels Mimik (1785) im 15. Brief: »Der Pöbel, das Kind, der Wilde, kurz der Mensch ohne Sitten, ist der wahre Gegenstand, an dem man den Ausdruck der Leidenschaften studiren muß, so lange man noch nicht auf seine (kulturell bedingte) Schönheit, sondern bloß auf seine Kraft, seine (natürliche) Richtigkeit sieht.« 17

Wenn man mit Darwins Blick nun auch das Lachen untersucht und die Frage nach dem phylogenetischen Erbe in diesem Verhalten stellt, so differenziert sich diese Frage in folgende Einzelfragen: 1) Ist die Frage nach einer evolutionsgeschichtlichen Ätiologie des Lachens überhaupt sinnvoll oder grundsätzlich verfehlt? 2) Ist das menschliche Lachen aus tierischem Verhalten allmählich entstanden oder aber durch einen Quantensprung der Evolution? 3) Ist das Lachen die Signatur einer bestimmten Entwicklungshöhe, die nur der Mensch erreicht hat, also ein proprium hominis? 4) Ist Lachen ein rudimentäres Verhalten, das z. B. durch die Rekapitulationsthese angemessen auf den Begriff gebracht werden kann? 5) Ist das Lachen ein Regressionsphänomen, ein Rückfall aus einer bestimmten Entwicklungshöhe in archaisches, primitives oder kindliches, vielleicht sogar in tierisches Verhalten? 6) Mit welchem tierischen Verhalten könnte man welches menschliche Lachen als analoges oder gar homologes Phänomen vergleichen? 7) In welcher Weise ließe sich sinnvoll auch von tierischem Lachen reden? 8) Gibt es archaischere und entwickeltere Formen des Lachens, gibt es also eine Evolutionsgeschichte des Lachens selbst, oder sind alle Arten des Lachens gleichzeitig entstanden und befinden sich deshalb alle auf gleicher Entwicklungshöhe? 9) Gibt es analog dazu auch eine ontogenetische Entwicklung speziell des menschlichen Lachens oder ist die Entwicklung des menschlichen Lachens, sofern es diese gibt, ein rein kulturelles Phänomen? 1349 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

Wie man sieht, sind all dies Fragen, auf die wir bisher noch nie gestoßen sind, weil in den bisher erörterten gelotologischen Ansätzen das Lachen immer nur als spezifisch menschliches Verhalten und noch nie als genuin historisches Phänomen in seiner geschichtlichen Gewordenheit betrachtet worden ist und schon gar nicht als ein Phänomen mit tierischer Vorgeschichte. Ob dieser völlig neue Blick auf das Lachen aber tatsächlich neue Aspekte dieses seltsamen Phänomens sichtbar werden läßt, gilt es nun zu klären, und ob sich all diese Fragen auch beantworten lassen, wird sich zeigen. 2.15.3 Darwins Ausdrucks-Buch Fragen wir also zunächst, wie die Evolutionstheoretiker der ersten Generation selbst sie beantwortet haben und gehen deshalb gleich auf Darwins Werk The Expression of the Emotions in Man and Animals von 1872 18 ein. Wie schon aus dem Titel ersichtlich ist, gliedert Darwin den Menschen nicht nur im Hinblick auf seine Abstammung, sondern auch hinsichtlich seiner emotionalen Bekundungen ins Tierreich ein und billigt analog dazu den Tieren ein Gefühlsleben zu, das mit dem des Menschen nicht nur vergleichbar, sondern umso ähnlicher ist, je näher sie dem Menschen entwicklungsgeschichtlich stehen. Dieser Ansatz dürfte für Darwins Zeitgenossen, die noch in den Kategorien von Charles Bell dachten, eine gehörige Provokation gewesen sein, denn der schottische Anatom Charles Bell (1774– 1842) hatte in seinem Werk Anatomy and Philosophy of Expression von 1806, das 1844 noch einmal in dritter Auflage erschienen war, die These vertreten, allein der Mensch habe von Gott Gesichtsmuskeln 19 verliehen bekommen, um seinen Mitmenschen seine edlen Gefühle mitteilen zu können. Bell argumentierte also noch ganz in der Tradition der Physikotheologie des 18. Jahrhunderts, die in England von John Ray (1627–1705) mit seinem Werk The Wisdom of God manifested in the Works of Creation von 1691 20 begründet und dann in Deutschland, wie wir gesehen haben, vor allem durch Barthold Heinrich Brockes fortgeführt worden war. So gesehen ist Darwins Ausdrucks-Buch also explizit ge1350 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Darwins Ausdrucks-Buch

gen Bells Physikotheologie geschrieben, weil er darstellen will, daß der Mensch auch im Ausdrucksverhalten durchaus keine Sonderstellung im Reich des Lebendigen einnimmt, weil dieses ein Produkt der Evolution ist wie jedes andere Verhalten auch. Und weil die Natur laut Darwin auch hier keine Sprünge macht, stehen die Primaten als unsere nächsten tierischen Verwandten und zeitgenössische Vorfahren uns auch im Ausdrucksverhalten so nahe, daß dieses uns Aufschlüsse darüber geben kann, aus welchem tierischen Ausdrucksverhalten sich unser menschliches entwickelt haben dürfte. Bells Ansatz ist für Darwin schon grundsätzlich verfehlt, denn »schon die einfache Tatsache, daß die menschenähnlichen Affen die nämlichen Gesichtsmuskeln wie wir besitzen, macht es sehr unwahrscheinlich, daß diese Muskeln bei uns ausschließlich dem Gesichtsausdruck dienen; denn ich denke doch, daß niemand anzunehmen geneigt sein wird, daß Affen mit speziellen Muskeln begabt worden sind nur zu dem Zwecke, ihre Grimassen darzustellen. Es lassen sich in der Tat bestimmte, vom Ausdruck unabhängige Gebrauchsweisen mit großer Wahrscheinlichkeit für beinahe alle Gesichtsmuskeln nachweisen. Sir Charles Bell wünschte offenbar einen so weiten Unterschied zwischen dem Menschen und den niederen Tieren zu machen als nur möglich.« (S. 18)

Im Gegensatz dazu behauptet Darwin: »Solange man den Menschen und alle übrigen Lebewesen als besondere Schöpfungen betrachtet, wird ohne Zweifel unserm natürlichen Verlangen, den Ursachen des Ausdrucks soweit als möglich nachzuforschen, eine wirksame Schranke gesetzt. Nach dieser Doktrin (von Bell) kann alles und jedes gleichmäßig gut erklärt werden; in bezug auf die Lehre vom Ausdruck hat sie sich verderblich erwiesen, ebenso wie in bezug auf jeden andern Zweig der Naturgeschichte. Beim Menschen lassen sich einige Formen des Ausdrucks, so das Sträuben des Haars unter dem Einflusse des äußersten Schreckens, oder das Entblößen der Zähne unter dem der rasenden Wut, kaum verstehen, ausgenommen unter der Annahme, daß der Mensch früher einmal in einem viel niedrigern tierähnlichen Zustande existiert hat. Die Gemeinsamkeit gewisser Ausdrucksweisen bei verschiedenen, aber verwandten Spezies, so die Bewegungen derselben Gesichtsmuskeln während des Lachens beim Menschen und bei verschiedenen Affen, wird

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Charles Darwin

etwas verständlicher, wenn wir an deren Abstammung von einem gemeinsamen Vorläufer glauben. Wer aus allgemeinen Gründen annimmt, daß der Körperbau und die Gewohnheiten aller Tiere allmählich entwickelt worden sind, wird auch die große Lehre vom körperlichen Ausdrucke der Seelenzustände in einem ganz neuen und interessanten Lichte betrachten.« (S. 20)

Dieses »neue Licht« ist für Darwin die Kombination der Rekapitulationsthese mit der Theorie der rudimentären Organe und Verhaltensweisen und der Reflex-Physiologie, aus der er nun das generelle heuristische Prinzip für die Analyse des Ausdrucksverhaltens gewinnt, und deshalb schreibt er im Vorwort zu seinem Werk: »Unsere tierischen Vorfahren haben diese mimischen Muskelbewegungen ursprünglich ausgeführt, weil sie ihnen im Kampf uns Dasein und zur Befriedigung ihrer tierischen Begierden nützlich und zweckdienlich waren; häufig und während zahlloser Generationen wiederholt, wurde diese Neigung dazu auf die Nachkommen vererbt, und die Macht dieser ererbten Gewohnheit macht sich nun bei uns, den späten Enkeln, trotz vollständig veränderter Lebensverhältnisse, noch geltend, indem diese Muskelbewegungen als Ausdrucksform gewisser Gemütszustände zum Vorschein kommen, obgleich dabei von irgendwelcher Zweckmäßigkeit nicht mehr die Rede sein kann.«21

Um aber diese Ausdrucksweisen in ihrer reinsten Form jenseits und vor aller kulturellen Überformung erfassen und studieren zu können, orientiert sich Darwin außerdem noch am Verhalten unserer zeitgenössischen Vorfahren, die weitaus spontaner und deshalb auch »natürlicher« reagieren als erwachsene männliche Europäer, also am Verhalten der Kinder, der »Wilden« und der »Irren«. Und außerdem auch noch an den Reflexen der Gesichtsmuskeln, »wie diese unter der Wirkung des Galvanismus in Dr. Duchennes Versuchen22 erscheinen« (S. 27), denn hier glaubte er den Ausdruck der Gemütsbewegungen in seiner allerreinsten, kulturell ungeprägtesten Form zu erblicken, weil diese als Reflexe ganz automatisch erfolgen. Außerdem nahm er die Überlegungen seines Freundes Herbert Spencer über eine physiologisch-energetische Ätiologie des Lachens als Anregung auf, denen er »größte Bedeutung« (S. 17) beimaß. Darwins Methodik beruht also auf einem recht seltsamen Methodensynkretismus: auf Lamarcks Vererbungstheorie, Spencers 1352 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Nervenkraft-Energetik und der Konkurrenzsorge im Sinne von Thomas Hobbes, die bei ihm als »Kampf ums Dasein« (struggle for life) erscheint, dazu tritt noch das Trägheitsprinzip von Newtons Physik und außerdem Darwins Begabung zur sehr genauen phänomenologischen Beschreibung menschlichen und tierischen Verhaltens, und speziell dieser Begabung verdanken sich die besten Passagen des ganzen Werkes. 2.15.3.1 Die drei Prinzipen Aus diesem Methodensynkretismus leitet Darwin drei »allgemeine Prinzipien des Ausdrucks« (S. 35) ab und diese lauten: • »Das Prinzip zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten«; • »Das Prinzip des Gegensatzes«; • »Das Prinzip, daß Handlungen durch die Konstitution des Nervensystems verursacht werden, von Anfang an unabhängig vom Willen und in einem gewissen Maße unabhängig von Gewohnheit.« (S. 35) Auf das dritte Prinzip, das Ausdrucksbewegungen als unverfügbare Reflexe und als Durchbrüche von Nervenenergie versteht, müssen wir hier nicht weiter eingehen, weil sich, wie wir gesehen haben, die energetisch orientierte Ausdruckstheorie als heilloser Irrweg erwiesen hat. Viel aufschlußreicher sind die beiden anderen Prinzipien, die man als Darwins eigentliche Leistung bezeichnen darf, weil nur hier die Ausdrucksphänomene in ihrer evolutionsgeschichtlichen Gewordenheit in den Blick gerückt werden. Mit dem wiederholten Hinweis auf die »Macht der Gewohnheit« (S. 36 u. ö.) postuliert Darwin nämlich ein biologisches und physiologisches Trägheitsprinzip analog der Newtonschen Physik 23, nur mit dem Unterschied, daß dieses Trägheitsprinzip nicht wie bei Newton die Körper dazu bringt, eine einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten, sondern die Muskulatur eines Organismus dazu, bestimmte Bewegungsabläufe immer wieder auszuführen und zu Automatismen zu verfestigen und diese Bewegungsabläufe außerdem auch noch zu vererben. 1353 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Verhaltensweisen, die einmal in Gang gesetzt worden sind, weil sie sich in bestimmten Situationen als sinnvoll erwiesen haben, tendieren laut Darwin also dazu, sich zu erhalten, auch wenn die Situation, auf die sie ursprünglich geantwortet hatten, nicht mehr gegeben ist, und diese Tendenz zur Erhaltung einmal erworbener Fähigkeiten und Eigenschaften ist laut Darwin so beherrschend, daß sie als ad-hoc-Fähigkeiten auch gegen unseren Willen zu Gewohnheiten werden und als solche sogar vererbt werden können und dann gleichsam zur freien Verfügung stehen, um auch auf bestimmte Situationen zu antworten, die sich von der, auf die sie sich ursprünglich bezogen haben, stark unterscheiden können. Man könnte auch sagen, das Prinzip biologisch-physiologischer Trägheit führe zu einem unendlich langen Bremsweg beim Verlust einmal erworbener Eigenschaften und Fähigkeiten, wenn neue Situationen auftreten, und bewirke somit im Lauf der Evolution immer wieder neue Asymmetrien von neu entstandenen Situationen und mitgeschleppten Verhaltensweisen, die sich zur funktionalen Umwidmung anbieten, weil das tradierte Verhalten gleichsam ins Leere läuft. Und da auch diese funktionalen Umwidmungen sich laut Darwin vererben können, ergibt sich daraus für Darwin eine weitere Möglichkeit zur Verschränkung von ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung. In diesem evolutionsgeschichtlichen Trägheitsprinzip sieht Darwin den eigentlichen Impuls für Ausdrucksverhalten aller Art und deshalb erläutert er sein erstes Prinzip mit den Worten: »Gewisse komplizierte Handlungen sind unter gewissen Seelenzuständen von direktem oder indirektem Nutzen, um gewisse Empfindungen, Wünsche usw. zu erleichtern oder zu befriedigen; und sobald derselbe Seelenzustand herbeigeführt wird, so schwach dies auch geschehen mag, so ist infolge der Macht der Gewohnheit und der Assoziation eine Neigung vorhanden, dieselben Bewegungen auszuführen, wenn sie auch im gegebenen Falle nicht von geringstem Nutzen sind. Einige in der Regel durch Gewohnheit mit gewissen Seelenzuständen assoziierte Handlungen können teilweise durch den Willen unterdrückt werden, und in derartigen Fällen sind die Muskeln, welche am wenigsten unter der besonderen Kontrolle des Willens stehen, diejenigen, die am meisten geneigt sind, doch noch tätig zu werden und da-

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mit Bewegungen zu veranlassen, welche wir als ausdrucksvoll anerkennen. In gewissen anderen Fällen erfordert das Unterdrücken einer gewohnheitsmäßigen Bewegung andre unbedeutende Bewegungen, und diese sind gleicherweise ausdrucksvoll.« (S. 36)

Ausdrucksverhalten ist so gesehen also immer ein tendenziell unverfügbares automatisches Geschehen, ein ständiges Überwältigtwerden des Organismus durch sein frisch erworbenes eigenes ontogenetisches oder auch durch sein phylogenetisches Erbe. Mit einem Wort: Ausdrucksverhalten ist ein tendenziell unverfügbares Widerfahrnis, das sich am Organismus, in ihm und mit ihm vollzieht, und weil dies für das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen ebenfalls gilt, bot es sich für Darwin an, das Bekundungs-Lachen ganz unter diesem Aspekt als uraltes phylogenetisches Erbe zu sehen, das wir auch mit den Affen als unseren nächsten tierischen Verwandten gemein haben. Das zweite Prinzip, das »Prinzip des Gegensatzes«, ergibt sich für Darwin ganz konsequent aus dem ersten, und dazu schreibt er: »Gewisse Seelenzustände führen zu bestimmten gewohnheitsmäßigen Handlungen, welche, nach unserm ersten Prinzip, zweckmäßig sind. Wenn nun ein direkt entgegengesetzter Seelenzustand herbeigeführt wird, so tritt eine sehr starke und unwillkürliche Neigung zur Ausführung von Bewegungen einer direkt entgegengesetzten Natur ein, wenn auch dieselben von keinem Nutzen sind, und derartige Bewegungen sind in manchen Fällen äußerst ausdrucksvoll.« (S. 36)

Darwin kommt also gar nicht auf die Idee, daß es auch ambivalente, in sich antagonistische Neigungen geben könnte, die sich als Bewegungs-Wiederholung, als Hin-und-her-Bewegung oder als Bewegung-auf-der-Stelle manifestieren und steht deshalb dem äußerst ausdrucksstarken Phänomen konvulsivischer Gestaltverläufe immer wieder völlig ratlos gegenüber. So schreibt er z. B.: »Da die Furcht ein Erzittern sämtlicher Muskeln des Körpers verursacht, so wird die Stimme zitternd und gleichzeitig auch wegen der Trockenheit des Mundes heiser, da die Speicheldrüsen nicht tätig sind. Warum aber das Lachen des Menschen und das Kichern der Affen aus einer schnellen Wiederholung von Lauten besteht, kann nicht geklärt werden.« (S. 107)

Oder an anderer Stelle: 1355 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Warum aber die Laute, welche der Mensch ausstößt, wenn er vergnügt ist, den eigentümlich wiederholten Charakter des Lachens haben, wissen wir nicht.« (S. 229)

Sicher ist er sich nur, daß all diese konvulsivischen Bewegungen eine gemeinsame phylogenetische Wurzel haben müssen, denn: »Obgleich wir kaum weder die Form des Mundes während des Lachens, welche zur Faltenbildung unterhalb der Augen führt, noch den eigentümlich wiederholten Laut des Lachens, noch das Zittern der Kinnlade erklären können, so können wir nichtsdestoweniger schließen, daß all diese Wirkungen Folgen einer gemeinsamen Ursache sind. Denn sie sind alle für einen vergnügten Seelenzustand bei verschiedenen Affen charakteristisch und ausdrucksvoll.« (S. 229 f.)

Darwins Begabung zur genauen phänomenologischen Beschreibung zeigt sich vor allem, wenn er das konkrete Verhalten von Affen schildert und dabei all seinen Ballast an Theorie erst einmal beiseite läßt und sofort auf das zentrale Problem jeder mimetischen Analyse zusteuert, auf die Unterscheidung von unadressierter Affekt-Bekundung und adressierter Affekt-Mitteilung, denn er beginnt das Kapitel über »Vergnügen, Freude, Zuneigung« mit den Sätzen: »Es ist nicht möglich, wenigstens ohne mehr Erfahrung, als ich sie besitze, bei Affen den Ausdruck des Vergnügens oder der Freude von dem der Zuneigung zu unterscheiden. Junge Schimpansen geben eine Art bellenden Laut von sich, wenn sie sich über die Rückkehr irgend jemandes freuen, dem sie anhänglich sind. Wenn dieser Laut, den die Wärter ein Lachen nennen, ausgestoßen wird, werden die Lippen vorgestreckt; doch werden sie dies auch im Zustande anderer Erregungen. Nichtsdestoweniger konnte ich bemerken, daß wenn diese Tiere freudig gestimmt waren, die Form der Lippen etwas von der verschieden war, welche sie annehmen, wenn sie sich ärgern. Wird ein Schimpanse gekitzelt – und die Achselhöhlen sind besonders für das Kitzeln empfindlich wie bei unsern Kindern –, so wird ein noch entschiedenerer kichernder oder lachender Laut ausgestoßen, obschon das Lachen zuweilen von keinem Laute begleitet wird. Die Mundwinkel werden dann zurückgezogen, und dies verursacht zuweilen, daß die unteren Augenlider leicht runzlig werden. Aber dieses Runzeln, welches für unser eignes Lachen so charakteristisch ist, zeigt sich bei einigen andern Affen noch deutlicher. Die Zähne im Ober-

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kiefer werden beim Schimpansen nicht exponiert, wenn er seinen lachenden Laut ausstößt, in welcher Hinsicht er von uns abweicht. Aber die Augen funkeln und werden heller.« (S. 146)

Wenn man nun darauf verweist und Darwin dahingehend korrigiert, daß auch beim menschlichen Lachen nicht jedesmal die Zähne gefletscht werden, so besteht zwischen dem Lachen des Menschen und dem des Schimpansen auf den ersten Blick eigentlich kein nennenswerter Unterschied, und somit wären beide Verhaltensweisen nicht nur analog, sondern auch homolog, hätten also nicht nur dieselbe situationsspezifische Funktion, sondern entstammten außerdem noch einem gemeinsamen und relativ jungem Erbe. Und so hat es Darwin wohl auch gesehen, denn er schreibt in seinem Bilanz-Kapitel: »Es wäre interessant, wenn schon vielleicht müßig, darüber eine Spekulation anzustellen, wie früh in der langen Reihe unsrer Vorfahren die verschiedenen ausdruckgebenden Bewegungen, welche der Mensch darbietet, sukzessiv erlangt worden sind. (…) Wir können zuverlässig annehmen, daß das Lachen als ein Zeichen der Freude oder des Vergnügens von unsern Vorfahren ausgeübt wurde, lange ehe sie verdienten, menschlich genannt zu werden; denn sehr viele Arten von Affen stoßen, wenn sie vergnügt sind, einen oft wiederholten Laut aus, welcher offenbar unserm Lachen analog (gemeint ist: homolog) ist und von zitternden Bewegungen ihrer Kiefer und Lippen begleitet wird, wobei die Mundwinkel nach hinten und oben gezogen, die Wangen gefurcht und selbst die Augen glänzend werden.« (S. 400)

Bei dieser Bilanz fällt auf, daß Darwin auf die Frage gar nicht eingeht, aus welchen Verhaltensweisen, die bei unseren tierischen Vorfahren im Kampf ums Dasein einmal wichtig waren, diese Bedeutung heute aber verloren haben, das menschliche Lachen sich entwickelt habe, denn er verleiht dem Lachen selbst schon eine vormenschlich-tierische Vergangenheit und konzediert ihm außerdem eine gleichbleibende entwicklungsresistente Funktion als Ausdruck von Behagen aller Art. So gesehen wäre das Lachen mindestens schon bei den gemeinsamen Vorfahren der heutigen Menschen und Affen auf dem Entwicklungsstand angelangt, den es heute immer noch hat, und damit wären die meisten unserer Ausgangsfragen eigentlich schon beantwortet oder gar gegenstandslos gewor1357 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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den. Das muß für uns selbst aber durchaus nicht in gleicher Weise gelten, und deshalb müssen wir nochmal neu ansetzen und etwas genauer nachfragen, und dabei wird sich am Ende herausstellen, daß das Verhalten der Schimpansen, das Darwin für Lachen hielt, überhaupt kein Lachen ist, sondern etwas ganz anderes, sodaß wir sagen können: Das Lachen unserer tierischen Vorfahren und Zeitgenossen ist das Phlogiston der Darwinisten. 2.15.3.2 Ausdruck und Interaktion Wenn Darwin schreibt, der »Ausdruck des Vergnügens und der Freude« (S. 146) sei von dem der »Zuneigung« (S. 146) nicht zu unterscheiden, so behauptet er implizit, das Bekundungs-Lachen äußere sich in genau derselben Weise wie das Interaktions-Lachen, und außerdem suggeriert er damit zugleich auch, beide Formen von Lachen seien gleichen Ursprungs und gleich alt. Ja, er suggeriert mit dieser Behauptung außerdem, grundsätzlich alle Formern von Bekundungs- und Interaktions-Lachen seien beim Menschen und seinen äffischen Vettern und ihren gemeinsamen Vorfahren homolog. Nun können wir nicht wissen, ob das expressive BekundungsLachen und das der Verständigung dienende Interaktions-Lachen gleichzeitig und aus einer gemeinsamen Wurzel entstanden sind, weil wir Darwins Behauptung, dies sei so gewesen, weder beweisen noch widerlegen können. Sehr wohl aber kann man widerlegen, daß beide Verhaltensweisen identisch sind, weil Darwin das entscheidende Charakteristikum des Interaktions-Lachens völlig ausblendet und sich allein auf die Muskelbewegungen im Gesicht und die Lautgestalt konzentriert, den für jedes Interaktions-Lachen zentral wichtigen Blickkontakt jedoch völlig übersieht. Bekundungs-Lachen ist nämlich unadressierter Ausdruck, InteraktionsLachen aber adressierte Mitteilung von Befindlichkeiten, und zwar adressiert durch den Blickkontakt mit dem Interaktionspartner. So gesehen ist das von Darwin erwähnte Lachen als »Ausdruck des Vergnügens und der Freude« unadressiertes Bekundungs-Lachen, das Lachen der »Zuneigung« aber wohlwollendes Interaktions-Lachen, das sich durch den Blickkontakt gezielt an jemanden wendet. 1358 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Diesen Schwachpunkt in Darwins Argumentation hat, so weit ich sehe, als erster der Neurologe Oskar Kohnstamm (1871–1917) entdeckt und moniert, der schon um die Jahrhundertwende darauf verweist, »daß ein schwerwiegender, wenn auch noch nicht ideal scharf definierter Unterschied besteht zwischen expressiver Reaktion und ›teleokliner‹ (gezielt adressierter) Reizverwertung. Während die Reizverwertung die teleokline Erledigung des Reizes vollbringt, ist die Ausdrucksbewegung Äußerung einer inneren gefühlsmäßigen Zuständlichkeit.« 24

Kohnstamm akzeptiert zwar Darwins These, »daß gewisse komplizierte Handlungen, die unter Umständen von direktem oder indirektem Nutzen waren, infolge von Gewohnheit und Assoziation auch dann ausgeführt werden, wenn kein Nutzen mit ihnen verbunden ist« (S. 213), setzt aber daraufhin zu einer grundsätzlichen Kritik an Darwins Konzept an, wenn er fortfährt: »Nach seiner Ansicht wären die Ausdrucksbewegungen gleichsam irrtümlich liegen gebliebene Reste von Zweckbewegungen, und ihre Determinanten, die ja nach meiner Auffassung 25 nichts als Strukturen sind, rudimentäre Organe. Hier zeigt sich Darwin im Bann des englischen Common-sense-Utilitarismus, über den meine Aufstellung der Expressivität als des neben der Teleoklinese gleichberechtigten biologischen Exponenten hoffentlich hinaushelfen wird. Es ist schwer, nicht ironisch oder pathetisch zu werden, wenn man die Expressivität, diese eigentliche Blüte des Lebens, so mißhandelt sieht, wie es durch diese künstliche Theorie geschieht. Trotzdem hat die Darwinsche Aufstellung, die den souveränen Charakter der Ausdrucksbewegung völlig verkennt, den richtigen Kern, daß die Zweckbewegungen ihnen vorausgehen, und daß ihr Verhältnis zu einander kein evolutionistisches, deszendenzliches ist, sondern das der expressiven Assoziation« (S. 213),

also der Miterregung ähnlich gelagerter Verhaltensweisen. Kohnstamms säuberliche Unterscheidung von »Ausdrucksbewegung« und »Zweckbewegung« hat Schule gemacht und ist später auch von Karl Bühler in seiner Ausdruckstheorie (1933) und Sprachtheorie (1934) und von F. J. J. Buytendijk in seinem monumentalen Werk Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung (1956) als Unterscheidung von »zielge1359 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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richtetem Handeln« und »zielloser Ausdrucksbewegung« (S. 203– 253) übernommen worden, und daran orientiert sich natürlich meine eigene Unterscheidung von adressiertem Interaktions-Lachen und unadressiertem Bekundungs-Lachen. Ganz im Sinne von Kohnstamms Kritik an Darwin argumentiert auch Helmuth Plessner in seinem Buch Lachen und Weinen von 1941, wenn er in dem Kapitel »Das Bild der Gebärde im Lichte des Handelns« schreibt: »Die Ausdrucksbewegungen lassen sich (…) nicht als Handlungen zum Zweck der Verständigung oder Signalisierung (also als Form von Interaktion) auffassen, ohne daß man ihrem Wesen Gewalt antut. Damit drohen sie, dem Gesichtskreis der Zweckmäßigkeit und Ökonomie völlig zu entschwinden. Um dies zu verhindern und die offenbare Zwecklosigkeit der Mimik mit den Forderungen der Teleologie der organischen Natur zu versöhnen, hat man (gemeint sind Darwin und die Darwinisten bis herauf zur Lorenz-Schule) versucht, die Ausdrucksbewegung aus der Handlung anzuleiten, gleichzeitig aber ihren EigenSinn zu respektieren und einen Grund für ihre Existenz neben den Handlungen zu finden.« (VII,265)

Diese Lücke in der Argumentation soll nun Darwins Theorie der rudimentären Organe und Verhaltensweisen schließen, weshalb Plessner fortfährt: »Alles Lebendige muß einen Zweck haben, und, wenn es ihn nicht hat, muß es ihn wenigstens gehabt haben: die berühmte Theorie der rudimentären Organe lockert die starre Gebundenheit des Organismus an das teleologische Prinzip durch den Ausblick auf seine stammesgeschichtliche Vergangenheit, ohne es preiszugeben. Wie jedes Individuum Reste seiner Herkunft und Spuren seines Werdens mit sich schleppt, obwohl sie längst in einer veränderten Daseinslage funktionslos geworden sind, so auch die Art, so auch der Mensch. Der Darwinismus hat uns gelehrt, in einer gegebenen Organisation die Spuren der Vergangenheit zu erkennen. Besonders hilfreich wird sein Prinzip in Fällen offenbarer Störung der funktionellen Harmonie oder Funktionslosigkeit, wofür als Beispiel der Blinddarm erwähnt sei, der – soweit wir wissen – nur den Zweck hat, die Einnahmen der Chirurgen zu erhöhen. Gibt es aber in Rückbildung begriffene Organe, so kann es auch in Rückbildung begriffene Funktionen geben, die vor Jahrtausen-

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den einen Sinn hatten, als ihr Träger noch ein anderes, primitiveres Wesen war und mit ihnen den Kampf uns Dasein führen mußte. Nun hängen sie ihm noch an als erstarrte Gewohnheiten, zwecklos gewordene Waffen, überholte Einrichtungen einer schwerfälligen Architektur, in der längst ein neues Leben ans Licht drängt.« (VII,265 f.)

Wenn wir jetzt nochmal bei Darwin nachfragen, welches vormenschliche Verhalten im menschlichen Lachen als Erbe aufscheint, bekommen wir aber immer noch keine Antwort, da Darwin das Bekundungs-Lachen und das Interaktions-Lachen als »Zeichen der Freude, des Vergnügens und der Zuneigung« ja schon unseren tierischen Vorfahren zuerkennt, »lange ehe sie verdienten, menschlich genannt zu werden« (S. 400). Wir stehen also wieder einmal vor dem seltsamen Befund, daß Darwins Evolutionstheorie auf die Frage nach der Evolution des Lachens eigentlich gar keine Antwort parat hat, weil er dem Lachen schon eine vor-menschliche Evolutionsgeschichte zuspricht, die auf der Stufe des menschlichen Lachens längst abgeschlossen ist. Dadurch verschiebt sich unsere Fragestellung erneut und es stellt sich für uns die Frage, wo dann die Grenze zwischen dem tierischen und dem menschlichen Lachen zu ziehen sei, vorausgesetzt, man könne diese Grenze überhaupt ziehen. Um diese Frage aber zu klären, müssen wir etwas weiter ausholen. 2.15.4 Von Darwin zu Haeckel Die erste Generation der Darwinisten war v. a. durch Ernst Haeckel (1834–1919) geprägt 26, der Darwins vorsichtige Vermutung, »daß bei vielen Tieren das embryonale oder Larvenstadium mehr oder weniger vollkommen den Zustand der ganzen Gruppe in seinem erwachsenen Zustand spiegelt« (S. 625), in seinem Hauptwerk gleich zum »Biogenetischen Grundgesetz« dogmatisierte, demzufolge die Ontogenese die Phylogenese strikt und lückenlos wiederholt. Mit dieser griffigen Formel schien ein Argumentationsschema von größtem heuristischem Wert vorzuliegen, mit dem man zumindest morphologische Gegebenheiten evolutionsgeschichtlich auf den Begriff bringen und die vorgeschichtliche Ahnenreihe jeder Art erschließen konnte. Wenn man dieses Biogenetische Grund1361 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gesetz nun auch auf eine evolutionsgeschichtlich orientierte Analyse des Verhaltens übertrug, schien es darüber hinaus auch noch die Möglichkeit zu bieten, die vorgeschichtliche Ahnenreiche aktueller Verhaltensweisen in den Blick zu rücken, weil man sie am Verhalten der zeitgenössischen Vorfahren, also am Verhalten der Kinder und »Wilden« glaubte ablesen zu können, weil diese sich angeblich heute noch so verhalten und immer noch so lachen wie unsere Ahnen illo tempore. Kurz: Die Lachkultur der »guten alten Steinzeit« (Plessner) schien sich aus dem Dunkel der Vorzeit zu enthüllen. Der zweite entscheidende Beitrag Haeckels zum evolutionsgeschichtlichen Diskurs war sein oft zitierter »Systematischer Stammbaum des Menschen«, mit dem er an das altehrwürdige Denkmodell der »Kette der Wesen« 27 anknüpfte, dem wir zuletzt bei Alexander Pope und seinem berühmten Lehrgedicht An Essay on Man (1733) begegnet sind. Dort wird eine streng hierarchische Rangordnung in einem Ständestaat des Seienden vom leeren Nichts bis hinauf zu Gott als dem höchsten Seienden entworfen, die jedem Ding seinen ihm einzig angemessenen »natürlichen Ort« (Aristoteles) zuweist. Ist jemand mit diesem seinem Ort nicht einverstanden, weil ihn die Selbstüberhebung dazu verführt, sich höher verorten zu wollen, ergibt sich das Sündenfall-Szenario, das das christliche Denken von Augustinus bis Baudelaire geprägt hat: »Ein Engel will der Mensch, ein Gott der Engel sein.« 28 Ganz so weit wie die klassische Kette der Wesen reicht Haeckels Kette der Lebewesen aber nicht, sondern beginnt erst bei den Amöben als den am niedersten organisierten Organismen und endet schon beim Menschen, aber eben nicht beim Menschen schlechthin, sondern erst beim weißen männlichen Mitteleuropäer, eigentlich aber erst beim Professor Haeckel selbst. Für die anderen menschlichen Rassen gilt, wie er in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868) schreibt: »Das Endresultat dieser Vergleichung ist, daß zwischen den höchstentwickelten Thierseelen und den tiefstentwickelten Menschenseelen nur ein geringer quantitativer, aber kein qualitativer Unterschied existirt, und daß dieser Unterschied viel geringer ist, als der Unterschied zwischen den niedersten und höchsten Menschenseelen, oder als der Unterschied zwischen den höchsten und niedersten Thierseelen. (…)

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Von Darwin zu Haeckel

Wenn Sie hier eine scharfe Grenze ziehen wollen, so müßten Sie geradezu dieselbe zwischen den höchstentwickelten Kulturmenschen einerseits und den rohesten Naturmenschen andrerseits ziehen, und letztere mit den Thieren vereinigen.« 29

Die genaue Analyse dieses Grenzbereichs zwischen den am höchsten entwickelten Tieren und den »Wilden« als den am niedrigsten entwickelten Menschen ist nun von größtem heuristischem Wert für eine evolutionsgeschichtlich argumentierende Erforschung des Verhaltens, weil in diesem Grenzbereich, wie das Biogenetische Grundgesetz lehrt, die Vorgeschichte des entwickelten menschlichen Verhaltens angesiedelt ist und studiert werden kann. Man kann diese These natürlich als rassistische Verirrung verdammen, doch diesen rassistischen Eurozentrismus vertrat Haeckel durchaus nicht allein, sondern teilte ihn mit fast allen seinen Zeitgenossen 30, weil er dem kolonialistischen Imperialismus ein denkbar gutes Gewissen verlieh. Rudyard Kipling (1865–1936) hat diese Apologie der weißen Vorherrschaft über den Rest der Welt 31 in seinen Dichtungen bekanntlich besonders emphatisch besungen. Und diesen Rassismus vertrat natürlich auch der englische Psychologe James Sully (1842–1923), der Haeckels Biogenetisches Grundgesetz für eine Theorie des Lachens nutzbar gemacht hat und deshalb in seinem Werk An Essay on Laughter. Its Forms, its Causes, its Development and its Value von 1902 32 eigens die Frage nach dem Lachen der Kinder und »Wilden« stellt. 2.15.4.1 Sullys Evolutionsgeschichte des Lachens Wie der Untertitel von Sullys Werk verrät, bestand Sullys Ziel nicht nur darin, Formen, Ursachen und Entwicklungsgeschichte des Lachens darzustellen, sondern auch den Wert des Lachens aufzuzeigen. Seine Studie versteht sich deshalb nicht nur als eine enzyklopädische Darstellung des Lachens auf evolutionsgeschichtlicher Grundlage, sondern v. a. auch als dessen Apologie. Damit stellte sich Sully explizit in eine Argumentationstradition, die bei Aristoteles beginnt und über Wilhelm von Conches und die RenaissanceÄrzte bis herauf zur Heiteren Aufklärung von Shaftesbury und 1363 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Kant reicht. Sully bezeichnet sich, ähnlich wie Joubert, den er aber nicht gekannt zu haben scheint, nämlich ausdrücklich als einen »true friend of laughter« (S. 3) und darüber hinaus auch noch als einen »treuen Freund des heiteren Gottes (mirthful god)« (S. 3). Zugleich damit setzt er sich polemisch von den »Feinden des Lachens (laughter haters)« (S. 1) ab, als deren Hauptvertreter in der neueren Zeit er Blaise Pascal und den Lord Chesterfield benennt. Im Gegensatz zu Sullys Vorhaben, das Lachen enzyklopädisch in all seinen Formen darzustellen, zeigt sich aber bald, daß er im wesentlichen das Lachen als Antwort auf das Komische ins Auge gefaßt hat und somit entgegen seiner Absicht doch wieder reduktionistisch vorgeht, ja er geht sogar so weit, einen »Bereich des objektiv Komischen« (S. 20) zu postulieren, der jeden zum Lachen reizen müsse und den er in der Pointenhaftigkeit all der Anmutungs-Phänomene sieht, die Gelächter aller Art auslösen. Dies führt ihn dann zu der These, »daß das Blitzartige und Verwunderliche der Bewegung (lightness and capriciousness of movement), das plötzliche und unvorhersagbare Kommen und Gehen (swift and unpredictable coming and going) das Wesen des Lachens ausmachen.« (S. 21)

Das Ziel seiner Darstellung besteht demnach in dem Aufweis, »wie unsere heiteren Explosionen (mirthfull explosions) und unsere scherzhaften Spöttereien (sportive railleries) in ihren tiefsten Wurzeln mit unseren ernsten Interessen verbunden sind. So gesehen hat das Lachen als eine Funktion des menschlichen Organismus eine segensreiche Lebensfunktion und verströmt seine Wohltaten auf alle Bereiche des menschlichen Lebens. Diesem Wert (value) des je aktuellen Lachens für unser Leben gilt es nachzuspüren, wenn wir unserem Thema gerecht werden wollen.« (S. 20 f.)

Mit dieser Vorentscheidung grenzt Sully sein gelotologisches Forschungsgebiet wieder strikt ein auf das Bekundungs-Lachen und dieses wiederum weitgehend auf das geloiastische Lachen als Antwort auf das Komische und Lächerliche. Das Lachen jenseits des Komischen und Lächerlichen erscheint bei ihm fast nur in der Form des Lachens als Reaktion auf Kitzel (S:50 ff.), als »nervöses Lachen« (S. 66 ff.) oder als erleichtertes Auflachen (S. 68 ff.). Obwohl Sully sich mit seiner Apologie des Lachens entschieden 1364 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Darwin zu Haeckel

in die von Aristoteles begründete Argumentationstradition stellte, nötigte ihn seine Orientierung an Darwins Satz aus dem Ausdrucks-Buch, »daß das Lachen als ein Zeichen der Freude oder des Vergnügens schon von unsern Vorfahren ausgeübt wurde, lange ehe sie verdienten, menschlich genannt zu werden« (S. 400), zentrale Überzeugungen dieser Aristoteles-Schule wieder zu bestreiten, insbesondere den Grundsatz, Lachen sei ausschließlich ein proprium hominis, denn dieser evolutionsgeschichtliche Ansatz legte ihm nahe, auch nach den Formen von Heiterkeit zu fragen, die dem menschlichen Lachen »vorausgegangen sind« (S. 22) und aus denen es sich dann entwickelt haben könnte. Deshalb geht er mit Bacon streng ins Gericht, wenn er schreibt: »Zu den ulkigsten Äußerungen über das Lachen gehört mit Sicherheit auch der Satz von Francis Bacon: ›Das Lachen wird immer durch eine Vorstellung (conceit) des Komischen und Lächerlichen (ridiculous) bestimmt, und deshalb ist es ein proprium hominis.‹ Daß der Ahnherr der induktiven Philosophie sich unserem Thema in dieser Weise genähert hat, ist eine der Kuriositäten, denen wir im gelotologischen Diskurs des öfteren begegnen, denn selbst wenn man ihm zugesteht, daß allein der Mensch lacht, müssen wir doch auch erkennen, wie hoffnungslos schwach er diese These begründet. Die Vorstellung des Komischen und Lächerlichen, von der Bacon hier spricht, ist nämlich in gar keiner Weise zwingend mit dem Lachen verbunden, und, was noch wichtiger ist: Selbst wenn dies mal der Fall ist, folgt diese Vorstellung dem Lachen als Reflexion auf dem Fuß und geht ihm nicht als Gedanke voraus. Unter allen menschlichen Fähigkeiten dürfte das Lachen mit Sicherheit diejenige sein, die sich ihrer primitiven Herkunft am allerwenigsten schämen muß.« (S. 22 f.)

Aus der These, Lachen sei ein proprium auch schon unserer direkten vor-menschlichen Vorfahren gewesen, verbunden mit der These, die Natur mache keine Sprünge, sondern entwickle alle Fähigkeiten und Eigenschaften nur in kleinsten Schritten, leitet Sully dann sein methodologisches Prinzip ab, nach »Graden des Lachens« (S. 23) zu fragen und nach seiner »Entwicklung aus den frühesten und elementarsten Formen« (S. 23). »Denn wenn wir erst auf dem Höhepunkt seiner bisherigen Entwicklungsgeschichte beginnen, und die einfacheren und früheren Entwick-

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lungsgrade nicht ins Auge fassen, werden wir auf der Suche nach dem Kern des Risiblen genauso scheitern wie so viele unserer Vorgänger. Doch wenn wir uns nicht zu gut sind, die Formen des Lachens in seinen primitivsten erkennbaren Entwicklungsstufen zu studieren, und uns auf die bescheidene Frage beschränken, wie das erste Lachen, so unbeseelt-vorbewußt (mindless) es uns auch erscheinen mag, sich entwickelt und in die vielfältigsten Formen ausdifferenziert hat, die zur heutigen Lachkultur der zivilisierten Menschheit geführt haben, dann werden wir zumindest einen bescheidenen Erkenntnisgewinn erzielen.« (S. 23)

An diesem Punkt tritt nun Haeckels Rekapitulationsthese als Stütze zu Sullys historisierendem Ansatz hinzu, derzufolge die Phylogenese durch die Ontogenese wiederholt wird, und das heißt hier, daß auch die Entwicklungsgeschichte des Lachens vom vor-menschlichen Stadium bis zum Lachen des zivilisierten Menschen sich in der Entwicklung der menschlichen Rassen, aber ebenso in der Entwicklung des einzelnen Individuums strikt wiederholt. Daß Haekkels Name in diesem Zusammenhang nicht fällt, liegt wohl nicht daran, daß Sully geistige Abhängigkeiten verwischen will, sondern verrät eher, daß er Haeckels Biogenetisches Grundgesetz als selbstverständliches Wissen voraussetzt. Deshalb fährt Sully fort: »Es liegt auf der Hand, daß man bei jedem Versuch, diese evolutionsgeschichtlich orientierte Forschungsmethode anzuwenden, das Augenmerk nicht nur auf den Bereich des primitiven Gelächters richten muß, das wir bei den kleinen Kindern und den Wilden finden, sondern auch auf die gesellschaftlichen Kräfte, die die Formen der jeweiligen Lachkultur (manifestation of mirth) prägen. Die generelle Gerichtetheit unseres Lachens bezeugt seinen sozialen Charakter und zeigt, wie es alle sozialen Beziehungen hat durchdringen können.« (S. 23)

In diesen wenigen Sätzen wird sichtbar, wie schnell Sully an die Grenzen seiner evolutionsgeschichtlichen Methodik stößt, weil er offenbar gemerkt hat, daß der Versuch, eine Naturgeschichte des Lachens zu rekonstruieren, alsbald in eine Kulturgeschichte des Lachens und der Lach-Anlässe umschlagen muß, es sei denn, daß Sully glaubte, er könne auch kulturgeschichtliche Entwicklungen als pure Verlängerung naturgeschichtlicher Entwicklungen beschreiben. 1366 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Darwin zu Haeckel

Daß dies wohl auch seine Meinung gewesen sein dürfte, zeigt sich alsbald, denn die These, die Natur mache keine Sprünge, führt ihn dazu, im Kapitel »Lächeln und Lachen« (S. 25 ff.) nach Intensitätsgraden des Lachens, aber auch nach dem Lachen auf unterschiedlichen Stufen personaler Entwicklungshöhe und den unterschiedlichen Graden von Lach-Bereitschaft zu fragen. Seine Ausgangsthese lautet hier, daß der Normalzustand des Erwachsenen, genauer: des erwachsenen männlichen Europäers der Ernst ist, daß die entwicklungsgeschichtlich tiefer stehenden und deshalb auch primitiveren Formen des Menschseins, also Kinder und »Wilde«, dem ursprünglichen ungehemmten Lachen näher stehen, also auch einen viel höheren Grad an Lach-Bereitschaft aufweisen. Dies gilt aber ebenso für Personen, die auf einen Dauerzustand minderer personaler Entwicklung zurückgeworfen sind, insbesondere für die »glücklichen Idioten« (S. 25), die unaufhörlich und scheinbar grundlos lachen oder denen ein stereotypes Lächeln als Maske auf dem Gesicht förmlich festgefroren ist. Darauf hatte ja schon Darwin in seinem Ausdrucks-Buch verwiesen (S. 218 f.), auf das sich Sully hier ausdrücklich bezieht. Doch mit dem scharfen Blick des Psychologen hat Sully, ganz anders als Darwin, sofort erkannt, daß dieses pathologische »Dauerlächeln (perpetual smile)« (S. 26) vom normalen Lächeln scharf unterschieden werden muß, weil ihm das zentrale konstitutive Merkmal des normalen personalen Lachens fehlt, das ich als uroborischen Impuls bezeichne. Sully selbst hat dafür keine Bezeichnung, meint aber wohl genau dasselbe, wenn er schreibt: »Die voll ausgeprägte Verlaufsgestalt des Lachens (the full process of laughter) ist, wie Husten, Schluchzen oder andere atmungsrelevante Verhaltensweisen, eine heftige Unterbrechung der normalen Atmungsrhythmik. Und als solche ist ihre Funktion im menschlichen Organismus begrenzt auf einen gelegentlichen uroborischen Ausbruch (occasional spurt). Ein Dauerlächeln (perpetual smile) jedoch, mal ganz abgesehen davon, daß es die anderen ganz anders und als sehr viel nichtssagender empfinden als der Lächelnde selbst, ist genaugenommen mit der geschmeidigen Verlaufsgestalt normaler vitaler Prozesse überhaupt nicht vergleichbar. Was man das ›Dauerlächeln des Blöden‹

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Charles Darwin

(everlasting barren simper) nennt, hat mit dem echten Lächeln überhaupt nichts zu tun.« (S. 26)

Dies deshalb, weil das echte Lächeln auf der Grundlage personaler Lachmündigkeit sich »protopathisch« (Schmitz) ausbreitet und wieder verschwindet, indem es sich, wie jedes andere personale Lachen auch, uroborisch selbst verzehrt. Nachdem Sully mit Recht das pathologische parapersonale Dauerlächeln des Blöden deutlich vom personalen Lächeln des lachmündigen Erwachsenen auf dem vollen Niveau personaler Emanzipation unterschieden hat, geht er auf das Verhältnis von Lachen und Lächeln ein und bestimmt beide als Varianten und unterschiedlich hohe Intensitäts- und Ausgeprägtheitsgrade ein und desselben Verhaltens: »Das Lächeln und das Lachen sind, wenn man sie physiologisch betrachtet, auf das engste verwandt. Ein Lächeln ist, wie wir sehen werden, genau genommen ein unvollkommenes Lachen (incomplete laughter). Und deshalb tun wir gut daran, diese beiden Verhaltensweisen immer zusammen zu studieren.« (S. 26)

Wenn das Lächeln aber als »unvollkommenes Lachen« gilt, so gilt es zugleich auch als unvollkommen entwickeltes Lachen und deshalb müßte es in seiner reinsten Form am Verhalten der noch unvollkommen entwickelten Menschen zu studieren sein, also »an den Kindern und den Erwachsenen, die noch nicht gelernt haben, die primitiven und instinktiven Bewegungen ihrer Gesichtszüge zu kontrollieren« (S. 27), also an Kindern und »Wilden«. Da dieses primitive Lächeln für Sully, genauso wie schon für Darwin, der Ausdruck von »Wohlbehagen« (S. 27) ist, würde dies heißen, daß dieses spezifische Lächeln entwicklungsgeschichtlich gesehen als älter, ursprünglicher und primitiver zu gelten hat als das voll entwickelte Lachen, aber auch als älter, ursprünglicher und primitiver als das Lächeln, das andere Befindlichkeiten bekundet, wie man es »bei den Angehörigen der kultivierten Klassen einer zivilisierten Gesellschaft« (S. 27) feststellen kann, denn dort dient das Lächeln auch ganz anderen Zwecken als bloß Behagen, Glück und Freude zu bekunden. Doch mit diesen Formen des überlegenen, ironischen, bitteren und sardonischen Lächelns (vgl. S. 27) befaßt sich Sully hier nicht weiter und geht gleich zum hörbaren atmungsrele1368 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Darwin zu Haeckel

vanten Lachen über, das sich aus dem Lächeln kontinuierlich hinaufsteigert bis zum explosiven Lach-Ausbruch, weil die Natur eben auch hier angeblich keine Sprünge macht. Um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen von Lachen und Lächeln auf den Begriff zu bringen, nimmt Sully ansatzweise Überlegungen vorweg, die Helmuth Plessner viele Jahre später in seinem Werk Lachen und Weinen (1941) darstellen wird, indem er nach dem Bewußtheitsgrad bestimmter Formen von Gelächter fragt und dabei zu dem Ergebnis kommt, daß Lachen und Lächeln in ihren einfachsten Formen die unbewußte und unreflektierte, mehr oder weniger intensive Bekundung von angenehmen Gefühlszuständen sind, wie dies »bei unmündigen Kindern und erwachsenen Wilden« (S. 39) der Fall ist. »Sobald aber das Lachen nicht mehr pure Freude bekundet, sondern auch nur etwas von sardonischer Bitterkeit oder von Hohn und Verachtung, enthält es zugleich auch einen ganz neuen Grad an Bewußtheit. Ob dieser Wandel von Anblick und Wirkung einzig auf die Unterschiedlichkeit der dahinterstehenden mentalen Haltung zurückzuführen ist, kann man bezweifeln. Wahrscheinlich ändert sich in solchen Fällen auch der gesamte physiologische Prozeß, also Atmung, Artikulation und die allgemeineren organischen Abläufe. Ein bitteres Lachen wirkt nicht nur etwas anders, sondern klingt auch anders als ein rein heiteres.« (S. 48)

Aber warum und wodurch ist das so? – Sully führt es darauf zurück, daß in all den Fällen, bei denen das Lachen von seiner Grundform als unbeschwert heiteres Lachen abweicht, der »Wille« (S. 48) des Lachenden eine besondere Rolle spielt und das jeweilige Lachen entscheidend überformt. Gemeint ist wohl das Verhältnis des Lachenden zu seinem Lachen, oder, mit Plessner gesprochen, die »exzentrische Poniertheit« des Lachenden zu seinem Lachen, also z. B. sein Versuch, sich das eigene Lachen zumindest etwas verfügbarer zu machen, wodurch die Spontaneität des Lachens gebrochen wird. Und deshalb fährt Sully fort: »Diese Einmischung (intrusion) des Willens bewirkt nicht nur, daß der natürliche Gestaltverlauf des Lachens auf eine weniger ausgeprägte rudimentäre Form reduziert wird, sondern auch, daß der spontane Lachausbruch zu verschiedenen affektierten Zerrbildern (counterfeits) ver-

1369 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

fälscht wird. Diese beiden Vorgänge bestätigen die These, daß die Konventionen der höflich gesitteten Gesellschaft nicht nur dazu tendieren, die sogenannte ›vulgäre‹ Art explosiver Lachausbrüche zu unterdrücken, sondern auch die Zeichen der Heiterkeit, wenn man sich um Heiterkeit bemüht. Daher die Vielfalt der gespreizten und gezierten Verhaltensweisen, die die kultivierte Menschheit angenommen hat. Das gekicherte, gedämpfte und erstickte Lachen u. dgl. sind nicht nur reduzierte oder halb unterdrückte Formen von Gelächter, sondern Surrogate (substitutes) des echten natürlichen Lachens und stellen sich immer dann ein, wenn die jeweilige Situation nach ihnen verlangt. Und jeder, der gern und viel lacht, kann all jene, die sich auf dieses verfälschte Lachen beschränken, natürlich nur verachten.« (S. 48 f.)

So sehr man Sully hier folgen möchte, wenn er sein Loblied auf die Freunde des Lachens singt und die Verklemmtheit der Viktorianischen Gesellschaft beklagt, so entschieden muß man aber einige Einwände gegen seine Argumentation erheben, indem man auf die unausgesprochenen dogmatischen Vorentscheidungen hinweist, die seiner Argumentation zugrunde liegen. Da ist zunächst einmal das Vorurteil, Lachen müsse obligatorisch mit Freude und Behagen konnotiert sein, ein Vorurteil, das genauso wenig haltbar ist wie das andere weit verbreitete Vorurteil, Lachen sei obligatorisch mit Komik aller Art konnotiert. Und da Sully diese Thesen von seinem Mentor Darwin übernommen hat, kommt er zwangsläufig zu dem Schluß, das heitere explosive Lachen als das normative Lachen schlechthin zu postulieren, und dies mit dem Effekt, daß all die weniger intensiven Formen von Gelächter als die Degeneration dieses normativen »echten« Lachens erscheinen müssen, das man angeblich nur bei Kindern oder »Wilden« in seiner unverfälschten Form erleben könne. Das wiederum impliziert die These, daß die ontogenetische und kulturelle Evolution des Lachens vom Kind zum Erwachsenen und vom »Wilden« zum Zivilisierten nichts als Degeneration, Abstieg, Verfall und Verfälschung des »echten« Lachens sei, und damit verlaufe die Evolutionsgeschichte als dessen Naturgeschichte nach oben, als dessen Kulturgeschichte hingegen nach unten, sodaß die Lachkultur der Urhorde im Pleistozän nie wieder erreicht werden konnte und im Viktorianischen Zeitalter ihren vorläufigen 1370 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Tiefpunkt erreicht habe. Wie die Naturgeschichte des Lachens aber verlaufen ist, erfahren wir von Sully hier noch nicht, genauso wenig, wie wir dies von Darwin selbst erfahren haben, der das Lachen ja schon unseren vor-menschlichen Vorfahren zugebilligt hatte, »lange ehe sie verdienten, menschlich genannt zu werden« (S. 400). Nun könnte man Sullys Beschreibung dieser Kulturgeschichte des Lachens natürlich auch gegen den Strich lesen und die Meinung vertreten, gerade in all den Formen des in sich gebrochenen, gedämpften, unterdrückten und verzerrten Gelächters zeige sich eine Evolution vom Einfachen zum Komplizierten und vom Primitiven zum Kultivierten, wenn man denn unbedingt evolutionsgeschichtlich argumentieren will. Das muß man aber durchaus nicht, sondern man kann auch ganz anders argumentieren und die verschiedensten aktuellen Formen von Gelächter in all ihren Intensitätsgraden als gleichwertige Varianten der aktuellen Entwicklungsstufe des Lachens ansehen, die nach dem Akt-Potenz-Modell als breitgefächerte Palette von Lach-Möglichkeiten bereitliegen und je nach Situation abgerufen werden können, um auf eben diese Situation angemessen zu antworten. Und so sehe ich es. Wenn man Sullys Ausführungen weiter verfolgt, sieht man aber, daß er seine normative Argumentation und zugleich damit auch seine evolutionsgeschichtliche Sichtweise zunächst aufgibt und eher phänomenologisch argumentiert, denn schon im nächsten Kapitel breitet er eine ganze Palette von lachrelevanten Situationen und Anlässen aus und beschreibt z. B. das Kitzel-Lachen (S,51 ff.), das nervöse Lachen (S. 66 ff.), das erleichterte Auflachen (S. 68 ff.), das freudige Auflachen (S. 70 ff.), das Lachen als Begleitung und Ergänzung von Spiel (S. 76 f.), Neckerei (S. 77 ff.) und Streit (S. 78 ff.), wobei er aber auf die evolutionsgeschichtliche Betrachtung völlig verzichtet und sich ganz an Spencers Energetik-Modell (S. 68 ff.) orientiert, was ja bereits Darwin getan hatte. Deshalb müssen wir auf diese Passagen des Werks auch nicht weiter eingehen. Auch die folgenden Kapitel über das Wesen des Komischen (S. 82 ff. u. S. 119 ff.) sind für uns nicht sonderlich aufschlußreich, sehr wohl aber die Kapitel, in denen er wieder evolutionsgeschicht1371 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

lich argumentiert und auf den Ursprung des Lachens (S. 155 ff.) und auf das Lachen der Kinder (S. 186 ff.) und der »Wilden« (S. 220 ff. u. S. 254 ff.) eingeht. Das Ziel seiner Bemühungen sieht er hier darin zu klären, »wie das Lachen die irdische Szene betreten hat, um den vielen seltsamen Lauten des tierischen Lebens einen weiteren hinzuzufügen« (S. 155). Und nun kehrt er auch wieder zu seiner normativen Sicht auf das Lachen als Ausdruck von Behagen und auf seine enge Konnotation mit dem Komischen zurück. Seine Frage lautet deshalb: »Durch welchen Prozeß kam es dazu, daß das Lachen, das ursprünglich nur ein allgemeines Zeichen von Behagen (pleasure) war, sich darauf spezialisierte, das Aufkommen von geistvoller Heiterkeit, Witzigkeit und Lustigkeit auszuschmücken? Und das heißt: Wie war die Entwicklungsgeschichte dieses Geistes der Lachlustigkeit (spirit of fun) und von welcher Art waren ihre charakteristischen Ausdrucksweisen?« (S. 155)

Der methodologischen Schwierigkeiten, die diese Frage nach einer Geschehens-Geschichte des Lachens mit sich bringt, ist sich Sully offensichtlich bewußt, weil er fortfährt: »Natürlich wäre es unmöglich, über derartige weit zurückliegende und historisch unbezeugte Ereignisse auch nur Mutmaßungen anzustellen, ohne das neue methodologische Instrumentarium hypothetischer Konstruktion, mit dem uns die Evolutionstheorie ausgestattet hat. Um ein derart kühnes Unterfangen zu wagen, können wir uns aber am Vorbild eines höchst bescheidenen Mannes orientieren, denn Charles Darwin hat uns gelehrt, wie man beim Versuch, in das Dunkel der Vorwelt einzudringen, kühn und vorsichtig zugleich vorzugehen hat, und man kann nichts sehnlicher wünschen als die Fähigkeit, getreulich auf seinen Spuren zu wandeln.« (S. 155 f.)

Nachdem Sully eindringlich davor gewarnt hat, das Verhalten der Tiere vorschnell zu vermenschlichen (S. 156 f.), schränkt er die Frage nach Analogien und Homologien zwischen menschlichem und tierischem Verhalten strikt auf die nächsten tierischen Verwandten ein und stellt unter Berufung auf Darwin fest, daß es bei Affen »zweifellos« (S. 162) Verhaltensweisen gibt, die dem menschlichen Lachen und Lächeln engstens verwandt sind, insbesondere wenn sie gekitzelt werden oder wenn sie einen Spielgefährten wiedererkennen, und kommt dann zu dem Schluß, daß sie sich in solchen 1372 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Situationen nicht viel anders verhalten als ein Kleinkind (S. 163) in vergleichbaren Situationen. Doch was ist mit einem solchen Befund für die Rekonstruktion einer Naturgeschichte des Lachens gewonnen? – Eigentlich noch nichts, denn auch Sully kommt nicht über Darwins Mutmaßung hinaus, »daß das Lachen als ein Zeichen der Freude oder des Vergnügens (schon) von unsern Vorfahren ausgeübt wurde, lange ehe sie verdienten, menschlich genannt zu werden« (S. 400). Da unsere nächsten tierischen Ahnen also illo tempore »immer schon« gelacht haben, hätte eine Naturgeschichte des Lachens so gesehen die Aufgabe, die Vorgeschichte dieses Lachens unserer tierischen Vorfahren aufzuzeigen, doch über diese Vorgeschichte des tierischen Lachens haben wir schon bei Darwin nichts erfahren, und auch Sully weiß hier nichts zu sagen, weshalb er die Rekonstruktion der phylogenetischen Evolutionsgeschichte des Lachens schließlich aufgibt, »weil das Ausdrucksverhalten der Tiere unterhalb der menschlichen Entwicklungsstufe uns keine genügend genauen Anhaltspunkte bietet« (S. 170), und sich nur noch auf die ontogenetische Evolutionsgeschichte des menschlichen Lachens konzentriert und deshalb die Frage nach dem ersten Lächeln und Lachen des Säuglings 33 stellt, wie dies bereits Darwin getan hatte. Sullys Befund lautet: »Das erste Lachen ist, genau wie das Lächeln, Ausdruck von Behagen (pleasure).« (S. 168)

Und: »Fest steht, daß das Lachen nach dem Lächeln kommt.« (S. 170)

Und außerdem steht für ihn fest, daß das frühkindliche Lächeln und Lachen eine Fortsetzung des vor-menschlichen ist, weil die Natur eben auch hier keine Sprünge macht. Doch wie die Steigerung vom Lächeln zum Lachen (vgl. S. 176) zustande kommt, kann sich Sully nicht recht erklären. Das liegt wohl zum einen daran, daß er Lächeln und Lachen ausschließlich als Ausdrucksphänomene versteht und nicht auch als Form und Mittel zwischenmenschlicher Interaktion. Aus diesem Grund hat Sully auch keinen Blick für das Resonanz-Lächeln des Säuglings, das mit dem Ausdruck von Behagen nicht das geringste zu tun hat, sondern die früheste Form von Interaktions-Lachen darstellt. (Wir werden im systematischen Teil dieser Studie ausführlich 1373 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

darauf eingehen.) Und zum anderen liegt es daran, daß er beim Übergang vom Lächeln zum Lachen nicht wie Buytendijk danach fragt, »ob bei diesem Übergang etwas da ist, das sich ändert und doch auch dasselbe bleibt«. 34 Er stellt also beim Bekundungs-Lachen nicht die Frage danach, mit welcher Intensität sich jemand von etwas anmuten läßt, und beim Interaktions-Lachen nicht die Frage, mit welcher Einstellung und Intensität sich jemand lachend dem jeweiligen Partner zuwendet, und deshalb kommt er hier auch nicht zu Ergebnissen, die es wert wären, ausführlicher erörtert zu werden. 2.15.4.2 Das Lachen der Kinder und »Wilden« Um die Frühformen des menschlichen Lachens doch noch, wenn auch nur spekulativ und auf der Grundlage von Haeckels Rekapitulationsgesetz, zu rekonstruieren, wendet sich Sully im 8. Kapitel (S. 220 ff.) eigens dem Lachen der »Wilden« zu, da dieses Lachen für ihn auf der gleichen primitiven Stufe steht wie das Lachen der Kinder in zivilisierten Gesellschaften, denn die »Wilden« verharren für ihn gleichsam im Kindheitszustand der Menschheit und verhalten sich dementsprechend kindlich und kindisch wie in der paradiesisch heiteren Atmosphäre eines Kindergartens: »Ganz wie Kinder drücken sie ihre Gefühle ungehemmt aus, und ihr Gelächter und all die anderen Zeichen guten Mutes sind von höchster Intensität. Lautes Gelächter, begleitet von Gehüpfe und Händeklatschen, und all das oft bis zum Exzeß, sodaß sie sogar in Tränen ausbrechen: – dies sind die typischen Verhaltensweisen, die man bei Australiern und anderen wilden Stämmen beobachten kann.« (S. 223 f.)

An Beschreibungen dieser Art, die sich beliebig vermehren ließen, wird deutlich, daß das Bild des »Wilden« sich um 1900 in der Blütezeit des Kolonialismus entscheidend gewandelt haben muß. Für Aristoteles stand fest, daß Barbaren nicht lachen, weil sie gar nicht lachen können; für die Philanthropen des 18. Jahrhunderts, die im Gefolge von Rousseau den »edlen Wilden« erfunden hatten, stand fest, daß dieser nicht lacht, weil er als der perfekte stoische Weise aus dem Urwald nicht lachen will; doch für Darwins und Sullys 1374 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Zeitgenossen waren die »Wilden« große Kinder, wenn sie sich gegen die Kolonialisierung und Missionierung nicht wehrten, und deshalb auch so behandelt werden durften, und wenn sie doch versuchten, sich zu wehren, waren sie laut Kipling »half devil and half child« 35, denn zur Erkenntnis, »daß es keine Wilden gibt, keine Primitiven oder ›Naturvölker‹, sondern nur andere Gesellschaften« 36, konnte man wohl erst kommen, als das Zeitalter des Kolonialismus zu Ende war. So weit war es zu Sullys Zeit aber noch lange nicht, und deshalb zitiert er in den Kapiteln VIII und IX (S. 220 ff. u. 254 ff.) in ermüdender Ausführlichkeit aus ethnologischer Literatur aller Art, um zu beweisen, daß »Wilde« ganz anders lachen als Zivilisierte, also ungehemmter und ordinärer und vor allem auch spontaner. Doch aus all diesen Beschreibungen geht nirgendwo hervor, daß »Wilde« anders lachen als Weiße, sondern letztlich nur, daß sie über anderes lachen. Deshalb schreibt Sully in diesen Kapiteln also auch keine Evolutionsgeschichte des Lachens, sondern eine Kulturgeschichte von Lach-Anlässen und eine Psychologie der Lach-Bereitschaft beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, die sich gegenseitig komisch oder lächerlich finden, weil sie sich gar zu fremd sind. Hier unterscheidet sich Sully deutlich von seinem Mentor Darwin, denn schon Darwin hatte für sein Ausdrucks-Buch viel ethnologisches Material über das Verhalten der »Wilden« zusammengetragen, doch kam es ihm darauf an, deutlich zu machen, daß sich alle menschlichen Rassen in vergleichbaren Situationen letztlich gleich verhalten, weil sie ja alle von gleicher Herkunft sind. Somit kann uns also auch Sully die Frage nach einer Evolutionsgeschichte des Lachens nicht beantworten, wenn man diese Frage in phylogenetischer Orientierung angeht. Im Gegensatz dazu ist es jedoch höchst aufschlußreich, nach der ontogenetischen Entwicklung des Lachens zu fragen, und diese Frage überhaupt gestellt zu haben, ist das eigentliche Verdienst von Sullys Studie. Es wird sich aber zeigen, daß man, wenn man diese Frage weiter verfolgt, auf bestimmte Dogmen verzichten muß, um hier zu genaueren Fragestellungen und Ergebnissen zu kommen, denn wenn man auf das Dogma verzichtet, die Natur mache auch hier keine Sprünge, sondern gezielt nach Sprüngen in der ontogenetischen Entwicklung 1375 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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des Lachens fragt, kommt man bald zu dem Ergebnis, daß die Fremdelphase, in der der Säugling sich zur Person erhebt, in der ontogenetische Entwicklung des Lachens einen veritablen Sprung darstellt, durch den der Säugling sich ruckhaft dem unverfügbaren Resonanz-Lächeln entzieht und lachmündig wird. (Wir werden in Kapitel 3.4.3 darauf eingehen.) 2.15.5 Von Haeckel zu Lorenz Nachdem sich herausgestellt hatte, daß das Biogenetische Grundgesetz durchaus nicht so universell gilt, wie Haeckel behauptet hatte 37, war die zweite Generation der Darwinisten gezwungen, ihr Methodenrepertoire neu zu durchdenken, und forschte deshalb nur noch nach punktuellen Analogien und Homologien zwischen tierischen und menschlichem Verhalten, und jetzt wurde auch das Lachen aufs neue zu einem Thema für die Neo-Darwinisten um Konrad Lorenz und seine Schule. Wer aber nach Analogien und Homologien zwischen tierischem und menschlichem Verhalten fragt, muß ein tertium comparationis benennen können, das Mensch und Tier gemeinsam haben und das Verhalten beider bestimmt, muß darüber hinaus aber auch noch benennen können, was beide trotz all dieser Gemeinsamkeiten immer noch trennt. Die methodologischen Probleme, die sich dadurch ergeben haben, suchten Konrad Lorenz und seine Schule durch einen ganz neuen Methodensynkretismus zu lösen, ähnlich wie dies schon in Darwins Ausdrucks-Buch der Fall war, und deshalb ergänzten sie den evolutionsgeschichtlichen Ansatz bei der Analyse menschlichen und tierischen Verhaltens durch energetische und triebtheoretische Theoreme, wobei insbesondere der Aggressionstrieb eine Schlüsselstellung zur Erklärung tierischer und menschlicher Verhaltensweisen zugewiesen bekam. Da das Postulat einer organischen Energie, wie wir in Kapitel 2.14 gesehen haben, sich als haltlose Spekulation erwiesen hat, stellt sich nun die Frage ob auch der Aggressionstrieb 38, der für die Lorenz-Schule das Lachen entscheidend prägt, sich als ebenso haltloses Postulat, sozusagen als das Phlogiston der Verhaltensforschung erweisen wird. 1376 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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2.15.5.1 Grenzen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten Wir haben gesehen, wie oft sich Darwin und seine Gefolgsleute auf die von Aristoteles stammende These berufen, die Natur mache keine Sprünge, denn, so Aristoteles: »Die Natur schreitet so allmählich von den unbeseelten Dingen zu den belebten Wesen fort, daß man bei dem stetigen Zusammenhange nicht gewahr wird, wo die Grenze der beiden Arten liegt.« 39

Und da dieses Prinzip umfassender Stetigkeit laut Aristoteles auch für den Übergang von den Pflanzen zu den Tieren gilt, gilt es laut Darwin erst recht für den evolutionsgeschichtlichen Übergang von einer Tierart zur anderen und letztlich auch für den Übergang von den Tieren zum Menschen, weshalb er in seinem Hauptwerk schreibt: »Da die natürliche Zuchtwahl nur durch die Häufung kleiner aufeinanderfolgender günstiger Abänderungen wirkt, so kann sie keine großen oder plötzlichen Modifikationen hervorrufen. Daher die Regel: ›Natura non facit saltum‹, die sich mit jeder neuen Erfahrung zu befestigen scheint und nach meiner Theorie auch durchaus verständlich ist. Wir erkennen, warum in der Natur dasselbe Ziel auf unendlich verschiedenen Wegen erreicht wird, denn jede einmal erworbene Eigentümlichkeit wird lange Zeit hindurch vererbt und die in mannigfaltiger Weise abgeänderten Organe müssen ein und demselben Zwecke dienstbar gemacht werden. Kurzum wir erkennen, warum die Natur so verschwenderisch ist in ihren Abänderungen und so geizig in ihren Neuerungen. Warum dies aber ein Gesetz der Natur sein sollte, wenn alle Arten unabhängig erschaffen wären, vermöchte niemand zu sagen.« (S. 654)

Wären nämlich alle Arten unabhängig voneinander erschaffen, wie noch Lamarck angenommen hatte, so gäbe es scharfe, deutlich erkennbare und dementsprechend benennbare Grenzen zwischen ihnen und ihrem Verhalten. Die aber gibt es laut Darwin nicht, und somit gibt es für ihn auch keine deutlich erkennbare Grenze zwischen tierischem und menschlichem Verhalten und dementsprechend auch keine scharfe Grenze zwischen tierischem und menschlichem Lachen. Andererseits gilt aber seit Aristoteles der Satz, das Lachen sei ein 1377 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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proprium hominis, eine Fähigkeit, über die ausschließlich der Mensch verfügt, denn die seltsamen Laute der Lachmöwen, des Lachhabichts und des australischen Eisvogels wird wohl niemand im Ernst als Lachen bezeichnen wollen, auch wenn man für sie so schöne Namen erfunden hat wie Larus ridibundus, Herpetotheres cachinnans oder Dacelo gigas, und niemand außer Canetti wird das Gebell der Hyänen als Gelächter interpretieren wollen. Wer es trotzdem tut und vom »Lächeln des Delphins« oder vom »Grinsen des Hais« spricht, müßte dann wohl auch von der »lachenden Gartenschere«, der »lachenden Klobrille« oder der »lachenden 5« sprechen. Aber auch das wird man wohl nur im Scherz tun. So gesehen muß es also doch eine scharfe Grenze zwischen dem menschlichen Lachen und bestimmten tierischen Lautäußerungen geben, die sich zwar wie menschliches Lachen anhören, aber mit ihm weder analog noch homolog sind. Aber wo liegt diese Grenze? Um diese Frage überhaupt sinnvoll stellen zu können, muß man schon etwas genauer fragen, welche Tiere in welchen Situationen welche Verhaltensweisen zeigen, die man mit bestimmten Formen menschlichen Lachens sinnvoll vergleichen könnte und mit ihm analog oder gar homolog sein könnten, um eine vorschelle Anthropomorphisierung tierischen Verhaltens zu vermeiden. Der Verhaltensforscher Norbert Bischof 40 ist sich sicher, »daß das Philosophenwort, nur der Mensch könne lachen, in dieser simplen Form nicht zutrifft« (S. 548), und behauptet deshalb: »Das Spielgesicht der sozialen Säuger (er meint v. a. die Affen), ja schon das Triumphgeschrei der Graugans ist in mehrfacher Hinsicht unserem Lachen analog.« (S. 548)

Denn: »Nicht daß der Mensch lachen kann, zeichnet ihn aus, wohl aber, worüber er lacht.« (S. 549)

Damit behauptet Bischof implizit, allein das Lachen über Komisches und Lächerliches sei menschlich, viele andere Formen von Bekundungs- und Interaktions-Lachen ließen sich sehr wohl bei bestimmten Tieren nachweisen, weil auch das tierische Verhalten durch das Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe geprägt sei: 1378 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Haeckel zu Lorenz

»Das geschieht etwa in der Situation des Triumphs, wenn der Gegner besiegt ist und das Ich seinen für den Kampf benötigten Panzer wieder ablegen kann. Umgekehrt erklärt sich so aber auch das verlegene Lächeln der Submission, das dem überlegenen Gegner die bedingungslose Kapitulation signalisiert. Wir (und bestimmte Tiere) lächeln ferner im Kontext der Bindung, wenn nämlich das vertraute Gesicht erscheint, das uns erlaubt, das in seiner Abwesenheit aufgebaute Not-Ich wieder aufzulösen. Und wir (und bestimmte Tiere) lächeln und lachen in der Erleichterung nach einem kurzen, nicht zu heftigen Schreck; wir blasen gewissermaßen den Alarm wieder ab, der soeben zur Akklimatisierung des Autonomieanspruchs gegeben wurde.« (S. 548)

Ohne Plessner zu erwähnen argumentiert Bischof hier also mit Plessner gegen Plessner, denn Plessner hätte in dieser Weise niemals argumentiert. Bischofs Behauptung wird auf den ersten Blick durch eine Sendung scheinbar gestützt, die im Dezember 1998 bei Arte ausgestrahlt wurde und die bestimmte Analogien und Differenzen im Verhalten von Schimpansen und Menschen zum Thema hatte. Man hatte dort einem Verhaltensforscher, der eine Herde Schimpansen über längere Zeit beobachtet und begleitet hatte und deshalb der Herde wohlvertraut war, das Fell eines Leoparden übergestülpt, in dem er sich dann auf einer Lichtung zeigte. Als die Herde dann nach einer gewissen Schrecksekunde hoch aggressiv knüppelschwingend auf diesen vermeintlichen Leoparden eindrang, der Forscher seine Verkleidung abwarf und sich der Herde in seiner vertrauten Gestalt präsentierte, reagierten die Schimpansen so, daß sie erst wie angewurzelt stehen blieben und verstummten, dann aber das Spielgesicht aufsetzten und rhythmische Laute ausstießen. Menschen hätten in einer vergleichbaren Situation wohl erleichtert aufgelacht, weil sich eine kritische Situation schlagartig entspannt hatte, und Darwin hätte sicher nicht gezögert, diese gutturalen rhythmischen Laute explizit als erleichtertes Auflachen zu bezeichnen, und Bischof sicher ebenfalls, und zunächst mal scheint es auch keinen Grund zu geben, beiden hier nicht zu folgen, weil die Analogie von äffischem und menschlichem Verhalten in dieser Situation auf den ersten Blick gar zu offensichtlich zu sein scheint. 1379 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Doch Plessner würde hier entschieden widersprechen, denn er schreibt in seinem Werk Lachen und Weinen: »Die Meinung, daß Tiere lachen (und weinen) können, hat Anhänger nicht nur unter Laien: Auch Entwicklungspsychologen und Tierpsychologen setzen sich gelegentlich dafür ein. Ihre Argumente (…) sind jedoch rein äußerlicher Natur. Zweifellos finden sich – vor allem bei Arten, die dem Menschen zoologisch verwandt sind, aber gewiß nicht nur bei solchen und sicher auch beim Kleinkind (…) – Äußerungen des Behagens, des Kitzels, des Unbehagens und des Schmerzes, die ausdrucksmäßig dem Lachen und Weinen gleichen oder ähneln. Laute des Kicherns oder Jaulens und Heulens, Breitziehen der Mundpartie, Verengung der Lidspalte, Tränenfluß u. ä. in entsprechenden Situationen scheinen die fragliche Ansicht zu stützen. Wer sie, und zwar unter Hinweis auf die vollentwickelte Bedeutung, in welcher die Worte Lachen und Weinen in der menschlichen Sphäre gebraucht werden (also im Rahmen eines Verhaltens auf der Grundlage exzentrischer Positionalität), bestreitet (wie Plessner selbst), setzt sich damit dem Verdacht aus, den Menschen zum Maßstab zu machen, unseren Begriff von (menschlichem) Lachen und Weinen zu verabsolutieren und so die Diskussion der Frage, ob Lachen und Weinen beim geistig unentwickelten Säugling (vor der Fremdelphase) und bei Tieren vorkommen, durch einen Anthropomorphismus ihrer Begriffe von vornherein abzuschneiden. So liegt der Fall aber nicht. Lachen und Weinen sind in der Tat Begriffe, die vom menschlichen Verhalten hergenommen sind. Sie müssen erst in ihrem ursprünglichen Anwendungsgebiet (dem menschlichen Verhalten auf der Grundlage exzentrischer Positionalität) aufgeklärt werden, bevor sie zur Bezeichnung von außermenschlichem oder primitivmenschlichem (prä-, post- und para-personalem) Verhalten dienen können. Die Feststellung formaler Ähnlichkeiten im Gebaren zwischen Tieren und Menschen (die wissen, daß sie lachen und weinen) (und die in bestimmten Situationen auch versuchen können, es zu unterdrükken), ist keine genügende Grundlage, um den Schluß zu ziehen, daß auch Tiere es können. Dazu muß man erst die Bedeutung des Bereichs, in dem formale Ähnlichkeit liegt, bestimmen.« (VII,221)

Doch wo liegt dann dieser Bereich, in dem diese eventuell feststellbaren formalen Ähnlichkeiten liegen, und wo liegen seine Grenzen? Und vor allem: Lassen sich diese Grenzen überhaupt exakt bestim1380 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Haeckel zu Lorenz

men? Ja, haben Bereiche überhaupt exakt bestimmbare Grenzen? Haben sie nicht vielmehr diffuse Ränder, in denen sie kontinuierlich in andere Bereiche übergehen? Bereiche sind hier vergleichbar mit Regionen und Epochen, die im Unterschied zu Revieren und Zeitspannen sich dadurch auszeichnen, daß auch sie über keine exakt bestimmbaren Grenzen, sondern nur über diffuse Ränder verfügen. Wann das Mittelalter endet und die Neuzeit beginnt, können wir nicht genau sagen und durch ein konkretes Datum kennzeichnen, weshalb Huizinga in seinem berühmten Buch mit Bedacht vom »Herbst des Mittelalters« spricht und zwischen die beiden Epochen Mittelalter und Neuzeit eine weitere Epoche mit ebenfalls diffusen Rändern einschiebt. Und ebensowenig können wir bei einer Fahrt nach Norden sagen, an welchem Punkt wir die Region Süddeutschland verlassen und die Region Norddeutschland betreten, obwohl wir doch irgendwann mit Sicherheit sagen können, daß wir Süddeutschland längst verlassen haben und in Norddeutschland angekommen sind. Da sich Reviere und Regionen bzw. Zeitspannen und Epochen als Formen extensionaler Räumlichkeit und Zeitlichkeit aber auch überlagern können, haben wir immer die Möglichkeit, willkürliche Grenzen zu ziehen, müssen uns dabei aber immer bewußt sein, daß dies nach Maßgabe willkürlich bestimmter Kriterien geschieht, die zwar mehr oder weniger plausibel, aber nie wirklich zwingend sein können, sodaß man jederzeit Alternativen dazu angeben kann, die jedoch genauso willkürlich sind. Ganz analog liegt der Fall bei der Frage nach den Grenzen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten allgemein. Für Plessner ist das Kriterium für diese Grenzziehung die exzentrische Positionalität des Menschen, der davon weiß, daß er lacht und weint, deshalb auch ein Verhältnis zu seinem aktuellen Verhalten haben und den Versuch machen kann, dieses in bestimmten Situationen zu unterdrücken, in anderen Situationen sich ihm aber mit Genuß hinzugeben. Doch über diese Möglichkeit verfügen Tiere offensichtlich nicht, weil sie »zentrisch poniert« (Plessner) sind bzw. weil sie immer in »primitiver Gegenwart« (Schmitz) leben, der sie nie entkommen können. Über diese Möglichkeit verfügen ja nicht einmal 1381 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

wir Menschen immer-und-überall, weil auch wir selbst in bestimmten Situationen immer schon in primitiver Gegenwart leben, z. B. als Säugling vor der Fremdelphase, oder in primitive Gegenwart zurückfallen können, z. B. bei der Implosion der Personalität durch das Widerfahrnis des Plötzlichen. In solchen Situationen, in denen auch der erwachsene, wache und besonnene Mensch seine Fassung verlieren kann, z. B. während einer Panik, verhält er sich nicht viel anders als ein Tier, und allein schon dadurch ergibt sich ein Bereich, in dem menschliches und tierisches Verhalten sich asymptotisch annähert, also in allen Fällen, in denen sich bestimmte Verhaltensweisen als unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollziehen und wir der jeweiligen Situation distanzlos ausgeliefert sind. Eine dieser Verhaltensweisen ist das ekstatische Bekundungs-Lachen, das als unverfügbares Widerfahrnis aus uns herausbricht, uns packt und schüttelt, uns aber auch wieder freigibt, wenn es sich uroborisch verzehrt hat. Somit kommen wir durch das hier eingeführte Kriterium der Personalität, das später im systematischen Teil dieser Studie noch präziser bestimmt werden wird, zu dem vorläufigen Befund: Im prä-, para-, und post-personalen Bereich – und nur in diesem! – kann menschliches Verhalten tierischem Verhalten analog und homolog sein, und umgekehrt könnte man bestimmte tierische Verhaltensweisen wieder mit bestimmten Formen des prä-, para- und post-personalen Verhaltens analogisieren, die sich bei der momentanen Implosion oder dem perennierenden Verlust der Personalität ergeben. Eine Menschenmenge verhält sich nicht anders als eine Herde von Tieren, wenn beide in Panik geraten, denn dann gilt für beide nur noch das Prinzip: »Nix wie weg!« Wenn wir jedoch den Kreis der Betrachtung etwas enger ziehen und nach Analogien oder gar Homologien zwischen bestimmten tierischen und bestimmten menschlichen Verhaltensweisen fragen, ergibt sich ein ganz anderes Bild, denn dann läßt sich die Frage, ob das Verhalten der oben erwähnten Schimpansenhorde ein erleichtertes Auflachen war und damit ein tierisches Lachen, sehr viel genauer stellen und dann eben explizit verneinen. Es gibt nämlich ein schlagendes Argument, mit dem man beweisen kann, daß diese Schimpansen nicht gelacht haben, weil Schimpansen grundsätzlich 1382 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nicht lachen können, weshalb man mit Plessner und gegen Darwin und Bischof das Lachen auch ausschließlich als menschliches Verhalten werten muß. Robert R. Provine hat in seiner Studie Laughter. A scientific investigation nämlich nachgewiesen, daß das angebliche Lachen der Schimpansen gar kein Lachen ist, sondern ein Hecheln (panting), also keine gestotterte laute Ausatmung, sondern ein rascher Wechsel von Einatmung und Ausatmung 41 bei geringer Lautstärke, das sich in etwa anhört wie das Sägen. Da dieses rhythmische Hecheln der Rhythmik gestotterter Ausatmung aber so ähnlich ist, kann es leicht damit verwechselt und damit als Analogie oder gar als Homologie zum menschlichen Lachen mißdeutet werden. Da dieses Hecheln immer mit offenem Maul geschieht, sieht es ja auch so ähnlich aus wie menschliches Lachen, hört sich aber ganz anders an, denn lautes Hecheln ist kein Lachen. So wie Schimpansen also nicht lachen, weil sie nicht lachen können, so können Menschen wiederum nicht lauthals hecheln, weil sie dies schon aus rein anatomischen Gründen nicht können, sie können nur gestottert ausatmen, also lachen, oder gestottert einatmen, also schluchzen, aber nicht beides zu einer eigenen neuen Lautgestalt miteinander verbinden. Kurz: Das vermeintliche »Lachen« der Schimpansen ist also tatsächlich das Phlogiston der Darwinisten, und Plessner hätte sogar in einem viel höheren Maß Recht, als er selbst glaubte, denn es gibt nicht einmal »formale Ähnlichkeiten« physiologischer und anatomischer Art zwischen dem angeblichen »Lachen« der Schimpansen und dem menschlichen Lachen. Wenn Provine nun in seinem Aufsatz die Vermutung äußert, dieses dem menschlichen Lachen auf den ersten Blick so ähnliche Hecheln der Schimpansen sei die evolutionsgeschichtliche Vorform des menschlichen Lachens beim gemeinsamen Vorgänger von Affen und Menschen (S. 40) gewesen, das sich beim Schimpansen weiterhin als »panting laughter« erhalten, beim Menschen aber gemeinsam mit der Sprachfähigkeit zum menschlichen Lachen als gestotterter Ausatmung weiterentwickelt habe, so klingt dies plausibel. Dann sollte man aber auch die terminologische Konsequenz aus dieser evolutionsgeschichtlich plausiblen These ziehen und das Hecheln der Schimpansen z. B. als »Erregungs-Hecheln«, nicht aber 1383 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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als »Hechel-Lachen« oder gar als »Lachen« bezeichnen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Völlig absurd ist die von der Lorenz-Schule immer wieder behauptete Analogie des menschlichen Lachens mit dem ominösen Triumphgeschrei der Graugans, denn auch dieses angebliche Triumphgeschrei ist ja nicht einmal ein Geschrei, also ein laut tönendes rhythmisches Ausatmen wie das Bellen der Hunde, sondern ebenfalls ein trompetenhaft tönendes Hecheln, also ein rasch aufeinander folgendes überlautes Ein- und Ausatmen bei weit offenem Schnabel und mit freigestellter Zunge. Nun könnte ein hartnäckiger Darwinist natürlich das Argument anführen, wenn zwar nicht das laute Hecheln der heutigen Schimpansen die evolutionäre Vorstufe des menschlichen Lachens sei, dann sei doch zumindest das laute Hecheln des Urprimaten als des gemeinsamen Vorfahrens der heutigen Menschen und Affen die evolutionäre Vorstufe sowohl des heutigen menschlichen Lachens als auch des äffischen Hechelns, und somit habe sich das menschliche Lachen letztlich doch aus einem lauten Hecheln entwickelt, das, wie das oben angeführte Verhalten der Schimpansenhorde zeigt, auch heute noch in analogen Situationen vorkommt. Diesem hartnäckigen Darwinisten müßte man aber entgegenhalten, daß das Lachen, selbst wenn es sich aus dem Hecheln des Urprimaten entwickelt haben sollte, schon physiologisch gesehen ein völlig neues Verhalten ist, das nur auf der Grundlage einer schlagartigen Mutation der Anatomie der Atemwege möglich ist und dadurch überhaupt erst die Möglichkeit für die nunmehr neuen und spezifisch menschlichen Emergenzphänomene Sprechen, Lachen und Weinen in einem geschaffen hat. Und das würde wieder heißen, daß speziell in diesem Bereich des Verhaltens ein veritabler Sprung in der Evolution stattgefunden hätte, durch den dem Menschen die Gnade des Sprechens, Lachens und Weinens als propria hominis gewährt worden ist. Neben diesem rein anatomisch-physiologischen Argument und Hand in Hand damit gibt es aber noch ein weiteres, das erst im systematischen Teil explizit eingeführt und erläutert werden wird. Ich meine damit das Kriterium der Personalität, das menschliches Verhalten zunächst grundsätzlich von tierischem trennt und dar1384 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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über hinaus auch innerhalb des rein menschlichen Verhaltens genauere Unterscheidungen möglich macht, denn erst das Kriterium der Personalität gibt uns die Möglichkeit, genauere Grenzen zwischen verschiedenen Formen des menschlichen Lachens zu ziehen, indem wir zwischen dem prä-, para- und post-personalem Lachen einerseits und dem lachmündigen Lachen auf der Stufe entwickelter Personalität andererseits unterscheiden. Wir können sogar den genauen Zeitpunkt angeben, zu dem diese Lachmündigkeit schlagartig eintritt: Es ist die Fremdelphase, in der sich der Säugling zum aufrechten Stand erhebt und sich vom Bann des unverfügbaren Resonanz-Lächelns emanzipiert. Hier bei diesem Emergenzphänomen 42 macht die Natur wiederum einen Sprung in der Evolutionsgeschichte des Lachens, aber dieser Sprung liegt nicht phylogenetisch im Übergang vom tierischen zum menschlichen Verhalten, sondern in der ontogenetischen Entwicklung des einzelnen Menschen, der sich in der Fremdelphase zum freien Stand aufrichtet und zugleich damit Personalität, exzentrische Positionalität, Reflexivität und Lachmündigkeit in einem erlangt. (Wir werden in Kapitel 3.4.2 ausführlich darauf eingehen.) Man muß allerdings der Versuchung widerstehen, diesen Sprung in der ontogenetischen Entwicklung vom Säugling zur Person frei nach Haeckel wieder in die phylogenetische Entwicklung zurückzuprojizieren und als ontogenetische Rekapitulation des phylogenetischen Entwicklungsschritts vom Tier zum Menschen zu verstehen; und vor allem muß man der Versuchung widerstehen, tierisches Verhalten, das auf den ersten Blick menschlichem Lachen zu ähneln scheint, als homologe Vorstufe des menschlichen personalen Lachens zu sehen, denn lachen kann tatsächlich nur der Mensch. Mit einem Wort: Tierisches Lachen gibt es nicht, denn überlautes Hecheln ist kein Lachen. 2.15.5.2 Aggressionsrituale Der Versuchung, kühne Analogien und Homologien zwischen menschlichem und tierischem Verhalten zu behaupten, ist vor allem die Lorenz-Schule erlegen, denn schon seit den frühen vierzi1385 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ger Jahren geistert dort v. a. das Triumphgeschrei der Graugans 43 als ein dem menschlichen Lachen analoges oder gar homologes Verhalten durch die ethologische Literatur und dient außerdem auch noch als Beleg für die angeblich aggressive Grundstruktur des menschlichen Lachens allgemein. So leitet z. B. Konrad Lorenz in seinem berühmten Buch Das sogenannte Böse das menschliche Lachen generell aus aggressiven Drohgebärden ab, die im Lauf der Evolution zu Begrüßungs- und Beschwichtigungs-Gebärden umfunktioniert worden sind, ihren aggressiven Charakter aber gleichwohl behalten haben, sodaß selbst das friedlichste Interaktionsritual immer noch ein ambivalentes, aus Aggression und Befriedung gemischtes Janus-Gesicht trägt, also befriedend nach innen, aggressiv nach außen. Wie und warum es zu dieser Umfunktionierung gekommen ist, weiß er jedoch nicht zu sagen. Trotzdem behauptet er: »Unser menschliches Lachen ist wahrscheinlich in seiner ursprünglichen Form Befriedungs- und Begrüßungszeremonie. Lächeln und Lachen entsprechen sicher verschiedenen Intensitätsgraden derselben Verhaltensweise, d. h. sie sprechen mit verschiedenen Schwellen auf dieselbe Qualität aktionsspezifischer Erregung an.« 44

So ganz sicher scheint sich Lorenz seiner Sache aber doch nicht zu sein, denn er schwächt seine These etwas ab, wenn er fortfährt: »Auf alle Fälle ist es verlockend, das begrüßende Lächeln als eine Befriedungszeremonie zu denken, die analog dem Triumphgeschrei der Gänse durch Ritualisierung einer neuorientierten Drohung entstanden ist. Wenn man das freundliche Vorüber-Zähnefletschen sehr höflicher Japaner sieht, ist man versucht, das anzunehmen.« (S. 174)

Schon hier bietet sich der erste grundlegende Einwand gegen diese Art von Argumentation an, denn selbst wenn man sicher wüßte, aus welchen tierischen Verhaltensweisen ein bestimmtes menschliches Verhalten sich entwickelt hat, wüßte man doch genauso sicher, daß es dieses ursprüngliche tierische Verhalten längst nicht mehr ist. Hier zeigt sich also eine für die Lorenz-Schule sehr typische Argumentationsstrategie, weil ihre Anhänger immer eher danach fragen, was an tierischer Vergangenheit im menschlichen Verhalten mitgeschleppt wird, als danach, was an tierischem Erbe abgelegt worden ist. 1386 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Im Blick auf die verschiedenen Intensitätsgrade des Lachens gilt für Lorenz das Prinzip: Je lauter und intensiver, desto archaischer und aggressiver, und deshalb fährt er fort: »Für diese Annahme spricht, daß bei wirklich affektbetonter, hoch intensiver Begrüßung zweier Freunde überraschenderweise aus dem Lächeln ein lautes Lachen wird, das einem selbst merkwürdig inkongruent mit den eigenen Gefühlen vorkommt, wenn es bei Wiedersehen nach langer Trennung unerwartet aus der Tiefe vegetativer Schichten hervorbricht. Den objektiven Verhaltensforscher muß das Verhalten solcher wiedervereinten Menschen zwingend an das Triumphgeschrei von Gänsen gemahnen.« (S. 174)

Neben diesem affektiv ambivalenten gegenseitigen Anlachen verweist Lorenz noch auf das rein aggressive Auslachen Fremder durch eine Lachmeute, wie wir dies schon bei Bergson kennengelernt haben: »Wenn mehrere naive Menschen, etwa kleine Jungen, zusammen einen oder mehrere andere, nicht zu ihrer Gruppe gehörige ›aus‹-lachen, enthält die Reaktion ganz wie andere neuorientierte Befriedungsgesten erheblich viel Aggression, die nach außen, auf Nicht-Mitglieder der Gruppe gerichtet ist.« (S. 174)

Damit behauptet Lorenz implizit, daß das adressierte InteraktionsLachen in all seinen Formen, insbesondere in seinen aggressiven Formen, entwicklungsgeschichtlich älter und tiefer in uns sitzt als das unadressierte Bekundungs-Lachen, weil es für das Zusammenleben von Gruppen und für die Abgrenzung von Gruppen nach außen von ganz elementarer Bedeutung ist, 45 und daß das Bekundungs-Lachen, wenn es in bestimmten Situationen als »Abfuhr« überschüssiger Mengen von Erregungsenergie nötig ist, auf die seit alters her vorgegebenen Gestaltbahnen des intensiven und lauten Interaktions-Lachens »überspringt«, und deshalb erklärt Lorenz auch das erleichterte Auflachen am Ende einer kritisch-bedrohlichen Situation auf eben diese Weise: »Auch das sonst sehr schwer verständliche Lachen bei plötzlicher Entspannung einer Konfliktsituation hat sein Analogon in Befriedungsund Begrüßungsgesten vieler Tiere. Hunde, Gänse und wahrscheinlich noch viele andere Tiere brechen in intensive Begrüßung aus, wenn eine peinliche Konfliktlage sich plötzlich entspannt.« (S. 174)

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Da möchte man sich schon fragen, wer denn da begrüßt werden soll. Die oben angeführte Situation der Schimpansenherde beim Anblick eines vermeintlichen Leoparden ist nun sicher eine derartige peinliche Konfliktsituation, die sich plötzlich entspannt hatte, aber das laute Hecheln der Schimpansen bei der plötzlichen Entspannung der Situation bestand eben gerade nicht in Begrüßungsgesten, die ja durch Blickkontakt adressiert hätten sein müssen, sondern in einem Verhalten, das man bei Menschen als ein unadressiert gestreutes Auflachen und nicht als ein durch Blickkontakt adressiertes Anlachen bezeichnen würde. Ähnlich liegt der Fall beim vielzitierten Triumphgeschrei der Graugans, das von Konrad Lorenz über Irenäus Eibl-Eibesfeldt bis herauf zu Norbert Bischof immer wieder mit dem menschlichen Lachen in Analogie gesetzt wird, genauer: mit dem aggressiven Auslachen Fremder durch eine homogene Gruppe, die sich dadurch ihrer Zusammengehörigkeit aufs neue versichert. Eibl-Eibesfeldt schreibt dazu in enger Anlehnung an seinen Lehrer Lorenz: »Verpaarte Graugänse begrüßen einander, mit dem ›Triumphgeschrei‹, wobei die Hälse aneinander vorbei drohen. Man droht gewissermaßen gegen einen Dritten, was die Partner verbindet (wohl besser: gegen alle denkbaren Dritten, weil die Drohrichtung ja nicht auf einen gemeinsamen Punkt fokussiert ist). Bei der Graugans verbindet das Triumphgeschrei aber nicht nur die Ehepaare, sondern der aggressive Ritus ist generell zum bandstiftenden geworden, der Gruppen befreundeter Individuen zusammenhält.« 46

Und dieses trompetende Hecheln als ritualisiertes Drohen/Hetzen/ Hassen/Giften gegen alle denkbaren Dritten durch eine Gruppe sieht Eibl-Eibesfeldt genau wie Lorenz in strikter Analogie zum aggressiven Interaktions-Lachen einer Lachmeute, wenn er in Analogie zu Bergson, Freud und Canetti schreibt: »Eine Form ritualisierten bindenden Drohens ist uns sogar angeboren, nämlich das Lachen. Diese Ausdrucksbewegung entstand wahrscheinlich aus einem Verhalten, das wir als ›Hassen‹ bezeichnen. Sehr viele gesellige Tiere drohen gemeinsam gegen einen artfremden oder artgleichen Feind. Viele gruppenlebende Affen zeigen dabei die Zähne und äußern rhythmische Drohlaute. Beide Elemente sind in unserem Lachen noch enthalten, und zweifellos ist es sehr oft aggressiv motiviert.

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Man lacht über jemanden, man lacht jemanden aus, und man tut dies gerne gemeinsam mit anderen. Der Ausgelachte empfindet das Lachen als aggressiv. Die gemeinsam Lachenden fühlen sich aber über dieses ritualisierte ›Hassen‹ einander verbunden.« (S. 189)

Diese verwegene Analogisierung des aggressiv zannenden la’ag-Lachens einer Lachmeute mit dem ritualisierten »Hetzen« und »Hassen« von Tiergruppen verdankt sich wohl auch dem Bestreben, die Ursprungs- und Vorgeschichte des menschlichen Lachens möglichst weit in die Evolutionsgeschichte, zumindest aber in die Frühgeschichte der Wirbeltiere zurückzudatieren, und auch dies geschieht wohl ganz im Sinne Darwins. So behauptet z. B. Ernst Peter Fischer, die Menschen könnten schon seit 7 Millionen Jahren lachen, wobei sie aber erst seit 2 Millionen Jahren in der Lage seien, ihre Gesichtsmuskeln so zu steuern, »dass sie ein lächelndes Gesicht gezielt einsetzen können« 47, womit zugleich behauptet wird, das Bekundungs-Lachen sei viel älter als das Interaktions-Lachen. Die Autorengruppe Ross, Owen und Zimmermann 48 ist da noch etwas großzügiger und kommt zu dem Ergebnis, das Lachen müsse mindestens 10 bis 16 Millionen Jahre alt sein und reiche damit sogar in die Zeit zurück, bevor die Entwicklungslinien von Affen und Menschen sich getrennt hätten. Auch hier wird also implizit behauptet, das unverfügbare Bekundungs-Lachen sei viel älter als das tendenziell verfügbare Interaktions-Lachen. Diese These besagt implizit, das tendenziell verfügbare Interaktions-Lachen sei zugleich mit dem Homo habilis entstanden, also gleichzeitig mit dem Verfertigen von Werkzeugen aller Art, weil sich hier ein umfassender Impuls zur Verfügbarmachung der Welt und des eigenen Körpers manifestiert habe. Da Werkzeuge aber auch innerhalb der eigenen Gruppe als Waffe eingesetzt werden können, seien für den neu gerüsteten Homo habilis auch entsprechende Beschwichtigungsrituale wie z. B. das Anlächeln nötig geworden, um das Zusammenleben derartiger Gruppen nicht zu gefährden. Das ist zwar eine schöne Theorie, aber leider nur eine unbeweisbare Spekulation. Nicht weniger spekulativ geht Eibl-Eibesfeldt vor, wenn er in seinem Hauptwerk Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung (1967) einen von J. A. van Hooff entworfenen 1389 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Stammbaum des Lachens und Lächelns«49 abdruckt, der sogar bis zum Urahn aller Säugetiere zurückreicht und im Kommentar dazu schreibt: »Die Entwicklung des Lachens beginnt mit dem Spielgesicht (play face), das auch beschreibend entspanntes Mundoffengesicht (relaxed open mouth display) genannt wird. Der Ursprung dieses Ausdruckes ist nicht ganz klar. Er kann sich von freundlichen Beißintentionen ableiten, die signalisieren, die Balgerei sei nicht ernst gemeint. Damit wäre eine aggressive Wurzel gegeben. Die Spielbeißintention ist jedoch nur eine Komponente des Lach-Ausdruckes. Die rhythmischen Lautäußerungen dürften (…) vom Gruppendrohen (Hassen) abzuleiten sein. In Hooffs Übersicht führen die beiden für Lächeln und Lachen getrennt beginnenden Linien beim Menschen in konvergenter Entwicklung zusammen. Ich glaube jedoch, daß dies nur durch die zahlreichen möglichen Überlagerungen vorgetäuscht ist. Man kann wohl auch reines intensives Lächeln und reines intensives Lachen unterscheiden, und beides sieht dann doch recht verschieden aus.« (S. 170 ff.)

Hier muß man ganz entschieden protestieren, denn van Hooffs Stammbaum des Lachens und Lächelns ist ein geradezu groteskes reduktionistisches Machwerk 50, weil er hier nur Köpfe fauchen, bellen und lachen läßt und weder die Frage nach dem synergetischen Gesamtverhalten des jeweiligen Lebewesens noch die Frage nach der Situation stellt, in der dieses Lebewesen sich jeweils befindet und von der her es seine Bedeutung bezieht, denn Verhalten kann nur als Verhalten-in-einer-Situation angemessen thematisiert werden. Und außerdem scheint van Hooff auch den Unterschied zwischen Bekundungs- und Interaktions-Lachen nicht zu kennen. 2.15.5.3 Die Mär vom Aggressionstrieb Daß die Lorenz-Schule dazu neigt, selbst hinter den friedlichsten und wohlwollendsten Verhaltensweisen umfunktionierte oder immer noch latent vorhandene Aggressivität zu wittern, und deshalb dazu tendiert, das aggressive Auslachen zum Lachen schlechthin zu verabsolutieren, legt den Verdacht nahe, daß wir es hier 1390 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Der Stammbaum des Lachens nach van Hooff, wiedergegeben in Eibl-Eibesfeldt: Grundriß, S. 173.

weniger mit einem empirisch-biologischen Befund als einem ideologischen Konstrukt zu tun haben, hinter dem ein Menschenbild in der Tradition von Platon, Augustinus und Hobbes steht, das auch in die außermenschliche Natur projiziert wird und dann zum Postulat führt, hier herrsche ein allumfassender Aggressionstrieb, der überall aggressives Verhalten erzwingt, insbesondere dann, wenn dieser Trieb »gestaut« wird, sich aber trotzdem Bahn 1391 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bricht und auf andere Verhaltensweisen »überspringt« 51, sodaß auch diese letztlich als aggressiv erscheinen. Und da dieser ominöse Aggressionstrieb »das sogenannte Böse« 52 bewirkt, liegt es nahe, in diesem eine profane Variante der christlichen Erbsünde-Ideologie 53 zu sehen. Als Argumentationsgrundlage dient hier die aus dem 18. Jahrhundert stammende Vorstellung einer Lebenskraft 54, die im 19. Jahrhundert v. a. durch Schopenhauers Willens-Metaphysik wiederbelebt und weitergeführt worden ist, in den energetischen Konzepten von Freud und Lorenz aufs neue virulent wurde und dann zum Postulat eines bestimmten Triebes geführt hat, der jegliches Verhalten antreibt. Dieses Argumentationsmodell, ein bestimmtes Verhalten auf einen bestimmten Trieb zurückzuführen, lädt schon auf den ersten Blick zur höhnischen Frage ein, warum man, wenn man schon aggressives Verhalten auf einen Aggressions-Trieb zurückführt, nicht auch das Musizieren auf einen Musizier-Trieb, das Schreiben auf einen Schreib-Trieb, das Spazierengehen auf einen Spaziergeh-Trieb und eben auch das Lachen auf einen Lach-Trieb zurückführen und damit »erklären« sollte. So gesehen könnte man eine ganze Palette von Trieben postulieren, die uns zu unserem jeweiligen Verhalten antreiben, doch erklärt wäre mit derartigen tautologischen Formeln nicht viel mehr als mit Onkel Bräsigs Diktum: »Die große Armut in der Stadt kommt von der großen Powertee her!« 55 Für Konrad Lorenz jedenfalls steht fest, daß Aggressivität der Schlüssel zum Verständnis jeglichen Verhaltens ist, denn er schreibt in seinem Werk Das sogenannte Böse: »Ein persönliches Band, eine individuelle Freundschaft finden wir nur bei Tieren mit hoch entwickelter intraspezifischer Aggression, ja, dieses Band ist um so fester, je aggressiver die betreffende Tierart ist. (…) Wenn Tiere jahreszeitlich abwechselnd einmal territorial und aggressiv sind, das andere Mal aber aggressionslos und gesellig, so beschränkt sich jede etwaige persönliche Bindung auf die Periode der Aggressivität.« (S. 204 f.)

Evolutionsgeschichtlich gesehen heißt dies: »Das persönliche Band entstand im Laufe des großen Werdens ohne allen Zweifel in dem Zeitpunkte, als bei aggressiven Tieren das Zusam-

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menleben zweier oder mehrerer Individuen zu einem der Arterhaltung dienenden Zweck, wohl meist der Brutpflege, notwendig wurde. Das persönliche Band, die Liebe, entstand zweifellos in vielen Fällen aus der intraspezifischen Aggression, in mehreren bekannten auf dem Weg der Ritualisierung eines neu-orientierten Angriffs oder Drohens. Da die so entstandenen Riten an die Person des Partners gebunden sind und da sie weiters als selbständig gewordene Instinkthandlungen zum Bedürfnis werden, machen sie die Anwesenheit des Partners zum unabdingbaren Bedürfnis und diesen selbst zu dem ›Tier mit Heimvalenz‹. Die intraspezifische Aggression ist um Millionen Jahre älter als die persönliche Freundschaft und Liebe. Es hat durch lange Epochen der Erdgeschichte Tiere gegeben, die ganz sicher außerordentlich böse und aggressiv waren. Fast alle Reptilien, die wir heute kennen, sind es, und es ist nicht anzunehmen, daß die der Vorzeit es weniger waren. Ein persönliches Band aber kennen wir nur bei Knochenfischen, Vögeln und Säugern, bei Gruppen also, von denen keine vor dem späteren Erdmittelalter auftauchte. Es gibt also sehr wohl intraspezifische Aggression ohne ihren Gegenspieler, die Liebe, aber es gibt umgekehrt keine Liebe ohne Aggression.« (S. 205)

Übertragen auf unser Thema würde dies heißen, daß das aggressive Auslachen elementarer und entwicklungsgeschichtlich älter ist als das wohlwollende Anlachen, und beide Formen des InteraktionsLachens wiederum älter als das unadressierte Bekundungs-Lachen in all seinen Formen. Doch wie könnte man eine solche These beweisen außer durch verwegene Analogieschlüsse, und so müssen wir auch diese These wohl oder übel ins Reich der Spekulation verweisen, obwohl sie in den Beiträgen der Lorenz-Schule zu unserem Thema gang und gäbe ist. Am Postulat eines angeborenen Aggressionstriebes hält auch Eibl-Eibesfeldt fest, wenn er in seinem Werk Der vorprogrammierte Mensch von 1976, das seinem Lehrer Konrad Lorenz zum 70. Geburtstag gewidmet ist, auf das Thema Lachen zu sprechen kommt. Dieses Werk ist leider etwas verwirrend in seinen gelotologischen Befunden, weil Eibl-Eibesfeldt hier die Tendenz hat, Lachen weitgehend auf das adressierte Interaktions-Lachen zu reduzieren, sodaß fast immer Anlachen und Auslachen resp. Anlächeln 1393 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und Angrinsen gemeint ist, wenn er vom Lachen und Lächeln spricht: »Das Lächeln ist eine gut untersuchte, zweifellos angeborene Ausdrucksbewegung. Selbst taub und blind Geborene lächeln. Man findet bei verschiedenen Altweltaffen formal ähnliche Bewegungen, die ihrem Ursprung nach Drohbewegungen (Zähnezeigen als Beißdrohung) sind, und hat versucht, Lächeln (Anlächeln, Angrinsen) von solchen Drohbewegungen abzuleiten. Nach Andrew ›grinsen‹ Paviane, Meerkatzen und andere höhere Affen mit einer dem Lächeln (Anlächeln, Angrinsen) ähnlichen Grimasse, wenn sie von einem Ranghöheren bedroht werden. Es handelt sich um eine defensive Gebärde. Auch beim Menschen gibt es so ein defensives Lächeln (Anlächeln), das beschwichtigend wirkt. So könnte das Lächeln (Anlächeln, Angrinsen) des Menschen aus einer defensiven Drohung entwickelt worden sein, die ja zugleich auch Kontaktbereitschaft ausdrückt. Beim Menschen ist die Geste zum rein freundlichen Appell geworden – im Unterschied zum Lachen (Auslachen), das deutlich noch Drohcharakter hat. Lachende wenden sich meist gegen (oder an) jemanden, den sie auslachen (oder anlachen). Daß sie dies gemeinsam tun, verbindet die Gruppe. Die rhythmischen Lautäußerungen (beim kollektiven Auslachen) erinnern an jene vieler Affen beim sogenannten Hassen. Das Lachen ist sicher nicht einfach eine höhere Intensitätsstufe56 des Lächelns. Die aggressive Komponente tritt neu hinzu. Im Lächeln (Anlächeln) scheint sie dagegen heute durchaus zu fehlen. Wenn also Vergleiche die Hypothese stützen sollten, derzufolge sich das Lächeln (Anlächeln? Angrinsen?) von einer defensiven Drohung ableitet, dann müßte sich wohl auch gleichzeitig ein Motivationswechsel vollzogen haben. Die neuen Untersuchungen von van Hooff sprechen dafür, daß sich das Lächeln (Anlächeln? Angrinsen?) von einem Submissionsakt (Defensivdrohen) ableitet.«57

Wie man sieht, argumentiert Eibl-Eibesfeldt terminologisch etwas zu sehr im holden Ungefähr, weil er die verschiedenen Lach-Arten nicht säuberlich genug voneinander trennt und sie auch nicht genau genug auf die jeweiligen Situationen bezieht, die sie stiften oder auf die sie antworten, und weil er außerdem übersieht, das jeweilige Lachen als Teilaspekt eines synergetischen Gesamtverhaltens in einer bestimmten Situation zu bestimmen. Dies zeigt sich z. B. 1394 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Vom Trieb zum Programm

schon darin, daß er nicht auf die Idee kommt, beim InteraktionsLachen nach der Bedeutung des Blickkontakts58 zu fragen, den er sonst bei Begrüßungsritualen aller Art sehr wohl untersucht. Wie willkürlich und unbeweisbar die entwicklungsgeschichtliche Ableitung des Anlachens aus ritualisierten »Defensivdrohungen« ist, zeigt sich sofort, wenn man diese Theorie durch die ebenso willkürliche und ebenso unbeweisbare These kontert, das gegenseitige Anlachen sei aus dem gegenseitigen Beschnüffeln entstanden, da dieses ja, genau wie das Lachen, mit intensiven Atembewegungen verbunden ist. Außerdem hätte diese Theorie den Vorteil, daß man nicht erklären müßte, wie aus dem aggressiven Drohen eine friedliche Zuwendung werden kann, weil das Beschnüffeln ein affektiv neutrales Verhalten ist, das dem Zweck dient, die Beziehungen zweier Individuen zueinander zu klären, die dann, je nachdem, aggressiv, wohlwollend oder neutral sein können. Wie man sieht, sind derlei evolutionsgeschichtliche Theorien über die Lachkultur des Pleistozän billig zu haben, wenn man nur ein bißchen Phantasie aufbringt und auf zwingende Beweise großzügig verzichtet. 2.15.6 Vom Trieb zum Programm Nun wird natürlich niemand ernsthaft bestreiten wollen, daß es aggressives Verhalten und speziell aggressiven Lachen gibt, denn in den Kapiteln über Platon, die Kyniker, Augustinus, Hobbes, Bergson und Freud sind wir ja immer wieder auf Zeugnisse dieses aggressiven Auslachens-von-oben oder Auslachens-von-unten gestoßen und haben gesehen, wie dieses aggressive Lachen auf die Konkurrenzsorge bzw. auf die superbia zurückgeführt worden ist, ohne daß dabei eigens ein Aggressionstrieb benötigt worden wäre. Das liegt wohl vor allem daran, daß all diese Autoren das aggressive Interaktions-Lachen auf genau definierte Situationen beziehen, in denen die Frage »Wer wen?« entschieden werden muß, sei es nun das Gerangel der Götter im alten Orient, die sich durch das vernichtungslüstern zannende la’ag-Lachen gegenseitig herabzusetzen suchen, oder das Gerangel der politischen Parteien in der attischen 1395 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

Alten Komödie, oder das Gerangel der Höflinge am absolutistischen Hof. In all diesen Situationen, die sich auch noch vermehren ließen, geht es um die Klärung von Rangordnungen, also um Machtfragen nach dem Prinzip »Wer wen?« Aus diesem Grund ist es weitaus erhellender, sich an Wolfgang Wiesers »Systemtheorie des Verhaltens« zu orientieren und nicht nach irgendwelchen ominösen Trieben zu fragen, die uns zu unserem jeweiligen Verhalten antreiben, sondern nach angeborenen Programmen, die in bestimmten Situationen nach dem aristotelischen Akt-Potenz-Schema abgerufen werden, weil sie geeignet sind, auf diese bestimmten Situationen angemessen zu antworten. Auf diese Weise hatte schon Rudolf Bilz (1898–1976) in seiner Studie Pars pro toto von 1940 in dem Kapitel »Trieb, Instinkt und Reflex« 59 argumentiert, in dem er sich explizit in die Tradition von Johannes Müller und Jakob von Uexküll stellt, den Begriff »Trieb« jedoch strikt vermeidet und statt dessen unter Berufung auf Friedrich Alverdes (1889–1952) Instinkte als »ererbte Tätigkeitsbereitschaften« im Sinne einer aristotelischen dynamis versteht, d. h. als »Fähigkeit, die im Tier darinsteckt und sich im gegebenen Moment (als energeia) manifestiert«. 60 Da Rudolf Bilz die theatrale Metaphorik liebt, könnte man ganz in seinem Sinne auch sagen: Der Instinkt wartet gleichsam in der Gasse auf das Stichwort für seinen Auftritt, um dann seine ererbte Rolle auszuagieren. Eines dieser Programme als »ererbte Tätigkeitsbereitschaft« neben vielen anderen ist Aggressivität, ein anderes ist Lachen, und beide können sich in bestimmten Situationen auch überlagern, wenn dies sinnvoll ist, in anderen aber auch nicht, sodaß sich die mannigfaltigsten Szenarios 61 für Gelächter oder Aggressivität ergeben können. So listet Wolfgang Wieser in Anlehnung an Bernhard Hassensteins Verhaltensbiologie des Kindes z. B. die drei Aggressionsszenarios »Frustrationsaggressivität«, »Rangstufenagressivität« und »Gruppenverteidigungsaggressivität« (S. 80) auf, von denen die beiden letzteren, also das Auslachen-von-oben aus Gründen der Konkurrenzsorge und das ausschließende Auslachen eines Einzelnen durch eine Lachmeute, geradezu klassische aggressive Lach-Szenarien sind. Ein ganz anderes Programm ist die Organisation gegenseitigen Wohlwollens, und auch dieses ererbte Programm 1396 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Vom Trieb zum Programm

kann sich mit bestimmten Formen von Gelächter überlagern, wie wir dies im Nomos eutrapelistischer Lachkultur von Aristoteles bis Kant immer wieder gesehen haben. In beiden Fällen ist es so, daß das Verhalten des einen Individuums sich in das des anderen gleichsam »einklinkt« und sich mit ihm synchronisiert und »mitgeht«, sodaß wir mit Jakob von Uexküll auch sagen könnten: Die Merkmale des einen Verhaltens-Partners sind immer zugleich auch die Wirkmale des anderen, oder mit Wieser: »Die spezifische Information aus der Umwelt ist ein Funktionsmerkmal des ›Organismus‹ selbst.« (S. 25) Dieses »Einklinken« in die jeweilige soziale Umwelt vollzieht sich beim Interaktions-Lachen durch Blickkontakt, ohne den das frontale Interaktions-Lachen überhaupt nicht zustande kommen kann, und durch mimetische Resonanz, die das »Mitgehen Hand in Hand und Seit’ an Seit’« ermöglicht, und damit zugleich auch weitere Lach-Szenarien wie das ansteckende Resonanz-Lachen. Hermann Schmitz bezeichnet deshalb den adressierten Blick mit einer sehr glücklichen Formulierung in Anlehnung an Herder als »Fühler«, »mit dem das sehende Wahrnehmen das wahrgenommene räumliche Feld so ganzheitlich organisiert, daß es außer dem Gesehenen auch den gespürten eigenen Leib umfaßt und diesem dadurch eine unwillkürliche, fein angepaßte Abstimmung seiner Bewegung auf das Gesehene ermöglicht.« 62

Wenn man also schon nach dem phylogenetischen Erbe fragen will, das beim Lachen relevant wird, ist es unendlich ergiebiger, wenn man nach derartigen »ererbten Tätigkeitsbereitschaften« fragt und diese als proprium hominis wertet, als daß man den Versuch anstellt, Genealogien bestimmter Formen menschlichen Lachens bis ins frühe tierische Verhalten zurückzuverfolgen, denn, so Wieser: »In allen Eigenschaften des Menschen müssen sich so die Spuren genetischer Programme nachweisen lassen: nicht als Instinkte und schon gar nicht als aufstau- und ablenkbare Triebe (oder gar als organische Energien), sondern als programmatische Anweisungen, die erst durch die Begegnung mit der Umwelt realisiert werden.« (S. 83)

Diesen Ansatz möchte ich mir zu eigen machen, nur würde ich hier nicht von programmatischen »Anweisungen« sprechen, sondern 1397 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

von programmatischen »Mustern«, »Rollen«, »Vorlagen« oder »Verhaltensschemata«, die man nicht erst lernen und einüben muß, sondern die man »immer schon« kann, also von programmatisch vorgegebenen Möglichkeiten, die als vorgegebenes Können in immer wieder neuen Situationen abgerufen und dann ausagiert werden, vergleichbar einer dramatischen Spielvorlage, die in immer wieder anderer Besetzung vor immer wieder anderem Publikum inszeniert und vorgeführt wird 63, als solche aber gleich bleibt. Von angeborenen Programmen spricht Eibl-Eibesfeldt in seinen Studien Liebe und Hass (1970) und Der vorprogrammierte Mensch (1973), ohne jedoch Alverdes, Bilz oder Müller je zu erwähnen, und rechnet auch das Lachen zu diesem erblich vorgegeben Können, das nicht erst gelernt werden muß. Den Beweis für diese Behauptung führt er auf elegante und überzeugende Weise, indem er das Verhalten schwergeschädigter Menschen untersucht und mit eindrucksvollem Bildmaterial belegt: »Taubblinde wachsen in ständiger Nacht und Stille heran, sehen nie das Lächeln ihrer Mutter und hören nie den Klang einer menschlichen Stimme. Würde das milieutheoretische Konzept in seiner scharfen Formulierung zutreffen, dann wäre zu erwarten, daß solche Kinder in ihrem Verhalten von normal aufwachsenden gesunden Menschen sehr abweichen. Ich habe taubblind geborene Kinder beobachtet und dabei festgestellt, daß dies nicht so ist. (…) Sie lächeln und lachen zum Beispiel wie unsereins, wenn sie sich freuen und äußern dabei auch die richtigen Laute. (…) Auch schwer hirngeschädigte Kinder, denen man mit größter Mühe nicht beibringt, wie man einen Löffel zum Munde führt, lächeln, lachen und weinen.«64

All dies deutet darauf hin, daß Lachen tatsächlich ein proprium hominis ist und in den älteren Teilen des Gehirns als tendenziell unzerstörbares abrufbares Programm vorliegt, das wir immer schon beherrschen. Anstatt nun aber die methodologische Konsequenz zu ziehen und nicht mehr nur allein nach bestimmten Verhaltensweisen in ihrer spezifischen Ausprägung und ihrer synergetischen Einbettung in ein Gesamtverhalten zu fragen, sondern auch nach ihrer Einbettung in die jeweilige aktuelle Situation, auf die ein bestimmtes Verhaltensprogramm nach dem Akt-Potenz-Schema antworten kann, 1398 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Reflexe und Luxusreflexe

spricht Eibl-Eibesfeldt sofort wieder von »Antrieben« und »Appetenzverhalten« sowie von zentral produzierter Erregung, die sich »aufstauen« und »entladen« kann65, und durch diese erneute Orientierung am energetischen Argumentationsmodell verbaut er sich sofort wieder die Möglichkeiten, auf die er eben erst gestoßen war, denn nun fungieren gleich wieder Triebe aller Art als der Antrieb, der das angeborene vorprogrammierte Verhalten erzwingt, nicht aber die jeweilige Situation, die zu diesem Verhalten einlädt. 2.15.7 Reflexe und Luxusreflexe Von angeborenen Programmen geht auch Arthur Koestler (1905– 1983) in seinem Werk Der göttliche Funke 66 aus, nur faßt er diese Programme viel enger als Reflexe resp. als »Luxusreflexe« und versteht auch das Lachen als einen derartigen Luxusreflex, wobei er allerdings wieder ganz reduktionistisch vorgeht, und eigentlich nur vom Bekundungs-Lachen als Reaktion auf das Komische und Lächerliche spricht. Koestlers Ziel besteht darin, eine Theorie der schöpferischen Akte zu erstellen, in denen plötzliche große Erleuchtungen sich manifestieren. Obwohl er hier einen »göttlichen Funken« am Werk sieht, geht er auf Bekehrungserlebnisse aller Art mit keinem Wort ein, obwohl er hier eine Fülle von Zeugnissen von Paulus über Augustinus bis herauf zu Pascal und den Pietisten hätte referieren und analysieren können, sondern verfolgt nur die bewußt und unbewußt ablaufenden Prozesse, »die jeder wissenschaftlichen Entdeckung, jeder künstlerischen Originalität und jedem komischen Einfall zugrunde liegen« (S. 9). In all diesen Prozessen sieht Koestler eine Pointenstruktur am Werk, auf die wir oben in Kapitel 2.12.6.5. schon ausführlich eingegangen sind, denn in all diesen Krisen manifestiert sich ganz stereotyp die Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase, die Koestler offenbar und wohl auch mit Recht als ererbtes Programm versteht. Ausgangspunkt für Koestlers Ätiologie des Lachens ist Darwins Hinweis auf die Existenz rudimentärer Organe und Verhaltensweisen, die zwar keinem erkennbaren biologischen Zweck dienen, andererseits aber auch nicht hinderlich sind, sodaß man sich diesen 1399 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Charles Darwin

Luxus gewissermaßen biologisch leisten kann. Problemgeschichtlich gesehen führt Koestlers Studie, soweit sie das Lachen thematisiert, außerdem auch noch die physiologisch orientierte Argumentation von Ewald Hecker fort, der Lachen als »respiratorischen Reflexkrampf« 67 gedeutet hatte, obwohl er Heckers Werk möglicherweise gar nicht gekannt hat. Einig sind sich Hecker und Koestler darin, daß sie keinen Unterschied zwischen Reflexen und Automatismen machen, obwohl sie beide Automatismen meinen, wenn sie von Reflexen sprechen. Deshalb lautet Koestlers These: »Lachen ist ein Reflex.« (S. 19) Oder genauer: »Lachen ist ein Reflex, der aber insofern einzigartig ist, als er keinen ersichtlichen biologischen Zweck erfüllt. Man könnte deshalb das Lachen einen Luxusreflex nennen. Seine einzige nützliche Funktion besteht, soweit wir sehen, wohl darin, daß es uns zeitweilig vom Zwang der Nützlichkeit befreit.« (S. 21)

Mit dieser These hat sich Koestler hoffnungslos in einer Argumentations-Sackgasse verrannt, aus der er nie wieder herausfindet, weil er sich sofort in mannigfache Widersprüche verwickelt. Er gibt zwar unumwunden zu, ihn interessiere hier »nur das spontane Lachen als spezifische Reaktion auf das Komische« (S. 21), verweist dann aber im selben Atemzug auf das »gewollte Lachen oder Lächeln«, das als »konventionelle Zeichensprache« verwendet wird, »um Vergnügen oder Verlegenheit, Wohlwollen oder Spott auszudrücken.« (S. 21) Diese Formen des tendenziell verfügbaren Interaktions-Lachens haben nun aber mit Sicherheit einen »ersichtlichen biologischen Zweck« im menschlichen Leben, weil ohne sie das Zusammenleben verschiedener Individuen gar nicht organisiert werden könnte, und ein Reflex oder gar ein Luxusreflex sind sie schon gar nicht, weil Koestler selbst sie ja ausdrücklich als »gewolltes Lachen und Lächeln« bezeichnet und Reflexe nicht »gewollt« werden können. Und da Koestler sich auch noch auf die energetische Argumentation von Spencer (S. 47 f.) und Freud (S. 52) beruft und deshalb das Lachen als kathartische Abfuhr überschüssiger Triebenergie versteht, muß er allen Formen von Lachen doch wieder einen biologischen Zweck, nämlich eine biologisch notwendige Schutz- und Ventilfunktion68 zuerkennen. Dazu kommt als weiteres Argumentationsmodell ein physio1400 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Reflexe und Luxusreflexe

logisches, das auf dem Antagonismus von Vagus und Sympathikus und, analog dazu, auf dem Antagonismus von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung beruht, und somit ist Koestlers Bilanz methodologisch gesehen recht wirr, auch wenn sie manche genaue Einzelbeobachtung enthält: »Weinen ist ein Abfuhrreflex für ein Zuviel an partizipatorischen Emotionen, so wie Lachen ein Ventil für einen Überschuß an selbstbehauptenden Emotionen ist. Seine nervösen Mechanismen und physischen Manifestationen sind, was Gesichtsausdruck, Atemrhythmus und Körperhaltung angeht, denen des Lachens entgegengesetzt. Im Lachen entlädt sich die Spannung, die Emotion wird negiert; beim Weinen dagegen löst sie sich ganz allmählich auf, ohne daß die Kontinuität der Stimmung unterbrochen würde: Denken und Fühlen bleiben vereint. Die Affekte der Selbstbehauptung, von denen das Lachen befreit, unterliegen dem Sympathico-Adrenalin-System, das einen allgemein aktivierenden Effekt auf die hormonalen Prozesse hat, während das Weinen dem parasympathischen System mit seiner nach innen gerichteten kathartischen Wirkung unterliegt. Die partizipatorischen Affekte, die sich in den Tränen verflüchtigen, lassen sich durch keinerlei spezifische Muskeltätigkeit befriedigen: sie neigen zu Passivität und Hingabe und verbrauchen sich in Organreaktionen.« (S. 329)

Der entscheidende Fehler in Koestlers Argumentation besteht, wie mir scheint, darin, daß er die beiden grundlegenden Impulse Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, die er wahrscheinlich aus Plessners Studie Lachen und Weinen übernommen hat, ohne dies einzugestehen, als rein antagonistische Tendenzen strikt getrennt am Werk sieht und nicht auch die wechselseitige Durchdringung beider, die dann als mehr oder weniger intensive Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe resp. als mehr oder weniger intensive Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung erscheinen, obwohl er diese Möglichkeit sogar ganz nebenbei (S. 47) kurz andeutet. Und dieser Grundfehler resultiert wiederum daraus, daß er nicht sieht, daß Handlungen immer zugleich auch den Charakter von Widerfahrnissen 69 haben. Aus diesem Grund sieht er auch nicht, daß nicht nur das Weinen, sondern auch das Lachen eine kathartische Funktion haben kann, weil beide eine uroborische Struktur aufweisen. Und schließ1401 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lich sieht er auch nicht, daß man ins Lachen genauso hineingleiten kann wie ins Weinen, wie dies v. a. beim Resonanz-Lachen deutlich wird. Doch diese Form von Gelächter kennt Koestler überhaupt nicht, obwohl er verschiedene Formen des »Sichergebens« (S. 300) ausführlich darstellt, und er bekommt das Resonanz-Lachen deshalb nicht in den Blick, weil er sich dogmatisch darauf versteift, dem Lachen generell eine Pointenstruktur zu unterstellen, die das Lachen jedoch nur in bestimmten Ausprägungen hat. 2.15.8 Bilanz Wenn wir nun prüfen, worin der Erkenntnisgewinn einer evolutionsgeschichtlich orientierten Ätiologie des Lachens besteht und welche Antworten wir auf unsere neun Ausgangsfragen bekommen haben, erweist sich unsere Bilanz auf den ersten Blick als erstaunlich dürftig, denn einige dieser Fragen haben sich als nicht beantwortbar erwiesen, andere mußten wir glatt verneinen, wieder andere deutlich einschränken oder entscheidend modifizieren und nur ganz wenige haben sich überhaupt als fruchtbar erwiesen. Das liegt v. a. daran, daß sich zumindest zwei Thesen, die für die evolutionsgeschichtlich orientierte Argumentation von zentraler Bedeutung waren, als unhaltbare Spekulation erwiesen haben, nämlich Haeckels Biogenetisches Grundgesetz und die aristotelische Maxime, die Natur mache keine Sprünge. Haeckels These schien die Möglichkeit zu bieten, Ontogenese und Phylogenese aufeinander zu beziehen und aus der Ontogenese die Phylogenese zu erschließen, tief in die Vergangenheit reichende Entwicklungsprozesse zu rekonstruieren und allen aktuellen biologischen Phänomenen eine altehrwürdige Vorgeschichte und eine detaillierte Ahnenreihe zu verleihen. Die aristotelische Maxime, die Natur mache keine Sprünge, mußte dazu führen, die Grenzen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten allzu sehr zu verwischen, sodaß man prinzipiell für alle menschlichen Verhaltensweisen auch ein analoges oder gar homologes tierisches Verhalten glaubte postulieren zu dürfen und alle Emergenzphänomene aus den Augen verlor. Oder anders for1402 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

muliert: Vor lauter evolutionärer Stetigkeit übersah man das jeweils revolutionär Neue und fragte nicht, ob nicht auch das menschliche Lachen ein solches Emergenzphänomen sein könnte. So gesehen läßt sich die Frage 4, ob Lachen ein rudimentäres Verhalten sei, eindeutig verneinen: Lachen ist eindeutig kein Luxusreflex im Sinne Koestlers. Die Frage 2, ob das menschliche Lachen aus tierischen Verhaltensweisen allmählich oder durch einen Quantensprung der Evolution entstanden sei, läßt sich schon nicht mehr so eindeutig bejahen oder verneinen, weil man zwar mit gutem Recht behaupten kann, jedes aktuelle menschliche Verhalten habe irgendeine tierische Vorgeschichte, mit demselben Recht aber auch behaupten kann, daß bestimmte aktuelle menschliche Verhaltensweisen den analogen tierischen Verhaltensweisen längst nicht entsprechen. Und da es außerdem Emergenzphänomene gibt und deshalb auch menschliche Verhaltensweisen ohne jede tierische Vorgeschichte wie z. B. die Sprache, könnte sehr wohl auch das menschliche Lachen ein solches Emergenzphänomen sein und damit im vollen Wortsinn ein proprium hominis. Damit wäre Frage 3 dahingehend beantwortet, daß das menschliche Lachen die Signatur einer bestimmten Entwicklungsstufe ist, die ausschließlich der Mensch erreicht hat, und die Fragen 6 und 7 wären eindeutig verneint: Es gibt kein tierisches Lachen und auch kein tierisches Verhalten, das dem menschlichen personalen Lachen strikt analog oder gar homolog wäre. Und was als tierisches Lachen bezeichnet wird, ist kein Lachen, sondern lautes Hecheln. Die Frage 3, ob das menschliche Lachen die Signatur einer bestimmten Entwicklungsstufe ist, die ausschließlich der Mensch erreicht hat, muß dann aber mit Frage 5, ob Lachen ein Regressionsphänomen sei, strikt verschränkt werden, weil nur eine bestimmte Entwicklungshöhe die Möglichkeit für Regressionsphänomene aller Art bietet, und außerdem müßte man Regression strikt einschränken auf primitives menschliches Verhalten, also auf ontogenetische Regression, und das heißt: als Regression auf »primitive Gegenwart« im Sinne von Hermann Schmitz. Damit wäre eigentlich auch schon die zentrale Frage 1, ob es überhaupt sinnvoll oder grundsätzlich verfehlt ist, nach einer evo1403 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lutionsgeschichtlichen Ätiologie des menschlichen Lachens zu fragen, dahingehend beantwortet, daß man diese Frage nur in ontogenetischer und nicht in phylogenetischer Orientierung stellen sollte, und wohl auch nur sinnvoll stellen kann, denn die ontogenetische Entwicklung läßt sich beim Säugling sehr genau beobachten, ohne daß man Spekulationen aller Art zu Hilfe nehmen müßte, denn dabei stellt sich heraus, daß es in der Entwicklung des kindlichen Lachens in der Tat einen Quantensprung gibt, der sich in der Fremdelphase ereignet, mit der Aufrichtung des Säuglings zur aufrechten Haltung einhergeht und mit einem Ruck zur personalen Lachmündigkeit führt. Wir werden im systematischen Teil in Kapitel 3.4 ausführlich darauf eingehen. Würde Haeckels Biogenetisches Grundgesetz speziell in diesem Fall gelten, könnte man sogar die These wagen, daß in diesem Schritt zu personaler Lachmündigkeit, durch den der Säugling die totale Unverfügbarkeit des präpersonalen Resonanz-Lächelns schlagartig aufkündigt, sich der phylogenetische Entwicklungssprung vom tierischen zum menschlichen Lachen wiederholt. Doch all dies wäre natürlich pure Spekulation, die man sich verbieten muß, weil es tierisches Lachen einfach nicht gibt. Eine Evolutionsgeschichte des Lachens (Frage 8 und 9) gibt es deshalb also sehr wohl, aber diese Evolutionsgeschichte ist ebenfalls eine ausschließlich ontogenetisch-menschliche, die sich am sehr unterschiedlichen Lach-Verhalten des Säuglings und Kleinkindes vor und nach der Fremdelphase ablesen läßt, und außerdem ist es keine gleitende Entwicklung, sondern ein veritabler EntwicklungsSprung zur personalen Lachmündigkeit. Ist diese Stufe der Lachmündigkeit erreicht, erscheint das Lachen als ein ererbtes Programm, das nach dem Akt-Potenz-Schema in immer wieder neuen Situationen und in immer wieder neuen Formen abgerufen und ausagiert werden kann. Doch obwohl diese Situationen dem kulturellen Wandel unterworfen sind, ist es das Lachen selbst nicht, sodaß es zwar eine kulturelle Evolution der Lach-Anlässe und der Einstellung zum Lachen gibt, aber keinen kulturellen Wandel des Lachens selbst. Und wenn das Lachen selbst eine ruckhafte Regression erfährt, wie dies z. B. in seinen pathologischen Formen der Fall ist, so regrediert es zu prä- oder para-personalen Formen und zeigt 1404 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

sich am Verlust des uroborischen Prinzips, der ausschließlich dem lachmündigen personalen Lachen eigen ist. All dies wird aber erst noch in Kapitel 3.4 ausführlicher darzustellen sein. Der bleibende Gewinn einer evolutionsgeschichtlich orientierten Ätiologie des Lachens besteht also letztlich darin, den Blick auf das frühkindliche Lachen und auf Regressionsphänomene aller Art geschärft zu haben. Anmerkungen 1 Ich zitiere Wilhelm Busch nach der Ausgabe: Wilhelm Busch: Gesamtausgabe in vier Bänden, hg. v. Friedrich Bohne, Wiesbaden o. J. Die in diesem Gedicht erkennbare ätzende Verspottung des allzu selbstgewissen homo sapiens ist ein Zug, der das gesamte Werk von Wilhelm Busch prägt; vgl. dazu die Monographie von Gert Ueding: Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, Frankfurt a. M. 2/2007. 2 Vgl. dazu Dirk Bachenhöhler: Alles nur »Träume eines Mittagsschläfchens«? Darwins Evolutionstheorie und die Entstehung der biologischen Anthropologie im deutschsprachigen Raum (1860–1885), in: Charles Darwin und seine Wirkung, hg. v. Eve-Marie Engels, Frankfurt a. M. 2009, S. 111–139. 3 Vgl. dazu Kap. 2.6.5.5 und 2.13.2. 4 Vgl. dazu Rudolf Bilz: Die unbewältigte Vergangenheit des Menschgeschlechts. Beiträge zu einer Paläoanthropologie, Frankfurt a. M. 1967, sowie vom gleichen Autor die Studien: Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie Band 1, Frankfurt a. M. 1973 und: Studien über Angst und Schmerz. Paläoanthropologie 1/2, Frankfurt a. M. 1974. 5 Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 101 ff. und S. 139ff 6 Wichtige Anregungen für dieses Darwin-Kapitel konnte ich folgenden Arbeiten entnehmen: Heinrich Schmidt: Das Biogenetische Grundgesetz. Ernst Haeckel und seine Gegner, Frankfurt a. M. 1909; Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie. Mit einem Vorwort von Rudolf Bilz, Frankfurt a. M. 1973; Wolfgang Wieser: Konrad Lorenz und seine Kritiker. Zur Lage der Verhaltensforschung, München 1976; Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. 1988; Thomas Junker/Uwe Hoßfeld: Die Entdeckung der Evolution. Eine revolutionäre Entdekkung und ihre Geschichte, Darmstadt 2001; Ernst Peter Fischer und Klaus Wiegandt (Hg.): Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, Frankfurt a. M. 2/2003; John Dupré: Darwins Vermächtnis. Die Bedeutung der Evolution für die Gegenwart des Menschen, Frankfurt a. M. 2005; Thomas P. Weber: Darwin und die neuen Biowissenschaften. Eine Einführung, Köln 2005; Manfred Velden: Biologismus – Folge einer Illusion, Göttingen 2005; Thomas Becker: Mann und Weib

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– schwarz und weiß. Die wissenschaftliche Konstruktion von Geschlecht und Rasse 1600–1950, Frankfurt/New York 2005; Thomas Gondermann: Evolution und Rasse. Theoretischer und institutioneller Wandel in der viktorianischen Anthropologie, Bielefeld 2007; Jürgen Neffe: Darwin. Abenteuer seines Lebens, München 3/2008; Eve-Marie Engels (Hg.): Charles Darwin und seine Wirkung, Frankfurt a. M. 2009. 7 Ich zitiere nach der Ausgabe: Jean Lamarck: Zoologische Philosophie. Mit einer Einleitung und einem Anhang: Das phylogenetische System der Tiere nach Haekkel, Leipzig 1909, hier S. VIf. 8 Vgl. dazu Thomas Junker: Die große Krise des Darwinismus, in: Engels, S. 231– 254, sowie Uexküll, S. 249 ff. 9 Ich zitiere nach der Ausgabe: Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Nachwort von Gerhard Heberer, Stuttgart 1963. Zur Entstehungsgeschichte dieses Werks vgl. Neffes Darwin-Buch. 10 Vgl. dazu Thomas F. Glich und Rafael A. Martínez: Der Vatikan und die Evolution. Die Haltung der »katholischen Evolutionstheorie«, in: Engels, S. 397–426. 11 Vgl. dazu Neffe, S. 317 ff. 12 Vgl. dazu Becker: Mann und Weib, sowie Gondermann: Evolution und Rasse. 13 Zit. nach Gould, S. 125. 14 Vgl. dazu Arthur Koestler: Der göttliche Funke, Bern/München/Wien 1968, S. 17 ff. 15 Vgl. dazu Schmidt: Das Biogenetische Grundgesetz, sowie Junker/Hoßfeld, S. 118 ff., und Mario A. Di Gregorio: Unter Darwins Flagge. Ernst Haeckel, Carl Gegenbaur, und die Evolutionstheorie, in: Engels, S. 80–110. 16 Vgl. dazu Gould, S. 118 ff., und Junker/Hoßfeld, S. 118 ff. 17 Engel, I,112 f. Vgl. dazu Werner Krauss: Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung, hg. v. Hans Kortum und Christa Gohrisch, München 1979, Kap. Der Mythos vom »bon sauvage«, S. 32–47, sowie Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973, S. 40 ff., 92 ff. u. 182 ff. 18 Ich zitiere nach der Ausgabe: Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren. Kritische Edition, Einführung, Nachwort und Kommentar von Paul Ekman, Frankfurt a. M. 2000. 19 Vgl. dazu Weber: Darwin, S. 206. 20 Vgl. dazu Sara Stebbins: Maxima in minimis, Frankfurt/Bern/Cirencester 1980. 21 Zitiert nach Theodor Piderit: Mimik und Physiognomik, hg. v. Max von Kreusch, Detmold 1925, S. 9. Wie Ekman dazu kommen konnte, dieses Vorwort in seiner Edition von Darwins Ausdrucks-Buch zu unterschlagen, ist mir schlichtweg schleierhaft. 22 Vgl. dazu Kap. 2.10.5. 23 Vgl. dazu Weber, S. 127 ff. 24 Oskar Kohnstamm: Die biologische Sonderstellung der Ausdrucksbewegungen, in: Journal für Psychologie und Neurologie, 1906, Heft 7, S. 205–222, hier S. 207. 25 Vgl. dazu Oskar Kohnstamm: Intelligenz und Anpassung. Entwurf zu einer bio-

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Anmerkungen

logischen Darstellung der seelischen Vorgänge, in: Ostwalds Annalen der Naturphilosophie, 1903, Band 2, S. 425–505, v. a. S. 490 ff. 26 Vgl. dazu Johannes Hemleben: Ernst Haeckel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 83 ff., und Mario A. Di Gregorio: Unter Darwins Flagge. Ernst Haeckel, Carl Gegenbaur und die Evolutionäre Morphologie, in: Engels, S. 80–110. 27 Vgl. dazu Arthur Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M. 1993, S221 ff.; dort aber kein Hinweis auf Haeckel. 28 Zit. nach Lovejoy, S. 242 nach der Übersetzung von Kretsch. 29 Zit. nach Bachenköhler, in: Engels, S. 121; vgl. dazu auch Gould, S. 25 ff. und S. 181 ff. 30 Vgl dazu Becker, S. 48 ff., und Gondermann, S. 98 ff. 31 Vgl. dazu Gould, S. 125. 32 Ich zitiere nach der Ausgabe London 1902 in eigener Übersetzung. Schon 1904 erschien eine französische Übersetzung, die ich ebenfalls zu Rate gezogen habe, unter dem Titel: Essai sur le rire, ses formes, ses causes, son développement et sa valeur, Paris 1904. 33 Vgl. zu dem Thema auch den Aufsatz von F. J. J. Buytendijk: Das erste Lächeln des Kindes, in: Buytendijk: Das Menschliche, Stuttgart 1958, S. 101–118, sowie die Studien von René Arpad Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, Stuttgart 1967, S. 100 ff.; John Bowlby: Bindung, München 1969, S. 259 ff.; Jean Piaget: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Stuttgart 1973, S. 159 ff.; Bernhard Hassenstein: Verhaltensbiologie des Kindes, München/Zürich 4/1987, S. 50 ff. 34 Buytendijk: Das Menschliche, S. 102. 35 Zur Entdeckung oder Erfindung des angeblich geschichtslosen »Wilden« vgl. Fritz Kramer: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnologie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1977. 36 Fritz W. Kramer: Schriften zu Ethnologie, Frankfurt a. M. 2005, S. 120. 37 Vgl. dazu Becker, S. 228. 38 Vgl. dazu Robert Ardrey: Der Gesellschaftsvertrag. Das Naturgesetz von der Ungleichheit der Menschen, Wien/München/Zürich 1971; Wolfgang Schmidbauer: Die sogenannte Aggression. Die kulturelle Entwicklung und das Böse, Hamburg 1972; Arno Plack (Hg.): Der Mythos vom Aggressionstrieb, München 1973; Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974; Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse, München 1974; Wolfgang Schmidbauer (Hg.): Evolutionstheorie und Verhaltensforschung, Hamburg 1974; Wolfgang Wieser: Konrad Lorenz und seine Kritiker, München 1976; Gottfried Lischke: Ist Aggression böse? Zur Ethologie, Soziologie und Psychologie des Kampfes und der Moral, in: Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, hg. v. Carsten Colpe und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Frankfurt a. M. 1993, S. 272–299 39 Zit. nach Georg Büchmann: Geflügelte Worte, Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, 27/1925, S. 443. 40 Norbert Bischof: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes zwischen Intimität und Autonomie, München 5/2001.

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Charles Darwin 41

Vgl. Robert R. Provine: Laughter. A scientific investigation, London 2000, S. 81 f., sowie die Vorwegnahme dieses Buches in dem Aufsatz: Laughter, in: American Scientist 84,1, 1996, S. 38–47. 42 Zu Emergenzphänomenen vgl. die Aufsätze von Josef H. Reichholf: Die kontingente Entwicklung, und: Das Rätsel der Menschwerdung, in dem Sammelband: Evolution, hg. v. Fischer/Wiegandt S. 45–75 und S. 102–126, hier S. 53 f. und 124 f. 43 Konrad Lorenz: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 5 (1943), S. 235–409. 44 Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, München 17/1992, S. 173. 45 So hatte es schon Eugène Dupréel gesehen, der das Interaktions-Lachen in die beiden Formen des wohlwollend einschließenden »rire d’accueil« und des aggressiv ausschließenden »rire d’exclusion« unterteilt hatte. Vgl. dazu Eugène Dupréel: Le Problème sociologique du Rire, in: Revue Philosophique de la France et de l’Étranger 53, 1928, S. 213–260, hier S. 231. 46 Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Liebe und Hass. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, München 5/1972, S. 145. 47 Ernst Peter Fischer: Das große Buch der Evolution, Köln 2008, S. 261. 48 Vgl. dazu den Aufsatz des Autoren-Teams Marina Davila-Ross, Michael J. Owen und Elke Zimmermann: Reconstructing the Evolution of Laughter in Great Apes and Humans, in: Current Biology 19, 2009, S. 1106–1111 als Zusammenfassung der Dissertation von Marina Davila-Ross: Towards the Evolution of Laughter, Hannover 2007, die in diesem Team entstanden ist. Vgl. dazu auch die Zusammenfassung der evolutionsbiologischen Forschungslage in dem Bericht von Matthew Gervais/David Sloan Wilson: The Evolutions and Functions of Laughter and Humor, in: Quarterly Review of Biology 80,4, 2005, S. 395–430. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die evolutionsbiologisch orientierten Gelotologen sich hier an Zahlen berauschen und sich gegenseitig darin überbieten, die vormenschliche Naturgeschichte des Lachens immer weiter zurück zu verlegen. Demnächst sind wohl die Saurier dran, und sicher landet man irgendwann auch noch bei den Einzellern, die Spaß daran haben, sich immer weiter aufzuteilen. Über diese Ahnentafel des Lachens lachen dann aber nicht mal mehr die Hühner. 49 Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, München 3/1972, S. 173. 50 In späteren Auflagen hat Eibl-Eibesfeldt auf die Wiedergabe dieses ulkigen Stammbaums von Jaram van Hooff verzichtet, ebenso in dem Band: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, Vierkirchen-Pasenbach 5/2004, und erwähnt ihn nur noch im Text. Vgl. dazu auch den mit Recht höhnischen Kommentar von Rainer Stollmann in seinem Werk: Groteske Aufklärung. Studien zu Natur und Kultur des Lachens, Stuttgart 1997, S. 47. 51 Vgl. dazu Kap. 2.14.7.4. 52 Vgl. dazu die Literatur in Anmerkung 38. 53 Vgl. dazu Pannenberg: Anthropologie, S. 139 ff.

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Anmerkungen 54

Vgl. dazu Wieser, Kap. »Antriebe und Strukturen«, S. 33 ff. Die schöne Definition findet sich in dem Roman »Ut mine Stromtid« in: Fritz Reuters sämtliche Werke. Ausgabe in 15 Bänden, Berlin o. J., hier Bd. 14, S. 106. 56 Hier setzt sich Eibl-Eibesfeldt deutlich von Lorenz ab, der in seinem Buch über das sogenannte Böse geschrieben hatte: »Lächeln und Lachen entsprechen sicher verschiedenen Intensitätsgraden derselben Verhaltensweise.« (S. 173) So hatte es schon Sully gesehen, der diesem Thema in seinem »Essay on Laughter« S. 27 ff. ein eigenes Kapitel widmet. 57 Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten, München 1976, S. 175. 58 Vgl. dazu Liebe und Hass, S. 60 ff. und S. 243 ff. 59 Vgl. dazu Bilz: Pars pro toto, S. 28 ff. 60 Bilz, S. 32. Bilz referiert hier wörtlich Passagen aus dem Werk von Alverdes: Die Tierpsychologie in ihren Beziehungen zur Psychologie des Menschen, Leipzig 1932, in dem Alverdes im 8. Vortrag über »Primäres und sekundäres Wissen, Instinkt- und Erfahrungstätigkeiten« erst Instinkthandlugen von Raupen und Spinnen beschreibt und dann fortfährt: »Wir haben es also in solchen Fällen nicht mit individuell erworbenen, sondern mit ererbten Tätigkeitsbereitschaften zu tun; zu gegebener Zeit – sei es unmittelbar nach der Geburt, sei es im Verlauf des späteren Lebens – geht das Tier zu einer für die betreffende Art charakteristischen Verhaltenweise über. Man hat hier von einem Instinkt gesprochen, ein Begriff, der sehr stark umstritten worden ist. Manche Autoren forderten, man solle ihn ganz beiseite lassen, weil er gar zu ›mystisch‹ sei. Wenn im Folgenden von Instinkt die Rede sein wird, so möge darunter nichts weiter verstanden werden als eine ererbte Tätigkeitsbereitschaft; Instinkt sei ein Symbolwort für eine Fähigkeit, die im Tier darinsteckt und sich aus ihm im gegebenen Moment manifestiert.« (S. 69) Bilz und Alverdes werden bei Wieser übrigens nicht erwähnt. 61 Vgl. dazu das Kapitel »Anlage und Begriff« bei Wieser S. 76 ff. 62 Hermann Schmitz/Gabriele Marx/Andrea Molzio; Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie, Rostock 2002, S. 55. 63 Vgl. dazu meinen Aufsatz über »Werktreue« in: Forum Modernes Theater Bd. 21/2 (2006), S. 107–189, hier S. 124–149. 64 Liebe und Hass, S. 22 f.; vgl. dazu auch: Der vorprogrammierte Mensch, S. 16 ff. 65 Vgl. Liebe und Hass, S. 37. 66 Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, Bern/München/Wien 1968. 67 Vgl. Kap. 2.14.6.2. 68 Vgl. den Hinweis auf Cyril Burt, S. 94. 69 Vgl. Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 34 ff. 55

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2.16 Alfred Stern oder Die Frage nach Wert und Wertung

2.16.1 Überblick Alfred Stern (1899–1980) ist in der Problemgeschichte der Gelotologie der erste und bislang einzige, der mit seinem Buch Philosophie des Lachens und Weinens 1 eine axiologisch orientierte Theorie des Lachens vorgelegt hat. Das Werk, das 1945 entstanden, in französischer Sprache schon 1949 unter dem Titel Philosophie du rire et des pleurs und 1950 in einer spanischen Übersetzung in Buenos Aires erschienen und dann vom Autor selbst 1979 ins Deutsche übertragen worden war, betrachtet das Lachen und Weinen »nicht in der traditionellen Weise als Manifestationen des erkennenden Subjekts, sondern als solche des wertenden Subjekts« (LW,10). Ziel dieser Studie ist demnach »die Schaffung einer Philosophie des Lachens und Weinens, die auf einer Theorie der Werte beruht« (LW,19). Eine diesbezügliche Philosophie der Werte hatte Alfred Stern schon 1932 mit seiner Studie Die philosophischen Grundlagen von Wahrheit, Wirklichkeit, Wert in enger Anlehnung an seinen Wiener Lehrer Robert Reininger 2 vorgelegt, an die er 1936 in französischer Emigration mit seiner zweiten wertphilosophischen Studie La philosophie des valeurs 3 anknüpfte, in der er die damals aktuellen Tendenzen der deutschen Wertphilosophie vorstellte. All diese Werke sind geprägt durch eine entschiedene Polemik gegen den »Wertabsolutismus« (LW,21), wie er besonders von Max Scheler vertreten wurde, dem gegenüber Stern auf das entschiedenste betont: »Wir müssen weiterhin auf den Beziehungscharakter der Werte bestehen. Werte sind demnach Beziehungen zwischen Objekten und

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Überblick

wählenden (wertenden) Subjekten und nicht absolute Substanzen oder andere Wesenheiten, die unabhängig von solchen Subjekten existieren. (…) Werte haben kein unabhängiges Dasein.« (LW,21 f.)

Schon in seinem wertphilosophischen Hauptwerk hatte Stern betont, daß man zwar von »objektiven Werten« sprechen könne, dabei aber nie übersehen dürfe, »daß hier nur die besonders lange Zeitdauer, die Beständigkeit des Verknüpftseins gewisser Objekte mit subjektiven Wertgefühlen den Anschein erweckt, als sei der Wert ein inhaerierendes, objektives Bestandsstück jenes Gegenstandes« (WWW,331). Und deshalb verspottet er Schelers materiale Wertethik denn auch als »eine Art Physik der Werte« (WWW,331). Mit dieser entschiedenen Distanzierung vom Postulat einer »Urgegebenheit der Werte« 4 ist Alfred Stern, genau wie sein Wiener Lehrer Robert Reininger (1869–1955), leicht in die Problemgeschichte der deutschen Wertphilosophie einzuordnen und gehört somit zu der Richtung der Wertphilosophie, die den Ursprungsort der Werte nicht in den Objekten sucht, sondern allein im wertenden Subjekt und damit Werte auf Wertungen, also auf Wertungsakte zurückführt und nicht Werte als gegeben voraussetzt, auf die Wertungen dann erkennend und anerkennend antworten. In Anlehnung an Jean Paul könnte man also sagen: Nicht nur das Komische »wohnt« im Subjekt und nicht im Objekt, sondern auch die Werte »wohnen« dort, weil Werte das Korrelat von Wertungsakten sind. Überträgt man diese axiologischen Fragestellungen auf die Gelotologie, stellt sich sofort die Frage, ob der homo ridens mit seinem jeweiligen Lachen auf schon bestehende Werte oder ihm angesonnene Werte und Wertungen antwortet, die er damit, je nachdem, erkennt und anerkennt oder verwirft und verhöhnt, oder ob das jeweilige Lachen des homo ridens selbst schon ein Akt des Wertens ist, genauer: ein performativer Akt des Wertens, durch den bestimmte Personen oder Objekte auf- oder abgewertet, angenommen oder abgelehnt, begrüßt und verehrt oder beleidigt, verhöhnt und vernichtet werden sollen, denn man kann nicht von einem Wert sprechen, ohne zugleich einen Unwert mitzudenken. Bei bestimmten Formen des Interaktions-Lachens wie z. B. dem vernichtungslüsternen alttestamentarischen la’ag-Lachen oder bei der eutrapelistischen Lachkultur, die durch einen entsprechenden 1411 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alfred Stern

Nomos das Selbstwertgefühl aller Beteiligten ausdrücklich zu schonen sucht, oder auch bei den Theorien des Komischen und Lächerlichen, die sich als Degradations-Theorien verstehen, ist dies so offenkundig der Fall, daß allein schon dadurch eine axiologisch orientierte Gelotologie zunächst als sinnvoll und gerechtfertigt erscheint. Es stellt sich aber die Frage, ob sich auch die anderen Formen des Interaktions-Lachens und v. a. auch all die Formen des Bekundungs-Lachens durch eine axiologisch orientierte Ätiologie genauer bestimmen lassen als dies mit den bisher dargestellten methodischen Ansätzen geleistet werden konnte, und vor allem stellt sich die Frage, wo die Grenzen einer axiologisch orientierten Ätiologie des Lachens liegen. Sterns Studie ist so aufgebaut, daß er nach einer kurzen Einführung in die Axiologie in enger Anlehnung an seinen Lehrer Robert Reininger seine eigene Position darlegt und dann zu seinem eigentlichen Thema übergeht, indem er zunächst das Lachen innerhalb der Grenzen des Komischen und Lächerlichen untersucht (S. 31 ff.) und dabei heftig gegen die Theorie des komischen Kontrastes polemisiert, dann auf das Lachen jenseits des Komischen und Lächerlichen (S. 130 ff.) eingeht und schließlich die soziale Bedeutung des Lachens und Weinens (S. 172 ff.) unter axiologischen Aspekten analysiert. Auf den vierten Teil der Studie, der Lachen und Weinen in ihrer Bedeutung für die dramatische Kunst (S. 195 ff.) zu klären sucht, werden wir nicht eingehen, weil Sterns Befunde hier allzu mager sind, als daß sie eine eingehende Würdigung verdient hätten. Auf weiten Strecken ist Sterns Studie eine Auseinandersetzung mit Bergson, indem er dessen Theorie des Lachens und des Komischen axiologisch umformuliert und z. T. auch entscheidend korrigiert. 2.16.2 Werte und Wertungen Im ersten Kapitel seiner Kalligone entwickelt Herder eine Phänomenologie intuitiver Wertung, indem er die verschiedenen Formen positiv wohlwollender Zuwendung zum Angenehmen, negativ aggressiver Zuwendung zum Widerwärtigen und negativ defensiver 1412 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Werte und Wertungen

Abwendung vom Erschreckenden analysiert und dann zustimmend aus Kants Kritik der Urteilskraft zitiert, in der es heißt: »Daß mein Urtheil über einen Gegenstand, dadurch ich ihn für angenehm erkläre, ein Interesse an demselben ausdrücke, ist daraus schon klar, daß es (das Urtheil) durch Empfindung einer Begierde nach dergleichen Gegenständen rege macht, mithin das Wohlgefallen, nicht das bloße Urtheil über ihn, sondern eine Beziehung seiner Existenz auf meinen Zustand, sofern er durch ein solches Object afficirt wird, voraussetzt.« 5

Diese Stellungnahme Herders von 1800 liest sich wie ein Echo auf Goethes erkenntnistheoretischen Aufsatz über den Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt von 1793, in dem er den Menschen als primär wertenden darstellt, und der mit den Sätzen beginnt: »Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen zu sehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und ihm das Leben verbittern.« (38,68 f.)

In diesen beiden kurzen Passagen, die man als die Keimzelle der ganzen neueren Wertphilosophie ansehen könnte, wird klar, daß Wertphilosophie eigentlich nur sinnvoll als Wertungs-Philosophie verstanden und betrieben werden kann, und daß Wertungen dieser Art immer zugleich auch im eigenleiblichen Spüren 6 gegründet sind und sich deshalb als bedürftigkeitsrelevante Stellungnahmen zu bestimmten Objekten resp. als Interesse oder Begehren im Hinblick auf sie manifestieren. Wären wir nicht bedürftige und begehrende Wesen, würden wir auch nicht werten. Schon Goethe und Herder sprechen also nicht von irgendwie vorgegebenen Werten, sondern nur von Akten des Wertens; das Wort »Wert« taucht in beiden Texten überhaupt nicht auf. Das ist in der späteren Wertphilosophie ab Lotze7 ganz anders, als die traditionelle ontologisch orientierte Metaphysik obsolet geworden war, weil man die »Umwertung aller Werte« (Nietzsche) mit Bestürzung erfahren hatte und nun nach etwas suchte, was an 1413 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alfred Stern

die Stelle des Guten treten konnte, und hier schienen sich die Werte anzubieten, die man zu einem Ständestaat verschieden hoher Werte zusammenstellen konnte, um den traditionellen Ständestaat des Seienden abzulösen. Nun stellte sich aber sofort die Frage, woher man diese Werte denn beziehen sollte, ob sie also z. B. fest vorgegeben sind oder ad hoc behauptet, gesetzt und durchgesetzt werden müssen, ob sie entstehen und vergehen, ob sie in den Objekten selbst liegen und vom Subjekt bloß erkannt und anerkannt werden müssen oder aber im wertenden Subjekt, das sie den Objekten zuspricht oder auch abspricht, oder ob sie gar völlig abgelöst von den Objekten in erhabener Absolutheit als »Urgegebenheit« vor sich hin existieren. Zu dieser Annahme neigten v. a. katholische Philosophen, die weiterhin am ontologischen Komparativ entlang philosophieren wollten und aus dem tradierten Ständestaat des mehr oder weniger Seienden einen Ständestaat oder eine »große Kette« an sich seiender Werte ableiteten. Dazu Hans Joas: »Solange das Gute als das höchste Sein gedacht wurde, hätte die Frage nach seiner Entstehung nur als schlicht sinnlos empfunden werden können. Die Frage nach der Entstehung konnte möglicherweise auf jedes einzelne Seiende bezogen werden, aber eben nicht auf jenes Sein, zu dem alles andere strebt und das der Mensch zu erkennen hat. Die Frage nach der Entstehung der Werte setzt deshalb die Wende zur Subjektivität, die die Wertphilosophie vollzog, voraus. Aber sie allein war nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für das Aufkommen dieser Frage. Sie allein konnte ebenso zu einer Neuformulierung werthafter Objektivität führen. Zwar konnten die Werte selbst nicht mehr als subjektunabhängig vorgestellt werden – aber im notwendig subjektiven Werten sollten sich nun die Bedingungen seiner Allgemeingültigkeit finden lassen.« (S. 39 f.)

Auf einen weiteren Erbschaden aller ontologisch orientierten Wertphilosophie verweist Herbert Schnädelbach, wenn er schreibt: »Wenn das seinem Gutsein entkleidete Sein, das damit zu bloßer Faktizität geworden ist, das Sollen nicht mehr zu fundieren vermag, dann vermag dies umgekehrt auch kein Gutes, das in irgendeiner Weise ›ist‹ oder existiert; als solches nicht-seiendes Gutes wird aber der Wert gedacht: ›Seiendes ist, Werte gelten‹ formulieren dann Lotze und die Neu-

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Werte und Wertungen

kantianer. Zugleich sollen die Werte aber auch etwas Objektives sein, es soll sie geben, wenn auch nicht in der Weise des existierenden Seienden. Damit ist das Wertproblem von vornherein mit dem ontologischen Dilemma von Gegenständen belastet, die als objektiv gelten sollen, ohne zu existieren: sie sollen eben nur objektiv gelten.« (S. 199)

Für Max Scheler (1874–1928), der die Wertphilosophie sogar zu einer »materialen Wertethik« ausbauen wollte, war dies zu wenig, weshalb er die angeblich fraglose »Urgegebenheit« der Werte handstreichartig als Grundlage allen Sollens erhob und deshalb zu dem Schluß kam, daß, so Schnädelbach, »die Werte sind, (daß sie) existieren, und nicht nur gelten (…). Die ansichseienden, subjektunabhängig existierenden Werte sind erfaßbar, aufweisbar, denn sie ›scheinen auf‹ an dem, was werthaft ist.« (S. 225) Mit diesem herrischen Postulat der »Urgegebenheit« der Werte, das der katholische Philosoph Helmut Kuhn 1974 erneut aufgriff, wollte Scheler wohl Nietzsches These vom interessegeleiteten Perspektivismus aller Werte und Wertungen kontern, der seinen Zarathustra hatte verkünden lassen: »Werte legt erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! (…) Schätzen (Werten) ist Schaffen: hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. Durch das Schätzen erst gibt es Werte: und ohne das Schätzen wäre die Nuß des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden! Wandel der Werte – das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muß.« 8

Vor diesem Werterelativismus und dem damit verbundenen darwinistischen Kampf der Werte um die Vorherrschaft scheint es offensichtlich vielen von Nietzsches Zeitgenossen gegraut zu haben, v. a. denen, die nach vermeintlich ewigen, objektiven, unantastbaren und allgemein verbindlichen Werten suchten, an die man sich halten und an denen man sein Verhalten guten Gewissens ausrichten kann. So verstand wohl auch der katholische Konvertit Max Scheler seine Aufgabe, als er seine materiale Wertethik schrieb und dieser Art von Sollensethik, wie Stegmüller süffisant schreibt, »an sich seiende Werte zuordnete und diese einem platonischen Himmel einverleibte«. 9 Ganz analog formuliert es Hermann Schmitz in seinem 1415 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alfred Stern

Werk Das Reich der Normen, in dem er an Scheler und Hartmann moniert, sie hätten »die Werte und parallele Unwerte mit ewiger Ordnung wie platonische Ideen in einem Reich zeitloser Geltung hypostasiert« (RN,193). An Schelers materialer Wertethik rieb sich auch Alfred Stern, verspottete sie als »eine Art Physik der Werte« (WWW,331) und setzte ihr in enger Orientierung an seinem philosophischen Lehrer Robert Reininger seine eigene Wertphilosophie entgegen, die er nicht als eine Philosophie der Werte, sondern als eine Philosophie des Wertens verstand, und deshalb den »subjektiven Charakter« (WWW,325) jeder Art von Wertung immer wieder eigens betonte. Was aber ist Werten selbst? Was sind Wertungs-Aussagen, Wertungs-Urteile, Wert-Zusprechungen, unabhängig davon, ob man Werten ein Ansichsein zuspricht und diese »aufscheinenden« Werte dann erfaßt oder ob man vom wertenden Subjekt ausgeht und irgendwelchen Dingen nach Maßgabe irgendwelcher Kriterien irgendwelche Werte zuspricht? Scheler hielt Werturteile offensichtlich für kognitive Aussagen, also für Behauptungssätze, mit denen wir bestimmte Sachverhalte vergegenwärtigen, und merkte nicht, daß er damit in eine von ihm selbst gestellte Falle ging, weil Werturteile eben gerade nicht Tatsachenbehauptungen sind, wie z. B. der Satz »Ich bin am 15. 2. 1940 geboren«, sondern performative Sprechakte, wie z. B. »Ich liebe dich«/»Ich hasse dich«/»Ich warne dich«/»Ich vergebe dir«/»Ich taufe dich auf den Namen XYZ«/»Ich kaufe das«, die die positive oder negative Zuwendung zu einem Objekt bekunden. Sätze wie »A liebt B« hingegen sind keine performativen Sprechakte10, sondern die einfache Feststellung eines Sachverhalts, und derlei Feststellungen eines Sachverhaltes liegen auch vor, wenn man z. B. den Satz »Ich eröffne die Ausstellung« ins Imperfekt oder ins Perfekt umformuliert, weil performative Akte und Sprechakte ausschließlich im Präsens möglich sind, was ja auch im Performanz-Indikator »hiermit« sichtbar wird, der den performativen Akt mit dem performativen Sprechakt zu einer Zugleichheit verklammert. Daß man so leicht auf die Idee kommen kann, Werturteile für kognitive Aussagen zu halten, liegt wohl daran, daß man den Preis von Waren im Laden normalerweise am Etikett ablesen und des1416 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Werte und Wertungen

halb zum Glauben verleitet werden kann, auch alle anderen Werte seien in der gleichen Weise vorgegeben und müßten nur abgelesen und dann akzeptiert oder verworfen werden. Wenn man aber auf dem Flohmarkt um den Preis feilscht, wird einem sofort bewußt, daß der Wert einer Ware nie vorgegeben ist, sondern in einen Wertungs-Clinch zwischen Käufer und Händler durch explizite performative Wertungsakte ermittelt werden muß. Auf diesen Kategorienfehler hatte schon Robert Reininger verwiesen, wenn er gleich in den ersten Sätzen seiner Studie Wertphilosophie und Ethik von 1939 11 schreibt: »Daß es nun Aussagen gibt, die Wertgefühle und Werturteile ausdrükken, ist eine unbezweifelbare Tatsache, während die Unsicherheit bereits beginnt, wenn von Werten und Gütern die Rede ist. Was das heißt, etwas bewerten, werthalten, höher und niederer werten, weiß jeder aus seinem eigensten Erleben. Was aber ein ›Wert‹, losgelöst von jeder Erlebnisgrundlage ist, hat noch niemand recht zu sagen gewußt. Offenbar steckt in jener Rede von Werten und Gütern schon irgendeine Auslegung, Ausweitung oder Objektivierung des subjektiven Wertbewußtseins. Nicht daß es Werte gibt, sondern daß Wertungen mannigfacher Art erlebt werden, ist somit das in höherem Grade Sichere und Gewisse. Der Ausgang wird somit nicht von Werten und ihrer Geltung, sondern vom Wertbewußtsein zu nehmen sein.« (S. 4)

Und zwar vom je »individuellen Wertbewußtsein« (S. 5). Reininger nennt dies eine »Wertphilosophie von unten« (S. 5), womit er eine Formulierung seines Schülers Alfred Stern aufgreift, der eine »Axiologie von unten« (WWW,333) entworfen hatte. Eine derartige »Wertphilosophie von unten« muß deshalb auch zwangsläufig von Wertungen, also von Wertungsakten ausgehen und nicht von schon bestehenden Werten, weshalb Reininger diesen Akt des Wertens als ein »Urphänomen« bezeichnet, hinter das man nicht mehr weiter zurückgehen kann, denn so wie man mit Recht sagen kann »Kein Wetter gibt es nicht«, so kann man mit dem gleichen Recht auch sagen »Kein Werten gibt es nicht«, denn wir werten immer, weil jeglichem Verhalten, mit dem wir uns auf etwas beziehen, immer irgendeine Art von Wertung inbegriffen ist: »Werten ist ein Urphänomen, das sich nicht eigentlich definieren, sondern nur mit verwandten Ausdrücken umschreiben läßt. Als solche

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Alfred Stern

bieten sich die eines Annehmens und Verwerfens, Vorziehens und Nachsetzens dar. Nicht jedes Vorziehen und Nachsetzen ist allerdings ein Werten, sondern nur jenes, das im Sinne einer vollbewußten Wahl geschieht. Wenn ein kaum dem Ei entschlüpftes Hühnchen nach Körnern pickt und nicht nach Steinchen, so wird man nicht sagen dürfen, daß es jene höher ›bewertet‹ als diese. Werten ist im Gegensatz zu Triebreaktionen immer eine im Lichte des Bewußtseins sich vollziehende Stellungnahme und Entscheidung. In ihr drückt sich aus, daß alles Werten eine Gegensätzlichkeit in sich schließt: ein Höher und Niedriger, ein Besser und Schlechter, ein Für und Wider, ein Ja und Nein. Alles gleich werten, hieße überhaupt nicht werten. (…) Allem Werten ist somit eine Polarität eigen und von ihm unabtrennbar: ein Gegensatz positiven und negativen Wertens, dem die Begriffe Wert und Unwert entsprechen.« (S. 26)

Man könnte auch mit Herder sagen, Wertungen seien Formen positiver oder negativer Zuwendung und Abwendung, was jedoch nicht unbedingt explizit sprachlich artikuliert werden muß, sondern rein mimetisch geschehen kann, also z. B. durch Lachen und Weinen, Erbleichen und Erröten, durch Erbrechen, Angriff, Ohnmacht oder Flucht. Wird es aber außerdem auch noch explizit sprachlich artikuliert, so geschieht dies nicht durch kognitive, sondern durch pragmatisch dimensionierte Aussagen 12, die implizit zu bestimmten Handlungen auffordern, und v. a. durch performative Sprechakte, die selbst schon Handlungen sind. Aus diesem Grund fährt Reininger fort: »Auch hinter Wertungen stehen Antriebe eigener Art. Sie äußern sich darin, daß mit jedem Werten ein Optativ sich verbindet, ein Wünschen im Sinne eines unpersönlichen Sollens. Von allem, was ich positiv bewerte, wünsche ich, daß es wirklich werde und bleibe: es ›soll‹ sein; alles was ich negativ bewerte, soll nicht sein. In der Wendung vom Wertungsobjekt zum Wertungssubjekt wird dieser Optativ zu einem Hortativ: zu einer Aufforderung, das positiv Bewertete in mir und außer mir zu verwirklichen, zumindest aber, eine getroffene Wertentscheidung festzuhalten und sie Schwankungen des Gefühls gegenüber zu behaupten. Wird aber im Kampf der Antriebe eine Willensentscheidung notwendig, so wird durch den Willensakt aus dem Optativ ein Imperativ: Wunsch und Aufforderung werden zu einem Befehl: das ›es

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Werte und Wertungen

soll‹ und das ›es sollte‹ werden zu einem ›ich soll‹. An und für sich ist aber dieser imperativische Zug dem Wertbewußtsein fremd, während jener Forderungscharakter ihm wesentlich ist.« (S. 27)

Dieser Forderungscharakter kann aber auch zu einem »das sollte nicht sein« oder gar zu einem »das darf nicht sein« werden, wenn etwas als Unwert gewertet wird, also z. B. als Unkraut, Ungeziefer oder Unrat, was alles es zu verhindern, zu vermeiden und oft auch zu vernichten13 gilt. Bei diesem jedem Werten impliziten Appell setzt auch Hermann Schmitz bei seiner Kritik an der »Naivität aller Wertethik« (RR,15) an, geht aber noch einen Schritt weiter, indem er danach fragt, in welcher Weise die »Appell-Funktion« (RR,661) des Wertens das Verhalten des Wertenden selbst im Umgang mit dem sooder-so bewerteten Objekt überformt, denn auch für ihn gilt, daß alles Werten nicht konstativ, sondern performativ geschieht: »Daß es Werte gibt, ist keineswegs ausgemacht. (…) Sicherlich wird aber jedermann zugeben, daß Wertungen stattfinden, wenn z. B. etwas als schön oder häßlich, angenehm oder nützlich oder unnütz bezeichnet wird. Die Frage ist nur, ob man von Wertungen auf Werte schließen darf. Die Wertethiker lassen diesen Schluß unbedenklich gelten. (..) Die Wertung gilt dann als Zuschreibung eines Wertes an das Gewertete.« (RR,661)

Derlei Wertungen können kühl kalkulierend und in unbedrängter Besonnenheit geschehen, wenn man z. B. auf dem Flohmarkt mit einem Händler um den Preis feilscht und zu dem Schluß kommt: »Das ist es mir nicht wert.« Wertungen können aber auch aufgrund von Ergriffenheiten aller Art geschehen (»Das muß ich unbedingt haben!«), durch die ein extrem begehrtes und dementsprechend hoch bewertetes Objekt eine Auratisierung erfährt. Wert ist, so gesehen, immer Marktwert, genauer: je aktueller Marktwert, der sich aus dem Spiel von Angebot einerseits und Nachfrage, Bedürftigkeit, Begehren und Interesse andererseits ergibt. Doch diese Aura ist eben gerade keine Eigenschaft des Objektes selbst, sondern nur das Echo des je eigenen Gefühls als Begehren oder Interesse resp. das Echo der je eigenen Ergriffenheit, also z. B. das Echo der Leidenschaft eines passionierten Sammlers. Wenn laut Jean Paul gilt, daß »das Komische, wie das Erhabene, nie im Objek1419 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alfred Stern

te wohnt, sondern im Subjekte« (49,116), so gilt, analog dazu, daß auch die Werte immer nur im wertenden Subjekt »wohnen«, nie im Wertobjekt selbst. Damit ist die seit Walter Benjamin so viel beredete Aura letztlich nur das Echo des durch die eigene Ergriffenheit überformten Verhaltens im Umgang mit dem jeweils dadurch auratisierten Objekt. Ob man mit einem Objekt so achtlos umgeht wie ein Schrotthändler mit seinem Schrott oder so feierlich ehrfürchtig wie ein Briefmarkensammler mit seiner blauen Maurizius: – immer ist es so, daß der jeweilige Wert eines Objektes nicht am Objekt selbst als Aura abgelesen werden kann, sondern allein am Verhalten desjenigen, der mit ihm in einer bestimmten Weise umgeht und durch seinen Umgang mit dem Objekt diesem den jeweiligen auratischen Wert verleiht. Besonders deutlich wird dies bei den sakralen Objekten der Cargo-Kulte, die auch aus Schrott bestehen können, bei Fetischen oder bei Reliquien. Deshalb fährt Schmitz fort: »Die Wertung kann Sicherheit und einleuchtende Kraft für den Wertenden aus verbindlichen Normen schöpfen, durch die sie – etwa dank der Autorität von Gefühlen – diesem auferlegt wird; solche Unbeliebigkeit der Wertung wird leicht als Evidenz für das Vorkommen eines Wertes gedeutet und stärkt dann den Anschein fragloser Richtigkeit der Meinung, Wertung sei Zuschreibung eines Wertes an das Gewertete. Diese Meinung ist dennoch das proton pseudos der Wertethik.« (RR,661 f.)

Und an anderer Stelle schreibt er: »Werte sind die Markierungen von Wertungen (im Sinne günstiger Stellungnahmen), die den Menschen durch die Autorität von Gefühlen mittels verbindlich geltender Normen abverlangt werden. Werte werden also von Menschen erwertet; sie sind Reflexe von Wertungen, aber nicht von solchen, die den Menschen nur belieben, sondern von solchen, die ihnen durch die Verbindlichkeit stiftende Macht von Gefühlen auferlegt werden. Solche Gefühle können etwa Ehrfurcht, Verehrung, Achtung, Bewunderung, Begeisterung, Entzücken sein; oft wird die Sprache keinen passenden Namen bereithalten. Das Entsprechende gilt für Unwerte, nur dass es sich hier um ungünstige Stellungnahmen und dazu passende Gefühle handelt.« (RN,194)

Sind die Werte also das Phlogiston der Wertphilosophie? Wenn dies der Fall ist, hätte Scheler nicht von einer »materialen Wert1420 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Werte und Wertungen

ethik« reden dürfen, sondern hätte eine »performative oder mimetische Wertethik« entwerfen müssen. Doch dies hat er bekanntlich nicht getan, weil das Phlogiston »Wert« für ihn ja eine »Urgegebenheit« war. Mit diesem schlagenden Argument, nicht nach den Werten selbst, sondern nach der auf den Wertenden zurückwirkenden Appellfunktion des Wertungsaktes zu fragen und das Werten selbst als performativen Akt 14 zu verstehen, hat uns Hermann Schmitz in den Stand versetzt, nun auch Alfred Sterns axiologisch orientierte Ätiologie des Lachens etwas genauer zu analysieren, weil nunmehr bestimmte Formen des Lachens, insbesondere das adressierte Interaktions-Lachen als performatives und implizit wertendes Verhalten beschrieben und bestimmt werden können. So ist z. B. das Verlachen des Anderen immer zugleich ein Abwerten des Anderen, und das freundliche Anlachen immer zugleich ein Aufwerten und Wertschätzen, und somit ein Akt performativ wertender Zuwendung, der einem expliziten performativen Sprechakt durchaus analog ist. Sterns philosophischer Mentor Robert Reininger hatte drei Stufen des »Wertbewußtseins« unterschieden: »Wertgefühle sind die unmittelbar erlebten Wertungen selbst, Wertaussagen sprechen das reflektierte Wissen um Werterlebnisse aus, Werturteile sollen zwischen verschieden gerichteten Wertungen eine Entscheidung treffen.« (S. 33)

Von diesen drei Aspekten jeglicher Wertung, die Alfred Stern 15 übernimmt, sind für unsere Fragestellung eigentlich nur die Wertgefühle von Bedeutung, weil in diesen elementaren Wertgefühlen als den unmittelbar erlebten Wertungen sich das eigenleibliche Spüren meldet, das sich unmittelbar mimetisch äußern und u. a. auch in Form von Gelächter artikulieren kann. Doch hier taucht ein Problem auf: Es droht nämlich bei jeder Art von Wertphilosophie immer die Gefahr, daß sich Wertungen unter der Hand wieder zu Werten hypostasieren, auch wenn man noch so sehr betont, daß man eine »Wertphilosophie von unten« betreibt und nicht von Werten ausgeht, sondern bloß von Wertungen. Diese Gefahr einer schleichenden Hypostasierung der Wertungen zu Werten ist dann besonders groß, wenn man von »objektiven 1421 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alfred Stern

Werten« spricht, also von transsubjektiven Wertungen, auf die sich kleinere oder größere Gruppen geeinigt haben, und so dürfen wir gespannt sein, ob Alfred Stern sich dieser Versuchung zur heimlichen Hypostasierung von Wertungen zu Werten hat entziehen können, auch wenn er in seiner Kritik an Schelers Wertphilosophie deren »extremen Wert-Objektivismus« (WWW,331) noch so sehr geißelt. Die Kernthese von Sterns wertphilosophischem Hauptwerk, das er in seinem Buch über das Lachen in äußerster Verknappung nochmal referiert, ist der strikt »subjektive Charakter« (S. 325) jeder Art von Wertung, weil jemand als jemand etwas als etwas wertet. Dabei spielt laut Stern die entscheidende Rolle das spontane Wertgefühl, weil über dieses spontane Wertgefühl »Rangungleichheiten« (LW,19) empfunden werden, die bei verschiedenen Personen in derselben Situation und bei derselben Person in verschiedenen Situationen äußerst unterschiedlich sein können, und das heißt für Stern: »Es erweist sich jedoch, daß diese Ungleichheit der Wertniveaus unter den Dingen nicht von diesen selbst herrührt, sondern daß sie durch die Beziehung der Objekte zu wertenden, wählenden Subjekten bedingt ist. Es gäbe keine Werte, wenn es nicht verschiedene Vorzugstendenzen gäbe.« (LW,20)

Denn, so Stern weiter: »Die Werte wurzeln in den psychischen Komponenten, die sich aufgrund ihrer Subjektbeziehungen an alle Gegenstände knüpfen. Durch diese Beziehung erhält jeder Gegenstand seine gefühlsmäßige Tonalität, die die Grundlage seines Wertes bildet.« (LW,20)

Herder hätte hier wohl mit Kant von der »Beziehung seiner Existenz auf meinen Zustand« gesprochen, »sofern er durch ein solches Object afficirt ist« und von dem »Interesse« an ihm, aber mit Sicherheit nicht von seinem »Wert«. Diese »emotive Grundlage« jeglicher Wertung und »Wertsetzung« (LW, 20) überformt dann laut Stern auf integrale Weise die Art der intentionalen Zuwendung zu Personen und Sachen, die sich auf mannigfache Art artikulieren kann, insbesondere in wertender Rede, aber auch in nicht-sprachlichen mimetischen Verhaltensweisen, die dieser wertenden Rede inhaltlich analog sind, und dazu gehören laut Stern auch Lachen und Weinen. Mit einem Wort: 1422 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als Wertung

Lachen und Weinen sind für Stern performativ wertende Stellungnahmen. 2.16.3 Lachen als Wertung Sterns Philosophie des Lachens und Weinens ist durchgehend geprägt von zwei Polemiken. Die eine zielt auf die traditionelle Theorie des komischen Kontrasts, die andere richtet sich gegen Bergsons Theorie des Lachens. Manchmal überlagern sich beide Polemiken, weil auch Bergson seine Theorie des Lachens auf den komischen Kontrast gründet. Sterns Polemik ist jedoch keine fundamentale Kritik dieser beiden Theorien, sondern er versucht dort, wo es ihm möglich erscheint, in diesen Theorien »ein verstecktes axiologisches Element« (LW,24) zu entdecken, um zumindest bestimmte Aspekte dieser beiden Theorien zu retten. Dies gilt v. a. für Bergsons Werk, das er gleichwohl und seltsam genug für die »geistreichste und originellste aller Theorien des Komischen« (LW,27) hält. 2.16.3.1 Das Lachen über das Komische und Lächerliche Wir haben in Kapitel 2.14.6.4.2 gesehen, daß Bergson die Quelle des Komischen dort verortet, wo etwas, das sich eigentlich organisch fließend bewegen müßte, sich zu einer starr mechanischen Bewegung verzerrt oder wo aus einer organisch sinnvollen Bewegung eine sinnlose Bewegung auf der Stelle oder eine maschinelle Hin-und-her-Bewegung wird, mit einem Wort, »wenn etwas Mechanisches etwas Lebendiges überdeckt« 16. Man könnte auch sagen: Komik entsteht, wenn der élan vital zu einem Staccato maschineller Bewegungen verzerrt wird. Diese These übernimmt im Grundsatz auch Alfred Stern und bringt sie auf die Formel: »Die Quelle des Komischen und des Lachens, das es hervorruft, liegt also nach Bergson sozusagen im Einbruch des Mechanischen ins Lebendige, in das Gebiet, das dem Leben allein gehören sollte.« (LW,32) »Durch die Wiederholung, Umkehrung und Überlagerung seiner

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Alfred Stern

Handlungen zeigt der lebendige Mensch, daß er dem rohen Mechanismus erlaubt hat, sich ins Leben einzuschleichen. Daher wirkt er komisch und macht sich lächerlich. Dies ist in ihrem Wesen die Bergsonsche Theorie des Komischen.« (LW,33)

Doch was ist diese Theorie des Komischen anderes als eine geradezu klassische Theorie des komischen Kontrasts als Kontrast, genauer: als ungefährlicher und unbedrohlicher Kontrast zwischen organisch-fließend und mechanisch-starr? Wir haben ja schon gesehen, daß man diesen von Bergson verabsolutierten Kontrast problemlos als eine ungefährliche und unbedrohliche Verletzung der empirischen Norm des »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne von Kurt Goldstein 17 deuten kann. Stern hingegen will auch hier wieder das »versteckte axiologische Element« (LW, 24) entdecken und argumentiert deshalb ganz anders. Nun haben wir ja gesehen, daß Bergson durch die Reduktion des Lachens auf das kalte Auslachen-von-oben auch zu ganz erschreckenden Konsequenzen seiner Theorie gekommen ist, wenn er z. B. schreibt: »Das Lachen ist, ich wiederhole es, ein Korrektiv und dazu da, jemanden zu demütigen. Infolgedessen muß es in der Person, der es gilt, eine peinliche Empfindung hervorrufen. Durch ihr Gelächter rächt sich die Gesellschaft für die Freiheiten, die man sich ihr gegenüber herausgenommen hat. Das Lachen würde seinen Zweck verfehlen, wenn es von Sympathie und Güte gekennzeichnet wäre.« (S. 123 f.) »Das Lachen kann also nicht immer restlos gerecht sein. Es soll auch nicht gütig sein. Es soll einschüchtern, indem es demütigt.« (S. 124)

Hier setzt nun Alfred Stern an, denn hier ist das »axiologische Element« in Bergsons Argumentation klar erkennbar, weil das von ihm favorisierte kalte Auslachen-von-oben, das den Ausgelachten mit »anästhesiertem Herzen« (S. 15) demütigen soll, eine typische Form negativ aggressiver Zuwendung ist, die darauf zielt, das Selbstwertgefühl des Ausgelachten zu beschädigen und ihm seinen Unwert als Person hohnlachend zu demonstrieren. Und deshalb kann Stern die erste Bilanz seiner axiologischen Rettung von Bergsons Theorie des Lachens ziehen: »Offenkundig hat Bergson auf seiner Suche die erste Schicht des Problems bloßgelegt: jene, die durch die Polarität 18 des Lebendigen und

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Lachen als Wertung

des Mechanischen charakterisiert ist. Unter dieser muß aber eine tiefere Schicht des Problems des Lachens und Weinens verborgen sein: die der Werte.« (LW,39)

Dann aber folgt schon Sterns Kritik an Bergson, indem er auf den fatalen Reduktionismus seiner Theorie des Lachens verweist, weil diese »eigentlich keine umfassende Theorie des Lachens (ist), sondern bloß eine Theorie des durch das Komische bewirkten Lachens. Alle anderen Arten des Lachens, besonders das der Freude, aber auch das schadenfrohe, das boshafte Lachen oder das bei menschlichen Begegnungen geäußerte, finden in Bergsons Theorie keinen Platz; dasselbe gilt von den vielen Arten des Lächelns der Höflichkeit, der Bescheidenheit, des Bedauerns, der Ermutigung, das fürsprechende, das bittere, das tröstende Lächeln usw. Sie alle können nicht als Einbruch des Mechanischen ins Leben erklärt werden. Auch das ironische Lächeln, von dem Bergson spricht, kann nicht als Sonderfall seiner Theorie gelten.« (LW,37)

Vor allem aber moniert Stern an Bergson dessen These, das Komische wende sich an den »reinen Intellekt« 19, denn: »Meiner Theorie nach sind Lachen und Weinen keine Äußerungen des erkennenden Subjektes, sondern solche des wertenden, wählenden Menschen. Lachen und Weinen sind nicht an den Inhalt der durch hypothetische reine Intelligenzen erkennbaren Wirklichkeit gebunden, sondern durch die Gefühlstonalität dieser Inhalte der Wirklichkeit. Oder anders ausgedrückt: Die Wesenheiten, die die Gegenstände unseres Lachens und Weinens bilden, befinden sich nicht auf unserem abstrakten Globus, sondern in der emotiven Sphäre. Die Wesenheiten, die unser Lachen und Weinen hervorrufen, sind nicht rational, sondern emotiv. Sie sind jene Wesenheiten, die wir Werte nennen.« (LW,39)

Wie das? Sind also doch wieder die Werte das Thema und nicht die Wertungen? Werden hier die Werte, wenn sie als »Wesenheiten« bezeichnet werden, nicht doch wieder im Sinne von Schelers Wertabsolutismus hypostasiert? Gelten Werte nicht nur, sondern existieren sie sogar als »Wesenheiten« von eigenen Gnaden? Postuliert er die Wesenheit Werte nicht selbst wieder als eine »Urgegebenheit«, als »von den Vorgängen ihres realen Erfassens abgelöste Objekte« 1425 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alfred Stern

(WWW,331)? Hat sich Stern schon hier ganz zu Beginn seiner Argumentation im ontologischen Dilemma der Wertphilosophie verfangen? Man möchte es fast meinen, selbst wenn er ein paar Seiten später betont, das Subjekt sei »als wertendes, wählendes die Quelle aller Werte«, wohingegen »die mechanische Natur notwendigerweise eine wertfreie Welt darstellt« (LW,42), dann aber fortfährt: »Es folgt daraus, daß das Eindringen der wertfreien mechanischen Natur in das Gebiet des menschlichen Lebens als der Quelle aller höheren Werte dort ein plötzliches Wertevakuum schafft, ein Abgleiten, eine Degradation der Werte. Und diese ist, meiner Überzeugung nach, der Ursprung des Lachens.« (LW,42 f.)

Müßten dann nicht Kursstürze an der Börse oder eine galoppierende Inflation ein homerisches Gelächter auslösen, bei denen ebenfalls Werte auf das massivste degradiert werden, sodaß auch ein plötzliches Wertevakuum entstehen kann? Betreibt Stern hier nicht selbst auch wieder »eine Art Physik der Werte« (WWW,331), als die er einst Schelers »extremen Wertobjektivismus« (WWW,331) verspottet hatte, wenn die Werte als Wesenheiten eine solche Eigendynamik entfalten und sich sogar selbst entwerten können, und wenn er die »mechanische Natur« als einen »wertfreien« Weltbereich bezeichne? Dieser Verdacht wird noch verstärkt, wenn Stern mit einigem Stolz fortfährt: »Auf diese Weise haben wir den Bergsonschen Gegensatz zwischen dem Lebendigen und dem Mechanischen auf den tieferliegenden Widerstreit zwischen Wert und Natur zurückgeführt. Der Gegensatz zwischen Wert und Natur ist also die tieferliegende Schichte des Problems des Lachens und – wie wir sehen werden – auch des Weinens, die wir unter der von Bergson freigelegten Schichte gesucht haben.« (LW,43)

Und diese tiefer liegende Schicht ist für ihn das Prinzip »Degradation« (LW,43). Doch was heißt Degradation? Degradieren Werte sich selbst oder müssen sie eigens degradiert werden? Lösen sie sich allmählich auf oder plötzlich? Oder werden sie nur dadurch entwertet, daß jemand sie vehement bestreitet? Doch wenn sie entwertet werden, müssen sie doch erst einmal gegolten haben oder zumindest behauptet worden sein? Oder gelten sie nicht nur, sondern existieren 1426 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als Wertung

sie sogar als irgendwelche Wesenheiten? Und wenn Stern am Gegensatz von Natur und Wert ansetzt, müssen dann Natur und Wert nicht auch zur selben Klasse von Gegenständen gehören? Und liegt da nicht ein Kategorienfehler vor und ein weiteres ontologisches Dilemma? Man merkt schon hier, welch hohes Risiko man eingeht, wenn man überhaupt von Werten jenseits von aktuellen Wertungsakten spricht. Doch fragen wir erst einmal weiter, was Alfred Stern mit seinem Schlüsselbegriff »Degradation« im Sinne von Wert-Degradation, Wert-Auflösung oder Wert-Implosion meint. So schreibt er z. B. im Anschluß an Bergson, eine Person wirke lächerlich, wenn sie den Eindruck einer Sache oder einer Maschine mache, weil dadurch ihr Wert »eine empfindliche Degradation« (LW,44) erfahre: »Das Lachen, das eine solche Person hervorruft, ist unsere Reaktion auf jene Wertdegradation, unsere Strafe für sie. So erweist das Lachen (Auslachen) sich als Werturteil, ein negatives Werturteil über eine Wertedegradation. Dieses Werturteil drückt sich nicht in Worten aus, sondern in jenen unartikulierten glucksenden Lauten, die wir lachen nennen.« (LW,44)

Dann aber fährt er fort: »Das Lachen ist jedoch nicht immer eine passive Reaktion auf eine Wertdegradation. Mitunter ist es auch eine Aktion, die eine Wertdegradation bewirkt oder zu bewirken sucht. Wenn wir über eine Sache lachen, die nicht lächerlich ist, suchen wir deren Wert herabzusetzen.« (LW,44)

Doch damit ist immer noch nicht geklärt, ob dieses performativ entwertende Lachen vorgegebene Werte degradiert oder fremde aktuelle Wertsetzungen oder Wertgefühle, also bestimmte vorgegebene Wertungen bestreitet und dadurch degradiert. Und es wird auch nicht klarer, wenn Stern auf komisch wirkende szenische Einbrüche auf der Bühne zu sprechen kommt, z. B. auf einen stolpernde Sarastro oder einen niesenden Hamlet, die das Publikum zum Lachen bringen, um daraus eine weitere Bilanz zu ziehen und sein bislang gefundenes Prinzip Degradation weiter zu präzisieren: »Jeder Zwischenfall und jeder Vorgang, der unsere Aufmerksamkeit von einem Wert auf einen Unwert lenkt oder von einem Eigenwert

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Alfred Stern

auf einen Instrumentalwert, wirkt komisch, denn jeder dieser Fälle kommt einer Wertdegradation gleich und fordert das negative Werturteil des Lachens heraus.« (LW.47)

Denn: »Man lacht über menschliche Schwächen, aber nicht über menschliche Stärken. Dies allein setzt den axiologischen Charakter des Lachens ins rechte Licht und seine ständige Beziehung zu degradierten Werten: denn was sind menschliche Schwächen, wenn nicht degradierte Werte? Da es an eine Wertdegradation gebunden ist, setzt alles Lachen über das Komische eine positive Schätzung (Wertung) des degradierten Systems voraus, denn ohne (vorher erfolgte) positive Wertung gibt es keine Degradation.« (LW,43)

Gutwillig interpretiert wäre Sterns Prinzip Degradation somit als ein Verfahren oder auch als eine Waffe im darwinistischen Kampf der Wertungen zu verstehen, als das Bestreiten von Wertungen, die von anderen vorgenommen und allen angesonnen werden, durch eigene Wertungen, sofern man die fremden nicht übernehmen kann oder auch nicht übernehmen will. Das freche Trotzlachen des Diogenes, der sich von seiner Umwelt nicht »niederlachen« lassen wollte, wäre somit ein klassisches Beispiel für diesen Kampf der Wertungen in Form von Gelächter, und dieses Gelächter ist dann immer ein wechselseitiges Auslachen, also immer eine Form von Interaktions-Lachen als Form negativ aggressiver Zuwendung. Problematisch wird Sterns Argumentation erst, wenn er aus diesen performativen Wertungsakten die vorgegebene Existenz irgendwelcher positiver oder negativer Werte ableitet, die dann durch irgendwelche Werturteile bestätigt oder bestritten werden könnten. Dieser Hinweis ist hier schon deshalb notwendig, weil Alfred Stern, wie schon Bergson, nicht säuberlich zwischen »komisch« und »lächerlich«, zwischen »belachen« und »verlachen« und somit auch nicht zwischen Bekundungs-Lachen und Interaktions-Lachen unterscheidet und weil man zwar das Verlachen problemlos als negatives Werturteil verstehen kann, das das Selbstwertgefühl des Ausgelachten ruinieren und ihn in die katastrophale Scham treiben soll, nicht jedoch das Bekundungs-Lachen. Diese Reduktion des Lachens auf das Interaktions-Lachen ist also eine weitere Falle, die sich Stern durch seinen axiologischen 1428 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen als Wertung

Ansatz selbst gestellt hat und in die er immer wieder gerät. Dies zeigt sich z. B. auch darin, daß er den griechischen Gott Momus als »Gott des Lachens« (LW,59) bezeichnet, denn Momus war ja gerade nicht der Gott des überwältigenden Lachens, das war ja Gelos, sondern das Prinzip der Schmäh- und Tadelsucht, der Kritik um jeden Preis, der sich zu Tode geärgert haben soll, weil er an der schimmernden Aphrodite nichts finden konnte, was er hätte schmähen können. Die allzu große Nähe zu Bergsons reduktionistischer Sicht auf das Lachen verleitet ihn denn auch dazu, den aggressiv kritischen Charakter bestimmter Formen des Interaktions-Lachens auf das Lachen generell zu übertragen, und deshalb kommt er zu dem Schluß: »Wir müssen mit Nachdruck auf dem kritischen Charakter des Lachens bestehen, der jedem negativen Werturteil zukommt, das eine Wertedegradation feststellt. Es ist erstaunlich, daß dieser Charakter des Lachens als des einer instinktiven Kritik einer Wertdegradation von keinem jener Philosophen erkannt wurde, die starrköpfig die Lösung unseres Problems in begrifflichen Kontrasten sahen.« (LW,58)

Zu diesen Philosophen gehören laut Stern auch Horaz und Kant, die er auf eine recht bezeichnende Weise interpretiert, wenn er schreibt: »Zahlreich sind die Schwächen – menschliche und andere –, deren vis comica auf dem Satz der Episculae von Horaz beruht, parturiunt montes, nascetur ridiculus mus. Warum wird die Maus als lächerlich (wohl besser: als komisch) bezeichnet? Weil ihre Kleinheit und Schwäche den Wert der Anstrengung degradiert, den die Berge machten, um sie zur Welt zu bringen. In diesem Sinne kann Kants Definition des Lachens als ein Spezialfall gelten, wenn er sagt: ›Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Anstrengung in nichts.‹ Die gespannte Erwartung richtete sich hier auf irgendwelche positiven Werte, aber ist plötzlich zu nichts reduziert. Dieses Nichts ist, unserer Ansicht nach, die axiologische Leere. Unter diesem Gesichtspunkt müßte man die Komik des Kontrastes verstehen.« (LW,82 f.)

Auch hier ist man versucht zu fragen, ob er mit diesem Hinweis auf die sich plötzlich ergebende »axiologische Leere« einer bestimmten Situation nicht selbst wieder »eine Art Physik der Werte« 1429 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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(WWW,331) betreibt, die er Scheler in seinem wertphilosophischen Hauptwerk vorgeworfen hatte. Stern hätte aber auch aus Kants Anthropologie-Vorlesung von 1781/82 zitieren können, in der es heißt: »Lachen entsteht, wenn eine Sache, auf die wir eine Wichtigkeit setzen, mit einemmale ihren ganzen Werth verliert.« (S. 1139)

Doch aus dem Umstand, daß man in diesem Zitat das Wort »Wert« problemlos durch das Wortfeld »Wichtigkeit/Bedeutsamkeit/Relevanz/Interesse« ersetzen kann, um den plötzlichen Umschlag von Wichtigkeit in Nichtigkeit zu benennen, der als plötzliche Entspannung empfunden wird, geht hervor, daß man umgekehrt das, was Stern hier als »positive Werte« bezeichnet, sehr wohl auch als »Bedeutsamkeit« oder »Wichtigkeit«, genauer: als »situationsspezifische Wichtigkeit für jemanden in dieser Situation« bezeichnen kann. Vor allem aber wird deutlich, daß Stern einen Aspekt des Problems völlig übersieht, auf den Kant und Herder überaus deutlich verwiesen haben: Ich meine den Anteil des eigenleiblichen Spürens bei der Erfahrung von Komik, den Kant als Dialektik von Anspannung und Entspannung beschreibt, und Herder als »die Beziehung des komischen Objekts auf meinen Zustand, sofern er durch ein solches Objekt leiblich affiziert wird«, beschreiben würde. Denn wenn Lachen als eine wertende Stellungnahme zu Personen, Sachen und Situationen verstanden werden soll, was ja das erklärte Ziel von Sterns axiologischer Ätiologie des Lachens ist, dann muß klar sein, daß bei diesem Werten in Form von Gelächter immer auch das eigenleibliche Spüren thematisiert werden muß, weil wir eben nicht nur intellektuell werten, sondern synergetisch als ganze und leibhaftige Person. Doch davon erfahren wir bei Alfred Stern überhaupt nichts. 2.16.3.2 Lachen und Weinen Ähnlich wie Helmuth Plessner, auf den er jedoch nur ganz kurz (LW,106 f.) verweist, meint auch Alfred Stern, Lachen und Weinen müßten immer zusammen gesehen und analysiert werden, weil sie gleichsam zwei Seiten einer Medaille darstellen und deshalb ein ge1430 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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meinsames tertium comparationis haben. Ist es für Plessner der Verlust von Fassung und Selbstbeherrschung in einer krisenhaften Situation, so ist es für Stern das Prinzip Degradation. Beim Lachen manifestiert sich dies als darwinistisches Gerangel der Werte und Wertungen, d. h. als aktive Entwertung fremder Werte und Wertungen, beim Weinen wird das Prinzip Degradation als Verlust und Versagen dessen erfahren, was einem selbst als wertvoll gilt, ohne daß man sich dagegen wehren könnte. »Was sie verbindet, sind Werte, ihr gemeinsames Objekt. Lachen und Weinen reflektieren nur, was diesen Werten geschieht: Degradation oder Verlust.« (LW,121)

Doch diese strikte Analogisierung von Lachen und Weinen ist schon allein methodologisch hoch riskant, weil sie mit einer entschieden reduktionistischen Sicht auf die Phänomene erkauft werden muß, da man zwar beim Lachen zwischen »zielloser Ausdrucksbewegung« und »zielgerichtetem Handeln« (Buytendijk) bzw. zwischen »Ausdrucksbewegung« und »Zweckbewegung« (Kohnstamm) unterscheiden und deshalb das Lachen in Bekundungs-Lachen und Interaktions-Lachen einteilen kann, nicht jedoch das Weinen, denn alles Weinen ist Bekundungs-Weinen. Ein Gegenstück zum tendenziell verfügbaren und ad personam durch Blickkontakt adressiertem Interaktions-Lachen gibt es beim Weinen nicht. Man kann niemanden gezielt anweinen, so wie man jemanden freundlich anlachen oder höhnisch auslachen kann. Dies verweist darauf, daß die Palette des Weinens sehr viel karger ist als die Lachpalette und dies dürfte auch der Grund dafür sein, daß das Weinen für die philosophische Anthropologie als Thema 20 immer schon weitaus weniger interessant war als das Lachen. Für Stern gilt: »Wir lachen über degradierte Werte oder um Werte zu degradieren. Wir weinen über bedrohte, verlorene oder unverwirklichbare Werte. Das Lachen über das Komische ist der instinktive Ausdruck eines negativen Werturteils über degradierte oder zu degradierende Werte. Weinen hingegen ist der instinktive Ausdruck eines positiven Werturteils über bedrohte, unverwirklichbare oder verlorene Werte. Das Weinen bezieht sich immer auf positiv bewertete Dinge oder Menschen.« (LW,55)

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Wir weinen laut Alfred Stern also immer irgendwelchen Werten und Gütern nach, von denen wir uns unter Schmerzen trennen mußten. Deshalb listet Stern eine Palette möglicher Tränen auf: »Tränen der Angst, der Furcht, der Besorgnis drücken positive Werturteile über bedrohte Werte aus, während die Tränen der Betrübnis und der Trauer positive Werturteile über verlorene Werte bekunden. Die Tränen des Zornes, der Wut drücken instinktive positive Werturteile über unverwirklichte und unverwirklichbare Werte aus. All das natürlich nicht rational bewußt, sondern irrational instinktiv. Die Tränen der Verzweiflung können positive Werturteile über verlorene oder unerreichbare Werte ausdrücken, ebenso wie die Tränen des Zornes. Aber wenn das Weinen positive Werturteile über unverwirklichbare, bedrohte oder verlorene Werte ausdrückt, so drückt es zugleich negative Werturteile über diesen unverwirklichbaren Charakter, über diese Bedrohung, über diesen Verlust aus.« (LW,55)

Doch gibt es wirklich nur diese Art von Tränen als Ausdruck »gedrückter Stimmungen« (Bollnow)? Sind Tränen immer nur Tränen der Trauer, des Schmerzes, des Zorns, der Verzweiflung und der Reue? Gibt es nicht auch Tränen der Rührung und Tränen des überwältigenden Glücks? Gibt es nicht sogar kulturelle Rituale, die diese Tränen der Rührung ganz gezielt provozieren sollen, die dann auch voller Genuß vergossen werden wollen? Man denke nur an das rührende Lustspiel 21 des 18. Jahrhunderts in der Epoche der Empfindsamkeit. Und sind, axiologisch gesprochen, diese »warmen« und »süßen« Tränen 22 des Glücks und der Rührung im Gegensatz zu den »heißen« und »bitteren« Tränen 23 der Reue, des Zorns, der Trauer und des Schmerzes nicht sogar die Bekundung übermäßig erfüllter Wünsche, also die Antwort auf die überwältigende Bestätigung eigener Wertungen über alles erwartete Maß hinaus? Ich habe immer noch das Bild des Luxemburgers Josy Barthel vor Augen, der 1952 in Helsinki ganz überraschend Olympiasieger über 1500 Meter wurde und bei der Siegerehrung förmlich in Tränen zerfloß. Ich sah diese Szene damals in der Wochenschau vor einem Tarzan-Film und war fest überzeugt, daß Tarzan in dieser Situation mit Sicherheit nicht geweint, sondern seinen Triumphschrei hinausgejodelt hätte, daß das ganze Stadion erbebt wäre. Die Schiefheit von Sterns strikter axiologischer Analogisierung 1432 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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von Lachen und Weinen liegt also darin begründet, daß er die Unterscheidung von Interaktions-Lachen und Bekundungs-Lachen nicht kennt und deshalb zum einen nicht konsequent genug alle Formen von Bekundungs-Lachen mit den verschiedenen Formen von Weinen vergleicht, sondern das Bekundungs-Lachen auf das Lachen über Komisches reduziert, und zum anderen daran, daß er das Bekundungs-Lachen über das Komische nicht säuberlich vom Auslachen des Lächerlichen unterscheidet. 2.16.3.3 Das performativ wertende Interaktions-Lachen Wie Alfred Stern die Verwendung des Wortes »Wert« verstanden wissen will, wird endlich etwas deutlicher, wenn er im dritten Teil seiner Studie auf die soziale Bedeutung des Lachens und Weinens eingeht, weil dadurch auch der performativ wertende Charakter des Interaktions-Lachens etwas klarer wird. Wir werden aber sehen, daß Stern auch hier in den Spuren Bergsons geht und genau wie dieser stark dazu tendiert, das Interaktions-Lachen auf das aggressiv abwertende Auslachen zu reduzieren. Zunächst unterscheidet Stern »individuelle, kollektive und universelle Werte« (LW,173) und sucht seine »Axiologie von unten« auch soziologisch durch Anlehnung an Emile Durkheim 24 abzusichern, und dadurch kommt er zu dem Kriterium: »Die Schätzung (Wertung) ist objektiv, dadurch, daß sie kollektiv ist.« (LW,175) Dann holt er etwas weiter aus und fährt fort: »Ich habe die Werte als Beziehungen von Objekten zu schätzenden oder wählenden (also wertenden) Subjekten definiert, und als solche scheinen alle Werte in gewissem Sinne subjektiv zu sein. Das schließt jedoch nicht aus, daß es individuelle, kollektive und universelle Werte gibt, die in der folgenden Weise scharf unterscheidbar sind: 1) Als individuell sind jene Werte zu bezeichnen, die ausschließlich von den individuellen Besonderheiten der schätzenden, wählenden Subjekte abhängen. 2) Als kollektiv sind jene Werte zu bezeichnen, die, obgleich auch sie Beziehungen zwischen Objekten und schätzenden, wählenden Subjekten sind, als unabhängig von den individuellen Besonder-

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Alfred Stern

heiten dieser Subjekte angesehen werden müssen. Dagegen hängen sie von den kollektiven Besonderheiten der schätzenden, wählenden Gruppen ab, zum Beispiel von den kollektiven Besonderheiten einer bestimmten Nation, Klasse, politischen Partei oder religiösen Gemeinschaft. 3) Als universell sind jene Werte zu bezeichnen, die, obgleich auch sie Beziehungen von Objekten zu schätzenden, wählenden Subjekten sind, sowohl von den individuellen als auch von den kollektiven Besonderheiten derer unabhängig sind, die sie bejahen. Die Subjektivität der Werte bedeutet also noch lange nicht ihre Individualität.« (LW,177)

Gutwillig interpretiert heißt dies wohl, daß Wertungen, sobald sie transsubjektiv angesonnen und übernommen werden, zu Normen werden und Autorität gewinnen können, die dann als ein Nomos nicht nur auf das Verhalten einzelner wertsetzender Personen zurückwirken und dieses überformen, sondern auch auf das Verhalten von kleineren und größeren Gruppen und möglicherweise sogar auf das Verhalten der gesamten Menschheit. Wertungen und Normen würden also ein wiederholtes Echo bilden und somit das kollektive Verhalten prägen und längerfristig stabilisieren. Da dieses Ansinnen bestimmter Wertungen aber auch verweigert und durch das Ansinnen konträrer Wertungen beantwortet werden kann, das ebenfalls wieder verweigert werden kann, können sich Situationen ergeben, in denen sich Individuen und ganze Gruppen auf allen Ebenen in einem ständigen darwinistischen Gerangel der Wertungen befinden, bei dem es letztlich um die Frage geht: Wer wen? Wem gelingt es, dem jeweils anderen seine eigenen Wertungen anzusinnen, aufzudrängen oder gar aufzuzwingen? Und wem gelingt es dabei, das aggressiv wertende Interaktions-Lachen am erfolgreichsten als Waffe einzusetzen, von dem schon Faret und Baudelaire wußten, daß es »beißt«? »Daher der axiologische Krieg, den die Individuen, die Gesellschaft und die verschiedenen Gruppen innerhalb ihrer gegeneinander führen, wobei jeder dieser Entitäten die Wertsysteme der anderen zu degradieren und durch Lachen zu züchtigen sucht.« (LW,178)

Auf einige der Waffen in diesem axiologischen Krieg sind wir schon gestoßen, z. B. auf das alttestamentliche la’ag-Lachen beim Geran1434 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gel der Götter im alten Orient, auf das phthonos-Lachen bei Platon, auf das aggressive Witzeln beim Gerangel um die Kunst des Fürsten am absolutistischen Hof, auf das ausschließende Lachen der Lachmeuten bei Bergson, Freud und Lorenz und auf viele andere Formen des aggressiven Auslachens-von-oben. Wir haben auch gesehen, welch eine breite Spur das aggressive kynische Auslachenvon-unten in der Kulturgeschichte bis heute hinterlassen hat. Man denke nur an das Narrenspiel des Diogenes in Korinth, in dessen Spuren noch der »falsche Prinz« Harry Domela oder Heinz Kujau als Erfinder von Hitlers Tagebüchern wandelten, um die unverbesserlichen Monarchisten der Weimarer Republik oder die alten Nazis unserer Tage zu blamieren und dem höhnischen Auslachen preiszugeben. In diese kynische Tradition gehören auch die Parodie und der politische Witz, die in trotziger Selbstbehauptung bestimmte Formen angemaßter Autorität hohnlachend zurückweisen. So gesehen ist es also durchaus sinnvoll, Sterns axiologische Ätiologie hier zu übernehmen und bestimmte Formen des InteraktionsLachens als performativ wertendes Lachen zu bestimmen. Im Gegensatz zu Bergson, für den die lachsoziologische Norm die Demütigung eines Einzelnen durch eine Lachmeute war, sind für Stern die Rollen bei diesem axiologischen Krieg durchaus nicht fest vorgegeben, denn: »Wer immer einen allgemeingültigen – das heißt universellen – Wert degradiert, macht sich lächerlich. Wenn es die Gesellschaft ist, die es sich zur Aufgabe macht, solch eine Person durch öffentliches Gelächter zu bestrafen, so liegt dies daran, daß sie diese Werte adoptiert hat und sie mittels Sanktionen schützen will. Aber damit ist nicht gesagt, daß die Gesellschaft das Monopol auf universelle Werte besitze, denn oft gibt sie kollektive Werte als allgemeingültige aus oder brandmarkt wirkliche universelle Werte als (bloß) individuelle oder kollektive, wenn sie von mißliebigen Individuen oder Gruppen bejaht werden. Die Gesellschaft ist nicht immer eine ehrliche Sachwalterin der universellen Werte.« (LW,182)

Und dieser Befund zieht sofort die Frage nach sich: »Auf welcher Seite ist nun das Recht? Ist es das Individuum, die Gesellschaft oder ein besonderes Kollektiv innerhalb dieser, die berechtigterweise behaupten können, die alleinigen Sachwalter allgemeingültiger,

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das heißt universeller Werte zu sein? Meiner Überzeugung nach ist keine dieser Entitäten zu dieser Behauptung berechtigt, aber jede von ihnen hat in ihrem Wertsystem allgemeingültige Werte neben anderen, die es nicht sind.« (LW,178)

Der axiologische Lach-Krieg aller gegen alle im Stil von Thomas Hobbes läuft also letztlich darauf hinaus, die jeweils eigenen Wertungen entweder durch Werbung oder durch Gewalt anderen gegenüber durchzusetzen: »Es zeigt sich auf diese Art, daß das Lachen nicht nur einen leicht aggressiven Charakter hat; es kann auch gewalttätig aggressiv, gefährlich angriffslustig sein und ganze Wertsysteme unterdrücken. (…) Lächerlichkeit tötet. (…) Dieser furchtbar aggressive Charakter des Lachens der Gesellschaft auf Kosten von Individuen und Sondergruppen in ihrem Schoß erklärt die Reaktion, ja die Rache, die die Individuen nehmen, indem sie trachten, das Wertsystem der Gesellschaft (wiederum) durch Gelächter zu degradieren. (…) Unter diesem Gesichtspunkt erscheint das Lachen als eine Art geistiger Befreiung von dem zwangartigen Einfluß, den die Gesellschaft aufgrund ihres machtvollen Wertsystems auf Individuen und Sondergruppen in ihrem Schoß auszuüben trachtet. (…) Der positive Wert, den wir unserem eigenen Lachen zuschreiben, erklärt sich somit aus dem positiven Wert der vom Individuum von der Gesellschaft zurückeroberten Urteilsfreiheit und Wertungssouveränität.« (LW,186 f.)

Für Alfred Stern gibt es in diesem axiologischen Krieg also keinen von vornherein feststehenden Sieger, sondern jeder Verlachte kann sich gegen jeden, der ihn verlacht, auch wieder wehren, indem er den Spieß herumdreht und den Lachenden seinerseits verlacht. Hier liegt ein ganz entscheidender Unterschied zu Bergson vor, denn nach dieser Möglichkeit hatte Bergson an keiner Stelle seiner Studie gefragt, weil für ihn feststeht, »daß unser Lachen immer das Lachen einer Gruppe ist« (S. 15), die einen wehrlosen Einzelnen gnadenlos auslacht, denn laut Bergson kann das Lachen »nicht immer restlos gerecht sein. Es soll auch nicht gütig sein. Es soll einschüchtern, indem es demütigt.« (S. 124) Und das heißt, daß der wehrlos Verlachte seiner Menschenwürde beraubt werden soll. Bergsons lachsoziologische Standardszenario setzt also die Asymmetrie der Macht zwischen Lachopfer und Lachmeute fraglos voraus und zugleich da1436 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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mit die Entwürdigung des Lachopfers durch die hohnlachende Meute. Damit entwirft Bergson ein lachsoziologisches Modell, das dem Szenario eutrapelistischer Lachkultur diametral entgegensteht, da dieses, wie wir gesehen haben, vorrangig die Wahrung der menschlichen Würde aller Beteiligten zum Ziel hatte. Hier argumentiert der belgische Soziologe Eugène Dupréel, auf den sich auch Alfred Stern wiederholt ausdrücklich beruft, in seinem Aufsatz Le Problème sociologique du Rire 25 schon viel genauer, indem er Bergsons Reduktionismus vermeidet und das Interaktions-Lachen als eine spezielle Form des Lachens versteht, und dieses wiederum in zwei soziologisch besonders relevante Formen unterteilt: in das wohlwollend einschließende »rire d’acceuil« und das aggressiv ausschließende »rire d’exclusion« (S. 224). Als klassisches Beispiel für das »rire d’acceuil« zitiert er die uns schon bekannte vierte Ekloge Vergils »Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem« (S. 231); das »rire d’exclusion« ist für ihn »eine Synthese aus Freude (joie) und Bösartigkeit (malignité)« (S. 228) und bewirkt, so die Übersetzung von Alfred Stern, »daß eine soziale Gruppe sich bildet oder neu bildet, auf Grund der Ausschließung eines Individuums oder mehrerer Individuen«. 26 Dieses Ineinanderwirken von Solidarisierung nach innen und Abschließung nach außen haben, wie wir sahen, bereits Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt ausführlich beschrieben, und es taucht auch bei Joachim Ritter wieder als Zusammenspiel von »ausgrenzender« und »ausgegrenzter Lebensordnung« 27 auf. Hätten Bergson, Dupréel, Ritter und Stern etwas genauer nachgefragt, wie in Bergsons lachsoziologischem Modell die Rollen zwischen den höhnenden Lachtätern und dem wehrlosen Lachopfer verteilt sind und wie das eigenleibliche Spüren beider Partner jeweils affiziert wird, so hätte ihnen auffallen müssen, daß hier ein typisch sadistisches Szenario vorliegt, bei dem Lust und Schmerz, Triumph und Scham, Geschwelltheit und Gekrümmtheit komplementär »eingeklinkt« aufeinander bezogen sind und sich zudem gegenseitig steigern. Für Jean Améry, der es als ehemaliges Folteropfer wissen muß, hat die Folter in erster Linie das Ziel, die Menschenwürde des Gefolterten zu vernichten und deshalb bezeichnet er in seiner Analyse der Folter die Befindlichkeit des Folterers oder Ver1437 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gewaltigers treffend als »Exzeß der ungehemmten Selbstexpansion«, wenn dieser sich »in den Körper des Mitmenschen ausgedehnt und ausgelöscht hat«. 28 Die gilt wohl auch für die komplementäre Beziehung zwischen Lachmeute und wehrlosem Lachopfer: Während der wehrlos Verlachte sich krümmt vor Scham, wirft sich die höhnende Meute ekstatisch ins Kreuz und dies umso mehr, je mehr das wehrlose Opfer vor Scham implodiert. Allerdings weist Stern mit Recht darauf hin, daß das kollektive Lachen einer Lachmeute keinen dauerhaften Konsolidierungseffekt bewirkt, sondern nur eine »oberflächliche Sympathie« (LW,182) zwischen den Mitgliedern einer derartigen Gruppe stiften kann, weil bei kollektiver Ablehnung und Ausschließung schon der kleinste gemeinsame Nenner genügt, wohingegen bei kollektiver Einschließung eines Einzelnen durch eine Gruppe der gemeinsame Nenner sehr viel größer sein muß. Ist das Selbstwertgefühl und die Würde des Lachopfers erst mal in Scham implodiert, kann sich die Meute ja wieder in alle Winde zerstreuen oder sich in anderer Zusammensetzung ein neues Opfer suchen. Das kollektive Auslachen eines Lachopfers kann schon deshalb keinen Solidarisierungseffekt auf Dauer bewirken, weil sich auch dieses Lachen, wie alles personale Lachen, uroborisch selbst verzehrt. »In dieser Hinsicht bietet das gemeinsame Weinen ein ganz anderes Bild. Während das kollektive (aggressiv ausschließende) Lachen jene Werte betont, die man gemeinsam verneint, so verdeutlicht kollektives Weinen jene Werte, die man gemeinsam bejaht (und um deren Verlust man gemeinsam trauert). Und die gemeinsame Bejahung schafft ein viel stärkeres emotionales Band als die gemeinsame Verneinung. (…) Die kollektive Bejahung gewisser Werte ist aber die Grundlage aller politischen und kulturellen Vereinigungen.« (LW,192 f.)

Doch was heißt »kollektive Bejahung oder Verneinung von Werten« eigentlich? Werden auch hier die Werte nicht doch schon wieder hypostasiert und als irgendwie existent vorausgesetzt? Und wird dem Akt des Wertens selbst nicht schon ein eigener Wert zugeschrieben, der von diesem Wertungsakt ablösbar ist, wenn Stern schreibt: »Der positive Wert, den wir unserem eigenen (wertenden) Lachen zuschreiben, erklärt sich somit aus dem positiven Wert der vom Indivi-

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duum von der Gesellschaft zurückeroberten Urteilsfreiheit und Wertungssouveränität.« (LW,186 f.)

Kann, anders formuliert, das Werten selbst ein Wert sein? Stellt sich Stern hier nicht schon wieder eine Falle, in die er stürzen droht? Und stürzt er tatsächlich hinein? Vielleicht wird sich die Frage genauer stellen und vielleicht sogar beantworten lassen, wenn wir auf Sterns Ausführungen zum Lachen jenseits des Komischen eingehen. 2.16.3.4 Wertendes Lachen und Lächeln jenseits des Komischen Obwohl Alfred Stern immer wieder seine Bewunderung für Bergson ausdrückt, ist er doch auch nicht blind für die gewaltigen Lükken und Mängel, die sich Bergson in seiner Studie über das Lachen durch deren extremen Reduktionismus eingehandelt hat, denn weite Bereiche der Gelotologie bleiben hier völlig unerwähnt und sind durch Bergsons Ansatz gar nicht thematisierbar, weil sie durch den Kontrast zwischen élan vital und mechanischer Starre nicht erfaßbar sind und außerdem weit jenseits des Komischen und Lächerlichen liegen. Als Beispiel hierfür nennt Stern u. a. »das Lächeln der Beschiedenheit, der Höflichkeit, das Lächeln des Bedauerns, der Ermutigung, der Fürsprache, das bittere, das tröstende Lächeln« (LW,130) und glaubt, neben diesen genannten Formen des Lachens und Lächelns auch alle anderen denkbaren Formen des Lachens seinerseits durch das Prinzip »Entwertung/dévaluation« (LW,131) auf den Begriff bringen zu können: »Unter Entwertung verstehe ich rein quantitative Wertminderung, die nicht notwendigerweise eine qualitative Herabsetzung (Degradation) einschließt. Wenn ich etwa den negativen Wert eines negativen Wertes vermindere, degradiere ich ihn nicht, denn er erleidet dabei keine qualitative Herabsetzung.« (LW,131)

Diese terminologische Regelung ist leider äußerst mißverständlich, weil man geneigt ist, die beiden Begriffe genau im umgekehrten Sinn zu verstehen, also »Entwertung« im Sinn von »Wert-Zerstörung«, »Wert-Vernichtung« oder »Wert-Implosion« und »Degradation« als »Wert-Minderung«, als Herabstufung von einem höheren auf einen niedrigeren Rang. Sterns Terminologie wäre viel klarer, 1439 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wenn er betonen würde, daß eine Degradation in seinem Sinne immer eine plötzliche Wert-Implosion ist, eine Entwertung in seinem Sinne jedoch auch allmählich und graduell vor sich gehen kann. Das Problem liegt v. a. darin, daß das Wort »Entwertung« sowohl den Akt des Entwertens als auch das Ergebnis des Entwertungsaktes bezeichnen kann. Ganz allgemein sieht Stern zwei große Bereiche des Lachens, die er axiologisch auf den Begriff zu bringen sucht: »Das Lachen als eine Reaktion auf eine Wertdegradation (also auf eine Werte-Implosion) oder als Aktion, die eine Wertdegradation hervorzurufen sucht, wo keine vorliegt. Dieses Lachen charakterisiert den Bereich des Komischen. Das Lachen, das positive und negative Werte zu entwerten (also zu relativieren) sucht. Es ist das Lachen jenseits des Komischen.« (LW,161)

Wie steht es nun mit dem Erkenntniswert dieser Einteilung, die, wie man sofort sieht, quer steht zu der bisher verwendeten Einteilung des Lachens in Interaktions-Lachen und Bekundungs-Lachen? Wir haben schon gesehen, daß sich die verschiedensten Formen des Interaktions-Lachens mit Herder problemlos als Formen positiv wohlwollender Zuwendung zum Angenehmen oder negativ aggressiver Zuwendung zum Widrigen deuten lassen. All diese Formen des Anlachens und Auslachens sind zweifellos bedürftigkeitsrelevante performativ wertende Stellungnahmen bestimmten Personen gegenüber, und deshalb kann man auch sofort akzeptieren, wenn Alfred Stern unter Berufung auf Descartes Schadenfreude axiologisch als eine Form von Haß deutet, der tendenziell auf die totale Entwertung und letztlich auf die Vernichtung der gehaßten Person zielt: »Wir glauben, daß, axiologisch betrachtet, der Haß sich in gegensätzlichen Arten der Wertungen ausdrückt. Im Gegensatz dazu drückt die Liebe axiologisch sich in der Gleichheit gewisser Wertungen aus. Diese Gleichheit der Wertungen, die die Liebe zwischen Personen charakterisiert, und der Gegensatz ihrer Wertungen, der ihren Haß kennzeichnet, beziehen sich natürlich nicht auf die Gesamtheit ihrer Wertungen, sondern insbesondere auf jene Wertungen, die sich auf das Wohlbefinden und das Glück der betreffenden Personen beziehen. (…) Wer

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haßt, ist unglücklich über das Glück der gehaßten Person und glücklich über ihr Unglück.« 29

Man könnte aber auch schadenfrohes Auslachen mit Platon und Gadamer als Ausdruck von Mißgunst oder Konkurrenzsorge (phthonos) verstehen, was ja tatsächlich eine mindere Form von Haß und Vernichtungslust ist. Und außerdem ist Mißgunst ja auch ein explizit performativ wertendes Verhalten, durch das all das, was der andere hat, kann, ist und vorstellt, besonders hoch bewertet wird, weshalb man es ihm auch nicht gönnt und es durch schadenfroh vandalistisches Gelächter wiederum zu entwerten sucht. Doch wie steht es mit dem Bekundungs-Lachen? Das phobos-Lachen als Reaktion auf überstandene Todesangst können wir sicher ebenfalls mit Herder als performativ wertende bedürftigkeitsrelevante Stellungnahme und damit als negativ defensive Abwendung vom Erschreckenden deuten, auch das erleichterte Auflachen nach einer glücklich überstandenen Bedrückung, nur mit dem Unterschied, daß wir hier nicht zu bestimmten Personen Stellung nehmen, sondern zu bestimmten bedürftigkeitsrelevanten Situationen. Ähnliches gilt für das Auflachen aus Überraschung, für das Auflachen bei plötzlicher Erleuchtung (Heureka!), für das Auflachen aus Ärger, Verzweiflung, Verbitterung und für das Triumph-Lachen und für das Strahlen als Bekundung von Glück. Und außerdem gibt es natürlich auch all dies in reduzierter Intensität als Kichern, Lächeln, Schmunzeln oder Grinsen. So gesehen kann man Alfred Stern zunächst folgen, auch wenn er seine Lachpalette bei weitem nicht so detailliert ausdifferenziert, wie man dies tun könnte. Die Frage ist nur, ob sein Prinzip Entwertung im Sinne von Wertrelativierung hier wirklich greift, um all diese Formen von Lachen axiologisch auf den Begriff zu bringen. Nehmen wir als Beispiel das freudige Strahlen vor Glück, das für Stern, »wie alles Lachen, ein negatives instinktives Werturteil« (LW,133) ist, denn dazu schreibt er: »Durch dieses Lachen der Freude, ein entwertendes Lachen, sagen wir, daß im Vergleich mit dem verwirklichten, positiven Wert alle Schwierigkeiten, Ängste, Beschwerden und Enttäuschungen, die wir überwunden haben, ihre Schwere verlieren, ihre Wichtigkeit, ihr Gewicht, ihren Eigenwert. Das Lachen der Freude hat sie entwertet.« (LW,132)

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Nehmen wir als weiteres Beispiel »das Lächeln des Bedauerns und des Verzichts« (LW,157), für dessen axiologische Deutung Stern erst die Situation erläutert: »Im Grunde ist das Bedauern ein Gefühl der Traurigkeit, das mit einem Wertverlust verbunden ist. Wenn der Wertverlust schwer ist, wird die Person, die ihn erleidet, weinen. Das Lächeln des Bedauerns dagegen drückt nicht jene Person aus, die einen Wertverlust erleidet, sondern diejenige, die einen Wertverlust einer anderen Person verursacht, indem sie ihr die Erfüllung eines Wunsches verweigert.« (LW,157)

Und dann folgt die eigentliche axiologische Deutung dieses Lächelns: »Das Lächeln des Bedauerns ist dazu berufen, den positiven Wert des Gutes, das der Partner anstrebt, zu entwerten, um ihm die Verweigerung seines Wunsches weniger schmerzlich erscheinen zu lassen. Auf diese Art sucht man den negativen Wert des Wertverlustes zu entwerten, den der Partner durch die Verweigerung der Wunscherfüllung erleidet.« (LW,157) »Es ist Sache des guten Geschmackes, (etwas) mit einem Lächeln des Bedauerns zu verweigern, das den positiven Wert des verweigerten Gutes herabsetzt (also relativiert) und den negativen Wert der Anlehnung entwertet. (…) Um sich vor dem, der verweigert, nicht zu sehr gedemütigt zu fühlen, wird der, dem man die Wunscherfüllung verweigert hat, ein Lächeln des Verzichts zeigen. Durch dieses tut er, als ob der positive Wert des ihm verweigerten Gutes für ihn ohne Bedeutung wäre und ebenso der negative Wert der Verweigerung.« (LW,158)

Spätestens hier merkt man, wie Sterns axiologische Terminologie sich zu einer Werte-Rabulistik verselbständigt hat, die nur noch sich selbst bedient und eigentlich gar nichts mehr erklärt. Kurz: Hier hat sich Alfred Stern schon längst im Irrgarten der Werte verirrt, denn hier rächt sich, daß, wie oben angedeutet, Stern im Werten und Entwerten selbst einen Wert sieht, der vom Wertungsakt abgelöst werden kann. Das »proton pseudos aller Wertphilosophie« (Schmitz) hat ihn endgültig eingeholt durch die schleichende Hypostasierung der Wertungen zu Werten als Wesenheiten. Man könnte die Frage aber auch ganz anders stellen: Wenn Stern nämlich schreibt, man suche durch eine bedauerndes Lächeln 1442 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»den negativen Wert des Wertverlustes zu entwerten«, wo er schlicht hätte schreiben können, man suche sich mit diesem Lächeln zu entschuldigen, so drängt sich der Verdacht auf, daß man ein Szenario dieser Art sehr wohl beschreiben könnte, ohne das ganze Wortfeld »Wert/Wertung« überhaupt zu bemühen. Der inflationäre Gebrauch des Wortfeldes »Wert/Wertung« entpuppt sich also als Tautologie. Doch diese Tautologie ist nicht nur entbehrlich, sondern auch hoch riskant. Aber warum? 2.16.4 Bilanz Wilhelm Kamlah schreibt in seiner Philosophischen Anthropologie: »Der Mensch begehrt nicht allein, er ist auch bedürftig.« (S. 54) Und weiter: »Begehren ist ein Fall von Sichverhalten, Bedürfen dagegen nicht.« (S. 55) Da wir also bedürftige Wesen sind und deshalb bestimmte Dinge unbedingt brauchen, z. B. die Luft zum Atmen, andere hingegen bloß unbedingt haben wollen, ohne sie wirklich unbedingt zu brauchen, z. B. ein besonders teures Auto, werten wir auch in einem fort, sodaß man den generellen anthropologischen Satz wagen kann: Jedes bedürftigkeitsrelevantes Verhalten ist immer zugleich ein wertendes Verhalten, und dies unabhängig davon, ob wir mit diesen impliziten Wertungen echte Bedürfnisse oder wahnhafte Begehrungen artikulieren. Mit einem Wort: Kein Werten gibt es nicht. Genau dies meinte Robert Reininger, als er schrieb, Werten sei ein nicht mehr weiter hintergehbares »Urphänomen« (S. 56). Das wußte aber auch schon Georg Simmel, der in seiner Philosophie des Geldes von 1900 das Werten als »Urphänomen« (S. 6) bezeichnet und als »Korrelat des Begehrens« (S. 13) bestimmt hatte. Deshalb muß sich jede Art von Axiologie die Frage stellen lassen: Wenn jedem bedürftigkeitsrelevanten Verhalten das Werten immer schon implizit ist, ist es dann überhaupt sinnvoll, dieses immer schon implizite Werten außerdem auch noch explizit zu thematisieren? Muß dies nicht zwangsläufig zu solchen Tautologien führen, daß man beim bedauernden Lächeln »den negativen Wert des Wertverlustes entwertet« oder daß das Lachen der Freude 1443 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»den negativen Eigenwert von Schwierigkeiten entwertet«. Allein schon der Umstand, daß man die spöttische Frage stellen kann, ob hier der Wert von etwas entwertet werde oder bloß dieses Etwas selbst, zeigt, daß es sich hier um inhaltslose Tautologien handelt. Doch wie wird denn überhaupt gewertet? Für Robert Reininger war klar: »Nicht jedes Vorziehen und Nachsetzen ist allerdings ein Werten, sondern nur jenes, das im Sinne einer vollgewußten Wahl geschieht.« (S. 26)

Sein Schüler Alfred Stern sah es etwas anders, indem er die »gefühlsmäßige Tonalität« (LW,20) betonte, die bei jedem Werten ebenfalls mit im Spiel ist, weil »unsere primären Gefühlsreaktionen volitiver Natur« (LW,20) sind, und deshalb schreibt er: »Man hat den Wert einer Sache als ihre Eigenschaft definiert, begehrt oder begehrbar zu sein. Jedoch die Tatsache, daß ein Ding unser Begehren erregt, bedeutet noch nicht eine Wertung, sondern nur ein Teilphänomen derselben, das heißt, seine emotive Grundlage. Die Schätzung und mit ihr der Wert des Dinges sind erst dann konstituiert, wenn dem Begehren oder, im Falle einer negativen Wertung, dem Gefühl des Widerwillens, das es inspiriert, ein besonderer Akt folgt: der der Wertsetzung. Die Wertsetzung ergibt sich aus einer Stellungnahme der gesamten rationalen Person gegenüber ihren eigenen Wertgefühlen, das heißt, gegenüber ihren eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Bedürfnisbefriedigungen, Bevorzugungen, Lust- und Unlustgefühlen, Interessen und Gefühlen der Interesselosigkeit und anderen durch die Dinge ausgelösten Gefühlsreaktionen. In diesen Stellungnahmen folgt die Setzung eines positiven oder negativen Wertes.« (LW,20)

Wenn man Lachen unter axiologischen Aspekten betrachtet, würde dies heißen, daß z. B. beim wohlwollenden Anlachen zunächst eine emotional positive Stellungnahme zu einer Person stattfindet, dann eine Stellungnahme »der gesamten rationalen Person« zu dieser schon erfolgten emotionalen Stellungnahme, und dann als »besonderer Akt« eine explizite Wertsetzung, die dann durch ein wohlwollendes Anlachen artikuliert wird. Aber so ist es doch nicht, denn jeder weiß aus eigener Erfahrung, daß wir bestimmte Leute spontan sympathisch finden oder 1444 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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genauso spontan ablehnen, ohne genau zu wissen, warum dies so ist, und daß wir uns dieser spontanen Sympathie oder Antipathie auch absolut sicher sind, und auch hier ohne zu wissen, warum dies so ist. Und genauso spontan quittieren wir komische Situationen mit Gelächter, ohne uns deren Komik erst durch rationale Urteile vergewissern zu müssen. Wir lachen immer viel schneller als wir verstehen und urteilen, und wenn wir auf diese Weise lachend Stellung nehmen und lachend werten, so werten wir viel schneller als wir selbst verstehen. Mit anderen Worten: Wenn man Lachen denn unter axiologischen Aspekten analysieren und als performativ wertende Stellungnahme verstehen will, muß man sich darüber im klaren sein, daß diese Art von Stellungnahme zum einen eine Reaktion ohne Reaktionszeit ist und zum anderes nicht, wie Stern meint, eine Stellungnahme »der gesamten rationalen Person« ist, sondern daß diese wertende Stellungnahme synergetisch-synästhetisch erfolgt und somit unser gesamtes Verhalten als Echo dieses Wertens überformt. Das hatte schon Johann Jakob Engel (1741–1802) so gesehen, der in seiner Mimik von 1785 immer wieder betont, daß alles Werten und Wählen synergetisch erfolgt, daß wir also, so wie wir beim Lauschen »ganz Ohr« sind, beim Begehren »ganz Gier«, beim Wählen und Werten »ganz Urteil« und beim Betrachten »ganz Auge« sind: »Das Merkwürdigste in dem Spiel der Begierde ist die Synergie der Kräfte, das gemeinschaftliche Erwachen aller (Kräfte), auch wo sie die Seele zu einem Dienste aufruft, den nur eine derselben ihr leisten kann. Bei dem reinen, von aller Begierde unvermischten, Anschauen ist dieses anders: hier scheint die Seele ausdrücklich alle übrigen (begehrenden) Kräfte gleichsam einzuschläfern, um ihre geheime Wollust desto ruhiger mit der einen zu pflegen, die eben jetzt den meisten Reiz, das meiste Anziehende für sie hat.« (I,112)

Doch synergetisch-synästhetisch vollzieht sich auch dieses distanzierte wohlüberlegte Wählen und Werten und überformt Gestus, Vultus und Habitus des ganzen Menschen. Und deshalb beschreibt er an einem konkreten Fall diese Synergie der Kräfte am Unterschied zwischen genießerisch wertendem Abschmecken und gierigem Saufen wie folgt: 1445 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik, I,113/114. »Der wollüstige Trinker, der Schmecker, (…) steht in sich zusammengebogen da: der Schritt der Füße ist enge, die freie Hand ist sanft, ohne Spannung der Muskeln zusammengezogen, und gerne nah’ unter der andern, die Becher oder Glas hält; die Augen sind klein, aber nicht so geschärft, wie etwa bei dem auskostenden Kenner; zuweilen sind sie wohl völlig geschlossen, zusammengekniffen; der Kopf steckt zwischen den Schultern: der ganze Mensch, wies scheint, ist in der Einen Empfindung zusammen. Ganz anders der begierige, der durstige Trinker; denn hier nehmen die andern Sinne alle an der Gierde Antheil: die stieren Augen liegen hervor, der Schritt der Füße ist weit, und der Körper hängt mit gerecktem Halse über; die Hände schlingen sich fest um das Gefäß, oder wenn sie es noch nicht halten, greifen sie schon danach, eh’ es erreicht ist; die Brust thut schnellere Odemzüge, und in dem Fall, daß der Mensch auf das Gefäß erst zustürzt, ist der Mund schon offen, die lechzende, schon einschlurfende Zunge erscheint auf den Lippen.« (I,113 f.)

Ich habe Engel so ausführlich zu Wort kommen lassen, um deutlich zu machen, wie wenig sich Stern für die phänomenalen Gestaltverläufe beim Lachen interessiert, denn darauf geht Stern mit keinem Wort ein, auch nicht dort, wo er verschiedene Formen von Lachen und Lächeln jenseits des Komischen zu beschreiben und zu analysieren versucht. Diese Phänomen-Blindheit ist wohl die fatalste Hypothek, die er sich durch seinen axiologischen Ansatz eingehandelt 1446 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

hat. Aus diesem Grund hatte er auch keinen Blick dafür, daß bei jeder interessehaften Zuwendung zu einem Objekt oder bei der Abwendung von ihm nicht nur das bloße Werturteil von Bedeutung ist, sondern auch das dabei auftretende eigenleibliche Spüren als das Echo dieses Wertens oder, wie Herder es ausdrückt, »die Beziehung seiner Existenz auf meinen Zustand, sofern er durch ein solches Objekt affiziert wird.« Und wenn wir Alfred Stern auch noch am großen Laurent Joubert messen und die Frage stellen, wie dieser wohl argumentiert hätte, wenn er denn explizit axiologisch vorgegangen wäre, so können wir sicher sein, daß er zuerst nach der Stellungnahme gefragt hätte, die wir mit dem Herzen vornehmen und nicht bloß »als gesamte rationale Person« wie bei Stern, denn Joubert schreibt über diese intuitiven Wertungen, die blitzartig, mit untrüglicher Sicherheit und ohne Reaktionszeit vor sich gehen: »Daß das Gehirn beim Begreifen dem Herzen stets hinterherhinkt, ist leicht zu beweisen und ergibt sich schon aus dem Umstand, daß das affektive (also affektiv wertende) Urteil nicht im Gehirn seinen Sitz hat, sondern allein das Herz von affektiv relevanten (wertenden) Anmutungen berührt wird. Denn alles, was zum Bereich affektiver Widerfahrnisse gehört, flitzt nur so durch die Instrumente des Gehirns wie durch Wasserleitungsrohre und dringt so schnell zum Herzen durch, daß das Gehirn dies gar nicht mal merkt, es also nicht merkt, daß die emotionale Affizierung des Herzens schon erfolgt ist und die dementsprechende Bewegung des Herzens schon begonnen hat (die sich dann als Lachen manifestiert). Die Erregung (in Form von Gelächter) kann sich also schon manifestieren, ohne daß das Gehirn etwas davon weiß.« (S. 67)

Und das heißt, daß »auch unser Lachen dem Begreifen immer voraus geht.« (S. 66) Genau dies gilt ebenso für alles Werten, auch wenn Reininger und Stern dies nicht wahrhaben wollen: Auch das Bewerten affektiv relevanter Objekte, Personen und Situationen geht dem Begreifen und Werten »im Sinne einer vollbewußten Wahl« 30 immer schon voraus, und dies gilt ebenfalls für das performativ wertende Lachen, das selbst ein Werten ist. Mit einem Wort: Wir nehmen nicht nur wahr durch Einleibung im Sinne von Hermann Schmitz 31, wir werten auch durch Einleibung, wenn wir z. B. 1447 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Alfred Stern

etwas spontan als angenehm oder unangenehm empfinden. Und wenn wir von bestimmten Varianten des Lachens sprechen, die immer zugleich auch ein wertendes Verhalten sind, so gilt dies ausschließlich vom Interaktions-Lachen, mit dem wir uns wohlwollend aufwertend oder mißgünstig abwertend jemandem zuwenden. Hier liegt, wie mir scheint, das eigentliche erkenntnistheoretische Manko von Sterns axiologisch orientierter Ätiologie des Lachens, das spätestens dann sichtbar wird, wenn das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen, das »wie von selbst« als gestotterte Explosion aus uns herausplatzt, axiologisch auf den Begriff gebracht werden soll, also z. B. das Auflachen aus Überraschung, bei blitzartiger Erleuchtung, plötzlicher Erleichterung, bei Verzweiflung oder Verbitterung. Ähnliches gilt für das Triumph-Lachen des Siegers oder für das phobos-Lachen nach überstandener Todesangst oder für das Resonanz-Lachen. Doch die axiologische Analyse all dieser Formen von Gelächter hat sich Alfred Stern erspart, möglicherweise deshalb, weil er merkte, daß sein axiologischer Ansatz, so wie er ihn handhabte, letztlich doch versagt. Erspart hat er sich aber auch den genauen Blick auf das Phänomen selbst, also auf die Varianten der spezifischen Verlaufsgestalt des Lachens, auf die gravierenden Unterschiede zwischen dem lachmündigen personalen Lachen und dem pathologischen Lachen und auf die ontogenetische Entwicklung des Lachens vom vorpersonalen Säugling zur lachmündigen Person, denn all diese Phänomene sind mit der Frage nach Wert und Wertung einfach nicht in den Griff zu bekommen. Wahrscheinlich ist ein axiologischer Ansatz im Ganzen schon ein problemgeschichtlicher Anachronismus, und so müssen wir leider feststellen, daß Alfred Stern mit seinem axiologischen Ansatz allzu schnell an sein Grenzen gestoßen und in einer argumentatorischen Sackgasse gelandet ist. Dies könnte auch der Grund dafür sein, daß bis heute niemand diesen axiologischen Ansatz wieder aufgegriffen, erweitert und fortgeführt hat. Würde man ihn aufgreifen, so müßte man ihn entsprechend modifizieren und ausschließlich zur Analyse des Interaktions-Lachens nutzbar machen.

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Anmerkungen

Anmerkungen 1 Alfred Stern: Philosophie des Lachens und Weinens, München/Wien 1980 (zit. als »LW«). Die posthume Edition des Werkes besorgte Erich Heintel, wie Stern selbst ein Schüler von Robert Reininger. 2 Alfred Stern: Die philosophischen Grundlagen von Wahrheit, Wirklichkeit, Wert, München 1932 (zit. als »WWW«). Der Zufall hat es so gewollt, daß das Exemplar, das ich über die Fernleihe von der UB Passau bekam, aus Robert Reiningers eigener Bibliothek stammt, wie aus dem Stempel auf dem Vorsatzpapier hervorgeht. Reiniger wiederum hatte das Exemplar von Stern selbst mit der handschriftlichen Widmung überreicht bekommen: »Herrn Prof. Dr. Robert Reininger, seinem verehrten Lehrer, in tiefster Dankbarkeit der Verfasser. Wien, Weihnachten 1932.« Lesespuren Reiningers fanden sich in dem Buch allerdings nicht, das auch sonst einen sehr ungelesenen Eindruck machte. 3 Alfred Stern: La philosophie des valeurs. Regard sur ses tendances actuelles en Allemagne, 2 Bde, Paris 1936. Der erste Band stellt Richard Müller-Freienfels, Max Scheler, Nicolai Hartmann und Erich Heyde vor, der zweite Wilhelm Ostwald, Alfred Vierkandt, William Stern, Theodor Lessing und Alfred Stern selbst. Warum Robert Reininger nicht in einem eigenen Kapitel dargestellt wird, bleibt unklar. 4 Vgl. dazu Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Bern 4/1954, S. 215, sowie den Aufsatz von Helmut Kuhn: Werte – eine Urgegebenheit, in dem Sammelband: Philosophische Anthropologie. Zweiter Teil, hg. v. Hans-Georg Gadamer und Paul Vogler, München 1974, S. 243–273. 5 Herder 15,6 f. bzw. Kant V,283. Die Hervorhebungen sind gegenüber dem Original verändert. 6 Vgl. dazu auch Herders Analyse des Erhabenen 15,324 ff. 7 Wichtige Anregungen für dieses Kapitel konnte ich folgenden Studien entnehmen: Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Berlin 7/1977; Fritz Bamberger: Untersuchungen zur Entstehung des Wertproblems in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, Halle 1924; Johannes Erich Heyde: Wert. Eine philosophische Grundlegung, Erfurt 1926; Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Stuttgart 2/1960, Kap. III über Scheler, S. 99 ff., Kap. VI über Hartmann, S. 245 ff. und Kap. VII über Reininger, S. 288 ff.; Hermann Schmitz: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie, Bonn 1973 (zit. als »RR«); Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, Kap. Werte, S. 198 ff.; Jürgen Gebhard: Die Werte, in: ANODOS. Festschrift für Helmut Kuhn, hg. v. Rupert Hofmann, Jörg Jantzen und Henning Ottmann, Weinheim 1989, S. 35 ff.; Hans Joas: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1999; Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003; Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006; Eberhard Straub: Zur

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Alfred Stern

Tyrannei der Werte, Stuttgart 2010; Hermann Schmitz: Das Reich der Normen, Freiburg/München 2012 (zit. als »RN«). 8 Nietzsche II,323 vgl. auch Joas, S. 37 ff. 9 Vgl. Stegmüller, S. 133. 10 Vgl. dazu den Aufsatz von John L. Austin: Performative und konstatierende Äußerung, in: Sprache und Analysis. Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart, hg. v. Rüdiger Bubner, Göttingen 1968, S. 140 ff.; John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1973; Eike von Savigny: Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die »ordinary language philosophy«, Frankfurt a. M. 2/1974, S. 136 ff.; Karl-Otto Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M. 1976; Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen, Berlin 2001, und Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 31 ff. 11 Ich zitiere nach der Ausgabe: Robert Reininger: Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien/Leipzig 3/1947. 12 Vgl. dazu Kamlah/Lorenzen, S. 188 ff. 13 Vgl. dazu die Wertphilosophie von Christian von Ehrenfels: System der Werttheorie, 2 Bde, Leipzig 1897/98, der auf deren Grundlage auch sozialdarwinistische Kriterien für die eugenische Bestimmung lebensunwerten Lebens entwickelt hat, sowie Straub, S. 60 ff., und Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 145 ff., und Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassehygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992. 14 Vgl. dazu auch Schmitz: Rechtsraum, S. 622. 15 Vgl. Stern LW,21. 16 Vgl. dazu Bergson, S. 39 u. S. 43. 17 Vgl. dazu auch Kapitel 2.9.4.3. 18 Stern vermeidet geflissentlich das Wort »Kontrast«. 19 Vgl. Bergson, S. 15, und Stern LW,38. 20 Vgl. dazu die Studie von Gisela Berkenbusch: Zum Heulen. Kulturgeschichte unserer Tränen, Berlin 1985. 21 Vgl. dazu den äußerst materialreichen Sammelband: Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Heidelberg 1983. 22 Auf einem Theaterzettel aus der Sammlung des Ulmer Stadtarchivs, der eine Aufführung des bürgerlichen Trauerspiels »Emilie Waldegrau« am 7. 10. 1776 ankündigt, wird die »warme Träne« des Publikums sogar explizit eingefordert, denn dort heißt es über den Autor des Stücks: »Er gab sich Mühe, die Karaktere nach ihrer gehörigen Situation genau zu malen, und die tragische Laune ohne Frost zu bearbeiten. Wie glücklich schätzte er sich, wenn er diese seine Mühe, die von seinem fähigen Talent noch viel hoffen läßt, nicht durch ein kaltes Händeklatschen, nein, durch eine warme Thräne belohnt sieht.« Abgedruckt ist dieser Theaterzettel

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Anmerkungen

in: Lenz Prütting (Hg.): Zum Beispiel Ulm. Stadttheater als kulturpolitische Lebensform, Ulm 1991, S. 56. 23 Der Kult der bitteren und heißen Träne als Bekundung von Zerknirschung (contritio) wurde besonders in der frühen Mönchs-Literatur gepflegt, paradigmatisch v. a. bei Ephräm dem Syrer. Vgl. dazu Kap. 2.6.3. 24 Stern bezieht sich hier auf Durkheims Studie »Les règles de méthode sociologique« von 1895. Vgl. dazu auch Joas, S. 87 ff. 25 Eugène Dupréel: Le Problème sociologique du Rire, in: Revue Philosophique de la France et de l’Étranger, Jg. 53, 1928, S. 213–260. 26 Stern LW,137 resp. Dupréel, S. 234. 27 Ritter, S. 76; vgl. zu Ritter auch die Anmerkung 21 zu Kapitel 2.6 und unten Kapitel 2.17.4.5.8 28 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1980; vgl. dazu auch die Analyse dieser Komplementärsituation bei Schmitz: Leib, S. 217 ff. 29 Stern LW,138. Vgl. dazu auch die sehr genaue Analyse des Hassens bei Aurel Kolnai: Ekel. Hochmut. Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt a. M., S. 100 ff. 30 Reininger, S. 26. 31 Vgl. Schmitz: Gegenstand, S. 136.

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2.17 Helmuth Plessner oder Die Frage nach dem Spiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe

2.17.1 Überblick Mit Helmuth Plessner (1892–1985) beginnt ein ganz neues Kapitel in der Geschichte der Gelotologie, und dieser Quantensprung in der Erforschung des Lachens hat methodologische und wissenschaftspolitische Gründe: Methodologische durch die Orientierung an der Phänomenologie, wissenschaftspolitische durch die Begründung der Philosophischen Anthropologie als einer eigenständigen Disziplin im Rahmen der Philosophie, denn nun konnte die alte aristotelische Frage nach den propria hominis, zu denen ja auch das Lachen gehört, auf eine ganz neue Weise gestellt werden, weil sie nicht mehr eine Frage neben vielen anderen Fragen war, sondern ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Plessner selbst äußert sich dazu am deutlichsten in dem Aufsatz Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (VIII,117 ff.) von 1956. Der konkrete Anlaß für diesen Aufsatz war das damals an deutschen Universitäten neu eingeführte Studium generale, das helfen sollte, die allzu engen Grenzen der traditionellen Studienfächer zu durchbrechen, aber sofort die Frage nach sich zog, wie man einen Standpunkt gewinnen könnte, zumindest die Humanwissenschaften perspektivisch zu einer Gesamtansicht zu ordnen. Hier bot sich für Plessner die Philosophische Anthropologie als neue Leitwissenschaft und quasi als Gewissen der Humanwissenschaften an. Das war natürlich auch etwas pro domo gesehen. Negativer Bezugspunkt für Plessners Argumentation ist hier das altehrwürdige Bild der Großen Kette der Wesen als Abbild eines gemäß dem ontologischen Komparativ aufgebauten Ständestaates des Seienden, das in Resten noch bei Scheler, dem anderen Begrün1453 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Helmuth Plessner

der der Philosophischen Anthropologie, in seinem Traktat Die Stellung des Menschen im Kosmos von 1928 aufscheint, von Plessner aber kompromißlos verabschiedet wird. »Denn wir verfügen nicht mehr wie die mittelalterliche Welt über ein Gesamtbild, in das sich die Dinge der Natur und der Gesellschaft bedeutungsvoll und für alle Ewigkeit einordnen. Dieses großartige Bild eines in Werträngen gestuften Ganzen hat dem kritischen Geist der Neuzeit nicht standgehalten. Mit der geschlossenen Universitas der feudalen Ständegesellschaft ging auch ihr Weltbild dahin, und an ihre Stelle trat, hervorgetrieben durch wissenschaftliche, politische und industrielle Revolutionen, ein neuer demokratischer Gesellschaftstyp und eine neue Idee von Universitas. Autonomie, Selbständigkeit, Selbstgesetzgebung wurden zu Idealen, und was früher nur in inniger Abhängigkeit von absoluter Autorität zu denken war, drängte nach Emanzipation: der autonome Staat, das sich selbst bestimmende Volk, die freie Wirtschaft, die voraussetzungslose Wissenschaft, die reine Kunst, die reine Religion, das reine Recht. Viele Wertsysteme von gleichem Rang und gleichem Anspruch konkurrieren heute miteinander und setzen die Menschen der immer gefährlicher werdenden Spannung des Pluralismus gesellschaftlicher Normen und Institutionen aus.« (VIII,117)

Hier bietet sich für Plessner die Philosophische Anthropologie als Ansatzpunkt für eine perspektivische Zusammenschau der Wissenschaften an, da sie »eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der Universitas« (VIII,118) einnehmen kann, sodaß sie, so gesehen, nicht nur »eine Spezialdisziplin neben und unter anderen Spezialdisziplinen« (VIII,119) ist, sondern eine Schlüsseldisziplin, deren Einsichten eine über die eigenen Fachgrenzen hinausreichende »universale Funktion« (VIII,119) gewinnen. Mit anderen Worten: Die Philosophische Anthropologie entmachtet und beerbt die Theologie als Leitwissenschaft, denn: »Unsere Universitas beruht nicht wie die des Mittelalters auf der Offenbarung, wird auch nicht durch höchste kirchliche und weltliche Autorität symbolisiert, ist nicht theozentrisch, monarchisch und hierarchisch. Sie ist in allem das Gegenteil der mittelalterlichen Ordnung, nicht geschlossen in einer höchsten Spitze, sondern offen, pluralistisch, demokratisch, anthropozentrisch.« (VIII,118)

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Überblick

Diese massive Kritik Plessners an Max Schelers neukatholischem Ansatz ist zugleich aber auch die Kritik an eigenen früheren Positionen, denn Plessner, der sich 1916 im biographischen Anhang zu seiner Erlanger Dissertation noch stolz als »Preuße und Lutheraner« 1 bezeichnete, hatte in seiner ersten wissenschaftlichen Studie Die wissenschaftliche Idee von 1913 selbst noch behauptet, die Aufgabe von Philosophie und Wissenschaft bestehe darin, »von dem gemäßen Prinzip Gottes eben die Sinngebung der Welt zu versuchen«2, denn, so Plessner damals, »aus der innigen Wechselwirkung beider, aus dem Stehen des ›Ich‹ im ›Es‹, welches Gott ist, erklärt sich Wissenschaft.« (I,140) Über die Gründe für diesen fundamentalen, quasi Feuerbachschen Paradigmenwechsel von der entschieden theozentrischen zur genauo entschieden antropozentrischen Weltsicht und wissenschaftstheoretischen Ausrichtung äußert sich Plessner, soweit ich sehe, nirgendwo ausführlicher. Man darf aber vermuten, daß die tiefe Erschütterung aller Werte durch Krieg, Niederlage, Revolution und Inflation diesen Paradigmenwechsel schon in den frühen zwanziger Jahren entscheidend befördert haben dürfte, denn Plessners neues Denken manifestierte sich schon 1924 in dem Werk Grenzen der Gemeinschaft, das sich ja auch als fundamentale Kritik an der protestantisch geprägten Gemeinschafts-Ideologie »August 1914« lesen läßt, denn diese Vision einer homogenen Volksgemeinschaft hatte sich alsbald als pure Illusion und propagandistisches Konstrukt erwiesen. Durch diese tiefe Ernüchterung, die durch die Zeit des Nationalsozialismus, durch Verfolgung und Emigration noch weiter gesteigert wurde, sah sich Plessner gezwungen, die Humanwissenschaften auf eine breitere empirische und methodologische Basis zu stellen und deshalb »die biologische Entwicklungsgeschichte, die Tiefenpsychologie und die soziologische Kulturkritik« (VIII,134) zuhilfe zu nehmen und erhellende Querverbindungen zwischen ihnen herzustellen, um ein tragfähigeres »Gesamtbild vom Menschen« (VIII,134) zu gewinnen. Doch dieses Gesamtbild des Menschen ergibt sich für Plessner »nicht automatisch aus der Zusammenarbeit der einzelnen Wissenschaften, sondern bedarf der philosophischen Anthropologie. Sie ist

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Helmuth Plessner

nicht eine noch zu ihnen hinzukommende Wissenschaft, sondern die ständige kritische Besinnung auf deren Grundlagen und Begrenzungen.« (VIII,134 f.)

Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie besteht demnach darin, gleichsam als das Gewissen aller Humanwissenschaften zu fungieren, und somit auch als Orientierungshilfe dafür, aus welchen der oben genannten drei Wissenschaften welche Erkenntnisse auch für die Erforschung menschlichen Verhaltens herangezogen werden müßten. In zwei von diesen Wissenschaften hatte Plessner selbst schon wichtige Erkenntnisse erarbeitet, die dann auch in seine eigene Ätiologie des Lachens Eingang gefunden haben und die auch für uns unverzichtbar sind, denn in seinem früheren soziologischen Werk Grenzen der Gemeinschaft von 1924 greift Plessner den von Aristoteles bis Kant diskutierten Nomos eutrapelistischer Lachkultur wieder auf, der im 19. Jahrhundert in der Epoche des »verlorenen Lachens« in Vergessenheit geraten war, und in seinem biologisch-anthropologischen Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 entwickelt er den Begriff der exzentrischen Positionalität, der für ihn das proprium hominis schlechthin ist, aus dem alle anderen propria hominis abzuleiten sind und deshalb auch die Grundlage für seine Ätiologie des Lachens bildet. Doch diese spezifische Verfaßtheit des Menschen durch die exzentrische Positionalität, so fügt Plessner sofort warnend hinzu, ist kein unproblematischer, sondern ein ständig gefährdeter Besitz, denn »die unzweifelhafte Zugehörigkeit zur zoologischen Spezies der Hominiden, die Tatsache Homo sapiens, bedeutet eine Aufgabe und nicht bereits die Sicherung der Humanität. (…) Besitz des Sprachvermögens, aufrechter Gang, Werkzeugformung und Werkzeuggebrauch, Selbstbewußtsein sind Privilegien, aber keine automatischen Sicherungen dagegen, nur tierischer als jedes Tier zu sein.« (VIII,134)

All die hier aufgezählten propria hominis sind also kein garantierter unangreifbarer Besitzstand, sondern können in bestimmten krisenhaften Situationen auch wieder mehr oder weniger verloren gehen, und wer besonders viel besitzt, kann auch besonders viel verlieren. Darauf hatte, wie wir wissen, schon Herder 1787 mit größtem Nachdruck verwiesen, als er warnend schrieb: 1456 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Überblick

»Die Furcht, zumal in der Finsterniß, die Traurigkeit, Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung und jede andre Leidenschaft macht in unvermutheten Augenblicken uns alle noch zu Wilden. (…) Der Zustand unsrer kalten Besonnenheit ist ein künstlicher, durch Erfahrung, Lehre und Gewohnheit allmählich erworbener Zustand, dessen Besitz uns in völlig unerwarteten Augenblicken zu erhalten oft schwer wird.« (29,20)

Diese Regressions-Einbrüche in die Besonnenheit als plötzliche Implosion der exzentrischen zur zentrischen Positionalität sind jedoch, sofern sie nicht rein pathologischer Natur sind, immer nur vorübergehende Regressionen der Personalität, und zu diesen Einbrüchen personaler Besonnenheit zählen für Plessner v. a. auch Lachen und Weinen, genauer: das Weinen, das immer ein unverfügbares Widerfahrnis ist, und das unverfügbar aus uns herausplatzende Bekundungs-Lachen. Damit sind diese beiden Verhaltensweisen die Signatur einer Krise der Personalität und aus diesem Grund bezeichnet Plessner seine berühmte Studie über Lachen und Weinen auch im Untertitel als »eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens«, womit die Grenzen besonnenen und verfügbaren Verhaltens gemeint sind. Auf diesen tiefsinnigen Gedanken, das Lachen als Grenzphänomen menschlichen Verhaltens zu sehen, bei dem wir uns »tierischer als jedes Tier« verhalten, sind wir zum ersten Mal bei Aristoteles gestoßen, der das Lachen bekanntlich im Zwerchfell lokalisiert hatte, weit entfernt vom Sitz der Denkseele im menschlichen Körper und damit zugleich auch weit entfernt vom Zentrum der Besonnenheit. Auf die Frage jedoch, wie und warum man nach diesem Sturz aus der Höhe personaler Besonnenheit oder besonnener Personalität in den Grenzbereich menschlichen Verhaltens wieder zu sich selbst und auf die vorige Höhe kommt und wie die exzentrische Positionalität sich erneut entfaltet, geht Plessner mit keinem Wort ein, da er den uroborischen Impuls, der dies bewirkt, nicht kennt. Er weiß nur, daß es so ist, denn er schreibt an zentraler Stelle über diesen »Verlust der Beherrschung im Ganzen«: »In der Katastrophe noch, die sein sonst beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als

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Helmuth Plessner

Mensch. Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwangshaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt.« (VII,274)

Damit wäre der Rahmen, in dem sich Plessners Ätiologie des Lachens bewegt und die Kritik an ihr 3 anzusetzen hätte, in etwa abgesteckt. 2.17.2 Grenzen der Gemeinschaft oder Die Frage nach Grenzen und Krisen eutrapelistischer Geselligkeit Wir haben in Kapitel 2.12.4 gesehen, wie um 1700 in Halle, personifiziert durch Christian Thomasius und August Hermann Francke, über den Weg gestritten wurde, den Deutschland gehen sollte: Sollte es mit Thomasius den langen Weg nach Westen in Richtung Heiterer Aufklärung gehen, oder mit dem Pietisten Francke den Weg zu ernster deutscher Innerlichkeit? Sollte es sich am Modell der eutrapelistischen Runde oder am Modell der pietistischen Gemeinde orientieren? Oder modern soziologisch und mit Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner formuliert: Sollte es sich primär als politische Gemeinschaft oder als politische Gesellschaft verstehen? All diese Fragen sind nicht nur rein politisch-soziologisch relevant, sondern auch gelotologisch von größter Bedeutung. Wie wir gesehen haben, wurden diese Fragen im 18. Jahrhundert zunächst eher zugunsten der Heiteren Aufklärung und eines immer weiter ausdifferenzierten Nomos eutrapelistischer Lachkultur entschieden. Wir haben aber auch gesehen, daß sich mit Klopstocks Entwurf einer »deutsch-komischen« Lachkultur deutlich vernehmbar auch die Gegenstimme erhob, die nach der Französischen Revolution in der Epoche des »verlorenen Lachens« sogar zur dominanten Stimme wurde und das Konzept Heiterer Aufklärung übertönen konnte. Und zur Zeit Plessners schien mit den Nationalsozialisten Klopstocks Entwurf einer »deutsch-komischen« Lachkultur endgültig gesiegt zu haben, denn nun erschienen u. a. Machwerke wie das 1458 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Grenzen der Gemeinschaft

eines gewissen Siegfried Kadner über Rasse und Humor, in dem der Verfasser gegen »westisch-jüdische Komik« wettern konnte. (Wir kommen darauf zurück.) Der Streit zwischen Thomasius und Francke wiederholte sich in gewisser Weise in einer neuen Besetzung während des ersten Weltkriegs, als die Brüder Heinrich und Thomas Mann erbittert gegeneinander polemisierten und dies im Bewußtsein taten, jeweils für ganz Deutschland die Stimme zu erheben. Nach dem verlorenen Krieg, der allgemein auch als Sieg der westlichen Zivilisation und Demokratie empfunden wurde, verschärfte sich der Ton zwischen beiden Lagern weiter, denn nun bekämpfte die antiwestliche Partei, da sie nun zugleich auch die antidemokratische Partei war, das verhaßte »System von Weimar« als den verhaßten Westen in Deutschland selbst. In diesem erbitterten ideologischen Kampf ergriff nun auch Helmuth Plessner das Wort und legte unmittelbar nach dem gescheiterten Hitler-Putsch von 1923 mit seinem Traktat Grenzen der Gemeinschaft 1924 ein Werk vor, das noch mal beim Streit zwischen August Hermann Francke und Christian Thomasius von 1700 ansetzte und diesen auf verschärfte Weise fortführte. Mit dem Titel »Grenzen der Gemeinschaft« bezog sich Plessner auf das klassische Werk Gemeinschaft und Gesellschaft 4 von Ferdinand Tönnies (1855–1936), das seit 1887 in vielen Auflagen erschienen war, und in dem Tönnies idealtypische Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen miteinander verglichen hatte, ohne jedoch eine der beiden zur absoluten Norm zu erheben. Beispiele für typische Gemeinschaftsformen sind für ihn alle horizontal strukturierten Beziehungen wie z. B. familiäre oder allgemein verwandtschaftliche Solidarität, dörfliche Nachbarschaftshilfe oder individuelle Freundschaften und Freundschaftsbünde 5, also alle Formen von herrschaftsfreien Beziehungen auf Augenhöhe. Klassische Beispiele für Gesellschaftsformen 6 sind für ihn alle vertikal orientierten Strukturen von Herrschaft und Dienst bzw. Befehl und Gehorsam, Arbeitsverträge, Geldgeschäfte und ähnliches, also allgemein Beziehungen, die explizit durch Verträge geregelt werden. Tönnies war also keineswegs der Panegyriker einer Gemeinschaftsideologie, der alle Formen von Gesellschaft als uneigentlich oder gar als undeutsch 1459 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Helmuth Plessner

abqualifizieren wollte, und aus diesem Grund war seine Rezension 7 von Plessners Grenzen der Gemeinschaft im ganzen sehr wohlwollend, denn auch Plessner wendet sich dort ja nicht gegen das Prinzip Gemeinschaft als solchem, sondern nur gegen die Verabsolutierung dieses Prinzips zu einer gesellschaftsfeindlichen politischen Ideologie, weshalb er auch explizit die Frage nach den Grenzen der Gemeinschaft und der Gemeinschaftsideologie stellt. Das konnte den Nationalsozialisten später gar nicht gefallen, die ja genau diese Ideologie mit der Idee der Volksgemeinschaft verwirklichen wollten, und deshalb verliefen die Biographien von Tönnies und Plessner ganz analog, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, denn beide wurden als entschiedene Gegner des Nationalsozialismus aus ihren Ämtern gejagt, Plessner sogar in die Emigration. Als »Grundgedanken« von Plessners Studie verstand Tönnies in seiner Rezension den Satz: »In uns selbst liegen neben den gemeinschaftsverlangenden und gemeinschaftsstützenden die gesellschaftsverlangenden, distanzierenden Mächte des Leibes nicht weniger wie der Seele, in jeder Sozialbeziehung wartet die eine, wenn die andere gilt, auf ihre Erweckung.«8

Dieser Satz ist in der Tat der Schlüssel für Plessners Denken weit über dieses frühe soziologische Werk hinaus, denn in diesem Satz wird schon die innige antagonistische Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe vorweggenommen, die später für die Analyse von Lachen und Weinen eine zentrale Rolle spielen wird, und diese Formel findet sich ja auch schon explizit in Grenzen der Gemeinschaft formuliert, denn dort heißt es im Kapitel »Der Kampf ums wahre Gesicht«: »Wo Blut und Sache die Menschen nicht zueinander bringen und der Zwang zur Selbstbehauptung nicht von der übergreifenden Gemeinschaft gelöst wird, hat der Mensch demnach nur die Alternative, diese Gefahr zu bestehen und die Würde durch irreale Kompensationsmittel zu retten oder aber die individuelle Würde dadurch zu gewinnen, daß er sie freiwillig dahingibt. Entweder Selbstbehauptung um jeden Preis, um den Preis der Zufriedenheit, des Glücks, freilich auf relativ niederer Stufe sozialen Milieus, ökonomischer, seelischer Möglichkeiten oder Selbstpreisgabe und Selbsterniedrigung im Geiste der tiefsten Wahrheitsparadoxie, welche die Welt kennt: wer sich verliert, wird sich ge-

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Grenzen der Gemeinschaft

winnen. Entweder der Weg der reinen Ethik oder der Weg der reinen Religion.« (V,76)

In dieser innigen und ambivalenten Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe steckt aber auch schon der Keim für den Begriff der sozialen Rolle, der für Plessner später zum soziologischen Schlüsselbegriff werden sollte und auf die These hinausläuft: Keine Rolle gibt es nicht, denn alles gesellschaftliche Leben ist laut Plessner ein Leben in Rollen, die das gesamte gesellschaftlich relevante Verhalten auf eine bestimmte Palette von Verhaltensweisen begrenzt. Nachzulesen ist dies v. a. in den beiden Aufsätzen von 1960: Soziale Rolle und menschliche Natur (X,227–240) und Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung (X,212–226). Für unsere Fragestellung ist Plessners Rollenbegriff insofern wichtig, als auch bestimmte Formen des Interaktions-Lachens Bestandteil bestimmter gesellschaftlicher Rollen sind. So finden sich also schon hier im frühen Werk über die Grenzen von Gemeinschaft und Gesellschaft viele Verweise auf unsere gelotologische Fragstellung, und auch diese Passagen knüpfen wieder an die von Thomasius aufgeworfene Forderung nach einem Nomos eutrapelistischer Lachkultur an, der eine lachsoziologische Grundlage für kleinere Gruppen bieten sollte, darüberhinaus aber auch als Nomos größerer gesellschaftlicher Gebilde sollte dienen können. Der Grundgedanke für diesen Nomos bestand, wie wir gesehen haben, schon seit Aristoteles und Cicero und später auch bei Meier und Kant immer darin, beim Scherzen und Lachen alles zu vermeiden, was bei den Beteiligten Zorn oder Scham auslösen könnte, und dieses Prinzip freiwillig auf sich genommener Selbstbegrenzung als Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, das man mit Fug und Recht als den Grundsatz auch jeder anderen freiheitlichen gesellschaftlichen Verfassung verstehen kann, taucht in Plessners frühem soziologischen Werk auf als Plädoyer für die Kultivierung gesellschaftlicher Rituale in Form von Etikette und Distanziertheit und für Takt und Würde, denn: »Stark ist, wer den ganzen Wesenskomplex der Gesellschaft um der Würde des einzelnen Menschen willen bejaht; schwach ist, wer die Würde um der Brüderlichkeit in der Gemeinschaft willen preisgibt.« (V,31)

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Helmuth Plessner

Stark ist laut Plessner somit jeder, der Distanz zum anderen, aber auch zu sich selbst hält, und den »Verzicht auf die letzte Reserve« (V,45) und die »Rückhaltlosigkeit des gegeneinander Geöffnetseins« (V,59) strikt vermeidet. Schwach hingegen ist laut Plessner demnach jeder, der die Gesellschaft und das gesellschaftliche Leben am Modell der pietistischen Gemeinde mit ihrem Prinzip rückhaltloser Offenheit und Innerlichkeit orientieren will und in allen möglichen neuen Formen von »ekstatischem Gefühlskommunismus« (V,56) wieder aufleben lassen möchte. Plessner dachte hier wohl an das Wir-Pathos der deutschen Jugendbewegung, die damals ihre bündische Phase hatte, aber natürlich auch an die Erweckungsbewegungen aller möglichen Couleurs am linken und rechten Rand des politischen Spektrums sowie an die expressionistische Lyrik der zwanziger Jahre, für die der Sammelband Menschheitsdämmerung (1920) von Kurt Pinthus repräsentativ ist. Dort findet sich z. B. an herausgehobener Stelle das programmatische Gedicht An den Leser von Franz Werfel, das mit den Versen beginnt: »Mein einziger Wunsch ist dir, o Mensch, verwandt zu sein! Bist du Neger, Akrobat, oder ruhst du noch in tiefer Mutterhut, Klingt dein Mädchenlied über den Hof, lenkst du dein Floß im Abendschein, Bist du Soldat, oder Aviator voll Ausdauer und Mut. Trugst du als Kind auch ein Gewehr in grüner Armschlinge? Wenn es losging, entflog ein angebundener Stöpsel dem Lauf. Mein Mensch, wenn ich Erinnerung singe, Sei nicht hart, und löse dich mit mir in Tränen auf.« Und es endet mit den Versen: »So gehöre ich dir und Allen! Wolle mir bitte nicht widerstehn! O, könnte es einmal geschehn, Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen.« 9

Robert Neumanns vernichtende Parodie auf diese Orgie von expressionistischem Gutmenschen-Kitsch von 1927 dürfte Plessner sicher viel besser gefallen haben, denn Neumann kontert mit den Versen:

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»Mein einziger Wunsch ist, dir, o Mensch, zu sagen: Ich bin dir gut! Bist du Schiffskoch, Antisemit oder Klavierfabrikant im Abendschein, Bist du Staatsanwalt, Neger oder Toilettenfrau voll Ausdauer und Mut, Treibst du als Wasserleiche stromab, gehst ins Versatzamt oder Kaffeehaus hinein. Machtest du dir als Kind auch immer die Hose naß? Wenn du heimkamst, klopfte dein Mütterchen dich auf den Popo. O mein Mensch, wenn ich dir schon sag’, ich bin vor Empfindung ganz blaß, Dann mach keine Geschichten, wein endlich mit mir und zier dich nicht so! Wir haben Knaben um Regenwürmer und Federkiele gestritten, Wir machten Matura, freuten uns Offiziersanwärter des Trommelschalls, Wir saßen Kaffeehausgäste vereint, wir wurden Kosmopoliten. – Jetzt aber genug! Und fall mir schon endlich, o Mensch, um den Hals!« 10

Was Plessner an diesem O Mensch-Pathos, durch das der expressionistische Dichter seine ganze Innerlichkeit hemmungslos nach außen stülpte und wie eine Monstranz voller Ergriffenheit vor sich her trug, so abgestoßen haben dürfte, war wohl das »Risiko der Lächerlichkeit«, das das Parodiert- und Verlachtwerden geradezu erbettelt, denn: »Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will, es mag die Inbrunst, die ganze Not unmittelbaren Getriebenseins hinter ihm stehen, trägt, indem es sich hervorwagt und erscheint, das Risiko der Lächerlichkeit. Der pure Affekt, das Sich-los-lassen der Seele in den Ausdruck hinein, die Unmittelbarkeit der Äußerung, die wahrhafte Rückhaltlosigkeit in der Manifestation der Urteile ebenso wie der Handlungen und des Mienenspiels wirkt – vielleicht nicht notwendig, aber immer möglicherweise – lächerlich. Kein Ernst ist vor dieser Umkippung ins Komische sicher.« (V,70)

Aus all diesen Gründen plädiert Plessner für einen Nomos, bei dem sich Gemeinschafts- und Gesellschafts-Prinzipien ineinander ver1463 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schränken und wo die ihnen eigenen zentrifugalen und zentripetalen Impulse sich gegenseitig begrenzen und relativieren, sodaß ein Ineinander von Sichöffnen und Sichverschließen, von Näherung und Distanz, von Vertrautheit und Förmlichkeit, und das heißt eben: von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung entsteht, in dem sich die konstitutive Ambivalenz menschlicher Verfaßtheit angemessen manifestieren kann. Dies aber ist nur möglich, wenn man sich dessen bewußt ist, daß man grundsätzlich immer in sozialen Rollen agiert, die gleichsam als Verhaltens-Korsett fungieren und einen Rahmen vorgeben, innerhalb dessen man sich einigermaßen sicher bewegen kann, weil er uns vor den Anderen und die Anderen auch vor uns schützt. In seinem Aufsatz Soziale Rolle und menschliche Natur von 1960 kommt Plessner auf dieses Thema eigens noch mal zurück und polemisiert dort noch mal ausdrücklich gegen die von Heidegger inaugurierte Ideologie der Eigentlichkeit jenseits aller gesellschaftlichen Rollen-Existenz, wo jeder angeblich »ganz er selbst« 11 sei, denn, so Heidegger, »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ›die Öffentlichkeit‹ kennen.«12 Dazu Plessners grimmiger Kommentar: »Hier ist dann (für den Einzelnen angeblich) der Raum für seine Freiheit und unzerstörbare Individualität, die Herzkammer seines möglichen Selbstseins, gewonnen, der keine Theorie und keine Öffentlichkeit mehr etwas anhaben können. Damit ist der letzte Schritt zu einer Abwertung der ›ärgerlichen‹ gesellschaftlichen Existenz getan, und zwar im Interesse der Sicherung der individuell-persönlichen Freiheit. Eine Position ist bezogen, die einem gering entwickelten sozialen Verantwortungsbewußtsein ganz und gar ins Konzept paßt und der gewisse Philosopheme der Gegenwart Ausdruck verliehen haben: Heidegger ante portas. Seine Theorie von der Verfallenheit im defizienten Modus des Man 13 ist der deutschen Innerlichkeit aus der Seele gesprochen. Findet sich die Soziologie dazu bereit, das Sein in einer Rolle von dem eigentlichen Selbstsein grundsätzlich zu trennen und dieses gegen das Ärgernis der Gesellschaft auszuspielen, (…) dann gibt sie dem antigesellschaftlichen Affekt, gewollt oder ungewollt, neue Nahrung.« (X,239)

Wie tief dieser protestantisch geprägte antigesellschaftliche Affekt in der deutschen Tradition verankert ist, hätte Plessner auch an an1464 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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deren berühmten Beispielen aus dem Hausschatz deutscher Innerlichkeit illustrieren können, z. B. an Hölderlin, der seinen Hyperion auch mal unter die Deutschen kommen und dann deren Entfremdetheit und Uneigentlichkeit beklagen läßt: »Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?«14

Plessner hätte auch auf Kleists Briefe aus Paris verweisen können, wo dieser klagt: »Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen, und dabei tun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt aneinander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihresgleichen; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn anderen verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan.« 15

Als Beispiel für die Kritik an dieser protestantischen InnerlichkeitsIdeologie hätte Plessner auf den berühmten Zwiebel-Monolog Peer Gynts verweisen können, in dem der alte Peer Gynt, der zeit seines Lebens ganz er selbst hatte sein wollen, am Ende seiner Lebensbahn und im Rückblick auf sein Leben zu der erschreckenden Erkenntnis kommen muß, daß die Zwiebel, deren Schalen er da nach und nach entfernt, gar keinen Kern hat: »Nur immer Schalen in riesigen Massen! Will nicht der Kern sich bald blicken lassen? Bei Gott, bis ins Innerste findet sich keiner; Nichts als Schalen, – nur kleiner und kleiner. – Die Natur ist witzig! (Er wirft die Reste weg.)« 16

Die Natur hält Peer Gynt aber nur deshalb zum Narren, weil er in dem Wahn gelebt hatte, sein kernhaftes Selbst, das »gyntische Ich«, sei ihm von Natur aus vorgegeben und könne jenseits aller Rollen1465 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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haftigkeit dargelebt und genossen werden, wohingegen Plessner mit Recht darauf besteht, daß die menschliche Natur zwangsläufig in sozialen Rollen gelebt werden muß, denn: »Nichts ist der Mensch ›als‹ Mensch von sich aus, wenn er, wie in den Gesellschaften modernen Gepräges, fähig und willens ist, diese Rolle und damit die Rolle des Mitmenschen 17 zu spielen: nicht blutgebunden, nicht traditionsgebunden, nicht einmal von Natur frei. Er ist nur, wozu er sich macht und versteht.« 18

Oder anders formuliert: Keine Rolle gibt es nicht. Soziale Rollen sind laut Plessner dynamische, in sich ambivalente Gebilde, in denen und mit denen man sich positionieren muß, sind also Verhaltensgrenzen, zu denen man ein Verhältnis hat, die man einhalten, die man aber auch durchbrechen kann, und deshalb gilt weiter: »Der doppeldeutige Charakter des Psychischen drängt zur Fixierung hin und zugleich von aller Fixierung fort. Wir wollen uns sehen und gesehen werden, wie wir sind, und wir wollen ebenso uns verhüllen und ungekannt bleiben, denn hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins. Aus dieser ontologischen Zweideutigkeit resultieren mit eherner Notwendigkeit die beiden Grundkräfte seelischen Lebens: der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit.« (V,63)

Wird einer dieser beiden Impulse verabsolutiert, indem er sich aus der innigen Verschränkung mit dem anderen löst, so ergeben sich entweder orgiastisch-ekstatische Gemeinschaften, die sich jedoch alsbald wieder auflösen, weil die Ekstatik sich uroborisch verzehrt, oder es ergeben sich hohle gesellschaftliche Rituale, in denen nur noch eine manierierte Etikette bedient wird. Und treffen gar beide verabsolutierten Impulse aufeinander, so ergeben sich Situationen von grotesker Komik, weil beide Impulse sich gegenseitig konterkarieren. Wer inmitten einer Love Parade darauf besteht, mit seinem akademischen Titel angeredet zu werden, macht sich eben genauo lächerlich wie jemand, der als Stadtrat während der Diskussion über den Bebauungsplan einer Kläranlage von einem religiösen Erweckungserlebnis berichten möchte. Man kann sich also nicht nur, wie Platon meinte, lächerlich machen, wenn man sich selbst ver1466 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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kennt, sondern auch dann, wenn man die Situation verkennt, in der man sich aktuell befindet. Um diesem allfällig drohenden »Fluch der Lächerlichkeit« (V,96) zu begegnen, hilft laut Plessner nur die Kultivierung von Takt und Würde und das »Ethos der Grazie« 19. Damit knüpft Plessner direkt an den uns wohlvertrauten Nomos eutrapelistischer Lachkultur an, wie er von Aristoteles und Cicero über Pontano und Castiglione bis hin zu Meier und Kant entwickelt und immer weiter ausdifferenziert worden ist, auch wenn dieser bei Plessner »nur« als Nomos einer Kultur des Lächelns erscheint, die aber auf das gesamte gesellschaftliche Leben übertragen und nicht nur in kleinen Zirkeln ausagiert werden sollte, denn er schreibt über diesen Nomos als »Ethos der Grazie«: »Dieses Reich der Alltäglichkeit, der wertäquivalenten Situationen kennen wir alle: es ist die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen. Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesetzten Konvention, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahekommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen. Die Liebenswürdigkeit ist ihre Atmosphäre, nicht die Eindringlichkeit; das Spiel und die Beobachtung seiner Regeln, nicht der Ernst ist ihr Sittengesetz. Die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt, die beleidigende Indifferenz, Kälte und Roheit des Aneinandervorbeilebens durch die Formen der Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit unwirksam gemacht und einer zu großen Nähe durch Reserviertheit entgegengewirkt.« (V,80)

All dies ist, wie man leicht sieht, ohne Lachen und Lächeln gar nicht möglich, weil nur das Lächeln, genauer: weil nur die Allzweckwaffe des jederzeit abrufbaren, durch Blickkontakt an den Partner adressierten Interaktions-Lachens in all seinen Intensitätsgraden diese Zugleichkeit 20 von Nähe und Distanz, von Ergreifen und Ergriffenwerden, von Vertrautheit und Reserviertheit durch eben diesen Blickkontakt stiften kann. 1467 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Warum Plessner hier nicht ausführlicher auf das InteraktionsLachen in all seinen Formen und auf die spezifischen Bedingungen dieser Art von Lachen und Lächeln eingeht, wird wohl ewig sein Geheimnis bleiben. Das Wort »Lächeln« fällt nicht einmal. Und noch seltsamer ist der Umstand, daß er hier auch nicht auf die verschiedenen Formen des Blickkontakts zu sprechen kommt, denn auch für den hier fälligen Blickkontakt gilt es, diese Mitte zwischen Nähe und Distanz, Vertrautheit und Reserviertheit zu wahren, die Mitte also zwischen dem saugenden tiefen und dem aggressiv bohrenden und fixierenden Blick einerseits und der Art von Blickkontakt, bei der man den Blick des Anderen nur streift oder durch ihn hindurchschaut, ohne sich in ihn »einzuklinken«. All diese Varianten des Blickkontakts stiften ja auch Varianten des Interaktions-Lachens. Obwohl Plessner auf all dies also nicht explizit eingeht, wird doch deutlich, daß er sich mit seinem Werk über die Grenzen von Gemeinschaft und Gesellschaft in die Tradition eutrapelistischer Lachkultur und damit zugleich auch in die Tradition Heiterer Aufklärung gestellt und damit wiederum die Epoche des »verlorenen Lachens« überwunden hat, vielleicht sogar, ohne dies zu wissen und zu wollen. Doch das ist für uns gar nicht mal entscheidend. Entscheidend sind nur die Konsequenzen, die er aus seiner Apologie gesellschaftlichen Verhaltens zieht, und diese sind für unsere Fragestellung von größter Bedeutung, weil eine Apologie gesellschaftlichen Verhaltens immer auch eine Apologie geselligen Verhaltens in sich schließt, »denn Gesellschaft heißt auch Geselligkeit« (V105), und Geselligkeit heißt immer auch heitere Geselligkeit. Hier zeigt sich denn auch eine große Nähe Plessners zu Kant als dem letzten Theoretiker eutrapelistischer Lachkultur. Da für Kant jede gesellige Runde auf den drei Säulen »Erzählen, Räsonnieren und Scherzen« (vgl. VI,620) ruht, sah er sich genötigt, den bis zu ihm tradierten Nomos eutrapelistischer Lachkultur dahingehend zu ergänzen, daß beim Räsonnieren jede Art von verbissener interessegeleiteter Ernsthaftigkeit strikt zu vermeiden sei, damit kein Streit aus Rechthaberei sollte entstehen können, und deshalb sollte man, »da diese (gesellige) Unterhaltung kein (ernstes) Geschäft sondern nur ein Spiel sein soll, jene Ernsthaftigkeit durch einen geschickt 1468 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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angebrachten Scherz abwenden« (VI,621), denn »alles Interesse macht ernsthaft; sobald sich aber das Interesse verliert, geht man aus dem Ernste ins Lachen.« (AA,1139) Ganz analog argumentiert Plessner, wenn er schreibt: »Die starren Funktionen der Ämter und Berufe, die Rüstungen der Öffentlichkeit fallen hier (bei der Pflege von Geselligkeit) nicht in die Waagschale. Zu anderen Spielen leichteren Stiles sieht sich der Mensch aufgefordert, zu einer unhörbaren Diplomatie der alles und nichts sagenden Liebenswürdigkeit, die besänftigt und doch die Spannung nie ganz löst, weil sie im Ungewissen läßt. Im Anwendungsbereich einer Kultiviertheit der Andeutung, einer Kultur der Verhaltenheit zeigt der reife Mensch erst seine volle Meisterschaft.« (V,105 f.)

Und das heißt: »Alles Ausdrückliche, jede eruptive Echtheit wird vermieden. Unwahrheit, die schont, ist immer noch besser als Wahrheit, die verletzt, Verbindlichkeit, die nicht bindet, aber das Beste.« (V,107)

Mit einem Wort: »Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen ist der Rechtsgrund (also der Nomos) (…) für die grundlosen Zwischenspiele unseres gesellschaftlichen Lebens.« (V,109)

Wie konsequent Plessner in den Bahnen der tradierten eutrapelistischen Lachkultur und der Heiteren Aufklärung argumentiert, zeigt sich auch noch an einem anderen Sachverhalt. Wir haben schon bei Shaftesbury und Meier gesehen, daß die Vertreter Heiterer Aufklärung immer ein gewisses Unbehagen über den »Paroxysmus« des ekstatischen Lachens empfunden haben, weil dieses so ansteckend wirken kann. Dieses Unbehagen und diese Orientierung an stoischem Erbe scheint auch Plessner, vielleicht auch bloß der frühe Plessner, geteilt zu haben, wenn er fordert, jede »eruptive Echtheit« (V,1017) im geselligen Umgang zu vermeiden, weil beim ekstatischen Cachinnus-Lachen jede Art von Selbstbeherrschung erst mal verloren geht und damit zugleich auch das stoische Ideal umfassender Selbstbehauptung. Daß er Jahre später in seinem gelotologischen Hauptwerk Lachen und Weinen als Krise der Personalität deuten wird, scheint ganz auf dieser Linie zu liegen, nicht aber der Umstand, daß er dort 1469 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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das gemäßigte Lachen als Bekundung einer heiteren Atmosphäre nicht als »echtes Lachen« (VII,288) gelten lassen will, denn echtes Lachen ist für ihn hier ausschließlich das tendenziell unverfügbare Gelächter, das explosiv aus uns herausplatzt. Das gemäßigte Lachen, das die spielerische Heiterkeit eutrapelistischer Geselligkeit bekundet, gilt ihm hier als nicht wesenhaft genug, weil es weder »Größe« noch »Tiefe« (VII,280) hat: »Man lacht leicht, aber flach.« (VII,280) Hier hat sich in Plessners Blick auf das Lachen offensichtlich ein Wandel vollzogen, der ihn als verjagten Emigranten dazu brachte, das Lachen ernster zu nehmen als früher und es vor einem weitaus dunkleren Hintergrund als vor dem heiterer Geselligkeit zu sehen. Das darf nun aber nicht so verstanden werden, daß Plessner sich damit in die Tradition der Lachfeindschaft gestellt hätte, sondern heißt lediglich, daß er nunmehr dieses unverfügbar aus uns herausplatzende Lachen als die Signatur einer momentanen und vorübergehenden Implosion der Personalität resp. als momentane und vorübergehende Regression exzentrischer Positionalität zur zentrischen versteht. Man könnte auch sagen, daß er nun das Lachen etwas weiter an die Grenzen des normalen Verhaltens gerückt hat. 2.17.3 Stufen und Grenzen des Organischen oder Die Frage nach der Positionalität und deren Signatur Wir sind im Verlauf dieser Rekonstruktion der Diskursgeschichte des Lachens schon mehrfach auf die tonos- und pneuma-Lehre der stoischen Physik und Psychologie 21 gestoßen und haben dabei festgestellt, daß die in sich ambivalente tonische Bewegung zentripetal und zentrifugal zugleich verläuft und sich als Projektion des eigenleiblichen Spürens in die Natur verstehen läßt, weil alles eigenleibliche Spüren ebenfalls auf der Ambivalenz von zentripetaler Engung und zentrifugaler Weitung beruht. An diese stoische tonos-Lehre fühlt man sich in einem fort erinnert, wenn man sich in Plessners naturphilosophisches Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch einliest, auch wenn Plessner selbst dort mit keinem Wort diesen Bezug zur stoischen Physik und Psychologie herstellt. 1470 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Sehr wohl aber bezieht er sich des öfteren ausdrücklich auf Fichte 22, der ebenfalls von der stoischen tonos-Lehre aufs tiefste beeinflußt war, die bei ihm im zentralen Begriff des »Strebens« 23 erscheint. Über dieses fundamentale Streben des sich selbst setzenden Ich, das außerdem auch noch das Nicht-Ich setzt, heißt es in Fichtes erster Fassung seiner Wissenschaftslehre: »Die reine in sich selbst zurückgehende Thätigkeit des Ich ist in Beziehung auf ein mögliches Objekt ein Streben; und zwar (…) ein unendliches Streben. Dieses unendliche Streben ist ins unendliche hinein die Bedingung der Möglichkeit alles Objekts: kein Streben, kein Objekt.« 24

Mithin gilt für dieses sich selbst ponierende und sich selbst reflektierende Ich laut Fichte: »Das absolute Ich ist schlechthin sich selbst gleich: alles in ihm selbst ist Ein und dasselbe Ich, und gehört (…) zu Einem und ebendemselben Ich; es ist da nichts zu unterscheiden, kein mannigfaltiges; das Ich ist Alles und Nichts, weil es für sich nichts ist, kein setzendes und kein gesetztes in sich selbst unterscheiden kann. (Aber:) Es strebt (…) kraft seines Wesens sich in diesem Zustande zu behaupten. Es thut in ihm sich eine Ungleichheit, und darum etwas fremdartiges hervor.« 25

Diese als Streben sich manifestierende Selbstbehauptung wird erfahren als Widerfahrnis einer Hemmung oder Stauung eben dieses Strebens: »Mithin müsste das Ich selbst sowohl die Hemmung seiner Thätigkeit, als die Wiederherstellung derselben, in sich selbst setzen, so gewiss es die Thätigkeit eines Ich seyn soll, welche gehemmt oder wiederhergestellt wird. Aber sie kann nur als wiederhergestellt gesetzt werden, inwiefern sie als gehemmt; und nur als gehemmt, inwiefern sie als wiederhergestellt gesetzt wird; denn beides steht (…) in Wechselbestimmung. Mithin sind die zu vereinigenden Zustände schon an und für sich synthetisch vereinigt; anders, als vereinigt, können sie gar nicht gesetzt werden. Dass sie aber überhaupt gesetzt werden, liegt in dem blossen Begriffe des Ich, und wird mit ihm zugleich postulirt. Und so wäre demnach lediglich die gehemmte Thätigkeit, die aber doch gesetzt, und demnach wiederhergestellt seyn muss, im Ich und durch das Ich zu setzen.«26

Dieses Argumentationsmodell bildet nun die Grundlage auch für Plessners Lehre von der Positionalität, durch die sich lebendige Kör1471 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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per-Wesen von unbelebten Körper-Dingen unterscheiden, denn Plessner selbst schreibt unter ausdrücklicher Berufung auf Fichte: »Dieses sich selber Setzen allein konstituiert das Lebenssubjekt als Ich oder die exzentrische Positionalität.« (IV,401)

Doch bedingt durch Plessners etwas enger gefaßte biologisch-anthropologische Fragestellung ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen Fichtes und Plessners Verständnis von Setzung bzw. Positionalität, worauf schon Joachim Fischer aufmerksam gemacht hat, weil bei Fichte der Akt-Charakter des Setzens durch das gleichsam freischwebende Ich, bei Plessner hingegen der Widerfahrnis-Charakter des Gesetztseins in einem lebendigen Organismus betont wird: »Die Pointe des Begriffs ›Positionalität‹ (bei Plessner) ist die Umkehrung des Primats vom Aktbegriff der ›Setzung‹, also dem Schlüsselbegriff des Deutschen Idealismus für den ›aktiven‹ Akt des Denkens, zum Widerfahrnisbegriff der ›Gesetztheit‹ als Schlüsselbegriff des Lebens. (…) Lebendige Dinge sind eben nicht – ›autopoietisch‹ – sich selbst erzeugende, sich selbst konstituierende Dinge, sondern sie finden sich in ihrem physischen Sein in einer Art abhängigen Unabhängigkeit ›positioniert‹ vor, in einer umweltbezogenen Grenze, die sie durchhalten müssen.« 27

Was Plessner vom Deutschen Idealismus trotz aller Nähe trennt, ist noch ein zweiter Punkt, denn Plessner fragt nicht mehr nach einer den Körper belebenden Seele, die ihm auf irgendeine geheimnisvolle Weise zu Beginn des Lebens verliehen und beim Tod wieder entzogen würde, oder nach einer nicht minder geheimnisvollen Lebenskraft 28 oder Entelechie 29, sondern vermeidet als guter Phänomenologe strikt jede Art von Metaphysik und stellt deshalb zunächst die Frage, wie Körper generell sich zu ihren Grenzen verhalten: Bricht ein Körper an seinen Rändern einfach ab und hört einfach auf oder staut er sich an seinen Begrenzungen und strebt eventuell sogar darüber hinaus? Dazu Plessner in seiner Selbstdarstellung: »Hier gibt es zwei Möglichkeiten: dem Körper ist seine Begrenzung äußerlich. Er hört da auf, wo das umrandende Medium beginnt. Solche Körper nennen wir anorganisch. Oder aber die Begrenzung gehört zum Körper, z. B. durch eine Membran in sich. Solche Körper heißen organisch. Sie sind in sich, auch wo sie äußerlich begrenzt sein mögen. Sie haben Positionalität.« (X,325)

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Und dies gilt für alle belebten Körperwesen, für Pflanzen, Tiere und Menschen, denen jedoch je unterschiedliche Weisen von Positionalität eigen sind: »Offene Form der pflanzlichen Positionalität steht der geschlossenen der tierischen gegenüber. Und diese zentrische der exzentrischen des Menschen.« (X,326) »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.« (IV,364)

Im Gegensatz zur tierischen gilt aber für die menschliche Existenzform, daß sie aufgrund eben dieser exzentrisch-reflexiven Poniertheit »hinter sich gekommen ist« (vgl. IV,363), weil sie und nur sie hinter sich kommen kann und deshalb leibhaftig in einem eigenen Körper wohnt, »dessen natürlicher Ort die ihm verborgne Mitte seiner Existenz ist.« (IV,363 f.). Und das heißt wiederum: »Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte und ist darum über sie hinaus.« (IV,364) »Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.« (IV,365) 30

Er kann also, sobald er erst einmal hinter sich gekommen ist, immer auch mal neben sich stehen; er kann über sich hinaus sein, er kann hinter sich drein hecheln und sich verfehlen; er kann sich auch mal vergessen, ja er kann dieser Fähigkeit, hinter sich zu stehen, sogar auch mal für Momente verlustig gehen, da er immer wieder in Situationen geraten kann, in denen ihm diese exzentrische Poniertheit zu einer zentrischen und damit zu einer quasitierischen implodiert, wie dies z. B. bei Schmerz- oder Panikattacken, bei Phobien, bei Allergie-Schocks, bei einem Nervenzusammenbruch, aber eben auch bei einem Lachkrampf oder einem Anfall von heulendem Elend der Fall ist, also bei allen krisenhaft katastrophalen Widerfahrnissen, in denen wir die Besinnung verlieren und, wie Herder schon sagte, zu Wilden werden, denn so Herder: »Der Zustand unserer kalten Besonnenheit ist ein künstlicher, durch Erfahrung, Lehre und Gewohnheit allmählich erworbener Zustand, dessen Besitz uns in völlig unerwarteten Fällen zu erhalten oft schwer wird.« (29,20)

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Günter Dux hat diesen Gedanken Herders dankbar aufgegriffen und weist deshalb mit Recht darauf hin, daß der Zustand exzentrischer Positionalität nicht schon von Geburt an besteht, sondern ontogenetisch erst erworben werden muß, denn: »Die biologische Natur des Menschen kennt keine exzentrische Positionalität. Das wird am neugeborenen Gattungsmitglied deutlich sichtbar. Es ist ein biologisches System mit einer natural unzureichenden Ausstattung – dies und nicht mehr soll der (durch Arnold Gehlen) von Herder entlehnte Begriff des Mängelwesens zum Ausdruck bringen –, aber einem Potential, sich diese Ausstattung zu erwerben. Auch die exzentrische Positionalität als Form reflexiven Bewußtseins, wie sie einzig dem Menschen eigen ist, entwickelt sich erst.« 31

Dieser Ruck in der ontogenetischen Entwicklung von der zentrischen zur exzentrischen Positionalität ereignet sich, worauf Günter Dux leider nicht hinweist, in der Fremdelphase, wenn das Kleinkind sich zum aufrechten Stand erhebt, nein zu sagen lernt und zur Person wird, sodaß wir auch sagen können, exzentrische Positionalität, Personalität, Distanziertheit und aufrechte Haltung ergeben sich zugleich als vier Aspekte ein und desselben Rucks in der ontogenetischen Entwicklung und können in bestimmten Krisen auch zugleich wieder für Momente verloren gehen, werden aber alsbald auch wieder hergestellt. Einer dieser krisenhaften Momente, der uns hier am meisten interessiert, ist das Lachen, genauer: das lachmündige personale Lachen, denn auch diese Lachmündigkeit wird erst in der Fremdelphase zugleich mit den anderen vier genannten Fähigkeiten erworben, wenn das Kleinkind der Ausgeliefertheit an das völlig unverfügbare Resonanz-Lächeln entkommt. Daß die aufrechte Haltung die sichtbarste Signatur exzentrischer Positionalität und mit mündiger Personalität engstens liiert ist, hat Plessner übrigens auch selbst schon betont, da er in dem Aufsatz Die Frage nach der Conditio humana von 1961 unter Verweis auf Erwin Straus 32 eigens auf den »Tatcharakter des Sich-Aufrichtens (nicht nur beim Kinde)« (VIII,170) verweist und dann fortfährt: »Gerade weil es beim Menschen zur Normalhaltung gehört und nicht, wie bei den Tieren, situationsbedingte Reaktion ist: Schreck, Neugier, Verteidigung, ist es von vornherein mit unserer Ansprechbarkeit als Person verbunden.« (VIII,170)

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Und Erwin Straus wiederum nimmt Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität ganz wörtlich räumlich-physikalisch, wenn er darauf verweist, daß beim Gehen in aufrechter Haltung der Schwerpunkt des Körpers exzentrisch poniert ist, weil wir ihn dabei gleichsam vor uns her tragen und ihn mit jedem Schritt wieder einholen müssen, sodaß unser Gehen letztlich »eine Bewegung auf Kredit« (S. 228) ist: »Der Schwerpunkt des trabenden Pferdes, des laufenden Hundes, verläßt nicht die Unterstützungsfläche. Der gehende Mensch bewegt sich so, daß der Körper vorgeschwungen wird. Dem Schwerpunkt wird für einen Augenblick die Unterstützung entzogen. Das vorgestreckte Bein ist es, das den drohenden Fall aufzufangen hat. Gibt der Boden nach, treten wir fehl, dann fallen wir oder sind doch dem Sturz nah.« (S. 228)

Die aufrechte Haltung verlieren wir aber auch in all den Situationen mehr oder weniger, in denen die exzentrische Positionalität mehr oder weniger implodiert, wenn wir uns z. B. vor Schmerz winden oder vor Lachen biegen, also immer dann, wenn wir als Person kapitulieren müssen und die mühsam erworbene Besonnenheit unter dem Ansturm unverfügbarer Widerfahrnisse für Momente verlieren. Auf Dauer geschieht diese Regression jedoch nur auf pathologische Weise, wenn das Sicherungssystem des uroborischen Impulses aussetzt. In seiner Selbstdarstellung betont Plessner, sein biologisch-anthropologisches Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch wolle »nicht im Sinne einer Abbreviatur der Evolutionstheorie verstanden sein, sondern als eine Logik der lebendigen Form« (X,327), die auf dem Prinzip der Steigerung beruhe. Stufen des Organischen sind demnach nicht zeitlich aufeinander folgende und auseinander hervorgehende Formen des Lebendigen, sondern »systematische Stufen« 33, wobei die durchgehend wirksame Systematik im Prinzip der Grenzsetzung auf verschieden hohen Stufen von Komplexität besteht: »Im Fortgang von der offenen Form des Typus pflanzlicher Organisation führt eine Steigerung zur geschlossenen Form eines durch Reiz und Reaktion vermittelten Lebens, das sich in eine Umwelt versetzt sieht, zu der es sich in Suche und Anpassung beweglich verhält. Ein

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Tier hat von einer Mitte aus und zu einer Mitte hin führende reizleitende Organe und gehört damit zum geschlossenen, dem zentrischen Lebenstyp. Und eine abermalige Steigerung des gleichen Prinzips führt zum Durchbruch in die Exzentrizität, die sich auf die zentrische Form aufbaut und darum Weltoffenheit nur bedingt erreicht. Das ist die Situation des homo sapiens, dessen Zugehörigkeit zur Klasse der Primaten seit Linné feststeht.« (X,327)

Doch darin geht dieses »Zwischenwesen, halb Tier, halb Gott« (X,327) nicht auf, weil es »gegenüber seinem tierischen Verhaltensmuster eine spezifische Selbständigkeit beweist« (X,327), was jedoch, wie schon Herder betonte, nicht in jeder Situation gelingt, sodaß wir auch für Momente in tierisch-zentrische Verhaltensweisen zurückfallen können, um danach die menschlich-exzentrische Verfaßtheit erneut zu gewinnen und weiterhin zu bewahren bis zum nächsten regressiven Einbruch. Diese von Plessner erstellte »Logik der lebendigen Form« läßt sich durch einen Blick auf Ovids Metamorphosen sehr schön illustrieren, weil dort neben den vielen Verwandlungen von einer Stufe der lebendigen Form zur anderen eben auch Verwandlungen von lebendigen Körperwesen in anorganische Körperdinge und umgekehrt Verwandlungen von Körperdingen in Körperwesen dargestellt werden und auf diese Weise zugleich auch das Prinzip der Positionalität poetisch-biologisch illustriert wird. Unter den vielen Geschichten, in denen Ovid das Verwandlungs-Motiv durchspielt, sind für unsere Fragestellung zwei besonders aufschlußreich, weil hier das Prinzip der Positionalität Hand in Hand mit dem der Expressivität zum Thema gemacht wird. Ich meine damit die Tötung des hundertäugigen Argus durch Merkur und die Verlebendigung von Pygmalions Statue, denn beide Geschichten handeln vom Erlöschen resp. vom Erstrahlen des Blicks als der ausgeprägtesten Form leiblicher Expressivität und Positionalität. Die Geschichte um den hundertäugigen Argus ist eine der vielen Episoden im ehelichen Machtkampf zwischen Jupiter und Juno. Da Jupiter sich wieder einmal in eine fremde Frau verliebt hatte, diesmal in Io, verwandelt Juno sie in eine weiße Kuh und läßt sie 1476 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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vom hundertäugigen Argus bewachen, damit Jupiter sie nicht entführen und vergewaltigen kann, denn auch als Kuh findet er sie immer noch hinreißend schön und begehrenswert. Deshalb setzt er seinerseits den pfiffigen Merkur in Marsch, um diesen Wächter Ios irgendwie auszuschalten. Das ist jedoch schwierig genug, denn Argus verfügt über die Fähigkeit, nur mit einigen Augen zu schlafen und die übrigen offen zu halten und weiterhin wachsam zu sein. Also lullt Merkur Argus mit der Panflöte so lange ein, bis ihm endlich alle Augen zugefallen sind und er Merkur nicht mehr mit seinem Blick bannen kann. Und dann schlägt Merkur ihm den Kopf ab, stößt ihn vom Felsen in die Tiefe und verlacht ihn ausgiebig: »Arge, iaces, quodque in tot lumina lumen habebas, extinctum est, centum oculos nox occupat una.« 34 »Argus, du liegst, und das Licht, das du hattest in alle den Leuchten, Ist dir erloschen; es deckt nun Ein Dunkel das Hundert von Augen.« 35

Und als der tote Argus dann alle Augen wieder öffnet und aus hundert toten Augen blicklos ins Leere starrt, nimmt Juno sie heraus und versetzt sie an den Schweif eines Pfaues. Nun sind es zwar immer noch Augen und damit Körperdinge, aber Augen ohne Blick, ohne Lebenslicht (lumen), ohne Expressivität, ohne Bezugnahme zur Welt und damit ohne die Signatur von Positionalität. Genau umgekehrt verläuft die Metamorphose der Augen im Pygmalion-Mythos. Der keusche Bildhauer Pygmalion aus Paphos hatte aus schneeweißem Elfenbein eine Frauenstatue verfertigt, die ihm so gut gelungen ist, daß sie ihm als Ideal weiblicher Schönheit erscheint und er sich in sie verliebt und diese Statue behandelt, als ob sie ein lebendiges Wesen sei: »Aecht jungfräulich ist ihre Gestalt; ganz lebe sie, glaubt man, Und wolle sich, wenn die Sittsamkeit sie nicht hinderte, regen. So hat die Kunst er versteckt durch die Kunst. Pygmalion staunt’ und Athmete brünstige Gluth für den lieblich geheuchelten Leib ein. Oftmals legt er an’s Werk die greifende Hand, ob es Leib sey, Oder, was nicht er gesteht, aus Elfenbeine gefertigt. Küsse auch gibt er und glaubt sie erwiedert, er spricht und umfängt sie; Wähnt, daß schwellender Wuchs den betastenden Fingern sich füge, Fürchtet, ein bläuliches Mahl komm’ jetzt durch den Druck an die Glieder:

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Bald Liebkosungen wendet er an, bald bringt er dem Mädchen Liebe Geschenke ihr dar, Meermuscheln und rundliche Steinchen. Niedliche Vögelchen auch, und tausendfarbige Blumen, Lilien auch, und gezeichnete Bäll’ und den Bäumen entsunkne Thränen der Heliaden (Bernstein). Er schmückt mit Kleidern die Glieder, Fügt den Fingern Gestein, fügt lange Gehenke dem Hals an; Niedliche Perlen enthängen dem Ohr und Kettchen dem Busen. Jegliches schmückt sie; doch scheinet sie nackt nicht weniger reizend. Sie nun legt er aufs Polster, getaucht in Sidonischen Purpur, Nennt sie Lagergenossin und läßt den gelehneten Nacken, Gleich als ob sie es fühlt’, auf schwellendem Flaume sich ausruhn.« (S. 349, X,250 ff.)

Da dieses schöne Bild aber doch bloß eine kalte Statue ist, bittet er Venus in ihrem Tempel, ihm ein Weib zu geben, das dieser Statue möglichst ähnlich ist, und Venus, gerührt durch Pygmalions Hingabe, gewährt ihm auch prompt diese Bitte, aber weit über sein Begehren hinaus: »Gleich bei der Heimkunft naht er dem Bilde des trautesten Mädchens, Neigt sich über den Pfuhl und küßt. Sie schien zu erwarmen. Wiederum naht er dem Mund und versucht mit der Hand auch den Busen. Weich wird unter der Hand ihm das Elfenbein, und geschmeidigt Schmiegt es unter den Fingern sich an, nachgebend, wie Wachs des Hymettos, Wieder erweicht an der Sonn’ und vom Daumen behandelt, in viele Formen sich williglich fügt und brauchbarer durch den Gebrauch wird. Während der Liebende staunt und bange sich freut, sich zu täuschen Fürchtet und wieder und wieder sein Lieb mit Händen berühret: Leibt sie und lebt. Geprüft vom Daumen schon schlagen die Adern. Aber der Paphische Held volltönende Worte begann er Jetzo, der Venus den Dank zu bezahlen, und heftete nicht mehr Endlich auf fälschliche Lippe die Lipp’, und gegebene Küsse Fühlt die Erröthende, hebt das Augenlicht (lumen) zu dem Lichte (lumina)

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Schüchtern empor und schaut mit dem Himmel zugleich den Geliebten.« (S. 350, X,274 ff.)

In der Belebung der Statue durch die Macht der Venus, im Erstrahlen ihres Blicks und seiner Spiegelung im liebenden Blick Pygmalions (ad lumina lumen attolens) haben wir das genaue Gegenstück zum brechenden Blick des sterbenden Argus (in tot lumina lumen extinctum est) und in diesem Blickwechsel der beiden Liebenden haben wir zugleich die Urszene expressiver Bezugnahme und leiblicher Kommunikation vor uns, durch die man »leibt und lebt.« 36 Diese expressive Bezugnahme lebendiger Körperwesen zueinander erschöpft sich aber nicht im Blickwechsel allein, sondern erstreckt sich, wie Ovids wiederholter Hinweis auf das Schmiegen und Schwellen des Fleisches und auf das Pulsieren der Adern zeigt, auf alle Formen des Strebens innerhalb der Hautgrenze, an der es sich staut, und darüber hinaus, wenn ein bloßes Körper-Ding (res) sich in ein leibhaftiges Körper-Wesen (corpus) verwandelt, das nicht nur Raum einnimmt, weil es da oder dort ist und nicht woanders, sondern das seinen Raum behauptet: »Corpus est. Es leibt und lebt.« Dazu Plessner: »Jedes physische Körperding ist im Raum, ist räumlich (ist also, cartesisch gesprochen, eine res extensa). Seine Lage besteht, was ihre Messung angeht, in Relation zu anderen Lagen und zur Lage des Beobachters. Von dieser Relativordnung sind auch lebendige Körper als physische Dinge nicht ausgenommen. Aber erscheinungsmäßig unterscheiden sich die lebendigen von den unbelebten als raumbehauptende von den raumerfüllenden Körpern. Jedes raumerfüllende Gebilde ist an seiner Stelle. Ein raumbehauptendes Gebilde dagegen ist dadurch, daß es über ihm hinaus (in ihm hinein) ist, zu der Stelle ›seines‹ Seins in Beziehung. Es ist außer seiner Räumlichkeit in den Raum hinein oder raumhaft und hat insofern seinen natürlichen Ort.« (IV,187 f.)

Man könnte auch sagen: Es existiert im Vollzug seiner Raumhaftigkeit, und zugleich damit im Vollzug seiner Positionalität und v. a. auch im Vollzug seiner Expressivität und Rollenhaftigkeit, weil diese Rollenhaftigkeit und »natürliche Künstlichkeit«37 den Menschen dazu zwingt, sich erst zu dem zu machen 38, was er eigentlich ist. Aber was versteht Plessner unter Expressivität? Wie wir gesehen 1479 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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haben, hat Oskar Kohnstamm 39 an Darwin moniert, daß dieser nicht genau genug zwischen Ausdruck und Interaktion, ungezielt gestreuter Ausdrucksbewegung und teleokliner Zweckbewegung unterschieden habe. Diese fundamentale Unterscheidung hat Schule gemacht und ist später auch von F. J. J. Buytendijk aufgegriffen worden, bei dem sie als Unterscheidung von »zielgerichtetem Handeln« und »zielloser Ausdrucksbewegung« 40 wiederkehrt. Auch Plessner hat sich diese Unterscheidung zueigen gemacht und moniert auf der Grundlage dieser Unterscheidung in Lachen und Weinen ebenfalls, daß Darwin Ausdrucksbewegungen auf Zweckbewegungen41 zurückzuführen suchte, um Ausdrucksbewegungen evolutionsgeschichtlich zu erklären, und dadurch in die Irre ging. Selbstverständlich orientiert sich meine eigene Unterscheidung zwischen unadressiertem Bekundungs-Lachen und adressiertem Interaktions-Lachen ebenfalls ausdrücklich an Kohnstamm und Buytendijk. Wenn Plessner nun von Expressivität als einem Grundzug menschlichen Verhaltens spricht, so ist damit jedoch nicht allein Ausdrucksverhalten im Sinne dieser Kohnstammschen Unterscheidung gemeint, sondern umfaßt nicht nur beides, also mimetischen Ausdruck und mimetische Interaktion, sondern geht sogar noch weit darüber hinaus und erstreckt sich auf alle Formen mimetischen und poietischen Strebens oder mimetischer Selbstentäußerung, durch die der Mensch sich zu dem macht, was er sein kann und dadurch eigentlich auch ist, denn: »Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage oder Mimus faßlich wird, ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d. h. zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes. (…) Und weil es auf diese Weise eine Kontinuität zwischen Intention und Erfüllung gibt trotz der vorher nicht bekannten und wesensmäßig nie für sich gegebenen Brechung des Intentionsstrahls im Medium der seelischen und körperlichen Wirklichkeit, hat das Subjekt ein Recht, von einem Gelingen seines Bestrebens zu sprechen. Eben deshalb hat es ein Recht und die Pflicht, das Gelingen von Neuem zu versuchen. (…) Realisiert, bricht es auch schon in das Was und Wie auseinander. Die Diskrepanz zwischen dem Erreichten und Erstrebten ist Ereignis geworden. Aus

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dem erkalteten Ergebnis ist schon das begeisternde Streben entwichen, als Schale bleibt es zurück. Entfremdet wird es zum Gegenstand der Betrachtung, das vordem unsichtbarer Raum unseres Strebens war. Und da das Streben nicht aufhört und nach Realisierung verlangt, kann ihm das Gewordene als Formgewordenes nicht genügen. Der Mensch muß sich erneut an’s Werk machen.« (IV,415)

Das aber heißt zugleich auch: »Durch seine Expressivität ist er also ein Wesen, das selbst bei kontinuierlich sich erhaltender Intention nach immer anderer Verwirklichung drängt und so eine Geschichte hinter sich zurückläßt. Nur in der Expressivität liegt der innere Grund für den historischen Charakter seiner Existenz.« (IV,416)

Die Form menschlicher Expressivität, die uns hier zentral interessiert, ist natürlich das Lachen, weil auch das Lachen eine Form dieses mimetischen Strebens ist, das das menschliche Verhalten generell prägt. Vor diesem Hintergrund ist nun aber einigermaßen verwunderlich, daß Plessner in seinem gelotologischen Hauptwerk Lachen und Weinen sein eigenes Verständnis von Expressivität nun wieder reduktionistisch einengt und nur das Bekundungs-Lachen untersucht, das Interaktions-Lachen jedoch weitgehend ausblendet. Diese reduktionistische Tendenz hatte sich aber schon in dem Umstand angekündigt, daß er auf das Phänomen des Blicks und des Blickkontakts als zentralen Elementen intentionaler Bezugnahme und mimetischen Strebens mit keinem Wort eingeht, weder in den Stufen noch sonstwo, und auch nicht in den Aufsätzen Die Deutung des mimischen Ausdrucks von 1925 (VII,67 ff.) und Elemente menschlichen Verhaltens von 1961 (VIII,218 ff.), wo dieses Thema unbedingt hätte behandelt werden müssen. Selbst in seinem ästhesiologischen Hauptwerk Die Einheit der Sinne von 1923 geht Plessner auf das Phänomen des Blicks nicht ein, obwohl sich dort sogar ein Kapitel über die »Ästhesiologie des Gesichts« (III,248 ff.) findet. In dem Aufsatz von 1961 referiert Plessner kurz, wie durch die aufrechte Haltung das Auge-Hand-Feld (VIII,169 ff.) entstehen konnte, kommt dann auf den Zusammenhang des Sprachvermögens mit diesem Auge-Hand-Feld zu sprechen und schreibt dann: 1481 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Sprache wahrt als Ausdruck vermittelter Unmittelbarkeit die Mitte zwischen der zupackenden, greifenden und gestaltenden Hand, dem Organ der Distanz und ihrer Überwindung und dem Auge als dem Organ unmittelbarer Vergegenwärtigung. Sprache steht aber nicht etwa nur zwischen diesen Funktionen, sondern verschmilzt sie auf eine neue, in ihnen beiden nicht vorgesehene Weise. Ihr packender Zugriff macht sichtbar und evident, ist Hand und Auge in einem.« (VIII,222)

Hier geht völlig verloren, daß auch der Blick »ein Organ der Distanz und ihrer Überwindung« ist, weil ein Blick genauo intensiv zupakken und den Anderen geradezu wie im Würgegriff ergreifen kann, weil der intensive Blickkontakt »ein ergreifend-ergriffener Kontakt«42 ist. Und deshalb kann man sich vom Blick eines Anderen geradezu beschmutzt und erniedrigt fühlen, was Sartre 43 ausführlich beschrieben hat. Und vor allem: Der Blickkontakt ist geradezu das Paradebeispiel für das Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, weil man dem Blick-Partner nicht in die Augen schauen kann, ohne sich selbst wieder in die Augen schauen zu lassen. Ich muß gestehen, ich bin hier ratlos, und weiß mir nicht zu erklären, warum Plessner keinen Blick für den Blick hatte. Ganz anders ist dies bei Georg Simmel, der schon 1908 in seiner Soziologie eigens einen »Exkurs über die Soziologie der Sinne« 44 eingeschoben hat und dort ausführlich auf das Phänomen des Blickkontakts eingeht, den er als »höchst lebendige Wechselwirkung« (S. 484) zwischen einem Individuum und seinem Interaktionspartner versteht, durch die »das unmittelbare Ergreifen seiner Individualität« (S. 485) erwirkt wird: »Die Enge dieser Beziehung wird durch die merkwürdige Tatsache getragen, daß der auf den Andern gerichtete, ihn wahrnehmende Blick selbst ausdrucksvoll ist, und zwar gerade durch die Art, wie man den Andern ansieht. In dem Blick, der den andern (Blick) in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis. Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge (wohl besser: der Blick) entschleiert dem Andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht. Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbarem Blick von Auge zu Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegen-

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seitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt.« (S. 484 f.)

All dies gilt auch für alle Formen des Interaktions-Lachens, das durch den Blickkontakt an den Interaktionspartner adressiert wird und eine unendliche Vielzahl von Beziehungen zwischen beiden Partnern stiften kann, denn die Palette möglicher Formen von Interaktions-Lachen ist nicht weniger variantenreich als die Palette möglicher Formen von Bekundungs-Lachen, weil beide sich qua Situation semantisieren. Doch von all dem findet sich auch in Plessners gelotologischem Hauptwerk Lachen und Weinen kein Wort. Im Aufsatz Das Lächeln von 1950, den man als Nachtrag zu Lachen und Weinen verstehen kann, wird dies allerdings etwas korrigiert, denn dort stellt Plessner das Lächeln auch als »Mittel und Ausdruck der Kommunikation« (VII,428) dar. 2.17.4 Lachen und Weinen oder Die Frage nach den Grenzen ambivalenten Verhaltens 2.17.4.1 Lachen als Signatur einer Krise der Personalität Wie wir gesehen haben, stellte Plessner in seinem frühen soziologischen Werk die Frage nach den Grenzen der Gemeinschaft und in seinem biologisch-anthropologischen Werk die Frage nach den Stufen und Grenzen des Organischen. Diese Frage nach den Grenzen beherrscht auch seine große Studie über Lachen und Weinen, die deshalb den Untertitel »Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens« trägt. Im Vorwort zur zweiten Auflage von 1950 nimmt er diese Frage nach den Grenzen eigens noch mal auf und erhebt sie aufs neue zum methodologischen Prinzip, demzufolge gerade die Analyse dessen, was an und auf der Grenze eines Phänomens erfolgt, ins Zentrum des jeweiligen Phänomens führt, und das heißt hier: Erst die Analyse der Grenzen menschlichen Verhaltens gibt uns Aufschluß darüber, was menschliches Verhalten eigentlich und im Kern ist. Derartige Grenzphänomene sind für Plessner auch Lachen und Weinen. Damit richtet Plessner den Brennpunkt seines Interesses auf Be1483 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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reiche menschlichen Verhaltens, die aus dem offiziellen tradierten europäischen Menschenbild seit Platon gern ausgeklammert wurden, weil dieses Menschenbild sich am Ideal der Besonnenheit und der totalen Verfügbarkeit des eigenen Körpers orientierte als der Natur, die wir selbst sind, und, analog dazu, auch am Ideal der möglichst weitgehenden Verfügung über die Natur außerhalb unserer selbst. Alles was sich diesem »faustischen« Verfügungswillen zu widersetzen schien, wurde eher als ärgerlich oder peinlich oder gar als feindlich empfunden. Dieses Ideal der Besonnenheit und des Verfügens über den eigenen Körper stellt Plessner zwar nicht grundsätzlich in Frage, erlaubt sich aber die Frage nach den Grenzen eben dieses Ideals der Verfügbarkeit und stößt dabei sofort auf Verhaltensweisen, die sich als tendenziell unverfügbare Widerfahrnisse an uns und mit uns vollziehen, wie dies bei bestimmten Formen des Lachens und allen Formen des Weinens ja der Fall ist. Daraus ergibt sich für Plessner eine Fragestellung in der Tradition Herders, die auch die Fragestellung der hier vorliegenden Studie bis jetzt gewesen ist, und diese lautet nun bei Plessner: »Unsere Vorstellung von dem, was allen Menschen gemeinsam ist und sie von anderen Wesen unterscheidet, haftet – im Rahmen des bekannten Typus körperlicher Erscheinung und Haltung – an gewissen Arten des (verfügbaren) Verhaltens, die entwicklungsfähig sind und die geistig-geschichtliche Existenz der Menschen, auf welchem Niveau auch immer, vermitteln: Sprechen, planmäßiges Handeln, variables Gestalten. Merkwürdigerweise befaßt unsere Vorstellung von den menschlichen Monopolen aber auch zwei (tendenziell unverfügbare) Ausdrucks-, ja Ausbruchsweisen von elementarem, nicht entwicklungsfähigem Charakter: Lachen und Weinen. Kein Hinweis auf ihre Nutzlosigkeit und vielfach gefühlte Anstößigkeit kann uns davon abbringen, daß ein Wesen ohne die Möglichkeit des Lachens und Weinens kein Mensch ist. Kein noch so kunstvoller Versuch, Lachen und Weinen auch bei Tieren nachzuweisen, vermag unser Mißtrauen dagegen zu überwinden und von der Pflicht zu entbinden, deutlich zu machen, was unter Lachen und Weinen eigentlich zu verstehen sei.« (VII,207)

Mit diesem Hinweis auf den elementaren und eruptiven Charakter von Lachen und Weinen rückt Plessner diese beiden Verhaltenswei1484 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sen in die Nähe anderer analoger Verhaltensweisen, die sich ebenfalls als tendenziell unverfügbare Widerfahrnisse an uns und mit uns von selbst vollziehen: »Schlaf, Gähnen, Atmung, Erröten und Erblassen« (vgl. VII,209). Man könnte auch das Erbrechen, den Schluckauf, Amnesien, Ohnmachten und den Vagustod, sowie sexuelle Erregungen aller Art anführen, denn auch all diese Phänomene sind Beispiele menschlicher Expressivität von elementarem, nicht entwicklungsfähigem Charakter. Natürlich kann man versuchen, sich auch bei extremer Müdigkeit wach zu halten; kann versuchen, die Atmung strikt zu regulieren und eine kurze Zeit völlig anzuhalten oder ein Gähnen zu unterdrücken, aber dann kommt immer ein Punkt, an dem die Verfügungsgewalt über unseren Körper an ihre Grenze gelangt und dieser sich selbständig macht und »tut, was er will«. Wir müssen kapitulieren vor der Natur, die wir selbst sind. Auf dieser Grenze lauert die Krise und wird manifest, wenn wir über diese Grenze ins Unverfügbare geraten: »Hier, in den Kollisionen mit seiner Leiblichkeit, erfährt er (der Mensch) eine Grenze, die allem geistig-geschichtlichem Wandel trotzt. Soweit die Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Körper reicht, und kein Sprechen, Handeln, Gestalten ohne sie, bleibt sie im Schatten seiner schwerfälligen Anatomie, dem Rahmen des allgemein Menschlichen.« (VII,210)

Daß Plessner Lachen und Weinen deshalb als »Ausdrucksformen einer Krise« (VII,211) deutet, darf jedoch nicht dazu verführen, ihn in die agelastische Argumentationstradition von Platon, der Stoa und Augustinus einzuordnen, die diese momentane Kapitulation der Personalität in der Krise der Körperlichkeit als peinlich und empörend empfanden, sondern Plessner gehört eindeutig in die Argumentationstradition, die von Aristoteles über Joubert bis zu Kant und Herder reicht, für die der heraklitische Satz gilt »Auch hier in der Krise sind Götter«, denn Plessner betont eigens, daß in dieser Krise der Implosion der Personalität, also im »Untermenschlichen, das von affektiven Quellen allein gespeist wird« (VII,228), der Mensch nicht untergeht, denn »durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wieder hergestellt.« (VII,274) Gemeint ist damit der uroborische Impuls, in dem diese Krise der Personalität sich 1485 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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selbst verzehrt. Die Implosion der Personalität im exzessiven Lachen und Weinen ist also Verfall und Wiedergewinn exzentrischer Positionalität oder, mythologisch gesprochen, Tod und Wiedergeburt, Höllensturz und Wiederauferstehung, und insofern gilt für Lachen und Weinen: »Wiewohl vom Menschen aus motiviert, treten sie als unbeherrschte und ungeformte Eruptionen des gleichsam verselbständigten Körpers in Erscheinung. Der Mensch verfällt ihnen, er fällt – ins Lachen, er läßt sich fallen – ins Weinen. Er antwortet in ihnen auf etwas, aber nicht mit einer entsprechenden Formung, die der sprachlichen Gliederung, der mimischen Gebärde, Geste oder Handlung an die Seite zu stellen wäre (die alle irgend etwas bedeuten und meinen). Er antwortet – mit seinem Körper als Körper wie aus der Unmöglichkeit heraus, noch selber eine Antwort finden zu können. Und in der verlorenen Beherrschung über sich und seinen Leib erweist er sich als ein Wesen zugleich außerleiblicher Art, das in Spannung zu seiner physischen Existenz lebt, ganz und gar gebunden.« (VII,234 f.)

Dieses Verfallen an den gleichsam verselbständigten, aber immer noch eigenen Körper in bestimmten Krisen kann im Modus der Allmählichkeit oder im Modus der Plötzlichkeit vor sich gehen, als Gleiten oder als Sturz, als Erosion oder als Implosion der Personalität. So gleiten wir z. B. allmählich in den Schlaf und ins Weinen, stürzen aber von jetzt auf gleich in eine Ohnmacht, in eine Amnesie oder in einen Anfall von Gelächter, der sich dann als gestotterte Explosion an uns vollzieht. Diese Art von Cachinnus-Lachen ist denn auch für Plessner die idealtypische Form des Lachens überhaupt, und deshalb übersieht er, daß man ja auch ins Lachen allmählich gleiten kann, z. B. beim Resonanz-Lachen, in das man sich hineinziehen läßt, wenn man sich hineinziehen lassen will, oder ins Kichern, wenn man gekitzelt wird. Doch diese Formen von Gelächter sind für Plessner gar kein echtes Lachen.

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2.17.4.2 Der utopische Standort und der unendliche Umweg zu sich selbst Wir haben bei der bisherigen Rekonstruktion der Diskursgeschichte des Lachens immer wieder gesehen, zu welch unterschiedlichen Reaktionen die tendenzielle Unverfügbarkeit von Bereichen des eigenen Verhaltens geführt hat. Platon, die Stoiker und die Kirchenväter im Gefolge von Paulus und Augustinus empfanden diese Machtlosigkeit dem eigenen Körpergeschehen gegenüber als peinlich, empörend und beschämend, Aristoteles und Joubert nahmen dies mehr oder weniger gelassen hin. Daß man aber überhaupt ein Verhältnis zum Widerfahrnischarakter des eigenen Verhaltens haben kann, war eine Frage, für deren Beantwortung man das Wirken irgendwelcher fremder Mächte postulieren mußte, die in den eigenen Körper eingedrungen sind und diesen nun gegen unseren Willen regieren. Wer so handelt, wie er eigentlich gar nicht will, galt als besessen von Dämonen aller Art, oder später, in christlichen Zeiten, als besessen vom Teufel, weil man sich Widerfahrnisse grundsätzlich nur als fremde Handlungen 45 erklären konnte, für die man dann auch einen Akteur suchen mußte. Hier setzt nun Plessner an und stellt die Frage, wie man den Widerfahrnischarakter des eigenen Verhaltens begrifflich fassen könne, ohne solche metaphysischen Spekulationen zu bemühen und bietet deshalb das Paradigma der exzentrischen Positionalität an, um dieses problematische Selbstverhältnis auf den Begriff zu bringen und schreibt deshalb in enger Anlehnung an Fichte: »Der Mensch als das lebendige Wesen, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.« (IV,364) »Exzentrisch gestellt steht er da, wo er steht, und zugleich nicht da, wo er steht. Das Hier, in dem er lebt und auf das die gesamte Umwelt in Totalkonvergenz bezogen ist, das absolute, das nicht relativierbare Hier-Jetzt seiner Position nimmt er zugleich ein und nicht ein. Er ist in sein Leben (und Verhalten) gestellt, er steht ›dahinter‹, ›darüber‹ und bildet daher die aus dem Kreisfeld ausgegliederte Mitte der Umwelt.« (IV,420)

Und das heißt: 1487 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Positional liegt ein Dreifaches vor: Das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.« (IV,365) 46

Wenn ein solches Individuum nun aber weiß und will, aber nicht kann, weil sein Körper sich in bestimmten Situationen selbständig macht und ein für das Individuum unverfügbares Verhaltensprogramm in Gang setzt, so macht es die Erfahrung exzentrischer Positionalität am eigenen Leibe. Weil aber diese Erfahrung exzentrischer Poniertheit laut Plessner das zentrale proprium hominis schlechthin ist, das den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, kann er dieses Widerfahrnis, anders als Platon, Paulus oder Augustinus, auch nicht als narzißtische Kränkung seines Verfügungswillens empfinden, sondern geradezu als Erfahrung einer letztlich doch gespürten Souveränität in einer krisenhaften Situation, weil er eben auch diese momentane Entmachtung durch den eigenen Körper immer noch wissend erlebt und insofern immer noch über ihr steht: »Indem er lacht, überläßt er seinen Körper sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn. Mit dieser Kapitulation als leib-seelisch-geistige Einheit behauptet er sich als Person.« (VIII,363 f.) Denn: »Im Verlust der Herrschaft über ihn, in der Desorganisation bezeugt der Mensch noch Souveränität in einer unmöglichen Lage.« (VIII,36)

Das sah Paulus bekanntlich ganz anders, der in seinem Brief an die Römer schreibt: »Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist; ich bin aber fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue; denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich. (…) So ich aber tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt. (…) Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« (7,14–24)

Augustinus argumentierte ganz auf dieser Linie, weil auch für ihn dieser Ungehorsam des Körpers Frucht und Folge der Erbsünde ist, denn er schreibt im Gottesstaat dazu: 1488 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Denn worin sonst besteht des Menschen Elend wenn nicht im eigenen Ungehorsam gegen sich selbst, da er nun (nach Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies) will, was er nicht kann, während er einst nicht wollte, was er konnte? Denn obwohl er im Paradiese vor dem Sündenfall nicht alles konnte, wollte er doch auch nicht, was er nicht konnte, und konnte darum alles, was er wollte.« (II,188)

Wie weit der ehemalige Lutheraner Plessner sich vom christlichen Menschenbild entfernt haben muß und wie entschieden Plessner der überkommenen theologisch orientierten Anthropologie eine profan phänomenologisch orientierte Anthropologie entgegengestellt hatte, scheint der protestantische Theologe Wolfhart Pannenberg gespürt zu haben, weil er in seiner Anthropologie in theologischer Perspektive an Plessners Konzept exzentrischer Positionalität moniert, das Ich könne und dürfe sich durch sein Selbstbewußtsein nicht selber gründen, weil es diese Einheit seiner mit sich selbst immer nur durch die Gnade Gottes empfangen könne, denn: »Die fundamentale Gebrochenheit der menschlichen Daseinsform (durch die Erbsünde) besteht darin, daß die Spannung zwischen zentraler Organisationsform und Exzentrizität immer schon zugunsten der ersteren, zugunsten der Zentralinstanz des Ich, aufgelöst ist, statt umgekehrt durch Aufhebung des Ich in den Vollzug seiner wahren, exzentrischen Bestimmung. Die Gebrochenheit ist noch nicht, wie Plessner meinte, mit der Tatsache der Selbstreflexion als solcher gegeben. Selbstbewußtsein und Selbstreflexion enthalten nicht nur die Unterscheidung zwischen demjenigen, der sich seiner bewußt wird, und demjenigen, als der er sich bewußt wird, sondern auch die Einheit der so unterschiedenen Seiten. Die Tatsache der Selbstreflexion veranlaßt zunächst nur die Frage, wie diese Einheit, als die das Selbstbewußtsein sich erfährt, konstituiert ist. Erst die Tatsache, daß das Selbstbewußtsein seine Einheit immer schon konstituiert hat durch sich selber, macht die Gebrochenheit der menschlichen Lebensform aus, weil sie im Widerspruch steht zu dem strukturell begründeten Sachverhalt, daß das Ich keineswegs sich selbst zu konstituieren vermag, sondern darauf angewiesen ist, die Einheit seiner mit sich selber (und so sich selbst) in jedem Augenblick seiner Existenz aufs neue zu empfangen.« 47

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Helmuth Plessner

Von hier aus gesehen wird wieder einmal deutlich, wie konsequent Helmuth Plessner das Menschenbild und den emanzipatorischen Impuls der deutschen Aufklärung aufgreift und fortführt, indem er das im biblischen Mythos dargestellte Szenario von Sündenfall, Erbsünde und Vertreibung aus dem Paradies mit Herder nicht als Katastrophe, sondern als primordiale Emanzipation zur Mündigkeit wertet und mit Herder sagen könnte: »Der Mensch ist der erste Freygelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Wage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwey freye Hände zu Werkzeugen gab, und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten: so hat er auch die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch (…) selbst Gewicht zu seyn auf der Wage! (…) Wie es mit der getäuschten Vernunft ging, so gehet’s auch mit der mißbrauchten oder getäuschten Freyheit; sie ist bey den meisten das Verhältniß der Kräfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Gewohnheit sie festgeschnallt haben. Selten blickt der Mensch über sie hinaus, und kann oft, wenn niedriger Triebe ihn fesseln, und abscheuliche Gewohnheiten ihn binden, ärger als ein Thier werden.« (3,173)

Daß der tendenziell unverfügbare Selbstlauf des Körpers bei bestimmten Verhaltensweisen und in bestimmten Situationen als eine Form momentaner Selbstentfremdung empfunden wird, leugnet auch Plessner keineswegs, sondern betont dies eigens noch. Die Frage ist nur, wie man diese Erfahrung bewertet, ob als »Elend« wie Paulus und Augustinus, oder als notwendige Etappe im uroborischen Durchgang durch eine Krise der Personalität, wie Plessner es sieht. Und er sieht es mit Recht so! Derartige Momente der Selbstentfremdung sind immer zugleich auch Momente der Desorganisation und Desorientierung, weshalb es aufschlußreich ist, diese Formen von Desorientierung und Desorganisation mit anderen zu vergleichen, und deshalb schreibt Plessner: »Diese Desorganisation stellt sich aber verschieden dar, je nachdem, ob die Unbeantwortbarkeit der Situation einen lebensbedrohenden Charakter hat oder nicht. Unbeantwortbare und zugleich bedrohende Lagen erregen Schwindel. Der Mensch kapituliert als Person, er verliert den Kopf. Symptome, die vom Drehschwindel her bekannt sind, wie

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Schweißausbruch, Übelkeit, Erbrechen und Ohnmacht können, wie bekannt, in gleichen Existenzkrisen höherer Ordnung auftreten. (…) Unbeantwortbare und nicht bedrohende Lagen dagegen erregen Lachen und Weinen. Der Mensch kapituliert als Leib-Seele-Einheit, d. h. als Lebewesen, er verliert das Verhältnis zu seiner physischen Existenz, aber er kapituliert nicht als Person. Er verliert nicht den Kopf. Auf eine unbeantwortbare Lage findet er gleichwohl – kraft seiner exzentrischen Position, durch die er in keiner Lage aufgeht – die einzig noch mögliche Antwort: von ihr Abstand zu nehmen und sich zu lösen. Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort, nicht mehr als Instrument von Handlung, Sprache, Geste, Gebärde, sondern als Körper.« (VII,275 f.)

Wie der Kirchenvater Clemens von Alexandria, der früheste Anthropologe der Christenheit, und ganz anders als Augustinus, der im Körper den Feind sah, sieht also auch Plessner im Körper als »den Gefährten und Verbündeten der Seele.« 48 Vielleicht hätte Plessner hier schreiben sollen: Der Körper übernimmt diese Antwort nicht als Körper, sondern als Leib, doch das hat er wohl auch gemeint, genau wie Clemens, weil der hier wirksame uroborische Impuls es ist, der die Rückgewinnung der exzentrischen Positionalität nach deren Implosion und dem Durchgang durch momentane Desorganisation, Desorientierung und Selbstentfremdung sichert. So gesehen ist es also gar nicht nötig, sich in allen Situationen voll im Griff zu haben und über seinen Körper uneingeschränkt verfügen zu können, weil wir im uroborischen Impuls über eine leib-immanente Schutzfunktion verfügen, der man sich immer anvertrauen kann. Die Einheit unserer selbst empfangen wir also nicht, wie Pannenberg behauptet, von außen durch Gnade, sondern durch den uns eingeborenen uroborischen Impuls. Diese Schutzfunktion manifestiert sich übrigens auch in wirklich bedrohlichen Lagen, wenn uns eine Ohnmacht oder eine Amnesie die Wahrnehmung dieser bedrohlichen Situation und die Erinnerung an sie wohlwollend erspart, und so ist der uroborische Impuls dasjenige Element im menschlichen Verhalten, das unser Vertrauen in die eigene Leiblichkeit ermöglicht, sodaß wir uns einigermaßen vertrauensvoll und ohne Angst vor Selbstverlust in derartige Krisen der Personalität wagen können, weil wir wissen, daß 1491 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wir, wenn wir fallen, nicht ins Bodenlose fallen, sondern »wie in einen Heuhaufen«. In frömmeren Zeiten sprach man hier von Gottvertrauen 49, nach der anthropologischen Wende durch Johann Gottfried Herder und Ludwig Feuerbach, in deren Tradition auch Plessner 50 steht und argumentiert, mußte man nach einer anderen Art von Geborgenheit 51 suchen und hat sie auch gefunden: Es ist die »Grunderfahrung« 52 der Geborgenheit in der eigenen Leiblichkeit. Da die Erbsünden-Ideologie immer noch in einer profanen Variante als Theorem der Selbstentfremdung virulent ist, ist es aufschlußreich, kurz auf Plessners Haltung dazu einzugehen und dieses Problem noch mal von einer anderen Seite her zu beleuchten. Plessner geht darauf in den späten Texten Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung (1960) und Homo absconditus (1969) ein und polemisiert dort heftig gegen diese Ideologie, die auch für ihn aus der christlichen Erbsündenlehre 53 stammt und im soziologisch-politischen Kontext als Gleichsetzung von Rollenhaftigkeit und Selbstentfremdung auftritt: »Die Marxsche Lehre von der Selbstentfremdung des Menschen hat bis heute ein Prinzip des Idealismus (und der christlichen Erbsündenlehre) virulent gehalten, daß der Mensch mit sich identisch werden müsse weil er es einmal gewesen sei und an dieser Grundfigur des Zusammenfallens von Innen und Außen die Voraussetzung seiner geistig-sittlichen Freiheit besitze. Mit sich eins, zu sich gekommen, für sich selbst geworden: diese Formeln enthalten ebenso einen ethischen Anspruch wie eine theoretische Aussage, einen Appell wie ein Urteil.« (X,230)

Und deshalb gelte es, den seiner selbst entfremdeten Menschen zu sich selbst zurückzuholen und dadurch wiederum neu zu vermenschlichen. Ganz analog dazu heißt es in dem Aufsatz Homo absconditus von 1969, also auf dem Höhepunkt neomarxistischer Schwärmerei, in enger Anlehnung an die letzten Sätze der Stufen, wo Plessner sich deutlich von der regressiven Heimkehr-Ideologie des Romantikers Novalis 54 abgesetzt hatte: »Selbstentfremdung suggeriert (die Möglichkeit und Notwendigkeit von) Heimkehr aus der Fremde. Das ist die ins Heroische gewandte Verweisung auf eine innerhalb der Geschichte Europas sich abzeichnende

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zweite Geschichte. Aber der Mensch hat sich (durch die ihn sich angeblich seiner selbst entfremdende Arbeit) nie verlassen. Keine Art von Arbeit hat ihn je von sich entfremdet. Und keine Art von Arbeit kann ihn um seine Möglichkeiten bringen. So kehrt denn der Mensch auch nie zurück. Auf die dem Marxismus inhärente Romantik von Entfremdung und Heimkehr müssen wir verzichten und uns ihren illusionären Charakter eingestehen.« (VIII,365 f.)

Diese neomarxistische Romantik aus dem Geiste von Novalis und Marx kontert Plessner nun mit dem Postulat der prinzipiellen und unabdingbaren Rollenhaftigkeit menschlicher Existenz, die er leider etwas mißverständlich als »Doppelgängertum« bezeichnet. Gemäß diesem Postulat erscheint der Mensch »als ein Wesen, das sich nie einholt. Entäußerung (in einer sozialen Rolle) bedeutet keine Entfremdung seiner selbst, sondern (…) die Chance, ganz er selbst zu sein« (X,237), denn der Mensch ist nur das, »wozu er sich macht und versteht.« (X,240) Und das heißt: Rollenhaftigkeit ist seine eigentliche menschliche Natur, denn keine Rolle gibt es nicht. Diese prinzipielle und unhintergehbare Rollenhaftigkeit menschlicher Existenz entfaltet sich jedoch nicht für einen Robinson, der allein auf seiner einsamen Insel lebt, sondern nur im gesellschaftlichen Leben, also im rollenhaften Zusammenspiel mit Mitmenschen, die ebenso rollenhaft agieren. Und deshalb betont Plessner in enger Anlehnung an Karl Löwiths Studie 55 über das Individuum in der Rolle als Mitmensch: »Am anderen wird der Mensch seiner habhaft. Diesen anderen trifft er auf dem Umweg über die Rolle, genau wie der andere ihn. Immer vermittelt das Rollenspiel als Gelenk den zwischenmenschlichen Kontakt, soweit er sozial relevant ist und dem Austausch von Leistungen dient.« (X,224)

Denn: »Der Abstand, den die Rolle schafft, im Leben der Familie wie in dem der Berufe, der Arbeit der Ämter, ist der den Menschen auszeichnende Umweg zum Mitmenschen, das Mittel seiner Unmittelbarkeit. Wer darin eine Selbstentfremdung sehen wollte, verkennt das menschliche Wesen und schiebt ihm eine Existenzmöglichkeit unter, wie sie auf vitalem Niveau die Tiere und auf geistigem Niveau die Engel haben. Die Engel spielen keine Rolle, aber die Tiere auch nicht.« (X,224)

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Und ganz so, wie der Mensch, soziologisch gesehen, nur am Anderen, also am Mitmenschen, seiner selbst habhaft wird und merkt, wozu er sich machen und als was er sich verstehen kann, so erkennt der Mensch, anthropologisch gesehen, auch nur am anderen seiner selbst, also an den Grenzen und Krisen seines eigenen Verhaltens sich selbst. So gesehen ist auch hier in den krisenhaften Situationen diese momentane Selbstentfremdung kein Selbstverlust, sondern nur der Umweg zu sich selbst. Dafür sorgt allein schon der uroborische Impuls, weil er gewährleistet, daß diese Selbstentfremdung in der Fassungslosigkeit z. B. eines ekstatischen Lachausbruchs sich immer wieder selbst verzehrt und den vorigen Status der Gefaßtheit wieder herstellt. 2.17.4.3 Die Expressivität des Lachens Zu den primitivsten, aber offenbar unausrottbaren Deutungen von Lachen und Weinen gehört die These, man lache aus Freude und weine aus Trauer oder Schmerz. Die kulturelle Ritualisierung beider Verhaltensweisen durch Komödie und Tragödie hat diese extrem verengte Sicht auf die Phänomene Lachen und Weinen denn auch stark gefördert und vermeintlich bestätigt. Diese angeblich konstitutive Konnotation fegt Plessner mit Recht entschlossen vom Tisch, indem er eine ganze Reihe von Situationen benennt, in denen man zu weinen pflegt, aber weder Trauer noch Schmerz empfindet: »Woher kommen (dem Menschen) die Tränen des unverhofften Glücks, der Liebe, der Wollust, der Befreiung, der Bekehrung, der Andacht, des Hingerissenseins, der Erhebung? Was rührt ihn auf dem Gipfel der Erfüllung, da jeder Druck alles Dunkle und Schmerzende-Niederziehende von ihm gewichen, und die Unermeßlichkeit eines neuen Lebens vor ihm sich auftut?« (VII,254)

Analoges könnte man über das Lachen sagen, z. B. über das Lachen aus Verlegenheit oder Verzweiflung, das Auflachen aus Erleichterung oder Trotz und dergleichen mehr. Um hier etwas mehr Klarheit zu schaffen, unterscheidet Plessner zunächst einmal verschiedene Formen von Expressivität – hier 1494 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nennt er die Sprache, sowie Gesten und Gebärden (vgl. VII,255) – und prüft dann, welche dieser Formen sich ineinander übersetzen oder gegeneinander austauschen lassen: »Die Sprache bedient sich artikulierter Laute als Zeichen für Bedeutungen, die ohne Bindung an den Affekt und die Situation des Sprechenden den Sachverhalt ausdrücken.« (VII,255)

Neben diesen »kognitiven Aussagen« 56 hat die Sprache aber noch pragmatisch dimensionierte Funktionen wie Appell, Ausdruck und Performanz, doch all diesen sprachlichen Funktionselementen ist gemeinsam, daß sie etwas bedeuten, das man immer auch etwas anders formulieren könnte, ohne diese Bedeutung im Kern zu verändern. Allerdings gibt es auch sprachliche Elemente, deren Bedeutung nicht fest vorgegeben ist, sondern die ihre Bedeutung aus der jeweiligen Situation beziehen, in der sie gebraucht werden. Ich meine damit die »Indikatoren«57, also z. B. Orts-, Zeit- und PerformanzAdverbien (hier, dort, gestern, jetzt, hiermit, so etc.) oder Personalpronomina (ich, wir etc.), deren Bedeutungslatenz sich darin zeigt, daß man nur versteht, was damit gemeint ist, wenn man die Situation teilt, in der sie verwendet werden, weil sie sich gemäß der jeweiligen Situation immer wieder neu semantisieren. Diese Bedeutungslatenz der Indikatoren und performativen Sprechakte kennt Plessner jedoch nicht, weil er all seine Werke lange vor dem linguistic turn der Philosophie geschrieben hat. Wenn wir deshalb mit spezifisch erweitertem Vorverständnis nachprüfen, was er über Sprache, Gesten und Gebärden zu sagen hat, werden sich einige Ergänzungen und Korrekturen nicht vermeiden lassen, weil Plessner dazu neigt, sprachliche Operationen allzu schnell auf kognitive Aussagen zu reduzieren. Zunächst unterscheidet er Gesten und Gebärden: Unter Gesten versteht er Verständigungshandlungen, die dem kulturellen Wandel unterworfen sind und problemlos in rein sprachliche Handlungen übersetzt oder durch sie ersetzt werden können, weshalb er auch vom »Stellvertretungscharakter der Gesten« (VII,255) spricht: »Das Wedeln mit dem Schwanz ist eine Ausdrucksbewegung des Hundes und keine Geste wie etwa das Hochziehen der Schultern oder das Schütteln des Kopfes beim Menschen. Wenn wir ein Auge zukneifen,

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die Nase rümpfen, eine Handbewegung machen, dann geben wir jemandem in einer bestimmten Situation damit etwas zu verstehen, weil wir unter den Menschen, besonders unter Angehörigen derselben Tradition, voraussetzen dürfen, daß sie die Stellvertreterschaft dieser Zeichen für Sätze verstehen und aus der Situation den gemeinten Sinn auch ohne Worte erfassen. Wo aber, wie beim Tier, die Möglichkeit überhaupt verschlossen ist, Sinn als Sinn, d. h. auf Grund von Sachverhalten, zu meinen und aufzufassen, kann es auch keine Gesten geben, die in allegorisch-metaphorischer Funktion viel, ja alles sagend durch Worte ersetzen.« (VII,255 f.)

Eine solche auf sprach-analogen Gesten beruhende »Gebärdensprache« (VII,257) oder »instinktive Gestik« (VII,257) sind Lachen und Weinen laut Plessner aber nicht, weil sich gegen diese Deutung gleich drei Argumente anführen lassen: • »die allgemeine Verbreitung von Lachen und Weinen bei allen Völkern und zu allen Zeiten (also der kulturinvariante Charakter dieser Verhaltensweisen); • ihr zwangsweises Eintreten und Ablaufen in bestimmten Situationen (also ihre tendenzielle Unverfügbarkeit); • und schließlich ihr rein expressiv-reaktiver Charakter, ihr Mangel einer dem Lachenden oder Weinenden bewußten Zeichenfunktion.« (VII,257) Und dann rügt er wieder einmal die Tierfreunde wegen ihrer Tendenz, tierisches Verhalten zu vermenschlichen, weil diese »sich und ihre Schützlinge mißverstehen, wenn sie deren Ausdrucksbewegungen zu Gesten erhöhen.« (VII,257) Für Arthur Schopenhauer, den prominentesten dieser Tierfreunde, war klar, daß ein Hund mit dem Schwanzwedeln lächelt, wenn er seinen Herrn begrüßt, denn Schopenhauer versteht »das so ausdrucksvolle, wohlwollende und grundehrliche Wedeln« als eine dem Hund »von der Natur eingegebene Begrüßung« (II,115). Er hätte nur noch hinzufügen müssen, daß ein Hund dabei auch den Blickkontakt zu seinem Herrn sucht und mit dem Wedeln sofort aufhört, wenn man diesen Blickkontakt verweigert. Wem soll man nun glauben, Plessner oder Schopenhauer? Die Frage beantwortet sich sofort, wenn wir uns vor Augen halten, daß Plessners Argumentation durch einen doppelten Reduktionismus 1496 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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geprägt ist, weil er zum einen Sprache auf die Vergegenwärtigung von Sachverhalten, also auf kognitive Aussagen reduziert, und zum anderen das Lachen auf das tendenziell unverfügbare eruptive Bekundungs-Lachen, denn das durch einen Blickkontakt adressierte tendenziell verfügbare Interaktions-Lachen hat sehr wohl einen »meinenden Charakter« (VII,257) und damit eine Zeichenfunktion und tritt auch nicht »zwangsmäßig« ein, sondern kann ad hoc abgerufen und eingesetzt werden, und außerdem hat es nicht nur »Antwort-Charakter«, sondern kann auch die Funktion von Anrede, Appell und Frage in nicht-sprachlicher Form übernehmen, und außerdem sind alle Formen von Interaktions-Lachen performative Akte nicht-sprachlicher Art, die als solche immer und grundsätzlich meinenden Charakter haben. Demnach wäre das Interaktions-Lachen in all seinen Graden von Intensität im Sinne Plessners eine Geste, das Bekundungs-Lachen hingegen eine »echte Ausdrucks-Gebärde, geprägt durch Unvertretbarkeit, Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit« (VII,262). Dazu kommt, daß Lachen und Weinen unmißverständliche Formen von Expressivität sind, die sofort »unter die Haut gehen«, weil sie durch intuitive Resonanz und synergetische Einleibung »mit dem Bauch«58 ohne Reaktionszeit wahrgenommen und verstanden werden, denn: »Bei kaum einer anderen Expression fällt es uns leichter, Echtheit und Unechtheit zu unterscheiden. Der akustische Eindruck kann den optischen kontrollieren. Mehr noch: er zieht uns in seinen Bann, er steckt an. Wir können echtem Lachen und Weinen gegenüber nur mit Überwindung unbeteiligte Zuschauer bleiben. Stärker als jedes andere mimische Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen und machen uns zu Partnern ihrer Erregung, ohne daß wir wissen warum. Dieser mitreißenden Kraft entspricht auf der Seite des Lachenden und Weinenden jene Hingerissenheit, jenes Überwältigtsein vom eigenen Ausdruck, das seiner distanzierten Verwendung im Sinne einer Gebärdensprache ebenso entgegen ist wie seiner beliebigen Erzeugung. (…) So scheinen (!) Lachen und Weinen die Wesenszüge des mimischen Ausdrucks in reinster Ausprägung und größter Intensität zu zeigen.« (VII,262)

Dies scheint aber laut Plessner nur so zu sein, denn im Unterschied 1497 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zu sonstigem Ausdrucksverhalten wie Zorn, Scham, Freude etc., die Äußerungen eines Gefühls sind, gleichsam die Veräußerung eines Inneren 59, drückt sich in Lachen und Weinen für Plessner überhaupt kein Gefühl aus, denn er betont ausdrücklich: »Im Unterschied zu den emotional geführten Expressionen, in denen eine Stimmung, eine Gemütsbewegung sich auslebt, in die sie ausstrahlt, fehlt bei ihnen (bei Lachen und Weinen) dieser Übergang vom Inneren ins Äußere. Lachen und Weinen – hierin zeigt sich ihre Zusammengehörigkeit, weil Zugehörigkeit zu einem besonderen Genus menschlicher Ausdrucksweise – kann der Mensch nur, wenn er sich ihnen überläßt. Er verfällt ins Lachen, er läßt sich fallen – ins Weinen.« (VII,273)

Da das Lachen und Weinen in den intensiveren atmungsrelevanten Formen aber gestotterte Atmung ist, beim Lachen gestotterte Ausatmung, beim Schluchzen gestotterte Einatmung, liegt hier sehr wohl ein Übergang vom Inneren ins Äußere vor, doch dieses »Innere« muß nicht unbedingt ein Gefühl sein, das sich hier manifestiert, denn: »Im Gegensatz zur mimischen Ausdrucksgebärde stellt sich das Genus von Lachen und Weinen als eine Äußerungsweise dar, bei welcher der Verlust der Beherrschung im Ganzen Ausdruckswert hat.« (VII,274))

Damit sind Lachen und Weinen, oder genauer: Bekundungs-Lachen und Weinen höchst paradoxe Verhaltensweisen, in denen nicht ein privates »Inneres« eruptiv nach außen drängt, sondern die Situation verdeutlicht wird, in der sich jemand akut befindet, und wenn man hier überhaupt von einem Inneren reden will, das sich hier veräußerlicht, so ist dies allenfalls eine »innere Haltung« im Sinne von Jürg Zutt, oder genauer: der Zusammenbruch eben dieser inneren Haltung. Doch, so wäre auch zu fragen, muß man denn überhaupt nach einem »Inneren« fragen, das sich da nach außen quetscht? Und da man dieses »Innere« als Gefühl zu verstehen pflegt, wäre weiter zu fragen, ob Gefühle überhaupt »innen« sind. Und vor allem wäre zu fragen, wo denn dieses »Innen« ist? Sollte man nicht auch hier Goethes Warnung beachten, ja nichts »hinter den Phänomenen« 60 zu suchen, da sie sich sehr wohl auch selbst erklären können, also auch nichts hinter dem Verhalten, und auch nicht hinter dem ex1498 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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pressiven Verhalten? Und wenn man schon unbedingt nach Gefühlen suchen will: Könnte man dann Gefühle nicht auch als den strukturellen Zusammenhang und die atmosphärische Gestimmtheit von personalen Verhaltens-Szenarios 61 verstehen? So gesehen ist dann eben z. B. Neid der scheele, lauernde Blick selbst und nicht das Gefühl »dahinter«, das tief in uns drinnen irgendwo wabert und diesen Blick nach außen sendet, und Haß ist dann eben der gehemmte Angriff selbst und nicht das Gefühl »dahinter«, das ebenso tief in unserem Inneren brodelt und diesen Angriff antreibt und zugleich auch wieder bremst. Hier ist ein Blick auf Laurent Jouberts Traité du Ris aufschlußreich, dessen zentrale These lautete: »Le Ris et effait d’une passion qu’il denote.« (S. 167) Auf deutsch: »Lachen ist die Wirkung einer affektiven Anmutung, die es wiederum denotiert, d. h. die es mimetisch vergegenwärtigt oder die es in ihrem Wesen mimetisch kenntlich macht und zum Ausdruck bringt.« Man könnte auch übersetzen: »Lachen ist die Signatur der affektiven Anmutung, durch die es ausgelöst wird.« Oder noch allgemeiner und noch spezieller, weil all dies nur für das Bekundungs-Lachen gilt: »Das Bekundungs-Lachen ist immer die Wirkung und die Signatur eines affektiv relevanten Widerfahrnisses und damit einer affektiv relevanten Situation.« Gemeint ist damit, daß z. B. das Plötzliche des komischen AhaErlebnisses im eruptiven Charakter des Lachausbruchs sichtbar wird, oder das Ambivalente einer risiblen Anmutung in der Gestottertheit dieser Eruption, oder daß die epikritischen BerührungsPointen beim Kitzel im Gekicher des Gekitzelten mimetisch vergegenwärtigt werden. All dies klingt eigentlich auch ganz plausibel, obwohl es Plessners These strikt zu widersprechen scheint. Doch das scheint nur so, denn wir können Plessners These auch so verstehen, daß Lachen und Weinen die Signatur der Krise sind, in der sich jemand akut befindet, und diese Krise ist eine Krise der exzentrischen Positionalität als momentane Implosion der exzentrischen Positionalität zur zentrischen. Das Verhalten beim Lachen und Weinen zeigt es ja auch, denn ablesbar ist diese Krise an all dem, was die Signatur exzentrischer Positionalität in Gestus, Vultus, Habitus, Atmung, Wachheit, Orientierung und Besonnenheit ausmacht: 1499 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Körperliche Vorgänge emanzipieren sich. Der Mensch wird von ihnen geschüttelt, gestoßen, außer Atem gebracht. Er hat das Verhältnis zu seiner physischen Existenz (erst mal) verloren, sie entzieht sich ihm und macht gewissermaßen mit ihm was sie will. Gleichwohl empfindet man diesen Verlust als Ausdruck für eine und Antwort auf eine entsprechende Situation.« (VII,274)

Doch dieser Zusammenbruch der Personalität ist nur ein vorübergehender, denn die exzentrische Poniertheit wird alsbald wiedergewonnen, weil sich dieser Einbruch, so tief er auch aktuell sein mag, uroborisch wieder selbst verzehrt, und so sieht es ja auch Plessner selbst, der hier eine Art von organischer Vernunft walten sieht, denn er schreibt eben auch: »Die Desorganisation des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner physischen Existenz wird zwar nicht gewollt, aber – indem sie sich überwältigend einstellt – doch nicht bloß hingenommen und erlitten, sondern als Gebärde und sinnvolle Reaktion verstanden. In der Katastrophe noch, die sein sonst so beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch. Durch das Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwangshaft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und (uroborisch) wieder hergestellt. Die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig entsprechende Antwort.« (VII,274)

Das würde also, mit Joubert gesprochen, heißen, daß sich im eruptiven und uroborisch sich selbst wieder verzehrenden Lachen der Sturz in eine akute Krise der Personalität und deren Überwindung denotiert, denn auch das Widerfahrnis einer krisenhaften Situation ist eine »passion«, da man »passion« nicht unbedingt bloß im engeren Sinn als »emotionale Anmutung« oder als »Gefühl« übersetzen muß, sondern auch allgemein als »Widerfahrnis« verstehen kann, da Joubert als entschiedener Aristoteliker hier wohl die Aristotelische Unterscheidung von actio und passio im Auge hatte, als er dies schrieb. So gesehen argumentieren Joubert und Plessner hier also durchaus analog. 1500 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Doch wie steht es mit der Expressivität des Interaktions-Lachens, das im Sinne von Aristoteles eine typische actio ist, also ein verfügbares Verhalten? Da Plessner kaum einmal auf das Interaktions-Lachen explizit eingeht, muß man vorsichtig erschließen, wie dieser Teil der Lachpalette in seine gelotologische Theorie einzuordnen wäre. Ausgangspunkt für uns wäre hier Plessners Befund, daß das Lachen zwar »dem (jeweiligen) Anlaß entspricht und auf ihn reagiert«, doch »ohne von ihm geprägt zu sein.« (VII,277) Das heißt doch wohl, daß alles Lachen als solches bedeutungsleer ist und den Lach-Anlaß nicht denotiert, ihn also nicht mimetisch vergegenwärtigt, daß also z. B. das Lachen über einen Witz nicht anders klingt als das Lachen der Erleichterung oder das Triumph-Lachen eines Mittelstürmers, wenn er ein Tor geschossen hat, sofern alle drei von gleicher Intensität sind, und das dürfte auch stimmen. Doch all dies sind ja Formen des Bekundungs-Lachens, weshalb wir die Frage nach der Expressivität des Interaktions-Lachens noch mal und etwas anders stellen müssen. Um diese Frage zu klären, muß daran erinnert werden, daß Indikatoren sprachliche Elemente sind, die sich situationsspezifisch semantisieren, sich also je nach Situation mit Bedeutungen aufladen. Wenn, wie wir gesehen haben, Cicero die Forderung erhebt, das eutrapelistische Lachen müsse »unser« Lachen sein, das nur »wir« lachen, so muß eigens nachgefragt werden, und die Situation erschlossen werden, für wen dieses »wir« denn steht, weil diese beiden Indikatoren »wir« und »unser« eben bedeutungsleer, deshalb aber auch bedeutungsoffen sind. Ganz analog – so meine These – steht es mit der Frage, auf welche Weise das Interaktions-Lachen dem jeweiligen Anlaß entspricht und auf ihn reagiert. Doch was heißt das? Wie kann man rechtfertigen, daß wir vom »Hohnlachen«, vom »hämischen« Grinsen, »freundlichen« Anlachen, »verlegenen« oder »vielsagenden« Lächeln überhaupt reden, wenn Lachen doch bedeutungsleer sein soll? Wenn ich mit Plessner sage, Lachen sei bedeutungsleer und sei deshalb, anders eine mimische Geste, nicht ohne weiteres in eine sprachliche Handlung übersetzbar, so ist das eigentlich nicht genau genug. Ich müßte sagen: Lachen ist als Lachen bedeutungsleer, kann sich aber je nach Situation einschlägig semantisieren, und kann 1501 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dann sehr wohl als »verlegenes« Lächeln, »hämisches« Grinsen oder »höhnisches« Auslachen wahrgenommen werden, weil es dann Teil eines synergetischen Gesamtverhaltens von Verlegenheit, Häme oder Hohn ist. Analoges gilt für das Bekundungs-Lachen, das wir ebenfalls je nach der Situation wahrnehmen und benennen und dann z. B. als »erleichtertes« oder »verzweifeltes« Auflachen bezeichnen, weil die Situation, in der es gelacht wird, eine der Erleichterung oder der Verzweiflung ist. Wie diese situationsspezifische Semantisierung von Gesten funktioniert, läßt sich durch folgende Überlegung verdeutlichen: Wenn z. B. ein Autofahrer einem anderen den Vogel zeigt, weiß dieser sofort, was mit dieser Geste gemeint ist und könnte dies auch in einem Satz formulieren. Wenn ein Autofahrer hingegen die Lichthupe betätigt, ist dieses Signal als solches auch erst mal bedeutungsleer, semantisiert sich aber sofort durch die Situation und durch das Fahrverhalten des Autofahrers in dieser Situation und kann dann z. B. bedeuten: »Weg da!« oder »Du kannst die Vorfahrt haben.« oder »Vorsicht, dort hinten wird geblitzt.« Oder »Wir Porschefahrer sind eben doch die Elite.« Und dergleichen mehr. Ganz analog geschieht dies mit dem durch den Blickkontakt adressierten Interaktions-Lachen, das sich genau wie die an sich bedeutungsleere Lichthupe qua Situation semantisiert, sodaß man mit ihm dem Partner, mit dem man über Blickkontakt verbunden ist, etwas zu verstehen geben kann, das man prinzipiell auch sprachlich formulieren könnte. So könnte man ein hämisches Grinsen übersetzen mit dem Satz: »Das geschieht dir recht« oder ein freundliches Anlächeln mit dem Satz: »Ich mag dich leiden«. All diese Formen des Interaktions-Lachens sind also Verhaltensweisen mit »meinendem Charakter« (VII,257) und als solche wiederum performative Akte, die prinzipiell in performative Sprechakte übersetzt werden können. Da aber Situationen auch äußerst komplex sein können, kann ein »vielsagendes« Lächeln auch viel mehr zu verstehen geben als man in einen Satz fassen könnte, und dies zeigt, welch ein universelles Instrumentarium dieser »Kuleschow-Effekt« 62 des Interaktions-Lachens für die interpersonale Kommunikation darstellt. Wenn man nun bei Plessner weiterliest, möchte man fast mei1502 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nen, er habe Jouberts Traktat gekannt, obwohl er ihn mit ziemlicher Sicherheit nicht gekannt haben kann, weil er im Kapitel über Anlässe des Lachens (VII,277 ff.) sogleich auf die Fälle eingeht, die Jouberts These am deutlichsten stützen, und die Lach-Gebärden der Freude und des Kitzels analysiert, also, mit Joubert gesprochen, die Signatur oder das Denotat beider Widerfahrnisse in der jeweiligen Lach-Gestalt, die auf diese Widerfahrnisse antwortet, denn er schreibt hier: »Unsere These, daß die physische Äußerung des Lachens dem Anlaß entspricht und auf ihn reagiert, ohne von ihm geprägt zu sein – wodurch sie sich eben wesenhaft und nicht nur graduell von der (bedeutungsvollen) Gebärde unterscheide –, wird auf den ersten Blick durch zwei Auslösungsmöglichkeiten in Frage gestellt: durch Freude und durch den Kitzel. In beiden Fällen nämlich erscheint das Lachen als echte Ausdrucksgebärde, die von einem Zustand des Inneren in je verschiedener Weise ausgeprägt ist (der also ›effet‹ einer ›passion‹ im Sinne Jouberts ist). Da die Freude als ein sehr umfassender Status des Bewegtund Gehobenseins selbst wieder die verschiedensten Anlässe haben kann, muß die Untersuchung sich fragen, ob die Ausdrucksgebärde des freudigen Gestimmtseins echtes Lachen ist und worauf sie sich bezieht. Denn es ist keineswegs sicher, daß das, worüber man sich freut, den Grund darstellt, aus welchem man lacht.« (VII,277 f.)

Hier stutzt man erst mal und fragt sich einigermaßen verwundert, warum das Lachen, das die heitere Atmosphäre als Beispiel einer »gehobenen Stimmung« im Sinne Bollnows begründet, bekundet und trägt, kein »echtes Lachen« sein soll, weil gerade diese Art von Gelächter in der Tradition der eutrapelistischen Lachkultur von Aristoteles bis Kant geradezu als das echteste Lachen schlechthin angesehen worden ist. Ist es denn nicht selbstverständlich, daß eine Atmosphäre, die intuitiv »mit dem Bauch« aufgenommen wird, auch »mit dem Bauch« beantwortet wird, indem man sich in diese freudig gehobene Stimmung in mimetischer Resonanz 63 mitgehend einschwingt und dadurch denotiert? Dazu Plessner: »Richtig ist, daß in froher Stimmung dem Lachen jeder bittere Zusatz fehlt. Das Nicht-ernst-Nehmen 64 hält sich zumeist in den Grenzen der Harmlosigkeit. Man lacht leicht, aber flach. Die geringsten Anlässe genügen schon, um etwas komisch und amüsant zu finden. Je an-

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spruchsloser eine Gesellschaft ist, desto größer wird die Bereitschaft zu solcher Stimmung. Mit etwas Alkohol läßt sie sich leicht schaffen. Man neckt den anderen, zieht ihn auf, macht sich lustig. Damit Komik und Witz wirklich Tiefe bekommen, muß der Humor auf die Probe gestellt sein. Dann erst gewinnt Lachen Größe, weil ihm der Jubel beigemischt ist, der Siegesjubel über bezwungenen Schmerz. Die im Durchblick auf die wirkliche Unbeantwortbarkeit in der Essenz der Dinge erkämpfte und gleichsam gehärtete Leichtigkeit ist das beste Klima für ein voll heraufquellendes Lachen.« (VII,280)

Hat Plessner damit seine Einordnung in die alteuropäische Tradition eutrapelistischer Lachkultur, wie im frühen Werk Grenzen der Gemeinschaft sichtbar geworden ist, vielleicht wieder zurückgenommen? Oder soll das heißen, daß Lachen nur ab einem bestimmten und sehr hohen Grad von Intensität »echtes« Lachen ist? Oder soll es heißen, daß echtes Lachen als »Explodieren der Angstspitze« (Baader) nur auf dunklem Grund möglich ist, ganz so, wie Theodor Reik 65 und Paul Leroy 66 es in Anlehnung an Nietzsche als »Abzittern« oder »Ablachen« von tiefsitzenden Ängsten gesehen und beschrieben haben? Oder sind diese Sätze das Echo seiner biographischen Situation als verjagter Emigrant im besetzten Holland, der als Jude um sein Leben fürchten mußte? Der von Plessner hier verwendete Wortschatz, der durch die Beschwörung von Härte, Tiefe, Schwere, Größe und Ernst verblüffend an das existentialistische Vibrato des »Jargons der Eigentlichkeit«67 erinnert, könnte dies nahelegen. Aber das müssen wir hier nicht entscheiden. Viel wichtiger für unsere Fragestellung ist jedoch, daß sich dadurch in Plessners Argumentation die reduktionistische Versuchung einschleicht, die Vielfalt des Lachens auf einige wenige Formen des ekstatisch explodierenden Bekundungs-Lachens einzuschränken und allein diese als »echtes« Lachen gelten zu lassen. Hätte Heidegger, der Antipode Plessners schlechthin, sich zu diesem Thema jemals geäußert, hätte er wohl geschrieben: »Jeder lacht wie der Andere und Keiner als er selbst« und die eutrapelistische Lachkultur gesellig gepflegter Heiterkeit als »Gelache« und damit in Analogie zum »Gerede« gesehen und als »alltägliches Selbstsein« des Man 68 bestimmt und voller Verachtung verworfen. 1504 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Dieser reduktionistische Zug zeigt sich auch in Plessners Tendenz, Lachformen von verminderter Intensität wie das Kichern oder Lächeln aus dem Bereich des »echten« Lachens auszugrenzen und als Phänomen sui generis zu verstehen. Das ist ebenfalls einigermaßen verwunderlich, sodaß man fragen muß, wie es zu dieser seltsamen Behauptung kommen konnte, die den Grundgedanken von Plessners Ätiologie des Lachens sogar in Frage zu stellen droht. 2.17.4.4 Methodologische Zwischenbemerkung Im Kapitel über den Ursprung von Lachen und Weinen bezeichnet Plessner das Lachen als eine Antwort-Reaktion, »die zugleich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe verrät. Indem er (der Mensch) lacht, überläßt er seinen Körper sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn.« (VII,363) Diese Grundformel für die Ätiologie des Lachens wird dann näher erläutert und präzisiert, denn diese Entmachtung ist nur der eine Aspekt des Geschehens, der durch einen zweiten gekontert wird, und deshalb fährt Plessner fort: »Mit dieser Kapitulation als leibseelisch-körperliche Einheit behauptet er sich (aber) als Person. Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort; nicht mehr als Instrument für Handeln, Sprechen, Gesten, Gebärden, sondern in direktem Gegenstoß. Im Verlust der Herrschaft über ihn, in der Desorganisation bezeugt der Mensch noch Souveränität in einer unmöglichen Lage. Er zerbricht an ihr als geordnete Einheit von Geist, Seele, Leib, aber dieses Zerbrechen ist die letzte Karte, die er ausspielt. Indem er unter sein Niveau beherrschter oder wenigstens geformter Körperlichkeit sinkt, demonstriert er gerade seine Menschlichkeit: Da noch fertig werden zu können, wo sich nichts mehr anfangen läßt.« (VII,363 f.)

Was Plessner hier an zentraler Stelle seines Werks beschreibt, ist also ein höchst ambivalentes Verhaltensszenario als inniges Ineinander und Gegeneinander von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe 69, von Souveränität und Kapitulation. Diese Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe ist aber nur dadurch möglich, daß beide Haltungen einen polarkonträren Gegensatz mit beliebig vielen 1505 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Zwischenstufen bilden, in denen eben diese Ambivalenz wiederkehrt, sodaß es naheliegt, nach dem jeweiligen Grad von Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe bzw. nach dem jeweiligen Grad von Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung zu fragen und dann das jeweilige Lachen nach Maßgabe seiner Ausgeprägtheit oder Intensität auf dieser Skala zu verorten. Ganz analog dazu kann man dann auch fragen, wie weit man denn bei bestimmten Formen von Gelächter unter das jeweils vorgegebene Niveau beherrschter oder wenigstens geformter Körperlichkeit sinkt, und wie weit die Desorganisation des Verhaltens dabei geht. Vor allem aber müßte man erst einmal klären, wodurch sich das jeweilige individuell und kulturell geprägte Niveau beherrschter Körperlichkeit auszeichnet, weil wir eine Norm brauchen, nach deren Maßgabe der jeweilige Grad an Desorganisation überhaupt erst bestimmt werden kann. Diese Norm beherrschter Körperlichkeit nennt uns Plessner zwar nicht; sie läßt sich aber in etwa erschließen, wenn wir dem methodologischen Prinzip folgen, das er im Vorwort zur zweiten Auflage angibt, denn dort verweist er, gut phänomenologisch, auf einige propria hominis und schreibt: »Nur das Verhalten erklärt den Körper, nur die dem Menschen nach seiner Auffassung und Zielsetzung vorbehaltenen Arten des Verhaltens, (also) Sprechen, Handeln, Gestalten, Lachen und Weinen, machen den menschlichen Körper verständlich, vervollständigen seine Anatomie.« (VII,208)

Abzulesen wäre die hier gesuchte Norm beherrschter Körperlichkeit insbesondere an Gestus, Vultus, Habitus, Atmung, Wachheit, Besonnenheit und Artikulationsfähigkeit, also an der empirischen Norm 70 des »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne von Kurt Goldstein resp. am Status entfalteter »personaler Emanzipation« im Sinne von Hermann Schmitz, und das heißt: • beherrschte Bewegungen sind gezielt und gleitend; • ein beherrschtes Gesicht ist entspannt; • ein beherrschter Blick ist zielgerichtet; • eine beherrschte Haltung ist aufrecht, aber »mit Stütze«, also mit verfügbarer mittlerer Körperspannung; • beherrschte Atmung zeichnet sich aus durch die Symmetrie von Einatmung und Ausatmung; 1506 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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• beherrschte Artikulationsfähigkeit äußert sich in explikativer satzförmiger Rede, insbesondere in Form von kognitiven Aussagen und explizit performativen Sprechakten. Gerät diese Beherrschtheit des »ausgezeichneten Verhaltens« resp. der Statuts »personaler Emanzipation« mehr oder weniger verloren, werden die Bewegungen zu ziellos ruckhaften Zuckungen; das Gesicht verzerrt sich zur Grimasse; der Blick irrt ziellos umher oder wird starr; die aufrechte Haltung zerbricht; die Atmung wird keuchend oder gestottert durch die Asymmetrie von Ein- und Ausatmung, die allgemeine Wachheit ist mehr oder weniger getrübt und die Artikulation reduziert sich auf Lallen, Schreien, Stöhnen. All dies geschieht auch beim Lachen und Weinen in unterschiedlich intensiver Weise, sodaß man auch sagen kann, der mehr oder weniger massive Einbruch personaler Souveränität werde denotiert durch die mehr oder weniger massive Desorganisation der empirischen Norm des »ausgezeichneten Verhaltens« resp. der »personalen Emanzipation« und ist somit deren mimetische Signatur. Wenn man auf diese Weise Plessners Ausführungen durch die von Kurt Goldstein ergänzt, die Plessner über Buytendijk bekannt gewesen sein müssen, und somit im Sinne Plessners über Plessner hinausgeht, liest sich manches ganz neu, aber nicht weniger überzeugend, sondern noch spannender und erkenntnisträchtiger. Was Plessner als »echtes Lachen« bezeichnet, also das klassische Cachinnus-Gelächter, das als gestotterte Explosion aus uns herausplatzt, wäre dann eine besonders intensive Form von Gelächter mit maximaler Spannung zwischen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe. Das jederzeit verfügbare Interaktions-Lächeln, das alles und nichts bedeuten kann und unabdingbar zum gesellschaftlichen Rollenverhalten gehört und dieses allererst ermöglicht, wäre dann eine Form von Lachen bei minimaler Selbstpreisgabe und maximaler Selbstbehauptung. Und was Plessner als »leichtes aber flaches Lachen« und als Bekundung von Freude beschreibt, also das typische Lachen eutrapelistischer Lachkultur, wäre dann ein Lachen, bei dem sich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe bei geringer Intensität in etwa die Waage halten. Alle anderen Formen von Gelächter, das Kichern, Schmunzeln, Grinsen, Meckern, Wiehern etc. liegen dann auf der Intensitätsska1507 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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la irgendwo dazwischen und daneben, überformen Wachheit, Gestus, Vultus, Habitus und Atmung in je spezifischer Weise und können auf der Lachpalette dementsprechend verortet werden. Und dabei gilt: Je höher der Grad an Selbstbehauptung ist, desto höher ist auch der Grad an Verfügbarkeit des Lachens (und umgekehrt). Und außerdem gilt: Bei jeder Form von Interaktions-Lachen ist der Anteil an Selbstbehauptung und Verfügbarkeit prinzipiell höher als beim Bekundungs-Lachen, weil der beim Interaktions-Lachen unabdingbare Blickkontakt sofort ein Mindestmaß an Selbstbehauptung garantiert. Bricht dieser Blickkontakt ab, so schwindet sofort auch der Grad an Selbstbehauptung und damit sofort auch der Grad an Verfügbarkeit des jeweiligen Interaktions-Lachens und die Tendenz zur Selbstpreisgabe nimmt zu. Wenn man beim Verlegenheits-Lachen den Blick senkt, ist dies besonders deutlich zu studieren, denn dann kippt das Verlegenheits-Lachen ins Unverfügbare um. Auch einige andere Phänomene, für die Plessner keine Erklärung anbietet, erklären sich bei dieser Sicht der Dinge nunmehr wie von selbst: Die Gestottertheit des explosiven Lachens erscheint nun als die Signatur dieser innigen Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe; die uroborische Selbstverzehrung des Lachens und Weinens erscheint als die allmähliche Wiederherstellung des ursprünglichen Niveaus exzentrischer Positionalität vor dem Einbruch in Lachen oder Weinen; und die Vielfalt der Lachpalette erscheint als Signatur der unendlich vielen Zwischenstufen zwischen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, die nur bei einem polarkonträren Gegensatz sich ergeben können. Daß Plessner auch selbst die Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe als polarkonträren Gegensatz mit beliebig vielen Zwischenstufen gesehen haben muß, auch wenn er dies nicht explizit als Kriterium ausweist, wird daran deutlich, daß er verschiedene Lach-Arten und Lach-Situationen nach Maßgabe eben dieses Kriteriums einander zuordnet, denn anders ist es nicht zu verstehen, wenn er schreibt: »Beim Spielen (…) oder wieder in der Verlegenheit, von der Situation des Kitzels und der Verzweiflung gar nicht zu reden, überwiegt (!) die Hingenommenheit und Mitbeteiligung des ganzen Menschen zu sehr,

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als daß er aus vollem (!) Herzen und vollem (!) Halse lachen könnte. Der Mensch ist nicht frei genug (!), um den Unernst der Situation selbst noch auszukosten. So spannt sich von den unmittelbaren Anlässen der überschwenglichen Freude und des Kitzels bis zu den Grenzlagen (!) der Verlegenheit und Verzweiflung der Bogen (!) des Lachens. Der Scheitel (!) des Bogens, welcher den Anlässen der Komik und des Witzes zugeordnet ist, bezeichnet das Lachen in seiner vollen (!) Entfaltung.« (VII,330) 71

Was voll sein kann, kann aber auch mehr oder weniger voll sein, und deshalb muß es eben auch mehr oder weniger ausgeprägte Formen des Lachens geben können. Auch hier muß man wieder beklagen, daß Plessner so gut wie nie eigens auf das Interaktions-Lachen eingeht. Das ist seltsam genug, da ihm die fundamentale Unterscheidung von »Ausführung« und »Ausdruck«, von »zielgerichteter Handlung« und »ungezielter Ausdrucksbewegung« 72 durch seinen engen Freund F. J. J. Buytendijk bekannt gewesen sein muß, die, bezogen auf das Lachen, die Unterscheidung von Interaktions- und Bekundungs-Lachen ergibt. Eine plausible Erklärung für diese Lücke habe ich eigentlich nicht, es sei denn, daß der Plan, das Lachen in enger Verbindung mit dem Weinen zum Thema zu machen, Plessner dazu gebracht hat, das Interaktions-Lachen so konsequent auszuklammern, weil nur das Bekundungs-Lachen durch seine tendenzielle Unverfügbarkeit als Analogon zum prinzipiell unverfügbaren Weinen gelten kann, denn ein Interaktions-Weinen gibt es nicht; man kann niemanden anweinen, so wie man jemanden anlachen kann. Das InteraktionsLachen taucht nur einmal in expliziter Form kurz auf, wenn Plessner Bergson referiert, denn dort bezeichnet er das demütigende Auslachen eines Einzelnen durch eine Lachmeute als »jene billigste und schmutzigste Methode der Geselligkeit, welche durch Bergsons Deutung des Lachens als Auslachen sehr zu Unrecht einen kleinen Heiligenschein bekommen hat.« (VII,330) Trotzdem ist zu prüfen, ob sich nicht doch irgendwo Formen des Interaktions-Lachens in Plessners Darstellung gleichsam eingeschlichen haben, insbesondere dort, wo er das Lächeln behandelt. Wir werden sehen.

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2.17.4.5 Lach-Anlässe und Lach-Arten 2.17.4.5.1 Überblick Für alle Lach-Anlässe und Lach-Arten gilt laut Plessner, daß sie an existentiell unbedrohliche Situationen gebunden sind und daß diese Situationen durch die Anmutung von Ambivalenzen aller Art geprägt sind, die deshalb auch nicht eindeutig beantwortet werden können, es sei denn durch ein Antwortverhalten, das wiederum selbst in sich ambivalent ist, und ein solches Verhalten ist eben das Lachen. Man könnte auch sagen: Das ambivalente Verhalten Lachen denotiert die Ambivalenz der Situation oder ist die Signatur dieser ambivalenten Situation. Dieser Gedanke, den Platon in den gelotologischen Diskurs eingebracht hat, und der in allen erkenntnisträchtigen Theorien des Lachens, insbesondere bei Aristoteles, Joubert und Kant wieder auftaucht, wird nun auch von Plessner wieder aufgegriffen und weiter ausgebaut: »Unbeantwortbarkeit bei fehlender unmittelbarer Existenzbedrohung ist die notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung, die eine Situation erfüllen muß, um zum Lachen zu reizen.« (VII,328)

Die noch hinzukommende hinreichende Bedingung besteht für Plessner darin, daß der Mensch an diese Situation in irgendeiner Form gebunden sein muß, und zwar auch wieder in ambivalenter Form, also gebunden und doch nicht gebunden, sodaß er, bedingt durch seine exzentrische Positionalität und seinen utopischen Standort zugleich in der Situation und außerhalb ihrer steht: »Wenn sie keine Bindung auf den Menschen ausübt, wird er ohne jeden Aufwand an Kraft von ihr Abstand nehmen. Die Ablösung, die im Lachen sich anzeigt, – im Lachen quittiert der Mensch die jeweilige Situation, d. h. er bestätigt sie und er durchbricht sie –, geschieht gegen einen Widerstand. Nur dieser Widerstand erklärt die Spannung, die sich im Lachen löst, und er ist wiederum auf die Bindung bezogen, welche die Situation auf den Menschen ausübt. Sie hält ihn fest und verwehrt ihm zugleich jede Möglichkeit der Anknüpfung. Bestimmungen wie Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, Mehrsinnigkeit, Sinnüber-

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kreuzung sind auf diesen Antagonismus zwischen Bindung und Unbeantwortbarkeit bezogen.« (VII,328)

Man könnte also sagen, im Lachen, genauer: in den Formen des Lachens, bei denen das Maß an Selbstbehauptung größer ist als das Maß an Selbstpreisgabe, rüttelt der Mensch an den Fesseln, die ihn an eine bestimmte Situation binden: Er will sich von ihr ablösen und ist insofern schon über sie hinaus, ist aber gleichwohl immer noch an sie gebunden, und je stärker er an seinen Fesseln zerrt, desto fester binden sie ihn an die Situation. Wäre die Situation für ihn uninteressant, würde er auch nicht lachen, sondern sich achselzukkend abwenden, denn wir beantworten nur Situationen mit Gelächter, von denen wir glauben, daß sie uns irgendwie meinen. An Lach-Anlässen nennt Plessner die Freude, den Kitzel, das Spiel, Komik und Witz, sowie Verlegenheit und Verzweiflung. Diese sehr unterschiedlichen Anlässe lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß es sich • beim Lachen über Komisches um krisenhafte Prozesse mit Pointenstruktur handelt; • beim Lachen aus Freude, beim spielbegleitenden Lachen und beim erkitzelten Lachen um die gehemmte, hinhaltende Hingabe an eine Situation; • und beim Lachen aus Verlegenheit und Verzweiflung um die gehemmte Flucht aus einer Situation. Bevor wir jedoch auf diese drei Anlässe zum Lachen eingehen, müssen wir erst noch die Frage klären, wie Lachen und Lächeln zueinander stehen. 2.17.4.5.2 Lachen und Lächeln Als Plessners Buch über Lachen und Weinen 1941 in der Schweiz erschienen war, stellte der Philosoph und Psychologe Hans Kunz in seiner durchwegs positiven Besprechung die Frage, warum Plessner dort eigentlich nicht auf das Lächeln eingegangen sei und bat den Autor, dies bei einer nächsten Auflage des Werks nachzuholen. Als Lachen und Weinen 1950 dann tatsächlich in einer zweiten Auflage erschien, fühlte sich Plessner von der Bitte von Hans Kunz zwar immer noch geehrt, lehnte es jedoch ab, sein Buch umzu1511 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schreiben oder durch ein eigenes Kapitel über das Lächeln zu ergänzen, und schrieb deshalb einen Aufsatz über das Lächeln, der dann 1950 erstmalig in der Festschrift für den holländischen Religionswissenschaftler Gerardus van der Leeuw gleichzeitig mit der zweiten Auflage von Lachen und Weinen erschien. Diese deutliche Abtrennung der beiden Texte voneinander begründet Plessner damit, daß das Lächeln »eine Ausdrucksweise sui generis« (VII,206) sei, und deshalb in ein Buch über Lachen und Weinen eigentlich nicht gehöre. Plessners holländischer Freund, Kollege und Förderer F. J. J. Buytendijk hatte dies ganz anders gesehen, als er 1947 seinen Aufsatz Das erste Lächeln des Kindes 73 veröffentlichte, denn für ihn sind Lachen und Lächeln nur unterschiedliche Ausgeprägtheitsgrade ein und desselben Verhaltens, denn er schreibt dort: »Will man also das Lächeln als eine Anfangsform des Lachens betrachten, so genügt es nicht, festzustellen, daß das erstere oft in das zweite übergeht, sondern man muß auch wissen, ob bei diesem Übergang etwas ist, das sich ändert und doch auch dasselbe bleibt.« (S. 102)

Damit ist für Buytendijk klar, daß das atmungsrelevante Lachen und das atmungsirrelevante Lächeln zwei unterschiedliche Intensitätsgrade ein und desselben Verhaltens sind, und das leuchtet eigentlich auch sofort ein. Für Buytendijk ist das Lächeln ein paradoxes, vieldeutiges Verhalten, das irgendwo auf einer Skala zwischen Ernst und Lachen liegt, und je nach Situation immer neue Ausdrucks- und Anmutungs-Qualitäten annehmen kann. Ganz allgemein ist Lächeln für Buytendijk genau wie auch Lachen die Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, aber im kleinen, also quasi die Miniaturform des Lachens, aber von ganz analoger ambivalenter Struktur: »Das Paradoxe des Lächelns ist nun, daß es in einer aktiven Anspannung der Muskeln besteht, die als eine beginnende Entspannung einer aktiven Ruhehaltung erlebt wird. So ist das Lächeln der Ausdruck einer Schwellensituation, einer noch gerade nicht durchbrechenden Überschwenglichkeit, eines sich aufschließenden Geschlossenseins, eines selbstgenügsamen, immanenten Wohlbehagens und einer antizipierenden, transzendierenden Freude. Gleichzeitig liegt im Lächeln das Instabile, Flimmernde, Sprühende, das aller Freude

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eigen ist, sowie die Stabilität, Dauerhaftigkeit und Geschlossenheit der Ruhe.« (S. 117)

Dann führt er eine ganze Reihe von Beispielen an, aus denen hervorgeht, daß das Lächeln sowohl als mehr oder weniger reduzierte Form des Bekundungs-Lachens, z. B. als Schmunzeln oder Kichern, aber auch als mehr oder weniger reduzierte Form des InteraktionsLachens erscheinen kann, z. B. als Anlächeln (S. 107 ff.). Worauf Buytendijk überhaupt nicht eingeht, sind die aggressiveren Formen des Lächelns, z. B. das Grinsen. Klar wird aber, daß er Lachen und Lächeln als verschiedene Intensitätsgrade oder Aggregatszustände desselben Verhaltens betrachtet. Diesen Aufsatz hat Plessner mit Sicherheit gekannt, als er sein Vorwort zur zweiten Auflage von Lachen und Weinen schrieb, da er stellenweise sogar wörtlich auf ihn anspielt, ohne diese Verweise jedoch ausdrücklich kenntlich zu machen. Letztlich ist er Buytendijk aber doch in einigen wichtigen Punkten gefolgt, denn als Begründung dafür, daß das Lächeln eine »Ausdrucksweise sui generis« sei, führt er an, Lächeln sei »1) Keimform, Bremsform und Übergangsform für Lachen und Weinen, also mimischer Ausdruck im Umkreis nichtmimischer Expressionen; 2) mimischer Ausdruck ›von‹ und Geste ›für‹ eine unübersehbare Fülle von Gefühlen, Gesinnungen, Haltungen, Umgangsweisen und Zuständen wie Höflichkeit und Unbeholfenheit, Überlegenheit und Verlegenheit, Mitleid, Verständnis, Nachsicht, Dummheit und Gescheitheit, Mildheit und Ironie, Unergründlichkeit und Offenheit, Abwehr und Lockung, Staunen und Wiedererkennen; 3) Geste der (rollenhaften) Maske (keep smiling von Ostasien bis Amerika), die alles und nichts sagt, die repräsentative Gebärde schlechthin, insofern ein Spiegel der Exzentrizität (und Rollenhaftigkeit) als der uneinholbaren Abständigkeit des Menschen zu sich selbst.« (VII,206)

Wenn man diese Auflistung nun daraufhin befragt, welche Art von Lächeln zum Bekundungs-Lachen resp. zum Interaktions-Lachen gehört, zeigt sich, daß die unter 1) angeführten Kriterien für alle Formen von Lächeln gelten, weil es hier lediglich um den Grad an Ausgeprägtheit oder Intensität dieser Verhaltensweise geht, und 1513 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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hier paraphrasiert Plessner denn auch im wesentlichen die Ausführungen von Buytendijk, der ja das Lächeln als »Anfangsform des Lachens« und als »Schwellen-Phänomen« bezeichnet hatte. Wenn Plessner unter 2) anführt, Lächeln sei »Ausdruck und Geste«, so heißt dies doch wohl, daß es eine Keim-, Brems- und Ursprungsform von Bekundungs- und von Interaktions-Lachen sein kann, und die dann angeführten Beispiele bestätigen dies ja auch, da das Lächeln bei »Abwehr und Lockung«, also beim Flirten, eine besonders deutliche Form leiblicher Kommunikation ist, die über den Blickkontakt durchgespielt wird, der beide Akteure ineinander einklinkt. Das Lächeln des Staunens hingegen ist ein typisches unadressiertes Bekundungs-Lächeln. Und die unter 3) angeführten Beispiele, die bestimmte Formen des Lächelns als Elemente des gesellschaftlichen Rollenverhaltens beschreiben, gehören eindeutig in den Bereich des adressierten Interaktions-Lachens und werden von Plessner ja auch als Geste bezeichnet. Die nachgereichten Überlegungen zum Lächeln im Aufsatz von 1950 hätten, so gesehen, die Funktion, die in Lachen und Weinen fehlende Darstellung des Interaktions-Lachens nachzureichen und an die Ausführungen anzuknüpfen, die Plessner im frühen Werk Grenzen der Gemeinschaft über bestimmte Formen von heiterer Geselligkeit 74 vorgetragen hatte: »Ob stilisierte Geste (also als Interaktions-Lachen) oder unwillkürlicher Ausdruck (also als Bekundungs-Lachen), meidet das Lächeln die Extreme der affektgeladenen Grimasse und der explosiven Katastrophenreaktion des Lachens und Weinens. (…) In den Explosionen des Lachens und Weinens malt sich zwar nicht die Erregung, aber manifestiert sich der Verlust der Selbstbeherrschung als Bruch zwischen der Person und ihrem Körper.« (VII,423)

Im Unterschied zu explosiv gestottertem Lachen ist das Lächeln in all seinen Ausprägungen also gerade keine Krise der Personalität, oder genauer: noch keine Krise der Personalität und noch keine Implosion der exzentrischen Positionalität zur zentrischen, sondern immer noch ein tendenziell beherrschbares und verfügbares Verhalten. Das ist wohl auch der Grund dafür, daß selbst die entschiedensten Feinde des Lachens in stoischer und monastischer Tradition das Lächeln dulden konnten. 1514 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Vor allem aber ist das Lächeln in all seinen Formen atmungsneutral, also weder wie das Lachen gestotterte Ausatmung noch wie das Schluchzen gestotterte Einatmung, und deshalb schreibt Plessner auch, es sei »gedämpft, ein Ausdruck im Diminutiv«, denn ihm fehle »die grobe Affektentladung« (VII,423): »Lächeln kann Anfangs- und Endphase des Lachens sein, es kann auch Lachen vertreten. Eine Vertretung in umgekehrter Richtung freilich ist unmöglich, und die Unumkehrbarkeit läßt sich wiederum am einfachsten durch die Auffassung des Lächelns als eines verkürzten, verkleinerten, keimhaften Lachens begreifen. (…) So verhält sich denn das Lächeln zum Lachen wie das Liebeln zum Lieben: es hat etwas davon, es tut so als ob, es ist seine Vollform in der Verkürzung« (VII,424)

Mit einem Wort: Es ist der Diminutiv des Lachens, und somit verhält sich das Lächeln zum Lachen wie das Süffeln zum Saufen, das Hecheln zum Hauchen, das Grübeln zum Graben, das Stottern zum Stoßen, das Stochern zum Stechen, und das war ja auch die These von Buytendijk. Doch dann zuckt Plessner vor seiner eigenen Formulierung wieder zurück und behauptet: »In Wirklichkeit verhält es sich anders« (VII,425), denn das Lächeln sei in der Tat »eine Ausdrucksform sui generis« (VII,425), denn »mit dem echten Lachen hat das Lächeln, von gewissen Äußerlichkeiten vielleicht abgesehen, nichts zu tun.« (VII,426) Diese »Sonderstellung des Lächelns unter den mimischen Ausdrucksformen« (VII,426) begründet Plessner im wesentlichen mit seiner »Distanziertheit, Verschwiegenheit, Verhaltenheit«, also mit dem Umstand, »daß es im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt.« (VII,426) Damit ist klar, worin Plessner das zentrale Kriterium für die behauptete Sonderstellung des Lächelns sieht: Es ist nicht der Grad an Ausgeprägtheit oder Intensität, sondern der hohe Grad an Verfügbarkeit, der das Lächeln auszeichnet und vom »echten« Lachen unterscheidet, das für ihn ausschließlich das Bekundungs-Lachen ist, das als unverfügbares Widerfahrnis aus uns herausplatzt und das Plessner am deutlichsten in der »explosiven Reaktion auf Komik und Witz« (VII,426) gegeben sieht, wobei er allerdings auch Komik wieder auf Pointen-Komik reduziert. Ganz anders steht es mit dem adressierten Interaktions-Lachen, das Plessner mit Recht als »Geste« versteht, die 1515 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»der Verfügungsgewalt des Einzelnen unterworfen (bleibt), der sich mit ihr der gesellschaftlichen Konvention anpaßt. Sie kann das (Interaktions-)Lächeln ebensogut ersetzen wie das (Interaktions-)Lächeln umgekehrt die Geste des (Interaktions-)Lachens. (…) Das maskenhafte (Interaktions-)Lächeln des Asiaten und das burschikose (Interaktions-)›Lachen‹ des Yankees, so verschieden sie (hinsichtlich ihrer Intensität) sind, schaffen ein bestimmtes gesellschaftliches Klima. Daß sie es schaffen können, beruht jedoch auf der Erkenntnis von der weitgehenden (wenn auch nicht durchgehenden) Ersetzbarkeit des (Interaktions-)Lächelns durch die Geste des (Interaktions-)Lachens, welche die Distanziertheit des (Interaktions-)Lächelns, den Umstand also, daß es im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt, nachdrücklich bestätigt.« (VII,426)

Diese Ersetzbarkeit des Interaktions-Lachens quer durch all seine Intensitätsgrade, die sich an den jeweiligen kulturellen Standards orientieren, liegt jedoch darin, daß das Interaktions-Lachen in all seinen Intensitätsgraden ein tendenziell verfügbares Verhalten ist und deshalb auf unterschiedlichste Weise zum Instrument gesellschaftlichen Verkehrs ritualisiert werden kann, und da bevorzugen die Scham-Kulturen im fernen Osten eben eher die Umgangsformen »mit angezogener Handbremse«. Ob man jemanden anlächelt oder anlacht, ergibt sich dann nicht nur aus der aktuellen Situation, sondern auch aus dem Nomos der jeweiligen Gesellschaft, der ein bestimmtes Niveau an Intensität in den Umgangsformen als Norm vorgibt. Plessners These von der Sonderstellung des Lächelns ist, so gesehen, also letztlich dem Umstand geschuldet, daß er seine eigene Unterscheidung von Geste und Gebärde konsequent auf das Lachen überträgt und dementsprechend konsequent zwischen dem Interaktions-Lachen als Geste und dem Bekundungs-Lachen als Gebärde unterscheidet, aber nur das Bekundungs-Lachen als »echtes« Lachen gelten läßt, und deshalb ist das typische Yankee-Lachen für ihn nur ein Quasi-Lachen, weshalb er es auch im obigen Zitat in Anführungszeichen setzt. Hier liegt ein mehrfacher Reduktionismus vor: Einmal die Reduktion des Lachens auf das Bekundungs-Lachen, dann die Reduktion des Interaktions-Lachens auf das Interaktions-Lächeln 1516 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und schließlich die Reduktion des Lächelns auf das InteraktionsLächeln, denn Plessner schreibt: »Durch seine Distanziertheit gewinnt das Lächeln Bedeutung als Mittel und Ausdruck der Kommunikation. Man gibt sich lächelnd zu verstehen: gemeinsames Wissen um etwas, Gemeinsamkeit überhaupt, auch in der Form des Getrenntseins wie Triumph und Niederlage, Überlegenheit, Verlegenheit, Demut. Das Lächeln reagiert auf die Situation und bestätigt zugleich sich selbst und dem Anderen, daß man die Situation begreift und insofern ihre Bindung wieder gelockert hat.« (VII,428)

Diese Zugleichheit von Ergreifen und Ergreifenlassen, von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe vollzieht sich aber wesentlich im Blickkontakt, durch den das Lächeln dem Partner serviert wird, so flüchtig dieser Blickkontakt auch immer sein mag. Was ihm aber da serviert wird und was das jeweilige Lächeln meint, ergibt sich allein aus der jeweiligen Situation und dem sonstigen Verhalten beider Partner in dieser Situation, weil auch Lächeln als Lächeln bedeutungsleer ist und sich qua Situation erst semantisiert, genau wie das Lachen auch. Der Kuleschow-Effekt wirkt also auch hier. Dieser alles und nichts sagende multifunktionale Charakter des Lächelns in Verbindung mit seiner Verfügbarkeit ad hoc macht das Lächeln deshalb auch zur »Mimik des Geistes« resp. zur »Mimik der menschlichen (exzentrischen) Position« (VII,431), wie Plessner mit Recht bemerkt. Mit all diesen Überlegungen ist jedoch immer noch nicht die Frage geklärt, ob Lachen als unbeherrschte »Katastrophenreaktion« (VII,431) und Lächeln als distanzierte »Mimik des Geistes« (VII,431) tatsächlich verschieden intensiv ausgeprägte Formen ein und desselben Verhaltens sind. Daß Plessner dies bestreitet, liegt v. a. daran, daß er Lachen zwar als antagonistische Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe deutet, nicht aber nach den Graden dieser Verschränktheit fragt, also nicht nach dem Grad von Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe resp. von Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung. Tut man dies jedoch und geht dann mit Plessner über Plessner hinaus, so löst sich dieses Problem sofort, denn dann erscheinen Lachen und Lächeln in der Tat als Verhal1517 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tensweisen auf unterschiedlich hohem Niveau »beherrschter oder wenigstens geformter Körperlichkeit« (VII,364), das sich an Gestus, Vultus, Habitus und Atmung ablesen läßt. Die Rede vom unterschiedlich hohen Niveau beherrschter Körperlichkeit wirft aber sofort ein neues Problem auf. Es stellt sich nämlich die Frage, • ob Lachen und Lächeln kontinuierlich ineinander übergehen, ob das Lächeln also bruchlos zum Lachen gesteigert bzw. das Lachen bruchlos zum Lächeln herunter gedimmt werden kann, mit einem Wort: ob beide Verhaltensweisen einen polarkonträren Gegensatz mit beliebig vielen Zwischenstufen bilden; • oder ob Lachen »gesteigertes« Lächeln bzw. Lächeln »reduziertes« Lachen ist, wobei dann zu fragen wäre, wodurch diese Steigerung oder Reduktion zustande kommt; • oder ob Lachen und Lächeln zwei unterschiedliche »Aggregatszustände« desselben Verhaltens bilden, die an einem bestimmten Punkt nicht kontinuierlich ineinander übergehen, sondern durch einen Sprung oder Bruch; • oder ob beide, wie Plessner meint, zwei ganz unterschiedliche Verhaltensweisen sind und somit einen konträren Gegensatz bilden. • Und schließlich wäre noch zu fragen, ob dies für alle Formen des Lachens, also für das Bekundungs- wie für das InteraktionsLachen in gleicher Weise gilt. Daß Lachen und Lächeln kontinuierlich ineinander übergehen, ist offenkundig nicht der Fall, weil beim Übergang vom Lächeln zum Lachen die Atmung sich verändert und asymmetrisch wird. Durch diese gestotterte Ausatmung liegt ganz offensichtlich ein Bruch im Verhalten vor, der es nahelegt, Lachen und Lächeln entweder als zwei Aggregatszustände desselben Verhaltens oder aber gleich als zwei verschiedene Verhaltensweisen zu verstehen. Und dann wäre Plessner im Recht. Wenn man jedoch bei der Steigerung des Lächelns zum Lachen nicht allein nach der Veränderung der Atmung fragt, sondern nach dem synergetischen Gesamtzusammenhang von Gestus, Vultus, Habitus und Atmung, so stellt man fest, daß sich Gestus, Vultus und Habitus anders als die Atmung nur ganz kontinuierlich ver1518 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ändern und sich nur mehr oder weniger von der Norm des »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne von Goldstein entfernen: die Gestik wird immer ruckhafter, das Gesicht immer verzerrter, die Haltung entfernt sich immer weiter aus der Vertikalen und auch die Atmung wird mehr und mehr asymmetrisch, weil uns das Lachen zunächst immer stärker stößt, bis es schließlich in die gestotterte Ausatmung übergeht. So gesehen bilden beide Verhaltensweisen in der Tat einen polarkonträren Gegensatz und das Prinzip der Steigerung besteht in der immer größeren Spannung zwischen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe. So gesehen wäre Plessner also nicht im Recht, und das Lächeln wäre kein Verhalten sui generis, sondern eine Variante des Lachens. Ob man dann von »Aggregatszuständen« derselben Verhaltensweise sprechen will, ist eher eine stilistische als eine terminologischdefinitorische Frage. Ich werde es im folgenden nicht tun, weil sich hier eine ganz andere und sehr gut erprobte genuin phänomenologisch orientierte Terminologie anbietet. Deshalb spreche ich lieber davon, daß das atmungsrelevante Lachen und das atmungsneutrale Lächeln epikritische und protopathische Varianten des Lachens bilden. Was ist damit gemeint? Laut Hermann Schmitz, von dem diese fundamentale Unterscheidung75 stammt, bilden epikritische und protopathische Tendenz einen polarkonträren Gegensatz, der im eigenleiblichen Spüren erfahren wird, der sich aber auch an Phänomenen der Umwelt als Anmutungsqualität feststellen läßt, und hier gilt die allgemeine Formel: »Epikritisch ist die ortsfindende (d. h. auf einen Punkt hinlaufende), protopathisch die der Ortsfindung entgegenwirkende Tendenz.« 76

Epikritische Anmutungen ergeben sich also überall dort, wo sich etwas zuspitzt, verhärtet, verkrustet und Ecken und Kanten bildet; protopathische überall dort, wo etwas schmilzt, aufweicht, in die Breite geht oder sich rundet. Schmitz selbst spricht von der Polarität »zwischen einer scharfen, spitzen, Punkte und Umrisse setzenden Tendenz und einer stumpfen, diffusen, strahlenden, Umrisse verschwemmenden« 77 und verweist u. a. auf epikritische resp. protopathische Anmutungen bei der Erfahrung von Wollust, Angst und Schmerz: 1519 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Helmuth Plessner

»Schon ihre akustischen Signale verraten epikritische und protopathische Tendenz: der spitze schrille Schrei die epikritische, das gedehnte, diffuse Stöhnen und Röcheln die protopathische. Protopathisch ist die sanfte schmelzende, zärtliche Wollust, die das Streicheln, das Kosen der Haut, zu wecken vermag. Epikritisch ist dagegen das wollüstige Prickeln, ein feines Stechen, das gespürt wird, wenn es Einem z. B., wie man wohl sagt, prickelnd den Rücken hinunterläuft oder -rieselt. Auch die bohrende, konzentrierte, scharfe Wollust der Genitalzone kann deutlich epikritische Züge aufweisen. Unter den Schmerzen ist epikritisch der stechende, protopathisch der dumpfe und wühlende.« 78

Als weitere Beispiele könnte man, kulinarisch gesehen, den Gegensatz von epikritischen Fritten, in die man krachend beißt, und protopathischem Püree anführen, das man schmatzend mampft, oder den Gegensatz von Salat und Gemüse. Weitere Beispiele wären der Gegensatz von Lustbiß und Zungenkuß, Stacheldraht und Katzenfell, von pizzicato und legato, von kalter Dusche und warmem Wannenbad, von Tango und Walzer, von kitzeln und streicheln, und eben auch der Gegensatz zwischen dem lauten Lachen, das als gestotterte Explosion eine epikritische Verlaufsgestalt hat, wohingegen das Lächeln sich protopathisch schmelzend auf dem Gesicht ausbreitet. Und da epikritische und protopathische Verlaufsform einen polarkonträren Gegensatz bilden, wären epikritisches Lachen und protopathisches Lächeln auch so gesehen zwei Varianten derselben Verhaltenweise, die durch fließende Übergänge ineinander übergehen können. Daß diese Sicht der Dinge sich auch sprachgeschichtlich untermauern läßt, zeigt ein Blick in die Dissertation von Karl Richard Kremer, in der das Wortfeld »lachen« in der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters 79 analysiert wird. Diese Dissertation ist für unsere Fragestellung eine wahre Fundgrube, denn es gibt im Mittelhochdeutschen einen Wortschatz für Lächeln und Lachen, der dessen protopathische resp. epikritische Anmutung besonders deutlich erkennen läßt, insbesondere an dem Wortfeld »smielen/ smieren/smutzen« (vgl. S. 39 ff.), das im Mittelhochdeutschen »lächeln« bedeuten:

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»›smielen‹ kann ein recht unterschiedlich nuanciertes Lächeln sein, überlegen, leicht verächtlich, freudig, freundlich; durchsichtig oder undurchsichtig.« (S. 40) »›smieren‹ hat nicht die Breite von ›smielen‹. Sein Kern ist das erotische Lächeln, besonders das der Frau, doch hat es weder ›lachen‹ noch ›anlachen‹ in diesem Zusammenhang Konkurrenz machen können. Da aber ›smielen‹ und ›smieren‹ in den Handschriften nebeneinander stehen und die Zahl der Belege im ganzen doch recht gering ist, wäre es zu gewagt, von einem verschiedenen Wortinhalt zu reden. Möglicherweise spielt das Geographische eine Rolle; ›smielen‹ scheint mehr im Südosten und ›smieren‹ mehr im Südwesten beheimatet zu sein.« (S. 41) »›smutzen‹ scheint nicht das ursprüngliche Wort zu sein. Erst im Spätmhd. taucht es auf, beim Kalenberger und in den Fastnachtspielen, nicht allzu häufig. Bald tritt es mit n-Erweiterung auf: ›smunzen‹, und im Frühnhd. setzt es sich mit einem verkleinernden ›l‹ nhd. ›schmunzeln‹ durch.« (S. 42)

Einige dieser Verben sind ausgestorben oder wanderten schon im Mittelhochdeutschen in Adverbien und Adjektive ab, sodaß sich z. B. beim Frauenlob die Formulierung findet: »ein smunzlich (verschmitztes) lachen smieren« (S. 42) und bei Hadamar die Formulierung: ein »schmierlich lachen« (S. 41). Noch heute sprechen wir ja von einem »schmierigen Grinsen«. Wichtig für unsere Fragestellung ist bei alledem der Umstand, daß das Wortfeld »smieren/smielen/smutzen« den Umgang mit Brei, Teig, Schmer, Fett, Schlamm, Dreck, Leim, Mörtel, Salbe etc. assoziieren läßt, mit Materialien also, die sich weichgleitend und schmelzend und das heißt eben protopathisch ausbreiten lassen, genauo wie ein Lächeln über ein Gesicht huscht oder sich strahlend ausbreitet. Analog dazu verdeutlichen die Synonyme für lautes Lachen das epikritisch Stoßende und Stotternde z. B. in dem Wortfeld »kuttern/kütren/kutzen/kittern/kachezen«, das sich z. T. noch in verschiedenen Dialekten erhalten hat. So entspricht z. B. »kutzen«80 dem fränkischen »gotzen«, einem ritualisierten Juchzen, mit dem die Kirchweih eingeleitet wird, und das durch seine gestotterte Verlaufsgestalt dem ekstatischen Lachen überaus ähnlich ist. 1521 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Damit dürfte klar sein, daß Lächeln und Lachen tatsächlich die protopathische und epikritische Variante desselben Verhaltens sind und das Lachen die Steigerung des Lächelns resp. das Lächeln der Diminutiv des Lachens ist, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Bekundungs-Lachen oder Interaktions-Lachen handelt. Wir werden aber im systematischen Teil dieser Studie in Kapitel 3.5 zu dem Ergebnis kommen, daß es im Bereich des BekundungsLachens bestimmte Varianten des Lächelns gibt, die sich nicht zum lauten Lachen steigern lassen, und ebenso bestimmte Varianten des lauten Lachens, die sich nicht zum Lächeln oder Grinsen herunterdimmen lassen, ohne ihren spezifischen Charakter und damit zugleich ihre spezifische Funktion verlieren. 2.17.4.5.3 Das geloiastische Lachen als Echo des Komischen Da das Komische und Lächerliche zentrale Anlässe des Lachens sind, geht natürlich auch Plessner auf das Komische ein, indem er kurz die Theorien des Komischen von Henri Bergson und Friedrich Georg Jünger 81 referiert. Die Unterscheidung von Komik und Lächerlichkeit hingegen interessiert ihn überhaupt nicht, da dies für seine spezifische Fragestellung nicht wichtig ist, weil der Befund, zu dem er kommt, für beide Anmutungs-Qualitäten und Lachanlässe gilt. Die Theorien von Bergson und Jünger sind typische Kontrastoder Konflikttheorien; Bergson setzt, wie wir gesehen haben, beim Kontrast zwischen dem Lebendigen und dem Mechanischen an, Jünger bei der Unangemessenheit zwischen Machtanspruch und tatsächlich verfügbarer Macht, aber wie bei allen Kontrast- und Konflikttheorien geht es auch hier letztlich um die Kollision der Phänomene 82 mit irgendeiner Norm. Genauso habe ich in dem Kapitel über Joubert ja selbst auch argumentiert und dies mit dem Ergebnis, daß das Komische jenseits des sprachlich Geformten in der ungefährlichen und unbedrohlichen Verletzung der Norm des erwartbaren »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne von Kurt Goldstein besteht bzw. in der ungefährlichen und unbedrohlichen Verletzung der Norm »personaler Emanzipation« im Sinne von Hermann Schmitz. Dem hätte wohl auch Helmuth Plessner zustimmen können, wenn er diese Konzepte gekannt hätte. 1522 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Doch Plessner setzt viel tiefer an, weil er nicht eine weitere Theorie des Komischen und Lächerlichen anbieten will, sondern stellt die Frage, wie derartige Kollisionen der Phänomene mit Normen überhaupt wahrgenommen werden können, wie man also überhaupt eine Norm und zugleich die Verletzung und Bestätigung eben dieser Norm und damit wiederum das Komische und Lächerliche wahrnehmen könne, da es bei deren Wahrnehmung immer darum geht, daß »eine Norm durch die Erscheinung, die ihr gleichwohl offensichtlich gehorcht, verletzt wird.« (VII,297) Dies kann man laut Plessner nur, weil man als Mensch exzentrisch zu sich selbst und zugleich exzentrisch zu seiner Welt poniert ist. Die exzentrische Positionalität und die utopische Standorthaftigkeit des Menschen sind laut Plessner also die Bedingungen der Möglichkeit, Komisches und Lächerliches überhaupt erst wahrnehmen zu können, denn: »Die Natur hat ihn (den Menschen) als eine Existenz mit doppeltem Boden geschaffen, mehreren Ebenen und Aspekten angehörig, auf welche sich die widerstreitenden Kräfte (des geloiastisch relevanten Objekts) verteilen, um gegebenenfalls den komischen (oder lächerlichen) Eindruck auszulösen.« (VII,298)

Das heißt also, daß der exzentrisch ponierte Betrachter den komischen Konflikt auch in sich selbst wahrzunehmen und auszutragen hat. Auf diesen Gedanken sind wir schon einmal bei Jean Paul gestoßen, für den das Komische, genau wie das Erhabene nicht so sehr im Objekt, sondern im Subjekt »wohnt«83. Wenn man Jean Pauls These ins Phänomenologische übersetzt, würde dies heißen, daß die Wahrnehmung des Komischen oder Lächerlichen oder auch Erhabenen durch »Einleibung« im Sinne von Schmitz oder »Einherzung« im Sinne von Joubert vor sich geht. Und weil dies so ist, kann laut Plessner für den Menschen aufgrund seiner exzentrischen Verfaßtheit »so gut wie alles, was er ist, hat und tut, komisch (oder lächerlich) wirken,« (VII,298) Und das heißt wieder: »Eigentlich komisch (oder lächerlich) ist nur der Mensch, weil er mehreren Ebenen des Daseins angehört. Die Verschränkung seiner individuellen in die soziale Existenz, seiner moralischen Person in den leibseelisch bedingten Charakter und Typus, seiner Geistigkeit in den Körper eröffnet immer wieder neue Chancen der Kollision mit irgend

1523 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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einer Norm. (…) Exzentrisch zur Umwelt, im Durchblick auf eine Welt steht der Mensch zwischen Ernst und Unernst, Sinn und Sinnlosigkeit und damit vor der Möglichkeit ihrer unauflösbaren, mehrdeutigen, gegensinnigen Verbindung, mit der er doch nicht fertig werden kann, von der er sich ablösen muß und die ihn doch zugleich an sich bindet.« (VII,299)

Pointiert formuliert könnte man auch sagen, der Mensch sei durch seine exzentrische Positionalität immer schon auf Komik und Lächerlichkeit und auf deren Wahrnehmung angelegt und damit zugleich auch auf Lachen, weil all das immer schon in uns »wohnt«. Und von hier aus könnte man wieder die These begründen, daß Tiere grundsätzlich nicht lachen können, weil ihnen die exzentrische Positionalität fehlt. Plessners These lautet: Das Wesen des Komischen und Lächerlichen ist ein Ambivalenz-Phänomen: »Komische Phänomene, Szenen, Handlungen, Personen sind in sich als Erscheinung ambivalent und gegensinnig für unsere Auffassung. So lassen sie uns nicht in Ruhe und bieten doch nie die Aussicht, daß wir mit ihnen ›zu Rande kommen‹. Da gleichwohl die Erscheinung selbst – trotz ihrer ›Unmöglichkeit‹ – beharrt und es mit ihr offensichtlich ›geht‹, geraten wir in eine ambivalente Stellung zu ihr, die zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen Ja und Nein nicht nur keine Entscheidung findet, (…) sondern überhaupt eine Entscheidung ausschließt und zwingt, die Erscheinung zu akzeptieren.« (VII,299 f.)

Und dieses Akzeptieren/Quittieren/Ratifizieren erfolgt in Form von Gelächter, das in seiner Gestottertheit die antagonistische Ambivalenz des komischen oder lächerlichen Phänomens wiederum denotiert. Oder anders formuliert: Die antagonistische Ambivalenz, die das Lachen als gestotterten Gestaltverlauf phänomenal prägt, ist das Echo der antagonistischen Ambivalenz, die auch schon das komische oder lächerliche Phänomen prägt, weshalb sich im Lachen als Gestaltverlauf Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe zugleich manifestieren. Ob dieses Lachen als plötzliche Explosion einsetzt oder sich langsam steigert und dann wieder uroborisch verebbt, hängt davon ab, ob sich diese Ambivalenz und Gegensinnigkeit des komischen oder lächerlichen Phänomens schlagartig offenbart, also z. B. in 1524 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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einer Pointe, oder ob es über längere Zeit präsent ist. So lacht man z. B. über die Tango-Szene in Some like it hot so lange sie eben dauert. (Und sie dauert leider viel zu kurz.) Bei jeder Art von Pointen-Komik werden, wie wir gesehen haben, erst Hemmungen aller Art zu einer Spannung aufgebaut, dann im Durchblick auf eine Pointe als Aha-Durchbruch erlebt und dann im »Explodieren der Angstspitze« (Baader) 84 uroborisch abgelacht. Bei perennierender Komik, wie sie sich z. B. im menschenähnlichen Gang eines Pinguins zeigt, der ihn als Karikatur eines Menschen erscheinen läßt, ist die dem komischen Phänomen immanente Spannung längst nicht so hoch wie bei der Pointen-Komik und deshalb ist das Lachen, das hier angeschlagen wird, eher ein das komische Phänomen begleitender Kommentar in Form von Gelächter. Doch auf diesen wichtigen Unterschied zwischen Pointen-Komik und perennierender Komik geht Plessner leider nicht ein, ebensowenig wie auf den Unterschied zwischen komisch und lächerlich. Sehr genau allerdings analysiert er in enger Anlehnung an Schopenhauer und Kant die Pointenstruktur des Witzes, und diese liegt laut Plessner »in der Kürze, im Einfall, in der blitzartigen Erhellung, in der überraschenden Entdeckung, in der plötzlichen Verbindung einander fremder Elemente.« (VII,310) All dies ist gewiß nicht neu und oben in Kapitel über die Pointenstruktur krisenhafter Prozesse 85 als Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase ausführlich dargestellt, sodaß wie hier nicht mehr eigens darauf eingehen müssen. Höchst erhellend jedoch ist Plessners Antwort auf die Frage, warum Witzigkeit zum Lachen zwinge, weil sich hier wieder einmal seine Orientierung an der tonos-Lehre der stoischen Physik und Psychologie zeigt, und hier lautet seine Antwort, explizit gegen Freuds energetisch orientierte Ätiologie 86 gerichtet: »Kürze ist Zumutung an die Fassungskraft, somit Hemmung und Stauung, die der Hörer überwinden soll. Die Technik des verschwiegenen Verdeckens und der heimlichen Sinnverzauberung schafft erst den Widerstand, dessen Brechung sie zugleich herbeiführt. (…) Dann ergibt sich der lustvolle Überschuß, die plötzliche Erleichterung aus dem Doppelspiel, eine Schwierigkeit zu schaffen, die sich selbst überwindet.« (VII,313)

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Und das heißt, konkreter gefaßt: »Die mit der Hemmung angestaute Spannung wird im Durchblick auf die Pointe durchbrochen und fließt im Lachen ab.« (VII,323)

Aber, so fährt Plessner fort: »Warum es gerade Lachen ist, das diese Entspannung besorgt, – diese Frage bleibt noch aufzuklären.« (VII,323)

Anders gefragt: Warum fließt diese Spannung nicht als ungehemmte Ausatmung ab wie z. B. beim Niesen, sondern als gestotterte Ausatmung? Warum ist dieses Abfließen der Spannung in sich selbst antagonistisch gestaut und gehemmt? Die Antwort kann nur lauten: Weil das auslösende Moment, das das Lachen in Gang setzt, selbst eine in sich antagonistische Struktur aufweist und diese ambivalente Struktur im Lachen selbst wieder denotiert wird. Aus diesem Grund zielt Plessners Argumentation im folgenden darauf, auch bei allen anderen Lachanlässen das Moment der Ambivalenz zu betonen. Dies führt ihn aber nicht dazu, jedes durch die Anmutung von Ambivalenz erregte Lachen auch als »echtes« Lachen zu werten, sondern er tendiert deutlich dazu, das Lachen zur Norm zu erheben und als »echtes« Lachen zu akzeptieren, das einen krisenhaften Prozeß mit Pointenstruktur als »Explodieren der Angstspitze« (Baader) krönt, abschließt und denotiert und als Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase zustandekommt, wie dies beim Erlebnis von Pointen-Komik in besonderer Weise deutlich wird. Doch dies ist längst nicht nur dort der Fall, sondern z. B. auch beim erleichterten Auflachen nach plötzlich überwundener Bedrängnis. Aber auf diese Form von Gelächter geht Plessner nirgendwo ein. 2.17.4.5.4 Lachen als hinhaltende Hingabe an eine erhebende Situation Nun könnte man natürlich behaupten, das jubelnde Gelächter eines Mittelstürmers nach dem glücklich erzielten Tor sei eine Variante dieses erleichterten Auflachens, weil dieses Auflachen ebenfalls einen krisenhaften Prozeß mit Pointenstruktur abschließt und denotiert und weil dieses jubelnde Auflachen Teil eines synergetischen Prozesses ist, bei dem es den Menschen mit allem was er ist, 1526 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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hat, kann und tut, fast zu zerreißen droht, denn alles an seinem Verhalten hat die zentrifugale Tendenz nach oben-außen: der mänadisch zurückgeworfene Kopf, das Hohlkreuz, die weit aufgerissenen Augen mit starrem Blick, der weit geöffnete Mund, die weit ausgebreiteten Arme, der unbändige Bewegungsdrang nach oben und in die Weite und eben auch jenes spezifische Lachen aus vollem Hals, das man mit Recht als »Auflachen« bezeichnet, und so scheint es auch Plessner zu sehen, wenn er schreibt: »Der Jubel ist die Ausdrucksgebärde des vor Glück Zerspringens. So wie wir hochspringen, herumtanzen, Dummheiten machen, sinnlos gestikulieren, vom Überschwang in seiner Vehemenz hingerissen, so brechen wir in Jubel aus.« (VII,279)

All dies dient dazu, dem »allgemeinen expansiven Bewegungsdrang der freudigen Bewegtheit« (VII,279) Ausdruck zu verleihen, und dabei gilt: »Je unerwarteter, je überraschender (d. h. je pointenhafter) das Freude auslösende Ereignis kommt, desto entfesselnder wirkt es.« (VII,279)

Doch trotz alledem kommt Plessner zu dem Schluß: »Jubeln und Lachen sind zweierlei.« (VII,279) »Als fessellose Entladung überströmenden Gefühls (…) schwingt er stimmlich z. T. in ähnlich klingenden Lautfolgen aus wie das Lachen. Aber das feine Ohr hört doch den Unterschied. Der Jubel löst sich nicht so vom Menschen ab wie eine Lachsalve. Er hat nichts von jener gepreßt-pressenden Automatik, die den Lachenden außer Atem bringt und schüttelt. Darum drängt auch der Jubel aus der Ungeformtheit des ungebändigten Ausbruchs und Schreis zum Singen ›aus übervollem Herzen‹, ›aus geschwellter Brust‹ und verebbt (uroborisch) mit dem ruhiger werdenden Gefühl.« (VII,279)

Doch so ganz sicher ist sich Plessner hier doch wieder nicht, denn er muß zugeben, daß Bekundungs-Lachen und Jubel, obwohl sie doch zwei verschiedene Verhaltensweisen sui generis sind, sich auch zu einem »jubelnden Lachen« (VII,280) verbinden können, aber trotzdem behauptet Plessner apodiktisch: »Jubeln an sich führt nicht zum Lachen.« (VII,281) Ich muß gestehen, daß ich staune und frage deshalb: Drängt der Jubel wirklich aus der Ungeformtheit des Lachens zum Singen, aus der gestotterten Ausatmung zum disziplinierten Einsatz des Atems, 1527 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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aus unverfügbarem Verhalten zum gezielten Handeln? Ist der Jubel, der in Singen einmündet, nicht von vornherein schon ein Jubel von gebändigter und verminderter Intensität, eine »gehobene Stimmung« im Sinne Bollnows, die man noch »im Griff hat«, wohingegen der ekstatische Jubel, bei dem es uns förmlich zu zerreißen droht, sich nur in ruckhafter »privativer Weitung« im Sinne von Hermann Schmitz äußern kann, d. h. als plötzliches »Entkommen in die Weite« 87? Wenn das ekstatische Cachinnus-Lachen überhaupt zu etwas drängt, so bestimmt nicht zum Singen, sondern zu Verhaltensweisen, die in ihrer regressiven Difformität dem ekstatischen Gelächter analog sind, und sich deshalb als mehr oder weniger sinnlose Hinund-her-Bewegungen, als Bewegungs-Wiederholungen oder als Bewegungs-Chaos manifestieren. Oder anders gefragt: Ist beim Jubel, der zum Singen drängt, die ambivalente Grundspannung zwischen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe nicht von vornherein schon ganz anders gewichtet, weil das Maß an Selbstbehauptung das der Selbstpreishabe deutlich überwiegt? Wenn man so fragt und auch wieder einmal mit Plessner über Plessner hinausgeht, beantworten sich auch noch einige andere von Plessner aufgeworfene Fragen fast wie von selbst, z. B. die, »ob die Ausdrucksgebärde des freudigen Gestimmtseins echtes Lachen ist, und worauf sie sich bezieht. Denn es ist keineswegs ausgemacht, daß das, worüber man sich freut, den Grund darstellt, aus welchem man lacht.« (VII,278)

Gleichzeitig mit Plessners Buch über Lachen und Weinen erschien 1941 Otto Friedrich Bollnows berühmte Studie Das Wesen der Stimmungen 88, wo Bollnow zwischen »gehobenen« und »gedrückten Stimmungen« (S. 31 ff.) unterscheidet. Man könnte aber hier von mehr oder weniger gehobenen und mehr oder weniger gedrückten Stimmungen sprechen, da auch hier ein polarkonträrer Gegensatz vorliegt. Ekstatischer Jubel wäre dann eine extrem gehobene Stimmung, Freude eine etwas weniger gehobene. Und wenn wir auch hier wieder danach fragen, in welcher Weise Stimmungen sich allein schon im Habitus ausdrücken, so zeigen sich die mehr oder weniger gehobenen Stimmungen in mehr oder weniger stark ausgeprägten zentrifugalen Bewegungsimpulsen, die mehr oder weni1528 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen und Weinen

ger gedrückten in mehr oder weniger stark ausgeprägten zentripetalen. Wer sich freut, steht also in beherrschter Haltung aufrecht, wer hingegen jubelt, steht und bewegt sich schon in konvexer Haltung, wirft also den Kopf zurück und biegt sich ekstatisch ins Hohlkreuz durch. Wer aber trauert, läßt den Kopf hängen und alles andere auch, und deshalb wird in gedrückten Stimmungen meist auch gar nicht gelacht, weil allein schon die Haltung dies nicht erlaubt. Wenn aber in diesen mehr oder weniger gehobenen Stimmungen gelacht wird, so ist das Lachen der Freude auch längst nicht so unbeherrscht ekstatisch wie beim Jubel. So sieht es ja auch Plessner, wenn er schreibt: »Und wie es jubelndes Lachen gibt, so fröhliches, lustiges, heiteres Gelächter in allen Skalen (!) affektiver Temperatur, in allen Mischungen (!) der jeweiligen Situation.« (VII,280)

Und das heißt: also auch in allen Mischungen von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe. Doch im Gegensatz zum ekstatisch jubelnden Auflachen, das uns ruckhaft hochreißt, ist dieses gemäßigt heitere Lachen eher ein Schweben in der Höhe der gehobenen Stimmung, weil wir keine plötzliche Erleichterung empfinden, sondern eine perennierende und gleichsam schwerelose Leichtigkeit, bei der alles leicht zu sein scheint, denn: »Überall da, wo die Schwere vom Menschen genommen ist, die Perspektive sich weitet, die Schranken zurückweichen, gewinnt er (der Mensch) die Leichtigkeit des Abstandes zu seinesgleichen und den Dingen. In solchem abständigen Sich-Lösen werden die eigentlichen Quellen des Lachens: Scherz, Komik, Witz freigelegt. Alle Formen der Leichtigkeit, die wir unterscheiden, haben also die Bedeutung des Klimas, in dem der Mensch zu Scherz und Witz aufgelegt und in Laune ist, aber das Lachen selbst lösen sie nicht aus.« (VII,280)

Doch wodurch wird denn dieses Klima gestiftet und getragen, also die Atmosphäre oder Stimmung von Heiterkeit, in der man in besonderem Maße zum Scherzen und Witzemachen aufgelegt ist, wenn nicht durch das Lachen selbst? Wir haben bei der Analyse der lachsoziologischen Szenarios eutrapelistischer Lachkultur ja immer wieder gesehen, wie diese eutrapelistische ars iocandi et ridendi auf eine Atmosphäre von schwereloser Heiterkeit angewiesen ist, die in ihrer Umhaftigkeit die gesamte eutrapelistische Run1529 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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de übergreift und durch mimetische Resonanz in einer gehobenen Stimmung hält. Daß Plessner dies nicht sieht, liegt wohl daran, daß er das Resonanz-Lachen nirgendwo zum Thema macht, also nicht danach fragt, warum Lachen so ansteckend sein kann. Ansteckend kann es aber nur sein, wenn man bereit ist, sich ihm hinzugeben. Verweigert 89 man sich ihm, was sehr wohl möglich ist, und bleibt ernst inmitten einer heiteren Runde, findet sich diese in ihrer gehobenen Stimmung ernsthaft gestört, sodaß die Stimmung sogar kippen kann. Doch wenn man sich einer solchen Atmosphäre von Heiterkeit bereitwillig hingibt und dadurch in sie hineingerät, so erfolgt dies nie ruckhaft, sondern gleichsam gleitend und schmelzend: Der Ernst erodiert zur Heiterkeit. Doch diese Hingabe an eine heitere Atmosphäre ist immer nur eine hinhaltende Hingabe, gleichsam eine Hingabe »mit angezogener Handbremse«, die immer ambivalent gerichtet bleibt, weil Lachen in all seinen Ausprägungen immer den Zug in die Weite hat, ob nun direkt als gestottertes Lachen oder als protopathisch sich ausbreitendes Lächeln. Man driftet also in eine heitere Stimmung hinein und bremst diese Drift zugleich durch sein Lachen, denn, wie Plessner mit Recht betont: »Hingabe ist nicht Preisgabe.« (VIII,365) Analoges gilt von dem Lachen, das bestimmte Formen des Spielens begleitet und die ambivalente Grundstruktur eben dieses Verhaltens verdeutlicht. Wenn Plessner hier vom Spiel spricht, meint er nicht die ernsten Spiele von sportivem Wettbewerbscharakter, sondern die Spiele, die ohne Einsatz gespielt werden und weder Sieger noch Verlierer kennen, denn auch hier gilt Kants Befund, »Alles Interesse macht ernsthaft; sobald sich aber das Interesse verliert, geht man aus dem Ernste ins Lachen.« (AA,1139)

Plessner meint hier Spiele, die sich aus dem lockeren Umgang mit beweglichen Dingen ergeben, die mehr oder weniger eigenwillig zu sein scheinen und gleichsam wiederum mit dem Spieler spielen, und dieser Partner im Spiel kann sogar unser eigener Körper sein, der oft genug nicht so will wie er soll: »Ohne weiteres ist klar, daß die einfache Losgelassenheit des sich Tummelns eine Quelle der Freude und des Jubels ist. Und ebenso nahe liegt natürlich die Komik der Ungeschicklichkeit, bei der man sich und die

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anderen ertappt. (…) Wie aber kommt es, daß Spielen als solches Lachen auslöst?« (VII,286)

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich laut Plessner aus dem ambivalenten Charakter der Spielsituation, denn: »Ambivalenz, Doppelwertigkeit braucht nicht nur (wie z. B. beim Kitzel) als Qualität eines zugleich angenehmen und unangenehmen, kosenden und lästigen Reizes aufzutreten. Sie kann den Charakter einer Situation bestimmen, die wir als schwebend empfinden, weil sie von unserer schöpferischen Bereitschaft und Gestaltung abhängt und diese zugleich in eigenwilliger Selbständigkeit bindet. Wir sind in Einem frei und nicht frei, wir binden und sind gebunden. Zwischen uns und dem Objekt (dem Ding, dem Kameraden) herrscht eine ambivalente Beziehung, der wir Herr und doch nicht Herr sind, weil sie uns ebenso gefangennimmt, wie wir sie in der Hand haben. Eine derartige Beziehung stiftet sich mit unserem Willen und gegen unseren Willen im Spiel. Spielen ist immer Spielen mit etwas, das auch mit dem Spieler spielt, und eine gegensinnige Beziehung, die zur Bindung verlockt, ohne doch so weit sich zu verfestigen, daß die Willkür des einzelnen ganz verloren geht.« (VII,286)

Mit dieser überaus treffenden Beschreibung hinhaltender Hingabe an eine Spielsituation, die mich jedoch nur dann in den Bann ziehen kann, »insofern ich mich ihr überlasse« (VII,287), und die ich jederzeit auch wieder aufkündigen kann, ist zugleich auch die ambivalente Grundstruktur jeder Spielsituation charakterisiert. Doch warum äußert sich diese Befindlichkeit des Spielers als Lachen? Laut Plessner äußert sich darin »die besondere Lust am Schwebezustand des Spielens, an der Labilität eines Gleichgewichts, das eigentlich kein Gleichgewicht ist, am Untertauchen in eine Welt, die aus uns stammt und doch nicht aus uns stammt, die eigenwillig ist und sich doch nach unserem Willen richtet. (…) Sie ist eindeutig Lust, aber Lust an etwas Mehrdeutigem, das sich dem eindeutigen Entweder – Oder der Wirklichkeit nicht fügt.« (VII,289)

Und sie ist, worauf Plessner nicht eingeht, offensichtlich auch Lust an einer mehr oder weniger ausgeprägten personalen Regression, Lust am Sichgehenlassen »mit angezogener Handbremse«, Lust an der hinhaltenden Hingabe. Und somit lautet Plessners Bilanz: 1531 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Helmuth Plessner

»Spielen ist also für den Menschen ein Sich-Halten im Zwischen in doppelter Hinsicht. Einmal gelingt es ihm nur, wenn er die beständig gegenwärtige Wirklichkeit abdeckt: insofern scheint sie ihm ständig in die geschlossene Sphäre des Spiels hinein. Zum anderen hält er sich in ihr nur durch die Wahrung des labilen Zwischenzustands einer immer wieder zu erneuernden Bindung, die gegenseitig und gegensinnig zugleich ist, weil sie in Binden und Sich-binden-Lassen besteht. Auf diese Ambivalenz eines doppelten Zwischen: zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen Binden und Gebundensein reagiert der Mensch – mit Lachen.« (VII,288 f.)

So gesehen wäre das spielbegleitende Lachen ein Verhalten, mit dem und in dem die Ambivalenz der Spielsituation sich mimetisch ausdrückt, und deshalb muß Plessner auch zugeben, dieses spielbegleitende Lachen habe »noch etwas von einer echten Ausdrucksgebärde an sich, in der sich (auch) der Kitzel malt.« (VII,289) Dieses Zugeständnis ist einigermaßen bemerkenswert, weil Plessner einige Seiten vorher noch betont hatte, das mehr oder weniger intensive Lachen als Ausdruck der Freude erwecke bloß den Anschein, »als sei (das Bekundungs-)Lachen überhaupt Gebärde.« (VII,280) Bevor wir diese Frage beantworten können, warum laut Plessner zwar das spielbegleitende Lachen und das Kichern und Lachen bei Kitzel Ausdrucksgebärden sind, das Lachen der Freude jedoch nicht, müssen wir erst näher auf das Kitzel-Lachen eingehen, das, genau wie das spielbegleitende Lachen als Ausdruck für hinhaltende Hingabe an eine Ambivalenz-Situation gelten darf. Mit diesem Hinweis auf das Mindestmaß an freiwilliger Selbstpreisgabe, ohne die der Gekitzelte nie ins Lachen geraten kann, hat Plessner einen Ansatz für die Deutung dieses seltsamen Phänomens vorgelegt, der all die Deutungen, auf die wir bisher gestoßen sind, als obsolet erscheinen läßt, denn wenn diese Bereitschaft zur hinhaltenden Hingabe fehlt, ist Kitzel nur ein lästiger Reiz, so leicht die Berührung auch immer sein mag. Doch klären wir erst einmal das Phänomen selbst! Kitzel ist eine typisch epikritische Berührung mit spitzen Gegenständen, nicht so intensiv wie das Kratzen oder gar das Stechen und Schneiden und liegt deshalb weit unter der Grenze zum Schmerz, sodaß der aus1532 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen und Weinen

geprägteste Kitzelreiz durch spitze, aber weiche Gegenstände ausgelöst werden kann, also z. B. durch die Spitze einer Feder, durch sachte Berührung mit den Fingerspitzen oder durch die Beine einer Fliege, die uns über die Haut krabbelt. Kitzeln ist somit eine Art von Berührung, die sich in sich selbst wieder zurückzunehmen scheint, gleichsam nur der Hauch einer epikritischen Berührung. Man könnte auch sagen: Wer oder was uns kitzelt, »meint es nicht ernst«. Somit ist Kitzel deutlich ein durchaus ambivalentes, »gemischtes Gefühl« 90. Und schon gar nicht kann der Kitzelreiz durch flächig-protopathische Berührung erzeugt werden, so sanft und schonend diese Berührung auch immer sein mag, also durch Streicheln, Reiben, Massieren oder Kneten der Haut. Aus all diesen Gründen bietet es sich an, Kitzel als eine Folge von epikritischen Berührungs-Pointen zu deuten, die weit unterhalb der Grenze zur Ernsthaftigkeit liegen. Ob man einen Kitzelreiz als angenehm, unangenehm oder als ambivalent empfindet, hängt, wie gesagt, davon ab, ob man gewillt ist, sich ihm hinzugeben. Wenn uns eine Fliege über die Nase krabbelt, verscheucht man sie und beendet damit den Kitzelreiz. Gibt man sich einem Kitzelreiz jedoch hin, so hängt dies von der Situation ab, also davon, von wem man gekitzelt wird, und auch dann ist diese Hingabe immer noch eine hinhaltende Hingabe. Genauso sieht es übrigens auch Plessner selbst, wenn er schreibt: »Kitzel ist ein ambivalenter Reizzustand von zugleich angenehmer und unangenehmer Färbung. In ihm halten sich lockende und lästige Momente die Waage. In diesem Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung, dieser Unausgleichbarkeit von Lust und Unlust, die ein beständiges Schwanken und Oszillieren darstellt, besteht das Wesen des Kitzels.« (VII,281) 91

Da Plessner sich nirgendwo ausführlicher auf das Interaktions-Lachen in all seinen Formen und den dazu gehörenden Blickkontakt einläßt, entgeht ihm ein wichtiger Aspekt des Kitzelreizes, den man als »Kitzel auf Distanz« bezeichnen könnte. Er spricht zwar einmal und eher beiläufig von bestimmten Formen »ambivalenter Erregungen wie im seelischen Kontakt« (VII,281) und erwähnt in dem Zusammenhang auch das Flirten als kokettes Spiel aus Zuwendung und Abwendung, Lockung und Flucht. Da er aber keinen Blick für 1533 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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die eminente Bedeutung des Blickkontakts hat, entgeht ihm hier die Möglichkeit, das Flirten als wechselseitiges Kitzeln auf Distanz resp. als wechselseitiges Kitzeln mit Blicken zu deuten, das durch Anlächeln und Kichern als dessen Echo begleitet wird. Im Gegensatz zum »tiefen« Blick, der sich in den Blick des Partners hingebungsvoll versenkt, und dem bohrend »fixierenden« Blick, der den Anderen aggressiv zu dominieren sucht, ist der flirtende Blickkontakt eine genauo flüchtige epikritische Berührungs-Pointe wie das Kitzeln mit Hautkontakt und Leibinselbildung, denn auch mit Blicken kann man den Partner abtasten. Doch warum lacht man, wenn man gekitzelt wird? Für Plessner ist diese Frage, wenn man sie so stellt, falsch gestellt, weil man laut Plessner hier gar nicht lacht, sondern bloß kichert; Kichern aber ist für ihn »als Ausdruck des Kitzels noch keine Vorform des Lachens.« (VII,283), denn: »Das mimische Bild, das zu ihm (dem kichernden Lachen) gehört, mit dem schmal geschlossenen Lidspalt der Augen und den breit auseinander gezogenen Mund, findet seine stimmliche Ergänzung in jener Folge von Lautstößen, die dem Lachen zum Verwechseln ähnelt.« (VII,283)

Dieses Kichern ist für Plessner »eine echte Ausdrucksgebärde« (VII,283), die den Kitzelreiz als mimetisches Echo synästhetisch denotiert, denn: »Sie beantwortet im mimischen Rahmen mit der Stimme unwillkürlich die Kitzelqualität des Reizes. Von ihr hat sie die Prägung des Oszillierens und die Oberflächlichkeit. Aber sie ist doch nicht Lachen.« (VII,283)

Aber so ganz konsequent ist Plessner mit dieser These doch nicht, denn auch er weiß natürlich, daß Kitzeln auch mit lautem Gelächter beantwortet werden kann, insbesondere von Kindern, und trotzdem fährt er fort: »Darum, daß das Lachen im Modus seiner Unterdrücktheit zum Kichern werden kann, ist das Kichern als Ausdruck des Kitzels noch keine Vorform des Lachens.« (VII,283)

Hier liegt offensichtlich ein Bruch in der Logik der Argumentation vor, denn wenn das Lachen zum Kichern reduziert werden kann, muß auch Kichern wieder zum Lachen gesteigert werden können, 1534 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und das heißt, daß beide Verhaltensweisen letztlich doch mehr oder weniger ausgeprägte Intensitätsgrade ein und desselben Verhaltens sind. Und genauo lassen sich auch Plessners weitere Ausführungen lesen, denn er fährt weiter fort: »Wohl aber entdeckt die Ausdrucksgebärde des Kicherns einen sinnvollen Zug an der Ausdrucksweise des Lachens. In sie ist etwas von der Gebärde aufgenommen und verarbeitet. Das Stoßweise, Eruptive des Lachens weist auf eine gewisse Verwandtschaft seiner Anlässe mit dem Anlaß des Lachens hin: die Ambivalenz des Kitzels. Während aber hier die Ambivalenz die Qualität des Reizes hat und sinnlich gebunden bleibt (…), entfaltet sich dort, wo die Antwort des Lachens am Platze ist, die Ambivalenz zum Doppelsinn, zur Mehrdeutigkeit des Komischen und des Witzes, zur nicht mehr zu bewältigenden Situation der Verlegenheit und der Verzweiflung.« (VII,283 f.)

Wenn wir uns nun vor Augen halten, daß wir auf jede Art von Ambivalenz synergetisch antworten, also mit allem, was wir sind, haben, können und tun, so wird das Argument, beim Kitzel bleibe die Ambivalenz des Reizes »sinnlich gebunden«, bei Komik, Verlegenheit und Verzweiflung aber werde sie ins Geistige verlagert, vollends obsolet. Mit dem Argument, Lachen sei an sich keine Ausdrucksgebärde, wenn es aber doch eine Ausdrucksgebärde sei, so sei es eben kein echtes Lachen, hat sich Plessner offensichtlich in eine Sackgasse argumentiert, und dies wohl deshalb, weil er seinen eigenen Deutungsansatz nicht ernst genug genommen hat. Denn wenn Lachen aus dem ambivalenten und antagonistischen Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe resultiert, dann muß dieses Zusammenspiel auch auf unterschiedlich hohen Graden von Intensität erfolgen und unterschiedlich hohe Intensitätsgrade des Lachens auf einer Skala vom verhaltenen Lächeln über das Kichern und gepreßte Lachen bis herauf zur Lachsalve zeitigen. In manchen Formulierungen Plessners blitzt dieser Gedanke sogar auf, so z. B. wenn er schreibt, die das Lachen auslösende Ambivalenz-Struktur zeige sich in Situationen der Komik und des Witzes »am reinsten« (VII,329) und erzeuge hier deshalb das »echte Lachen«, denn wenn sich diese Ambivalenz-Struktur in bestimmten Fällen am reinsten zeigt, dann zeigt sie sich eben in an1535 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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deren Fällen mehr oder weniger rein und zeitigt dann eben mehr oder weniger ausgeprägte Formen von Gelächter, die aber nicht weniger echt sind als das klassische Cachinnus-Gelächter, das für Plessner offensichtlich die normative Form des Lachens darstellt, der gegenüber alle anderen Arten von Gelächter als uneigentlich erscheinen. In einer umfangreichen Anmerkung geht Plessner auch auf Ewald Heckers Deutung des Lachens und Kitzels ein und moniert dessen »exemplarischen Fehler«, die »zwangsmäßige Antwortreaktion auf den Kitzelreiz, das Kichern, mit dem echten Lachen zu verwechseln.« (VII,284) Hecker hatte, wie wir gesehen 92 haben, Lachen in all seinen Formen und Graden als Ergebnis einer Sympathikusreizung und als Schutzreflex bzw. als Schutzautomatismus gedeutet, der sich als generelle rhythmische Schwankung im körperlichen Tonus äußert und deshalb auch die Atmung entsprechend überformt und ins Stottern bringt. Diese rein physiologische Deutung ist für Plessner zwar schlichtweg unhaltbar und durch den Forschungsstand der Physiologie längst überholt, doch den Gedanken, dem Lachen eine Schutzfunktion zuzusprechen, findet er »auch heute noch des Nachdenkens und der Nachprüfung wert« (VII,284), denn diese Schutzfunktion fällt dem Lachen vor allem dort zu, wo es als mehr oder weniger gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation in die Weite fungieren kann. 2.17.4.5.5 Lachen als gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation Das ambivalente und antagonistische Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe bildet auch die Grundlage für Plessners Analyse von Verlegenheit und Verzweiflung und der Formen von Gelächter, in denen diese beiden Stimmungen sich bekunden. Für Plessner ist Verlegenheit eine verminderte Form von Scham und äußert sich als gesteigerte Unsicherheit und deshalb auch als gesteigerte Desorientierung in der jeweiligen Situation: »Hilflos kann man gegenüber Dingen, Aufgaben, Menschen, Lagen sein. Verlegen ist man gegenüber Menschen, von denen man sich be-

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obachtet oder durchschaut wähnt. Man weiß sich nicht zu benehmen, findet kein Verhältnis zur Situation und befindet sich somit in einem Zustand der unfreiwilligen Isolierung. Man möchte den richtigen Ansatzpunkt finden, sieht sich aber gehemmt. (…) Viele Augen auf sich gerichtet wissen bzw. glauben, macht unsicher. (…) Diese Unsicherheit steigert sich zur Verlegenheit, wenn das Wissen oder vermeintliche Wissen darum das zur Erfüllung des jeweils erforderten Benehmens das richtige Verhältnis des Menschen zu seinem Körper unterbindet. Er findet dann keine Worte, stottert, stolpert oder steht wie angewurzelt.« (VII,324)

Oder anders formuliert: Der durch die exzentrische Positionalität bedingte utopische Standort wird leibhaftig und zwar privativ erfahren, denn man steht buchstäblich »neben sich« und diese allgemeine Hemmung aller Lebensäußerungen überformt dann auch das Lachen: »Hier fehlt ihm der eindeutig-befreiende, erleichtert-erheiternde Zug. Das Lachen klingt gepreßt, und der Verlegene (…) hat das Gefühl eines deplacierten Ausdrucks.« (VII,324)

Das ist sicher richtig gesehen und beschrieben, läßt sich aber noch dahingehend ergänzen, daß der Verlegene aus Mangel an Luft nie eine richtige Lach-Arie durchlachen, sondern nur eine Folge von eher schnaubenden »Lach-Hustern« von sich geben kann. Viel häufiger aber ist der Fall, daß er nicht einmal dazu fähig ist, sondern nur noch verlegen lächeln oder grinsen 93 kann. Und wenn wir auch hier wieder in synergetisch-synästhetischer Orientierung danach fragen, worin sich Verlegenheit sonst noch äußert, so stoßen wir sofort darauf, daß der Blick des Verlegenen genauo unstet und unsicher sich von Auge zu Auge tastet, nirgendwo einen festen Blickkontakt einzugehen wagt und schließlich ganz gesenkt wird. Damit aber ist dem Menschen das elementarste Mittel genommen, sich überhaupt zu orientieren. Also sehen wir auch hier wieder, was Plessner sich dadurch an Erkenntnisgewinn entgehen läßt, daß er keinen Blick für den Blick hat. Aber nicht genug damit: Da Plessner nie ausdrücklich auf das Interaktions-Lachen eingeht, kommt er auch nicht auf die Idee zu fragen, inwiefern sich im Verlegenheits-Lachen Bekundungs-Lachen und Interaktions-Lachen überlagern oder ineinander über1537 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gehen könnten, und zwar in der Form, daß das gerade noch verfügbare Interaktions-Lachen der Verlegenheit in unverfügbares Bekundungs-Lachen umschlägt, sobald der eh schon brüchige Blickkontakt zum Anderen abbricht, wenn der Verlegene den Blick senkt, denn dann gefriert das Verlegenheits-Lächeln zu einer blöden Lächelmaske, die dem Verlegenen fest auf dem Gesicht klebt, solange die Verlegenheits-Situation andauert. Auch für Plessner kann sich Verlegenheit zur Wehrlosigkeit steigern, denn er fährt fort: »Intensiver wirkt das Sichdurchschaut- und Erkannt-Wähnen. So wird auch den Abgebrühten Befangenheit und Verlegenheit befallen, wenn er sich einem Menschen von durchdringendem Urteil gegenübersieht; zumal bei Begegnungen, von denen viel abhängt. Der Verlegene wähnt sich in jedem Falle objektiviert und gewissermaßen ›ausgezogen‹.« (VII,325)

Doch diese Wehrlosigkeit möchte Plessner nicht als Scham verstanden wissen, da für ihn Verlegenheit als solche mit Scham »nichts zu tun hat« (VII,325), sondern im Unvermögen besteht, »mit einer Lage, die durch irgendein Zusammensein bestimmt wird, fertig zu werden.« (VII,325) Entscheidend für ihn ist dabei eher die »Desorganisation« (VII,326) der Situation. All das kann man allerdings auch etwas anders sehen und z. B. mit Hilge Landweer und Christoph Demmerling 94 eine polarkonträre Skala aufstellen, die nach dem Kriterium von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe von Unsicherheit über Befangenheit, Gehemmtheit, Blödigkeit, Verlegenheit, Peinlichkeit, Wehrlosigkeit, Scham, Verzweiflung, Akedia, Amnesie und Ohnmacht bis zum Vagustod als dem Gipfel an Selbstpreisgabe ohne jeden Rest von Selbstbehauptung reicht. Viele dieser Befindlichkeiten können sich in bestimmten Formen von Lachen bekunden, weil das antagonistische Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe auf den unterschiedlichsten Niveaus 95 erfolgen kann, und weil all diese Arten von Gelächter virtuelle Fluchtwege aus einer unerträglich bedrängenden Situation sind, denn: »Wie derjenige, der sich schämt, möchte auch derjenige, der verlegen ist, am liebsten die Situation verlassen, aus der er aber nicht einfach heraus kann. Ihm wird abverlangt, sich zu einer Situation zu verhalten,

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zu der er sich im Grunde nicht richtig verhalten kann. Anders als in der Scham hält man der Sache aber (durch einen mehr oder weniger großen Rest an Selbstbehauptung) noch irgendwie stand und versucht, seine Souveränität zu bewahren.«96

Oder anders formuliert: Steigert sich die Verlegenheit zur Verzweiflung oder gar zur katastrophalen Scham, so implodiert der Spielraum an Verhaltensmöglichkeiten, den der Verlegene und Verzweifelte gerade noch hat und durch sein gepreßtes Gelächter sich mühsam weiter offen hält, noch weiter und jede Art von Gelächter verstummt und weicht dem tiefen Ernst. Und wenn man Glück hat, kann man sich ins Weinen retten, und auf diese Weise der bedrängenden Situation doch noch ins Weite entkommen. Dieses Verzweiflungs-Lachen, das als extrem gesteigertes Verlegenheits-Lachen die personale Kapitulation zu bekunden scheint, wirkt laut Plessner als »das hohle, harte, gequälte Lachen widernatürlich, höllisch, weil es nach Trotz, Hohn oder Betrug klingt.« (VII,327) Wir kennen es aus der Literatur schon seit Milton, Klopstock und Lessing; später taucht es in der Schwarzen Romantik bei Klingemann, Maturin und Baudelaire auf und kehrt im FaustusRoman von Thomas Mann 97 wieder. Und immer ist es ein wildes Auflachen, das die personale Kapitulation zwar konstatiert, aber nicht wahrhaben will, gleichsam ein letztes heroisches Aufbäumen von Selbstbehauptung im Trotz gegen das Schicksal angesichts einer Niederlage und somit, im Gegensatz zum Verlegenheits-Lachen, reines Bekundungs-Lachen. Für Plessner markiert dieses Lachen aus Verzweiflung den Grenzbereich des Lachens überhaupt, denn: »Für den Verzweifelten, der nicht mehr aus noch ein weiß, gibt es keinen Spielraum der Äußerung. Er kann alles beginnen und nichts beginnen, und vielleicht ist die stille Verzweiflung (die Akedia) die tiefere. Wer die Kraft aufbringt, um sich zu schlagen, zu toben, zu weinen oder zu lachen, hat sich noch nicht verlorengegeben, denn er realisiert noch den Abstand zu seiner Lage. Ihm schwindelt, aber er ist noch nicht ganz am Ende. (…) In der Verzweiflung ist (…) erst die Grenze erreicht, welche die Zone der Ratlosigkeit und Aussichtslosigkeit von der wirklichen Kapitulation trennt. Bevor er sie überschreitet, gerät er in den unmöglichen Zustand der vollkommenen Ausweglosigkeit, in

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dem kein Ausdruck (und auch weder Lachen noch Weinen) mehr am Platz ist.« (VII,327)

Diese wirkliche und endgültige Kapitulation beginnt mit der Akedia, dem dumpfen blick- und tränenlosen Vor-sich-hin-brüten, und kann sich bis zum Vagustod als dem endgültigen »Notausgang nach innen« steigern. Damit ist Plessner in seiner Argumentation so weit gekommen, daß er die Bilanz ziehen kann: »So spannt sich von den mittelbaren Anlässen der überschwenglichen Freude und des Kitzels bis zu den Grenzlagen der Verlegenheit und der Verzweiflung der Bogen des Lachens. Der Scheitel des Bogens, welcher den Anlässen der Komik und des Witzes zugeordnet ist, bezeichnet das Lachen in seiner vollen Entfaltung.« (VII,330)

Diesen Befund könnte man nun so verstehen, daß alle Lacharten jenseits des Lachens über das Komische nur Gelächter in minder voller Entfaltung ist. Um aber diese immer wieder angeklungene reduktionistische Sicht auf das Lachen endgültig zu korrigieren, fügt Plessner sofort hinzu: »Darum dürfen die anderen Arten des Lachens doch nicht einfach im Lichte seiner Art gesehen werden.« (VII,330)

Ich möchte diesen Zusatz gern so verstehen, daß für Plessner alle Lacharten als echtes Lachen gelten dürfen, die sich nur hinsichtlich ihrer Ausgeprägtheit voneinander unterscheiden, also hinsichtlich ihres Ortes auf dem »Bogen des Lachens« oder der »Skala des Lachens« (VII,331), nicht aber hinsichtlich ihrer Verfügbarkeit, weil er doch eindeutig das Bekundungs-Lachen favorisiert. Aber dann zuckt Plessner doch wieder vor den Konsequenzen seiner eben aufgestellten Behauptung zurück, wenn er schreibt: »Im übrigen muß die Beurteilung der verschiedenen Anlässe des Lachens von systematischen Vermutungen freibleiben. Unsere Skala trägt allein der Tatsache Rechnung, daß das Lachen mit zunehmender Distanz des Menschen zum Anlaß Freiheit und Heiterkeit, Fülle und Tiefe gewinnt, mit schwindender Distanz, d. h. wachsender Mitgenommenheit und Benommenheit aber sie verliert.« (VII,331)

Das würde doch wieder heißen, daß die tendenziell verfügbaren Formen von Gelächter das wahre Lachen ausmachen, weil sie das höhere Maß Distanz zum Lach-Anlaß haben, und damit wäre wie1540 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der das Interaktions-Lachen das wahre echte Lachen, das Plessner aber gerade nicht ausgiebig behandelt hat. Also greife ich entschlossen zum Schwert, durchhaue diesen gordischen Knoten an Widersprüchen und verstehe Plessner so, daß das Lachen umso mehr an »Freiheit und Heiterkeit, Fülle und Tiefe gewinnt«, je ausgeglichener das Verhältnis von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe in ihm ist. Gerät dieses Verhältnis aus der Waage, entsteht eine ganze Skala von Gelächter jenseits des Heiteren, an deren einem Ende das aggressive Hohngelächter steht und am anderen Ende das würgende Lachen der Verzweiflung, die aber ebenfalls als echtes Lachen gelten müssen. Diese vielleicht etwas rabiate Interpretation ließe sich sogar durch Plessners Text selbst begründen, denn Plessner verweist im gleichen Zusammenhang auch auf das lustvoll und heiter Regressive und damit auf die Lebensfunktion des Lachens, wenn er in enger Anlehnung an Kant schreibt: »Lustvoll ist es als Entladung einer Spannung. (…) Lustvoll und ›gesund‹ ist es als Reaktion des Sichloslassens in einen körperlichen Automatismus, als Preisgabe der beherrschenden Einheit von Mensch und Körper, die einen ständigen Aufwand an Hemmung und Impulsen verlangt. Lustvoll ist es schließlich als die in seiner Ursprünglichkeit und Hemmungslosigkeit, in seiner Emanzipiertheit vom Menschen zugleich sinnvolle Antwort auf eine Lage, der gegenüber jede andere Antwort versagt ist.« (VII,330 f.)

Somit können wir die Bilanz ziehen, daß die Lebensfunktion auch der dunklen Varianten des Lachens jenseits des Heiteren in ihrer entlastenden Funktion besteht, weil diese Arten von Gelächter die Flucht aus einer bedrängenden Situation ermöglichen. Diese Flucht ist zwar nur eine virtuelle, da die Situation, die diese Verlegenheit oder Verzweiflung stiftet, ja faktisch weiterhin besteht, aber da das Lachen immer eine Flucht ins Weite ist, bietet es die Möglichkeit, in der Situation aus der Situation zu entkommen und dadurch diese zu bestehen. Aus diesem Grund ist beim Verlegenheits- und VerzweiflungsLachen diese virtuelle Flucht aus einer Situation in der Situation auch immer eine gehemmte, gleichsam gestottert in sich selbst zurückgenommene Flucht, eine Flucht-auf-der-Stelle, deren ange1541 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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messene Signatur die gestottert gepreßte Ausatmung ist. Wäre es eine wirkliche Flucht aus der Situation, wäre die Situation beendet und das Lachen wäre ein heiter erleichtertes Auflachen im Rückblick auf die glücklich überstandene bedrängende Lage, der man durch dieses heiter erleichterte Auflachen immer noch weiter entkommt. 2.17.4.5.6 Lachen als Ausdrucksbild und Handlungsbild Joachim Fischer hat Lachen und Weinen als »Durchführung« 98 der Stufen bezeichnet, sodaß beide Werke zueinander stehen wie »Grundlegung und Durchführung« (S. 254), und das kann man wohl auch so sehen. Mit gleichem Recht kann man Lachen und Weinen und den Aufsatz Das Lächeln aber auch als Ergänzung zu Grenzen der Gemeinschaft lesen und verstehen, wenn auch nur unter dem Aspekt eutrapelistischer Geselligkeit. Lachen und Weinen hätte aber auch die Fortführung und Ergänzung des frühen Aufsatzes Die Deutung des mimischen Ausdrucks von 1925 sein können, denn dort hatte Plessner zusammen mit Buytendijk einen Argumentationsrahmen erstellt, der die Möglichkeit geboten hätte, neben dem Bekundungs-Lachen auch das Resonanz-Lachen und das Interaktions-Lachen in die Betrachtung mit einzubeziehen und dadurch das Lachen in seiner ganzen Bandbreite und ohne jeden Reduktionismus darzustellen. Plessner hat dies jedoch nicht getan, sodaß sich Lachen und Weinen stellenweise fast wie eine Zurücknahme des Aufsatzes von 1925 liest. Um die möglichen Gründe für die Ausblendung dieser beiden Lacharten zu erschließen, müssen wir aber erst auf diesen frühen Aufsatz eingehen, damit deutlich wird, worauf Plessner hier verzichtet hat und warum er dies wohl getan haben könnte. Ansatzpunkt für Plessner war damals die Frage, wie jemand ein »Bewußtsein des anderen Ichs« (VII,67) gewinnen kann »bei völliger Ausschließung seiner rationalen Sphäre« (VII,74), also allein durch die Orientierung »an rein sinnlichen Daten« (VII,74) oder, wie man auch sagen könnte, allein durch das Verstehen und Wahrnehmen »mit dem Bauch«, das dadurch zustande kommt, daß man durch das Zusammenspiel von Merkwelt und Wirkwelt im Sinne 1542 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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von Jakob von Uexküll in seine Umwelt gleichsam »eingeklinkt« ist. Dazu Plessner: »Aus der unmittelbaren Erfahrung weiß jeder, daß ein derartiges Benehmen tatsächlich bei der Wahrnehmung des mimischen Ausdrucks des anderen Menschen vorkommt. (…) Wahrnehmung und Deutung der Ausdrucksbewegungen beim Menschen geschehen auf Grund einer historischen Reaktionsbasis, die in die früheste Kindheit zurückreicht, und einer ursprünglichen Fähigkeit zur Erfassung und zum Verständnis des fremden Ichs, welches sich besonders in dem Verhalten des ganz jungen Kindes zeigt.« (VII,75)

Dann beschreibt Plessner kurz, wie ein Säugling eine freundliche Geste freundlich, eine unfreundliche aber unfreundlich, ein Stirnrunzeln mit einem Stirnrunzeln und ein Lächeln mit einem Lächeln beantwortet, ohne jedoch auf den alles entscheidenden Umstand zu verweisen, daß all dies nur möglich ist, wenn beide Interaktionspartner 99 durch einen Blickkontakt verbunden und ineinander »eingeklinkt« sind. Dieses Resonanzverhalten des Säuglings vor der Fremdelphase ist für Plessner ein Beispiel für die »Eintracht zwischen Lebewesen und Umgebung«, die zugleich auch die »apriorische Bereitschaft zu einer bestimmten sinnvollen Betätigungsform mitenthält.« (VII,75) Wolfgang Wieser würde hier wohl von erblich vorgegebenen Programmen 100 sprechen, die nach dem Akt-Potenz-Prinzip in bestimmten Situationen abgerufen werden können, und dies ebenfalls unter Berufung auf Jakob von Uexküll, und diese Position habe ich mir ja auch ausdrücklich zueigen gemacht. Plessner präzisiert dann die erwähnte »Eintracht zwischen Lebewesen und Umgebung« resp. zwischen Interaktionspartnern bei leiblicher Kommunikation in einer gemeinsamen Situation noch etwas weiter, indem er über diese »Leibumweltrelation« (VII,81) schreibt: »In solcher psychophysisch neutralen oder gegen eine derartige Antithese noch gleichgültigen Schicht leben wir selbst als Leibwesen wie auch die Tiere. In verschiedenem Grade, in verschiedener Art nehmen Mensch und Tier an der Sphäre der sensomotorischen Verhältnisformen teil, so daß ein Lebewesen das andere erblicken und anblicken, ergreifen und angreifen kann. Die Gegensinnigkeit der Leib-Umwelt-

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relation ist dafür vielleicht ein nicht weniger wichtiges Merkmal wie ihre psychophysische Indifferenz.« (VII,81)

Diese Kriterien allein genügen ihm aber noch nicht, weshalb er fortfährt: »Suchen und Finden, Drohen und Fliehen usw. ebenso wie ihre sensorischen Gegenstücke (also die Wahrnehmung von alledem) haben außer Bildhaftigkeit (im Sinne eines erkennbaren Gestaltverlaufs) psychophysische Indifferenz, Einbettung in eine Sphäre der Gegensinnigkeit noch das vierte Wesensprädikat der Sinnhaftigkeit und Verständlichkeit.« (VII,81)

Damit hat Plessner alle Kriterien beisammen, um diese spezifische Form von Wahrnehmung auf vor-prädikativer Grundlage in Form von mimetischer Resonanz auf den Begriff zu bringen und bedient sich zur Bezeichnung dieses Phänomens eines Ausdrucks aus dem Theaterjargon: »Auf dieser Möglichkeit zum unmittelbaren Mitgehen mit dem anderen Lebewesen, besonders der gleichen Art, beruht ihr ganzes Verhalten untereinander, das nicht jeder Organismus für sich erst aus der Erfahrung durch eine Reihe von Assoziationen hindurch verstehen lernt, sondern dessen ursprüngliche Verständlichkeit seinerseits eine vorgegebene Bedingung für das erfahrungsmäßige Lernen und die Stiftung der Assoziationen darstellt.« (VII,81 f.)

Dieses erblich vorgegebene programmatische Vermögen, das man als Vermögen zum Mitgehen oder als Vermögen mimetischer Resonanz oder mit Schmitz als Einleibungs-Vermögen bezeichnen kann, hat man damals in den zwanziger Jahren meist als »Einfühlung« bezeichnet, und hat sich damit in die Aporien 101 cartesianischer Erkenntnistheorie verrannt, die es unmöglich machten, gerade das an diesem Phänomen in den Blick zu bekommen, was hier wirklich wichtig wäre: Zum einen das Mitgehen als eine Form leiblicher Kommunikation zu erkennen, die als Reaktion ohne Reaktionszeit fungiert und dadurch alle Formen von Resonanzverhalten ermöglicht; und zum anderen, das Mitgehen als Bedingung der Möglichkeit für die Wahrnehmung auch komischer Phänomene jenseits aller prädikativ bedingter Komik, weil das Mitgehen als Reaktion ohne Reaktionszeit eben auch die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß das Komische laut Jean Paul im Subjekt »wohnt« (49,116), 1544 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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denn »die Allmacht und Schnelle der sinnlichen Anschauung zwingt und reißt uns in dieses Irrspiel hinein.« (49,116) Das wußte aber auch schon Laurent Joubert, für den, mit Jean Paul gesprochen, das Komische im Herzen »wohnt«. Da Plessner auf diese spezielle Form der Wahrnehmung von Komik jenseits der prädikativ orientierten Pointen-Komik jedoch mit keinem Wort eingeht, soll dies auch hier nicht geschehen, sondern in einem eigenen Kapitel im systematischen Teil dieser Studie behandelt werden. Auf das tendenziell verweigerbare Resonanz-Lachen geht Plessner allerdings kurz ein, wenn er schreibt, der Anblick lachender oder weinender Personen dränge sich uns »mit unwiderstehlicher Gewalt« (VII,262) auf: »Er zieht uns in seinen Bann, er steckt uns an. Wir können echtem Lachen und Weinen gegenüber nur mit Überwindung unbeteiligte Zuschauer bleiben. Stärker als jedes andere mimische Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen und machen uns zu Partnern ihrer Erregung, ohne daß wir wissen warum. Dieser mitreißenden Kraft entspricht auf der Seite der Lachenden und Weinenden jene Hingerissenheit, jenes Überwältigtsein vom eigenen Ausdruck, das seiner distanzierten Verwendung im Sinne einer Gebärdensprache ebenso entgegen ist wie seiner beliebigen Erzeugung.« (VII,262)

Daß Plessner hier ausschließlich das unverfügbare Bekundungs-Lachen im Auge hat, wird noch klarer, wenn er daraus den Schluß zieht, daß Ausdrucksbewegungen von dieser Hingerissenheit und Unverfügbarkeit sich nicht »als Handlungen zum Zweck der Verständigung oder der Signalisierung auffassen (lassen), ohne daß man ihrem Wesen Gewalt antut.« (VII,265) Diese Argumentation ist, wie wir in Kapitel 2.15.3.2 gesehen haben, in erster Linie gegen Darwins Tendenz gerichtet, ziellose Ausdrucksbewegungen evolutionsgeschichtlich auf zweckgerichtete Handlungen zurückzuführen, gilt aber auch für das BekundungsLachen, das wegen seiner tendenziellen Unverfügbarkeit nicht gezielt instrumentalisiert werden kann. Wenn Plessner nun im Aufsatz über die Deutung des mimischen Ausdrucks zur Unterscheidung von »Handlungsbild« und 1545 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Helmuth Plessner

»Ausdrucksbild« als zwei Grundformen expressiven Verhaltens übergeht und somit analog zu Kohnstamms Unterscheidung von »expressiver Reaktion« und »teleokliner Reizverwertung« 102 argumentiert, so dürfte man eigentlich erwarten, daß er damit zugleich auch einen Argumentationsrahmen erstellt, in den BekundungsLachen und Interaktions-Lachen gleichwertig nebeneinander Platz finden. Für den Plessner von 1925 läßt sich der Unterschied zwischen »Handlungsbild« und »Ausdrucksbild« an folgenden Kriterien festmachen: »Indem sich Handlung auf ein Ziel bezieht, einer Endphase als ihrer Erfüllung zustrebt, schreitet sie sukzessiv vorwärts, in jedem Moment sich verändernd. (…) Ganz anders der Ausdruck. Er hat sein Ziel in sich selbst, erfüllt sich an sich selbst, ist seinem Wesen nach auf nichts zweckmäßig eingestellt.« (VII,90)

Und das heißt: »Der Ausdruck dauert, während (wohingegen) die Handlung abläuft.« (VII,91) »Ausdruck als sinnerfülltes Bild hat Seinswert, Handlung als sinnerfüllende Bewegung hat Funktionswert. Beim Ausdruck fragt man: was kann das sein, bei der Handlung: wo führt das hin?« (VII,91)

Man könnte auch sagen, Ausdruck und Handlung verhalten sich zueinander wie Akkord und Melodie, weil ein Akkord anklingt, vielleicht sogar einen »Schweller« hat und wieder verklingt, ohne daß er sich verändert hätte, wohingegen eine Melodie Anfang und Ende hat und somit gleichsam eine musikalische Biographie erlebt. Als weitere Kriterien verweist Plessner darauf, daß jede Form von Ausdruck eine »unmittelbare Lebensäußerung« (VII,92) ist, eine Handlung hingegen eine »vermittelte und indirekte« (VII,92), denn: »Im Ausdruck wird ein Ganzes manifestiert und in dieser Manifestation ruht der lebendige Träger des Ausdrucks. Die Handlung dagegen ist ein Umweg des Organismus, die Störung seines Gleichgewichts zu beseitigen und ihn in eine neue Richtung zu bringen.« (VII,94)

Mit anderen Worten: Handlungen zielen darauf ab, einen Mangel zu beheben, ein Begehren zu stillen, ein Bedürfnis zu befriedigen, d. h. allgemein ein Ziel zu erreichen; sie sind, mit Kohnstamm gesprochen, »teleoklin« orientiert, und vor allem sind sie verfügbares 1546 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Verhalten. Man könnte auch sagen: Sie sind der verfügbare Teil des Gesamtverhaltens. All dies gilt, wie leicht einzusehen ist, in gleicher Weise vom Interaktions-Lachen, mit dem wir, vermittelt durch einen Blickkontakt, gemeinsame Situationen mit dem jeweils Anderen eingehen und uns interpersonell orientieren, Beziehungen aller Art stiften und modifizieren. Darüberhinaus gilt, daß jedes Interaktions-Lachen strikt an diesen Blickkontakt gebunden ist, der es einleitet und orientiert und dessen Abbruch es auch wieder beendet, und außerdem ist jedes Interaktions-Lachen eingebettet in den umfassenden Rahmen einer interpersonellen Zuwendung, wie immer diese auch emotional getönt sein mag. Doch auf all dies geht Plessner schon 1925 mit keinem Wort ein. Das ist umso seltsamer, als er im letzten Kapitel zu einer »Theorie des Verstehens des mimischen Ausdrucks« (VII,109) ansetzt, die man auch als eine Theorie leiblicher Kommunikation jenseits der Sprache bezeichnen könnte, da Plessner sie als »Spiel von Kundgabe und Kundnahme im mimischen Ausdruck mit Hilfe vorverständlicher Urbilder oder Ideen« (VII,109) versteht, das auf der Grundlage eines »mimischen Alphabets« (VII,109) und einer vorsprachlichen »Urgrammatik« (VII,109) fungieren soll, die aus »Gestaltcharakteren« (VII,109) bestehen sollen. Plessners Ziel war damals also die Erstellung eines Kategoriensystems des Verhaltens als »Seins- und Anschauungsform der tierischen und menschlichen Körperleiber« (VII,122) und für diese neue Kategorientafel sollte gelten: »Sie ist nicht derart objektiv, als ob sie einfach von Erfahrungskonstellationen abhinge, noch derart subjektiv, als ob sie nur vom Hierpunkt des erlebenden Ichs aus Gewißheit besäße. Wie eine Kategorie, wie eine Anschauungsform läßt sie sich weder dem Objekt noch dem Subjekt zuteilen, sondern garantiert durch ihre subjekt-objektive Indifferenz die Einheit der Erfahrung mit den Gegenständen der Erfahrung, der Anschauung der Körperleiber untereinander mit ihrer Seinsweise.« (VII,122)

Den Rahmen für ein solches Zusammenspiel von »mimischem Alphabet« und »Urgrammatik«, in dem auch das Lachen in all seinen Formen seinen Platz gefunden hätte, hat Plessner jedoch nie ent1547 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wickelt, sondern nur ansatzweise skizziert, und auch Lachen und Weinen kann nicht als die Ausführung dieser Skizze von 1925 gelten, weil hier das Interaktions-Lachen überhaupt nicht behandelt wird. Warum Plessner nach 1925 an dieser Kategorientafel nicht weitergearbeitet hat, weiß ich nicht zu sagen. Möglicherweise war es die Arbeit an den Stufen, die zunächst alle anderen Pläne blokkierte, und so auch diesen. Es könnte aber auch sein, daß der durch die Emigration bedingte Bruch in Plessners Biographie ihm bestimmte Ohnmachtserfahrungen aufdrängte, die ihn dazu brachten, die Unverfügbarkeit und den Widerfahrnischarakter bestimmter Verhaltensweisen in besonderem Maße zu betonen und deshalb auf die Darstellung des Interaktions-Lachens in Lachen und Weinen zu verzichten. Entwickelt wurde das von Plessner skizzierte mimische Alphabet aus Gestalt-Charakteren erst vierzig Jahre nach Plessners frühem Aufsatz von Hermann Schmitz als »Alphabet der Leiblichkeit« 103, das aus folgenden subjekt-objekt-indifferenten »Kategorien des Leiblichen« besteht: »Enge, Weite, Engung, Weitung, Richtung, Spannung, Schwellung, Intensität, Rhythmus, (leibliche Ökonomie als das Ganze von Intensität und Rhythmus), privative Weitung, privative Engung, protopathische Tendenz, epikritische Tendenz, Leibinselbildung, Leibinselschwund.« 104

Doch ob Plessner davon je Kenntnis genommen hat, oder dieses Alphabet der Leiblichkeit gar als die angemessene Ausführung seiner Skizze von 1925 erkannt und anerkannt hätte, weiß ich nicht zu sagen. 2.17.4.5.7 Lachen und Weinen Wir haben schon mehrfach gesehen, in welche argumentatorischen Schwierigkeiten sich Plessner dadurch gebracht hat, daß er Lachen auf das Bekundungs-Lachen reduziert, das sich als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollzieht, und sowohl das tendenziell verfügbare Interaktions-Lachen wie das tendenziell verweigerbare Resonanz-Lachen aus seiner Lachpalette faktisch ausgeblendet hat. 1548 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, gibt es kein dem Interaktions-Lachen analoges ad hoc verfügbares Interaktions-Weinen, mit dem man jemanden anweint so wie man jemanden anlachen oder auslachen kann. Weinen manifestiert sich meist nur in der Form des tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Weinens, das als Echo auf ein überwältigendes Widerfahrnis aus uns herausquillt. Daneben gibt es aber auch noch als Analogon zum Resonanz-Lachen das Resonanz-Weinen, zu dem man sich anstecken lassen kann, ganz so wie man sich an zum Lachen anstecken lassen kann, wenn man sich denn anstecken lassen will. Somit zeigen sich schon auf den ersten Blick gewisse Analogien zwischen beiden Verhaltensweisen. Plessner aber sieht dies ganz anders und behauptet, verführt durch seinen reduktionistischen Ansatz, zwischen Lachen und Weinen bestehe ein grundsätzlicher struktureller Unterschied, bedingt durch die »Unvermitteltheit des Lachens und Vermitteltheit des Weinens« (VII,334). Doch damit kann er, genau genommen, eigentlich nur die Unvermitteltheit des Bekundungs-Lachens und Interaktions-Lachens meinen, denn das Resonanz-Lachen ist, bedingt durch seine tendenzielle Verweigerbarkeit, genauo vermittelt, weil es die Bereitschaft verlangt, auch mitlachen zu wollen, denn es kommt, mit Burke und Kant 105 formuliert, nur dann zustande, wenn man von der Einstellung »wehrhaft tapferer Selbstbehauptung« zur Einstellung »wehrlos schmelzender Hingabe« übergeht, und genau diese Einstellung ist auch nötig, wenn man sich zum Mitweinen anstecken läßt. Somit stellt sich die Frage, ob das Changieren zwischen diesen beiden Einstellungen nicht nur für alle Formen des Weinens und für das Resonanz-Lachen konstitutiv ist, sondern ganz generell für alle Varianten von Lachen und Weinen. Wir können diese Frage sogar noch etwas genauer formulieren, und dann ist es nicht die Frage nach einem ruckhaften Austausch dieser beiden Einstellungen, sondern die nach den unterschiedlichen Graden und Tendenzen von Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe bzw. von Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung. Dazu Plessner: »Im Lachen quittiert der Mensch eine Situation. Er beantwortet sie mit ihm direkt und unpersönlich. Er gerät in einen anonymen Automatismus. Er selbst eigentlich lacht nicht, es lacht in ihm, und er ist gewissermaßen nur Schauplatz und Gefäß für diesen Vorgang.

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Anders das Weinen. Im Weinen gibt der Mensch auch eine Antwort, indem er sich einem anonymen Automatismus überläßt, der mehr oder weniger langsam in Gang kommt, aber Gewalt über ihn gewinnen kann. Nur bezieht sich der Mensch selbst in diese Antwort mit ein. Er ist innerlich dabei beteiligt – ergriffen, gerührt, erschüttert. Wenn sich ihm die Kehle zuschnürt und die Tränen kommen, läßt er sich innerlich los, es übermannt ihn, und er überläßt sich dem Prozeß des Weinens.« (VII,333)

Mit dieser Gegenüberstellung suggeriert Plessner also, jemand lache »einfach so«, weine aber »als jemand«, d. h. als jemand, der sich gleichsam erst durch einen bestimmten inneren Akt, also durch die Einnahme einer bestimmten Einstellung zur Situation und zu sich selbst zum Weinenkönnen disponieren muß, weil beim Weinen »zwischen Anlaß und Ausbruch ein auf die (eigene) Person gerichteter, reflexiver Akt eingeschaltet sein muß« (VII,334), der gleichsam als Verhaltensfilter dient. Diese unabdingbare Selbstdisponierung zum Weinenkönnen als »Verhaltensweise sich selbst gegenüber« (VII,333) bezeichnet Plessner als »Kapitulieren, Sich-besiegt-Geben, Sich-Loslassen, die Fassung verlieren« (VII,333), und genau dieser Akt expliziter Selbstpreisgabe fehlt laut Plessner beim Lachen, denn dieses »überkommt uns unvermittelt und schließt an den Anlaß unmittelbar an« (VII,333), weil es keinen derartigen Filter braucht, um in Gang zu kommen. Doch all dies gilt ausschließlich für das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen, nicht jedoch für das tendenziell verweigerbare Resonanz-Lachen, zu dem wir uns anstecken lassen können, in das wir uns aber nur dann hineingleiten lassen, wenn wir dies auch zulassen, d. h. wenn wir die Einstellung williger Hingabe einnehmen. (Wir werden in Kapitel 3.5.5 ausführlicher darauf eingehen.) Nun haben wir ja schon von Laurent Joubert gelernt, daß wir eine geloiastische Situation blitzschnell mit Lachen beantworten, ja daß das Belachen einer Situation sogar schneller erfolgt als das Begreifen ebendieser Situation, weil dieses intuitive Belachen eine Reaktion ohne Reaktionszeit ist. Dieser Befund müßte eigentlich genügen, um Plessners These zu stützen. Allein dies scheint nur so zu sein. Denn wenn man diesen reflexiven Akt genauer analysiert, zeigt sich alsbald, daß dieser reflexive Akt, aus dem sich die jeweili1550 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ge Einstellung dem eigenen Verhalten und der Situation gegenüber ergeben soll, durchaus nicht immer ad hoc und explizit erfolgen muß, sondern auch durch eine mitgebrachte perennierende Grundeinstellung ersetzt werden kann, die als kulturell bedingte zweite Natur unser Verhalten längerfristig und in jeder Situation bestimmt. Wenn der idealtypische stoische Weise oder der idealtypische benediktinische Mönch in eine Situation geraten, die sie zum Lachen drängt, wird sich alsbald zeigen, ob sie vor dem Lachen, das sie von innen »stößt«, kapitulieren werden und sich ihm hingeben, oder ob sie erfolgreich dagegen ankämpfen, um ihre zur zweiten Natur gewordene Haltung verabsolutierter Selbstbehauptung beibehalten zu können. Nicht anders ist dies in Situationen, in denen privates Lachen absolut tabuisiert ist, z. B. bei Beerdigungen, während eines Gottesdienstes oder auf der Szene während der Vorstellung. Von Laurent Joubert haben wir aber auch gelernt, daß unser Lachen schlagartig abbricht, sobald wir merken, daß jemand bei einem Sturz, den wir erst komisch fanden und mit Gelächter quittiert haben, sich ernsthaft verletzt hat. Laut Joubert schlägt in diesem Fall die Einstellung zum eigenen und zum fremden Verhalten blitzartig um, weil das nun wirksame Mitleid als Filter wirkt, unser Lachen über fremdes Leid sofort zum absoluten Tabu erhebt und uns in Ernst und Sorge zurückfallen läßt. Und das wiederum heißt, daß dieser Filter zur Freigabe der allfälligen Lach-Bereitschaft immer auch als latente Lach-Hemmung vorhanden ist und wirken kann und deshalb auch unser Lachen in bestimmten Situationen ad hoc blockiert, ohne daß es eines expliziten reflexiven Aktes innerer Orientierung bedarf, weil auch diese latente Lachhemmung mit zur kulturell bedingten zweiten Natur als dem Nomos unseres allgemeinen Verhaltens gehört. Somit sehen wir, daß Lachen auch durch eine längerfristig wirkende Einstellung vermittelt sein kann, die Gelächter aller Art nicht nur ad hoc freigeben, sondern auch ad hoc blockieren kann. Plessners These, Lachen erfolge generell unvermittelt, Weinen hingegen generell vermittelt durch einen expliziten Akt der Selbstreflexion und innerer Kapitulation ist so gesehen also ungenau, weil auch beim Lachen sehr wohl ein Filter zwischen dem Drang zum 1551 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachen und dem Lachen selbst geschaltet ist und deshalb gilt Plessners These nur für das Verhalten in Zonen und Situationen ohne Lach-Tabus. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, sie dahingehend zu präzisieren, daß Lachen und Weinen generell davon abhängen, auf welchem Niveau personaler Emanzipation man sich jeweils befindet und welche verinnerlichte Einstellung man jeweils mitbringt, wenn man in eine Situation gerät, in der einem zum Lachen oder Weinen zumute ist, weil für beide Verhaltensweisen ein unabdingbares Mindestmaß an aktueller Selbstpreisgabe konstitutiv ist. Ein Unterschied besteht allerdings darin, daß dieser aktuelle Schub an Selbstpreisgabe beim Bekundungs-Lachen immer als sprengende Explosion, als »Explodieren der Angstspitze« (Baader), erfolgt, beim Weinen und beim Resonanz-Lachen immer als schmelzende Erosion 106. Doch auch dieser unabdingbare Schub von aktueller Selbstpreisgabe ist immer strikt gebunden an ein Mindestmaß an Selbstbehauptung; wäre diese Ambivalenz nicht gegeben, wäre die explosive Ausatmung beim Lachen nicht so gestottert, und die schluchzende Einatmung beim Weinen nicht ebenso gestottert. Die von Plessner erkannte Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, ist also nicht nur konstitutiv für das Lachen, wie Plessner behauptet, sondern ebenso für das Weinen. Diese etwas veränderte Sicht der Dinge wird von Plessner selbst sogar bestätigt, wenn er auf die Anlässe des Weinens eingeht und einige Affekte benennt, die in besonderem Maße geeignet sind, Weinen zu provozieren. Hier nennt er Schmerz, Leid, Trauer, Wut, Trotz, Verzweiflung und Scham, aber auch Ergriffenheit, Rührung und Glück, fügt dann aber hinzu, all diese genannten Anlässe allein würden nicht genügen, um Weinen auszulösen, weil auch in all diesen affektiv hoch aufgeladenen Situationen immer noch die Möglichkeit besteht, trotzdem noch die Fassung zu bewahren. Um wirklich ins Weinen zu verfallen, bedürfe es »eines eigenen Aktes der inneren Kapitulation« (VII,345) und der Einnahme eines neuen »inneren Habitus« (VII,346), die uns all diesen Affekten gegenüber erst wehrlos machen müssen: »Sie dringen auf mich ein – und ich überliefere mich ihnen.« (VII,346) Doch das ist bei allen Varianten von Lachen nicht grundsätzlich anders; daß es auf den ersten Blick so zu sein scheint, liegt, wie 1552 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schon gesagt, daran, daß in unserer Kultur das Lachen i. a. nicht tabuisiert ist, das Weinen aber schon eher, Weinen in der Öffentlichkeit noch mehr, und öffentliches Weinen von Männern gilt geradezu als skandalös. Aus diesem Grund unterliegt der Einstellungswechsel zur inneren Kapitulation auf den unterschiedlichen Niveaus personaler Emanzipation auch höchst unterschiedlichen Hemmungen: Ein Kind darf in aller Öffentlichkeit drauflos heulen; ein Politiker aber würde sich lächerlich machen, wenn er dies täte. Ob dieser Einstellungswechsel zur inneren Kapitulation beim Lachen und Weinen erfolgt oder nicht, ob er beim Lachen leichter oder schwerer fällt als beim Weinen, liegt also nicht in der Natur von Lachen und Weinen begründet, sondern in den Normen öffentlichen Verhaltens, die dem kulturellen Wandel unterworfen sind. Der Kult der warmen Träne, der in der Epoche der Empfindsamkeit 107 lustvoll gepflegt wurde, wirkt auf uns heute reichlich irritierend. An diesem Punkt seiner Argumentation hätte Plessner die Möglichkeit gehabt, eigens auch auf das Resonanz-Lachen einzugehen, in das wir geraten, wenn wir uns vom Lachen anderer anstecken lassen oder wenn wir uns von einer Atmosphäre allgemeiner Heiterkeit ergreifen lassen. Plessner ist auch ganz nahe dran, diesen Gedanken aufzugreifen, wenn er Gefühle nicht als private Zustände im eigenen Inneren, sondern als Ergriffenheiten von übergreifenden Stimmungen und Atmosphären bezeichnet, denn er schreibt unter ausdrücklichem Hinweis auf Bollnow 108: »Gefühle sind nicht nur keine motivierten Stellungnahmen, sie sind überhaupt keine Stellungnahmen, sondern durchstimmende Angesprochenheiten des Menschen als Ganzem.« (VII,348)

Durchstimmend angesprochen werden kann man aber nur, wenn man auch bereit ist, sich auf die jeweils spezifische Weise ansprechen oder besser: anmuten zu lassen, was wiederum ein Mindestmaß an Bereitschaft zur Hingabe voraussetzt. Und deshalb fährt Plessner fort: »Als durchstimmende Angesprochenheit steht das Gefühl zwischen ›Reaktion‹ und ›Antwort‹. Für eine Reaktion, die unvermittelt wie ein Reflex ausgelöst wird, ist es zu lose mit dem Anlaß verknüpft. Es wird nicht einfach (von einem Reiz) ausgelöst und gleichsam in Gang ge-

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bracht, sondern eine Qualität ›spricht‹ zum Menschen und weckt in ihm eine Resonanz. Und für eine Antwort ist das Gefühl wieder zu innig an den Anlaß gebunden. Dieser ruft nicht erst eine persönliche Stellungnahme hervor und schafft keine fragliche Situation, sondern bringt den Menschen (wenn auch über eine Distanz hinweg, dem Echo vergleichbar) zum Erklingen.« (VII,349)

Da Plessner aber über keine geeignete Begrifflichkeit verfügt, um diese intuitive Wahrnehmung von Anmutungen »mit dem Bauch« angemessen zu benennen, die zwischen vor-bewußter blinder Reaktion auf einen Reiz und bewußter und gezielter Antwort auf eine Situation liegt, und das heißt: da Plessner das Phänomen der Wahrnehmung durch Einleibung und das dadurch mögliche Mitgehen 109 nicht kennt, sieht er sich auch nicht in der Lage, das Resonanz-Lachen, das eine sehr typische Form des Mitgehens in Form von Lachen ist, auf den Begriff zu bringen, und bricht den Gedanken einfach wieder ab. Beurteilt man den hier in Rede stehenden Einstellungswechsel nicht mehr nur psychologisch, sondern auch im Hinblick auf die eigenleibliche Dynamik, erscheint er als eine mehr oder weniger massive Veränderung der Körperspannung. So sieht es auch Plessner, wenn er schreibt: »Wesentlich für den Eintritt des Weinens ist der plötzliche Übergang von gespannter zu gelöster Haltung.« (VII,354)

Geschieht diese Entspannung sprengend, tendieren wir eher zum Lachen; geschieht sie schmelzend, tendieren wir eher zum Weinen, aber durchaus nicht immer, da wir uns ja auch durch Resonanz mit anderen Lachenden ins Mitlachen gleiten lassen können. Was dabei aber schmelzen oder gesprengt werden muß, ist der unbedingte Wille, um jeden Preis Fassung bewahren zu wollen und völlig Herr seiner selbst zu bleiben. Es ist also die autistische Versammeltheit bei sich selbst, die hier geopfert werden muß, weil sie jede Form von ekstatischem Verhalten blockiert. Gelingt dies aber, so gilt: »Die starre Haltung der Verstocktheit, der Unbesonnenheit, die sich hinreißen ließ, langer Druck des Entbehrens und der Freudlosigkeit schlagen jäh in einen Zustand der Lösung um.« (VII,355)

Aber auch dies gilt für Lachen genauo wie für Weinen. Gilt also für das Bekundungs-Lachen im allgemeinen die genetische Formel: 1554 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Anspannung – Zuspitzung – Durchbruch – Ekstase, und gilt für das Bekundungs-Lachen in Zonen von Lach-Tabus die Formel: Anspannung – Verhärtung – Einstellungswechsel – Zuspitzung – Durchbruch – Ekstase, so gilt für das Weinen, weil es in unserer Kultur eher tabuisiert ist, die Formel: Anspannung – Verhärtung – Einstellungswechsel – Schmelze – Ekstase. Ein fundamentaler Unterschied besteht zwischen Lachen und Weinen aber doch, wenn man nach der Lebensfunktion beider Verhaltensweisen fragt. Beide unterliegen zwar dem uroborischen Impuls, lassen uns aber, sobald sie sich uroborisch verzehrt haben, in je unterschiedlicher Weise zurück, weil sie unterschiedlich tief in uns eingreifen. Durch Lachen wird niemand verändert, auch wenn das Lachen noch so exzessiv sein mag; durch Weinen über Wehwehchen aller Art, die uns nicht grundsätzlich in Frage stellen, wird ebenfalls niemand verändert 110, weil man sie einfach wegweint und zusammen mit den Tränen wegwischt. Bei der Art von Weinen, das die Kirchenväter111 als das Weinen der Zerknirschung (contritio) bezeichneten, ist dies allerdings anders, weil bei diesem Einstellungswechsel die eigene Biographie als ganze in Frage gestellt wird: »Und was von Reue, gilt auch von der Scham, von der überwältigenden Freude der Befreiung, des Widersehens, von der Bekehrung. Sie wirken lösend durch den Kontrast gegen den dahingegangenen Druck, die überwundene Nacht, nicht nur durch die positiven Qualitäten des neuen Zustandes, in den der Mensch versetzt wird.« (VII,356)

Und deshalb schreibt Plessner mit Recht über dieses nicht nur lösende, sondern auch erlösende tiefe Weinen: »Entscheidend für das Weinen des inneren Umschwungs ist also nicht etwa nur das Nachlassen einer Spannung, die Auflockerung einer Härte, sondern das Innewerden uneinholbaren, unauslöschlichen, unwiederbringlichen Lebens. Ohne dieses Innewerden in gefühlsmäßiger Erkenntnis ließe eben die Spannung nicht nach. So ist Reue nicht einfach nur zusammengesetzt aus der Erkenntnis: Das durfte ich nicht tun – hätte ich es doch nicht getan, und dem brennenden Gefühl des vergeblichen Sich-an-einen-neuen-Anfang-versetzt-Wünschens, sondern ein ursprüngliches Getroffensein des in den Anfang, in die Ursprünglichkeit (des Ganz-von-vorn-Beginnens) Zurückgeworfenseins, das wir

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uns nur im Schema emotionaler und erkenntnismäßiger Komponenten klarzumachen versuchen.« (VII,355 f.)

So gesehen hatten die Kirchenväter sicher Recht, wenn sie in der Akedie als der Unfähigkeit zum erlösenden Weinen die Hölle auf Erden und im »Weg des Weinens« 112 das beste psychiatrische Mittel zur Selbsttherapie sahen. In frommeren Zeiten empfahl man dem zerknirschten Sünder, sich rückhaltlos »in Gottes Hand« zu begeben. Wer daran aber nicht mehr zu glauben vermag, muß sich eben mit profanen Lösungen begnügen und darauf vertrauen, daß es auch ganz profane Formen einer »beglückenden Selbstaufgabe vor dem Überwältigenden« (VII,358) gibt: »Entscheidend ist allein das Übermanntsein als Ergriffenheit im ganzen, der sich der Mensch ohne Vorbehalt ausliefert, so daß er nicht mehr in Distanz zu antworten vermag. Die (distanzierte) Haltung verlieren heißt hier jedoch das Verhältnis zur Welt und sich so aus der Hand geben, daß der Verlust noch im Ausdruck sichtbar wird.« (VII,358)

Sagen wir es so: Lachen kann nur lösen, indem man sich krumm lacht und wieder aufrichtet als der, der man vorher schon war und nach wie vor sein wird; Weinen kann aber auch erlösen, indem es uns gleichsam häuten und zu einem neuen Menschen machen kann. Oder noch kürzer: Durch Weinen kann man reifen, durch Lachen aber nicht. 2.17.4.5.8 Plessners Gelotologie im zeitgenössischen philosophisch-anthropologischen Kontext (Jünger, Gehlen, Bollnow, Ritter, Kadner) Friedrich Georg Jünger (1898–1977) hatte 1936 eine Studie über das Komische 113 veröffentlicht, die mit den Sätzen beginnt: »Alles Komische geht aus einem Konflikt hervor. Ohne ihn ist nichts Komisches denkbar, und nur insofern er uns bewegt, sind wir fähig, ihn wahrzunehmen. Aus unstreitigen Zuständen und Verhältnissen kann sich daher niemals etwas Komisches ergeben. Insbesondere ist dort, wo das Schöne unangefochten herrscht, kein Feld für das Komische. Erst dort, wo der Streit ausbricht, wo sich Parteien bilden, wo der

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Mensch in Gegensatz mit sich selbst, mit anderen oder mit seiner Umwelt gerät, werden wir auf ein solches hoffen können.« (S. 8)

Das ist sicher richtig gesehen, weil Jünger noch hinzufügt, »daß nichts an sich selbst komisch ist« (S. 8), denn: »Das Komische ergibt sich durch die Beziehung auf eine Regel, der es widerstreitet und gegenübertritt. Niemand würde das Schiefe lächerlich finden, wenn er nicht einen Begriff von geradem Wuchs hätte, an dem er es abmißt, niemand einen Irrtum komisch, wenn er nicht Einblick in den wahren Sachverhalt hätte.« (S. 9)

Auch diese Erkenntnis, daß das Komische als das »unschädlich Häßliche« (Aristoteles) oder »nicht-häßliche Häßliche« (Cicero), als »Difformität« (Joubert) oder als das unschädliche Nichteintreffen des Erwarteten resp. als das plötzliche Eintreffen des Nichterwarteten (Kant) erscheint, ist in der Theoriegeschichte des Komischen immer wieder gesehen worden. Und zum tradierten Erkenntnisstand gehört auch seit Aristoteles der Aha-Effekt beim plötzlichen Durchblick auf das Komische, auf den auch Jünger verweist, wenn er schreibt: »Die Erkenntnis des Komischen setzt Übersicht über den komischen Konflikt voraus. Dem Lachen, das auf einen komischen Vorgang folgt, geht ein Akt der unterscheidenden Erkenntnis voraus; ein solches Erkennen des Unterschiedes ist wiederum ohne die Fähigkeit zum Vergleich nicht möglich.« (S. 9)

Auch nicht neu ist Jüngers Gedanke, daß beim komischen Konflikt der komische Effekt umso größer ist, je größer »das Mißverhältnis in den Kräften der streitenden Parteien« (S. 9) ist, und daß im Idealfall der komische Konflikt aus der Provokation des Stärkeren durch den Schwächeren entsteht, und dieser den vorwitzigen Provokateur wieder in die Schranken weist, was allerdings so geschehen muß, daß diesem daraus kein ernsthafter Schaden erwächst. Diese »Replik«, wie Jünger diese Zurückweisung nennt, ist dann nichts anderes als »das Sichgeltendmachen der Regel, des Gesetzes, eines Kanons und Nomos, der vom Urheber des komischen Konfliktes außer acht gelassen wurde.« (S. 16) Was Jünger hier beschreibt, entspricht also ziemlich genau der Dramaturgie der Verlach-Komödie im Stil von Molière, bei der die Replik in einer letztlich wohlwollenden Intrige besteht, durch die 1557 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der närrische Held im Namen der Vernunft von seiner fixen Idee kuriert werden soll, die ihn dazu gebracht hatte, gegen den je aktuellen gesellschaftlichen Nomos zu verstoßen. Diesen komischen Konflikt versteht und beschreibt Jünger im wesentlichen als Machtkampf, ähnlich wie Platon und Hobbes, also als die Frage »Wer wen?«, und deshalb gibt Plessner, nachdem er Jüngers Argumentation kurz und im wesentlichen zustimmend referiert hat, zu bedenken, ob Jünger mit seiner Reduktion des komischen Konflikts auf die Welt der Machtverhältnisse vielleicht etwas zu sehr »einer deutschen Neigung in diesen Jahren« (VII,302) nachgegeben habe. Dies läßt aufhorchen, denn wir haben ja immer wieder gesehen, in welchem Maße die gelotologischen Konzepte immer auch ein Echo der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Situation waren, in der sie entworfen worden sind, und deshalb liegt die Frage nahe, ob nicht auch Plessners Werk Lachen und Weinen als das Echo seiner eigenen Situation als geflüchteter politischer Emigrant gelesen und verstanden werden kann, vor allem dann, wenn man es mit der gelotologischen und philosophisch-anthropologischen Literatur vergleicht, die zur selben Zeit in Deutschland vorgelegt worden ist. Ich denke da neben Georg Friedrich Jüngers Studie Über das Komische (1936) vor allem an Joachim Ritters Aufsatz Über das Lachen (1940), an Arnold Gehlens anthropologisches Hauptwerk Der Mensch (1940), an Otto Friedrich Bollnows Studie Das Wesen der Stimmungen (1941) und an das Werk von Siegfried Kadner Rasse und Humor, das von 1930 bis 1939 drei Auflagen erlebte. Jünger, Ritter und Bollnow waren keine Nationalsozialisten, sondern paßten sich mehr oder weniger an, um möglichst unbehelligt zu bleiben und doch noch irgendwie Karriere zu machen; Arnold Gehlen buhlte im letzten Kapitel seines Buches ganz offen und würdelos um die Gunst des nationalsozialistischen Chefideologen Alfred Rosenberg; Siegfried Kadner hingegen war schon lange vor 1933 ein entschiedener Nazi. Aus diesen Gründen darf man erwarten, daß das Echo der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bei Jünger, Ritter und Bollnow eher verhalten und gedämpft ertönen wird, bei Plessner, Gehlen und Kadner jedoch viel deutlicher, und zwar bei Kad1558 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ner als protzende Zustimmung, bei Gehlen als Quengeln um Gunst und Einfluß, bei Plessner aber als Versuch der Selbstbehauptung in gefährlicher Situation. Wolf Lepenies hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, daß der philosophisch-anthropologische Diskurs im nationalsozialistischen Deutschland in einem »melancholischen Klima« stattfand, und Kronzeuge für diese Behauptung ist für ihn vor allem Arnold Gehlen (1904–1976), bei dem es im letzten Kapitel seines Werks Der Mensch heißt: »Die Mißerfolge auch wohlerwogenen und dringlichsten Handelns, die Unerfüllbarkeit des elementarsten Anspruchs auf ›mehr Leben‹ und die darin bedingte Depression, die unberechenbar einschlagenden Schicksale, die Krankheiten, der gewisse Tod sind Erfahrungen, die einem bewußten und dem ›Überraschungsfeld‹ der Welt ausgesetzten Wesen niemals erspart werden. Dies sind Erfahrungen der Ohnmacht, und sie sind unaufhebbar, im Wesen des Daseins des Menschen mitgegeben.« 114

Lepenies hätte auch Bollnows Buch über das Wesen der Stimmungen von 1941/43 nennen können, in dem Bollnow (1903–1991) zwischen »gehobenen« und »gedrückten Stimmungen« unterscheidet und »die hellen Seiten des menschlichen Lebens« vor dem »Dunkel dieser furchtbaren Jahre« 115 abzuheben bemüht war. Vor allem aber hätte Lepenies Joachim Ritters Aufsatz Über das Lachen 116 von 1940 nennen können, denn schon im ersten Satz verweist Ritter auf die Erfahrung, »daß das Nachdenken über das Lachen melancholisch macht.« (S. 1/62) Ausgangspunkt für Ritter (1903–1974) ist sein Befund, daß das Lachen als Echo des Komischen und Lächerlichen immer zugleich auch der Kommentar auf eine unheile Welt ist: »Der Mensch erscheint als die geschlagene und gestoßene, als die abirrende und taumelnde Kreatur. Schiffbruch und Bergabstürze, Katastrophen und Zerstörungen, verschwenderische Frauen und trunkene Männer, unsinnige Liebhaber und dürftige Narren bilden die Welt, aus der das Lachen zu leben pflegt« (S. 1/62), denn: »Es scheint im Lachen immer um Dinge zu gehen, die als solche und pragmatisch genommen genauo den Lebensmächten zugehören können, die der Heiterkeit und dem Glück entgegenstehen und Anlaß

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auch des Schmerzes, der Melancholie und der Skepsis gegen Größe und Wert des Lebens bedeuten.« (S. 1/62)

Paradigmatisch für diese Sicht auf die Welt sind für Ritter die katastrophenfreudigen Bildgeschichten von Wilhelm Busch. Aber, so fährt Ritter fort: »Das Lachen lebt nicht allein im Glanz lebensverklärender Heiterkeit. Der Lachende ist auch der Thersites (die Ekelgestalt in der Ilias, die notorisch alles verhöhnt) und das Lachen die Bewegung des Spottes, die sich an Großes und Hehres hängt, um es in die Lächerlichkeit herabzuziehen und kleinzumachen.« (S. 1 f./63)

Aus diesem Befund zieht Ritter nun aber nicht die Konsequenz, säuberlich zwischen dem Belachen des Komischen und dem Verlachen des Lächerlichen zu unterscheiden, was sich ja angeboten hätte, sondern verwendet die Prädikate »komisch« und »lächerlich« weitgehend synonym und engt dadurch, wie sich gleich zeigen wird, seinen Argumentationsspielraum mehr als nötig ein, wenn er dann zur Frage übergeht, wie es dazu kommt, daß gerade eine unheile und katastrophenträchtige Welt so viele Anlässe zum Lachen bieten kann, daß also das zum Lachen Reizende »nie das Geordnet-Vollendete oder das für das Dasein je Maß gebende Schöne und Gute, sondern immer von der Art dessen ist, was herausfällt, dem Gehofften und Erwarteten entgegenläuft, was aus der Reihe tanzt und das, was sein will oder soll, zum Schein macht als das dem Ernst und der allgemeinen Ordnung der Dinge und des Lebens schlechthin Entgegenstehende.« (S. 2/63)

Auf diese Fragestellung als Frage nach Normen aller Art sind auch wir immer wieder gestoßen, zuletzt bei Friedrich Georg Jünger und Plessner selbst, und haben daraus in Anlehnung an Platon, Aristoteles, Joubert und Kant eine erste Definition des Komischen und Lächerlichen abgeleitet, die dahin geht, daß das Komische und Lächerliche in der überraschenden und unbedrohlichen Nichterfüllung einer erwartbaren Norm 117 besteht. Wir werden aber sehen, daß Ritter, ohne es zu merken und trotz der reduktionistischen Ausrichtung seiner Argumentation im ganzen, noch weitere Kriterien bereitstellt, um die Unterscheidung zwischen Komik und Lächerlichkeit weiter zu präzisieren. Reduktionistisch ist Ritters Ansatz insofern, als er das Lachen 1560 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zunächst strikt auf das geloiastische Lachen über Komisches und Lächerliches reduziert und dieses dann wiederum nur den »gehobenen Stimmungen« im Sinne von Bollnow zurechnet, und die dunklen Formen des Lachens jenseits des Heiteren überhaupt nicht zu sehen scheint, denn er fährt fort: »Von diesem Entgegenstehenden als dem Lächerlichen (und Komischen) her ergibt sich die eigentliche Schwierigkeit für die Deutung des Lachens, sofern es selbst von innen her und als Ausdrucksbewegung gesehen nicht dem Gefühl der Nichtigkeit und der Verstimmung, sondern vornehmlich den positiv bejahenden Verfassungen der Freude, der Lust, des Vergnügens, der Heiterkeit und Laune zugehört.« (S. 2/64)

Diese Reduktion des Lachens auf das geloiastische Lachen als Echo des Komischen und Lächerlichen zieht dann sofort die Konsequenz nach sich, weite Bereiche des Lachens als irrelevant abzutun und aus dem Kreis der analysierwürdigen Phänomene auszugrenzen: »Wohl steht es frei, das Lachen als physiognomisch-mimische Äußerung und Verlautbarung auch abgelöst vom Lächerlichen (und Komischen) und seinem Anlaß zu sehen, sofern es auch ein grundloses Lachen, sowohl als überquellenden Ausbruch gesteigerter Laune wie als Reflex und Zeichen höchster Ermüdung und überreizter nervöser Abspannung gibt. Aber solch grundloses Lachen ist unter der Vielfalt seiner Formen sicher nur ein Grenzfall und zudem eine Erscheinung, die, da wo sie begegnet, immer auffällt und bemerkt wird, weil sie nicht das Gewöhnliche und Regelmäßige ist.« (S. 2/64)

Damit sind für Ritter weite Bereiche des Bekundungs-Lachens zum »grundlosen« Lachen geworden, ähnlich wie Plessner fast den gesamten Bereich des Interaktions-Lachens ausgeblendet und auch einige Varianten des Bekundungs-Lachen als »unechtes« Lachen disqualifiziert hat, und deshalb fährt Ritter fort, allein das geloiastische Lachen als echtes Lachen auszuweisen: »Wenn man für alle Ausdrucksbewegungen sagen kann, daß sie unmittelbar zum Aussehen innerer Verfassungen dazugehören und in dieser Zugehörigkeit auch ihrem Sinn und Wesen nach definiert sind, so gilt dies jedenfalls nicht für das (geloiastische) Lachen. Es ist nicht von ihrer Art, d. h. es ist nicht in der Einheit mit einer inneren Stimmung, etwa der Heiterkeit, schon verstanden, so wie die Leichtigkeit und Gelöst-

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heit des Sichgebens, der Haltung, des Ganges, das Strömende der Bewegung, das Trällern und Pfeifen oder der Glanz und das Strahlende des Blickes unmittelbar als Heiterkeit verstanden und auch angesprochen werden. Die Ausdruckskategorie gibt nicht das unterscheidende und damit wesentliche Kennzeichen des (geloiastischen) Lachens ab.« (S. 2 f./64)

Doch von welchem Lachen ist hier überhaupt die Rede? Wenn Ritter hier allein das geloiastische Lachen als Echo des Komischen und Lächerlichen meint, so hat er sicher Recht, und deshalb habe ich dies auch in den Klammern hinzugefügt. Und Plessner hätte ihm hier auch völlig zugestimmt, da er, wie wir gesehen haben, ganz analog argumentiert. Da Ritter also immer nur das geloiastische Lachen im Auge hat, wenn er vom Lachen redet, so tun wir gut daran, diese reduktionistische Tendenz auch in den folgenden Zitaten immer deutlich zu machen, um den Erkenntniswert von Ritters Aufsatz hinsichtlich dieser und nur dieser spezifischen Art von Gelächter zu sichern. Wie massiv und konsequent Ritter auf diese Art von Gelächter fixiert ist, wird auch deutlich, wenn er schreibt: »Entscheidend für die Abgrenzung des (geloiastischen) Lachens von den unmittelbaren Ausdrucksbewegungen ist dann positiv, daß (dieses geloiastische) Lachen in der Regel und zunächst immer ein Lachen-über ist und so in dem, worüber gelacht wird, im Lächerlichen (und Komischen) also, dessen Vernehmen und Auffassen es ist, seinen ausweisenden Grund hat.« (S. 3/65)

Dann beschreibt Ritter ausführlich und zutreffend den explosionsartig beginnenden und uroborisch verebbenden Gestaltverlauf (S. 3/65) und betont die große Bandbreite des Lachens: »Was Rassen, Völker, Individuen unterscheidet, ist je die eigentümliche welthafte Bezogenheit ihres Lachens und mit ihr seine eigentümliche Formung und Ausprägung, die durch zahllose unterscheidende physiognomische Marken und Zeichen bezeichnet wird. Das Lachen ist dünn, breit, laut, leise, kichernd, verhalten, frostig, stoßweise, offen, grell, schrill, sanft, warm, still, kalt, schneidend, gemein, müde, ausgelassen, spöttisch, traurig, unheimlich, gemütlich usw. Seine Skala reicht vom schallend ausbrechenden Gelächter bis zum stillen, nach innen gewendeten Lächeln. Erst diese (und ähnliche) Bestimmungen

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kommen dem Lachen aus dem Grunde des Charakters und des Wesens, der Haltung und der Eigenart zu, die dem Lachenden selbst je eignet. Es sind qualitativ mitgehende Bestimmungen, die sich am Lachen finden, es aber nie begründen und konstituieren, und nur in diesem Sinn wird im Lachen und mit dem Lachen der Mensch selbst erkannt.« (S. 4/66)

Beim Stichwort »Rasse« verweist Ritter in einer Anmerkung auf das Werk von Siegfried Kadner Rasse und Humor, ohne jedoch weiter darauf einzugehen und kommt im weiteren Verlauf seiner Argumentation auch nie wieder darauf zurück; auch das Wort »Rasse« fällt nie wieder, was ja möglich gewesen wäre, weil es hier rein deskriptiv und nicht rassistisch wertend gebraucht worden ist, und weil man, wenn man will, damit auch Konstitutionstypen bezeichnen könnte. Statt dessen geht Ritter sofort auf sein eigentliches Thema los, auf die Analyse des Zusammenhangs von Komik und Gelächter, denn hier, in der Begegnung mit dem Komischen und Lächerlichen, mit dem also, was für Ritter »das Entgegenstehende« (S. 5/68) ist, hat laut Ritter dieses spezifische geloiastische Lachen seinen Ort, seinen Grund und seine Funktion. Als Beispiel für die genauere Bestimmung dieses »Entgegenstehenden« verweist Ritter auf die Theorien von Thomas Hobbes und Henri Bergson, auf Theorien also, die das Lachen auf das aggressive Auslachen-von-oben reduzieren, sodaß diese Art von Gelächter bei Hobbes als »Zeichen der Lust am Nichtigen und an der Verneinung« (S. 5/68) erscheint und als »Ausdruck der Brutalität, die sich über den Menschen und die gute Welt erheben will.« (S. 5/68) »Und in dieser Richtung bewegt sich in ihren Folgerungen und Voraussetzungen auch die ((so)) berühmt gewordene Theorie Bergsons. Bergson hat ((gewiß)) das Lachen in einer sehr spiritualistischen Weise verstanden, wie es überhaupt kaum eine Untersuchung gibt, die mit ähnlich geistreichem Blick in das nuancierte und verschlungene Spiel des Lachens eingedrungen ist. Dennoch darf man sich nicht täuschen. Sieht man auf das Grundsätzliche, so ist das Lachen 118 hier ausschließlich als Bewegung der ((Vernichtung und)) Verneinung und als Macht begriffen, die die Fülle und Tiefe ((der Seele und)) des Lebens auflöst und zur toten Stofflichkeit des Mechanischen kontrastierend entwirklicht. Komisch ist jeder Vorgang für Bergson, der unsere Aufmerksam-

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keit auf die physische Natur des Menschen lenkt, da und dann, wenn seine geistige spricht. Was sich im Komischen geltend macht, ist das Mechanische, das Stoffliche und Dingliche.« (S. 5 f./69)

Dann verweist Ritter noch auf die Einstellung, die der Lachende laut Bergson gegenüber dem risiblen Objekt einzunehmen hat, auf die Tendenz seiner Theorie also, die Klaus Heinrich dazu gebracht hat, diese als »präfaschistisch« 119 zu bezeichnen, denn bei Bergson heißt es da: »Das Lachen kann also nicht immer gerecht sein. Es soll auch nicht gütig sein. Es soll einschüchtern, indem es demütigt.« (Bergson, S. 124)

Und das heißt für Ritter: »Es bedarf ((der Kälte,)) der ›Anästhesie‹ des Herzens. ((Es ist mitleidlos und die kalte Äußerung des Verstandes, der die Liebe vergißt und unterdrückt)).« (S. 6/69)

Wäre Joachim Ritter ein Nationalsozialist gewesen, hätte er diesen Zug in Bergsons Theorie sicher als »typisch jüdisch« oder als »typisch jüdisch-intellektualistisch« bezeichnet. Stattdessen verweist er lediglich darauf, daß Bergson »die Begründung des Entgegenstehenden als des Lächerlichen (und Komischen) aus der Sicht des Verstandes« (S. 6/69) vornimmt und sich damit auf die »Begrenztheit« (S. 6/70) dieser reduktionistischen Theorie, und setzt dann zur Kritik daran und zur Formulierung seiner eigenen ontologisch orientierten Sicht der Dinge an: »Grundsätzlich gilt: das Entgegenstehende und Kontrastierende ist im Ganzen des Seins und des Daseins nichts Festes, es folgt als das Andere oder als das, was nicht ist, jeweils dem, was als Sein oder Wesen gesetzt und verstanden ist. Was sich als das Entgegenstehende kundtut, das Dingliche oder das Geistige, das Materielle oder das Lebendige, entscheidet allein der Begriff des Wirklichen selbst. Nur da, wo der Verstand die Weltansicht trägt, vermag das Lachen 120 im Ausspielen des Toten und Mechanischen das Leben zu töten, aber die Möglichkeiten, die im Spiel des Lachens und des Lächerlichen (und Komischen) liegen, erschöpfen sich hierin so wenig, wie sich der Lebenssinn des Dinglichen im Mechanischen des Verstandes erschöpft.« (S. 7/71)

Dann verweist Ritter mit Recht auf eine Fülle von geloiastischen Situationen und kulturellen Ritualen, die sich Bergsons Theorie in 1564 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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keiner Weise fügen und deren reduktionistischen Zug deutlich machen, und schwenkt dann wieder auf sein eigentliches Thema ein, indem er zur weiteren Bestimmung des »Entgegenstehenden« übergeht, das nicht nur, wie bei Bergson, mit einem aggressiven Verlachen, sondern auch »in der positiven und bejahenden Antwort des (geloiastischen) Lachens quittiert und aufgenommen werden kann« (S. 9/74), also im wohlwollenden Belachen des Komischen. Wer damit gerechnet hätte, daß Ritter nun säuberlich zwischen dem wohlwollenden Belachen des Komischen und dem aggressiven Verlachen des Lächerlichen unterscheiden würde, sieht sich leider getäuscht, denn nun rächt sich, daß Ritter die Prädikate »komisch« und »lächerlich« faktisch synonym gebraucht und sich damit um die Früchte seines interessanten Ansatzes aus dem Geiste Hegels bringt, denn er fährt fort: »Es wurde schon gesagt, daß das Entgegenstehende oder Nichtige nichts Feststehendes und so überhaupt und absolut genommen Negatives ist, sondern zum Nichtseienden an der die Wirklichkeit je bestimmenden Substanz wird. Das aber besagt positiv, daß es zum Ganzen des Lebens genau in demselben Sinn dazugehört wie das, was in ihm als das Positive und Wesentliche genommen wird. Was das Nichtige zum Nichtigen macht, das Entgegenstehende zum Entgegenstehenden und sie ausgrenzt als Ausfallendes, Unwesentliches, Unsinniges, Unverständiges usw., ist die je positive Ordnung selbst, die das Dasein sich gibt. In dieser Ausgrenzung aber verschwindet es nicht überhaupt, es löscht nicht aus, sondern erhält in ihr die Weise zugesprochen, in der es nun als das Nichtige gleichsam hintergründig, aber nichtsdestoweniger wirklich in der Lebenswelt besteht.« (S. 9 f./75)

Und das heißt bezogen auf den Zusammenhang von Komik, Lächerlichkeit und geloiastischem Lachen: »Das Nichtige (also das Komische und Lächerliche) steht so selbst in einem für den Ernst nicht faßbaren oder nur negativ faßbaren geheimen Zusammenhang mit der für den Ernst gesetzten Lebensordnung. Es gehört zu ihr dazu, aber so, daß der Ernst, der es ausgrenzt, es immer nur als das Ausgegrenzte und Andere, das für ihn selbst im Hintergrund verborgen bleiben muß, fassen kann. (…) Was mit dem (geloiastischen) Lachen ausgespielt und ergriffen wird, ist diese geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein; sie wird ergriffen und aus-

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gespielt, nicht in der Weise des ausgrenzenden Ernstes, der es nur als das Nichtige von sich weghalten kann, sondern so, daß es in der es ausgrenzenden Ordnung selbst gleichsam als zu ihr gehörig sichtbar und lautbar wird.« (S. 10/76)

Hätte Ritter nun säuberlich zwischen dem wohlwollend ausgrenzenden Belachen des Komischen und dem aggressiv ausgrenzenden Verlachen des Lächerlichen unterschieden, hätte er daraus den Schluß ziehen können: • Das Komische ist das Andere der jeweils gültigen Norm, das im wohlwollenden Belachen gerade noch willig akzeptiert wird, obwohl es der Norm offensichtlich zuwiderläuft. Das Komische wäre demnach das gerade noch geduldete Andere des jeweilig Normativen inmitten der Lebensordnung, die durch dieses System von Normen gestiftet, geprägt und erhalten wird, und das wohlwollende Belachen des Komischen wäre ein gleichsam eingrenzendes Ausgrenzen des Anderen eben dieser Norm. • Das Lächerliche ist ebenfalls das Andere der jeweils gültigen Norm, das aber im Verlachen aggressiv ausgegrenzt wird, weil es dieser Norm zuwiderläuft. Das Lächerliche wäre demnach das Andere des Normativen im Grenzbereich des Normativen: Liegt es gerade noch innerhalb dieser Grenze, kann es aggressiv verlacht und eventuell sogar dazu gebracht werden, sich der innerhalb der Grenzen geltenden Norm wieder anzupassen, ganz so wie Bergson dies beschrieben hat, und auch ganz so wie die Dramaturgie der Verlach-Komödie dies ausagiert. Liegt es aber schon knapp jenseits dieser Grenze, wirkt es nicht mehr lächerlich, sondern fremd oder gar feindlich; das aggressiv ausgrenzende Verlachen weicht dem ernsthaften Ausgrenzen und das Andere der Norm wird verdrängt, bekämpft oder gar vernichtet. Da Ritter diese Unterscheidung zwischen »lächerlich« und »komisch« jedoch nicht trifft, wird auch nicht klar, wie weit dieser Ausgrenzungsprozeß jeweils geht und wie das jeweilige geloiastische Lachen geartet ist, das diese Ausgrenzung zu artikulieren hat, da er nur zwischen dem ernsten und dem lachenden Ausgrenzen unterscheiden kann, nicht aber außerdem auch noch zwischen verschiedenen Formen geloiastischen Gelächters, und so kommt er nur zu dem Ergebnis: 1566 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Geht man von diesem grundsätzlichen Zusammenhang Ernst und Unernst, vom Sittlichen und dem im Sittlichen Ausgegrenzten, von Sein und Nichtsein aus, so dürfte sich das (geloiastische) Lachen als ein Spiel verstehen lassen, dessen einer Partner das Ausgegrenzte, dessen anderer Partner die ausgrenzende Lebensordnung selbst ist. (…) Denn in diesem Spiel wird die Zugehörigkeit alles dessen zur Lebensordnung erwiesen, was für den Ernst nur als das Nichtige und Entgegenstehende außen vor bleiben muß.« (S. 10 f./76)

Damit sind wir am Ziel von Ritters Argumentation angelangt, im Komischen »die Identität eines Entgegenstehenden und Ausgegrenzten mit dem Ausgrenzenden« (S. 12/78) zu erkennen, die dann im geloiastischen Lachen wohlwollend belacht wird. Oder anders formuliert: Das Komische erscheint als das ausgegrenzte Eigene resp. als das Andere des Eigenen, und das wohlwollende Belachen dieses komischen Gegenstands oder Sachverhalts dokumentiert dessen »geheime Zugehörigkeit zu der ihn ausgrenzenden Welt.« (S. 11/77) All dies gilt auch für das Lächerliche, nur mit dem Unterschied, daß dort die Ausgrenzung aus der als Norm geltenden Lebensordnung weiter geht und tiefer greift und außerdem den Appell in sich trägt, sich der geltenden Lebensordnung gefälligst wieder anzupassen, sofern dies überhaupt noch möglich ist. Da man sich im Lichte der historisch-politischen Erfahrung kaum dagegen wehren kann, daß einem ein Text von 1940 schrill in den Ohren klingt, wenn dort von »Ausgrenzung aus der geltenden Lebensordnung« die Rede ist, weil man sofort an die Judenpolitik der Nationalsozialisten, an die »Nürnberger Gesetze« von 1935, das »Reichsbürger-Gesetz« und das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« und an den Gelben Stern denkt, wodurch diese Ausgrenzung der deutschen Juden aus der damals aktuellen deutschen Lebensordnung sichtbar gemacht wurde, muß man hier etwas genauer nachfragen. Offenbar hatte Joachim Ritter 121 als ehemaliger Linker mit scharfem Blick das faschistische Potential in Bergsons Theorie des Lachens erkannt, weil für ihn dort das Lachen »ausschließlich und allein als Bewegung der Vernichtung und Verneinung« (S. 5) bestimmt wird, das laut Bergson in seiner reinsten und aggressivsten 1567 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Form durch eine Gruppe gelacht wird, aber nicht durch eine Gruppe als Lach-Gemeinschaft, sondern als Lach-Meute, deren Aggressivität sich konzentrisch auf einen wehrlosen Einzelnen richtet. Eine solche Szene wird in Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor (1864) im dritten Kapitel paradigmatisch beschrieben, wo die beiden Protagonisten Hans Unwirsch und Moses Freudenstein im Knabenalter ihre Freundschaft begründen, weil Hans Unwirsch sich schützend vor Moses Freudenstein stellt, um ihn gegen das »Hepphepp!« einer aggressiven Lachmeute zu schützen. Ich zitiere diese Passage ausführlich, weil sie sich gut dazu eignet, Ritters Theorie an einem konkreten Beispiel noch etwas genauer zu analysieren: »In der Mitte seiner Tyrannen stand Moses Freudenstein und reichte mit verhaltenen Tränen und einem Jammerlächeln die Hand, in welche jeder junge Christ und Germane mit hellem Hohngeschrei hineinspie, in die Runde. Es gab wenige Leute in der Krippelgasse, die nicht ihren Spaß an solcher infamen Quälerei gefunden hätten. Keiner von den Gaffern in den Haustüren trat dazwischen, um der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen. Man lachte, zuckte die Achseln und hetzte wohl gar ein wenig; es hatte eben wenig auf sich, wenn der schmutzige Judenjunge ein bißchen in seiner Menschenwürde gekränkt wurde. Hilfe und Rettung sollten für Moses Freudenstein von einer Seite kommen, von woher er sie nicht erwartet hätte. Hans Unwirsch hatte bis zu dieser Stunde auch hier mit den Wölfen geheult, und was die anderen taten, hatte er leichtsinnig, ohne Erbarmen und ohne Überlegung ebenfalls getan. Jetzt kam die Reihe an ihn, in die offene Hand des heulenden Judenknaben zu speien, und wie ein Blitz durchzuckte es ihn, daß da eben eine große Niederträchtigkeit und Feigheit ausgeübt werde. Es war ihm, als blicke das bleiche Gesicht des Lehrers Silberlöffel, der gestern begraben worden war, ernst und traurig über die Köpfe und Schultern der Buben in den Kreis. Hans spie nicht in die Hand des Moses! Er schlug sie weg und streckte seine Faust den Kameraden entgegen. Wild schrie er, man solle den Moses zufrieden lassen, er – Hans Unwirsch – leide es nicht, daß man ihm ferner Leid an tue.« 122

Und dann fällt die Meute über Hans und Moses her und verprügelt sie, und beide flüchten und schließen Freundschaft. 1568 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Henri Bergson hätte diese Szene sicher als eklatante Bestätigung seiner These gesehen, das Lachen sei immer das »Lachen einer Gruppe« (S. 15), und dieses kalte Lachen setze eine »Anästhesie des Herzens« (S. 15) voraus, weil es »einschüchtern« und »demütigen« (S. 124) soll. Joachim Ritter hätte sich durch Raabes Szene sicher auch bestätigt gefühlt, allerdings aus ganz anderen Gründen, weil er die Weigerung von Hans Unwirsch, sich auf Kosten des wehrlosen Judenknaben zu belustigen, ihn sogar zu verteidigen und dann Freundschaft mit ihm zu schließen, als Beleg für die »geheime Zugehörigkeit des Ausgegrenzten zu der ihn ausgrenzenden Welt« verstanden hätte. An Raabes Szene wird aber noch ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Ausgrenzungsdialektik deutlich, auf die wir noch nicht eingegangen sind, denn das einer aktuell gültigen Lebensordnung Entgegenstehende muß ja nicht unbedingt etwas Komisches oder Lächerliches sein, sondern kann auch das Normensystem einer ganz anderen Lebensordnung sein, die eine ernste und ernstzunehmende Alternative zur aktuell gültigen Lebensordnung darstellt. In Raabes Szene wird diese Alternative im ernsten und traurigen Blick des von Hans Unwirsch geliebten und verehrten Lehrers Silberlöffel sichtbar, den er mahnend auf sich gerichtet sieht, denn dieser Armenlehrer Silberlöffel, dessen Erziehungsziel immer »fortschreitende Bildung und humane Entwicklung« (I,1,213) gewesen ist, war selbst das Opfer einer Lachmeute geworden, da er von seinen Schülern buchstäblich zu Tode geärgert worden war. Die einander entgegenstehenden Lebensordnungen in Raabes Roman sind also humanistische Aufklärung und rassistische Barbarei, die sich gegenseitig nicht lächerlich finden können, und komisch schon gar nicht, sondern sich nur noch in vollem Ernst bekämpfen und ausschalten und letztlich sogar vernichten müssen, denn hier geht es nur noch um die Frage: »Wer wen?« Ritters Ansatz erinnert unter bestimmten Aspekten stark an die lachsoziologischen Studien von Eugène Dupréel (1879–1967), der in seinem Aufsatz von 1928 Le problème sociologique du rire 123 ebenfalls vom ausgrenzenden Lachen spricht. Allerdings behandelt Dupréel vornehmlich das Interaktions-Lachen und unterscheidet hier zwischen dem wohlwollenden Anlachen als Form 1569 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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positiver Zuwendung (rire d’accueil) und dem ablehnend-ausgrenzenden Verlachen (rire d’exclusion) als Form negativ-aggressiver Zuwendung. Was laut Dupréel ausgegrenzt wird, ist also nicht das Komische als solches, sondern es sind mißliebige Personen, ganz so, wie dies in Raabes Szene dargestellt ist, wo der wehrlose Knabe Moses von einer hohnlachenden Meute umzingelt wird, die ihm auf brutale Weise klarmacht, daß er nicht dazu gehört. Es fehlt eigentlich nur noch der Gelbe Stern, um diese gesellschaftliche Ausgrenzung auch dauerhaft sichtbar zu machen. Ob sich Joachim Ritter der 1940 aktuellen politischen Implikationen seiner Theorie des Lachens bewußt war und vielleicht sogar darüber erschrocken ist, weiß ich nicht zu sagen. Daß er aber kein Nationalsozialist gewesen sein kann, steht für mich fest, denn wer von der »geheimen Zugehörigkeit des Ausgegrenzten zur ausgrenzenden Lebensordnung« redet, meint damit eben auch die geheime Zugehörigkeit der ausgegrenzten deutschen Juden zur deutschen Gesellschaft von 1940. Wie ein Nazi damals gelotologisch argumentierte, zeigt sich sofort, wenn man einen Blick in Siegfried Kadners (1887–?) Werk Rasse und Humor 124 wirft, in dem Kadner den Versuch unternimmt, in engster Anlehnung an die Rassenkunde des deutschen Volkes 125 seines Mentors Hans F. K. Günther (1891–1968) verschiedene Arten des geloiastischen Lachens rassemäßig auf den Begriff zu bringen. Kadners Ansatzpunkt ist die These, daß Lachen und Weinen »Entspannungswege« (S. 9) sind, die nötig werden, wenn man, wie Faust in seinem großen Monolog, zu der Erkenntnis kommt, »daß wir nichts wissen können«. Doch, so fährt Kadner in dem Kapitel »Spannung und Entspannung« in Anlehnung an Schopenhauer fort: »Die Spannung zwischen der Erscheinung und der Idee außerhalb des Menschen ist nicht minder groß als die zwischen dem Wollen und Vollbringen innerhalb des menschlichen Wesens. Und so müßte der Besinnliche, derjenige, der sich gelegentlich die Zeit nimmt, über Sinn und Zweck des Daseins nachzudenken, durch diesen Zwiespalt selbst ein Zwiespältiger werden, ein Zweifler – denn nichts anderes bedeutet das ›Zweifeln‹ ja –, er müßte schließlich ›verzweifeln‹, wenn ihm nicht

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zwei Möglichkeiten offenständen, den Konflikt zu überbrücken. Entweder die Hoffnung auf eine jenseitige Erlösung, die ihm die Religion irgendeines Offenbarungsglaubens verspricht, oder die diesseitige Lösung und Entspannung, die Selbsterlösung im befreienden Lachen der Heiterkeit.« (S. 15)

Laut Kadner ist aber nur dieses »Lachen der Heiterkeit« ein »Entspannungsweg«, denn er fügt einschränkend hinzu: »Es gibt allerdings einen Fall abgründiger Tragik, bei dem die Kluft zwischen Erkenntnisfähigkeit und Idee oder andererseits zwischen dem tatsächlichen Mißgeschick des Daseins und dem Wunschbild sich so breit und klaffend auftut, daß die Kraft, meist eine schon erblich geschwächte Kraft, zur Überbrückung versagt, die eigentliche Spannkraft zerreißt und daß das schrille Gelächter, das sich selber überschlägt, ein rechtes Gegenbild und Gegenecho seiner Grundbestimmung, sich zur Verzweiflung gesellt. Nichts klingt schauerlicher als das Lachen zerbrochener Seelen und das Lachen des Irrsinns, das ihm verwandt und oft die Folge ist.« (S. 14 f.)

Hier irrt Kadner ganz offensichtlich, weil dieses spezifische Verzweiflungs-Lachen und das Lachen des Irrsinns natürlich auch »Entspannungswege« sind, wie wir in Kapitel 2.17.4.4.5 ja gesehen haben, und er irrt außerdem insofern, als diese Entspannungswege gerade keine Form aktiver Selbsterlösung sind, denn all die Formen von Gelächter, die er hier im Auge hat, sind Formen des Bekundungs-Lachens, das sich als unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollzieht. Man könnte diese Passage aber auch als Kadners Versuch lesen, heimlich Plessners Begriff »exzentrische Positionalität« aufzugreifen, zu »entwelschen«, durch den Begriff »Zwiespältigkeit« zu übersetzen und ihm den Widerfahrnischarakter zu nehmen, und all dies selbstverständlich ohne jeden Hinweis auf die Herkunft dieses Gedankens. Falls dies so gewesen sein sollte – ich bin mir da nicht sicher –, wäre diese aktivistische Umdeutung dann wohl darin begründet, daß Kadner dem Wahn huldigt, es könne aktive Selbsterlösung überhaupt geben, und dies liegt wohl daran, daß er als Nazi die faustisch-aktivistische Täter-Ideologie rückhaltlos verinnerlicht hat, derzufolge man sich »kämpferisch« (S. 15), und das heißt eben: aktiv mit der eigenen »Zwiespältigkeit« auseinanderzusetzen habe, ins1571 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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besondere dann, wenn man nordisch-fälischer Rasse ist, wie sich dies für einen echten Deutschen auch gehört, denn: »Innerhalb des Menschentums deutschen Blutes, entsprechend den führenden Faktoren seines Rassebestandes, d. h. hauptsächlich seinem fälischen und nordischen Seelenerbe, wird dieser Kampf nicht zuletzt mit dem Humor ausgefochten.« (S. 16)

Doch daß Kadner hier von »Humor« sprechen muß, ist ihm ausgesprochen peinlich: »Denn wenn die Bezeichnung ›Humor‹ auch ein Fremdwort 126 ist, so ist der Begriff eine kerndeutsche Angelegenheit geworden, für die es in den romanischen Sprachen, trotz der lateinischen Herkunft des Wortes, keine deckende Übersetzung gibt. Die spielende und lächelnde Überwindung des Abgrundes zwischen Wirklichkeit und Ideal, des Spannungsraumes, in den der nordische Mensch seine Leistung einsetzt, ist zudem in einer seelischen Beschaffenheit beheimatet, für die jeder Fremdsprache Begriff und Ausdruck fehlt. Wir nennen es Gemüt.« (S. 17)

Noch viel peinlicher aber ist ihm ein anderes und diesmal ein fundamentales methodologisches Problem, auf das er zwar kurz hinweist, dann aber sofort wieder verdrängt, weil es seinem pseudowissenschaftlichen Rassismus sofort den Boden entzogen und ihn als pure ideologische Willkür entlarvt hätte, denn er schreibt ganz zerknirscht: »Es kommt häufig genug vor, daß dem äußeren Erscheinungsbild die seelische Beschaffenheit nicht entspricht, daß in einer ostischen Hülle z. B. ein fälischer Mensch steckt und umgekehrt, ja selbst daß eine, wenigstes auf den ersten Blick nordisch wirkende Erscheinung zu einem Juden gehört.« (S. 32)

Kadner hütet sich jedoch, diesen peinlichen Befund an konkreten Personen sichtbar zu machen, weil führende Repräsentanten des Nazi-Regimes, allen voran Hitler, Himmler, Goebbels und Heß leider ganz und gar nicht nordisch aussahen, was in der Nazizeit Stoff für viele Flüsterwitze bot. Das prominenteste Gegenstück zum deutschen Humor ist für Kadner die »westisch-jüdische Komik«, als dessen führender und typischer Theoretiker ihm Henri Bergson gilt: »Der französische Jude Henry (!) Bergson hat über das Lachen eine philosophische Studie geschrieben, bei der in der Tat schwer zu unter-

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scheiden ist, inwiefern die Gedankengänge von jüdischem, inwiefern sie von französischem, d. h. in diesem Fall von keltisch-romanischem Wesen westischer Prägung diktiert sind. (…) Für dieses rassische Ineinanderfließen verwandt gewordener Auffassungen ist Bergsons Ableitung der Ursachen des Lachens bezeichnend. So ist es kein Wunder, daß er an dem Problem der menschlichen Artverschiedenheit und ihrer Beziehung zu dem Element des Komischen achtlos vorübergeht. Für ihn gibt es nur eine angenommene, abstrahierte, allgemein-menschliche Natur. Von solcher erträumten Voraussetzung geht ja das Denkverfahren fast der ganzen liberalistischen Seelenforschung aus. Zu diesem Substrat, zu diesem erdachten Hirngespinst menschlicher Natur, verhält er sich als Beobachter, wie es eben einem klugen Juden mit einem starken französischen Bildungs- und Erziehungseinschlag möglich ist: er sieht mechanische und mechanisierte Handlungen und Gedankenabläufe als Ursache des Komischen an. Aber dem Lebendigen selbst, dem Organischen dabei auf den Grund zu gehen, das unternimmt er nicht. Der Humor spielt bei ihm überhaupt keine Rolle.« (S. 17)

Daß Bergson als Philosoph des élan vital 127 dem Lebendig-Organischen sehr wohl und sehr ausführlich auf den Grund gegangen ist, haben wir zur genüge gesehen, und daß er das mitleidlose kalte Verlachen zum Thema 128 gemacht hat, allerdings auch. Doch darauf geht Kadner seltsamerweise überhaupt nicht ein, sondern läßt seinem Antisemitismus im Kapitel über den »Jüdischen Zynismus« (S. 215 ff.) freien Lauf, wo er die spezifisch jüdische Form von Geloiastik auf den jüdischen Witz zurückführt, und von diesem jüdischen Witz gilt laut Kadner: »Er ist rein intellektueller Natur, spielt in überspitzter Gedankenschärfe Gegensätze gegeneinander aus oder jagt einen Gedanken auf seinen Gipfel empor und zeigt ihn dann in seiner wirklichen oder scheinbaren Absurdität.« (S. 216)

Doch was soll daran spezifisch jüdisch sein, da diese Art von Pointen-Komik zum Grundbestand rhetorischer Technik seit den Sophisten gehört und in der Heiteren Aufklärung seit Christian Wolff 129 und seinen Schülern eigens noch mal aufgegriffen und weiter präzisiert worden ist. All dies scheint Kadner nicht zu wissen oder vielleicht auch nicht wissen zu wollen. 1573 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Was Kadner dann über den nordisch trockenen oder nordisch grimmen Humor, den beschwingt saftigen dinarischen Humor, über ostbaltisch brutale Heiterkeit und ostisches Insichhineinlachen zu berichten weiß, ist derart an den Haaren herbeigezogen und derart willkürlich, daß es gar nicht lohnt, eigens darauf einzugehen. Und dann versteigt er sich sogar noch zu der Behauptung, daß dem Juden »im allgemeinen ein freies, schallendes Gelächter fremd ist.« (S. 250) Genauso willkürlich und ideologisch verblendet ist auch Kadners Befund, daß der Humor »ein seelisches Erbteil der nordischen Rasse« (S. 248) ist, die Wahrnehmung von Komik hingegen »die dem westischen Charakter gemäße Form der Heiterkeit, die sich in theaterhafter Schaustellung, in Maske, Verhüllung und Enthüllung gefällt.« (S. 248 f.) Verglichen mit Kadners wirrem rassistischem Machwerk zeigt sich erst, wie fern Ritters Aufsatz über das Lachen dem nationalsozialistischen Diskurs steht, und nun müßte auch klar geworden sein, warum er zwar einmal auf ihn verweist, aber nie eigens auf ihn eingeht, weil er mit seiner eigenen Fragestellung überhaupt nichts zu tun hat. Möglicherweise stammt der Hinweis auf Kadners Machwerk auch gar nicht von Ritter selbst, sondern von einem ideologisch übereifrigen Redakteur der »Blätter für Deutsche Philosophie«, und deshalb ist es auch konsequent, daß Ritter diesen peinlichen Verweis auf Kadner im Neudruck seines Aufsatzes von 1974 wieder gestrichen hat. Wie fern Ritter den Nazis vom Schlag eines Siegfried Kadner gestanden haben muß, zeigt sich auch daran, wie er Bergsons Werk voller Respekt würdigt, ohne wie Kadner in antisemitische Tiraden zu verfallen, was 1940 ja in keiner Weise als anstößig empfunden worden wäre, doch wer von der »geheimen Zugehörigkeit des Ausgegrenzten zu der es ausgrenzenden Welt« (S. 11/77) spricht, kann kaum ein Nazi gewesen sein, weil dies dem Geist der »Nürnberger Gesetze« strikt widersprochen hätte. Auch nach den Kriterien, die Gereon Wolters aufgestellt hat, um einen philosophischen Text der dreißiger Jahre als nazionalsozialistisch klassifizieren zu dürfen, könnte man Ritters Aufsatz von diesem Verdacht freisprechen, denn Wolters nennt neben dem 1574 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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gleichsam obligatorischen Antisemitismus drei »Basisüberzeugungen«, die für ihn nationalsozialistische Philosophie charakterisieren: »Die erste Basisüberzeugung drückt – modern gesprochen – die Reduktion von Individualität auf Ethnizität aus. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk bzw. einer bestimmten ›Rasse‹ wird hier zur zentralen Dimension der Identität einer Person. Die zweite Basisüberzeugung besteht in der nicht weiter begründeten Annahme, die sogenannte arische sei die kulturell höchststehende und damit wertvollste Rasse und habe ihrerseits im deutschen Volk ihren historischen Kulminationspunkt gefunden. Die dritte Basisüberzeugung schließlich besteht im Verständnis der Weltgeschichte als eines auf Vernichtung bzw. Versklavung zielenden Kampfes der Rassen gegeneinander um Lebensraum.« 130

All dies findet sich zwar bei Kadner selbst zuhauf, aber nicht bei Ritter und selbst in der oben zitierten Passage mit dem Hinweis auf Kadners Werk nicht, denn dort heißt es zwar: »Was Rassen, Völker, Individuen unterscheidet, ist die je eigentümliche welthafte Bezogenheit ihres Lachens und mit ihr seine eigentümliche Formung und Ausprägung, die durch zahllose unterscheidende physiognomische Marken und Zeichen bezeichnet wird.« (S. 4/66)

Dann aber heißt es, all diese Bestimmungen, die sich am jeweiligen Lachen der verschiedenen Rassen, Völker und Individuen finden, seien lediglich »qualitativ mitgehende Bestimmungen«, die sich an der jeweiligen Art zu lachen zwar finden, »es aber nie begründen und konstituieren und nur in diesem Sinn wird im Lachen und mit dem Lachen der Mensch selbst erkannt.« (S. 4/66) Von einer verabsolutierten Reduktion von Individualität auf Ethnizität kann bei Ritter also keine Rede sein, und ein Antisemit war er sowieso nicht, sonst hätte er über Bergson ganz anders geredet. Das »völkische Paradigma« (S. 70), die These also, allein die ethnische Zugehörigkeit bestimme das Denken, unterstellt Wolters sogar Plessner, auch wenn er einräumt, bei Plessner sei »kein Volk und kein völkisches Paradigma vor dem anderen ausgezeichnet.« (S. 70) So ganz und gar abwegig ist diese Unterstellung jedoch nicht, denn schon in Plessners frühen soziologisch-politischen Schriften finden sich Formulierungen, die, heute gelesen, nicht weniger irritierend anmuten als Ritters Rede von der »Ausgrenzung aus der geltenden Lebensordnung«. 1575 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Helmuth Plessner

Ich meine damit die Wortfelder »Blut/bluthaft/blutmäßig/ Blutsgemeinschaft«, »volkhaft/völkisch/Volkhaftigkeit« und »Rasse/rassisch« und natürlich auch das Wort »Selbstbehauptung«. Plessner hatte 1924 in Anlehnung an Tönnies säuberlich zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft unterschieden und, um diesen Unterschied möglichst deutlich zu machen, die Kriterien für beide Formen des Zusammenlebens möglichst scharf pointiert, aber allein schon durch Titel und Untertitel seines Werks deutlich gemacht, daß sein Anliegen die Kritik jeder verabsolutierten Gemeinschaftsideologie sei, weshalb er schon damals der ausgewogenen, aber in sich antagonistischen Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe das Wort redete, denn: »In uns selbst liegen neben den gemeinschaftsverlangenden und gemeinschaftsstützenden die gesellschaftsverlangenden, distanzierenden Mächte der des Leibes nicht weniger wie der Seele, in jeder Sozialbeziehung wartet die eine, wenn noch die andere gilt, auf ihre Erwekkung.« (V,115)

Doch selbst in diesem vorgegebenen Rahmen klingt es heute irritierend, wenn Plessner dann im Kapitel »Blut und Sache« von der »blutsmäßigen Verbundenheit« (V,44) einer Gemeinschaft spricht, unter der »sowohl biologische Verwandtschaft als auch geheimnisvollere Gleichgestimmtheit der Seelen« (V,44) zu verstehen sei, von der »biotischen oder psychischen, auf jeden Fall außerrationalen Blutsgemeinschaft« (vgl. V,51) oder von der »bis tief in die Apperzeptionsformen des ganzen Geistes hinabreichenden Verschiedenheit zwischen Rassen und Völkern.« (V,50) Diese Art zu argumentieren ist zwar erst durch Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß 131 endemisch geworden, aber deren Werke erschienen ja erst, nachdem Plessner diese Sätze geschrieben hatte. Und dann heißt es gar: »Wo Blut und Sache die Menschen nicht zueinander bringen und der Zwang zur seelischen Selbstbehauptung nicht von der übergreifenden Gemeinschaft gelöst wird, hat der Mensch nur noch die Alternative, diese Gefahr zu bestehen und die Würde durch irreale Kompensationsmittel zu retten oder aber die individuelle Würde dadurch zu gewinnen, daß er sie freiwillig dahingibt. Entweder Selbstbehauptung um jeden Preis, um den Preis der Zufriedenheit, des Glücks, freilich auf

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relativ niederer Stufe sozialen Milieus, ökonomischer, seelischer Möglichkeiten oder Selbstpreisgabe und Selbsterniedrigung im Geiste der tiefsten Wahrheitsparadoxie, welche die Welt kennt: wer sich verliert, wird sich gewinnen. Entweder der Weg der reinen Ethik oder der Weg der reinen Religion.« (V,76)

Der dritte Weg wäre der Weg der reinen Macht, denn nun ist plötzlich aus der Ambivalenz von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe ein entschiedenes Entweder-Oder geworden, das im letzten Kapitel »Utopie der Gewaltlosigkeit und Pflicht zur Macht« ganz zugunsten der Selbstbehauptung entschieden wird, und deshalb wird nun auch der Ton schärfer, herrischer und apodiktischer: »Führung muß sein, und diese Führung einer Initiativgewalt, welche von sich aus sich in Bewegung setzt, wird zwangsläufig Inhaber der Gewalt, wird Souverän, Herr, wenn eine Mehrheit von Menschen, die sich zusammengehörig wissen, eine Ordnung wollen. Sie wird diese ›Stelle‹, welche über den Ausnahmezustand entscheidet (Carl Schmitt), wenn die Ordnung Rechtsgültigkeit und nicht bloßen Notverordnungscharakter erhalten soll.« (V,116 f.)

Mit dieser Verbeugung vor Carl Schmitt (1888–1985) und seinem kurz vorher erschienenen Werk Politische Theologie, das mit dem Satz beginnt: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«132, schleicht sich nun in Plessners soziologisch-politische Texte nach 1924 ein Ton ein, der immer schärfer, härter, schneidender wird, und in dem Werk Macht und menschliche Natur von 1931 seinen Höhepunkt erreicht, also genau zu dem Zeitpunkt, wo Plessner sich auf Augenhöhe mit seinen philosophischen Konkurrenten Scheler und Heidegger wähnt und den Durchbruch zu einer großen akademischen Karriere vor sich sieht, denn wenn er dort in dem Kapitel über den »Geltungsbereich der Machtfrage« (V,201 ff.) die Frage nach dem »Vorrang zwischen Philosophie und Anthropologie« (V,218) stellt, geht es ihm natürlich zugleich auch um die Frage nach dem Vorrang zwischen dem Philosophen Martin Heidegger und dem Anthropologen Helmuth Plessner. Max Scheler war schon 1928 gestorben und somit kein Rivale mehr. Und jetzt, gleichsam auf der Schwelle zur eigenen geistigen Machtergreifung, gerät die Ambivalenz von Selbstbehauptung und 1577 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Selbstpreisgabe vollends aus dem Gleichgewicht, und Plessner schlägt einen Ton an, der mit seiner Betonung von Härte, Schwere, Tragik und Entschlossenheit um diese Zeit sonst eher bei Heidegger, Spengler und Schmitt 133 zu hören ist, wenn er von der Notwendigkeit einer bestimmten harten Haltung bei der Ausübung von Macht redet, bei der die Selbstbehauptung »unter dem Primat des selbstmächtigen Lebens« (V,219) für sich allein dominiert. Gefordert ist also: »Eine Haltung von politischer Entschlossenheit, welche die Abhängigkeit ihrer selbst von der Sprache und ihrer Weltgeltung, von einem bestimmten Widerstand der sie weitertragenden Schichten, von der ganzen Lage eines Volkes, das zu dieser Tradition als seiner Vergangenheit bluthafte Affinität besitzt, ständig im Auge behält und darum entschlossen ist, das Dasein ihrer Nation im geistig-werktätigen, im wirtschaftlichen, im boden- und siedlungspolitischen Vorgriff mit allen Mitteln zu verteidigen.« (V,219)

Gemildert wird diese Apologie der rücksichtslosen Machtpolitik eines Volkes, deren Aufgabe es ist, »mit und gegen die anderen (Völker) seine Tradition durchzusetzen« (V,232), allein durch das Bewußtsein der »Zufälligkeit des eigenen Volkstums« (V,233), denn nur »mit der allmählichen Überwindung der Absolutsetzung des eigenen Volkstums (…) zivilisiert sich die Politik.« (V,233) 2.17.4.5.9 Das Echo des Lebens im Werk Wenn wir nun mit spezifisch geschärftem Blick zu Plessners Werk Lachen und Weinen zurückkehren und danach fragen, in welcher Weise die politischen und gesellschaftlichen Zeitläufte ihre Spuren auch in diesem Werk hinterlassen haben, so lesen sich einige Passagen ganz neu. Carola Dietze stellt in ihrer Plessner-Biographie 134 detailliert dar, wie Plessner im Wintersemester 1932/33 vor dem Durchbruch zu einer großen akademischen Karriere stand, denn die philosophische Fakultät der Universität Köln hatte für die Besetzung des Lehrstuhls für Philosophische Anthropologie, der nach dem Tod von Max Scheler freigeworden war, Plessner als einzigen Kandidaten 135 nominiert, und so konnte sich Plessner am Ziel seiner Wünsche 1578 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wähnen. Da diese Entscheidung aber zeitlich mit der Machtübernahme Hitlers zusammenfiel, wurde Plessner nicht nur nicht berufen, sondern aufgrund des neu erlassenen »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, das alle Juden aus dem öffentlichen Dienst entfernen sollte, sogar fristlos entlassen 136 und ins Exil gejagt. Damit war die von Plessner kurz vorher noch aufgeworfene Frage, ob der Philosophie, also Heidegger, oder der Anthropologie, also ihm selbst, der Vorrang zukomme, erst mal entschieden, und zwar entschieden durch Hitlers Machtergreifung. Welch ein Sturz! Da der sonst so aufschlußreiche Briefwechsel zwischen Helmuth Plessner und Josef König 137 gerade zu dieser Zeit abgebrochen war, wissen wir nicht aus Plessners eigenem Zeugnis, wie er auf diese tiefe Lebenskrise reagiert hat. Hat er genauso verzweifelt aufgelacht wie Lessings Major Tellheim? Oder ist er darüber erschrocken, wie die letzten Sätze seines anthropologischen Hauptwerks, wo er von der »Exzentrizität seiner Lebensform« (IV,424), vom »utopischen Standort« (IV,424) und vom »Stehen im Nirgendwo« (IV,424) spricht, plötzlich einen ganz neuen Sinn bekommen hatten? Und außerdem heißt es hier auch noch in deutlicher Anlehnung an die Marcion-Studie von Adolf von Harnack und in ebenso deutlicher Absetzung von Novalis: »Ein Weltall läßt sich nur glauben. Und solange er glaubt, geht der Mensch ›immer nach Hause‹ 138. Nur über den Glauben gibt es die ›gute‹ kreishafte Unendlichkeit, die Rückkehr der Dinge aus ihrem absoluten Anderssein. Der Geist aber weist Mensch und Dinge von sich fort und über sich hinaus. Sein Zeichen ist die Gerade endloser Unendlichkeit. Sein Element ist die Zukunft. Er zerstört den Weltkreis 139 und tut uns wie der Christus des Marcion 140 die selige Fremde auf.« (IV,425)

Ein Schritt in die selige Fremde war die Emigration sicher nicht, denn selig kann eine Fremde wohl nur dann sein, wenn man freiwillig geht, wohin man will, und nicht, wenn man um sein Leben rennt und nicht weiß, wohin man soll. Deshalb ist es wohl kein Zufall, daß 1941 in Lachen und Weinen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, die für Plessner zehn Jahre vorher aus der Waage geraten waren, wieder gleichwertig geworden waren und inein1579 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ander verschränkt werden, denn Plessner mußte sich im holländischen Exil erst wieder eine Existenzgrundlage schaffen und später nach der Besetzung Hollands durch die deutsche Wehrmacht 141 sogar völlig untertauchen, um den Nazis nicht in die Hände zu fallen. So gesehen bekommt nicht nur Plessners Analyse des Verlegenheits- und Verzweiflungs-Lachens, sondern das ganze Werk Lachen und Weinen eine biographische Unterfütterung und Beglaubigung, die es weit über die bisher hier behandelte gelotologische Literatur erhebt, weil es auf biographisch dunklem Grund entstanden ist und deshalb auch einen besonders genauen Blick für das Lachen auf dunklem Grund bezeugt. Dem verzweifelten Auflachen sind wir bisher ja nur in der Form des blasphemischen Gelächters begegnet, das sich gegen einen gnostisch verstandenen dunklen Gott wendet, an den man glauben oder auch nicht glauben konnte. Nun aber richtete sich dieses verzweifelte Lachen gegen ein mörderisches Regime, das einem nicht mehr die Wahl ließ, ob man daran glauben wollte oder nicht, weil man schlicht dran glauben mußte, wenn man ihm als Jude in die Hände fiel. Wenn man Plessners Werk über Lachen und Weinen auf diese Weise liest und nach dem biographischen Echo sucht, das darin widerhallt, so stößt man immer wieder auf Formulierungen, die sich auf diese Weise plötzlich biographisch semantisieren, wenn z. B. die Verschränkung von Katastrophe und Triumph im Lachen (VII,274) beschrieben wird oder das Phänomen der Desorientiertheit (VII,275) oder wenn vom »bitteren Zusatz« zum Lachen (VII,280) die Rede ist oder von der »Souveränität in einer unmöglichen Lage« (VII,364). Allein schon die Deutung des Lachens als Krise der Personalität und die Grundformel, Lachen entstehe aus der antagonistischen Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, von Entmachtung und Trotz in einer unmöglichen Situation bekommt unter diesem biographischen Aspekt eine ganz neue Wertigkeit. Auch in den Passagen des Werks, in denen Plessner das Weinen analysiert, stößt man auf Sätze, die ahnen lassen, wie der biographische Hintergrund beschaffen war, vor dem dieses Werk entstand, und mit welcher Einstellung er es schaffen konnte, im Exil zu be1580 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz

stehen, denn dort schreibt Plessner über Ergriffenheiten aller Art, die einen zu Tränen rühren können: »Wer durch das Leben dazu gebracht worden ist, mit Feindschaft und Mißgeschick, Enttäuschung und Niedertracht zu rechnen und doch den Kampf um die eigene Sache und das eigene Glück nicht aufgibt, wird das plötzliche Nachlassen des erwarteten Weltdrucks vor Bildern und Werken der Natur und Kunst, vor Kindern, in der Kirche, in der Liebe doppelt ergreifend und übermannend empfinden. Diese Tränen weint daher der Mann eher als die Frau, weil sie unverdientem Frieden im Kampf mit der Welt entspringen.« (VII,354 f.)

Man kann und darf sogar so weit gehen, das ganze Werk über Lachen und Weinen als Zeugnis existentieller Selbstbehauptung und damit auch als einen Akt und ein Dokument politischen Widerstandes zu lesen und zu verstehen, das dann neben das Werk über Die verspätete Nation von 1935 tritt und dieses ergänzt. Doch diese biographische Überformung mindert den Erkenntniswert dieses Werks in keiner Weise, es steigert ihn sogar noch weit über den rein wissenschaftlichen Erkenntniswert hinaus, weil es dadurch auch noch eine biographisch beglaubigte Würde erhält. 2.17.5 Bilanz So umfangreich dieses Kapitel war, so kurz kann die Bilanz dazu sein. Ich habe schon in der Einleitung zu dieser ganzen Studie Plessners gelotologisches Hauptwerk als einen Quantensprung in der Ätiologie des Lachens bezeichnet, um meiner Hochachtung, Begeisterung und Dankbarkeit dafür Ausdruck zu verleihen, und sehe keinen Grund, mich nunmehr von dieser Haltung irgendwie zu distanzieren, auch wenn ich hie und da Kritik an Plessner üben mußte. Das grundstürzend Neue an Plessners Sicht auf das Lachen ergibt sich zum einen daraus, daß er bestimmte Aspekte, die in der Diskursgeschichte der Gelotologie zwar immer wieder mal aufgetaucht sind, aufgegriffen, völlig neu interpretiert und damit auf ein neues Argumentationsniveau gehoben hat wie z. B. das Ambivalenz-Prinzip oder die Deutung des Lachens als Krisensymptom; 1581 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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zum anderen daraus, daß er zwei völlig neue Aspekte in den gelotologischen Diskurs eingeführt hat, die vor ihm noch niemand wahrgenommen und aufs Lachen angewendet hatte. Ich meine damit das synergetische Prinzip und das uroborische Prinzip, die beide im Lachen wirksam sind und dieses intensiv prägen. Und schließlich hat Plessner die gelotologische Debatte nicht nur methodologisch und erkenntnistheoretisch enorm bereichert, sondern auch inhaltlich ausgeweitet, indem er die vermeintlich obligatorische Konnotation von Lachen und Komik resp. von Lachen und Lächerlichkeit aufgebrochen und den Blick auch auf Formen des Lachens gerichtet hat, die nicht das Echo des Komischen oder Lächerlichen sind, aber gleichwohl zur Lachpalette gehören. Daß Lachen ein Ambivalenz-Phänomen ist, wissen wir zwar seit Platon, der das Lachen psychologisch aus gemischten Gefühlen abgeleitet hat. Andere wie Laurent Joubert oder Ewald Hecker argumentierten physiologisch und begründeten die Ambivalenz des Lachens aus antagonistisch geprägten Tatbeständen der menschlichen Physiologie. Doch dadurch, daß Plessner aus der Psychologie und Physik der Stoa und aus Fichtes Philosophie den Begriff des Strebens ableitete, hatte er die Möglichkeit, im Spiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe den Antagonismus zweier Grundhaltungen zu entdecken und diesen Antagonismus zum Dreh- und Angelpunkt seines Argumentationsmodells zu erheben. Dies bot ihm dann auch die Möglichkeit, die synergetische Überformung des Gesamtverhaltens beim Lachen in den Blick zu rücken und das Lachen von daher zu deuten. Deshalb verlangt Plessner auch immer wieder, bei der Ätiologie des Lachens »vom Menschen als Ganzem« (VII,223) auszugehen, weil bei jeder Form von expressivem Streben »ein Ganzes manifest wird« (VII,94) und das menschliche Verhalten synergetisch prägt in allem, was der Mensch ist und hat und kann und tut. Auch der Gedanke, das unverfügbare Lachen verrate eine Krise, ist eigentlich nicht neu, da wir schon bei Poinsinet de Sivry und Hecker auf ihn gestoßen sind, aber durch die von Plessner betonte synergetische Betrachtung des Verhaltens erscheint nun das Lachen als eine umfassendere Krise, »bei welcher der Verlust der Beherrschung im Ganzen Ausdruckswert hat« (VII,274), weil das unverfüg1582 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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bar aus uns herausbrechende Gelächter eine Reaktion ist, die »auf eine Krise menschlichen Verhaltens überhaupt« (VII,378) antwortet, bei der der ganze Mensch »als geordnete Einheit von Geist, Seele, Leib« (VII,364) und das heißt eben auch: in seiner Personhaftigkeit kurzfristig zerbricht. Doch dieses Zerbrechen, diese tiefgehende Desorganisation und Desorientiertheit im ganzen ist mitnichten ein Sturz ins Nichts, sondern nur die rasante Fahrt durch eine Wendeschleife oder, mythologisch gesprochen, Ausgangspunkt für eine Wiedergeburt oder eine Wiederauferstehung, denn durch das im Lachen wirksame uroborische Prinzip, das Plessner zwar entdeckt, für das er aber keine eigene Bezeichnung gefunden hat, ist gewährleistet, daß diese Desorganisation und Desorientiertheit sich von selbst wieder behebt, und deshalb kann Plessner betonen: »In der Katastrophe noch, die sein sonst so beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leibe erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch. Durch das entgleitende Hineingeraten in einen körperlichen Vorgang, der zwangshaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt.« (VII,274)

Diese Einsicht in die uroborische Struktur des Lachens hat nun weitreichende Konsequenzen, denn erst sie ermöglicht die wohlwollende oder zumindest gelassene Hinnahme dieses überwältigenden Erlebnisses und dessen tendenzielle Unverfügbarkeit, die nun nicht mehr als peinlich empfunden werden muß, weil das Lachen dadurch eine neue Unschuld erlangt, und der lachende Mensch sich dadurch in der Gewißheit wiegen darf, daß er sich hier zwar kurzfristig abhanden kommt, sich aber mit Sicherheit alsbald auch wiedergewinnt. Hier im uroborischen Impuls liegt also eine unversiegbare Quelle, aus der sich ein tiefes Vertrauen auch in die unverfügbaren Manifestationen der eigenen Leiblichkeit schöpfen läßt, angesichts derer die gesamte lachfeindliche Literatur im Gefolge von Platon, der Stoa und Augustinus mit einem Schlag zur Makulatur wird. Daß Plessner zu all diesen neuen Einsichten gelangen konnte, liegt wohl vor allem daran, daß er der »faustischen« Ideologie, derzufolge wir uns als selbstherrliche Täter zu verstehen haben, eine 1583 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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fundamentale Absage erteilt und den Widerfahrnischarakter menschlicher Existenz zum Ausgangspunkt seiner philosophischen Anthropologie erhoben hat. Im Anfang steht für Plessner also nicht die Tat, sondern das Widerfahrnis, auch das Widerfahrnis des eigenen Verhaltens. Von hier aus gesehen ist es dann auch verständlich und in sich konsequent, daß die tendenziell unverfügbaren Verhaltensweisen für ihn von besonderem Interesse waren und daß bei der Analyse des Lachens das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen als das Analogon zum prinzipiell unverfügbaren Weinen ganz ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte. Was bleibt nun, nach Plessner, in der Erforschung des Lachens noch zu tun? Wir werden, so meine Antwort, auf dem von Plessner gewiesenen Weg wohl weitergehen müssen, auch wenn dies mit Plessner über Plessner hinausführen wird, denn bei Plessner finden sich noch einige Lücken, die gefüllt werden wollen. Ich denke da vor allem an die Ätiologie des Interaktions- und des Resonanz-Lachens und an die Komplettierung der Lachpalette generell. Es wird wohl auch nötig sein, Plessners methodologisches Rüstzeug weiter zu entwickeln, und dafür finden sich entscheidende Ansatzpunkte in der Philosophie der Leiblichkeit von Hermann Schmitz, auf die wir im nächsten Kapitel einzugehen haben. Anmerkungen 1

Ich zitiere Plessner generell nach der Ausgabe: Gesammelte Schriften, 10 Bde., hg. v. Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt a. M. 1983, hier aber nach der Originalausgabe: Helmuth Plessner: Vom Anfang als Prinzip der Bildung transzendentaler Wahrheit (Begriff der kritischen Reflexion). InauguralDissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen, Heidelberg 1917, S. 123. In den Gesammelten Schriften ist diese Dissertation unter dem Titel »Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918)« (I,143 ff.) abgedruckt, allerdings leider ohne die Kurzbiographie. 2 I,137; vgl. dazu Pietrowicz, S. 115. 3 Wichtige Anregungen für dieses Kapitel konnte ich folgenden Plessner-Monographien entnehmen: Felix Hammer: Die exzentrische Position des Menschen. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, Bonn 1967; Stephan Pietrowicz: Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992; Hans Redeker: Helmuth Plessner oder Die

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Anmerkungen

verkörperte Philosophie, Berlin 1993; Kersten Schüßler: Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie, Berlin/Wien 2000; Heike Kämpf: Helmuth Plessner. Eine Einführung, Düsseldorf 2001; Kai Haucke: Das liberale Ethos der Würde. Eine systematisch orientierte Problemgeschichte zu Helmuth Plessners Begriff menschlicher Würde in den Grenzen der Gemeinschaft, Würzburg 2003. Die Monographie von Stephan Pietrowicz war die für mich weitaus ergiebigste. Wichtige Anregungen enthielten auch die Sammelbände: Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, hg. v. Günter Dux und Ulrich Wenzel, Frankfurt a. M. 1994; Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, hg. v. Jürgen Friedrich und Berndt Westermann, Frankfurt a. M. 1995; Plessners »Grenzen der Gemeinschaft«. Eine Debatte, hg. v. Wolfgang Eßbach, Joachim Fischer und Helmut Lethen, Frankfurt a. M. 2002; Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, hg. v. Bruno Accarino und Matthias Schloßberger, Berlin 2008. Dazu kommen noch vier Aufsätze von Joachim Fischer, die um das Thema Exzentrische Positionalität in konzentrischen Ringen kreisen: Die exzentrische Nation, der entsicherte Mensch und das Ende der deutschen Weltstunde, in: DVJS 64, 1990, S. 395–426; Plessner und die politische Philosophie der zwanziger Jahre, in: Politisches Denken, 1992, S. 53–78; Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48, 2000, S. 265–288; Ekstatik der exzentrischen Positionalität. »Lachen und Weinen« als Plessners Hauptwerk, in: Accarino/Schloßberger, S. 253–272, sowie ein für mich besonders erhellender Aufsatz von Hilge Landweer: Denken in Raumkategorien. Situation, Leib und Bedeutung bei Helmuth Plessner und Hermann Schmitz, in: Accarino/Schloßberger, S. 235–254. Und schließlich schulde ich auch zwei Monographien über Philosophische Anthropologie einigen Dank: Gerhard Arlt: Philosophische Anthropologie, Stuttgart/Weimar 2001, und: Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München 2008. 4 Ich zitiere Tönnies nach der Ausgabe: Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 4/2005. 5 Vgl. dazu Tönnies, S. 12 ff. 6 Vgl. dazu Tönnies, S. 34 ff. 7 Vgl. dazu Tönnies, S. XLIII des Vorworts zur 6. u. 7. Auflage, wo Tönnies schreibt, er möchte das Werk Plessners »gern empfehlen«. Die Rezension findet sich in dem Sammelband von Eßbach/Fischer/Lethen S. 353–356. 8 Plessner V,115, resp. Rezension S. 355. 9 Ich zitiere nach der Ausgabe: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, hg. v. Kurt Pinthus, Reinbek 1959, S. 279. 10 Robert Neumann: Meisterparodien, hg. v. Jens Jessen, Zürich 1988, S. 48. 11 Vgl. dazu Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 12/1972, S. 128. 12 Heidegger, S. 127. 13 Vgl. dazu Heidegger, § 27, S. 126–130 und v. a. die Pointe: »Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.«

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Hölderlins Werke, hg. v. Hans Brandenburg, Leipzig o. J., Bd. II, S. 154. Ich zitiere Kleist nach der Ausgabe: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde, hg. v. Helmut Sembdner, München 1961, hier II,662. 16 Henrik Ibsen: Peer Gynt, Ein dramatisches Gedicht. Deutsch von Ludwig Fulda, Stuttgart/Berlin 1916, S. 198. 17 Eine Anspielung auf Karl Löwiths Studie: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen von 1928. Plessner und Löwith waren lebenslang befreundet. 18 Plessner X,240; vgl. dazu Pietrowicz, S. 468 ff. 19 Vgl. dazu die Plessner-Studie von Kai Haucke über das Ethos der Würde. 20 Helmut Lethen ordnet Plessners »Grenzen der Gemeinschaft« mentalitätsgeschichtlich in die Neue Sachlichkeit und damit in den Neostoizismus ein und verabsolutiert dadurch den Aspekt von Distanz, Reserviertheit und Kälte zu einseitig zu dem anthropologischen Konstrukt einer »kalten persona«. Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a. M. 1994, S. 53 ff. 21 Vgl. dazu die Kapitel 2.5.4 und 2.12.6.6.5, sowie Schmitz: Leib, S. 497 ff. 22 Vgl. dazu Plessners Selbstdarstellung X,308 ff., und Stufen IV,401. Für Plessners Sicht auf Fichte dürfte die Studie von Heinz Heimsoeth: Fichte, München 1923, auf die er auch mehrfach verweist, und dort wieder das Kapitel »Die Tathandlung«, S. 89–96 besonders wichtig gewesen sein. 23 Vgl. dazu Wolfgang Janke: Fichte. Sein und Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970, S. 162–180 und S. 197 ff., sowie Pietrowicz, S. 91 ff., und den Aufsatz von Jan Beaufort: Gesetzte Grenzen, begrenzte Setzungen. Fichte’sche Begrifflichkeit in Helmuth Plessners Phänomenologie des Lebendigen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48, 2000, S. 213–236. 24 Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, 10 Bde, Berlin 1971, hier I,261 f. 25 Fichte I,264. 26 Fichte I,266. 27 Fischer: Ekstatik, in: Accarino/Schloßberger, S. 256. 28 Vgl. dazu Drieschs Kommentar, Plessner vertrete einen Hylozoismus (VIII,260). 29 Vgl. dazu das Nachwort zu »Stufen« IV,426 f. 30 Vgl. dazu den Aufsatz von Wolfgang Eßbach: Auf Nichts gestellt. Max Stirner und Helmuth Plessner, in: Der Einzige. Jahrbuch der Max Stirner Gesellschaft Bd. 1, 2008, S. 57–78. 31 Günter Dux: Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht, in: Dux/ Wenzel, S. 93–115, hier S. 95. 32 Vgl. dazu Erwin Straus: Die aufrechte Haltung, in: Straus: Psychologie, S. 224–235. 33 Vgl. dazu den Aufsatz von Wolfgang Eßbach: Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: Dux/Wenzel, S. 15–44, hier S. 19. 34 Ich zitiere Ovid im Original immer nach der Ausgabe: Ovid. Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und hg. v. Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, hier S. 58 bzw. I,720 f. 15

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Anmerkungen 35

Publius Ovidius Naso’s Werke, Bd. I: Verwandlungen, übersetzt von Heinrich Christian Pfitz, Stuttgart 1833, S. 67. 36 Vgl. Schmitz: Gegenstand, S. 147–151. 37 Vgl. IV,383 f. 38 Vgl. X,331. 39 Vgl. dazu Kapitel 2.15.3.2. 40 Vgl dazu Buytendijk: Haltung und Bewegung, S. 203–253. 41 Vgl. VII,265 f. 42 Hartmut Böhme: Sinne und Blick. Zur mythopoetischen Konstitution des Subjekts, in: Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt a. M. 1988, S. 215–255, hier S. 217. 43 Vgl. dazu Jean-Paul Sartre: Der Blick. Ein Kapitel aus Das Sein und das Nichts, Mainz 1994. 44 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 5/1968, S. 483–493. 45 Vgl. dazu Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 34 ff. 46 Vgl. dazu noch mal den Aufsatz von Wolfgang Eßbach: Mittelpunkt außerhalb (s. o. Anmerkung 33), S. 22. 47 Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 103. 48 Vgl. dazu Anmerkung 69 zu Kapitel 2.6. 49 Vgl. dazu Pannenberg: Anthropologie S. 100 ff. u. 219 ff., sowie Pannenbergs kleine Studie: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 8/1995, S. 22 ff. 50 Vgl. dazu Plessners Aufsätze: Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, VIII,118 und: Homo absconditus, VIII,354. 51 Ich meine damit ausdrücklich nicht Erbauungsliteratur im Stil von Otto Friedrich Bollnows Buch: Neue Geborgenheit, Stuttgart 1956, über das Adorno in seinem Pamphlet über den Jargon der Eigentlichkeit mit Recht so in Zorn gerät. 52 Vgl. dazu Wilhelm Kamlah: Der Mensch in der Profanität. Versuch einer Kritik der profanen Vernunft durch vernehmende Vernunft, Stuttgart 1948, S. 19. Kamlah nahm diesen Gedanken in seiner Philosophischen Anthropologie S. 157 ff. wieder auf. 53 Vgl. dazu Plessners Verweis auf die Sündenfall-Mythologie X,220 und Pannenbergs Plessner-Rezeption in seiner Anthropologie, S. 77 ff. 54 In den letzten Sätze der »Stufen« zitiert Plessner eine zentrale Passage aus Hardenbergs »Heinrich von Ofterdingen«: »Und so lange er glaubt, geht der Mensch ›immer nach Hause‹.« (IV,425) Vgl. dazu: Novalis: Monolog. Die Lehrlinge zu Sais. Die Christenheit oder Europa. Hymnen an die Nacht, Geistliche Lieder. Heinrich von Ofterdingen, hg. v. Curt Grützmacher, Reinbek 1963, S. 200. Dort lautet der Dialog mit dem Pilger: »Wo gehen wir denn hin?« – »Immer nach Hause.« 55 Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Darmstadt 1969. 56 Ich orientiere mich hier terminologisch an der »Logischen Propädeutik« von Kamlah/Lorenzen.

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Vgl. Logische Propädeutik, S. 111 ff. Vgl. dazu Plessners Ausführungen in seiner Studie über die Deutung des mimischen Ausdrucks, VII,81 f. 59 Vgl. nochmals VII,67–130, v. a. S. 92 ff. und S. 108 ff. 60 Vgl. Goethe 4,21, Aphorismus Nr. 156. 61 Vgl. dazu die neuere Diskussion in den Werken: Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, hg. v. Michael Großheim, Berlin 1995; Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, hg. v. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Stuttgart/Weimar 2007; Gefühle – Struktur und Funktion, hg. v. Hilge Landweer, Berlin 2007; Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Erkenntnistheorie, hg. v. Kerstin Andermann und Undine Eberlein, Berlin 2011. 62 Vgl. Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006, S. 254 ff. 63 Vgl. dazu Undine Eberlein: Leibliche Resonanz. Phänomenologische und andere Annäherungen, in: Andermann/Eberlein, S. 141–152. 64 Eine Anspielung auf Kant, für den jede Art von eutrapelistischer Geselligkeit davon abhängt, daß man in eutrapelistischen Runden seine ernsthaften Interessen hintanstellt (Kant VI,621), denn »alles Interesse macht ernsthaft.« (AA,1139). 65 Vgl. dazu Kapitel 2.14.7.2. 66 Vgl. dazu Kapitel 2.14.7.3. 67 Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1967, v. a. S. 37 ff., S. 44 ff., 104 ff. u. S. 120 ff., sowie Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989, Kapitel »Zeit der Entscheidung«, S. 47–94, v. a. S. 49 ff. und: Winfried Franzen: Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« vom WS 1929/30, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 78–92. 68 Vgl. Sein und Zeit, § 27, S. 176 ff. und § 35, S. 167 ff. 69 Die Formel »Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe« taucht, soweit ich sehe, in Plessners Schriften zum ersten Mal in »Grenzen der Gemeinschaft« am Ende des Kapitels »Der Kampf ums wahre Gesicht« (V,76) in einem religiösen Kontext auf. Dies könnte vielleicht darauf hindeuten, daß Plessner zu dieser Ambivalenz-Formel durch Goethes Ambivalenz-Formel »verselbsten und entselbsten« am Ende des achten Buches von »Dichtung und Wahrheit« (23,300) angeregt worden ist, wo Goethe über sein Verständnis von Religiosität berichtet. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch, daß Plessner sich hier an Kants Ästhetik und damit wieder an Burkes Unterscheidung von »wehrhaft tapferer Selbstbehauptung« und »wehrlos schmelzender Hingabe« orientiert; vgl. dazu oben Kapitel 2.12.6.6.5. Eine ähnliche Formel findet sich auch in Arthur Koestlers Studie: Der göttliche Funke, Bern/München/ Wien 1968, wo die Ambivalenz von »aggressiv-defensiver oder selbstbehauptender« (S. 44) und »partizipatorischer oder selbsttranszendierender« (S. 47) Tendenz physiologisch aus dem antagonistischen Zusammenspiel von Sympathikus und Vagus 58

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Anmerkungen

abgeleitet wird. Ein Hinweis auf Plessner, Goethe, Burke oder Kant findet sich bei Koestler allerdings nirgendwo, und er wird gewußt haben, warum. 70 Vgl. dazu Kapitel 2.9.4.3. 71 Vgl. auch VII,331, wo Plessner von einer »Skala« des Lachens spricht und von »zunehmender« und »schwindender« Distanz dazu. 72 Vgl. Buytendijk: Haltung und Bewegung, S. 203 ff. 73 Der Aufsatz findet sich in Buytendijks Sammelband: Das Menschliche, Stuttgart 1958, S. 101–118. 74 Vgl. dazu Kapitel 2.17.2. 75 Vgl. Schmitz: Leib, S. 143 ff. 76 Schmitz: Leib, S. 143. 77 Schmitz: Leib, S. 143. 78 Hermann Schmitz: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966, S. 34 f. Ausführlichere Darstellungen finden sich in: Schmitz: Gegenstand, S. 121 ff. und Leib, S. 73 ff. 79 Karl Richard Kremer: Das Lachen in der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters, Diss. Bonn 1961. 80 Weitere Beispiele finden sich bei Heinrich Furrer: Das Lächeln. Ein Beitrag zur Theorie der Beziehung von Ausdruck und Situation, Diss. Zürich 1978. 81 Friedrich Georg Jünger: Über das Komische, Berlin 1936 resp. Zürich 1948. 82 Vgl. dazu VIII,297, 298, 299, 303, 304. 83 Vgl. Jean Paul 49,116. 84 Vgl. dazu Kapitel 2.12.6.5. 85 Vgl. nochmals Kapitel 2.12.6.5. 86 Vgl. dazu Kapitel 2.14.7.1. 87 Schmitz: Gegenstand, S. 123. 88 Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 8/1995. 89 Vgl. dazu Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 46 ff., wo Böhme zwischen »Ingression« und »Diskrepanz« als zwei Weisen unterscheidet, sich Atmosphären gegenüber zu verhalten. Durch Ingression gerät man hinein, durch Diskrepanz bleibt man außen vor. 90 Vgl. dazu Kapitel 2.2.5. 91 Plessner fährt hier fort: »einerlei, ob ich ihn an der Fußsohle oder beim Anblick eines Autorennens empfinde.« Auf diese metaphorische Verwendung des Wortes »Kitzel« gehe ich nicht weiter ein, weil mir diese Analogisierung zu unergiebig erscheint, denn niemand lacht bei solcher Art von Kitzel, ebensowenig wie bei gekitzelter Eitelkeit. 92 Vgl. Kapitel 2.14.6.2. 93 Vgl. dazu meinen Aufsatz über Gelächter und Scham: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« In: Berliner Debatte Initial 17,2006, 1/2, S. 123–136, hier S. 128 ff. 94 Vgl. Demmerling/Landweer, S. 232 ff. 95 Ich muß hier noch mal auf meinen Aufsatz über Gelächter und Scham verweisen, diesmal auf S. 132 ff.

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Demmerling/Landweer, S. 235. Vgl. dazu Kapitel 2.13.5. 98 Joachim Fischer: Ekstatik, in: Accarino/Schloßberger, S. 254. 99 Buytendijk hat Jahre später derartige Versuche unternommen und berichtet darüber in dem Aufsatz »Das erste Lächeln des Kindes«, in: Buytendijk: Das Menschliche, Stuttgart 1958, S. 101–118. Ähnliche Experimente viel umfassenderer Art hat später der Freudianer René Arpad Spitz durchgeführt und in verschiedenen Studien dokumentiert: Vom Säugling zum Kleinkind, Stuttgart 1967; Eine genetische Theorie der Ichbildung, Frankfurt a. M. 1972; Vom Dialog, München 1986. 100 Vgl. dazu Kapitel 2.15.6. 101 Zur Kritik der Einfühlungstheorie vgl. meinen Aufsatz »Über das Mitgehen«, in: Großheim: Leib und Gefühl, v. a. S. 143 ff., sowie Plessners »Stufen«, IV,78 ff., und die einschlägigen Passagen bei Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1972, S. 98 ff. 102 Oskar Kohnstamm: Die biologische Sonderstellung der Ausdrucksbewegung, in: Journal für Psychologie und Neurologie, 1906, Heft 7, S. 205–227, hier S. 207. 103 Schmitz: Leib, S. 169. 104 Schmitz: Leib, S. 170. Allerdings würde Schmitz heute eher von »leiblicher Dynamik« oder vom »vitalen Antrieb« als von »leiblicher Ökonomie« sprechen, um die mißverständliche Nähe zu Freuds »Ökonomieprinzip« zu vermeiden; vgl. dazu Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin 2011, S. 178. 105 Vgl. dazu Burke, S. 192, und Kant V,369, sowie Kap. 2.12.6.6.5. 106 Vgl. dazu die eindrucksvollen Analysen, die Peter von Matt über krachende Herzen und zerschmelzende männliche Helden vorgelegt hat: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1995, S. 75 ff. und S. 117 ff. Man darf aber auch an die politisch konnotierte Dialektik von Vereisung und Tauwetter in Freiligraths berühmtem Gedicht »Eispalast« von 1846 denken, in dem beschrieben wird, wie der vom »Winterfrost der Tyrannei« geschaffene »Eispalast der Despotie« vom Tauwetter aufgeschmolzen wird, in sich zusammenbricht und dann vom Fluß der Geschichte hinweg geschwemmt wird: »Die letzten Spuren seiner Schmach malmt er und knirscht er kurz und klein - - / Und fluthet groß und ruhig dann in’s ewig freie Meer hinein.« (Freiligrath 3,124) 107 Zum Kult der Träne vgl. das überaus materialreiche Sammelwerk: Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert. Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Schloß Dyck, Heidelberg 1983. 108 Plessner scheint Bollnows Werk über das Wesen der Stimmungen von 1941 sofort nach dem Erscheinen durchstudiert (vgl. VII,348) und sehr geschätzt zu haben. 109 Ich muß auf meinen Aufsatz »Über das Mitgehen« (Großheim, S. 141–153) verweisen, weil sich meine Kritik an der cartesianisch orientierten Einfühlungstheorie dort (S. 144 ff.) wesentlich auf Plessner stützt. 110 Die Art und Weise, wie Tony Buddenbrook in der oben in der Einleitung zitierten Szene sich im genußvollen Weinen uroborisch erfrischt und dann heiter zum Tagesgeschäft übergeht, zeigt die ganze infantile Oberflächlichkeit dieser Gestalt, die nie zu voller Personalität reifen konnte. 97

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Anmerkungen 111

Vgl. dazu Kap. 2.6.3 und 2.6.6.10. Vgl. dazu Barbara Müller: Der Weg des Weinens. Die Tradition des »Penthos« in den Apophthegmata Patrum, Göttingen 2000. 113 Ich zitiere nach der Züricher Ausgabe von 1948. 114 Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1972, S. 229. Bei Gehlen heißt es weiter: »Kein Tier weiß, daß es sterben wird, aber es ist auch keins auf die offene Fülle der Welt angewiesen und damit deren unberechenbarem Zufall chronisch ausgesetzt. Dabei macht es nichts aus, daß es in der Tat gelingt, durch systematische Erkenntnis, Beherrschung der Natur und der Lebensverhältnisse die Grenzen der Ohnmacht fortdauernd herauszurücken: denn da dies tätig geschieht, bleibt der Mensch mit diesen Grenzen, die er weiter und weiter abschiebt, eben gerade in Berührung, ja er potenziert die Einbruchstellen des Unglücks.« (Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940, S. 457 f.) 115 So Bollnow im Vorwort der Neuauflage von 1956, S. 9. Möglicherweise hat Bollnow dies nur im Rückblick so empfunden, denn auch er hat ganz zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus versucht, sich dem Regime durch schallende Bekenntnisse anzudienen. 116 Joachim Ritters Aufsatz liegt in zwei Fassungen vor, zum einen in: Blätter für Deutsche Philosophie, 1940, Heft 14, S. 1–21, zum anderen in Ritters Sammelband von Aufsätzen: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S. 62–92. Da die beiden Fassungen einige Abweichungen aufweisen, zitiere ich in der Form, daß ich die in der Fassung von 1974 gestrichenen Passagen in doppelte Klammern setze. Textergänzungen gibt es in der Fassung von 1974 soweit ich sehe nicht. Plessner erwähnt zwar Ritters Aufsatz im Nachtrag zu den Anmerkungen von »Lachen und Weinen«, geht aber auch in den späteren Auflagen seines Buches auf Ritters Aufsatz mit keinem Wort ein. 117 Vgl. dazu die Kapitel 2.3.3.10, 2.9.4.3 und 2.12.6.5.5. 118 Müßte es nicht heißen: »So ist das Komische …«? 119 Vgl. Anmerkung 102 zu Kapitel 2.14.6.4.2. 120 Müßte es auch hier nicht heißen: »Vermag das Komische …«? 121 Zur Rolle Joachim Ritters in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. den Aufsatz von Hans Jörg Sandkühler: Joachim Ritter: Über die Schwierigkeiten, 1933–1945 Philosoph zu sein, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Philosophie im Nationalsozialismus, Hamburg 2009, S. 253–269. Aufschlußreich sind auch Sandkühlers Einleitungsaufsatz: Vergessen? Verdrängt? Erinnert? Philosophie im Nationalsozialismus, S. 9–29, und der Beitrag von Gereon Wolters: Philosophie im Nationalsozialismus, S. 57–81, im selben Sammelwerk. Sandkühler stellt dort seinen Lehrer Ritter als Opportunisten dar, geht aber auf den Aufsatz über das Lachen nicht näher ein. 122 Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. Erste Serie. Band 1, Berlin 1913, S. 216 f. 123 Vgl. Anmerkung 21 zu Kapitel 2.6. 124 Siegfried Kadner: Rasse und Humor, München 2/1939. Kadners Werk erschien im J. F. Lehmann’s Verlag, der auch die Werke anderer und besonders prominenter 112

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Helmuth Plessner

nationalsozialistischer Autoren wie Johanna Haarer, Paul Schultze-Naumburg, Hans F. K. Günther und Walter Darré im Programm hatte. Kadners Funktion im nationalsozialistischen Regime war die eines Referenten für Rassefragen. Vgl. dazu Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reiches, Berlin 2006, S. 263 und S. 410. 125 Dieses Werk des »Rassenpapstes« Günther war 1922 ebenfalls im J. F. Lehmann’s Verlag erschienen und erlebte etwa 20 Auflagen. 126 Kadners Text ist konsequent im Sinne von Eduard Engel »entwelscht« und vermeidet deshalb so weit wie möglich Fremdwörter, die offenbar auch Kadner als »die Juden der Sprache« (Adorno) empfand. Fremdwörter werden von Kadner nur dann verwendet, wenn das damit Bezeichnete selbst etwas für ihn Ekelhaftes ist, z. B. »liberalistische Seelenforschung« (S. 17). 127 Vgl. Kapitel 2.14.6.4.1. 128 Vgl. Kapitel 2.14.6.4.2. 129 Vgl. Kapitel 2.12.6.3. 130 Wolters: Philosophie im Nationalsozialismus, in: Sandkühler, S. 65. 131 Ludwig Ferdinand Clauß: Rasse und Seele. Eine Einführung in die Gegenwart, München 1926. Das Werk erschien genau wie das von Kadner im J. F. Lehmann’s Verlag und erlebte mit dem später geänderten Untertitel »Eine Einführung in den Sinn der leiblichen Gestalt« viele Auflagen; aber daß das Werk in diesem nationalsozialistischen Verlag erschien, war wohl eher ein Mißverständnis, denn Clauß war zwar ein Nazi, aber durchaus kein antisemitischer Rassist. 132 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), Berlin 8/2004, S. 13. Zur Beziehung zwischen Plessner und Schmitt vgl. den Aufsatz von Axel Honneth: Plessner und Schmitt. Ein Kommentar zur Entdekkung ihrer Affinität, in: Eßbach/Fischer/Lethen, S. 21–28. 133 Ich verweise hier noch mal auf die Texte von Norbert Bolz und Winfried Franzen unter Anmerkung 67, sowie auf Kapitel 12 der Heidegger-Studie von Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 240 ff. 134 Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985, Göttingen 2006. 135 Vgl. Dietze, S. 82 f. 136 Vgl. Dietze, S. 84–98. 137 Vgl. Josef König/Helmuth Plessner: Briefwechsel 1923–1933, hg. v. Hans Ulrich Lessing/Almut Mutzenbacher, Freiburg 1994. 138 Vgl. oben Anmerkung 54. 139 Eine Anspielung auf den Traktat des neukatholisch frommen Rivalen Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), Bern 6/1962. 140 Vgl. Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 2/1924, S. 118 ff. 141 Vgl. Dietze, S. 193–221.

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2.18 Hermann Schmitz oder Die Frage nach dem Spiel von personaler Emanzipation und personaler Regression

2.18.1 Überblick Hermann Schmitz gehört zu den ganz wenigen Philosophen, die in Goethe nicht nur den großen Dichter, sondern auch den eigenständigen Philosophen gesehen haben. Deshalb bestand das Ziel seiner Dissertation darin, Goethe zwar »als philosophischen Denker« 1 zu behandeln, dabei aber nicht auch selbst im Stil von Goethe zu philosophieren, also in »dem aphoristischen, tastenden, stets sich selber problematisch bleibenden, unsystematischen Vorgehen, das so lange seinen Rang als genuiner Philosoph verdeckt hat.« (S. 71) Dieses aphoristisch-unsystematische Vorgehen des Philosophen Goethe zeigt sich u. a. darin, daß man sich die Kernsätze seiner Philosophie v. a. aus den Maximen und Reflexionen zusammensuchen muß, und außerdem hat Goethe sie gern bestimmten Gestalten seiner dichterischen Werke in den Mund gelegt, und hier besonders gern seinem Mephisto, den er z. B. ein Verständnis von Wissenschaft verspotten läßt, das dem Wahn verfallen ist, man könne alles allein durch Messen und Zählen adäquat erfassen: »Daran erkenn’ ich den gelehrten Herrn! Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern, Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar, Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr, Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht, Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht.« (V. 4917–4922)

Daß Mephisto hier tatsächlich ganz im Sinne Goethes spottet, geht aus einer Bemerkung aus Goethes Bericht über die Geschichte seiner botanischen Studien hervor, wo er explizit erklärt: »Trennen und Zählen lag nicht in meiner Natur.« (36,58) 1593 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

Mit dieser Replik Mephistos ist zugleich auch der zentrale Impuls der von Hermann Schmitz entwickelten Neuen Phänomenologie benannt, über die er im Rückblick auf das von ihm entwikkelte System der Philosophie (1964–1980) schreibt: »Für die grundlegende Verfehlung, die als zu überwindende Hürde meinem philosophischen Forschen die Richtung gab, habe ich erst 1996 den mir völlig treffend scheinenden Namen gefunden; es handelt sich um die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Dabei geht es um folgendes: Die Erfahrungswelt wird in der Weise aufgespalten, dass jedem Bewussthaber (= Subjekt) eine private Innenwelt, in die sein gesamtes Erleben aufgenommen und eingeschlossen ist, zugewiesen wird (Psychologismus); die zwischen den Innenwelten (Seelen) verbleibende empirische Außenwelt wird bis auf wenige Merkmalsorten, die für intermomentane und intersubjektive Identifizierung, Messung und selektive Verschiebung besonders geeignet sind und daher noch heute die Datenbank der Physik bilden, nämlich die unspezifischen Sinnesqualitäten und deren hinzugedachte Träger (z. B. Atome), abgeschliffen (Reduktionismus); der Abfall der Abschleifung wird entweder ausdrücklich in den Seelen untergebracht (spezifische Sinnesqualitäten) oder übersehen und danach, wenn er sich aufdrängt, in entstellter Form verseelt (Introjekton). Diese großen übergangenen Massen der unwillkürlichen Lebenserfahrung – d. h. dessen, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgemacht haben – in unverstellter Form begreifendem Verständnis wieder zuzuführen (…), war von Anfang an mein Bestreben und ist es bis heute geblieben; im Vorwort des ersten Bandes meines Werkes System der Philosophie (1964) wird diesem Werk namentlich die Aufgabe zugesprochen, die Introjektion der Gefühle durch Einsicht in deren Räumlichkeit zu überwinden.« 2

Was unter dem Stichwort »Räumlichkeit der Gefühle« zu verstehen ist, erfahren wir wiederum, wenn wir bei Goethe den schon mehrfach zitierten Aphorismus 643 nachlesen, denn dort heißt es: »Den teleologischen Beweis vom Dasein Gottes hat die kritische Vernunft beseitigt; wir lassen es uns gefallen. Was aber nicht als Beweis gilt, soll uns als Gefühl gelten, und wir rufen daher von der Brontotheologie bis zur Niphotheologie 3 alle dergleichen fromme Bemühungen wieder heran. Sollten wir in Blitz, Donner und Sturm nicht die Nähe einer

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übergewaltigen Macht, in Blütenduft und lauem Luftsäuseln nicht ein liebevoll sich annäherndes Wesen empfinden dürfen?« (4,93)

Nun könnte man natürlich einwenden, Goethe argumentiere hier nicht als Philosoph, sondern als Dichter und dies mit dem Ziel, eine poetische Weltsicht zu rechtfertigen. Doch dieser Einwand fällt sofort in sich zusammen, wenn man ein Experiment nachvollzieht, das Franz Koppe mit dem berühmten Gedicht Septembermorgen von Eduard Mörike angestellt hat. Zunächst zitiert er das Gedicht: Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen.

Dann übersetzt er das Gedicht ins Reduktionistische, und aus dem Gedicht wird ein simpler Wetterbericht: »Zunächst noch verbreitet Morgennebel, besonders in den Niederungen. Später aufklärend und sonnig Bei warmen Herbsttemperaturen.«4

Und wenn dann noch Barometer- und Thermometer-Angaben folgen würden, könnte Mephisto wieder zu seinem spöttischen Kommentar auf die gelehrten Herrn Reduktionisten ansetzen, die alles rein quantitativ erfassen und bestimmen wollen. Was ist bei dieser Übersetzung verloren gegangen? Es ist offensichtlich nicht allein der poetische Mehrwert dieses schönen Gedichts, der u. a. dadurch entsteht, daß durch den dreifachen Reim eine Spannung erzeugt wird, die sich dann in der letzten Verszeile wieder selig lösen kann, sondern es ist auch, wie Hermann Schmitz sagen würde, die zentrale Aufgabe der Lyrik verloren gegangen, die darin besteht, objektive Tatsachen immer zugleich auch als subjektive erscheinen zu lassen, oder, wie Erwin Straus sagen würde, Geschehnisse als Erlebnisse darzustellen. Franz Koppe meint genau dasselbe, wenn er schreibt, bei dieser Übersetzung ins profan Meteorologische gehe »die Bekundung einer positiven oder negativen Betroffenheit« (S. 128) verloren. 1595 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

Vor allem aber geht bei dieser Übersetzung die Anmutung durch das Atmosphärische verloren, das also, was Goethe im Aphorismus 643 als »Gefühl« bezeichnet, aber eben nicht als ein Gefühl, das tief in einem privaten Innenraum haust und sich dort regt, sondern als »übergewaltige Macht« oder als »liebevoll sich annäherndes Wesen«, das von außen über uns kommt und uns ergreift, berührt, packt oder erschüttert, und von dem wir auch wissen, daß es über uns kommt und uns in irgendeiner Weise berührt und ergreift, doch ohne dieses Widerfahrnis im einzelnen durch eine endliche Menge von Protokollsätzen und Meßdaten erschöpfend benennen zu können. Mörikes Gedicht erzeugt im Leser positive Betroffenheit, weil sich die poetisch erzeugte Spannung selig lösen kann. Das Gedicht Genazzano von Marie Luise Kaschnitz erzeugt eine negative Betroffenheit, weil es den Leser mit dem letzten Wort geradezu anspringt und im Innersten trifft: Genazzano am Abend Winterlich Gläsernes Klappern Der Eselshufe Steilauf die Bergstadt. Hier stand ich am Brunnen Hier wusch ich mein Totenhemd. Mein Gesicht lag weiß Im schwarzen Wasser Im wechselnden Laub der Platanen. Meine Hände waren Zwei Klumpen Eis Fünf Zapfen jeder Die klirrten. 5

Das Echo von Goethes Aphorismus 643 lautet bei Hermann Schmitz: »Was das große Unternehmen eines Systems der Philosophie gegenwärtig zu rechtfertigen scheint, ist nicht allein ein theoretisches, spekulatives Interesse, sondern hauptsächlich das Bedürfnis nach Überwindung der Introjektion der Gefühle, d. h. der Neigung, Gefühle als subjektive, private Seelenzustände der einzelnen Menschen aufzufas-

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sen, statt sie als erregende, ergreifende Mächte, die von sich aus wirken und über die Menschen – nicht bloß über Einzelne, sondern ebenso über Mengen und Gruppen – kommen, ohne der Heimstätte in einem Subjekt zu bedürfen und bloß dessen Ausgeburten, Inhalte oder Eigenschaften zu sein.« 6

Dann verweist Schmitz auf das Zusammenspiel von Daimon und Pathos bei den Griechen, auf »das Gepackt- und Mitgerissenwerden von der erregenden Macht (und auf ) die Empfängnis des als Daimon wirkenden Gefühls« (G,X) und fügt sofort hinzu: »Dieses Ergriffensein muß nicht erhebend, andächtig oder enthusiastisch (wie z. B. durch Mörikes Gedicht) sein, sondern kann auch (wie z. B. durch das Gedicht der Kaschnitz) schrecklich, grauenhaft und zerstörerisch geschehen, wie beim Phobos der Alten und beim Gorgonenblick.« (G,X)

Spätestens hier denkt man natürlich an das Lachen, genauer: an das Bekundungs-Lachen, das uns als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis ergreift und schüttelt und als das »Explodieren der Angstspitze« (Baader) aus uns herausplatzt, aber auch an das ResonanzLachen, zu dem wir angesteckt werden können. Und vor allem denkt man auch daran, daß die alten Griechen in diesem Bekundungs-Lachen einen Gott gesehen und verehrt haben, den Gott Gelos, der genauo ergreifen kann wie der Phobos, der ganze Heere in die Panik treiben konnte, oder der Eleos, der uns in Tränen zerfließen lassen kann. Akzeptiert man diese neue, resp. ganz alte Sicht auf die Gefühle – und ich sehe keinen Grund, dies nicht zu tun –, so ergibt sich sofort ein neuer Zusammenhang zwischen Bekundungs-Lachen und Gefühl. In der traditionellen Sicht, und auch noch bei Plessner, stellte man sich diesen Zusammenhang so vor, daß ein bestimmtes Gefühl als innerer seelischer Zustand durch das Lachen nach außen transportiert, also ganz wörtlich »ausgedrückt« wird im Sinn von »hinaus gedrückt«, obwohl durch das Lachen genau genommen doch nur warme Atemluft hinausgedrückt wird, weil jede Form von lautem Gelächter gestotterte Ausatmung ist. In der durch Hermann Schmitz möglich gemachten neuen Sicht auf die Gefühle aber ist das jeweilige Bekundungs-Lachen nicht mehr das affektiv neutrale Transportmittel des jeweiligen Gefühls von »innen« nach 1597 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

»außen«, sondern selbst ein affektiv getöntes Verhalten. Zugleich damit erledigt sich auch die Rede, irgendein Gefühl stehe »hinter« dem jeweiligen Bekundungs-Lachen als dessen Antrieb oder Begründung, wenn man Goethes Warnung von Aphorismus 156 ernst nimmt, »nichts hinter den Phänomenen zu suchen, weil sie selbst die Lehre sind« (vgl. 4,21), weil nun das Lachen selbst das affektive Phänomen ist, das es zu beschreiben und zu deuten gilt. Mit einem Wort: Wer Goethe und Schmitz ernst nimmt, hütet sich genauo vor einer Metaphänomenologie wie vor einer Metaphysik. Das Resonanz-Lachen, zu dem man sich anstecken läßt, braucht sowieso keine individuelle affektive Begründung, sondern nur die Bereitschaft, sich auch anstecken zu lassen, und ist somit affektiv neutral; ihm genügt das Gelächter der Anderen als erregende Macht und suggestive Bahnung. Diese durch Hermann Schmitz vermittelte neue Sicht gilt aber auch für das Interaktions-Lachen, denn im Überblick zu seinem System kündigt Schmitz an, er werde in Band III,2 den Gefühlsraum ausführlich behandeln und dort die Gefühle einteilen in »Stimmungen, Erregungen und intentionale Gefühle« (G,145), und fügt dann hinzu: »Am Leitfaden dieser Einteilung werden dann einzelne, teilweise aus einer Komplikation aller drei Kategorien erwachsene Gefühle charakterisiert. Sogar der Blick – nicht der wahrnehmende eigene, sondern der als erregende Macht gespürte begegnende – und das Lächeln können in diesem neuen räumlichen Sinn als Gefühle verstanden werden, wodurch die unfruchtbaren Streitfragen, die (bedingt durch die Verlagerung der Gefühle in den seelischen Innenraum) aus der Trennung von Gefühl und Gefühlsausdruck entstehen, großenteils verschwinden.« (G,145)

Gemeint ist offensichtlich das durch den Blickkontakt adressierte Interaktions-Lachen, das uns z. B. im höhnischen Auslachen als vernichtungswilliger Angriff entgegenwallt oder uns im freundlichen Anlachen oder Anlächeln als wohlwollendes Gefühl entgegenströmt, also als atmosphärische Anmutung entgegenkommt und, je nach Einstellung, aufgenommen und beantwortet werden will. Das Kapitel über den Blick 7 hat Schmitz geschrieben, das Kapitel über das Interaktions-Lachen allerdings nicht, wahrscheinlich des1598 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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halb nicht, weil er, ähnlich wie Plessner, Hecker, Kant, Joubert und Aristoteles, den Fokus seines Interesses ganz auf das BekundungsLachen konzentrierte. Diese Lücke »lassen wir uns gefallen« und werden versuchen, sie selbst zu füllen, denn auch das InteraktionsLachen erscheint nun nicht mehr als affektiv neutrales Vehikel für den Transport von Gefühlen von dem einen Interaktionspartner zum anderen, sondern als die affektiv gestimmte Zuwendung selbst. Die Fokussierung auf das Bekundungs-Lachen dürfte bei Schmitz aber noch einen weiteren Grund haben. Da dieses unwiderstehlich als »Explodieren der Angstspitze« (Baader) aus uns herausplatzende Lachen von den Griechen genau wie das Niesen als Epiphanie eines übermächtigen Gottes angesehen und verehrt wurde, bildet es gleichsam die argumentatorische Klammer zwischen dem neuen, resp. ganz alten griechisch geprägten Gefühls-Begriff und dem Verständnis dieses Gefühls als einer gleichsam dämonischen Macht, die uns ergreift und überwältigt, und hierfür bietet sich traditionell der Begriff des Göttlichen an. Allerdings ist diese Vorstellung von Göttlichkeit dem traditionellen Christentum reichlich fremd und taucht im Christentum nur noch dort auf, wo im Neuen Testament vom Heiligen Geist und im Alten Testament von der ruach elohim als dem »Geistbraus Gottes« (Buber) die Rede ist, am deutlichsten in den Büchern der Richter und in der Apostelgeschichte von Lukas. Doch überall dort, wo im Christentum diese Art von enthusiastischer Religiosität wiederbelebt wurde, also bei den Quäkern, den Shakern und den Pfingstbewegungen 8 aller Art, kam es sofort zu massiven Repressalien der jeweiligen orthodoxen Amtskirchen, denen diese fundamentalistische Enthusiasterey geradezu unheimlich war. Für die alten Griechen hingegen scheint diese Art von Betroffenheit durch das Göttliche eher eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. Dazu Schmitz: »Man hat demnach anzunehmen, daß den Griechen eine uns heute fremd gewordene, ja bizarr scheinende Sensibilität für das Göttliche so sehr im Blut lag, daß ihnen jeder überwältigende Eindruck zur Fülle des Betroffenseins von Göttlichem wurde und die an dieser schon studierte objektivierende Gebärde der spontanen Vergottung auslöste.

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Hermann Schmitz

Erst recht galt dies für das Lachen, das in Sparta ein seit alters verehrter Gott mit zäh festgehaltenem Kult war und obendrein im thessalischen Hypata nach einem Zeugnis des Apuleius als ›heiligster, gnädigster Gott‹ verehrt wurde.« 9

Als Erklärung für diesen uns Heutigen so fremdartigen Kult des Bekundungs-Lachens führt Schmitz an: »Da die Spartaner sicher von allen Griechen die letzten dabei waren, dem Scherz und Gelächter ergeben zu sein, bleibt nur die Auskunft, das Lachen in diesem Zusammenhang als automatische Reaktion aus Überwältigung zu verstehen, als Kapitulation vor einer Situation, mit der man von sich aus nicht mehr fertig wird, so, wie Plessner es geschildert hat. Das Lachen platzt aus dem Menschen, der seiner nicht leicht Herr wird, heraus und gleicht so dem Niesen, dem es obendrein den Charakter einer personalen Stellungnahme – nämlich einer Preisgabe des Verfügens über sich, der Auslieferung der Person an einen sie überwältigenden Impuls – voraus hat; daher spricht für die Vergottung des Lachens mindestens so viel wie für die Vergottung des Niesens, und mehr noch, mit der Folge, daß es etablierte Kulte des Lachens, aber nicht des Niesens gegeben hat. Weil den Spartanern zwar nicht am Lachen, wohl aber an der personalen Zucht ganz besonders lag, waren sie die Ersten, die aus der verwirrenden, überwältigenden Macht, die im Lachen eine solche Zucht durchkreuzt, dank jener besonderen Sensibilität der Griechen ein Göttliches heraushörten, das nur durch die objektivierend-distanzierende Anbetung als Gott ins Leben eingeordnet werden konnte.« (GuR,139 f.)

Mit diesen Sätzen ist der gelotologische Ansatz von Hermann Schmitz in etwa schon umrissen: • Er konzentriert sich, ganz wie bei Helmuth Plessner, weitgehend auf das Bekundungs-Lachen. • Er setzt bei Plessners Sicht auf das Lachen an und versteht das Bekundungs-Lachen wie dieser als Krise der Personalität durch die dabei erfolgende mehr oder weniger ausgeprägte Preisgabe der Verfügungsmacht über sich selbst. • Der Ort des Lachens in seinem System der Philosophie ist ganz wie bei Plessner die Anthropologie. • Und der Ort der Gelotologie wiederum ist die praktische Philosophie. 1600 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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So gesehen ist Schmitz als Gelotologe gewissermaßen ein Erbe Plessners und geht zunächst auf der von ihm gelegten Spur. Doch Schmitz geht, wie wir bald sehen werden, unter bestimmten Aspekten doch auch weit über Plessner hinaus: • Ein Aspekt dessen besteht darin, daß er durch seinen neuen Gefühlsbegriff die Expressivität des Lachens, insbesondere des Bekundungs-Lachens, weit besser auf den Begriff bringen kann, weil sich die alte Frage nach dem Verhältnis von Gefühl und Gefühlsausdruck nicht mehr stellt, wenn durch die Orientierung an Goethes Warnung das Bekundungs-Lachen als Überformung des affektiven Betroffenseins durch Gefühle aller Art verstanden wird. • Ein anderer Aspekt ist der, daß Schmitz das Lachen ganz allgemein als dynamisches Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe als einen speziellen Fall des weit umfassenderen dynamischen Zusammenspiels von personaler Regression und personaler Emanzipation analysieren kann. • Vor allem aber werden wir sehen, daß Schmitz, anders als Plessner, das Ideal integraler Personalität nicht im Status verabsolutierter Selbstbehauptung sieht, sondern im Spielraum des Betroffenseinkönnens auf der gesamten Skala zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, die nunmehr viel enger aneinander gebunden werden. Mit anderen Worten: Für Hermann Schmitz gilt das von Platon stammende verabsolutierte Besonnenheitsideal, an dem sich Plessner noch orientierte, nicht mehr als die zu erstrebende Norm von Personalität. • Dadurch wird für Schmitz das Lachen zum zentralen Mittel für die Integration und Stabilisierung der Person, weil es den Königsweg zu den Quellen von Personalität weist. Das aber heißt wiederum, daß Schmitz das Lachen noch viel ernster nimmt als es alle vor ihm je genommen haben, weil er dem Lachen eine fundamentale Lebensfunktion zuspricht, wie sie gewichtiger gar nicht sein kann. • Und das wiederum macht deutlich, warum für Schmitz die Gelotologie letztlich in der praktischen Philosophie als Aspekt einer eudämonistischen Könnens-Ethik verortet werden muß. 1601 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

Allerdings hat Helmuth Plessner auch hier schon etwas vorgearbeitet, weil er an zentraler Stelle schreibt: »In der Katastrophe noch, die sein sonst so beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch. Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwangshaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wieder hergestellt.« (VII,274)

Bei Hermann Schmitz heißt es in deutlicher terminologischer Anlehnung an Plessner, aber auch in ebenso deutlicher inhaltlicher Abgrenzung von ihm: »Ich finde das gemeinsam Besondere des Lachens und Weinens auf dem Gebiet personaler Regression nicht in der Reaktionsweise und schon gar nicht in der Bewahrung des erreichten Niveaus personaler Emanzipation vor dem Regressionsschicksal (also in der Bewahrung des platonisch-stoischen Ideals absoluter Besonnenheit), sondern in einer teleologischenTendenz, die durch die Regression hindurch deren Überwindung vorwegnimmt.« 10

Die Lebensfunktion des Lachens besteht somit in dem uroborischen Impuls, der jedem lachmündigen Lachen auf personaler Ebene immanent ist. 2.18.2 Von Goethe zu Schmitz Hermann Schmitz hat seinem Hauptwerk System der Philosophie, das er im unmittelbaren Anschluß an seine Dissertation über Goethes Philosophie konzipierte und das dann zwischen 1964 und 1980 in zehn Bänden erschien, den Aphorismus 156 aus Goethes Maximen und Reflexionen vorangestellt: »Das Höchste wäre zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. (…) Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« 11

Dieser Aphorismus 156 bildet gleichsam die Brücke zwischen seiner monumentalen Goethe-Studie und dem Hauptwerk, das sich somit als eine Art Fortsetzung der Goethe-Studie bzw. als Philoso1602 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Von Goethe zu Schmitz

phie aus dem Geist Goethes lesen läßt und als streng systematische Darstellung der zentralen Themen verstanden werden kann, um die Goethes aphoristisches Philosophieren kreist. Der Glutkern dieser Philosophie Goethes ist für Schmitz das Prinzip »Bedrängnis«, das in Goethes Plotin-Kritik, die immer zugleich auch eine Platon-Kritik war, und in den Aphorismen 1052–1054 seiner Maximen und Reflexionen vorgetragen wird, und dort heißt es: »Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie lebhaft auf Beherzigung des Einen dringen, woher alles entspringt und worauf alles wieder zurückzuführen wäre. Denn freilich ist das belebende und ordnende Prinzip (gemeint ist die Idee) in der Erscheinung dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß. Allein wir verkürzen uns an der anderen Seite wieder, wenn wir das Formende und die höhere Form selbst in eine vor unserm äußern und innern Sinn verschwindende Einheit (reduktionistisch) zurückdrängen.« (GA,54/4,159 f.)

Die Idee in der Erscheinung weiß sich laut Goethe aber sehr wohl zu retten, auch wenn sie noch so bedrängt wird, denn wenn sie sich, salopp formuliert, »zusammenreißt« und dadurch gegen diese Bedrängnis behauptet, ist diese Bedrängnis eben nur eine Bedrängnis, aber keine Vernichtung, und deshalb fährt Goethe fort: »Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende.« (GA,54 f./4,140)

Dann aber muß Goethe doch eingestehen, daß dieses Problem eine Lösung verlangt, die man durch einen Aphorismus zwar umreißen, nicht aber angemessen leisten kann, und fährt deshalb fort: »Dieses weiter auszuführen und vollkommen anschaulich, ja, was mehr ist, durchaus praktisch zu machen, würde von wichtigem Belang sein. Eine umständliche (ausführliche) folgerechte Ausführung aber möchte den Hörern übergroße Aufmerksamkeit zumuten.« (GA,55/4,140)

Goethes eigener Ansatz zur praktischen Lösung des Problems ist deshalb wieder als Aphorismus formuliert und ist eben genau der oben zitierte Aphorismus 156, den Schmitz auch als Motto und Leitgedanken über sein Hauptwerk gesetzt hat: 1603 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

»Das Höchste wäre zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. (…) Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« (4,21)

Diese zur wissenschaftstheoretischen Maxime umformulierte Plotin- und Platon-Kritik ist laut Schmitz »nicht nur eines der wichtigsten Dokumente – vielleicht das wichtigste – von Goethes Alterdenken, sondern besitzt auch in ihrem Gedankengut weit über die Aufgabe des Goetheverständnisses hinweg für die Geschichte der europäischen Philosophie und Weltanschauung überhaupt bis über den heutigen Tag hinaus wesentliche Bedeutung.« (GA,55)

Dies deshalb, weil man in diesem Aphorismus 156 gewissermaßen die Gründungsurkunde der modernen Phänomenologie und in ihrem Verfasser den Urvater aller Phänomenologen sehen darf, der den fundamentalen Bruch mit der platonisch-christlich geprägten »hinterweltlerischen« Zweiwelten-Metaphysik vollzogen hat, denn diese neue Sicht auf die Welt besagt letztlich: »Die Erscheinung (das Phänomen) ist nun der sich selbst genügende Schein, ein Zeichen, das doch keine andere Bedeutung als sich selbst hat und so eigentlich kein Zeichen (für ein anderes ›hinter‹ ihm stehendes Etwas) mehr ist.« (GA,68)

Schmitz formuliert es auch noch mal anders: »Die Plotinkritik Goethes gilt mir als die erste philosophisch grundsätzliche und in ihrer geistesgeschichtlichen Stellung gegen den Platonismus bewußte Äußerung dieser neuen Gesinnung, die die empirische, augenscheinliche Welt in sich selbst als wesentlich wertet.« (GA,68)

Das aber heißt, daß es, wenn man überhaupt noch von »Erscheinung« und »Idee« reden will, »zwischen Idee und Erscheinung keine eigentliche Kluft mehr gibt« (GA,69), weil dann die Erscheinung die Idee selbst ist bzw. die Idee die Erscheinung selbst ist. Allerdings sind, bedingt durch »das Lebensproblem der Bedrängnis« (GA,234), die Phänomene des Lebendigen ständig irgendwelchen bedrängenden Krisen, also bestimmten bedrängenden Widerfahrnissen ausgesetzt, die sich als zentripetaler Impuls manifestieren.

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Der zentripetale Impuls Bedrängnis

2.18.3 Der zentripetale Impuls Bedrängnis Wird dieser zentripetale Impuls aufgenommen und gesteigert, kommt es zu Verdichtungen und Abhebungen von der Umgebung, wie man dies in den klassischen kosmogonischen Mythen von der biblischen Genesis und Ovids Metamorphosen bis herauf zu Richard Wagners Rheingold nachlesen kann. Nie wird dort geschildert, daß etwas aus nichts entsteht, sondern immer ist ein chaotisch formloser, aber in sich antagonistischer Urzustand vorgegeben, aus dem sich dann durch plötzliche Verdichtungen irgend etwas als etwas abhebt. Bei Wagner ist dieser Urzustand ein Es-Dur-Dreiklang, der 40 Takte lang durch das Orchester gereicht wird und schicksalslos vor sich hin wabert. In der Genesis besteht der Urzustand aus Tohu und Bohu, also aus »Irrsal und Wirrsal« (Buber). Aber dann kommt plötzlich der »Geistbraus Gottes« und zwingt das Chaos zu Verdichtungen und Abhebungen aller Art: »Abend ward und Morgen ward: Ein Tag.« 12 Bei Ovid heißt es: »Ehe, denn Meer und Erd’ und der allumhüllende Himmel, War im ganzen Bezirk der Natur ein einziger Anblick, Chaos genannt, ein roh und ordnungsloses Gemengsel. Nichts, denn träges Gewicht und in Eins zusammengehäufter Zwistiger Zeugungsstoff der übel verbundenen Dinge. Damals spendete noch kein Titan Strahlen dem Weltall. Phöbe verneute noch nicht durch Zuwachs wieder die Hörner. Auch in umfließender Luft hing noch nicht schwebend der Erdball Selbst von der eigenen Last im gemessenen Schwung, und die Arme Schlang um den räumigen Rand der Länder nicht Amphitrite. (…) Und wo Erdreich war, da war auch Luft und Gewässer. So unbetretbar war das Land, und die Fluth unbeschwimmbar, Licht entbehrend die Luft, an Nichts blieb eigene Form noch. Eins entgegen dem Anderen, dieweil in dem nemlichen Körper Kaltes mit Heißem, das Naß mit dem Trocknen und Weiches mit Hartem Kämpfeten, und mit Dem, was gewichtlos, Das, was Gewicht hat.« (V. 5–20, S. 40)

Für Hermann Schmitz sind derartige Kosmogonien auch philosophisch ernstzunehmende Texte, weil sie einen »Urakt der Indivi1605 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

duation des chaotisch Mannigfaltigen« (G,434) entwerfen. Seine eigene Beschreibung des chaotischen Urzustandes ist denn auch deutlich an Ovid orientiert, auch wenn dessen Name nicht fällt, denn er schreibt über diesen chaotischen Urzustand der Welt: »Räumlich wäre die Welt damals höchstens durch ihre Weite gewesen, nicht aber durch einen Unterschied zwischen hier und dort; denn Orte, Richtungen, Lagen und Abstände setzen (zentripetale) Individuation und damit (…) Gegenwart voraus. Die Welle, die damals an das Ufer brandete, wäre also, so sehr sie auch brandete, von diesem nicht verschieden gewesen, so wenig wie mit ihm identisch; die Sonne wäre im Vergleich zu jedem Fleckchen Erde, das ihr Glanz erleuchtete, weder mit ihm identisch noch auch von ihm verschieden gewesen. In dem Augenblick aber, als zuerst – vielleicht im tierischen Leib einer Amöbe (oder gar in einer einzelnen Zelle durch einen zentripetalen Impuls) – Gegenwart aufzuckte, in diesem ersten Augenblick überhaupt wäre die ungeheuerste Revolution eingetreten, die bis zum jüngsten Gericht stattfinden kann: Inhaltlich hätte sich am Stand der Dinge zwar fast nichts geändert, aber von hier an wäre es sinnvoll, zu sagen, daß etwas dieses ist und nicht jenes, da und nicht dort, dann und nicht früher oder später, weil nun (eben durch diesen zentripetalen Impuls) ein Zentrum der Individuation vorhanden gewesen wäre, um den ganzen Reichtum des chaotischen Weltstoffs darauf zu beziehen.« (G,428)

Plessner würde sagen: Mit dem ersten Aufzucken von Gegenwart durch einen zentripetalen Impuls ist zugleich auch Positionalität in ihrer primitivsten Form gegeben, aus der sich weitere Formen und Stufen von Positionalität bis hin zur exzentrischen Positionalität des Menschen ergeben können. Und Erwin Straus würde sagen, das Erlebnis des Plötzlichen, das eine Kontinuität erstmalig und einmalig zerreißt, begründe durch diese Erstmaligkeit und Einmaligkeit überhaupt erst die historische Modalität von Früher und Später als solche: »Was einmal geschehen, ist nicht mehr auszulöschen, das Vergangene kehrt nicht wieder, es gibt keine Rückkehr zum Status quo ante.« 13

Man könnte dieses Aufzucken von Gegenwart auch als primordiales Fremdeln bezeichnen, durch das sich etwas zu einem Etwas-als-Etwas vom diffus Vorgegebenen abhebt, denn auch hier wirkt dieser 1606 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die antifaustische Tendenz oder Im Anfang war das Widerfahrnis

zentripetale Impuls und auch dieses Fremdeln kann auf den unterschiedlichsten Stufen von Individuation erfolgen. Damit haben wir endlich den roten Faden, den es zu verfolgen gilt, wenn wir nun die verschiedenen Stationen abschreiten, die uns auf dem kürzesten Weg zu dem Punkt führen, an dem die Thematisierung des Lachens im System der Philosophie von Hermann Schmitz verortet ist, denn dieser zentripetale Impuls zeigt sich zunächst in den fünf Aspekten von Gegenwärtigkeit, dann als Enge des Leibes, dann in der Behauptung als Person durch personale Emanzipation und schließlich im Erlebnis des Plötzlichen, wenn entfaltete Gegenwart zu primitiver Gegenwart zusammenzuckt und im Prozeß von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase das Bekundungs-Lachen als »Explodieren der Angstspitze« (Baader) freisetzt. Und schließlich werden wir auch sehen, daß der zentripetale Impuls des Fremdelns auch konstitutiv ist für die Ontogenese des personalen lachmündigen Lachens. 2.18.4 Die antifaustische Tendenz oder Im Anfang war das Widerfahrnis Wenn man mit Goethe und Schmitz im »Lebensproblem der Bedrängnis« den entscheiden Impuls auch zum Philosophieren sieht, so zieht dies sofort die Konsequenz nach sich, daß die »faustische« Ideologie, derzufolge im Anfang immer die selbstherrliche Tat eines Täters steht, der wir auch selbst sind oder zumindest sein möchten, konterkariert werden muß durch den Satz: Im Anfang war das Widerfahrnis, bzw.: Den Anfang bildet immer ein Widerfahrnis. Auf diesen antifaustischen Ansatz sind wir ja schon bei Wilhelm Kamlah und Helmuth Plessner gestoßen und stoßen auf ihn nun auch wieder bei Hermann Schmitz. Für Kamlah zog dies die Notwendigkeit nach sich, in seiner philosophischen Anthropologie bei dem Widerfahrnis der Bedürftigkeit anzusetzen; Plessner sah sich genötigt, Fichte dahingehend zu korrigieren, daß nicht mehr der Akt des Ponierens am Anfang aller Besinnung zu stehen habe, sondern die Erfahrung der Positionalität, also des Gesetztseins, und für Schmitz bedeutet dies, daß seine Art zu philosophieren vom Sich1607 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

finden in einer Situation auszugehen habe, die als »Beirrung« (G,74) empfunden wird, der man sich durch zentripetale Selbstbesinnung zu stellen und zu erwehren habe. So gesehen ist es auch in sich ganz konsequent, wenn Wilhelm Kamlah, Helmuth Plessner, Erwin Straus und Hermann Schmitz bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen darin übereinstimmen, daß sie alle ihre Philosophie unter das Motto »Los von Descartes!« stellen. Für alle vier besteht der Skandal der cartesischen Philosophie in der These aus dem Discours de la méthode darin, daß, wie Descartes kühn behauptet, »ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Ding abhängt, so daß dieses Ich, d. h. die Seele, durch die ich bin, was ich bin, völlig verschieden ist vom Körper, ja daß sie sogar leichter zu erkennen ist als er, und daß sie, selbst wenn er nicht wäre, doch nicht aufhörte alles das zu sein, was sie ist.« 14

In der sechsten Meditation heißt es ganz ähnlich, denn hier behauptet Descartes, er sei sich dessen sicher, »daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.« 15 Demgegenüber betont Wilhelm Kamlah: »Der Mensch steht keineswegs als vorerst weltloses Bewußtsein der ›Realität‹ gegenüber, sondern ist durch den gegliederten Bau seines Leibes und durch ererbte Instinkte auf eine gegliederte Umwelt eingerichtet, ›immer schon‹ eingerichtet, die er sprechend in seine unendlich reicher gegliederte und ihn doch fernerhin ›umschließende‹ Welt verwandelt.« 16

Ganz ähnlich argumentiert Helmuth Plessner in seinem Aufsatz zur Deutung des mimischen Ausdrucks von 1925, wo er, direkt gegen Descartes und die an Descartes orientierte Einfühlungstheorie gerichtet, darauf verweist, daß wir, wie jedes andere Lebewesen auch, durch unser Verhalten immer schon in unsere Umwelt gleichsam »eingeklinkt« sind: »Der Leib ist nicht darum Leib, weil er von innen her durchfühlbar und impulsiv beherrschbar ist, sondern weil er eine Umwelt hat, auf welche er, die auf ihn einspielt. Die Umweltintentionalität des Leibes (…) ist nicht an den eigenen Körper in der Art gebunden, daß sie nur unter seiner Perspektive Sinn hätte, wie man bisher immer annahm,

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Die antifaustische Tendenz oder Im Anfang war das Widerfahrnis

daß der Leib als Erlebnishülle nur im Hier-Aspekt verständlich und anschaulich sei, sondern als Ausdruck der Sphäre des Verhaltens ist sie die Seins- und Anschauungsform der tierischen und menschlichen Körperleiber. Sie ist nicht derart objektiv, als ob sie einfach von Erfahrungskonstellationen abhinge, noch derart subjektiv, als ob sie nur vom Hierpunkt des erlebenden Ich aus Gewißheit besäße. Wie eine Kategorie, wie eine Anschauungsform läßt sie sich weder dem Objekt noch dem Subjekt zuteilen, sondern garantiert durch ihre subjekt-objektive Indifferenz die Einheit der Erfahrung mit den Gegenständen der Erfahrung, der Anschauung der Körperleiber untereinander mit ihrer Seinsweise.« (VII,121)

Wir sind demnach gar nicht, wie Descartes uns glauben machen möchte, in der Inselhaftigkeit unseres Bewußtseins eingesperrt und durch Abgründe von der Außenwelt getrennt, sondern immer schon auch »dort draußen« im Anderen, was im Phänomen des mimetischen Resonanzverhaltens besonders deutlich wird. Auf diese wechselseitige Verschlungenheit von Phänomen und Betrachter hatte übrigens schon Goethe in seinen erkenntnistheoretisch orientierten Aphorismen hingewiesen, in denen es heißt: »Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt.« (4,20)

Oder: »Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt und noch etwas mehr. Wir sind auf doppelte Weise verloren und geborgen: (Und deshalb gilt:) Dem Objekt sein Mehr zuzugestehen und auf unser subjektives Mehr zu verzichten. Das Subjekt mit seinem Mehr zu erhöhen und jenes Mehr nicht anerkennen.«17

Für Hermann Schmitz ist dieses von Descartes beschworene Ich, »durch das ich bin, was ich bin«, eine Mischung aus Arroganz und Naivität und damit nicht weniger wahnhaft als das von Peer Gynt immer wieder behauptete, aber nie gefundene gyntische Ich, weil diese vermeintliche Ich-Sicherheit unter dem Ansturm von Beirrungen und Bedrängnissen aller Art nur allzu leicht verlorengehen kann, z. B. durch Entfremdungserlebnisse 18, durch das Wissen um die eigene Endlichkeit durch den sicheren Tod, durch die allfällige Möglichkeit des Selbstmords 19, oder durch das mahnende Gewis1609 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

sen 20. Man könnte auch noch die von Plessner immer wieder betonte unabdingbare Rollenhaftigkeit 21 unseres Lebens in der sozialen Umwelt hinzufügen, durch die wir immer jemand als jemand sind. Vor allem aber ist es die Überwältigung durch momentane unverfügbare Widerfahrnisse, ja sogar der von Kamlah betonte Widerfahrnischarakter 22 auch unseres eigenen Verhaltens, der die von Descartes behauptete Ich-Sicherheit als wahnhaft erscheinen läßt. Aus diesem Grund ist es für Schmitz ehrlicher und bescheidener und gerade dadurch auch unendlich fruchtbarer, seinen eigenen philosophischen Anspruch in den Satz zu kleiden: »Philosophie ist: Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.« (G,15) In späteren Werken ergänzte Schmitz diesen Satz dahingehend, daß er nun nicht mehr nur von »Umgebung« spricht, sondern auch von detaillierten Situationen, und deshalb könnte man seinen Ansatz auch wiedergeben mit der Formulierung: Philosophie ist das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in bestimmten Situationen, und zwar des Menschen, wie er leibt und lebt, weil nun an die Stelle des von Descartes favorisierten weltlosen und damit auch leiblosen Bewußtseins der leibhaftige Mensch in konkreten Situationen getreten ist. Wenn Schmitz aber sofort hinzufügt: »Wer sich findet, findet notwendig mehr als sich« (G,14), so ist dies wieder ein deutliches Echo aus Goethes philosophischem Aphorismus 148, in dem es heißt: »Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt und noch etwas mehr.« (4,20)

Wenn ich nun daran gehe, die für unsere Fragestellung wichtigsten Aspekte der Philosophie von Hermann Schmitz kurz darzustellen, kann das Ziel dieser Darstellung nicht darin bestehen, eine Einführung in Schmitz 23 zu leisten, denn dies würde den Rahmen dieser Studie völlig sprengen, sondern es kann nur darum gehen, so knapp wie möglich die Stationen auf dem Weg zu dem Punkt aufzuzeigen, wo im System der Philosophie von Hermann Schmitz das Lachen verortet ist und zum Thema erhoben wird. Wir müssen uns also gleichsam bewußt Scheuklappen aufsetzen, um nicht von diesem direkten Weg abzuirren, auch wenn die Gefilde rechts und links von diesem Weg noch so faszinierend erscheinen mögen und 1610 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gegenwärtigkeit oder Der zentripetale Impuls als Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich

zum Verweilen verlocken. Bedeutend erleichtert wird die Orientierung auf diesem Weg dadurch, daß Schmitz zehn Jahre nach Abschluß des Systems der Philosophie mit dem Werk Der unerschöpfliche Gegenstand 24 eine Kurzfassung vorgelegt hat, in der die gigantische Masse an Stoff noch mal neu und viel übersichtlicher gegliedert wird. Dort ist unser Thema im Bereich »Anthropologie« verortet und dort wiederum in dem Kapitel »Personalität«, zu dem die Kapitel »Leiblichkeit« und »Leibliche Kommunikation« hinführen, und das sollen auch die Stationen auf dem Weg sein, den unsere Argumentation nehmen wird. Da Schmitz aber im Aufriß des »Systems« schreibt, auch Personalität sei eine spezifische Entfaltung von Gegenwärtigkeit, müssen wir zunächst darauf eingehen, um die terminologische Unterscheidung von »primitiver« und »entfalteter Gegenwart« argumentatorisch parat zu haben. 2.18.5 Gegenwärtigkeit oder Der zentripetale Impuls als Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich Wenn wir umgangssprachlich von »Gegenwart« reden, so bezeichnen wir damit »das, was jetzt ist« oder kürzer: ein »jetzt«. Da das Wort »jetzt« aber ein Indikator 25 ist, dessen Bedeutung strikt situationsabhängig ist, kann das Wort »jetzt« sowohl einen ausdehnungslosen Zeitpunkt als auch eine ganze Epoche bezeichnen, je nachdem in welchen Redekontext und in welcher Situation das Wort verwendet wird. Auf jeden Fall bezeichnen wir damit eine Form von Zeitlichkeit, genauer: eine Form subjektiver Zeitlichkeit. Das ist bei Schmitz ganz anders, weil er genau zwischen rein »zeitlicher Gegenwart« (G,149 ff.) und »vollständiger Gegenwart« (G,169 ff.) unterscheidet und diese vollständige Gegenwart nicht nur durch den einzigen Zeitindikator »jetzt« bestimmt, sondern gleich durch die fünf Prädikate »Hier, Jetzt, Dasein, Dieses, Ich« (G,207 ff.). Aus diesem Grund verwende ich im folgenden für diesen erweiterten Gegenwarts-Begriff lieber den Begriff »Gegenwärtigkeit«, um Verwechslungen mit dem überkommenen Gegenwarts-Begriff der Umgangsprache zu vermeiden. Auch das Personalpronomen »ich«, das Ortsadverbium »hier« 1611 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und das Demonstrativpronomen »dies« sind eindeutig Indikatoren, und auch für sie gilt, daß man die Situation teilen muß, in der sie verwendet werden, um genau zu wissen, was mit ihnen jeweils gemeint ist. Der vierte Aspekt von Gegenwärtigkeit, das »Dieses« als principium individuationis (G,223 ff.), als »Diesesheit« oder als »unverwechselbare Selbigkeit« (G,223) ist unmittelbar verständlich durch den Rekurs auf die klassische Formel determinatio est negatio, weil etwas dieses bestimmte Etwas nur dadurch sein kann, daß es alles andere nicht ist oder nicht mehr ist. Es schält sich gleichsam ab von seinem Hintergrund, ganz so, wie eine Gestalt aus dem Nebel auftaucht, oder es verabschiedet sich davon, muß aber letztlich immer durch eine deiktische Geste als Dieses-und-kein-anderes gekennzeichnet werden. Und so gesehen wäre auch das »Dieses« ein Indikator. Schwieriger steht es mit dem Prädikat »Dasein«, der in der philosophischen Tradition oft mit »Sein« oder »Existenz« synonym gebraucht wird. Die Frage nach dem Dasein von etwas ist für Schmitz hier die Frage nach der individuellen Daseins-Gewißheit (vgl. G,216), die Frage also, ob etwas es selbst als dieses oder er selbst als dieser ist. Descartes glaubte die Frage nach der Daseinsgewißheit im Sinn von Selbstheit oder Selberheit mit dem berühmten Satz »Je pense, donc je suis« lösen zu können, weil für ihn, ganz »faustisch«, galt: Im Anfang ist die Tat. Für Max Mikorey gilt aber der weit plausiblere Satz: »Doleo ergo sum« (G,222), weil auch für ihn der Satz gilt, daß im Anfang immer ein Widerfahrnis steht. Und weil uns die Empfindung von Schmerz überhaupt erst die Gewißheit verschafft, daß wir selbst es sind, dem etwas weh tut, ist Daseinsgewißheit eigentlich auch nur über bedrängende Widerfahrnisse zu gewinnen und damit über einen zentripetalen Impuls, der uns gleichsam in uns selbst hineindrängt und uns zwingt, ganz da zu sein oder präsent zu sein. So gesehen könnte man anstatt »Dasein« vielleicht auch »Präsenz« sagen, vielleicht aber auch »Positionalität« im Sinne von Plessner, weil für Plessner lebendige Wesen und damit eben auch menschliche Subjekte nicht einfach bloß vorhanden sind, sondern sich als in sich gesetzt erfahren (vgl. X,325) und dadurch ihren Ort und ihr Dasein eigens behaupten müssen. Ein In1612 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Gegenwärtigkeit oder Der zentripetale Impuls als Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich

dikator ist »Dasein« selbst zwar nicht, ist aber an die vier anderen Indikatoren gleichsam angeschweißt. In späteren Werken, in denen Schmitz auf die fünf Dimensionen von Gegenwärtigkeit zu sprechen kommt, wird der Begriff »Dasein« meist durch »Sein« oder »Subjektivität« ersetzt, sodaß die Antwort auf das der allgemeinen Orientierung dienende Fragebündel »wo/wann/wer/wie/was?« nunmehr etwas ausführlicher lautet: »In der räumlichen Dimension ist es die Gegenüberstellung des eigenen Hier des Menschen und der Weite des Raumes; in der zeitlichen die Gegenüberstellung des eigenen Jetzt und der gleitenden Dauer, aus der dieses sich abhebt; in der Dimension der Subjektivität die Gegenüberstellung dessen, als was der Mensch sich selbst findet, und des Anderen, Fremden; in der Dimension der Realität handelt es sich um die Gegenüberstellung des Seins und Nichtseins, wodurch es möglich wird, etwas zu vermeiden, zu erstreben, als unwirklich und phantastisch auszuschließen oder in passender (z. B. ästhetischer) Einstellung gelten zu lassen oder zu genießen; die fünfte Dimension besteht in der Unterscheidung dessen, was etwas selbst ist, von dem, was nicht es selbst, sondern ein Anderes ist, also in der Anwendbarkeit von Identität und Verschiedenheit. Die ersten drei Dimensionen (als eindeutige Indikatoren) gleichen einander durch Auszeichnung des jeweils ersten Pols (Hier, Jetzt, Ich) wie eine Insel oder Spitze im Meer, eine Figur vor einem Hintergrund; eine Auszeichnung anderer Art, nämlich die des als unabhängig eingeführten Affirmativen vor dem durch bloß negative Bestimmung von ihm abhängigen Nichtsein, kommt dem ersten Pol der vierten Dimension zugute; dagegen fehlt in der fünften Dimension, wenigstens dem ersten Anschein nach, eine vergleichbare Auszeichnung. Dafür hat diese fünfte Dimension die übergreifende Bedeutung, durch Identität und Verschiedenheit die Feingliederung zu ermöglichen, und zwar in den ersten drei Dimensionen hauptsächlich durch Anwendung auf den zweiten, nicht ausgezeichneten Pol (die Weite, die Dauer, das Fremde), in der vierten Dimension bezüglich beider Pole, da sowohl im Wirklichen als auch im Unwirklichen die Einführung von Identität und Verschiedenheit für menschliche Orientierung unentbehrlich ist.« 26

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All diese fünf Aspekte von Gegenwärtigkeit können nun je nach Situation einen mehr oder weniger umfangreichen Hof von Bedeutungen haben. Den größten haben sie in »entfalteter Gegenwart« (G,204), in der sie dann auch wieder einzeln indiziert werden können. In bestimmten Situationen jedoch, und das heißt: unter dem Ansturm von bestimmten Bedrängnissen können sie auch wieder implodieren, sodaß entfaltete Gegenwart durch Plötzlichkeiten aller Art 27 wieder zu »primitiver Gegenwart« (G,204) zusammenzuckt, weil der sie bedrängende zentripetale Impuls sie wieder auf einen Punkt zusammenschmilzt, und dann gilt: »Etwas, in dem Hier, Jetzt, Ich und Wirklichkeit verschmelzen, ist im höchsten Maß als dieses, als es selbst, als identisch ausgezeichnet. Das (nicht bloß rein zeitlich verstandene, sondern) erweiterte Plötzliche besteht also in einer Verschmelzung der ersten Pole der fünf Hauptdimensionen menschlicher Orientierung – Hier, Jetzt, Ich, Wirklichkeit (auch als Sein, Dasein, Existenz zu bezeichnen), Dieses (als identisch abgehoben, eindeutig) – in leiblich spürbarer Enge. Ich bezeichne es als primitive Gegenwart und fasse die Zugänge zu dieser unter dem Titel elementar-leibliches Betroffensein zusammen.« (NG,98)

Diese Implosion entfalteter Gegenwart zu primitiver Gegenwart illustriert Schmitz durch eindrucksvolle Analysen der bedrängenden Widerfahrnisse Angst (G,169 ff.) und Schmerz (G,183 ff.) und bestimmt dabei Angst als »gehemmten Fluchtdrang« (G,175 ff.), also als den übermächtigen Impuls »Nichts wie weg!!«, aber untrennbar verbunden mit der Gewißheit, nicht entkommen zu können. Schmerz wird von Schmitz bestimmt als »gehemmter Drang« (G,1814), als Drang, aus der Haut fahren zu wollen, also als überwältigender Impuls, sich selbst entfliehen zu wollen. Und für beide Katastrophenreaktionen gilt, daß sie sich als massive personale Regression manifestieren, ja geradezu als Sturz in ein Verhaltenschaos: »Indem der Geängstigte von der (primitiven) Gegenwart wegdrängt, strebt er danach, sich von dem eigenen Ich, das in diese eingeschmolzen ist, loszureißen. Dieser Versuch, vor sich selbst zu fliehen, ist freilich genau so absurd, wie der logische Widerspruch zweier Urteile, und diese gelebte Absurdität der Angst entlädt sich in der Katastrophenreaktion. Das Selbe gilt vom Schmerz, sobald er eine solche Stärke er-

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Gegenwärtigkeit oder Der zentripetale Impuls als Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich

reicht, daß es unmöglich wird, ihn (von sich selbst) abzuspalten und sich selbst, in seinem eigentlichen Selbst, aus ihm herauszuhalten. Das Selbst verliert durch diese Einschmelzung in (primitive) Gegenwart, die bei genügend mächtigen Ängsten und Schmerzen stattfindet, seine personale Emanzipation aus dem Hier und Jetzt, sein Vermögen zur Überschau, seine bewegliche Reaktionsfähigkeit: seine Selbständigkeit. Daher nimmt der Betroffene in solchen Fällen infantile Züge an; auch beim Kind ist ja das Selbst noch wenig aus der (je aktuellen) Gegenwart emanzipiert und die selbständige Reaktionsfähigkeit entsprechend gering.« (G,197)

Wie jeder weiß, kann man vor Schmerzen ohnmächtig werden und ist dem Schmerz dann tatsächlich entkommen, weil man »weg ist«. Weniger bekannt ist der Umstand, daß man sich auch bei übermächtiger Angst in eine gnädige Ohnmacht retten kann, denn dann gilt nicht mehr die Formel »timor est fuga«, sondern die Formel »timor est somnus« 28, und auch dann ist man buchstäblich »weg«. Bei einer Allergieattacke gibt es diese gnädig erlösende Flucht ins Nirgendwo jedoch nicht, und deshalb ist der dabei auftretende Juckreiz noch viel quälender als der heftigste Schmerz, weil man hier noch viel verzweifelter aus der Haut fahren möchte, wenn man am ganzen Körper mit spiegeleigroßen Quaddeln übersät ist. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich selbst schon einmal eine solche katastrophale Allergieattacke auf einer Bergwanderung durchstehen mußte. Wir waren vom Inntal aus auf dem Weg zur Hohenzollerhütte aufgestiegen und entsprechend angeschwitzt, weil es sehr heiß war, und da stach mich eine Wespe in den Hals genau auf die Schlagader. Durch den hohen Puls war das Gift blitzartig im ganzen Körper verteilt und konnte sofort in voller Stärke wirken. In einer solchen Situation hat man das Gefühl, bis zum Hals in einem brodelnden Kessel zu stecken, in den man immer noch tiefer hineinstürzt, und will nur noch weg. Man wirft alles von sich, wälzt sich nackt auf dem Boden, kratzt sich wie wild und möchte buchstäblich aus der Haut fahren, wird sich aber doch nicht los, und man schreit und schreit und schreit. Und wenn man schreit, so schreit man ganz unartikuliert wie ein Säugling oder ein Tier jenseits aller Sprachlichkeit. 1615 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

Ist die Attacke endlich überstanden, hockt man völlig erschöpft da und schaut beschämt auf den zurück, der man während der Attacke gewesen ist, denn dieser Jemand oder dieses Etwas kommt einem völlig fremd vor. Und wenn man dann erzählt bekommt, wie man sich bei dieser Katastrophe verhalten hat, kann man nur ungläubig fragen: Das soll ich gewesen sein? Natürlich sind nicht alle Formen von Ich-Verlust derart dramatisch wie katastrophale Angst-, Schmerz- oder Allergieattacken; es gibt auch viel mildere Grade von Entpersönlichung als personale Regression wie z. B. Absencen aller Art, die sich u. a. auch bei der Theaterarbeit als Schwimmen, Hängen oder Aussetzen29 manifestieren, wenn der Schauspieler aus der Rolle fällt und nicht sofort wieder in seine Rolle oder gar in seine Ichselberheit zurückfindet. Daß es Grade personaler Regression gibt, liegt darin begründet, daß die verfügbare Ichselberheit in der Ontogenese der Person ab der Fremdelphase stufenweise aufgebaut wird, auf bestimmten Niveaus personaler Emanzipation u. a. auch in sozialen Rollen stabilisiert wird, und auch wieder stufenweise mehr oder weniger weit regredieren kann. Eine dieser Möglichkeiten neben vielen anderen ist das Lachen, das sich als Zusammenspiel von personaler Emanzipation und personaler Regression aber auch selbst wiederum auf recht unterschiedlichen Niveaus vollziehen kann und in den extremen Ausprägungen als maximale Selbstbehauptung bei minimaler Selbstpreisgabe resp. als maximale Selbstpreisgabe bei minimaler Selbstbehauptung erscheint. Ablesbar ist dies u. a. an den Intensitätsgraden des jeweiligen Gelächters, die vom Lächeln über das verhaltene Kichern und dem klassischen Cachinnus-Lachen bis zum metakritischen PhobosLachen und zum quälenden Lachkrampf reichen. Ablesbar ist dies aber auch am Grad tendenzieller Verfügbarkeit des jeweiligen Lachens, die von voller Verfügbarkeit und Verweigerbarkeit über Unwillkürlichkeit bis zur totalen Unverfügbarkeit reicht. Auf eine besonders regressive Form von Lachen sind wir schon bei Plessner gestoßen, wo wir das Verzweiflungs-Lachen als gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation in der Situation 30 bestimmen konnten. Und von hieraus gesehen wird noch mal deutlich, daß Plessner das tendenziell unverfügbare Bekundungs-La1616 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes

chen mit vollem Recht als mehr oder weniger tiefe Krise der Personalität verstanden und dargestellt hat. Diese Spur werden wir nun auch weiter verfolgen und überprüfen, in welcher Form uns auch die Philosophie von Hermann Schmitz dabei weiterhelfen wird. 2.18.6 Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes 2.18.6.1 Körper und Leib Als unsere Tochter etwa eineinhalb Jahre alt war, konnte ich sie einmal dabei beobachten, wie sie auf dem Boden saß und ganz aufmerksam zuerst an ihren Schienbeinen, dann an ihren Knien, ihren Hüften und Armen und schließlich auch an ihrem Kopf entlang tastete und dann das Ergebnis dieser Untersuchung staunend in den Satz zusammenfaßte: »Anna ist ganz voll Knochen.« Sie hatte ihren Körper entdeckt; sie hatte entdeckt, daß er kompakt und durch eine Oberfläche rundum begrenzt ist und daß man deshalb an ihm auch innen und außen bestimmen kann. Ob sie diesen Körper auch als den ihren erkannt hatte, weiß ich nicht genau, denn sie sagte ja nicht: »Mein Körper ist ganz voll Knochen« oder: »Ich bin ganz voll Knochen«, weil sie noch nicht in der Ich-Form reden konnte. Ich nehme aber doch an, daß sie ihren eigenen Körper meinte, weil sie ja nicht sagte: »Das da ist ganz voll Knochen.« Was sie also entdeckt hatte, war zunächst nur ein kompaktes, rundum geschlossenes Etwas von hinreichender Festigkeit, also ein räumlich bestimmbares Körperding mit bestimmten Eigenschaften. Wäre sie schon etwas älter und sprachmächtiger gewesen, hätte sie auch noch davon berichten können, daß sie, wenn sie ihr Knie berührt, nicht nur die Stelle am Knie spürt, sondern zugleich auch ihre Fingerspitzen, und sie hätte auch davon berichten können, daß beide Berührungsstellen sofort wieder verschwinden, wenn dieser Kontakt beendet ist, ganz so, als hätte es diese beiden Berührungsstellen nie gegeben. Und wenn sie dieses Spiel an verschiedenen Stellen ihres Körpers wiederholt hätte, hätte sie außerdem gemerkt, 1617 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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daß sich zwar immer wieder diese Zugleichheit zweier BerührungsWiderfahrnisse ergibt, aber keine Verbindung zwischen den einzelnen Berührungsstellen, obwohl diese Punkte doch alle zum selben Körper gehören und durch ihn miteinander verbunden sind, weil dieser ja offensichtlich ein zusammengehöriges Ganzes bildet. Erscheint also, bildlich gesprochen, der Körper, wenn man ihn als ganzen betrachtet, als festumgrenzter Kontinent, so erscheint die Gesamtheit der einzelnen Berührungsstellen als Archipel aus einzelnen flachen Inseln, die bei Ebbe auftauchen, bei Flut aber wieder verschwinden, sodaß man auch nicht genau angeben kann, wo genau die Grenzen dieses Archipels verlaufen, weil dieser gar keine festen Grenzen hat, sondern nur diffus verschwimmende Ränder. Wenn man beide Gebilde in Analogie zu Revieren und Regionen sieht, so wird man bald merken, daß dieser Vergleich hinkt, denn Reviere haben zwar ebenfalls genaue Grenzen wie z. B. der Freistaat Bayern, und Regionen wie z. B. die Holledau haben ebenfalls diffuse Ränder, aber beide Formen extensionaler Räumlichkeit sind eben räumliche Gebilde von perennierender Existenz, wohingegen der hier in Rede stehende Archipel aus Berührungspunkten ein ad hoc-Gebilde von latenter Existenz ist. Es scheint also im Umkreis des eigenen Körpers noch ein zweites Etwas von latenter, aber unbestreitbarer Vorhandenheit zu geben, das jedoch nicht dinghaft vorgegeben, fest umgrenzt und durch ein Innen und Außen bestimmt ist, sondern nur bei je aktuellen Widerfahrnissen als etwas unbestreitbar Gespürtes auftaucht. Und Inseln dieser Art tauchen nicht nur dann auf, wenn man berührt wird, sondern auch bei Schmerz, bei Juckreiz, bei Hunger und Durst oder bei Müdigkeit, wenn uns alle Glieder schwer werden, sodaß man sagen kann, dieses seltsame ad hoc-Gebilde als Schatten des eigenen Körpers sei generell das Echo oder Korrelat von Widerfahrnissen aller Art. Und da die deutsche Sprache, und nur diese, hierfür die Bezeichnung »Leib« anbietet, könnte man die generelle These aufstellen: Leib und Leiblichkeit konstituieren sich aus Widerfahrnissen aller Art, insbesondere aus gespürten leiblichen Regungen. Oder umgekehrt: Das Insgesamt der leiblichen Regungen ist der Leib bzw. die Leiblichkeit. Um der Versuchung zu entgehen und dem Mißverständnis vorzubeugen, der Leib werde 1618 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes

hier zu einem substanzhaften Ding in der Art des Körpers reifiziert, spreche ich im folgenden lieber von Leiblichkeit, um deutlich zu machen, daß es sich hier nicht um eine Substanz, sondern um eine Struktur handelt, die eher einem physikalischen Feld vergleichbar ist. Das Bild des latenten Archipels, das aber nur ein Bild ist, verwendet auch Hermann Schmitz selbst, um den Leib vom Körper zu unterscheiden, wenn er schreibt, der Leib sei im Gegensatz zum Körper, der »stetig ausgedehnt« sei, »unstetig ausgedehnt« und deshalb »ein Gewoge verschwommener Inseln« 31, die er denn auch explizit »Leibesinseln« nennt. Christoph Demmerling schlägt noch einen anderen Weg zur Unterscheidung von Körper und Leib vor, indem er unter Orientierung an Kurt Goldstein 32 nach der Einstellung fragt, mit der wir Körper und Leib zum Thema machen können, wobei der eigene Körper unter kategorialer, die eigene Leiblichkeit jedoch unter konkreter Einstellung zum Thema wird, sodaß der Körper als Position in einem Anschauungsraum erscheint, der Leib aber als Zentrum eines Handlungsraumes 33 fungiert: »So lässt sich die Unterscheidung zwischen Leib und Körper mit der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten und der Perspektive der dritten Person verknüpfen. Betrachte ich etwas (und auch meinen eigenen Körper) als Körper, dann betrachte ich es als einen Gegenstand in einer objektivierenden Perspektive, als etwas, was sich messen und wiegen lässt, einen bestimmten Platz in der physischen Welt einnimmt und in kausale Relationen eingebettet ist. Der Leib hingegen lässt sich als Raum und Horizont sowie als Medium lebendiger Existenzvollzüge ansehen.« 34

Und diese Existenzvollzüge haben für uns immer ein hohes Maß an unmittelbarer Bedeutsamkeit, weil es immer unsere eigenen sind. Mit Erwin Straus gesprochen würde dies heißen: Körperlichkeit thematisiert sich immer als Geschehnis, Leiblichkeit aber als Erlebnis, denn Erlebnisse sind immer meine Erlebnisse, bei Geschehnissen bin ich bloß dabei. Wenn man nun nachprüft, wie in der philosophischen Tradition und der Bildungssprache der Unterschied zwischen Körper und Leib gesehen wird, zeigt sich erst, wie entschieden Hermann 1619 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Schmitz mit dieser Tradition bricht, weil der platonisch-christliche Begriff der Seele dadurch endgültig obsolet wird. In der biblischen Schöpfungsgeschichte, die unser Menschenbild bis heute entscheidend geprägt hat, besteht das primordiale Widerfahrnis in der Beseelung des eben geschaffenen Körpers durch den Anhauch eines Schöpfergottes, der den toten Körper zu einem lebendigen macht, und deshalb wird die Unterscheidung zwischen Körper und Leib z. B. im alten »Eberhard« von 1802, dem klassischen SynonymenWörterbuch der Goethezeit, folgendermaßen vorgenommen: »Körper heist der Leib der Menschen und der Thiere bloss, sofern er aus Materie besteht, Leib, sofern er beseelt ist. Der menschliche Leib bedarf zu seiner Nahrung vieler Pflanzen, die durch das Feuer des Sonnenkörpers Wachsthum erhalten. Leib ist daher der Seele, Körper dem Geiste entgegengesetzt. Denn die Seele ist das durch den Körper Empfindende und den Leib Bewegende, Geist ist die Substanz, die kein Körper ist. Sobald also der menschliche Körper aufhört, ein schickliches Werkzeug der Empfindung und der Bewegung zu sein, sobald ist er kein Leib mehr, aber er bleibt immer noch ein Körper, und ein menschlicher Körper, weil er die Gestalt desselben hat. Der Zergliederer hat auf dem seinem anatomischen Theater menschliche Körper, aber keine Leiber.« 35

Sehr viel mehr erfahren wir auch nicht aus den klassischen philosophischen Nachschlagewerken und auch aus den neuesten36 nicht, denn auch hier lautet die generelle Formel: Leib ist Körper plus Seele, oder, wie Georg Ernst Stahl und seine Gefolgsleute sagen würden: Leib ist Körper plus Lebenskraft. Wer Definitionen dieser Art akzeptiert, muß also zugleich auch die Metaphysik akzeptieren, die diesen Definitionen immanent ist. Wer sich aber weigert, dies zu tun, wird nicht umhin können, nach Kriterien zu suchen, die aus sich selbst verständlich sind und durch gezielte Empirie aufgefunden werden können. Helmuth Plessner z. B. setzt bei dem Widerfahrnis der Positionalität an, um den Unterschied zwischen toten und lebendigen Körpern auf den Begriff zu bringen: »Jedes physische Körperding ist im Raum, ist räumlich. (…) Aber erscheinungsmäßig unterscheiden sich die lebendigen von den unbelebten als räumlich behauptende von den nur raumerfüllenden Körpern.

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Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes

Jedes raumerfüllende Gebilde ist an seiner Stelle. Ein raumbehauptendes dagegen ist dadurch, daß es über ihn hinaus (in ihn hinein) ist, zu der Stelle ›seines‹ Seins in Beziehung. Es ist außer seiner (vorgegebenen) Räumlichkeit (außerdem auch noch) in den Raum hinein oder raumhaft und hat (und behauptet) insofern seinen natürlichen Ort.« (IV,186 f.)

Dieser »natürliche Ort« ist dann das Zentrum subjektiver positionaler, relationaler und extensionaler Räumlichkeit, und damit kommt für und bei Plessner der Leib als der andere Aspekt eines lebendigen Körpers ins Spiel, weil wir laut Plessner den Körper haben, Leib aber sind: »Deshalb sind beide Weltansichten notwendig: der Mensch als Leib in der Mitte seiner Sphäre, die entsprechend seiner empirischen Gestalt ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt, eine Ansicht, die als Basis der organologischen Weltanschauung dient, und der Mensch als Körperding an einer beliebigen Stelle eines richtungsrelativen Kontinuums möglicher Vorgänge, eine Ansicht, die zur mathematisch-physikalischen Auffassung führt. Leib und Körper fallen, obwohl sie keine material von einander trennbaren Systeme ausmachen, sondern Ein und Dasselbe (sind), nicht zusammen. Der Doppelaspekt ist radikal. (…) Beide Aspekte bestehen neben einander, vermittelt lediglich im Punkt der Exzentrizität, im objektivierbaren Ich.« (IV,367 f.)

Das liest sich zunächst erst mal ganz plausibel. Doch wenn wir von hier aus noch mal auf die Belebungsszene bei Ovid 37 zurückblicken, zwingt sich uns die Einsicht auf, daß Leib und Körper doch nicht »Ein und Dasselbe« und auch nicht bloß zwei Aspekte derselben Sache sein können, sondern sehr wohl »von einander trennbare Systeme« sind, weil Pygmalion und die durch Venus belebte Statue sofort einen tiefen erregenden Blick tauschen, und erst dieser Blickkontakt Pygmalion die Gewißheit gibt, daß die von Venus belebte Staue tatsächlich »leibt und lebt«: »Und gegebene Küsse Fühlt die Erröthende, hebt das Augenlicht (lumen) zu dem Lichte (lumina) Schüchtern empor und schaut mit dem Himmel zugleich den Geliebten.« (X,292 ff., S. 350)

Die durch Venus belebte Statue ist also nicht nur ein lebendiger 1621 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Körper geworden, sondern hat außerdem auch noch Leiblichkeit gewonnen, sie lebt nicht nur, sie leibt und lebt sogar und verfügt deshalb auch durch den Blickkontakt über die elementarste Form leiblicher Kommunikation, denn die beiden Liebenden betrachten ja nicht gegenseitig die Augen des anderen – das tut nur der Augenarzt –, sondern tauschen einen tiefen Blick, mit dem sie ineinander eintauchen: ad lumina lumen attolens. Oder anders formuliert: Ein Körper hat bloß Augen, ein Leib aber verfügt auch über Blicke. Die blicklosen Augen des toten Argus sind somit nur noch Körperdinge, die sich betrachten lassen wie beliebige andere Dinge auch, denn für sie gilt: in tot lumina lumen extinctum est. So gesehen läßt sich Ovids Belebungsszene geradezu als die Genese von Leiblichkeit lesen, in der der erste Blickkontakt den primordialen zentripetalen Impuls bildet. Aus Ovids Szene läßt sich aber noch ein weiterer Aspekt von Leiblichkeit ablesen, auf den wir schon einmal gestoßen sind: Wenn Pygmalion seine Statue streichelt und küßt, spürt er zugleich auch seine eigenen Hände und Lippen, die er vorher nicht gespürt hatte und nachher auch nicht wieder in der gleichen Weise spüren wird, weshalb man dieses eigenleibliche Spüren bei der Berührung eines fremden Körpers gleichsam als das simultane Echo dieses Körperkontaktes bezeichnen könnte. Im Blickkontakt hingegen spürt man den Blick des Anderen nicht an oder mit oder in den eigenen Augen, sondern fühlt sich als ganze Person berührt und ergriffen, ja man kann sogar in dieser Weise spüren, daß der Blick eines Anderen auf einem ruht, ohne daß man mit ihm einen Blickkontakt eingegangen ist, was meist als unangenehme zentripetale Bedrängnis empfunden wird. All dies aber war nie ein Thema für Plessner, weil er, wie ich schon mehrfach moniert habe, keinen Blick für den Blick hatte und damit auch keinen Blick für das Wesen leiblicher Kommunikation. Spätestens hier wird deutlich, daß man mit Plessners Unterscheidung von Leibsein und Körperhaben nicht mehr weiterkommt und andere Wege suchen muß, um diesen Unterschied und damit das Wesen von Leiblichkeit zu bestimmen. Aber wie könnte dies geschehen? Hermann Schmitz formuliert es im Gespräch mit Heinz Becker und Christoph Demmerling so: 1622 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes

»Ich unterscheide sehr scharf Leib und Körper als zwei verschiedenartige Gegenstände, die aber weitgehend im Lokal sich überschneiden, und zwar deswegen, weil die Räumlichkeit völlig verschieden ist, beim sichtbaren und tastbaren Körper einerseits, beim Leib andererseits. Der Leib (als das Insgesamt der räumlich geprägten leiblichen Regungen) ist in einem flächenlosen Raum (also ohne Oberfläche und Außenhaut wie ein physikalisches Feld) ausgedehnt. Der Körper dagegen in einem flächenhaltigen Raum (mit geschlossener Außenhaut als Begrenzung). Am eigenen Leibe (im Sinne räumlich gespürter Leiblichkeit) kann man keine Flächen spüren. Das gilt sowohl für die leiblichen Regungen wie Angst, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit als auch für das leibliche Ergriffensein von Gefühlen, wie Trauern und Zürnen, und das gilt auch für die leiblich spürbare Motorik im Gegensatz zur sicht- und tastbaren Motorik wie Schlucken, Zittern, Kauen, Greifen, Tanzen und es gilt schließlich für die spürbaren leiblichen Richtungen etwa des Blickes.« 38 »Dieser Leib (im Sinne von Leiblichkeit) ist nicht etwa ein Zusatz von Lebendigkeit zu dem sowieso schon sicht- und tastbaren Körper, sondern etwas Neues und anderes. (…) Ebenso, wie ein Blick, geht der Leib (als räumlich strukturiertes Leiblichkeits-Feld) über die Grenzen des eigenen Körpers dann hinaus.« 39

Wie dies geschieht, haben wir bei Ovid gesehen, wenn Pygmalion und seine zur Leibhaftigkeit erweckte Statue im Blickkontakt und auch sonst miteinander verschmelzen. 2.18.6.2 Die Dynamik der Leiblichkeit Nun weiß jeder, daß sein Körpergeschehen durch eine ganze Fülle von physiologischen Rhythmen geprägt ist, die sich als Pulsschlag, als Atmung, als Wechsel von Ruhe und Bewegung, von Schlaf und Wachheit manifestieren. Eine vergleichbare, aber durchaus eigene Dynamik weist aber auch die von Schmitz entdeckte Leiblichkeit auf, weshalb es naheliegt, auch nach diesem Unterschied zwischen Leiblichkeit und Körperlichkeit zu fragen, und dazu heißt es bei Schmitz: »Jeder Mensch hat zwei Wege zu der Überzeugung, dass er hier und jetzt ist. Der eine Weg besteht im Betasten und Besehen des eigenen

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Körpers, der als feste, stetig zusammenhängende, durch eine rings umschließende Oberfläche bedeckte Masse in einem Umfeld wahrgenommen wird. Dieser Platz ist ein relativer Ort, d. h. ein solcher, der durch seine Lagen und Abstände im Verhältnis zu den Orten umgebender Objekte bestimmt wird.« 40

»Der andere Weg dazu, sich hier und jetzt zu finden« (LII,1), führt über die Betroffenheit durch ein Bedrängnis, also über den zentripetalen Impuls, und stiftet schlagartig nicht mehr wie im ersten Fall eine Form objektiver, sondern eine Form subjektiver Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Wir könnten mit Erwin Straus auch sagen, der zweite Weg zu sich selbst führt nicht über ein Geschehnis, sondern über ein Erlebnis und zwar über das Erlebnis der Plötzlichkeit, das uns zwingt, ganz da zu sein: »Ein Mensch lebt träge und gedankenlos, entweder dösend oder in Routinetätigkeit versunken, dahin, da schreckt ihn plötzlich ein aggressives Geräusch. (…) Er fährt zusammen unter dem Druck der Bedrohung durch das unerwartet plötzlich hereinbrechende Neue, das die gleitende Dauer seines Dahinlebens zerreißt und ihn in die Enge der Gegenwart versetzt, die ebenso zeitlich wie räumlich ist: zeitlich als das abgerissene Plötzliche, räumlich als die Enge, in die er durch das Zusammenfahren gedrängt ist. (…) Im Schock des Zusammenfahrens sind alle (objektiven) räumlichen und zeitlichen Ordnungsrahmen nicht mehr verfügbar. Dafür ist dem Menschen ein absoluter Ort angewiesen, der zugleich ein absoluter Augenblick ist, und nun ist unbezweifelbar klar, dass wirklich er selbst sich dort befindet.« (LII,1 f.)

Dieses Widerfahrnis von Zentripetalität ist also immer eine mehr oder weniger rasante Implosion aus räumlicher und zeitlicher Extensionalität, also immer die Erfahrung von Engung aus vorheriger Weite. Und dieses plötzliche Sichfinden als Erfahrung, ganz da zu sein, ist für Schmitz die primordiale Erfahrung von Leiblichkeit, für deren Wahrnehmung wir die üblichen fünf Sinne seltsamerweise gar nicht brauchen, weil wir Leiblichkeit als solche allein durch »leibliche Regungen« (LII,4) unmittelbar wahrnehmen. Unter leiblichen Regungen versteht Schmitz zum einen »Schreck, Schmerz, Angst, Hunger, Durst, Jucken, Kitzel, Ekel, Behagen, Wollust, Müdigkeit, Frische, Mattigkeit« (LII,4), zum ande1624 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes

ren das affektive Betroffensein, also die Ergriffenheit von Gefühlen aller Art. Außerdem nennt er noch körperliche Geschehnisse, die zugleich auch als leibliche Regungen gespürt werden, wie z. B. die Atmung, und schließlich nennt er noch die Blicke, die man aussendet oder empfängt und mit denen man sich in der jeweils aktuellen Situation orientiert. Mit einem Wort: »Leiblich ist, was jemand in der Gegend (keineswegs, wie z. B. am Blick deutlich wird, immer in den Grenzen) seines materiellen Körpers von sich selbst (als zu sich selber, der hier und jetzt ist, gehörig) spüren kann, ohne sich der fünf Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schmecken) und des aus ihrem Zeugnis abgeleiteten perzeptiven Körperschemas 41 zu bedienen.« (LII,5)

Und dann kann Schmitz eine vorläufige Bilanz ziehen: »Als Leib (oder Leiblichkeit) kann dann das Ganze der leiblichen Regungen mit seiner noch zu bestimmenden räumlichen und dynamischen Beschaffenheit verstanden werden.« (LII,5)

Somit ist der Leib für Schmitz kein substanzielles Ding unter Dingen wie der Körper ein Ding unter Dingen ist, auch nicht, wie für Plessner, nur ein anderer Aspekt des Körpers, sondern ein spezifisch strukturiertes, ganz eigenes dynamisches Wahrnehmungszentrum jenseits der fünf Sinne, ganz so, wie Joubert das Herz gesehen hatte, weshalb Schmitz auch an anderer Stelle schreibt: »Der Leib (Leiblichkeit) ist keine abgesonderte Provinz (des Körpers), sondern der universelle Resonanzboden, wo alles Betroffensein des Menschen seinen Sitz hat und in die Initiative eigenen Verhaltens umgeformt wird.« (UG,116)

Wie dies im einzelnen geschieht, ergibt sich aus der »Dynamik des Leibes« (LII,15), die auf dem Spiel von Enge und Weite beruht, wobei man aber immer im Auge behalten muß, daß bei diesem Spiel von Enge und Weite, Zentripetalität und Zentrifugalität, beide Tendenzen immer zu einer innigen antagonistischen Ambivalenz verschränkt sind, ganz so, wie wir dies aus der tonos-Lehre der stoischen Physik und Psychologie 42 kennengelernt haben, und deshalb betont Schmitz auch ausdrücklich: »In diesem entgegengesetzt gerichteten Zusammenwirken bezeichne ich die (durch Weitung gehemmte) Engung als Spannung, die (durch Engung gehemmte) Weitung als Schwellung und ihren Verband – die

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Spannung gegen Schwellung zusammen mit der Schwellung gegen Spannung – als den vitalen Antrieb. Nur in diesem Verband gibt es Antrieb.« (LII,15)

Der Ausdruck »vitaler Antrieb«, den Schmitz erst seit Ende der neunziger Jahre in dem Werk Der Spielraum der Gegenwart in Anlehnung an Heinz Dirks und Ernst Braun 43 verwendet, ist etwas mißverständlich, weil man ihn auch im Sinne der physikalistisch orientierten Lebenskraft-Energetiker von Herbert Spencer bis herauf zu Sigmund Freud, Konrad Lorenz und Wilhelm Reich als physikalisch meßbare Antriebs- oder Trieb-Energie verstehen könnte, die »hinter« dem Verhalten steht und dieses antreibt. Doch so ist der Ausdruck nicht gemeint, sondern im Sinn von gespürter Energie, die prinzipiell nicht meßbar ist, und bezeichnet deshalb lediglich das in sich antagonistische Gewoge von Enge und Weite im dynamischen Spiel der Leiblichkeit. Oder anders und in Anlehnung an Goethe formuliert: Der vitale Antrieb steht nicht »hinter« den Phänomenen der Leiblichkeit, sondern ist die Gesamtheit dieser leiblichen Phänomene und damit zugleich auch die Dynamik der Leiblichkeit selbst. Normalerweise sind diese beiden Tendenzen oder Impulse der leiblichen Dynamik von Enge und Weite aneinander gebunden resp. ineinander verklammert: »Sie können sich aber auch aus dieser Bindung lösen, jedoch nur teilweise, so dass diese nicht ganz aufgehoben wird, solange das bewusste Erleben ununterbrochen weitergeht. Das Ausscheren bezeichne ich nach der Seite der Engung als privative Engung, nach der Seite der Weitung als privative Weitung.« (LII,18)

Beispiele dafür wären im ersten Fall das Erlebnis des Plötzlichen, das uns so erstarren läßt, daß wir »ganz weg« sind und unser zeitliches Erleben zur »Dauerlosigkeit eines absoluten Augenblicks« (LII,18) zusammenzuckt und wir mit Richard Dehmel sagen dürfen: »Plötzlich stehst du überwältigt.« Auch den zweiten Fall haben wir schon kennengelernt: Es ist das von Franz von Baader so benannte »Explodieren der Angstspitze«, das sich bei DurchbruchErlebnissen aller Art ereignet, z. B. wenn eine Pointe zündet und mit einem Cachinnus-Lachen quittiert wird, das uns förmlich zu zerreißen droht. 1626 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Leiblichkeit oder Der zentripetale Impuls als Enge des Leibes

Auch auf andere Formen leiblicher Dynamik, die sich aus dem Zusammenspiel von Enge und Weite ergeben, sind wir schon gestoßen, z. B. auf die Gerichtetheit bestimmter leiblicher Regungen, da jede Art von lautem Gelächter eben eine Form gestotterter Ausatmung ist, und jede Art von Interaktions-Lachen darüberhinaus auch noch durch Blickkontakt zielgerichtet an den jeweiligen Partner adressiert wird. An bestimmten Formen des Lachens konnten wir auch schon die »epikritische« und »protopathische Tendenz« als weitere Formen leiblicher Dynamik erläutern, da sich das gestotterte Lachen als epikritisch, das schmelzende Lächeln aber als protopathisch erwiesen hat. Und schließlich haben wir auch die jeweilige Ausgeprägtheit des Lachens als dessen Intensität bestimmen können. All dies zeigt, wie fruchtbar sich die von Schmitz entwickelte Phänomenologie des Leiblichen für die Analyse des Lachens bis jetzt schon erwiesen hat, und das wird sich auch im weiteren Verlauf dieser Studie zeigen. 2.18.6.3 Leibliche Kommunikation Auf das Phänomen leiblicher Kommunikation sind wir zum ersten Mal bei Laurent Joubert gestoßen, der das Herz als Glutkern des Lachens und darüberhinaus auch als Zentrum der Wahrnehmung affektiver Anmutungen jenseits der fünf Sinne bestimmt hatte, denn er schreibt, das Herz weite sich bei Freude so aus, wie man es selbst auch tut, wenn man ein erfreuliches Objekt in die Arme schließen und in sich aufnehmen will. Da Joubert damit nicht das Herz als anatomisch bestimmbares Organ in der Brust gemeint haben kann, habe ich Jouberts These so gedeutet, daß Joubert damit das Herz in diesem Sinn als »Stellvertreter des Leibes« oder als »Leib im kleinen« gemeint haben müsse, weil das Französische für die Unterscheidung von »Leib« und »Körper« kein Wort bereitstellt; beides heißt corps. Diese Deutung von Jouberts These rechtfertigt sich vor allem dadurch, daß er betont, diese Wahrnehmung mit dem Herzen sei eine Reaktion ohne Reaktionszeit, also eine Form mimetischer Resonanz. Aus diesem Grund kann man auch mit gutem Recht sagen, Laurent Joubert habe entdeckt und beschrieben, 1627 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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daß die Wahrnehmung affektiver Anmutungen einschließlich der Wahrnehmung des Komischen und Lächerlichen durch leibliche Kommunikation, also durch Einleibung, oder, wie Joubert sagen würde, durch »Einherzung« erfolgt. Nach Laurent Joubert hat erst wieder Johann Gottfried Herder das Phänomen leiblicher Kommunikation erkannt und ausführlicher analysiert. Auch er bestimmt es als eine Form mimetischer Resonanz, nennt es »Sympathetik« und schreibt dazu in seiner Kalligone: »Jede Form der menschlichen Gestalt spricht zu uns, weil wir selbst, mit dieser Form bekleidet, den Geist fühlen, der sich in dieser Form offenbaret. Wie wolltet ihr einem Kinde ein zorniges oder ein freundliches Gesicht begreiflich machen, d. i. ihm den Zorn oder die Freundlichkeit durch Unterricht beibringen, wenn es den Naturausdruck dieser Affekten sym- oder antipathetisch nicht in sich fühlte? Nicht anders fühlen wir den Gemüthscharakter jedes ächtgebildeten Werkes der Kunst, den Geist, der es bewohnet; schnell oder sanft geht er in uns über. Mein Arm erhebt sich mit jenem Fechterarm; meine Brust schwillt mit jener Brust, auf welcher Antäus erdrückt wird. Meine Gestalt schreitet mit Apollo, oder lehnt sich mit ihm, oder schaut begeistert empor. Laokoons und der Niobe Seufzer dringen nicht etwa in mein Ohr; sie heben meine Brust selbst mit stummem Schmerz. (…) Der Ausdruck der plastischen Kunst ist leibhaft, also auch mittelst leibhaftiger Formen geisthaft, d. i. sympathetisch wirksam.« (15,205 f.)

Hier bei Herder setzt Erwin Straus an, um verschiedene Weisen der »sympathetischen Kommunikation von Ich und Welt« 44 zu analysieren. Straus knüpft aber nicht bei Herders Ästhetik an, sondern bei Herders früher erkenntnistheoretischer Studie Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele von 1778, auf die er offenbar schon sehr früh gestoßen sein muß, weil er immer wieder auf sie verweist. Herder hatte dort Wahrnehmung als ein ResonanzPhänomen bestimmt, weil für ihn in der Natur nichts geschieden ist, denn »alles fließt durch unmerkliche Uebergänge auf- und ineinander« (8,16): »Grausen, Schauer, Erbrechen, bey dem Geruche das Niesen, sind lauter solche Phänomene des Zurücktritts, des Widerstandes, der Stämmung, als ein sanftes Hinwallen und Zerschmelzen bey angenehmen

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Gegenständen Uebergang und Uebergabe zeiget.« (8,27)

Eine erste Annäherung an das Phänomen leiblicher Kommunikation jenseits der Sprache war für Straus seine Studie über Wesen und Vorgang der Suggestion von 1925 45; eine zweite seine Aufsätze über den Umgang mit Räumlichkeit 46 von 1930 und das Erlebnis von Scham 47 von 1933. Aber erst in seinem Hauptwerk Vom Sinn der Sinne von 1937 geht er auf dieses Thema ausführlicher ein und kommt hier zu dem Schluß, daß das Verstehen von Expressivität ein »symbiotisches Verstehen« (S. 200) ist und deshalb auch nicht in der Form vor sich geht, daß ein Ausdruck als »pures, atomistisch strukturiertes Material vereinzelter Sinnesdaten« (S. 210) rezipiert, dann einzeln entschlüsselt und schließlich als einzelne zu einem Gesamtbild »konstellationistisch«48 zusammengefaßt und somit verstanden wird und dann entsprechend beantwortet werden kann, sondern daß Ausdrucksverhalten als binnendiffuse Anmutung ganz unmittelbar und jenseits sprachlicher Operationen ganzheitlich verstanden wird, denn: »Wir erfassen gar nicht vermittels der Ausdrucksbewegungen als repräsentierender Zeichen seelische Vorgänge im uns verborgenen Innern eines fremden Organismus. Im Ausdruck-Erfassen sind wir bereits in (sympathetischer) Kommunikation. (…) Wir erfassen nicht den Anderen uns objektiv gegenüber und denken ihn in einem analogen Gegenüber zur Welt, sondern wir ›verstehen‹ uns miteinander in der Welt. (…) Im primären Ausdrucks-Erfassen wird darum auch nur das erfaßt, was den Erfassenden unmittelbar angeht, im eigentlichen und ursprünglichen Sinn dieses Wortes. Das Empfinden ist also ein sympathetisches Erleben. (…) Es hat den Charakter des ›mit‹ in seiner Entfaltung des ›auf zu‹ und des ›von weg‹.« (S. 206 f.)

Helmuth Plessner geht auf das Phänomen leiblicher Kommunikation nur in seinem frühen Aufsatz über die Deutung des mimischen Ausdrucks von 1925 ausführlicher ein. Ausgangspunkt für ihn ist Jakob von Uexkülls These der wechselseitigen Eingeklinktheit von Merkwelt und Wirkwelt, die selbstverständlich auch für das menschliche Verhalten gelte, wenn man sich in einer gemeinsamen Situation befindet, in der diese ererbte Fähigkeit der »Leibumweltrelation« (VII,81) nach dem Akt-Potenz-Schema sich ad hoc manifestieren kann, und daraus zieht er den Schluß: 1629 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Auf dieser Möglichkeit zum unmittelbaren Mitgehen mit dem anderen Lebewesen, besonders der gleichen Art, beruht ihr ganzes Verhalten untereinander, das nicht jeder Organismus für sich aus der Erfahrung durch eine Reihe von Assoziationen hindurch verstehen lernt, sondern dessen ursprüngliche Verständlichkeit seinerseits eine vorgegebene Bedingung für das erfahrungsmäßige Lernen und die Stiftung der Assoziationen darstellt.« (VII,81 f.)

Eine Konsequenz aus diesem vorgegebenen Können neben vielen anderen ist die Möglichkeit mimetischer Resonanz, die Möglichkeit und Fähigkeit, vom Lachen und Weinen anderer zum eigenen Resonanz-Lachen und Resonanz-Weinen angesteckt zu werden, denn, so Plessner: »Wir können echtem Lachen und Weinen gegenüber nur mit Überwindung unbeteiligte Zuschauer bleiben. Stärker als jedes andere Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen. Diese mitreißende Kraft entspricht auf der Seite der Lachenden und Weinenden jene Hingerissenheit, jenes Überwältigtsein vom eigenen Ausdruck, das seiner distanzierten Verwendung im Sinne einer Gebärdensprache ebenso entgegen ist wie seiner beliebigen Erzeugung.« (VII,262)

Daß Plessner in seinem gelotologischen Hauptwerk dann nicht ausführlicher auf das Resonanz-Lachen und Resonanz-Weinen eingegangen ist, obwohl er die Natur dieses Phänomens genau erkannt hatte, liegt wohl daran, daß ihm sein Begriff von Leiblichkeit nicht genügend Ansatzpunkte bot, das Wesen leiblicher Kommunikation genauer zu klären. Der eine Aspekt dieses Mangels besteht, wie wir schon des öfteren gesehen haben, darin, daß er die überragende Bedeutung von Blick und Blickkontakt als Königsweg zur Klärung dieses Phänomens nicht erkannt hat. Der zweite Aspekt dieses Mangels liegt darin, daß er nicht danach fragte, wie Reagieren und Koagieren beim Mitgehen ohne Reaktionszeit möglich ist. Ein Blick auf Herder hätte ihm vielleicht verraten, wie »etwas in uns übergehet«, sodaß wir es in uns aufnehmen und mit ihm eine neue funktionale Einheit bilden können, die beide Interaktionspartner übergreift, denn ganz offensichtlich ist dies keine körperliche Fähigkeit, sondern eine leibliche. Machen wir ein Experiment: Wenn man schreibt, so spürt man an der Spitze der Füllfeder genau, wie glatt oder rauh das Papier ist, 1630 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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über das sie da gleitet, und beim Drechseln spürt man ebenso genau, wie hart, wie faserig oder spröde das Werkstück ist, das man da bearbeitet; und all das spürt man so, als habe man im Werkzeug selbst Nerven, als sei das Werkzeug ein Teil des eigenen Körpers und damit zugleich auch ein Teil der eigenen Leiblichkeit, durch die man eigenleibliche Beirrungen spürt. Und wenn man mit einer Schaufel arbeitet, deren Blatt wackelt, weil sie schlecht geschäftet ist, fühlt man sich selbst durch diese Beirrung so unwohl, als hätten wir selbst einen Defekt. All diese Beispiele 49 illustrieren, was Hermann Schmitz unter »Einleibung« versteht, genauer: unter Einleibung unbelebter Objekte. Möglich ist diese Einleibung aber nur, weil Leiblichkeit im Gegensatz zum rundum geschlossenen Körper offene Grenzen hat, die das Andocken und Einklinken fremder körperlicher Objekte in das dynamische Feld der eigenen Leiblichkeit ermöglicht und damit zugleich auch den Gebrauch von Werkzeugen und sonstiger funktionaler Prothesen möglich macht. Aber auch lebendige Objekte, also fremde Leiber, können in die Dynamik der eigenen Leiblichkeit integriert werden, weshalb man im Fachjargon der Reiter sagt, ein schlechter Reiter sitze auf dem Pferd, ein guter hingegen im Pferd, womit gemeint ist, daß Roß und Reiter eine dynamisch-harmonische funktionale Einheit, also gleichsam einen Gesamtleib bilden, und sich dann so bewegen, als seien sie die Glieder eines einzigen Wesens, das synergetisch leibt und lebt. Dies setzt allerdings voraus, daß auch das Pferd bereit ist, bei diesem dynamisch-harmonischen Spiel mitzumachen. Spielt es aber nicht mit wie beim Rodeo, sitzt auch der beste Reiter immer nur auf dem Pferd und oft genug auch nicht sehr lang und sonderlich elegant schon gar nicht. Wenn wir nun danach fragen, wie das von Plessner angesprochene Mitgehen beschaffen ist, können wir dies in Georg Christoph Lichtenbergs berühmter Beschreibung von David Garrick nachlesen, denn dort heißt es: »Man sieht ernsthaft mit ihm aus, man runzelt die Stirn mit ihm, und lächelt mit ihm; in seiner heimlichen Freude, und in der Freundlichkeit, wenn er in einem Beiseite den Zuhörer zu seinem Vertrauten macht, ist etwas Zutuliches, daß man dem entzückenden Mann mit ganzer Seele entgegen fliegt.« 50

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In dieser Beschreibung haben wir den paradigmatischen Fall von wechselseitiger Einleibung und leiblicher Kommunikation vor uns, die zudem auch noch deutlich macht, daß wechselseitige Einleibung und leibliche Kommunikation eine Reaktion ohne Reaktionszeit ist. Deshalb spricht Johann Jakob Engel in seiner Mimik auch davon, daß bei transorchestraler wechselseitiger Einleibung Schauspieler und Zuschauer strikt spiegelbildlich und synchron agieren: »Alle Mienen der Acteure, sogar manche ihrer Bewegungen, ahmt der so illudirte Zuschauer, wenn gleich schwächer, nach; ohne daß er noch weiß, was gesagt werden wird, wird er ernsthaft mit dem Ernsthaften, fröhlich mit dem Fröhlichen: sein ganzes Gesicht wird zum Spiegel, der alle die abwechselnden Gebehrden der auftretenden Personen, Verdruß, Spott, Neugier, Zorn, Verachtung, getreu zurückwirft.« (S. 50)

Aber dann fügt er sofort hinzu, daß dieses Mitgehen nur erfolgen kann, wenn beim Zuschauer die Einstellung williger Hinnahme vorliegt: »Nur dann, wenn seine eigenen Empfindungen die von außen kommenden Eindrücke durchkreuzen und Ausdruck fordern, wird diese nachahmende Malerei unterbrochen.« (S. 50)

Die synergetische Zugleichheit des Verhaltens beider Partner beim Mitgehen beruht also offensichtlich auf bestimmten Vorbedingungen, die meist nicht eigens thematisiert werden, leibliche Kommunikation aber entscheidend überformen. Ich meine damit die Einstellung williger Hinnahme, die bei Lichtenberg offensichtlich gegeben war, weil er schreibt, daß er Garrick »mit ganzer Seele entgegenflog« (S. 142). Begegnet man dem Einleibungs-Ansinnen jedoch mit hinhaltender Hinnahme oder gar mit trotziger Renitenz, so spürt man z. B. beim Blickkontakt den Anderen zwar auch am eigenen Leib, aber nicht »als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas Fremdes, das über diesen gekommen ist und ihn einnimmt. Man fühlt sich in wechselseitiger Einleibung vom Andern irgendwie (…) berührt, gerade auch als getroffen von seinem Blick, den Sartre in dieser Hinsicht gut charakterisiert.« (UG,149)

Wenn Sartre vom Blick spricht, so handelt es sich meist um diesen dominierenden Blick des Anderen und kaum einmal um einen 1632 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ebenbürtigen Blickkontakt auf Augenhöhe, aber immer ist es ein Blick, mit dem etwas »gemeint« ist. Deshalb betont er auch eigens den Unterschied zwischen den Augen als einem Teil und Organ des Körpers an dessen Außenseite und den Augen als Träger eines Blicks, durch den die Grenzen des einen Körpers gleichsam gesprengt und in den anderen Körper vorgeschoben werden wie bei einer Vergewaltigung. Zugleich wird damit aber auch der Begriff des in sich geschlossenen Körpers gesprengt und verlangt nach einer neuen Bezeichnung, die es in der französischen Sprache aber nicht gibt. Außerdem handelt es sich bei Sartre immer um einen Blick bei »konkreter Einstellung« und nie um einen in »kategorialer Einstellung« im Sinne von Kurt Goldstein, oder anders formuliert: Blicke konstituieren bei Sartre immer einen »Handlungsraum«, nie einen »Anschauungsraum«, weshalb er zu dem Schluß kommt: »Nie können wir Augen, während sie uns ansehen, schön oder häßlich finden, ihre Farbe feststellen. Der Blick des Andern verbirgt seine Augen, scheint vor sie zu treten.«51

Denn: »Wir können nicht die Welt wahrnehmen und gleichzeitig einen auf uns fixierten Blick erfassen; es muß entweder das eine oder das andere sein. Wahrnehmen ist nämlich anblicken, und einen Blick erfassen ist nicht ein Blick-Objekt in der Welt erfassen außer wenn dieser Blick auf uns gerichtet ist, sondern Bewußtsein davon erlangen, angeblickt zu werden. Der Blick, den die Augen manifestieren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reiner Verweis auf mich selbst.« (S. 53)

Sartre blendet also die Möglichkeit des fremden Blicks bei kategorialer Einstellung und distanziert sachlicher Zuwendung, wie sie z. B. beim Augenarzt zur beruflichen Routine gehört, völlig aus und kennt offenbar nur den Blickwechsel als Selbstbehauptung, und zwar als Selbstbehauptung zwischen Täter und Opfer, denn der oben erwähnte »reine Verweis auf mich selbst« entpuppt sich, wenn man weiter liest, alsbald als bedrängendes Schamgefühl 52, das die fatale Erkenntnis nach sich zieht: »Ich bin nicht mehr Herr der Situation« (S. 68), sondern Opfer des fremden Blicks, der mich dominiert. Kehrt sich dieses Szenario um, so kehren sich laut Sartre sofort auch die Rollen um: 1633 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Die Leute, die ich sehe (anblicke), lasse ich zu Gegenständen erstarren, ich bin ihnen gegenüber wie Andere mir gegenüber; indem ich sie anblicke, ermesse ich meine Macht. Aber wenn ein Anderer sie und mich sieht, verliert mein Blick seine Kraft: er kann diese Leute nicht in Gegenstände für den Anderen verwandeln, denn sie sind schon Gegenstände seines Blicks.« (S. 70)

Daß Sartre diesen Dialog der Blicke als einen Clinch sieht, der auf Dominanz gegenüber dem Blickpartner zielt, ist jedoch nur eine von vielen Möglichkeiten des Blickkontakts, denn bei weitem nicht jeder Blickkontakt ist so latent sadistisch, wie Sartre dies hier beschreibt und zielt darauf, daß der Blickpartner den Blick ergeben senkt, die Dominanz des Anderen damit anerkennt und sich ihm unterwirft, damit dieser seine Dominanz genießen kann, ganz so wie Merkur dies bei seinem Clinch mit Argus tut, sondern ein Blickkontakt kann sehr wohl auch zu einem glückhaft schmelzenden Ineinandergleiten der beiden Blickpartner führen, wie Ovids Pygmalion dies unter der Regie der Venus erleben darf. Was Sartre übersieht, ist also der Umstand, daß die leibliche Kommunikation über den Blickkontakt, wie jede andere Art von leiblicher Kommunikation auch, immer nach Maßgabe einer Skala von Einstellungen verläuft, die von williger Hinnahme über hinhaltende Hinnahme und trotzige Renitenz bis zum dominanzlüsternen Machtanspruch reichen kann. Neben dieser spiegelbildlich-wechselseitigen Einleibung über den Blickkontakt, die Schmitz als »antagonistisch« bezeichnet, gibt es aber auch die »solidarische Einleibung« (LII,29) als BahnungsPhänomen 53, wie sie beim gemeinsamen Musizieren, beim Tanzen und Marschieren, bei allen Formen Mannschaftssport oder auch bei der Arbeit Hand in Hand und Seit’ an Seit’ zu beobachten ist, wenn ganze Gruppen zu einem integralen Gesamtleib im Sinn einer alle Individuen umfassenden leiblichen Dynamik verschmelzen und dann in synergetischer Zugleichheit agieren. Aber auch dieses Mitgehen ist nur möglich, wenn die Einstellung williger Hinnahme vorliegt. Liegt diese Bereitschaft zum Mitgehen jedoch vor, kann sich jeder einzelne Teilhaber an dieser ad hoc sich bildenden kollektiven Leiblichkeit Rilkes Aufforderung zu eigen machen: »Zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.« 54 Diese Form 1634 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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kollektiver solidarischer Einleibung wird uns wieder bei der Analyse des Resonanz-Lachens begegnen, wenn wir auf Lachmeuten und auf das Resonanz-Lachen als mimetisches Korrelat zum Lachen als Phänomen atmosphärischer Umhaftigkeit einzugehen haben. Und hier gilt generell: »Leibliche Kommunikation findet statt, wenn ein durch Spannung und ganzheitliche Regungen zusammengehaltener Leib in eine leibliche Dynamik aufgenommen wird, die ihn spaltet oder übertrifft, indem sie ihn mit etwas verbindet.« (LII,29)

Damit muß zugleich auch deutlich geworden sein, daß wechselseitige Einleibung durchaus nicht immer beglückend sein muß, sondern auf einer großen Bandbreite stattfindet und deshalb auch als äußerst bedrängend empfunden werden kann, wie ein Blick in die psychiatrische Literatur 55 zeigt. Für unsere Fragestellung ist die Entdeckung und genaue Analyse leiblicher Kommunikation in all ihren Formen durch Hermann Schmitz von größter heuristischer Bedeutung, weil wir damit in der Lage sind, alle Formen des Lachens genauer auf den Begriff bringen zu können, denn beim Interaktions- und Resonanz-Lachen bilden sich durch Blickkontakt und Mitgehen gemeinsame Situationen, die alle relevanten Interaktionspartner übergreifen und bei dem das durch Blickkontakt konstituierte Interaktions-Lachen vom beglückenden gegenseitigen Anlachen bis zum sadistischen Auslachen reicht, das den wehrlos Ausgelachten bis in die Vernichtung durch katastrophale Scham treibt und zugleich damit dem Auslachenden ein Höchstmaß an geschwelltem Selbstgenuß bereiten kann, ganz so, wie Wilhelm Raabe dies in seinem Hungerpastor dargestellt hat. Und außerdem werden wir sehen, daß wir von hier aus auch das Lachen des Gekitzelten endlich angemessen auf den Begriff bringen können. Außerdem wird sich zeigen, daß auch die Wahrnehmung komischer Gestaltverläufe durch Einleibung erfolgt.

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2.18.7 Personalität oder Der zentripetale Impuls als Vereinzelung Auf der Stufe der Personalität manifestiert sich der zentripetale Impuls als Fähigkeit und Tendenz zu Vereinzelung. Wir haben gesehen, daß Schmitz primitive Gegenwart als Zusammenballung der fünf Aspekte Hier, Jetzt, Dasein, Dieses, Ich bestimmt. Durch den zentripetalen Impuls auf der Stufe der Personalität können diese fünf Aspekte nunmehr auch als einzelne bestimmt werden und entfalten sich dann auch einzeln durch die auf dieser Stufe neue Möglichkeit besonnener satzförmiger Rede, die einzelne Sachverhalte als einzelne vergegenwärtigen kann, zu »entfalteter Gegenwart«. Man könnte diesen Prozeß auch als die Fremdelphase der primitiven Gegenwart bezeichnen, durch die sich Einzelnes explizit als Einzelnes manifestiert. Dazu Schmitz: »Das Plötzliche ereignet sich als primitive Gegenwart oder Enge des Leibes (…) stets im Zusammenhang mit leiblicher Engung und schließt daher affektives Betroffensein in sich, somit auch die Subjektivität subjektiver Tatsachen; die primitive Gegenwart ist daher eine Situation im weiteren Sinn 56, in der subjektive Tatsachen mit der Enge des Leibes – dem in jeder spürbaren Engung, z. B. bei Angst, Schmerz, Schreck, Beklommenheit, Konzentration, vorgezeichneten Engepol – zu einer chaotisch-mannigfachen Ganzheit verschmolzen sind. Durch Entfaltung der Gegenwart werden diese Tatsachen, die als Sachverhalte Abhebungen vom Dasein sind, der Vereinzelung zugänglich, weil sich nun etwas einzeln vom Dasein als dem Hintergrund abzuheben vermag. Von den so vereinzelten Sachverhalten kann die Subjektivität abgestreift werden; sie werden dann zu objektiven, für jedermann bestimmten und prinzipiell (…) jedem beschreibbaren Tatsachen. In diesem Augenblick entspringt das personale Subjekt.« (P,13)

Und es entspringt als Korrelat einzelner Prädikationen, durch die aus der chaotischen Fülle der Gegenstände einzelne durch Bezeichnungen 57 hervorgehoben und von anderen unterschieden werden, und weiterhin als Korrelat rein kognitiver oder pragmatisch dimensionierter Aussagen und explizit performativer Sprechakte58, durch die Sachverhalte bestimmt werden, letztlich also durch satzförmige Rede. 1636 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Personalität oder Der zentripetale Impuls als Vereinzelung

Man könnte auch sagen: In dieser Fremdelphase der primitiven Gegenwart erfolgt der erstmalige und deshalb auch einmalige Schritt vom »Ich?« zum »Ich!«, der Schritt vom »eigentlichen Ursubjekt« (P,13) zur Person, die fähig ist, »etwas für sich selbst zu halten« (LII,71) und zwar als etwas, das es nur ein einziges Mal gibt, und zugleich damit etwas anderes für dieses bestimmte andere Etwas zu halten. Doch menschliche Rede besteht nicht nur aus diesen rein darstellenden Aussagen, die in unbedrängter Distanz formuliert werden wollen; sie sind sogar eher ein Grenzfall des alltäglichen Redens und erfüllen ihre Funktion eher in streng stilisierten Situationen wie z. B. in den Wissenschaften, wo man die eigene Betroffenheit 59 so weit wie möglich auszublenden sucht. Unendlich häufiger als diese »explikative« Rede sind im alltäglichen Leben die pragmatisch dimensionierte 60 und die »evokative« Rede 61 als Artikulation von perennierender Bedürftigkeit 62 und aktueller Betroffenheit, die gleichsam als Nabelschnur die Verbindung der Person zu primitiver Gegenwart aufrechterhalten, weil sie Situationen nicht distanziert und differenziert thematisieren. Besonders ausgeprägt ist dies bei evokativer Rede, weil sie »ganze unzerlegte Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit anspricht, indem sie diese heraufbeschwört, modifiziert oder beantwortet.« (LU,144). Dies kann in Form von Interjektionen (Ach!, Oh!, Aua!), von Flüchen oder Einwort-Sätzen (Schade!, Scheiße!) geschehen, aber auch in vollständigen Sätzen, denn bei dem Ausruf »Das kann doch wohl nicht wahr sein!« geht es ja nicht darum, zu klären, was im einzeln aus welchen Gründen nicht wahr sein kann, sondern hier wird eine Situation als ganze durch die Bekundung von Empörung verworfen. Und somit liegt evokative Rede gleichsam auf dem halben Weg zwischen der rein darstellenden Rede in entfalteter Gegenwart und den sprachfernen Bekundungen in Form von Schreien, Stöhnen, Lachen und Weinen in primitiver Gegenwart, die beirrende und bedrängende Situationen als ganze vergegenwärtigen und beantworten. Der Status von Personalität in entfalteter Gegenwart ist also kein unangreifbarer Besitz, da schon Herder betonte, daß wir in unvermuteten Augenblicken affektiver Bedrängnis auch wieder zu »Wilden« (29,20) werden und in den Zustand zurückfallen können, der 1637 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

vor der eigenen ontogenetischen Fremdelphase liegt, sodaß uns diese Möglichkeit primitiver Gegenwart auch im Status der Personalität gleichsam wie ein unentrinnbarer Schatten folgt, und wir in bestimmten Situationen auch wieder in diesem Schatten verschwinden können. Deshalb fährt Schmitz fort: »Die (einmal erfolgte) Entfaltung der Gegenwart läßt die primitive aber nicht verschwinden; das personale Subjekt bleibt (…) auf diese angewiesen und daher fähig, aus dem Reservoir der in sie eingeschmolzenen subjektiven zu schöpfen. (…) Aus dieser Fähigkeit entspringt die Beweglichkeit des personalen Subjekts gegen primitive Gegenwart, sich aus ihr mehr oder weniger zu erheben oder in sie (wieder einmal besuchsweise) einzugehen. Sowie es sich erhebt, indem es z. B. den eigenen Körper, das Hier und Jetzt, die eigenen Neigungen, ja – z. B. mutig den Tod auf sich nehmend – das Dasein durch Objektivierung von Tatsachen (durch rein kognitive und pragmatisch dimensionierte Aussagen und explizit performative Sprechakte) distanziert, befindet es sich in einer stets labilen und prekären ›exzentrischen Position‹ (Plessner), unfähig, sich in völliger Autarkie (etwa als reiner Geist) abzusondern, aber immer fähig zu (oder bedroht von) der Möglichkeit, ganz wieder in primitive Gegenwart einzugehen, die Fassung zu verlieren, panisch und tierhaft zu werden.« (P,14)

Man könnte auch sagen: Das personale Subjekt ist einer ständig latenten Krise der Personalität ausgesetzt. Sobald diese Krise einmal einsetzt, fallen wir kurzfristig in den prä-personalen Zustand vor der eigenen ontogenetischen Fremdelphase zurück und verlieren tendenziell all das, was Kurt Goldstein das »ausgezeichnete Verhalten« nennt, das man als die Signatur von Personalität verstehen darf: die aufrechte Haltung, die Beherrschung des eigenen Körpers, die Fähigkeit zu satzförmiger Rede, die Distanz zu uns selbst und die Selbstbeherrschung im ganzen, also all das, was wir erst nach der eigenen ontogenetischen Fremdelphase erreicht haben. Damit sind wir nun so weit, mit Schmitz eine erste Bilanz ziehen zu können: »Die Erhebung des personalen Subjekts aus der primitiven Gegenwart bezeichne ich als personale Emanzipation, seinen totalen oder approximativen Rückfall an jene als personale Regression.« (P,14)

Derlei Zustände können aber auch, pathologisch bedingt, peren1638 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Personalität oder Der zentripetale Impuls als Vereinzelung

nierend sein, sodaß der Status von Personalität dauerhaft verloren gehen kann, wie dies z. B. bei Alzheimer-Patienten der Fall ist. Dies darf nun aber nicht so verstanden werden, als würde damit das platonische Ideal der umfassenden Besonnenheit63 wieder propagiert, das auch noch für Plessner verbindlich war, demzufolge der Mensch nur im Zustand uneingeschränkter personaler Emanzipation als Mensch gelten dürfe, weshalb Schmitz ausdrücklich hinzufügt, daß Personalität die gesamte Bandbreite zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression umfaßt, und deshalb gilt: »Den Verband, der durch das personale Subjekt, das sich mehr oder weniger aus der primitiven Gegenwart erhoben hat, bezeichne ich als Person. Der Mensch ist hiernach Person außer in jenen ›panischen‹ Zuständen, in denen er ganz in primitive Gegenwart versinkt und gar nicht mehr personal emanzipiert ist.« (P,14)

Der Mensch ist demnach immer nur mehr oder weniger in diesem Vollsinn 64 Person, weil personale Emanzipation und personale Regression einen polarkonträren Gegensatz bilden, und kann sich deshalb auch kürzer oder länger in prä-personalen, para-personalen und post-personalen Zuständen befinden: prä-personal z. B. im Status vor der Fremdelphase, para-personal und post-personal in pathologischen Zuständen. Nun haben wir schon bei Plessner gesehen, daß er Lachen und Weinen als Krise der Personalität bestimmt, allerdings als Krise, in die man zwar stürzt, aus der man sich aber auch wieder erhebt, denn laut Plessner wird bei diesem »Verlust der Beherrschung im Ganzen« das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper »in eins preisgegeben und wiederhergestellt« (VII,274), und das heißt: »Der Mensch kapituliert als Leib-Seele-Einheit, d. h. als Lebewesen, er verliert das Verhältnis zu seiner physischen Existenz, aber er kapituliert nicht als Person.« (VII,276)

Dieser Gedanke findet sich auch bei Hermann Schmitz und ergibt sich ganz zwingend aus seinem Verständnis von Personalität, weil durch den dynamischen Verbund von personaler Emanzipation und personaler Regression Personalität auf ganz unterschiedlichen Niveaus und in ganz unterschiedlichen sozialen Rollen angesiedelt sein kann, ohne daß Personalität also solche verloren gehen müßte. 1639 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Eine dieser Möglichkeiten neben vielen anderen, zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression hin und her zu pendeln und beide trotzdem aneinander zu binden und miteinander zu versöhnen und zu »integrieren« (LII,77), ist das Lachen, genauer: das lachmündige Lachen auf personaler Stufe, das dann auch durch den uroborischen Impuls geprägt ist, der die Person aus dem Sturz in die personale Regression wieder in den Status personaler Emanzipation zurückführt. Alle Formen des prä-personalen, parapersonalen und post-personalen Lachens kennen, wie wir sehen werden, den uroborischen Impuls nämlich nicht. 2.18.8 Lachen oder Der zentripetale Impuls als Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase Wenn wir nun dazu übergehen, den direkten Beitrag von Hermann Schmitz zur Gelotologie darzustellen, werden wir sehen, daß dieser Beitrag sich im wesentlichen auf die Darstellung und Analyse des lachmündigen Lachens auf personaler Stufe und hier wiederum weitgehend auf das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen konzentriert und, ebenso wie bei Plessner, das Interaktions-Lachen und Resonanz-Lachen weitgehend ausgeblendet wird, weil sich am tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Lachen der Widerfahrnischarakter leiblicher Dynamik besonders deutlich zeigt, und weil sich außerdem die Analyse des Bekundungs-Lachens geradezu aufdrängt, um an ihm die Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression durch Lachen zu illustrieren. Dieses Bekundungs-Lachen wird auch bei Schmitz, ganz wie bei Aristoteles, Joubert, Kant und Plessner, als krisenhafter Prozeß gesehen, der dem Schema Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase folgt. Es wird sich aber zeigen, daß Schmitz darüberhinaus noch einige weitere und überaus wichtige Erkenntnisse anzubieten hat, die wir dann selbst auswerten müssen.

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Lachen oder Der zentripetale Impuls

2.18.8.1 Die Paradoxie des Lachens Wie wir in den Kapiteln 2.3. und 2.8 gesehen haben, bestimmte Aristoteles das Lachen als ein zentrales proprium hominis. Auf diesen Gedanken greift nun auch Hermann Schmitz zurück, gewinnt ihm aber einen ganz neuen Aspekt ab, der ihn in seiner Bedeutung noch weiter erhöht und ihm eine Schlüsselfunktion für die eigene Argumentation verleiht. Da Personalität, auf welchem Niveau auch immer, kein ewig gesicherter Besitz ist, weil wir in mannigfachen Situationen auch wieder zu »Wilden« werden und sogar auf ein quasi-tierisches Niveau abstürzen können, entsteht auf der Stufe der Personalität neben den elementaren natürlichen Bedürfnissen wie Atmen, Essen, Trinken, Schlafen, die wir auch mit allen Tieren teilen, das ganz neue Bedürfnis, diesen Status von Personalität auch zu stabilisieren, sobald er erst einmal erreicht ist. Deshalb schreibt Schmitz über diesen prekären Status von Personalität: »Als Person steht der Mensch zwischen zwei Abgründen: der primitiven Gegenwart, die ihn (zentripetal) bedrängt, jedes Niveau seiner personalen Emanzipation in Frage stellen kann und in der Panik die Person verschlingt, auf der einen Seite, und der Hegel’schen ›Freiheit der Leere‹ (…) auf der anderen. Von der einen Seite droht ihm Erschütterung, Überwältigung, ja Erlöschen der Person, von der anderen (zentripetale) Zersetzung in der Entfremdung von sich: jenes als Gefahr der personalen Regression, dieses als Gefahr der personalen Emanzipation. Der personalen Selbstbehauptung nach beiden Seiten dient die von Natur dem Menschen (als proprium hominis) verliehene und durch Kultur gebildete Kunst, personale Regression und personale Emanzipation in einem einzigen Schwung zu vereinen, so daß durch die Regression Anschluß an die primitive Gegenwart gefunden und der (zentrifugalen) Zersetzung vorgebeugt wird, während in eins damit die (zentripetale) Emanzipation für Stabilisierung eines Niveaus der personalen Emanzipation oberhalb der primitiven Gegenwart sorgt. Die (als proprium hominis vorgegebene) Naturform dieser integrierenden und stabilisierenden Doppelleistung ist das Lachen.« (UG,158)

Und als die verschiedenen Kulturformen dieser die Personalität integrierenden und stabilisierenden Doppelleistung dürfen all die pro1641 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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fanen Rituale des Gottes Gelos gelten, auf die wir bisher gestoßen sind, und die von der Komödie über die eutrapelistische Lachkultur bis zum Humor reichen, der die Haltung kultiviert, auch sich selbst komisch finden und auf das heiterste belachen zu können. Somit dient in dieser Deutung das Lachen dazu, die Person buchstäblich zusammenzuhalten und immer wieder mit sich selbst zu versöhnen. Wir könnten auch sagen: Das Lachen fungiert als Hygiene der Personalität und hat somit eine ganz elementare Lebensfunktion, weil es ein ganz elementares Bedürfnis personaler Existenz zu befriedigen hat. Es gibt, soweit ich sehe, keine Stelle bei den christlichen Kirchenvätern oder bei den Scholastikern, die diesen Gedanken explizit anspricht und kritisiert, aber das tiefe Mißtrauen, das wir bei Johannes Chrysostomus und Aurelius Augustinus und ihren Gefolgsleuten bis herauf zu Bernhard von Clairvaux und den Pietisten dem Lachen gegenüber gefunden haben, könnte darauf zurückzuführen sein, daß sie diese elementare Lebensfunktion des Lachens dunkel ahnten und als fundamentale Provokation des christlichen Erlösungsangebots empfunden haben müssen. Nun haben wir bei Plessner gesehen, daß er den regressiven Impuls des Lachens überaus deutlich heraushebt und es buchstäblich als »das Andere der Vernunft« bestimmt. So spricht er z. B. davon, daß beim Lachen und Weinen »das Eruptive, Zwangshafte und Unartikulierte ihrer Äußerungsform« einer »Bindung an Vernunft und Geist« widerstrebe und diese sogar in die Richtung des »Untermenschlichen« (VII,228) verweise. Oder er betont das »Überwältigtsein vom eigenen Ausdruck« (VII,262) und den »Verlust der Beherrschung im Ganzen« (VII,274), die eine »Desorientierung« (VII,275) des Menschen zur Folge hat, sodaß wir beim Lachen dann »nicht mehr Herr unser selbst« (VII,273) sind. Doch für Plessner ist das Lachen eben nicht nur Regression und nicht nur Selbstpreisgabe, sondern eine durchaus ambivalente Verschränkung von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung und hat somit immer auch ein »rettendes Moment«, weshalb er an zentraler Stelle schreibt: »In der Katastrophe noch, die sein sonst so beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch (als Person). Durch das entgleitende Hineingeraten in einen

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Lachen oder Der zentripetale Impuls

körperlichen Vorgang, der zwangshaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt.« (VII,274)

Diese Paradoxie des Lachens und Weinens stellt auch Schmitz heraus, wenn er die innige Verschränkung von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung, von regressiven und emanzipatorischen Impulsen und damit die dem Lachen immanente Tendenz zur Selbstüberwindung betont: »Ich finde das gemeinsame Besondere des Lachens und Weinens auf dem Gebiet personaler Regression nicht in der Reaktionsweise und schon gar nicht in der Bewahrung des erreichten Niveaus personaler Emanzipation vor dem Regressionsschicksal, sondern in einer teleologischen Tendenz, die durch die Regression hindurch deren Überwindung vorwegnimmt.« (P,116)

Diese teleologische Tendenz zur Selbstüberwindung habe ich den uroborischen Impuls genannt, der dem Lachen wie dem Weinen, aber auch bestimmten Affekten wie Scham und Zorn immanent ist und der bewirkt, daß sich all diese Verhaltensweisen nach dem Prinzip consumendo consumor gleichsam selbst verzehren. Das aber heißt: Wenn das Lachen die Person auf dem schmalen Grat zwischen den beiden Abgründen zentripetaler primitiver Gegenwart und zentrifugalem Zerfließen in Selbstentfremdung sichern und stabilisieren soll, muß es diese beiden Abgründe schon innig verschränkt auch in sich selbst enthalten und miteinander versöhnt haben. Und diese Versöhnung manifestiert sich • zum einen als uroborischer Impuls; • zum anderen als Verschränkung und paradoxe Einheit von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung resp. von personaler Regression und personaler Emanzipation; • und schließlich in der in sich antagonistisch gestotterten Verlaufsgestalt des Lachens selbst. Ich habe schon oben darauf hingewiesen, daß Plessners Befund, Lachen sei die paradoxe Verschränkung von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, sich als noch fruchtbarer erweist, wenn man sie dahingehend erweitert, daß man von Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe und von Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung 1643 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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spricht und damit die ambivalente Verbindung beider Haltungen als eine Skala mit beliebig vielen Stufen oder Graden versteht. Im triumphalen Auslachen-von-oben würde sich dann ein Maximum an Selbstbehauptung bei einem Minimum an Selbstpreisgabe manifestieren; im unverfügbaren verlegenen Lächeln hingegen ein Maximum an Selbstpreisgabe bei einem Minimum an Selbstbehauptung; und beim geloiastischen Gelächter als Echo des Komischen wären beide Haltungen in etwa ausgeglichen. Doch diese elementare Lebensfunktion hat das Lachen nur für den Menschen, weshalb sich von hier aus auch ganz plausibel erklären läßt, warum Tiere nicht lachen: Sie lachen nicht, weil sie es nicht brauchen, und weil sie es nicht brauchen, können sie es auch nicht, denn sie leben ausschließlich in primitiver Gegenwart. Wenn wir mit dieser Erweiterung von Plessners Grundformel nun auch die gelotologischen Befunde von Schmitz überprüfen, ergibt sich folgendes Bild: Zunächst einmal räumt er altvertraute Reduktionismen entschlossen beiseite, wenn er schreibt: »Ohne Grund orientiert sich die Vorstellung vom Lachen meist am heiteren oder lustigen Lachen über komische Szenen, Züge und Pointen, oder über Witze; es gibt aber auch das höhnische, grausame, bittere, verzweifelte, nervöse, verlegene Lachen, sowie das metakritische, in dem sich die Spannung entlädt, nachdem der Lachende gerade noch an einer wirklichen oder scheinbaren Katastrophe vorbeigekommen ist.« (UG,160)

Als weitere Beispiele nennt er: »Lachen der Erlösung von Angst, (das Lachen) des Einverstandenseins, des plötzlichen Verstehens, des Triumphes, der Verlegenheit, der Verachtung, des Spottes, der lustvollen Selbstbestätigung, der Begrüßung, des Vergnügens, hysterisches Lachen, Sympathielachen und Lachen des Geschäftsmanns, das den Kunden in kauflustige Stimmung versetzen soll, das Dauerlachen des haltschwachen Pubertierenden.« (P,120)

An dieser Aufzählung vieler Arten von Bekundungs-, Interaktionsund Resonanz-Lachen fällt auf, daß das Triumph-Lachen als eine Lachart neben vielen anderen angeführt wird, obwohl die »Paradoxie des Lachens« (P,117) für Schmitz doch generell in der innigen Verschränkung von »Preisgabe und Triumph« (P,117) besteht, denn für Schmitz befindet sich jeder Lachende 1644 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachen oder Der zentripetale Impuls

»in einer Haltung, die, wie Plessner sagt, ›zugleich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe‹ verrät, und mehr noch als Selbstbehauptung, nämlich Triumph, den Hobbes als ›sudden glory‹ richtig beobachtet hat.« (P,118)

Die Beispiele aber, die Schmitz anführt, um diese Radikalisierung von Plessners Formel zu belegen, z. B. das Hohngelächter nordischer Recken im Kampf und noch im Sterben (vgl.P,118), sind fast durchweg Varianten des aggressiven Auslachens und insofern auch überzeugend, weil sich im sudden glory-Lachen tatsächlich ein Maximum an Selbstbehauptung mit einem Minimum an Selbstpreisgabe verbindet. Im gellenden Lachen der Verzweiflung (P,119/123) oder im bitteren Lachen Tellheims in Lessings Minna von Barnhelm oder im nicht minder bitteren Lachen Buttlers in Schillers Wallenstein (P,118), mit dem er den Dank Österreichs quittiert, kann ich jedoch keinerlei Triumph erkennen, sondern nur noch Trotz, also einen Rest von Selbstbehauptung. Sehr wohl aber ist das Lachen triumphal, wenn ein altnordischer Sagenheld (vgl. P,123) sich das Herz hohnlachend aus der Brust schneiden läßt, weil dieses Hohnlachen eben ein Auslachen-von-oben ist, mit dem sich der Besiegte noch im Sterben über den Sieger erhebt. 2.18.8.2 Lachen in gemeinsamen Situationen An die Grenzen seiner Grundformel stößt Schmitz, wie er selbst zugibt, bei der Deutung des nervösen Verlegenheits-Lachens, das ich in Kapitel 2.17.4.5.5 als Lachhuster bezeichnet und als gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation gedeutet habe. Für Schmitz stellt sich die Sachlage folgendermaßen dar: »Dabei handelt es sich um ein kurzes Auflachen, das meist schon im Ansatz zusammenbricht und eintritt, wenn der Lachende von einer Betroffenheit, in der er sich als personales Subjekt nicht oder nur mit Mühe behaupten kann, in die Enge getrieben worden ist und nun die in dieser Betroffenheit auf ihn wirkende Macht gleichsam bestechen möchte, indem er ihr die Rolle zuschiebt, auf die sich das unbefangene Lachen gleichsam aus vollem Halse einlassen würde: in einer Weise zu wirken, die das personale Subjekt, das sich ihr dann sorglos preisgeben

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könnte, sichern und erheben würde. Wer nervös und verlegen lacht, möchte also etwas, was ihn in die Enge treibt, mit Hilfe dieses Lachens magisch in etwas umschaffen, das ihn aus der Enge befreit, so daß er, der sich selbst in dieser Lage nicht vertraut, sich diesem Einfluß anvertrauen könnte. Weil der Versuch scheitert, bricht das Lachen zusammen.« (P,123 f.)

Das überzeugt leider nicht, weil in dieser Art von gehemmtem und gleichsam in sich zurückgenommenem Gelächter nicht mal eine Spur von Triumph erkennbar ist. Deshalb empfiehlt es sich, das Verlegenheits-Lachen konsequent als Interaktions-Lachen und deshalb auch als integralen Aspekt eines Verlegenheits-Szenarios zu werten. Das aber hat die methodologische Konsequenz, daß man bei der Analyse derartiger Interaktions-Szenarios die strikte synergetische Analogie von Blicklenkung und Lachgestaltung im Zusammenspiel beider Interaktionspartner zu beachten hat, weil beide über den Blickkontakt ineinander eingeklinkt sind. Wer also den Blick senkt, würgt auch sein Lachen ab, wer aber über den Blick den anderen dominiert, lacht auch sein Lachen triumphal bis zum Anschlag heraus. Und je deutlicher der eine Partner durch den gesenkten Blick und das abgewürgte Lachen seine Niederlage bezeugt, desto deutlicher kann der andere Partner seinen Triumph stolzgeschwellt genießen. Mit anderen Worten: Da alles Interaktions-Lachen immer in einer gemeinsamen Situation gelacht wird, ist das Interaktions-Lachen beider Partner immer in der Form aufeinander bezogen, daß das eine Lachen gleichsam die Hohlform des anderen ist. Ist das Interaktions-Szenario ein symmetrisches, wie z. B. beim gegenseitigen wohlwollenden Anlachen auf Augenhöhe, so ist auch das Lachen beider Partner ein spiegelbildlich ebenbürtiges. Ist das Interaktions-Szenario hingegen ein asymmetrisches, so korreliert z. B. das Verlegenheits-Lachen des einen Partners mit dem triumphalen Hohnlachen des anderen Partners. Wenn wir nun nach dieser methodologischen Zwischenüberlegung wieder zu unserem Verlegenheits-Szenario zurückkehren, ergibt sich ein etwas schärferes Bild. Setzen wir an beim Blickkontakt: Bekanntlich hat der Verlegene oder der sich Schämende größte Mühe, dem auf ihn gerichteten Blick des Anderen oder aller Ande1646 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ren standzuhalten, weshalb sein Blick unstet flackert oder gar irgendwann gesenkt wird, um keinem fremdem Blick mehr standhalten zu müssen. Analog dazu verkommt auch sein Lachen zu einem gehemmten Lachhuster. Schon Aristoteles 65 wußte ja, daß Scham und Verlegenheit ihren Sitz in den Augen und damit im Blick der Anderen haben, und Sartre wußte dies auch, wie aus der oben zitierten Passage hervorgeht, da Sartre wegen seiner krötenhaften Häßlichkeit schon von Kindheit auf das Zusammenspiel von Spott und Scham allzu genau aus leidvoller Erfahrung gekannt haben dürfte. Hätte Sartre in dem berühmten Kapitel über den Scham und Verlegenheit ansinnenden Blick des Anderen auch das Verlegenheits-Lachen beschrieben, so hätte er darlegen können, daß das Lachen des Verlegenen genau wie der Blick des Verlegenen die Tendenz zur zentripetalen Zurücknahme seiner selbst zeigt, weil für den Verlegenen der Spielraum an Verhaltensmöglichkeiten in all seinen Aspekten 66 zentripetal implodiert, sodaß ihm nur noch ein minimaler Rest an Selbstbehauptung verbleibt und die Tendenz zur Preisgabe seiner selbst übermächtig wird, was sich im gesenkten Blick und in der zurückgenommenen Atmung auch mimetisch manifestiert. Und in diese Hohlform des preisgegebenen Spielraums an Verhaltensmöglichkeiten ergießt sich dann triumphal die Dominanz des Anderen. Mächtig gesteigert wird diese Implosion des Verhaltensspielraums für den Verlegenen noch dadurch, daß nicht nur höhnische und verächtliche Blicke auf ihn gerichtet sind, sondern auch noch das Hohngelächter einer ganzen Lachmeute, unter dem sich der Verlachte windet, wie Wilhelm Raabe dies in seinem Hungerpastor schildert. In einem solchen Fall steigert sich das VerlegenheitsSzenario zu einem sadistischen Szenario 67, bei dem Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung völlig auseinandertreten und sich als zwei extreme Formen von Interaktions-Lachen manifestieren: Die Lachmeute lacht ihr konzentrisch adressiertes Auslachen-von-oben bei maximaler Selbstbehauptung und minimaler Selbstpreisgabe, der wehrlos preisgegebene Ausgelachte bettelt bei gesenktem Blick mit einem verzerrten Anlächeln-von-unten, das über sein Gesicht flattert, verzweifelt um Schonung, und oft genug erstirbt auch dieses 1647 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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noch und macht einer starren Maske Platz. Bei diesem sadistischen Szenario kann man also erst recht von triumphalem Lachen sprechen, aber eben nur auf der Seite der Lachmeute. Das wollüstig heitere Gegenstück zum sadistischen Lach-Szenario ist das Kitzel-Lachen. Auch hier liegt wieder eine gemeinsame Situation vor; auch hier sind die beiden Partner ineinander eingeklinkt und zwar so, daß der eine die Szene führt und der andere sie willig ergeben, aber mit Wollust »erleidet«. Auch hier lachen beide Partner, aber auch hier lachen sie auf sehr unterschiedliche Weise, und auch hier ist es der Blickkontakt, der beide Partner in die gemeinsame Situation einschmilzt. Deutlich wird dies z. B. bei einem Kitzel-Experiment, das James Sully in seiner Studie über das Lachen anführt, denn: »Dr. Robinson konnte kein Kind unter drei Monaten durch Kitzeln zum Lachen bringen, ohne es (mit Blickkontakt) anzulächeln und seine Aufmerksamkeit zu erregen.« (P,125)

Und daraus zieht Schmitz den Schluß: »Leibliche Kommunikation scheint also, anders als bei einem Reflex, schon auf diesem tierischen, präpersonalen Niveau zur Auslösung des Lachens durch Kitzel zu gehören.« (P,125)

Aber eben nicht nur auf prä-personalem Niveau vor der Fremdelphase, sondern auch noch danach, denn erst wenn man das Lachen des Gekitzelten nicht als Reflex oder als reines Bekundungs-Lachen wertet, sondern als Interaktions-Lachen in einer gemeinsamen Situation, bringt man es auf den Begriff. Allerdings muß man sich darüber im klaren sein, daß der Gekitzelte nur dann lacht, wenn er eigens die Einstellung williger Hinnahme einnimmt, die beim Kind vor der Fremdelphase aber immer schon vorgegeben ist. Er muß diese Wehrlosigkeit also auch wollen und er muß sie sich leisten können. Liegt diese freiwillige Selbstpreisgabe aber vor, so kann sich das Lachen des Gekitzelten vom Kichern bis zum schreienden Lachen steigern, während das Lachen des aktiven KitzelPartners immer weit weniger ausgeprägt ist, da er ja die Szene führt und sich in dieser Szene nicht preisgeben muß. Zwar windet sich auch der Gekitzelte, genauo wie der Verlegene sich unter dem Hohnlachen der Meute windet oder der Gefolterte unter den Händen eines Folterknechtes, doch dieses Sichwinden ist ein ausgeprägt 1648 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lustbetontes, weil er sich ja freiwillig in diese bedrängende Situation begeben hat und diese freiwillige Hingabe in vollen Zügen und mit einer Wollust genießt, der immer auch ein leichter Hauch von Masochismus beigemischt ist. Man könnte auch sagen, der Gekitzelte genieße seine Regressions-Situation wie eine Wildsau in der Suhle, weil er zwar weiß, daß er sich in die Hände eines mächtigeren Partners begeben hat, aber eben auch weiß, daß dieser »es nicht ernst meint«, wenn er ihn anfaßt. Deshalb leuchtet es auch ein, wenn Arthur Koestler das Kitzeln als einen »Scheinangriff« (S. 76) resp. als einen »sexuellen Scheinangriff« (S. 76) deutet, »als eine Liebkosung in leicht aggressivem Gewand. (…) Denn der Scheinangriff bringt das Kind nur dann zum Lachen, wenn es weiß, daß es tatsächlich ›Schein‹ ist. Aber das weiß es bei Fremden ja nie.« (S. 76)

Dies wohl deshalb, weil man sich allein dem hinzugeben bereit ist, den man kennt und vertraut und außerdem auch noch mag, mit dem man also bereit ist, als der Schwächere eine asymmetrische gemeinsame und eventuell auch erotisch gestimmte Situation einzugehen. So gesehen könnte man das Kitzel-Szenario auch als eine spielerisch heitere Erotomachie verstehen. Ich habe die Art der Berührung beim Kitzeln schon mehrfach 68 als eine Folge von epikritischen Berührungs-Pointen bezeichnet, als schonend zarte und gleichsam gehauchte Berührung mit der Tendenz, sich in sich selbst uroborisch zurückzunehmen, weshalb sich eine spitze, aber weiche Feder besonders gut dazu eignet, diesen spezifischen Kitzelreiz 69 auszulösen. Diese Art der Berührung liegt zwar auch dann vor, wenn uns eine Fliege übers Gesicht läuft, die wir aber sofort verscheuchen, weil niemand bereit ist, sich einer Fliege 70 preiszugeben. Wenn man den Kitzelreiz nun mit einem Juckreiz vergleicht, so weiß jeder, daß man den Juckreiz ebenfalls und meist durch Kratzen genau verscheuchen möchte wie einen lästigen, beirrenden Fremdkörper. Wird der Juckreiz aber unerträglich, so möchte man geradezu aus der Haut fahren, was man, wenn man in einer gemeinsamen Situation gekitzelt wird, nie möchte; hier möchte man sich eher noch tiefer in diese Suhle an Wollust hineinwühlen. Auf 1649 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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diese Analogie zwischen einem Kitzel-Szenario und einer Erotomachie verweist auch Hermann Schmitz, wenn er schreibt: »Die Verwandtschaft mit dem Kampf ergibt sich ohne weiteres aus der Kampfnatur der leiblichen Intensität, der simultanen Konkurrenz von Spannung und Schwellung, die die Wollust (namentlich die starke) in die Nachbarschaft von Kampf und Arbeit rückt. Die Preisgabe führt den Gekitzelten also zum Triumph einer Wollust, die aber mit Angst und Schmerz so nah verwandt ist, daß sie auch als Qual aufgefaßt werden kann.« (P,125 f.)

Auch hier kann ich nicht ganz folgen, weil ich im wollüstigen Lachen des Gekitzelten keinen Triumph erkennen kann, sondern nur einen minimalen Rest von Selbstbehauptung, denn wer triumphiert schon im Zustand freiwilliger Wehrlosigkeit. Aus diesem Grund habe ich oben in Kapitel 2.17.4.5.4 das Lachen des Gekitzelten ja auch als hinhaltende Hingabe an eine heiter erhebende, aber nicht als hinhaltende Hingabe an eine triumphale Situation bestimmt, denn erhebend und heiter ist die Situation des Gekitzelten, weil sie lustvoll ist; und hinhaltend ist die Hingabe, weil sich der ambivalente Charakter dieser Hingabe an Spannung und Schwellung als Lachen manifestiert. Von Triumph kann ich auch im Lachen dessen nichts erkennen, der im Kitzel-Szenario die Szene führt, denn bei dieser gemeinsamen Situation ist sein Interaktions-Lachen ja ein Anlachen und kein triumphales Auslachen, also eine Form überaus wohlwollender Zuwendung zum Partner und keine triumphale Erhebung über ihn. Mit all dem müßte nun auch klargeworden sein, zu welcher Gattung von Gelächter das Kitzel-Lachen gehört. Von Aristoteles bis zu Hecker, Plessner und Koestler hat man es als Reflex gedeutet und deshalb dem Bekundungs-Lachen zugeordnet. Ein echter Reflex wie z. B. der Würgereflex, den man auch an sich selbst auslösen kann, wenn man das Zäpfchen berührt, kann es nicht sein, weil man sich nicht selbst durch Kitzeln zum Lachen bringen kann. Da es aber eindeutig Lachen ist, auch wenn Plessner und Joubert 71 dies energisch bestreiten, kann es nur eine Variante des Interaktions-Lachens in einer gemeinsamen Situation sein, also eine Form leiblicher Kommunikation, die durch Blickkontakt gestiftet wird. Dies 1650 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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als erster erkannt zu haben, ist das große Verdienst von Hermann Schmitz, und er konnte dies nur erkennen, weil er das Wesen leiblicher Kommunikation erkannt hatte und damit die Diskussion über das Kitzel-Lachen ruckartig auf ein ganz neues Niveau gehoben hat. 2.18.8.3 Das Lachen als Korrelat des Komischen und Lächerlichen Seit Platon und Aristoteles die Diskussion über das Wesen des Komischen und Lächerlichen eröffnet haben, ist man sich zwar darüber einig, daß das geloiastische Lachen das Korrelat des Komischen und Lächerlichen ist, hat dieses Lachen dann aber, mit Erwin Straus gesprochen, eher als Geschehnis denn als Erlebnis oder mit Hermann Schmitz gesprochen, eher als objektive denn als subjektive Tatsache angesehen. Am ausgeprägtesten geschah dies bei den Gelotologen, die das Lachen als Hydraulik der Lebensgeister beschrieben haben, also bei Descartes und Hobbes, und bei den Vertretern der energetischen Schule von Spencer bis herauf zu Freud und Lorenz. Andere wie Joubert, Kant und Plessner, denen wir die wichtigsten Einsichten in das Wesen des Lachens verdanken, verstanden Lachen als krisenhaften Prozeß mit Pointenstruktur und orientierten sich, bewußt oder unbewußt, an dem Schema Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase, und dies verrät, daß sie zumindest geahnt haben, daß auch das Lachen zu den subjektiven Tatsachen gehört. Am deutlichsten hat dies Jean Paul formuliert, wenn er schreibt, daß »das Komische, wie das Erhabene, nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte.« (49,118) An dem Punkt setzt nun auch Hermann Schmitz mit seiner Deutung des Komischen und Lächerlichen an, das er als Dementi der Personalität versteht, aber eben nicht als zerstörerisches oder vernichtendes, sondern als »personal integrierendes Dementi« (P,131). Um deutlich zu machen, was damit gemeint ist, müssen wir noch mal einen zentralen Aspekt von Personalität rekapitulieren. Sobald nämlich der Mensch die Fremdelphase hinter sich gebracht hat und Person geworden ist, ist er laut Schmitz beständig zwei Gefahren ausgesetzt, einer zentripetalen und einer zentrifuga1651 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

len, also der primitiven Gegenwart, die ihn bedrängt und auf die Stufe vor der Fremdelphase zurückzuwerfen droht, und der absoluten personalen Emanzipation, die ihn in die Entfremdung von sich selbst entgleiten läßt und ihn gleichsam zu zerbröseln droht, und deshalb gilt: »Stabilisierung und Integration sind die beiden Richtlinien des Bedürfnisses, sich in dieser schwierigen Stellung zu behaupten: Stabilisierung gegenüber den Anfechtungen des Niveaus personaler Emanzipation durch die primitive Gegenwart, und Integration des personalen Subjekts (…) zum Ganzen der Person.« (P,131)

Damit man diesen beiden Versuchungen aber nicht verfällt, wenn man gleichsam spielerisch an beiden nascht, gibt es das Lachen als das in der Natur des Menschen vorgegebene proprium hominis. Zur gezielten Abrufung dieses Vermögens nach dem Akt-Potenz-Modell aber dienen bestimmte kulturelle Rituale des Gottes Gelos, die dem Lachen einen Ort im Leben sichern sollen, und dazu wiederum gehört zentral die Hegung des Komischen und Lächerlichen. Somit dient insbesondere das Lachen als Korrelat des Komischen und Lächerlichen in seinen kulturell organisierten Ritualen der Hygiene der Personalität: »Ihr für den Menschen entscheidender Ertrag ist die Integration, die der Gefahr einer Absonderung des personalen Subjekts dadurch entgegenwirkt, daß das jeweilige Niveau personaler Emanzipation als ein komisches (oder lächerliches) unterminiert, gesprengt und der primitiven Gegenwart zugeführt wird, aber nicht, um panisch in dieser zu versinken, sondern so, daß der Spielraum personaler Emanzipation in dem komischen (oder lächerlichen) Zwischenfall erhalten bleibt oder von diesem aus (uroborisch) wiederhergestellt wird und das personale Subjekt, wie nach einem Tauchbad gleichsam getränkt mit primitiver Gegenwart, seiner Zusammengehörigkeit mit dieser sowie seiner Eigenständigkeit ihr gegenüber stärker inne wird.« (P,131 f.)

Nichts anderes besagt ja auch der Nomos eutrapelistischer Lachkultur von Aristoteles bis Kant und der Appell des Horaz: »insipere aude in loco«, die beide der Hegung des Komischen und des darauf antwortenden geloiastischen Lachens dienen. Von hier aus zeigt sich aber auch, wie wahnhaft und gefährlich für diese »schwebende Stabilisierung« (P,131) von Personalität all die Versuche sind, das 1652 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachen aus dem Leben zu verdrängen, wie wir es in der platonischstoisch-christlichen Tradition kennengelernt haben, und wie lebensklug andererseits all die Versuche seit Aristoteles sind, dem Lachen einen festen Platz im Leben zuzuweisen, weil nur dadurch der Gefahr personaler Versteinerung entgegengewirkt werden kann. Die verschiedenen Theorien des Komischen, die Schmitz 72 referiert, müssen wir hier nicht noch mal darlegen, einmal deshalb, weil wir auf sie schon eingegangen sind, vor allem aber deshalb, weil sie alle das Komische ausschließlich im Objekt lokalisieren. Dies gilt besonders für die Theorien, die sich seit Aristoteles, Cicero und Quintilian an der Rhetorik orientieren und nach den komischen Möglichkeiten suchen, die die Sprache bereithält und die in der Kultur der eutrapelistischen ars iocandi et ridendi als PrädikatenKomik gepflegt und belacht worden ist. Die Analyse komischer und lächerlicher Gestaltverläufe variierte, wie wir gesehen haben, seit Platon eigentlich immer nur den Sturz des Thales als Tücke der Situation 73, weil dies ja in der Tat eine unerschöpfliche Quelle von Komik und Lächerlichkeit ist, und besonders ausführlich taten dies Laurent Joubert 74 und Henri Bergson 75. Doch warum gerade diese Quelle so unerschöpflich ist, haben sie alle nicht gefragt, und genau hier setzt Hermann Schmitz an. Platons Analyse dieser Situation war, wie wir gesehen haben, völlig ungenügend. Joubert hatte die Komik und Lächerlichkeit des Stolperns und Stürzens in engster Anlehnung an Aristoteles und Cicero als »nicht häßliche Häßlichkeit«, also als difformen oder ungestalten Gestaltverlauf bestimmt und damit als ungefährlich-unbedrohliche Verletzung einer kulturellen oder natürlichen Norm, weshalb seine Definition lautete: »Alles, was wir als häßlich, deformiert, ungehörig, unpassend, unanständig und ein wenig daneben empfinden, reizt in uns das Lachen, es sei denn, wir empfänden Mitleid.« (S. 16)

Dann beschreibt er ausführlich verschiedene Arten von Stürzen, die, je nach Einstellung des Betrachters zum Gestürzten, diesen als komisch oder als lächerlich erscheinen lassen und fügt dann hinzu: »Wenn jemand jedoch von sehr hoch oben in den Dreck fällt, lachen wir kaum, weil solch ein Sturz uns gefährlich erscheint und wir be-

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fürchten, der Stürzende könnte sich verletzen. (…) Sobald sich also auch nur ein Hauch von Sorge um den Gestürzten einstellt, regt sich das Mitleid und das Lachen erstirbt.« (S. 19 f.)

Aus dieser Beschreibung hatten wir den Schluß gezogen, Joubert habe komische und lächerliche Gestaltverläufe allgemein bestimmt als eher harmlose Privation des »ausgezeichneten Verhaltens« im Sinne von Kurt Goldstein 76 und dieses »ausgezeichnete Verhalten« wiederum als die Signatur personaler Emanzipation im Sinne von Hermann Schmitz bzw. umgekehrt die Privation des »ausgezeichneten Verhaltens« als die Signatur personaler Regression. Und daraus wiederum haben wir den Schluß gezogen, unser Lachen über die unbedrohliche personale Regression des Anderen beim Sturz sei das mimetische Echo der personalen Regression des Anderen als eigene personale Regression in Form von Gelächter. Schmitz bezeichnet die Privation des »ausgezeichneten Verhaltens« als komisches »Dementi der Personalität«, wie sie v. a. beim Stolpern und Stürzen auftritt, »in dem die Zerstörung eines Niveaus personaler Emanzipation, die personale Regression im plötzlichen Betroffensein eklatant vor Augen stehen« (P,134), denn hier zeige sich, »daß es dabei nicht erst auf den Umschlag vom (tatsächlichen oder angemaßten) Erhabenen zum Lächerlichen, auf das Umkippen aus einer überhöhten Stellung oder einem überhöhten Anspruch, ankommt, sondern schon der plötzliche Verlust der aufrechten, festen Haltung – eines Wahrzeichens personaler Emanzipation – genügt.« (P,134 f.)

Oder anders formuliert: »Für die Komik des Stolperns kommt es (…) nicht darauf an, daß ein Entwurf, in den sich ein Mensch als personales Subjekt sozusagen hineingesteigert hat, durch ein Betroffensein dementiert wird, das sein Niveau personaler Emanzipation zum Einsturz bringt und in personale Regression umschlagen läßt. Für diese gibt es kein sinnfälligeres Wahrzeichen als das Hinfallen, möglichst mit den Beinen nach oben. Daher wirkt solches Stolperfallen bei etwas aufgebauscht großartigem Eintritt über die Schwelle besonders komisch.« (P,141)

Man muß nur noch mit Aristoteles und Joubert hinzufügen, daß der Sturz für den Betrachter nicht als gefährlich empfunden werden darf, weil sonst das Gelächter sofort erstirbt, es sei denn, man gönne 1654 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dem Gestürzten die Verletzung, die er dabei erfahren könnte, aber dann ist der Sturz schon nicht mehr komisch, sondern lächerlich und man lacht ihn gerade deshalb gnadenlos aus. Wir haben gesehen, daß dieses Verlachen bei Bergson der Normalfall ist, weil für ihn nur mit gnadenlos anästhesiertem Herzen gelacht wird. Nicht weniger reduktionistisch geht Bergson vor, wenn er das Dementi lebendiger Gestaltverläufe ausschließlich in ihrer Deformierung ins mechanisch starr Maschinenhafte sieht, weil es daneben noch eine unendliche Fülle anderer Privationen des ausgezeichneten Verhaltens als Signatur personaler Emanzipation gibt. Worauf Schmitz nicht eigens eingeht, ist die von Jean Paul aufgeworfene Frage, wie die Wahrnehmung komischer Gestaltverläufe durch Einleibung erfolgt, wodurch diese auch zu subjektiven Sachverhalten werden, weil sie auch im Subjekt der Wahrnehmung »wohnen«. Schmitz verweist zwar einmal in einem ganz anderen Zusammenhang darauf, daß »Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere (…) am eigenen Leibe gespürt werden können« (GuR,627), geht hier aber nicht eigens auf komische Gestaltverläufe ein. Dies ist auch dort nicht der Fall, wo er im letzten Band des Systems verschiedene Theorien der Partnerfindung 77 als Gegenthese zu den Projektions- und Einfühlungs-Theorien diskutiert und dabei das schlagende Argument des Mitgehens anführt: »Es gibt eben auch (…) eine wichtige Wahrnehmungsweise, ›mit verkehrten Fronten‹, wobei das Fremde mit seiner Andersartigkeit am eigenen Betroffensein gespürt wird, nicht an Signalen, die einer Außenwelt zugerechnet werden könnten. (…) Den verhaltenen Zorn, den Ärger, das Mißbehagen des Anderen erfaßt man z. B. nicht bloß an seinem Gesichtsausdruck oder anderen, oft unwägbaren Symptomen, sondern eher noch am eigenen peinlichen oder befremdeten oder erschrockenen Beteroffensein, und seines Behagens, seiner gelösten und entspannten Aufgeschlossenheit wird man so recht dadurch inne, daß Einem selbst dabei das Herz aufgeht; dem eigenen leiblichen Befinden entnimmt der Feinfühlige leicht direkter und subtiler etwas über den Gesprächspartner, als der Beobachtung des Gesichts, der Hände, der Haltung oder dem Lauschen seiner Stimme.« (AG,82)

Doch: 1655 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

»Dieses unvermittelte Haben und Spüren des Anderen als des Anderen am eigenen Leib ist leicht aus der spontanen, eventuell ganz flüchtigen Bildung eines übergreifenden Leibes in wechselseitiger Einleibung zu verstehen, worin die Partner gleichsam auseinander hervor ihr Maß für sich selber nehmen und weniger sich nach einander richten als nach einander gerichtet sind, indem sie sich gegenseitig die Rolle des dominierenden Engepols und Richtungszentrums zuspielen. Im Zutunhaben und Beisammensein von Partnern mit einander werden sich, wenn diese nur einigermaßen sensibel und aufmerksam sind, wohl immer beide Quellen des Bescheidwissens über einander mischen: Wahrnehmung von Symptomen wie Blick, Stimme, Gebärde Haltung, Gesichtsausdruck einerseits, das ›Berührtwerden‹ vom Partner als Modifikation des eigenen leiblichen Befindens durch Betroffensein in der Begegnung andererseits.« (AG,83)

Hier werden wir anzusetzen haben, um die von Jean Paul aufgeworfene Frage zu beantworten. Zunächst werden wir seine These dahingehend umzuformulieren haben, daß komische Gestaltverläufe im Objekt und zugleich im Subjekt »wohnen«, um dann die Frage anzuschließen, wie beides, mit Erwin Straus gesprochen, als komisches Geschehnis und als komisches Erlebnis wahrgenommen werden kann. Doch dies soll erst im systematischen Teil dieser Studie in einem eigenen Kapitel geschehen. 2.18.8.4 Die Lebensfunktion des Humors Wir sind in der Problemgeschichte der Gelotologie immer wieder auf Autoren gestoßen, die ein Loblied auf das Lachen anstimmten. Der erste war Aristoteles, der das Lachen als ein proprium hominis verstand, und das Echo dieser ersten Hymne auf das Lachen ertönte in der Problemgeschichte der Gelotologie immer dann, wenn Aristoteles als Autorität neu entdeckt und akzeptiert worden ist. Im Hochmittelalter hob z. B. Wilhelm von Conches 78 zu einer Hymne auf den heiteren Schöpfergott an, aus dessen Hand ein heiter lachender Adam entsprang, weil ihm sein Gott lachend eine Seele einhauchte. Nicht weniger enthusiastisch ist die Éloge du Ris von Laurent Joubert im 16. Jahrhundert, wenn er schreibt: 1656 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Es gibt nichts Wunderbareres als das Lachen, das Gott unter all den Geschöpfen allein dem Menschen verliehen hat, da der Mensch selbst auch unter all den Geschöpfen das bewunderungswürdigste ist.« (S. 142)

Daß Lachen ein »irdisches Vergnügen in Gott« ist, betont auch Brockes in der Epoche der Heiteren Aufklärung, denn in seinem Gedicht auf das Lachen verkündet er: »Daß GOtt, vor allen anderen Thieren, auf Erden uns vergnügen wollen, Und daß es eigentlich Sein Wille, daß wir uns auch vergnügen sollen, Davon scheint in der That das Lachen ein deutlicher Beweis zu seyn, Als welches allen Thieren fehlt, es hat es bloß der Mensch allein. (…) Drum bleibt mein erster Lehr-Satz fest, zu welchem ich mich wieder lenke: Das Lachen selbst zeigt GOttes Güte, und ist ein göttliches Geschenke.« (7,687)

Ähnlich, wenn auch nicht ganz so fromm, formuliert es Kant, wenn er meint: »Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung, und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können.« (V,439)

Für Kant, der mit diesen Sätzen an das von Horaz verkündete Programm des heiteren Weisen »Desipere aude in loco!« anknüpft, war, wie wir gesehen haben, das heitere Lachen die Versöhnung mit dem Anderen der Vernunft. Auf diese apotropäische Funktion des Lachens verweist nun auch Hermann Schmitz, fügt sie aber gleich an zentraler Stelle in eine umfassende Kulturtheorie als Hygiene von Personalität ein, die gleichsam auf drei Säulen ruht: • Einmal auf der in der Natur des Menschen als proprium hominis vorgegebenen Fähigkeit zum Lachen; • zum anderen auf kulturellen Ritualen, die insbesondere durch die gezielte Organisation von Komik aller Art Gelegenheiten zum Lachen anbieten; • und drittens auf der Bereitschaft, diese Gelegenheiten auch willig anzunehmen, also in der Kultivierung von Humor. 1657 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Hermann Schmitz

Ausgangspunkt ist für Schmitz der Gegensatz von Humor und Verstiegenheit, die er als zwei polarkonträre Arten des Umgangs mit dem Anderen der Vernunft einander gegenüberstellt: »Humor ist der Verstiegenheit entgegengesetzt. Verstiegenheit ist Verhärtung auf einem Niveau und einem Stil personaler Emanzipation gegen die Chance unwillkürlichen Betroffenseins, gegen das gefährliche und doch zur Reifung unentbehrliche Sich-einlassen auf personale Regression. Humor ist die Kunst, solche Verhärtung durch Elastizität und Relativierung jedes Niveaus personaler Emanzipation zu überspielen und abzufangen und sich dafür eines harmonischen, wenn auch prekären Zusammenwirkens personaler Emanzipation und personaler Regression zu bedienen. Dazu gehört auch das Ausspielen eines Niveaus gegen ein anderes, das dementiert und dem Zusammenbruch in personaler Regression überlassen wird.« (UG,163)

Anders und als Szenario formuliert: Humor ist, so gesehen, die Fähigkeit und Bereitschaft, sich vor dem Einstieg in die vertikale Sackgasse der Verstiegenheit wie ein Bungee-Springer in die Tiefe der eigenen prä-personalen Animalität vor der Fremdelphase fallen zu lassen, weil man darauf vertraut, daß man dabei nicht ins Bodenlose fällt und dort verkommt, sondern durch das Seil des uroborischen Impulses gesichert ist und wieder zum Ausgangspunkt des Sturzes, also zum vorher eingenommenen Punkt zurückgeholt wird. Erst der Mut, diesen Sturz zu wagen, verbunden mit dem Bewußtsein, auf diese Weise gesichert zu sein, verleiht diesem Sturz den überaus lustvollen Charakter. Dehnt sich dieses Seil aber so weit, daß man auf dem Boden landet, so ist der Sturz zwar kein Sturz ins Bodenlose, aber doch ein Sturz ins Krankenbett und wenn man viel Glück hat, erholt man sich vielleicht auch dann wieder und steht irgendwann mal wieder auf, hat aber das Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein. »Wo aber entfaltete Gegenwart an primitive preisgegeben wird – im elementar-leiblichen Betroffensein von Angst, Schmerz, Wut, Scham, in Sucht, Hysterie und Panik, Erschütterung, Grauen, völliger Erschöpfung und Fassungslosigkeit – hat der Humor ein Ende.« (UG,163)

Man könnte auch sagen: Immer dann, wenn der zentripetale Impuls übermächtig wird, ist der Humor am Ende und das Lachen erstirbt. 1658 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Reißt das Seil des uroborischen Impulses aber tatsächlich, wie dies in pathologischen Fällen geschieht, so ist der Sturz tatsächlich ein Sturz ins Bodenlose und man verkommt in der primitiven Gegenwart prä-personaler, para-personaler oder gar post-personaler Existenz. So gesehen ist es also nicht übertrieben, wenn Schmitz zu dem Ergebnis kommt, das spielerische Naschen an personaler Regression sei geradezu ein Jungbrunnen, aus dem sich personale Existenz immer wieder aufs neue regeneriert: »Das Tauchbad personaler Regression ist also unerläßlich für das personale Subjekt, um (auf diesem Umweg) zu sich zu kommen; ohne diese kann es sich nicht finden, sondern in einseitiger Verstiegenheit nur verlieren. Bloße personale Emanzipation gibt der Person nämlich keinen Umriß, weder durch objektive noch durch subjektive Tatsachen.« (NG,181)

Das jeweilige Niveau personaler Emanzipation ergibt sich, wie schon Herder betont hatte, »durch Erfahrung, Lehre und Gewohnheit« und ist somit ein »allmählich erworbener Zustand« (29,20), weshalb dieses durch die Natur und Kultur geprägte Niveau personaler Emanzipation sehr unterschiedlich hoch sein kann. Im Kapitel über »Stile personaler Emanzipation« (P,45 ff.) listet Schmitz denn auch eine ganze Skala derartiger Stile auf, die vom labilen haltschwachen Niveau von Kindern (P,49 ff.) und Jugendlichen (P,52 ff.) bis zu rollenhaft stabilisierten Stilen reichen. Hier nennt er v. a. die Stoiker (P,56 ff.), die das Apatheia-Ideal der Unbedrängtheit von affektiven Schüben bis zum Exzeß kultivierten, Husserls Ideal der verabsolutierten kategorialen Einstellung im Sinne Goldsteins, die dem Leben distanziert forschend zusieht (P,60), Fichtes »Radikalisierung der personalen Emanzipation« (P,62) durch die selbstherrliche Tathandlung der Ichsetzung (P,75) zu verabsolutierter »Ichheit und Selbständigkeit« (P,71), die die drohende Gefahr der Selbstentfremdung sofort nach sich zieht. Er hätte auch noch die Rollenfächer des philosophischen Narren 79, das Idealbild des benediktinischen Mönchs 80, des Höflings als lachfreudigen homo facetus 81 oder des Dandys 82 erwähnen können, auf die wir im Verlauf unserer Problemgeschichte des Lachens gestoßen sind. Entscheidend beim gelebten Vollzug all dieser Rollenfächer ist für Schmitz nicht so sehr das jeweilige Niveau der damit bestimm1659 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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ten personalen Emanzipation nach dem Prinzip »Je höher, desto erstrebenswerter und verehrungswürdiger«, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit, dieses jeweilige Niveau immer auch wieder verlassen zu können und sich in den Jungbrunnen personaler Regression fallen zu lassen. Sind die jeweiligen Niveaus und Stile personaler Emanzipation jedoch durch bestimmte Rollenvorgaben dogmatisiert, weil sie durch irgendwelche Sollens-Ethiken festgeschrieben wurden und unbeirrbar gläubig befolgt werden, so versteinert die Person geradezu auf ihrem jeweiligen Niveau personaler Emanzipation zum Denkmal ihrer selbst und kann nicht mehr angemessen auf die ständig wechselnden Situationen reagieren, die das Leben mit sich bringt. Einen derartigen Dogmatismus sieht Schmitz auch in Freuds Programm: »Wo Es war, soll Ich werden« (LII,80), das er mit Recht als den »einflussreichsten modernen Platonismus« (LII, 80) bezeichnet, denn: »Freud ahnt nicht, dass er mit dieser Absage an die Autonomie des Präpersonalen, an den Antagonismus und die Aufrührbarkeit des vitalen Antriebs, an die zwar kontrollierbare, aber nie in die Herrschaft der Kontrolle personaler Emanzipation ganz einfangbare personale Regression das Ich (die Personalität) selbst zerstören will, nämlich die personale Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, zur Rechenschaft, zur Übernahme der Verantwortung, zur Wahl des eigenen Platzes in der Umgebung.« (LII,80)

Von hier aus gesehen zeigt sich noch einmal, wie unmenschlich und weltfremd eine Sollens-Ethik in platonisch-stoisch-monastisch-pietistischer Tradition ist, die das Lachen aus dem Leben zu verbannen sucht, weil sie ihre Anhänger gleichsam in die vertikale Sackgasse der Verstiegenheit festklemmt und ihnen damit den weitaus angenehmsten Weg zu den Quellen der Erneuerung abschneidet. Verdienstvoll ist dieser Kult der Humorlosigkeit allenfalls insofern, als die daraus resultierenden Ernsthaftigkeits-Posen die Spott- und Lachbereitschaft der Umgebung provozieren, für die dann ein von sich selbst ergriffener und feierlich einher wandelnder Stefan George zum »Weihenstephan« wird. Konsequent gelebt wird Humor aber erst, wenn man die Fähigkeit und Bereitschaft aufbringt, auch sich selbst und sein eigenes 1660 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Bilanz und Ausblick

Verhalten in bestimmten Situationen komisch zu finden und heiter zu belachen. Doch dies haben wir ja schon durch den Nomos eutrapelistischer Lachkultur von Aristoteles bis Kant erfahren. 2.18.9 Bilanz und Ausblick Wie wir gesehen haben, nimmt Hermann Schmitz das Lachen noch viel ernster als all die Autoren, die wir bisher behandelt haben, weil seine Gelotologie über die Stufen Gegenwärtigkeit, Leiblichkeit und Personalität zielstrebig auf eine Kulturtheorie und eine eudämonistische Könnens-Ethik zusteuert, die auf dem Ethos des Humors gegründet ist und damit die Gelotologie als Teilbereich der praktischen Philosophie installiert, die das Lachen nicht als eine angenehme Zutat zum alltäglichen Leben gewertet wissen will, auf die man eventuell auch verzichten könnte wie auf überflüssigen Luxus, sondern als existenznotwendiges Bedürfnis zur Stabilisierung von Personalität ausweist. Vergleichbar in der Bereitschaft, dem Lachen einen derart hohen Wert zuzusprechen und es in dieser Weise wirklich ernst zu nehmen, ist mit Schmitz allein Aristoteles, dessen These, das Lachen sei ein proprium hominis, nun in einem ganz neuen Licht erscheint und eine ganz neue und viel tiefere Begründung erfahren hat, die sich in dem Satz zusammenfassen ließe: Das Lachen hält zwar nicht Leib und Seele zusammen, sehr wohl aber die Person, »denn das Lachen befriedigt auf die angegebene, höchst elegante Weise ein im Wesen der Person tief verwurzeltes dringendes Bedürfnis nach Integration und Stabilisierung.« (UG,159)

Und damit wäre ein Rahmen abgesteckt, den es nun im systematischen Teil dieser Studie mit eigenen Gedanken zu füllen gilt. Anmerkungen 1 Hermann Schmitz: Goethes Alterdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 2/2008 (zit. als »GA«). 2 Hermann Schmitz: Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010. 3 Vgl. dazu Anmerkung 2 zu Kapitel 2.12.

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Franz Koppe: Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1983, S. 129. Marie Luise Kaschnitz: Nicht nur von hier und heute. Ausgewählte Prosa und Lyrik, Stuttgart 1971, S. 310. 6 Hermann Schmitz: Die Gegenwart, Bonn 1964, S. X (zit. als »G«). 7 Vgl. dazu Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum, Bonn 1968, S. 338 ff. (zit. als »GR«). 8 Vgl. dazu Kapitel 2.12.5.2. 9 Hermann Schmitz: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977, S. 140 (zit. als »GuR«). 10 Hermann Schmitz: Die Person, Bonn 1980, S. 114 (zit. als »P«). 11 Schmitz: G,IX bzw. Goethe 4,21; vgl. dazu auch Goethes Aufsatz: Bedeutende Förderung durch ein einziges geistreiches Wort (38,77 ff.). Das geistreiche Wort bestand für Goethe darin, daß Heinroth geschrieben hatte, Goethes Art des Anschauens sei »selbst ein Denken«, und »sein Denken ein Anschauen«. 12 Martin Buber: Die fünf Bücher der Weisung, Köln/Olten 1954, S. 9. 13 Erwin Straus: Geschehnis und Erlebnis, Berlin 1930, S. 31. 14 René Descartes: Discours de la méthode. Französisch – Deutsch, Hamburg 1997, S. 54. 15 René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. v. Artur Buchenau, Hamburg 1994, S. 67. 16 Kamlah/Lorenzen, S. 51. 17 § 148/4,20; vgl. dazu auch Goethes Aufsatz von 1783: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (38,68 ff.). 18 Vgl. dazu Schmitz: G,29. 19 Vgl. dazu Schmitz: G,28 f. 20 Vgl. dazu Schmitz: G,30. 21 Vgl. dazu Plessners Aufsatz: Soziale Rolle und menschliche Natur, X,227–240. 22 Vgl. dazu Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 34–40. 23 Vgl. dazu Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998. Für Schmitz selbst war dieses Werk »weniger eine Einführung als eine Irreführung in die Neue Phänomenologie«; vgl. Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 275 (zit. als »SpG«). Jan Slaby hingegen findet, Soentgens Werk sei eine »exzellente, undogmatische Einführung«; vgl. Jan Slaby: Gefühl und Weltbezug, Paderborn 2008, S. 323. Hermann Schmitz hat auch selbst zwei Einführungen in seine Philosophie vorgelegt: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, und: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009. Als Einführung läßt sich auch das Werk lesen: Hans Werhahn (Hg.): Neue Phänomenologie. Hermann Schmitz im Gespräch, Freiburg 2011. Anregungen für dieses Kapitel konnte ich folgenden Werken entnehmen: Michael Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994; Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, hg. v. Annette Barkhaus, Matthias Mayer, Neil Roughley und Donatus Thürnau, Frankfurt a. M. 1996; Philipp Thomas: Selbst5

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Anmerkungen

Natur-Sein. Leibphänomenologie als Naturphänomenologie, Berlin 1996; Thomas Fuchs: Leib. Raum. Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000; Gudula Linck: Leib und Körper. Zum Selbstverständnis im vormodernen China, Frankfurt a. M. 2001; Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003. 24 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990 (zit als »UG«). 25 Vgl. dazu Kamlah/Lorenzen, S. 111–116. 26 Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 96 f. (zit. als »NG«). 27 Vgl. dazu Kapitel 2.11.4. 28 Vgl. dazu Rudolf Bilz: Die unbewältigte Vergangenheit des Menschengeschlechts, Frankfurt a. M. 1967, S. 242–275, hier v. a. S. 245 und S. 247. 29 Vgl. dazu Lenz Prütting: Schwimmen, Hängen, Aussetzen. Drei Formen personaler Regression auf der Szene. Ein Beitrag zur Anthropologie des Schauspielers, in: Forum Modernes Theater 14,1 (1999), S. 3–30. 30 Vgl. dazu Kapitel 2.17.4.5.5. 31 Hans Werhahn (Hg.): Neue Phänomenologie. Hermann Schmitz im Gespräch, Freiburg 2011, S. 22. 32 Vgl. dazu Kurt Goldstein: Über Zeigen und Greifen, in: Der Nervenarzt 4, 1931, S. 453–466. 33 Vgl. dazu Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1965, S. 86 ff. 34 Christoph Demmerling: Den Leib zur Sprache bringen. Überlegungen zur LeibKörper-Unterscheidung, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 36, 2011, S. 7–25, hier S. 14; vgl. dazu auch Christoph Demmerling/Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, S. 21 f. 35 Johann August Eberhard’s synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache, hg. v. Friedrich Rückert, Berlin 12/1863, S. 535. 36 So z. B. im »Hoffmeister« oder im »Schmidt«, aber auch noch im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« von Ritter/Gründer. 37 Vgl. Kapitel 2.17.3. 38 Werhahn, S. 22. 39 Werhahn, S. 23. In den Ergänzungen zu den beiden Zitaten nehme ich einen Vorschlag von Jens Soentgen (S. 23) und Jan Slaby (S. 327) auf, die zur Erwähnung geben, den Ausdruck »Leib« durch den Ausdruck »leibliches Feld« zu ersetzen, um der Versuchung zu entgehen, den Leib zu einer Substanz analog dem Körper zu verdinglichen. Meine Tendenz, eher von Leiblichkeit als vom Leib zu reden, geht in dieselbe Richtung. 40 Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin 2011, S. 1 (zit. als »LII«). 41 Ein Verweis auf das klassische Werk von Paul Schilder: Das Körperschema, Berlin 1923. 42 Vgl. dazu Kapitel 2.5.4 und Schmitz: LII,148 ff.

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Hermann Schmitz 43

Vgl. dazu Schmitz: SpG,110 und 113, sowie Heinz Dirks: Lebenskraft und Charakter, Berlin 1940 und Ernst Braun: Die vitale Person, Leipzig 1933. 44 Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin Göttingen Heidelberg 2/1956, S. 211 f. (zit. als »VSS«); vgl. dazu auch die beiden Studien von Franz Bossong: Zu Leben und Werk von Erwin Walter Maximilian Straus (1891–1975) mit Ausblicken auf seine Bedeutung für die Medizinische Psychologie, Würzberg 1991, S. 30 ff. und von Torsten Passie: Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie. Eine Studie über den »Wengener Kreis«: Binswanger – Minkowski – von Gebsattel – Straus, Hürtgenwald, 1995, S. 147 ff. 45 Wesen und Vorgang der Suggestion, in: Erwin Straus: Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin Göttingen Heidelberg 1960, S. 17–70, v. a. S. 52 ff. (zit. als »PmW«). Straus beschreibt dort Formen der Suggestion als »Wir-Erlebnisse« (S. 52), bei denen die Beteiligten »zu einer Einheit verschmolzen werden« (S. 53). 46 Die Formen des Räumlichen. Ihre Bedeutung für die Motorik und die Wahrnehmung, in: PmW, S. 141–178, v. a. S. 172 ff. über »präsentische Bewegung« (S. 172) beim Tanz im Einklang mit der Musik, wo der Tänzer in die Bewegung »mit hineingezogen« und »Teil einer Gesamtbewegung« wird, »die harmonisch den Raum, den Anderen, und ihn selbst erfaßt.« (S. 173) 47 Die Scham als historiologisches Problem, in: PmW, S. 179–187. 48 Vgl. dazu Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München 2005, S. 18 ff. 49 Weitere Beispiele finden sich in Schmitz: UG,290. 50 Zit. nach Lenz Prütting: Über das Mitgehen, in: Großheim: Leib und Gefühl, S. 142 51 Jean-Paul Sartre: Der Blick. Ein Kapitel aus Das Sein und das Nichts, hg. und mit einer Einleitung und einem Nachwort von Walter van Rossum, Mainz 1996, S. 52. 52 Vgl. Sartre, S. 60 ff. 53 Vgl. dazu Rudolf Bilz: Wie frei ist der Mensch? Frankfurt a. M. 1973, S. 125 ff. über Phänomene der Bahnung. 54 Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus, Wiesbaden 1959, S. 45. Ich verweise auch auf die umfangreiche Studie von Michael Großheim: Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002, wo die Wonnen, Qualen und Risiken dieser Art von Selbstlosigkeit ausführlich dargestellt werden. 55 Vgl. dazu die beiden Sammelbände: Die Wahnwelten (Endogene Psychosen), hg. v. Erwin Straus und Jürg Zutt, Frankfurt a. M. 1963 und: Ergriffenheit und Besessenheit, hg. v. Jürg Zutt, Bern und München 1972, sowie die klassische Studie von Klaus Conrad: Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns, Bonn 2/2002, in denen das bedrängende Gefühl, von einer fremden Macht besessen und geführt zu werden, ausführlich dargestellt wird. 56 Diese Formulierung hat Schmitz in der Selbstkritik seines »Systems der Philosophie« ausdrücklich korrigiert; vgl. dazu Hermann Schmitz: Der Spielraum der Ge-

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Anmerkungen

genwart, Bonn 1999, S. 240: »Die primitive Gegenwart ist keine Situation, sondern das unbestimmte Eindeutige, dem erst im Reflex von der entfalteten Gegenwart her fünf Seiten oder Momente, darunter die Subjektivität, als Ansatzstellen der Entfaltung zugeschrieben werden können. Von vorn herein, schon beim Embryo und beim Neugeborenen, wird sie durch das Leben in primitiver Gegenwart mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation überschritten, und da setzen die Situationen und deren eben beschriebene Vorstufen ein.« 57 Vgl. dazu das Kapitel »Die elementare Prädikation« in Kamlah/Lorenzen, S. 23 ff. 58 Vgl. dazu das Kapitel »Zur Pragmatik der Aussage« in Kamlah/Lorenzen, S. 188 ff. 59 Vgl. dazu Kamlah/Lorenzen, S. 190 ff. 60 Vgl. dazu Kamlah/Lorenzen, S. 188 ff. 61 Hermann Schmitz: Logische Untersuchungen, Freiburg/München 2008, S. 144 (zit. als »LU«) 62 Vgl. dazu Franz Koppe: Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1983, 125 ff., sowie Franz Koppe: Sprache und Bedürfnis. Zur sprachphilosophischen Grundlage der Geisteswissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 48 ff. 63 Vgl. dazu Kapitel 2.2.3. 64 Vgl. dazu Werhahn, S. 35 f. über den von Hermann Schmitz vertretenen restriktiven Begriff der Person und weiter unten Kapitel 3.4.6.1. 65 Vgl. dazu Lenz Prütting: »Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.« Über Gelächter und Scham, in: Berliner Debatte Initial 17, 1/2 Jg.2006, S. 123–136, hier S. 124 ff. 66 Vgl. Schmitz: UG,295. 67 Vgl. Prütting: Vernichtung, S. 129 ff. 68 Vgl. dazu die Kapitel 2.3.2.3 und 2.17.4.5.4. 69 Vgl. Schmitz: P,125. 70 Vgl. Schmitz: P,125. 71 Vgl. dazu die Kapitel 2.17.4.5.4 und 2.9.9. 72 Vgl. dazu Schmitz: P,139 ff. 73 Vgl. dazu Kapitel 2.2.8. 74 Vgl. dazu Kapitel 2.9.4.1. 75 Vgl. dazu Kapitel 2.14.6.4.2. 76 Vgl. dazu Kapitel 2.9.4.3. 77 Hermann Schmitz: Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 1980, S. 74 ff. (zit. als »AG«) 78 Vgl. dazu Kapitel 2.7.5. 79 Vgl. Kap. 2.4.4. 80 Vgl. Kap. 2.6.7. 81 Vgl. Kap. 2.8.6.2.1. 82 Vgl. Kap. 2.13.6.

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2.19 Rückblick und Ausblick

Beim Rückblick auf die bisherige Problemgeschichte der Gelotologie zeigt sich, daß es immer wieder nötig war, die rein historischideographische Betrachtung zu verlassen und auf einige zentrale systematische Fragestellungen der Gelotologie etwas ausführlicher einzugehen, insbesondere dann, wenn sich diese Befunde als so wichtig erwiesen haben, daß sie als Erkenntniserbe weitergereicht werden konnten und das weitere Nachdenken über das Lachen entscheidend mitbestimmt haben. Im Platon-Kapitel z. B. bot sich hier das Thema der Ambivalenz an; im Kapitel über Aristoteles war es die These, das Lachen sei ein proprium hominis; bei Thomas Hobbes war es der Aspekt des Plötzlichen und im Kapitel über Darwin die Frage nach dem phylogenetischen Erbe, das im Lachen sichtbar wird. Als die in diesem Sinn weitaus ertragreichsten Kapitel allerdings haben sich die Kapitel über Aristoteles, über Laurent Joubert, über die Heitere Aufklärung und die über Helmuth Plessner und Hermann Schmitz erwiesen, weil sie die meisten Möglichkeiten boten, zentrale systematische Fragen der Gelotologie aufzuwerfen und für einige sogar schon eine plausible Lösung anzubieten, sodaß beim aktuellen Stand unserer Argumentation zumindest ein Rahmen sichtbar geworden ist, in den weitere zentrale Aspekte des Lachens eingefügt und systematisch geordnet werden können. Geklärt hat sich z. B. die Natur des Bekundungs-Lachens, das der Pointenstruktur krisenhafter Prozesse als dynamische Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase folgt; geklärt ist außerdem der Nomos eutrapelistischer Lachkultur, und geklärt sind auch bestimmte Aspekte der pointenhaften Komik und deren kathartische Funktion. Und außerdem konnten wir eine gan1666 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Rückblick und Ausblick

ze Reihe von gelotologisch relevanten Rollenfächern vom heiteren Weisen bis zum geloiastischen Narren vorstellen. All dies kann nun als bekannt und geklärt vorausgesetzt werden und muß nunmehr nur noch ergänzt werden. Wir sind aber auch auf Fragen gestoßen, die sich endgültig erledigt haben und nicht mehr weiter verfolgt werden müssen, weil sie sich als fundamental falsche Fragestellungen erwiesen haben. Dies gilt v. a. für die Frage nach dem energetischen Antrieb des Lachens durch irgendeine Art von organischer oder psychischer Energie, die dann im Lachen »abgeführt« wird. Doch weil sich damit die Frage nach der Ätiologie des Lachens nur als falsch gestellt und falsch beantwortet, nicht jedoch als überflüssig erwiesen hat, müssen wir sie eigens noch mal stellen und zwar als Frage nach den ontologischen, ätiologischen und ethologischen Grundlagen des Lachens, bevor wir dann die drei Grundtypen des Lachens als BekundungsLachen, Interaktions-Lachen und Resonanz-Lachen eigens noch mal präsentieren und auf den entsprechenden Lachpaletten systematisch ordnen. Gezeigt hat sich auch, daß zwar die Lach-Anlässe und die Einstellung gegenüber dem Lachen dem historischen und kulturellen Wandel unterworfen sind, nicht aber das Lachen selbst, weil das Lachen einfach keine phylogenetische Entwicklungsgeschichte hat, sondern als proprium hominis eine ererbte Fähigkeit ist, die in bestimmten Situationen nach dem Akt-Potenz-Schema abgerufen und eingesetzt werden kann. Eine ontogenetische Entwicklungsgeschichte hat das Lachen aber sehr wohl, und deshalb werden wir eigens die Frage nach den verschiedenen Stufen der Lachmündigkeit aufwerfen und klären müssen. Der kulturell bedingte Wandel in der Einstellung gegenüber dem Lachen manifestierte sich, wie sich gezeigt hat, im wesentlichen in der Einstellung gegenüber dem Bekundungs-Lachen, das sich als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollzieht. Im Vergleich dazu war das Interesse am tendenziell verfügbaren Interaktions-Lachen und am tendenziell verweigerbaren Resonanz-Lachen relativ gering, sodaß diese beiden Varianten des Lachens in der traditionellen Gelotologie kaum einmal ausführlicher zum Thema gemacht worden sind. 1667 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Rückblick und Ausblick

Daß das Interesse der traditionellen Gelotologie sich in diesem Maß auf das Bekundungs-Lachen gerichtet hat, liegt wohl an der Provokation, die ein tendenziell unverfügbares Verhalten für ein platonisch-christlich-»faustisch« geprägtes Menschenbild darstellt, das sein Ideal in der Besonnenheit und im Willen zum möglichst umfassenden Verfügen über sich selbst und die Welt sieht und durch ein Widerfahrnis wie das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen immer wieder daran erinnert wird, daß wir nicht einmal immer Herr im eigenen Hause sind. Durch die energetisch und evolutionsgeschichtlich orientierte Sicht auf das Lachen ist diese narzißtische Kränkung noch weiter verstärkt worden, weil man sich dadurch außerdem auch noch als Opfer eines weiteren unverfügbaren energetischen oder evolutionären Prozesses zu verstehen hatte. Diese narzißtische Kränkung hat denn auch dazu geführt, daß immer wieder die Forderung erhoben worden ist, das BekundungsLachen zu ächten und soweit wie möglich aus dem Leben zu verbannen. Ahnherr dieser Forderung war Platon, dessen Besonnenheitsideal sich dann auch die Stoa im Ideal des stoischen Weisen, die christliche Kirche im Ideal des benediktinischen Mönches und der Absolutismus im Ideal des sapiens bei Hofe zu eigen gemacht haben. Die Antithese dazu war die durch Aristoteles begründete wohlwollende Sicht auf das Lachen, die das humorvolle Lachen mit dem Nomos eutrapelistischer Lachkultur von Cicero bis herauf zu Kant kulturell zu ritualisieren suchte. Doch diese eutrapelistische Lachkultur konnte sich immer nur dann durchsetzen und ihr Ideal des geselligen heiteren Scherzens und Lachens auf Augenhöhe verwirklichen, wenn auch die gesellschaftlichen und politischen Vorbedingungen gegeben waren, weil diese spezifische Lachkultur sich nur in einer entspannten Situation entfalten kann. Da wir immer wieder auch auf Probleme gestoßen sind, die in der traditionellen Gelotologie gar nicht als Probleme erkannt und deshalb auch nicht diskutiert, geschweige denn gelöst worden sind, werden wir im systematischen Teil dieser Studie auch völlig neue Fragen aufwerfen und behandeln müssen. Ich meine damit z. B. das Phänomen pointenloser, aber gleichwohl komischer Gestaltver1668 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Rückblick und Ausblick

läufe, die durch Einleibung wahrgenommen werden und deshalb eine systematische Abgrenzung von anderen Formen von Komik verlangen. Nicht weniger wichtig ist die Analyse der Grenzbereiche des Verhaltens diesseits und jenseits des Lachens, insbesondere das Phänomen der Lach-Blockaden und die Frage nach den Zonen und Situationen absoluter Lach-Tabus. Und schließlich und vor allem gilt es, die in Kapitel 2.18.8.4 aufgeworfene Frage nach der Lebensfunktion des Lachens und die Einordnung der Gelotologie in die praktische Philosophie zu klären, die dort als integraler Teil einer eudämonistischen Könnens-Ethik erscheint und in den verschiedenen kulturellen Ritualen des Gottes Gelos praktiziert wird. Bei alledem wird das Problem auftauchen, daß eng miteinander verknüpfte Fragestellungen nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander und z. T. auch in unterschiedlichen Kapiteln zur Sprache gebracht werden können. Deshalb werden sich gewisse Wiederholungen nicht ganz vermeiden lassen, weil bestimmte Probleme eben immer wieder unter neuen Aspekten behandelt werden müssen, sodaß unsere Art der Argumentation eine gleichsam musikalische sein wird, bei der bestimmte Themen in immer wieder neuer Durchführung erscheinen werden.

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3 Systematischer Teil Wesen, Formen und Funktionen des Lachens

Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Goethe

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3.1 Zur Ontologie des Lachens als Frage, was das Lachen sei

Die Frage nach der ontologischen Einordnung des Lachens in das vielgestaltige Reich der Objekte hat, so weit ich sehe, Laurent Joubert als erster in seinem Traité du Ris 1 gestellt. Er zitiert dort zunächst seinen Kollegen François Valeriole, der das Lachen definiert hatte als »eine gewisse heftige Bewegung der Geistseele (esprit) über eine erfreuliche Sache, um die innerlich erfaßte Freude auszudrücken, wodurch die Muskeln der Brust, des Bauches und des Mundes durch gewisse heftige Impulse in Bewegung geraten.« (S. 166)

Diese Definition gefällt ihm deshalb so sehr, weil damit das Lachen als eine spezifisch strukturierte Verlaufsgestalt bestimmt wird, und deshalb schreibt er in seinem Kommentar dazu: »In dieser Definition hat Valeriole wohlweislich ›Bewegung‹ (mouvemant) als Gattungsbegriff (geanre) verwendet; es ist ja tatsächlich so, daß das Lachen zu der Gattung von Gegenständen (classe des choses) gehört, die man ›Sukzedenzen‹ (succedantes) nennt, denn das Wesen dieser Bewegung liegt ausschließlich in ihrem Vollzug (au accion) und im Verlauf (au faire), wie die Philosophen sagen, und das gilt auch für die Stimme (la vois), den Klang (le son), für Handlung und Widerfahrnis (l’accion & la passion), welche alle keine räumlich-dingliche Permanenz oder Stabilität (aucune permanance ou stabilité) haben, sondern nur in ihrem je aktuellen Verlauf existieren (ains sont tandis que se font).« (S. 166 f.)

Hermann Schmitz nennt derlei Sukzedenzen »Halbdinge« und zählt zu ihnen, genau wie Joubert, Stimmen, Melodien und Klänge 2, aber auch den Wind, Atmosphären, Blicke, ergreifende Gefühle, Hitze und Kälte 3 und eben auch Lachen und Weinen, und fügt hinzu, Halbdinge seien Widerfahrnisse, von denen wir uns immer 1673 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ontologie des Lachens

irgendwie »gemeint« fühlen, denn »Halbdinge haben eine besondere Dynamik, mit der sie betroffen machen und zudringlich werden.« (UG,217) Als beirrend können sich zwar auch echte Dinge erweisen, wenn sich z. B. ein elektrisches Kabel in völlig unvorhersehbarer Weise verwickelt und dabei die volle »Tücke des Objekts«4 offenbart, doch diese Tücke des Objektes ist meist doch bloß das Korrelat unserer eigenen Ungeschicklichkeit. Das Thema der Sukzedenzen tauchte erst wieder in all seiner Schärfe im 18. Jahrhundert auf, als man den Werkbegriff in den performativen Künsten zu bestimmen hatte. Den Anfang macht hier wieder einmal Lessing, der in der Ankündigung zu seiner Hamburgischen Dramaturgie 1767 das Werk des Dramatikers mit dem der Theaterleute vergleicht und dabei zu dem Ergebnis kommt: »Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauscht gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.« (10,5 f.)

Diesen Gedanken des gegenseitigen Zusammenspiels von transitorischem Werk und dessen Wirkung auf den Rezipienten greift dann auch 1800 Herder in seiner Kalligone auf, wenn er unter Anspielung auf das aristotelische Akt-Potenz-Schema schreibt: »Bey allen vorübergehenden Künsten sind die Produkte Wirkungen (energeia), nicht Werke, dagegen, wo ein bleibendes Werk (opus) sein Ziel ist, seine Energie solange unvollendet ist, als er wirket.« (15,139 f.)

Und an anderer Stelle heißt es im selben Werk: »Vorübergehend also ist jeder Augenblick dieser Kunst und muß es seyn: denn eben das kürzer und länger, stärker und schwächer, höher und tiefer, mehr und minder ist seine Bedeutung, sein Eindruck.« (15,224 f.)

Bei dem Kriterium der Bedeutsamkeit setzt auch Erwin Straus in seinem Werk Geschehnis und Erlebnis von 1930 an, der ja in all seinen Schriften entscheidende Anregungen von Herder übernommen hat, unterteilt Verlaufsgestalten in Geschehnisse und Er1674 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ontologie des Lachens

lebnisse und unterscheidet sie dahingehend, daß ein Geschehnis dadurch zum Erlebnis wird, »daß ihm ein spezifischer Sinn entnommen wird« (S. 83), der individuelle Betroffenheit bei dem auslöst, der sich von dem Geschehnis gemeint fühlt. Erlebnisse bzw. Geschehnisse als Erlebnisse sind laut Straus also immer unsere Erlebnisse, sie gehen uns an, sie meinen uns bzw. wir erleben sie nach dem Prinzip: Mea ipsissima res agitur. Damit hätten wir eine ganze Reihe von Bezeichnungen, um auch das Lachen ontologisch einzuordnen: »Sukzedenz«, »Verlaufsgestalt« bzw. »Gestaltverlauf«, »Halbding«, »transitorischer Gegenstand« und »Geschehnis« oder »Erlebnis«. Welche dieser Bezeichnungen sich für uns als die handlichste erweist, ergibt sich, wenn wir nachprüfen, was Schmitz an weiteren Beispielen von Halbdingen und deren Bedeutsamkeit anführt, denn: »Andere Halbdinge sind der charakteristisch wiederkehrende Blick, von dem man getroffen wird (der treue Hundeblick, der stechende oder unstete Blick eines Menschen), die Stimme, an der man einen Menschen oder eine Tierart erkennt, viele Geräusche (schrille Pfiffe, stechender Lärm, das rhythmische Tropfen des Wasserhahns), Melodien, die einem nicht aus dem Kopf gehen, ein Problem, das einen nicht loslässt, leiblich ergreifende Gefühle wie immer wieder einmal hochkommender Zorn, Scham, Bitterkeit, brütende Hitze und schneidende Kälte, die Nacht und die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich lang wird.« (LII,31)

An dieser Aufzählung wird deutlich, daß es nicht allein und nicht so sehr die transitorische Gestalt, also der Verlaufs- und GeschehensCharakter ist, der all diesen Phänomenen Bedeutsamkeit verleiht, sondern deren Anmutungs- und Erlebnis-Charakter, also das Betroffenmachende, Beirrende, Bedrängende, Störende, Irritierende und Ergreifende, das von ihnen ausgeht, und deshalb fährt Schmitz fort: »Durch ihre unmittelbare Kausalität sind Halbdinge zudringlich; dieser Zudringlichkeit entspricht beim Betroffenen die Unfähigkeit, sich zu entziehen, so dass er durch einen seinen Leib umfassenden vitalen Antrieb in der Weise antagonistischer Einleibung an das Halbding gebunden wird.« (LII,31)

All diese Kriterien gelten offensichtlich auch für das Lachen, und 1675 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ontologie des Lachens

zwar für das eigene Lachen wie für das fremde, das wir vernehmen, unabhängig davon, ob es ein direkt an uns adressiertes InteraktionsLachen ist oder ein unadressiertes Bekundungs-Lachen, dessen Zeuge wir sind und von dem wir uns vielleicht sogar zu einem Resonanz-Lachen anstecken lassen, und so gesehen ist das Lachen sogar ein sehr typisches Halbding. Trotzdem werde ich den Ausdruck »Halbding« lieber nicht verwenden, aber nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern allein deshalb, weil sich mein Sprachgefühl gegen dieses Wort sperrt und ich immer versucht bin zu schließen, daß zwei Halbdinge ein ganzes Ding bilden könnten, so wie zwei Halbzeiten eine ganze Spieldauer bilden. Aus diesem Grund verwende ich im folgenden für das, was Schmitz als »Halbding« bezeichnet, lieber den Ausdruck »Erlebnis« im Sinne von Erwin Straus. Eine Verlaufsgestalt bleibt Lachen aber allemal, und deshalb haben beide Kriterien entscheidende methodologische Konsequenzen sowohl für unsere eigene Argumentation als auch für die Kritik an bisher behandelten gelotologischen Ansätzen, die nunmehr auf eine neue Weise und auf einem neuen Argumentationsniveau möglich ist. Der fundamentale Fehler in der Deutung des Lachens von Descartes, der das Lachen auf das Spiel der Lebensgeister zurückführte, und der energetischen Schule von Spencer bis zu Freud, Lorenz und Koestler, die das Lachen als Hydraulik organischer Energie oder gar als Reflex verstanden, bestand somit darin, daß sie zum einen das Lachen nicht als Erlebnis, sondern ausschließlich als Geschehnis bestimmten, das sich am und im menschlichen Körper vollzieht, und zum anderen, daß sie die spezifische gestotterte Verlaufsgestalt dieses Geschehnisses nicht zu würdigen wußten. Und das heißt für uns im Umkehrschluß, daß bei der Analyse und Deutung des Lachens immer zwei methodologische Kriterien zu bedenken sind: Einmal die intensive phänomenologische Beschreibung und Hermeneutik des jeweiligen Gestaltverlaufs; und zum anderen die personale Bedeutsamkeit des jeweiligen Lachens für den lachenden Menschen in seiner jeweiligen Situation, also der Erlebnis-Charakter des jeweiligen Lachens. Das Kriterium der spezifischen Verlaufsgestalt zwingt uns zur Frage nach der räumlichzeitlichen Struktur des jeweiligen Lachens, also zur Frage nach der 1676 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ontologie des Lachens

Gerichtetheit des jeweiligen Lachens und zur Frage, ob dem jeweiligen Lachen eine teleologische Tendenz innewohnt oder nicht; die Frage nach dem Erlebnis-Charakter des jeweiligen Lachens ist die Frage nach der inneren Haltung oder Einstellung, die beim Lachen eingenommen wird und auf diesem Weg wiederum das Lachen prägt. Was wir aber auf jeden Fall vermeiden müssen, ist die Hypostasierung des Lachens 5 in der Art, wie Michail Bachtin dies getan hat, in dessen Darstellung das Lachen nicht nur als ein objektives Geschehnis erscheint, sondern zugleich auch als der Akteur eben dieses Geschehnisses, der mit den Lachenden so willkürlich umgeht wie ein Puppenspieler mit seinen Marionetten, denn sein wahnhaftes Konstrukt einer mittelalterlichen Lachkultur des Volkes besagt ja nicht, daß das Volk sich eine gegen die damals herrschende ernste Kultur des Feudalismus eine eigene heitere Gegenkultur errichtet habe, sondern daß das Lachen selbst dies getan habe, denn er scheut sich nicht zu behaupten: »Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat. Das Lachen hält seine Liturgien ab, bekennt sein Credo, vermählt, trägt zu Grabe, schreibt Grabinschriften, wählt Könige und Bischöfe.« 6

Das Lachen wird bei Bachtin also genauo verdinglicht und geradezu personalisiert wie der Heilige Geist bei den Christen, der z. B. die Jungfrau Maria »überschattet« (Lukas 1,35) und auf diese Weise Jesus zeugt, den Evangelisten und Aposteln ihre Texte souffliert und letztlich die ganze christliche Kirche stiftet. Diese Reifizierung des Lachens zu einer gleichsam metaphysischen Macht verdankt sich wohl dem Umstand, daß wir das Lachen oft genug als etwas empfinden, das uns ergreift oder als unwiderstehliches Widerfahrnis überkommt. Das heißt aber noch lange nicht, daß hinter diesem Widerfahrnis unbedingt auch ein fremder Akteur stehen muß, da es ja sehr wohl auch eigene Widerfahrnisse gibt, die nicht das Korrelat fremder Handlungen sind. Aus diesem Grund werden wir das Lachen ausschließlich als menschliches Verhalten verstehen, als eigenes wie als fremdes.

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Zur Ontologie des Lachens

Anmerkungen 1

Vgl. dazu Kapitel 2.9.8. Vgl. dazu Schmitz: UG,216 f. 3 Vgl. dazu Schmitz: LII,31. 4 Friedrich Theodor Vischer: Ausgewählte Werke in acht Teilen. Herausgegeben und eingeleitet von Theodor Kappstein, Leipzig o. J., Band V, S. 24. Vischer schildert in seinem Roman »Auch einer. Eine Reisebekanntschaft« (1879), einen älteren, sehr cholerischen Herrn, der ständig mit der »Tendenziosität, ja Animosität des Objekts« (V,28) kämpft und dabei zu der Erkenntnis kommt: »Oh, das Objekt lauert.« (V,29). Vischers Roman läßt sich auch lesen als Studie über das gnostische Lachen, weil sich sein Held Albert Einhart nach dem Vorbild Schopenhauers einen gnostischen Mythos als negative Theodizee zurechtgelegt hat, demzufolge die Welt von einem bösartigen weiblichen Demiurgen geschaffen worden ist, der die bösen Geister in die Objekte schlüpfen läßt, um auf diesem Wege den Menschen, genauer: den Mann zu quälen und dann höhnisch zu verlachen (vgl. V,70). 5 Vgl. dazu Kapitel 2.7.10.3. 6 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, Frankfurt a. M. 1990, S. 32. 2

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3.2 Zur Ätiologie des Lachens als Frage, wodurch das Lachen das ist, was es ist

3.2.1 Verhaltensweisen und Einstellungen Wir haben bisher schon des öfteren, aber immer eher nebenbei, verschiedene Modi des Verhaltens angesprochen und dabei von verfügbaren Handlungen, unverfügbaren Widerfahrnissen und verweigerbarem Resonanzverhalten gesprochen. Ausgangspunkt dabei waren meist die Überlegungen von Wilhelm Kamlah, der das Verhältnis von Handeln und Verhalten dahingehend bestimmt, daß »das Handeln sich stets mehr oder weniger aus dem Verhalten gleichsam herausprofiliert« 1. Diese vorläufige Bestimmung können wir nun etwas ergänzen, denn wir haben uns in Kapitel 2.15.6 die These von Rudolf Bilz und Wolfgang Wieser zu eigen gemacht, daß alles Verhalten und somit auch das Lachen als »ererbte Tätigkeitsbereitschaft« verstanden werden kann, und somit als ein vorgegebenes Können, das als proprium hominis nicht eigens erlernt werden muß, sondern in bestimmten Situationen nach dem Akt-PotenzSchema abgerufen und dann ausagiert wird. Ein weiteres Kriterium zur Unterscheidung bestimmter Verhaltensweisen besteht darin, daß auch alle Arten von eigens gelernten Handlungen ein tendenziell verfügbares Verhalten sind und daß, im Gegensatz dazu, bestimmte Verhaltensweisen sich sogar als unverfügbare Widerfahrnisse an uns und mit uns vollziehen, wenn wir von ihnen übermannt werden, wie dies z. B. beim tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Lachen der Fall ist, das als gestotterte Explosion aus uns herausplatzt. Damit müßte klar sein, daß auch alle Formen von Gelächter in diesem Sinn Verhaltensweisen sind und darüberhinaus auch noch als »ererbte Tätigkeitsbereitschaft« ein vorgegebenes Können, das in 1679 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ätiologie des Lachens

bestimmten Situationen abgerufen wird, entweder von uns selbst, indem wir mit unserem Lachen eine Situation stiften oder modifizieren, oder von der vorgegebenen Situation, auf die wir mit Gelächter aller Art antworten. So gesehen kann Lachen auch nie mißlingen wie irgendeine gelernte Handlung gelingen oder eben auch mißlingen kann. Dies gilt auch für die Form von Gelächter, die wir als Interaktions-Lachen bezeichnet haben, weil es sich als ein tendenziell verfügbares Handeln aus dem allgemeinen Lach-Verhalten »herausprofiliert«. Worauf Kamlah mit keinem Wort eingeht, ist das Resonanzverhalten, das gleichsam in der Mitte zwischen dem aktiven und dem passiven Verhalten steht, weil es ein Widerfahrnis ist, dem man sich, je nach Einstellung, hingeben, dem man sich aber auch verweigern kann. Und hier in der Wahl zwischen zwei Einstellungen zeigt sich besonders deutlich, wie das Lach-Geschehnis der Anderen auch zum eigenen Lach-Erlebnis werden kann, denn irgendeine Einstellung nehmen wir bei jeder Art von Verhalten und deshalb auch bei jeder Art von Gelächter ein, und dies unabhängig davon, ob es sich um unser eigenes Lachen oder um das des Anderen handelt, von dem wir angemutet werden, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewußt sind. Einstellungen sind Weisen der Zuwendung zu Phänomenen aller Art im Sinne einer »inneren Haltung« (Zutt) und filtern gleichsam unser Verhältnis zu unserer Umwelt, aber auch zu unserem eigenen Verhalten. Die für unsere Fragestellung aufschlußreichste Unterscheidung verschiedener Einstellungen stammt von Kurt Goldstein, der in seinem berühmten Aufsatz Über Zeigen und Greifen 2 in enger Anlehnung an Edmund Husserl die »konkrete« von der »kategorialen« Einstellung unterscheidet, wobei die konkrete Einstellung die Einstellung beim Greifen ist, die kategoriale die beim Zeigen. Beide Einstellungen bilden einen kontradiktorischen Gegensatz, denn andere Einstellungen als diese beiden gibt es beim Handeln nicht, und es gibt auch nicht eine mehr oder weniger konkrete oder kategoriale Einstellung. Deshalb betont Goldstein auch ausdrücklich, »daß Zeigen und Greifen nicht graduell, sondern prinzipiell verschiedene Leistungen sind« (S. 456), und daß die Fähigkeit zum Zeigen bei bestimmten Erkrankungen ver1680 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Verhaltensweisen und Einstellungen

loren gehen könne, die zum Greifen jedoch nie, und dies liege daran, daß »das Greifen viel unmittelbarer durch die Beziehungen des Organismus zum gesamten Umfeld bestimmt wird als das Zeigen, (und) daß es sich (beim Greifen) um weit weniger mit Bewußtsein ablaufende als unmittelbare Reaktionen handelt, (und) daß wir es (hier) mit einem viel vitaleren, biologisch ausgedrückt einfacheren, primitiveren Vorgang zu tun haben.« (S. 459)

Wir könnten auch sagen: Tiere können immer nur greifen, weil sie ausschließlich in konkreter Einstellung agieren, Menschen können greifen und zeigen, können die Fähigkeit zum Zeigen und zugleich damit die kategoriale Einstellung bei bestimmten tiefgreifenden Störungen auf Dauer, in bestimmten Situationen primitiver Gegenwart aber auch kurzfristig verlieren, weil die kategoriale Einstellung eine distanziert zuordnende und abwägende »exzentrische Position« (Plessner) zur Welt und zu sich selbst begründet, die nur als entfaltete Gegenwart möglich ist. Wenn der Augenarzt mir ins Auge schaut, tut er dies in kategorialer Einstellung, wenn sich zwei Gegner im Blickkontakt fixieren und dabei um Dominanz ringen, tun sie es in konkreter Einstellung. Worauf Goldstein nicht eingeht, auch nicht in seinem Hauptwerk Der Aufbau des Organismus, ist die Frage, welche Einstellungen wir Widerfahrnissen gegenüber einnehmen können, da ihn ausschließlich die Einstellung dem eigenen Handeln gegenüber interessiert. Deshalb müssen wir, um diese Frage zu beantworten, noch mal bei Kants Rezeption von Edmund Burkes Überlegungen über die Natur des Erhabenen und Schönen ansetzen, auf die wir in Kapitel 2.12.6.6.5 gestoßen sind. Burke hatte dort die beiden Affekte »wehrlos schmelzender Hingabe« und »wehrhaft tapferer Selbstbehauptung«3 beim Umgang mit ästhetisch relevanten Anmutungen unterschieden, was wir problemlos auch als zwei Einstellungen verstehen können, die einen polarkonträren Gegensatz bilden, weil beide innere Haltungen, verstanden als leibliche Regungen, als unterschiedlich hoher Grad an Körperspannung verspürt werden: Wehrlos schmelzende Hingabe als kontinuierliche zentrifugale Erosion der Körperspannung, wehrhaft tapfere Selbstbehauptung als zentripetale Verhärtung, bei der man sich förmlich zusammenreißt. 1681 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ätiologie des Lachens

Daß die beiden von Burke und Kant benannten Affekte sofort an Plessners Begriffspaar Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung erinnern, ist natürlich kein Zufall, und daß Plessners Begriffspaar sich dahingehend ergänzen läßt, daß man von Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe und von Selbstpreisgabe in der Selbstbehauptung sprechen kann, liegt daran, daß sie einen polarkonträren Gegensatz bilden, der beliebig viele Zwischenstufen zwischen beiden Extremen zuläßt. Wenn wir nun das Insgesamt von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe als in sich ambivalente innere Haltung oder Einstellung verstehen und dann fragen, wie sie unser Verhältnis zu Widerfahrnissen aller Art überformt, so zeigt sich sofort, daß wir eine Begrifflichkeit brauchen, mit der wir viele verschiedene Grade auf dieser Skala und darüberhinaus auch die beiden Extrempunkte dieser Skala wiedergeben können. Für all diese Punkte auf der Skala aber gilt, daß sie zugleich auch bestimmte Niveaus personaler Emanzipation markieren. Einen dieser Extrempunkte kennen wir schon als Rilkes Appell aus dem Orpheus-Sonett: »Zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.« 4 Eine diametral entgegengesetzte Einstellung als Extremform stoischer Selbstbehauptung kennen wir auch schon aus Senecas 82. Brief an Lucilius, wo er das hohe Lied der Festungsmentalität anstimmt, denn er predigt hier seinem Schüler: »Mit der (stoischen) Philosophie müssen wir uns umgeben, (wie mit) einer uneinnehmbaren Mauer, die das Schicksal, auch wenn es sie mit vielen Belagerungsmaschinen angreift, nicht überschreitet. An unüberwindlicher Stelle befindet sich die Seele (animus), die Äußerlichkeiten hinter sich gelassen hat und in ihrer Burg ihre Freiheit behauptet.« (4,187)

Jenseits dieser Haltung stoisch defensiver Selbstbehauptung liegen dann noch die Möglichkeit von aggressivem Hohn, mit dem man in kynischer Tradition zurückbeißt und Anmutungen verlacht, und eine noch aggressivere Einstellung wäre dann flammende Empörung, die sich als tätlicher Angriff manifestiert. Zwischen den genannten Extremen liegt eine ganze Skala von Einstellungen, die von williger und hinhaltender Ergebenheit bis zu trotziger Renitenz

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reicht. Und all diese Einstellungen können natürlich, wie wir sehen werden, auch das eigene Lachen überformen. 3.2.2 Aspekte des Lachens 3.2.2.1 Ekstatik Wenn wir von ekstatischen Phänomenen hören, denken wir meist an Zustände der Entrückung, des Außersichseins oder der Besessenheit5, an Zustände also, die wir eher den »Wilden« und »Primitiven« gestatten, uns selbst als aufgeklärten Europäern aber eher nicht. Wir haben ja in Kapitel 2.12.5.2 gesehen, wie tief irritiert, ja wie geradezu aggressiv Aufklärer wie Shaftesbury oder Kant auf alle Phänomene fundamentalistischer Enthusiasterey reagiert haben: Shaftesbury auf die ekstatischen Praktiken der Camisarden und Quäker, Kant auf die Visionen des Geistersehers Swedenborg, die er als »hypochondrische Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder« (I,923) verhöhnte. Herders Mahnung an die dogmatischen Aufklärer seiner Zeit, »vor solchem Abgrunde dunkler Empfindungen, Kräfte und Reitze« (8,18) nicht die Augen zu verschließen, weil wir selbst ja auch »in unvermutheten Augenblikken« zu »Wilden« (29,20) werden könnten, blieb weitgehend ungehört, obwohl Jean Paul ihm ausdrücklich zustimmte mit dem Argument: »Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses in jedem Sinne wahre innere Afrika, auslassen.« (60,81)

Ganz im Sinne Herders und Jean Pauls argumentiert heute der Ethnologe Fritz W. Kramer, wenn er den fundamentalen Abscheu oder den hochnäsigen Spott der Europäer angesichts der »Passiones« der Afrikaner kritisiert, vor Mächten also, die »passiv erfahren und erduldet (werden), als seien sie handelnde Subjekte, (…) die man in Kulten als Geister und Gottheiten darstellt« 6, ganz so also, wie die Spartaner das Wirken ihres Gottes Gelos empfunden und rituell gewürdigt haben. Und dann gibt Kramer zu bedenken:

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Zur Ätiologie des Lachens

»Der Nicht-Anerkennung der Wildnis (in Afrika und auch der Wildnis in uns selbst) als eines autonomen Bezirks entspricht (im europäisch aufgeklärten Bewußtsein) die Emphase des sozialen Handelns und der technischen Naturbeherrschung, Bedingungen, unter denen die Konzeption der passiones marginalisiert und ausgegrenzt wird, obwohl solche Erfahrungsweisen unter Masken und Entstellungen auch in der modernen Zivilisation artikuliert wurden.« (S. 146)

Doch sie wurden nicht nur immer schon, sie werden ja immer noch artikuliert, wenn auch »unter Masken und Entstellungen« und deshalb auch ohne rechte Kenntnis ihrer Natur, und einige davon haben wir auch schon kennen gelernt als Formen des Mitgehens, als rätselhafte Wirksamkeit des Blickwechsels, als Resonanz-Lachen, mit einem Wort: als wechselseitige Einleibung und als leibliche Kommunikation. So gesehen wirken ekstatische Phänomene nur in ihren extremen Formen exotisch auf uns, womit zugleich auch gesagt ist, daß es mehr oder weniger ausgeprägte Formen von Ekstatik gibt. Wenn man nach Gestus, Vultus und Habitus 7 fragt, in denen sich ausgeprägt ekstatisches Verhalten normalerweise bekundet, so sind es immer irgendwelche weitenden und streckenden Bewegungen 8, die zu einer konvexen Körperhaltung führen, also dazu, daß man ein Hohlkreuz bildet, den Kopf in den Nacken wirft, die Arme ausbreitet, Mund und Augen aufreißt und den Blick auf unendlich stellt. Doch all diese Bewegungen vollziehen sich nicht langsam, sondern ruckhaft, und sie vollziehen sich von selbst, weil offensichtlich auch hier eine »ererbte Tätigkeitsbereitschaft« vorliegt, die wir nicht eigens lernen müssen, sondern immer schon können und deshalb auch in bestimmten Situationen ganz stereotyp wiederholen. Die beiden bekanntesten und kulturgeschichtlich bedeutsamsten Formen des ausgeprägt ekstatischen Szenarios sind das Gebaren der Mänaden, deren ekstatische Haltung auch Hysterikerinnen während ihrer Anfälle einnehmen, und natürlich das ekstatische Lachen, bei dem man den Eindruck hat, als werde man von hinten gestoßen und konvex verbogen, sodaß man gar nicht anders kann, als ein Hohlkreuz zu bilden. Wenn man nun Ekstatik allgemein als eine Verhaltensweise versteht, bei der man aus sich herausgeht, außer sich gerät oder außer 1684 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Verhaltensweisen und Einstellungen

sich ist, so läßt sich sofort auch die Frage stellen, wie weit man denn dabei aus sich herausgeht, wie weit man außer sich gerät oder außer sich ist, und wie leicht man wieder zu sich kommt. Und da das Verhalten, wie wir gesehen haben, neben den gezielten Handlungen und dem Resonanzverhalten auch Verhaltensweisen umfaßt, die sich als unverfügbare Widerfahrnisse an uns und mit uns vollziehen, entfalten auch ekstatische Verhaltensweisen sich auf einer riesigen Bandbreite, von denen uns hier allerdings nur die interessieren müssen, die sich im Zusammenhang mit dem Lachen manifestieren. Das alltäglichste dieser ekstatischen Erlebnisse ist der Blickkontakt beim Interaktions-Lachen, mit dem man aus sich herausgeht, sich dem Partner zuwendet und sich in ihn einklinkt. Ein zweites ist das Resonanz-Lachen, zu dem man sich vom Lachen anderer anstecken läßt. Ein drittes ist das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen, das als dynamischer Prozeß über die Stufen Anspannung, Zuspitzung und Durchbruch als »Explodieren der Angstspitze« (Baader) in eine Form von Ekstase einmündet, die man, wenn man denn will, als Besessenheit durch den Gott Gelos bezeichnen könnte. All diese ekstatischen Verhaltensweisen können sich aber nur entfalten, wenn wir die Einstellung mehr oder weniger williger Hingabe einnehmen, denn die Einstellung trotzigster renitenter Selbstbehauptung blockiert jede Form von Ekstatik und somit auch jede Form von Gelächter, wie das Beispiel des agelastischen stoischen Weisen zeigt. 3.2.2.2 Ambivalenz Doch normalerweise bewegen wir uns im Mittelbereich zwischen den Extremen jeweils verabsolutierter Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung, weshalb die meisten Formen von Gelächter auch in diesem Zwischenreich gebremster Ekstatik liegen, aber alle durch die innige, aber in sich antagonistische Verschränkung von Selbstpreisgabe und Selbstbehauptung geprägt sind. Sichtbar wird diese Ambivalenz, wie wir in den Kapiteln über Platon, Joubert, Kant, Hecker, Plessner und Schmitz zur genüge gesehen haben, vor allem in der gestotterten Verlaufsgestalt des Lachens im kleinen und im 1685 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ätiologie des Lachens

uroborischen Impuls im großen, weil es sich gleichsam in sich selbst zurücknehmen möchte und sich schließlich auch selbst verzehrt und zu einem Ende bringt. Im Gegensatz dazu platzt z. B. das Niesen völlig ungehemmt aus uns heraus, weil hier allein die wehrlos willige Hingabe als Einstellung zum eigenen Verhalten möglich ist. 3.2.2.3 Regressivität Regressivität ist hier zu verstehen als tendenzielle Regressivität, als Tendenz des Verhaltens in Richtung auf personale Regression, sodaß sich in den unterschiedlichen Varianten des Lachens auch unterschiedliche Grade von personaler Regression manifestieren. Da nun jede Form von Selbstpreisgabe zu bestimmten Graden und Formen von personaler Regression führt und auch führen muß, muß auch jede Art von Gelächter zu einem Mindestmaß an personaler Regression führen. Bei den verfügbaren Formen des Lächelns geht dieses Mindestmaß an personaler Regression gegen Null, zeigt sich aber schon beim unwillkürlichen Lächeln, das über ein Gesicht huscht, und steigert sich in den tendenziell verfügbaren Varianten des atmungsrelevanten Lachens weiter. Am ausgeprägtesten geschieht dies natürlich in den Formen von Gelächter, die sich als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis an uns und mit uns vollziehen, also bei allen Formen von Bekundungs-Lachen, weshalb Poinsinet, Hecker, Plessner und Schmitz diese Art von Gelächter auch ausdrücklich als Krise der Personalität bestimmt haben. Ablesbar ist der Grad von Regression an den Kriterien des »ausgezeichneten Verhaltens« (Goldstein) als der Signatur personaler Emanzipation, also an Gestus, Vultus, Habitus, Atmung, Wachheit und sprachlicher Artikulationsfähigkeit, die alle synergetisch verfügbar sein müssen. Je tiefer aber der Sturz in die Regression ist, desto mehr gerät all dies aus den Fugen: die Bewegungen werden ruckhafter und zielloser, der Blick wird starrer, das Gesicht verzerrt sich zur Grimasse, die aufrechte Haltung geht mehr und mehr verloren, die Atmung wird stotternd durch die Asymmetrie von Ein- und Ausatmung, die Wachheit ist getrübt, und die sprachliche Artikulation verfällt zu einem Lallen oder 1686 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Verhaltensweisen und Einstellungen

Schreien. Kann man also während des Lächelns noch komplette explikative Sätze formulieren, so ist das Sprechen beim Kichern schon deutlich reduziert auf evokative Rede und diese geht bei einem Lachkrampf auch noch verloren. Dieser Impuls synergetischer Regression war wohl auch der Grund dafür, daß all die Autoren, die das hohe Lied auf Würde, Besonnenheit und totalem Ichbesitz anstimmten und damit die Einstellung totaler Selbstbehauptung zum normativen Ideal einer Sollens-Ethik verabsolutierten, also Platon, die Stoiker und die Verfasser der Mönchsregeln, sich genötigt sahen, das Lachen moralisch zu verwerfen und zu verbieten, weil sie offenbar glaubten, der ekstatisch lachende Mensch verliere sich selbst und falle auf eine tierische Stufe zurück. Die Einstellung willig ergebener Selbstpreisgabe war für all diese Autoren ausschließlich für das Verhältnis des Menschen gegenüber transzendentalen Mächten reserviert, also dem Verhältnis gegenüber irgendwelchen Göttern oder gegenüber dem Fatum, nicht aber gegenüber profanen Erlebnissen am eigenen Leib. Dadurch geriet bei all diesen Autoren auch der kathartische Aspekt des Lachens völlig aus dem Blick. 3.2.2.4 Kathartik Aristoteles hatte diesen kathartischen Aspekt als erster gesehen und auf ihm seine Theater-Theorie als Theorie komischer und tragischer Katharsis 9 aufgebaut. Deshalb ist es auch kein Zufall, daß man auf die kathartische Funktion des Lachens immer dann zurückgriff, wenn man sich explizit an Aristoteles orientierte, wie dies z. B. bei der Erfindung des Osterlachens 10 im Hochmittelalter oder bei den medizinisch-therapeutischen Programmen der Renaissance-Ärzte 11 und in gewisser Weise sogar noch bei Freud 12 der Fall war, auch wenn Freud Katharsis nicht wie Aristoteles als uroborische Katharsis verstand, sondern als Abfuhr überflüssiger oder schädlicher organischer Energie, und dadurch mißverstand. Doch immer dann, wenn man Katharsis mit Aristoteles als uroborische Entspannung verstand, wie z. B. in der Tradition des heiteren Weisen seit Horaz 13, in der berühmten Bogenschützen-Anek1687 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ätiologie des Lachens

dote des Wüstenvaters Antonius 14 oder bei der Frage nach der Pointenstruktur krisenhafter Prozesse15 im 18. Jahrhundert, auf die vor allem Kant 16 seine Theorie des Lachens gründete, wurde das Bewußtsein geweckt oder bekräftigt, daß in jedem herzhaften Lachen sich eine kleine private Heilsgeschichte ereignet, durch die man sich wieder ins Lot bringt und als Person stabilisiert. In den Kapiteln über Plessner 17 und Schmitz 18 wird diese kathartische Funktion des Lachens als Lebensfunktion des Humors denn auch ausdrücklich betont und überzeugend begründet. 3.2.2.5 Atmosphäre Atmosphären 19 sind Widerfahrnisse, gehören zu den Halbdingen im Sinne von Hermann Schmitz, und sind somit ganzheitlich bedeutsame Anmutungen, die durch Einleibung wahrgenommen werden. Als ganzheitliche Anmutungen sind sie wiederum Resonanz-Angebote, die man, je nach Einstellung, annehmen kann, denen man sich aber auch verschließen kann. Werden sie jedoch angenommen, so geschieht dies auf der Grundlage williger Ergebenheit und deshalb durch leibliche Kommunikation als Wahrnehmung »mit dem Bauch«. In diesem Fall wird man dann von ihnen ergriffen und gleichsam aufgesaugt und läßt auch das eigene Verhalten und die eigenen leiblichen Regungen von ihnen überformen, sodaß man ernst ist mit den Ernsten und heiter mit den Heiteren. Läßt man sich aber eher widerwillig in eine vorgegebene Atmosphäre einbetten, weil man sich noch einen Rest an Selbstbehauptung bewahrt hat, so kann man sich auch jederzeit wieder ausklinken. Es gibt allerdings auch Atmosphären, die so mächtig sind, daß man völlig von ihnen ergriffen wird, selbst wenn man sich dagegen sträubt, wie dies z. B. bei einer Massenpanik der Fall ist. Wenn ich hier vom Lachen als Atmosphäre spreche, so handelt es sich immer um eine Atmosphäre, die von lachenden Menschen und meist sogar von einer aktuellen Lach- und Gefühls-Gemeinschaft ad hoc erzeugt worden ist 20 und in die man sich, je nach Einstellung, durch mimetische Resonanz auch selbst einbetten lassen 1688 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Verhaltensweisen und Einstellungen

kann. Daß man auch eine Landschaft, wo ein See lächelt und zum Baden einlädt, eine erhabene Architektur oder die kalte Pracht eines Wohnzimmers als vorgegebene Atmosphären empfinden kann, liegt daran, daß auch ein derartiges Ambiente durch seine jeweilige räumliche Struktur Resonanz-Angebote in sich birgt, die man, je nach Einstellung, als Bewegungs-Suggestionen annehmen und in mimetischer Resonanz ausagieren oder aber ablehnen kann. Schon Otto Friedrich Bollnow hatte darauf verwiesen, daß Atmosphären – er nennt sie in Anlehnung an Heidegger Stimmungen – durch räumliche Impulse strukturiert sind, weshalb er von »gehobenen« und »gedrückten« Stimmungen (S. 31) spricht, und als Beispiel für eine gehobene Stimmung die ganze Palette des heiteren gemeinschaftlichen Lachens vom Gekicher bis zum schallenden Gelächter (S. 44 f.) anführt. Diesen Fall einer gehobenen Stimmung greift auch Hermann Schmitz auf, wenn er schreibt: »Freude ist eine hebende Atmosphäre, die den Leib zum Schweben (in ›Seligkeit‹), zum beschwingten Gang, ja zum Hüpfen (›Freudensprung‹) anstiftet, obwohl sich an der (physikalisch meßbaren) Schwere des Körpers nichts geändert hat; diese imponiert aber nicht mehr so wie sonst als Hindernis.« 21

Öffnet man sich also bereitwillig einer solchen Atmosphäre allgemeiner Leichtigkeit, die durch gemeinschaftliches Lachen entfaltet wird, läßt sich davon ergreifen und lacht mit, so zählt man sich, frei nach Rilke gesprochen, lachend hinzu und vernichtet die Zahl, weil man dann nicht mehr in das Lachen des einzelnen Lachenden L1,2,3,…n mit seinem eigenen Resonanz-Lachen einstimmt, sondern in das Lachen aller, also in das Lachen der gesamten Lachgemeinschaft, zu der man dann selbst auch gehört. Als Beispiele von Lachgemeinschaften dieser Art ließe sich auch das Publikum einer Komödien-Aufführung oder eine eutrapelistische Runde nennen. Verweigert man sich aber, weil man z. B. den Eindruck hat, man solle hier »unter seinem Niveau« lachen, steht man schlagartig wieder außerhalb dieser Atmosphäre und hat dann auch wieder die Möglichkeit, jeden einzelnen Lachenden kritisch distanziert zu beobachten und zu beurteilen, weil die Einstellung williger Hingabe in die kategoriale Einstellung eines neutralen Beobachters umge1689 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ätiologie des Lachens

schlagen ist. Ein Musterbeispiel für dieses Verhalten ist der Theaterkritiker während einer Vorstellung. Das Gelächter einer größeren Lachgemeinschaft wird durch diese Distanzierung eines Einzelnen wohl nicht beeinträchtigt. Wird man aber von einer einzelnen Person mit dem Ansinnen angelacht, in deren Gelächter mit einzustimmen und verweigert dies nicht nur, sondern schaut die lachende Person völlig ernst an, so stürzt diese in eine peinliche Situation, die sie veranlaßt, den Blickkontakt sofort abzubrechen. Zugleich damit verstummt aber auch ihr eigenes Lachen, weil ihr ekstatisch-zentrifugaler Verhaltensimpuls in den zentripetalen Impuls aktueller Scham und Verlegenheit umgeschlagen ist, der sie förmlich erstarren läßt. Dieses Beispiel zeigt, daß Atmosphären, die durch Gelächter aller Art gestiftet werden, sich nur in einem intersubjektiven Bereich wechselseitiger Resonanz entfalten können, in dem alle Beteiligten die Einstellung williger Hingabe mitbringen, um durch das je eigene Resonanzverhalten diese Atmosphäre zu stiften und zu tragen. Nichts anderes besagt ja auch, wie wir gesehen haben 22, der Nomos eutrapelistischer Lachkultur. Anmerkungen 1

Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 49. Kurt Goldstein: Über Zeigen und Greifen, in: Der Nervenarzt 4, 1931, S. 453–466; vgl. dazu auch Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen III: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1972, Kapitel: Die Veränderung der Wahrnehmungswelt im Krankheitsbild der Aphasie, S. 256–328, v. a. S. 262 ff. und S. 303. 3 Vgl. dazu Burke, S. 176 und S. 192 bzw. Kant V,369. 4 Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus, Wiesbaden 1959, S. 45. 5 Vgl. dazu Alfred Jepsen: Nabi, München 1934; Ronald Knox: Christliches Schwärmertum, Köln/Olten 1957; Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros, Bonn 1963; Adolf Rodewyk S.J.: Die dämonische Besessenheit in der Sicht des Rituale Romanum, Aschaffenburg 1963; Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Zürich/Stuttgart o. J.; Jürg Zutt (Hg.): Ergriffenheit und Besessenheit, Bern/München 1972; Edgar Morin: Das Rätsel des Humanen, München/Zürich 1974; Michel Onfray: Philosophie der Ekstase, Frankfurt a. M. 1983; Fritz W. Kramer: Der rotes Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika, Frankfurt 2

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Anmerkungen

a. M. 1987; Fritz W. Kramer: Schriften zur Ethnologie. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Tobias Rees, Frankfurt a. M. 2005. 6 Fritz W. Kramer: Notizen zur Ethnologie der Passiones, in: Kramer: Schriften zur Ethnologie, S. 145–168, hier S. 145. 7 Vgl. dazu Buytendijk: Haltung und Bewegung, S. 186 ff. 8 Vgl. dazu Goldstein: Organismus, S. 307 ff. 9 Vgl. Kapitel 2.3.3.8–10. 10 Vgl. Kapitel 2.7.10.2. 11 Vgl. Kapitel 2.8.2. 12 Vgl. Kapitel 2.14.7.1.2. 13 Vgl. Kapitel 2.5.1. 14 Vgl. Kapitel 2.6.6.3. 15 Vgl. Kapitel 2.12.6.5.1–5. 16 Vgl. Kapitel 2.12.6.6.5. 17 Vgl. Kapitel 2.17.4.1–2. 18 Vgl. Kapitel 2.18.8.4. 19 Vgl. dazu Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen (1941), Frankfurt a. M. 8/1995; Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum, Bonn 1969; Hermann Schmitz: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977; Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg 1968; Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995; Michael Hauskeller: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995; Gernot Böhme: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Osterfildern vor Stuttgart 1998; Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001; Hilge Landweer (Hg.): Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007; Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionsforschung, Berlin 2011. 20 Auf die sehr komplizierte Frage zum Verhältnis von Atmosphären und Gefühlen gehe ich hier nicht ein; vgl. dazu die Aufsätze von Christoph Demmerling und Kerstin Andermann, in: Andermann/Eberlein, S. 43–56 und S. 79–96, und von Anna Blume/Christoph Demmerling, in: Landweer, S. 113–134, sowie die oben in Anmerkung 7 genannten Arbeiten von Gernot Böhme und Michael Hauskeller. 21 Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/ München 2009, S. 80. 22 Vgl. dazu die Kapitel 2.5.1, 2.3.4.3, 2.8.6.2, 2.12.6.4, 2.12.6.6.5 und 2.17.2.

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3.3. Zur Ethologie des Lachens als Frage, warum das Lachen so ist, wie es ist

3.3.1 Konstitutive Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens als Signatur entfalteter Personalität und deren Privation beim Lachen 3.3.1.1 Methodologische Vorbemerkung Ich habe schon in der Einleitung 1 darauf verwiesen, daß der Titel dieser Studie Homo ridens nicht so verstanden werden darf, als werde damit ein bestimmtes Menschenbild zum Ideal einer SollensEthik erhoben, etwa so wie Wilhelm von Conches 2 dies im Hochmittelalter getan hat, der im Sanguiniker Adam die Optimalform des Menschen sah, wie er aus der Hand eines heiteren Schöpfergottes entsprungen ist. Die Formel »Homo ridens« ist also nicht axiologisch-normativ zu verstehen, sondern phänomenologisch-deskriptiv, und deshalb geht es in dieser Studie auch nur darum, den Menschen als lachenden zu beschreiben. Dieser ausdrückliche Verzicht auf die Verkündigung eines neuen Menschenbildes darf aber andererseits wieder nicht so verstanden werden, daß die Fähigkeit des Menschen zum Lachen ein eher beiläufiges proprium hominis im Sinne von Aristoteles sei, gleichsam ein willkommener, aber letztlich doch überflüssiger Luxus, denn wir haben ja in Kapitel 2.18.8.4 gesehen, daß das Lachen ein Bedürfnis stillt, das erst auf dem Niveau entfalteter Personalität auftritt und nun zur Stabilisierung von Personalität schlechthin unverzichtbar ist. Wenn aus diesem Befund überhaupt eine ethische Forderung abzuleiten ist, dann ist es gewiß nicht die nach der Installation einer Spaßgesellschaft, in der man sich buchstäblich zu Tode amüsiert 3, sondern nur die Mahnung, die Lebensfunktion 1692 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Konstitutive Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens

des Humors ernst zu nehmen und die Bereitschaft zum Lachen nicht verkümmern zu lassen, weil man sich sonst den Weg zur Regeneration von Personalität versperrt. Wenn ich nun im folgenden von normativen Kriterien spreche, so ist auch dies nicht präskriptiv im Sinne eines Programms im Rahmen einer Sollens-Ethik gemeint, das den Anspruch erhebt, befolgt zu werden, sondern ebenfalls rein deskriptiv im Sinne einer empirischen Norm und damit als Kriterium einer Könnens-Ethik, weil wir einen Maßstab brauchen, anhand dessen bestimmte Verhaltensweisen benannt, beschrieben und mit anderen verglichen werden können. Auf das in diesem Sinn normative Kriterium des ausgezeichneten Verhaltens als Signatur entfalteter Gegenwart habe ich schon mehrfach 4 verwiesen, und dabei betont, daß es hier nicht darum gehen kann, diesen Status unter allen Umständen dogmatisch anzusinnen und einzuklagen, sondern daß Personalität die ganze Bandbreite des Verhaltensniveaus zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression umfaßt, sodaß das normative Kriterium des ausgezeichneten Verhaltens lediglich dazu dient, festzustellen, auf welchem Niveau von Personalität ein bestimmtes Verhalten sich jeweils bewegt. Und dies gilt dann auch für die jeweilige Form des Lachens. Der Generalnenner all der nun aufzulistenden Privationen des ausgezeichneten Verhaltens lautet personale Regression, genauer: tendenzielle personale Regression, weil personelle Regression hier nicht als Verhaltens-Revier verstanden werden soll, das vom VerhaltensRevier personale Emanzipation durch eine scharf markierte Grenze abgetrennt werden könnte, sodaß beide einen kontradiktorischen Gegensatz bilden, sondern als Verhaltens-Region, die über diffus verschwimmende Ränder in die Verhaltens-Region personale Emanzipation übergeht, sodaß beide einen polarkonträren Gegensatz bilden, der beliebig viele Grade aufweist. Tendenzielle personale Regression ist also immer als mehr oder weniger stark ausgeprägte Tendenz zu personaler Regression und damit als mehr oder weniger ausgeprägte Privation des ausgezeichneten Verhaltens zu verstehen. Wenn ich nun im folgenden die einzelnen Aspekte des ausgezeichneten Verhaltens aufliste und darauf verweise, wie sie beim 1693 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ethologie des Lachens

Lachen bestimmte Privationen erleiden können, so werde ich wohl oder übel manches wiederholen müssen, was in früheren Kapiteln schon mal angesprochen worden ist. Doch hier geht es ja nicht darum, ausschließlich neue Kriterien aufzuführen, sondern darum, die schon bekannten in Erinnerung zu rufen und sie mit den neuen systematisch zu ordnen. 3.3.1.2 Das normative Kriterium beherrschter Körperspannung als Eutonie Auf das Kriterium der Körperspannung sind wir zum ersten Mal in Kapitel 2.5.4 gestoßen, als es galt, die pneuma- und tonos-Lehre der stoischen Physik vorzustellen, und dabei sind wir mit Hermann Schmitz zu dem Ergebnis gekommen, daß die pneuma-Theorie der stoischen Physik ein den Stoikern selbst verborgen gebliebenes anthropologisches Fundament aufweist, das im innigen antagonistischen Zusammenspiel von zentripetalen und zentrifugalen Impulsen besteht, denn: »Nach Ansicht der Stoiker gibt es eine tonische Bewegung an den Körpern, die sich zugleich nach innen und nach außen richtet; ihre nach außen gerichtete Komponente ist verantwortlich für Größen und Qualitäten, die nach innen gerichtete aber für die Einigung und den Bestand (ousía) der Körper. Als durchdringender pneumatischer Tonos hält diese Bewegung den Kosmos zusammen. (…) Die (zentrifugale) Bewegung nach außen und oben ist Entfaltung oder Ausbreitung (hexaplosis) und würde sich ohne Konkurrenz mit ihrem Gegenspieler, der (zentripetalen) Bewegung nach innen und unten zerstreuen und dadurch verzehren; die andere Bewegung, die nach innen, würde sich ohne Antagonisten bald bis zur Unbeweglichkeit konzentrieren; nur durch die Konkurrenz beider Bewegungskomponenten wird die ewige Unruhe von psyche und pneuma erhalten.« 5

Und so vibriert der Kosmos der Stoiker ständig in der Mitte zwischen den Extremen von Explosion und Implosion. Übertragen auf die Leiblichkeit werden diese beiden innig aneinander geketteten antagonistischen Impulse als Engung und Weitung resp. als Spannung und Schwellung verspürt: 1694 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Konstitutive Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens

»Die einwärts gerichtete, einheitlichen Zusammenhang stiftende Komponente des stoischen tonos entspricht der Spannung, die nach außen drängende der Schwellung.«6

Sind diese beiden antagonistischen Impulse in etwa gleich stark, so herrscht in belebten Körpern eine beherrschte Grundspannung, die als Eutonie empfunden, im Jargon der Theaterleute als »Stütze« und im Jargon der Reiter als »Versammeltheit« bezeichnet wird, weil sie den Körper zu Aktivitäten aller Art fähig und bereit macht. Reißt diese Verbindung jedoch einmal ab, so kann es auch im eigenleiblichen Spüren zu Implosions-und Explosions-Erlebnissen aller Art kommen: Entweder ist man vor Schreck »zu Stein erstarrt« oder man hat das Gefühl, man werde förmlich zerrissen, wie dies z. B. bei einem ekstatischen Lachausbruch der Fall ist, den Baader deshalb überaus treffend als »Explodieren der Angstspitze« bezeichnet. All dies ist immer mit mehr oder weniger massiven Formen personaler Regression verbunden, die sich als mehr oder weniger massive Privation des ausgezeichneten Verhaltens manifestiert. Auf besonders drastische ekstatische Einbrüche des ausgezeichneten Verhaltens als der Signatur personaler Emanzipation verweist Laurent Joubert, wenn er schreibt: »Jeder weiß, daß beim Lachen das Gesicht bewegt wird, der Mund sich öffnet, die Augen strahlen und feucht werden, die Wangen sich röten, die Brust sich hebt, die Atmung in Stößen erfolgt; und wenn das Lachen länger dauert, weiten sich die Adern am Hals, die Arme fangen an zu rudern, die Beine beginnen zu strampeln, der Bauch fängt an zu pulsieren und tut etwas weh; man keucht, schwitzt, pißt (pisse) und scheißt (fiante) sich in die Hose vor Lachen und manchmal werden wir sogar ohnmächtig.« (S. 42)

Daß in dieser Beschreibung einige weitere Privationen des ausgezeichneten Verhaltens, die nun im folgenden zu nennen sind, eigentlich schon vorweggenommen sind, liegt daran, daß das normative Kriterium der beherrschten Körperspannung das fundamentale Kriterium überhaupt ist, von dem alle anderen normativen Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens mehr oder weniger direkt abhängen.

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3.3.1.3 Das normative Kriterium der Vertikalen als aufrechte Haltung Dies gilt vor allem für die aufrechte Haltung als der sichtbarsten Signatur entfalteter Personalität, die ohne beherrschte Körperspannung gar nicht möglich ist. Wir haben ja schon in Kapitel 2.12.2.1 gesehen, wie überaus wichtig den deutschen Aufklärern, allen voran Herder, der vertikale Impuls 7 als Aufrichtung zu personaler Mündigkeit war, und ich habe dort schon betont, daß Herders Hymne auf diesen vertikalen Impuls nicht nur phylogenetisch als Austritt aus dem Tierreich und ontogenetisch als Aufrichtung des Säuglings zur Person zu verstehen sei. Das aber heißt im Umkehrschluß, daß die tendenzielle Privation der aufrechten Haltung zugleich auch die deutlichste Signatur personaler Regression ist. Je ausgeprägter und intensiver also das Lachen ist, desto mehr geht auch die aufrechte Haltung verloren, sodaß man bei voller Eutonie zwar noch lächeln kann, beim Kichern sich aber schon nach vorne beugt und beim Cachinnus-Gelächter sich buchstäblich biegt und krümmt, und manchmal möchte man sich geradezu wälzen vor Lachen. 3.3.1.4 Das normative Kriterium der Stetigkeit als gleitender Gestus Bei beherrschter Körperspannung verlaufen alle Bewegungen gleitend, räumlich gezielt und sind gezielt dosiert. Wird das ausgezeichnete Verhalten jedoch mehr oder weniger eingeschränkt, so tendieren alle Bewegungen dazu, sich ins Ruckhafte zu verändern, und außerdem entarten sie zu sinnlos erscheinenden Hin-und-herBewegungen, Bewegungs-Wiederholungen und Bewegungen auf der Stelle. Beim höchsten Grad der Privation des ausgezeichneten Verhaltens entarten sie sogar zu einem völlig unbeherrschten chaotischen Bewegungssturm, der keine gezielte Gerichtetheit mehr erkennen läßt. Dies geht ja auch aus Jouberts Beschreibung hervor, wenn er davon spricht, daß man bei einem heftigen Lachanfall zappelt und strampelt und mit den Armen rudert. Und vor allem hat ja auch das Lachen selbst eine epikritisch gestotterte Verlaufsgestalt. 1696 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Konstitutive Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens

3.3.1.5 Das normative Kriterium der souveränen Übersicht als gezielter Blick Bei beherrschter Körperspannung wird nicht nur ein Griff nach einem Werkzeug gezielt gerichtet und gezielt dosiert, sondern auch der Blick auf Objekte aller Art, durch den man sich in seiner Welt orientiert. Wird diese souveräne Übersicht jedoch getrübt, so kann auch der Blick nicht mehr gezielt gerichtet werden und dann auf bestimmten Objekten gezielt ruhen, sondern er wird unstet oder starr oder richtet sich ungezielt ins leere objektlose Nirgendwo. Hand in Hand damit verzerrt sich auch das Gesicht zur Grimasse mit aufgerissenem Maul und gefletschten Zähnen, sodaß ein menschliches Gesicht sogar tierische Züge annehmen kann. 3.3.1.6 Das normative Kriterium der rhythmischen Symmetrie als geregelte Atmung Normalerweise erfolgt unsere Atmung von selbst und regelt sich auch selbst, sodaß wir sie als ausgewogenes Zusammenspiel von Ein- und Ausatmung gar nicht in den Blick bekommen. Zum Thema wird unsere Atmung erst bei Atemnot oder wenn wir sie gezielt manipulieren müssen, z. B. in der Form, daß wie den Atem anhalten, wenn wir etwas Schweres heben müssen, weil wir dann eine besonders große Körperspannung brauchen, oder wenn wir beim Singen, Rezitieren oder Joggen die Atmung gezielt einstellen, um genügend Luft zu haben; aber auch dann achten wir auf die strikte Symmetrie von Ein- und Ausatmung. Sobald uns diese Kontrolle aber entgleitet, dehnt sich gleichsam das Band, das Einatmen und Ausatmen aneinander koppelt und deren Symmetrie sichert, sodaß die Atmung ins unkontrollierbare Keuchen, Japsen und Hecheln übergeht. Reißt dieses Band völlig, atmet man zuviel ein, wie z. B. beim Schluchzen, oder man atmet zuviel aus, wie eben beim Lachen, so gerät die Atmung insgesamt ins Stottern. Es gibt aber auch den Fall, daß die Atmung plötzlich blockiert wird wie z. B. beim Stutzen-und-Staunen oder erst recht bei tiefem Schreck, also bei allen Widerfahrnissen von imponieren1697 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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der Plötzlichkeit. Das andere Extrem wäre ein Lachkrampf, bei dem man sich bis in eine Ohnmacht hinein lachen kann. 3.3.1.7 Das normative Kriterium der Wachheit als Präsenz Wenn man sagt, jemand sei in einer Situation präsent oder habe Präsenz, so ist damit nicht gemeint, er sei einfach bloß vorhanden wie z. B. ein Stuhl vorhanden ist, der irgendwo im Raum steht, sondern gemeint ist, jemand sei auf der Höhe der Situation, behaupte seinen Ort und entfalte von dort aus seine Positionalität 8 im Sinne von Plessner. Ist dies der Fall, so verfügt er immer über einen gewissen Verhaltensspielraum, innerhalb dessen er sein jeweiliges Verhalten gezielt wählen und dieses jeweils gewählte Verhalten auch gezielt steuern kann. Gerät er jedoch ins Lachen, so vermindert sich dieser Spielraum sofort, und je intensiver dieses Lachen ist, desto mehr verengt sich auch der Spielraum des Verhaltens, weil das Lachen dann die Tendenz entfaltet, möglichst viele Bereiche des Verhaltens innerhalb dieses Spielraums zu verdrängen, zu dominieren oder gleich ganz zu »schlucken«. Der Spielraum des Verhaltens gleicht dann einem Trichter, in den man immer tiefer hineingleitet, bis man schließlich nur noch lachen kann, weil der Trichter sich zu einem Tunnel verengt hat. Kann man also beim Lächeln oder Kichern immer noch irgendwelche Geschichten erzählen oder handwerkliche Tätigkeiten verrichten, so ist dies, wenn man sich vor Lachen biegt, nicht mehr möglich: Alle Präsenz ist weg, weil sie der Ekstatik gewichen ist, und man selbst ist auch weg, weil man mehr und mehr außer sich geraten ist. Wie einem dabei zumute ist, kann man sehr schön bei Franz Kafka nachlesen, der in einem langen Brief an seine Verlobte Felice Bauer über viele Seiten hinweg einen überwältigenden Lachanfall schildert, in den er während einer überaus feierlichen Audienz bei seinem Vorgesetzten verfallen war, und dabei kommt er zu dem Schluß, daß ihm die Welt verging, weil er selbst vor Lachen verging: 1698 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Konstitutive Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens

»Die Welt, die ich bisher immerhin im Schein vor den Augen gehabt hatte, verging mir völlig, und ich stimmte ein so lautes, rücksichtsloses Lachen an, wie es in dieser Herzlichkeit nur Volksschülern in ihren Schulbänken gegeben ist.« 9

Daß er bei diesem Lachanfall auch noch die Flucht ergriff und hilflos lachend aus dem Zimmer taumelte, verrät, wie triumphal dieser ekstatische Impuls über den Willen zur Präsenz auf der Höhe der Situation gesiegt hatte. 3.3.1.8 Das normative Kriterium beherrschter Sprachlichkeit als satzförmige Rede Das vom ekstatischen Lachen beanspruchte Verhaltensmonopol beeinträchtigt vor allem auch das sprachliche Handeln. Bei beherrschter Sprachlichkeit in unbedrängter Distanz zu uns selbst und der Welt sind wir zu explikativer Rede in der Lage und können problemlos kognitive Aussagen, kognitive Fragen und explizit performative Sprechakte formulieren, durch die wir unsere Welt und auch unser eigenes Verhalten ordnen. Reden wir hingegen in Situationen von Betroffenheit, tendiert unser Reden eher zu evokativen Bekundungen, die bis auf Einwort-Sätze wie »Hilfe!« oder »Scheiße!« schrumpfen können und über das Stammeln und Stottern sich sogar auf eine sprachfreie Betroffenheitsbekundung als bloßer Schrei noch weiter reduzieren lassen. Wer vor Schmerzen oder bei einer Allergieattacke buchstäblich aus der Haut fahren und vor sich selbst flüchten möchte, kann auch nicht mehr reden, sondern nur noch schreien. Beim Lachen ist dies nicht anders. Kann man unter ironischem Lächeln noch allerhand boshafte Komplimente machen und unter Gekicher noch komische Geschichten erzählen, so blockiert das ekstatische Cachinnus-Gelächter gar jede Art von sprachlicher Äußerung. So gesehen ist Wittgensteins berühmter siebter Satz »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« 10, sicher falsch, zumindest aber sehr ungenau, weil man in bestimmten Situationen, in denen man nicht mehr sprechen kann, durchaus nicht unbedingt schweigen muß, sondern immer noch schreien kann, 1699 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und oft genug kann man solchen Situationen auch noch lachen oder weinen. 3.3.1.9 Das normative Kriterium der Regeneration des ausgezeichneten Verhaltens als uroborischer Impuls Alle hier angeführten Privationen des ausgezeichneten Verhaltens als tendenzielle Regression entfalteter Personalität, so massiv sie auch immer sein mögen, sind jedoch kein endgültiger Sturz ins Bodenlose oder in die Sackgasse vormenschlicher Animalität, sondern nur ein Umweg zum Wiedergewinn voller Personalität und damit auch zur Wiederkehr des ausgezeichneten Verhaltens. Deshalb betont Plessner an zentraler Stelle seines Werks Lachen und Weinen denn auch, bei diesem Sturz in die Katastrophe der Personalität werde das Verhältnis des Menschen zu sich selbst »in eins preisgegeben und wiederhergestellt.« (VII,274) Das aber heißt zugleich auch, daß man diesen Sturz ins Regressive nicht scheuen muß; man kann sich diesem Sturz ins Regressive sogar anvertrauen, weil man darauf vertrauen darf, daß, mythologisch gesprochen, auf diese Höllenfahrt die Wiederauferstehung folgen wird. Dieser Impuls zur Selbstregulierung des ausgezeichneten Verhaltens ist der uroborische Impuls, durch den sich jedes ekstatische Verhalten nach dem Prinzip consumendo consumor selbst verzehrt und die Heimkehr des Ekstatikers zu sich selbst sichert. Und das heißt: Die kurzfristig verlorengegangene beherrschte Körperspannung stellt sich wieder ein; die kurzfristig zerbrochene aufrechte Haltung kehrt zurück; die Bewegungen werden wieder beherrscht, gezielt und fließend; das Gesicht entzerrt sich wieder und der Blick kann wieder gezielt gerichtet werden und gezielt ruhen; die Atmung kehrt zur Symmetrie von Ein- und Ausatmung zurück; die situationsadäquate Präsenz stellt sich wieder ein, sodaß man auch wieder »voll da ist«; und schließlich kann man auch wieder wie gewohnt in vollständigen Sätzen reden und damit seine Welt sprachlich ordnen. Doch dieser uroborische Impuls prägt durchaus nicht jede Art von Gelächter, sondern nur das Lachen, das wir als lachmündiges 1700 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die konstitutiven und regulativen Kriterien des Lachens

Lachen in voller Personalität bezeichnen wollen, denn das prä-personale Lachen des Säuglings vor der Fremdelphase, in der sich das kleine Kind zur Person aufrichtet, kennt den uroborischen Impuls noch nicht, und das para-personale Lachen, das meist ein pathologisches Lachen ist, hat ihn verloren und kennt ihn deshalb nicht mehr. Wir werden in Kapitel 3.4 ausführlich darauf eingehen, wo es gilt, die einzelnen Stufen von Lachmündigkeit darzustellen. 3.3.2 Die konstitutiven und regulativen Kriterien des Lachens 3.3.2.1 Methodologische Vorbemerkung Die konstitutiven Kriterien für die Bestimmung eines Phänomens gelten für alle Manifestationen eben dieses Phänomens, weil sie dessen Wesen ausmachen, und deshalb können diese konstitutiven Kriterien in generellen Sätzen oder Allaussagen formuliert werden. Da wir nun in Kapitel 3.1 als Antwort auf die Frage, was das Lachen sei, zu dem Ergebnis gekommen sind, Lachen sei als transitorisches Phänomen eine Verlaufsgestalt, ist die Frage nach den konstitutiven Kriterien des Lachens zwangsläufig die Frage nach der generellen Struktur eben dieser Verlaufsgestalt. Da wir hier im systematischen Teil dieser Studie die Frage nach Wesen, Formen und Funktionen des Lachens stellen, müssen wir auch die Frage nach den regulativen Kriterien des Lachens stellen, um auf der Grundlage dieses Katalogs an Fragen bestimmte Formen des Lachens von anderen unterscheiden, benennen und auf einer Lachpalette systematisch ordnen zu können. Anders formuliert: Fragen wir nach den konstitutiven Kriterien des Lachens, so fragen wir nach dem generellen Wesen des Lachens, gleichsam nach seiner »inneren Form«; fragen wir nach den regulativen Kriterien, so fragen wir nach der jeweiligen Beschaffenheit eines bestimmten Lachens, also gleichsam nach seiner »äußeren Form«, durch die es sich von einem anderen Lachen qualitativ unterscheidet. Oder noch kürzer: Die konstitutiven Kriterien des Lachens gelten immer und überall, aber auch da in variabler Form; die regula1701 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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tiven Kriterien können in bestimmten Formen von Lachen gegeben sein, in anderen aber auch fehlen.

3.3.2.2 Konstitutive Kriterien 3.3.2.2.1 Das Kriterium räumlicher Gerichtetheit Alles Lachen ist räumlich gerichtet, und es ist immer räumlich gerichtet. Alles Lachen entfaltet also eine Struktur subjektiver relationaler Räumlichkeit. Beim atmungsrelevanten lauten Lachen ist dies am offensichtlichsten, weil es eine bestimmte Art von Ausatmung ist, sodaß jede Art von lautem Lachen genau wie ein Blick »unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt« 11. Räumlich gerichtet ist aber auch schon das Lächeln, das sich auf einem Gesicht protopathisch gleitend zentrifugal ausbreitet und das Gesicht zum Strahlen bringt. Und wenn das Lachen so ausgeprägt ekstatisch ist, daß es auch noch Gestus, Vultus und Habitus synergetisch überformt, so manifestiert sich dies in Bewegungen, die generell zentrifugal nach oben und außen gerichtet sind: Mund und Augen werden aufgerissen, die Körperhaltung wird konvex, und alle Gliedmaßen zeigen die Tendenz, sich von der Mitte des Körpers zentrifugal zu lösen, und deshalb haben wir dabei auch das Gefühl, dieses ekstatische Gelächter zerreiße uns geradezu. Damit sich bei diesem Satz aber nicht das Mißverständnis einschleicht, das Lachen werde hier hypostasiert oder gar zu einem Akteur personifiziert, dessen Handlung unsere Widerfahrnis ist, also das Gefühl, förmlich zerrissen zu werden, füge ich sofort hinzu, daß dies nur als metaphorische Rede zu verstehen ist, weil alles Lachen immer und überall menschliches Verhalten ist und somit nie als ein vom lachenden Menschen ablösbares autonomes Geschehnis verstanden werden darf. Ein Blick auf Bachtin zeigt, wie leicht man der Versuchung erliegen kann, das Lachen auf diese Art zu verdinglichen. Bestimmte Formen von Gelächter sind aber nicht nur räumlich gerichtet, sondern darüberhinaus auch noch zielgerichtet, weil sie an einen bestimmten Interaktionspartner gezielt adressiert werden. 1702 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Diese Adressiertheit des Interaktions-Lachens geschieht durch den obligatorischen Blickkontakt, weil auch der Blick, genau wie jedes Lachen, unumkehrbar aus der Enge des Leibes in die Weite geht und darüberhinaus auch noch durch den Blickkontakt ins leibliche Zentrum des Interaktionspartners gerichtet ist. Ob dieses Interaktions-Lachen ein freundlich wohlwollendes Anlachen ist oder ein aggressives Auslachen, spielt hier keine Rolle, denn zielgerichtet adressiert sind alle Formen von Interaktions-Lachen durch einen Blickkontakt. Lacht man aber »in sich hinein«, wie z. B. beim Kichern, so ist dies kein gezielt adressiertes Lachen, sondern nur ein gerichtetes, weil nur ein Blickkontakt Lachen gezielt adressieren kann, der in diesem Fall aber gar nicht vorliegt. 3.3.2.2.2 Das Kriterium zeitlicher Gerichtetheit Alles Lachen ist zeitlich gerichtet, und es ist immer zeitlich gerichtet, weil es nicht nur eine Verlaufsgestalt ist wie irgendein anderes Geschehnis auch, das einen Anfang und ein Ende hat, sondern darüberhinaus auch eine Verlaufsgestalt ist, die auf ihr Ende gerichtet ist und dieses Ende in all ihren Phasen ständig vorwegnimmt und eigens herbeiführt. So gesehen läßt sich das Lachen mit einer Melodie vergleichen, die, so kompliziert sie auch immer sein mag, doch immer wieder zum Grundton 12 und schließlich auch zur Stille zurückkehrt, aus der sie entstanden ist. Man könnte auch mit Heidegger sagen, Lachen sei geprägt durch »ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit«13 oder mit Schmitz, dem Lachen sei eine »teleologische Tendenz«14 immanent. Für diese finale Gerichtetheit haben wir die Bezeichnung »uroborischer Impuls« gefunden, durch den das Lachen sich selbst genauo verzehrt, wie dies auch bei bestimmten Affekten der Fall ist, wo wir z. B. davon sprechen, daß der Zorn uroborisch verraucht. Daß ich oben in Kapitel 3.2.2.4 jedes herzhafte Lachen als eine kleine private und profane Heilsgeschichte bezeichnet habe, ist ebenfalls ein Aspekt dieser finalen Ausrichtung des Lachens. Doch auch hier gilt festzuhalten, daß der Lachende nicht die Marionette des Lachens ist, auch wenn dieses Lachen noch so un1703 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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verfügbar aus ihm herausplatzt und sein Ende selbst zu bestimmen scheint, denn der uroborische Impuls ist lediglich ein Teilaspekt der teleologischen Tendenz, die der Regeneration von Personalität als ganzer dient und auf dem Umweg durch personale Regression hindurch15 wieder zum Status personaler Emanzipation zurückführt. Es wird sich zeigen, daß dieser uroborische Impuls in bestimmten Fällen extrem gedehnt sein kann, z. B. bei Personen von ungesicherter Personalität, bei denen sich ein Gelächter zu veritablen Lach-Epidemien 16 an der Grenze zu pathologischem Verhalten ausweiten kann, daß er aber auch ganz fehlen kann; doch all dies ist nur der Fall beim prä-personalen und para-personalen Lachen, bei dem der Status von Personalität mehr oder weniger reduziert ist, denn bei personalem lachmündigem Lachen fehlt er niemals. 3.3.2.2.3 Das Kriterium ambivalenter Gerichtetheit Alles Lachen ist ambivalent gerichtet, und es ist immer ambivalent gerichtet. Daß Lachen ein Ambivalenz-Phänomen ist, gehört immer schon zu den tragenden Säulen der Gelotologie und ist in der Problemgeschichte der Gelotologie auch nie aus dem Blick geraten. Platon 17 begründete diese Ambivalenz psychologisch, Joubert, Descartes und Hecker 18 begründeten sie physiologisch, und Kant, Plessner und Schmitz 19 anthropologisch, indem sie nach dem in sich antagonistischen Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe fragten; und immer wieder konnten wir uns auf die tonos-Lehre der stoischen Physik 20 berufen, die sich ganz besonders erhellend erwiesen hat, weil die tonische Bewegung sich zugleich nach innen und außen richtet und in ihrem antagonistischen Zusammenspiel von zentripetalen und zentrifugalen Impulsen ein Argumentationsmodell abgibt, anhand dessen sich auch das Lachen als Zusammenspiel von Spannung und Schwellung überzeugend deuten läßt. Sichtbar wird diese in sich antagonistische Gerichtetheit des Lachens vor allem in der epikritisch gestotterten Verlaufsgestalt beim atmungsrelevanten lauten Lachen, aber auch beim protopathisch schmelzenden Lächeln, sodaß sich die Bandbreite des Lachens insgesamt zwischen entschwelltem Lächeln und gestottertem Schwellen bewegt. 1704 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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3.3.2.3 Regulative Kriterien 3.3.2.3.1 Das Kriterium synergetisch-synästhetischer Zugleichheit Das Kriterium synergetischer Zugleichheit besagt, daß jemand, wenn er lacht, als ganze Person lacht, also mit allem, was er ist, hat, kann und tut. Da nun alle konstitutiven Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens in synergetischer Zugleichheit gelten und bei verschiedenen Graden personaler Regression bestimmte Privationen erleiden, haben wir auch hier ein vorzüglich geeignetes Kriterium, um z. B. das lachmündige personale Lachen von pathologischen Formen des Lachens bei verminderten Graden von Personalität zu unterscheiden. So sprach z. B. Joubert zwar ausführlich von defizienten und pathologischen 21 Formen von Gelächter, hatte aber, da er weder das Kriterium synergetischer Zugleichheit noch den uroborischen Impuls kannte, kein angemessenes Kriterium an der Hand, um diese defizienten und pathologischen Formen des Lachens wirklich exakt zu beschreiben und vom personalen lachmündigen Lachen zu unterscheiden; er wußte einfach nicht, wonach er fragen sollte. Wenden wir dieses Kriterium synergetischer Zugleichheit jedoch konsequent an, so schärft sich sofort der Blick auch dafür, ob ein Lachen wahrhaftig ist oder aufgesetzt. Wenn der Schauspieler David Garrick einmal einen Kollegen dahingehend kritisiert haben soll, daß dieser einen Betrunkenen zwar recht bemüht dargestellt habe, dessen linker Fuß aber immer noch zu nüchtern gewesen sei, so klagte er genau dieses Prinzip synergetischer Zugleichheit des Gesamtverhaltens auch in der Schauspielkunst ein. Ob und wie auch der linke Fuß beim Lachen mitlachen kann, weiß ich zwar nicht zu sagen; aber wie die Augen beim Lächeln mitlachen, sehr wohl. Und wenn der Schauspieler Anthony Hopkins Nixons Lachen wie eine Maske im blitzschnellen Wechsel aufsetzt und wieder abnimmt, so wirkt dies nicht nur gespenstisch, sondern auch außerordentlich entlarvend, weil man nun auch bei Nixon selbst sieht, wie maskenhaft aufgesetzt seine Lache war, und nun auch weiß, daß dieser Richard Nixon mit Recht »tricky Dicky« genannt wurde. 1705 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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3.3.2.3.2 Das Kriterium situativer Stimmigkeit Eng verwandt mit dem Kriterium synergetischer Zugleichheit ist das Kriterium situativer Stimmigkeit als Synergie von Lachen und Situation und hat auch die gleiche heuristische Funktion. Das Kriterium situativer Stimmigkeit setzt an bei dem Umstand, daß jede Art von Gelächter entweder auf eine Situation antwortet oder eine Situation stiftet, und fast immer gilt beides zugleich, sodaß man auch hier mit Mephisto sagen kann: »Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben.« (V. 4117) Entscheidend ist nun, ob ein Lachen zu einer Situation paßt oder nicht und dem Wandel einer Situation folgt oder nicht. Klafft beides auseinander, zeigt sich auch hier sofort die Unwahrhaftigkeit, Gemachtheit, Aufgesetztheit und Forciertheit eines Lachens. Man denke nur an das stereotype maskenhafte Lächeln, das zu bestimmten sozialen Rollenfächern zu gehören scheint und deshalb gezielt aufgesetzt wird, z. B. an das festgefrorene huldvolle Lächeln der Queen oder an die stereotype Heiterkeitsmaske des »GrinseKanzlers« Schröder. Oft genug klaffen Lachen und Situation aber auch deshalb auseinander, weil die stereotype Lächelmaske pathologisch bedingt ist und zu einem bestimmten Krankheitsbild gehört, und deshalb wirkt das stereotype leere Lächeln von Alzheimer-Patienten so gespenstisch, wenn die Situation sich ändert, das leere Lächeln aber bleibt. 3.3.2.3.3 Das Kriterium situativer Verfügbarkeit Daß wir auf das Kriterium der situativen Verfügbarkeit des Lachens bei der Rekonstruktion der Problemgeschichte der Gelotologie immer wieder gestoßen sind, hat viele Gründe. Einer liegt darin, daß das von Platon verkündete Ideal umfassender Besonnenheit 22 nicht nur von den Stoikern 23, sondern auch von einflußreichen Kirchenvätern Johannes Chrysostomus und Aurelius Augustinus 24 willig aufgegriffen wurde, die es dann zur Grundlage aller Mönchsregeln 25 erhoben haben, denn im Lichte dieses verabsolutierten Besonnenheitsideals erschien ein tendenziell unverfügbares Verhalten wie das ekstatische Bekundungs-Lachen als moralischer Skandal 1706 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und wurde deshalb strikt verworfen. Dies galt auch noch für Bernhard von Clairvaux26, der diese Sicht der Dinge im 12. Jahrhundert eigens noch mal bekräftigte. Eine Wende brachte erst die Sündenlehre von Anselm von Canterbury 27 durch dessen Unterscheidung von Kardinalsünden, die man wissentlich und willentlich begeht, und läßlichen Sünden, die einem gegen seinen Willen unterlaufen und die man durch ernsthafte Reue und Buße wieder sühnen kann, weil dadurch das verabsolutierte Besonnenheitsgebot grundsätzlich relativiert wurde, denn nun erschien auch das tendenziell unverfügbare Lachen schlimmstenfalls als eine läßliche Sünde. Diese fundamental neue theologisch-moralische Bewertung des Lachens hat denn auch dazu geführt, daß es im Gefolge von Anselm von Canterbury für die Scholastiker akzeptierbar wurde, sodaß auch Wilhelm von Conches 28, Hildegard von Bingen 29, Alexander von Hales 30 und Thomas von Aquin 31 das Lachen allgemein genauo vorurteilslos betrachten konnten wie Aristoteles 32 dies einst getan hatte. Daß es sich bei dieser Diskussion so gut wie immer um das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen handelte, hat seinen Grund darin, daß die Gelotologie von Anfang an dazu neigte, das Lachen auf das Bekundungs-Lachen zu reduzieren. Diese Tendenz hat sich auch nicht geändert, als nach dem Ende des christlichen Mittelalters das Lachen unter profanen und dann wiederum meist unter physiologischen Aspekten analysiert wurde, denn nun konnte die tendenzielle Unverfügbarkeit des Bekundungs-Lachens als unverfügbares Spiel der Lebensgeister 33, als Reflex 34, als Hydraulik organischer Energie 35 oder als Trieb 36 erklärt werden. Mit einem Wort: Lachen wurde nicht als unverfügbares Erlebnis, sondern als unverfügbares Geschehnis gedeutet. Durch die anthropologische Wende in der Gelotologie seit Kant wurde das Lachen zwar wieder als Erlebnis gedeutet, wie dies schon Aristoteles getan hatte, doch das tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen blieb auch bei Kant 37, Plessner 38 und Schmitz 39 weiterhin im Zentrum des gelotologischen Interesses, und dies liegt daran, daß Lachen nun als Regressionsphänomen erschien, weil jede Art von personaler Regression die Tendenz zu Verhaltensweisen verstärkt, die sich als tendenziell unverfügbares Widerfahrnis an 1707 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ethologie des Lachens

uns und mit uns vollziehen. Da Kant, Plessner und Schmitz aber auch den ambivalenten Charakter des Lachens deutlich betonen, der sich als Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe manifestiert, ist dadurch auch der Aspekt der Unverfügbarkeit wieder entscheidend relativiert, sodaß nunmehr sehr viel genauer gefragt werden kann, welche Art von Gelächter in welchen Situationen mehr oder weniger verfügbar ist. Und damit haben wir nun ein weiteres regulatives Kriterium, anhand dessen wir bestimmte Arten von Gelächter von anderen unterscheiden und systematisch ordnen können, insbesondere dann, wenn wir das Kriterium der Verfügbarkeit an bestimmte Einstellungen 40 koppeln. Unsere Regel lautet dann: Die Einstellung williger Hingabe befördert die Unverfügbarkeit des jeweiligen Lachens, die Einstellung trotziger Selbstbehauptung bremst sie. Aus diesem Grund habe ich bisher auch immer vom tendenziell unverfügbaren Bekundungs-Lachen und vom tendenziell verfügbaren Interaktions-Lachen gesprochen, weil, wie wir sehen werden, das Interaktions-Lachen in bestimmten Situationen, bei einem Wechsel der jeweiligen Einstellung und beim Verlust des Blickkontakts auch in Bekundungs-Lachen umkippen kann. Etwas anders liegt der Fall beim Resonanz-Lachen, das weder voll verfügbar noch völlig unverfügbar ist, sondern, je nach Einstellung, mehr oder weniger verweigerbar ist. Und somit manifestiert sich das Kriterium der Verfügbarkeit auf einer breiten Skala, die von völliger Verfügbarkeit über relative Verfügbarkeit, Verweigerbarkeit und Unwillkürlichkeit bis zu totaler Unverfügbarkeit reichen kann. 3.3.2.3.4 Das Kriterium der Intensität Wenn man die ganze Skala vom Lächeln und Schmunzeln übers Kichern bis zum ekstatischen Cachinnus-Lachen als unterschiedlich stark ausgeprägte Varianten des Lachens wertet, auch wenn Plessner 41 dies entschieden bestreitet, wird die Intensität des jeweiligen Lachens zu einem entscheidenden regulativen Kriterium, denn die Intensität des jeweiligen Lachens entspricht exakt dem jeweiligen Grad der in sich ambivalenten Körperspannung 42, die 1708 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die konstitutiven und regulativen Kriterien des Lachens

eine extreme Bandbreite mit unendlich vielen Zwischenstufen hat, wie dies bei jedem polarkonträren Gegensatz der Fall ist. Und hier lautet unsere Regel: Je intensiver das jeweilige Lachen ist, desto atmungsrelevanter ist es auch und desto größer ist seine Tendenz zur Unverfügbarkeit. Man könnte auch sagen: Je intensiver ein Lachen ist, desto epikritischer ist seine Verlaufsgestalt, und, analog dazu, je sanfter ein Lachen ist, desto protopathischer ist seine Verlaufsgestalt, die sich dann als Lächeln manifestiert, das über ein Gesicht gleitet. Plessner hatte, wie wir in Kapitel 2.17.4.5.2 gesehen haben, energisch bestritten, daß Lachen und Lächeln unterschiedlich intensive Varianten desselben Verhaltens sind, und hatte deshalb darauf bestanden, das Lachen habe mit dem Lächeln »von gewissen Äußerlichkeiten vielleicht abgesehen, nichts zu tun« (VII,426) und sei deshalb »eine Ausdrucksform sui generis« (VII,425). Im Gegensatz dazu hatte sein Freund Buytendijk darauf bestanden, Lächeln sei eine Anfangs- bzw. Schwundstufe des Lachens, aber hinzugefügt, es genüge nicht, festzustellen, »daß das erstere (das Lächeln) oft in das zweite (das Lachen) übergeht, sondern man muß auch wissen, ob bei diesem Übergang etwas ist, das sich ändert und doch auch dasselbe bleibt.« 43

Um diese Frage zu klären, setzt Buytendijk bei der Körperspannung an, also beim Zusammenspiel von Enge und Weite, Spannung und Schwellung und schreibt: »Das Paradoxe des Lächelns ist nun, daß es in einer aktiven Anspannung der Muskeln besteht, die als eine beginnende Entspannung einer aktiven Ruhehaltung erlebt wird.« (S. 117)

Dieses Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung vollzieht sich nun aber auch beim Lachen, nur mit dem Unterschied, daß dieses Zusammenspiel beim Lächeln langsam und protopathisch schmelzend, beim lauten Lachen aber abrupt und epikritisch sprengend vor sich geht, sodaß nur das Lächeln als »aktive Ruhehaltung« erlebt werden kann, das atmungsrelevante Bekundungs-Lachen aber als dramatisches Widerfahrnis und das atmungsrelevante Interaktions-Lachen als dramatische Aktion erlebt werden. Von hier aus gesehen erklärt sich auch, warum das tendenziell verfügbare Interaktions-Lächeln problemlos zum Interaktions1709 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Zur Ethologie des Lachens

Lachen gesteigert und wieder zum Interaktions-Lächeln reduziert werden kann, sodaß also z. B. eine wohlwollende Zuwendung zwischen Anlächeln und Anlachen hin und her pendeln kann – je nachdem, wie eine Situation sich ändert, daß aber bestimmte Formen des tendenziell unverfügbaren, unwillkürlich sich einstellenden Bekundungs-Lächelns sich nicht zum lauten Bekundungs-Lachen steigern lassen. Ich meine damit die Varianten des BekundungsLächelns, die das Erlebnis einer »aktiven Ruhehaltung« bekunden, also z. B. das erfüllte Lächeln als Bekundung glückhaft zufriedener Heiterkeit, das selige Lächeln der Entrückten und das vielsagende Lächeln. Im Gegensatz dazu kann das Lächeln, das sich bei einem AhaErlebnis einstellt, sich sogar bis zum triumphalen Heureka-Gelächter steigern, je nachdem, wie groß der dabei aufgeblitzte Erkenntnisgewinn ist. Analoges gilt für das geloiastische Lachen als Antwort auf Komik und Lächerlichkeit, das ebenfalls auf der ganzen Bandbreite zwischen Lächeln und Cachinnus-Lachen angesiedelt sein kann. Anmerkungen 1

Vgl. Kapitel 1.3 und Anmerkung 21. Vgl. Kapitel 2.7.5. 3 Vgl. dazu Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a. M. 16/2003. Aufschlußreich für unsere Fragestellung ist insbesondere das Schlußkapitel S. 189 ff. mit Huxleys Warnung vor einer Welt, die zum Varieté verkommt. 4 Vgl. dazu die Kapitel 2.9.4.3, 2.17.4.5, 2.18.7, 2.18.8.4 und 3.2.2.3. 5 Schmitz: Leib, S. 500 f. 6 Schmitz: Leib, S. 501 f. 7 Vgl. dazu Herder, v. a. Herders Abhandlung »Älteste Urkunde des Menschengeschlechts« und sein Hauptwerk »Ideen«, sowie Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, S. 83 ff.; Paul Leroy: Angst und Lachen, Wien 1954; Dieter Wyss: Strukturen der Moral, Göttingen 1968; Erwin Straus: Die aufrechte Haltung, in: Straus: Psychologie der menschlichen Welt, S. 224 ff. 8 Vgl. Kapitel 2.17.3. 9 Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Herausgegeben von Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt a. M. 1998, S. 236–240, hier S. 239. 2

1710 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen 10

Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1963, S. 115. 11 Vgl. Schmitz: Gegenstand, S. 282. 12 Vgl. dazu Schopenhauer I,343 ff. 13 Vgl. dazu Heidegger: Sein und Zeit, S. 369, sowie § 48: Anstand, Ende und Ganzheit, S. 241 ff. 14 Schmitz: Person, S. 116. 15 Vgl. Kapitel 2.18.8.1. 16 Die Lach-Epidemie in Tanganjika, die im Januar 1962 in einer Mädchenschule begonnen hatte, dauerte bis zum Sommer und erfaßte etwa tausend Personen, meist Jugendliche. Vgl. dazu Christian F. Hempelmann: The laughter of the 1962 Tanganyika ›laughter epidemic‹, in: Humor – International Journal of Humor Research 20,1, 2007, S. 49–71. 17 Vgl. Kapitel 2.2.5 18 Vgl. Kapitel 2.9.4.1, 2.9.7, 2.10.4 und 2.14.6.2. 19 Vgl. Kapitel 2.12.6.6.5, 2.17.4 und 2.18.8.1. 20 Vgl. Kapitel 2.5.4, 2.12.6.6.5, 2.17.3, 2.18.6.2 und 3.3.1.2. 21 Vgl. Kapitel 2.9.9. 22 Vgl. Kapitel 2.2.3. 23 Vgl. Kapitel 2.5.2.3 und 2.6.4. 24 Vgl. Kapitel 2.6.4 und 2.6.5. 25 Vgl. Kapitel 2.6.6. 26 Vgl. Kapitel 2.7.3. 27 Vgl. Kapitel 2.7.4. 28 Vgl. Kapitel 2.7.5. 29 Vgl. Kapitel 2.7.6. 30 Vgl. Kapitel 2.7.7. 31 Vgl. Kapitel 2.7.8. 32 Vgl. Kapitel 2.3. 33 Vgl. dazu die Kapitel über Joubert 2.9, Descartes 2.10 und Hobbes 2.11. 34 Vgl. dazu die Kapitel über Descartes 2.10.5, Schopenhauer 2.14.6.1, Hecker 2.14.6.2 und Koestler 2.15.7. 35 Vgl. dazu Kapitel 2.14. 36 Vgl. dazu das Kapitel über Darwin 2.15. 37 Vgl. Kapitel 2.12.6.6.5. 38 Vgl. Kapitel 2.17. 39 Vgl. Kapitel 2.18. 40 Vgl. Kapitel 3.2.1. 41 Vgl. dazu Kapitel 2.17.4.5.2. 42 Vgl. Kapitel 3.3.1.2. 43 F. J. J. Buytendijk: Das Menschliche, Stuttgart 1958, S. 102.

1711 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

3.4. Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

3.4.1 Überblick Als wir am Ende des Kapitels 2.15.8 Bilanz zogen und die Frage stellten, worin der Erkenntnisgewinn einer evolutionsgeschichtlich orientierten Ätiologie des Lachens zu suchen sei, mußten wir leider feststellen, daß dieser Erkenntnisgewinn erstaunlich dürftig war, obwohl oder gerade weil die evolutionsgeschichtliche Schule von Charles Darwin bis herauf zu Konrad Lorenz und seinen Gefolgsleuten den Ehrgeiz hatte, dem menschlichen Lachen eine ehrwürdige Ahnenreihe schon im tierischen Verhalten zu präsentieren, die angeblich sogar bis zum Urahn aller Säugetiere 1 zurückreicht. Dieses Programm einer evolutionsgeschichtlich orientierten Gelotologie hatte Darwin selbst in aller Deutlichkeit formuliert, als er auf den letzten Seiten seines Ausdrucks-Buches behauptete: »Wir können zuverlässig annehmen, daß das Lachen als ein Zeichen der Freude oder des Vergnügens von unsern Vorfahren ausgeübt wurde, lange ehe sie verdienten, menschlich genannt zu werden; denn sehr viele Arten von Affen stoßen, wenn sie vergnügt sind, einen oft wiederholten Laut aus, welcher offenbar unserm Lachen analog ist und von zitternden Bewegungen ihrer Kiefer und Lippen begleitet wird, wobei die Mundwinkel nach hinten und oben gezogen, die Wangen gefurcht und selbst die Augen glänzend werden.« (S. 400)

Allzu genau kann er dabei jedoch nicht hingehört haben, denn sonst hätte er merken müssen, daß diese seltsame Lautgebung der Schimpansen keine gestotterte Ausatmung ist wie beim menschlichen Lachen, sondern, wie Robert R. Provine 2 entdeckt hat, ein lautes Hecheln, also ein besonders intensiver, rascher und lauter Wechsel von Ein- und Ausatmung, und damit ein völlig anderer 1712 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Überblick

Gestaltverlauf als das Lachen. Spätestens mit dieser Entdeckung von Provine hat sich das vielberedete Lachen der Schimpansen endgültig als das Phlogiston der Verhaltensforschung3 erwiesen, und wir können mit aller Entschiedenheit sagen: Tierisches Lachen gibt es nicht, und nicht einmal bei unseren nächsten tierischen Verwandten, und das heißt im Umkehrschluß: Lachen ist, wie schon Aristoteles wußte, ein Verhalten, das ausschließlich dem Menschen vorbehalten ist. Aus diesem Grund macht es auch keinen Sinn, weiter nach der vormenschlichen Phylogenese des Lachens zu fragen, sondern bei der Ontogenese des menschlichen Lachens anzusetzen, und diese Frage hat als erster James Sully 4 gestellt. Allerdings argumentierte auch er immer noch zu sehr in den von Darwin und Haeckel vorgegebenen Bahnen, sodaß er immer noch glaubte, die Ontogenese des menschlichen Lachens wiederhole die Phylogenese des Lachens zum Menschen hin, und das Lachen der Kinder und »Wilden« sei eine Vorstufe 5 des Lachens des erwachsenen Europäers. Sein großes Verdienst besteht aber darin, diese Frage nach der Ontogenese des menschlichen Lachens überhaupt gestellt zu haben, denn es erwies sich bald als höchst sinnvoll, so zu fragen, allerdings nur dann, wenn man bereit ist, sich von einigen Dogmen evolutionsgeschichtlicher Argumentation zu trennen. Ich meine damit die von Aristoteles stammende These, die Natur mache keine Sprünge 6, und das von Ernst Haeckel 7 verkündete Biogenetische Grundgesetz. Verschafft man sich auf diese Weise einen unbefangeneren Blick auf die Emergenzphänomene 8, so kann man sich sofort auch mit der These anfreunden, daß nicht nur die Entwicklung vom Tier zum Menschen als Sprung auf eine neue Stufe der Entwicklung verlaufen sein muß, mit dem zugleich auch völlig neue Fähigkeiten verbunden sein mußten, sondern daß diese neuen Fähigkeiten als plötzlich vorhandene und späterhin vererbte spezifisch menschliche Tätigkeitsbereitschaften in einzelnen Entwicklungsschüben9 eigens angeeignet werden müssen, in bestimmten Situationen aber auch durch Bedrängnisse aller Art gemindert oder sogar wieder tendenziell verloren gehen können. Wie diese Entwicklungssprünge auf immer neuen Stufen des Organischen als Stufen von Positionalität zu denken wären, auf deren letzter und bislang höchster Stufe der 1713 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Mensch in exzentrischer Positionalität steht, hat Helmuth Plessner in seinem naturphilosophischen Hauptwerk ausführlich und überzeugend dargestellt. Allerdings hat Günter Dux darauf hingewiesen, daß auch diese Stufe exzentrischer Positionalität zwar als Möglichkeit ererbt ist, daß sie aber trotzdem auch noch ontogenetisch durch einen neuen Entwicklungssprung erworben werden muß, weil ein neugeborener Säugling sich noch in einem quasi-tierischen und vor-personalen Zustand befindet, denn: »Die biologische Natur des Menschen kennt (noch) keine exzentrische Positionalität. Das wird am neugeborenen Gattungsmitglied deutlich sichtbar. Es ist ein biologisches System mit einer natural (noch) unzureichenden Ausstattung – dies und nicht mehr soll der (durch Arnold Gehlen) von Herder entlehnte Begriff des Mängelwesens zum Ausdruck bringen –, aber einem Potential, sich diese Ausstattung zu erwerben. Auch die exzentrische Positionalität als Form reflexiven Bewußtseins, wie sie einzig dem Menschen eigen ist, entwickelt sich erst.« 10

Und auch sie entwickelt sich in Sprüngen von einer Stufe auf die nächst höhere. Bezogen auf das Lachen heißt dies, daß der Mensch zwar immer und auch als Säugling schon lachen kann, daß er aber zu bestimmten Formen von Gelächter erst auf bestimmten Stufen seiner späteren ontogenetischen Entwicklung gelangt. Der für unsere Fragestellung weitaus wichtigste und entscheidendste Entwicklungssprung ist die Fremdelphase, in die ein Kind im Alter von acht bis neun Monaten eintritt, denn diese Fremdelphase ist gleichsam der Urknall der Personalität, durch den das kleine Kind nicht nur zur Person wird, sondern zugleich damit auch personale Lachmündigkeit erlangt. 3.4.2 Thesen zur personalen Lachmündigkeit Aus dieser These ergeben sich nun einige weitere Thesen, die es im folgenden zu erläutern und zu begründen gilt: • Das prä-personale Lachen vor der Fremdelphase unterscheidet sich in erkennbarer Weise fundamental vom personalen Lachen danach. 1714 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der vertikale Impuls oder Die Fremdelphase

• Alles prä-personale Lachen ist gegründet auf die unverfügbar vorgegebene Einstellung wehrlos-willenloser Hingabe. • Alles prä-personale Lachen ist völlig unverfügbares Lachen. • Die Fremdelphase ist der Wendepunkt in der Ontogenese des Lachens vom völlig unverfügbaren zum tendenziell verfügbaren Lachen. • Die Stufen der in der Fremdelphase erworbenen Lachmündigkeit entsprechen strikt den verschiedenen Stufen, Graden und Niveaus personaler Emanzipation. • Nur das, was in der Fremdelphase an Lachmöglichkeiten erworben wird, kann danach durch personale Regression auch wieder mehr oder weniger verlorengehen, nach diesem regressiven Einbruch aber auch wiedergewonnen werden. • Die in Kapitel 3.3.2.2 aufgelisteten konstitutiven Kriterien von Lachen gehen nie verloren. Was beim Rückfall auf tiefere Stufen von Personalität verloren gehen kann, sind allein die in Kapitel 3.3.2.3 aufgelisteten regulativen Kriterien und der uroborische Impuls. • Gehen diese verloren, regrediert auch das jeweilige Lachen wieder zum prä-personalen Lachen oder aber zu analogen para-personalen Formen verminderter Lachmündigkeit bei reduzierter Personalität. 3.4.3 Der vertikale Impuls oder Die Fremdelphase Die Ontogenese der Person läßt sich als eine Folge von erstmaligen und einmaligen Erlebnissen im Sinne von Erwin Straus verstehen, und diese sind »nicht nur unwiederholbar; sie sind auch unwiderruflich, sie können nicht rückgängig gemacht werden« 11, denn: »Was einmal geschehen ist, ist nicht mehr auszulöschen, das Vergangene kehrt nicht wieder, es gibt keine Rückkehr zum Status quo ante.« 12

Das früheste dieser hier relevanten Erlebnisse ist die Fremdelphase, in der das kleine Kind sich zum aufrechten Stand erhebt; ein etwas späteres ist der erste grammatikalisch komplette Satz, insbesondere, wenn er in der Ich-Form gesprochen wird; ein weiteres ist das Einsetzen des Langzeitgedächtnisses, durch das man sich überhaupt 1715 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

erst als ein Wesen von eigener Geschichtlichkeit empfinden kann. Beim Eintritt in die Pubertät und beim dadurch möglichen ersten freiwilligen Geschlechtsverkehr wird die Unwiderruflichkeit dieses erstmaligen Erlebnisses als ganz besonders dramatisch empfunden, und nicht weniger aufwühlend sind die großen Umbrüche und Durchbrüche, wenn man sein eigenes Damaskus erlebt und sich »wie neugeboren« empfindet. Nachlesen kann man all dies in Michel Onfrays Philosophie der Ekstase 13, aber auch in der pietistischen Historie der Wiedergebohrnen von Johann Heinrich Reitz. Wenn Straus nun mit Nachdruck darauf verweist, daß zu all diesen tiefgreifenden Erlebnissen das Kriterium des Neuen »in Bezug auf ein historisches Kontinuum« (S. 38) gehört, und wir dann fragen, in welcher Hinsicht all die genannten Erlebnisse als Entwicklungs- und Reifungsstufen von Personalität auch Neues im Hinblick auf das Lachen bringen, so stellen wir alsbald fest, daß nur in der Fremdelphase das Lachen selbst sich ändert, in allen anderen Umbruchs-Erlebnissen sich aber nur neue Möglichkeiten bieten, über etwas zu lachen, weil sich dabei, wie Straus betont, auch ganz neue Möglichkeiten der »Sinnentnahme« (S. 83) bieten, aber eben auch neue Möglichkeiten der Entnahme von Unsinn, von Komik und Lächerlichkeit einerseits und von Tabus andererseits. So tendieren z. B. Bekehrte im allgemeinen zu einer neuen Ernsthaftigkeit und Humorlosigkeit, wie sich dies in der Christenheit im großen Stil in der Reformation und insbesondere im Pietismus 14 gezeigt hat, und bei den neu bekehrten Muslimen unserer Tage kann man dasselbe Phänomen beobachten. Und außerdem weiß jeder, daß man erst nach der Pubertät Sexualwitze wirklich zu würdigen weiß und ausgiebig belachen kann. Um die oben aufgestellte Behauptung zu begründen, in der Fremdelphase ereigne sich im Lachen selbst etwas Neues, müssen wir aber erst klären, was sich in der Fremdelphase sonst noch an Neuem ereignet. Da ist zunächst als das spektakulärste Phänomen die Aufrichtung zur vertikalen Haltung zu nennen, die ein kleines Kind etwa im Alter von acht bis zehn Monaten mit aller Hartnäkkigkeit erstrebt, und dazu hat Erwin Straus eine klassische Studie vorgelegt, in der er die aufrechte Haltung als eine ererbte Tätig1716 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Der vertikale Impuls oder Die Fremdelphase

keitsbereitschaft deutet, die nach dem Akt-Potenz-Schema zwar vorgegeben ist, aber trotzdem noch eigens realisiert und späterhin weiterhin behauptet werden muß, denn: »Die aufrechte Haltung gehört zum Wesen der Gattung Mensch. Aber, ist sie ihm auch angeboren oder richtiger eingeboren, dem Individuum wird sie nicht von der Natur geschenkt, er hat sie zu erwerben. Das Herz des Ungeborenen schlägt schon im Mutterleib; es fährt fort zu schlagen ein langes Leben lang, ohne unser Zutun. Die aufrechte Haltung, Stand, Gang, sind nicht von dieser Art. Sie sind uns als Möglichkeit gegeben, wirklich werden sie erst durch unser eigenes Bemühen. Die aufrechte Haltung ist eine Leistung; angeboren muß sie doch erst erlernt werden; und wenn sie längst zum gesicherten Besitz geworden, fordert sie immer erneut Mühe und Anstrengung. Schon früh meldet sich beim gesunden Kind der Drang sich aufzurichten, sich vom Boden zu erheben und sich, den niederziehenden Kräften widerstrebend, in einer bedrohten Schwebe zu halten. Mißerfolge können es nicht entmutigen; unlustvolles, schmerzhaftes Mißlingen kann es nicht davon abbringen, seine Versuche wieder und wieder zu erneuern; mit Jubel begrüßt es seine ersten Schritte, beseligt genießt es das gelungene Werk. In dem Akt des Sich-Aufrichtens strebt das Kind einem Ziel zu, es handelt, es vollbringt eine Tat. Es erfreut sich am Gelingen, aber mehr noch an der im Gelingen eröffneten Möglichkeit, aus eigener Kraft auf eigenen Füßen zu stehen. Noch ein Unmündiger, ein Infant, lernt es der Mensch, sich am Werk zu erfreuen. Keine andere Belohnung lockt ihn, nicht süßes Behagen, nicht Sättigung und Sicherheit, nicht ›Abfuhr von Energien‹ 15 und Schlaf, sondern das Mühen und das Gelingen und die so errungene Freiheit der Bewegung. Binnen kurzem werden diese Leistungen selbstverständlich geworden sein, niemand wird sie dem Kind noch als Verdienst anrechnen; indem es sie vollbringt, gehorcht es ja nur dem Gesetz der Gattung. Jedoch die Gattung ist wirklich nur in den einzelnen Individuen; dem Einzelnen aber ist und bleibt die aufrechte Haltung Aufgabe und Leistung. Er kann sie verfehlen. Für die Verfehlung belasten wir das Individuum und suchen den Grund in einem individuellen Mangel oder in einem Versagen. Wo aber das Versagen Schuld 16 sein kann, ist das Gelingen Verdienst.« 17

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Damit müßte klar geworden sein: Die aufrechte Haltung ist eine Form von Selbstbehauptung, ja sie ist geradezu die elementare Form von Selbstbehauptung, weil der aufrechte Stand in einem fort behauptet werden muß; und sie ist auch die früheste Form von Selbstbehauptung des Menschen, ontogenetisch beim einzelnen Menschen, phylogenetisch bei der Gattung Mensch. Nichts anderes hatte ja schon Herder verkündet, als er seine Hymne auf den vertikalen Impuls 18 als Signatur phylogenetischer, ontogenetischer und ethogenetischer Emanzipation anstimmte und den sich aufrichtenden Menschen als den »ersten Freygelassenen der Schöpfung« (3,173) feierte. Phylogenetisch gesehen manifestiert sich laut Herder der vertikale Impuls als Schritt vom Tier zum Menschen; ontogenetisch gesehen als Aufrichtung des Kindes zum freien Stand in der Fremdelphase; ethogenetisch gesehen als die hier neu erworbene Fähigkeit zur ethisch-moralischen Selbstbehauptung, also dazu, Ja und Nein sagen zu können, denn: »Die Wage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.« 19

Nun hatte ich in Kapitel 2.12.2.1 schon darauf verwiesen, daß die Aufrichtung zur Vertikalen auch gelogenetisch relevant ist, weil sich in der Fremdelphase auch der ontogenetische Entwicklungssprung vom völlig unverfügbaren prä-personalen Lachen zum tendenziell verfügbaren personalen Lachen vollzieht und nun ist es an der Zeit, diese vorgreifende Behauptung in die These zu fassen: In der Fremdelphase erhebt sich das Kind nicht nur zur Person, sondern erlangt zugleich damit auch personale Lachmündigkeit. Das aber heißt wiederum, daß es damit auch schon die meisten unter Kapitel 3.3.1 aufgelisteten konstitutiven Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens als Signatur entfalteter Personalität gewinnt; nur die Fähigkeit zu satzförmiger Rede erfolgt etwas später. Und dies heißt außerdem, daß all diese genannten Fähigkeiten beim Lachen wieder mehr oder weniger regressive Privationen erleiden können. Wie diese tiefgehende Wende vom prä-personalen zum personalen Lachen sich im einzelnen vollzieht, und wie sich dabei eine ganz neue Palette von Einstellungen zeigt, soll nun dargestellt werden.

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Das prä-personale Lachen

3.4.4 Das prä-personale Lachen 3.4.4.1 Das Aha-Lachen des Säuglings Säuglinge sind bekanntlich sehr kurzsichtig und sehen offenbar am schärfsten in der Entfernung, die in etwa dem Abstand zwischen ihrem Gesicht und dem ihrer Mutter beim Stillen entspricht. Außerdem ist bekannt, daß die für sie weitaus interessantesten Objekte Augenpaare sind, mit denen sie sofort in einen intensiven Blickkontakt zu treten suchen, weil diese Art der Zuwendung zu einem fernen »dort« dem Säugling, der sich noch nicht selbst vom Fleck bewegen kann, offensichtlich am leichtesten gelingt, zumal er einem Augenpaar, das sich in seinem Blickfeld bewegt, auch noch mit seinem Blick folgen kann. Ist nun ein Säugling erst mal drei bis vier Monate alt, kann man folgendes Experiment mit ihm anstellen: Nähert man sich ihm, nachdem man erst einmal seine Aufmerksamkeit gewonnen hat, langsam von ferne mit Blickkontakt, so hat er offenbar den Eindruck, es löse sich da wie aus einer Nebelwand ein Augenpaar und gewinne ganz allmählich schärfere Konturen zu einer konkreten Gestalt, die er dann auch aufmerksam mit einem ununterbrochenen Blickkontakt und ohne zu blinzeln ins Auge faßt. Zieht man sich wieder langsam in diese Nebelwand zurück, so schaut er einem längere Zeit mit großen staunenden Augen nach und schließt dann irgendwann die Augen und schaut danach woanders hin. Bleibt man aber in seiner Nähe, hält den Blickkontakt aufrecht und verdeckt und enthüllt die eigenen Augen in raschem Wechsel, wobei der eigene Gesichtsausdruck völlig gleichgültig ist, so fängt der Säugling lauthals an zu lachen und lacht derart ekstatisch, daß es ihn in seinem Bettchen hin und her wirft. Er lacht also buchstäblich mit allem, was er ist und hat und kann und tut und ist nach kürzester Zeit so erschöpft, daß er abrupt in tiefen Schlaf fällt. Sein Lachen verzehrt sich also nicht uroborisch, sondern bricht bei voller Intensität plötzlich ab. Dieses »Guckguck-Spiel« kann man auch des öfteren wiederholen, nur wird der Säugling immer früher in Schlaf fallen, weil er immer früher erschöpft ist. Wegen dieser beliebigen Wiederholbarkeit des Experiments ist man zunächst ver1719 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

sucht, hier von einem Reflex zu sprechen. Es wird sich aber zeigen, daß dieses Verhalten kein echter Reflex ist. Für diese Art von Gelächter hat sich bislang noch keine Bezeichnung eingebürgert. Man könnte es zwar als »Guckguck-Lachen« bezeichnen, weil dieses Spielchen unter diesem Namen bekannt ist. Ich neige aber dazu, es in Anlehnung an Buytendijk und Bühler 20 als »Aha-Lachen« zu bezeichnen, weil es damit nicht nur benannt, sondern zugleich auch angemessen gedeutet wird. Aber warum? Mit dem geloiastischen Lachen, mit dem wir auf Komisches reagieren, kann es nichts zu tun haben, denn dieses Guckguck-Spiel ist durchaus nicht komisch. Zum Bekundungs-Lachen aber gehört es allemal, weil es durch das Erlebnis des Plötzlichen ausgelöst wird, genauer: durch den plötzlichen und wiederholten Wechsel von Stutzen und Staunen, von plötzlicher Anspannung und plötzlicher Entspannung. Man könnte auch sagen: durch den plötzlichen und wiederholten Wechsel von »da!« und »weg!«. Wenn man nun nachprüft, bei wem diese Art von Gelächter am plausibelsten beschrieben und gedeutet wird, stößt man bald auf Kant, der in seiner anthropologischen Vorlesung vom WS 1781/ 82 schreibt: »Das (Bekundungs-)Lachen entsteht aus einer plötzlichen, aber unschädlichen Umkehrung unserer Erwartung, so daß das Umgekehrte von dem erfolgt, was wir erwarteten. (Denn:) Alles Plötzliche bringt bei uns eben dasselbe hervor, was das Gezwicke einer angespannten Saite thut, und diese Bewegung ist bebend.« (AA,1139)

In derselben Vorlesung betont Kant auch, daß wir auf dergleichen Erlebnisse synergetisch reagieren, also mit allem, was wir haben, sind, können und tun, denn »unsere Seele denkt niemals allein, sondern im Laboratorio des Cörpers; es ist immer eine (synergetische) Harmonie zwischen beyden. So wie die Seele denckt, bewegt sie den Cörper (synergetisch) mit.« (AA,145)

Und genauo ist es offenbar auch bei dieser raschen Folge von plötzlichen Aha-Erlebnissen dieses Säuglings, wenn ein Augenpaar im raschen und plötzlichen Wechsel erscheint und verschwindet und wieder erscheint und wieder verschwindet, weil hier dem Säugling die Reaktion auf eine rasche Folge von Plötzlichkeiten als Folge von 1720 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

immer neuem Stutzen und Staunen nach dem Schema »Aber nein! – Oder doch? – Und doch ja!« angesonnen wird, auf die er nur mit ekstatischem Gelächter antworten kann, weil er sie anderweitig, also z. B. sprachlich, sowieso nicht beantworten könnte. Beantworten kann er sie nur »mit dem Bauch«, also durch Einleibung, durch einen raschen synchronen Wechsel von Anspannung und Entspannung, und das heißt eben: durch Gelächter. So gesehen könnte sich auch Laurent Joubert mit seiner Definition des Bekundungs-Lachens durch dieses Aha-Lachen des Säuglings vollauf bestätigt sehen, denn für Joubert ist das Lachen »effait d’une passion qu’il denote«, also die Wirkung eines Erlebnisses, das es zugleich auch mimetisch abbildet. Und Wittgenstein müßte sich von diesem Säugling korrigieren lassen, weil man etwas, worüber man nicht reden kann, durchaus nicht beschweigen muß, sondern sehr wohl auch belachen kann. In seiner Ästhetik beschreibt Kant dieses Antworten »mit dem Bauch« noch etwas ausführlicher und zwar so, daß man meinen möchte, er habe dabei das Aha-Lachen eines Säuglings vor Augen gehabt, denn er betont hier, »daß in allen solchen Fällen der Spaß immer etwas in sich enthalten muß, welches auf einen Augenblick täuschen kann (›Aber nein!‹); daher, wenn der Schein in nichts verschwindet, das Gemüt wieder zurücksieht (›Oder doch?‹), um es mit ihm noch einmal zu versuchen (›Und doch ja!‹), und so durch eine schnell hinter einander folgende Anspannung und Abspannung hin- und zurückgeschnellt und in Schwingung gesetzt wird: die, weil der Absprung von dem, was gleichsam die Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein allmähliches Nachlassen) geschah, eine Gemütsbewegung und (eine) mit ihr (synergetisch) harmonierende inwendige körperliche Bewegung verursachen muß, die unwillkürlich fortdauert, und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die Wirkung einer zur Gesundheit gereichenden Motion) hervorbringt. Denn wenn man annimmt, daß mit allen unsern Gedanken zugleich irgend eine Bewegung in den Organen harmonisch verbunden sei: so wird man so ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Versetzung des Gemüts bald in einen (›Aber nein!‹), bald in den andern (›Aber ja!‹) Standpunkt, um seinen Gegenstand zu betrachten, eine wechselseitige

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Anspannung und Abspannung der elastischen Teile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mitteilt, korrespondieren könne (…), wobei die Lunge die Luft mit schnell einander folgenden Absätzen ausstößt, und so eine der Gesundheit zuträgliche Bewegung bewirkt, welche allein und nicht das, was im Gemüte vorgeht, die eigentliche Ursache an einem Gedanken ist, der im Grunde nichts vorstellt.« (V,438 f.)

Hier können wir ergänzen: Der im Grunde nichts vorstellt als ein plötzliches »da!« und ein plötzliches »weg!«. Doch auf dieser präpersonalen Stufe scheint dies offensichtlich zu genügen, um ein Resonanzverhalten in Form von ekstatischem Gelächter auszulösen, und damit müßte die These, alles prä-personale Lachen sei völlig unverfügbares Resonanz-Lachen, zumindest für das Aha-Lachen des Säuglings verifiziert sein, weil der Säugling bei diesem Experiment sowohl der vorgegebenen rhythmischen Folge plötzlicher Anmutungen als auch seinem eigenen völlig unverfügbaren Gelächter wehrlos ausgeliefert ist und sich ihm nur dadurch entziehen kann, daß er ruckartig in tiefen Schlaf fällt. Dies heißt aber zugleich auch, daß dieses Aha-Lachen des Säuglings nur auf die Einstellung wehrloser Hingabe gegründet sein kann. Daß dies sich in der Fremdelphase fundamental ändert, werden wir gleich sehen, dann nach der Fremdelphase kann man dieses Experiment nur wiederholen, wenn der Säugling gewillt ist mitzuspielen. Doch das ist durchaus nicht immer der Fall, denn sehr viel lieber spielt er dieses Guckguck-Spiel mit dem Erwachsenen in der Form, daß er selbst die Szene führt, sich versteckt und wieder entdecken läßt, und er hat dabei einen gewaltigen Spaß. 3.4.4.2 Das Interaktions-Lachen des Säuglings Was es an Literatur zum Lachen und Lächeln des Säuglings 21 gibt, beschäftigt sich vorrangig mit dem Interaktions-Lachen, also damit, in welcher Weise der Säugling zurücklacht, wenn man ihn anlacht. Ebenso wie das Aha-Lachen des Säuglings ist auch diese Form von prä-personalem Lachen ein Resonanz-Lachen, nur mit dem Unterschied, daß es in leiblicher Kommunikation mit einem 1722 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

lachenden Partner und in mimetischer Resonanz mit diesem gelacht wird. Die für unsere Fragestellung weitaus wichtigste und aufschlußreichste Studie zu diesem Thema verdanken wir dem Wiener Kinderpsychologen René Arpad Spitz aus der Freud-Schule, der in jahrelangen Experimenten mit Säuglingen und Kleinkindern seine Erkenntnisse gewonnen und sie in dem Buch Vom Säugling zum Kleinkind zusammengefaßt hat, und dort lesen wir: »Vom zweiten Lebensmonat an wird das menschliche Gesicht zu einem privilegierten optischen Eindruck, der allen anderen ›Dingen‹ in der Umwelt des Säuglings vorgezogen wird. Jetzt ist der Säugling fähig, das menschliche Gesicht vom Hintergrund zu trennen und zu unterscheiden. Er wendet ihm nun seine ganze Aufmerksamkeit über längere Zeit zu. Im dritten Monat gipfelt diese ›Hinwendung‹ als Reaktion auf den Reiz des menschlichen Gesichts in einer neuen, klar umschriebenen und artspezifischen Reaktion. (…) Er reagiert nun auf den Anblick des Gesichtes eines Erwachsenen mit einem Lächeln.« (S. 104)

Dieses Lächeln zeigt der Säugling aber nur, sofern der Erwachsene selbst auch lächelt. Schaut dieser den Säugling ernst an, bleibt auch dieser ernst und zeigt nur die bekannten großen staunenden Augen. Aus diesem Befund ergibt sich für Spitz folgende These: »Abgesehen davon, daß der Säugling im zweiten Monat dem menschlichen Gesicht mit dem Blick folgt, ist dieses Lächeln die erste aktive, gerichtete und intentionale Verhaltensregung, das erste Anzeichen davon, daß der Säugling sich im Übergang von vollkommener Passivität zum Beginn eines aktiven Verhaltens befindet, das von nun an eine immer wichtigere Rolle spielen wird.« (S. 104)

In diesen Thesen zeigen sich sofort die methodologischen Hypotheken, die Spitz sich mit der Orientierung am cartesisch geprägten Reiz-Reaktions-Modell unnötig aufgeladen hat, wenn er erst die Aufnahme des Blickkontakts zwischen dem Erwachsenen und dem Säugling und dann auch das Resonanz-Lächeln als »aktive Verhaltensregung« bezeichnet, weil eine Reaktion als Antwort auf eine fremde Aktion als Reiz eben eine Re-Aktion, eine Antwort-Aktion sein muß. Daß es neben eigener Aktion, fremder Aktion und Antwort-Aktion auch noch andere Formen von Verhalten, eben das 1723 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Resonanzverhalten in leiblicher Kommunikation geben könnte, kommt ihm gar nicht erst in den Sinn und bringt ihn eigentlich auch schon um den Ertrag seiner Forschungsarbeit. Das von ihm zusammengestellte Material behält aber gleichwohl größten heuristischen Wert, vor allem durch seine genaue Beschreibung seiner Experimente, und da lesen wir: »Im dritten Lebensmonat reagiert das Kind auf das (lächelnde) Gesicht des Erwachsenen mit einem Lächeln, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Das Gesicht muß von vorn dargeboten werden, so daß der Säugling beide Augen sehen kann, und das Gesicht muß sich bewegen. Es ist dabei unwesentlich, welcher Teil des Gesichtes oder Kopfes sich bewegt, ob die Bewegungen ein Kopfnicken, eine Bewegung des Mundes oder etwas anderes ist.« (S. 104)

Es ist also gleichgültig, ob sich im lächelnden Gesicht des Erwachsenen etwas bewegt oder ob sich das Gesicht als ganzes vor dem jeweiligen Hintergrund bewegt; es geht offenbar ausschließlich darum, daß sich das Gesicht vor dem unbewegten, starren Hintergrund nach dem bekannten Figur-Grund-Prinzip ablösen kann. Wie das lächelnde Gesicht im einzelnen aussieht, ist ebenfalls völlig gleichgültig; wichtig für den Säugling ist nur die Konfiguration aus Stirn, Augen und Nase, und seltsamerweise spielt der Mund, mit dem wir doch im allgemeinen das Lächeln in Verbindung zu bringen pflegen, eine weit geringere Rolle. Es ist auch gleichgültig, ob der Säugling den Erwachsenen, der ihn da anlächelt, kennt oder nicht, weil für den Säugling im Alter zwischen ca. achtzig Tagen und ca. acht Monaten offenbar alle lächelnden Gesichter von »chaotischer Mannigfaltigkeit« 22 und damit ununterscheidbar gleich sind. Und deshalb lächelt er wahllos und unterschiedslos und gleichsam »ohne Ansehen der Person« zurück, sobald er in diesem Alter mit Blickkontakt angelächelt wird. Das lächelnde Gesicht kann auch jederzeit durch eine Maske ersetzt werden (vgl. S. 110 f.), und auch die Hautfarbe des Lächelnden spielt nicht die geringste Rolle (vgl. S. 105). Das Resonanz-Lächeln des Säuglings ist jedoch kein stereotypes Einheitslächeln, sondern läßt sich in seiner Intensität gezielt manipulieren, d. h. es läßt sich zum lauten Lachen steigern, wenn sich die lächelnde Maske oder das lächelnde Gesicht des Erwachsenen mehr 1724 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

oder weniger heftig auf und ab bewegt, oder wenn bestimmte Teile des Gesichts oder der Maske oder auch beide als ganzes im bekannten »Guckguck-Spiel« kurz verdeckt und wieder aufgedeckt werden (vgl. S. 108 ff.). Bei einer nur partiellen Abdeckung des Gesichts oder der Maske zeigt sich, daß die Manipulation der Mundpartie das Verhalten des Säuglings kaum beeinflußt, daß die Partie der Augen und damit eben der Blickkontakt hingegen entscheidend sind: »Wenn man ein Auge oder beide verdeckte, während der Säugling das nickende Gesicht des Versuchsleiters anlächelte, hörte die Reaktion des Lächelns abrupt auf.« (S. 111)

Das Resonanz-Lächeln verschwindet also nicht allmählich mit einem gewissen »Bremsweg«, sondern wirkt wie abgeschaltet, und das bedeutet, daß das Resonanz-Lachen ohne jeden uroborischen Impuls und damit ohne jede Eigengesetzlichkeit ist; es ist also völlig fremdbestimmt und zugleich damit völlig unverfügbar oder, wie wir auch sagen könnten: es ist (noch) kein mündiges Lachen. Das Resonanz-Lächeln des Säuglings läßt sich aber nicht nur bis zum lauten Lachen steigern oder abrupt stoppen, es läßt sich auch ganz sachte bis zum Verschwinden herunter dimmen. Wenn nämlich das lächelnde Gesicht des Erwachsenen oder die entsprechende Maske langsam aus der frontalen Position heraus ins Profil gedreht wird, verschwindet auch mehr und mehr das Lächeln auf dem Gesicht des Säuglings, und zwar genau in dem Maße, in dem das lächelnde Gesicht sich vom Säugling abwendet, bis es schließlich angesichts der reinen Profil-Position ganz aufhört (vgl. S. 107 f.). Sobald sich aber das lächelnde Gesicht wieder aus der Profil- in die Frontal-Position dreht, erscheint auch wieder synchron dazu das Lächeln auf dem Gesicht des Säuglings, und dies um so ausgeprägter, je mehr sich das lächelnde Gesicht des Erwachsenen in die volle Frontal-Position dreht. Offenbar fehlt bei der Stellung im reinen Profil der volle Blickkontakt, der die beiden Lächelnden optimal aufeinander ausrichtet und dadurch erst die Grundlage für das Resonanz-Lachen bildet. Diese von Spitz durchgeführten Versuche zur Manipulation des Resonanz-Lachens zeigen noch ein weiteres Ergebnis, das Spitz jedoch wegen seiner dogmatischen Orientierung am Reiz-ReaktionsModell glatt übersehen hat. Es fällt nämlich jedem, der derlei Ver1725 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

suche mit Säuglingen selbst wiederholt, sofort auf, daß das Resonanz-Lächeln eben gerade kein Antwort-Lächeln ist, das, als eigene Aktion, erst nach einer bestimmten Reaktionszeit erfolgt, sondern ein Mitlächeln, das ohne Reaktionszeit und strikt synchron in Ablauf und Intensität mit dem ihm angebotenen Lächeln des Erwachsenen abläuft, sodaß es immer nur zusammen mit dem angebotenen Lächeln und dem Blickkontakt erscheint, zusammen mit ihm sich entsprechend modifiziert und zusammen mit ihm und dem Blickkontakt auch verschwindet. Es erscheint also immer auf beiden Gesichtern nicht nur gleichzeitig, sondern zugleich, sofern diese in einer frontalen Position mit vollem Blickkontakt optimal aufeinander ausgerichtet sind, sodaß man den Eindruck gewinnt, als ob beide Partner nur ein einziges, beiden gemeinsames Lächeln auf dem Gesicht hätten, mit dem sie einander anlächeln. Aus diesem Grund bietet sich für dieses eindrucksvolle Phänomen der Ausdruck »Resonanz-Lächeln« an, der bei Spitz nicht vorkommt, weil der Säugling in dieser Phase seiner Entwicklung das ihm vom Erwachsenen angebotene Lächeln eben nicht von sich aus spontan erwidert, also als Reaktion mit Reaktionszeit und als Ergebnis einer Entscheidung, sondern ganz wie eine Saite mitschwingt, wenn eine andere Saite mit entsprechender Spannung angeschlagen wird, oder wie ein Spiegel ein Gesicht ohne Reaktionszeit willenlos und automatenhaft identisch und synchron wiedergibt. Deshalb hätte man dieses Resonanz-Lächeln des Säuglings auch »Spiegellächeln« nennen können. Spitz faßt das Ergebnis seiner Experimente wegen seiner dogmatischen Orientierung am Reiz-Reaktions-Modell naturgemäß etwas anders zusammen und zieht folgende Bilanz: »Diese Experimente haben den schlüssigen Beweis erbracht, daß es nicht das individuelle menschliche Gesicht als solches oder auch nur das menschliche Gesicht als Ganzes ist, was beim Säugling die Reaktion des Lächelns auslöst, sondern eine spezifische Gestalt-Konfiguration innerhalb des Gesichtes. Diese Konfiguration besteht aus dem Teilgebiet Stirn-Augen-Nase. Diese Zeichengestalt ist um die Augen zentriert. Nach meiner Ansicht spielen die Augen in dieser Konfiguration die Rolle des Schlüsselreizes eines ›angeborenen Auslösemechanismus‹ AAM (…), wahrscheinlich von lebenserhaltender Bedeutung.« (S. 112)

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Das prä-personale Lachen

Ob man hier triebpsychologisch argumentieren und mit Konrad Lorenz von einem Schlüsselreiz als einem angeborenen Auslösemechanismus reden muß, ist aber sehr die Frage, vor allem dann, wenn man die massiven und berechtigten Einwände bedenkt, die Erwin Straus gegen die Anwendung des Reiz-Reaktions-Schemas 23 auf menschliches Verhalten erhoben hat, denn jeder echte Reiz wird ganz stereotyp durch eine bestimmte Reaktion beantwortet, die sich niemals ändert. So reagiert ein Säugling auf die Berührung des Zäpfchens genauo wie ein Erwachsener oder ein Greis mit einem Würgen. Das Resonanz-Lächeln des Säuglings aber ändert sich in der Fremdelphase und kann schon deshalb nicht mit dem Reiz-Reaktions-Schema zureichend erklärt werden, und genau hier setzt Straus mit seiner Kritik an. Sein Ausgangspunkt ist natürlich wieder die Unterscheidung von Geschehnis und Erlebnis an, genauer: die Unterscheidung von geschichtsirrelevantem Triebgeschehnis auf der Basis von Reiz und Reaktion einerseits und personalem Erlebnis andererseits, das einen historischen Einschnitt im Leben darstellt und einen neuen Abschnitt des Lebens begründet, hinter den man nicht mehr zurückgehen kann. Was Straus an der Trieblehre von Freud und Lorenz moniert, darf deshalb auch als Kritik am konsequenten Freudianer Spitz gelesen werden, wenn er zu bedenken gibt: »Die (verschwiegene) Voraussetzung der Triebpsychologie ist, daß der Mensch ein geschichtsloses Wesen sei und nur widerstrebend der Geschichte verfällt. Was ihn dazu getrieben habe, eine andere Realität aufzubauen, als es die Tiere tun, die unter dem Einfluß ihrer Umwelt ja nicht zur Geschichte kommen, darüber gibt die Triebpsychologie keine Auskunft.«24

Denn: »Hinter allen Erlebnissen soll die Triebbefriedigung als offenes oder verstecktes Ziel zu entdecken sein. Triebbefriedigung ist aber das Aufsuchen einer bloßen Zuständlichkeit, die, in sich ruhend, dem historischen Zusammenhang entrückt und ohne historische Folgen ist. Die Triebe haben ihr eines, unveränderliches Ziel. Sie sind konservativ, wie Freud meint, mithin eigentlich geschichtslos. Ihre Vermischungen und Legierungen sind äußere, vom Betrachter aufgezeichnete Historie (also bloße Geschehnisse), nicht inneres (erlebtes) geschichtliches Werden.« (S. 27)

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Aus diesem Grund ist es weitaus sinnvoller, mit Rudolf Bilz und Wolfgang Wieser von »ererbten Tätigkeitsbereitschaften«25 zu sprechen, die nach dem Akt-Potenz-Schema in bestimmten Situationen abgerufen und ausagiert werden und das heißt eben auch: auf bestimmten Stufen von Personalität in dementsprechender Form ausagiert werden. Und das wiederum heißt, daß sie auf prä-personaler Stufe so ausagiert werden, daß sie dem blinden Reiz-Reaktions-Mechanismus zu folgen scheinen. Gleiches gilt für die »bannende« Macht von Augenpaaren, die »wie von selbst« unseren Blick auf sich ziehen und den Betrachter auf sich ausrichten, und dies unabhängig davon, ob es sich um belebte Augen oder um Attrappen oder Masken 26 handelt, die uns da gezielt zu fixieren scheinen, weshalb Otto Koenig auch mit einem gewissen Recht vom »Urmotiv Auge« 27 spricht, das auch der altbekannten Vorstellung vom »bösen Blick« 28 zugrunde liegt. Erwachsene können einem solchen Blick standhalten und ihn erwidern und zwar je nach Situation individuell erwidern, können ihm aber auch ausweichen. Säuglinge im prä-personalen Stadium können dies offenbar noch nicht und sind dem Augenpaar, das sie da anschaut, wehrlos und willenlos ausgeliefert, und ebenso dem damit verbundenen Lächeln, das sie nicht von sich aus individuell erwidern, sondern wie ein Spiegel bloß identisch und synchron wiedergeben. Weil das Resonanz-Lächeln des Säuglings also kein individuelles Antwort-Lächeln ist und deshalb auch keine individuelle situationsspezifische Stellungnahme des Säuglings, gibt es dem angelächelten Erwachsenen auch nichts zu verstehen. Es ist zwar nicht bedeutungslos, aber doch bedeutungsleer, kann aber gerade wegen dieser Bedeutungsleere mit allerlei Bedeutungen aufgefüllt und dann als Ausdruck rückhaltloser positiver Zuwendung gedeutet werden, und deshalb sind wir Erwachsenen auch so gerührt und geschmeichelt, wenn wir ein fremdes Kind dieses Alters anlächeln und dieses dann zurücklächelt, als ob es uns immer schon kennen und schätzen und mit seinem Lächeln ausgerechnet uns meinen würde. Wahrscheinlich liegt gerade in diesem Impuls zu positiver Zuwendung die von Spitz vermutete lebenserhaltende Funktion des Resonanz-Lächelns, mit dem »Mutter Natur« durch eine wohlwol1728 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

lende List den Säugling gerade in seiner Phase nesthockerischer Hilflosigkeit ausgestattet hat. Doch dieser hilflose und wehrlose Zustand bleibt nicht ewig so, sondern ändert sich schlagartig mit dem Eintritt in die Fremdelphase, in der das kleine Kind sich zur Person aufrichtet, denn von diesem Moment an ist der Blickkontakt und damit zugleich das Resonanz-Lachen für das Kind nicht mehr ein automatenhaft anmutendes unverfügbares Geschehnis, sondern ein wählbares Erlebnis, und das Kind gewinnt die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Einstellungen bestimmten Widerfahrnissen gegenüber zu wählen und verfügt nunmehr über die Möglichkeit, die ganze Bandbreite von Einstellungen zwischen wehrloser Hingabe und trotziger Renitenz gezielt einzunehmen. Mit einem Wort: Der Säugling ist Person geworden, und darüberhinaus hat er sich auch noch zu einer lachmündigen Person emanzipiert. Herder würde sagen: Er ist »der erste Freygelassene der Schöpfung: er stehet aufrecht (…), er kann forschen, er soll wählen.« (3,173) Irgendwann zwischen dem siebten und neunten Monat tritt beim Säugling nämlich ein Zeitpunkt ein, von dem ab das wahllose und automatenhaft erfolgende Resonanz-Lächeln aufhört und das Kind nicht mehr »ohne Ansehen der Person« zurücklächelt, sondern genau zwischen Freunden und Fremden unterscheidet. Dazu Spitz: »Nähert sich dem Kind ein Fremder, so löst dies ein unverkennbares, charakteristisches und typisches Verhalten in ihm aus; es zeigt individuell verschiedene Grade der Ängstlichkeit, ja sogar der Angst und lehnt den Fremden ab. Das Verhalten der einzelnen Kinder zeigt ziemlich große Verschiedenheiten; es kann ›schüchtern‹ den Blick senken, die Augen mit den Händen zuhalten, das Gesicht mit dem hochgehobenen Kleid zudecken, sich im Bett auf den Bauch werfen und das Gesicht unter der Bettdecke verstecken, es kann weinen oder schreien. Der gemeinsame Nenner ist eine Kontaktverweigerung, ein Sich-Abwenden, mehr oder weniger von Angst getönt.« (S. 167)

Für dieses Verhalten, das Spitz hier so anschaulich beschreibt, hat sich leider die Bezeichnung »Achtmonatsangst« eingebürgert, die aber ganz unglücklich, ja sogar richtig irreführend ist. Zum einen macht die Bezeichnung »Achtmonatsangst« dieses Verhalten allein 1729 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

am Alter des Säuglings fest und nicht am jeweils ereichten Stand der Entwicklung, der bei Kindern gleichen Alters ja sehr unterschiedlich sein kann, weshalb es weit sinnvoller wäre, die Benennung dieses Phänomens an andere deutlich ablesbare Leistungen des Säuglings zu knüpfen, die im selben Alter bzw. auf demselben Stand der Entwicklung auftreten, z. B. an der Krabbelphase oder an der Fähigkeit, aufrecht zu sitzen oder gar aufrecht zu stehen. Viel plausibler als der Begriff »Achtmonatsangst« scheint mir deshalb das Wortfeld »fremdeln« bzw. »Fremdelphase«, weil damit das von Spitz so anschaulich beschriebene Verhalten des Säuglings nicht nur benannt, sondern auch gleich auf den Begriff gebracht wird, und deshalb will ich diesen Begriff auch weiterhin gebrauchen. Der gemeinsame Nenner all der verschiedenen Ausprägungen des Fremdelns ist, wie aus der Beschreibung von Spitz deutlich hervorgeht, die noch vor-sprachlich und deshalb allein durch Gestus, Vultus und Habitus artikulierte Abweisung bestimmter als fremd empfundener Erwachsener, auch wenn diese noch so freundlich lächeln mögen, insbesondere aber die gezielte Abweisung oder Verweigerung des Blickkontakts mit Fremden, der von seiten des Säuglings unmöglich gemacht wird. Offensichtlich schälen sich für den Säugling in dieser Phase seiner Entwicklung Gesichter aus dem Zustand chaotischer Mannigfaltigkeit heraus und bekommen individuelle Züge, und Hand in Hand damit verliert auch der Blick des Erwachsenen seine unwiderstehlich bannende Macht. Die Bezeichnung »Achtmonatsangst« ist aber vor allem deshalb so irreführend, weil das Fremdeln mit Angst gar nichts zu tun hat. Angst tritt beim Kind in dieser Situation überhaupt erst dann auf, wenn der auf diese Weise abgewiesene Erwachsene das Kind trotzdem nicht nur weiterhin anlächelt, sondern sich ihm trotzdem auch noch nähert, es trotzdem berühren oder gar auf den Arm nehmen will, ohne daß das Kind sich wehren kann. Dies kann dann beim Kind zu ausgeprägten Panikreaktionen führen, und diese Panikreaktionen waren es wohl auch, die zu der Bezeichnung »Achtmonatsangst« geführt haben. Der Impuls, der beim Fremdeln deutlich wird, heißt also nicht »Weg davon!« oder »Weg mit mir!« oder »Nix wie weg!«, aber im Bewußtsein dessen, daß man es nicht schafft, sondern »Weg mit 1730 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

dir!« / »Ich will dich nicht sehen!« / »Ich will mit dir nichts zu tun haben!« / »Du bist mir fremd!« Genau dies läßt sich auch dem Foto entnehmen, das Spitz zur Illustration dieser »Achtmonatsangst« 29 seinen Ausführungen beigefügt hat. Es zeigt einen Erwachsenen, offenbar Spitz selbst, der sich lächelnd zu einem kleinen Kind hinunterbeugt, von diesem aber entschieden abgewiesen wird. Das Kind hält mit der rechten Hand das rechte Auge zu, das linke ist fest zugekniffen, der Mund ist geschlossen, der Kopf etwas vorgeneigt zu einem »Bock«, und der Ellenbogen weist aggressiv auf den Erwachsenen. Das Kind steht aufrecht im vorderen Teil seines Gitterbettchens und hält sich mit der linken Hand am Geländer fest. Aus all dem läßt sich entnehmen, • daß das Kind, wenn es die Augen öffnen würde, mit dem Erwachsenen nie in Blickkontakt geraten würde, weil beide Blickrichtungen windschief aneinander vorbei gehen; • daß das Kind vor dem Erwachsenen nicht an den hinteren Rand seines Reviers ängstlich zurückgewichen ist, sondern sein Revier an der vorderste Grenze behauptet und verteidigt und sich deshalb dem Erwachsenen mit allem, was es ist, hat, kann und tut, deutlich aggressiv zuwendet; • daß das Kind offensichtlich noch nicht ganz sicher aufrecht steht und sich noch mitten in der Phase des Aufrichtens zum aufrechten Stand befindet, weil es sich noch am Geländer festhält. (Auf diesen überaus wichtigen Umstand geht Spitz allerdings überhaupt nicht ein.) • Man könnte auch sagen: Weil der Erwachsene seiner Abweisung durch das Kind getrotzt hat, trotzt dieses nun selber entschlossen zurück. Der gemeinsame Nenner von Gestus, Vultus und Habitus des kleinen Kindes ist also in der Tat eine deutliche Kontaktverweigerung, aber eben kein »Sich-Abwenden«, wie Spitz meint, sondern eine deutliche Zuwendung zum Erwachsenen, und zwar als aggressive und negative Zuwendung. Das Kind zeigt also mit allem, was es ist, hat, kann und tut, ein deutliches programmatisches »Nein!«. Aber von Angst ist auf dem Bild keine Spur zu sehen; zu sehen ist nur Verweigerung, Verneinung und Trotz. 1731 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Wiedergegeben nach Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, S. 167.

Nun könnte man natürlich das Fremdeln, das Sichaufrichten zum aufrechten Stand, das Trotzen und das Ende des unverfügbaren Resonanz-Lächelns als Vorgänge sehen, die sich in der Entwicklung eines Säuglings mehr oder weniger zufällig etwa zur gleichen Zeit abspielen, miteinander aber weiter nichts zu tun haben. Sie könnten aber sehr wohl auch einzelne Aspekte eines umfassenderen synergetischen Programms sein, zu dem auch noch andere Phänomene als weitere Teilaspekte gehören. Um dies zu entscheiden, ist jedoch ein anthropologisches Denkmodell notwendig, das uns die Möglichkeit bietet, diese einzelnen Aspekte sinnvoll einander zuzuordnen. Aber genau dies finden wir bei dem dogmatischen Freudianer René Arpad Spitz nicht, dem es wesentlich darum geht, die Entwicklung des Ich im Freudschen Seelenmodell 30 durch empirische Beobachtungen zu illustrieren. Und deshalb sind wir hier auch dem Punkt angelangt, an dem wir uns von Spitz verabschieden müssen. In der Anthropologie von Hermann Schmitz liegt jedoch ein Schlüssel zur Klärung auch der Probleme bereit, an deren Deutung Spitz gescheitert ist. Denn wenn Schmitz auf die »grundlegende Bedeutung der Negation für personale Emanzipation überhaupt« 31 hinweist, und wenn wir weiter bei ihm lesen, der aufrechte Gang sei »das körperliche Wahrzeichen personaler Emanzipation« 32 und dann nach weiteren körperlichen Kriterien personaler Emanzipa1732 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

tion suchen, die sich an Gestus, Vultus und Habitus ablesen lassen, so merken wir bald, daß auch das Fremdeln dazu gehört, weil das Fremdeln des Säuglings eben eine sehr markante Form der »Abstandnahme vom Fremden« 33 ist, das das kleine Kind durch »objektivierende Negation« 34 entschieden von sich abweist bzw. von dem es sich durch neinsagende Selbstabgrenzung losreißt. Dies kann durch negative Abwendung, also durch Flucht, geschehen, aber auch, wie auf unserem Bild, durch negative Zuwendung, also durch Aggression und trotzige Renitenz. Entscheidend ist allein der programmatische negative Impuls. Mit diesem Befund sind wir nun in der Lage, auch das Fremdeln mit allem was dazu gehört, in das große dynamische Zusammenspiel von personaler Emanzipation und personaler Regression einzuordnen, in das wir ja auch schon das Lachen eingeordnet haben, und dadurch gewinnt das Fremdeln viel schärfere Konturen und erscheint als die ontogenetisch früheste Form personaler Emanzipation, ja geradezu als das Grundmodell personaler Emanzipation überhaupt. Das hat sofort massive Konsequenzen auch für die Deutung des Lachens im thematischen Zusammenhang mit dem Fremdeln, denn die Ablösung des Säuglings aus dem unverfügbaren Automatismus des Resonanz-Lächelns durch das Fremdeln ist, so gesehen, gleichsam eine zweite Abnabelung, durch die der Säugling aus dem vor-personalen Stadium im vollen Wortsinn heraus tritt und sich zur Person erhebt, auch wenn diese Person vorerst noch ein Persönchen ist und vorerst auch noch auf einem relativ niederen Niveau personaler Emanzipation lebt. Mit diesem Schritt aus dem vor-personalen Stadium heraus erhebt sich der Säugling aber zugleich auch zu einer neuen, höheren und nunmehr personalen Form von Lach-Fähigkeit, also zur personalen Lachmündigkeit. Ebenso wie die aufrechte Haltung ist auch personale Emanzipation laut Schmitz »labil und prekär« 35 und muß, weil ständig gefährdet, immer erneut behauptet werden 36, und oft genug gehen beide zugleich auch wieder verloren, können aber immer auch wieder zurückgewonnen werden. Genauso hat es ja auch Erwin Straus beschrieben und gedeutet. Weil laut Schmitz die aufrechte Haltung und der aufrechte Gang »das körperliche Wahrzeichen personaler 1733 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Emanzipation« 37 sind, beschreibt Schmitz das Spiel von personaler Emanzipation und Regression vorzugsweise in der Metaphorik von Aufstehen und Hinfallen, und wenn man sich die zu dieser Metaphorik passenden Szenen plastisch vorstellt, so sieht man sofort vor seinem geistigen Auge ein in seinem Laufstall umher purzelndes Kind vor sich, das sich mitten in der Fremdelphase befindet und mit aller Mühe, aber auch mit aller Entschlossenheit den aufrechten Stand probt und damit sein gesamtes späteres Leben vorwegnimmt. Ich zitiere, appelliere an die Fantasie des Lesers und lade ihn ein, sich die entsprechenden Szenen vorzustellen: »Personale Regression ist Rückgang oder Rückfall(!) des personalen Subjekts in primitive Gegenwart oder auf sie zu, so wie personale Emanzipation umgekehrt dessen Erhebung(!) aus dieser und Abstandnahme von ihr ist.« 38

Oder: »Ohne personale Emanzipation bliebe der Mensch tierisch und würde gar nicht zur Person; ohne personale Regression bliebe die Person gleichsam hohl, weil der Aufstand(!) personaler Emanzipation aus der Hinfälligkeit(!) unmittelbaren Betroffenseins dann wie eine abstrakte einsame Gebärde der Aufrichtung(!) wäre.« 39

Oder: »In Wirklichkeit ist personale Regression so etwas wie ein Sturz.« 40

Gerät man nach dem Gewinn der Lachmündigkeit ins Lachen, so geht von all dem, was in der Fremdelphase gewonnen worden ist, zwar viel von dem ausgezeichneten Verhalten, das in Kapitel 3.3.1.2.8 aufgelistet ist, verloren, doch all dies geht immer nur kurzfristig und vor allem niemals unwiederbringlich verloren, weil der uroborische Impuls es immer wieder rekonstituiert. Man fällt also nie wieder in den prä-personalen Zustand zurück, es sei denn in pathologischen Zuständen, die die Personalität als ganze dauerhaft beschädigen und damit auch das Lachen spezifisch überformen. 3.4.4.3 Das »selige« Lächeln des Säuglings Die Wendung »selig lächelnd wie ein satter Säugling« ist längst zum Sprichwort geworden, bei dessen Verwendung wir uns nicht mehr 1734 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

allzu viel denken, weshalb man hier um so genauer nachfragen muß, aus welchem Grund dieses Lächeln eines schlafenden Säuglings ausgerechnet als »selig« bezeichnet werden soll. Wenn wir deshalb nachprüfen, in welchem Kontext sonst noch von seligem Lächeln gesprochen wird, so stoßen wir als erstes auf den uralten Topos vom strahlenden Lachen des göttlichen Kindes 41, dessen Spur sich vom Zarathustra- und Isaak-Mythos über die vierte Ekloge Vergils bis herauf zu den Weihnachtsliedern der Christenheit verfolgen läßt, und dieser Topos dürfte wohl auch die Wendung vom seligen Lächeln eines Säuglings maßgeblich mitgeprägt haben, weil man gern in jedem kleinen Kind ein göttliches Kind erblicken möchte. In der Mythologie des Christentums werden wir einschlägig fündig, wenn wir nach dem Lachen der Auferstandenen und Seligen im christlichen Himmel fragen, von dem schon Clemens von Alexandrien 42 unter Berufung auf Lukas 6,21 gesprochen hatte, denn dort heißt es in den Seligsprechungen Jesu: »Selig seid ihr, die ihr hier weint; denn ihr werdet lachen.« 43 Diese Seligsprechung war es denn auch, die Dante dazu brachte, im dritten und letzten Teil seiner Divina Comedia Beatrice als selig lächelnd darzustellen, denn im zehnten Gesang des Paradieses heißt es von ihr in der Übersetzung von Karl Streckfuß: »Sie zürnte nicht; ihr lächelnd Aug’ entbrannte Drob so in Glanz, daß nun mein Geist, der nicht An Andres dacht’, itzt Andres doch erkannte. Und sieh, viel singendes lebend’ges Licht Macht’ uns zum Mittelpunkt und sich zur Krone, Süßer im Sang, als leuchtend im Gesicht. So schmückt ein Kranz die Tochter der Latone, Wenn dunstgeschwängert sie die Luft umzieht Und fest sich um sie legt als lichte Zone.« (X,61–69, S. 456)

Es ist also das strahlende Lächeln, das in der Metaphorik von Heiligenschein und Strahlenaura beschrieben wird. Im letzten Gesang des ganzen Werks steht der Dichter sogar seinem Gott selbst gegenüber, der natürlich noch überwältigender strahlt und ebenso strahlend lächelt, und vom Dichter dieser visio dei mit den Versen angesprochen wird: 1735 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

»O ew’ges Licht, du, in dir selbst in Frieden, Allein dich kennend, und, von dir erkannt, Dir selber lächelnd und mit mir zufrieden.« (XXXIII,124–126, S. 618 f.)

Damit sind wir denn auch auf die entscheidende Formulierung gestoßen, um auch das »selige« Lächeln eines satten schlafenden Säuglings auf den Begriff zu bringen, denn auch er ist »sich selber lächelnd in sich selbst in Frieden«. Aber was heißt das, profan phänomenologisch betrachtet? Wenn man das Lächeln eines schlafenden Säuglings aufmerksam studiert, stellt man fest, daß es sich an niemanden richten kann, weil der Säugling ja schläft und die Augen geschlossen hat, und daß es deshalb eindeutig als eine besonders sanfte Form des Bekundungs-Lachens gedeutet werden muß. Doch was bekundet es? Was drückt es aus? In Kapitel 2.18.4.2 sind wir mit Plessner zu dem Ergebnis gekommen, daß Lachen als Lachen zwar beutungsleer ist, sich aber jederzeit und je nach Situation einschlägig semantisieren kann, sodaß wir dann z. B. beim Interaktions-Lachen von einem »freundlichen Lächeln« oder von einem »höhnischen Grinsen« sprechen können, weil das jeweilige Lachen Teilaspekt einer freundlichen oder aggressiven Zuwendung ist. Und beim Bekundungs-Lachen können wir z. B. von einem »erleichterten Auflachen« oder von einem »vielsagenden Lächeln« sprechen, weil in dem einen Fall die Situation eben so ist, daß man ein Bedrängnis schlagartig losgeworden ist, und im anderen Fall die Situation so mannigfaltig diffus ist, daß man seine eigene Befindlichkeit nur in einem vielsagenden, also alles und nichts sagenden Lächeln bekunden kann. Aber auch so können wir beim »seligen« Lächeln des Säuglings nicht argumentieren, weil wir nicht angeben können, in welcher Situation er sich fühlt, weil er seine eigene aktuelle Situation ja gar nicht kennt, um auf sie zu reagieren und sie durch sein Lachen zu bekunden. Doch das muß er ja auch nicht, da er ja »sich selber lächelnd in sich selbst in Frieden« ist. Was dieses »selige« Bekundungs-Lächeln bekundet, ist also genau diese völlige, gleichsam runde und blumenhafte Zufriedenheit, und das heißt: eine gestillte Bedürftigkeit, die völlige Freiheit von 1736 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das prä-personale Lachen

Bedrängnissen aller Art, eine restlose Erfülltheit im Augenblick, das absolute Ruhen in sich selbst. Man könnte auch sagen, die Atmosphäre blumenhafter Zufriedenheit habe sich über diesen schlafend lächelnden Säugling wie eine sanfte Hülle ausgebreitet und lade auch uns als Betrachter freundlich ein, uns von ihr in gleicher Weise umhüllen zu lassen. Und diese Atmosphäre, die sich um einen friedlich schlafenden und dabei lächelnden Säugling ausbreitet, ist wohl auch das, was uns hier so tief berührt, weil wir auch mal so »selig« sein möchten wie er es hier zu sein scheint. Ob man dieses Phänomen nun in religiöser Metaphorik benennen soll, ist eine ganz andere Frage, denn rein phänomenologisch gesehen, resultiert der aktuelle Zustand dieses Säuglings aus dem völligen Fehlen von Körperspannung und der dadurch bedingten völligen Bedeutungsleere dieses Lächelns, und gerade weil es so bedeutungsleer ist, kann es auch besonders leicht mit Bedeutungen aller Art aufgefüllt werden, und eben auch mit der Bedeutung »Seligkeit«. Deshalb drängt sich die Frage auf: Ist dieses Prädikat »selig« vielleicht bloß eine Projektion, die sich der christlichen Tradition verdankt? Offenbar nicht ganz, denn es gibt auch außerhalb des explizit christlichen Sprachgebrauchs eine Semantik der Seligkeit, die sich schon in der vorchristlichen Antike findet und dort vorzüglich auf die Befindlichkeit der olympischen Götter angewendet wird. Sie findet sich aber auch noch bei Schopenhauer, wenn er das Erlebnis von Kunst beschreibt, das er als »Seeligkeit des willenlosen Anschauens« (I,268) bezeichnet und dann näher ausführt, wenn er schreibt: »Wenn aber äußerer Anlaß, oder innere Stimmung uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntniß dem Sklavendienste des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: dann ist die auf jenem ersten Wege des Wollens immer gerichtete, also immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, und uns ist völlig wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, den Epikur als das höchste

1737 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.« 44

Jedoch ist dieser Zustand bei der Betrachtung von Kunstwerken für Schopenhauer nur ein vorläufiges und momentanes »Quietiv des Willens«; das endgültige stellt sich für ihn erst bei völliger Verneinung des Willens ein nach dem Prinzip: »Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.« (I,526) Und deshalb beschreibt er auf den letzten Seiten seines Hauptwerks in hymnischen Tönen diese Heiterkeit der endgültigen Selbstzurücknahme ins Nirwana: »Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehen abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Rafael und Coreggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden. Wir aber blicken dann mit tiefer und schmerzlicher Sehnsucht auf diesen Zustand, neben welchem das Jammervolle und Heillose unseres eigenen, durch den Kontrast, in vollem Lichte erscheint.« (I,526)

So gesehen könnte man das »selige« Lächeln eines schlafenden Säuglings sehr wohl als Vorwegnahme und Bekundung dieses von Schopenhauer so hymnisch gepriesenen Nirwana-Zustandes deuten. Wenn man allerdings aus Schopenhauers Darstellung die metaphysischen Konstruktionen ausblendet und sie auf ihren phänomenologischen Kern reduziert, bleibt sie immer noch überzeugend genug, denn dann erscheint dieses »selige« Lächeln, in der sich die »Meeresstille des Gemüts« bekundet, rein gelotologisch gesehen, als ein Lächeln bei einem nicht mehr zu überbietenden Maximum 1738 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das personale Lachen auf minderen Stufen der Lachmündigkeit

an Selbstpreisgabe ohne jeden Rest an Selbstbehauptung, was letztlich nur im Schlaf möglich ist oder aber in Zuständen völliger Entrücktheit, und deshalb wird uns dieses »selige« Lächeln auch wieder als eine Variante des para-personalen und post-personalen Nirwana-Lächelns begegnen. 3.4.5 Das personale Lachen auf minderen Stufen der Lachmündigkeit Ich habe schon in Kapitel 3.4.2 auf einige weitere Schübe in der ontogenetischen Entwicklung des Menschen nach der Fremdelphase hingewiesen und kann nun die These nachreichen, daß sich auch durch diese einzelnen Entwicklungsschübe am Lachen des Kindes und Jugendlichen nichts Grundsätzliches mehr ändert, und das heißt wiederum, daß die in Kapitel 3.3.2 aufgelisteten konstitutiven und regulativen Kriterien des mündigen Lachens für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in gleicher Weise gelten. Das Lachen der Kinder und Jugendlichen unterscheidet sich von dem der Erwachsenen lediglich dadurch, daß sie öfter und leichter ins Lachen geraten, weil das Niveau der Personalität, auf dem sie leben und sich verhalten, regressiven Zuständen immer noch viel näher liegt, sodaß sie viel leichter aus der Fassung geraten können als Erwachsene. So wie man im Sprichwort sagt, Kinder hätten »nahe am Wasser gebaut«, weil sie viel schneller ins Weinen geraten als Erwachsene, so kann man dies auch vom Lachen sagen, weil das Sprichwort auch sagt: »Lachen und Weinen stecken im selben Sack«. Sichtbar wird dies insbesondere am Resonanz-Lachen, zu dem sich Kinder und Jugendliche viel leichter anstecken lassen als Erwachsene, offenbar deshalb, weil sie eher zur Einstellung williger Hingabe als zur Einstellung trotziger Renitenz neigen, die ein weit höheres Maß an Selbstbehauptung und Gefaßtheit sichert. Diese wechselseitige Ansteckung zum Resonanz-Lachen kann so weit gehen, daß sich veritable Lach- und Kicher-Meuten bilden, insbesondere bei Jugendlichen während der Pubertät, weil Pubertierende eine tiefe personale Krise durchleben müssen, die ihre ganze Person erfaßt und in der ihr Niveau personaler Emanzipation besonders 1739 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

labil ist, sodaß sie zwischen regressiven und emanzipatorischen Schüben buchstäblich hin und her gerissen werden und deshalb besonders leicht zu einem scheinbar grundlosen Bekundungs-Lachen neigen, zu dem sie sich dann immer wieder gegenseitig anstecken. Typisch für diese Art von »grundlosem« Gelächter ist der extrem gedehnte uroborische Impuls, durch den dieses immer wieder neu entfachte Gelächter sehr lange dauern kann. Das spektakulärste Phänomen dieser Art ist wohl die Lach-Epidemie, die 1962 in Tanganjika von einem katholischen Internat ausging und über die man bei Wikipedia folgendes nachlesen kann: »Am 30. Januar 1962 brachen drei Schülerinnen einer Mädchenschule in Kashasha am Westufer de Victoriasees in Lachen aus, ohne damit wieder aufhören zu können. Binnen kurzem wurden 95 der 159 Schüler im Alter von 12 bis 18 Jahren davon erfasst, sodass die Schule am 18. März geschlossen werden musste, da ein regulärer Betrieb nicht aufrechterhalten werden konnte. Als die Schule am 21. März wieder öffnete, waren immer noch 57 Schüler – aber keine Lehrer – betroffen, was zur erneuten Schließung Ende Juni führte. Die zwischenzeitlich nach Hause geschickten Schüler sorgten für eine weitere Verbreitung der Lachanfälle. Zehn Tage nach der ersten Schließung der Schule kam die Epidemie auch im 80 Kilometer entfernten Nshamba an, wo sich mehr als 200 weitere Personen ansteckten, mehrheitlich Schüler. In der Regionalhauptstadt Bukoba waren 48 von 154 Schülern betroffen, was ebenfalls zur Schließung der Schule vom 10. bis 18. Juni führte. Von dort breiteten sich die Lachanfälle ins 35 Kilometer entfernte Kanyareka aus, wo zwei Schulen für Jungen geschlossen werden mussten. (…) In einem Zeitraum von sechs Monaten bis anderthalb bzw. zwei Jahren breiteten sich diese Lachanfälle in der gesamten Region aus und betrafen etwa 1000 Personen, bevor das Phänomen allmählich wieder abklang. Die Lachattacken, teils begleitet von Weinen und Schreien, dauerten wenige Minuten bis zu einigen Stunden. Nach einer Pause konnten sie von neuem beginnen. Teilweise waren sie von Gewaltausbrüchen begleitet. Dies konnte bis zu 16 Tage lang dauern. Die Betroffenen, hauptsächlich Mädchen und junge Frauen, zeigten dabei Symptome von Angst, Schmerz sowie Ohnmachtsgefühlen und hatten Atemprobleme. Erwachsene waren selten, Gebildete gar nicht betroffen.« 45

1740 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das personale Lachen auf minderen Stufen der Lachmündigkeit

Bei der Suche nach den Ursachen dieser Lach-Epidemie zeigte sich die Forschung einigermaßen ratlos; man vermutete sogar eine Virusinfektion 46, konnte aber natürlich keinen Virus finden, gegen den Erwachsene und vor allem gebildete Erwachsene immun waren, Halbwüchsige aber nicht. Doch gerade hier liegt der Schlüssel zur Deutung dieses seltsamen Phänomens, das man nicht medizinisch-physiologisch, sondern nur gelotologisch angemessen auf den Begriff bringen kann. Da aber die Berichte über diese Lach-Epidemie, gelotologisch gesehen, etwas zu ungenau sind, weil die Berichterstatter offensichtlich nicht recht wußten, worauf sie ihr Augenmerk richten und wonach sie fragen sollten, müssen auch wir uns eher auf vorsichtige Vermutungen beschränken, und diese gehen dahin, daß wir es hier mit einer ganz extremen Ausprägung dieses scheinbar grundlosen Bekundungs-Lachens zu tun haben, wie es für die Lach-Meuten Pubertierender typisch ist, die sich auf einem sehr labilen Niveau personaler Emanzipation befinden. In diesem konkreten Fall dürfte dieses Niveau personaler Emanzipation sogar ganz besonders labil gewesen sein, was sich am besonders extrem gedehnten uroborischen Impuls dieses epidemischen Gelächters zeigt. Daß Erwachsene, und besonders gebildete Erwachsene, sich gegen diesen »Lach-Virus« resistent zeigten, würde diese Deutung ausdrücklich bestätigen, insbesondere dann, wenn man die gesellschaftliche Situation mit bedenkt, in der sich diese Lach-Epidemie abspielte. Die Pubertät ist ja, wie schon gesagt, ein typisches Zwischenstadium, in dem man zwischen der Welt der Kinder und der der Erwachsenen steht, der einen nicht mehr ganz und der anderen noch nicht ganz angehört und deshalb zwischen beiden schwankt. Deshalb wird die Pubertät ja auch als eine so tiefe Krise erlebt. Werden Pubertierende aber auch noch zwischen zwei Kulturen und zugleich damit auch noch zwischen zwei sehr unterschiedlichen Wertewelten hin- und hergerissen, die sich gegenseitig als fremd oder gar als lächerlich empfinden, wie dies in diesem katholischen Internat in Ostafrika der Fall gewesen sein dürfte, so haben wir genau die Situation vor uns, aus der laut Kant das Bekundungs-Lachen entspringt, nämlich »die Versetzung des Gemüts bald in einen (›Aber 1741 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

ja!‹), bald in den anderen Standpunkt (›Aber nein!‹)« (V,439), was eigenleiblich als »wechselseitige Anspannung und Abspannung« (V,439) gespürt und in Form von Gelächter mimetisch ausagiert wird. Diese Situation kann man natürlich auch, wie Hempelmann 47 dies tut, als »Stress« oder als »Erwartungs-Stress« angesichts der eben gerade erst vollzogenen politischen Unabhängigkeit Tanganjikas bezeichnen, doch ist diese Deutung viel zu unspezifisch, weil man auf Stress normalerweise nicht mit Lachen zu reagieren pflegt, sondern sich, je nach Einstellung, entweder zusammenreißt oder resigniert gehen läßt. Wichtig und richtig ist dieser Hinweis auf die damals aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation aber insofern, als eine eben erst unabhängig gewordene Kolonie sich ebenfalls in einem besonders labilen Status politisch-gesellschaftlicher Emanzipation befindet, der dem Status der personalen Pubertät in seiner inneren Labilität durchaus analog ist, und genau diese Analogie könnte die in sich ambivalente Hin-und-Hergerissenheit dieser Schüler sehr wohl durch einen weiteren Aspekt verstärkt haben, die sich nun anschicken mußten, als die künftige Elite des Landes selbst »the white man’s burden« (Kipling) auf sich zu nehmen, davor aber noch zurückzuckten. James Sully 48 hätte sich angesichts dieser Lach-Epidemie sicher in seiner Ansicht bestärkt gefühlt, daß »Wilde«, und dazu noch halbwüchsige und außerdem weibliche »Wilde«, primitiver, intensiver und hemmungsloser lachen als zivilisierte Europäer, weil »Wilde« sich noch in einer kindlichen Vorstufe der eigentlichen menschlichen Natur befinden. Und den besonders labilen Ambivalenz-Zustand dieser Jugendlichen hätte er wohl darin gesehen, daß sie zwischen dem noch geschichtslosen Zustand ihrer Stammesgesellschaft und dem konkret geschichtlichen Zustand eines modernen Staates nach europäischem Zuschnitt hin und her schwankten. Mit anderen Worten: Er hätte sich an der romantischen Vorstellung orientiert, Stammesgesellschaften 49 seien fossile Reste der geschichtslosen Urzeit und als solche ebenfalls geschichtslos, und diese Lach-Epidemie, ontogenetisch gesehen, in die Fremdelphase dieser ostafrikanischen Gesellschaft verlegt. Da es diese Geschichtslosigkeit aber nicht gibt, weil alle Gesell1742 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

schaften eine Geschichte haben, ist es viel plausibler, diese LachEpidemie aus der Reibung zwischen zwei geschichtlich sehr unterschiedlich geprägter Kulturen zu erklären, zwischen denen diese jungen Menschen hin und her gerissen wurden. Ontogenetisch gesehen läge diese Lach-Epidemie nicht in der Fremdelphase dieser ostafrikanischen Gesellschaft, sondern in ihrer Pubertät. Wenn man nun fragt, zu welcher Art von Gelächter diese Epidemie gehört haben dürfte, bietet es sich an, dieses Bekundungs-Lachen als gehemmte Flucht aus einer als bedrängend empfundenen Situation 50 zu deuten und als gesteigertes Verlegenheits-Lachen anzusehen, denn dies würde auch am besten zur politisch-sozialen Situation dieser künftigen Elite eines neuen Staates passen, die sich erst noch verorten muß, denn sonderlich lustvoll und heiter kann dieses Gelächter nach all dem, was wir davon wissen, nicht gewesen sein. Ist die Pubertät erst einmal überwunden, ist auch das Stadium uneingeschränkter Lachmündigkeit bei voll entfalteter Personalität erreicht, und nun gelten auch all die in Kapitel 3.2.3 aufgelisteten ethologischen Kriterien erst mal uneingeschränkt. Aber genauo, wie die Kriterien des ausgezeichneten Verhaltens beim mündigen Lachen regressive Privationen aller Art erfahren können, so kann auch, analog dazu, die Lachmündigkeit auf unterschiedlichen Stufen von Personalität Privationen aller Art erfahren, z. B. dann, wenn die Personalität, wie eben gesehen, noch nicht voll erreicht ist oder wenn man in bestimmten Situationen wieder auf niedrigeren Stufen von Personalität ins para-personale Lachen zurück fällt oder sich gezielt auf solche Stufen begibt. Das gilt es nunmehr in den nächsten Kapiteln darzustellen. 3.4.6 Das para-personale Lachen 3.4.6.1 Übersicht Das para-personale Lachen ist ausschließlich Bekundungs-Lachen und, wie schon gesagt, als solches ein Lachen auf mehr oder weniger reduzierten Niveaus von Personalität und Lachmündigkeit, nachdem beides schon einmal erreicht worden ist. Diese allgemein 1743 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

regressive Tendenz zeigt sich insbesondere darin, daß der uroborischen Impuls beim para-personalen Lachen immer verloren gegangen ist und Hand in Hand damit auch das eine oder andere der regulativen Kriterien, also synergetische Zugleichheit, situative Stimmigkeit, situative Intensität und situative Verfügbarkeit. Der völlige Ausfall des uroborische Impulses als deutlichstes Kennzeichen des para-personalen Lachens zeigt sich v. a. darin, daß parapersonales Lachen entweder zu stereotypen Lächelmasken oder zu einem schablonenhaft-plakativen Rollen-Lachen entartet, sodaß beide zwar kürzer oder länger dauern können, aber immer unvermittelt einsetzen und genauo unvermittelt enden. Para-personales Rollen-Lachen und Rollen-Lächeln wirkt deshalb immer wie an- oder ausgeknipst und enthält dadurch auch immer ein Mindestmaß an Verfügbarkeit. Im Gegensatz dazu sind alle pathologisch bedingten Formen des para-personalen Lachens, weil sie auf akute oder perennierende Schädigungen der Personalität zurückgehen, völlig unverfügbar. Diesem para-personalen Lachen ist man dann genauo wehrlos ausgeliefert wie all den Varianten des prä-personalen Lachens vor der Fremdelphase. Daß all diese Formen von para-personalem Gelächter so irritierend und verstörend und oft genug geradezu unheimlich wirken, liegt daran, daß dieses Lachen keinen erkennbaren Grund zu haben scheint, weil es sich auf nichts und niemanden bezieht, und deshalb darf man sich nicht wundern, wenn es in früheren Zeiten oft als Zeichen dämonischer Besessenheit gedeutet worden ist. 51 3.4.6.2 Das para-personale Lachen bei sekundärer Infantilität Sekundäre Infantilität ist ein akuter Rückfall aus entfalteter Personalität in infantiles Verhalten in bestimmten Situationen. Wenn Kinder im Meer baden, sich in die Brandungswellen werfen, sich gegenseitig bespritzen und untertauchen, so ist dies im allgemeinen von einem kollektiven Gelächter begleitet, das sich wie ein LachBordun über die gesamte Szene legt, und darüber wird sich auch niemand wundern. 1744 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

Wenn man hingegen sieht, wie diese kollektive Juhu-Fröhlichkeit auch würdige alte Männer beim Baden in der Brandung, beim Fasching oder bei einem Vatertagsausflug erfaßt und in den Sog einer allgemeinen Albernheit reißt, so möchte man schon ins Staunen kommen und sich fragen, was all diese Leute dazu gebracht haben mag, sich derart infantil aufzuführen, denn über solchen Szenarios liegt genau derselbe Lach-Bordun wie über einer Gruppe von spielenden Kindern. Offenbar lautet das Programm hier, frei nach Faust: Hier bin ich wieder Kind, hier darf ich’s wieder sein. Oder anders formuliert: Hier darf ich mich ungeniert gehen lassen und zu Infantilität regredieren. Schaut man sich derartige Lach-Kollektive Erwachsener genauer an, so fallen zwei Dinge sofort auf: Löst sich nämlich ein Mitglied aus dieser Lach-Gemeinschaft aus irgendeinem Grund, so erlischt sofort auch sein Lachen; es schwindet aber nicht uroborisch-allmählich, sondern wirkt wie abgeschaltet. Tritt es wieder in die Lach-Gemeinschaft ein, ist auch sein Lachen plötzlich wieder da und er lacht weiterhin im Kollektiv mit. Und fragt man ihn in dieser Pause gar, worüber er eigentlich so gelacht habe, so weiß er dies meist gar nicht, es sei denn, er sagt, er habe eben einfach mit allen anderen mitgelacht. Und damit hat er sogar Recht, denn das Resonanz-Lachen, um das es sich hier handelt, braucht gar keinen Grund. Was es braucht, ist lediglich ein bestimmtes Maß an Bereitschaft, mit anderen mitzulachen, also die Einstellung williger Hingabe an das infantile Kollektiv allgemeiner personaler Regression. Was außerdem auffällt, ist der Umstand, daß jemand von diesem grundlosen infantilen Resonanz-Lachen um so machtvoller ergriffen und eingeschmolzen wird, je größer dieses Kollektiv ist, denn diese Bereitschaft zum Mitgehen ist bei einer Lach-Meute schon größer als bei einer kleinen Gruppe, und bei einer Masse wiederum größer als bei einer Meute, und je größer diese Masse ist, desto leichter fällt es, sich, frei nach Rilke, jubelnd und lachend hinzuzuzählen und die Zahl zu vernichten. Erich Neumann deutet dieses Phänomen folgendermaßen: »Bei der Rekollektivierung wird von dem sich aufgebenden Ich das Bild der ursprünglichen Gruppe und ihr Ganzheitscharakter auf die

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Masse projiziert. Das Ich löst sich auf und erfährt lustvoll, reemotionalisiert, mit einer orgiastischen Ausschüttung von Partizipationen auf die Masse, ein Massenselbst (…) 52 als Aufnehmendes, Enthaltendes und Umfassendes. Aber ein nihilistisch-regressives: ›seid umschlungen, Millionen …‹ ist wahrhaft des Teufels.« 53

Denn: »Das Schreckliche und Einzigartige dieser Rekollektivierung ist, daß sie keine echte Regeneration bedeutet und auch nicht bedeuten kann.« (S. 472)

Rilkes Appell zeigt hier also seine fatale Kehrseite und scheint auch diesem para-personalen Lachen als Form sekundärer Infantilität einen gewissen bitteren Beigeschmack zu verleihen. Allerdings muß man bedenken, daß Erich Neumann diese Sätze ausdrücklich als Kritik an den suggestiven Massenritualen der Nazis und Kommunisten verstanden wissen wollte, im Vergleich zu denen die Infantilisierung durch Lach-Kollektive völlig harmlos ist. Aus diesem Grund wäre zu fragen, ob jede Art von akuter Infantilisierung grundsätzlich so fatal ist wie Erich Neumann uns glauben machen will, und das ist sie natürlich nicht, denn wir haben ja in Kapitel 2.18.8.4 gesehen, daß personale Regression in Form von Gelächter ein geradezu lebensnotwendiger Jungbrunnen ist, um der allfällig drohenden Erstarrung entfalteter Personalität entgegen zu wirken, und deshalb ist auch der Rückfall in sekundäre Infantilität in bestimmten Situationen genau das, was Erich Neumann als »echte Regeneration« bezeichnet. Aus all diesen Gründen empfiehlt es sich, Neumanns Bedenken mit Horaz und seinem Appell »Desipere aude in loco!« zu kontern. 3.4.6.3 Das para-personale Lachen als soziales Rollenfach Das para-personale Lachen als integraler Aspekt eines sozialen Rollenfachs ist keine Form personaler Regression in Richtung Infantilität, sondern eine Form personaler Emanzipation, aber gezielt verengt und versteift auf einen bestimmten Stil, der eigens und gezielt gewählt wird und oft genug auch eigens eingeübt werden muß. Charakteristisch ist auch für dieses para-personale Lachen der Weg1746 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

fall des uroborischen Impulses, denn auch dieses Lachen kann, weil es verfügbar ist, ad hoc aufgesetzt und genauo wieder abgesetzt werden und wirkt deshalb auch so aufgesetzt, gestemmt und forciert. Erkennbar ist es an seinem Mangel an synergetischer Zugleichheit, situativer Stimmigkeit und situativer Intensität, denn es ist entweder eine Lächelmaske, die sich bei einem Wandel der je aktuellen Situation nicht adäquat ändert und auf die neue Situation sich einstellt, sondern immer gleich bleibt. Und außerdem würde Garrick bei diesem stereotypen para-personalen Lächeln monieren, daß nicht nur der linke Fuß nicht mitlächelt, sondern nicht mal die Augen. Es fehlt ihm also das Moment synergetischer Zugleichheit, weil es nur eine Lächelmaske ist, die wie eine zweite, leblose Haut starr auf dem Gesicht klebt. Ist das para-personale Lachen ein lautes Lachen, so ist es als Gestaltverlauf nicht weniger stereotyp und nicht weniger aufgesetzt, gestemmt und forciert als eine Lächelmaske, weshalb man hier von einem schablonenhaften und plakativen Rollen-Lachen oder von einem Lach-Plakat sprechen kann, das so schablonenhaft-stereotyp ertönt, als ob es vom Band eingespielt sei. All diese Varianten des para-personalen lauten Lachens und Lächelns dienen der Selbststilisierung und Selbstinszenierung in bestimmten sozialen Rollenfächern, weshalb sie beim Auftritt vor der jeweiligen Öffentlichkeit »angeknipst« und dann demonstrativ präsentiert werden, sodaß man sofort sieht, daß dieses para-personale Lachen nicht »von selbst« ertönt, sondern »gestemmt« wird. Und deshalb klingt ein solches Lachen auch nicht uroborisch ab, sondern verstummt ruckhaft und weicht dem vollen Ernst, ganz so, wie ein Schauspieler beim Auftritt mit einem Ruck in die Rolle springt und nach dem Abgang in die Gasse wieder aus ihr austritt. Ich habe schon in Kapitel 3.3.2.3.1 darauf verwiesen, wie bestürzend genau Anthony Hopkins das Grinsen und Lachen Nixons vorzuführen wußte, das er in raschem Wechsel anknipste und wieder ausknipste, sodaß man danach auch einen schärferen Blick dafür hatte, wie Nixon selbst dies tat. Und in Kapitel 3.3.2.3.2 habe ich auf das forcierte Lachen des »Grinse-Kanzlers« Gerhard Schröder verwiesen, das immer eine Spur zu laut und zu guttural und vor 1747 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

allem völlig stereotyp erklang, sodaß man es ihm nie so recht glauben konnte. Doch dieses demonstrative Lach-Plakat trugen nicht nur Nixon und Schröder vor sich her wie eine Monstranz, sondern es läßt sich auch an vielen anderen Politikern feststellen, die offensichtlich glauben, diese gestemmte Demonstration von Jovialität sei für das Rollenfach des Politikers völlig unverzichtbar. Das sanfte Gegenstück zu diesem Lach-Plakat, das Heinrich Heine wohl als »jehovial« bezeichnet hätte, ist die Lächelmaske demonstrativer Huld, die allen gekrönten Häuptern stereotyp auf dem Gesicht klebt und ihnen schon zur zweiten Natur geworden zu sein scheint. Die süßliche Lächelmaske katholischer Kleriker ist nicht weniger irritierend in ihrer Stereotypie, demonstriert aber nicht Huld, sondern die geahnte und hienieden schon vorweggenommene Seligkeit der Auferstandenen. Weitere Beispiele wären die Keep-smiling-Maske als Demonstration umfassender Verbindlichkeit oder das zur Maske erstarrte wissende Lächeln bestimmter Kunstbetrachter als Bekundung angemaßter Fachkompetenz im Umgang mit moderner Kunst, die dahinter aber nur ihre Ratlosigkeit zu verbergen suchen. All diese Varianten von para-personalem Lachen, die sich noch beliebig vermehren ließen, verraten einen deutlichen Verlust an situationsadäquater Spontaneität und engen den Spielraum des Verhaltens massiv ein, dienen aber gerade deshalb gleichwohl der personalen Emanzipation in einem gezielt gewählten oder zugewiesenen sozialen Rollenfach und wirken somit wie ein Korsett zur Stabilisierung dieses spezifischen Stils personaler Emanzipation. So gesehen haben all diese Formen des para-personalen Lachens sogar ihre gesellschaftliche Berechtigung, weil, wie Plessner 54 immer wieder betonte, gesellschaftliches Leben ohne Rollenspiel gar nicht möglich ist. Wer hier also von Selbstentfremdung sprechen wollte, um »das Sein in einer (sozialen) Rolle von dem eigentlichen Selbstsein grundsätzlich zu trennen« (X,239), gäbe laut Plessner nur wieder »dem antigesellschaftlichen Affekt, gewollt oder ungewollt, neue Nahrung« 55, denn keine Rolle gibt es nicht.

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Das para-personale Lachen

3.4.6.4 Das para-personale Lächeln der Entrückten Bekanntlich zeigt sich Buddha auf den meisten Abbildungen und Statuen, die wir kennen, mit leicht geneigtem Gesicht, geschlossenen Augen und einem stillen, in sich gekehrten Lächeln, das als beispielhaft für das Lächeln aller Entrückten auch außerhalb des Buddhismus gilt, und da es heißt, dieses sanfte Lächeln sei die mimetische Signatur der Erleuchtung als der Einsicht ins Nirwana, könnte man dieses spezifische Lächeln auch als Nirwana-Lächeln bezeichnen. So hat es auch Schopenhauer gesehen, der auf der letzten Seite seines Hauptwerks dessen Quintessenz dahingehend zusammenfaßt, daß es gelte, genau diesen heiter gelösten Nirwana-Zustand Buddhas zu erreichen, denn dies sei ja eigentlich auch »der Lebenstraum des wollenden Menschen (…), jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz (…) ein ganzes und sicheres Evangelium ist.« (I,526)

Im Lichte seiner eigenen Philosophie zeigt dieses selige Lächeln den Zustand an, »den alle Die, welche zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und den man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u. s. w. bezeichnet.« (I,525)

Es handelt sich also um einen Zustand, den man, wie wir in Kapitel 3.4.3.3 gesehen haben, einem »selig« lächelnden Säugling anzudichten pflegt, sodaß man auch sagen könnte, das para-personale selige Lächeln der Entrückten aller Couleurs sei der Wiedergewinn dieses prä-personalen Lächelns eines schlafenden Säuglings. Diese Analogisierung bietet sich in gewisser Weise ja auch an, weil beide die Augen geschlossen halten, weil beide so friedlich, ruhig und zufrieden wirken und vor allem, weil beide völlig entspannt sind. In diesem Minimum an Körperspannung, die ja immer auch das Gespanntsein-auf-etwas ist, besteht denn auch das tertium comparationis zwischen beiden Formen des Lächelns, sodaß man mit Dante auch hier sagen könnte:

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

»Du, in dir selbst in Frieden, Allein dich kennend, und, von dir erkannt, Dir selber lächelnd.« (XXXII,124–126, S. 618 f.)

Vom Nirwana-Lächeln Buddhas gilt dies aber noch in weit höherem Maße, weil die Buddha-Statuen alle ganz leicht den Kopf zu einer eher konkaven Haltung neigen, ein schlafender Säugling hingegen ekstatisch-konkvex daliegt wie eine offene Blüte. Dieser Unterschied im Habitus ist wichtig für die Deutung dieses Phänomens, denn Kurt Goldstein weist darauf hin, daß grundsätzlich alle konkaven Beugehaltungen »Ich-bezogener« sind, alle konvexen Streckbewegungen hingegen »Außenwelt-bezogener« 56, sodaß es nicht verwundern kann, daß das Nirwana-Lächeln ein Insich-hinein-Lächeln ist und der Blick der geschlossenen Augen sich nach innen richtet. Dieser sanfte Autismus ist das entscheidende Kriterium für das Lächeln aller Entrückten. Da Entrückte aber nicht schlafen, sondern wach sind, wenn auch in einer sehr reduzierten Form von para-personaler Wachheit, bei der man der Welt und auch sich selber abhanden gekommen ist und von beidem nichts mehr weiß, bekundet auch dieses Lächeln nichts außer der von Schopenhauer in Anlehnung an Demokrit 57 beschworenen »tiefen Ruhe und Meeresstille des Gemüths«. So gesehen könnte man das para-personale Nirwana-Lächeln der Entrückten auch als die mimetische Signatur einer zentripetalen Ekstase bezeichnen, bei der man lustvoll in sich selbst versinkt. Allerdings gibt es derlei sanfte zentripetale Ekstasen auch in ganz profaner Form. Man muß nur einmal einen stillen Trinker beobachten, der sich beim Wein langsam und genußvoll in den gewünschten Zustand wohliger Entspanntheit hineinpegelt, denn auch auf seinem Gesicht erscheint genau dieses scheinbar »selige« Lächeln und bleibt dann wie eine Maske stehen.

1750 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

3.4.6.5 Das para-personale Pseudo-Lachen als akutes pathologisches Phänomen Seit der Antike werden immer wieder Geschichten kolportiert, in denen sich jemand angeblich zu Tode gelacht habe, und die Pointe all dieser Geschichten besteht immer darin, daß dies ein besonders ernster und würdiger Mann, ja sogar ein ausgeprägter LachMuffel gewesen sei, der sein ganzes Leben lang nicht nur selbst das ekstatische Cachinnus-Lachen konsequent vermieden habe, sondern es auch allen anderen verbieten wollte. Es handelt sich also immer um die Rache des Gottes Gelos am dogmatischen Agelasten. Die Quelle all dieser schönen Geschichten dürfte der Artikel von Diogenes Laertius über den Stoiker Chrysipp (ca.280–ca.210) sein, von dem es heißt, er habe selbst bei Trinkgelagen nie seinen stoisch-würdigen Ernst verloren und deshalb auch bei Trunkenheit nie gelacht. Doch eines Tages holte ihn das Schicksal ein und der beleidigte Gott Gelos rächte sich an ihm, denn: »Von Schwindel erfaßt ward nach starkem Weingenuß Chrysippos und ließ außer acht Die Stoa und sein Vaterland und auch sich selbst Und zog hinab in Hades’ Reich.«

Wahrscheinlich gehört diese Anekdote mit einer zweiten zusammen, denn Diogenes Laertius fährt fort: »Einige wollen auch wissen, er sei an einem Anfall übermäßigen Lachens gestorben. Als nämlich ein Esel ihm seine Feigen weggegessen, soll er seine alte Dienerin angewiesen haben, den Esel unvermischten Wein saufen zu lassen; an dem Lachkrampf, der ihn darüber befiel, soll er gestorben sein.« 58

Diese Anekdote kannte natürlich auch Laurent Joubert, hielt sie aber für baren Unsinn und setzte sich damit ausdrücklich von den sonst so von ihm geschätzten Autoritäten Aristoteles, Hippokrates und Plinius (vgl. S. 132) ab, die sehr wohl der Meinung waren, man könne sich buchstäblich tot lachen. Da für Joubert dies jedoch ein Ding der Unmöglichkeit ist, widmet er diesem Problem eigens die Kapitel I,27 und III,16, in denen er erst die These prüft, »daß man vor Lachen ohnmächtig werden 1751 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

kann« und dann der Frage nachgeht, »ob man vor Lachen sterben kann« (S. 130). Und dazu schreibt er: »Wenn man zu lange lacht und zu heftig, daß das Lachen schon weh tut, so kann man auch in Ohnmacht fallen, weil alle Muskeln zu schlaff werden. In einem solchen Fall, d. h. aus Verlust an Lebensgeistern (perte des espris) und aus Luftmangel (faute de respir) durch übermäßige Ausatmung wird das Herz zu stark erhitzt und die Lunge führt ihm nicht mehr genug kühlende Frischluft zu. So bei übermäßiger Freude.« (S. 130)

So weit bewegt sich Jouberts Argumentation also immer noch in den Bahnen der von Aristoteles vorgegebenen Physiologie, die er in der Abhandlung De respiratione dargestellt hatte. Dann aber verweist Joubert auf den jedem Lachen immanenten Impuls zur heilsamen Selbstregulierung und fährt fort: »Aber: durch das Lachen erfolgen Engung (contraccion) und Weitung (dilatació) des Herzens so schnell aufeinander, daß das Herz immer in genügendem Maße mit Lebensgeistern (espris) und Blutdünsten (vapeurs) versorgt ist, und darin liegt die Rettung (an quoy consiste la sauveté).« (S. 131)

Aus diesem Grund verneint er auch die rhetorische Frage, ob man an einem extrem langen und heftigen Gelächter auch sterben könne, auf das entschiedenste, gibt aber zu, man könne sich zu Tode lachen, wenn man zu Tode gekitzelt werde, aber das Kitzel-Lachen sei ja eh kein echtes Lachen (vray Ris). Damit ist auch für uns das entscheidende Wort gefallen, das er einige Seiten später eigens noch mal wiederholt, denn wenn es heißt, einige Leute seien am Lachen gestorben, dann nur deshalb, weil dies »ein Lachen von ganz anderer Art« (S. 139) gewesen sei, also ein pathologisches Lachen, das als ein Symptom neben anderen Symptomen zu einem bestimmten Krankheitsbild gehöre, weshalb jemand in diesem Fall auch nicht am Lachen selbst gestorben sei, sondern an dieser tödlichen Krankheit. Damit hat Joubert auch uns den Weg gewiesen, wie wir weiterhin zu argumentieren haben, denn nun gilt es, die oben formulierte These zu begründen, dem pathologischen Lachen fehle nicht nur der uroborische Impuls, sondern auch die synergetische Zugleichheit, die situative Stimmigkeit, die situative Intensität und die situa1752 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

tive Verfügbarkeit, die das echte mündige Lachen auszeichnen. Es wird sich zeigen, daß das Fehlen des uroborischen Impulses, die totale Unverfügbarkeit und die scheinbare Grundlosigkeit die auffallendsten Kriterien des pathologischen Lachens sind, das wir deshalb auch als pathologisch bedingtes Pseudo-Lachen bezeichnen wollen. In dem sehr informativen Aufsatz von Christel Frank und Gerhart Harrer Über pathologisches Lachen und Weinen 59 wird ein Fall von pathologisch bedingtem Pseudo-Lachen als Begleitsymptom eines apoplektischen Insults beschrieben, der ganz verblüffende Analogien zum Tod des Chrysipp aufweist und geeignet ist, auch dessen Tod medizinisch auf den Begriff zu bringen. Es geht hier um einen siebzigjährigen Mann, »dessen Witwe uns kürzlich erzählte, ihr Mann habe einen besonders ›schönen‹ Tod gehabt. Er habe beim Essen ohne besonderen Grund plötzlich zu lachen begonnen. In den folgenden ein bis zwei Minuten habe sich das Lachen (›diese Lustigkeit‹) immer mehr und mehr gesteigert, bis ihr Mann beim Versuch, sich aus dem Sessel zu erheben, leblos zu Boden gesunken sei. Er habe sich ›in den Tod gelacht‹. Daß dem Patienten dabei alles andere als lustig oder heiter zumute gewesen sein dürfte und ihn das Lachen bis zur atemlosen Erschöpfung quälte, wußte die Witwe zum Glück nicht.« (S. 251)

In ihrem Kommentar zu diesem Musterbeispiel eines pathologisch bedingten Pseudo-Lachens als Symptom einer akuten Krankheit, die sogar zum Tode führte, schreiben die beiden Autoren: »In diesen Fällen wird die motorische Schablone des Lachens durch (völlig unverfügbare) Enthemmungsmechanismen in Gang gesetzt und läuft nun automatisch eigengesetzlich weiter ab.« (S. 251)

Erklärt wird dieses Phänomen von Frank/Harrer als »Entkoppelung von Affekt und Ausdrucksgeschehen« (S. 251), worin sie denn auch das Grundprinzip aller Varianten des pathologisch bedingten Pseudo-Lachens und zugleich auch den methodologischen Ansatz zur generellen Deutung dieses unheimlichen Phänomens sehen. Mit dieser These knüpfen Frank/Harrer ausdrücklich an Helmuth Plessner an, der in seinem gelotologischen Hauptwerk geschrieben hatte, das Gekicher eines gekitzelten Schimpansen sei »ebensowenig echtes Lachen wie das Zwangslachen bestimmter Gehirnkranker« (VII,227), denn: 1753 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Zum Lachen (und zum Weinen) gehört – sonst sind die Begriffe nicht am Platz – die sinnvolle und sinnbewußte Beziehung der eruptiv ausbrechenden, zwangshaft abrollenden, symbolisch ungeprägten Äußerung auf einen Anlaß. Nicht mein Körper, sondern ich lache und weine aus einem Grund ›über etwas‹. Während Mienen und Gebärden den Anlaß in einem symbolischen Ausdruck unmittelbar verarbeiten und ihn direkt abreagieren, halte ich in Lachen und Weinen Distanz zu ihm: ich beantworte ihn.« (Frank/Harrer, S. 247 bzw. Plessner VII,227)

Das pathologisch bedingte Pseudo-Lachen und Pseudo-Weinen hat diesen situativen Antwor-Charakter laut Frank/Harrer völlig verloren, weshalb es auch so grundlos wirkt, und außerdem fehlt dem Patienten jegliche Distanz zu diesem Pseudo-Lachen und PseudoWeinen, weil er auch selbst keinen situationsspezifischen Grund zum Lachen oder Weinen angeben könnte. Plessners These wird beim pathologisch bedingten Pseudo-Lachen also genau gekontert: Nicht der Patient lacht oder weint in einer konkreten Situation, um diese zu beantworten, sondern sein Körper »lacht« oder »weint«, und der Patient ist diesem verabsolutierten Körper-Geschehen völlig wehrlos ausgeliefert. Um das Grundprinzip des pathologisch bedingten Pseudo-Lachens und Pseudo-Weinens als »Entkoppelung von Affekt und Ausdrucksgeschehen« näher zu erläutern, fahren Frank/Harrer dann fort: »Die natürliche Einheit von Ausdruck und Erleben ist aufgehoben. Pathologisches Lachen und Weinen vollzieht sich als automatisches Bewegungsmuster dissoziiert zu der affektiven Gestimmtheit. Die zentral gesteuerten Innervationsmechanismen verselbständigen sich zum eigengesetzlichen motorischen (und sekretorischen) Ablauf, zum mimischen Automatismus. Die Ausdrucksschablone läßt dabei keine adäquate Beziehung zur auslösenden Situation erkennen. Sie kommt durch unspezifische geringfügige Stimulation in Gang und läuft dann auch gegen das Wollen des Kranken ohne jegliche Möglichkeit steuernder Einflußnahme ab. Die Patienten lachen und weinen ›nicht selbst‹. Das Ausdrucksgeschehen wird nicht als vom Subjekt getragen erlebt.« (S. 249)

Ist das normale lachmündige Bekundungs-Lachen durch seine tendenzielle Unverfügbarkeit an sich schon eine Krise der Personalität, 1754 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

die durch die dem lachmündigen Lachen immanenten uroborischen Impuls jedoch immer wieder gemeistert werden kann, weil dadurch das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper laut Plessner »in eins preisgegeben und wieder hergestellt« (VII,274) wird, so ist das pathologisch bedingte Pseudo-Lachen jenseits aller Lachmündigkeit nicht nur eine Krise der Personalität, sondern ein Sturz aus der voll entfalteten Personalität heraus, weil der rettende uroborische Impuls hier fehlt. Da pathologisches Pseudo-Lachen dieser Art also ein »mimisches Enthemmungsphänomen« (S. 249) ist und, mit Erwin Straus gesprochen, nur Geschehnis, aber kein Erlebnis, kann es auch für Außenstehende nicht ansteckend wirken und somit auch nicht zu deren Erlebnis werden, sondern wirkt nur verstörend und geradezu unheimlich, und nur ganz naive Gemüter können es als Lustigkeit mißverstehen oder aber als eine Form von dämonischer Besessenheit. Auf diesen Umstand weisen auch Frank und Harrer hin, wenn sie betonen: »Wo das Ausdrucksereignis willkürlich ohne entsprechendes inneres Erlebnis (…) in Gang gesetzt wird, verfehlt es als künstliche Zerrform gewöhnlich auch seine Resonanz in der Umgebung.« (S. 248)

Ein Lachen, das dem Lachenden selbst völlig fremd ist, bleibt also auch für die Umstehenden ein befremdliches Geschehen und setzt kein Resonanz-Lachen in Gang. Im folgenden gehen Frank und Harrer auf weitere besonders markante und besonders häufige Formen pathologischen PseudoLachens ein, von denen ich hier nur das Pseudo-Lachen als Begleitsymptom eines epileptischen Anfalls, einer akuten Vergiftung und einer länger wirkenden Infektion herausgreife. Auf das pathologische Lachen als Begleitsymptom eines Schlaganfalls 60 sind wir ja schon eingegangen. Bei der Beschreibung des epileptischen Pseudo-Lachens stützen sich Frank/Harrer wesentlich auf die Monographie von Detlef und Jutta Müller 61, und kommentieren es folgendermaßen: »Das epileptisch bedingte Lachen tritt, wie die Autoren betonen, ›plötzlich, unerwartet, motivlos und unpassend auf und ist seinem Charakter nach sehr variabel – grinsend, kichernd, gackernd, mekkernd, wiehernd, herzlich, schallend – teilweise vom Weinen schwer

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unterscheidbar oder in Weinen übergehend bzw. mit ihm abwechselnd‹ (S. 85 f.). Es dauert Sekunden bis zu ein oder zwei Minuten, kann zu Beginn (als Aura) oder an die Stelle eines Anfalls (als Anfallsäquivalent) auftreten, mitten in irgendeine Anfallform eingebettet erscheinen oder sich (postparoxysmal) unmittelbar an einen Anfall anschließen.« (S. 250 f.) »Dabei treten Disproportionen zwischen dem emotionalen Zustand und seinem Ausdruck, dem Lachen auf – entweder eine Insuffizienz der Kontrolle oder anfallsweises Lachen ohne adäquate Emotion.« 62

Sie hätten sich auch auf Dostojewski berufen können, der in seinem Roman Der Idiot 63 ausführlich einen epileptischen Anfall und das dabei auftretende hysterische Lachen beschreibt, das die allgemeine Bedrückung, in der man sich im Vorfeld eines Anfalls fühlt, nicht löst. Das pathologische Pseudo-Lachen aufgrund einer akuten Vergiftung oder Infektion ist seit der Antike bis herauf zu Joubert und Poinsinet 64 immer wieder als sardonisches Lachen beschrieben worden, tritt besonders häufig bei Wundstarrkrampf auf und bewirkt ein schauerlich anmutendes zähnefletschendes Pseudo-Grinsen oder Pseudo-Lachen: »Wer einmal den Todeskampf eines an Wundstarrkrampf Erkrankten mit dem dafür charakteristischen maskenhaft versteinerten Lachen (›Risus sardonicus‹) erlebt hat, wird diesen grauenhaften Anblick nicht so bald vergessen können. Der Ausdruck des ›Lachens‹ beruht beim Tetanuskranken auf einer Verkrampfung der auch beim natürlichen Lachen beteiligten Gesichtsmuskulatur. Die äußerst unangenehm und schmerzhaft erlebten Kontrakturen, die übrigens auch die Extremitäten-Muskulatur mit einbeziehen, führten vor der Ära der anästhesiologischen und myotonologischen Behandlungsmaßnahmen bei den meist bewußtseinsklaren Patienten zu exzessiver Angst und Verzweiflung, zu der das ›Lachen‹ in einem makabren Kontrast stand.« (S. 249)

Am grausigsten von allen Varianten des pathologisch bedingten Pseudo-Lachens scheint den Berichten nach das Kuru-Lachen zu sein, das als Symptom der Prionen-Krankheit Kuru auftritt. Prionen sind organische Gifte mit virusähnlichen Eigenschaften, die in unseren Breiten durch »Rinderwahn« und »Traberkrankheit«65 auch 1756 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden sind und sich besonders im Hirn ansammeln, sodaß man sich beim Verzehr von Hirn infizieren kann. Dies führt dann zu dauerhaften Krämpfen, die den ganzen Körper erfassen und auch die Atmung überformen, so daß man unter heftigem Pseudo-Gelächter stirbt. In Neuguinea trat diese Kuru-Krankheit besonders bei dem Stamm der Foro auf, die noch im 20. Jahrhundert Kannibalismus praktizierten und sich dann beim Verzehr des Gehirns von toten Stammesgenossen infizierten. Die Krankheit erlosch erst in ihrer epidemischen Form, als der Kannibalismus aufhörte. Erforscht und beschrieben wurde die Krankheit besonders von dem amerikanischen Virologen Daniel Carleton Gajdusek. Sind das Krankheitsbild und die Ursachen von Kuru schon makaber genug, so ist es die Beschreibung von Raymond Moody erst recht, denn er entwirft dabei eine wahre Spaßgesellschaft, in der man sich buchstäblich zu Tode amüsiert: »Kuru, das auch mit dem grausigen Namen ›lachender Tod‹ bezeichnet wird, beginnt schleichend mit Zuckungen und unkontrollierten Bewegungen und führt unweigerlich zum Tod. Hemmungsloses, fröhliches und schallendes Gelächter ist ein böses Zeichen, denn es kündigt an, daß das Endstadium erreicht ist. Kulturelle Faktoren gehören eng zum Bild von Kuru, denn die Stammesangehörigen glauben, es werde durch Zauberei bewirkt. Die Verwandten eines an Kuru Gestorbenen suchen herauszufinden, wer für den feindlichen Zauber verantwortlich ist. Glauben sie, den Betreffenden entdeckt zu haben, so wird er von ihnen aus Rache erschlagen (und aufgefressen). Interessanterweise haben die von der Krankheit Befallenen offenbar ein ausgesprochenes Vergnügen an ihrer Unfähigkeit, ihre Bewegungen zu koordinieren. Sie lachen über ihren unbeholfenen Gang, ihre undeutliche Sprechweise und darüber, daß sie auch leichte Arbeiten nicht verrichten können. Andere, gesündere Mitglieder der Gemeinschaft – sogar Freunde und Verwandte der Sterbenden – stimmen in die Heiterkeit und den Spaß ein und hänseln und verlachen sie.« 66

Daß ein Mediziner wie Moody sich zu einem solchen Schwachsinn versteigt, liegt natürlich daran, daß für ihn Lachen generell heiterlustig-fröhliches Bekundungs-Lachen67 ist, weshalb für ihn auch das pathologische Pseudo-Lachen genauo heiter und lustig und 1757 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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fröhlich sein muß, obwohl die sterbenden Patienten sich durchaus nicht so fühlen können, denn er betont ausdrücklich: »Krankhafte Lachanfälle unterscheiden sich von normaler Heiterkeit am deutlichsten dadurch, daß sie nicht die wahre Stimmung des Patienten widerspiegeln. Während eines Anfalls kann der Betroffene möglicherweise sogar artikulieren, daß er überhaupt nicht fröhlich oder glücklich ist; er muß einfach lachen, unwillkürlich. Die heiterlebhafte Stimmung der an multipler Sklerose Leidenden (denen er auf S. 62 sogar eine ›fast euphorische Stimmung‹ attestiert) stellt keine Ausnahme von der gemachten Feststellung dar; die euphorische Stimmung und das unbeherrschte Gelächter sind bei diesen Patienten getrennte Phänomene mit verschiedenen Ursachen.« (S. 63)

Wenn wir nach diesem Ausflug in die Untiefen amerikanischer laughter&humor-Gelotologie wieder zu Frank/Harrer zurückkehren und nachprüfen, zu welcher Bilanz sie bei ihren Forschungen zum pathologischen Pseudo-Lachen gekommen sind, so stoßen wir auf das bemerkenswerte Eingeständnis: »Trotz der in dem Modell dargelegten Erklärungsergebnisse wissen wir nicht, wie die Entkoppelung zwischen Affekt und Ausdrucksgeschehen bei pathologischem Lachen und Weinen letztlich zustande kommt. Durch unsere Fallbeispiele vermochten wir allenfalls ein Bild über die vielfältigen Formen der pathologischen Manifestationen zu vermitteln.« (S. 256)

Das Problem, vor dem Frank/Harrer in so sympathischer Offenheit ihre Ratlosigkeit bekennen, besteht offensichtlich darin, daß sie glauben, zwischen Affekt und Affekt-Ausdruck säuberlich trennen zu müssen, und dies liegt wiederum daran, daß sie offensichtlich davon ausgehen, Affekte, Gefühle, Emotionen u. dgl. seien innere Zustände der Seele, die durch ein Transportmittel eigens aus dem Inneren nach außen gebracht, also buchstäblich »hinaus gedrückt« werden müssen, sodaß bei der Entkoppelung von Affekt und Affekt-Ausdruck die dem Transportmittel aufgeladene Affekt-Ladung diesem gleichsam entgleitet und der Transporter, hier also das Lachen, in der Außenwelt zwar ankommt, aber ohne Ladung dasteht und nur noch sich selber zeigen kann. Und das heißt: »Draußen« wird gelacht, der Affekt aber rumort »drinnen« weiter vor sich hin, und deshalb ist dieses Lachen so inhaltsleer. 1758 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das para-personale Lachen

Auf dieses fundamentale methodologische und erkenntnistheoretische Problem sind wir schon in Kapitel 2.18.1 gestoßen und unter Orientierung an Goethes Warnung, »nur nichts hinter den Phänomenen zu suchen, weil sie selbst die Lehre sind« 68, zu dem Ergebnis gekommen, daß das Bekundungs-Lachen gerade nicht der Transporter ist, der ein Gefühl von »drinnen« nach »draußen« schafft, sondern selbst ein affektiv getöntes Verhalten. Aus diesem Grund lautet oben die Überschrift zu Kapitel 2.17.4.5.4 auch »Lachen als hinhaltende Hingabe an eine erhebende Situation« und nicht »Lachen als Ausdruck hinhaltender Hingabe an eine erhebende Situation«. Doch all dies gilt nur für das normale lachmündige Lachen. Pathologisch bedingtes Pseudo-Lachen ist auch in diesem Sinn kein affektiv getöntes Verhalten und schon gar nicht der Ausdruck eines Gefühls, sondern rein körperliches und ausschließlich physiologisch bedingtes Geschehen und damit nichts als ein Symptom, das zu einem bestimmten Krankheitsbild gehört wie andere Symptome auch. Oder pointiert formuliert: Pathologisch bedingtes Pseudo-Lachen verhält sich zum echten Lachen wie die Schüttel-Lähmung eines Parkinson-Patienten zu rhythmischer Gymnastik. Aus diesem Grund kann man Frank/Harrer nur folgen, wenn sie pathologisch bedingtes »Lachen« als »Pseudolachen« (S. 248) bezeichnen und deshalb habe ich diese Formulierung auch dankbar von ihnen übernommen. Aus all diesen Gründen kann unsere Bilanz nur lauten: Pathologisch bedingtes Pseudo-Lachen hat nicht den geringsten Ausdruckswert, es bekundet nichts und bedeutet nichts, und deshalb ist es auch sinnlos, nach dessen situativer Stimmigkeit, Intensität und Verfügbarkeit zu fragen, weil es all dies nicht nur nicht hat, sondern auch nicht haben kann. Das Kriterium synergetischer Zugleichheit gilt für pathologisch bedingtes Pseudo-Lachen hingegen sehr wohl, aber eben nur im Rahmen des Krankheitsbildes, zu dem es als ein Symptom neben anderen Symptomen gehört.

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3.4.7 Das post-personale Pseudo-Lachen 3.4.7.1 Das post-personale Pseudo-Lächeln als perennierendes pathologisches Phänomen Das post-personale Pseudo-Lachen ist in der Regel ein stereotypes Lächeln oder Grinsen, das wie eine starre Maske auf dem Gesicht klebt und hat, genau wie das pathologisch bedingte para-personale Pseudo-Lachen nicht den geringsten Ausdruckswert, weil es, genau wie dieses, als ein Symptom neben anderen zu einem bestimmten Krankheitsbild gehört. Wenn es in seiner Bedeutungsleere überhaupt etwas bekundet, dann ist es die dauerhafte Privation der Personalität eines Patienten. Wenn Plessner betont, das ekstatische, tendenziell unverfügbare Bekundungs-Lachen signalisiere den »Verlust der Beherrschung im Ganzen« (VII,274), so signalisiert das post-personale Pseudo-Lachen den Verlust der Personalität im Ganzen. Aus diesem Grund ist es auch hier sinnlos, die Kriterien von synergetischer Zugleichheit und situativer Stimmigkeit, Intensität und Verfügbarkeit abzufragen, weil es all dies hier nicht gibt und auch nicht geben kann, denn das post-personale Pseudo-Lachen ist überhaupt kein Lachen, auch wenn es für den ungeübten Blick manchmal so wirken könnte. Auch die von Frank/Harrer aufgeworfene Frage nach der Entkoppelung von Affekt und AffektAusdruck erübrigt sich hier vollkommen, weil es bei den hier einschlägigen Krankheitsbildern gar keinen Affekt mehr gibt, der ausgedrückt werden könnte. All dies macht aber die Frage nach der Ätiologie dieses seltsamen Phänomens nicht überflüssig, weil gerade die festgefrorene Maske des hier auftretenden Pseudo-Lächelns dem unkundigen Betrachter suggeriert, die sanften Blöden seien doch eigentlich ganz glücklich und zufrieden in ihrem Zustand, weil sie genauo »selig« lächeln wie ein satter schlafender Säugling. Auf den ersten, noch ganz oberflächlichen Blick gleicht dieses Dauerlächeln der sanften Blöden auch manchen Lächelmasken, die zu bestimmten sozialen Rollenfächern 69 gehören, unterscheidet sich von ihnen jedoch dadurch, daß diese Lächelmasken gezielt gewählt, in der Öffentlichkeit gezielt aufgesetzt und im privaten Be1760 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das post-personale Pseudo-Lachen

reich wieder abgesetzt werden können, wohingegen das pathologische Dauerlächeln vollkommen unverfügbar ist, weil es ein pathologisch bedingtes Symptom eines Krankheitsbildes neben anderen Symptomen ist. So gesehen bekundet es auch nicht irgendeine emotionale Befindlichkeit, sondern gerade den Ausfall jeglicher emotionaler Befindlichkeit, bekundet also eine wüstenhafte Leere des Gemüts, die den dauerhaften Totalverlust von Personalität signalisiert. Pointiert formuliert: Patienten dieser Art sind selbstverständlich noch Menschen, die auch aller Fürsorge wert sind und bleiben dies auch bis zum Tod, sind aber keine Personen mehr. Diesen sehr restriktiven Begriff von Personalität vertritt auch Hermann Schmitz, wenn er betont: »Die Person ist ein Bewussthaber (also jemand, der Bewußtsein von sich selbst hat) mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung besteht darin, etwas für sich zu halten oder, um es genauer zu sagen, sich als Fall von Gattungen oder von Bestimmungen (nach dem Schema ›Ich als A,B,C … etc‹) aufzufassen und zwar im Allgemeinen als Fall mehrerer Gattungen, so dass man sich zutraut, zu sagen, ich bin dies, ich bin das, wobei jeweils gemeint ist, ich bin von dieser Art, ich bin (aber auch) von jener Art, ich bin zum Beispiel ein Mensch und dergleichen. Wer das kann, wer sich als Fall von Gattungen auffassen und daher sich für etwas halten kann, der ist eine Person, denn der kann Rechenschaft von sich geben, der kann Verantwortung übernehmen, der kann sich orientieren über den Platz, den er in der Welt und in seiner Umwelt einnimmt, er kann ihn zum Teil auch selbst bestimmen und das ist charakteristisch für die Person.« 70

Plessner hätte gesagt: Er kann sich exzentrisch ponieren, und zwar als jemand ponieren. So gesehen ist es höchst bezeichnend, daß bei Walter Jens, dem wohl prominentesten Alzheimer-Patienten unserer Tage, diese Krankheit sich zum ersten Mal in aller Deutlichkeit zeigte, als er nicht mehr fähig war, ein von ihm verfaßtes Buch zu signieren, das man ihm dargeboten hatte: Er wußte einfach nicht mehr, wer er war 71 und konnte deshalb auch seinen Namen nicht mehr schreiben. Seine Fähigkeit zur Selbstzuschreibung war im vollen Wortsinn dahin. 1761 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Der Verlust der Fähigkeit, sich in Welt und Umwelt auch emotional zu orientieren, zeigt sich bei Patienten dieser Art insbesondere im stumpfen und leeren Blick, der in einem grotesken Mißverhältnis zur Lächelmaske steht. An diesem Kriterium mangelnder synergetischer Zugleichheit läßt sich das post-personale Pseudo-Lächeln denn auch am deutlichsten erkennen, denn dieses Pseudo-Lächeln bekundet weder einen Affekt, noch ist es ein Interaktions-Lächeln, das sich an jemanden wendet, und es ist auch kein in sich gekehrtes Lächeln, weil die dazu passende konkave Neigung des Gesichts fehlt. Es ist auch kein vielsagendes Lächeln, sondern nur eine völlig leere nichtssagende Maske mit leerem Blick und einem Pseudo-Lächeln. Man darf auch nicht der Versuchung erliegen, dieses Pseudo-Lächeln der sanften Verblödeten als ein auf Dauer gestelltes Verlegenheits-Lächeln zu deuten, so verführerisch diese Deutung auch sein mag, denn ein Verlegener ist immer noch auf der Flucht aus einer peinlich bedrängenden Situation, wohingegen der sanfte Blöde seine Situation überhaupt nicht kennt und sie deshalb auch nicht als irgendwie geartet erkennen kann, weshalb er auch nicht aus ihr flüchten muß und flüchten will. So gesehen gleichen die Augen eines Alzheimer-Patienten im fortgeschrittenen Stadium den Augen des toten Argus, die zwar noch offen sind, aber blicklos ins Leere schauen. Georg Büchner bringt diese Situation wohl am besten auf den Punkt, wenn er am Ende seiner Lenz-Novelle über Lenz schreibt: »Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat Alles wie es die Andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.« 72

Frank/Harrer gehen zwar auf das Alzheimer-Syndrom nicht eigens ein; was sie aber über die emotionale Verödung beim Verlust der Personalität schreiben, läßt sich sehr wohl auch als Beitrag zu dieser Problematik lesen. Ausgangspunkt ist auch hier die aristotelische These, Lachen und Weinen seien propria hominis, weshalb der partielle oder gar totale Ausfall dieses Vermögens das Menschsein als Person im Kern beschädigt, denn: »Wer nicht mehr lachen und weinen kann, ist eines wesentlichen Teiles seiner Menschlichkeit beraubt, sei es durch lebensgeschichtlich be-

1762 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Das post-personale Pseudo-Lachen

dingte (perennierende) extreme Verhärtung und Erstarrung des Gefühlslebens oder durch (akute) krankhafte Affektstörung, die wie bei einer schweren Melancholie im quälenden Ausgeliefertsein an die versteinerte Trostlosigkeit nicht nur das Lachen, sondern selbst jede Träne erstickt. Durch den ›pathologischen Ausfall des Fühlen-Könnens‹ (Revers 1983) 73 liegen die emotionale Schwingungsfähigkeit und die Ausdrucksfähigkeiten gemeinsam darnieder.« (S. 248)

Dieser Hinweis ist hier insofern von Bedeutung, als auch die Emotionalität eine Form der Orientierung in Welt und Umwelt darstellt. Normalerweise beantworten wir ja ein Lächeln mit einem eigenen Lächeln, weil wir immer versucht sind, das Lächeln eines Anderen als Interaktions-Lächeln zu verstehen und auf uns selbst zu beziehen. Tut man dies auch beim post-personalen Pseudo-Lächeln und außerdem mit vollem Blickkontakt, so ist man erst mal tief irritiert, weil man beim Gegenüber keinerlei Resonanz verspürt, denn sein Pseudo-Lächeln bleibt genauo maskenhaft starr wie es vorher schon war, und sein Blick bleibt ebenfalls genauo leer, stumpf und tot und scheint durch uns hindurch ins Leere zu gehen. Und so geht auch unser Blick beim Blickkontakt mit Patienten dieser Art buchstäblich ins Leere. 3.4.7.2 Das post-personale Pseudo-Lächeln der Toten Um 1900 wurde in Paris die Leiche eines etwa 17jährigen Mädchens aus der Seine geborgen. Da sie keinerlei Verletzungen aufwies und niemand das Mädchen als vermißt gemeldet hatte, mußte man annehmen, daß sie in der Seine den Tod gesucht hatte, und so konnte die Identität dieses Mädchens auch nie festgestellt werden. Da dieses Mädchen aber noch als Leiche sehr hübsch war, wurde im Pariser Leichenschauhaus eine Totenmaske von ihr angefertigt, die bald unter dem Namen L’Inconnue de la Seine bekannt war und schon auf die Zeitgenossen einen seltsamen Zauber ausübte, weil diese geheimnisvolle Unbekannte wie eine selige Entrückte bei geschlossenen Augen in sich hinein zu lächeln schien, ganz so, als sei sie ein Buddha in weiblicher Gestalt. Der Umstand, daß man über die Identität dieses jungen schö1763 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

nen Mädchens, über die Umstände ihres Todes und über die Gründe für dieses scheinbar vielsagende Lächeln bei geschlossenen Augen nichts wußte, befeuerte die Fantasie der Zeitgenossen, insbesondere die Fantasie der zeitgenössischen Künstler, so sehr, daß alsbald ein regelrechter Kult um diese Totenmaske getrieben wurde, weil diese geheimnisvolle Maske zu Projektionen aller Art einlud. So legte schon Rainer Maria Rilke seinem Helden Malte Laurids Brigge die Sätze in den Mund: »Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben seiner Türe ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüßte es. Und darunter sein wissendes Gesicht.« 74

Was die schöne Unbekannte wußte, verrät uns der Autor nicht, suggeriert aber durch den unvollständigen Satz, sie müsse etwas ganz und gar Unsagbares gewußt haben, womit er zugleich dieses Lächeln als ein wissendes Lächeln deutete und die Aura des Geheimnisvollen um diese schöne Unbekannte noch mehr verstärkte. Für literarisch Kundige erschien diese schöne Unbekannte natürlich als eine zeitgenössische Ophelia, die man zwar aus dem Hamlet oder aus dem berühmten Ophelia-Gedicht von Arthur Rimbaud kannte, aber nun leibhaftig vor sich zu haben glaubte, und so dauerte es auch nicht lang, bis die schöne Unbekannte in Gedichten, Romanen und Bildern aller Art poetisiert und ästhetisiert wurde und speziell in der Lyrik eine ganze Welle von »Wasserleichen-Poesie« 75 in Gang brachte, die speziell in der deutschen Literatur bei Georg Heym begann und bis zu Bertolt Brecht reichte. Der psychische Prozeß, der hier ablief, war ein typisches narzißtisches Szenario: Man projizierte eigene Befindlichkeiten, Ängste und Sehnsüchte in das leere Gesicht der schönen unbekannten Toten hinein und holte sie als Ergriffenheit wieder heraus, der man sich dann in williger Ergebenheit hingeben konnte. Und da die schöne Tote wegen ihrer völligen Anonymität Projektionen aller Art möglich machte, schienen diese Projektionen auch alle möglich und deshalb auch alle irgendwie stimmig zu sein. Wir haben es hier also mit einem ähnlichen Phänomen zu tun wie beim prä-personalen Resonanz-Lächeln des Säuglings, der vor 1764 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Anmerkungen

der Fremdelphase wahllos und »ohne Ansehen der Person« zurücklächelt, wenn man ihn anlächelt, sodaß jeder davon gerührt ist, weil er glauben kann, der Säugling meine ausgerechnet ihn und möge ihn sogar. Das geheimnisvolle »Lächeln« der schönen Unbekannten konnt man aber auch in Analogie mit dem angeblich »seligen« prä-personalen Lächeln eines schlafenden Säuglings sehen oder gar als Vorwegnahme des seligen Lächelns der Auferstandenen, sodaß man glauben konnte, der Tod im Wasser müsse ein besonders poetischer Tod sein, den man mit einem Lächeln quittieren kann, das noch geheimnisvoller und vielsagender ist als selbst das der Mona Lisa. Allerdings war das geheimnisvolle »Lächeln« dieser schönen Toten natürlich überhaupt kein Lächeln, sondern das post-personale Pseudo-Lächeln, wie es die meisten Toten auf dem Gesicht haben, die friedlich und ohne heftigen Todeskampf gestorben sind. Und so war die Poetisierung und Ästhetisierung der schönen Toten aus der Seine eben nur ein holder Wahn, und das vermeintliche Lächeln bekundete auch überhaupt nichts, weder den Abglanz ewiger Seligkeit noch die »Meeresstille des Gemüts« noch ein Nirwana, ja, es bekundete, wenn möglich, sogar noch weniger als die gefrorene Lächelmaske eines Alzheimer-Patienten. Und wenn es überhaupt etwas verriet, dann nur die völlige Entspannung der Gesichtsmuskeln, wie sie bei Toten eben einzutreten pflegt. Anmerkungen 1 Vgl. dazu den »Stammbaum des Lachens und Lächelns« von J. A. van Hooff bei Eibl-Eibesfeldt: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, S. 173, und die Kritik dazu in Kapitel 2.15.5.2. In dem darwinistisch orientierten Aufsatz von Matthew Gervais und David Sloan Wilson »The evolution and functions of laughter an humor: A synthetic approach« (The quarterly Review of Biology 80, 2005, S. 395–430) wird van Hooffs Stammbaum hingegen völlig ernst genommen. 2 Robert R. Provine: Laughter, London 2000, S. 81 f. 3 Vgl. dazu Kapitel 2.15.5.1. 4 Vgl. dazu Kapitel 2.15.4.1.2. 5 Vgl. dazu Kapitel 2.15.4.2. 6 Vgl. dazu Darwin: Die Entstehung der Arten, S. 654. 7 Vgl. dazu Kapitel 2.15.4.

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit 8

Vgl. dazu Anmerkung Nr. 42 zu Kapitel 2.15. Vgl. dazu Kapitel 2.15.6. 10 Günter Dux: Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht, in: Günter Dux/Ulrich Wenzel (Hg.): Der Prozeß der Geistesgeschichte, Frankfurt a. M. 1994, S. 93–115, hier S. 95. 11 Erwin Straus: Geschehnis und Erlebnis, Berlin 1930, S. 267. 12 Straus, S. 31. 13 Michel Onfray: Philosophie der Ekstase, Frankfurt a. M. 1993; vgl. dazu auch Kapitel 2.12.6.5.4. 14 Vgl. dazu die Polemik der Reformatoren gegen das Osterlachen in Kapitel 2.7.10.3 und die Polemik der Pietisten gegen die eutrapelistische ars iocandi et ridendi in Kapitel 2.12.4.1 unter Berufung auf die in Kapitel 2.3.4.3 dargestellte Polemik des Apostel Paulus gegen die Eutrapelie im Epheser-Brief. 15 Ein Seitenhieb auf Freuds energetische Hydraulik; vgl. dazu auch die explizite methodologische Kritik von Straus an Freud auf S. 7 ff. des Werks und in Kapitel 2.14.7.1.4. 16 Straus dachte hier wohl an Iwan Gontscharows Helden Oblomow, der zu Beginn des Romans im Bett liegt und erst nach mehr als 250 Seiten sich zum Aufstehen bequemt. 17 Erwin Straus: Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie, in: Straus: Psychologie der menschlichen Welt, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 224–235, hier S. 225. In der Festschrift für Victor-Emil Freiherr von Gebsattel kommt Straus auf diesen Aufsatz von 1949 noch mal zurück und ergänzt ihn um weitere Aspekte: Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt. Betrachtungen zur »aufrechten Haltung«, in: Werden und Handeln, hg. v. Eckart Wiesenhütter, Stuttgart 1963, S. 44–73. Vgl. dazu auch Dieter Wyss: Strukturen der Moral, Göttingen 1968, S. 46 ff. und S. 85 ff. mit Verweisen auf weitere einschlägige Literatur im Gefolge von Herder. Die Studie von Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012, konnte ich leider nicht mehr einarbeiten. 18 Vgl. dazu Kapitel 2.12.2.1. 19 Herder 3,173. Diese Passage ist der Ansatzpunkt für die Ethik von Dieter Wyss, die bei der Analogie von innerer Haltung i. S. v. Aufrichtigkeit und äußerer Haltung i. S. v. aufrechtem Stand ansetzt. 20 Buytendijk beschreibt in seinem Aufsatz »Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier«, in: Das Menschliche, Stuttgart 1958, S. 21–59, vier verschiedene Ausdrucksformen von Intelligenz, deren erste das Aha-Erlebnis ist, das laut Buytendijk bei Menschen und Tieren vorkommt, und immer mit einem »strahlenden, leuchtenden Gesicht« (S. 52) verbunden ist. Der Ausdruck »Aha-Erlebnis« selbst stammt von dem Psychologen Karl Bühler, der darunter eine blitzartige Erkenntnis-Peripetie vom Nichtwissen zum Wissen versteht. Zum Thema allgemein vgl. Kjell Kühne: Das Aha-Erlebnis, Heidelberg 2008. 21 Vgl. dazu: F. J. J. Buytendijk: Das erste Lächeln des Kindes, in: Buytendijk: Das Menschliche, Stuttgart 1958, S. 101–118; René Arpad Spitz: Vom Säugling zum 9

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Anmerkungen

Kleinkind, Stuttgart 1967, S. 100 ff.; John Bowlby: Bindung, München 1969, S. 259 ff.; Jean Piaget: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Stuttgart 1973, S. 159 ff.; Martin Dornes: Die Psychologie von René A. Spitz, Frankfurt a. M. 1981, S. 33 ff.; Bernhard Hassenstein: Verhaltensbiologie des Kindes, München/ Zürich 4/1987, S. 50 ff. 22 Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 181. 23 Vgl. dazu Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne, Berlin/Göttingen/Heidelberg 2/1956, S. 25 ff. 24 Straus: Geschehnis und Erlebnis, S. 27. 25 Vgl. dazu Kapitel 2.15.6. 26 Vgl. dazu Wolfgang Wickler: Mimikry. Nachahmung und Täuschung in der Natur, München 1968, S. 68 ff. 27 Otto Koenig: Urmotiv Auge, München 1973. 28 Vgl. dazu Siegfried Seligmann: Der böse Blick und Verwandtes, 2 Bde, Berlin 1910, sowie: Thomas Rakoczy: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Auges in der griechischen Literatur, Tübingen 1996. 29 Die Abbildung findet sich bei Spitz auf S. 167. 30 Vgl. dazu die Arbeiten von René A. Spitz: Eine genetische Theorie der Ichbildung, Frankfurt a. M. 1972 und: Vom Dialog. Studien über den Ursprung der menschlichen Kommunikation und ihrer Rolle in der Persönlichkeitsbildung, München 1986. 31 Schmitz: Person, S. 78. 32 Schmitz: Person, S. 135, Anmerkung Nr. 510. 33 Schmitz: Person, S. 386. 34 Schmitz: Person, S. 386. 35 Schmitz: Person, S. 55. 36 Erwin Straus: Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie, in: Erwin Straus: Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 224–235, hier S. 225. 37 Schmitz: Person, S. 135, Anmerkung Nr. 510. 38 Schmitz: Person, S. 105. 39 Schmitz: Person, S. 105. 40 Schmitz: Person: S. 105 f. 41 Vgl. dazu Eduard Norden: Die Geburt des Kindes, Darmstadt 1969, sowie die Kapitel 2.6.1.1 und 2.6.5.4. 42 Vgl. dazu Kapitel 2.6.2.3.4. 43 Vgl. dazu Gisbert Kranz: Das göttliche Lachen, Würzburg 1970, S. 67 ff. Dem Buch von Gisbert Kranz verdanke ich einige wertvolle Anregungen und Hinweise. 44 Schopenhauer I,265. Die Hervorhebungen stammen von mir. 45 Wikipedia: Tanganjika-Lachepidemie, S. 1 f. Die Darstellung stützt sich im wesentlichen auf die beiden Aufsätze: A. M. Rankin/P. J. Philip: An Epidemic of Laughing in the Bukoba District of Tanganyika, in: Central African Medical Jour-

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

nal Nr. 9, 1963, S. 167–170, und Christian F. Hempelmann: The laughter of the 1962 Tanganyika »laughter epidemic«, in: Humor – International Journal of Humor Research 20,1, 2007, S. 49–71. 46 Hier liegt offenbar eine Verwechslung dieser Lach-Epidemie mit der Infektionskrankheit Kuru vor, zu der ein pathologisches Pseudo-Lachen als Symptom gehört; vgl. dazu weiter unten Kapitel 3.4.5.5. 47 Frank/Harrer (vgl. Anmerkung Nr. 59) deuten die Lachanfälle als »psychogene Störung« und als »hysterisches Phänomen« (S. 254), weil die davon Befallenen im wesentlichen Mädchen und junge Frauen waren. 48 Vgl. Kapitel 2.15.4.1. 49 Vgl. dazu Fritz W. Kramer: Verkehrte Welten, Frankfurt a. M. 2/1981, S. 55 ff. und: Schriften zur Ethnologie, Frankfurt a. M. 2005, S. 51 ff. 50 Vgl. dazu Kapitel 2.17.4.5.5. 51 Vgl. dazu Kapitel 2.6.4 und Jürg Zutt (Hg.): Ergriffenheit und Besessenheit, S. 47 ff. 52 Im Original lautet die ausgelassene Passage: »ein Massenselbst analog zu der Gestalt des Uroboros, als Aufnehmendes (…)«. Ich habe diese Passage weggelassen, um Mißverständnisse zu vermeiden, weil Neumann den Begriff Uroboros in einer Weise verwendet, die mit dem uroborischen Prinzip, wie dieser Begriff hier bei mir verwendet wird, überhaupt nichts zu tun hat. Für Neumann ist der Uroboros als in sich ruhende Kreisschlange mit dem Schwanz im Maul das Bild für das uranfängliche Eine vor jeder Art von Individuation, aus dem durch Spaltungen aller Art erst individuelles Sein entsteht. Personale Regression ist für Neumann, so gesehen, in letzter Konsequenz ein Rückfall in dieses Ureine vor jeder Individuation, was er als »uroborischen Inzest« (S. 473) bezeichnet. Oder anders formuliert: Der Uroboros ist für Neumann ein Archetyp im Sinn von C. G. Jung. 53 Erich Neumann: Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, Zürich 1949, S. 473. 54 Vgl. Kapitel 2.17.2. 55 Plessner X,239; vgl. auch Kapitel 2.17.4.2. 56 Kurt Goldstein: Der Aufbau des Organismus, Haag 1934, S. 309. 57 Vgl. dazu Kapitel 2.4.2. 58 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1998, S. 45. 59 Christel Frank und Gerhart Harrer: Über pathologisches Lachen und Weinen, in: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie 31, 1983, S. 247–257. 60 Analoges gilt für den Lachschlag, einem plötzlichen und totalen Ausfall der Körperspannung, bei dem man unter Pseudo-Lachen in sich zusammensinkt und oft sogar in Ohnmacht fällt. Der Lachschlag ist somit eine verminderte Variante des Schlaganfalls; vgl. Frank/Harrer S. 253. 61 In der Zusammenfassung ihrer Befunde zeigen Müller/Müller (vgl. Anmerkung Nr. 62), daß sie völlig dem naiv reduktionistischen Vorurteil verfallen sind, alles Lachen müsse ein heiteres Lachen sein, denn diese Bilanz beginnt mit den Sätzen: »Wir sind davon ausgegangen, daß unter Lachen eine akute, lustvoll-heitere Emo-

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Anmerkungen

tion und deren motorische Ausdruckserscheinungen bzw. besonders die motorische Antwort auf eine spezifische Emotion verstanden werden. Dabei entsprechen normalerweise, d. h. beim physiologischen Lachen, Intensität und Dauer des motorischen Ausdrucks der Stärke der Emotion.« (S. 85) Beim »pathologischen Lachen« treten laut Müller/Müller »Disproportionen zwischen dem emotionalen Zustand und seinem Ausdruck, dem Lachen, auf, – entweder eine Insuffizienz der Kontrolle oder anfallsweises Lachen ohne adäquate Emotion.« (S. 85) 62 Frank/Harrer, S. 255, bzw. Detlef Müller/Jutta Müller: Lachen als epileptische Manifestation, Jena 1980, S. 16 f. Vgl. dazu auch den Aufsatz von K. Poeck und G. Pilleri: Pathologisches Lachen und Weinen, in: Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 92, 1963, S. 323–370. Für Poeck/Pilleri gibt es, genau wie bei Darwin, immer noch eine »Naturgeschichte des Lachens und Weinens« (S. 335 ff.), die schon bei den Halbaffen beginnt. 63 Vgl. Fjodor Dostojewski: Der Idiot, Köln 2009, S. 345. Dostojewski war selbst Epileptiker. 64 Vgl. dazu Joubert, S. 175 ff. und Poinsinet, S. 49 ff. Analoges gilt für die akute Vergiftung mit Lachgas (Stickoxydul), Kupfer, Mangan und Strichnin. Vgl. dazu Raymond Moody: Lachen und Leiden. Über die heilende Kraft des Humors, Reinbek 1979, S. 68 ff.; vgl. dazu Beat Hörnlimann/Detlev Riesner/Hans Kretzschmar: Prionen und Prionenkrankheiten, Berlin 2001. 65 Vgl. dazu die bei Hörnlimann/Riesner/Kretzschmar aufgelistete Forschungsliteratur. 66 Moody, S. 66 f. 67 Da Moody in amerikanischer gelotologischer Tradition die Begriffe »Humor« und »Lachen« faktisch synonym verwendet, also nicht sauber zwischen Humor i. S. v. Lach-Bereitschaft und faktischem Lachen unterscheidet, und da außerdem sein Thema die heilende Kraft des Lachens ist, reduziert er die Lachpalette völlig auf das heitere Bekundungs-Lachen und kommt so zwangsläufig zu solchen absurden Urteilen. 68 Vgl. Goethe 4,21. 69 Vgl. Kapitel 3.4.6.3. 70 Werhahn, S. 35. 71 Vgl. dazu die beiden sehr persönlich gehaltenen Berichte über die Alzheimer-Erkrankung des eigenen Vaters: Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloh 2/2009 und: Cécile Wajsbrot: »Die Köpfe der Hydra«. Eine Geschichte, München 2012. 72 Georg Büchner: Werke und Briefe, München 1980, S. 89. 73 Zitiert wird hier aus einem Aufsatz des Musikpsychologen Wilhelm Josef Revers, dem der Aufsatz von Frank/Harrer auch gewidmet ist: Die Langeweile – Symptom emotionaler Verkümmerung, in: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie 31, 1983, S. 210–218. 74 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, München 1962, S. 56. 75 Beispiele für diese Wasserleichen-Poesie sind in der deutschen Literatur z. B. die

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Ontogenetische Stufen der Lachmündigkeit

Gedichte von Georg Heym »Die Tote im Wasser« und »Ophelia«, von Gottfried Benn »Schöne Jugend«, und von Bertolt Brecht »Von den verführten Mädchen« und »Vom ertrunkenen Mädchen«. Vgl. zu dem Thema auch die Monographie von Jürg Peter Rüesch: Ophelia. Zum Wandel des lyrischen Bildes im Motiv der ›navigatio vitae‹ bei Arthur Rimbaud und im deutschen Expressionismus, Zürich 1964.

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3.5 Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

3.5.1 Methodologische Probleme bei der Erstellung von Lachpaletten Nachdem wir die Varianten des Lachens und Pseudo-Lachens auf minderen Stufen von Personalität als solche vorgestellt haben, gilt die weitere Analyse ausschließlich dem mündigen Lachen auf der Höhe voll entfalteter Personalität, und dessen systematischer Aufteilung und Zusammenstellung zu bestimmten Gruppen und Untergruppen. Bisher haben wir, wie in der Einleitung 1 angekündigt und vorweggenommen, mit drei Typen des Lachens gearbeitet und Bekundungs-, Interaktions- und Resonanz-Lachen anhand des Kriteriums der tendenziellen Verfügbarkeit unterschieden, weil sich dies bei der Darstellung, Analyse und Kritik tradierter gelotologischer Ansätze und ihrer ethischen Implikationen so angeboten hat. Wenn wir nun als weitere Kriterien Genese, Verlaufsgestalt und Funktion des jeweiligen Lachens hinzunehmen, können wir die bisherige Unterteilung zwar weiterhin beibehalten; es ergeben sich aber doch einige neue Aspekte, die eine weitere Differenzierung möglich machen. Aus diesem Grund teile ich das Bekundungs-Lachen noch mal auf in das unwillkürlich und unabsichtlich sich ergebende Bekundungs-Lachen als Antwort auf bestimmte Situationen von affektiver Betroffenheit und das gezielt herbeigeführte und kulturell ritualisierte geloiastische Bekundungs-Lachen als Antwort auf das Komische und Lächerliche, das, wie wir gesehen haben, von Gelotologen wie Platon, Hobbes, Baudelaire, Bergson und Ritter zum Lachen schlechthin verabsolutiert worden ist. 1771 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

Alle Kriterien, die sich nur als regulative und nicht als konstitutive Kriterien des Lachens 2 erwiesen haben, können wir zur Klassifikation der oben genannten vier verschiedenen Varianten des Lachens nicht mehr verwenden, weil sie allein innerhalb dieser vier Varianten eine unterscheidende Funktion haben können und dabei wird sich zeigen, daß sich in einigen Fällen das Lachen auf einer breiten Skala vom Lächeln bis zum lauten Lachen manifestiert, in einigen anderen Fällen dies jedoch nicht möglich ist, weil sich bestimmte Varianten des Lächelns nicht zum lauten Lachen steigern und bestimmte Varianten des lauten Lachens sich nicht zum Lächeln herunterdimmen lassen, ohne ihre spezifische Eigenart zu verlieren. Als weiteres, bisher immer nur eher beiläufig erwähntes Kriterium für die Einteilung des Lachens in vier verschiedene Grundtypen ergibt sich aus all diesen Gründen die Frage nach dem Verhältnis des jeweiligen Lachens zur jeweiligen Situation, und damit erscheint das Bekundungs-Lachen in all seinen Varianten als je spezifische Antwort auf eine bestimmte Situation von Betroffenheit, wohingegen das Interaktions- und Resonanz-Lachen als Lachen in gemeinsamen Situationen erscheinen. Wie diese Situationen jeweils beschaffen sind und mit welchen Einstellungen ihnen begegnet werden kann, muß dann jeweils eigens geklärt werden, weil dies das jeweilige Lachen intensiv überformt und weil bei weitem nicht alle Situationen lachrelevant sind. Dieses Prinzip, beim Verhältnis von Situation und Lachen methodisch anzusetzen, ist zugleich als eine fundamentale Kritik am traditionellen Verfahren der Gelotologie zu verstehen, die in der Tradition Platons das Lachen im wesentlichen auf das BekundungsLachen reduziert und als Ausdruck bestimmter Gefühle verstanden hat. Das Bekundungs-Lachen wurde also als ein Vehikel angesehen, das die Gefühle, die im Innern der kammerförmig gedachten Seele lokalisiert sind und dort still vor sich hin wabern, nach außen in die Vernehmbarkeit transportiert und somit ausdrückt im Sinn von »hinaus drückt«. Beispiele dafür wären Freude, Verlegenheit, Erleichterung, Empörung, Triumph und dergleichen mehr, nach denen denn auch bestimmte Varianten des Bekundungs-Lachens benannt worden sind. 1772 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Probleme bei der Erstellung von Lachpaletten

Wenn man aber Goethes Warnung ernst nimmt, »nichts hinter den Phänomenen zu suchen, weil sie selbst die Lehre sind« (vgl. 4,21), erübrigt es sich, hinter einem bestimmten Bekundungs-Lachen eigens auch noch nach dem dahinter stehenden und in der Seele lokalisierten Gefühl zu fragen, das nach außen transportiert werden müßte, weil z. B. das erleichterte Auflachen selbst schon die Erleichterung ist, aber eben nicht als das nach außen transportierte Innere der Seele. Vielmehr ist es ein affektiv getöntes Verhalten im Rahmen eines Szenarios der Erleichterung, zu dem auch noch andere spezifische Verhaltensweisen gehören, die erst im synergetischsynästhetischen Zusammenspiel dieses Szenarios der Erleichterung stiften. Bekundungs-Lachen bleibt aber gleichwohl immer noch eine Verarbeitung affektiver Betroffenheit. Die entscheidenden Aspekte dieses synergetisch-synästhetisch geprägten Gesamtverhaltens sind als »erste Natur« Gestus, Vultus, Habitus, Wachheit und sprachliche Artikulationsfähigkeit und als »zweite Natur« kulturell geprägte Normen des Verhaltens, durch die der Spielraum spontaner Reaktion entscheidend überformt werden kann. Weitere Überformungen dieses Spielraums ergeben sich aus dem jeweiligen sozialen Milieu und seinen speziellen Tabus, in dem ein Verhalten wie das Lachen ausagiert werden soll. Am Stammtisch in der Dorfkneipe wird halt ungenierter gelacht als in einem Pensionat der Englischen Fräulein. Diese neue Sicht auf die Gefühle als emotional getönte Szenarios orientiert sich in der Tendenz an der Gefühlstheorie von Hermann Schmitz, der explizit von der Räumlichkeit der Gefühle 3 spricht und diese Räumlichkeit als machtvolle atmosphärische Kraftfelder versteht, die das menschliche Verhalten in sich einbetten und dementsprechend synergetisch-synästhetisch überformen, was eben auch für das Lachen gelten muß. Dieser neuen Sicht auf das Verhältnis von Lachen und Gefühl hat Helmuth Plessner, vielleicht sogar ohne es zu ahnen und zu wollen, in gewisser Weise schon vorgearbeitet, weil er immer betonte, daß das Lachen zwar dem jeweiligen Anlaß »entspricht und auf ihn reagiert«, doch »ohne von ihm geprägt zu sein« (VII,277). Diese These habe ich in Kapitel 2.17.4.3 dahingehend modifiziert, daß Lachen als Lachen zwar bedeutungsleer ist, sich aber je nach Situa1773 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

tion nach dem Kuleschow-Effekt oder Lichthupen-Prinzip einschlägig semantisieren kann, sodaß ein Lachen in einer bestimmten Situation sehr wohl und mit vollem Recht z. B. als heiteres Lachen bezeichnet werden kann, weil die Situation, in der jemand auf diese Weise lacht, ein heiteres Szenario ist, aber nicht, weil dieses spezifische Lachen Heiterkeit aus der Seele des Lachenden nach außen transportiert hätte. So gesehen wird das Lachen also doch von außen geprägt, wenn auch nur indirekt. Und es wird auch insofern geprägt, als es in ein situationsspezifisches synergetisch-synästhetisch durchgeformtes Gesamtverhalten als ein integraler Bestandteil neben anderen eingebettet ist. Doch hier taucht ein neues Problem auf. Wenn man nämlich lachrelevante Situationen in eine systematische Ordnung bringen will, um diese als Rahmen für Lachpaletten aller Art zu verwenden, stellt sich sofort die Frage, nach Maßgabe welcher Kriterien man hier vorgehen könnte. Einen möglichen Weg zeigt uns da Herder, denn gleich im ersten Kapitel von Kalligone, das »Vom Angenehmen und Schönen« (15,3 ff.) handelt, listet er eine Reihe von Grundhaltungen auf, die man als wohlwollende oder aggressive Zuwendung, als aggressive oder defensive Abwendung und als ambivalente Haltung bezeichnen und als Klassifikationsschema für die verschiedenen Varianten des Interaktions-Lachens sehr gut verwenden kann. In den von Herder vorgegebenen Rahmen lassen sich auch viele der von Christoph Demmerling und Hilge Landweer 4 aufgeführten gerichteten Gefühle einordnen: Angst und Ekel z. B. als negative Abwendung; Achtung, Liebe und Mitgefühl z. B. als positive Zuwendung; Neid, Eifersucht und Aggressivität z. B. als negative Zuwendung. Von all den genannten Gefühlen sind aber nur Ekel, Liebe, Mitgefühl und Aggressivität für das Interaktions-Lachen relevant. An lachrelevanten Stimmungen führen Demmerling und Landweer Glück und Freude, Scham, Stolz und Zorn an, die bestimmte Varianten des Bekundungs-Lachens grundieren können. Otto Friedrich Bollnow macht es sich da etwas einfacher, indem er sich auf zwei Grundstimmungen beschränkt, die für das Bekundungs-Lachen bedeutsam sind, und unterscheidet zwischen »gehobenen« und »gedrückten«5 Stimmungen. Wegweisend war Boll1774 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Probleme bei der Erstellung von Lachpaletten

nows Studie von 1941 über das Wesen der Stimmungen aber dadurch, daß sie den Blick auf die räumlichen Faktoren und Aspekte von Stimmungen lenkte, die auch für unsere Fragestellung von größter Bedeutung sind, weil wir das Bekundungs-Lachen als integralen Aspekt emotional gestimmter Szenarios deuten wollen, und Szenarios immer auch bestimmte Formen gelebter Räumlichkeit entfalten. Wenn Bollnow z. B. Rausch und Seligkeit als Beispiele gehobener Stimmungen anführt, ist dies, wenn man etwas genauer nachprüft, eigentlich nicht ganz richtig, weil Seligkeit zwar sehr wohl das erhebende Gefühl des schwerelosen Schwebens nach oben erleben läßt, beim Rausch jedoch außerdem auch noch das Gefühl allseitig expansiver Weitung hinzukommt. Bollnow sieht dies übrigens auch selbst und verweist in einem eigenen Kapitel darauf, daß »gehobene Stimmungen nicht rauschhafter Natur« (S. 90 f.) sind, versäumt es aber, den dazu gehörigen umfassenden zentrifugalen Impuls als räumliche Komponente dieses Gefühls eigens zu benennen. Beim Triumph-Lachen, das uns buchstäblich explodieren läßt und zu zerreißen droht, ist dieser umfassende zentrifugale Impuls noch offenkundiger, weil er das gesamte Verhalten noch intensiver synergetisch überformt, und dies weit über das Lachen hinaus. Wenn Bollnow hingegen von der »vereinsamenden Wirkung des Schmerzes« (S. 110 f.) spricht, argumentiert er schon auf der Grundlage des Gegensatzes von allseitig zentripetaler Engung und allseitig zentrifugaler Weitung, weil das Erlebnis von Schmerz aller Art eben nicht nur niederdrückt, sondern den Spielraum des Verhaltens in jeder Hinsicht synergetisch einengt. Wenn wir nun diese Frage nach den richtungsräumlichen Valenzen von Gefühlen und Stimmungen weiter verfolgen, die für die verschiedenen Varianten des Bekundungs-Lachens von Bedeutung sind, werden wir viel eher bei Hermann Schmitz fündig, denn er unterscheidet explizit »zentripetale und zentrifugale Erregungen« 6, die, als Bekundungs-Lachen ausagiert, z. B. als zentripetal gebremstes Verlegenheits-Lachen bzw. als zentrifugal orientiertes heiteres, erleichtertes, euphorisches, albernes Gelächter, aber auch als empörtes Auflachen erscheinen. Diese Erregungen können einseitig gerichtet sein, von irgend1775 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

woher auf uns zukommen, plötzlich da sein und uns ergreifen, ganz so wie ein Windstoß uns ergreift und ins Taumeln geraten läßt. So sprechen wir nicht umsonst davon, daß z. B. der Zorn in uns »hoch kocht« und uns hochofenhaft zornlodernd lostoben läßt. Oder wir sprechen davon, daß uns der stinkende Atem des Neides »anhaucht« oder daß uns ein ehrlich gemeintes Lob aus berufenem Mund »erhebt«. Aus diesem Grund spricht Schmitz denn auch ausdrücklich von der »Windnatur der Erregungen« 7 und nimmt damit eine Redeweise auf, die seit der Antike gang und gäbe ist und auch noch von Goethe gern und oft verwendet worden ist. So scheut Goethe sich z. B. nicht zu fragen: »Sollten wir im Blitz, Donner und Sturm nicht die Nähe einer übergewaltigen Macht, in Blütenduft und lauem Luftsäuseln nicht ein liebevoll annäherndes Wesen empfinden dürfen?« (4,93)

Erregungen dieser Art sind offenkundig Widerfahrnisse. Ob diese Widerfahrnisse aber bloß Geschehnisse und Erlebnisse oder aber außerdem auch noch die Kehrseite fremder Handlungen sind, ist eine ganz andere Frage, weil dann geklärt werden müßte, wer als Akteur oder als Quasi-Akteur hinter diesen fremden Handlungen steht. Goethe suggeriert einen solchen Quasi-Akteur als »übergewaltige Macht« oder als »liebevoll sich annäherndes Wesen«, benennt diese Quasi-Akteure aber nicht weiter. Hermann Schmitz würde hier wohl von machtvollen Atmosphären sprechen, aber auch Atmosphären, so machtvoll sie immer auch sein mögen, sind eben auch keine Quasi-Akteure oder gar Akteure, sondern ebenfalls nur Widerfahrnisse im Sinne von Erlebnissen, weshalb ich im folgenden auch alles vermeiden will, was der Hypostasierung von Atmosphären Vorschub leisten könnte. In mythologisch argumentierenden Zeiten sprach man hier von Göttern, Geistern und Dämonen als Urhebern derartiger Widerfahrnisse, die uns als windhafte Erregungen ergreifen und unser Verhalten überformen, und einer dieser Götter war auch der Gott Gelos, der als überwältigendes Lachen über die Menschen kommt. In der hebräischen Bibel spricht man von der ruach elohim, dem »Geistbraus Gottes« (Buber), der die Propheten zum Reden zwingt8 und die Schofeten zu machtvollen Taten inspiriert, im Neuen Testament der Christen wird daraus der heilige Geist, der über die 1776 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Probleme bei der Erstellung von Lachpaletten

Pfingstgemeinde als »ein Brausen vom Himmel wie (das) eines gewaltigen Windes« 9 kommt. Schon im Hochmittelalter hat man das Gewoge der windhaften Erregungen zur Ätiologie des Lachens herbeigezogen; Bernhard von Clairvaux 10 tat dies in der Form, daß er das Lachen, das in der Tradition von Augustinus und Benedikt von Nursia grundsätzlich als hoffärtiges Gelächter galt, als ventositas sah und damit als sündig perverses Gegenstück zum heiligen Geist, also gleichsam als Gefurze des unheiligen Geistes, und es dementsprechend verdammte. Ganz anders Hildegard von Bingen, die in ihrem anthropologischen Hauptwerk Causae et Curae vom »Geschlechtswind« (S. 137) spricht, dabei aber säuberlich zwischen dessen zwei Varianten unterscheidet: Als heller »brausender Wind« (S. 209) bewirkt er das Liebes- und Zeugungsverlangen des Mannes, als dunkel qualmender Rauch läßt er den Mann zum Sexualverbrecher werden, immer aber manifestiert sich dieser Geschlechtswind nach dem Modell krisenhafter Prozesse als strikte Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase 11, dem nicht nur das Bekundungs-Lachen folgt, sondern auch jeder Geschlechtsakt. Für Hildegard von Bingen hatte Adam vor dem Sündenfall ganz so unschuldig heiter gelacht, wie Wilhelm von Conches 12 dies in seinem Hauptwerk Philosophia beschreibt, doch: »Mit seinem Übertritt erhob sich durch die List der Schlange in seinem Mark und in seinen Schenkeln ein gewisser Wind, der auch jetzt noch in jedem Menschen ist. Durch diesen Wind wird die Milz des Menschen fett, und unangebrachte Ausgelassenheit und lautes Lachen und rohes Gewieher platzen aus dem Menschen heraus. (…) Solch unpassende Fröhlichkeit und Lachen haben nämlich eine gewisse Beziehung zu der fleischlichen Begierde, und so erschüttert denn auch jener Wind, der das Gelächter erregt, vom Mark des Menschen ausgehend, seine Schenkel und Eingeweide.« (S. 224 f.)

Wenn wir diese theologisch-physiologische Beschreibung ins profan Phänomenologische übersetzen und die von Hildegard beschriebenen Winde zwar nicht als Triebe, sondern als Metaphern für gerichtete Erregungen deuten, hätten wir ein weiteres heuristisches Kriterium für die Unterscheidung und Klassifikation aller Varianten des Lachens und deren Verortung auf Lachpaletten aller 1777 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

Art, weil alles Lachen ja immer in irgendeiner Weise gerichtet ist und als windhaft gerichtete Erregung verstanden werden kann, und somit ergäben sich folgende Varianten von Gerichtetheit13: • einseitige und unumkehrbare Gerichtetheit z. B. beim erleichterten oder empörten Auflachen; • einseitige, unumkehrbare und außerdem auch noch zielgerichtete Adressiertheit bei allen Varianten des Interaktions-Lachens; • ambivalente Gerichtetheit z. B. beim irritierten Auflachen oder beim Verlegenheits-Lachen; • allseitig zentrifugale Gerichtetheit z. B. beim Triumph-Lachen; • gemeinsame Ausgerichtetheit z. B. beim Resonanz-Lachen; • gemeinsame zielgerichtete Adressiertheit z. B. beim Verlachen eines Einzelnen durch eine Lachmeute. Die Behauptung, mit diesem Schema könnten alle denkbaren Formen von Lachen erfaßt werden, heißt aber noch lange nicht, damit seien tatsächlich auch alle erfaßt. Daß wir z. B. von einem »vielsagenden Lächeln« sprechen oder das alberne Lachen als »grundlos« bezeichnen, muß uns schon als Warnung dienen, weil es sehr gut möglich ist, daß durch den kulturellen Wandel neue erregungsträchtige Situationsschemata auftreten, die ganz neue Varianten von Bekundungs-, Interaktions- und Resonanz-Lachen provozieren, sodaß jede der hier vorzustellenden Lachpaletten prinzipiell ergänzbar und somit auch prinzipiell unvollständig ist und dies auch sein muß. Prinzipiell unvollständig und ergänzbar sind Lachpaletten aber noch aus einem anderen Grund: Da auf der Skala zwischen den polarkonträren Gegensätzen Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe bzw. personale Emanzipation und personale Regression unendlich viele Zwischenstufen denkbar sind, kann man auch beliebig viele Intensitätsbereiche desselben Lachens ausgrenzen und benennen, sodaß sich ein großer Spielraum für Benennungen aller Art ergibt. So kann man z. B. trefflich darüber streiten, ob das metakritische Phobos-Lachen eine eigene Form des Bekundungs-Lachens ist oder bloß eine weiter gesteigerte Form des erleichterten Auflachens, oder ob Euphorie eine Befindlichkeit sui generis ist oder bloß gesteigerte Freude. Ich will hier so vorgehen, daß ich mich zunächst erst mal am 1778 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Methodologische Probleme bei der Erstellung von Lachpaletten

überlieferten einschlägigen Wortschatz orientiere, davon so viel wie möglich übernehme und die Intensitätsbereiche bestimmter Lacharten entsprechend begrenze, auch wenn hier immer ein gerüttelt Maß an Willkür im Spiel ist. Doch diese Willkür ist unvermeidlich, denn es wird sich zeigen, wie schwer es ist, bestimmte Varianten des Lachens wirklich exakt voneinander abzugrenzen, weil wir es hier mit Verhaltensweisen zu tun haben, deren diffuse Ränder unmerklich ineinander übergehen, ganz so wie dies bei Regionen der Fall ist, die, anders als Reviere, ebenfalls unmerklich ineinander übergehen. Dieses Problem der scharfen Grenzziehung zwischen verschiedenen Lachgestalten wird durch den Umstand noch weiter erschwert, daß bestimmte Formen des Lachens zwischen zwei Typen von Gelächter changieren können. So können z. B. das Kitzel-Lachen und das Verlegenheits-Lachen aus dem Interaktions-Lachen »herauskippen« und in ein Bekundungs-Lachen umschlagen, sobald der Blickkontakt zwischen beiden Interaktionspartnern abbricht und zugleich damit auch die gemeinsame Situation zerbricht. Aus diesem Grund wird es nötig sein, diese beiden Lacharten auf zwei verschiedenen Lachpaletten zu verorten und zweimal zu beschreiben. Daß der uns zur Verfügung stehende Wortschatz zur Benennung verschiedener Lacharten verhältnismäßig gering ist, liegt wohl daran, daß sich, problemgeschichtlich gesehen, die Gelotologie weitgehend auf das Bekundungs-Lachen und oft genug gar nur auf das geloiastische Bekundungs-Lachen als Korrelat des Komischen und Lächerlichen konzentriert hat. Vom Interaktions-Lachen und vor allem vom Resonanz-Lachen war dort, wie wir gesehen haben, nur ganz selten einmal die Rede, und wenn dies doch einmal geschehen ist, hat man nicht eigens nach Bezeichnungen gesucht, die verschiedenen Typen von Gelächter terminologisch so weit wie möglich voneinander abzugrenzen. An den Versuchen von Alexander von Hales und Laurent Joubert war diese Schwierigkeit, einen Ansatz für die Systematisierung des Lachens und seiner Verortung auf Lachpaletten zu finden, besonders deutlich abzulesen. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, das oben angeführte Kriterium der jeweiligen Gerichtetheit des Lachens noch etwas weiter 1779 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

zu präzisieren, indem man die beim Lachen eingenommene Körperhaltung etwas genauer ins Auge faßt, und hier bietet uns Kurt Goldstein in seinem Hauptwerk Der Aufbau des Organismus das Kriterium an, nach dem Gegensatz von konvexer und konkaver Haltung respektive nach dem Verhältnis von Streckbewegung und Beugebewegung 14 zu fragen. Kurt Goldstein selbst formuliert dieses dialektische Zusammenspiel von konvexem und konkavem Habitus wie folgt: »Die Beuge- und Adduktionsbewegungen gehören mehr zu den willkürlichen Leistungen, die Streck- und Abduktionsbewegungen mehr zu den unwillkürlichen; erstere sind die mehr ganzheitlich bestimmten wesensmässig wertvolleren höheren, letztere die mehr isoliert bestimmten weniger wertvollen tieferen, insofern sie der Intention der ersteren bedürfen, die nicht so sehr aus dem Zentrum der Persönlichkeit erfolgen. Die ersteren sind die Ich-bezogeneren, die Streckbewegungen die Aussenwelts-bezogeneren.« (S. 309)

Oder anders formuliert: »So wird uns die Verschiedenheit der Beuge-, Adduktions- und StreckAbduktionsbewegungen ein Ausdruck verschiedener Stellungnahmen des Organismus zur Umwelt. Die Beugebewegungen betonen mehr das Ich gegenüber der Welt, die Erfassung der Welt vom Ich aus, ermöglichen so erst die Trennung von Ich und Welt. (…) Im Gegensatz dazu entspricht der Streck- und Abduktionsbewegung eine Hingabe an die Welt, ein passives Sein in der Welt, ein Verlorensein des Ich in der Welt. Dem kommt an den Augen die geringere Konvergenz, die Neigung des Kopfes nach rückwärts und an den Armen die Abduktion zu.« 15

Bezogen auf unsere Fragestellung ergibt sich dann folgendes Bild: Jeder weiß, daß man bei Kichern dazu neigt, in sich hinein zu kichern, also eine konkave, in sich hineingebeugte Haltung einzunehmen, ganz so, als ob man das Kichern bei sich selbst behalten und mit dem eigenen Körper verdecken wollte, und dies tut man immer dann, wenn man versucht, das eigene Kichern zu kontrollieren, zu kaschieren oder zu dämpfen. Und jeder weiß genauo gut, daß man ein wieherndes Gelächter mit ekstatisch durchgebogenem Hohlkreuz in konvexer Haltung hinausschmettert, ganz so wie man es macht, wenn man etwas möglichst weit werfen will, und so macht 1780 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

man bei diesem wiehernden Gelächter auf mit allem, was man ist und hat und kann und tut. So gesehen gleicht der Habitus beim ekstatischen Gelächter auch dem beim Gähnen, das man ja auch mit auswärts gerichteten Armbewegungen zu begleiten pflegt, wenn man völlig ungeniert gähnen kann. Geniert man sich dessen jedoch, weil sich das ungenierte Gähnen in bestimmten Situationen nicht schickt, versucht man auch hier, es dadurch zu unterdrücken oder zumindest zu kaschieren, daß man sich konkav nach vorne beugt, um sein Gähnen gleichsam bei sich im eigenen privaten Bereich zu behalten. Wir werden aber beim Verlegenheits-Lachen mit der in sich gewundenen Haltung auch noch auf eine weitere Grundhaltung stoßen, bei der man sich förmlich in sich selbst hineinschraubt, die aber bei Goldstein nicht eigens erwähnt wird. Aus diesen Überlegungen läßt sich die allgemeine Regel ableiten, daß jede Art von Disziplinierung des Lachens durch gesellschaftliche Normen und nach Maßgabe bestimmter sozialer Rollenfächer die konkave Zurückgenommenheit der jeweiligen Lachgestalt fördert oder gar erzwingt, und selbstverständlich können dabei die tendenziell verfügbaren Arten von Gelächter weitaus stärker überformt werden als die tendenziell unverfügbaren, sodaß man auch auf diesem Wege wieder Kriterien an der Hand hat, um bestimmte Lachgestalten von anderen zu unterscheiden und entsprechend zu benennen. 3.5.2 Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen 3.5.2.1 Thesen zum Bekundungs-Lachen • Alles Bekundungs-Lachen ist geprägt durch die in Kapitel 3.3.2 aufgelisteten konstitutiven und regulativen Kriterien des personalen Lachens. • Alles Bekundungs-Lachen bekundet personale Betroffenheit. • Alles Bekundungs-Lachen ist tendenziell unverfügbares Verhalten. • Je intensiver und ausgeprägter ein Bekundungs-Lachen ist, desto unverfügbarer ist es auch. 1781 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

• Der Grad an Unverfügbarkeit des jeweiligen Bekundungs-Lachens entspricht dem Grad der dabei sich einstellenden personalen Regression des Lachenden. • Alles Bekundungs-Lachen ist eine sinnhafte Antwort auf eine spezifische Situation und nur von dieser Situation her zu verstehen und zu deuten. • Alles Bekundungs-Lachen tendiert immer ins Freie, Offne, Weite, auch wenn es in bestimmten Fällen nicht wirklich dahin führt. • Alle Situationen, auf die wir mit einem Bekundungs-Lachen antworten, sind entweder irritierend oder bedrängend oder befördernd. • Alles Bekundungs-Lachen ist entweder ambivalentes Verharren in einer irritierenden Situation oder positive Aufnahme und Bestätigung einer stützenden, erhebenden oder beflügelnden Situation oder Flucht aus einer bedrängenden Situation. • Alles Bekundungs-Lachen ist situationsspezifische emotionale Orientierung und integraler synergetisch-synästhetischer Bestandteil eines affektiv gestimmten Szenarios.

3.5.2.2 Einige Varianten des Bekundungs-Lachen 3.5.2.2.1 Das vielsagende Lächeln Jeder kennt das Bild der Mona Lisa, und jeder ist erst mal einigermaßen irritiert, wenn er dieses Bild genau betrachtet, weil das Lächeln der Gioconda gar zu geheimnisvoll anmutet. Da die Gestalt einen leichten Silberblick hat, weiß man auch nicht so recht, ob sie den Betrachter direkt anschaut oder ob sie haarscharf rechts an ihm vorbei in die Ferne schaut, und deshalb weiß man auch nicht so recht, ob dieses geheimnisvolle Lächeln ein durch den Blickkontakt an den Betrachter adressiertes Interaktions-Lächeln ist oder aber ein Bekundungs-Lächeln, das sich an niemanden richtet. Deutet man dieses Lächeln aber als Bekundungs-Lächeln, wirkt es fast noch geheimnisvoller, weil man nicht so recht weiß, was es denn eigentlich bekundet. 1782 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

Wenn man die Gestalt als ganze in den Blick nimmt, fällt auf, daß die Haltung der Hände ganz entspannt ist, der Kopf aber leicht nach links verschoben ist, und trotzdem nach rechts blickt, sodaß dadurch wiederum eine leicht erhöhte Körperspannung angedeutet wird und der Habitus der Gestalt fast etwas lauernd abwartend, aber auch unnahbar überlegen und zurückgenommen wirkt, weil sie außerdem auch noch von oben herab zu blicken scheint. Um dieser Aura von Versammeltheit, die diese seltsame Gestalt durch ihr Lächeln ausstrahlt, sprachlich einigermaßen gerecht zu werden, bietet sich eigentlich nur die Möglichkeit an, dieses Lächeln der Mona Lisa als vielsagendes Lächeln zu bezeichnen, wobei man aber wiederum nicht zu sagen weiß, was es denn im einzelnen sagt, es sei denn, man rettet sich in die Formulierung, hier liege ein »je ne sais quoi« in Form eines Lächelns vor, das, je nachdem, wie man es sehen will, sowohl ein adressiertes Interaktions-Lächeln als auch ein unadressiertes Bekundungs-Lächeln sein kann. Dieser Ausdruck »vielsagendes Lächeln« mag auf den ersten Blick wie ein argumentatorischer oder terminologischer Trick erscheinen, durch den man etwas, was man nicht genau genug zu benennen weiß, trotzdem irgendwie zu benennen sucht. Diese Anleihe beim »je ne sais quoi« ist aber durchaus kein Trick, sondern ein erkenntnistheoretisch völlig legitimes Verfahren, weil es in der Tat Anmutungen gibt, die so binnendiffus sind, daß man sie nicht als ein Insgesamt von einzelnen sprachlich formulierbaren Sachverhalten oder gar als Summe quantitativ erfaßbarer Daten bestimmen kann, sondern nur schlagartig als ganze erfassen kann. Anmutungen dieser Art nennt Hermann Schmitz, der sich, so weit ich sehe, als einziger und erster erkenntnistheoretisch mit diesem Phänomen beschäftigt hat, »Eindrücke« und definiert sie als »Situationen, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen, einschließlich ihres chaotisch-mannigfaltigen Hofes oder Hintergrundes der Bedeutsamkeit.« 16

Und für diese Eindrücke oder Anmutungen gilt: »Eindrücke sind immer vielsagend, indem sie Sachverhalte, Programme und Probleme zu verstehen geben, ohne daß man alles, was sie einem so sagen, einzeln sagen kann. So gibt es z. B. Gesichter, die dadurch fesseln, daß sie dem Gefesselten etwas sagen, das ihm gleichsam

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Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

auf der Zunge liegt, ohne daß er es aussagen kann, weil es sich nicht in lauter Einzelheiten, sondern in chaotischer Mannigfaltigkeit (eben als ein je ne sais quoi) darstellt.« 17

Ob Schmitz hier an das Porträt der Mona Lisa gedacht hat, als er dies schrieb, weiß ich nicht zu sagen; ich kann es nur vermuten, weil diese Beschreibung gar zu genau den Eindruck wiedergibt, den man von diesem Bild und dem geheimnisvollen Lächeln der Gioconda gewinnt. Doch der chaotisch-mannigfaltige Hof an Bedeutsamkeit des Lächelns der Mona Lisa ist nun angeblich aufs Komma genau entschlüsselt, denn SPIEGEL ONLINE berichtete am 14. 12. 2005, Nicu Sebe von der Universität Amsterdam habe auf der Basis von Paul Ekmans Facial Action Coding System, das die sieben Grundemotionen Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Trägheit und Überraschung postuliert und sie nach dem Vorbild von Duchenne an bestimmten Gesichtsmuskeln festmacht, herausgefunden, daß Mona Lisa zu 83 % glücklich, zu 9 % angewidert, zu 6 % ängstlich und zu 2 % zornig sei. Da kann man doch nur gratulieren und sich zu 19 % überrascht, zu 16 % angewidert, zu 29 % zornig, und zu 25 % belustigt von diesem Exzeß an Reduktionismus abwenden, und der Rest an Affekt ist dann eben ein je ne sais quoi. Vielsagende Eindrücke dieser Art sind laut Schmitz aber nicht nur »die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung« 18, die, so gesehen, immer von vielsagenden Eindrücken ausgeht und diese dann, wenn möglich, zu einzelnen Sachverhalten verdichtet, sondern die gezielte ästhetisch-poietische Organisation derartiger vielsagender Eindrücke ist auch das zentrale Gestaltungsmittel in allen Künsten und sichert dadurch den letztlich unerschöpflich enigmatischen Charakter eines echten Kunstwerks, und ein Beispiel dafür ist eben da Vincis Gioconda mit ihrem geheimnisvollen Lächeln. Doch über Varianten dieses vielsagenden Lächelns verfügen wir alle und setzen sie auch immer wieder ein, weil es gar zu viele Situationen gibt, die so binnendiffus sind, daß sie mit einem solchen vielsagenden, alles und nichts bedeutenden und somit letztlich leeren Lächeln beantwortet werden können, z. B. wenn der Fotograf uns zuruft: »Und jetzt bitte lächeln!« 1784 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

Lächeln wirkt also immer dann vielsagend, wenn die Situation, auf die es antwortet bzw. die es stiftet, überreich binnendiffus ist, und es wirkt leer, wenn die entsprechende Situation affektiv unbestimmt oder unbestimmbar ist, wie eben z. B. beim Fotografen. Dieses unbestimmte Lächeln ist also gleichsam ein Blankoscheck, der je nach Situation mit allen denkbaren Bedeutungen gefüllt werden kann, und kann als Interaktions- wie als Bekundungs-Lächeln alles meinen und alles bekunden. Und somit zeigt sich im vielsagenden Lächeln der Kuleschow-Effekt 19 als dialektisches Zusammenspiel von vorgegebener Bedeutungsleere und situativ bedingter Bedeutungsfülle besonders deutlich. Anders als einige andere Formen von Bekundungs-Lächeln kann das vielsagende Lächeln nicht zum vielsagenden Lachen gesteigert werden, ohne seinen enigmatischen Charakter sofort zu verlieren. Wird es aber dennoch zum Lachen gesteigert, antwortet es zwar immer noch auf eine binnendiffuse Situation, verliert aber sofort seine tendenzielle Verfügbarkeit, dadurch wieder seine Aura von Versammeltheit und zugleich damit auch die Signatur personaler Emanzipation und verändert es sich zum albernen Gelächter, das genauo nichtssagend ist wie das leere Lächeln beim Fotografen und deshalb auch so grundlos wirkt. 3.5.2.2.2 Das erfüllte Lächeln In seinem schönen Aufsatz über das erste Lächeln des Kindes setzt F. J. J. Buytendijk zur Beschreibung und Deutung dieses Phänomens bei der Frage nach der Körperspannung an und kommt zu dem Schluß, das Paradoxe des unadressierten Bekundungs-Lächelns bestehe darin, »daß es in einer aktiven Anspannung der Muskeln besteht, die als eine beginnende Entspannung einer aktiven Ruhehaltung erlebt wird« 20, denn: »Bei dieser Ruhe liegt immer eine gewisse Tonusverteilung der Muskeln vor, und es sind leichte innere Spannungen da, die sich zwar im Gleichgewicht befinden, aber doch eine Resultante ergeben, die man als ein vages, unbestimmtes und undefinierbares Bedürfnis (wohl besser: die man als eine nicht privativ sich meldende Bedürftigkeit) empfindet. Die Haltung der Ruhe ist ja immer eine Konfrontation mit der

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Welt, die als uns gegenüber Seiende, unser Selbstsein zu einem in sich geschlossenen macht.« (S. 116 f.)

Die Bekundung dieses Erlebnisses ad hoc gestillter Bedürftigkeit ist das erfüllte Lächeln als Signatur einer »Schwellensituation, einer noch gerade nicht durchbrechenden Überschwenglichkeit, eines sich aufschließenden Geschlossenseins, eines selbstgenügsamen, immanenten Wohlbehagens und einer antizipierenden, transzendierenden Freude.« (S. 117)

So gesehen scheint das erfüllte Lächeln dem prä-personalen Lächeln des Säuglings und dem para-personalen Lächeln der Entrückten auf den ersten Blick zu gleichen, weil sich in allen drei Verhaltensweisen ein stilles Ruhen im je aktuellen Augenblick bekundet. Da beim seligen Lächeln der Entrückten und beim schlafenden Säugling die Augen aber geschlossen sind und kein Bezug zur Umwelt mehr besteht, beim erfüllten Lächeln die Augen jedoch offen gehalten werden und einen Zustand hoher Wachheit und Bewußtheit verraten, empfiehlt es sich, dieses erfüllte Lächeln sanfter Heiterkeit als bewußte und willige Annahme der je aktuellen Situation zu deuten und diese Situation als »arkadisch« oder »quasi-paradiesisch« zu bezeichnen. Goethe läßt seinen Faust diese spezifische Situation als »arkadisch freies Glück« (vgl. V. 9573) beschreiben, das man mit einem glücklich heiteren Lächeln willkommen heißt, denn: »Hier ist das Wohlbehagen erblich, Die Wange heitert wie der Mund, Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich: Sie sind zufrieden und gesund.« (V. 9550–9553)

In Anknüpfung an diese Verse beschreibt Schmitz dieses Gefühl umfassender Zufriedenheit als »erfülltes Gefühl« 21 und schreibt dazu: »Es handelt sich um eine dichte, beharrliche, nirgends auch nur durch Schritte zur Reihenfolge (succession) aufgelockerte Dauer, im Gegensatz zur diskreten Folge der jeweils nur flüchtigen Augenblicke gesteigerter lustvoller Erregung. An die Stelle der Erregtheit und des Aufschwungs tritt hier als wahres Glück eine ungerichtete, gleichsam farblose, aber dafür ganz dichte Erfülltheit.« 22

Hier liegt der Grund dafür, daß auch dieses Lächeln als Bekundung 1786 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

rundum gestillter Bedürftigkeit nicht zum lauten atmungsrelevanten Lachen gesteigert werden kann, weil lautes Lachen als eine Abfolge gestotterter Ausatmung eine deutlich erkennbare und sogar uroborisch strukturierte Verlaufsgestalt hat, die die gleichsam runde Erfülltheit und Versammeltheit dieses Gefühls aufbrechen und die verrinnende Zeit in die zeitlose Dauer dieses Glücks einbrechen lassen müßte. Also kann sich dieses runde Gefühl von Erfülltheit und Versammeltheit nur als stilles Lächeln bekunden, das Mund und Wange heitert und dann so lange dauert wie dieser glückhaft ruhige Zustand in all seiner Fülle dauert. So gesehen gehört zu diesem erfüllten Lächeln als einzig adäquate Szenerie die geschichtslose Idylle, in der wie in Schillers Wilhelm Tell sogar ein See (vgl. 6,5) dieses erfüllte Lächeln zeigen und damit zum Bade laden kann. Würde dieses Lächeln aber zum Lachen gesteigert, hätten wir nur noch das Lachen vergänglicher Freude vor uns und auch die geschichtslose Idylle wäre sofort gesprengt. 3.5.2.2.3 Das alberne Lachen Das alberne Lachen ist ein scheinbar grundloses Lachen, das wegen seiner scheinbaren Grundlosigkeit auch besonders schwer zu deuten ist. Wir sind auf diese Art von Gelächter schon in den Kapiteln 3.4.4 und 3.4.5.2 gestoßen, wo es als Lachen auf minderen Stufen der Lachmündigkeit und Personalität bzw. als Signatur sekundärer Infantilität erschien. Als Dauerlachen »über nichts«, das sich immer wieder neu an sich selbst entzündet, ist es typisch für Lach- und Kichermeuten, insbesondere für Lach- und Kichermeuten von Pubertierenden oder von Erwachsenen, die z. B. durch irgendwelche Angeheitertheiten auf ein Niveau geminderter Personalität zurückgefallen sind. Wenn dieses alberne Lachen überhaupt etwas bekundet, so ist es die Signatur einer gehobenen Stimmung auf niedrigem Niveau von Personalität und somit eben typisch für ichschwache Pubertierende oder ichgeschwächte angeheiterte Erwachsene. Ich habe oben in Kapitel 3.5.1 davon gesprochen, daß das vielsagende Lächeln nicht zum vollen Lachen gesteigert werden könne, ohne seine Eigenart zu verlieren; werde es aber doch zum vollen 1787 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Lachen gesteigert, so verkomme es zum albernen Lachen, das aber nicht vielsagend sei, sondern nichtssagend. Diese Behauptung läßt sich nun weiterhin damit begründen, daß das alberne Lachen eine besonders massive regressive Tendenz hat und genauo unorientiert haltlos ist wie der alberne Mensch, der von ihm geschüttelt wird, und deshalb gilt diesem Lachen seit jeher die größte Verachtung, weil es das Lachen ist, das man am wenigsten ernst nehmen kann. Mit einem Wort: Das alberne Lachen ist das Lachen, an dem man den Narren erkennt. Gert Mattenklott moniert in seinem Versuch über Albernheit vor allem die Schamlosigkeit albernen Verhaltens und fährt dann fort: »Die soziale Innenseite der Weltlosigkeit des Albernen ist seine Verantwortungslosigkeit. Daß sich mit der Albernheit ein Abgrund öffnet, ist buchstäblich zu nehmen. Stets ist sie unter allem Niveau, wie unter dem von Komik, so überhaupt unter allem sozial angemessenen und fixierten. Der Progression von Albernheit entspricht die Lockerung der Anspruchshaltung an sich selbst und die anderen, eine Entbindung von der Selbstverpflichtung zu Gemessenheit und Abstand, Begründung und Konsequenz. Alle Würde bricht zusammen. Hier gilt der Geistreiche keinen Deut mehr als jeder Blödler. Wertverfall ist die Folge.« 23

Wenn man dieses alberne Lachen mit anderen Varianten des Bekundungs-Lachens vergleichen will, dann ist es am ehesten noch vergleichbar mit dem irritierten Auflachen als Antwort auf eine unüberschaubar ambivalente Situation; der Unterschied besteht aber darin, daß das irritierte Auflachen die Ambivalenz einer unorientierten, aber unbedrohlichen Situation beantwortet, vor der man einigermaßen ratlos steht, wohingegen das alberne Gelächter die Ambivalenz der Situation bekundet, in der man selbst sich befindet, und solche ambivalente Situationen sind eben die Pubertät und die Situation sekundärer Infantilität, die man auch als künstlich erzeugte zweite Pubertät ansehen könnte. Sprachgeschichtlich gesehen stammt das Prädikat »albern« aus dem mittelhochdeutschen Adjektiv »alwaere« und bezeichnet dort jemanden, der sich nicht zu benehmen weiß und sich deshalb in einem fort daneben benimmt, ganz so, wie dies bei Parzival der Fall ist. Auch wenn sich die Bedeutung von »alwaere« stark verengt hat, 1788 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

sind beide Verhaltensweisen doch immer noch dadurch verbunden, daß auch die heutige Bedeutung von »albern« immer noch das Element der Unorientiertheit enthält. Ein alberner Mensch ist demnach jemand ohne einen verläßlichen ethischen und emotionalen Kompaß, der ihm das richtige Verhalten auch in verwirrenden Situationen weisen würde. Deshalb könnte man auch sagen: Ein alberner Mensch läßt sich hemmungslos nach allen Seiten gehen. Und damit haben wir sofort auch ein Kriterium, das uns etwas genauer nachfragen läßt, wie eine alberne Gestimmtheit unter räumlichen Aspekten beschaffen ist. Wenn Hermann Schmitz Albernheit als eine »leere, einseitig hebende und zugleich allseitig unumkehrbar zentrifugale, flache, unruhige, unvollständig zentrierte Erregung« 24 charakterisiert, so beschreibt er zugleich damit auch den unruhig flackernden orientierungslosen Gestaltverlauf des albernen Gelächters sehr gut, das keine erkennbare Hauptvollzugsrichtung hat, denn dieses Lachen wird eben nicht »bis zum Anschlag« durchgelacht, sondern kommt schnell und erstirbt auch wieder schnell, entzündet sich aber auch wieder sofort an sich selbst, weil das dramaturgische Prinzip der Alberei die sinnlos penetrante Wiederholung des Gleichen ist. Man könnte auch sagen, das alberne Gelächter habe keine voll ausgeformte Verlaufsgestalt, weshalb es meist als albernes Kichern auftritt und nie als durchgelachte Lach-Melodie oder gar als vollendete Lach-Arie. Und somit bewegt es sich auch hinsichtlich seiner Intensität auf der ganzen Skala vom blöden Grinsen über das Kichern bis zum kurzen Auflachen, steigert sich aber nie bis zum Lachen aus vollem Hals. 3.5.2.2.4 Das irritierte Auflachen Bekanntlich beginnt Aristoteles seine Metaphysik mit der Frage, aus welchem Impuls heraus die Menschen Wissenschaft und Philosophie betreiben, und kommt dabei zu dem Befund, all dies sei einem uranfänglichen Stutzen-und-Staunen zu verdanken: »Denn weil sie sich wunderten, haben jetzt und immer schon die Menschen begonnen, nachzudenken. (…) Wer aber ratlos ist und sich verwundert, hat das Gefühl der Unwissenheit.« (S. 41)

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Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

Doch dieses Stutzen-und-Staunen prägt nicht nur den Anfang der Menschheit als ganzer und die Kindheit eines jeden einzelnen Menschen, sondern wir geraten immer schon und immer wieder in diese Situation momentaner Ratlosigkeit, die uns für einige Augenblicke auf eine Nullpunkt-Situation zurückwirft, wenn eine irritierend neue, aber als unbedrohlich erkannte Situation sich auftut und uns unwillkürlich fragen läßt: Was ist denn da los? Typisch für diese Situation ist eine synergetisch sich manifestierende momentane Privation des ausgezeichneten Verhaltens, weil wir hier bei allem, was wir haben, sind, können und tun, erst mal blockiert sind: Wir halten die Luft an; wir bleiben stehen, wenn wir gegangen sind; wir hören mit der Arbeit auf, mit der wir gerade beschäftigt waren; und wenn wir vor lauter Verblüffung nicht ganz sprachlos sind, sondern gerade noch reden können, schrumpft unsere sprachliche Artikulationsfähigkeit zu stereotypen Floskeln als dem letzten Rest sprachlicher Selbstbehauptung zusammen, und eine dieser Floskeln ist eben der Satz: Was ist denn da los? Man könnte diese momentane Nullpunkt-Situation, in die wir aus entfalteter Gegenwart durch das Widerfahrnis des Plötzlichen zurückgefallen sind, auch als die sanfte Variante des Schrecks bezeichnen; als die sanfte Variante deshalb, weil wir diese Situation nur als irritierend, nicht aber als bedrohlich empfinden und erleben. Man könnte diese Situation des Stutzens-und-Staunens aber auch als die minimale Variante der Überwältigung bezeichnen, als minimale Variante deshalb, weil der zentripetal bedrängende Impuls, der uns bei echter Überwältigung zum Schweigen bringt, wie dies in Richard Dehmels schönem Gedicht 25 dargestellt ist, hier bei weitem nicht so massiv ist, sodaß wir immer noch über einen minimalen Spielraum an Selbstbehauptung verfügen, den wir nicht nur mit sprachlichen Floskeln aller Art zu füllen und aufrecht zu erhalten suchen, sondern eben auch mit Lachen. So gesehen ist das irritierte Auflachen in Form von kurzen und schnell wieder verstummenden Lach-Hustern eine Variante defensiver Selbstbehauptung oder Vorwärts-Verteidigung, durch die es uns immerhin gelingt, die durch das Widerfahrnis des Plötzlichen ausgelöste allgemeine Verhaltensblockade zu beenden, weil diese kurzen Lach-Huster, so kümmerlich sie auch immer sein mögen, 1790 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

letztlich doch den Weg ins Freie und Weite öffnen und uns helfen, den Spielraum unseres Verhaltens wieder etwas auszuweiten und aufs neue zu behaupten. Salopp gesprochen könnte man sagen: Wenn einem die Spucke weg bleibt, kann man immer noch lachen, und wenn auch nicht mit einer voll durchgelachten Lach-Melodie oder gar einer ausgeprägten Lach-Arie, so doch mit einigen LachHustern. Die momentane Blockade des Verhaltens in solch irritierenden Situationen resultiert wohl daraus, daß sich hier zwei Impulse gegenseitig blockieren: einmal der Impuls, vor einer neuen, noch völlig unvertrauten Situation zurückzuweichen, und zum anderen der entgegengesetzte Impuls, sich diese neue Situation anzueignen, was zu dieser Bewegung-auf-der-Stelle in Form von reduziertem Lachen führt. Wenn man nach analogen oder verwandten Varianten dieses spezifischen Lachens sucht, so findet man es am ehesten im parapersonalen Lachen bei sekundärer Infantilität 26 oder beim dummen Lachen der harmlosen Irren, die über alles lachen können, weil sie dauerhaft in diesem Zustand der Irritiertheit leben und weil ihnen nahezu alles als fremd und irritierend erscheint, wenn sie denn überhaupt darauf reagieren. Das irritierte Auflachen wird oft auch als nervöses Lachen bezeichnet, das in unorientierten Situationen die momentane Ratlosigkeit und den leichten Ärger bekundet, mit dem man auf den Umstand reagiert, daß man eine diffus unübersichtliche Situation nicht angemessen beantworten kann, weil es allzu viele Möglichkeiten gibt, zwischen denen man hin und her gerissen wird. Wenn Kant meint, die »plötzliche Versetzung des Gemüts bald in einen, bald in einen anderen Standpunkt, um einen Gegenstand zu betrachten«, erlebe man als eine »wechselseitige Anspannung und Abspannung der elastischen Teile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mitteilt« (V,439) und sich in Gelächter bekunde, so gilt dies grundsätzlich auch für das irritierte Auflachen, nur mit dem Unterschied, daß Kant von dem plötzlichen Wechsel zwischen zwei möglichen Standpunkten spricht, wohingegen sich in einer ungeordneten und unübersichtlichen Situation eine ganze Fülle von möglichen Standpunkten anbietet, zwischen denen man hin und 1791 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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her gleitet, und aus diesem Grund kann das irritierte, ärgerliche und nervöse Auflachen auch keine vollständig durchgelachte LachArie sein, also gleichsam ein Lachen in vollendeter Form, sondern muß zu kümmerlichen Lach-Hustern verkommen. 3.5.2.2.5 Das Lachen der Erleuchtung Das Lachen der Erleuchtung denotiert Aha-Erlebnisse aller Art, bei denen uns ein Licht aufgeht, und reicht in seiner Intensität vom kurzen Lächeln bis zum triumphalen Heureka-Gelächter, je nachdem wie überraschend und überwältigend die Wende vom Nichtwissen, Ahnen und Vermuten zum plötzlichen sicheren Wissen sich ergibt und in welchem Maß damit früheres vermeintliches Wissen durch das neue Wissen schlagartig entwertet wird. Ob wir mit einem unwillkürlichen Aha-Lächeln einen Einfall quittieren oder mit einem kurzen Auflachen und einem »Also doch!« eine lange gehegte Vermutung endlich bestätigt finden oder mit einem »Heureka!« und einer triumphalen Lach-Arie eine unvermutete Entdekkung machen: – immer ist es so, daß uns in solchen Situationen etwas widerfährt, das unseren Horizont schlagartig zu weiten scheint, manchmal sogar ins Unendliche, und die einzig angemessene Antwort auf diese Erlebnisse explosiver Weitung, bei denen es uns buchstäblich zu zerreißen scheint, ist eben dieses Lachen der plötzlichen Erleuchtung. Daß Aha-Erlebnisse dieser Art auf unterschiedlichen Niveaus von Personalität durch unterschiedlich intensives Lachen und auch auf unterschiedlichen Niveaus sprachlicher Artikulation quittiert werden, liegt wohl daran, daß wir bei einem bloßen Einfall oder bei der Bestätigung einer Vermutung nur wissen, daß etwas so ist, wie es ist, daß wir hingegen bei einer veritablen Entdeckung darüberhinaus auch noch wissen, warum etwas so ist, wie es ist und warum es auch so sein muß, wie es ist, und deshalb quittieren wir solche Entdeckungen im Gefolge von Archimedes mit einem »Heureka!« und einer triumphalen ausgeformten Lach-Arie, weil »Heureka!« nicht bloß eine evokative Floskel wie ein »Aha!« oder ein »Also doch!« ist, sondern ein vollständiger Satz mit der Bedeutung »Ich hab’s herausgebracht!«. Und wer auf diese triumphale Weise 1792 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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seine Selbstbehauptung feiern kann, darf sich auch die regressivsten Varianten von Gelächter mit bestem Gewissen leisten. In all diesen Fällen liegen krisenhafte Prozesse mit Pointenstruktur vor, die nach dem Schema Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase ablaufen und mit Baader als »Explodieren der Angstspitze« bezeichnet werden können, ganz so wie dies auch bei der Dramaturgie eines Witzes der Fall ist. Der Unterschied besteht nur darin, daß durch die Dramaturgie eines Witzes dieser krisenhafte Prozeß gezielt organisiert wird, während er sich sonst durch den Zufall wie von selbst ergibt. Trotzdem geht die Analogie zwischen dem erleuchteten Auflachen und dem geloiastischen Lachen so weit, daß wir in beiden Fällen mit analogen Kriterien arbeiten können. Wenn Arthur Koestler in diesem Zusammenhang vom »göttlichen Funken« spricht, der schöpferische Akte in Kunst und Wissenschaft27 in Gang setzt, so ist dies eigentlich nicht ganz korrekt, weil es sich hier, genau genommen, gar nicht um schöpferische Akte, sondern um schöpferische Widerfahrnisse handelt, bei denen uns blitzartig ein Licht aufgeht. Da Widerfahrnisse auch die Kehrseite fremder Handlungen sein können, obwohl dies durchaus nicht immer der Fall sein muß, weil Widerfahrnisse auch Erlebnisse und Geschehnisse ohne einen Urheber sein können, pflegte man in früheren und frömmeren Zeiten eigene Widerfahrnisse grundsätzlich als Handlungen fremder Akteure zu verstehen, die man sich personifiziert als Götter, Dämonen, Engel oder Musen, aber auch als anonyme Mächte, z. B. als Fatum oder als »Ruf des Gewissens«, vorstellte. Diese Akteure und Quasi-Akteure schickten dann aus unterschiedlichsten Gründen, manchmal böswillig, manchmal aber auch wohlwollend all die für uns Menschen unverfügbaren Widerfahrnisse, die unser Leben bestimmen, also z. B. eine gute Ernte, Gesundheit, Wohlergehen und Glück als Belohnung, aber auch Erdbeben, Feuersbrünste, Krieg und Zerstörung als Prüfung, und so gesehen waren Götter und andere Quasi-Akteure rund um die Uhr schwer beschäftigt. Unverfügbare Widerfahrnisse dieser Art sind auch all die Aha-Erlebnisse in Form von Einfällen, ohne die unser eigenes Handeln, insbesondere das schöpferische, gar nicht möglich wäre. Wenn man von einem »Einfall« spricht, läßt man offen, wie 1793 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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dieses Widerfahrnis zustande gekommen ist; spricht man aber von »Eingebung« oder von »Inspiration«, so suggeriert man schon einen fremden Akteur, einen Eingeber oder Einhaucher als eigentlichen Urheber des jeweiligen Aha-Erlebnisses. Aus diesem Grund war es in der vorchristlichen Antike üblich, daß der Autor eines größeren Werkes sich nicht als der eigentliche Autor zu verstehen pflegte, sondern als Sprachrohr eines Gottes oder einer Muse, die ihm das Werk wie ein Souffleur eingaben, das er dann nur noch aufzuschreiben brauchte. Deshalb beginnt die Odyssee auch mit den Versen: »Sage mir, Muse, die Thaten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat, Und auf dem Meere so viel’ unnennbare Leiden erduldet, Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.« 28

Die Aeneis Vergils beginnt ganz analog: »Muse, des Grolls Ursachen verkünde mir, welchen Gebotes Kränkung die Königin reizte, daß, so viel kreisendes Unheil Sie den frömmsten Mann, so viel zu erdulden der Mühsal, Drängte mit Zwang! So groß glüht himmlischen Seelen der Zorn auf.« 29

Bei Klopstock gibt es diese fromme, demütig bittende Grundhaltung des Autors nicht mehr, denn er beginnt seinen Messias 1760 mit einem Akt triumphaler Selbstermächtigung als Anrufung der eigenen unsterblichen Seele, also der eigenen selbstherrlichen Kreativität und stellt sich somit als schöpferischer Autor gleichsam als Kollege neben den christlichen Schöpfergott, denn sein Werk beginnt mit den Versen: »Sing’, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit (Menschsein) vollendet, Und durch die er Adams Geschlecht zu der Liebe der Gottheit, Leidend getödtet und verherrlichet, wieder erhöht hat. (…) Aber, o That, die allein der Allbarmherzige kennet, Darf aus dunkler Ferne sich auch dir nahen die Dichtkunst? Weihe sie, Geist Schöpfer, vor dem ich hier still anbete, Führe sie mir, als deine Nachahmerin, voller Entzückung, Voll unsterblicher Kraft, in verklärter Schönheit, entgegen.

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Rüste mit deinem Feuer sie, du, der die Tiefen der Gottheit Schaut und den Menschen, aus Staub gemacht, zum Tempel sich heiligt! Rein sey mein Herz! So darf ich, obwohl mit der bebenden Stimme Eines Sterblichen, doch den Gottversöhner besingen.« (I,1)

Wem darf man also einen Einfall verdanken? – Einem fremden Akteur von welcher Art auch immer, sich selber oder niemandem? Und was bekundet man dann mit einem triumphalen Erleuchtungs-Lachen? – Dankbarkeit dem fremden Geber gegenüber oder Glück über die eigene Kreativität? Oder ist das Erleuchtungs-Lachen, ganz profan gesehen, lediglich die mimetische Signatur einer plötzlich einsetzenden beflügelnden Situation, die uns ins Weite und Freie des schlagartig erweiterten Horizonts führt? Wenn man sich aller Metaphysik entledigt, kann man es, wie mir scheint, nur so sehen und muß den glücklichen Einfall als ein unverfügbares Widerfahrnis werten, das weder eine eigene Leistung ist noch eine fremde Handlung von welchem Akteur auch immer. Der Erlebnischarakter eines Einfalls wird durch diese profane Sicht der Dinge aber in keiner Weise gemindert, so überwältigend ein Einfall immer auch empfunden werden mag, weil es ja immer noch mein Einfall ist, der mir selbst widerfährt und nicht irgendwelchen anderen. Wenn wir nach autobiographischen Zeugnissen derartiger ekstatischer Erlebnisse suchen, werden wir überall fündig: In der Religionsgeschichte sind es Bekehrungserlebnisse, die bei Paulus vor Damaskus beginnen und über Augustinus, Jakob Böhme und Blaise Pascal bis herauf zu den Pietisten reichen; in der Wissenschaftsgeschichte sind es die großen Entdeckungen, die vom sprichwörtlich gewordenen »Heureka!« des Archimedes bis zu Goethes Schilderung seiner »chromatischen Bekehrung« (28,172) reichen; in der Philosophiegeschichte 30 finden wir sie bei Descartes, Rousseau und bei Nietzsches Zarathustra-Erlebnis vom August 1881. So schreibt z. B. Jakob Böhme in seiner Aurora, sein Gott habe ihn durch den heiligen Geist erleuchtet, »damit ich seinen Willen möchte verstehen und meiner Traurigkeit los werden; – so brach der Geist durch.« 31 Und dann fährt er fort: »Was aber für ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht

1795 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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schreiben noch reden. Es läßt sich auch mit nichts vergleichen als nur mit dem, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, und vergleicht sich mit der Auferstehung von den Toten.« (S. 362)

Von dieser »unaussprechlichen Freude und großen Gewißheit« 32 spricht auch der Pietist August Hermann Francke nach seiner Bekehrung, und in ganz ähnlichen Tönen spricht auch Nietzsche in seinem Brief an Peter Gast vom 14. August 1881 über seine Begegnung mit Zarathustra: »Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen – schon ein paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß meine Augen entzündet waren – wodurch? Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Tränen, sondern Tränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von dem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe.« (III,1172)

Goethe nennt solche blitzartigen Einsichten, bei denen einem plötzlich ein Licht aufgeht, ein »Aperçu« und beschreibt sie zwar im allgemeinen in der Metaphorik pietistischer Erweckungserlebnisse, die sich der Überzeugung verdanken, »daß Gott unmittelbar einwirke« (24,207), setzt sich aber in einer Notiz zur Farbenlehre, die sich im Nachlaß fand, doch wieder von den damit verbundenen theologischen Implikationen ausdrücklich ab, weil es sich für ihn bei einem Aperçu eben gerade nicht um eine Eingebung von obenaußen handle, sondern ganz profan phänomenologisch um eine Offenbarung, die nach dem uns schon bekannten Schema Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase abläuft, und deshalb beschreibt er sie in deutlicher Anlehnung an Klopstock als »Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühls, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwikkelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt.« 33

In seiner Autobiographie betont er zwar auch die analoge Struktur von pietistischen Erweckungs- und Wiedergeburtserlebnissen und wissenschaftlichen Erkenntnisdurchbrüchen, die mit einem »Heureka!« bekundet werden, setzt sich auch hier wieder in aller Deut1796 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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lichkeit von dem Pietisten Jung-Stilling ab, der in seiner Autobiographie auf eine recht peinliche Weise mit seinem »festen und unwiderruflichen Bund mit Gott«34 geprahlt hatte, und kommentiert dies mit den Worten: »Wovon sich dergleichen Sinnesverwandte am liebsten unterhalten, sind die sogenannten Erweckungen, Sinnesveränderungen, denen wir ihren psychologischen Wert nicht absprechen. Es sind eigentlich, was wir in wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten Aperçus nennen: das Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder Überlieferung. Hier (bei Jung-Stilling und den Pietisten) ist es das Gewahrwerden einer moralischen Kraft, die im Glauben ankert und so in stolzer Sicherheit mitten auf den Wogen sich empfinden wird. Ein solches Aperçu gibt dem Entdecker die größte Freude, weil es auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet; es bedarf keiner Zeitfolge zur Überzeugung, es entspringt ganz und vollendet dem Augenblick. (…) Äußere Anstöße bewirken oft das gewaltsame Losbrechen solcher Sinnesänderung, man glaubt Zeichen und Wunder zu schauen.« (24,208)

In seiner Geschichte der Farbenlehre beschreibt Goethe die Pointenstruktur eines derartigen krisenhaften Prozesses im Kapitel »Konfession des Verfassers« ganz wie Augustinus 35 regelrecht als Krankheit, bei der aber nicht wie bei Augustinus »Gottes Stachel« (S. 175) die Krankheit zum krisenhaften Höhepunkt führt, sondern die profane Impfspritze des Wundarztes dies bewirkt, denn »ein entschiedenes Aperçu ist wie eine inokulierte (eingeimpfte) Krankheit anzusehen: man wird sie nicht los, bis sie durchgekämpft ist.« (40,332) An Goethes Begrifflichkeit orientiert sich wiederum Arthur Schopenhauer, der in § 5 seines Hauptwerks das Loblied auf die intuitive Erkenntnis anstimmt, die seiner Meinung nach allen bedeutsamen Entdeckungen in allen Lebensbereichen zugrunde liegt, denn: »Jede Naturkraft und jedes Naturgesetz, jeder Fall, in welchem sie sich äußern, muß zuerst vom Verstande unmittelbar erkannt, intuitiv aufgefaßt werden, ehe er in abstracto für die Vernunft ins reflektirte Be-

1797 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wußtseyn treten kann. (…) Daher sind auch jene großen Entdeckungen alle, eben wie die Anschauung und jede Verstandesäußerung, eine unmittelbare Einsicht, und als solche das Werk des Augenblicks, ein apperçu, ein Einfall, nicht das Produkt langer Schlußketten in abstracto.« (I,55)

Im Ergänzungsband zum Hauptwerk greift er dann auf diesen Gedanken zurück (vgl. II,1031) und beschreibt das Zünden einer Pointe ganz analog als Durchbruchserlebnis und als blitzartige Erkenntnis eines komischen Kontrastes zwischen Idee und Erscheinung. Doch »die Wahrnehmung der (komischen) Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten, also zur Wirklichkeit, macht uns demnach Freude und wir geben uns gern der krampfhaften Erschütterung (des Lachens) hin, welche diese Wahrnehmung erregt,« (II,114), denn: »Dieser Sieg der anschauenden Erkenntniß über das Denken erfreut uns.« (II,115)

Und weil eine derartige plötzliche Erweiterung des eigenen Horizonts immer ein Werk des Augenblicks ist und das Licht, das einem dabei aufgeht, nicht bloß irgendeine Funzel ist, sondern ein veritabler Blitz, der den neuen Horizont zugleich auch überhell ausleuchtet, muß das Heureka-Lachen auch genauo triumphal hinausgelacht werden wie das Triumph-Lachen, das Thomas Hobbes als »sudden glory« 36 beschrieben hat, oder wie das Cachinnus-Lachen, mit dem wir eine zündende Pointe zu quittieren pflegen. Es kann gar nicht laut und triumphierend genug sein, um diesen neuen Horizont auch wirklich zu füllen, und somit ist die Hauptvollzugsrichtung dieses Lachens umfassend zentrifugal. Dämmert uns diese Einsicht aber nur allmählich, so füllt sich auch der neue Horizont nur allmählich mit einem Lächeln, das sich protopathisch auf dem Gesicht ausbreitet. Durch all diese Zeugnisse müßte deutlich geworden sein, daß das Lachen der Erleuchtung kein eigentliches Gefühl, auch nicht das der Freude bekundet, sondern allein die plötzliche Weitung des eigenen Horizonts, auf die die Freude dann erst folgt. Diesem Phänomen werden wir bei der Analyse des geloiastischen Lachens wieder begegnen, das als eine spezielle Variante des ErleuchtungsLachens auf unterschiedlichsten Graden von Intensität gelten darf. 1798 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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3.5.2.2.6 Das Strahlen Das strahlende Lächeln ist die Signatur des stillen Glücks in einer erhebenden Situation bei rückhaltloser und genußvoll ekstatischer Hingabe an diese Situation, die gar nicht lang genug dauern kann. Vom Lachen der Erleuchtung und vom Triumph-Lachen unterscheidet es sich dadurch, daß es nicht plötzlich aufbricht, sondern sich zügig entfaltet, ganz so wie eine Blüte aufgeht und dann in all ihrer Pracht strahlend leuchtet. Beobachten läßt sich dieses Erstrahlen am deutlichsten, wenn jemand beschenkt wird oder wenn ein Sammler endlich das schon lang gesuchte Stück gefunden hat, und dabei wird man sehen, daß diese Art von Lachen nie über einen bestimmten Intensitätsgrad hinausgeht. Auch wenn man »über alle Backen« strahlt, bleibt das Strahlen doch immer nur ein intensiv strahlendes Lächeln, das sich nie zum lauten Lachen steigert, weil es als die Signatur des Glücks nur als »aktive Ruhehaltung«37 erlebt werden kann, denn lautes Lachen als gestotterte Ausatmung hätte eine viel zu unruhige Verlaufsgestalt, die diese Situation »eines sich aufschließenden Geschlossenseins« 38 und einer intensiven Versammeltheit in sich sofort sprengen müßte. Daß das Erhebende dieser Situation sich nicht in einem ekstatischen Lachen äußern kann, liegt wohl auch daran, daß sich in dieser glückhaften Situation das Selbstwertgefühl enorm hebt und die Selbstbehauptung enorm steigert, wodurch der regressive Impuls, der sich beim lauten Lachen manifestieren würde, blockiert wird. Die rückhaltlose Hingabe an diese erhebende Situation führt also gerade nicht zu Selbstpreisgabe, zu personaler Regression und deshalb auch nicht zu einer ausgeprägteren Privation des ausgezeichneten Verhaltens in Gestus, Vultus, Habitus, Atmung und sprachlicher Artikulationsfähigkeit, sondern zu personaler Emanzipation auf höchstem Niveau. Hier liegt wohl auch der Grund dafür, daß dieses strahlende Lächeln in allen Religionen dem jeweiligen göttlichen Kind zugesprochen wird, das mit eben diesem strahlenden herzerwärmenden Lächeln eine Atmosphäre um sich erzeugt, die die ganze Welt zu erhellen und aufzuheitern vermag, weil es alle Welt an seinem eige1799 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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nen Glück teilhaben läßt. Aus diesem Grund wirkt dieses strahlende Lächeln auch so ansteckend. Da dieses Strahlen nicht gezielt adressiert ist wie ein Scheinwerfer, sondern wie die Sonne zentrifugal nach allen Seiten strahlt, ist die Wirkung dieses Lächelns nicht nur erhebend, sondern beflügelnd, weshalb Glückserlebnisse dieser Art in der Lyrik auch immer als sanfte zentrifugale Weitung erscheinen. So beschreibt z. B. Joseph von Eichendorff in dem Gedicht Der Morgen das Strahlen von Sonne, Mensch und Welt als einen alles durchdringenden zentrifugalen Impuls als Hauptvollzugsrichtung dieses Szenarios: Fliegt der erste Morgenstrahl Durch das stille Nebelthal, Rausch erwachend Wald und Hügel: Wer da fliegen kann, nimmt Flügel. Und sein Hütlein in die Luft Wirft der Mensch vor Lust und ruft: Hat Gesang doch auch noch Schwingen, Nun, so will ich fröhlich singen! Hinaus, o Mensch, weit in die Welt, Bangt dir das Herz in krankem Mut; Nichts ist so trüb in Nacht gestellt, Der Morgen leicht macht’s wieder gut. 39

Bollnow hätte die hier von Eichendorff beschworene Atmosphäre sicher als »gehobene Stimmung« bezeichnet, deren Hauptvollzugsrichtung nach oben orientiert ist, weil sie »von unten« sachte aufzusteigen und alles nach oben in schwerelos schwebende Leichtigkeit 40 zu heben scheint, sodaß ein Sonnenaufgang die paradigmatische Situation ist, um diese allseitig erhebende und beflügelnde Atmosphäre zu erleben. Plessner schreibt dazu: »Überall da, wo die Schwere vom Menschen genommen ist, die Perspektive sich weitet, die Schranken zurückweichen, gewinnt er (der Mensch) die Leichtigkeit des Abstandes zu seinesgleichen und den Dingen. In solchem abständigen Sich-Lösen werden die eigentlichen Quellen des Lachens: Scherz, Komik, Witz freigelegt. Alle Formen der Leichtigkeit, die wir unterscheiden, haben also die Bedeutung des Kli-

1800 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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mas, in dem der Mensch zu Scherz und Witz aufgelegt und in Laune ist, aber das Lachen selbst lösen sie nicht aus.« (VII,280)

Diese Atmosphäre heiterer Leichtigkeit und Schwerelosigkeit löst sicher nicht das laute Lachen aus, so weit hat Plessner sicher recht, aber das Strahlen löst sie allemal aus, ja man darf sagen, daß das Strahlen sogar die Signatur dieser schwerelosen Heiterkeit von Mensch und Welt in einem ist. 3.5.2.2.7 Das euphorische Auflachen Wie wir gesehen haben, hatte Buytendijk das glückliche Bekundungs-Lächeln als »Schwellensituation« charakterisiert, als Signatur einer »noch gerade nicht durchbrechenden Überschwenglichkeit, eines sich aufschließenden Geschlossenseins, eines selbstgenügsamen, immanenten Wohlbehagens und einer antizipierenden, transzendierenden Freude.« 41

Wird diese Schwelle zur Überschwenglichkeit aber überschritten, wird der Genuß des Glücks und Wohlbehagens so groß, daß es nicht mehr eine selbstgenügsame »aktive Ruhehaltung« (Buytendijk) bleiben kann, sondern sich der ganzen Welt mitteilen will, damit auch diese an diesem Glück teilhaben kann, so explodiert das stille Glück gleichsam, und das Lächeln steigert sich zu einem lauten Lachen, das wir gemeinhin als euphorische Heiterkeit oder kurz als Euphorie zu bezeichnen pflegen. Für Hermann Schmitz ist Euphorie eine Variante der zentrifugalen Erregungen42 mit einer deutlich erkennbaren Hauptvollzugsrichtung, die »einseitig hebend und zugleich allseitig unumkehrbar zentrifugal« (S. 294) orientiert ist und sich als seliges Schwärmen bekundet: »Euphorie ist also eine den Betroffenen und seine Umgebung zauberhaft durchstrahlende, randlos ergossene Atmosphäre; in ihr stimmt alles zusammen, aber nicht in der ruhig und weit ausgebreiteten, überall gleichmäßig entspannten Weise, die für Zufriedenheit charakteristisch ist (und sich als selig entspanntes erfülltes Lächeln bekundet), sondern aufgeregter, dynamischer: Der allgemeine Einklang bei Euphorie ist ein gerichtetes Kraftfeld, in dem die überwiegende zentrifugale, expan-

1801 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

sive Tendenz durch entgegen kommende Resonanz immer wieder aufgefangen und zu neuen, ausladenderen Schwingungen angeregt wird.« 43

Auch wenn Schmitz nicht ausdrücklich darauf verweist, hatte er bei dieser Beschreibung sicher Goethes Euphorion vor Augen, den Sohn von Faust und Helena, von dem es als eben geborenem Säugling heißt: »Gleich dem fertigen Schmetterling, Der aus starrem Puppenzwang Flügel entfaltend lebendig schlüpft, Sonnedurchstrahlten Äther kühn Und mutwillig durchflatternd. So auch er, der Behendeste.« (V. 9657–9662)

Euphorion selbst, gleichsam die Gestalt gewordene Euphorie, ruft seinen Eltern zu: »Nun laßt mich hüpfen, Nun laßt mich springen! Zu allen Lüften Hinauf zu dringen, Ist mir Begierde. Sie faßt mich schon.« (V. 9711–9716)

Doch allen Warnungen seiner Eltern zum Trotz ist der ihm eingegebene zentrifugale Impuls nicht zu bremsen und drängt ihn weiter: »Immer höher muß ich steigen, Immer weiter muß ich schaun« (V. 9821–9822),

bis er schließlich, ganz wie ein ausschwärmender Schmetterling, völlig abhebt. Und nun schlägt auch sein euphorisches Lachen um in ein triumphales: »Ich muß! Ich muß! Gönnt mir den Flug!« (V. 9898–9900)

Und dann heißt es in der Regieanweisung: »Er wirft sich in die Lüfte, die Gewande tragen ihn einen Augenblick, sein Haupt strahlt (in triumphalem Lachen), ein Lichtschweif zieht nach.« Und dann stürzt er ab wie ein Komet: »Ikarus, Ikarus! Jammer genug.« (V. 9901–9902)

Euphorion war also doch nicht das neue göttliche Kind, sondern 1802 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

nur die Gestalt gewordene Euphorie, eine Existenz im Komparativ als die wahnhaft verstiegene Verbindung von Deutschtum und Griechentum, mit der Goethe in dieser Szene abrechnet. So gesehen zeigt Goethes Szene zugleich auch die Grenzen und Gefahren euphorischen Verhaltens auf, bei dem man buchstäblich den Boden unter den Füßen verlieren und ungehemmt in den Wahn abheben kann, wenn man sich ihm rückhaltlos hingibt. Christliche Theologen würden sicher nicht zögern, in Euphorion einen Zwillingsbruder Luzifers zu sehen und ihm genau das hoffärtig hochfahrende Triumph-Gelächter zuzusprechen, auf das die christlich dogmatische Gelotologie von Augustinus bis Baudelaire 44 alles Lachen zu reduzieren pflegte. 3.5.2.2.8 Das Triumph-Lachen Das Triumph-Lachen ist das Lachen des Siegers im Augenblick des Sieges. Es gleicht dem Heureka-Lachen im Gestaltverlauf, weil es ebenfalls als plötzliche Explosion aus dem Sieger im Augenblick des Sieges herausbricht. Es hat aber einen anderen Grund, weil es nicht das überwältigende Glück über ein unerwartet und unverhofft eingetretenes unverfügbares Widerfahrnis bekundet, sondern das überwältigende Glück über eine erhoffte eigene Leistung. Deshalb bricht es auch im Augenblick des Sieges los und wird als ekstatische Lach-Arie hinausgelacht, um diesen Sieg zu feiern, was gar nicht lang genug dauern und gar nicht intensiv genug ausgekostet werden kann. Wie das Strahlen und die Euphorie ist auch das triumphale Lachen ein synergetisch sich manifestierender zentrifugaler Impuls, unterscheidet sich aber von beiden in seiner Verlaufsgestalt, weil es sich nicht langsam zum Höhepunkt steigert und dann beim erreichten Höhepunkt an Intensität gleich bleibt, sondern explosionsartig ausbricht und sich trotzdem immer noch weiter zu steigern sucht. Aus diesem Grund kann es auch kein triumphales Lächeln geben. Diese hemmungslose Ekstatik als Äquivalenz von extremer Selbstpreisgabe und extremer Selbstbehauptung manifestiert sich denn auch umfassend synergetisch-synästhetisch: Mit allem, was 1803 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

man ist, hat, kann und tut, tendiert man dazu, das ausgezeichnete Verhalten als Signatur personaler Emanzipation regressiv zu übersteigern: Die Haltung ist mänadenhaft konvex; der Kopf wird bei Hohlkreuz in den Nacken geworfen; Mund und Augen sind überweit aufgerissen; die Arme werden so weit wie möglich ausgebreitet; die Finger werden gespreizt; man springt umher wie ein Knallfrosch; man möchte buchstäblich aus der Haut fahren, um immer noch weiter außer sich zu sein und über sich hinauszuwachsen wie über alle anderen auch; und man schreit sein Triumph-Lachen als nicht enden wollende Lach-Arie so laut wie möglich in die Welt hinaus. Und diese triumphale Selbstfeier kann gar nicht lange genug dauern. Es war wohl diese spezielle Variante des Bekundungs-Lachens, das den christlichen Kirchenvätern als deutlichste Signatur der superbia so verwerflich erschien, und so sieht es auch noch Thomas Hobbes, der sie als sudden glory des Siegers deutet, denn er schreibt dazu: »Obwohl der Vergleich des menschlichen Lebens mit einem Wettrennen nicht in jeder Hinsicht zutrifft, trifft er für das, was wir hier darlegen wollen, doch so gut zu, daß wir in diesem Vergleich fast all die eben erwähnten Affekte wiedererkennen. Aber in diesem Wettrennen gibt es nur ein einziges Ziel und nur einen einzigen Zweck, nämlich Sieger zu sein.« 45

Wenn Hobbes dann zu einer physiologischen Deutung dieses Triumph-Lachens ansetzt und darstellt, wie die Lebensgeister hier agieren, so möchte man fast meinen, die Piloten der Formel 1 hätten sich zu ihren Triumph-Ritualen von Thomas Hobbes anregen lassen, denn er schreibt, im Augenblick des Sieges würden durch »das plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler« 46 die Lebensgeister rasant »emporgetrieben« 47 und würden dann im Menschen empor sprudeln wie der Sekt in der Flasche, wenn der Korken knallt. Ganz auf diese Weise pflegen auch die Sieger der Formel 1 zu feiern, indem sie orgasmusartig mit Sekt umherspritzen und dabei ausgiebig lachen. Plessner hätte dieses Verhalten wohl als Jubel 48 bezeichnet, denn: »Der Jubel ist die Ausdrucksgebärde des vor Glück Zerspringens. So wie wir hochspringen, herumtanzen, Dummheiten machen, sinnlos

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gestikulieren, vom Überschwang in seiner Vehemenz hingerissen, so brechen wir in Jubel aus.« (VII,279)

Wenn er dann aber behauptet, Jubel führe »an sich nicht zum Lachen« (VII,281), sondern eher zum Singen (vgl. VII,279), so kann man sich nur wundern, weil all die genannten Jubel- und TriumphRituale regressiv orientiert sind und zu ganz animalischen para-personalen Verhaltensweisen von sekundärer Infantilität49 tendieren, wohingegen das Singen ein hohes Maß an Selbstdisziplin verlangt. 3.5.2.2.9 Das erleichterte Auflachen Das erleichterte Auflachen ist das Lachen beim plötzlichen Verlassen einer bedrängenden Situation, der man eben entkommen ist oder die sich schlagartig entspannt hat. Der grundlegende, alles Verhalten synergetisch überformende Impuls, der dieses Szenario prägt, ist die ekstatisch rettende Beflügelung nach oben-außen ins Weite, Offene, Leichte, Schwebende. Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß kaum ein Bekundungs-Lachen so intensiv ansteckend ist wie das erleichterte Auflachen, weil das Resonanz-Lachen der Anderen diesen Weg ins Weite und Offene aufnimmt und weiterträgt. Entscheidend bei diesem Szenario ist, daß die Entspannung der bedrängenden Situation nicht als langsam schmelzende Erosion zustande kommt, denn dann würde man wohl eher lächeln, sondern als sprengende Explosion, also als plötzliches Umschlagen von Spannung in Entspannung, von Bedrängnis in Befreiung, von lastender Schwere in beflügelnde Leichtigkeit. Das paradigmatische historische Beispiel für dieses Szenario wird wohl immer die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 sein, als sich die aufgestaute Erregung der Massen im Osten der Mauer mit einem Mal entspannen und ins Freie strömen konnte, die Massen jubelnd und lachend durch das Tor drängten und alsbald lachend und jubelnd auf der Mauerkrone standen, weil dies der einzig angemessene Ort war, um die erhebende Stimmung dieses Szenarios zu bekunden und voll zu genießen. Und auch hier konnte die Mauer gar nicht hoch genug sein, um auf ihr zu feiern. Wenn man dieses erleichterte Auflachen mit dem empörten Auflachen vergleicht, stellt man fest, daß beide durch den gleichen 1805 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Impuls nach oben geprägt sind, der ihnen ihre Hauptvollzugsrichtung vorgibt, allerdings mit dem Unterschied, daß der Empörte die Last, die ihn bedrückt hat und noch weiter bedrückt, immer noch mit sich schleppt, wohingegen der Erleichterte seine Last mit einem Mal verloren hat und durch diese ruckhafte Erleichterung geradezu ins schwerelose Schweben nach oben gerissen wird. Mit einem Wort: Ihm widerfährt, mythologisch gesprochen, eine Himmelfahrt oder eine Auferstehung. Dieser für das erleichterte Auflachen typische generell beflügelnde Impuls nach oben war es wohl auch, der den protestantischen Theologen Werner Thiede dazu verführt hat, alles Lachen theologisch als vorweggenommene Auferstehung zu deuten und auf die »Grundformel« 50 zu bringen: »Befreiung von einem bedrückenden zu einem beglückenden Gefühl« (S. 34), weshalb er sich zu der reduktionistischen These versteigt: »Solcher Jubel ist im Kern jedes Lachen: Ausdruck von Glücksgefühl und Freude.« (S. 31) Kant sah hier viel genauer hin, denn für ihn galt: »Alles Plötzliche bringt bei uns eben dasselbe hervor, was das Gezwicke einer angespannten Saite thut, und diese Bewegung ist bebend.« (AA,1139)

Vollzieht sich die Erleichterung von einer bedrückend-bedrängenden Situation plötzlich, ist das erleichterte Auflachen eine bebende Bewegung, also ekstatisch erleichtertes Auflachen, das uns nach oben reißt; vollzieht sich die Erleichterung aber als sachte Erosion, heben wir zwar auch ab ins Schwerelose, aber eben nicht in lautem Gelächter, sondern in einem beglückten Lächeln, ganz so wie Eichendorff dies in seinem wunderschönen Gedicht Mondnacht beschreibt: Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nur träumen müßt’. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten still die Wälder, So sternklar war die Nacht.

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Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. 51

3.5.2.2.10 Das empörte Auflachen Man könnte das empörte Auflachen als eine extrem gesteigerte, aber hoch aggressive Variante des irritierten Auflachens bezeichnen, weil dieses Auflachen nicht momentane Ratlosigkeit bekundet, sondern die flammende Empörung über den offenkundigen Zusammenbruch nicht nur der eigenen moralischen Wertewelt, sondern der moralischen Weltordnung als ganzer. Der alles beherrschende Grundimpuls dieses Szenarios ist also nicht Selbstpreisgabe als gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation wie beim verlegenen oder verzweifelten Bekundungs-Lachen, sondern das trotzig aggressive Toben gegen die Ketten, die uns in einer bedrängenden Situation festhalten, bei angestrengtester Selbstbehauptung. Wer auf diese Weise lacht und mit diesem Auflachen seine tiefe Kränkung abzulachen sucht, also laut, grell, gellend und bellend, hat sich noch längst nicht aufgegeben und ist deshalb auch bereit, mit der aktuell geltenden Weltordnung gnadenlos hart ist Gericht zu gehen. Abzulesen ist diese Empörung v. a. am Habitus, weil der Empörte nicht nur aufgerichtet dasteht, sondern diese Haltung auch noch mit Hohlkreuz in höchster ekstatischer Körperspannung konvex überdehnt und auf diese Weise seine Empörungs-Lache nach obenaußen hinausgellt. So gesehen gleicht die Haltung des Empörten auf den ersten Blick der des Triumphators, unterscheidet sich davon aber doch, weil der Bewegungsimpuls beim Triumphieren allseitig zentrifugal, aber ungezielt, der des Empörten aber eindeutig aggressiv drohend und gezielt nach oben gerichtet ist, wo man den Sitz der moralischen Werteordnung anzunehmen pflegt. Die Haltung des Empörten gleicht also der des Werfers, denn auch dessen Haltung ist in extremer Weise konvex überdehnt, um sein Wurfgerät möglichst weit schleudern zu können, wenn er sich beim Abwurf wieder mit aller Macht konkav zusammenzieht, un1807 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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abhängig davon, ob dieses Wurfgerät eine Waffe oder eine Brandfackel ist, die der feindlichen Macht entgegengeschleudert wird, um diese zu vernichten, weil sie ihn gar zu tief gekränkt hatte. Im Gegensatz dazu öffnet sich der Triumphator bei seiner unendlichen Lach-Arie mit allem, was er ist und hat, um die ganze Welt ekstatisch zu umarmen und an seinem Glück teilhaben zu lassen. Würde der Empörte nicht nur grell und bellend lachen, sondern nur reden, so würde er lästerlich fluchen und mit diesen evokativen Bekundungen Gott und die Welt – und überhaupt alles verfluchen. Daß wir hier auch von Erbitterung oder Verbitterung und vom qualvoll bitteren oder verbitterten Lachen sprechen, verdankt sich der Prägung unseres Wortschatzes durch die alte Humoralpsychologie, die Zorn und Empörung auf ein aktuelles Übermaß an bitterer gelber Galle zurückführte. Wir sind diesem verbitterten Lachen zum ersten Mal in Lessings Minna von Barnhelm begegnet, wo Major Tellheim in einen falschen Verdacht geraten ist, der an die Ehre geht, weshalb er in dieses grelle Lachen ausbricht, vor dem Minna sich so sehr entsetzt und deshalb beschwört sie ihn: »O, ersticken Sie dieses Lachen, Tellheim! Ich beschwöre Sie! Es ist das schreckliche Lachen des Menschenhasses! (…) Ihr Lachen tötet mich, Tellheim! Wenn Sie an Tugend und Vorsicht (Vorsehung) glauben, Tellheim, so lachen Sie nicht so! Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören, als Sie lachen.« (2,347)

Aber an Tugend und Vorsehung, an Gerechtigkeit und an eine moralische Weltordnung kann Tellheim in dieser Situation eben nicht mehr glauben, sondern all das, was danach aussehen könnte, nur noch voller Empörung und Erbitterung verlachen. Im ersten Monolog des Franz Moor stoßen wir auf das gleiche gellende Lachen, doch hier lacht kein enttäuschter und verbitterter Metaphysiker, der einmal an einen Gott geglaubt hatte, »der alles so herrlich regieret«, sondern ein entschiedener Materialist, der seine Empörung über die Ungerechtigkeit der Natur bekundet, die genauo gottlos und gottverlassen ist wie er selbst: »Warum bin ich nicht (als) der Erste aus dem Mutterleib gekrochen? warum nicht (als) der Einzige? Warum mußte sie (die Natur) mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? gerade mir? (…) Warum gerade mir

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diese Lappländernase? gerade mir dieses Mohrenmaul? die Hottentottenaugen? Wirklich, ich glaube, sie hat von allen Menschensorten das Scheußlichste auf einen Haufen geworfen und mich daraus gebakken.« (2,20)

Und dann setzt er seine Rache an der Natur ins Werk: »Ich will Alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich seyn, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht.« (2,23)

In der Schwarzen Romantik wurde dieses bittere Lachen der Empörung, das Miltons Satan mit der programmatischen Maxime »Böses, sei du mein Gutes!« 52 zum ersten Mal angestimmt hatte, geradezu endemisch. Daß sich die literarischen Zeugnisse dieses bitteren EmpörerLachens in den revolutionär erregten Zeitläuften von Milton bis Baudelaire so häuften, ist sicher kein Zufall, weil diese Art von Bekundungs-Lachen als aggressives Toben gegen die Ketten fungiert, durch die jemand in einer bedrängenden Situation festgehalten wird. Allerdings kann man dieses schwarze Lachen sehr wohl auch als verzweifeltes Auflachen deuten, je nachdem, für wen man Partei ergreift. 3.5.2.2.11 Das verzweifelte Auflachen Auf das qualvolle Lachen der Verzweiflung sind wir schon einmal in Kapitel 2.17.4.5.5 gestoßen und haben es mit Plessner vorerst als gehemmte Flucht aus einer bedrängenden Situation gedeutet. Dies gilt es nun zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen oder auch zu korrigieren. Plessner hatte Verzweiflung als extrem gesteigerte Verlegenheit bestimmt und zwei Varianten der Verzweiflung unterschieden: Zum einen die stille Verzweiflung, die zum melancholisch verstummten Vor-sich-hin-Brüten tendiert und schon von den christlichen Kirchenvätern als Akedia 53 beschrieben und untersucht worden ist, weil sie als die typische Mönchs-Krankheit galt, die seit der Renaissance aber auch die weltlichen Intellektuellen 54 bis auf unsere Zeit erfaßt; und zum anderen die aggressive Verzweiflung, die sich u. a. auch in einer bestimmten Form von Gelächter bekundet: 1809 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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»Für den Verzweifelten, der nicht mehr aus noch ein weiß, gibt es keinen Spielraum der Äußerung. Er kann alles beginnen und nichts beginnen, und vielleicht ist die stille Verzweiflung die tiefere. Wer die Kraft aufbringt, um sich zu schlagen, zu toben, zu weinen oder zu lachen, hat sich noch nicht verlorengegeben, denn er realisiert noch den Abstand zu seiner Lage. Ihm schwindelt, aber er ist noch nicht ganz am Ende. (…) In der Verzweiflung ist erst die Grenze erreicht, welche die Zone der Ratlosigkeit und Aussichtslosigkeit von der wirklichen Kapitulation trennt. Bevor er sie überschreitet, gerät er (der Mensch) in den unmöglichen Zustand der vollkommenen Ausweglosigkeit, in dem kein Ausdruck (also auch weder Lachen noch Weinen) mehr am Platz ist.« (VII,237) »Die Desorganisation ist da.« (VII,236)

Hier dürfte Plessner irren, denn keinen Ausdruck gibt es nicht, sodaß auch der Zustand vollkommener Ausweglosigkeit sich in bestimmten Verhaltensweisen bekunden muß und dies ja auch tut, denn die extremen Formen von personaler Kapitulation sind sogar besonders ausdrucksstark und reichen von der Akedia in Form des dumpfen, blick- und tränenlosen Vor-sich-hin-Brütens, das wir von Dürers Melencolia-Stich kennen, bis zum Vagustod 55 als dem endgültigen Verschwinden nach innen. Doch dies ist nicht unser Thema. Für unsere Fragestellung ist hier allein die trotzig aggressive Variante der Verzweiflung von Interesse, weil nur sie sich in einer bestimmten Form von Gelächter manifestiert, das allerdings synergetisch-synästhetisch in eine ganze Verhaltenspalette von allgemeiner unverfügbarer, unruhiger Getriebenheit eingebettet ist, wodurch auch wiederum diese spezifische Art von Gelächter überformt wird. Für Hermann Schmitz ist Verzweiflung als »leeres Gefühl« 56 das genaue Gegenstück zum »erfüllten Gefühl« 57, das er als glückhafte Zufriedenheit mit sich selbst und der Welt versteht und das sich, wie wir in Kapitel 3.5.2.2.2 gesehen haben, als erfülltes Lächeln in »aktiver Ruhehaltung« (Buytendijk) und intensiver Versammeltheit bekundet. Nun haben die christlichen Kirchenväter seit Kassian und Evagrius neben der stumm vor sich hinbrütenden Variante der Akedia aber auch deren unruhig aggressive Variante als unverfügbare des1810 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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orientierte Getriebenheit des gesamten Verhaltens ausgiebig beschrieben, und so finden wir z. B. bei dem maronitischen Mönch Antiochos folgende Schilderung: »Wie der Wind jagt der Dämon der acedia den Betroffenen umher, läßt ihn keine Ruhe finden und gibt ihm die Überzeugung ein, ohne Ortswechsel werde Zeit und Arbeit vergebens sein; wenn der Mönch seine Zelle nicht verlassen kann, läuft er in dieser umher, und der Ort ist ihm verhaßt. Gelingt es ihm nicht, sich zu zügeln, so wechselt er einen Ort nach dem anderen.« 58

Der Kartäuser-Prior Guigo II aus dem 12. Jahrhundert beschreibt die Zerrissenheit, Unruhe und Desorientiertheit des Verhaltens bei aggressiver Verzweiflung immer noch ganz ähnlich: »Dich ergreift oft, wenn du allein in deiner Zelle bist, eine Trägheit, Mattigkeit des Geistes, Herzensekel; du spürst einen gewissen, sogar sehr großen Überdruß in dir selbst; du bist dir zur Last. (…) Deine Seele trägst du durchbohrt und verwundet, verwirrt und zerrissen, traurig und verbittert, und hast nichts, wo du sie zur Ruhe brächtest … Mit Gelächter, Fabulieren und müßigen Streichen bist du rasch zur Stelle; für das Schweigen aber, für nützliches Tun und jede geistliche Übung bist du in jeder Weise langsam und faul.« 59

Seit Kassians Regeln für die Novizen aus der Zeit um 420 gelten die akedia bzw. das taedium cordis als schwere Sünde 60, weil die Verzweiflung in all ihren Varianten davon zeugt, daß der Verzweifelte auch am Gottvertrauen zweifelt und nicht darauf vertraut, seine Ruhe in Gott finden zu können. Diese Sünde gegen den heiligen Geist wiegt für einen Mönch natürlich besonders schwer, weshalb die Diskussion um die Akedia in der mönchischen Literatur auch einen so breiten Raum einnimmt. Wenn man diese Literatur nun in profane Psychologie übersetzt und die Verzweiflung profan phänomenologisch deutet, könnte man sagen, der aggressiv Verzweifelte versuche, vor sich selbst davon zu rennen, weil er sich und seine Verzweiflung verzweifelt los werden will, aber nicht weiß, wohin er rennen soll, weil er seine Verzweiflung immer mit sich schleppt wie den eigenen dunklen Schatten. Auf diese Art wird die aggressive Variante der Verzweiflung denn auch bei Karl Philipp Moritz und Sören Kierkegaard ausführlich und eindrucksvoll beschrieben. 1811 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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In seinem psychologischen Roman Anton Reiser 61, der auf weiten Strecken eine tiefgreifende und schonungslose Selbstanalyse des Autors ist, zeichnet Moritz seinen Helden Anton Reiser als einen jungen Mann, der verzweifelt versucht, sich selbst und dem sozialen Milieu, dem er entstammt, zu entfliehen, wobei er aber »bei jedem Schritte sein verhaßtes Selbst mit sich fortschleppen mußte.« (S. 231) Das profane Analogon zur sündhaften Akedia der christlichen Kleriker ist bei ihm »die unverantwortliche Seelenlähmung durch das zurücksetzende Betragen seiner Eltern gegen ihn, die er von seiner Kindheit an noch nicht hatte wieder vermindern können.« (S. 323) Für Anton Reiser resultiert die Verzweiflung also nicht daraus, daß er keine Ruhe in Gott findet, sondern daraus, daß er seit seiner Kindheit daran gehindert worden ist, ein »Selbstgefühl« (S. 323) im Sinne eines Selbstwertgefühls oder intakten Selbstbewußtseins zu entwickeln und zu stabilisieren, das ihm einen Halt in sich selbst hätte vermitteln können, und so tendiert er dazu, in allen Situationen, in denen er verlacht wird, katastrophale Scham zu empfinden, die ihn immer weiter in seine tiefe Verzweiflung treibt, denn »ihm schien oft das schon Verachtung, was ein anderer mit mehr Selbstgefühl nie würde dafür genommen haben.« (S. 323) Aus diesem Grund sucht er, ähnlich wie Goethes Wilhelm Meister, beim Theater unterzukommen, weil ihm das Theater als ein Weg ins Freie, Offne und Weite erscheint, aber auch dieser vermeintliche Ausweg der Theatromanie führt ihn in die Irre, weil ihm die entsprechende Begabung als Schauspieler fehlt. Und so jagt auch ihn der Dämon der Akedia ziellos in Nacht und Regen umher, sodaß er sich schließlich wie der von seinen Töchtern davongejagte König Lear vorkommt und sein leeres Gefühl der Verzweiflung in die Nacht hinausschreit und hinauslacht: »Indem ihm nun der Regen ins Gesicht schlug, fiel ihm die Stelle aus dem Lear (III,4) ein: to shut me out, in such an night as this! (die Türen vor mir zu verschließen, in einer Nacht wie diese!) Und nun spielte er die Rolle des Lear in seiner eigenen Verzweiflung durch und vergaß sich in dem Schicksale Lears, der, von seinen eigenen Töchtern verbannt, in der stürmischen Nacht umherirrt und die Elemente auffordert, die entsetzliche Beleidigung zu rächen.

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Diese Szene hielt ihn hin, daß er sich eine Zeitlang den Zustand, worin er war, mit einer Art Wollust dachte, bis auch dies Gefühl abgestumpft wurde und ihm nun am Ende nichts als die leere Wirklichkeit übrig blieb, welche ihn in ein lautes Hohngelächter über sich selbst ausbrechen ließ.« (S. 420)

Doch was für eine Art von Gelächter ist dieses verzweifelte Auflachen? Als synergetisch-synästhetischer Teilaspekt einer umfassenden unruhigen und orientierungslosen Getriebenheit ohne erkennbare Hauptvollzugsrichtung, die sich deshalb auch gegen die eigene Person selbst richten kann, ist diese Getriebenheit letztlich eine Bewegung-auf-der-Stelle und eher ein rasender Stillstand, sodaß dieses verzweifelte Auflachen, das gellend und bellend klingt, keine voll ausgeformte Lach-Melodie geschweige denn eine voll ausgeformte Lach-Arie sein kann, sondern eine verkümmerte, in sich selbst gebrochene Verlaufsgestalt aufweist und eher nach einem lauten Schluchzen klingt. Lädiert ist beim verzweifelten Auflachen also insbesondere der uroborische Impuls, der dem Lachen im allgemeinen seine dramatische und in sich teleologische Tendenz sichert, sodaß das verzweifelte Auflachen plötzlich losbricht und wieder abbricht, aufs neue losbricht und allmählich aus Erschöpfung verendet, weil das verzweifelte Auflachen zwar die Flucht aus einer extrem bedrängenden Situation sein soll, diese Flucht letztlich aber doch nicht bewirkt. Das verzweifelte Auflachen ist also letztlich keine nur gehemmte, sondern eine mißlingende Flucht aus einer bedrängenden Situation und wirkt somit letztlich auch nicht wirklich kathartisch, weil es die Verzweiflung nur bekundet, nicht aber läutert und aufhebt. Mit einem Wort: Das Lachen des unerlöst Verzweifelten ist selbst verzweifelt unerlöst. Auf ein reduziertes und gleichsam ausgekühltes Gegenstück zu Anton Reisers Hohngelächter über sich selbst, mit dem er von unten voller Verachtung und Haß auf sich herabschaut und sich verlacht, sind wir schon einmal in Gestalt des zynischen Grinsens gestoßen, mit dem Rameaus Neffe im gleichnamigen Werk von Denis Diderot 62 voller Selbstekel von unten auf sich herabschaut und sich als »Kotseele« 63 und »Genie der Verächtlichkeit«64 ungeniert selbst bekotzt. 1813 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Doch dasselbe zynische Grinsen finden wir auch in einer Ballade des jungen Bert Brecht, denn Brecht läßt dort in seinem Gesang des Soldaten der roten Armee von 1919 diesen Soldaten seine Verzweiflung darüber bekunden, daß sein Kampf für die Freiheit vergeblich war. Die Ballade endet nämlich mit den Versen: »Oft wurde nachts der Himmel rot Sie hielten’s für das Rot der Früh. Dann war es Brand, doch auch das Frührot kam Die Freiheit, Kinder, die kam nie. Und drum: wo immer sie auch warn Das ist die Hölle, sagten sie. Die Zeit verging. Die letzte Hölle War doch die allerletzte nie. Sehr viel Höllen kamen noch. Die Freiheit, Kinder, die kam nie. Die Zeit vergeht. Doch kämen jetzt die Himmel Die Himmel wären ohne sie. Wenn unser Leib zerfressen ist Mit einem matten Herzen drin Speit die Armee einst unser Haut und Knochen In kalte flache Löcher hin. Und mit dem Leib, vom Regen hart Und mit dem Herz, versehrt von Eis Und mit den blutbefleckten leeren Händen Kommen wir grinsend in euer Paradeis.« 65

Um die Situation des Verzweifelten genauer zu verstehen, hilft uns auch ein Blick in Kierkegaards Analyse der Verzweiflung, die er 1849 in seiner Studie Die Krankheit zum Tode 66 vorgelegt hat. Dort analysiert er zwei Varianten von Verzweiflung, deren eine darin besteht, daß jemand verzweifelt er selbst sein will (vgl. S. 65 ff.), wie dies z. B. bei Ibsens Peer Gynt der Fall ist, deren andere aber darin besteht, daß jemand verzweifelt sich selbst los werden will, und so gesehen ist diese Studie auch eine Studie über die Psychologie des Selbstmords. 1814 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Aus diesem Grund ist Kierkegaards Abhandlung deutlich erkennbar durch Goethes Werther angeregt, denn Werther schreibt in seinem Brief vom 28. August, also an Goethes Geburtstag, davon, daß seine Verzweiflung als unglücklich Liebender eine Krankheit zum Tode (vgl. 17,43) sein werde, weil sie nicht zu heilen sei, und am 30. August schließt er den Brief an seinen Freund Wilhelm mit dem Satz ab: »Adieu! Ich seh’ dieses Elends kein Ende als das Grab.« (17,44) Im Brief vom 18. August hatte er geschrieben, die Natur als der »Schauplatz des unendlichen Lebens« verwandle sich für ihn »in den Abgrund des ewig offnen Grabs« (17,42) und die Natur selbst habe sich für ihn in ein »ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer« (17,42) verwandelt. Diese Bildersprache nimmt nun auch Kierkegaard auf und schreibt, die Verzweiflung sei »eine Selbstverzehrung, aber eine ohnmächtige Selbstverzehrung, die nicht vermag, was sie selbst will. Sondern was sie will, ist sich selbst verzehren, was sie (jedoch) nicht vermag, und diese Ohnmacht ist eine neue Form der Selbstverzehrung, in welcher doch die Verzweiflung wiederum nicht vermag, was sie will, (nämlich) sich selbst verzehren. (…) Dies ist das (immer wieder neue) Aufflammen, oder dies ist der kalte Brand in der Verzweiflung, dies Nagende, dessen Bewegung immer mehr sich nach innen richtet, tiefer und tiefer in ohnmächtiger Selbstverzehrung.« (S. 18)

Was Kierkegaard hier so eindrucksvoll beschreibt, ist die christliche Hölle, genauer: das Höllenfeuer der christlichen Hölle, das von dem vernichtenden Feuer, mit dem wir alltäglich umzugehen pflegen, aber auch von dem Feuer im Purgatorium nach Ansicht der mittelalterlichen Theologen grundverschieden ist, denn, so Jacques Le Goff: »Das Höllenfeuer brennt, ohne zu vernichten, denn die Verdammten werden auf alle Ewigkeit gemartert. Wenn es also ein Feuer gibt, das ewig brennt, ohne zu verzehren, warum sollte Gott nicht ein Feuer geschaffen haben, das brennt und dabei nur die Sünden tilgt, den Sünder also läutert? Die Feuer, die brennen, sind nichtsdestoweniger wirklich.« 67

Das Fegefeuer im christlichen Purgatorium wirkt also verzehrend und dadurch uroborisch-kathartisch, das christliche Höllenfeuer und das der profanen Verzweiflung wirkt gerade nicht verzehrend, 1815 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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sondern nur ewig nagend und ewig quälend und dadurch gerade nicht uroborisch-kathartisch und kann somit den zur Höllenqual verdammten Christen und den Verzweifelten dadurch ewig quälen, sodaß er, laut Kierkegaard, »sich nicht selbst (uroborisch) verzehren kann, nicht sich selbst (und damit seine Verzweiflung) los werden kann, nicht zu Nichts werden kann.« (S. 19) Ganz analog dazu verzehrt sich auch das verzweifelte Auflachen nicht selbst und wirkt dadurch auch nicht wirklich kathartisch, sondern benagt sich nur selbst und zerstört damit auch die ideale, in sich teleologische Verlaufsgestalt des Lachens, und somit ist auch das verzweifelte Auflachen die qualvolle Selbstbenagung des Lachenden, eine Bekundung von Autoaggression und Selbsthaß, die den Verzweifelten noch tiefer in die Verzweiflung treibt, ganz so wie dies bei Anton Reiser der Fall ist, der sich verzweifelt ein »neues Selbst« (S. 51) wünscht. Wenn man das verzweifelte Auflachen mit dem empörten Auflachen vergleicht, ähneln sich beide in ihrer Aggressivität, und deshalb klingen beide auch ähnlich bellend und gellend, unterscheiden sich aber wiederum deutlich dadurch, daß Empörung eine deutliche Hauptvollzugsrichtung nach oben hat, die Verzweiflung aber keine erkennbare Hauptvollzugsrichtung aufweist, sondern wirr nach allen Richtungen kippt und sich deshalb auch gegen den Verzweifelten selbst richten kann. Wenn man nach einem sprachlichen Analogon für beide Verhaltensweisen sucht, so bietet es sich an, das empörte Auflachen in Analogie zum Fluchen gegen Gott und die Welt zu sehen, das verzweifelte Auflachen aber in Analogie zur unerhörten und unerlösten Weheklage, wie sie Adrian Leverkühn in Thomas Manns Doktor Faustus als Höllengelächter der Teufel und der Verdammten 68 in Musik faßt. So gesehen ist das verzweifelte Auflachen die einzige Variante des Bekundungs-Lachens, die zwar ins Freie, Offne und Weite führen will, dies aber nicht wirklich erreicht. Und dies dürfte auch der Grund dafür sein, daß das verzweifelte Auflachen nicht ansteckend wirken kann, sondern nur tief irritiert und verstört, denn auch jedes dadurch angeregte Resonanz-Lachen wäre ein Weg ins Freie, Offne und Weite. 1816 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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3.5.2.2.12 Das Phobos-Lachen Das Phobos-Lachen, das man, wie Hermann Schmitz dies tut, auch als »metakritisches Lachen«69 bezeichnen kann, ist neben dem verzweifelten Auflachen wohl die unheimlichste Variante des Bekundungs-Lachens, die es überhaupt gibt, denn das Phobos-Lachen ist der Nachhall gespürter Vernichtung, der man gerade noch entkommen ist. Man könnte auch sagen: Das qualvolle Phobos-Lachen ist das Lachen im Schlagschatten des Todes. In der Einleitung 70 habe ich einen solchen Fall beschrieben, wo sich ein Arbeitskollege, den der Hauch des Todes gestreift hatte, sich seine Todesangst buchstäblich vom Leib lachte. Auf den ersten Blick könnte man das Phobos-Lachen auch als die extrem gesteigerte Variante des erleichterten Auflachens deuten, sollte dies aber nicht tun, denn beim erleichterten Auflachen ist die Bedrängnis ein für alle Mal vorüber, wohingegen sie beim PhobosLachen noch übergewaltig präsent ist und so lange qualvoll nachwirkt, bis der Betroffene sich endlich aus dem Schlagschatten des Todes herausgelacht hat. Schon eher vergleichbar ist das Phobos-Lachen mit dem empörten Auflachen, weil man auch hier die Bedrängnis noch mit sich schleppt und als weiterhin wirkende Beleidigung des eigenen Gerechtigkeitsgefühls empfindet. Der Unterschied besteht aber darin, daß einem beim Phobos-Lachen die eigene Todesangst als ungleich größere Bedrängnis weiterhin qualvoll im Nacken sitzt, weil hier nicht die eigene Wertewelt vernichtet worden ist, sondern der eigenen Person als ganzer die Vernichtung drohte. Es gibt aber noch einen weiteren gravierenden Unterschied zum erleichterten und empörten Auflachen: Manifestiert sich beim erleichterten Auflachen ein synergetischer Bewegungsdrang nach oben-außen-vorn, weil das Bedrängende hinter uns liegt, und beim empörten Auflachen ein analoger nur nach oben, weil das Bedrängende oben liegt und dort angegriffen werden soll, so manifestiert sich das Phobos-Lachen als heftige Bewegung-auf-der-Stelle und gleicht somit eher der panischen Angst als gehindertem Fluchtimpuls 71, weil man hier das Bedrängende gerade nicht hinter sich lassen kann, sodaß jemand, der auf diese Weise lacht, gleichsam mit 1817 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

bebenden Fingern die Fesseln zu lösen sucht, die ihn an diesen Schlagschatten des Todes binden. Soweit ich sehe, hat James Sully dieses Phobos-Lachen als erster beschrieben. Er nennt es »nervöses Gelächter« (nervous laughter) 72 und deutet es als »krampfhaften Ausbruch (spasmodic outburst), der oft einem Angstschock (shoc of fear) folgt« 73, der sich in gefährlichen Situationen ergeben hat, und spricht diese Art von Gelächter v. a. Frauen und Kindern zu. Ähnliche Fälle führt Martin Grotjahn 74 an. All diese Situationen sind dadurch gekennzeichnet, daß die davon Betroffenen nicht bloß die Orientierung und die situationsspezifische Besonnenheit verloren haben, sondern wirkliche Todesangst erlebt haben, und dieses Erlebnis drohender Vernichtung sitzt den Betroffenen dann noch eine ganze Weile als Schreck tief in den Knochen und muß kathartisch abgelacht werden. Hier liegt wohl auch der Grund dafür, daß das Phobos-Lachen genauo wenig ansteckend wirkt wie das empörte Auflachen. Oder genauer: Was am Phobos-Lachen ansteckend wirkt, ist der tiefe Schreck, der dem Betroffenen noch im Nacken sitzt, weshalb die Zeugen eines solchen Szenarios ebenfalls erschrecken, ganz so, wie wenn man Zeuge eines epileptischen Anfalls wird. Weil dieser Schreck aber ein gleichsam indirekter ist, und nicht aus eigener Todesangst resultiert, muß der Zeuge eines solchen Szenarios nicht auch lachen, um diesen Schreck kathartisch abzulachen. Typisch für das Phobos-Lachen ist die ekstatisch überdehnte konvexe Haltung als Signatur extremer, völlig wehrloser Selbstpreisgabe und tiefster personaler Regression, weil hier das »Explodieren der Angstspitze« (Baader) die äußerste Steigerung erfährt, wenn die Schreckstarre panischer Todesangst den Betroffenen so weit außer sich geraten ließ, daß er Mühe hat, sich wieder einzuholen und wieder zu sich zu finden. Bei keiner Art von Gelächter zeigt der uroborische Impuls seine rettend kathartische Wirkung also deutlicher als hier, weil er den zu Tode Erschrockenen buchstäblich ins Leben und in die volle Personalität zurückholt, wohingegen der Verzweifelte durch sein verzweifeltes Gelächter seine Verzweiflung nicht kathartisch abreagieren kann. Aus diesem Grund kann es auch kein Phobos-Lächeln geben, genauo wenig, wie es ein verzweifeltes oder empörtes Lächeln geben kann. 1818 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette I: Das Bekundungs-Lachen

3.5.2.2.13 Bilanz Wie wir gesehen haben, bewegen sich bestimmte Varianten des Bekundungs-Lachens wie z. B. das Lachen der Erleuchtung und das unerleuchtete alberne Lachen auf einer mehr oder weniger breiten Intensitätsskala zwischen leichtem Lächeln und lautem Lachen. Andere hingegen sind nur als exzessives Auflachen möglich und lassen sich grundsätzlich nicht zum Lächeln herunterdimmen wie z. B. das euphorische, das triumphale, das erleichterte, das empörte und das verzweifelte Auflachen, und für das metakritische PhobosLachen gilt dies erst recht. Wieder andere wie das vielsagende, das erfüllte und das strahlende Lächeln sind nur als Lächeln denkbar und lassen sich nicht zum lauten Gelächter steigern, ohne ihren spezifischen Charakter zu verlieren. Dieser Befund legt uns nahe, Plessners These, Lächeln sei eine »Ausdrucksform sui generis« (VII,430), weil es »von sich aus nicht zum Lachen strebt« (VII,430), noch einmal zu überprüfen. Den Schlüssel zur Lösung dieses Problems findet sich in F. J. J. Buytendijks Hauptwerk Allgemeine Theorie der Handlung und Bewegung 75, das 1948 in Holland erschien. Dort setzt sich Buytendijk im Kapitel »Expression durch Exzitation und Irradiation« (S. 215 ff.) ausführlich mit den Versuchen von Duchenne auseinender, der durch elektrische Reizung der Gesichtsmuskeln bei seinen Probanden bestimmte Reflexe 76 provoziert hatte, die wie ein Lächeln oder Grinsen wirkten, was dann als »DuchenneLächeln« in die gelotologische Literatur eingegangen ist und seit Spencer, Darwin und Dumas bis herauf zu Koestler und zur heutigen darwinistisch und behavioristisch orientierten Gelotologie als ernstzunehmender Beitrag gilt. Dieser mechanistischen Reiz-Reaktions-Theorie erteilt Buytendijk eine vernichtende Abfuhr, indem er klar macht, daß Lachen, mit Erwin Straus gesprochen, in all seinen Varianten kein blindes Reiz-Reaktions-Geschehnis, sondern ein Antwortverhalten auf ein Widerfahrnis und somit ein Erlebnis ist, weil »Reizung als quantitativ physiologischer Begriff etwas ganz anderes ist als Reizung im funktionalen Sinne. Diese ist nicht nur stets qualitativ (weil sie auf einen spezifischen Reiz spezifisch antwortet und nicht blind

1819 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

stereotyp), sondern sie enthält auch immer schon dynamische Elemente. Dadurch jedoch ist sie mit der Aktivität der Person, mit ihrer SelbstBewegung und Intentionalität verknüpft.« (S. 220)

Mit einem Wort: Ein Organismus reagiert auf Reize ganz stereotyp durch entsprechende Muskelspannungen, eine Person reagiert situationsspezifisch individuell, weil es für sie unangenehme und angenehme Reize gibt, die dementsprechend beantwortet werden wollen. Übertragen auf Lachen und Lächeln bedeutet dies: »Das Lächeln ist insofern paradox, als seine Muskelspannung als die Lösung einer aktiven Ruhehaltung erlebt wird. Das liegt daran, daß die Ruhehaltung in Auseinandersetzung mit der Außenwelt als ein Verschlossen-Sein, der sich im Lächeln offenbarende innere Zustand dagegen als ein Sich-Öffnen erlebt wird.« (S. 220)

Dies gilt allerdings nur für das Interaktions-Lächeln, das an jemanden adressiert ist. Und deshalb ergänzte und präzisierte Buytendijk zehn Jahre später diese These in seinem Aufsatz über das erste Lächeln des Kindes dahingehend, daß das stille Bekundungs-Lächeln noch ambivalente Versammeltheit bekunde, das InteraktionsLächeln und jedes laute Lachen hingegen schon eine Hinwendung zur Welt seien, denn nun schreibt er: »Das Paradoxe des Lächelns ist nun, daß es in einer aktiven Anspannung der Muskeln besteht, die als eine beginnende Entspannung einer aktiven Ruhehaltung erlebt wird. So ist das Lächeln der Ausdruck einer Schwellensituation, einer noch gerade nicht durchbrechenden Überschwenglichkeit, eines sich aufschließenden Geschlossenseins, eines selbstgenügsamen, immanenten Wohlbehagens und einer antizipierenden, transzendierenden Freude.« (S. 117)

Diese Passage, die ich oben schon einmal zitiert habe, liest sich nun etwas anders, denn nun wird klar, daß alle Varianten ambivalenter Versammeltheit als aktive Ruhehaltung sich nur als vielsagendes, leeres, erfülltes oder strahlendes Lächeln bekunden und deshalb auch nie zum lauten Lachen gesteigert werden können, weil damit die ambivalent in sich ruhende Versammeltheit aufgebrochen und die aktive Ruhehaltung durch diese Öffnung zur Welt zerstört werden müßten. Die Offenheit zur Welt aber kann immer mehr oder weniger intensiv sein, sei es als Irritation durch etwas oder als Flucht ins 1820 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

Freie oder als Aggression gegen etwas, weshalb es auch beliebig viele Grade von Irritation, Albernheit und Erleuchtung geben kann, die sich dann u. a. auch in unterschiedlichen Varianten von Bekundungs-Lachen mit unterschiedlichen Graden von Intensität manifestieren können. Für alle Varianten des Interaktions- und Resonanz-Lachens gilt dies sowieso, weil sie von vornherein und immer schon eine Öffnung zur Welt und zum Interaktionspartner sind. Alle Varianten des Lachens aber, die Euphorie, Triumph, Erleichterung, Empörung, Verzweiflung und überstandene Todesangst bekunden, lassen sich grundsätzlich nicht als aktiv versammelte Ruhehaltung erleben und ausagieren, weil sie aus erregter Getriebenheit resultieren und deshalb auch nur als exzessives Gelächter ausagiert werden können, nicht aber als Lächeln oder Grinsen und nicht einmal als Kichern. Dies zeigt sich übrigens auch im Habitus, der bei all diesen genannten Gefühlen zur mänadenhaft konvexen Überdehnung tendiert und eine extrem gesteigerte Körperspannung verrät, die sich dann im ekstatisch exzessiven Gelächter zu entspannen sucht. Plessners These, das Lächeln sei keine Anfangs- oder Schwundstufe des Lachens, sondern eine »Ausdrucksform sui generis« ist in dieser Allgemeinheit also offensichtlich falsch und gilt nur für bestimmte Formen des Lächelns als Bekundung ambivalenter, in sich ruhender Versammeltheit. 3.5.3 Lachpalette II: Das geloiastische Lachen 3.5.3.1 Thesen zum geloiastischen Lachen • Alles geloiastische Lachen ist tendenziell unverfügbares Bekundungs-Lachen und besteht aus unterschiedlich intensiven Varianten des Lachens der Erleuchtung. • Alles geloiastische Lachen bekundet Betroffenheit durch Komisches oder Lächerliches und entspricht im Hinblick auf Intensität und Verlaufsgestalt dem Anlaß, der es auslöst, aber auch der Einstellung des Lachenden zum geloiastischen Objekt. • Komisches wird belacht, Lächerliches wird verlacht. 1821 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

• Jede Art von Komik und Lächerlichkeit resultiert aus objektimmanenten Widersprüchen aller Art, die der Betrachter im Mitgehen an und in sich selbst als leibliche Spannung spürt und austrägt und im Lachen auszugleichen sucht. • Komik und Lächerlichkeit sind keine objektiven Qualitäten, sondern perspektivische Anmutungen, die jemand als jemand wahrnimmt. • Nur menschliches Verhalten kann komisch und/oder lächerlich sein, vermenschlichtes nur komisch. • Alle Komik ist entweder Pointen-Komik oder Verlaufs-Komik; d. h. Komik kann als Pointen-Komik mit finaler Pointe, als episodische Pointenfolge oder als pointenlos komischer Gestaltverlauf erscheinen. • Jede Art von Verlaufs-Komik ist die Signatur einer ungefährlichunbedrohlichen Privation des ausgezeichneten Verhaltens. • Jede Art von Pointen-Komik beruht auf dem teleologisch orientierten Szenario Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch, Ekstase. • Jede Art von Pointen-Komik organisiert eine blitzartige Erkenntnis. • Jede Art von Komik oder Lächerlichkeit manifestiert sich in Varianten personaler Regression. • Alle Wahrnehmung von Komischem und Lächerlichem erfolgt durch Mitgehen und Einleibung. • Alle Wahrnehmung von Lächerlichem erfolgt außerdem auch noch als implizite negative Wertung nach Maßgabe eines normativen ethischen Urteils. • Es gibt Komik ohne Lächerlichkeit und Lächerlichkeit ohne Komik; es gibt aber auch Komik im Dienste des Lächerlichen, die ein indirektes Verlachen organisiert. • Lächerlichkeit braucht keine Pointe zur Auslösung des Verlachens, sondern nur einen Verankerungspunkt als Anlaß. • Alles Verlachen des Lächerlichen ist direkt oder indirekt adressiertes Bekundungs-Lachen, aber adressiert ohne Blickkontakt. • Die Wahrnehmung von Komik und Lächerlichkeit setzt entfaltete Personalität voraus.

1822 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

3.5.3.2 Rekapitulierende Vorbemerkung Auf das geloiastische Lachen als Antwort auf das Komische und Lächerliche sind wir im Verlauf dieser Untersuchung schon mehrfach eingegangen: Zum ersten Mal in den Platon-Kapiteln 2.2.7 und 2.2.8, in denen wir gesehen haben, daß Platon das Verlachen aus der Konkurrenzsorge phthonos abgeleitet und auf die Formel gebracht hatte: »Verkenn’ dich selbst und mach’ dich lächerlich!« Weitaus fündiger sind wir in den Joubert-Kapiteln 2.9.4 und 2.9.5 geworden, wo wir auf die zentralen Themen der enttäuschten Erwartung und der Privation des ausgezeichneten Verhaltens gestoßen sind, die das Wesen des Komischen entscheidend mitbegründen, und wo wir außerdem gesehen haben, daß auch Komik wesentlich durch Einleibung wahrgenommen wird. Dieser Gedanke taucht erst viel später wieder bei Kant, Herder, Jean Paul und vor allem bei Hermann Schmitz wieder auf. Ähnlich ertragreich hat sich das Kapitel 2.12.6.5 gezeigt, in dem wir aus dem Erbe von Aufklärung und Pietismus die Pointenstruktur krisenhafter Prozesse rekonstruieren konnten, die sich als strikte Abfolge von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase manifestiert und alle möglichen Arten von Erleuchtung auslösen und sich immer auch in Varianten von erleuchtetem Lachen bekunden kann. Die schon in den Joubert-Kapiteln geäußerte und in Kapitel 2.12.6.5 weiter erhärtete Vermutung, das Komische und Lächerliche könne sich aus einer massiven, aber unbedrohlichungefährlichen Diskrepanz zwischen Erwartung und Aufschluß ergeben, hat sich auch in dem Stern-Kapitel 2.16.3.1, in den Plessner-Kapiteln 2.17.4.5.3 und 2.17.4.5.8 und schließlich auch in dem Schmitz-Kapitel 2.18.8.3 weiter bestätigt. Doch nach alledem wissen wir zwar in etwa, warum die ungefährlich-unbedrohliche Enttäuschung einer Erwartung Gelächter aller Art auslösen kann, aber wir wissen immer noch nicht, warum ein bestimmter Anlaß gerade auf diese und nicht auf eine andere Weise mit geloiastischem Lachen quittiert wird, und deshalb ist die Frage nach dem Zusammenhang von Lach-Anlaß und geloiastischem Lachen jetzt noch mal ganz neu zu stellen. Konkreter gesprochen geht es um die Frage, warum uns z. B. der komische Gang 1823 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

eines Pinguins zwar ein Schmunzeln, nicht aber ein schallendes Gelächter zu entlocken vermag, und warum wir andererseits zum lauten Lachen geneigt sind, wenn jemand auf einer Bananenschale ausrutscht und stürzt, wenn wir sicher sein können, daß er sich dabei nicht verletzt hat. Plessner hat diesen genetischen Zusammenhang zwischen LachAnlaß und Lach-Gestalt schlichtweg bestritten, da er explizit von der These ausging, »daß die physische Äußerungsart des Lachens dem Anlaß entspricht und auf ihn reagiert, ohne von ihm geprägt zu sein« (VII,277). Daß Plessner vor diesem prägenden Zusammenhang von Lach-Anlaß und Lach-Gestalt die Augen verschloß, liegt sicher daran, daß Lachen und Lächeln für ihn nicht unterschiedliche Intensitätsgrade desselben Verhaltens waren, sondern selbst wieder als unterschiedliche Verhaltensweisen galten, obwohl das Lachen der Erleuchtung, zu dem ja auch das geloiastische Lachen als eine seiner Varianten gehört, besonders feine Abstufungen zeigt, die vom feinen Schmunzeln und Lächeln über das Kichern und Meckern bis hin zum wiehernden Cachinnus-Lachen reichen. Aus diesem Grund wird die zentrale Frage in diesem Kapitel die nach dem ätiologischen Zusammenhang von Lach-Anlaß und Lach-Gestalt sein müssen, und dabei wird sich die Regel ergeben: Je größer die Spannung ist, die in einem krisenhaften Prozeß aufgestaut wird, desto intensiver ist auch die uroborisch sich verzehrende Verlaufsgestalt des dadurch ausgelösten Lachens, die als »Explosion der Angstspitze« (Baader) ihre ausgeprägteste Gestalt gewinnt. Doch auch hier können wir wieder auf einige Erkenntnisse zurückgreifen, die wir bei der Rekonstruktion der eutrapelistischen Lachkultur in den Kapiteln 2.8.4, 2.12.6.4 und 2.12.6.6.5 gewonnen haben, insbesondere durch die Unterscheidung von finaler Pointen-Komik, episodischer Pointenfolge und perennierender Verlaufs-Komik, die nunmehr ihre Anwendbarkeit und ihre aufschließende Kraft beweisen muß. Zurückgreifen werden wir auch auf Sterns axiologischen Ansatz in Kapitel 2.16.3.1, den wir aber entscheidend einschränken müssen, weil er sich nur für die Analyse des Verlachens von Lächerlichem, nicht aber für das Belachen von Komischem eignet. 1824 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

Daß Komik und Lächerlichkeit im Zusammenspiel ein indirektes Verlachen organisieren können, haben wir schon im FreudKapitel 2.14.7.1.1 gesehen, weshalb wir auf dieses Zusammenspiel eigens noch mal eingehen müssen, weil es z. B. im politischen Witz eine überaus wichtige kulturelle Ritualisierung erfahren hat und diesem durch das dadurch organisierte kynische Auslachen von unten seine politische Entlastungsfunktion sichert. Wie wir in Kapitel 2.12.6.5.2 gesehen haben, war es Lessing, der in seinen Anmerkungen zum Epigramm den Begriff »Pointe« ins Deutsche eingeführt hat. Ausgangspunkt seiner Überlegungen dabei war das Zusammenspiel von Erwartung und Aufschluß, bei dem »unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen.« (12,379)

Diesen Ansatz hatte Lessing selbst schon als ein Strukturprinzip erkannt, das auch jenseits des Epigramms gilt, also überall dort, wo es darum geht, »jede erregte Erwartung immer mit einem neuen und doch wahren, mit einem scharfsinnigen und doch ungekünstelten Aufschlusse zu befriedigen.« (12,408)

In diesem Zusammenhang weist Lessing auch gleich darauf hin, »daß dergleichen Spiele des Witzes Lachen erregen können« (12,397), läßt sich über die Gestalt dieses Gelächters aber nicht näher aus. So viel geht aus seiner Darstellung aber doch hervor, daß es nicht genügt, einfach bloß Aufmerksamkeit zu erregen und diese dann irgendwie zu befriedigen, sondern daß diese Neugierde durch bestimmte Widerstände und Widersprüche hindurch gezielt intensiviert werden muß, um sie dann mit einem Schlag und voll zu befriedigen. Übersetzen wir dieses teleologisch orientierte Strukturprinzip als Zusammenspiel von gespannter Erwartung und plötzlicher Erkenntnis – das heißt in leibliche Dynamik –, so ergibt sich das Zusammenspiel von stetig sich steigernder Anspannung durch ein gegenläufiges Prinzip und plötzlicher Entspannung beim Zünden der Pointe, also beim plötzlichen Durchblicken der Widersprüche, was sich als »Explodieren der Angstspitze« (Baader) manifestiert, also als explosionsartig losbrechendes Bekundungs-Lachen. So hat es Kant im Gefolge von Lessing denn auch beschrieben: 1825 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

»Das Lachen (der Erleuchtung) entsteht aus einer plötzlichen, aber unschädlichen Umkehrung unserer Erwartung. (…) Alles Plötzliche (in Form von plötzlicher Entspannung) bringt bei uns dasselbe hervor, was das Gezwicke einer gespannten Saite thut, und diese Bewegung ist bebend.« (AA,1139)

Wie man sieht, beschreibt Kant die Anmutung durch einen unverhofft plötzlichen pointenhaften Durchbruch als synergetische Wahrnehmung »mit dem Bauch«, also ganz ähnlich wie Joubert als Mitgehen und Einleibung. Und das heißt wiederum, daß der Prozeß von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase, auf dem jede Art von Pointen-Komik beruht, immer zugleich auch als eigenleibliches Spüren vom Betrachter komischer Situationen, Prozesse und Objekte durch Einleibung miterlebt und ausgetragen wird, weshalb Jean Paul auch sagt, das Komische »wohne im Subjekt« (vgl. 49,116). Daß es laut Jean Paul nie im komischen Objekt wohnt, sondern nur im Subjekt, ist allerdings weit übertrieben und wohl auch nicht möglich, weil es sonst gar keine komisch anmutenden Objekte geben könnte oder alles gleichermaßen komisch wirken müßte. Also müssen wir Jean Paul wohl dahingehend korrigieren, daß das Komische nie im Objekt allein wohnt, sondern immer zugleich auch im wahrnehmenden Subjekt. Jean Pauls Wendung, das Komische »wohne« im Subjekt, ist natürlich durch das Deutsch der Luther-Bibel geprägt, wo das Wort »wohnen« neben der alltäglichen Bedeutung auch die Bedeutung von »wirken« hat und in dieser Bedeutung vor allem im JohannesEvangelium und in den Briefen des Apostels Paulus vorkommt. So heißt es z. B. gleich im ersten Kapitel bei Johannes: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.« (Joh. 1,14)

Oder Johannes läßt Jesus in seinen Abschiedsreden sagen: »Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst. Der Vater aber, der in mir wohnt, der tut die Werke.« (Joh. 14,10)

Paulus spricht im Römerbrief z. B. von der Sünde, die in ihm wohnt (7,17), aber auch davon, daß die Kraft Christi bei ihm wohnt (2. Kor. 12,9) oder daß kraft des Glaubens Christus im Herzen des Gläubigen wohnt (Eph.3,17). Aus all diesen Beispielen geht hervor, daß wir »wohnen« auch mit »wohnen-und-wirken« oder 1826 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

bloß mit »wirken« wiedergeben können. Wenn das Komische also laut Jean Paul auf irgendeine Weise im Subjekt wohnt-und-wirkt, dann kann es auch nur als eigenleibliches Spüren wohnen-und-wirken, sodaß man Jean Pauls These auch so wiedergeben kann, daß man sagt: Das Subjekt wohnt und wirkt in dem eingeleibten komischen Objekt, sodaß beide zusammen eine neue Gesamtgestalt mit einer eigenen leiblichen Dynamik bilden, ganz so wie dies beim Mitgehen auch sonst der Fall ist. Doch dann stellt sich sofort die Frage, worin denn diese zugespitzte Spannung besteht, wenn sie nicht allein in der gespannten Erwartung auf etwas Künftiges besteht. Die Antwort kann wohl nur lauten, daß es die Körperspannung ist, um die es hier geht, also der labile Spannungszustand des motus tonicus vitalis, aus dem sich laut Stahl »plötzliche heftige, ja bisweilen höchst gewaltsame Aufregungen der vitalen tonischen Bewegung« 77 ergeben könne, wenn das Band, das sie zusammenhält, beim Durchbruch auf dem Höhepunkt der Spannung zerreißt, sodaß sich eine »zuckende und reißende Bewegung« 78 ergibt, wie dies auch bei einem herausplatzenden Gelächter der Fall ist, und das auslösende Moment dafür ist eben die Pointe, genauer: das Durchblicken der Pointe. Doch wodurch wird dieser in sich antagonistische Tonus erhöht? Und wie kann die Anmutung des Komischen ihn erhöhen? Wenn die oben angeführte These stimmt, daß komische Objekte, Verhaltensweisen und Situationen generell durch massive immanente Widersprüche geprägt sind, und daß die Wahrnehmung des Komischen über Einleibung erfolgt, sodaß sie eingeleibt immer auch im Subjekt der Wahrnehmung wohnt-und-wirkt, so läßt sich die generelle Regel formulieren: Die Widersprüche, die im komischen Objekt wohnen-und-wirken, entsprechen der jeweiligen Körperspannung, die im Subjekt der Wahrnehmung des Komischen wohnt und wirkt, im Grad ihrer jeweiligen Intensität. Sind die Widersprüche im Objekt also besonders hoch, ist auch die eigenleiblich gespürte Körperspannung besonders hoch, und wir werden zwischen einem »Aber nein!« und einem »Oder doch?« buchstäblich eingespannt und hin und her gezerrt. Die hier relevanten objektimmanenten Widersprüche können mehrdeutige Formulierungen, massive Kontraste zwischen dem Erwarteten 1827 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

und dem Eingetroffenen oder zwischen Situation und vermeintlichem Sachverhalt sein. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn man in einer katholisch-konservativ geprägten Kleinstadt auf einem Straßenschild »Spartakusplatz« liest, zuckt man erst mal zusammen und ist einigermaßen verblüfft, weil das ja wohl nicht wahr sein kann. Schaut man noch mal nach und liest dann »Sparkassenplatz«, so weicht die Verblüffung schlagartig der Belustigung, weil durch die Entblüffung die Welt dieser Kleinstadt wieder ins Lot gerückt worden ist. Liest man in der Zeitung die Formulierung »Senkrechtstarter XY vom Bundesverteidigungsministerium«, so ist man wohl auch einigermaßen verblüfft; liest man aber noch mal nach und findet, daß die Formulierung »Staatssekretär XY vom Bundesverteidigungsministerium« lautet, so könnte die Belustigung schon etwas größer sein, weil die erste Lesart zwar falsch war und falsch bleibt, aber in einer gewissen Weise doch auch wieder richtig ist, weil das Wort »Senkrechtstarter« sich für den, der sich da verlesen hatte, unter der Hand eine zweite Bedeutung zugelegt hatte, die die eigentliche Bedeutung »Staatssekretär« in einem ganz neuen und unerwarteten Sinn und sogar ziemlich treffend definiert. In diesem Fall verläuft das Spiel von Verblüffung und Entblüffung also etwas komplizierter über die Schritte »Aber nein!« – »Oder doch?« – »Und doch nein!« – »Und doch ja!« – »Und wie!« Arthur Koestler würde dieses heitere Spiel mit Bedeutungen als »Bisoziation« (S. 25 ff.) bezeichnen, Hermann Schmitz als »ambivalente Identität des Verschiedenen« 79, aber beide meinen genau dasselbe. Liest man aber statt »Bachbett« »Bauchfett« (oder umgekehrt), so zuckt man höchstens mit den Achseln, offensichtlich deshalb, weil sich diese beiden Wörter längst nicht so »beißen« wie »Sparkassenplatz« und »Spartakusplatz« oder »Senkrechtstarter« und »Staatssekretär«, deren jeweiliger Hof an Assoziationen gar zu konträr ist. Nicht viel anders ist es, wenn der Computer das Wort »Glutkern« für einen Rechtschreibfehler hält und einem dann das Wort »Gluckern« als Ersatz anbietet. Derartige momentane Einbrüche sprachlicher Artikulationsund Lesefähigkeit sind aber nur ein Aspekt personaler Regression neben vielen anderen, die in gleicher Weise komikträchtig sein können, wenn sie sich als mehr oder weniger massive Einbrüche des 1828 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

ausgezeichneten Verhaltens als der Signatur personaler Emanzipation manifestieren. Dies gilt vor allem vom Habitus, also der aufrechten Haltung beim Gehen und Stehen, vom Gestus im Sinne beherrschter Bewegung und vom Vultus im Sinne einer beherrschten Mimik. All dies kann ins Ungestalte entgleisen und wirkt dann mehr oder weniger komisch, und es kann entgleisen durch langsame Erosion oder durch plötzliche Implosion. Implodiert es plötzlich, ergeben sich verschiedene Varianten von Pointen-Komik, erodiert es allmählich ins Ungestalte und verbleibt darin über kürzere oder längere Zeit, haben wir Varianten von Verlaufs-Komik vor uns. Der Begriff acumen, den wir seit Lessing mit »Pointe« 80 wiedergeben, stammt bekanntlich aus der antiken Rhetorik, wurde aber schon von Augustinus auf außer-rhetorische medizinische und psychologische Fragestellungen übertragen, da er in seinen Bekenntnissen dort, wo er seine Bekehrung zum Christentum schildert, ausdrücklich vom »acumen Dei« spricht, weil dieser »Stachel Gottes« (S. 175) ihm gleichsam den Star gestochen habe, wodurch ihm dann auch plötzlich und blitzartig das Licht des Glaubens aufgegangen sei und den krisenhaften Prozeß von Anspannung, Zuspitzung, Durchbruch und Ekstase glorreich abgeschlossen und dadurch »Trauer in Freude« (S. 216) verwandelt habe. An diesem Damaskus-Erlebnis von Augustinus orientierten sich alle autobiographischen Zeugnisse von Bekehrungen, die wir aus der Christenheit kennen. Daß all diese Zeugnisse so stereotyp erscheinen, liegt aber wohl weniger daran, daß all diese Bekehrten und Wiedergeborenen von Augustinus abgeschrieben hätten, sondern eher daran, daß hier ein anthroponomes Szenario von strenger Gesetzmäßigkeit vorliegen dürfte, das auch weit jenseits des religiösen Bereiches gilt und sich deshalb auch angemessen als Spiel leiblicher Dynamik verstehen, darstellen und deuten läßt. Besonders deutlich zeigt sich dies in Franz von Baaders Aufsatz Über den Blitz als Vater des Lichtes 81 von 1815, den Baader in engster Anlehnung an Jakob Böhmes Aurora geschrieben hat, wo Böhme dargestellt hatte, wie er vom heiligen Geist erleuchtet wurde, sodaß auch bei ihm »der Geist durchbrach«. Ausgangspunkt für Baader ist die Frage, wie das blitzartig Plötz1829 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

liche zustande kommt, und seine Antwort lautet, daß dies nur dadurch geschehen könne, daß extreme immanente Spannungen sich bis zum Höhepunkt steigern, wo sie dann buchstäblich explodieren, was laut Baader ausdrücklich auch für die Körperspannung, also für den tonos gilt, und deshalb schreibt er: »Jakob Böhme war der erste Naturkundige (Deutschlands und der Welt), welcher bei seiner Feuer- und Licht-, d. h. Lebenstheorie jenes Übergangsmoment als Blitz saisierte, eben hiermit eine derlei Theorie überall erst möglich machend« (S. 54),

und zwar eine Theorie, die »für Physik wie Ethik (Religion)« (S. 54), aber eben auch für die Anthropologie in gleicher Weise gültig sein soll, denn: »Unverkennbar ist in der dunklen Feuergärung (…) die Steigerung eines sich wechselseitig setzenden und spannenden Konflikts oder Gegensatzes: der (…) bei einem gewissen Momente der Spannung seine Akme erreicht, in welchem das zur Freiheit, d. h. zu leuchten Strebende (…) seinen bis dahin brennenden Gegensatz erschöpft und überwindet (seine Kraft als Siegesbeute in sich tragend), und dies Durchbrechen ist eben ein Durchblitzen (ein Explodieren der Angstspitze).« (S. 55)

Was Baader hier in engster Anlehnung an Jakob Böhme beschreibt, ist also der blitzartige Umschlag von privativer Enge in privative Weite, also genau das, was auch beim Zünden einer Pointe die blitzartige Erweiterung und Erhellung des eigenen Horizonts bewirkt und sich als ekstatischer Lachausbruch bekundet. Was Baader als »Angst« bezeichnet, haben wir bisher mit Hermann Schmitz als »Enge« oder »Engung« bezeichnet; was Baader als »Angstspitze« bezeichnet, haben wir als »Zuspitzung« bezeichnet, und was Baader als »Explodieren der Angstspitze« bezeichnet, ist eben der Durchbruch als blitzartiges Umschlagen von privativer Enge in privative Weite beim explosionsartig herausbrechenden, ekstatischen LachOrgasmus, der den Lachenden zu zerreißen droht, aber gleichwohl als höchste Lust empfunden wird. Damit sind wir nun so weit, das eigentliche Thema der Geloiastik anzugehen, also den ätiologischen Zusammenhang von Lach-Anlaß und Lach-Gestalt.

1830 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

3.5.3.3 Einige Varianten des geloiastischen Lachens als mimetisches Korrelat von Pointen-Komik Lessing hatte das Wesen der Pointe anhand der dramatisch-teleologischen Struktur des Epigramms erläutert, die darin besteht, »daß unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten (und damit entsprechend gesteigert) werden, um sie mit eins zu befriedigen.« (12,379)

Ganz analog sind Witze gebaut, denn auch sie enthalten diesen teleologischen Impuls, der die Erregung des Zuhörers oder Lesers gezielt steigert, um sie dann auf dem Höhepunkt in einer finalen Pointe implodieren zu lassen. Bei diesem blitzartigen Umschlagen von privativer Enge in privative Weite entspricht dann der Implosion der gezielt erzeugten Spannung die Explosion des ekstatischen Gelächters in ihrer jeweiligen Intensität. Und außerdem gilt die Regel: Je zielsicherer die Erregung des Zuhörers oder Lesers durch den teleologischen Impuls in der Dramaturgie eines Witzes gesteigert worden ist, desto ausgeprägter manifestiert sich auch der uroborische Impuls bei dem Lachen, mit dem der jeweilige Witz beantwortet wird. Und das heißt wiederum: Je größer die Anspannung ist, die durch das Lachen sich wieder löst, desto ausgeprägter ist auch die Verlaufsgestalt des jeweiligen Gelächters, desto tiefer ist der lustvolle Sturz in personale Regression und desto länger dauert die genauso lustvolle Wiederaufrichtung zum Status erneuerter personaler Emanzipation. Aus diesem Grund kann sich das geloiastische Lachen auch auf einer ganz breiten Skala bewegen, die vom Schmunzeln übers Kichern und kurze Auflachen bis zur veritablen Lach-Arie reicht. Allerdings darf man sich dieses Verhalten nicht als stereotyp ablaufenden Reiz-Reaktions-Mechanismus vorstellen, weil hier immer jemand als jemand in einer spezifischen Situation etwas als komisch empfindet, sodaß dem geloiastischen Lachen gleichsam ein Rezeptionsfilter vorgeschaltet ist, der das Lachverhalten jeweils entsprechend modifiziert. Nehmen wir folgenden Witz als Beispiel: Zwei Schmeißfliegen krabbeln auf einem Haufen Scheiße und mümmeln vor sich hin, und nach einer Weile ergibt sich folgender Dialog: 1831 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

Die eine: Du, ich weiß einen Witz. Die andere reagiert nicht, sondern mümmelt ruhig weiter. Die eine: Willst ihn hören? Die andere reagiert immer noch nicht, sondern mümmelt immer noch ruhig weiter. Die eine: Du, der ist aber gut! Willst ihn wirklich nicht hören? Die andere: Nein. (Und mümmelt weiter.) Die eine: Du, der ist aber wirklich gut! Die andere: Nein! Ich will ihn einfach nicht hören. Ich kenn’ doch deine Witze. (Und mümmelt weiter.) Die eine: Aber der ist ganz anders als alle die du kennst. Also soll ich? Die andere: Na gut, dann er zähl’ schon. Aber ich sag’ dir: Erzähl’ mir ja keinen ekligen! Grade jetzt! Beim Essen!

Jetzt kann der Leser an sich selbst feststellen, wie intensiv er über diesen Witz lacht, wenn er denn überhaupt darüber lachen kann. Rein formal enthält dieser Witz all die Elemente, die Lessing schon am Epigramm festgestellt hatte: die Erregung der Aufmerksamkeit, die Hinhaltung der Neugierde, die Erhöhung der Spannung und deren Befriedigung. Aber dieser Aufschluß erfolgt in einer Art, mit der man als Zuhörer oder Leser sicher nicht gerechnet hat, weil die erwartete Pointe, also der zu erzählende neue Witz, durch eine ganz andere, quasi durch eine Meta-Pointe ersetzt wird, die dadurch um so überraschender wirkt, weil das Spiel von Verblüffung und Entblüffung auf eine ganz neue Ebene gehoben und dort ausgetragen wird. Doch eine finale Pointe bleibt auch diese Meta-Pointe immer noch. Nun kann man sich leicht vorstellen, in welchem sozialen Milieu ein Witz dieser Art auf welche Art aufgenommen und goutiert wird oder aber abgelehnt wird, weil er selbst als ekelhaft empfunden wird, und danach wird sich wohl auch die Intensität des Gelächters richten, die er jeweils auslöst, wenn er denn, wie gesagt, überhaupt mit Gelächter quittiert wird. Es wäre aber auch denkbar, daß jemand über diesen Witz sogar lachen möchte, sich dies aber nicht erlaubt, weil er befürchtet, dann unter seinem eigenen Niveau lachen zu müssen. Am Stammtisch in der Dorfkneipe wird dies allerdings wohl nicht der Fall sein, denn in diesem Milieu darf man sicher sein, daß dieser Witz dröhnendes Gelächter auslösen wird, im Refektorium bei den Englischen Fräulein wohl eher nicht. 1832 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Es wäre aber auch der Fall denkbar, daß jemand das Spiel mit der Verschiebung der Pointe auf die Meta-Ebene nicht durchschaut und deshalb die Frage stellt, wie denn der Witz gelautet habe, den die eine Schmeißfliege der anderen erzählen wollte. In diesem Fall hätten wir schon wieder eine neue Pointe, die wieder eigens belacht werden könnte, doch diese Pointe auf einer wieder neuen Ebene ist zwar nicht weniger komisch als die eigentlich anvisierte, aber eben keine dramaturgisch kalkulierte, sondern eine unfreiwillig entstandene, die sich der Unbedarftheit des Zuhörers verdankt. Oder anders formuliert: Diese Pointe auf der dritten Ebene ist zwar komisch, aber nicht witzig, denn unfreiwillige Witzigkeit gibt es nicht, es gibt nur unfreiwillige Komik. Hier liegt auch der Grund dafür, daß man Pointen nicht erklären kann. Oder genauer: Man kann Pointen sehr wohl erklären, kann dadurch aber nicht zum Lachen provozieren, weil jede diskursive Erklärung Schritt für Schritt vor sich geht und bestenfalls ein Aha, aber kein Aha-Lachen bewirkt, das auf jedem Intensitätsniveau allein durch eine plötzliche Erleuchtung ausgelöst werden kann, die außerdem immer eine eigene sein muß. Der Leser oder Hörer eines Witzes muß sich das Vergnügen einer überraschenden Entdeckung beim Durchblicken der Pointe also schon selbst bereiten. Sartre hat dieses Problem glänzend auf dem Punkt gebracht, wenn er schreibt, Lesen allgemein sei »gelenktes Schaffen« 82, was für das Verstehen von Pointen-Komik erst recht gilt, weil er hinzufügt: »Der Leser hat das Bewußtsein, gleichzeitig zu enthüllen und zu schaffen, im Schaffen zu enthüllen und durch Enthüllen zu schaffen.« (S. 28)

Man muß nur noch hinzufügen, daß diese Zugleichheit von Enthüllen und Schaffen bei aller Art von Pointen-Komik als plötzlicher Durchblick, nach gezielten Hinhaltungen und als Selbstbehauptung gegen gezielt organisierte Beirrung geschieht. Da das geloiastische Lachen als Reaktion auf final orientierte Pointen-Komik immer eine Variante des Lachens der Erleuchtung ist, gleicht es wie dieses in seinen intensiveren Ausprägungen auch dem umfassend zentrifugalen Triumph-Lachen, das Hobbes als »sudden glory« beschrieben hat, weil mit dem Triumph-Lachen ja 1833 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

immer eine eigene Leistung gefeiert wird und die von Sartre beschriebene Zugleichheit von Schaffen und Enthüllen ebenfalls eine eigens zu erbringende Leistung ist, die aber nur der erbringen kann, der eine Pointe auch kapiert. Ist die Pointe zu leicht zu kapieren, gibt es also zu wenig zu schaffen und zu wenig zu entdecken, so quittiert man eine schale Pointe bestenfalls mit einem müden Lächeln oder einem Achselzucken oder man wendet sich ärgerlich ab, weil man sich unterfordert sieht. Wieder ganz anders ist die Verlaufsgestalt des geloiastische Lachens als Antwort auf eine Folge von episodischen Pointen, wie sie für die eutrapelistische Variante der ars iocandi et ridendi typisch ist, wo im witzigen Gespräch ein Pointen-Pingpong inszeniert wird, bei dem jede Pointe eine weitere zu provozieren sucht und das Gelächter darüber zu einem Lach-Bordun aus kurzen Auflachern gerät, die sich immer wieder neu aneinander entzünden und dadurch eine heitere Atmosphäre 83 erzeugen, die sich wie eine schwebend leichte Wolke über die heitere Runde breitet. Verstehen sich die Mitglieder einer solchen Runde als heitere Weise in der Tradition von Horaz und orientieren sich demgemäß an dessen Maxime Dulce est desipere in loco 84, so ist der plebejische Antipode zu diesem elitären Idealtypus der Possenreißer, Hordenclown oder Kantinenkomiker, der durch das Niedrig-Komische der Blödelei geloiastisches Lachen provozieren will, das er in aller Regel auch gleich selbst in Form von kurzen Auflachern anstimmt, um dadurch seine Umgebung zum Lachen über seine blöden Witze zu ermuntern. Die Fusion beider Varianten geloiastischer Praxis wäre die Blödelei als explizites Rollenspiel oder Rollenrede, wie wir sie in der makkaronischen Poesie 85 kennengelernt haben. Wie wir gesehen haben, besteht das Prinzip des Makkaronischen darin, daß ein akademisch gebildeter Humanist einen Bauerntölpel (maccherone) imitiert, der wiederum einen ambitionierten Narren à la Dottore Graziano imitiert. Man könnte auch sagen: Das »Affenspiel« des Makkaronischen bestehe darin, im Status voll entfalteter Personalität tiefe personale Regressivität und Infantilität zu mimen, allerdings – und dies ist entscheidend! – nur im Kreise Gleichgesinnter, also in einem gesellschaftlichen Ambiente, in dem auch jeder andere dasselbe regressive Rollenspiel auf demselben intellektuellen 1834 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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und personalen Niveau spielen könnte. Und zu diesem Kreis Gleichgesinnter gehört eben auch der Leser derartiger Texte, dem das gleiche Spiel triumphal heiterer Selbstregression angesonnen wird, um auch ihn in dieses lachsoziologische Modell virtuell einzugliedern. Wenn ich oben gesagt habe, der Alberne lasse sich nach allen Seiten gehen, so muß ich nun sagen, der Blödler lässt sich ausschließlich nach unten gehen, denn es gibt kein Niveau, das er nicht lustvoll entschlossen zu unterschreiten bereit ist. Allerdings ist immer zu klären, ob es sich beim Blödeln um ein heiter regressives Rollenspiel nach dem Prinzip desipere in loco oder um ungenierte Blödelei von authentischen Blödianen handelt, die immer nur blödeln können. In Dieter Wellershoffs Aufsatz über die Theorie des Blödelns 86 verschwimmt diese Grenze immer wieder etwas, wenn er das Blödeln als »anarchische Subkultur des Humors« (S. 338) bezeichnet und dann fortfährt: »Das Hauptcharakteristikum dieses Kommunikationsspieles ist seine regressive Tendenz, die auf fortschreitende Chaotisierung der Realität drängt und sich dabei jeder Kontrolle durch verinnerlichte Normen der Vernunft oder des Geschmacks zu entziehen sucht. Das Blödeln ist ein freiwilliger Form- und Niveauverlust, dessen Modell, wie schon das Wort sagt, der leicht Schwachsinnige ist, also ein mangelhaft sozialisierter, infantil gebliebener Mensch. Er wird zum Vorbild einer sozialen Verweigerung.« (S. 338) »Bewußter intellektueller Niveauverlust und kindische Freude an der Analität gehören im regressiven Kommunikationsspiel des Blödelns zusammen. (…) Die unausdrückliche Botschaft aller dieser dumpfen Scherze lautet: Seht mal, was wir uns herausnehmen, wie weit wir uns gehen lassen, oder, um es einschlägig und niveaugerecht zu formulieren, wie wir euch und uns verarschen.« (S. 341 f.)

Unter diesem analerotischen Aspekt erscheint der Blödler wie ein Nachfahre des legendären Hofnarren Markolf 87, der sich in seiner Rolle als Hofnarr des weisen Königs Salomo alles erlauben durfte und sich auch alles erlaubte. Doch Markolf agierte eben auch in einer genau definierten sozialen Rolle als Hofnarr, in der man alles dürfen darf, ohne Sanktionen befürchten zu müssen und ohne ein vorgegebenes Niveau zu unterschreiten, denn eine Untergrenze da1835 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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für gab es für ihn gar nicht. Ist aber keine Rolle explizit vorgegeben, muß sie eigens ad hoc vereinbart und im Rahmen eines vorgegebenen lachsoziologischen Modells in loco ausagiert werden, nicht anders als beim lachsoziologischen Modell der Eutrapelie, was immer ein Mindestmaß an ironischer Selbstdistanz voraussetzt. Auf diesen Aspekt kommt auch Wellershoff erst am Ende seines Aufsatzes zu sprechen, und nun ist für ihn der Idealtypus für das rollenhafte Blödeln nicht mehr der Schwachsinnige, sondern der heitere Weise in der Tradition des Horaz mit der Maxime: Dulce est desipere in loco: »Das Blödeln, ein Außer-Kraft-Setzen des Ernstes, eine heitere Verweigerung vernünftiger Realitätsverarbeitung, steht in innerem Zusammenhang mit anderen Formen spielerisch praktizierter Irrationalität wie Unfug-Treiben, Die-Welt-auf-den-Kopf-Stellen; es tritt oft mit ihnen zusammen auf oder geht unversehens in sie über. (…) Im Als-ob, im Spielcharakter des Blödelns liegt eine Rückversicherung, mit der man Schuld- und Schamgefühle beschwichtigt, also die Kontrolle außer Kraft setzt und sich den Rückweg zur Vernunft offenhält. Das verantwortliche Ich ist nur beiseite gestellt, und das Vergnügen besteht gerade in der Spaltung, in der man sich, auch untereinander zusieht, bei der künstlichen (also rollenhaften) Regression in die infantile Albernheit oder gar den (genauso rollenhaften) Schwachsinn. Man ist es immer noch selbst, der sich gehen läßt, also kann man sich auch zurückrufen, kann zurückkehren ins verantwortliche Ich. Doch so ganz sicher ist das nicht und der Reiz liegt im Kitzel der imaginierten, aber noch beherrschten regressiven Gefahr.« (S. 348 f.)

Dieses rollenhafte Spiel mit sich selbst auf dem schmalen Grat zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, bei dem man gleichsam Lenker und Gespann in einem ist, kann deshalb auch nur ein Lachen freisetzen, das gleichsam »mit angezogener Handbremse« gelacht wird und bewegt sich deshalb meist irgendwo zwischen Kichern und kurzem Auflachen, mit dem man auf die beim Blödeln und Eutrapelieren entstehenden episodischen Pointen antwortet, sodaß es nie zu einer voll ausgeformten Lach-Melodie oder gar zu einer bis zum Anschlag durchgelachten Lach-Arie kommen kann, sondern nur zu einem Lach-Bordun, der immer 1836 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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wieder gestützt werden muß, um nicht zu versickern. Man könnte auch sagen, das Auflachen beim Blödeln und beim eutrapelistischen Scherzen gleiche nicht einer Rakete, die in die Höhe zischt und dann im Fallen langsam wieder verglüht, sondern gleiche eher der Folge von Explosiönchen, die ein Knallfrosch erzeugt. 3.5.3.4 Einige Varianten des geloiastischen Lachens als mimetisches Korrelat komischer Gestaltverläufe Das geloiastische Lachen als mimetisches Äquivalent komischer Gestaltverläufe ist in der traditionellen Gelotologie sträflich vernachlässigt worden, denn es gibt, so weit ich sehe, niemanden, der sich eingehend damit beschäftigt hätte. Der Grund dafür liegt sicher darin, daß die Gelotologie von Anfang an eng an der Rhetorik orientiert und deshalb auch auf die finale Pointen-Komik fixiert war, die das klassische Cachinnus-Gelächter freizusetzen pflegt. Ein weiterer Grund dürfte in der eutrapelistischen Tradition liegen, die beim Scherzen eher auf episodische Pointen aus war, also gleichsam auf die in kleine Münzen gewechselte finale Pointe, die dann auch Gelächter von minderer Intensität zu erregen pflegt, und dies entsprach ja auch dem Mäßigkeitsideal, das bis auf Aristoteles als dem Ahnherren der eutrapelistischen Lachkultur zurückgeht. Wenn lachrelevante Gestaltverläufe überhaupt thematisiert wurden, dann nur, wenn sie plötzlich zu einer Ungestalt zusammenbrechen, wie dies z. B. beim Stolpern und Stürzen der Fall ist, und so zieht sich die Beschreibung komischer Stürze denn auch durch die gesamte gelotologische Literatur von Platon 88 über Joubert 89, Baudelaire 90 und Bergson 91 bis herauf zu Schmitz 92, denn auch harmlose Stürze können als finale Pointe eines Gestaltverlaufs gedeutet werden, genauer: als finale Pointe eines plötzlich scheiternden Gestaltverlaufs. Der erste, der das komische Potential nicht scheiternder Gestaltverläufe erkannt hat, war Henri Bergson, für den Komik immer dann entsteht, wenn der lebendig geschmeidige élan vital zu einem starr mechanischen und maschinenhaften Stakkato entartet, oder, um es in seinen eigenen Worten zu formulieren, wenn »Gespannt1837 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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heit und Elastizität« den »Effekt des Automatischen und Starren« (S. 22) übergestülpt bekommen: »Etwas Mechanisches überdeckt etwas Lebendiges: das ist (…) unser Ausgangspunkt. Was war doch gleich so komisch daran? Daß der lebendige Körper zur Maschine erstarrte.« (S. 39)

Und daraus leitet Bergson seine generelle Regel ab: »Wir lachen immer dann, wenn eine Person uns an ein (lebloses) Ding erinnert.« (S. 44) Doch gegen diese These hat schon Arthur Koestler den Einwand erhoben: »Wenn aber Starrheit an sich im Gegensatz zu organischer Elastizität lächerlich (komisch) wäre, so wären ägyptische Statuen und byzantinische Mosaike das Komischste, das man je geschaffen hat. Wäre automatische Wiederholung im menschlichen Verhalten eine notwendige und ausreichende Voraussetzung für das Komische, dann gäbe es kein lustigeres Schauspiel als einen epileptischen Anfall; und wenn wir einmal von Herzen lachen wollten, bräuchten wir bloß jemandem den Puls zu fühlen oder seinen Herzschlag mit dem monotonen Klopfzeichen abzuhorchen. Wenn wir ›jedesmal lachen, wenn ein Mensch den Eindruck erweckt, er wäre eine Sache‹, wie es bei Bergson (S. 44) heißt, dann gäbe es nichts Komischeres als eine Leiche.« 93

Hier hat Koestler Bergson wohl bewußt mißverstanden, weil Bergson natürlich nicht jede beliebige Art von Starrheit meint, sondern nur die Starrheit in der Bewegung. Doch Bergsons lebensphilosophischer Ansatz ist trotzdem offensichtlich unzureichend und wird auch dann nicht plausibler, wenn man sich vor Augen hält, daß er Lachen generell auf das Auslachen reduziert, Komik also als Lächerlichkeit versteht und das entsprechende Gelächter als Reaktion darauf deshalb an eine »vorübergehende Anästhesie des Herzens« (S. 15) bindet, damit es sich »voll entfalten« (S. 15) kann. Bergsons Ansatz ist aber auch deshalb unzureichend, weil er meint, das Mechanische, Starre und Automatenhafte von Gestaltverläufen wirke als solches schon komisch, denn wenn es überhaupt einmal komisch wirkt, dann doch nur dann, wenn man in einer bestimmten Situation lebendig geschmeidige Gestaltverläufe erwartet, aber mechanische zu sehen bekommt, oder wenn der Konflikt zwischen beiden Anmutungsqualitäten sich im Objekt selbst manifestiert. Wenn man Bergson sehr wohlwollend auslegt, könnte 1838 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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man diesen Aspekt in seinen Ausführungen sogar finden, denn wenn er schreibt, etwas Mechanisches »überdecke« etwas Lebendiges, so könnte man dies auch dahingehend verstehen, daß das überdeckte Lebendige immer noch durch das es überdeckende Mechanische hindurch sichtbar bleibt, ihm entgegenzuwirken sucht und sich mit ihm in irgendeiner Weise »beißt«. Doch so hat es Bergson offensichtlich nicht gemeint. Spätestens seit Lessings Studie über das Epigramm von 1771 hätte aber ein Argumentationsmodell bereitgestanden, um hier anzusetzen und den Unterschied zwischen finaler Pointe, episodischer Pointenfolge und pointenlos komischen Gestaltverläufen auf den Punkt zu bringen, denn Lessing unterscheidet dort 94 das dramatisch-hypotaktisch strukturierte Epigramm von der episch-parataktisch strukturierten Fabel im Hinblick auf das Zusammenspiel von gespannter Erwartung und entspannendem Aufschluß und schreibt dazu: »Der wesentliche Unterschied, der sich zwischen dem Sinngedicht und der Fabel befindet, beruhet aber darin, daß die Teile, welche in dem Sinngedichte (als gespannte Erwartung und entspannender Aufschluß) eines auf das andere folgen, in der Fabel in eins fallen und dabei nur in der Abstraktion Teile sind. Der einzelne Teil der Fabel kann keine Erwartung erregen, weil man ihn nicht ausgehöret haben kann, ohne daß der Aufschluß zugleich mit da ist. (…) Das Sinngedicht hingegen (…) ziehet unsere Aufmerksamkeit auf eine Folge, die weniger notwendig daraus fließt. Und nur dadurch entsteht Erwartung, die dieses Namens wert ist, wo wir das, was wir zu erwarten haben, schon völlig voraussehen.« (12,391)

Das würde heißen, daß in den einzelnen Elementen, aus denen komische Fabeln und komische Gestaltverläufe bestehen, das Zusammenspiel von gespannter Erwartung und plötzlich entspannendem Aufschluß nicht einer weit vorgreifenden Gespanntheit anheimgegeben wird, sondern schon in den einzelnen Elementen des jeweiligen Gestaltverlaufs »in eins fallen«, d. h. immer zusammen erscheinen, indem sie den einzelnen Elementen, in und an denen sie erscheinen, eine immanente Spannung verleihen, die durch immanente Widersprüche oder immanente Konflikte entsteht. Solche den Objekten und Gestaltverläufen immanente Kon1839 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Wiedergegeben nach Eibl-Eibesfeldt: Grundriß, S. 466.

flikte, Kontraste, Reibungen und Widersprüche empfinden wir als komisch und belachen sie auf das heiterste, sofern sie sich für alle Beteiligten als harmlos ungefährlich und unbedrohlich erweisen. Ein Beispiel dafür wäre das Drohverhalten eines kleinen Katers, der gegen eine Dogge fauchend das Fell sträubt, oder der Wutanfall eines kleinen Mädchens, das zähnefletschend und hochofenhaft zornlodernd lostobt, weil es in der festlichen Runde auch einmal fotografiert werden will. Wenn wir über einen solchen ins Leere gehenden Wutanfall lachen, so lachen wir nicht eine voll ausgebildete Lach-Arie wie bei Pointen-Komik, auch wenn der Vorgang uns noch so komisch anmuten mag, sondern immer nur ein phänomenbegleitendes und phänomen-synchrones Lachen von minderer Intensität, also gleichsam ein »Lachen im Diminutiv« 95 und »mit angezogener Handbremse«. Über das Foto dieses Mädchens aber lachen wir wie über 1840 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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eine finale Pointe, weil wir den Wutanfall des kleinen Mädchens nicht als komischen Gestaltverlauf synchron wahrnehmen, sondern mit einem Mal als Bild. Wird eine finale Pointe also nach dem Motto non multa sed multum belacht, so geschieht dies bei episodischen Pointen und bei komischen Gestaltverläufen nach dem Motto non multum sed multa in Form von Schmunzeln, Kichern und Auflachern mit extrem verkürztem uroborischem Impuls. Nun sind wir schon im Joubert-Kapitel 2.9.4.2 auf den seltsamen Umstand gestoßen, daß wir Komisches nur durch die Fernsinne Sehen und Hören, nie aber durch die Nahsinne Tasten, Riechen und Schmecken wahrnehmen können, daß Komisches also immer nur »dort« und nie »hier« ist, genauer: »dort« im »Anschauungsraum« vor uns, der durch eine »kategoriale Einstellung« im Sinne von Kurt Goldstein entfaltet wird, doch nie im »Handlungsraum« 96, der durch die »konkrete Einstellung« (Goldstein) entsteht. Auf diese Unterscheidung hat lange vor den frühen Phänomenologen im Gefolge von Husserl als erster schon Lessings Freund Johann Jakob Engel (1741–1802) in seinen Lehrbriefen zur Mimik von 1785 verwiesen, indem er im 12. Lehrbrief zwei Grundarten von Affekten unterscheidet: die »Affekte des Verstandes« oder »Affekte des Anschauens«, die Goldsteins kategorialer Einstellung beim distanzierten und distanzierenden Zeigen entsprechen und sich als »Anschauen dessen, was ist« (I,86) manifestieren, und die »Affekte des Herzens«, die das Analogon zu Goldsteins konkreter Einstellung beim Greifen sind und sich als »Streben nach dem was man möchte« (I,86) und als »Begierde« (I,87), also als begehrlich interessiertes Greifen bekunden: »Affecten des Herzens entstehen, wenn unser eigenes Selbst in Betracht kömmt; wenn wir das Object in seiner vortheilhaften oder nachtheiligen Beziehung auf uns betrachten, es hassen oder es lieben, uns damit vereinigt oder davon getrennt wünschen.« (I,87)

Also immer dann, wenn wir etwas ergreifen, begreifen oder angreifen wollen. Bei den Affekten des Anschauens operiert der Verstand laut Engel ganz anders: »Denn er verweilt mit Vergnügen bei dem Ideenreichen, Geordneten, Uebereinstimmenden, Schönen, ohne daß er andern Vortheil oder Ge-

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nuß davon als die bloße Erkenntniß hätte; und mit Mißvergnügen bemerkt er alle Gegensätze jener Vollkommenheiten, das Leere, Regellose, Unbegründete, Disharmonirende.« (I,87)

Und er bemerkt auch das in sich selbst Widersprüchliche, also das Komische und Lächerliche und deshalb fährt Engel fort: »Die in der Mimik (im Sinne von Schauspielkunst) merkwürdigen Affecten des Verstandes, die im Anschauen bestehen, sind: die Bewunderung, und das Lachen. Den letztern, wie Sie sehen, muß ich mit dem Namen seiner auffallendsten Wirkung bezeichnen, weil die Sprache für ihn kein eigenes Wort hat. Er mischt sich gerne mit andern Affecten, wie beim Verlachen, (und), beim Hohnlachen: dort nehmlich mit Verachtung, hier obendrein mit Haß; allein er kann auch ohne diese Mischungen Statt finden, und dann ist er das eigentliche muntere Lachen, das sich bei der Wahrnehmung (des Komischen in Form) kleiner unschädlicher Uebel, Contraste, Disproportionen, Mißhelligkeiten, findet.« (I,87 f.)

Und dann verweist er auf »das Erbaulichste, was vielleicht darüber geschrieben worden« (I,87), nämlich auf Poinsinet des Sivrys anonym erschienenen Traité von 1768 97, den wir ja schon kennen. Die Wendung, die Engel fehlte, um das zu bezeichnen, was sich im Lachen bekundet, könnte man vielleicht mit der Formel Selbstbehauptung in der Beirrung durch das Komische wiedergeben, weil das Lachen, das Engel hier im Auge hat, eine Variante des Lachens der Erleuchtung ist. Wie diese Selbstbehauptung in der Beirrung fungiert, zeigt Engel, wenn er im 8. Brief das Phänomen des Mitgehens erläutert, bei dem der Zuschauer sich vom Schauspieler einleiben läßt und mit ihm zusammen eine gemeinsame leibliche Dynamik und eben auch einen gemeinsamen Handlungsraum entfaltet, in dem beide strikt synchron und ohne Reaktionszeit koagieren, denn hier stellt Engel fest: »Alle Mienen der Acteure, sogar manche ihrer Bewegungen, ahmt der so ganz illudirte Zuschauer, wenngleich schwächer, nach; ohne daß er noch weiß, was gesagt werden wird, wird er ernsthaft mit dem Ernsthaften, fröhlich mit dem Fröhlichen: sein ganzes Gesicht wird zum Spiegel, der alle die abwechselnden Gebehrden der auftretenden Personen, Verdruß, Spott, Neugier, Zorn, Verachtung, getreu zurückwirft. Nur dann, wenn seine eigenen Empfindungen die von außen kom-

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menden Eindrücke durchkreuzen und Ausdruck verlangen, wird diese nachahmende Malerei unterbrochen.« (I,50)

Eine dieser Stellungnahmen neben vielen anderen ist Gelächter als Quittierung des Komischen, weshalb man dieses geloiastische Lachen auch als »Kommentar-Lachen« bezeichnen könnte, und bei diesem Kommentar springt der Zuschauer mit einem Satz aus dem Mitgehen heraus und zugleich damit aus dem gemeinsamen Handlungsraum und aus der gemeinsamen transorchestralen leiblichen Dynamik, die ihn mit dem Schauspieler verbunden hatte. Das komische Phänomen ist dann nur noch »dort« im Anschauungsraum vor ihm auf der Bühne, von dem er sich im Lachen immer weiter distanziert, weil das Lachen eine ganz eigene Rhythmik und Dynamik entfaltet, die mit dem komischen Anlaß nicht mehr kompatibel ist. Hat er sich ausgelacht, kann er alsbald wieder mitgehen und beim nächsten Lachen aufs neue aussteigen. Damit können wir auch Jean Pauls modifizierte These, das Komische wohne immer auch im Subjekt, noch mal weiter präzisieren und zwar dahingehend, daß das Komische, sobald es belacht wird, schon nicht mehr im Subjekt wohnt, sondern nur noch im Objekt, aber alsbald wieder in ihm wohnen kann, sobald der Lach-Kommentar beendet ist und der komische Gestaltverlauf weiter fortschreitet. Doch hier taucht ein weiteres Problem auf: Wir hatten schon im Joubert-Kapitel 2.9.4.3 das ausgezeichnete Verhalten im Sinne von Kurt Goldstein als Signatur personaler Emanzipation bestimmt und das Ungestalte als die mehr oder weniger intensive Privation dieses ausgezeichneten Verhaltens verstanden, das, sofern es ungefährlich und unbedrohlich ist und weder Zorn noch Scham noch Sorge oder Mitleid beim Betrachter erweckt, als komischer Gestaltverlauf imponiert. Die Wahrnehmung solcher komischen Gestaltverläufe geschieht, sofern es sich um menschliches oder vermenschlichtes Verhalten handelt, immer so, daß diese Gestaltverläufe an der empirischen Norm des ausgezeichneten Verhaltens gemessen werden, deren Erfüllung man erwartet und normalerweise auch erwarten kann. Diese Bestimmung komischer Gestaltverläufe können wir nun durch einen Aspekt etwas ergänzen, den uns wieder Johann Jakob 1843 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Engel anbietet, der in seinem 15. Lehrbrief zur Mimik ausführlich auf das Synergie-Prinzip eingeht, das er von Georg Ernst Stahl übernommen hat und am Phänomen der »annähernden Begierde« (I,111) ausführlich erläutert, also an einem sehr typischen »Affekt des Herzens«. Das synergetisch-synästhetische Prinzip besteht, wie wir schon des öfteren gesehen haben, darin, daß jemand ein Verhalten vollzieht mit allem, was er ist und hat und kann und tut. Für Engel ist das Entscheidende dabei »die Synergie der Kräfte, das gemeinschaftliche Erwachen aller (Kräfte), auch wo die Seele zu einem Dienst aufruft, der nur eine derselben ihr leisten kann.« (I,112)

Wer z. B. intensiv lauscht, horcht dann nicht nur mit den Ohren, sondern »als ganzer Mensch« (I,113), also mit allem was er ist und hat und kann und tut. Engel beschreibt dieses synergetisch-synästhetische Horchen am Beispiel der Julia, die auf das Kommen Romeos wartet, und das schaut dann so aus, »daß sie das Ohr mit dem ganzen Körper, der sich aber nicht mehr bewegen darf, um den Schall nicht verhören zu lassen, nach dem Orte hin bewegt, wo dieser Schall herkömmt; daß sie nur an einer Seite mit dem Fuße fest auftritt, und den anderen auf die Spitze der Zehe schwebend hält; daß sie außerdem noch den ganzen übrigen Körper in einen Zustand der Wirksamkeit setzt. Das Auge wird weit offen seyn, als ob es recht viele Lichtstrahlen von einem Gegenstande, der nicht da ist, auffangen wollte; die Hand, nach der Seite des Schalls hin, wird sich unfern dem Ohre erhoben zeigen, gleichsam um den Schall mit zu erhaschen; die andere wird, um des Gleichgewichts willen, niederwärts und vom Körper abgehalten, aber zugleich verwandt (abgewendet) erscheinen, als ob sie jede Störung zurückscheuchen wollte; auch wird sich, zu desto besserem Einsaugen des Schalls der Mund um ein Weniges öffnen.« (I,115) »Die Seele spannt gleichsam alle ihre Netze nach allen Gegenständen aus, um des Fanges, nach welchem sie so begierig ist, desto sicherer zu seyn.« (I,116)

Und das heißt im Umkehrschluß: Die komisch wirkende Ungestalt eines Gestaltverlaufs als Dementi des ausgezeichneten Verhaltens 1844 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

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Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik I,116.

kann nicht nur das Dementi entfalteter Personalität oder personaler Emanzipation 98 sein, sondern auch im Dementi des synergetischsynästhetischen Vollzugs einer bestimmten Verhaltensweise bestehen, also darin, daß »das gemeinschaftliche Erwachen aller Kräfte« nicht koordiniert und auf ein einziges Ziel gebündelt wird, sondern daß die einzelnen Kräfte und Impulse einander mehr oder weniger widerstreben und der eine Impuls den anderen dementiert. Doch auch hier gilt die einschränkende Regel, daß das Insgesamt dieser dadurch entstehenden Ungestalt beim Betrachter weder Zorn noch Scham noch Sorge oder Mitleid hervorrufen darf, und selbstverständlich auch nicht bedrohlich oder gefährlich wirken darf, um den Effekt des Komischen zu erzeugen. Erst diese Ergänzung bietet uns nun die Möglichkeit, auch komische Verlaufsgestalten jenseits des menschlichen Verhaltens auf den Punkt zu bringen, ohne es in jedem Fall vermenschlichen zu müssen. So kann uns z. B. das tapsige Verhalten eines Elefanten-Babys leicht ein Schmunzeln entlocken, weil es die gezielte Verwendung seines Rüssels noch nicht beherrscht, sodaß dieser sich dem sinnvollen Einsatz ständig zu entziehen scheint, weil er gar so ungezielt hin und her schlackert, doch ohne daß dabei Gefahr für den Elefanten-Knirps droht. Ich frage zwar nicht wie Bergson »Warum lacht man über einen Neger?« (S. 34),weil ich nicht weiß, warum ich dies tun sollte; ich 1845 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

frage aber sehr wohl, warum wir geneigt sind, über einen einherwandelnden Pinguin zu schmunzeln, denn das klassische Beispiel für eine vermenschlichende Betrachtungsweise ist die Betrachtung eines Pinguins, die uns seltsam komisch vorkommt, doch nie lächerlich. Für einen Ornithologen ist der Pinguin ein Glanzstück der Evolution, ein auf seine Weise vollkommenes Tier, das optimal an seinen im höchsten Maße unwirtlichen Lebensraum angepaßt ist und unter härtesten Bedingungen zu überleben weiß. Und wenn man sieht, wie elegant sich ein Pinguin im Meer bewegt, kann man eigentlich nur staunen. Doch sobald er festen Boden betritt, ist dieser Eindruck von Anmut schlagartig dahin, denn für den naiven Betrachter, der ihn nicht mit der kategorialen Einstellung des ornithologischen Fachmanns betrachtet und durch den aufrechten Gang des Pinguins dazu verführt wird, ihn sofort zu vermenschlichen, erscheint er als die vollendete physiognomische Danebenheit: Sein Habitus erscheint durch die Kopfhaltung »hochnäsig« und durch den langsamen Gang »gemessen« und »würdig«, was aber durch das Hin-und-her-Wanken und den Trippelschritt gekontert wird, weil er zwar Füße hat, aber keine Beine. Sein schwarzweißes Federkleid erinnert an einen festlichen Gehrock mit weißer Hemdbrust, was aber wieder durch die »häßlichen« nackten Plattfüße mit den großen Krallen und die »hilflose« Haltung der Arme konterkariert wird, die so aussehen, als sei sein Frack einige Nummern zu groß, sodaß seine Hände in den Ärmeln verschwinden. Der wankendwiegende Gang suggeriert »Nachdenklichkeit«, und dabei ist er »bloß« ein Vogel, der außerdem auch nicht mal fliegen kann. Und weil er gar so »feierlich« gekleidet ist, vermißt man eigentlich auch einige Orden auf seiner Brust. Mit einem Wort: Es gibt nichts an ihm, was nicht sofort wieder durch etwas anderes in Frage gestellt würde, und somit erscheint ein Pinguin als umfassendes synergetisch-synästhetisches Dementi seiner selbst, sobald man ihn vermenschlicht. Noch komischer wirkt es allerdings, wenn ein Mensch wiederum den Gang des Pinguins kopiert, wie Freddie Frinton dies in Dinner for One tut. Aber auch hier reagiert man als Zuschauer nicht mit einem einmaligen Lachausbruch, sondern mit einer nicht enden wollenden Folge von Auflachern, die insgesamt allerdings 1846 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

nicht weniger lustvoll, aber auch nicht weniger erschöpfend sind als eine bis zum Anschlag durchgelachte Lach-Arie. Doch bei alledem wirkt ein Pinguin nur komisch, doch nie lächerlich; wir lachen über ihn, doch wir lachen ihn nie aus. Es muß beim Verlachen also noch etwas hinzukommen, das jenseits des rein Komischen liegt, und das gilt es nun zu klären. 3.5.3.5 Das geloiastische Verlachen des Lächerlichen In der traditionellen Gelotologie werden die Prädikate »komisch« und »lächerlich« gemeinhin synonym verwendet. Das fängt bei Platon 99 an, gilt noch für Jean Paul 100 und Schopenhauer 101 und hört bei Joachim Ritter 102 immer noch nicht auf. Die ersten Ansätze zur säuberlichen Unterscheidung zwischen dem Belachen des Komischen und dem Verlachen des Lächerlichen finden sich bei Lessing, der in seiner Hamburgischen Dramaturgie von 1767 im 28. Stück anhand von Regnards Komödie Der Zerstreute die Grenzen der traditionellen Verlach-Komödie in der Tradition von Molière aufzeigt, die das Ziel hatte, den Menschen, der sich verkennt, durch Verlachen abzustrafen und dadurch zur erneuten wahren Selbsterkenntnis zurückzuführen. Lessing schreibt hier. »Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück, und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig, ausgelacht zu werden, als einer, der Kopfschmerzen hat. Die (Verlach-)Komödie müsse (dürfe) sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut ist, der lasse sich durch Spöttereien ebensowenig bessern wie ein Hinkender.« (10,133)

Von dieser Dramaturgie der Verlach-Komödie setzt Lessing sich nun ab mit einer rhetorischen Frage, die zugleich einen ganz neuen Typ von Komödie entwirft, und fährt fort: »Wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich (und/oder komisch). Aber Lachen und Verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen.« (10,133 f.)

1847 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

Im 29. Stück zieht er dann aus diesem Befund folgende Konsequenz: »Die Komödie will durch Lachen bessern, aber nicht durch Verlachen. (…) Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst, in der Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche (und/oder Komische) zu bemerken, es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken.« (10,134)

Wenn der Nutzen der Komödie also im Lachen selbst liegt, dann erscheinen alle Institutionen und Gebräuche, die das Lachen kulturell ritualisieren, als Instrumente einer eudämonistischen KönnensEthik und zielen somit nicht mehr auf den Gewinn und die Einübung bestimmter tugendhafter Fertigkeiten, wie dies für die klassische Verlach-Komödie gilt, sondern direkt auf die Stabilisierung von Personalität 103 durch die Lebensfunktion des Humors. Lessings Freund Johann Jakob Engel setzt in seinen Lehrbriefen zur Mimik von 1785 diese Unterscheidung von belachen und verlachen/auslachen schon als bekannt voraus und schreibt dort im 12. Brief, die Selbstbehauptung in der Beirrung bekunde sich als heiteres munteres Lachen, könne sich beim Verlachen und beim Hohnlachen aber auch mit anderen Affekten mischen, beim Auslachen/Verlachen mit Verachtung, beim Hohnlachen auch noch mit Haß (vgl. I,87). Diese Unterscheidung übernimmt nun auch Jean Paul und differenziert sie in seiner Vorschule der Aesthetik von 1804 noch weiter, wo er allerdings die Prädikate »komisch« und »lächerlich« immer noch synonym gebraucht, denn für ihn bekundet sich im Verlachen generell »moralischer Unwille« (49,108), also eine explizite Abwertung und Verurteilung nach Maßgabe eines moralischen Kalküls. Er fügt aber hinzu: »Zur Verachtung ist das Lächerliche zu unwichtig, und zum Hasse zu gut.« (49,114)

Hätte er »komisch« und »lächerlich« schon unterschieden, hätte er wohl ganz im Sinne von Lessing und Engel geschrieben: Zur Verachtung ist das Komische zu unwichtig und kann deshalb munter belacht werden, und zum Hasse ist es zu gut. Das Lächerliche

1848 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Lachpalette II: Das geloiastische Lachen

aber provoziert moralisch abwertenden Unwillen und verdient deshalb Schadenfreude, ja sogar Verachtung.

Wieder eine Generation später geht Hegel in seinen Vorlesungen zu Ästhetik ab 1818 104 auf unser Problem ein und unterscheidet scharf zwischen den Prädikaten »komisch« und »lächerlich«, indem er erst das Personal der klassischen Verlach-Komödie in seiner »Wesenlosigkeit« (II,552) mit sichtlichem moralischem Unwillen rügt und dessen Lächerlichkeit von eigentlicher Komik deutlich abhebt, denn: »Einem demokratischen Volke z. B., mit eigennützigen Bürgern, streitsüchtig, leichtsinnig, aufgeblasen, ohne Glauben und Erkenntnis, schwatzhaft, prahlerisch und eitel, einem solchem Volke ist nicht zu helfen; es löst sich in seiner Torheit auf. Dennoch ist nicht etwa jedes substanzlose Handeln schon um dieser Nichtigkeit willen komisch. In dieser Rücksicht wird häufig das Lächerliche mit dem eigentlich Komischen verwechselt. Lächerlich kann jeder Kontrast des Wesentlichen und seiner Erscheinung, des Zwecks und der Mittel werden, ein Widerspruch, durch den sich die Erscheinung in sich selber aufhebt und der Zweck in seiner Realisierung sich selbst um sein Ziel bringt. Die Laster der Menschen z. B. sind nichts Komisches (sondern sind lächerlich). (…) Das Lachen (der Zuschauer darüber) ist dann (als Auslachen von oben) nur eine Äußerung der wohlgefälligen Klugheit, ein Zeichen, daß sie auch so weise seien, solch einen Kontrast zu erkennen und sich darüber (erhaben) zu wissen. (…) Zum Komischen dagegen gehört überhaupt die unendliche Wohlgemutheit und Zuversicht, durchaus erhaben über seinen eigenen Widerspruch und nicht etwa bitter und darin unglücklich zu sein: die Seligkeit und Wohligkeit der Subjektivität, die, ihrer selbst gewiß, die Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen ertragen kann.« (II,552 f.)

Die angemessene Reaktion auf Komik besteht für Hegel deshalb nicht darin, daß jemand harmlose immanente Widersprüche in bestimmten Objekten betrachtet, die immer nur »dort« sind und auch immer »dort« bleiben, sondern sich in sie hineingezogen fühlt, sich aber trotzdem in all dieser Beirrung seine Selbstbehauptung bewahrt, »sodaß er sich in freier Heiterkeit aus diesem Untergange erheben kann« (II,553) und sich sogar selbst noch auf das heiterste belachen kann. Damit ist Komik für Hegel im wesentlichen Situa1849 https://doi.org/10.5771/9783495861059 .

Die Varianten des lachmündigen personalen Lachens

tions- und Verlaufs-Komik, die sich in einem in sich widersprüchlichen Verhalten eines Subjekts wie von selbst entfaltet, wobei dieses Subjekt jedoch seine Selbstbehauptung in all dieser Beirrung nicht nur aufrecht erhält, sondern diese Beirrung auch noch humorvoll genießen kann. »Komisch nämlich (…) ist überhaupt die Subjektivität, die ihr Handeln durch sich selbst in Widerspruch bringt und auflöst, dabei aber ebenso ruhig und ihrer selbst gewiß bleibt. Die Komödie hat daher (…) zu ihrer Grundlage und ihrem Ausgangspunkt (…) das in sich absolut versöhnte, heitere Gemüt, das, wenn es auch sein Wollen durch seine eigenen Mittel zerstört und an sich selbst zuschanden wird, weil es aus sich selbst das Gegenteil seines Zweckes hervorgebracht hat, darum doch nicht seine Wohlgemutheit verliert.« (II,570)

Der höchste Grad von Komik bestünde demnach darin,