Hinter dem gläsernen Berg: (Re-)Konstruktion der Heimat im Prosawerk von Ruth Storm [1 ed.]
 9783737013871, 9783847113874, 9783847013877, 9783847113812

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Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur

Band 6

Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz

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Renata Dampc-Jarosz

Hinter dem gläsernen Berg (Re-)Konstruktion der Heimat im Prosawerk von Ruth Storm

Mit 5 Abbildungen

V&R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Schlesischen Universität in Katowice, Polen, finanziell unterstützt. This publication was financially supported by the University of Silesia in Katowice, Poland. Gutachterin: Prof. Dr. Mirosława Czarnecka © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 lizenziert (siehe https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737013871 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Bartłomiej Wierzbicki. Auf dem Coverbild wurden Fragmente des Stahlstichs von Ludwig Richter Die Schneekoppe (1841) benutzt. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1387-1

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»Menschen sind wohl nur da halbwegs zu Hause, wo sie Wohnung und Arbeit finden, Freunde und Nachbarn gewinnen. Die Geschichte des Ortes, an dem einer wohnt, ist gegeben, die Geschichte der Person ergibt sich aus unzähligen Einzelheiten und Erlebnissen, die unbeschreiblich und unwiederbringlich sind.« (Heinrich Böll: Heimat und keine. In: Ders.: Heimat und keine. Schriften und Reden. 1964–1968. München 1985, S. 109.) »… Aber Heimat kann man nicht vererben. Sie ist im Kopf. Und sie ist in der Seele.« (Horst Bienek: Schlesischer Bilderbogen, hrsg. von H. Bienek. Berlin 1986, S. 15f.) »allein, laub unter laub, moos unter moos, gras unter gras, mit meinen sprachlosen erinnerungen« (Roland Merk: letzte fahrt in die heimat meiner kindheit. In: Globale Heimat.ch. Grenzüberschreitende Begegnungen in der zeitgenössischen Literatur, hrsg. von Ch. Schallié, M. V. Zinggeler. Zürich 2012, S. 366.) »Frühere Leute erinnerten sich leichter: eine Vermutung, eine höchstens halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich, über Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der dritten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen.« (Christa Wolf: Das Vergangene ist nicht tot. In: Heimat. Ein deutsches Lesebuch, hrsg. von M. Kluge. München 1989, S. 203.) »Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann.« (Sasˇa Stanisˇicˇ: Herkunft. München 2019, S. 123.)

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Heimat – zur Transformation des Begriffs. Ein kulturhistorischer und literaturwissenschaftlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Aus der »Undurchsichtigkeit« herauskommen – Definitionsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Heimat im Spannungsfeld von Nation und Weltoffenheit – kulturhistorische Wandlung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Verlorene Heimat als literarisches Motiv nach 1945 . . . . . . . . 1.4 Heimat regional. Literarische Bilder aus Oberschlesien . . . . . . 2 Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin von Kattowitz / Oberschlesien nach Wangen im Allgäu . . . . . . . . . . . . 2.1 Kindheit und Jugendzeit in Kattowitz . . . . . . . . . . . 2.2 ›Zerrissen‹ zwischen Berlin und Schreiberhau . . . . . . 2.3 Entwurzelt. Ein neues Leben im Westen . . . . . . . . .

9

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27

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3 Vom Materiellen zum Geistigen. Heimat in ihren beweglichen Lebensräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Haus und seine Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Drinnen und Draußen oder die Schwelle des Hauses übertreten 3.3 Gemeinschaft der Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Natura naturans. Natur- und Landschaft als Komponenten des Heimatbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat« . . . . . . . . . . . . 5.1 Die ›Großen Mütter‹ – Bertha und Marianne . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Schwestern Lehan – drei Paradigmen der Ehe und Weiblichkeit 5.3 Die heilige Hedwig – die Urmutter Schlesiens . . . . . . . . . . . .

161 163 175 187

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8

Inhalt

6 »Zu Hause und doch nicht zu Hause«. ›Umschriften‹ der Geschichte versus Identitätssuche im Wirrwarr des 20. Jahrhunderts . . . . . . . 6.1 Einbruch der Geschichte in die Heimat – der Erste Weltkrieg . . . 6.2 Oberschlesien im Kreuzfeuer nationaler Konflikte . . . . . . . . . 6.3 Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – »unerzählte Geschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 »Die Lawine rollte…« oder der Zustand der Liminalität . . . . . .

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203 205 212

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Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur von Ruth Storm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur über Ruth Storm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bildernachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Irgendwo oder Klein-Europa. Bilder der neuen Heimat . . . 7.1 Unterwegs zur neuen Heimat . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Einheimische versus Ankömmlinge . . . . . . . . . . . . 7.3 Die neue Heimat gemeinsam aufbauen können. Allerlei Geschichten von Integration . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Die nicht zum Literaturkanon gehörenden Autoren/innen geraten häufig in Vergessenheit. Dieser Prozess wird selbstverständlich durch verschiedene Entwicklungstendenzen der jeweiligen Literaturepoche bedingt und ebenfalls vom gerade herrschenden Begriff literarischer Wertung bestimmt. Die sich seit den 1990er Jahren in den deutschsprachigen Ländern vollziehende Debatte über einen deutschen Literaturkanon lässt jedoch auch Literaturwissenschaftler-, Kritiker- und Leserurteile zu, die den Rahmen des geltenden materialen Kanons erweitern können1. Die Mitberücksichtigung der bisher außerhalb des Kanons stehenden Werke, somit die Bildung des ›Gegen-Kanons‹2, ermöglicht es, sich auch jener Texte der deutschsprachigen Literatur anzunehmen, die bisher weder zu einem Kanon gehört haben, noch zu einem Kanon hätten erhoben werden können, deren Existenz und Wirkung sich aber aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht leugnen lassen und daher einer wertenden Zuordnung zugeführt werden müssen. Zu dieser Gruppe von Autoren/innen gehören zweifelsohne diejenigen, die sich auch nach 1945 entweder durch ihre Herkunft, biografische Stationen und Erfahrungen oder andere Faktoren mit der ehemals deutschen Region Schlesien verbinden lassen. Obwohl sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik gewirkt haben, blieben sie jedoch zeit ihres Lebens dem breiteren Kritikerkreis und Leserpublikum nahezu unbekannt und nur wenige, wie beispielsweise Horst Bienek oder Arno Schmidt, haben in der 1 Die von Th. Anz vorgeschlagene Klassifizierung des Kanon-Begriffs geht von dessen materialem Korpus aus, das sich aus den »aus der Überlieferung ausgewählten und als verbindlich festgelegten Autoren/innen und / oder Werken« zusammensetzt, und das einen Gegenbegriff zum Deutungskanon bildet. Vgl. Th. Anz: Einführung. In: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, hrsg. von R. von Heydebrand. Stuttgart / Weimar 1998, S. 3–8. 2 Über die Herausforderungen der modernen Kanonbildung vgl. u. a. R. von Heydebrand: Probleme des ›Kanons‹ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In: Germanistik, Deutschunterricht und Kulturpolitik, hrsg. von J. Janota. Tübingen 1993, S. 3–22; W. Wiesmüller: Die Kanondebatte. Positionen und Entwicklungen. In: »Zeitschrift des Verbandes polnischer Germanisten« Jg. 2, Nr. 3 / 1993, S. 281–295.

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Einleitung

bundesrepublikanischen Literaturgeschichte einen Platz eingenommen. Diese Schriftsteller/innen – der Definition von Norbert Mecklenburg folgend – können als regionale Autoren, deren Identität territorialbezogen ist, eingestuft3, und ihre Werke, dem Vorschlag von Jürgen Joachimsthaler zufolge, als Vertreter regionaler bzw. Regionaler Literatur bezeichnet werden. Im ersten Fall wird der Schwerpunkt auf eine Beschreibung der regionalen Wirklichkeit, im zweiten auf die Stiftung einer kollektiven Identität gelegt4. Die deutschsprachige Literatur aus Schlesien fokussierte sich auf beide Formen; nach 1945 wird jedoch das Phänomen des Regionalen hauptsächlich im Kontext von Flucht, Vertreibung bzw. verlorener Heimat dargestellt. Die Thematisierung ausgerechnet dieser geschichtlich und politisch sensiblen Probleme machte die Kritiker und Leser auf die Werke der schlesischen Autoren aufmerksam, obwohl sie – wegen angeblich mangelnder literarischer Qualität5 – nie für kanonfähig gehalten wurden. Als Ausnahmen können hier die schon vorher erwähnten Schriftsteller Bienek und Schmidt gelten, die als einzige in die Geschichte der deutschsprachigen Literatur nach 1945 Einzug gefunden haben.6 Der Fokus des Interesses an den Motiven Flucht, Vertreibung und Heimat lag und liegt weiterhin allerdings auf der Literatur des ehemaligen Ostpreußen bzw. Pommern, die von vielen namhaften, kanonisierten Autoren der deutschsprachigen Literatur vertreten und daher zum Gegenstand unzähliger Analysen geworden ist7. Der Rückblick auf die Entwicklungstendenz der bundesrepublikanischen Literatur im Kontext der Kanon- und ›Gegen-Kanon‹-Texte und die davon aus3 N. Mecklenburg spricht von der »regionalen Dimension der Literaturgeschichte«, die sich immer dann feststellen lässt, »wo sich regionale Erscheinungen auf geographische Größen: Orte, Räume, Grenzen, sinnvoll beziehen lassen […]«. Vgl. N. Mecklenburg: Literaturräume. Thesen zur regionalen Dimension deutscher Literaturgeschichte. In: Das Fremde und das Eigene, hrsg. von A. Wierlacher. München 1985, S. 197–211, hier: S. 199f. Zu anderen Definitionen des Regionalismus vgl. Regionalism. Classical Regional Integration (1945–1970), Bd. 1, hrsg. von P. De Lombaerde, F. Söderbaum. Los Angeles et al. 2013. 4 Nach J. Joachimsthaler wird die Region im Bereich des Politisch-Juristischen von oben und Kultur-Literarischen von unten gestaltet. Im zweiten Bereich wird sie durch Mythen, Identifikationsorte und habitusformende Verhaltensweise definiert. Vgl. J. Joachimsthaler: Die Literarisierung einer Region und die Regionalisierung ihrer Literatur. In: »Antares« Nr. 2, JuliDezember, 2009, S. 30f. 5 Vgl. F.L. Helbig: Ruth Storm als schlesische und als deutsche Schriftstellerin. In: Silesia in litteris servata. Paradigmen der Erinnerung in Texten schlesischer Autoren nach 1945, Bd. 1, hrsg. von E. Białek, P. Zimniak. Dresden 2009, S. 171–188, hier: S. 183. 6 R. Schnell erwähnt in seiner Bilanzdarstellung der deutschsprachigen Literatur nach 1945 nur H. Bienek und A. Schmidt. Vgl. R. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart 1993, S. 539f., 101f. und 549ff. Vgl. auch J. Joachimssthaler: Schlesiophobie. Arno Schmidt über seine »Bezugslandschaft«. In: Silesia in litteris servata (wie Anm. 5), S. 217–236. 7 G. Grass, S. Lenz, A. Surminski, J. Bobrowski, E. Wiechert u. a. sind zahlreiche Forschungsarbeiten der deutschen sowie polnischen Literaturforscher gewidmet. Vgl. dazu z. B. Aufsätze und Monografien von H. Beyersdorf, G. Cepl-Kaufmann, H. Motekat, W. Bassmann, K. Weigelt, H. Wagner, P. Wapnewski, N. Honsza, M. Ossowski u. a. Vgl. Bibliografie im Anhang.

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Einleitung

gehende Reflexion über die eher marginale Position der aus Schlesien stammenden bzw. mit dieser Region verbundenen Autoren/innen eröffnet neue Forschungsmöglichkeiten, ihre Texte vor dem Hintergrund der Globalisierungsund Hybridisierungserscheinungen des 21. Jahrhunderts, vor allem der »transnationalen Mobilität«8 (neu) zu deuten. Besonders der sich im 21. Jahrhundert vollziehende Wandel des Begriffs Heimat erlaubt es, bisherige Standortbestimmungen kritisch zu hinterfragen und die anstehenden Deutungen auf neuere kulturwissenschaftlich orientierte Muster zu beziehen. Die Forschung über die deutschsprachige Literatur in Schlesien wurde seit der Wende 1989 intensiviert, die die sog. »Renaissance der Heimat«9 nach sich zog und eine sich in vielen Forschungsdisziplinen verbreitende Wiederentdeckung von hybriden kulturellen Identitäten der ehemaligen ostdeutschen Gebiete veranlasste, die man nun als deutsch-polnische Kulturräume10 zu verstehen begann11 und im Weiteren als »Gegenstände der kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung«12 auffasste. Eine solche Interpretationslinie lenkte – zum ersten Mal seit 1945 in größerem Umfang – die Aufmerksamkeit der germanistischen Literaturwissenschaft auf diese ›schlesische‹ Literatur, die sie hauptsächlich im Kontext von Erinnerungskultur betrachtete13. Diese Studien waren vor allem auf den regionalen Charakter der behandelten Handlungsräume fokussiert und bezogen sich 8 Unter dem Begriff transnationaler Mobilität versteht man heutzutage eine neue Lebensform der wandernden Gesellschaften, die sich zwischen alter Siedlungstradition und dem arbeitsbedingten Pendeln platziert. Vgl. dazu H. Fassmann, J. Kolbacher, U. Reeger: Transnationale Mobilität – Zur Theorie und Praxis eines neuen Mobilitätsphänomens. In: Polen in Wien. Entwicklung, Strukturmerkmale und Interaktionsmuster, hrsg. von H. Fassmann, J. Kolbacher, U. Reeger. Wien 2004, S. 11. 9 Vgl. Renaissance der Heimat. Ein Gespräch mit Matthias Weber. In: »Neues Rheinland« Nr. 6 / 1985, S. 12f. 10 Unter dem Begriff Kulturraum versteht J. Joachimsthaler geographisch und zeitlich Verbreitungsgebiete unterschiedlicher Kulturgüter, die »für Hineingeborene sowie Zugereiste durch das Bewußtsein seiner Besonderheit, durch die Steigerung der zufälligen kulturellen Akkumulation zum (auto-)poietischen System, zum ›Sinnraum‹ werden«. Vgl. J. Joachimsthaler: Die Literalisierung einer Region und die Regionalisierung ihrer Literatur (wie Anm. 4), S. 30. Der Begriff des Kulturraumes von Joachimsthaler deckt sich mit dem des offenen Regionalismus des polnischen Historikers R. Traba. Vgl. R. Traba: Das ›deutsche Kulturerbe‹ und die Frage nach dem historischen Regionalbewusstsein. Das Beispiel der Kulturgemeinschaft ›Borussia‹. In: Deutsche Geschichte und Kultur im heutigen Polen. Fragen der Gegenstandsbestimmung und Methodologie, hrsg. von H.-J. Karp. Marburg 1997, S. 67–72. 11 Vgl. Kulturraum Schlesien. Ein europäisches Phänomen, hrsg. von W. Engel, N. Honsza. Wrocław 2001. 12 W. Vosskamp: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. In: Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen, hrsg. von H. de Berg, M. Prangel. Heidelberg 1999, S. 183–199, hier: 190. 13 Vgl. z. B. P. Zimniak: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945: literarische Fallstudien. Wrocław 2007; Verhandlungen der Identität. Literatur und Kultur in Schlesien seit 1945, hrsg. von J. Joachimsthaler, W. Schmitz. Dresden 2004.

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Einleitung

– methodologisch gesehen – noch nicht auf die kommenden Globalisierungsprozesse des 21. Jhs. sowie die von ihnen herrührenden Deutungsmöglichkeiten, denn als Pionierarbeiten14 waren sie zunächst (Anfang der 90er Jahre des 20. Jhs.) an der Annäherung beider Kulturen interessiert, indem sie das Phänomen des Grenzlandlandes und dessen Asymmetrie verdeutlichten; erst später (in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jhs.) – angeregt durch Inspirationen aus Aleida und Jan Assmanns wissenschaftliche Maßstäbe setzenden und weltweit anerkannten Erinnerungs- und Gedächtnistheoriendiskursen – entstand das Ziel, die von den deutschsprachigen Autoren erlebten und erinnerten Schlesienbilder wachzurufen und zu deuten. Die Idee zu dieser Monografie ist somit in erster Linie aus dem Bedarf entstanden, deutschsprachige Literatur aus Schlesien aus der Perspektive der gegenwärtigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurse zu betrachten, über deren Standort und Rezeption innerhalb der bundesrepublikanischen Geschichte erneut zu reflektieren15 und sie dadurch auch vor der Vergessenheit zu bewahren.16 Dieses Ziel liegt bereits seit einigen Jahrzehnten den individuellen sowie kollektiven Forschungsarbeiten zu Grunde, die am Institut für Germanische Philologie der Schlesischen Universität in Katowice17 betrieben werden, und die ausgewählten deutschsprachigen Autoren aus Oberschlesien gewidmet sind18. Bisher fehlt unter ihnen jedoch eine literaturwissenschaftliche Würdigung der 1905 in Kattowitz (heute Katowice) geborenen Schriftstellerin Ruth Storm. Es 14 Das heißt nicht, dass vor 1989 keine Forschungsarbeiten über die deutschsprachige Literatur in Schlesien entstanden sind. Es sind auf diesem Gebiet eine Vielzahl von sowohl deutschen als auch polnischen publizistischen Texten zu vermerken. Im Fall der ersten wurden sie vor allem in verschiedenen über ganz Deutschland verstreuten Vertriebenenpresseorganen publiziert, in der Volksrepublik Polen dagegen in der oberschlesischen Zeitschrift »Pogla˛dy« (1962–1983). Arno Lubos’ dreibändige Geschichte der Literatur Schlesiens (1960, 1967, 1974) gilt weiterhin als umfangreiche Quelle des Wissens über die deutschsprachige Literatur Schlesiens. Die Literaturwissenschaft beider Länder wendet sich allerdings dem Thema erst seit der Mitte der 1980er Jahre intensiver zu. 15 Diesen Versuch unternahm auch L.F. Helbig, indem er Ruth Storms Standort in der bundesrepublikanischen Literaturgeschichte zu bestimmen versuchte. Vgl. Helbig, Ruth Storm (wie Anm. 5), S. 181. 16 P. Huelle, der polnische Schriftsteller, postuliert als eine der Aufgaben der in der Region verankerten Literaturen, »diese kleinen Heimaten vor dem Vergessen zu retten.« Vgl. P. Huelle: Heimat in Europa. In: Heimat in Europa, hrsg. von F. Altenberger et al. Warszawa 2004, S. von 33–39, hier S. 33. 17 Laut der Hochschulreform 2.0 wurde das Institut für Germanische Philologie im Jahre 2019 Teil des Instituts für Literaturwissenschaft und des Instituts für Sprachwissenschaft der Schlesischen Universität in Katowice. 18 Zu den Ergebnissen dieser Forschung gehören z. B. Monografien und Aufsätze von G.B. Szewczyk, R. Rduch, R. Dampc-Jarosz, K. Kłosowicz, N. Nowara-Matusik, M. Krisch, M. Skop, P. Meus, die solchen aus Oberschlesien stammenden bzw. mit der Region verbundenen deutschsprachigen Autoren wie V. Bethusy-Huc, A. Ulitz, R. Storm, A. Silbergleit, M. Ring, H. Marchwitza und A. Hein gewidmet sind.

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Einleitung

mag zunächst erstaunen, dass dieser gebürtigen Kattowitzerin auch vor Ort kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, zumal sie neben Lutz Besch (1918– 2000)19 zu den wenigen deutschen in der oberschlesischen Hauptstadt geborenen Schriftstellern, Literaten und Kulturvermittlern gehört. Auch wenn die Ursachen für diese Forschungslücke häufig in dem politischen Engagement ihres Vaters Carl Siwinna (1871–1939) gesehen werden, des Eigentümers und Herausgebers des größten und bekanntesten regionalen Presseorgans »Kattowitzer Zeitung« sowie Verlagsbuchhändlers, dessen Tätigkeit in Kattowitz das Deutschtum der hiesigen Einwohner verstärkt haben soll20, besonders in den Konfliktjahren 1918–192121, so scheint diese Erklärung im vereinigten Europa doch an Tragfähigkeit zu verlieren. Das Werk von Ruth Storm verdient gerade im Hinblick auf rezeptionsästhetische, literaturhistorische wie auch (R)regionale Aspekte eine tiefere wissenschaftliche Erforschung. Außer den publizistischen Beiträgen in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, die zumeist als Rezensionen ihrer Werke erschienen sind22, sowie der Lexikonbeiträge23 beschränkt sich nämlich der Forschungsstand lediglich auf vereinzelte Aufsätze von deutschen (Eberhard G. Schulz, Louis F. Helbig, Frauke Janzen) sowie polnischen Literaturwissenschaftlern (Eugeniusz Klin), die meistens auf das Motiv der Flucht und Vertreibung konzentriert sind24. Sonia Waindok, die Autorin der einzigen dieser Autorin gewidmeten Dissertation Kompromisse mit der nationalsozialistischen Macht und christliche Transzendenz nach 1945. Sinnbildungsverfahren in der Erzählprosa Ruth Storms, die an der Universität Opole / Polen (dt. Oppeln) 2007

19 Lutz Besch (9. 03. 1918–09. 08. 2000), deutscher Prosa- und Dramenautor, Dramaturg, Regisseur sowie Radio- und Fernsehredakteur, wurde ebenfalls in Kattowitz geboren, hat seine Geburtsstadt im Alter von 13 verlassen und ist mit der Familie nach Nauen bei Berlin gezogen. Nach dem Abschluss des Theaterwissenschaftsstudiums in Jena und der Promotion über Hjalmar Bergmann arbeitete er an den Theatern in Erfurt und Bremen. Für den Band Die barmherzigen Pferde (1962) bekam er den Andreas-Gryphius-Preis. Besch war seit 1967 mit dem österreichischen Schriftsteller K. H. Waggerl (1897–1973) eng befreundet und hat sich in dessen Heimatort Wagrein für die Aufbewahrung und Popularisierung seines Werkes eingesetzt. Ähnlich wie im Fall von R. Storm liegt bisher keine biografische bzw. monografische Bearbeitung seines Lebens und Werkes vor, auch seine Kattowitzer Zeit wurde nicht erforscht. Über L. Besch vgl. H.-R. Fritsche: Lutz (Ludwig) Besch. In: https://kulturportal-west-ost.e u/biographien/besch-lutz-ludwig-2 [Zugriff: 15. 02. 2021]; über L. Besch und Wagrein vgl. https://www.stillenacht-wagrain.at/kp_besch.php [Zugriff: 15. 02. 2021]. 20 Vgl. dazu S. 62f. der vorliegenden Monografie. Auch A. Lubos bezeichnet C. Siwinna als einen »deutschgesinnten Buch- und Zeitungsverleger«. Vgl. A. Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 3. München 1974, S. 354. 21 Über C. Siwinna vgl. Kapitel 2, S. 58–63. 22 Vgl. Bibliografie, Literatur über Ruth Storm. 23 Vgl. Bibliografie, Literatur über Ruth Storm. 24 Vgl. Bibliografie im Anhang.

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vorgelegt wurde25, setzte sich dagegen zum Ziel, das bisher, der Meinung der Forscherin nach, idealisierte Bild der Schriftstellerin kritisch zu hinterfragen. Jene Idealisierung ergebe sich aus der einseitigen Beurteilung ihres erzählerischen Potenzials, welches bestimmten Leserkreisen entgegenkam und deren gemeinsame Erinnerungskapazität förderte. Gemeint sind hier sowohl Institutionen, Forscher und Literaten als auch zeitgenössische Rezipienten, die sich in der Regel aus den landsmannschaftlichen Gruppen rekrutiert haben, und die Ruth Storm als »Chronistin schlesischen Schicksals«26 hochgepriesen oder ihr, wie Arno Lubos, »starke und bekenntnisreiche Heimatliebe«27 zuerkannt haben. Es fehle – so Waindok – im Erzählwerk von R. Storm vor allem an Abrechnung mit der jüngsten Geschichte, dem Nationalsozialismus und an subjektiven Urteilen über das Erlebte28. Die idealisierenden Bilder der Leser und Kritiker hätten dabei das völkisch-nationale Ideengut der Storm’schen Prosawerke gänzlich übersehen. Hinterfragt werden sollten nach Waindok hingegen hauptsächlich die Schaffensjahre 1933–1945, in denen die Schriftstellerin im Geiste der nationalsozialistisch gesinnten Heimatliteratur geschrieben hatte und aus der sie nach 1945 in die Transzendenz und den Glauben an Gott ausgewichen sei. Die Forscherin geht dabei aber von solchen Begriffen wie Heimatliteratur, konservative Revolution, innere Emigration oder neue christliche Humanität aus, ohne zu berücksichtigen, dass sie nur im Hinblick auf R. Storms erste Schaffensperiode Anwendung finden können. Denn das Urteilen über Figuren, Geschehnisse und narrative Strategien, das einer bestimmten Erwartung entspringt, erlaubt es kaum, das Werk komplex zu deuten, und kann leicht dazu führen, das Bild vom jeweiligen Verfasser zu verfälschen29. Auch eine starke Fixierung auf autobiografische Bezüge30 scheint nicht zur notwendigen Positionierung des Werkes von R. Storm verhelfen zu können. Nichtsdestotrotz legte Sonia Waindok eine erste monografische Bearbeitung des Prosawerkes von R. Storm vor, die das motivi25 Die Dissertation wurde nicht veröffentlicht. 26 Vgl. W. Meridies: Ruth Storm – Chronistin schlesischen Schicksals. In: »Schlesien« Jg. 24, Nr. 3 / 1979, S. 138–143. 27 Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 20), S. 354. 28 Die »Wende des Erinnerns« veränderte in den 1990er Jahren die Lesererwartungen der deutschsprachigen Literatur gegenüber, man begann »halbierte Erinnerungen« zu rechtfertigen oder sie zu vervollständigen. Vgl. Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, hrsg. von B. Beßlich, K. Grätz, O. Hildebrand. Berlin 2006, S. 7, 107, 113. 29 Vgl. S. 311–319 von Waindoks Dissertation. 30 S. Waindok stellt Ernst Storm, den Ehemann von Ruth Storm, besonders dessen Herkunft und Berufstätigkeit im Dritten Reich, ins Zentrum ihres Forschungsinteresses, was zweifelsohne neue biografische Befunde publik macht, und den Lebenslauf von R. Storm jedoch nur bedingt in ein neues Licht rückt. Eine solche Haltung mutet an manchen Stellen eher spekulativ an (z. B. Fragen nach dem Schicksal der ersten Frau von E. Storm und der Verantwortung des Ehepaares für sie). Vgl. ebd.

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sche Geflecht deren ausgewählten Erzähltexte (Erzählungen aus dem Band Ein Mann kehrt heim, Romane Tausend Jahre – ein Tag, Das vorletzte Gericht und Ein Stückchen Erde) sorgfältig werkimmanent und kontextuell analysiert und biografische Daten und eine Primär- sowie Sekundärbibliografie zusammenstellt. Im Kontext der Studien über die deutschsprachige Literatur aus Schlesien scheint jedoch von vorrangiger Bedeutung zu sein, sie vor allem im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft zu hinterfragen, ohne jedoch das Vergangene zu vergessen, was zugleich einen Versuch impliziert das, was im Allgemeinen mit Schlesien als Kulturraum assoziiert wird, auf die überregionalen und globalen Ebenen zu übertragen. Eine solche Triade, inspiriert von Nietzsches Konzept der praktischen Anwendung von Geschichte, von der Suche nach »Nutzen und Nachteil« eines Werkes für den Lesenden hic et nunc und für die Zukunft31, soll die Literatur aus Schlesien nicht nur nach schon bekannten Motiven und in bereits bekannten Kontexten analysieren lassen, sondern ebenfalls aktuelle kulturwissenschaftliche Modelle und Transformationen der globalen Gesellschaft berücksichtigen können. Die vorliegende Untersuchung des Prosawerkes von Ruth Storm richtet sich daher in erster Linie nach jenem Nutzen, der sich für die Zeitgenossen, unabhängig von der Profession, bei weiteren wissenschaftlichen Recherchen und eigenen Überlegungen nach einem komplexen Verständnis von sich in sog. deutsch-polnischen Kulturräumen abspielenden Binnen- und Außenrelationen ergeben kann. Das gegenwarts- und zukunftsorientierte Denken schließt daher die für die regionale Forschung besonders wichtige Komponente des Vergangenen ein, die auf Ruth Storms Werk ebenfalls zutrifft. Die Bilder des Vergangenen, auf autobiografischer sowie ästhetischer Ebene präsent, sprengen den Rahmen des Regionalen und gehen mit kulturhistorischen Entwicklungstendenzen der Bundesrepublik Deutschland einher. Die Forschung zu Ruth Storm wurzelt zwar in einem regionalen Ansatz, in dem Interesse am Lebensweg einer in Kattowitz geborenen Schriftstellerin und den Fragen nach den autobiografischen Komponenten ihres Werkes, aber sie mündet in Problemfelder, die sich als allgemein und global erweisen. Dabei ist vorrangig von Interesse, wie eine solche als rein regional-schlesisch abgestempelte Autorin für die Wahrnehmung von übergeordneten kulturhistorischen Prozessen des 20. Jhs. nützlich sein kann. Schon der autobiografische Aspekt scheint dieser Fragestellung entgegenzukommen, denn das Leben der Schriftstellerin weist viele 31 Vgl. F. Nietzsche: ›Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹. In: Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 13 Bänden, hrsg. von G. Colli, M. Montinari. München / Berlin / New York 1980, Bd. 1, S. 241–334. Ähnlich argumentiert auch der heilige Augustin in seinen Bekenntnissen, in denen er die Rolle der Gegenwart für das Verstehen der Vergangenheit artikuliert, was P. Ricoeur im Begriff le présent du passé ausdrückt. Vgl. P. Ricoeur: Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, übersetzt von R. Rochlitz. München 1988, S. 32–39.

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Verbindungslinien mit jenen der heutigen transnationalen Mobilität auf: Aufgewachsen im deutsch-polnischen Grenzland, im Zwischenraum zweier Kulturen, wechselte sie mehrmals ihren Wohnort und wurde dadurch nicht nur einmal mit neuen Daseinsformen konfrontiert. Als eine der wenigen schlesischen Autoren kann sie sowohl mit Ober- als auch Niederschlesien identifiziert werden und als »gesamtschlesische Schriftstellerin«32 gelten; beide Landesteile werden zum Raum ihrer Werke, wobei die Sympathie der Schriftstellerin für das Riesengebirgsland unverkennbar ist, denn im niederschlesischen Schreiberhau (heute Szklarska Pore˛ba), in der Nähe des Hauses von Carl Hauptmann, hat sie die schönsten Jahre ihres Lebens verbracht. Nach der Vertreibung aus dem ›Paradiese‹ ließ sie sich mit ihrer Familie im niedersächsischen Peine nieder, dann zog sie nach Wangen im Allgäu um, um in der Nähe des Wangener Kreises, der seit 1950 aus dem deutschen Osten vertriebene Künstler integrierte, schaffen zu können. Dieses ›Wanderleben‹ wirkt sich offenbar auf ihr Werk aus und lässt es um das Motiv der Heimat und deren Verlustes kreisen. Genauso wie viele andere deutsche Autoren/innen, die nach 1945 ihre Heimat verloren haben, sucht auch Ruth Storm die Heimat in ihren »Büchern«33. Meine Analysen und Interpretationen ihrer sechs Romane, eines Tagebuches und einer autobiografischen Erzählung (Das vorletzte Gericht – 1954, Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der Herzogin Hedwig von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien – 1955, Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr – 1961, Der Verkleidete – 1963, Ein Stückchen Erde – 1965, … und wurden nicht gefragt. Zeitgeschehen aus der Perspektive eines Kindes – 1972, Odersaga. Das Schloß am Strom – 1978, Unter neuen Dächern. Roman einer Wohnsiedlung – 2005, postum) konzentrieren sich somit nicht zufällig auf das Motiv der Heimat, obwohl es – auf die thematologisch orientierte vergleichende Literaturwissenschaft zurückgreifend – zu den populärsten, vielfach aufgegriffenen und dadurch stark beanspruchten gehört. Ein erneutes Aufleben dieses Motivs, das sich in den beiden letzten durch Migrationsprozesse und variierende Mobilitätsformen kennzeichnenden Jahrzehnten des 21. Jhs. manifestiert, ermutigt aber zum nochmaligen Herangehen an die von der Schriftstellerin entworfenen Bilder der Heimat. So folgt – methodologisch gesehen – meine monografische Studie des Prosawerkes von Ruth Storm, das hiermit alle Romane und autobiografischen Werke nach 194534, ausgenommen ihre Kinder- und Jugendliteraturbücher, 32 Helbig, Ruth Storm (wie Anm. 5), S. 173. 33 Hier spiele ich auf die Aussage von Horst Bienek an, in der er das Bedürfnis formuliert, die verlorene Heimat, besonders die Kindheitszeit, in seinen Romanen wiederfinden zu wollen: »In diesen Büchern habe ich so etwas wie Heimat gefunden«. Vgl. H. Bienek: Reise in die Kindheit. Wiedersehen mit Schlesien. München 1988, S. 181. 34 In der Monografie wird nicht auf die Vorkriegserzählungen aus dem Band Ein Mann kehrt heim (1937) eingegangen, die sich erstens einer anderen Literaturperiode (R. Storms Debüt

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umfasst, einer Kombination von den in den 1990er Jahren sich im literaturwissenschaftlichen Diskurs etablierenden und dann immer wieder aufgegriffenen Konzepten von Erinnerung, Raum und Narrativ.35 Diese Theorien wurden schon in früheren literaturwissenschaftlichen Studien über deutschsprachige Literatur aus Schlesien angewandt, jedoch in anderer Form und mit ungleicher Intensität.36 Denkt man im Fall des Prosawerkes von Ruth Storm an die Verflechtung von Heimat, Erinnerung, Raum und Narrativ, so muss man anmerken, dass alle vier Elemente sich hierzu auf autobiografischer und fiktionaler Ebene abbilden37. Das »Verlustempfinden eines Biotops«38, von Hubert Orłowski Deprivation genannt, erwies sich für sie, genauso wie für viele Autoren der ehemaligen Ostgebiete Deutschlands, als ästhetisch prägend39 und führte zu einer neuen Bedeutung des Wortes Heimat, und im Nachhinein zur Entstehung einer Erinnerungsmetapher40. Unter diesem Begriff versteht Aleida Assmann eine Verschriftlichung, Verräumlichung und Temporalität von Erinnerungen. Das Niederschreiben von Erlebtem wird nämlich auf das Räumliche fixiert und in einem konkreten

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im Dritten Reich) zuordnen lassen und zweitens aus der Zeit vor der Vertreibung aus Niederschlesien stammen, was die Anwendung von Erinnerungskonzepten nutzlos machen würde. Ebenfalls nicht behandelt wurden von mir Erzählungen aus der Sammlung Das geheime Brot. Erlebtes und Bewahrtes. Erzählungen (1985), die vorher verstreut in verschiedenen Zeitschriften der Vertriebenenverbände erschienen sind. Vgl. B. Neumann: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer »Fictions of Memory«. Berlin 2005. Vgl. dazu z. B. F. Eigler: Heimat, Space, Narrative. Toward a Transnational Approach to Flight an Expulsion. Rochester (NY) 2014, S. 103–123; Zimniak, Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945 (wie Anm. 13), S. 133–260. Es ist anzumerken, dass sich hiermit der Begriff des Autobiografischen nicht auf gattungsspezifische Merkmale bezieht, sondern mehr als eine nicht normativ bedingte autobiografisch geprägte Schreibweise versteht. Vgl. H. Peitsch: »Deutschlands Gedächtnis und seine dunkelste Zeit«. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945. Berlin 1990, S. 17. Auch J. Kała˛z˙ny verweist darauf, dass die Schriftsteller der sog. ersten Generation zu autobiografischen Prosaformen greifen. Vgl. J. Kała˛z˙ny: Mie˛dzy historia˛ a pamie˛cia˛. Druga wojna ´swiatowa w literaturze niemieckiej ostatniego dwudziestolecia. In: Druga wojna ´swiatowa w pamie˛ci kulturowej w Polsce i w Niemczech, hrsg. von J. Kała˛z˙ny, A. Korzeniewska, B. Korzeniewski. Gdan´sk 2015, S. 29. H. Orłowski: Zur Semantik der Deprivation nach 1945. In: Eine Provinz in der Literatur. Schlesien zwischen Wirklichkeit und Imagination, hrsg. von E. Białek, R. Buczek, P. Zimniak. Wrocław / Zielona Góra 2005, S. 203. 2005 bestand Orłowski dabei auf einen unpolitischen Gebrauch des Begriffs Deprivation und forderte »einen typologischen Überblick des gesamten […] divergierenden Vertreibungskomplexes, [der] eine ganzheitliche Erfassung ermöglichen [würde].« Vgl. ebd., S. 203. Im Kontext des Heimatverlustes wird meistens die Aussage Chr. Graf von Krockows herangezogen, in der die Rolle des Heimatverlustes bei der bewussten Konstituierung des Heimatbegriffs betont wird: »Denn sie beginnt im Verlust. Vielmehr, schärfer: sie ist der Verlust.« Vgl. Chr. Graf v. Krockow: Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema. München 1992, S. 16. Vgl. Orłowski, Zur Semantik der Deprivation nach 1945 (wie Anm. 38), S. 211.

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Zeitrahmen eingeschlossen, wodurch es »zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung«41 kommt. Von dem Konzept der Erinnerungsmetapher ausgehend, wird auch in der vorliegenden Monografie die Frage nach der Dynamik des Erinnerungsprozesses im Prosawerk von Ruth Storm gestellt, der sich über eine Zeitspanne von den 1950er bis in die 1970er Jahre erstreckt, und sowohl die Flexibilität des Gedächtnispotenzials42 als auch die Transposition der Erinnerungsabläufe, die in Form von Verdichtung, Narration und Gattung in Erscheinung treten, umfasst. Die von Astrid Erll formulierte Verdichtung bildet allerdings ein vielschichtiges Gebilde von perzeptiven Komponenten und Erlebnisformen sowie deren Kodierung und weiterer Konstruktionen und Konfigurationen von neuen Zeichen-Systemen43. Solch ein verdichtetes Gebilde und dessen narrative Realisierung implizieren nach A. Assmann die zentrale Frage nach dem politischen und moralischen Wertewechsel und dessen Einfluss sowie die »Umbildungsarbeit an der Vergangenheit« oder nach dem Werterahmen, in dem sich bestimmte Ereignisse ereignet haben und in welchem sie wieder aufgerufen wurden44. Diese Frage mag auch im Kontext des Werkes von Ruth Storm an Bedeutung gewinnen, denn auch die Schriftstellerin verdichtet die individuellen sowie kollektiv erlebten Ereignisse, sie sucht im Narrativ nach einem Kompromiss zwischen ihnen45, nach der Bearbeitung von Erlebtem und Erfahrenem und strebt durch deren Versprachlichung eine »typisierende Annahme« vom »subjektiv anmutenden Geschehen« an46. Die Erinnerungsprozesse realisieren sich nämlich – so Michel de Certeau – in der Sprache und im Narrativ der Figuren- und Erzählerstrategien47, die für die Untersuchung des Heimatbegriffs im Werk von Ruth Storm im Zentrum stehen. Es wird hierzu vor allem auf die Fokalisierungsnormen von Mieke Bal zurückgegriffen, die, durch die von Gérard Genette entwickelten Kriterien zur Erzählerposition eines narrativen Textes inspiriert, eigene Bestimmungen von Fokus vorschlug, aus denen sich dann für die 41 A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2009, S. 29. 42 Hier ist die Fähigkeit des Gedächtnisses gemeint, die als »ein Depot, von dem sich allenfalls Daten- und Faktenmaterial abfragen lassen«, fungiert. Vgl. H. Gidion: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Produktivkraft der Erinnerung. In: Sehnsucht und Erinnerung. Leitmotive zu neuen Lebenswelten, hrsg. von Chr. Neuen. Düsseldorf 2006, S. 218. 43 Vgl. A. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2005, S. 143–166, hier: S. 144ff. 44 A. Assmann: Generationsidentitäten in der neuen deutschen Erinnerungskultur. In: Sehnsucht und Erinnerung (wie Anm. 42), S. 240f. Ähnlich argumentiert auch W. Pinder in seinem »Zeitwürfel«-Konzept, in dem die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen sublimiert wird. Vgl. Orłowski, Zur Semantik der Deprivation nach 1945 (wie Anm. 38), S. 210. 45 Vgl. dazu P. Ricoeur: Pamie˛´c, historia, zapomnienie. Kraków 2006, S. 107. 46 Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen (wie Anm. 43), S. 163. 47 Vgl. M. de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 143–154.

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Analyse des Storm’schen Werkes konkrete Fragestellungen ergeben. Es handelt sich dabei aber nicht nur um die Diegese, um das Verhältnis zwischen Betrachter (Fokalisator) und dem Sachverhalt seiner Wahrnehmung (Objekt), sondern um das in diesem Akt von Bal vorausgesetzte Überqueren von individuellem und kollektivem Dasein48, das sich zwangsläufig mit dem Erinnerungsprozess überschneidet. Durch diese Technik wird deutlich, auf welche Objekte sich das Erzählen fokussiert und welche dem Erzähler entgleiten bzw. von ihm mit Absicht übersehen werden. Die Fragen nach dem »Was« und dem »Wie« erscheinen für die Präsentation des Geschehens als entscheidend. Im Hinblick auf das zu analysierende Prosawerk von Ruth Storm gewinnt ebenfalls Bals »Charaktere«Konzept an Bedeutung, das nach der niederländischen Kulturtheoretikerin wichtige Konstituenten der Figurenkonstruktion ins Spiel bringt: Erstens zeigt sich eine Differenz zwischen dem Subjekt der Fokussierung und den anderen Aktoren der Handlung, vor allem durch die komplexe semantische Funktion des Subjektes und dessen Prädestination zum Charakter und die strukturale Position der anderen Aktoren49. Darüber hinaus sollen die Beschaffenheit von Charakteren, deren Zuständigkeit, die Beziehungen zu anderen (Charakteren, Aktoren), die Wiederholbarkeit und Verdichtung ihrer Eigenschaften sowie die Transformationen, Wandlungen und Wechsel, die wiederum während des Lesens von Lesern/innen rezipiert werden, im Fokus der Betrachtungen stehen50. Für das untersuchte Motiv der Heimat spielen die Charaktere eine wichtige Rolle, denn sie bilden eine wesentliche Grundlage für die Konstituierung von Identität, die Einbeziehung von weiteren Fragen wie nach den Bedingungen für die Auffassung von Persönlichkeit, der Möglichkeit von Formung von Selbst- und Weltverhältnis51, von Herausbildung der Kongruenz mit dem Herkunftsort oder dessen Ablehnung52. Versucht man Bals narratives Verfahren und die sich daraus ergebenden Fragestellungen zu pointieren, so sind die Person des Fokalisierenden und dessen Identität (Erzähler, Charakter, Aktor, Autor etc.) das Ziel der Betrachtung und deren Art hervorzuheben. Dabei dürfen die impliziten Interaktionsmöglichkeiten mit dem Leser nicht übersehen werden. Sie leiten nämlich zu einem anderen, allerdings im Kontext des Heimat-Motivs wichtigen, methodologischen Ansatz über, der auf der von Shlomith Rimmon-Kenan durch psy48 49 50 51

Vgl. M. Bal: Narratology: Introduction to the Theory of Narrative. London 2009, S. 11. Vgl. ebd., S. 114f. Vgl. ebd., S. 129ff. Zur klassischen Definition der Identität vgl. D. Heinrich: Identität – Begriffe, Probleme, Grenzen. In: Identität, hrsg. von O. Marquard, K. Stierle. München 1979, S. 133–186, hier: S. 175ff. 52 Die Übereinstimmung mit der Umgebung, der Gemeinschaft, das Gefühl der Zugehörigkeit gehören nach J. Zirfas zu den wichtigsten Merkmalen von Identität. Vgl. J. Zirfas, B. Jörissen: Phänomenologien der Identität. Wiesbaden 2007, S. 126.

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chologisch-ideologische Aspekte erweiterten Fokalisierung53 aufbaut, die – Genettes und Bals Konzepte verknüpfend bzw. überbrückend – neue Aspekte der Narratologie entwickelt: den Einblick eines homo- bzw. autodiegetischen versus heterodiegetischen Erzählers in die emotionale Sphäre des Charakters bzw. der Aktoren, die Einbeziehung eines dominierenden, wertenden Urteils, dem individuelle Ansichten entgegengestellt sind sowie eine Panoramaperspektive, die alle Zeit- und Raumdimensionen umfasst54. Ein weiterer bedeutender Faktor in der narrativen Darstellung von Storms Heimat ist somit der Raum, der nach Bal aus dem Fokus von travelling gaze betrachtet wird55. Diese Form aktiviert das sensorische Potenzial eines Erzählers bzw. Charakters, der den Raum semantisch auflädt und dessen Reziprozität exemplifiziert. Der Raum kann nämlich zum Objekt der Betrachtung werden, aber er vermag auch die Charaktere / Aktoren zu beeinflussen; als Raum der Heimat – was im Zentrum der vorliegenden Analyse steht – mag er allerdings eigene spezifische Merkmale aufweisen, sich als geschlossen, heterotopisch oder offen, als Behälter von kulturellen Erscheinungen zeigen und zum Wechselspiel von wirklichen Lebensformen und deren symbolischen Wahrnehmungen werden56. Im Kontext der Studien über die Heimat spielt der Raum als ein dyna53 In den vorliegenden Überlegungen wird nicht der Terminus Perspektive gebraucht, der die von F. Stanzel eingeführte und in der Literaturwissenschaft fest etablierte Einteilung in einen auktorialen, personalen und Ich-Erzähler voraussetzt, und an welche die im Motto zu dieser Monografie angebrachten Worte aus Chr. Wolfs Roman Kindheitsmuster erinnern, sondern die von G. Genette, M. Bal und S. Rimmon-Kenan vorgeschlagene – wenn auch unterschiedlich definierte und voneinander abweichende – Sichtweise, die jeweils unter Einbeziehung sensorischer Aspekte zustande kommt, und – so Bals Stellungnahme – eine narratologische Dynamik, die auf Visualisierung und Metaphorik beruht, vorantreibt. Allen hier erwähnten Standorten ist die Überzeugung gemeinsam, dass die gewählte Sichtweise die Mitteilung des Erzählers beeinflusst. Zu diesen Aspekten vgl. F.K. Stanzel: Typische Formen des Romans. Göttingen 1967, S. 16f.; M. Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006, S. 118; G. Genette: Die Erzählung. München 1998, S. 133 und 153; S. RimmonKenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London / New York 2002, S.72–86. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass sich die vorzunehmende Analyse nur auf ausgewählte narratologische Probleme stützt, die zu einer komplexeren Darstellung des Heimat-Motivs beitragen. 54 Rimmon-Kenan, Narrative Fiction (wie Anm. 53), S. 72–86. 55 Vgl. Bal, Narratology (wie Anm. 48), S. 133–141. 56 Hier spiele ich nachweislich auf die gängigen Raumtheorien an, die sich in den letzten Jahrzehnten infolge vom Spatial Turn entwickelt haben, und die für die vorliegende Monografie von Bedeutung sind, denn die Kategorie der topologischen Wende kann nicht nur das Narrativ von der Heimat bestimmen, sondern auch ihr Verständnis maßgeblich beeinflussen. Für die Analyse werden insbesondere ausgewählte theoretische Ansätze von M. Foucault (Heterotopie), H. Lefebvre (sozialer Raum), M. Bachtin (Chronotopos) sowie genderspezifische und psychologische Raumdeutungen herangezogen. Vgl. in der Bibliografie Aufsätze und Monografien von M. Foucault, H. Lefebvre, W. Hallet und B. Neumann, S. Günzel, G. Lehnert, S. Bauriedl, M. Schier und A. Strüver. F. Eigler bemerkt aber, dass sich die Definition der Raumtheorien (z. B. die von D. Bachmann-Medick) mit dem Raumkonzept der Heimat

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mischer Bereich57 eine außerordentliche Rolle, indem er zur Projektionsfläche von individuellen sowie kollektiven Erfahrungen wird, die – so Paul Ricoeur – sich im Rhythmus von Selektion, Konfiguration und Perspektivierung abspielen58. Im Hinblick auf das Prosawerk von Ruth Storm stellt sich somit die Frage nach der Auswahl von Heimat-Räumen, deren Anordnung und Auffassung. Hierzu werde ich besonders nachdrücklich auf das Problem einer Wechselbeziehung zwischen dem fokalisierenden Subjekt und dessen zu betrachtenden Objekten, die einen Raum konstituieren bzw. selbst Raum sind, eingehen, genauer ausgedrückt – auf das Problem der dadurch zwischen beiden Phänomenen erzeugten Atmosphäre, die nach Gernot Böhme sowohl aus dem Materiellen als auch dem Unfassbaren, Geistigen besteht59. Die Erschließung des Austausches von Raum und Subjekt samt dessen Emotionen und Gefühlen lässt60 – so mein Forschungsansatz – die Beziehung zur Heimat konkretisieren, indem das Verborgene, das bisher Verschwiegene, enthüllt und sichtbar gemacht wird. Diese Freilegung des Verdrängten ist besonders als Erinnerungsmodus von Bedeutung, denn auch R. Storms Prosawerke kennzeichnet eine nach Hannah Arendt für die Nachkriegsjahre typische Zurückgezogenheit im Prozess des kommunikativen Gedächtnisses61, die in den ersten zwei Jahrzehnten hauptsächlich auf das Pro-

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nicht gleichsetzen lässt, denn nach Bachmann-Medick sei der Raum Ausdruck von kulturellen Praktiken, dynamischen sozialen Beziehungen, die auf eine Veränderbarkeit hindeuten, wobei Heimat Stabilität von Identität und Dominanz des Lokalen bedeutet. Vgl. F. Eigler: Flucht und Vertreibung in der Gegenwartsliteratur: Methodologische Überlegungen zu Heimat- und Raumbegriff. In: Heimat als Chance und Herausforderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat, hrsg. von C. Bescansa, I. Nagelschmidt. Berlin 2014, S. 21–50, hier: S. 27f. Der Begriff des »dynamischen Raumes« ist nur scheinbar neu. Schon in den 1970er Jahren definierte B. Hillebrand den sog. erlebten Raum, der »für die Personen zum Dialogpartner wird, [in dem sich der Mensch – R.D.-J.] auf die räumliche Geborgenheit angewiesen sieht, wo er sich in einer fundamentalen Weise dem Seienden und dem Sein der Welt verbunden fühlt«. B. Hillebrand: Mensch und Raum. München 1971, S. 35. Auch J. Lotman verweist Anfang der 1970er Jahre auf »ein System räumlicher Relationen«, das als »Prinzip der Organisation« von literarischen Texten fungieren kann. Um dieses Prinzip herum werden nicht nur Objekte, Sachen oder Personen gruppiert, sondern auch »nichträumliche Charakteristiken«. Vgl. J. M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, S. 316, 330. Vgl. Ricoeur, Zeit und Erzählung (wie Anm. 31), S. 87ff. G. Böhme zählt zu den beiden Kategorien des Raumes u. a. Atmosphäre erzeugende Gegenstände, Ton und Geräusch, Licht und Farbe oder Synästhesien. All diese Merkmale werden in meinen Analysen und Interpretationen von R. Storms Prosawerk ansatzweise Gebrauch finden. Vgl. zu G. Böhmes Kategorie der raumgestaltenden Atmosphäre z. B. G. Böhme: Atmosphäre. In: Online-Lexikon Naturphilosophie. Universitätsbibliothek Heidelberg [Zugriff: 5. 04. 2021]; E. Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 59f. G. Lehnert unterscheidet nach A.R. Damásio explizit zwischen transparenten Emotionen im Raum (»Bühne des Körpers«) und verborgenen Gefühlen (»Bühne des Geistes«). Vgl. G. Lehnert: Raum und Gefühl. In: Dies.: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011, S. 9–25, hier: S. 18. H. Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a. M. 1976, S. 35f.

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blem der Täter und Opfer, aber auch der verlorenen Heimat, der Flucht und Vertreibung zutraf. Die Triade Erinnerung – Raum – Erzählen kann – so ein weiterer methodologischer Ansatz – ohne die Kategorie des Geschlechts nicht auskommen. Der Verlust der Heimat war bislang vorrangig die Domäne männlicher Autoren und die Texte der aus Schlesien stammenden bzw. mit der Region verbundenen Schriftstellerinnen bilden im Kontext der Vertriebenenliteratur lediglich eine Ausnahme. Es gehören hierzu solche Namen wie Dagmar von Mutius, Traud Gravenhorst oder Ruth Hoffmann, deren Werken vereinzelte literarische Studien gewidmet wurden62. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Erinnerung, Raum und Geschlecht fand in Bezug auf ›schlesische‹ Autorinnen wenig Beachtung, obwohl geschlechtliche Codierungen von Erinnerungen als Forschungsfrage in den letzten Jahrzehnten häufiger aufgegriffen wird63, entsprechend dem Postulat nach einem »Sichtbarmachen von Geschlecht in der Erinnerungskultur«64. Diese Forschungsrichtung bleibt aktuell jedoch in Ansätzen stecken, denn dessen Realisierung würde einerseits die Trennung von national, und somit männlich ausgerichteten Erinnerungskulturen bedeuten, andererseits ein duales Modell von genderorientierten Erinnerungsmodi nach sich ziehen. Die Suche nach einer Verknüpfung von Erzählen und Geschlecht mündet, wie es vorhersehbar war, in einen Katalog von vermeintlich »weiblichen« Schreibstrategien, zu welchen das Thema Privates (meistens Familiäres, individuelle Erfahrungen), Erzählperspektive (Ich-Erzähler) und Figurenrede (direkte bzw. indirekte Rede) gehören65. Eine genderorientierte Erinnerungskultur müsste – so Silvia Schraut und Silvia Paletschek – sich jedoch von nationalen Zugehörigkeitsmechanismen befreien und in transnationale Zonen übertragen werden66, für welche sich sowohl 62 Vgl. S. Kersten: Heimat und Fremde. Dagmar von Mutius’ »Besuche am Rande der Tage«. In: Eine Provinz in der Literatur (wie Anm. 38), S. 303–312; über M. Taubitz’ Werke als Erinnerungsort vgl. Zimniak, Niederschlesien als Erinnerungsraum (wie Anm. 13), S. 169–192. 63 Vgl. A. Rutka: Erinnern und Geschlecht in zeitgenössischen deutschen Familien- und Generationenromanen. Lublin 2011; S. Schraut, S. Paletschek: Erinnerung und Geschlecht – auf der Suche nach einer transnationalen Erinnerungskultur in Europa. In: »Historische Mitteilungen« 19 (2006), S. 15–28. Auch J. Joachimsthaler betont die besondere Rolle der Region, die sich diskursiv von der Nation abgrenzen lässt (das Regionale als Modus der Grenzziehung). Vgl. Joachimsthaler, Die Literarisierung einer Region und die Regionalisierung ihrer Literatur (wie Anm. 4), S. 17. 64 S. Schraut und S. Paletschek postulieren außerdem die Bezugnahme auf »das Verhältnis von Erinnerung, Geschlecht und Raum bzw. die Implementierung neuer gendersensibler Erinnerungsorte in die deutsche und europäische Erinnerungskultur« sowie »die Entwicklung hierfür geeigneter Präsentationsmedien, insbesondere [des Internets – R.D.–J.].« Vgl. Schraut, Paletschek, Erinnerung und Geschlecht – auf der Suche nach einer transnationalen Erinnerungskultur in Europa (wie Anm. 63), S. 15. 65 Vgl. ebd., S. 21ff. 66 Vgl. ebd., S. 23ff.

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Einleitung

Grenzräume als auch Regionen sehr gut eignen. Thorsten Erdbrügger, Inga Probst und Ilse Nagelschmidt führen dagegen in den Erinnerungsdiskurs die Kategorie der Geschlechtergedächtnisse als ein Interdependenzgeflecht von Gender-Konstellationen des Erinnerns und Vergessens ein. Es setzt eine Pluralität von Erinnerungen voraus, die auf Gegenbeziehung von individuellen und kollektiven Gedächtnismodi beruht und die Entstehung von zahlreichen Konstruktionen bedingt.67 Die Leipziger Literaturwissenschaftler verweisen dabei auf das Gegenspiel von personalisiertem Erinnern und einer »fremden Erinnerungshoheit«. Dieser Abgrenzung nach Außen entspricht in vielen Texten ein Rückzug auf das Ur-Eigenste. Daraus resultiert vielfach eine Inszenierung des Gedächtnisses über Leib- und Körpermotive, wobei der Körper als diskursiver präfigurierter Geschlechtskörper aufgefasst wird. Geschlecht und Erinnerung zusammenzudenken heißt, ihren Konstruktcharakter zu betonen.«68 So versteht sich meine Analyse des Prosawerkes von R. Storm als ein Versuch, die Frage nach Gegenrelationen zwischen individuellen und kollektiven Gedächtnismodi, nach den narrativen Strategien der Autorin zu beantworten und diese zu (de)konstruieren. Die methodologischen literaturwissenschaftlichen Ansätze schaffen allerdings nur Grundlagen für Analyse und Interpretation, die monografisch auf das Motiv der Heimat fokussiert sind. Die traditionsreiche, kulturhistorische sowie literaturwissenschaftliche Geschichte des Begriffs Heimat, die im Kapitel 1 auf ihren wichtigeren Entwicklungsetappen verkürzt präsentiert wird und im Kapitel 2 ihre reale Anwendung auf Lebensstationen der Schriftstellerin Ruth Storm annimmt, liefern viele wissenschaftliche Anregungen und Modelle, von denen das von Gertrude Cepl-Kaufmann im Hinblick auf den Heimatbegriff in Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel vorgeschlagene triadische Konzept einen universellen, vom konkreten Raum losgelösten Charakter besitzt. G. Cepl-Kaufmann transponiert zunächst die »Materialität von Raum« ins Sichtbare und untersucht die Facetten des Lebensraumes und deren Funktion. Im Weiteren wird der heimatliche Lebensraum als »Muster für Lebensweltidentifikation« befragt und letztendlich als Folge der »Verlusterfahrung« im schon ortsunabhängigen, mehr allgemeinen, sogar ontologischen Sinne69 dargestellt. Dieses Konzept bietet auch bei Untersuchungen zu R. Storms Heimatbegriff einen tragfähigen Ausgangspunkt und ein Aufgliederungskriterium. So werden zu67 Vgl. Geschlechtergedächtnisse. Gender-Konstellationen und Erinnerungsmuster in Literatur und Film der Gegenwart, hrsg. von I. Nagelschmidt, I. Probst, Th. Erdbrügger. Berlin 2010, S. 9ff. 68 Ebd., S. 12. 69 Vgl. G. Cepl-Kaufmann: Verlust oder poetische Rettung? Zum Begriff Heimat in Günter Grass’ Danziger Trilogie. In: Literatur und Provinz, hrsg. von H.-G. Pott. Paderborn 1986, S. 61–83, hier: S. 71ff.

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nächst die materiellen Räume im Werk der Schriftstellerin untersucht und auf deren Funktionen im Interaktionensystem hin analysiert (Kapitel 3 und 4, die sich auf die Analyse und Interpretation von Das vorletzte Gericht, Odersaga, … und wurden nicht gefragt, Ein Stückchen Erde stützen); der Begriff Interaktion ist dabei grundlegend, denn nicht nur die Materialität von Räumen bestimmt den Identifikationsbezug des Einzelnen, sondern es ist der »Aktionsraum des Menschen, den er ständig anschauend und handelnd als Wirklichkeit erlebt«70, die dann als ein Gefüge von Werten, sozialen Praktiken und Normen gedeutet wird. So steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen materiellen und geistigen Räumen im Zentrum des 3. Kapitels. Der Versuch, die Heimat unter Zuhilfenahme von narrativen Strategien und genderorientieren Raumkonzepten ins Konkrete zu übertragen, würde jedoch zu kurz greifen, wenn das Geistige71, das, was als identitätsstiftend sensu stricto begriffen wird, außer Acht gelassen bliebe. Mit den identitätsprägenden Komponenten des Storm’schen Heimatbegriffs beschäftige ich mich vor allem im Kapitel 5, wo die weiblichen Figuren, insbesondere die historische Gestalt der heiligen Hedwig, als Indikatoren der Identifikation mit den Lebensräumen aufgefasst werden und die die Heimat als solche konstruieren (die Analyse stützt sich hiermit auf … und wurden nicht gefragt, Odersaga und Tausend Jahre – ein Tag). Das letzte Korpus der zu untersuchenden Werke (Das vorletzte Gericht, Der Verkleidete, Ich schrieb es auf, Unter neuen Dächern) kreist um die Verlusterfahrung und deren Einfluss auf die Konstruktion von Heimatbildern. Der Wandel des Heimatbegriffs, der sich sowohl autobiografisch als auch ästhetisch manifestiert, ist – so meine These – im Fall von Ruth Storm nicht nur auf die Erfahrung des Heimatverlustes, die Flucht und Vertreibung zurückzuführen. Die Heimat beginnt an ihren festen Konturen zu verlieren, als die Geschichte wie »glühende Lava«72 in das Leben der Protagonisten eindringt, es vereinnahmt und zunächst zur Entfremdung, dann zum Verlust und letztendlich zur Entwurzelung führt. Es stellt sich somit die Frage, wie sich im Fall von Ruth Storm das von Ingeborg Bachmann in ihrer zweiten Frankfurter Vorlesung umfassend besprochene Verhältnis von Ich und Geschichte, dessen Veränderung auf das Phänomen des 20. Jhs. aufmerksam macht, 70 W. Pollex: Heimatbegriff und Heimatreflexion heute. In: »Die Heimat. Zeitschrift für Naturund Landeskunde von Schleswig-Holstein und Hamburg« Jg. 91, Heft 11 / 1984, S. 359–367, hier: S. 360. 71 W. Brepohl hebt auch hervor, dass im Fall von Heimat zunächst die materielle Komponente, dann die geistige aktiviert werden sollte. Vgl. W. Brepohl: Die Heimat als Beziehungsfeld – Entwurf einer soziologischen Theorie der Heimat. In: »Soziale Welt« Jg. 4, H. 1 / 1952/1953, S. 12–22, hier: S. 13. 72 R. Kosellecks Begriff für die Grenzsituation des Zweiten Weltkrieges, die er als »unveränderbare Primärerfahrung« bezeichnet. Vgl. R. Koselleck: Glühende Lava, zur Erinnerung geronnen. Vielerlei Abschied vom Krieg: Erfahrungen, die nicht austauschbar sind. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 105, 06. 05.1995, S. B4.

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Einleitung

dass »das Ich sich nicht mehr in der Geschichte aufhalte, sondern die Geschichte im Ich. Diese Veränderung kennzeichnet den Schritt von dem klassischen autobiographischen Entwicklungsmodell eines Subjekts, das über seine und die Geschichte zu verfügen glaubt, zum ortlos gewordenen Ich, dem seine Identität problematisch geworden ist.«73 Für diese Zäsur im Leben und Werk der Schriftstellerin steht die im Titel der vorliegenden Monografie angeführte Metapher eines gläsernen Berges, die Jochen Hoffbauers Gedicht In der Heimat entlehnt wurde74. Hier wie dort macht sie die Existenz zweier (mehrerer?) Heimaten75 deutlich, die durch ein einschneidendes Ereignis voneinander getrennt werden. Hinter der märchenhaft dualistisch anmutenden Metapher verbergen sich also das reale wie auch imaginäre Bild der Heimat, das aus Sehnsucht nach der verlorenen resultiert und die – dem Konzept einer restorative[n] nostalgia, rekonstruierenden, wie auch reflexive[n] nostalgia, konstruierenden, Nostalgie76 zufolge – ein Zeiten und Räume überspringendes, durchaus ambivalentes Gebilde77 entstehen lässt. Es trägt einen generativen Charakter und impliziert die für regionale sowie überregionale literatur- und kulturwissenschaftliche Studien charakteristischen Fragen nach (un)möglichen Heimat(en), deren Nutzen für die Gegenwart und Zukunft. Die von mir herangezogenen methodologischen Ansätze sowie Heimat-Konzepte erlauben somit folgende Fragestellungen: 1. Welche Erinnerungsmetaphern werden von Ruth Storm gebraucht, um die Heimat zu rekonstruieren?

73 S. Weigel: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 141f. 74 Vgl. J. Hoffbauer: In der Heimat. In: Ders.: Passierscheine. Gedichte. München 1976, S. 12. J. Hoffbauer (1923–2006) gehört zu den aus Schlesien stammenden Dichtern. Er wurde 1963 mit dem Eichendorff-Preis des Wangener Kreises ausgezeichnet. Bei J. Hoffbauer bilden allerdings der Zweite Weltkrieg und die Vertreibung die Grenzerfahrung und somit eine Zäsur in seinem ästhetischen Programm. Vgl. https://kulturportal-west-ost.eu/biographien/hoffbau er-jochen-2 [Zugriff: 7. 04. 2021]. 75 Vgl. zu H. Orłowskis Heimat im Plural als Produkt einer Grenzlandliteratur H. Orłowski: Grenzlandliteratur. Zur Karriere eines Begriffs und Phänomens. In: Heimat und Heimatliteratur in Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. von. H. Orłowski. Poznan´ 1993, S. 9–18, hier: S. 15. 76 Die Ausdifferenzierung des Begriffs Nostalgie stammt von S. Boym, die das Balancieren zwischen Verlorenem und Gegenwärtigem herausstellt, was ein Versuch ist, auf der einen Seite die Tradition zu beschwören und auf der anderen die Wahrnehmung der flüchtigen Gegenwart zu akzeptieren. Vgl. S. Boym: The Future of Nostalgia. New York 2001; S. Boym: Dyskomfort nostalgii. In: (Kon)teksty pamie˛ci. Antologia, hrsg. von K. Kon´czał. Warszawa 2014, S. 327–344, hier: S. 337. 77 In der Forschung wird häufig auf die Ambivalenz des Begriffes Heimat, auf dessen »Geschlossenheit und Offenheit« hingewiesen. Vgl. Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzeptes, hrsg. von G. Gebhard, O. Geisler, S. Schröter. Bielefeld 2007, S. 45.

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2. Haben wir es im Fall von R. Storms Werk mit dem Prozess der Rekonstruktion, Konstruktion oder Dekonstruktion von individuellen und kollektiven Heimatbildern zu tun? Welche Rolle ist dabei dem Geschlecht (der Schreibenden und der Figuren) zuzuschreiben? 3. Welche Rolle spielt im Erinnerungsprozess der Raum und wie wird er exponiert? 4. Wie beeinflussen die narrativen Strategien die Wahrnehmung der Heimat, insbesondere die Stellung des Fokalisierenden, des Objekts und das Verhältnis zwischen beiden? Die Beantwortung der Fragen soll nicht nur das Bild der verlorenen Heimat im Werk einer aus Schlesien stammenden Autorin zeigen und dessen räumlichen, zeitlichen sowie identitätsprägenden Rahmen näherbringen, sondern es auch im Kontext der globalen Weltaneignung und der Möglichkeiten der Selbstbestimmung eines Individuums bzw. Kollektivs beleuchten. Diese Monografie wäre ohne Wanderungen durch Räume, Zeiten und schlesische Landschaften nicht zustande gekommen, die unter anderem durch mehrmalige Besuche im Wangener Haus und Archiv von Ruth Storm möglich waren. Mein Dank gilt in erster Linie Herrn Prof. Dr. Peter-Christoph Storm, dem Sohn der Schriftstellerin, für seine fachliche Unterstützung, Gastfreundschaft und viele interessante Gespräche über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bei Prof. Dr. Mirosława Czarnecka (Uniwersytet Wrocławski) möchte ich mich für alle Anmerkungen und weiterführenden Hinweise bedanken, die mir eine wertvolle Hilfe bei der Erstellung dieser Monografie waren. Ein besonderes Dankeschön möchte ich Frau Dr. Elisabeth Venohr (Universität des Saarlandes / Saarbrücken) und Herrn Mag. Volker Venohr für ihre stetige Hilfsbereitschaft, ihre inspirierenden Ratschläge und die Unterstützung bei der Verfertigung des druckreifen Manuskripts aussprechen. Meinen Angehörigen verbleibe ich mit Dankesworten für Geduld, Trost sowie ihr engagiertes und unermüdliches Teilen von meinen Interessen tief verpflichtet.

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Heimat – zur Transformation des Begriffs. Ein kulturhistorischer und literaturwissenschaftlicher Überblick

1.1

Aus der »Undurchsichtigkeit«78 herauskommen – Definitionsversuche

Heimat ist ein kulturwissenschaftliches Phänomen von universellem und aus wissenschaftlicher Sicht gesehen interdisziplinärem Charakter, denn Heimat bildet für Soziologen, Politologen, Psychologen, Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaftler einen immerwährenden Forschungsgegenstand.79 Trotz seines umfassenden Wesens unterliegt es dennoch manch einer Beschränkung und »ließe sich mehr als Assoziationsgenerator«80 verstehen. Der Begriff Heimat bezieht sich hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum81, wo er einen besonderen Stellenwert besitzt und sogar als ein deutsches »Urwort«82 angesehen wird. In vielen anderen Kulturen fehlt es entweder an einer ähnlichen konzeptuellen oder adäquaten sprachlichen Realisierung dieses Phänomens. Manfred Seifert bemerkt ein Ausbleiben dieses Begriffs83 in anderen Kulturen wie folgt:

78 Mit der Anmerkung über die »Undurchsichtigkeit« des Begriffs Heimat bzw. »Provokation der Begrifflichkeit« beginnen viele Studien über die Heimat. Vgl. Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzeptes (wie Anm. 77), S. 9; J. Bauch: Heimat – Versuch einer Annäherung? In: »Universitas« Jg. 46, H. 5 / 1991, S. 459–467; M. Frisch: Tagebücher 1966–1971. Frankfurt a.M. 1994, S. 382–385 (Suhrkamp Taschenbuch). 79 Alle genannten Bereiche weisen viele Forschungsarbeiten zum Thema Heimat auf, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Vgl. dazu Studien von A. Bastian, W. Belschner et al., A. Kossert, I. Nagelschmidt und C. Bescansa, K. Weigelt, M. Hülz et al., O. Kühne und A. Spellerberg, Ö. Eryilmaz u. a. 80 Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzeptes (wie Anm. 77), S. 9. 81 Vgl. C. Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley / Los Angeles 1990. 82 Vgl. H.-D. Gelfert: Was ist deutsch? München 2005, S. 23. 83 Die These vom deutschen Phänomen der Heimat wird heutzutage in vielen Studien in Frage gestellt und der Mangel an sprachlicher sowie mentaler Entsprechung in anderen Kulturen nicht als Lücke, sondern eine Alternative angesehen. Vgl. J. Jäger: Heimat. In: DocupediaZeitgeschichte. http://docupedia.de/zg/Jaeger_heimat_v1_de_2017 [Zugriff: 14. 02. 2021].

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Heimat – zur Transformation des Begriffs

Das Wort »Heimat« in seinem klassischen deutschen Begriffsfeld ist in anderen Sprachen ohne direkte Entsprechung. Deshalb wird etwa im Amerikanischen zur adäquaten Bezeichnung der deutsche Begriff verwendet (German heimat). Englisch homeland bzw. native land, französisch lieu d′origine bzw. pays natal sowie tschechisch domov, polnisch mała ojczyzna, russisch rodina, rumänisch ¸tara natala und ungarisch szülöföld besitzen große inhaltliche Nähe, ohne das gesamte Bedeutungsspektrum abzudecken.84

In vielen Kulturen findet der Begriff Heimat lediglich seine Ersatzform im allumfassenden Vaterland, das zum Repräsentanten des Individuums sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene wird.85 Der sich in der deutschen Sprache im Zeitraum vom 11. bis zum 18. Jh. vollzogene Wandel des Begriffs Heimat verweist einerseits auf eine Erweiterung des Wortfeldes86, andererseits verdeutlicht er ein sich über Jahrhunderte anhaltendes Zugehörigkeitsverhältnis. Ursprünglich handelt es sich um eine Identifikation mit der Herkunft und Bindung an die Sippe87, an das gemeinsame Heim, dann aber um eine Zuordnung zum bestimmten Ort bzw. Raum. Im Laufe der Jahrhunderte bekommt der Begriff, wie Jens Jäger hervorhebt, einen »rechtlichen Status, der mit dem Begriff ›Heimatrecht‹ verbunden ist und sich auf Ansässig84 M. Seifert: Heimat. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2016. https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p42287 [Zugriff: 18. 01. 2021]. Auch die in diesem Kontext oft zitierte Aussage von Max Frisch bekräftigt den deutschen Charakter dieses Wortes, insbesondere auf der semantischen Ebene. Vgl. M. Frisch: Gesammelte Werke, Bd. 6, hrsg. von H. Mayer, W. Schmitz. Frankfurt a.M. 1976, S. 509–513. 85 Unterschiede zwischen Heimat und Vaterland in europäischen Kulturen, besonders der polnischen und tschechischen, untersucht K. Dubeck, indem sie auf eine für die polnische Kultur charakteristische Verwendung des Begriffs Heimat im staatspolitischen Sinne als Vaterland verweist. Im Tschechischen gebraucht man die Begriffe vlast und domov ebenfalls im nationalen Kontext als Vaterland. Vgl. K. Dubeck: Heimat Schlesien nach 1945. Eine Analyse deutscher, polnischer und tschechischer Prosatexte. Hamburg 2003, S. 66–85, hier: S. 67 und S. 85. H.-Chr. Trepte betont – sich auf den polnischen Philosophen L. Kołakowski berufend – dass nach dem Umbruchsjahr 1989 in Polen zur Wiedergeburt des Begriffs Heimat kommt, die dann zum Verschwinden des polnisch-nationalen Denkens hinführt. Vgl. H.-Chr. Trepte: Zur polnischen Literatur des westlichen Grenzraumes. In: Eine Provinz in der Literatur (wie Anm. 38), S. 249–264, hier: S. 256. 86 Mehr zur Etymologie des Wortes Heimat in: W. Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. https://www.dwds.de/wb/etymwb/Heimat [Zugriff: 16. 02. 2021]. Es ist hervorzuheben, dass das Wort Heimat ursprünglich neutral gewesen war, was auf die Gebundenheit an den Hof, das väterliche Erbe zurückzuführen ist. Vgl. H. Bausinger: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Weingarten 1986, S. 76. K. Dubeck geht in ihrer Untersuchung der sprachlichen Herkunft der Heimat auf das lateinische Wort patria zurück, das die staatliche (Vaterland) und väterliche Form (Heimat) dieses Phänomens widerspiegelt. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 53. 87 R. Supranowicz macht in diesem Kontext auf den schwäbischen Spruch aufmerksam, der dem ältesten Sohn das Recht zubilligt, zum Familienerbe und somit dem Hofbesitzer zu werden. Vgl. R. Supranowicz: »(Verlorene) Heimat« – eine neue Utopie? In: »Acta Neophilologica« 3 / 2001, S. 275–288.

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Aus der »Undurchsichtigkeit« herauskommen – Definitionsversuche

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keitsrechte bezieht, erworben durch Geburt, Ansässigkeit oder Heirat, und auch die gemeindliche Verpflichtung auf Fürsorgeleistungen einschließt.«88 Susanne Scharnowski betont dagegen im Kontext des Rechtsstatus von Heimat die Gebundenheit an »eine territorial definierte Solidaritätsgemeinschaft, in der das Individuum konkrete, auch materielle Ansprüche auf Schutz und Fürsorge geltend machen kann«89. Dieser Bezug zum Rechtsstatus sowie eine räumliche Besetzung des Begriffs Heimat wohnten schon von Anfang an – so Jäger – den Lexika- und Wörterbücherdefinitionen, z. B. Meyers Konversationslexikon oder Brockhaus Konversationslexikon des 19. Jhs., inne.90 Die Unveränderlichkeit der beiden semantischen Komponenten von Heimat – einer rechtlichen und einer räumlichen – belegen ebenfalls gegenwärtige Wörterbücher91. Die Überschneidung von Individuellem und Gemeinschaftlichem, von Privatem und Öffentlichem, Geistigem und Materiellem gehört somit zum Wesen des Begriffs Heimat, sie beeinflusst dessen Herausbildung sowie seine normative Zuordnung, bereitet aber durch eine gewisse Offenheit und Transformationsfähigkeit Schwierigkeiten, was Paweł Zimniak dadurch begründet, dass »es tatsächlich unmöglich ist, den Bedeutungsgehalt des Heimatbegriffs anzugeben und in einer einzigen Definition alle Bedeutungsfacetten und Verwendungszusammenhänge zu erörtern. Denn der Begriff wird im Verlauf seiner semantischen Entwicklung sowohl im Bereich rationaler als auch im Kontext irrationaler Bewußtseinsformen angesiedelt.«92 Vor allem diese Verknüpfung von rationalen, rechtlich bedingten, und irrationalen, Emotionen weckenden, Elementen des Heimatbegriffs, also sein Weg von einem Rechts- zu einem Wertbegriff 93, trug über Jahrhunderte zu dessen Aufnahme bei, die jedoch letztendlich nicht in eine normative, möglichst viele Aspekte dieses Phänomens erfassende Definition mündete. Die Möglichkeiten der Erstellung einer solchen umfassenden Definition sind allerdings begrenzt, da der Begriff Heimat allerdings vage und unscharf erscheint, was durch das Fehlen des Stichwortes Heimat bzw. dessen sehr allgemeine Beschreibungen in bedeutenden gegenwärtigen Fachwörterbüchern unterstrichen wird94. Zwar sind sich 88 89 90 91

Vgl. Jäger, Heimat (wie Anm. 83). S. Scharnowski: Heimat. Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt 2019, S. 21f. Vgl. Jäger, Heimat (wie Anm. 83). Die Brockhaus Enzyklopädie weist heute 1069 Stichworte nach, die entweder das Wort Heimat enthalten oder inhaltlich an dieses anknüpfen. Vgl. https://brockhaus.de/search/?t=en zy&s= article&q=Heimat [Zugriff: 14. 02. 2021]. 92 P. Zimniak: Heimatverbundenheit und Weltläufigkeit. In: »Convivium« 2002, S. 76. 93 Den Wertbegriff der Heimat betont als Erste I.-M. Greverus. Vgl. I.-M. Greverus: Auf der Suche nach Heimat. München 1979, S. 64. Vgl. auch Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 65. 94 In vielen literatur- und kulturwissenschaftlichen Wörterbüchern fehlt das Stichwort Heimat gänzlich: Es fehlt z.B. in Themen und Motive in der Literatur (hrsg. von H.S. und I. Daemmrich), in Metzler Literatur Lexikon treten dagegen zwei Definitionen von Heimatkunst und Hei-

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Heimat – zur Transformation des Begriffs

viele Forscher einig, dass sich der Begriff Heimat als eine Triade von territorialem, sozialem und ideellem (emotionalem95) Gehalt96 bzw. als Verknüpfung von Raum, Tradition und Gemeinschaft oder – was am häufigsten explikatorisch angeführt wird – als Gefüge von Raum, Zeit und Identität auffassen lässt97, wobei sich die letzte in Opposition zur Fremde herausbildet98, liegt eine alle Aspekte umfassende Definition noch nicht vor. Dies wirft viele Fragen nach den Gründen dafür auf: Warum bereitet dieser Begriff so viele definitorische Probleme bei gleichzeitiger geradezu enthusiastischer Rezeption und Anwendung in vielen Diskursen und Disziplinen?

1.2

Heimat im Spannungsfeld von Nation und Weltoffenheit – kulturhistorische Wandlung des Begriffs

Solange Heimat als »ein bestimmter landschaftlicher Raum« angesehen wurde und »eine meist ländlich-bäuerliche Daseinsform« umfasste99, blieb sie für Diskurse aller Art überschaubar. Seit der Verwendung von Heimat für nationalpolitische Zwecke setzte ab dem 19. Jh. der Prozess zu deren Instrumentalisierung ein, der nach Susanne Scharnowski zu vielen ›Missverständnissen‹ führte, die »auf Verengungen und Verzerrungen der Perspektive, der Vereinfachung

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matliteratur auf. Vgl. Metzler Literatur Lexikon, hrsg. von D. Burgdorf, Ch. Fasbender, B. Moennighoff. Stuttgart 2007, S. 307. Heimat als emotionale Fixierung ist besonders für Soziologen von Belang; der emotionale Gehalt regt ebenfalls zur Literarisierung von Heimatbildern an. L. Z˙ylin´ski verweist dagegen auf eine besondere Verflechtung von räumlichen und emotionalen Komponenten der Heimat wie z. B. Ansässigkeit, Nähe und Wärme. Vgl. L. Z˙ylin´ski: Od Prus do Europy. Szkice o toz˙samos´ci narodowej Niemców. Torun´ 2014, S. 98f. Ähnlich argumentiert auch P. Blickle: Der neue Heimatbegriff. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit, hrsg. von F. Grucza. Frankfurt a.M. 2012, S. 44. Zum emotionalen Charakter der Heimat aus soziologischer Sicht vgl. R. König: Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze. Köln 1965, S. 421; W. Brepohl: Heimat. In: Evangelisches Soziallexikon. Stuttgart 1958, S. 481–484. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 20. Vgl. hierzu z. B. Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzeptes (wie Anm. 77), S. 10; G. Brude-Firnau: Zur Funktion des Heimatbegriffs in Uwe Johnsohns Tetralogie »Jahrestage«. In: Der Begriff der Heimat in der deutschen Gegenwartsliteratur. München 1987, S. 29–38, hier: S. 31; W. Brepohl: Heimat und Heimatgesinnung als soziologische Begriffe und Wirklichkeiten. In: Das Recht auf die Heimat, Bd. 2, hrsg. von K. Rabl. München 1965, S. 42–58; E. Beutner: Allerlei Heimat. In: Ferne Heimat, nahe Ferne bei Dichtern und Nachdenkern, hrsg. von E. Beutner, K. Rossbacher. Würzburg 2008, S. 15. Den territorialen Aspekt des Heimatbegriffs hob schon I.-M. Greverus als eine der ersten Heimat-Forscher/innen hervor. Vgl. I.-M. Greverus: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt a.M. 1972. Vgl. z. B. B. Schaal: Jenseits von Oder und Lethe. Flucht, Vertreibung und Heimatverlust in Erzähltexten nach 1945 (Günter Grass, Siegfried Lenz, Christa Wolf). Trier 2006, S. 37f. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 307.

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Heimat im Spannungsfeld von Nation und Weltoffenheit

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oder Ausblendung von Sachverhalten oder Begriffsvermischungen«100 beruhte. Ihre bisher neueste kulturhistorische Studie, die das Problem Heimat in diachroner Perspektive zu ergründen versucht, entstand in erster Linie aus der Erfahrung von Fremdheit und infolgedessen der Konfrontation mit dem Eigenen.101 Die von Scharnowski untersuchten Entwicklungsphasen des deutschsprachigen Heimatbegriffs folgen dabei jeweils dem Prinzip der Gleichzeitigkeit der Bewegungen von unten und von oben: der Perspektive des Individuums und der Ideologie102. Diese Betrachtungsweise führt die Autorin zu der These, dass Heimat viel weniger mit Nation und Staat verbunden sei und als Gegenbegriff zu Fortschritt und Moderne erscheine103. Scharnowski dekonstruiert zunächst die herrschende Überzeugung, dass es in der Epoche der Romantik zur Politisierung des Begriffs Heimat gekommen sei. Das romantische Interesse für das Volk, die Natur und Nation kennzeichnen ihrer Meinung nach Immaterialität und Abstraktheit; Natur-, Orts- und Heimatschilderungen entbehren der Konkretheit und werden lediglich generisch benannt104, so dass sich jeder mit ihnen identifizieren kann. Die romantische Sehnsucht, Wanderlust, Liebe zur Ferne und Unbekanntem stehen in Opposition zum philisterhaften Alltag, zur Ortsbindung und zu vertrauten Lebensformen. Im romantischen Sinne ist »Heimat kein Ort, sondern als Vorstellung einer ›ewigen‹ Heimat ein immaterielles, tröstliches, Erinnerungsbild mit religiösen Konnotationen, eine Weltflucht in die Innerlichkeit.«105 Das von Novalis ausgerufene Ziel der irdischen Reise, die den Menschen »immer nach Hause«106 führen soll, legt die zweite Bedeutung des romantischen Heimatbegriffs nahe, der sich im Himmel als dem ersehnten Geborgenheitsort sublimiert. Die romantische Auffassung von Heimat wird aber in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. von einer neuen, schon national geprägten Vorstellung abgelöst. Mit der sich in den deutschen Staaten seit den 30er Jahren des 19. Jhs. vollziehenden Demokratisierung und Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens verändert sich auch der Begriff der Heimat, die nach Scharnowski auch einer den Zeiten angemessenen Neugestaltung folgt. Einerseits äußert sich dieser Prozess durch eine engere Bindung an einen konkreten Ort sowie Einbettung in dessen soziale 100 Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 10. 101 Als DAAD-Lektorin verbrachte S. Scharnowski mehrere Jahre in Großbritanien, wo sie auf das Phänomen der Heimat aus der Perspektive der Fremde schauen konnte. Vgl. ebd., S. 7. 102 Vgl. ebd., S. 13. 103 Vgl. ebd., S. 15. 104 Die Allgemeinheit und Universalität von Eichendorffs Sprache war – so Scharnowski – der Grund, warum sich der Dichter zu jeder Zeit und in jedem politischen System großer Beliebtheit erfreute. Vgl. ebd., S. 28f. 105 Ebd., S. 29. 106 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin 1802, S. 23. (Zit. nach www.deutschestextarchiv.de /book/view/novalis_ofterdingen_1802).

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und kulturelle Struktur, was offensichtlich in Opposition zur Romantik tritt, andererseits wird die Heimat infolge der Migrationswelle der Deutschen nach Amerika zu einer Verlusterfahrung, die bisher im deutschen Kulturraum weitgehend unbekannt war. Die Begründung für jenen ortsgebundenen Begriff der Heimat findet Scharnowski in der Polarisierung von marxistischen und konservativen Kräften. Für die Hauptvertreter der ersten Gruppe – Karl Marx und Friedrich Engels und deren Sympathisanten – sollte die Zeit des industriellen Wandels die Ablösung von alten Strukturen, die auf der Macht des Geldes und der Ausbeutung von Menschen beruhten, gebracht haben; für die Befürworter der konservativen Tendenzen, wie z. B. für den Kulturhistoriker und Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl107, galten dagegen Bauern und Grundbesitzer als Garant für die Aufrechterhaltung der traditionellen Lebensweise. Infolge dieser Denkweise wurden sog. Dorfgeschichten zum Grundstein der Heimatliteratur. Der Begründer dieser Gattung, Berthold Auerbach, war bestrebt, die Heimat als realen, konkreten Ort im regionalen Kontext zu verankern und sie als identitätsstiftend zu betrachten. Seine Dorfgeschichten erzählen von den Sorgen des Alltags auf dem Lande, spiegeln das Kolorit des dörflichen Lebens wider und enthüllen seine Facetten: soziale Probleme, multikulturellen Charakter, menschliche Schicksale, Differenzen zwischen Eigen und Fremd, besonders im Angesicht der Auswanderung nach Amerika, oder Versuche, die Tradition der Familie, des Lokalen sowie die von den Mitmenschen anerkannten Werte zu beschützen108. Der aus den Dorfbildern hervorgehende Realismus, die »Vertrautheit des Autors mit der Geschichte, den Bewohnern, der Topografie und den sprachlichen Eigenheiten des Ortes bürgte[n] für Authentizität«109, die einerseits zur Popularität des Autors beitrug, andererseits die Gattung zum Scheitern verurteilte, denn sie war räumlich, zeitlich und kontextuell beschränkt und konnte weder inhaltlich noch genrespezifisch den Umwälzungen des 19. Jhs. standhalten. Die rasante Industrialisierung und infolge deren der viele Bereiche des menschlichen Lebens beherrschende Fortschritt führten zur Verschiebung des Interesses auf das Neue und Moderne, das von nichts und niemandem aufzuhalten zu sein schien.

107 In W. H. Riehls (1823–1897) vierbändiger Monografie Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik (1851–1869) überschneiden sich die Begriffe von Nation, Umwelt und Familie, denen der Autor einen hohen Wert zuerkannte. Der bedrohlichen Verstädterung des gesellschaftlichen Lebens brachte er dabei eine harmonievolle bäuerliche Daseinsform entgegen. Vgl. zu Riehls Konzept der Kultur F. Lövenich: Verstaatlichte Sittlichkeit. Die konservative Konstruktion der Lebenswelt in Wilhelm Heinrich Riehls »Naturgeschichte des Volkes«. Opladen 1992. 108 Näheres über B. Auerbachs Dorfgeschichten vgl. Berthold Auerbach – Dorfgeschichten, hrsg. von H. Bausinger. Tübingen 2011; Berthold Auerbach. Ein Autor im Kontext des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Chr. Hamann, M. Scheffel. Trier 2013. 109 Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 44.

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Die nächste Entwicklungsphase des Heimatbegriffs datiert Scharnowski um 1900, als in Deutschland die Heimatkunstbewegung entstanden ist, die sich als eine Reaktion auf die sich inzwischen gut etablierten Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse in vielen europäischen Ländern verstehen lässt, bei denen Deutschland den ersten Platz einnahm110. Diese Heimatkunstbewegung war aber nicht der einzige Einwand der damaligen deutschen Gesellschaft gegen den »Leerlauf des nervenzerfetzenden Industriechauvinismus des Zweiten Kaiserreiches«111. Als Gegenreaktion darauf wird, neben vielen anderen Initiativen112, eben auch die Heimatkunstbewegung113 angesehen, die schon seit ihrer Entstehung in Verruf geraten war. Jost Hermand, der diese Bewegung gründlich erforscht hat, führt deren umstrittene Geschichte auf die Interpretationsdichotomie der Linken und Rechten zurück. Als Enthusiasten des Neuen, des Fortschritts und der Verbesserung der Zustände erschienen die Linksliberalen und Linken um 1900 als Gegner der »provinziellen Verspätung« und der »altmodischen Verklemmtheit«114, die man der rechten Ideologie zugeschrieben hat, die sich wiederum – als Widersacher der Modernisierungsprozesse – bemüht sah, die als überholt geltenden Phänomene des Schutzes natürlicher Lebensformen zu bewahren. Die Befürworter der Heimatkunstbewegung identifizierten sich mit den damals immer stärker auftretenden nationalistischen Tendenzen115, was sie für Jahrzehnte diskreditierte; die Erinnerung an diese Tendenzen wurde immer nur dann wachgerufen, wenn »eine Linie von der Romantik über Heimatbewegung und Heimatliteratur zum Nationalsozialismus gezogen werden soll.«116 Sowohl Hermand als auch Scharnowski sehen die Heimatkunstbewegung aus 110 1913 nahm Deutschland den zweiten Platz (nach den USA) in der Rangliste der führenden Industrienationen weltweit ein. Vgl. J. Hermand: Brennpunkt Ökologie. Kulturelle und gesellschaftliche Interventionen. Wien / Köln / Weimar 2020, S. 104. 111 Ebd., S. 109. 112 J. Hermand zählt zu solchen Initiativen um 1900 u. a. Lebensreformbewegung, das Engagement der Autoren der Zeitschrift »Die Tat«, der »Neuen Gemeinschaft«, des »St. GeorgBundes« oder der Gruppe »Geheimes Deutschland« des Stefan-George-Kreises. Er verweist dabei auf den ideologisch gefärbten Hintergrund all dieser Formationen folgenderweise: »Allerdings vollzogen sie sich, was man nicht unterschlagen sollte, in einem ideologischen Umfeld, das eindeutig im Zeichen einer nicht zu übersehenden nationalistischen Hochstimmung stand. […] die Lebensreformbewegung […] war […], ob nur direkt oder indirekt, nicht nur ein Teil der ›Fortschrittlichen Reaktion‹, sondern auch jener ›Völkischen Opposition‹, in der sich bereits gewisse präfaschistische Tendenzen äußerten.« Ebd., S. 109. 113 J. Hermand schlägt hier als Ersatzbegriff ›Heimatschutz-Konzept um 1900‹ vor. Vgl. ebd., S. 115. 114 Ebd., S. 115. 115 Sowohl J. Hermand als auch S. Scharnowski betonen die Tatsache, dass aus dieser Bewegung die späteren nazifaschistischen Kunsttheoretiker (z. B. A. Bartels oder P. Schultze-Naumburg) hervorgegangen sind. Vgl. ebd., S. 115; Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 59. 116 Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 59.

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einer Gegenwartsperspektive, indem sie nach deren Idealen, ökologischem Bewusstsein und ihrer Überzeugung von der Existenz eines menschenfreundlichen Lebensortes fragen, ohne die nationalsozialistischen Hintergründe außer Acht zu lassen. Der Rückblick auf die Entwicklungsstationen der Heimatkunstbewegung verweist auch auf viele sie prägende Veröffentlichungen. Mit Ernst Rudorffs Buch Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur (1880) werden die Zerstörung der Umwelt und die Expansion des Tourismus als Folgen der galoppierenden Industrialisierung sowie des ungezähmten Konsums an den Pranger gestellt. Diese kritische Stimme fand im Nachhinein in anderen, die öffentliche Meinung stark beeinflussenden Publikationen ihr Echo. In zahlreichen Aufsätzen, Manifesten und Büchern diskutierten Autoren die der Natur drohenden Gefahren, deren Ursachen und mögliche Gegenmaßnahmen117. Dem großstädtischen Lärm, dem Verkehr und der in den Industrieregionen herrschenden Lebenshektik stellte man die ländliche Ruhe, die unversehrte Landschaft mit unberührten Gewässern und reiner Luft entgegen, die den zivilisationsmüden Menschen um 1900 Erholung, Geborgenheit und Natürlichkeit wiedergeben sollte. Solche ›Glücksorte‹ machte insbesondere der Heimatroman zu seinen Handlungsräumen, in denen man die ländliche Atmosphäre genießen und in einfachen Bauern die Verkörperung des ›Gesunden‹ finden konnte. Im Gegensatz zu modernen, universellen und globalisierten Formen erwiesen sich diese Räume als konkret, spezialisiert und vielfältig. Scharnowski bemerkt im Hinblick auf jene naturnahen Heimatorte, dass sich in ihnen »das Verhältnis von regionaler Heimat und neuem, von Preußen dominiertem Nationalstaat, der ja keineswegs überall patriotische Begeisterungsstürme auslöste«118, ausdrückt. Das Regionale wird dabei zum Signum von Tradition, Gebundenheit an das Eigene, an Religion und Sitten, wobei sich hinter dem weit entfernten Berliner Staat die alles beherrschende und bezwingende Kraft des Neuen verbirgt. Die Abwehr gegen das Moderne verursacht allerdings verstärkt Abkapselungsmechanismen, die Heimat in geschlossene, hermetische Strukturen umwandeln, zu denen nur Gleichgesinnte unter strikter Beachtung der Regeln der Koexistenz Zugang haben. Von dieser Haltung war der Weg zu nationalistischen Tendenzen nicht sehr weit. Nichtsdestotrotz hebt Hermand das zukunftsorientierte Merkmal der Heimatkunstbewegung hervor, dass ihre Vertreter »unter ›Heimat‹ nicht allein etwas Malerisches oder Chauvinistisches verstanden, sondern zum Kern der Sache vorstießen, nämlich zu den sozioökonomischen Ursachen der verheerenden Auswüchse der fortschreitenden Industrialisierung.«119 Eine ausführli117 Mehr über diese Autoren und deren Werke bei Hermand, Brennpunkt Ökologie (wie Anm. 110), S. 118–121. 118 Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 71. 119 Hermand, Brennpunkt Ökologie (wie Anm. 110), S. 127.

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chere Besprechung der Heimatkunst um 1900 mag vielleicht zu detailliert ausfallen, aber zwischen jener zivilisatorisch kritischen, naturbejahenden Haltung und dem Werk von Ruth Storm lassen sich direkte Verbindungslinien herstellen, die einerseits als verklärende Heimatromantendenzen erscheinen mögen, andererseits jedoch auch als Abkehr von den der aus Oberschlesien stammenden Schriftstellerin gut bekannten Industrielandschaften und Berliner Großstadtbildern interpretiert werden können. Auch Storms Protagonisten finden in einer weit vom Zentrum, mitten in der Natur gelegenen Heimat ihren Zufluchtsort, der sie – trotz schwieriger und politisch unstabiler Zeiten – mit Glück, innerer Harmonie und lange gesuchter Identität belohnt. Als einen einschneidenden Punkt in der Geschichte des Heimatbegriffs sieht Susanne Scharnowski den Ersten Weltkrieg an, der nicht nur als Zuspitzung des bisherigen Industrialisierungs- und Fortschrittkurses erscheint, sondern zur manifesten Verschmelzung von Heimat, Nation und Vaterland wird120, die den Krieg sogar von dessen destruktiver Macht löst und zum Verteidiger der Heimat und zugleich »zum Medium der Widerherstellung eines bereits verlorenen oder immerhin beschädigten Heimatsinns«121 macht. Die Nachkriegssituation in Deutschland, besonders die gespaltene deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik, die zwischen Alt und Neu, Links und Recht, Niederlage und Aufschwung, Stolz und Scham in der Schwebe gehalten wird, bringt erneut den Begriff der Heimat ins Spiel, die für viele Zivilisationsskeptiker, Großstadtwidersacher122 und Gegner der neuen politischen Ordnung zum Zufluchtsort wird. Heimat wird nicht nur zu einem imaginären Ort, sondern auch zur pädagogischen Maßnahme des damaligen Schulwesens. Zum Fach Heimatkunde123 erhoben, soll sie durch die Bildung der Individualität zur Restauration der Gesellschaft und zur Erziehung der Jugend beitragen124. Die ansteigenden natio120 S. Scharnowski verweist auf veräußerte Formen dieser Triade besonders in den Medien, auf Postkarten, Plakaten und in anderen Formen der Unterhaltungskultur vieler europäischer Länder. Vgl. Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 85ff. 121 Ebd., S. 87. 122 Es ist anzumerken, dass für die Heimatliebhaber der Weimarer Republik vor allem Berlin zum Kritikobjekt geworden ist, dem man das destruktive Gesicht des Modernismus, Kosmopolitismus und Amerikanismus vorgehalten hat. Galt Berlin für Linksliberale als »Inbegriff von Modernität und Internationalität«, so setzte ihm die rechtsorientierte Opposition die Vorstellung von »Zuchtlosigkeit« entgegen. Vgl. ebd., S. 89f. 123 An dieser Stelle rekurriert S. Scharnowski auf die Voraussetzungen der Heimatkunde, die vom deutschen Pädagogen E. Spranger in seinem Vortrag Der Bildungswert der Heimatkunde (1923) formuliert wurden, und die sich auf die Schulprogramme ausgewirkt haben. Vgl. ebd., S. 91f. 124 Die nach dem Ersten Weltkrieg von vielen deutschen Intellektuellen und Literaten erhobenen Postulate nach der Neuerziehung der deutschen Jugend fanden in den ästhetischen Debatten der 1920er Jahre ihren Niederschlag. Vgl. dazu R. Dampc-Jarosz, P. Meus: Zwei

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nalistischen Tendenzen nahmen aber schrittweise auf das Bild der Heimat Einfluss. Scharnowskis Urteil darüber geht wiederum auf die Gespaltenheit der deutschen Nation, die sich nicht von der Kränkung der Niederlage, von territorialen Verlusten und moralischen Schäden erholen konnte und Heil suchend nach neuen, träumerisch erfüllten Verwirklichungsräumen strebte. Hans Grimms Roman Volk ohne Raum (1926) war auf diesem Gebiet bahnbrechend, denn er hat nicht nur die Blut- und Bodenliteratur legitimiert und hoffähig gemacht, sondern auch den vermeintlich immensen Unterschied zwischen nationalistischem Ruf nach größeren Lebensräumen im Osten und der verarmten, sozial unattraktiven Heimat hervorgehoben. So wird die Heimat dem Vaterland, das Individuum der Partei und deren Führer entgegengesetzt.125 Die verheerenden Folgen dieser Ideologie und der nationalsozialistischen Raumeroberungspolitik belasteten viele Deutsche erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Nachkriegswirklichkeit, mit der nach Scharnowski die letzte Entwicklungsetappe dieses Begriffs einsetzt, verdrängte und verwarf den Heimatbegriff. Mit dem Verlust der Gebiete im Osten Deutschlands wird nun über Jahrzehnte der verlorenen Heimat nachgetrauert. Das Bild dieser Heimat wird wiederum auf der politischen, ästhetischen und individuellen Ebene verbreitet. Im geteilten Deutschland fanden die aus den ehemaligen Ostgebieten Geflohenen, Vertriebenen und Umgesiedelten126 ihre ›Medien‹ des individuellen und kollektiven Gedächtnisses127, mit Hilfe derer sie ihrer verlorenen Heimat gedenken konnten. Jene von Sehnsucht gekennzeichneten Bilder werden während Stimmen für ein »neues Zeitalter der ernsten Arbeit und des Fortschritts«: der Beitrag von Max Herrmann-Neiße und Alfred Hein zur Erziehung der deutschen Jugend nach dem Ersten Weltkrieg. In: Krieg in Comic, Graphic Novel und Literatur II, hrsg. von C. Junk, Th. Schneider. Göttingen 2019, S. 101–113. 125 Vgl. Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 96, hier insbesondere das Zitat aus Hitlers Mein Kampf, in dem er eine Unterscheidung zwischen Heimat und Vaterland trifft. 126 Sowohl der Umgang mit dem Heimatbegriff als auch der Diskurs über die Vertreibung trugen in der DDR einen anderen Charakter als in der BRD, denn die Heimat wurde nicht räumlich und identitätsstiftend betrachtet, sondern als Teil des sozialistischen Systems. Auch das Thema der Heimatvertriebenen blieb ein Tabu, was sich auch auf der semantischen Ebene durch den Gebrauch des Wortes Umsiedler ausdrückte. Vgl. A. Kossert: »Verschwiegene vier Millionen«. In: Ders.: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München 2008, S. 193–228; Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 89), S. 85–97. Vgl. auch I. Nagelschmidt: Inszenierungen von Heimat in ausgewählten Texten der DDR-Literatur – Methodologische Voraussetzungen und kulturwissenschaftliche Interpretationsansätze. In: Heimat als Chance und Herausforderung (wie Anm. 56), S. 67–94. 127 Die Kategorie der Medien des kollektiven Gedächtnisses wurde von A. Erll erarbeitet. Medien drücken nicht nur eine Botschaft aus, »sondern sie entfalten ihre Wirkkraft, welche die Modalität unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns und Kommunizierens prägt.« Vgl. A. Erll: Medium des kollektiven Gedächtnisses. Ein (erinnerungs)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Dies.: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin / New York 2004, S. 3–22, hier: S. 5.

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des Etablierungsprozesses im Westen (BRD) dominiert von Ansichten von neuen, oft entfremdenden Wohnorten, die nach 1945 ungewollt zur Heimat werden sollten. Die Konstituierung von beiden Vorstellungen von Heimat beruhte dabei auf zwei Faktoren: individuellem Potenzial und sozial-politischer Konjunktur, von denen die zweite ausschlaggebend gewesen zu sein scheint. In der Nachkriegswirklichkeit beider deutschen Länder spielte jeweils der Aufbau der neuen Staatlichkeit sowie der Wirtschaft eine wichtigere Rolle als das Problem der verlorenen Heimat, was das Schicksal des Einzelnen wesentlich determinierte. Im Trubel des ökonomischen Aufschwungs und des ansteigenden Konsums verlor die Heimat für die meisten Deutschen an Bedeutung. Eine Ausnahme bildeten dabei die Vertriebenen, deren Erinnerung an die im Osten zurückgebliebene Heimat zu den politischen Diskursen nicht immer passte. Unmöglich war die Erinnerung an die verlorene Heimat vor allem in der DDR, in der man den Verlust der ostdeutschen Gebiete an die Volksrepublik Polen oder die Sowjetunion, genauso wie die Begriffe Flucht und Vertreibung, aus ideologischen und politischen Gründen konsequenterweise verschwiegen hat. Die in der DDR ansässigen Umsiedler mussten sich dort mit dem Begriff des sozialistischen Vaterlands arrangieren und konnten der verlorenen Heimat höchstens im Verborgenen gedenken.128 In der BRD galt die Aufmerksamkeit der politischen Debatten um die Verweigerung der Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze durch die Repräsentanten der Vertriebenen, die den Vertriebenen die Verwurzelung in der neuen Heimat erschwerte, da sie samt den Heimatvertriebenenverbänden hofften, in das von ihnen ersehnte (Heimat-)Land zurückkehren zu dürfen. Aber nicht nur diese Hoffnung erwies sich als Störfaktor auf dem Wege zur sozialen Ankunft der Flüchtlinge und Umgesiedelten in den ihnen fast ausnahmslos behördlich zugewiesenen Regionen, Ortschaften und Wohnräumen, sondern es war vor allem die häufige Ablehnung der Einheimischen, die die Ankömmlinge aus dem Osten mit Distanz, Unverständnis und nicht selten Angst wahrgenommen haben. Susanne Scharnowski kommentiert diesen Empfang in der »kalten Heimat«129 wie folgt: »Sie konkurrierten mit den Ortsansässigen um Ressourcen, sprachen fremdartige Dialekte, brachten andere Ess- und Lebensgewohnheiten mit und fühlten sich weiterhin mit ihrer alten Heimat verbunden.«130 Um die Gefahr der misslungenen Integration zu vermeiden, hat der Staat die Vertriebenen aus derselben Region über verschiedene Ortschaften verteilt, damit sie in Entfernung voneinander lebten und möglichst wenig Kontakt un-

128 Vgl. die Anm. 126. 129 Vgl. Kossert, Kalte Heimat (wie Anm. 126), S. 43–86, hier insbesondere das Unterkapitel Deutscher Rassismus gegen deutsche Vertriebene, S. 71–86. 130 Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 110.

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tereinander haben sollten.131 Nichtsdestotrotz versuchten sich die Vertriebenen in der neuen Heimat durchzusetzen, indem sie mit Engagement nach eigenen, festen Positionen im neuen Lebensmilieu strebten. Die Kraft schöpften sie jeweils vermutlich auch aus der Erinnerung an die alte Heimat, die sie sowohl in ihren Vorstellungen als auch durch viele Aktivitäten in Heimatvereinen wachzuhalten versuchten. Die individuelle Erinnerungsarbeit verlief parallel zu kollektiven Erinnerungsprozessen, die das Ergebnis gemeinsamer Erlebnisse, herrschender Denkweise und verdrängter Erfahrungen waren. Die letzte homogene Entwicklungsphase des Heimatbegriffs kennzeichnete eine äußere und innere Dynamik, die die Vorstellung von der Heimat wesentlich veränderte. Es kam damals einerseits zu deren Ausblendung, die infolge der neuen wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse zustande kam, andererseits zur Entstehung und Verbreitung von Medien des kollektiven Gedächtnisses, die das Bild der Heimat aus der Vergangenheit in eine utopisch-idyllische Welt transportierten und sie dadurch zu konservieren versuchten132. Die Bilder der 1945 verlorenen Heimat gehören vermutlich zu den letzten deutschsprachigen Kulturtexten, die geographisch fixiert, topographisch spezifiziert bzw. räumlich konkretisiert sind. Parallel zu diesen Bildern, die seit dem Kriegsende im kulturellen Bewusstsein vieler Deutscher verankert sind, tauchen in den 1970er Jahren neue Vorstellungen von der heimatlichen Bindung auf, die sich aus der Ablehnung von ideologie- und politisch gefärbten Deutungsmustern und zugleich aus neuen Subjektivierungs-, Individualisierungs- und Psychologisierungsprozessen ergeben. Ein wesentlicher Faktor scheint die zeitliche Distanz zu sein, die den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen kritisch betrachten lässt. Heinrich Böll dekonstruiert schon in seinem 1965 erschienenen Essay Heimat und keine den alten Heimatbegriff, indem er »die peinliche Differenz zwischen Erinnerung und Sentimentalität«133 entblößt, die es erlaubt, Heimat aufzufächern und deren bisher konfidenzielle Merkmale aufzudecken. Böll merkt dazu Folgendes an: Es fällt auf, daß man immer nur an den Osten Deutschlands denkt, wenn das Wort ›heimatvertrieben‹ fällt. Natürlich denkt man schon gar nicht an die allerersten, die aus 131 Zur Aufnahme von Vertriebenen und Maßnahmen einer zerstreuten Ansiedlung vgl. N. F. Pötzl: Hitlers letzte Opfer. In: Die Deutschen im Osten Europas. Eroberer, Siedler, Vertriebene, hrsg. von A. Großbongardt, U. Klußmann, N. F. Pötzl. München 2020, S. 235–247, besonders S. 237f. 132 Nicht nur in literarischen Texten kam es zur Idealisierung der verlorenen Heimat, sondern auch in sog. Heimatfilmen, die als Gegenreaktion auf den Krieg, die Nachkriegsmisere und aufkeimende Globalisierungsprozesse in den Jahren 1947–1956 entstanden ist. Vgl. dazu G. Bliersbach: So grün war die Heide … Der deutsche Nachkriegsfilm in neuer Sicht. Weinheim / Basel 1985. 133 H. Böll: Heimat und keine. In: Ders.: Heimat und keine. Schriften und Reden. 1964–1968. München 1985, S. 109.

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der Heimat vertrieben wurden, die Emigranten. Daß die Zerstörung der großen Städte im Westen eine Vertreibung bewirkte, paßt wohl nicht ins politisch-propagandistische Vokabularium.134

Mit diesen Worten lenkt Böll die Aufmerksamkeit auf andere Aspekte der Heimat in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, die im Diskurs über verlorene Gebiete im Osten abhandengekommen sind: erzwungene Migration, Verlust der Heimat nicht nur im geographischen Sinne, sondern als identitätsstiftenden Raum und die Instrumentalisierung des Begriffs in der Öffentlichkeitsdebatte. Eine neue Heimat setze – so Böll in den Frankfurter Vorlesungen (1964) – keine räumlichen Zuordnungen voraus, sondern entstehe als eine »Humanität stiftende Ordnung, die sich im praktischen Leben einer Gemeinschaft bewährt, die […] ›Nachbarschaft, Vertrauen‹ ermöglicht«135. Der gebürtige Kölner, der fast sein ganzes Leben in der Geburtsstadt und deren Umgebung verbracht hat, konnte aber die Heimat ohne das lokale »Arbeitsmaterial« nicht definieren, obwohl er sich auf der anderen Seite gegen den »Lokalpatriotismus« gewehrt hat.136 So nahm Bölls Konzept von Heimat einen durchaus ambivalenten Charakter an, in dem sich die Zugehörigkeit zur Heimat mit dem Gefühl der Fremdheit in der eigenen Heimat vermischte137. Bölls starkes Bewusstsein eines nicht auszugleichenden Heimat-Verlustes reiht ihn in die Gruppe jener Theoretiker ein, die den Bezug zum Ort ausblenden und die Heimat in die Sphäre des Gefühls verlagern. In diese Richtung geht auch das utopische Konzept von Ernst Bloch, der die Heimat als einen zukunftsorientierten »Wertkomplex und Fluchtpunkt [ansieht – R.D.-J.], den es anzustreben und zu erreichen gilt und an dem der Mensch endlich seine wahre Bestimmung in dieser Welt vollzogen und begriffen hat«138. Die Heimat fokussiert sich nach Bloch auf einen »arbeitenden, schaffenden, die Gegebenheiten umbildenden und überholenden Menschen«139, der aber noch fähig ist, »in der Fremde […] mit einiger Furchtlosigkeit den Fuß

134 Ebd., S. 111. 135 G. Blamberger: Heinrich Böll. In: Metzler-Autoren-Lexikon: deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. von B. Lutz. Stuttgart / Weimar 1997, S. 75. 136 Vgl. H. Böll: Köln gibt’s schon, aber es ist ein Traum. Gespräch mit Werner Koch (1979). In: Köln gibt’s schon, aber es ist ein Traum, hrsg. von R. Böll. Köln 2014, S. 82f. 137 Sehr treffend bringt diese Ambivalenz J. Tanner auf den Punkt, indem er auf das Spannungsfeld von Nähe und Ferne, Fremd und Eigen, konkreter Erfahrung und ideeller Projektion verweist, die dazu beitragen, dass Heimat als Phänomen oder Phantom begriffen wird. Vgl. J. Tanner: Die Schweiz als Heimat? 44 Jahre nach der Rede von Max Frisch. Vortragsmanuskript. Tagung »Heimat und Demokratie«, Zürich, 8. Dez. 2018. In: www.aca demia.edu, S. 1. 138 Zimniak, Heimatverbundenheit und Weltläufigkeit (wie Anm. 92), S. 92. 139 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 5. Frankfurt a.M. 1977, S. 1628.

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auf den Boden zu setzten«140. Die Loslösung des Heimatbegriffs vom Ort und die Bindung an die Gefühlswelt des jeweiligen Menschen resultierte aber im Weiteren aus der Mobilitäts- und Modernitätsmöglichkeiten der Nachkriegsgesellschaft, die in den Globalisierungsprozessen des 21. Jahrhunderts ihren Höhepunkt finden. Nicht zufällig postulierte daher Rüdiger Safranski in seinem Essay Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? eine Wiederkehr von Heimat in den Diskursen, denn die Menschen könnten zwar »global kommunizieren und reisen, aber nicht im Globalen wohnen.« Beide Lebensformen in Einklang zu bringen, soll zu Grundbestimmungen des Individuums gehört haben, wobei die emotionale Bindung an das Lokale die Weltoffenheit nicht ausschließt, sondern sie nur fördert.141 Nach Susanne Scharnowski führt diese Situation zu verschiedenen neuen Modellen der individuellen sowie kollektiven Heimat-Wahrnehmung142, die sich in einer Flucht vor dem sesshaften Leben in eine Nomaden- und Touristenexistenz äußern. Die Gründe für solch einen Lebenswandel sieht sie wie folgt: Die neuen Reisenden zog es ebenso fort wie die Helden der romantischen Romane: Sie wollten nicht nur weg aus dem Alltag und der verwalteten Welt, fort von der Arbeit, Verantwortung und sozialen Bindungen, sondern sie waren auch auf der Suche nach der unzerstörten Natur, nach dem einfachen Leben in aus westlicher Sicht unterentwickelten, armen Ländern, nach Gemeinschaft, Spiritualität, Traditionsbindung und Naturverbundenheit, wie sie in Europa durch Industrialisierung, Kriege und Modernisierung vernichtet worden waren, in gewisser Weise also nach dem Urbild von ›Heimat‹.143

Wanderungen und Reisen bilden in der Gegenwart eine kulturelle Erscheinungsform, die man zweifelsohne mit Uneingeschränktheit, Wohlstand und dem Ausdruck innerer Freiheit assoziieren kann, aber infolge der Globalisierungsund Migrationsprozesse werden viele Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und sich in einem neuen Land niederzulassen. Jene »Grenzfiguren«144 leben oft zwischen zwei Heimaten zerrissen bzw. suchen nach einer Verortung in der neuen Heimat, ohne den Kontakt mit der alten verlieren zu wollen. Nicht 140 R. Schnell verweist auf diese Konstante des Bloch’schen Heimat-Konzeptes und setzt sie Bölls Verständnis der Heimat gegenüber. Vgl. R. Schnell: Heinrich Böll und die Deutschen. Köln 2017, S. 22. 141 Vgl. R. Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? München / Wien 2003, S. 24. 142 Die kollektiven Formen des Heimatbegriffs nisteten sich in den Konsumgesellschaften in den Alltagsgegenständen und Unterhaltungsformen ein, die oft an Kitsch grenzten. S. Scharnowski zählt zu diesen Erscheinungen vor allem Heimatfilme und die GartenzwergeKultur. Vgl. Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 124–171. 143 Ebd., S. 181. 144 Zum Begriff der »Grenzfigur« (insbesondere im dynamischen Grenzraum) vgl. J. Schulze Wessel: Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld 2017, S. 106–116.

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Heimat im Spannungsfeld von Nation und Weltoffenheit

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zufällig fragt der deutsch-türkische Schriftsteller Kemal Kurt, »was die Mehrzahl von Heimat ist?« In seinem Konzept von Heimat ist er weniger an der Betonung der Andersartigkeit und dem Erhalt der Ausgrenzung interessiert als an der Erschaffung eines neuen, universellen Menschentyps, der sich in der ganzen Welt wie zu Hause fühlen würde145. Der deutsch-bosnische Schriftsteller Sasˇa Stanisˇicˇ geht auf das Problem der Heimat noch anders ein, indem er in seiner Kurzgeschichte Doktor Heimat den Begriff Heimat mit dem Titelhelden, »einem unglaublich netten Zahnarzt aus Schlesien« assoziiert, der zur Verkörperung des heimatlichen Zugehörigkeitsgefühls wird. Dieses Gefühl, konzeptualisiert als »Wohlfühlort«, nimmt im gemeinsamen Angeln am Heidelberger Neckarufer seine Gestalt an, an dem sich neben dem schlesischen Zahnarzt »ein alter Zugbremser aus Jugoslawien und ein 15-jähriger Schüler ohne Karies« beteiligen. Diese informelle Gemeinschaft von Nachbarn wird vor allem durch den Solidaritätssinn, »vor nichts auf der Welt Angst zu haben«, verstärkt.146 Diese zwei genannten Beispiele versinnbildlichen eine Tendenz im Werk der Autoren mit Migrationshintergrund, die eine offene, globale Heimat voraussetzt, und die dann eine unbeschränkte Freiheit und Grenzenlosigkeit zulässt, worauf wiederum Stanisˇicˇ anlässlich der Verleihung des Eichendorff-Preises 2020 hingewiesen hat: Heimaten sind Konzepte von Zugehörigkeit. Mal emotional, mal geografisch, mal sinnlich. Mal aus einem Verlust geboren, mal niemals verloren. In der Jugend oft anders bewertet als mit einer Reife. Der Begriff ist für mich also mehrfach besetzt und mit zahlreichen sehr unterschiedlichen Geschichten untermalt – eine Art Sinfonie aus Erinnerungen, Orten, Menschen, die nur für mich Sinn macht, mich bewegt und auch definiert als den Menschen, der ich heute bin.147

Da aber die fortschreitende Globalisierung und der nicht mehr umkehrbare Fortschritt der Modernisierungsprozesse viele Gefahren brachten, zu denen vor allem die Umweltbelastung und -zerstörung sowie steigende Orientierungslosigkeit des Menschen zählen, wandelte sich die Tendenz einer offenen, unein145 Vgl. K. Kurt: Was ist die Mehrzahl von Heimat? Bilder eines türkisch-deutschen Doppellebens. Reinbek 1995. Eine ähnlich formulierte Frage stellte J. Améry in seinem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? (1966), in dem er Heimat mit dem Gefühl der Sicherheit gleichsetzt. Vgl. J. Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Ders.: Werke, hrsg. von I. Heidelberger-Leonhard, Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne, hrsg. von G. Scheit. Stuttgart 2002, S. 86–117. 146 Vgl. S. Stanisˇicˇ: Dr. Heimat. In: Ders.: Herkunft. München 2019, S. 175–177, hier: S. 177. Vgl. auch N. Küchenmeister: Anderswo leben, anders schreiben. Manuskript der Sendung vom Deutschland Funk. Hintergrund Kultur und Politik. Reihe Literatur. 18. 06. 2017. https:// www.deutschlandfunkkultur.de/schriftstellerinnen-und-schriftsteller-ohne-ort-woander s.974.de.html?dram:article_id=387989 [Zugriff: 10. 10. 2020]. 147 S. Stanisˇicˇ: »Heimaten sind Konzepte von Zugehörigkeit«. In: »Schwäbische Zeitung«, 22. 10. 2020, S. 12.

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geschränkten Welt in ihr Gegenteil und ließ den Menschen erneut nach seinen Wurzeln suchen. Die von Scharnowski in ihrer Studie herausgehobene Frage, ob ein globales Denken mit lokalem Handeln laut herrschenden Debatten einhergehen könne, wurde mittlerweile positiv beantwortet und verstärkte erneut das Bedürfnis des Menschen, in der nächsten Umgebung stark und umweltbewusst verankert zu sein.148 Eine solche Denkweise erweitert die Grenzen des heimatlichen Ortes, der den Rahmen des Provinziellen sprengt und zur Konstituente der Welt wird. Aus dieser Verbindung des Ortes mit der Außenwelt ergeben sich ebenfalls Nutzen für die Menschen, die aus einem »starken Zugehörigkeitsgefühl« schöpfend »über ihre Ichbezogenheit« hinauswachsen und sich für den Heimatort verantwortlich zu fühlen beginnen.149 Die Heimat erscheint somit als ein vertrauter Ort, der einerseits in der Zeit von »Hybridität, drittem Raum, Transnationalität und Transkulturalität«150 zum markanten Orientierungspunkt wird, der es dem Einzelnen ermöglicht, eine ungestörte Verbindung mit der Welt herzustellen, die nicht als Gegenpol, sondern Alternative angesehen wird. An dieser Stelle wird jedoch deutlich, dass die Migrations- und Globalisierungsprozesse die Kehrseite des Heimatbegriffs sichtbar gemacht haben und ihn erneut zum Werkzeug politischer Kräfte werden ließen, die sich zum Ziel setzten, Heimat samt ihrer Werte und Tradition vermeintlich vor Fremden retten zu müssen.151 Die gegenwärtige Rückkehr zum Heimat-Mythos einerseits und ihre Instrumentalisierung zwecks nationaler Ziele andererseits bekräftigen nicht zum ersten Mal in der Geschichte den durchaus ambivalenten Charakter dieses Begriffs.

148 Entscheidend war in dieser Debatte die Stimme des Philosophen B. Latour, der »die Zugehörigkeit zu einem Land, Ort, Boden, einer Gemeinschaft, einem Raum, einem Milieu, einer Lebensweise, einem Metier, einem bestimmten Können« der illegitimen Entwurzelung gegenübergestellt hat. Vgl. B. Latour: Das terrestrische Manifest. Berlin 2018. Zit. nach Scharnowski, Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (wie Anm. 89), S. 215f. 149 Vgl. A. Edl: Vom Ursprung ökokritischen Denkens zu einem kosmopolitanen Ansatz der urbanen Ökokritik. Frankfurt a.M. 2013. Zit. nach ebd., S. 230. 150 Heimat als Chance und Herausforderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat (wie Anm. 56), S. 11. 151 Diese Situation kommentiert die österreichische Philosophin, Isolde Charim, wie folgt: »Heimat als Kampfformel. Das findet man heute nicht nur bei Gabalier, sondern etwa auch bei Pegida, den selbsternannten ›patriotischen Europäern gegen die Islamisierung‹, die als Retter des Abendlandes durch die Straßen ziehen. Auch sie ziehen scheinbar eine äußere gesellschaftliche Grenzlinie, die eigentlich eine innere Trennlinie ist: die vermeintliche Trennlinie zwischen ›dem‹ Islam und ›dem‹ Westen.« I. Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien 2018, S. 107.

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Verlorene Heimat als literarisches Motiv nach 1945

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Verlorene Heimat als literarisches Motiv nach 1945

Das Motiv der verlorenen Heimat ist schon auf den ersten Blick universell und überzeitlich, es durchzieht sowohl Weltliteratur als auch die Werke regionaler Autoren. Die Universalität dieses Motivs war lange durch dessen unpolitischen Charakter begründet, denn es umfasst die Erinnerung an die Kindheit, die entweder als ein Raum der Geborgenheit, der Sorgenlosigkeit idealisiert oder mit Problemen des Heranwachsens und der Sozialisation belastet wird152. Die literarischen Bilder verlorener Heimat finden aber seit 1945 meistens vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges153 und dessen Folgen in historischen, kulturellen und literarischen Diskursen ihren Niederschlag und gehen mit zwei anderen Motiven – der Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Gebieten einher. Die verlorene Heimat bildet ein untrennbares Element der Gründungsphase der BRD und durch deren Belegung in der Charta der Vertriebenen 1950 geht sie in die westdeutschen Diskurse der darauffolgenden Jahrzehnte ein154. Zwar haben deutsche sowie polnische Literaturwissenschaftler auf die Geschichte des Motivs der verlorenen Heimat rückblickend dessen Marginalisierung konstatieren, ihn als »ein Nicht-Thema« bezeichnen155 oder zu einem zu spät aufgegriffenen Motiv – Hubert Orłowski zufolge156 – erklären wollen, so erscheinen diese Kennzeichnungen aus heutiger Sicht als nur teilweise zutreffend. Die verlorene Heimat war seit dem Kriegsende an den Flucht- und Vertreibungsdiskurs gekoppelt, welcher nach Wolfgang Schneiß »in den gängigen literaturgeschichtlichen Darstellungen kaum oder gar nicht behandelt 152 Über die Rolle der Kindheit im autobiografischen Schreiben sowie im Prozess der Vergangenheitsbewältigung vgl. I. Scheitler: Deutsche Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen 2001, S. 212–215. Vgl. auch Ch. Berg: Kind / Kindheit. In: Historisches Wörterbuch der Pädagogik, hrsg. von D. Benner, J. Oelkers. Weinheim-Basel 2004, S. 497–517. 153 Der Verlust der Heimat als Folge des Versailler Vertrags betrifft vor allem literarische Werke der Grenzregionen (Oberschlesien, Elsaß-Lothringen) und deren Autoren (z. B. A. Scholtis, R. Schickele u. a.). Auch R. Storm greift dieses Thema auf. Vgl. dazu G. Cepl-Kaufmann, A. Johanning: »Mein Herz ist zu groß für ein Vaterland und zu klein für zwei« – August Scholtis und René Schickele. In: August Scholtis 1901–1969. Modernität und Regionalität, hrsg. von B. Witte, G. B. Szewczyk. Berlin / Frankfurt a.M. et al. 2004, S. 85–104. Dieser Verlust wurde allerdings durch die sog. »Wiedergewinnung« – so R. Traba und R. Z˙ytyniec – im Jahre 1939 historisch wie auch literarisch kompensiert. Vgl. R. Traba, R. Z˙ytyniec: Verlorene Heimat / Wiedergewonnene Gebiete. Menschliche Dramen und politische Konjunkturen. In: 20 Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, hrsg. von H. H. Hahn, R. Traba. Paderborn 2017, S. 273– 297, hier: S. 273. 154 Vgl. Traba, Z˙ytyniec, Verlorene Heimat / Wiedergewonnene Gebiete. Menschliche Dramen und politische Konjunkturen (wie Anm. 153), S. 274. 155 Diese Meinung vertritt u. a. N. Mecklenburg. Vgl. N. Mecklenburg: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München 1986, S. 22. 156 Vgl. Orłowski, Grenzlandliteratur. Zur Karriere eines Begriffs und Phänomens (wie Anm. 75), S. 15.

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wird«157. Eine andere Meinung vertritt im Hinblick auf den Vertreibungsdiskurs Hans Henning Hahn, der eine fortwährende Existenz dieses Themas in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit feststellt und dessen Verdrängen in den 1970er und 1980er Jahren leugnet158. Eva Hahn und Hans Henning Hahn betonen dabei die Vielschichtigkeit des Vertreibungsprozesses, die sich wegen unzähliger individueller Menschenschicksale nicht verallgemeinern lässt, aber auch auf subjektiver, emotionaler Aussagekraft aufbauend in öffentlichen Debatten nicht mythisiert werden darf 159. Darüber hinaus existierte der Komplex Flucht – Vertreibung – verlorene Heimat seit 1945 einerseits im Bereich des kommunikativen Gedächtnisses, das auf mündlicher Überlieferung basierend sich hauptsächlich in familiären Kreisen realisierte, andererseits in Formen des sozialen Gedächtnisses.160 Da das Motiv der verlorenen Heimat mit dem der Flucht und Vertreibung eng verbunden ist, soll es im Folgenden auch in diesem Kontext betrachtet werden, obwohl im Fall von Ruth Storm nicht nur von der Vertreibung als Folge des verlorenen Zweiten Weltkrieges die Rede sein kann, denn sowohl die Autorin selbst als auch viele ihrer Figuren gehören zu den »Waisen von Versailles« und der »beargwöhnten Minderheit«161, was ihre Vorstellung vom Heimatverlust wesentlich prägt. Das Konzept der nach 1918 verlorenen Heimat wird aber in literaturhistorischen Studien seltener aufgegriffen und der Diskurs fokussiert sich auf die Vertreibung infolge des Potsdamer Abkommens, das auch für die monografische Bearbeitung dieses Themas bei R. Storm von Belang ist.

157 Trotz dieses negativen Urteils zählt W. Schneiß ca. zehn Veröffentlichungen auf, die dieses Thema interdisziplinär behandeln. Schneiß spricht im Kontext vom literarischen Motiv der Vertreibung von »Ghettoisierung oder gar Tabuisierung« und setzt sich zum Ziel, »einen Beitrag zur Rehabilitierung des Themas und zur besseren Erschließung für die allgemeinere Literaturwissenschaft […] zu leisten.« Vgl. W. Schneiß: Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland. Beispiele literarischer Bearbeitung. Frankfurt a.M. et al. 1996, S. 15–17. 158 Vgl. B. Erenz: Das bestgehütete Geheimnis. Ein Gespräch mit dem Historiker Hans Henning Hahn über den Mythos Vertreibung, Erika Steinbachs Museum und die Parallelgesellschaft der Landsmannschaften. In: »Die Zeit« 41 / 2010 vom 07. 10. 2010, S. 3. https://www.zeit.de/ 2010/ 41/ Interview-Hahn [Zugriff: 1. 03. 2021]. 159 Vgl. E. Hahn, H.H. Hahn: Flucht und Vertreibung. In Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, hrsg. von H. Schulze, E. François. München 2001, S. 335–351. 160 Das soziale Gedächtnis verknüpft die mündliche sowie symbolische Vermittlung von Erlebtem und bezieht nachdrücklich das soziale Umfeld in den Aufbewahrungsprozess mit ein. Mehr zu kommunikativem und sozialem Gedächtnis vgl. A. Assmann: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, hrsg. von H. Welzer. Hamburg 2001, S. 103–122. Vgl. auch G. Sebald: Generalisierung und Sinn. Überlegungen zur Formierung sozialer Gedächtnisse und des Sozialen. Konstanz 2014. 161 Beide Begriffe stammen von dem britischen Historiker Richard Blanke. Vgl. D. Pieper: Die Waisen von Versailles. In: Die Deutschen im Osten Europas. Eroberer, Siedler, Vertriebene (wie Anm. 131), S. 153.

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Den literarischen Diskurs bestimmen zwei nahe beieinander liegende Zäsuren: die Studie von Louis F. Helbig Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit (1988) und die Veröffentlichung von Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2002), die die Jahrzehnte des kommunikativen Gedächtnisses abschließen und dessen kulturelle Figurationen eröffnen, worauf u. a. Aleida Assmann im Hinblick auf Grass’ ideologisch schon entlastete162 Auseinandersetzung auf deutscher Seite verweist und die Aleksandra Burdziej in ihren polnischen Studien erörtert163. Sowohl die literaturwissenschaftliche Monografie von Helbig als auch Grass’ Novelle sind für die Gegenwartsliteraturforschung wesentlich, denn ihre Autoren bemühen sich darum, den Themenkomplex Flucht – Vertreibung – verlorene Heimat einzuordnen, zu systematisieren und dadurch den Weg für weitere Analysen / Debatten freizumachen164. Für die folgenden Überlegungen erweist sich Helbigs Studie wegen ihrer vorgeschlagenen normativen, gattungs- und themenspezifischen Klassifizierungen einschlägig. Die Aufteilung der Werke und Autoren in drei Phasen (Erlebnisphase 1945–1955, in welcher vor allem autobiografische Schriften, Tagebücher, Chroniken und Einzeldarstellungen entstehen; Dokumentationsphase 1950–1960, die durch die literarische Bearbeitung von historischen Fakten gekennzeichnet ist; dichterische Phase, die 1975 einsetzt und »eine zunehmende schöpferische Bewältigung nicht nur des eigenen Erlebens in der Dichtung und durch die Dichtung« mitbringt165) lässt die einzelnen Etappen des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis erkennen. Helbigs Analyse von insgesamt 74 Romanen, von denen 30 von W. Schneiß als wichtig bezeichnet werden166, zeichnet die Stationen der Flucht und Vertreibung 162 Wegen ideologischer Belastung des Begriffs Vertreibung und der ihm innewohnenden revisionistischen Tendenzen schlagen manche Forscher einen unterschiedlichen Gebrauch dieses Wortes vor, z. B. J. Joachimsthaler und ihm argumentativ folgende A. Burdziej: einen uneigentlichen (»Vertreibung«), der sich auf politisch beladenen Kontext bezieht, und einen eigentlichen – emotional und subjektiv konnotierten (Vertreibung). Vgl. A. Burdziej: Utracony Heimat. Torun´ 2018, S. 60f. 163 A. Assmann hebt hervor, dass Grass, genauso wie viele andere deutsche Schriftsteller, die Vertreibung der in den Nachkriegsjahrzehnten herrschenden Politisierung entreißt. A. Burdziej analysiert den Anfang des 21. Jahrhunderts geführten Diskurs in einem umfassenden Überblick, indem sie die Stellungnahmen von Historikern, Literaturwissenschaftlern und Kultursoziologen heranzieht und nach der neuen von Grass gesetzten Zäsur fragt. Vgl. ebd., S. 45–63. 164 So definiert L.F. Helbig das Ziel seiner Monografie, die er als eine Art Einführung in das Thema versteht und neue ihr folgende Analysen erhofft. Vgl. L.F. Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. Wiesbaden 1988, S. XII. 165 Vgl. ebd., S. 65. 166 Zu diesen Autoren zählen u. a. E. Wiechert, G. Grass, Chr. Wolf, P. Härtling, A. Surminski, S. Lenz, H. Bienek, K. Ihlenfeld, L. Ossowski, M. Taubitz und R. Storm. Vgl. Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 13.

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nach, für welche zunächst die Rekonstruktion der Heimat charakteristisch ist. Die Heimat kommt Helbig in den behandelten Texten zumeist als unmodern, entlokalisiert und entzeitlicht vor; sie nimmt die Gestalt einer Allheimat an, in der es zur Übereinkunft von Mensch, Landschaft und Kultur kommt. Aus jener Symbiose schöpft man das Gefühl der Geborgenheit und Freude an Natur, Alltag und Ritualen, wobei bei vielen Autoren nicht die Objekte der realen Welt, sondern die Menschen von der Einzigartigkeit des heimatlichen Raumes zeugen, was Helbig am Beispiel von Arno Surminskis Figuren belegt. Darüber hinaus beruht die Heimaterfahrung auf der Bindung an die Tradition, die sich aber mit der bevorstehenden Trennung von der Heimat lockert. Mit dem Abschied aktiviert sich bei den Heimatvertriebenen die Sehnsucht nach dem verlassenen Ort, die von Melancholie, Trauer und Resignation begleitet wird; bei manchen Autoren wird der Aussichtlosigkeit der Heimatlosen die Hoffnung auf eine neue Zukunft entgegengestellt.167 Auf weiteren von Helbig herausgearbeiteten Etappen von Flucht und Vertreibung erscheint die Heimat lediglich als Kulisse für Leidenserfahrungen, Auseinandersetzung mit den Siegern und den neuen Besitzern der eigenen Häuser und letztendlich für den schmerzlichen Moment des Abschiednehmens. Die Bilder der miss- oder gelungenen Eingliederung in die neue Heimat und Versöhnungsversuche mit der erstandenen Situation runden den ersten umfassenden Überblick über das Motiv der Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Literatur ab, der zwar vielen Literaturforschern als Pionierarbeit erscheint, der aber einer Ergänzung um andere Fragestellungen und methodologischer Herangehensweisen bedarf. Von diesem Anliegen ausgehend unterzieht Schneiß nur jene sich durch die Tauglichkeit für einen Kanon auszeichnenden Romane unterschiedlicher Nachkriegszeitperioden einer Untersuchung, die nach »Art und Intensität von regionalen Phänomenen, nach Raum-Konzepten, nach spezifisch ostdeutschen Landschafts-, Sprach-, Kultur- und Gestaltungsmerkmalen, nach dem ›Heimat‹-Verständnis«168 befragt werden. In den für die Analyse ausgewählten Romanen von Ernst Wiechert (Missa sine nomine), Kurt Ihlenfeld (Wintergewitter), Günter Grass (Die Blechtrommel), Arno Surminski (Jokehnen), Siegfried Lenz (Heimatmuseum) und Horst Bienek (Gleiwitzer Tetralogie) erfährt die Heimat konkrete Konturen. Sie wird in den meisten Fällen durch stilisierte Landschaften abgebildet, die sich aus typischen Merkmalen (Wald, Wiese, Berge etc.) zusammensetzen, die keine mimetische Wiedergabe der Wirklichkeit sind, sondern eher eine Stimmung zu erzeugen versuchen.

167 Helbig, Der ungeheure Verlust (wie Anm. 164), S. 121–143. 168 Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 24.

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Verlorene Heimat als literarisches Motiv nach 1945

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Die idyllischen, unberührten Landschaften169 erweisen sich ursprünglich als Schutzwall gegen die Kriegsbedrohungen und lassen das kommende Unglück nicht wahrhaben wollen. Nicht zufällig gebrauchen die Autoren eine Insel-Metapher, die das Gefühl der Isolierung von der bedrohlichen Außenwelt steigert.170 Dieses Leben in der Abgeschiedenheit verdeutlicht zugleich – so Mirosław Ossowski, der Wiecherts, Surminskis und Lenz’ Romane analysiert – die Sinnlosigkeit der modernen Zivilisation und ermöglicht es, dieser quasi heilen Welt der Politisierung und Idealisierung zu entrücken sowie die Verwurzelung in der Tradition und Sprache als Garanten der Geborgenheit und des immerwährenden Humanen171 wahrzuhaben. Die Entpolitisierung bedeutet freilich nicht, dass die Heimatbilder in den von Schneiß oder Ossowski gewählten Romanen jeglichen sozial-historischen Bezug vermissen lassen, denn die Hinweise auf kulturelle und geschichtliche Prägungen gehören zu deren signifikanten Merkmalen. Von Bedeutung scheint ebenfalls die Darstellung von Heimat zu sein, die sich zwischen Region und Außenwelt, zwischen Enge der Provinz und der Weite des Großstadtlebens aufspannt172, denn eine solche Balance zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Ausschnitt und Ganzem verschafft der Heimat das Attribut von »einer ursprüngliche[n] Ganzheit, paradiesische[m] Monismus, Liebe und Tod, vorgeburtliche[r] Existenz und Aufhebung der Ich-Gespaltenheit«173 und stellt eine Verbindungslinie zur Urnatur als solcher her174. Diese Tendenz, für Grass und Bienek charakteristisch, macht aus der Heimat einen selbstständigen Handlungsraum, der zwar in Korrespondenz mit äußeren Faktoren entsteht, sich aber im Inneren der Figuren konstituiert. Dank ihrer metaphysischen und psychologischen Prägung weist die Heimat eine immerwährende Konstitution auf, die politischen Wirrnissen standhalten kann. Eine solche Beschaffenheit lässt die Heimat das ihr innewohnende Prinzip des Nostalgischen loswerden, das nach

169 Das Idyllische kommt nach N. Mecklenburg besonders durch die Abgeschiedenheit zum Ausdruck. Vgl. N. Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein / Ts. 1982, S. 44–49. 170 Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 97. 171 Vgl. M. Ossowski: Ostpreußen in der deutschen Literatur nach 1945. In: Heimat in Europa, hrsg. von F. Altenberger et al. Warszawa 2004, S. 40–55, hier: S. 44–49. 172 Vgl. Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 293–298. 173 G. Cepl-Kaufmann, Verlust oder poetische Rettung? Zum Begriff »Heimat« in Günter Grass’ Danziger Trilogie (wie Anm. 69), S. 79f. Vgl. auch Z. S´wiatłowski: Die neue ›Ostlandliteratur‹ oder die Kunst des Abschiednehmens. In: Heimat und Heimatliteratur in Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. von H. Orłowski. Poznan´ 1993, S. 93–99. 174 Diese enge Beziehung zur ›Mutter Erde‹ beschreibt W. Schneiß am Beispiel von H. Bieneks Tetralogie. Vgl. Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 259.

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Hubert Orłowski »die Barrieren des ›geschichtslos Privaten‹ (Jürgen Habermas) zu überwinden vermag.«175 Die von Helbig festgelegten groben Klassifizierungen und Analysestrategien der »Vertreibungsbelletristik«176 umfassen auch den Begriff von alter und neuer Heimat; die erste wird als ein Paradies sublimiert, das durch den Kontakt mit dem Fremden gefährdet wird und im Nachhinein einer Verlöschung erliegt, die zweite konstituiert sich nach der Ankunft im Westen oder Osten, die Eingliederung in beide Länder bedeutet jeweils, auch wenn aus anderen Gründen, eine Herausforderung, denn die neuen Lebensumstände, der Habitus der Einheimischen und Ankömmlinge verhindern häufig Sozialisations- und Integrationsprozesse; nichtsdestotrotz lassen sie sich in vielen Situationen als gelungen bezeichnen. Eine Art Rettung bietet die Wiederbegegnung mit der alten Heimat, die das Bild des Vergangenen revidiert, die Vorstellung von der alten Heimat als lediglich ein Kindheitsbild erscheinen lässt und die lange erhoffte Wiederkehr ausschließt. Die Rückkehr in die alte Heimat bringt auch immer eine interkulturelle Auseinandersetzung mit sich und sie wird zum »Begegnungsraum für schwierige Nachbarschaft, [die – R.D.-J.] gesucht und gefunden [wird – R.D.J.]«177. Wiederbegegnungen wagen zunächst nur Vertriebene selbst, später werden auch deren Kinder und Enkel zu Neuentdeckungen der imaginären Heimat veranlasst. Schon in den 1970er Jahren erscheinen erste literarische Werke, deren Handlung in die verlorene Heimat der Eltern verlegt wird, welche neu entdeckt wird, und wo es beispielsweise zur Begegnung von jungen Deutschen und Polen, zur Annäherung zweier Kulturen und Geschichtsdeutungen kommt.178 Als seit dem Erscheinen der Novelle Im Krebsgang von G. Grass die dritte Generation in den Vertreibungsdiskurs eingebunden wird, wird auch die verlorene Heimat nach deren Bedeutung in der Vergangenheit sowie dem Stellenwert in der Ge175 Orłowski, Grenzlandliteratur. Zur Karriere eines Begriffs und Phänomens (wie Anm. 75), S. 120. H. Orłowski benennt hierzu noch zwei andere Merkmale des Topos der verlorenen Heimat: »1. Die Topographie der faktisch verlorengegangenen Provinzen ist (fast) immer mit der der literarisch wiedergewonnen identisch; 2. Immer liegt der literarischen Artikulation das Einzigartige der Erfahrung und des (Kindheits)Erlebnisses zugrunde […].« Vgl. ebd., S. 120. 176 L.F. Helbig verwendet in seiner Studie einen Oberbegriff »Vertreibungsbelletristik«, ohne jedoch bei einzelnen Analysen auf Gattungsbezeichnungen zu verzichten. In manchen Fällen wird auch, ohne es literaturwissenschaftlich und gattungsspezifisch auszudifferenzieren, der Begriff »Vertreibungsroman« gebraucht Vgl. Helbig, Der ungeheure Verlust (wie Anm. 164), S. 39, 136, 147, 153. 177 H. Orłowski: Der Topos der »verlorenen Heimat«. In: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, hrsg. von E. Kobylin´ska et al. München, Zürich 1993, S. 187–194. 178 So im Roman Die Reise nach Jaroslaw von R. Schneider, der »zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Deutschen und Polen, der älteren und jüngeren Generation« vermittelt. Vgl. Helbig, Der ungeheure Verlust (wie Anm. 164), S. 233f.

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Heimat regional. Literarische Bilder aus Oberschlesien

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genwart und Zukunft hinterfragt. Jene dritte Generation erfüllt dabei eine doppelte Funktion – sie wird zu Figuren und Autoren. Aleksandra Burdziej untersucht in ihrer Monografie Utracony Heimat [Verlorene Heimat] das Motiv der verlorenen Heimat aus der Kinder- und Enkelperspektive179 und stellt eine Parallele zwischen der Darstellung der sog. Zeitzeugen und Nachgeborenen her. Für beide erscheint die Heimat zunächst als eine Art Arkadien, ein Raum der wieder erlebten Kindheit, positiver Gefühle wie Harmonie, Geborgenheit und Ruhe, wo man einen eigenen Lebensrhythmus leben kann und wo die Zeit eine Entschleunigung erfährt.180 Für eine andere Gruppe der Dritte-Generation-Vertreter scheinen aber die in der Heimat erfahrene Entfremdung und die fehlende Identifikation dominant.181 Solche Heimatbilder erscheinen in den Romanen der dritten Generation, aber die Heimat erfüllt in allen behandelten Werken andere Funktionen. Der Kontakt mit der Heimat der Vorfahren, die sich als eine Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte einerseits und dem kulturellen Gedächtnis andererseits erweist, soll in erster Linie – so Burdziej – zur Identitätsbildung der Enkel beitragen, die die individuellen und kollektiven Erinnerungen in Abgrenzung von ihren Großeltern durchleben und dadurch quasi therapeutisch zu sich selbst kommen können. Die Zukunft wird zeigen, in welche Richtung sich die Literatur der dritten Generation entwickeln und welche Rolle dabei das Motiv der verlorenen Heimat spielen wird.

1.4

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Der Begriff der verlorenen Heimat trifft nicht nur auf Texte deutschsprachiger Literatur zu, er lässt sich ebenfalls in vielen anderen europäischen Literaturen finden, in welchen es infolge der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz zu territorialen Verlusten oder zur Entstehung neuer ›ethnisch sauberen‹ Staatsforma179 A. Burdziej analysiert folgende Romane: S. Janesch Katzenberge (2010), P. Reski Ein Land so weit. Ostpreußische Erinnerungen (2002), T. Dückers Himmelskörper (2003), O. Müller Schlesisches Wetter (2003), Ulrike Draesner Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014), deren Autoren sowohl der Väter- als auch Enkelliteratur angehören. Vgl. Burdziej, Utracony Heimat (wie Anm. 162), S. 15f. A. Rutka geht in ihrer Untersuchung auf Romane beider Generationen ein und untersucht sie im Hinblick auf »gegenseitige Überschneidung vielschichtiger Erinnerungsstrukturen und den Geschlechterkonstellationen und -repräsentationen«. Ins Zentrum des Interesses werden weibliche und männliche Genealogien, Gattungen (Familienroman, Tagebuch, Feldpostbrief), generationelle und genderorientierte Narration gerückt. Vgl. Rutka, Erinnern und Geschlecht in zeitgenössischen deutschen Familien- und Generationenromanen (wie Anm. 63), S. 10. 180 Solche Bilder findet man z. B. in Katzenberge und Ein Land so weit. Ostpreußische Erinnerungen. Vgl. Burdziej, Utracony Heimat (wie Anm. 162), S. 219–221. 181 Schlesisches Wetter und Himmelskörper gelten als Beispiele für die Entfremdung in der Heimat der Vorfahren. Vgl. ebd., S. 333.

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tionen182 gekommen ist.183 Im Hinblick auf die deutschsprachige Literatur erscheint noch eine andere Dimension dieses Begriffs, dessen regionale Prägung, die nach J. Joachismthaler auf die deutsche Geschichte zurückzuführen ist, denn die jahrhundertelange Zersplitterung in mehrere deutsche Staaten machte deren Monokulturalisierung zum Bestandteil der Identität und blendete das in nationalen Staaten ausgeprägte Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie aus184. Die deutsche Bevölkerung wurde aus geographisch und kulturell verschiedenen Gebieten in Ost- sowie Südostwesteuropa vertrieben bzw. hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg infolge von Diskriminierung selbst verlassen185. Aus diesem Grunde spielen im deutschsprachigen Diskurs über die Heimat die regionalen Voraussetzungen eine wichtige Rolle. Louis F. Helbig, auf Norbert Mecklenburg zurückgreifend, erkennt gerade im regionalen Charakter der Vertreibungsbelletristik ihre Stärke, denn mit dem Auflösen der Heimat ging auch die Region in ihrer ursprünglichen Repräsentation unter. Die virtuelle Bewahrung beider Phänomene wurde somit zur Aufgabe der Literatur.186 Die Heimaträume von z. B. Ostpreußen, Schlesien, Böhmen oder des rumänischen Banat werden einerseits durch ihre Verschiedenheit, durch lokale Bedingungen gekennzeichnet, andererseits weisen sie viele Gemeinsamkeiten auf.187 Wie drückt sich aber diese Verschiedenheit aus? Wie wird Heimat in den Werken aus Schlesien stammender bzw. diese Region abbildender Autoren dargestellt? Gibt es überhaupt eine ›schlesische Heimat‹? Mit dieser Frage setzte sich Kirsti Dubeck in ihrer umfassenden, schon unmittelbar nach dem Wendejahr 1989 entstandenen Disserta182 Vgl. M. Schwartz: Ethnische »Säuberung« – Vergeltung und Friedenslösung. In: Über Grenzen. Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945, hrsg. von A. Bresselau von Bressensdorf. Göttingen 2019, S. 127–145. 183 Auch in der polnischen Literatur wird das Motiv der im Osten verlorenen Heimat, der Integrationsprozesse nach der Vertreibung sowie der Ich-Gespaltenheit zwischen alter und neuer Heimat aufgegriffen. Vgl. J. Bach: Deutsch-polnische Geschicht(en) in Olga Tokarczuks Schlesienroman »Taghaus, Nachthaus«. In: Eine Provinz in der Literatur (wie Anm. 38), S. 217–230. Über die Schwierigkeiten, sich in neue Lebensorte einzuleben vgl. auch Zeitzeugenberichte in H. Hirsch: Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug. Hamburg 2007. 184 Vgl. Joachimsthaler, Die Literarisierung einer Region und die Regionalisierung ihrer Literatur (wie Anm. 4), S. 17. 185 Vgl. zur Situation der Deutschen in Südosteuropa W. Mayr: Treibgut am Donaustrand. In: Die Deutschen im Osten Europas (wie Anm. 131), S. 119–135. 186 Vgl. Helbig, Der ungeheure Verlust (wie Anm. 164), S. 62ff. Diese These korrespondiert mit den Gedächtnistheorien, die das Bedürfnis des Erinnerns hervorheben. Vgl. A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 25f.; P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1998, S. 27. 187 Vgl. zu diesem Thema z. B. M.V. Lázárescu: »Heimat« als Begriff und Gefühl bei deutschsprachigen Autoren, die aus Rumänien stammen und nicht mehr in Rumänien leben. In: »Modern Austrian Literature« Vol. 32, No. 3 (1999), S. 148–159. Mehr über die ostpreußischen Heimaträume in der Einleitung, Anm. 7.

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tion, auseinander, in der die Heimatbilder in der deutschen, polnischen und tschechischen Literatur untersucht werden188. Dubeck verwendet dabei den Begriff ›schlesische Heimat‹ und unternimmt den Versuch, diese als ein transnationales Phänomen zu definieren, das trotz des Wandels der ›schlesischen Literaturen‹ nach 1945 fortbesteht, allerdings andere Repräsentationsformen annehmend. Von der These der deutschsprachigen Literaturforscher über schlesische Literatur ausgehend189, dass man nicht von deren Ende nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen könne, konstatiert sie aber eine Art Stagnation, die sich durch »Erinnerung und Rückschau« und nicht durch Weiterentwicklung auszeichnet190. In diesem Sinne gibt es keine schlesische Literatur sensu stricto, die als Seismograph der lokalen Kultur, als »Summe der gesellschaftlichen Beziehungen«191 und Ausdruck von »spezifisch deutschen Konstanten«192 begriffen werden könnte. Der historische Rahmen, insbesondere die Zäsur des Jahres 1945, spielen im Fall der schlesischen Heimatbilder eine bedeutende Rolle, denn er bestimmt deren räumliche, zeitliche und geistige Konkretisierung. Helbig teilt ebenfalls die Kulturentwicklung im Schlesien des 20. Jhs. in drei historisch bedingte Phasen ein: eine »bodenständige« (vor 1945), »zäsurbezogene« (nach 1945) und »exterritoriale« (nach 1989), von denen die beiden ersten die schlesische Herkunft der Autoren und in Schlesien spielende Handlungsräume voraussetzen, die dritte sich dagegen durch ihre Offenheit auszeichnet193. Der Begriff der ›schlesischen Heimat‹ orientiert sich somit einerseits an diesen Zäsuren, die dann weitere Voraussetzungen bestimmen, und auf die jenen dynamischen Prozess bildenden Konstanten und Variablen hindeuten. Die Analyse der »bodenständigen« und »zäsurbezogenen« Texte legt eine anhaltende Vorstellung von ›schlesischer Heimat‹ offen, die, nach Ernst Josef Krzywon aus mehreren Komponenten zu-

188 K. Dubeck untersucht primär vier Romane (E.H. Rakette: Schymanowitz oder die ganze Seligkeit – 1965; L. Horˇka: Bejatka – 1959; M. Klimas-Błahutowa: Dziewczyna z wiez˙y Babel – 1965; A. Müller: Der Puppenkönig und ich – 1986); außerdem bezieht sie sich auf eine Reihe von west- und ostdeutschen, polnischen und tschechischen Beispielen. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 473–478. 189 Gemeint sind hier z. B. A. Lubos, G. Hermanowski, W. Dimter oder A.-M. Kosler, die das Ende der schlesischen deutschsprachigen Literatur nach 1945 bestreiten. Vgl. ebd., S. 129. 190 Vgl. ebd., S. 131. 191 M. Wegener: Die Heimat und die Dichtkunst. Zum Heimatroman. In: Trivialliteratur, hrsg. von G. Schmidt-Henkel. Berlin 1964, S. 53–62, hier: S. 53. 192 E. G. Bleisch: Wer oder was ist ein ostdeutscher Dichter? In: »Dortmunder Vorträge« Nr. 6 (1974), S. 1–8. 193 Vgl. L.F. Helbig: Schlesien als deutscher Kulturraum. Nachwirkungen im Romanschaffen von schlesischen und über Schlesien schreibender Autoren. In: Schlesien. Literarische Spiegelungen, hrsg. von F.-L. Kroll. Berlin 2000, S. 187–200, hier: S. 189f.

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sammengesetzt, ein »Schlesien-Bewußtsein« bildet194, das vor allem eine Herkunft aus und einen Lebensort in Schlesien voraussetzt, und das in literarischen Texten durch konkrete formale und sprachliche Elemente ausgedrückt wird. Die Verknüpfung von Faktischem (objektive regionale Begebenheiten, reale Orte, die geographisch sowie sozial-geschichtlich nachweisbar sind) und Fiktivem (erlebter Raum, »geistiger Ort«195), die nach Norbert Mecklenburg zum Wesen einer Region gehört196, wird auf der Textebene durch ein Motiv- und Sprachgewebe präsent. Zu den das schlesische Textbewusstsein konstruierenden Motiven gehört die Ortsbezogenheit197, die aber nicht immer einen namentlich genannten Handlungsraum impliziert, sondern eher eine gewisse Unbestimmtheit mit einschließt, die sich ebenfalls in generischen Landschaftsbeschreibungen ausdrückt198. Der nicht spezialisierte Landschaftscharakter bekommt aber zugleich eine eigene Tragweite, denn er soll – neben der Stimmung erzeugenden Funktion – das Gefühl der Zusammengehörigkeit von Mensch und Umwelt beschreiben und bewahren. Darüber hinaus sind die dargestellten Orte auf »bleibende Heimat-Werte«199 fokussiert, die wie Haus, Grundstück und andere Wertgegenstände zum Signum der schlesischen Heimat erhoben werden. Steht das Materielle der ideellen Sphäre des Heimatbegriffs voran, so entscheiden die ideellen »Motivkonstanten«200 über die Eigentümlichkeit des schlesischen Bewusstseins. Das Gefüge von Wertbegriffen reicht vom Arbeitsethos, über Religiosität, »mystische Weltsicht«201, Pflege von Sitten und Bräuchen bis zu wunderlichen Menschentypen202. Dieses motivische Gewebe bereichert das sprach194 E. J. Krzywon: Schlesien in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: »Stimmen der Zeit«, Bd. 208, Jg. 115, H. 2 / 1990, S. 86–92, hier: S. 88f. 195 Diese Unterscheidung zwischen Region als »realem« und »geistigem« Ort trifft I. Nagelschmidt. Vgl. I. Nagelschmidt: Frauen als Grenzgängerinnen – oder über Ambivalenzen im Umgang mit Schwebezustand. In: »Berliner Lesezeichen« Nr. 3,4 / 1996, S. 68–78, hier: S. 70. 196 Vgl. Mecklenburg, Erzählte Provinz (wie Anm. 91), S. 31ff. 197 Auf diese Komponente der Heimat, auf deren Materialität verweist nachdrücklich G. CeplKaufmann. Vgl. G. Cepl-Kaufmann, Verlust oder poetische Rettung? Zum Begriff »Heimat« in Günter Grass’ Danziger Trilogie (wie Anm. 69), S. 66. 198 Die Beschreibung der schlesischen Landschaften charakterisieren sich wiederholende Elemente (Birken, Kiefern, Wälder im Fall von ländlichen Gegenden oder Schornsteine und Hütten als Signifikanten der oberschlesischen Industrie) und die Namen, die nur mit Hilfe von gezielt eingesetzten Toponymen (z. B. Annaberg, Dreikaisereck) oder Flüssen (in vielen Texten gilt die Oder als Bezugspunkt, bei H. Bienek ist das die Klodnitz) zum Ausdruck gebracht werden. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 155f. 199 Ebd., S. 152. 200 Krzywon, Schlesien in der deutschen Gegenwartsliteratur (wie Anm. 194), S. 87. 201 A. Rose: Wesenszüge schlesischer Religiosität. In: Der schlesische Mensch, hrsg. von G. Pankalla. Dülmen 1969, S. 43–51, hier: S. 43. 202 Vgl. über schlesische Sonderlinge, deren Unangepasstheit, die zugleich als Signum der Region angesehen werden kann, H. Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918– 1933. München 2017, S. 293–310.

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liche Phänomen, das Texte schlesischer Autoren identifiziert. Ernst Josef Krzywon macht auf typische schlesische Orts- und Personennamen, auf syntaktische Eigenschaften und den Dialektgebrauch203 aufmerksam, die K. Dubeck durch Anhäufung von ›wasserpolnischen‹ Ausdrücken, Auslassungen, umgangssprachliche Redewendungen und Substraterscheinungen ergänzt204. Ortsbezogenheit, Motive und Sprache205 machen aus der Heimat einen geschlossenen Raum, dessen Abgeschiedenheit die Allgegenwart des Vertrauten und Eigenen verstärkt. Einer solchen Heimat, in der man in erster Linie eine harmonievolle »Herkunftswelt«206 erblickt, zollt man Respekt und beschwört geradezu deren paradiesischen Charakter. Eine der zeitlichen Dimension entrückte Heimatidylle erscheint aber schrittweise als archaisch und kann den gesellschaftlich-kulturellen Wandlungen kaum standhalten. Abgeschiedenheit und Aufhebung von Zeitgrenzen, die die schlesische Heimat als provinziell erscheinen lassen, werden aber im Moment des Eingriffs vom Fremden durchbrochen. Krieg, Flucht, Vertreibung als Koeffizienten der neu begriffenen Heimat belegen einerseits den unwiederbringlichen Verlust, andererseits bringen sowohl die Autoren als auch deren Figuren den Leser zum Nachdenken über den Wert der Heimat, die eigene Identität und die Welt. Eine so begriffene Heimat, in der das Eigene und das Fremde einander begegnen und in Dialog treten, kann – so Mecklenburg – zur »offenen Provinz«207 werden, die eine Balance zwischen Außen und Innen, Welt und Ich, Geschichte und Zukunft, Realem und Fiktivem verschafft. Das sich seit den 1990er Jahren vollziehende Forschungsinteresse an Lokalität und Regionalität erlaubt es, die verlorenen Regionen im neuen Kontext zu entdecken, sie nach Paweł Zimniak als »wertorientierten Relationsbegriff, als zentrierten, orientier-

203 Für typisch schlesische syntaktische Eigenschaften hält E.J. Krzywon die Dominanz von Parataxe gegenüber Hypotaxe, Satzbrüche, Wiederholungen oder Verdoppelungen. Vgl. Krzywon, Schlesien in der deutschen Gegenwartsliteratur (wie Anm. 194), S. 88f. 204 K. Dubecks Katalog von sprachlichen Phänomenen des für Schlesien typischen Deutsch beruht vorwiegend auf der Analyse von E. H. Rakettes Roman Schymanowitz oder die ganze Seligkeit. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 149ff. 205 Die Rolle der Sprache bei der Heimat-Darstellung und -wahrnehmung hebt ebenfalls G. Grass hervor, indem er die Sprechweise und den Dialekt als Konstituenten der Heimat benennt und den Verlust der Sprache mit dem der Heimat geleichsetzt. Vgl. Hauptworte – Hauptsachen. Zwei Gespräche: Heimat – Nation, hrsg. von A. Mitscherlich, G. Kalow. München 1971, S. 14. Die identitätsstiftende Rolle der Muttersprache in Opposition zu anderen, auch in der Heimat erlernten Sprachen stellt die Nobelpreisträgerin H. Müller heraus, indem sie auf das zwischen den Worten schlummernde Freiheitspotenzial des Gesprochenen verweist. Vgl. H. Müller: Heimat ist das, was gesprochen wird, hrsg. von R. Schock. Gollenstein 2009, S. 7–43. 206 Mecklenburg, Die grünen Inseln (wie Anm. 155), S. 22. 207 Nach N. Mecklenburg ist der Verzicht auf räumliche Verengung und nostalgischen Charakter der Heimat / Region von Bedeutung. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 49.

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ten und strukturierten Raum, [aufzufassen – R.D.-J.], der Identifikationsmöglichkeiten anbietet oder zum Widerstand und Protest herausfordern kann.«208

208 P. Zimniak: Vorwort. In: Eine Provinz in der Literatur (wie Anm. 38), S. 7.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin von Kattowitz / Oberschlesien nach Wangen im Allgäu209

Ruth Storms Schaffen ist untrennbar mit den Stationen ihres Lebens verbunden, insbesondere mit den Orten, welche sie von Kind an bis in ihre letzten Lebensjahre prägen und ihr als ein wichtiger Bezugspunkt für ihr Gesamtwerk gelten. Die an diesen Orten gesammelten Erfahrungen bilden somit nicht nur die Grundlage für das Schaffen der Autorin, sondern diese wird auch zum Gegenstand ihrer Selbstdarstellung. Eine Zuordnung, genauso wie eine andere Kategorisierung, meidet Ruth Storm dennoch konsequent und verneint in zahlreichen Interviews, Zeitungsporträts oder literarischen Selbstbildnissen direkte autobiografische Zusammenhänge oder eigene topographische Bezüge. Sie betont zwar die Rolle des jeweiligen Zeitgeschehens, beide Weltkriege, die Vertreibung aus ihrer schlesischen Heimat und den Neuanfang im Westen210, welche stets in ihr Werk Eingang gefunden haben; sie verlegt ebenfalls die Handlung ihrer Romane und Erzählungen in den oberschlesischen Raum ihrer Kindheit oder in den niederschlesischen des Riesengebirges, welcher ihre späteren Jahre wesentlich prägte. Das gilt auch für die Gegenden um ihre neuen Wohnorte in der Bundesrepublik Deutschland, gattungsspezifische Merkmale einer Autobiogra-

209 Die in diesem Kapitel dargestellten Informationen mögen aus der Sicht der literaturwissenschaftlichen Forschung als zu detailliert erscheinen. Da es aber an umfassenden Bearbeitungen des Lebens und Werkes von Ruth Storm sowie der Genealogie der Familie Siwinna mangelt, wird mit dem hier gesammelten, infolge der Archivarbeiten erstellten Material ein Versuch unternommen, diese Lücke zu füllen. 210 Vgl. z. B. R. Storm: Kleiner Lebensrapport. In: »Schlesien« Jg. XI, Nr. 11 / 1966, S. 70–72; K. Hildebrandt: Ruth Storm (1905–1993). In: Schlesische Lebensbilder, Bd. XI, hrsg. von J. Bahlcke (Sonderdruck). Insingen 2012, S. 549–562, S. 554ff.; P.-Chr. Storm: »Vertriebene Schlesier, dies ist Euer Buch!« Ruth Storm – Chronistin schlesischen Schicksals. In: »Kultur« Nr. 9 / 2010, S. 25f.; E. Bach: Schlesische Frauen in unserer Zeit: Ruth Storm. In: »Schlesische Nachrichten« Nr. 12 / 1988, S. 17; M. Köhler: Zum 75. Geburtstag von Ruth Storm. Sie hat Schlesien literarisch nachgezeichnet. In: »Oberschlesischer Kurier« Jg. 29, Nr. 6 / 1980, [o. S].; M. Köhler: Eichendorff-Preis für Ruth Storm. In: »Riesengebirgsbote« Nr. 7 / 1983, [o. S].

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

fie sind bei Ruth Storm jedoch nicht zu finden211; als eine Ausnahme mag hier Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr (1961) gelten, das als Tagebuch verfasst wurde und auf dessen Entstehungsgeschichte die Autorin selbst häufig zurückgegriffen hat212. Die Zeugenschaft von einschneidenden historischen Ereignissen sowie persönliche Erfahrungen lassen jedoch die Schriftstellerin in ihren Werken auf eine autobiografisch geprägte Erzählweise verzichten, was sie in einem Briefwechsel mit einem niedersächsischen Oberschüler folgendermaßen begründet: »Der Schriftsteller muß zunächst subjektiv sein, um aber von anderen gehört und verstanden zu werden, muß er dann objektiv gestalten können, das ist nicht ganz leicht und erfordert viele Jahre der Selbstdisziplin«213. Dies ist eine der wenigen Bemerkungen von Ruth Storm, in denen sie sich zudem nur kurz über die eigene Schreibweise äußert214. Diese Aussage verdeutlicht einerseits ihre Identifikation mit der Herkunft215, welche als Ausgangspunkt ihres schriftstellerischen Weges verstanden werden soll, andererseits belegt sie das Bewusstsein einer Notwendigkeit von Objektivierung des Erlebten als die einzig 211 R. Storms Begriff des autobiografischen Schreibens lässt sich mehr auf die Generativität der Autobiografie zurückführen, die dem/der Autor/in einerseits zur Vergewisserung seiner/ ihrer Identität dient, die aber andererseits bestrebt ist, die eigenen Erfahrungen an die kommende Generation weiterzugeben. Vgl. H. Müller-Michaels: Generativität der Autobiographie am Beispiel von Christa Wolfs »Kindheitsmuster«. In: »Colloquia Germanica Stetinensia« 25 (2016), S. 7–24. 212 Vgl. R. Storm: Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr. München / Würzburg (1. Aufl.) 1961, S. 121; R. Storm: Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! – Rückblick auf die dreißiger Jahre bis zum Ende des deutschen Reiches. Hektografiertes Typoskript aus dem Hausarchiv Storm, zusammengestellt von P.-Chr. Storm. Wangen i. A. 2012, S. 35; Storm, »Vertriebene Schlesier, das ist Euer Buch« (wie Anm. 210), S. 25. 213 R. Storm: Schüler über ostdeutsches Schrifttum. Briefwechsel eines niedersächsischen Oberschülers mit der schlesischen Schriftstellerin Ruth Storm. In: »Der Schlesier« Nr. 1 / 1961, [o. S.]. Vgl. auch einen anderen Artikel, der auf R. Storms Rezeption unter deutschen Jugendlichen der 1960er Jahre eingeht, in: R. Storm: Eine besondere Zuhörerschaft. In: »Der Schlesier« Nr. 4 / 1964, [o. S.]. 214 R. Storm hat sich fast nie über ihre eigene Erzählweise oder die narrativen Strategien geäußert; selten hat sie auch ausdrücklich ihr Schreibvorhaben formuliert und das Urteil über ihr Werk eher den anderen überlassen, die sie z. B. zur »Chronistin des deutschen Schicksals« erhoben haben. Vgl. Meridies, Ruth Storm (wie Anm 26.), S. 138–143; P.-Chr. Storm: Chronistin schlesischen Schicksals. Erinnerungen an die in Kattowitz geborene Ruth Storm. In: »Oberschlesien« Nr. 19 / 2010, 18f. R. Storms Reflexionen über die sie umgebende Welt, existenzielle und vor allem religiöse Fragen, u. a. über das Schreiben, sind in ihren unveröffentlichten Tagebüchern zu finden. Vgl. Tagebücher aus den Jahren 1950–1984 (Hausarchiv Storm, Kasten 1, Nr. 506; Tagebuch 1984–1993 und Hausarchiv Storm, Kasten 27, Nr. 658). 215 Der Definition nach W. Jens kann sie daher als eine Heimatdichterin bezeichnet werden, denn jeder Autor werde durch ihre Herkunft geprägt und gelte als Repräsentant seiner Heimat. Vgl. W. Jens: Nachdenken über Heimat. Fremde und Zuhause im Spiegel deutscher Poesie. In: H. Bienek: Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. München 1985, S. 14– 26.

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Kindheit und Jugendzeit in Kattowitz

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mögliche künstlerische (Auf-)Bewahrung sowohl von eigenen Erlebnissen als auch dem Zeitgeschehen dar. Diese Haltung korrespondiert mit der Entwicklung des autobiografischen Schreibens von Frauen, mit der ›Herstory‹-Genealogie, deren Definitionsversuche – so Sigrid Weigel – auf die Schwierigkeit aufmerksam machen, »die Grenze zwischen autobiografischer und fiktionaler Schreibweise bei Frauen [auszumachen]. Wenn Frauen zu schreiben beginnen, steht ihnen oft kein anderer Stoff zur Verfügung als der der eigenen Lebensgeschichte. Deshalb ist die autobiografische Schreibweise bei Erstveröffentlichung besonders häufig. Stärkere Fiktionalisierung und Literarisierung ist nicht selten an die Professionalität der Verfasserin gebunden.«216 Diese Tendenz scheint auch im Prosawerk von Ruth Storm ihre Widerspiegelung gefunden zu haben.

Abb. 1: Ruth Storm (1905–1993). Wangen im Allgäu 1965.

2.1

Kindheit und Jugendzeit in Kattowitz

Ruth Storm kommt am 1. Juni 1905 in Kattowitz (heute Katowice, Polen) zur Welt. Der Geburtsort und besonders die familiäre Herkunft der künftigen Schriftstellerin bedingen durchaus ihren Habitus. Die Entfaltung ihrer sozialen 216 Weigel, Die Stimme der Medusa (wie Anm. 73), S. 154.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

Persönlichkeitsstruktur217 ist einerseits auf die geopolitische Lage des oberschlesischen Kattowitz zurückzuführen, das damals dem durch das sog. Dreikaisereck zwischen Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn geprägten Grenzland angehörte218, andererseits resultiert sie aus ihrer Familientradition. Ruth Storm stammt nämlich aus einer der für die Entwicklung von Kattowitzer Presse- und Buchwesen wohl bedeutendsten Familien219. Ihr Vater, Carl Emil Hermann Siwinna (03. 11. 1871, Kattowitz–26. 10. 1939, Berlin) war Verlagsbuchhändler, Eigentümer und Herausgeber der »Kattowitzer Zeitung«; seinen zusätzlichen Lebensunterhalt verdiente er als staatlicher Lotterieeinnehmer. Die Verlegerfamilie Siwinna220 war in Kattowitz seit 1867 ansässig. In diesem Jahr gründete Carl Gottfried Julius Siwinna (20. 08. 1839, Oppeln–?.02. 1892, Kattowitz) eine Verlags- und Sortimentbuchhandlung und einige Jahre später kaufte er von Richard Werner dessen Druckerei und die erste Zeitung des 1865 zur Stadt ernannten Kattowitz, mit dem Namen »Allgemeiner Anzeiger für das oberschlesische Industriegebiet«, die ab 1874 als »Kattowitzer Zeitung« bekannt wurde. Nach dem Tod des Vaters wurden die beiden ältesten Söhne – Fritz Carl 217 Den Begriff Habitus verstehe ich nach N. Elias und P. Bourdieu. Vgl. N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1997; P. Bourdieu: Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld. In: Ders.: Der Tote packt den Lebenden. Hamburg 1997. 218 Das Dreikaisereck taucht sowohl als Motiv als auch als Handlungsraum häufig im Werk der Schriftstellerin auf. Vgl. Kapitel 3.2 und 6.2. Auch im Verlag ihres Vaters ist die erste monografische Bearbeitung dieses Grenzlandortes erschienen. Vgl. R. Knötel: Von der DreiKaiserreich-Ecke. Geschichtlich-kulturelle Episoden. Berlin / Breslau / Kattowitz 1911 (im Phönix-Verlag). 219 Die Informationen über die Familie Siwinna sind sehr spärlich. Sie beschränken sich hauptsächlich auf einige wenige Fakten über den in Kattowitz geführten Verlag und die Titel von dort herausgegebenen Zeitungen. Über die Herkunft der Familie, weitere Entwicklung des Phönix-Verlags nach 1921 weiß man nicht viel, deswegen räume ich in diesem biografischen Kapitel der Familiengeschichte mehr Platz ein, um diese Lücke in der Forschung und der Geschichte der Stadt Kattowitz / Katowice zu füllen. Die Dokumente des Verlags sind bei der Bombardierung Berlins völlig zerstört worden, auch der Berliner Sitz der Firma am Tempelhofer Ufer ist dem Brand zum Opfer gefallen. Vgl. R. Storm: Begegnung mit einem alten Buch. In: »Oberschlesischer Kurier« Nr. 3 / 1966, S. 6. Über die deutsche Presse in Oberschlesien, insbesondere über die »Kattowitzer Zeitung«, vgl. B. Gröschel: Die Presse Oberschlesiens von den Anfängen bis zum Jahre 1945. Berlin 1993, S. 113–136 und S. 259–277. 220 Die von P.-Chr. Storm zusammengestellte Familientafel weist Siwinna polnische Wurzeln nach. Den Familienquellen nach nahm die Familie in dem Ort Biez˙un´ in Masowien ihren Ursprung und trug zunächst den Adelsnamen Grzywałkowski. Infolge der Auswanderung eines Familienvertreters nach Gilgenburg (heute Da˛brówno, im Kreis Ostróda) in Ostpreußen wechselten sie den Namen zu Zywinna, seit 1813 Siwinna, und wurden evangelischlutherisch. Die Urahnen wohnten in Gilgenburg und dann in Mława. Der Zweig der Kattowitzer Siwinnas setzt mit Johann Gottfried (16. 8. 1793, Biez˙un´–?.11.1867, Ratibor) ein, der als Artillerie-Unteroffizier und Steuer-Aufseher zuerst nach Niederschlesien ging, wo er in Schweidnitz im Jahre 1817 Anna Rosine Postler heiratete. Aus dieser Ehe gingen 15 Kinder hervor, darunter Carl Gottfried Siwinna. Vgl. P.-Chr. Storm: Familientafeln. Hektografiertes Typoskript. Wangen i. A. 2012, Tafeln 6 und 12.

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Fedor (16. 11. 1869–13. 06. 1915) und Carl Emil221 zu den führenden Kräften des stetig wachsenden Geschäfts und lösten die Mutter, Bertha Siwinna222, von dieser Aufgabe ab. Das Geschäftshaus in der Grundmannstraße 12 bestand damals aus der Druckerei, Setzerei, Binderei, Büros und Lagerräumen. Neben der Herausgabe der »Kattowitzer Zeitung« redigierte man hier und gab noch vier andere Titel heraus: »Schlesien« – unter der Leitung von Karl Buchwald und Richard Knötel – die »Oberschlesische Morgenzeitung«, die Zeitung »Oberschlesisches Tageblatt« und das »6-Uhr-Abendblatt« sowie die Fachzeitschriften »Der Eisenkonstrukteur«, »Eisen und Eisenbeton« und als populärste die Zeitschrift »Kohle und Erz«223. Die Aktivitäten des Phönix-Verlags waren in der Tat beeindruckend: Das Angebot des Verlags umfasste verschiedene Gattungen und Themen und war an unterschiedliche Adressaten gerichtet, von Kindern und Jugendlichen, für die man die erste deutsche Fassung von Carlo Collodis abenteuerlichem Pinocchio vorbereitet hat, über Ratgeber, Abenteuer-, Militär- und Geschichtsbücher, Postkarten bis hin zu Kunst- und Heimatliteraturausgaben224. Der Erfolg des Verlags und der Zeitung war vor allem dem Engagement und Fleiß

221 Carl Emil Siwinnas Ausbildung am Kattowitzer Gymnasium wurde unterbrochen, infolgedessen besuchte er die Schule nur bis zur Primarreife; danach absolvierte er eine Buchhändlerlehre in Breslau, Berlin und Genua. Vgl. Manuskript von R. Storm im Hausarchiv Storm, Kasten 13. 222 Bertha Emma Emilie Siwinna, geb. Radek (10. 08. 1852, Cosel–2. 02. 1922, Oppeln) entstammte ebenfalls einer Buchdruckerei- und Zeitungsverlegerfamilie aus Cosel. Sie hat acht Kinder zur Welt gebracht: Fritz Carl Fedor, Carl Emil Hermann, Gertrud Elisabeth (1872–?), Kurt Paul (1874–?), Margarethe Helene (1876–?), Georg(e) Gottfried Adolf (1879–1961, Philadelphia, USA), Adolf Hans Wilhelm (1882–1884), Gottfried (1886–1947, Philadelphia, USA). Nach dem Tod ihres Mannes hat sie den Kattowitzer Verlag bis zur Volljährigkeit der Söhne alleine geführt und ihnen später weiterhin im Betrieb geholfen. 223 Vgl. W. Majowski: »Kattowitzer Zeitung« und »Oberschlesischer Kurier«. Zit. nach R. Koperlik. www.schlesien-ahnenforschung.de [Zugriff: 05. 09. 2019]. 224 C. Collodis Die Abenteuer des Pinocchio, erst seit 1948 unter diesem Titel in Deutschland bekannt, erschien im Phönix-Verlag als Hippeltitsch’s Abenteuer, illustriert von E. Chiostri, in autorisierter deutscher Bearbeitung von P. A. Eugen Andreae. Kattowitz / Leipzig: Carl Siwinna 1905, 292 S. Zu den Autoren des Verlags gehörten u. a. A.O. Klaußmann, R. Knötel, E. Salgari, G. Fairlie (der letzte in der Serie der Lux-Kriminal-Romane). Im Verlag hat C. Siwinna auch eigene Bücher veröffentlicht, die das Ergebnis seiner vor und im Ersten Weltkrieg erworbenen Exerziererfahrung waren (C. Siwinna: Das Kommandobuch. Berlin: Mars-Verlag, 14. Auflage 1917, 202 S.; letzte 26. Auflage 1943). Während des Ersten Weltkrieges diente C. Siwinna als Hauptmann der Reserve und Kompaniechef des 22. Infanterieregiments Keith, erkrankt kehrte er nach Hause zurück. Der 1915 gegründete Mars-Verlag war die Berliner Filiale des Kattowitzer-Verlags, die sich mit der Militär- und Kriegsthematik beschäftigt hat. Vgl. die Liste der im Phönix-Verlag publizierten Bücher im Hausarchiv Storm (Sondersammlung Carl Siwinna), die über 84 Titel umfasst. Die Auflistung gilt allerdings als unvollständig. Zur Postkartenausgabe des Verlagshauses Siwinna vgl. J. Lipon´ska-Sajdak, Z. Szota: Gruß aus Kattowitz Pozdrowienia z Katowic. Album pocztówek ze zbiorów Muzeum Historii Katowic. Katowice 2008, S. 7–15.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

des Betriebsbesitzers zu verdanken, an den sich seine Tochter Ruth folgendermaßen erinnert: Wenn ich an meinen Vater denke, besonders in der Zeit meiner frühen Kindheit in Kattowitz, so habe ich immer die Vorstellung, daß mein Vater Tag und Nacht rastlos tätig gewesen war, für seinen eigenen Betrieb, für die Stadt als Stadtverordneter und für das Vaterland; abgesehen davon, daß eine Tageszeitung, und besonders noch im Krieg und durch die Nähe des kaiserlichen Hauptquartiers in Pleß, ein ungeheuer erregendes Arbeitstempo mit sich bringt. Depeschen und Telefongespräche für Extrablätter kamen auch nachts, und mein Vater mußte durch den großen Menschenmangel, der sich im Laufe des Krieges mehr und mehr bemerkbar machte, seine Kräfte verdoppeln. Wenn wir Kinder längst schliefen, brannte in seinem Büro unten noch Licht, wir hörten zuweilen seine Stimme drüben in der Setzerei, und wenn die große Rotationsmaschine ihr mechanisches Lied begann, graute meist der Morgen schon, als erst des Vaters Schritt auf dem Flur vor unserer Tür zu hören war, und er endlich schlafen ging.225

Im Elternhaus hat Ruth nicht nur Arbeitsdisziplin kennengelernt, sondern auch die Liebe zu Büchern und zur Kunst. Carl Siwinna und seine Frau Helene226 wurden häufig von Literaten, Lehrern, Künstlern aus Kattowitz, Breslau, Leipzig und Berlin besucht, deren Gespräche beide Töchter, die ältere Ilse227 und die drei Jahre jüngere Ruth, belauschen konnten. Nicht ohne Bedeutung war für die künftige Schriftstellerin also die geistige Atmosphäre im Haus228, die sie zu neuen Entdeckungen und Lektüre anregte: Persönlichkeiten aus den verschiedenen Berufen und Gesellschaftsschichten besuchten uns. An einem Geburtstag meines Vaters mit vielen Gästen trug eine gelehrte Dame aus Leipzig, die gerade in unseren Verlag eingetreten war, Morgensterns Galgenlieder vor. […] Das Palmströmgedicht vergaß ich nicht, und so mußte ich es öfters vortragen, dazu kamen später die Bürgschaft, der Erlkönig, die Kraniche des Ibykus; und die Macht der Gedanken, der Zauber des Wortes gingen mir dabei ein.229

225 Vgl. R. Storms Manuskript im Hausarchiv Storm, Kasten 17. 226 Helene Auguste Dorothea Siwinna (9. 07. 1877, Breslau–10. 10. 1968, Lüneburg), geb. Stephan, stammte aus einer vermögenden Breslauer Familie; ihr Vater war Bauingenieur und Wasserleitungsunternehmer, auch mütterlicherseits gehörte die Familie Gottschalck zu den prominentesten Familien Breslaus. Der Urgroßvater war Kaufmann und Besitzer des Hauses »Weißer Storch« (Neumarkt Nr. 38). Die Mitglieder der Familien Stephans und Gottschalcks gaben der Schriftstellerin Ruth Storm Inspirationen für ihre Romane, besonders für Odersaga. Vgl. P.-Chr. Storm: Familientafeln. Hektografiertes Typoskript. Wangen i. A. 2012, Tafeln 7, 15 und 17. 227 Ilse Siwinna (13. 11. 1903, Kattowitz–26. 02. 2002, Lüneburg), verh. Schlageter, lebte nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem Mann und ihrer Mutter in Lüneburg. 228 Über die Atmosphäre ihres Elternhauses, besonders über Bilder, die zu deren Ausstattung gehörten, berichtet sie im Artikel Begegnung mit einem alten Buch in: »Oberschlesischer Kurier« Nr. 3 / 1966, S. 6. 229 Storm, Kleiner Lebensrapport (wie Anm. 210), S. 70.

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Zur inneren Entfaltung der kleinen Ruth trug zweifelsohne auch ihre Großmutter Bertha bei. Sie bewundert an ihr nicht nur deren Tüchtigkeit, mit welcher sie sich für den Ausbau des Verlags einsetzt230, und ihre Gabe, Familie und Berufstätigkeit in Einklang bringen zu können, sondern vor allem ihre Frömmigkeit und ihr offenes Herz, das es ihr nicht erlaubte, arme Leute aus den Kattowitzer Mietskasernen unbeachtet zu lassen: Mit den verschiedensten Menschen dieser jungen, aufstrebenden Stadt kam sie in Berührung und das machte sie so beliebt; für jede Arbeiterfrau, die ein kleines Kind auf dem Arm trug, hatte sie ein besonders freundliches Wort oder einen guten Rat. […] Der spätere polnische Politiker Korfanty genoß lange Zeit als armer, intelligenter Junge durch Vermittlung eines Geistlichen Freitisch in ihrem Hause […].231

Der Vater232 und die Großmutter hatten also, den Selbstzeugnissen von Ruth Storm nach, einen bedeutenden Einfluss auf ihre Entwicklung. Es gab aber noch andere Faktoren, die sie innerlich haben entwickeln lassen. Es war allerdings weder die Grundschule in der Kattowitzer Teichstraße noch das Mädchenlyzeum in der Grundmannstrasse, welche die Jugendliche prägen und innerlich fesseln konnten. Sie war gedanklich mit den politisch-kulturellen Ereignissen in der damals multikulturellen Stadt Kattowitz eng verwoben, wo sich Nationen und Kulturen begegneten, was symbolisch das Dreikaisereck versinnbildlichte. Gleichermaßen verbunden war sie auch mit dem elterlichen Haus, in welchem die polnischen Dienstmädchen die Siwinna-Schwestern mit der Welt der oberschlesischen Sagen, Bräuche und dem katholischen Glauben vertraut machten, was bei der kleineren Ruth eine lebenslange Faszination für die heilige Hedwig weckte233. Die Aufmerksamkeit der Schülerin fesselten weniger die schulischen Aufgaben, sondern vielmehr die politischen Ereignisse und nationalen Konflikte des Grenzlandes, von denen ihre Heimatstadt Kattowitz nach 1918, und besonders während der Abstimmung in Oberschlesien betroffen war. Auf Entscheidung der Eltern setzt die zerstreute Schülerin ihre Bildung in der Höheren Töchterschule der Herrnhuter Brüdergemeine zu Gnadenfrei im Eulengebirge (heute: Pilawa Górna, Polen) fort. Die Richtigkeit dieses elterlichen Entschlusses

230 R. Storm erinnert sich daran wie folgt: »Bei allen Konferenzen war sie anwesend. Die Schlüssel der Geschäfts- und Büroräume mußten jeden Abend bei ihr abgegeben werden, gleichfalls die Tageskasse, die von ihr im Geldschrank verschlossen wurde. Auch die Auszahlung der Wochenlöhne und der Monatsgehälter wurde von ihr vorgenommen«. R. Storm: Meine Großmutter aus Kattowitz. In: »Oberschlesischer Kurier« Nr. 8 / 1966, [o. S]. 231 Ebd. Vgl. dazu auch R. Storm: … und wurden nicht gefragt. Zeitgeschehen aus der Perspektive eines Kindes. Würzburg 1986, S. 152. 232 Den väterlichen Einfluss auf den schriftstellerischen Weg von R. Storm betont auch E. G. Schulz. Vgl. E.G. Schulz: Nachwort. In: R. Storm: Das geheime Brot. Erlebtes und Bewahrtes Erzählungen. Würzburg 1985, S. 146. 233 Vgl. Storm, … und wurden nicht gefragt, S. 11 und Kapitel 5.3.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

wird die Schriftstellerin das ganze Leben lang zu schätzen wissen, worüber sie in ihren Lebenserinnerungen berichtet: Die ländliche Ruhe, die Einfachheit und tägliche Ordnung, das charaktervolle Vorbild einer Erzieherin, unserer Stubenmutter, die als Tochter eines Missionars im Himalajagebiet geboren war, unser strenggütiger Pastor, der mich konfirmierte und später auch traute, und nicht zuletzt die gleichaltrigen Schülerinnen in ihrer Verschiedenheit öffneten ganz andere Perspektiven. Und daß wir Menschen hier nur Wanderer sind und unsere wahre Heimat in Gott ruht, wurde mir in diesen friedlichen Gnadenfreier Jahren ins Herz gepflanzt. Dieser Keim entfaltet sich und ist wohl auch in meinem Schaffen zu spüren, obwohl für unsere Generation, die zwischen einschneidenden Epochen hinund hergerissen aufwuchs, es nicht leicht war, den richtigen Weg zu finden, da die frühe Entwurzelung uns das Maß einer ruhigen Entwicklung nahm.234

Die sorgenlose Zeit im Internat235, die ihren Höhepunkt in der Konfirmation am 20. März 1921236 findet, bedeutet eine informelle Zäsur, die die Kindheit vom Erwachsenenleben endgültig trennt. Der Ausbruch des Aufstandes am 3. Mai 1921, der das Ergebnis der Volksabstimmung war und die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Deutschland militärisch zu erzwingen versuchte237, veränderte das Leben der Familie Siwinna und bestimmte auch den Lebenslauf von Ruth. Carl Siwinna und seine »Kattowitzer Zeitung« waren schon während des Ersten 234 R. Storm, Kleiner Lebensrapport (wie Anm. 210), S. 71. 235 R. Storm hat den Kontakt zu ihren Mitschülerinnen aus Gnadenfrei noch über viele Jahrzehnte gepflegt. Dafür sorgte u. a. eine von der Verwaltung dieser Schule veröffentlichte Broschüre, die an alle ehemaligen Zöglinge verschickt wurde. Vgl. Materialien im Hausarchiv Storm, Kasten 15, Nr. 597; Kasten 22, Nr. 624. Die lebenslange Brieffreundschaft verband Ruth Storm hingegen mit Ruth Koch, geb. Schaefer (1904–2002), welche 1922 im Pensionat für höhere Töchter in Dresden begann. Vgl. dazu die Korrespondenz aus den Jahren 1922–1958 im Hausarchiv Storm, Kasten 2, Nr. 508. 236 Im Hausarchiv Storm wird auch das Programm der Konfirmationsfeier in Gnadenfrei aufbewahrt. Vgl. Kasten 15, Nr. 597. 237 Laut des Versailler Vertrags sollte auf dem Gebiet von Oberschlesien der Grenzverlauf zwischen Polen und Deutschland durch eine Volksabstimmung geregelt werden, die eine Interalliierte Plebiszitskommission zu überwachen hatte. Am Abstimmungstag, dem 20. März 1921, haben sich 59,4 Prozent der oberschlesischen Bevölkerung für Deutschland und 40,6 Prozent für Polen ausgesprochen. Das Wahlergebnis verschärfte die schon seit dem Ersten Weltkrieg angespannte Situation zwischen den beiden Volksgruppen, was zum Ausbruch des dritten Aufstandes in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai führte. Infolge der Straßenkämpfe und späterer militärischer Auseinandersetzungen auf dem St. Annaberg vom 21. bis 27. Mai 1921, die man als Manifestation polnischer Identität gedeutet hat, willigte die Botschafterkommission in Paris in die Aufteilung von Oberschlesien ein. Kattowitz, zusammen mit den Industriestädten Königshütte, Myslowitz, Schwientochlowitz, Laurahütte u. a., wurde Polen zugesprochen. Vgl. B. Barth: Die Freikorpskämpfe in Posen und Oberschlesien 1919–1921. Ein Beitrag zum deutsch-polnischen Konflikt nach dem Ersten Weltkrieg. In: Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, hrsg. von D. Neutatz, V. Zimmermann. München 2006, S. 317–333.

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Weltkrieges deutschnational gesinnt, und in der Zeit vor der Volksabstimmung »stellte er«, der Tochter Ruth zufolge sein Presseorgan ganz in den Dienst der Abstimmung; in der »Kattowitzer Zeitung« trat er in unverkennbarer Weise für unser Deutschtum ein. Diese Haltung wurde ihm gleich nach der Abstimmung zum Verhängnis. Die interallierte [sic!] Abstimmungskommission machte ihn für einige öffentliche Kundgebungen, angeblich durch einige Zeitungsartikel hervorgerufen, verantwortlich.238

Seine drohende Verhaftung und die anschließende Aufteilung Oberschlesiens veranlassen Carl Siwinna dazu, den Kattowitzer Verlag zu verkaufen und dessen Sitz nach Berlin zu verlegen239. Der Umzug in die Hauptstadt ermöglichte Siwinna jedoch nur einen Teil der bisherigen Aktivitäten fortzusetzen (z. B. die Veröffentlichung der Zeitschrift »Kohle und Erz« und die Führung des Buchverlags), den Unterhalt sicherten ihm bis zu seinem Tode die Lotterieeinahmen240. Seit dem Umzug nach Berlin wurde diese Stadt zusammen mit dem niederschlesischen Schreiberhau im Riesengebirge, wo die Familie Siwinna 1919 das Landhaus »Haus Rundblick« erworben hatte, zum neuen Zuhause der ganzen Familie. Ihre Heimatstadt Kattowitz hat Ruth bis zu ihrem Lebensende nicht mehr wiedergesehen241.

238 R. Storms Manuskript im Hausarchiv Storm, Kasten 17. 239 C. Siwinna verkaufte die Zeitung am 1. Dez. 1921. Die neuen Inhaber wandelten die Firma in die Aktiengesellschaft »Kattowitzer Buchdruckerei – Verlagsgesellschaft« um, die bis Anfang 1945 bestand. Vgl. Majowski, »Kattowitzer Zeitung« und »Oberschlesischer Kurier« (wie Anm. 223). 240 Die Einnahmen des Verlags sind Jahr für Jahr zurückgegangen. Besonders in der Zeit der Weltwirtschaftskrise konnte man sich mit dem Bücherverkauf kaum über Wasser halten. Zum Verlust der Position auf dem Verlagsmarkt trug auch die Herausgabe 1934 eines zum 75. Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. erschienenen Erinnerungsbuches, das der nationalsozialistischen Regierung zuwider war. Die Misserfolge waren u. a. Ursache für Herzschwäche, die C. Siwinna schon seit dem Ersten Weltkrieg begleitet hat. Er starb am 26. Okt. 1939 und ließ sich im seit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wieder deutsch gewordenen Kattowitz begraben. Sein Grab befindet sich bis heute (neben dem Grab der Eltern) auf dem Evangelischen Friedhof in Katowice. Vgl. R. Storms Manuskript im Hausarchiv Storm, Kasten 17. Zur Einstellung des Nationalsozialismus zum Verlag vgl. J. Mosler: Die Deutschtumsarbeit des Kattowitzer Verlages Carl Siwinna und ihre Problematik. In: »Volksbote« 14. Jg, Nr. 5 / 1960, S. 7f. Über C. Siwinna vgl. auch R. Storm: Vor 100 Jahren wurde C. Siwinna geboren. Der ehemalige rührige Verleger der »Kattowitzer Zeitung«. In: »Der Schlesier« Nr. 44 / 1971, vom 4. 11.1971, [o. S.]; R. Storm: Schicksal einer oberschlesischen Verlegerfamilie. In: »Kattowitzer Zeitung«, Salzgitter-Bad, Nr. 7 / 1953, vom 25. 07. 1953, [o. S.]; J. Fritsche: Zeitungen und Gazetten in Oberschlesien. In: »Der Oberschlesier« Nr. 23 / 1952, vom 15. 08. 1952, [o. S.]. 241 Ihrer Geburtsstadt hat R. Storm ein Gedicht gewidmet, in dem sie sich mit Sehnsucht an diese oberschlesische Industriestadt und deren Gründer erinnert sowie der deutschen Wurzeln gedenkt. Vgl. R. Storm: Gruß an unsere Heimatstadt. In: »Oberschlesischer Kurier«, vom 20. 05. 1979, [o. S.].

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

Abb. 2: »Haus Rundblick«. Mittel-Schreiberhau im Riesengebirge (um 1925).

2.2

›Zerrissen‹ zwischen Berlin und Schreiberhau

Die in der Kapitelüberschrift angedeutete Zerrissenheit bezieht sich auf eine neue Lebenssituation von Ruth Siwinna, die erstens aus dem unfreiwilligen und unerwarteten Wohnortwechsel resultiert, zweitens auf politisch unruhige Zeiten verweist und nicht zuletzt die Dilemmata einer angehenden Schriftstellerin skizziert. Das Haus im Riesengebirge und seine Umgebung verstärken den aus Gnadenfrei schon bekannten Zugang zur Natur, der ihr in der Industriestadt Kattowitz fast nie zuteil geworden war. Die neu geweckte Liebe zu Natur und Tieren, die Ruth Siwinna schon als Kind zu schätzen begann242, kamen damals sehr stark zur Entfaltung. Diese Leidenschaft bewog Ruth Siwinna dazu, ein Studium an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin im Jahre 1924 aufzunehmen, welches zusammen mit einem Praktikum in Pommern einige Semester

242 »Während meine Schwester mit Puppen spielte, liebte ich Tiere. Das ausgestopfte Pferd im Schaufenster eines Sattlermeisters lebte für mich«. Storm, Kleiner Lebensrapport (wie Anm. 210), S. 70. Die Liebe zu Pferden verdankt R. Storm auch dem Vater, der ein Pferd auch in Kattowitz gehalten hat. Ihren ›Freunden‹ widmete die Dichterin auch ein Gedicht, in dem sie den Wert der Freundschaft zwischen Mensch und Tier thematisiert. Vgl. Geschöpfe Gottes. In: »Schlesien« Jg. XXV, H. II / 1980, S. 99.

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›Zerrissen‹ zwischen Berlin und Schreiberhau

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dauerte243. Zu einem Umbruch in ihrem Leben kommt es im Jahr 1926, in dem sie sich vermählt und den Weg in ein selbständiges Leben ohne den elterlichen Einfluss betritt. Den künftigen Ehemann, den aus dem oberschlesischen Tarnowitz stammenden Ernst Josef Storm (1894–1980)244, hat sie im »Haus Rundblick« kennengelernt, wo er auf Einladung von Carl Siwinna das Neujahrsfest 1925 verbrachte. Im Verlag des Vaters sollte die Dissertation245 des Doktors der Staatswissenschaft erscheinen und der Aufenthalt in Schreiberhau diente außer dem Skilaufen auch diversen Fachgesprächen. Die Trauung fand einige Monate später, am 21. August 1926, in Berlin statt, obwohl die Eltern der Braut gegen diese Verbindung waren246, nichtsdestoweniger ging die verliebte junge Frau ihren eigenen, nicht immer einfachen Weg, der zunächst durch finanzielle Schwierigkeiten gekennzeichnet war, denn das Gehalt eines Assistenten an der Technischen Hochschule zu Berlin reichte nicht immer aus247. Erst als Ernst Storm nach der Habilitation248 zum Privatdozenten für Berg- und Volkswirtschaftslehre wurde, gelangte er ab 1930 rasch zu beruflichem Erfolg, wozu auch sein früher Beitritt zur NSDAP (im Februar 1932) beigetragen haben mag249. 243 Im Hausarchiv Storm gibt es keine Dokumente, die den Verlauf dieses Studiums bestätigen würden. Man nimmt an, dass Ruth Siwinna die Vorlesungen als Hörerin belegt hat. 244 Zur Herkunft und Familie von E. J. Storm vgl. P.-Chr. Storm: Familientafeln. Hektografiertes Typoskript. Wangen i. A. 2012, Tafel 4, Anhang 2. Auf die Herkunft von E. Storm wird noch im Weiteren kurz eingegangen. 245 E. Storm: Geschichte der deutschen Kohlenwirtschaft von 1913–1926. Berlin o. J. [1926]. E. Storm hat bei Prof. Dr. K. Bräuer an der Breslauer Universität mit der Arbeit Beitrag zur Geschichte der deutschen Kohlenwirtschaft von 1913–1924 mit besonderer Rücksicht auf die oberschlesischen Verhältnisse (1925) promoviert; in den akademischen Jahren 1924–1926 arbeitet er als Assistent am Rechts- und Staatswissenschaftlichen Seminar dieser Universität. Vgl. E. Storm: Abseits – und doch nicht vergessen. Erinnerungen eines Hochschullehrers 1921–1965. Hektografiertes Typoskript. Wangen i. A. 2010, besonders tabellarischen Lebenslauf von E. Storm, S. 164–170. 246 Ruths Eltern wussten um die erste Ehe ihres Schwiegersohnes (mit der Breslauer Schauspielerin Hertha Bielschowski, geb. 28. 03. 1899–?) und auch um die Verhältnisse in der kinderreichen Arbeiterfamilie, in der er zuerst in Tarnowitz und dann in Kattowitz aufgewachsen war. Vgl. Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 15 und weiter über die Herkunft von E. Storm S. 35–40. 247 Vgl. ebd., S. 15. 248 E. Storm legte die Habilitationsschrift über die Lage und Entwicklungsmöglichkeiten des niederschlesischen Steinkohlebergbaus (unter diesem Titel 1935 im Verlag von Reimar Hobbing GmbH in Berlin erschienen) vor. 249 Da Ruth Storm Gegenstand der vorliegenden Monografie ist, soll auf die Karriere ihres Ehemannes nur ansatzweise eingegangen werden, und nur dann, wenn diese auch die literarische Entfaltung der Schriftstellerin beeinflusst hat. Sowohl E. Storm als auch R. Storm haben, unabhängig voneinander, die eigene Haltung zum Nationalsozialismus schriftlich erarbeitet. In den unveröffentlichten Erinnerungen wird über die Zugehörigkeit zur NSDAP reflektiert, die im Fall von E. Storm aktive Formen annahm (als Mitglied des Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps). Man bestreitet allerdings, die Ernennung zum verbeamteten außerordentlichen Professor an der TU Berlin und die Berufung in das Beamtenverhältnis

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

Als außerordentlicher (ab April 1933), dann ordentlicher Professor (ab April 1935) bekleidete er wichtige Universitätsposten – zunächst den des Prorektors der TU Berlin (1934–1938) und anschließend den des Rektors (1938–1942) – und war wissenschaftlich sehr aktiv250. Auch seine Frau versucht sich damals schriftstellerisch durchzusetzen. In die ersten Ehejahre fällt auch das literarische Debüt von Ruth Storm251in Form eines Presseartikels unter der Überschrift Aus Oberschlesiens schwerster Zeit, der in der Berliner Zeitung »Der Tag« vom 30. April 1929 erschienen ist. Es handelt sich hier zwar um einen Zeitungsbeitrag, aber der Untertitel Tagebuchblätter aus dem Jahre 1921 nimmt schon dessen literarische Ansprüche vorweg. Die angehende Autorin lässt nämlich eine autobiografische Kleinform veröffentlichen, die ihre Erlebnisse im aufständischen Kattowitz wiedergibt252. Sie orientiert sich nicht an tagebuchartigen Eintragungen, da sie auf detaillierte Zeitangaben verzichtet, aber die Wahrhaftigkeit der Darstellung erreicht sie durch die Verwendung der kollektiven Wir-Form und der realistischen, lebensauf Lebenszeit mit Wirkung vom 1. April 1933 sei dank der Unterstützung der Partei erfolgt; durch rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. Oktober 1962 in einem Verfahren gegen die Pensionsregelungsbehörde nach § 7 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen wurde festgestellt, dass die Ernennung von E. Storm ordnungsgemäß erfolgt war und weder allein noch zumindest überwiegend auf einer engen Verbindung zum Nationalsozialismus beruhte. Vgl. VG XVIII A 18.62, Hausarchiv Storm, Kasten 8, Nr. 550–557. Vgl. auch Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht (wie Anm. 212), S. 37. E. Storm wurde auch vom Deutschen Entnazifizierungs-Schiedsgerichts des Landkreises Peine entlastet (1947). Vgl. Storm, Abseits – und doch nicht vergessen (wie Anm. 245), S. 169. Zu Recht verweist S. Waindok darauf, dass ab 1933 »94 Mitglieder des Lehrkörpers, also knapp ein Viertel bei einer Gesamtzahl von ca. 410 Privatdozenten und Assistenten [der Technischen Universität – R.D.-J.] aus Amt und Würden vertrieben wurden«, und dass ›die Säuberung‹ dieser Hochschule, genauso vieler anderer im Dritten Reich, von jüdischen Lehrern im Winter 1935/1936 abgeschlossen wurde. Vgl. S. Waindok: Ruth Storm – Heimatkunst, Nationalsozialismus, christliche Allegorik. Versuch einer Bewertung neuer Archivalien. In: Deutsch im Kontakt der Kulturen. Schlesien und andere Vergleichsregionen, hrsg. von M. K. Lasatowicz, A. Rudolph, N. R. Wolf. Berlin 2006, S. 330f. Findet man nicht alle Argumente von S. Waindok wissenschaftlich fundiert, so bleibt die Haltung des damaligen Rektors E. Storm in den Jahren 1933–1942 unbestritten. 250 E. Storm hielt in den Jahren 1938–1942 zahlreiche Gastvorlesungen an europäischen Universitäten, z. B. in Riga, Budapest, Wien, Belgrad, Rom, Pressburg und Sofia. Es handelt sich jeweils um Länder, welche zu den Verbündeten des Dritten Reiches gehörten. 251 P.-Chr. Storm gibt in der von ihm zusammengestellten Bibliografie der Werke von R. Storm an, dass sie in H. Kegels Anthologie Oberschlesien in der Dichtung (Berlin: Phönix-Verlag 1926) drei Beiträge (Zu früh, Der Lebensmüde, Oberschlesisches Nachtbild) veröffentlicht hat, die dann als ihre Erstlingswerke gelten sollen. Vgl. P.-Chr. Storm: Ruth Storm. Belegesammlung (1946–1993). Wangen i. A. 2010, S. 9. Vgl. auch H. Kegel: Oberschlesien in der Dichtung. Berlin 1926, S. 355–356. Für das literarische Debüt von R. Storm soll eigentlich das der Mutter zu Weihnachten 1921 geschenkte Gedicht, das an die Sommerferien am Meer erinnert, gelten Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 3, Nr. 515. 252 Erweitert und verändert werden diese Notizen in … und wurden nicht gefragt. Das Zeitgeschehen aus der Perspektive eines Kindes aufgenommen.

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nahen Beschreibungen der Lage in der von Aufständischen umlagerten Stadt. Sie weiß jene Erlebnisse der Mitbürger zu schildern, die eine besondere Identifikationskraft besitzen. Der von ihr beschriebene Mangel an Lebensmitteln, Strom und Wasser spricht den Leser an und vermag sein Interesse zu wecken, auch wenn ihm die Verhältnisse und historischen Bedingungen unbekannt sein sollten. Als aufmerksame Beobachterin entgehen Ruth Storm dabei wenige Details, sie verliert sich aber dennoch nicht in Einzelheiten, sondern fasst diese in knappen, berichtartigen Sätzen zusammen. Die subjektiven Wahrnehmungen verbinden sich hiermit mit den Tatsachen, die zuletzt in poetischen, aber dennoch aussagekräftigen Naturbildern ihren Ausdruck finden: Wir haben seit gestern abend nichts gegessen. Keiner von uns hat etwas zu sich genommen. Die Aufregungen haben den Hunger aufgesaugt; denn der heutige Morgen war furchtbar. Es war ein Erwachen so rot wie die Sonne, die zwischen den Häusern blutig hervorkam. Unwillkürlich mußte man immer in die Sonne schauen, die ihre rötlichen Strahlen in den aufrührerischen Straßenkampf sandt und alles in Blut und Sünde tauchte.253

Die in den 1920er und 1930er Jahren im Werk vieler deutschsprachiger oberschlesischer Autoren vielmals aufgegriffene Metapher von der »blutenden Grenze« findet auch bei der debütierenden Ruth Storm Anwendung254. In diesem Fall wird sie durch eine blutende Sonne ersetzt, die die Stadtbewohner in den Vordergrund stellen lässt. Die Bevölkerung wird nämlich von den Aufständischen im Stadtzentrum eingesperrt und sie hat keine Möglichkeit sich zu verteidigen. Die Sympathie der Autorin schlägt auf die Seite der gefangen gehaltenen Einwohner, die den »bolschewistischen Mitteln«255 ratlos und hilflos gegenüberstehen. Nicht nur die Aufständischen werden als eine nicht zu bewältigende 253 R. Storm: Aus Oberschlesiens schwerster Zeit. Tagebuchblätter aus dem Jahre 1921. In: »Der Tag« (Ausgabe für Groß-Berlin) Nr. 102, vom 30. 04. 1929, [o. S.]. 254 Über die Auseinandersetzungen in den deutschen Grenzgebieten vgl. V. Conze: »Unverheilte Brandwunden in der Außenhaut des Volkskörpers«. Der deutsche Grenzdiskurs der Zwischenkriegszeit (1919–1939). In: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, hrsg. von W. Hardtwig. Oldenbourg / München 2007, S. 21–48. Unter dem Begriff der »blutenden Grenze« verstand man die Grenze in Oberschlesien, die ab 1921 »die Deutschen von den Deutschen trennte«. Diesem neuen politischen und kulturellen Geschehen widmeten sowohl ober- als auch niederschlesische Autoren (z. B. A. Hayduk, E. Grabowski, G. Hauptmann, H. Stehr, A. Bronnen) viel Aufmerksamkeit. Vgl. A. Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 2. München 1967, S. 207ff. Die deutschen Autoren haben nach dem Verlust Oberschlesiens Klage über dessen Trennung von Deutschland erhoben. Manche von ihnen, wie M. Trott im Roman Die Heimat ruft (1920) oder A. Bronnen in »O.S.« (1929), beschreiben diese Ereignisse aus einer chauvinistischen, antipolnischen und sogar rassistischen Perspektive, wohingegen andere, wie A. Hayduk im Gedichtzyklus Blutende Heimat (1926), eine versöhnende Haltung annehmen. Vgl. Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur (wie Anm. 202), S. 293–310. 255 Storm, Aus Oberschlesiens schwerster Zeit (wie Anm. 253).

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Macht gezeigt, auch die Alliierten erscheinen in ihrer Passivität als ein Störfaktor, der den verlorenen Posten der schutzlosen Kattowitzer für endgültig erklärt. Das Urteil über die Aufständischen, jene »Korfantybanden«256, wird schonungslos ausgesprochen, obwohl die Autorin den polnischen Insurgenten auf der anderen Seite wiederum ein gutes Organisationstalent zubilligt. Die politischen Umstände werden aber nach den ersten Stunden in den Hintergrund gerückt und von Alltagssorgen überschattet. Im Fall der Autorin sind diese Probleme einerseits kollektiv (Angst, Hunger, Todesfälle), andererseits greifen sie in ihr Privatleben ein, berauben sie ihres Familieneigentums (die Redaktion der »Kattowitzer Zeitung« wird von den Aufständischen übernommen) und im weiteren Verlauf verändern diese Ereignisse ihr Leben für immer. In dem tagebuchartig verfassten Bericht ist der autobiografische Kontext nicht zu übersehen; die Erlebnisse der Familie aus dem von den Aufständischen besetzten Kattowitz werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die politische Haltung der Autorin eindeutig präsentiert. Die Verknüpfung des Subjektiven mit dem Objektiven erscheint dabei als Darstellungsstrategie, die Ruth Storm im späteren Werk häufiger verwenden wird. Obwohl Ruth Storm in der Hauptstadt Berlin lebt, hat sie keinen Kontakt zu deren literarischen Zirkeln oder zu anderen Autoren bzw. Künstlern. Ihr schriftstellerischer Werdegang ist von Anfang an gekennzeichnet durch das Bedürfnis, ihren eigenen Leidenschaften folgen zu wollen, im Schreiben ein Gleichgewicht zu der sie umgebenden Wirklichkeit zu finden und dadurch zu sich selbst zu kommen257. Nichtsdestotrotz wurde Ruth Storm im Februar 1932 Mitglied der NSDAP. In ihren Erinnerungen gesteht sie, wie es dazu kam: […] gleichfalls […] war ich erschrocken, dass er [der Ehemann – R.D.-J.] über meinen Kopf hinweg mich auch als Mitglied in die Partei eintragen ließ. Mir waren als Individualist politische Parteien im Grunde unheimlich; Doktrinen, von welcher Seite auch, waren mir verhasst, weil sie die Freiheit einschränkten; aber da ich mich immer nach meinem Mann richtete, begehrte ich nicht weiter auf, obwohl ein Gefühl des Unbehagens zurückblieb.258

256 Ebd. Wojciech Korfanty (1873–1939) war der Anführer des dritten polnischen Aufstandes. Vgl. Pieper, Die Waisen von Versailles (wie Anm. 161), S. 155. 257 Auf solch einen Entwicklungsweg der Mutter als Schriftstellerin verweist ebenfalls deren Sohn, Peter-Christoph, in einem Brief an mich [R.D.-J.]: »Meine Mutter war keine Berufsschriftstellerin. Sie hat ihre schriftstellerische Tätigkeit ›nebenberuflich‹ gleichsam als Autodidaktin betrieben, fasste ihre besten Gedanken auf dem Rücken eines Pferdes und musste nicht von den (stets sehr geringen) literarischen Einkünften leben. […] Sie hat sich dagegen gewehrt, in bestimmte Kategorien oder Schubladen eingeordnet oder Parteien, Schulen oder Richtungen zugerechnet zu werden.« P.-Chr. Storms Brief vom 14. März 2019. 258 Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 6. Zur Problematik siehe auch W. Stanke: Ruth Storm. Auf den Pfaden der hl. Hedwig – Leben und Werk. In: »HedwigsJahrbuch« 1968, hrsg. von Msrg. J. Smaczny. Rühlemoor 1967, S. 51.

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Welchen Einfluss hat die Entscheidung des Mannes auf die schriftstellerische Entwicklung von Ruth Storm gehabt und wie hat sie sich auf das Privatleben des Ehepaares ausgewirkt? Kurz nach dem Beitritt zur NSDAP beantragt die Autorin die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, in der sie eine andere Begründung für ihre politische Neuorientierung angibt: Dadurch, dass mein Mann und ich die Heimat verloren haben, sahen wir mit anderen Augen in die Nachkriegszeit. Wir mussten in Wort u. Schrift vieler Verständnislosigkeit und Ablehnung begegnen. So entsprach es einem inneren Bedürfnis von uns, endgültig aktiv mitkämpfend Anfang 1932 in die NSDAP einzutreten.259

Dieser Erklärung folgen kurz darauf vereinzelte Veröffentlichungen in den repräsentativen Presseorganen der Regierungspartei260, z. B. 1933 im »Völkischen Beobachter« (Minlütt. Die Geschichte eines Hundes261), »Angriff« (Das Vermächtnis262) und in der »NS-Frauenwarte«263. Die Veröffentlichung dieser Texte in den NSDAP-Presseorganen schreibt R. Storm vor allem dem Engagement des Ehemannes zu, der sie durch Protektion in ihrer schriftstellerischen Karriere unterstützen wollte. In den Lebenserinnerungen werden diese Umstände wie folgt erklärt: Von der Parteieinspannung zog ich mich zurück, nachdem ich durch eine Kulturorganisation Gedichte, Feuilletons und eine ländliche kleine Erzählung (angeregt aus meiner praktischen Lehrzeit auf einer Landwirtschaft in Pommern) veröffentlicht hatte. Mein Mann hatte dieses Manuskript einem Chefredakteur der Nazipresse gegeben, den er bei einem Empfang kennen gelernt hatte und ihn auf meine Arbeit aufmerksam gemacht. Das Seltsame und für mich bedrückende war, dass dieser Schriftleiter die Arbeit wohl recht gut fand, aber bemängelte »es fehle ein Hinweis auf Hitler und auf das neue, erstarkte Deutschland.« Und so musste ich eine Rede Hitlers darin (völlig un-

259 Aus dem Dokument des Bundesarchivs Berlin, Lesefilm Nr. I 563. Zit. nach Waindok, Ruth Storm – Heimatkunst, Nationalsozialismus, christliche Allegorik (wie Anm. 249), S. 314. S. Waindok hat dieses Dokument im Bundesarchiv gefunden und in ihrem Artikel veröffentlicht. In ihren Studien über das Werk von R. Storm ordnet S. Waindok die Schriftstellerin in den nationalsozialistischen Diskurs ein und versucht sie des Nimbus einer ausschließlich schlesischen Autorin zu entkleiden. Vgl. dazu auch S. Waindoks Dissertation Kompromisse mit der nationalsozialistischen Macht und christliche Transzendenz nach 1945. Sinnbildungsverfahren in der Erzählprosa Ruth Storms. 260 Nach 1933 ist es schwer zu sagen, welche Presseorgane als Repräsentanten der Regierung anzuerkennen wären, denn die Verstaatlichung der Medien und deren Kontrolle stellten sie völlig in den Dienst der nationalsozialistischen Propaganda. Als Presseorgan der NSDAP galt allerdings die Zeitung »Völkischer Beobachter«. Vgl. J. Wulf: Presse und Funk im Dritten Reich. Berlin 1983, S. 25ff. 261 Vgl. R. Storm: Minlütt. Die Geschichte eines Hundes. In: »Völkischer Beobachter« Nr. 85 / 86 1933, S. 6. 262 Vgl. R. Storm: Das Vermächtnis. In: »Angriff« Nr. 24 / 1933, vom 28. 01. 1933, S. 12. 263 Es handelt sich um einen Text, dessen Titel nicht zu ermitteln ist, publiziert in der Ausgabe vom 01. 10. 1933.

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motiviert) andeuten, mehr tat ich nicht, weil ich darüber innerlich schäumte […]. In meiner Arbeit wollte ich unabhängig sein, deshalb verkroch ich mich ganz in den historischen Roman über Hedwig von Schlesien, ohne zu ahnen, dass meine Heimat Schlesien bald einen ähnlichen Völkersturm wie 1241 erleben würde264.

1935 erscheint im Steuben-Verlag265 Storms erster Erzählungsband Ein Mann kehrt heim266, dessen Entstehung die Autorin folgenderweise begründet: »[…] gerade weil ich in dem lauten Berlin lebte, ging ich die stillen Wege daheim in Schlesien in meinen Gedanken weiter und tröstete mich damit fern ihres eigenen Zaubers zu sein.«267 Die Diskrepanz zwischen Stadt und Land, Zivilisation und Natur, Heimat und Fremde verbindet diese 17 Novellen und Erzählungen268. Waindok schreibt alle in den Jahren 1932–1935269 entstandenen Texte der »Heimatkunstbewegung« zu und behauptet, dass sich in ihnen eine »faschistisch ideologisierte Bauern- und Landromantik nachvollziehen«270 ließe. Untersucht man die Erzählungen nach der Klassenzugehörigkeit der Figuren, gehören die meisten von ihnen tatsächlich zu den unteren Schichten: Es gibt unter ihnen Kleinbauern (In einer Frühjahrsnacht271, Die selige Stunde), Land-, Wald- sowie Bergbauarbeiter (Ein neues Geschlecht, Der rollende Würfel, Das Opferfeuer, Angelika, Das Bergwerk), unter welchen auch Mittellose, Bedürftige und Hungerleidende vorkommen (Das Armeleutekind, Die Flucht, Ein Mann kehrt heim), Hofbesitzer (Ein neues Geschlecht, Frischer Sproß, Das Erbe, Die Taufe, Das Marienbildchen, Die Begegnung, Ein Mann kehrt heim), aber auch Adlige und gut situierte, gebildete Bürgerliche (Der weite Ritt, Das Marienbildchen, Die Begegnung, Der Gesang vom Pferde). Unabhängig von der Klassenzugehörigkeit und dem materiellen Status fühlen sie sich alle ihrer Herkunft verpflichtet und mit 264 Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 9. 265 Der Berliner Steuben-Verlag, der seinen Sitz in Charlottenburg hatte, begann nach 1945 wieder zu publizieren. Vgl. R. Krause: Buch und Buchproduktion in der Viersektorenstadt. Ein Überblick. In: Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945–1949, hrsg. von U. Heukenkamp. Berlin 1996, S. 129–146, hier: S. 143. 266 C. Siwinna hat es der Tochter übelgenommen, dass sie diesen Band, eigentlich ihr richtiges literarisches Debüt, nicht in seinem Verlag hat publizieren lassen. Vgl. R. Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 12. 267 Ebd., S. 12. 268 Die Gattungsbezeichnung im Untertitel des Bandes stammt von der Autorin selbst, sie differenziert aber bei einzelnen Texten nicht, welcher als Novelle oder Erzählung anzusehen ist. Novellenhafte Züge weisen, der Definition dieser Gattung von B. von Wiese folgend und sich auf eine unerhörte Begebenheit fokussierend, meines Erachtens z. B. In einer Frühjahrsnacht, Der rollende Würfel, Der weite Ritt, Das Marienbildchen und Angelika auf. Andere in diesem Band gesammelten Erzählungen sind durch einen weiteren Aufbau des Spannungsbogens und in der Regel die Auflösung des Konflikts gekennzeichnet. 269 Es handelt sich hier hauptsächlich um den Erzählungsband Ein Mann kehrt heim (1935). 270 Waindok, Ruth Storm – Heimatkunst, Nationalsozialismus, christliche Allegorik (wie Anm. 249), S. 316. 271 In einer Frühjahrsnacht erschien zuerst in »Deutsche Allgemeine Zeitung« vom 10. 05. 1931.

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der Erde verbunden. In der heimatlichen, ländlichen Umgebung finden sie jeweils Zuflucht, Geborgenheit und Ruhe und sind imstande, diese Werte gegen das Städtische, das als Belästigung und Störfaktor für ihre bisherige wie auch künftige Entwicklung gilt, zu behaupten. Dieses für die Heimatliteratur schlechthin charakteristische Merkmal272 ist aus vielen Szenen, besonders den Aussagen der Helden oder Naturbeschreibungen, herauszulesen. In der einleitenden Erzählung Ein neues Geschlecht verlässt der Protagonist Haralt gegen den Willen des Vaters, der zum Vertreter der Stadt stilisiert wird, das Elternhaus und verzichtet auf die Lehrlingsstelle beim Kaufmann. Er folgt dem Ruf der Kindheit, indem er dem Arbeitsnachweis für Landarbeiter in einer 10 Stunden von der Stadt entfernten Domäne nachgeht. Die Liebe zur Erde, zu dörflichen Landschaften und der Natur soll er mütterlicherseits geerbt haben, denn seine Mutter stammte nicht nur vom Lande, sondern verbrachte dort mit ihrem Sprössling die Zeit während des Ersten Weltkrieges, als ihr Mann eingezogen wurde. Schon damals ist in dem Kleinkind, das sich in den Augen des Vaters in einen »Bauernschädel«, einen »Nichtstuer, ein[en] Erzgauner«273 verwandelte, sprichwörtlich mit der Muttermilch aufgesogen, die Leidenschaft für das Ländliche aufgekommen. Schon der »Anblick dieses fremden Landstriches ergriff ihn« und die weit entfernte Stadt erschien ihm als ganz fremd, weswegen die Identifizierung mit den Landarbeitern, den Einwohnern, besonders der Tochter des Hofbesitzers, geradezu zwangsläufig verlaufen musste274, als ob sie einem natürlichen Prozess entsprechen würde, und seine Bestimmung vorausschickte. Auch aus anderen Erzählungen dieses Bandes sticht eindeutig die Bewunderung für die Natur heraus, für die ihr innewohnende Geborgenheit und eine für die nicht Eingeweihten, Ankömmlinge und Fremden geheimnisvolle Macht275 sowie die Verheißung des Landes, das einen Gegenpol zu der den Menschen einschränkenden Stadt bildet. Beispielsweise bemerkt die Protagonistin in der Erzählung Die Taufe eine Wandlung bei ihrem Ehemann, in dessen »Rücken eine Kraft liegt«, während er in der Stadt »wie gebeugt schien«276; Thomas, der Held aus Die Begegnung, betrachtet sich hingegen wegen seiner städtischen Herkunft als Sünder und erblickt in dem von der urbanen Zivilisation weit abgelegenen Ferienort ihm 272 Hier gehe ich auf die von K. Rossbacher erarbeiteten Merkmale der Heimatliteratur ein. Vgl. K. Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart 1975; K. Rossbacher: Programm und Roman der Heimatkunstbewegung. Möglichkeiten sozialgeschichtlicher und soziologischer Analyse. In: »Sprachkunst« Nr. 5 / 1974, S. 310–326. 273 R. Storm: Ein neues Geschlecht. In: Dies.: Ein Mann kehrt heim. Berlin 1935, S. 11. 274 »Mein Land, meine Tiere klang es in ihm«. Ebd., S. 18. 275 S. Waindok verweist darauf, dass R. Storm die niederschlesische Landschaft »mit einer Transzendenz« verknüpft. Vgl. Waindok: Ruth Storm – Heimatkunst, Nationalsozialismus, christliche Allegorik (wie Anm. 249), S. 315. 276 R. Storm: Die Taufe. In: Dies.: Ein Mann kehrt heim (wie Anm. 273), S. 55.

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bisher unbekannte Reize, die ihn auf Dauer fesseln werden. Das Ursprüngliche eröffnet sich vor seinen Augen und macht ihn auf die eigene Schaffenskraft aufmerksam: Als wenn ich schon immer hier gewesen wäre, dachte er und schaute leuchtend nach allen Seiten. Enten zogen im keilförmigen Flug rauschend über ihm, und die Wipfel der hohen Pappeln und Rotbuchen nickten leise im Wind. […] Hier lebt jedes Wesen seine unbedingte Notwendigkeit in den Pflichten des Jahres, dachte Thomas, und der Gedanke an seine lärmende Stadtheimat war ihm auf einmal schmerzlich. Wie gering nahm sich der Mensch mit seinen geistigen Fähigkeiten in der Größe der schaffenden Natur aus!277

Die in diesem Zitat hervorgehobene spezifische Struktur des Landlebens, die den Natur- und Jahreszeiten gemäß den Alltag der Einwohner prägt, gehört, ähnlich den Heimatliteraturwerken, zu einem immanenten Merkmal des ersten Storm’schen Erzählungsbandes. Ihre Helden wohnen meistens nicht nur von den politischen Ereignissen abgeschottet, sondern des Öfteren auch von anderen Bewohnern der Region, denen sie nur gelegentlich begegnen278. Diese Isolation ergibt sich freilich aus verschiedenen Umständen, oft ist sie jedoch Ergebnis eines Vererbungsprozesses, der die Familie seit Jahrhunderten an das Grundstück bindet (Das Erbe, Der weite Ritt, Das Marienbildchen, Die selige Stunde). Auch wenn die Helden den eigenen Hof verlassen, kehren sie rasch dorthin zurück und ertragen das Leben außerhalb der Heimat nicht, wie z. B. Helga in Ein neues Geschlecht oder Jürgen aus Der Gesang vom Pferde. Trotz der Tatsache, dass sich ihre Familienhäuser weit weg von der städtischen Zivilisation (Ein neues Geschlecht, Die Flucht, Die Begegnung) befinden, oft in einer Wildnis verortet sind (Angelika, Der rollende Würfel) oder von Bergen umgeben abseits liegen (Die selige Stunde), sind die Menschen mit diesem Zustand zufrieden und leben nach ihrem eigenen Rhythmus, der den Bedürfnissen von Feldarbeit und Jahreszeiten angepasst ist. Die Störung dieser Ordnung wirft die Landbewohner kurzzeitig aus der Bahn, aber sie sind jederzeit bereit, ihre altbewährte Ordnung wiederherzustellen. So geschieht es, dass z. B. in der Novelle In einer Frühjahrsnacht, in der die Rückkehr der Tochter Hedwig mit ihrem unehelichen Kind im Arm nicht nur den monotonen Lebensrhythmus des älteren Ehepaares Thomas stört, sondern 277 R. Storm: Die Begegnung. In: ebd., S. 133. 278 Diese Regel betrifft alle Erzählungen des Bandes bis auf Das Bergwerk, die sich allerdings auch in der geschlossenen Gesellschaft von Bergleuten ereignet, die der Industriewelt und nicht dem Land zuzuschreiben ist. Diese Erzählung gehört auch zu jenen (neben Der rollende Würfel, Das Armeleute Kind und Der letzte Ritt), die nach dem Krieg publiziert wurden (unter einem leicht veränderten Titel). Vgl. R. Storm: Das Bergwerk Neurode. Erzählung aus dem niederschlesischen Steinkohlenbergbau. In: »Der Schlesier« Nr. 16, vom 16. 04. 1956, andere Angaben fehlen. Vgl. auch R. Storm: Das Armeleute Kind. In: »Die Glocke« Nr. 2 / 4 / 1958; R. Storm: Der letzte Ritt. In: »Lüdenscheider Zeitung« vom 12. 10. 1960, [o.S.].

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auch die Aufmerksamkeit der Anderen auf sich zieht. Der Versöhnungsakt mit der Mutter und die Akzeptanz des neuen Zustandes lassen angeblich alle drei das friedliche Leben mitten in den »vertrauten Bergen«279 weiterführen. Der Tod eines Elternteiles, der die Lebenssituation erheblich beeinträchtigt, wird als ein vorübergehendes Hindernis betrachtet und von den Vertretern der jüngeren Generation bewältigt, die die Last des Wirtschaftens auf ihre Schultern nimmt, indem sie sich zu den Erben des Hofes macht (Frischer Sproß, Das Erbe) oder auch die neue Situation als Notwendigkeit bzw. »Opfer für die Gemeinschaft«280 einsieht. Die für die Heimatliteratur typische Figur des Fremdlings kennzeichnet die Erzählungen aus dieser Zeit ebenfalls, mit dem Unterschied, dass die Neuen nicht als Störfaktor angesehen werden, sondern als nützliche Mitglieder der Gemeinschaft, unter der Bedingung, dass sie sich als arbeitstüchtig, kooperativ, naturund heimatliebend erweisen. Zu dieser Figurengalerie gehören z. B. Haralt (Ein neues Geschlecht), der fremde Waldarbeiter, der sich durch seine Geschicklichkeit auszeichnet und den Anderen als Sieger beim Würfelwerfen imponiert (Der rollende Würfel) oder ein heimatloser Landstreicher, der bei Mathias Fichtel um eine Beschäftigung nachsucht (Der Mann kehrt heim); mit Sympathie und Fürsorge begegnen der alte Seilermeister und seine Frau einer vor den hassbesessenen, nationalgesinnten Polen fliehenden Mutter und ihrem Säugling (Die Flucht). In manchen Fällen versieht die Autorin ihre fremden Figuren mit dem Nimbus eines Heiligen, eines göttlichen Wesens, das ihren Texten, besonders in der letzten Erzählung Ein Mann kehrt heim, transzendentale Züge verleiht281. Die Integration in die Gemeinschaft gewährleistet ein Einleben und glückliches Funktionieren in ihr. Eine Ausnahme bildet hier der sogenannte »Schwarze«, Protagonist der Novelle Angelika, der wegen seines Aussehens, seiner Hautfarbe und ungeklärter Herkunft in der Gemeinde nicht Fuß fassen konnte, nie akzeptiert wurde und mit seiner Frau, der Titelheldin, auf die er eifersüchtig war und welche er im Affekt umbringt, wohnen muss und will, um sich von der ihn ausstoßenden Gemeinde zu trennen, die ihrerseits davon überzeugt war, dass »die Schwarzen herrische fremde Menschen gewesen sind, schon von ihrem Urvater her, der mit einem guten Beutel Geld tief aus dem Oesterreichischen herkam«282. Mit ihrer affirmativen Haltung dem Landleben, dessen Landschaften 279 R. Storm: In der Frühjahrsnacht. In: Dies.: Ein Mann kehrt heim (wie die Anm. 273), S. 23. 280 R. Storm: Der Gesang vom Pferd. In: ebd., S. 151. 281 Jene Transzendenz lässt sich vor allem als R. Storms Überzeugung von der Anwesenheit einer göttlichen Schöpfungskraft, die das menschliche Leben bestimmt, deuten. Die männliche Figur eines Fremden bekommt hier offensichtliche Züge eines wandernden Christus, der nach einer Herberge sucht. Solch eine Figur wird von der Autorin erneut in ihrem Roman Der Verkleidete (1963) aufgegriffen. 282 R. Storm: Angelika. In: Dies.: Ein Mann kehrt heim (wie Anm. 273), S. 90.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

und einfachen, nach dem Naturrhythmus lebenden Menschen gegenüber platzierte sich R. Storm zweifelsohne in die Nähe der Heimatliteratur, kann aber nicht als Vertreterin einer Blut- und Boden-Ideologie bezeichnet werden, denn von rassistischer, antisemitischer oder auch nationalsozialistischer Denkweise war sie weit entfernt283. Einige Charakterzüge oder Beschreibung der Helden lassen dennoch an die Übernahme von ästhetischen Merkmalen der Blut- und Boden-Literatur denken284. So setzt die Autorin auf charakterstarke Helden, welche aus eigener Kraft handeln285 und wie »der Baum«286 sein wollen, dabei »klare, blaue Augen«287 haben, die sie auszeichnen. Auch ihre Mutterfiguren kennzeichnen eine gewisse Stärke, Selbständigkeit und Opferbereitschaft, was mit dem Mythos der nationalsozialistischen Mütterlichkeit Hand in Hand gehen könnte. Auch die im Vorwort zum Band formulierte Notwendigkeit, als Volksgenosse »den Sinn der neuen Zeit begreifen« zu müssen, mag die Ideologie des Dritten Reiches bedienen und das erzählerische Debüt von R. Storm in diesem Kontext erscheinen lassen288. Die Schriftstellerin selbst schreibt aber ihr Erst283 Die sich im Dritten Reich immer mehr verbreitende Blut- und Boden-Literatur verherrlichte zwar die bäuerliche Kultur und fokussierte sich ebenfalls auf Landschaftsbilder, aber es herrschten in diesen Texten rassistische und antisemitische Tendenzen vor. Auch die Eroberungspolitik und der Drang nach Osten gehörten zu den Hauptthemen dieser Literatur. Vgl. C. Schmitz-Berning: Blut und Boden. In: Dies.: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin 2007, S. 110–112; Th. Rohkrämer: Bewahrung, Neugestaltung, Restauration? Konservative Raum- und Heimatvorstellungen in Deutschland 1900–1933. In: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, hrsg. von W. Hardtwig. Oldenbourg / München 2007, S. 49–68. 284 S. Waindok stellt im Hinblick auf die von ihr analysierten Kurzgeschichten Minlütt. Die Geschichte eines Hundes und Das Vermächtnis fest, dass in ihrem Fall noch nicht von »faschistischer Ästhetik« die Rede sein kann, aber sie »weisen entsprechende Stilisierungen auf […].« Vgl. Waindok, Ruth Storm – Heimatkunst, Nationalsozialismus, christliche Allegorik (wie Anm. 249), S. 320. Die Spuren der Heimatkunstbewegung scheinen in der ersten Geschichte viel deutlicher zu sein. 285 Vgl. z. B. folgende Zitate: »Ich werde mich selbst gebären. […].« R. Storm: Ein neues Geschlecht. In: Dies.: Ein Mann kehrt heim (wie Anm. 273), S. 14; »[…] auf dem Antlitz des schlafenden Knaben lag innerer Frieden, eine unbewußte Gewißheit, daß er aus eigener Kraft eines Tages die Enge seines armseligen Daseins durchbrechen würde.« R. Storm: Das Armeleutekind. In: ebd., S. 77; »Vielleicht hat aber nur die Kraft unseres Vaters sie so stark gemacht.« R. Storm: Das Erbe. In: ebd., S. 52. 286 R. Storm: Frischer Sproß. In: ebd., S. 41. 287 R. Storm: Ein neues Geschlecht. In: ebd., S. 15. 288 Vgl. R. Storm: Vorwort. In: ebd. Das Geleitwort stammt nicht ursprünglich von R. Storm, sondern es wurde vom Verleger verlangt. Siehe dazu die Bemerkung in dem handschriftlichen Brief von R. Storm an ihre Freundin R. Koch, Berlin-Charlottenburg, den 19. Februar 1935: »Wenn ich ehrlich sein soll, so ist das Geleitwort nicht aus meinem Impuls entsprungen, sondern mein Verleger bat mich, vor diese verschiedenen Geschichten etwas Zusammenfassendes zu stellen. Verleger sind recht komisch-gesottene Hechte, und von der geschäftlichen Seite die Literatur betrachtend, lernt man da ein recht trauriges Kapitel kennen, von wo der liebe Leser kaum eine Ahnung hat. Und so ein Geleitwort zu finden, ist

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lingswerk eindeutig in die Tradition der Heimatliteratur ein und verortet es in einem vielfältigen autobiografischen Umfeld, welches sie in ihren Erinnerungen aus dem Jahr 1985 beleuchtet. Die in der Provinz aufgewachsene und dann oft in Schreiberhau weilende Autorin erklärt ihre Abneigung gegen das städtische Leben mit ihrem eigenen Leben in der Großstadt Berlin und sieht im Kontakt mit der Natur, im Pferdereiten, dann in vielen Ausflügen ins Freie oder ins Riesengebirge einen Gegenpol zur neuen Zeit, auch zur NS-Wirklichkeit. Schreibend konnte sie wieder ihre Heimat »betreten«, ihr näher kommen und ihrem Interesse an der Heimat folgen. Sie erinnert sich an diese Zeit folgendermaßen: Hitlers rasche Erfolge blendeten auch das Ausland. Er schien ein Faktor in Europa zu werden, mit dem man rechnen musste. Und auch die Misstrauischen und Mahner verstummten, verstummten jedenfalls in der Öffentlichkeit, denn es wurde immer gefährlicher, seine Meinung laut zu äußern. Meine eigene Arbeit – der Hedwigroman und Ein Stückchen Erde – nahmen mich ganz in Anspruch, meine Gedanken kreisten Tag und Nacht um sie, gerade weil ich in der lauten Stadt Berlin lebte, ging ich die stillen Wege daheim in Schlesien in meinen Gedanken weiter und tröstete mich damit fern ihres eigenen Zaubers zu sein. Ich stellte auch ein paar kleine Erzählungen (z. T. mit schlesischen Gestalten) zusammen, nannte das Büchlein (mein erstes) »Ein Mann kehrt heim« […].289

Thematisch resultiert der Erzählungsband Ein Mann kehrt heim einerseits aus der Sehnsucht nach der schlesischen Landschaft, die jedoch lediglich »benennend«290 auftritt, andererseits aus zwei persönlichen Erfahrungen Ruth Storms. Eine davon war mit der Studienreise von Ernst Storm verbunden, während der er im niederschlesischen Kohlenrevier seine Habilitationsschrift vorbereitete291. In den Gruben und Wohnvierteln des Waldenburger Kreises konnte auch Ruth Storm die Arbeit und das Elend der Bergleute und das ihrer Familien kennenlernen. Während dieses Aufenthalts wuchs in ihr das Interesse für die Probleme der Armen und für die Opfer der Bergbaukatastrophen, welche sie in der Erzählung Das Bergwerk literarisch verdichtete. Die Protagonistin Maria ist eines der verwaisten Kinder eines in der Katastrophe ums Leben gekommen Bergmanns. Von diesem Ereignis in der Kindheit zwar betroffen, hat sie dennoch nicht einfach, und doch glaube ich, daß ich die Aufgabe als solche gelöst habe, obwohl es nicht meiner Eingebung entsprach.« Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 2, Nr. 508. 289 Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 12. 290 A. Dorschel unterscheidet zwischen »verschweigender« und »benennender« Heimatpoesie. Im ersten Fall geht es um eine historisch gewordene Heimat, im zweiten um eine eher abstrakte, die keinen konkreten Vorstellungen entspricht. Bei der Darstellung der zweiten zielt man vielmehr auf die Wiedergabe einer bestimmten, für die ausgewählte Heimat charakteristischen Stimmung. Vgl. A. Dorschel: Wunderbar gewaltig. Verschweigende und benennende Heimatpoesie. In: »Triëdere. Zeitschrift für Kunst, Literatur und Theorie« Nr. 15, 2 / 2016, S. 75–87. 291 Vgl. Anm. 245.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

keine Zeit für Trauer, denn sie muss der Mutter helfen und sich, genauso wie ihre Geschwister, um den Unterhalt der Familie kümmern. Ruth Storm, die damals viele Bergmannsfamilien besucht und sich mit deren Alltagssorgen vertraut gemacht hat, schildert aus der Sicht eines auktorialen Erzählers ein realistisches Bild der Armut und der Bergmannsgemeinschaft, in der die Grube den zentralen Bezugsrahmen darstellt. Sowohl die Alltagsbilder in der Kasinoküche, wo Maria angestellt ist, als auch im Haushalt, der sich für das Mädchen aus unzähligen zusätzlichen Pflichten zusammensetzt, beweisen eine Erzählkunst, die die übrigen Erzählungen des Bandes nicht aufweisen. Die Zuspitzung der Dramatik wird durch die Einführung von Kontrapunkten erreicht, einerseits der tragische Tod des Vaters und andererseits die Jugendliebe Marias zu einem Bergmann, dessen Vater in derselben Katastrophe tödlich verunglückt ist wie auch ihr eigener Vater. Das Glück des Paares, der verwaisten Opfer der Bergbauindustrie, kippt aber sehr schnell in das Gegenteil um, als der Bräutigam selbst unter Tage verunglückt und Maria abermals die Macht des Schicksals erfährt. Die Heimat gewinnt somit für Ruth Storm neue Facetten und lässt sich nicht mehr nur auf Naturbilder reduzieren, was diesen Erzählungsband in ein von der nationalsozialistischen Ideologie entferntes Licht rückt. Zum Autobiografischen zurückkehrend, muss man an dieser Stelle noch auf zwei andere Fakten aus dem Leben der Autorin eingehen, die auch in literarischer Ummantelung in ihr Erstlingswerk Eingang gefunden haben. Es ist in erster Linie die Herkunftsgeschichte ihres Mannes, insbesondere die Frage nach seinen Wurzeln und dessen Arbeit an sich selbst, die unter anderem die Reifeprüfung als Externer im Alter von 27 Jahren sowie ein später an der Breslauer Universität aufgenommenes Studium der Volkswirtschaft umfassen292. Die mehrmals in diesem Erstlingsband gestellten Fragen oder Kommentare der Protagonisten, die die Rolle der Herkunft eines Menschen sowie des Einsatzes von eigenen Kräften zu ergründen suchen, beziehen sich auf die persönlichen Erlebnisse des Mannes, die sich wie ein Schatten auf die Familie und das Eheleben legten; letztendlich haben sie auch die akademische Laufbahn von Prof. E. Storm, der im April 1942 von der NSDAP des Rektor-Amtes entbunden wurde, verändert. Als Grund für die Entlassung wurde die Verheimlichung der Namensänderung, die Eheschließung mit einer Jüdin sowie die nichtarische Abstammung von E. Storm selbst angegeben293, die dann von dem 292 Vgl. Storm, Abseits – und doch nicht vergessen (wie Anm. 245), S. 165. 293 An dieser Stelle soll nur kurz auf die privaten Lebensumstände der Familie Storm eingegangen werden, die im wissenschaftlichen Kontext nicht viel zum Forschungsstand bzw. zur Interpretation des Werkes von R. Storm beitragen. Es soll hervorgehoben werden, dass sich E. Storm mit seiner Familie nicht identifizierte und seine Eltern nicht zu sehr schätzte, denn sie haben ihm zu verstehen gegeben, er sei nicht ihr leiblicher Sohn gewesen. So hat sich E. Storm entschieden, 1919 die Namensänderung von Kudelko auf Storm offiziell zu beantragen. Vgl. ebd, S. 164 und Storm, Größer als der Helfer ist die Not nicht (wie Anm. 212),

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Obersten Parteigericht der NSDAP in München bestätigt wurde, was den Entzug der Parteimitgliedschaft nach sich zog. Im Juni 1943 verlässt das Ehepaar Berlin und geht nach Schreiberhau. Einerseits bedeutet der Umzug einen Umbruch und als solcher beendet er die Universitätskarriere von E. Storm294, andererseits kann sich die seit 1936 dreiköpfige Familie vor den nächtlichen Bombardierungen Berlins schützen und im Riesengebirge Zuflucht finden. Im November 1936 nahmen nämlich Ruth und Ernst Storm einen Jungen, Peter-Christoph, im Alter von drei Monaten in Pflege295, da sie keine eigenen Kinder bekommen konnten296. Auch das Problem der Kinderlosigkeit und der mütterlichen Sorgen kommt somit im Erzählungsband Ein Mann kehrt heim nicht zufällig und scheint in erster Linie autobiografisch bedingt zu sein, und weniger den nationalsozialistischen Mutterschaftsbildern folgend. Die Möglichkeit, in Schreiberhau wohnen zu können297, bedeutete für Ruth Storm einen wesentlichen Wendepunkt auf ihrem schriftstellerischen Weg. Wie

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S. 24–27 und 42. Vgl. auch die Familientafel, die viele Fragen nach Abstammung betraf, und Verbindungslinien in der Familie Kudelko erklärt. Eine »nichtarische« Herkunft (sog. Jüdischer Mischling II. Grades) wurde 1942 durch das Gau-Personalamt Berlin der NSDAP und durch den Sicherheitsdienst der NSDAP ›parteiamtlich‹ ermittelt. (Bundesarchiv Abt. III – Berlin Dokument Center). Vgl. Storm, Familientafeln (wie Anm. 220), Tafel 4, Anhang 2. Nach dem Rücktritt vom Amt des Rektors (am 23. April 1942) hatte E. Storm noch Gastvorlesungen an der Technischen Hochschule Pressburg, der Technischen Universität Budapest und der Universität Sofia gehalten (Juli 1942), danach bekam er wegen »nichtarischer Abstammung« Vorlesungs- und Prüfungsverbot und wurde zwangsbeurlaubt. Nach dem Krieg arbeitete E. Storm als Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Volkshochschule Peine / Niedersachsen (1947–1948), dann übernahm er noch die Lehrstuhlvertretung an der Technischen Hochschule Braunschweig als wissenschaftliche Hilfskraft (April bis Dezember 1948). Am 1. Juli 1950 wird er wegen Dienstunfähigkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Vgl. Storm, Abseits – und doch nicht vergessen (wie Anm. 245), S. 167–170. Dass E. Storm nach dem Krieg nicht mehr wissenschaftlich aktiv gewesen ist, lässt sich darauf zurückführen, dass seine Forschungsbereiche (Kohlenrevier in Ober- und Niederschlesien sowie Volkswirtschaft vor 1945) als überholt betrachtet werden konnten. Er starb am 23. Mai 1980 in Wangen i. A.; er wurde auf dem Friedhof St. Wolfgang beigesetzt. P.-Chr. Storm konnte zuerst nur in Pflege genommen und durfte nicht adoptiert werden, weil R. Storm noch im Gebäralter stand, was nach damaligen, nationalsozialistischen Gesetzen eine Adoption ausschloss. Damit der Junge nicht anderweitig adoptiert wird, gaben R. und E. Storm am 5. November 1942 eine notarielle Verpflichtungserklärung gegenüber seinen leiblichen Eltern ab, »unseren Pflegesohn so zu erziehen und zu versorgen, als ob er unser Adoptivsohn wäre« und nie irgendwelche finanziellen oder materiellen Ansprüche seinetwegen zu stellen, gleichgültig wie er oder die allgemeine Lage sich entwickeln mögen. Das seit November 1936 bestehende faktische Kindschaftsverhältnis wurde schließlich durch Adoption vom 15. Juli 1964 gerichtlich legalisiert. Vgl. Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht (wie Anm. 212), S. 19–21. E. Storm wollte wegen seiner ungeklärten Herkunft keine leiblichen Kinder haben. Vgl. ebd., S. 14. C. Siwinna erwarb das Haus in Mittel-Schreiberhau (Oberweg 963) im Jahre 1919 als Zweitwohnsitz der Familie, die dort bis 1946 gelebt hat. Über das »Haus Rundblick« in den

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

schon angemerkt, entwickelte sich die Autorin, sowohl in Kattowitz als auch in Berlin außerhalb literarischer Kreise, abgesehen von geselligen Treffen im oberschlesischen Elternhaus298. In Schreiberhau konnte sie schon in den 1920er Jahren in die Atmosphäre der dort ansässigen Künstlerkolonie eintauchen. Seit Anfang des 20. Jhs. wohnten hier, entweder ganzjährig oder nur in den Ferienmonaten, viele Künstler, Schriftsteller, Gelehrte und Intellektuelle, um nur die bekanntesten von ihnen wie Carl Hauptmann, Wilhelm Bölsche, Hermann Stehr, Johannes Schlaf, Bruno Wille, Werner Sombart, Otto Brahm oder Hanns Fechner299 zu nennen. Es wirkte dort auch ab 1922 der Künstlerverein St. Lukas300. An die Rolle dieses niederschlesischen Ortes in ihrem Leben und an die dort verbrachte Zeit erinnert sich Ruth Storm folgenderweise: Diese Jahre, geborgen in den Mauern eines geliebten Hauses, oberhalb des Hauptmannparkes in Mittel-Schreiberhau, mit weiten Wiesen über den Hang und einem Rundblick, der dem Anwesen den Namen gab, erscheinen mir heute nur noch als Vision; aber sie waren entscheidend für mein inneres Gefüge. Ich lernte mit Maleraugen sehen. Die Landschaft, die Menschen, die Blumen und Pflanzen, die ganze herbe Natur traten auf eine neue, fast transzendente Weise an mich heran. In meinen schriftstellerischen Arbeiten habe ich den Malerfreunden viel zu danken; ich kann nur gestalten, wenn ein Bild in mir ruht, eine farbige, plastische Vorstellung von dem, was ich ausdrücken möchte. Martha und Hans E. Oberländer, und besonders Oberländer in seiner vitalen, malerischen Begabung, die sich an große Themen wagte, Alexander Pfohl, der einstige künstlerische Berater der Josephinenhütte und später Professor der Glasfachschule in Haida (Böhmen), der in seinen kleinen Aquarellen des Riesengebirges in einer ausgeprägten, vom Zeichnerischen her fast stilisierten, aber doch beschwingten, mozartisch anmutenden Weise […], einmalige Kostbarkeiten schuf, sie alle öffneten mir die Augen und Herz für Farbe und Klang.301

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Nachkriegsjahren vgl. D. Puschmann: Schreiberhau damals und heute. Ein Besuch im Haus »Rundblick«. In: »Schlesische Bergwacht« Nr. 36 / 7 1986, vom 6. 04. 1986, S. 330f. Vgl. die Anm. 228. Von einer eigenständigen Künstlerkolonie in Schreiberhau kann man eigentlich erst ab dem Ersten Weltkrieg sprechen, als sich die Ortschaft zu einem gesuchten Kurort entwickelt hat. Vgl. H. Wichmann: Die Künstlerkolonie Schreiberhau und Georg Wichmann. In: Ders.: Georg Wichmann. 1876–1944. Der Maler des Riesengebirges und sein Malerkreis. Würzburg 1996, S. 45–57, hier: S. 48; G. Grundmann: Schreiberhau im Riesengebirge. In: Deutsche Künstlerkolonien, hrsg. von G. Wietek. München 1976, S. 136–141. Vgl. auch Die imposante Landschaft. Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert, hrsg. von Gesellschaft für interregionalen Kulturaustauch e.V. Berlin – Muzeum Okre˛gowe w Jeleniej Górze. Hirschberg 1999. Die Vereinigung bildender Künstler St. Lukas wurde 1922 durch die Initiative von H. Fechner und G. Wichmann gegründet; ihr Sitz war die nach dem Verein benannte Lukasmühle. Der Verein verstand sich als »Plattform zur Demonstration der bildenden Kunst des Riesengebirges«. Vgl. Wichmann, Die Künstlerkolonie Schreiberhau und Georg Wichmann (wie Anm. 299), S. 50. Storm, Kleiner Lebensrapport (wie Anm. 210), S. 71.

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Die Schreiberhauer Künstlerkolonie richtete sich damals nach eigenen Regeln; es herrschte dort eine künstlerische Atmosphäre, durch die sich die Schaffenden über den Alltag, die Politik und auch die Frontnachrichten hinwegsetzen konnten. Sich den künstlerischen Inspirationen hinwendend, konnte auch die Familie Storm ihr fast sorgenloses Leben weiterführen, zumal die Eheleute, besonders die Mutter, im Kind viel Freude fanden. Das Leben in Schreiberhau wurde durch das schwebende Parteiausschlussverfahren des Ehemannes gestört, infolgedessen erfolgte sein Ausschluss aus der NSDAP302, dem sich auch der Antrag von Ruth auf den Austritt aus der Partei anschloss303, aber im Allgemeinen konnten sie die Abschirmung des Riesengebirgstales und die künstlerische Atmosphäre dieser besonderen Gegend genießen, ohne die Kriegsgeschehnisse wahrgenommen zu haben304. Ruth Storm fiel es allerdings nicht leicht, mit dem Nationalsozialismus zurechtzukommen. Ihre Haltung hat sie zwar erst in ihren Erinnerungen erläutert, indem sie auf eine naive Art und Weise den Ehemann für den Beitritt zur NSDAP verantwortlich macht. Über den Zweiten Weltkrieg hat sie sich weder öffentlich noch in ihrem Werk geäußert, auch nie Klage und Anklage erhoben305. Beachtenswert ist jedoch in diesem Kontext nur ihr Gedicht Beschämende Frage, das über das Vergangene Rechenschaft ablegen mag: Verzeiht, wir haben gelebt, während andere starben. Unser Kleid hat im Tanz geweht, andere verdarben. Bilder voll Blut und Schrecken Geistern im Traum, 302 Über die Vorladung zum Obersten Parteigericht, die im Herbst 1943 stattfand, vgl. Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 29. 303 Vgl. ebd., S. 32. Ihre Haltung dem Ehemann gegenüber, sowohl im Hinblick auf die Parteizugehörigkeit als auch auf alle Lebensentscheidungen im Allgemeinen, was auch die Kinder und Adoption einschloss, bezeichnet R. Storm als »das Los eines Knappen, schweigend und unbeirrt hinter ihm zu stehen und seine Pflicht zu tun.« Vgl. ebd., S. 39. 304 Es ist bemerkenswert, dass R. Storm wenig oder überhaupt nichts über die Kriegsgeschehnisse berichtet, als ob sie keine Ahnung von deren Verlauf gehabt hätte. In ihren Erinnerungen findet sich z. B. ein Passus über das misslungene Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, aber es wird auf das Private bezogen und nicht kommentiert: »Aus Berlin heraus zu sein, war ein Segen. Nach dem misslungenen Attentat auf Hitler am 20. Juni 1944 wurden Unbequeme mit vernichtet, die mit der Sache nichts zu tun hatten, aber kritisch waren. E. Storm war durch den Mitteleuropäischen Wirtschaftstag viel mit U. v. Hassell zusammengekommen und sie schätzten sich. Es wäre daher leicht gewesen, Ernst diese Zusammenarbeit mit Hassell als Vorwand zu nehmen, um sich seiner zu entledigen, wenn zu unserem Glück nicht schon vorher unsere Angelegenheit aufgerollt worden wäre.« Vgl. ebd., S. 33. 305 Darüber schreibt auch L.F. Helbig im Kontext der Analyse des Romans Das vorletzte Gericht. Vgl. L.F. Helbig: Vom Unglück der Zeit. Schlesien in einigen Romanen seit der Vertreibung. In: »Schlesien« Jg. 31, Nr. 1 / 1986, S. 27f.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

knochige Hände fliehen über Zeit und Raum. Menschen, wie du und ich, litten wie Christus litt, Schatten durch Schmerzen stumm gehen mit uns mit, Kinder, so zart und klein, verlöschten an Mutters Brust, Tränen flossen zu Seen – und du hast nichts gewußt?306

Die Lebenssituation der Familie verändert sich zwar ab Oktober 1944, als E. Storm zum Volkssturmmann im Hirschberger Volkssturmbataillon berufen wird und über die letzten Kriegsmonate außerhalb von Schreiberhau lebt, die Familie in Ungewissheit zurücklassend307. In diesen Tagen war für Ruth Storm Maria Hauptmann eine Stütze und Hilfe. Mit der Familie Carl Hauptmanns war schon Carl Siwinna befreundet, und deren beide Töchter, Monona und Ruth, spielten manchmal zusammen308. Während der letzten Kriegsjahre diente das Haus von Maria Hauptmann als Treffpunkt für Künstler aus der Umgebung, aber auch als Zuflucht für Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten Deutschlands. Einen symbolischen Charakter trug für Ruth Storm das gemeinsam verbrachte Weihnachtsfest 1944/1945, das baldigen Abschied und Verstreuung des ganzen Kreises verhieß309. Nach dem Einmarsch der Roten Armee und infolge der Besiedlung des Riesengebirges durch die Volksrepublik Polen sind die Storms gezwungen, ihr Zuhause für immer zu verlassen. Die Erlebnisse der letzten Monate zeichnet Ruth Storm in ihrem Tagebuch auf, das nach dem Krieg unter dem Titel Ich schreib es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr erst im Jahre 1961 herausgegeben wird. Die Vertreibung erfolgt am 18. Juni 1946. Zu den aus dem Schreiberhauer Haus geretteten Gegenständen, Andenken und Hausgeräten gehören zwei für die

306 R. Storm: Beschämende Frage. In: Dies.: Der Zeitenuhr unentrinnbarer Sand. Gesammeltes aus Jahren. Würzburg 1993, 2. Auflage, S. 70. 307 Vgl. Storm, Abseits und doch nicht vergessen (wie Anm. 245), S. 169. Der Dienst im Volkssturmbataillon endet mit der Beschädigung beider Trommelfelle und Entlassung. Vgl. Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 33–35. 308 Vgl. Isa, 99–103. 309 Vgl. R. Storm: Das Weihnachtslicht über dem letzten Fest in Schlesien. In: »Schlesische Bergwacht« Jg. 17, vom 5. 12. 1966, [o. S.]; R. Storm: Das innere Licht. In: »Der Schlesier« Nr. 51 / 1964, [o. S.]. Nach dem Tod von Maria Hauptmann veröffentlichte R. Storm eine Abschiedsglosse, in der sie sich an dieses Weihnachtsfest erinnert. Vgl. Abschied von Maria Hauptmann. In: »Der Schlesier« Nr. 47 / 1961, vom 22. 11. 1961.

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Entwurzelt. Ein neues Leben im Westen

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Schriftstellerin wichtige Manuskripte: das ihres Tagebuches und des HedwigRomans310.

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Entwurzelt. Ein neues Leben im Westen

Die Familie Storm teilte mit vielen anderen Deutschen aus den östlichen Gebieten das Schicksal der Vertriebenen. Am 23. Juni 1946, nach einigen Tagen Fahrt und Aufenthalten in Durchgangslagern311, erreichten die Storms ihren neuen Wohnsitz – Peine in Niedersachsen, wo sie in einem Zimmer untergebracht wurden. Über die ersten Jahre ist nicht viel bekannt, denn die Schriftstellerin hat über ihre Erlebnisse weder in ihren Erinnerungen noch in dem Kleinen Lebensrapport berichtet. Die schwierigen Jahre der Vertriebenenexistenz hat sie jedoch in ihren zwei Romanen Das vorletzte Gericht (1953) und Der Verkleidete (1963) literarisch verarbeitet. Der Kampf um den Unterhalt, die Enge der Einzimmerwohnung und die Sehnsucht nach der Heimat lassen den Familienmitgliedern nicht viel Zeit für andere Dinge übrig312. Wie zur Zeit des Nationalsozialismus flüchtete sich Ruth Storm in ihre Leidenschaften, um geistig nicht zu verarmen. Sie widmete sich dem Reiten und bewährte sich als Journalistin. Aus der Peiner Zeit stammen unzählige Artikel, die die Schriftstellerin für diverse lokale Zeitungen und auch im Laufe der Zeit für eine bundesweit bekannte Zeitschrift für Pferdesport und Pferdezucht313 verfasst hat. Ihre Beiträge kreisen um zwei Themen: Sie berichtet über die Tätigkeit der Reit- und Fahrtvereine (sowohl in Peine als auch später in Wangen i. A.)314, über Turniere,

310 R. Storm nahm einige Bücher mit oder erhielt sie später von Freunden zurück. Zu diesen Büchern, die teilweise den Lesegeschmack der Familie wiedergeben, gehören u. a. W. Bölsche Lichtglaube, T. Gravenhorst Reise nach Sagan, C. von Bremen Geschichten aus dem Nordischen Krieg, H. Niekrawietz Im Wandel des Jahres, J. W. von Goethe Die Leiden des jungen Werther, K. Hamsun Pan und Kierkegaard-Brevier. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 548. 311 Aufgrund des Ausweisungsbefehls durch die polnischen Behörden verließ die Familie ihr Haus am 18. Juni 1946 nachmittags und begab sich zu Fuß zum Bahnhof in OberSchreiberhau, dort verbrachte sie im Zug auf dem Bahnhof unter Milizbewachung eine Nacht. Der Zug fuhr am nächsten Tag um 5 Uhr früh ab; nach verschiedenen Zwischenstationen ist er am 23. Juni 1946, gegen 15 Uhr, am Bahnhof in Peine (Britische Zone) angekommen. Diese Informationen verdanke ich Herrn P.-Chr. Storm. 312 E. Storm war in den Jahren 1947–1948 an der Volkshochschule in Peine tätig, dann zwei Semester 1948 an der TU Braunschweig. Vgl. die Anm. 294. 313 In beiden Vereinen wurde R. Storm zum Ehrenmitglied. Sie unterhielt jahrzehntelang Kontakt mit der Zeitschrift »Sankt Georg. Zeitschrift für Pferdesport und Pferdezucht«, mit welcher sie auch reger Briefkontakt verband. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten Nr. 615. 314 Vgl. kurze Berichte über den Peiner Verein in: »Deutsche Volkszeitung« vom 8. 01. 1948; Rühriger Allgäuer Reitverein. In: »Sankt Georg« Jg. 58, Nr. 4, vom 15. 02. 1957, [o. S.]; So lange

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Pferdeleistungsschauen315 und typische Reiterfeiern wie die Hubertusjagd316, über Pferdezucht und Pferdehaltung317 oder setzt sich in vielen Texten für den Tierschutz318 ein. Einige Artikel der »reitenden Reporterin«319 sind der Geschichte ihrer Pferde und der Reitkunst gewidmet, die sie über Jahrzehnte vervollkommnen konnte320. Pressebeiträge aus dem Bereich der Hippologie wird sie auch bis in die 1970er Jahre in Wangen im Allgäu publizieren321. Journalistische Arbeiten bildeten seit dem Krieg eine weitere wichtige schriftstellerische Tätigkeit von Ruth Storm. Neben Tieren beschäftigte ihre Gedanken auch das Thema Schlesien, welches sie vor allem in Menschenporträts aufgegriffen hat. So sind viele ihrer Pressebeiträge den aus Schlesien stammenden Personen gewidmet, die sie persönlich kannte bzw. hochschätzte wie z. B.

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es bei uns noch Pferde gibt. 40jähriges Jubiläum des Reit- und Fahrvereins 1925 Wangen i. A. In: »Schwäbische Zeitung« Nr. 240, vom 16. 10.1965, S. 2. Vgl. z. B. kurze Artikel über lokale Turniere und den Saisonschluss: »Deutsche Volkszeitung«, vom 2. Nov. 1948; »Braunschweiger Zeitung«, vom 4. 11. 1948; Vielseitiges Programm. In: »Deutsche Volkszeitung«, vom 18. 08. 1949. Vgl. Reiterfest am Gräwig, in: »Braunschweiger Zeitung«, vom 28. 09. 1948; Schnitzeljagd eines ländlichen Reitervereins. In: »Sankt Georg«, 1950, [o. S.]; »Halali« – ein forscher Ritt bei der Hubertusjagd. In: »Schwäbische Zeitung«, vom 30. 10. 1957, [o. S.]; Zum Tag des Pferdes. In: »Schwäbische Zeitung«, vom 17.10. 1957, [o. S.]; Am Ehrentag der Braunen, Füchse, Schimmel und Rappen. In: »Schwäbische Zeitung«, vom 22.10. 1957, [o. S.]; Alle Tage: Tag des Pferdes. In: »Sankt Georg« Jg. 64, Nr. 20, vom 15. 10. 1963, S. 2. Vgl. z. B. R. Storms Artikel über Hufpflege: Das A und O der Pferdehaltung. In: »Deutsche Volkszeitung«, vom 1. 02. 1949; über das Geländereiten … und über dir des Himmels weile Unendlichkeit. In: »Sankt Georg« Nr. 23, vom 1. 09. 1952; über Winterreiten und Winterarbeiten im Pferdestall Winterarbeit ohne Halle. In: »Sankt Georg« Nr. 21, vom 1. 02. 1961; … denn unvergänglich ist die Kunst und sie erfreut des Menschen Aug’ und Herz! In: »Sankt Georg« Nr. 10, vom 15. 05. 1962, S. 16f.; Pferdehaltung aus Passion. In: »Sankt Georg Almanach« 1965, S. 44–48; Gedanken einer Züchterin. In den Landespferdezuchten darf es keinen Stillstand geben. In: »Sankt Georg« Jg. 68, Nr. 14, vom 15. 07. 1967. Vgl. Tierschutz ist Not. In: »Peiner Allgemeine Zeitung«, vom 19. April 1950; Schutz den Tieren. In: »Braunschweiger Zeitung«, vom 4. 05. 1950. Vgl. Storm, »Vertriebene Schlesier, dies ist Euer Buch!« (wie Anm. 210), S. 25. P.-Chr. Storm bewunderte an seiner Mutter die Beobachtungsgabe und eine prägnante, kurze und wahrheitsgetreue Erzählweise, mit welcher sie die ländlichen Reit- und Fahrturniere beschrieben hat. Vgl. ebd. Vgl. z. B. den Artikel Werdegang einer kleinen Züchterin, in: »Sankt Georg«, vom 17. 09. 1968, S. 13f., in welchem R. Storm über die Anfänge ihrer Pferdezuchtlehre und ihr Sammeln von Abbildungen, Presseartikeln, Postkarten etc. mit Pferden berichtet. Vgl. auch Der Pferdefreund als Sammler. In: »Sankt Georg« Jg. 58, Nr. 6, vom 15. 03. 1957 (über das Sammeln von Pferdekämmen). In den 1970er Jahren hat R. Storm bis zu vier Artikel pro Jahr über Pferde und Pferdezucht abgeliefert. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 29, Nr. 617/ 1–2. Die Presseartikel aus Peine hat die Autorin sorgfältig gesammelt und in Hefte eingeklebt. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 3, Nr. 514 (Ruth Storm: Aus meiner journalistischen Tätigkeit in Peine).

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Carl Hauptmann322, die heilige Hedwig von Schlesien323, Eva Thiele-Winckler324, Artur Wasner325, Friedrich Iwan326 oder Katarina Gansser-Stephan327; in vielen von Texten gedenkt Ruth Storm schlesischer Sitten und Bräuche so, als ob sie diese für kommende Generationen aufbewahren möchte328. Darüber hinaus sind in den Jahren 1948–1993 in verschiedenen, meistens mit den schlesischen Vereinen, Organisationen oder Milieus verbundenen Zeitungen und Zeitschriften sowie in der lokalen Presse viele Gedichte, Prosastücke oder Vorabdrucke ihrer Romane erschienen. Die Erstellung einer kompletten Liste sämtlicher Texte, die im Hausarchiv gesammelt wurden, ist kaum möglich; die im Hausarchiv aufbewahrten Bestände geben allerdings Einblicke in die gesamte journalistische Tätigkeit einer produktiven Schriftstellerin329, die außerdem viel Zeit auf Lesungen, literarischen Treffen und Buchvorstellungen verbrachte330. Ruth Storm wurde während ihrer schriftstellerischen Laufbahn als »Chronistin schlesischen Schicksals«331 bezeichnet, ein Titel, den sie ihren das Thema der Flucht und Vertreibung sowie des Neubeginns in der BRD gewidmeten Romanen verdankt. 1953 gibt sie im Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn, der zu ihrem Partnerverlag wird332, den ersten Roman heraus – Das vorletzte Gericht333 322 R. Storm: Carl Hauptmann, der Seher. In: »Ostdeutsche Monatshefte« Jg. 22, Nr. 9 / 1956, S. 560; In Gedenken an Carl Hauptmann. In: »Heimatbrief für Schlesier und Sudetendeutsche«, vom 11. 05. 1948, [o. S.]. 323 R. Storm: Aus einer Wildnis einen Garten machen. Herzogin Hedwig von Schlesien. In: Große Schlesier, hrsg. von A. Hayduk. München 1957, S. 9–12. 324 R. Storm: Eva Thiele-Winckler 1866–1930. In: H. Hupka: Große Deutsche aus Schlesien. München 1969, S. 214–220. 325 R. Storm: Artur Wasner, ein vergessener Maler. In: »Schlesien« Jg. 31, Nr. 1 / 1996, S. 51–52; R. Storm: Widerhall auf Artur Wasners Werk. In: »Schlesien« Jg. 32, Nr. 4 / 1987, S. 247. 326 R. Storm: Friedrich Iwan: Dem Riesengebirgsmaler zum 70. Lebensjahr. In: »Ostdeutsche Monatshefte« Jg. 25, Nr. 10 / 1959, S. 609–612. 327 R. Storm: In Erinnerung an Katarina Gansser-Stephan. In: »Schlesien« Jg. 29, Nr. 3 / 1984, S. 190–191. 328 Vgl. die Anm. 94. Vgl. auch andere Texte von R. Storm: Der vertauschte Nikolaus: In: »Der Schlesier« Nr. 49, vom 6. 12. 1962, [o. S.]; Der Christusmantel. In: »Der Schlesier« Nr. 51 / 1968, [o. S.]; Abendgespräch mit einem Kind im letzten schlesischen Jahr. In: »Schlesische Bergwacht«, Nr. 6, vom 25. 02. 1964, [o. S.]; Rübezahls Grab. In: »RGV-Mitteilungen«, 1964, [o. S.]; Der Blasonkel. In: »Ostdeutsche Zeitung. Die Stimme«, vom 21.02. 1954, [o. S.]; Osterwasser. In: »Schlesien« Jg. 16, Nr. 1 / 1971, S. 46–48; Weihnachtliches Oberschlesien in den Gründerjahren – Manuskript, Hausarchiv Storm; Pfingstliche Lebensfreude – Manuskript, Hausarchiv Storm. 329 Vgl. Materialien im Hausarchiv Storm, Kasten13, Nr. 588, Kasten 14, Nr. 589 und Kasten 25, Nr. 634. 330 Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 15, Nr. 595. R. Storm trat auch im Rundfunk auf, unter anderem im Bayrischen Rundfunk. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 4, Nr. 530. 331 Vgl. die Anm. 26. 332 P.-Chr. Storm verweist auf die Verbindung zwischen seiner Mutter und dem Bergstadtverlag, die seit 1952 bis zum Tod der Schriftstellerin bestand. Vgl. P.-Chr. Storm: »Vertriebene Schlesier, dies ist Euer Buch!« (wie Anm. 210), S. 25. Vgl. auch die Korrespondenz von R.

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(1953), dem das Schauspiel Das Haus am Hügel vorausging, uraufgeführt im Flüchtlingslager Breloh-Hornheide bei Soltau in Niedersachsen. Schon im von Johannes Beer herausgegebenen Romanführer wird R. Storms Erstlingswerk thematisch klassifiziert als »Heimat- und Flüchtlings-Roman«334. Die Protagonistin Marianne Erpach kehrt in ihr Heimatdorf nach langer Abwesenheit zurück, um vom sterbenden Vater Abschied zu nehmen. Nach seinem Tod entscheidet sie sich, dessen Sägewerk und den Gutshof zu übernehmen und beide, zusammen mit der verwitweten Tante Magdalene und ihrem Vetter, dem buckligen Matthes, zu führen. Sie widmet sich tatkräftig den alltäglichen Pflichten und vertritt würdevoll den Vater in der Wirtschaft. Ungeachtet der Kriegsgeschehnisse, der heranrückenden Front und der Flüchtlingskolonnen entscheidet sich Marianne zu bleiben und das Familienerbe zu hüten, auch wenn sie letztendlich alleine lebt, als die Tante und der Vetter ums Leben kommen und ihr Haus von Polen übernommen wird, sie hingegen in eine kleine Hütte umziehen muss. Das Verharren auf dem heimatlichen Boden wird jedoch vom Vertreibungsgesetz der polnischen Behörden durchkreuzt. Zusammen mit anderen Dorfbewohnern verlässt Marianne ihre Heimat und muss in der Fremde ein neues Leben beginnen, das durch finanzielle Sorgen, Hunger und Wohnungsnot gekennzeichnet ist. Marianne muss jetzt nicht nur für sich selbst sorgen, sondern für den jungen Gerhart, dessen Mutter die Flucht nicht überstanden hat. Das Kind sowie die Notwendigkeit, das Schicksal der Flüchtlinge niederschreiben zu müssen, motivieren Marianne zu einem neuen Leben und verleihen ihr eine starke Überlebenskraft. Louis F. Helbig bemerkt zu Recht, dass in Das vorletzte Gericht »die Trauer um das verlorene Land und die Lebensgewohnheiten seiner Bewohner eng verbunden [sind] mit einer stark empfundenen Sehnsucht nach einer vorindustriellen, von archaischen Wertvorstellungen bestimmten Welt«.335 Mit ihrem ersten Roman setzt Ruth Storm offensichtlich die Tradition der Heimatkunstbewegung fort. Ihre Helden leben im Einklang mit der Natur, an einem von der Außenwelt abgekapselten Schauplatz und richten sich nach einem eigenen Lebensrhythmus. Das in den Heimatromanen verwendete Motiv des Eingriffs einer fremden, von den Einheimischen letztendlich aber zu beherrschenden Kraft, wird aber in diesem Fall nicht fortgesetzt, so muss der Roman als Gegenentwurf zur Heimatkunstbewegung begriffen werden und als ein Übergang Storm mit diesem Verlag im Hausarchiv Storm, Kasten 4, Nr. 525, Kasten 23, Nr. 635, auch zur Korrespondenz mit anderen Verlagen Kasten 16, Nr. 599 / 1–2. 333 Ursprünglich trug der Roman den Titel Wenn die Nebel ziehen. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 2, Nr. 510. 334 J. Beer: Der Romanführer. Der Inhalt der deutschen Romane und Novellen aus dem Jahrzehnt 1954 bis 1963, Bd. XIII. Stuttgart 1952–1971, S. 357. 335 Helbig, Vom Unglück der Zeit. Schlesien in einigen Romanen seit der Vertreibung (wie Anm. 305), S. 27.

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zu einer neuen Erzählweise, nach der Ruth Storm in den kommenden Jahrzehnten suchen wird. Die Anknüpfung an die Tradition der Heimatromane machte aber aus Das vorletzte Gericht einen Populärroman, denn das Thema der Flucht und Vertreibung336 war damals noch nicht ›literaturfähig‹. Die Rezensentin, Ruth Thalen, scheint die Richtigkeit dieser These zu belegen, indem sie feststellt, dass die schlesische Tragödie nicht mit Worten zu beschreiben sei, kein Mensch könne sich Flucht und Vertreibung vorstellen, der sie nicht selbst durchgemacht hat337. Die Leser, darunter auch die Vertriebenen, spürten bei der Lektüre vor allem die Atmosphäre der verlorenen Heimat und priesen, wie Hugo Hartung, selbst ein Vertriebener, »Landschaftsbilder und Naturstimmung«338. Jenes »Schatzkästlein heimatlichen Schrifttums«339 wird vor allem als »liebeswertes Dokument des alten Schlesien mit dichterisch schönen Partien«340 betrachtet, aber zugleich auch als »schlesische Passion«341, ein Werk, in welchem Ruth Storm »mit tiefmenschlicher, erzählerischer Eindringlichkeit die letzten tragischen Monate ihrer schlesischen Heimat […] [schildert – R.D.-J.].«342 Der Erzählkunst der Autorin zollen die Rezensenten eher Anerkennung, wobei man auch auf gewisse Mängel in der Komposition verweist.343 Der Roman wies Ruth Storm von Anfang an die Position einer Heimatautorin zu, was sie mit ihren darauffolgenden Prosawerken kaum verändern konnte. Ähnliches galt für das Schauspiel Das Haus am Hügel, das in den 1950er Jahren nur einmal aufgeführt wurde. Die Szenen aus dem Leben eines alten Ehepaares, das den Gedanken an das Verlassen ihres Hauses nicht zulassen wollte, wurden im niederschlesischen Dialekt verfasst, was die Rezeption in der Bundesrepublik ausschloss, darüber hinaus war das Thema der Flucht und Vertreibung auch nur für bestimmte Zuschauer relevant. Erst in den 1980er Jahren weckte das Stück erneut das In336 Auf das Motiv der Flucht und Vertreibung wird im Kapitel 6.4 eingegangen. 337 Vgl. R. Thalen: Besprechung des Buches »Das vorletzte Gericht« von Ruth Storm. Vortrag anlässlich der Bücherabende der Volkshochschule Oldenburg. Hausarchiv Storm, Kasten 5, Nr. 531. 338 H. Hartung: »Das vorletzte Gericht«. In: »Eine Stunde mit Büchern« 1953 / 1954, andere Angaben fehlen. 339 E. Simon: Schatzkästlein heimatlichen Schrifttums. »Das vorletzte Gericht. Ein Schicksalsroman« von Ruth Storm. In: »Riesengebirgsbote« Nr. 10 / 1953, [o. S.]. 340 Dr. K. Sch.: Ruth Storm, »Das vorletzte Gericht«. In: »Volksbote«, vom 12. 12. 1954, [o. S.]. 341 Schlesische Passion. Zu Ruth Storms Roman »Das vorletzte Gericht«. In: »Kasseler Zeitung«, Nr. 256, vom 3. 10. 1953, [o. S.]. 342 R. Storm, »Das vorletzte Gericht«. In: »Deutsche Stimmen. Bundeszeitung für Politik und Wirtschaft« Jg. 9, Nr. 15, vom 18. 04. 1954, [o. S.]. 343 Vgl. ebd. Vgl. auch J. Rathje: Ein zeitnaher Roman von Ruth Storm. In: »Peiner Allgemeine Zeitung«, Okt. 1953, [o. S.]. Nach dem Erscheinen des Romans Das vorletzte Gericht sind zahlreiche Kritiken in Heimatblättern und -zeitungen publiziert worden, z. B. in: »Hirschberger Heimatblatt«, »Liegnitzer Heimatblatt«, »Breslauer Heimatblatt«, aber auch in »Volksbote«, »Norddeutsche Volkszeitung«, »California Freie Presse« oder »Brasil-Post.« Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 14, Nr. 590 (Kritiken und Abdrucke 1953–1972).

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teresse der Vertriebenenkreise, es wurde ins Hochdeutsche übersetzt und neu für die Bühne bearbeitet, unter anderem als szenische Lesung mit verteilten Rollen344. Dieses Schauspiel gilt als das einzige dramatische Werk der Schriftstellerin, was allerdings eine falsche Annahme ist. Im Archiv befindet sich das Manuskript eines dramatischen Werkes Der Herr der Welt. Schauspiel in 6 Bildern345, das zwischen 1950–1955 entstanden ist. Mit diesem Drama fügt sich die Autorin in die für die 1950er Jahre charakteristische Konzeption des poetischen Theaters ein. Der Schauplatz der Handlung sowie der Zeitrahmen sind unbestimmt, wobei die fünf Szenen in einer realen Welt spielen, die letzte hingegen eine utopische Gegend imaginiert, die paradiesisch anmutet. Die Protagonistin Margarete, ein naives, gutmütiges Mädchen mit »blonden Zöpfen«346 fällt den Gelüsten eines machthaberischen, gewalttätigen und rücksichtlosen Potentaten, genannt Exzellenz, zum Opfer und muss sterben. Aus dem Jenseits beobachtet sie die Welt und bemitleidet die Herrschenden, die zugleich Konferenzteilnehmer sind, die über einen bevorstehenden Krieg diskutieren und keine friedensstiftenden Maßnahmen finden können. Die unbekannten Stimmen verkünden eine wirksame und heilbringende Lösung – Gott347. Das nie uraufgeführte und nie publizierte Schauspiel weist eine bestimmte Spannung auf, welche durch die Figur des unschuldigen Mädchens ausgelöst wird. Die Personifikation der Keuschheit und des Guten erlebt aber ihre antagonistische Kraft in dem Herrscher – der Exzellenz. Jene Kontrapunkte finden ihre Ergänzung in der weltlichen Machtverteilung: Die Verteidiger des Friedens treffen auf die kriegerisch Gesinnten und führen zum notwendigen Konflikt. Auch wenn man die Charaktere ausspielen ließe, das schwächere Prinzip beseitigend, so lassen sich leider – so Ruth Storm – globale Konflikte aus dem Wege nicht ausräumen, es hilft weder List noch Gewalt, sondern nur der Glaube. Das Drama weicht, sowohl thematisch als auch formal, von allen anderen Werken der Schriftstellerin ab – sie greift ein aktuelles Thema auf und versucht, es modern zu konzipieren, was davon zeugt, dass sie die Entwicklung der damaligen Tendenzen, auch im Bereich des Theaters, nachzeichnen und umsetzen wollte348, ihr Hauptinteresse galt aber der narrativen Gestaltung der erlebten schlesischen Heimat. 344 Vgl. Bearbeitungen dieses Schauspiels im Hausarchiv Storm, Kasten 4, Nr. 519, 520, 521. An der Lesung mit verteilten Rollen hat sich die Schriftstellerin selbst beteiligt. Sie fand am 29. Sept. 1989 in der Eselmühle in Wangen i. A. statt. 345 Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 25, Nr. 625 (54 Seiten). 346 R. Storm: Der Herr der Welt. Schauspiel in sechs Bildern. Manuskript im Hausarchiv Storm, Kasten 25, Nr. 625, S. 50. 347 »Schüret die heilige Flamme, / die von Gott kam, / wenn sie erlischt, / zerbricht die Welt.« Ebd., S. 34. 348 Es bleibt jedoch die Frage offen, warum das Schauspiel nur als Manuskript vorliegt und der Öffentlichkeit unbekannt blieb. Es ist anzunehmen, dass es das Schicksal vieler deutscher dramatischer Stücke der Nachkriegsjahre teilen musste. Nach 1945 sind nämlich in der

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Noch in die Peiner Zeit fällt die Veröffentlichung von Ruth Storms Opus Magnum. 1955 erscheint der Roman Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der Herzogin Hedwig von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien, der dann noch fünfmal aufgelegt wurde349. An diesem Roman hat die Schriftstellerin seit Mitte der 1930er Jahre gearbeitet, aber die deutschstämmige Heilige hatte sie schon von Kindheit an in ihren Bann gezogen. Wie Ruth Storm zu dieser Person fand, erläutert sie im Nachwort zum Roman: Durch das Heiligenbildchen einer Angestellten meines Elternhauses wurde ich schon als Kind angeregt, über die Herzogin Hedwig nachzudenken; später habe ich mir die Aufgabe gestellt, ihrem Leben nachzugehen. Immer waren ferne Stimmen da, die zur Gestaltung drängten.350

Auch in ihren Erinnerungen betont sie die Rolle der schlesischen Herzogin für ihr Leben, besonders in den Jahren des Nationalsozialismus und auf der Flucht aus Schreiberhau351, zu der sie mehr als manch frommer Katholik gebetet hat352. Auch das Sammeln von Materialien bereitete Ruth Storm damals aus Mangel an Quellen viele Schwierigkeiten353, es erlaubte der Autorin jedoch, sich über die

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Bundesrepublik Deutschland unzählige Dramen entstanden, die man nur einmal oder gar nicht aufgeführt hat. Vgl. dazu z. B. J. Berg: Drama und Theater. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, Bd. 10, hrsg. von L. Fischer. München 1986, S. 493–496; R. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart 1993, S. 103.f. H. Vormweg spricht diesen angehenden Autoren die Fähigkeit ab, in ihren Dramen die Komplexität der vergangenen geschichtlichen Prozesse zu erfassen, rechtfertigt aber ihre literarischen Versuche mit dem »Trieb zu Artikulation und Mitteilung und [dem – R. D.-J.] Erinnerungstrieb«. H. Vormweg: Deutsche Literatur 1945–1960: Keine Stunde Null. In: Deutsche Gegenwartsliteratur. Ausganspositionen und aktuelle Entwicklungen, hrsg. von M. Durzak. Stuttgart 1981, S. 14. Die weiteren Auflagen erscheinen 1973, 1984, 1989, 1993, 2004. Anlässlich der zweiten Auflage verfasste R. Storm ein Gedicht, das auf das Leben und Werk der heiligen Hedwig anspielt. Vgl. R. Storm: Memento Sankt Hedwig zum 800jährigen Geburtsjahr. Hausarchiv Storm, Kasten 24, Nr. 639. R. Storm: Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig. Würzburg 2004, S. 298. Vgl. Kapitel 5.3. R. Storm vertraute J. Mosler, dem Journalisten der Zeitungen »Volksbote« und »Das Wort«, brieflich die Entstehungsgeschichte des Hedwig-Roman an. Vgl. J. Mosler: »Tausend Jahre – ein Tag«. Zum Hedwig-Roman der evangelischen Schriftstellerin Ruth Storm. In: »Volksbote« Jg. 7, Nr. 45, vom 5. 11. 1955, [o. S.]. Die Quellenmaterialien über das Leben und Wirken der heiligen Hedwig sind leider spärlich. R. Storm hatte damals viele Probleme, zu den Archivmaterialien zu gelangen. Aus diesem Mangel heraus wurde die heilige Hedwig hauptsächlich zur Heldin von historischen Romanen gemacht. Vgl. historische Bearbeitungen sowie Belletristik z. B. A. Knoblich: Lebensgeschichte der Heiligen Hedwig, Herzogin und Landespatronin von Schlesien. 1174– 1243. Nach den besten ältesten und neuesten Quellenschriften zum ersten Male ausführlich, nebst kurzen Lebensumrissen der übrigen Glaubenshelden der Diöcese Breslau, chronologisch bearbeitet. Breslau 1860; W. Nigg: Hedwig von Schlesien. Würzburg 1993; E. Grunewald, N. Gussone (Hrsg.): Das Bild der heiligen Hedwig in Mittelalter und Neuzeit. Oldenbourg /

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Kriegswirklichkeit und Familienprobleme hinwegzusetzen354. Die Geschichte von Hedwig (1174, Andechs – 1243, Trebnitz / heute Trzebnica, Polen), die im Alter von 12 Jahren mit dem Piastenherzog Heinrich I. vermählt wurde, konzipiert die Schriftstellerin deswegen nicht als eine Biografie, sondern mehr als einen psychologischen Roman, deren Stärke die Charakteristik einer Frau ist, die sich politisch, familiär sowie geistig behaupten kann. Einer solchen Deutung folgen auch Rezensenten vieler Romanbesprechungen355, in welchen z. B. »das Bild eines selten großen Frauentums, das durch Klugheit, Frömmigkeit einer durch das Leid abgeklärten und gereiften Landesmutter zeigt, die eine große Liebe und Verehrung des Volkes erwirbt«356, gelobt wird, oder auf eine Figurendarstellung aufmerksam gemacht wird, die mit »psychologischer Vertiefung und echt fraulichem Verständnis«357 erfolgt. In den konfessionell ausgerichteten Rezensionen beachtet man die Verankerung der Protagonistin in den irdischen sowie himmlischen Wirkungsbereichen und die Überzeugung von der Lenkungskraft des göttlichen Schöpfungsprinzips358. In der »Süddeutschen Zeitung« geht man hingegen, aus einer Perspektive der Gleichberechtigung gesehen, auf die Gleichrangigkeit der Frauen im politischen Bereich ein, der ihnen aber bis dahin nicht immer zugänglich gewesen war. Die neue Position der Frauen in der Öffentlichkeit des Nachkriegseuropa ermöglicht es, das bisher verborgene weibliche Potenzial zu enthüllen und aus ihnen seltene Heldinnen zu machen – solchen Gedanken konnte man aus manchen Zeitungsrezensionen herauslesen. Auch Ruth Storm wird diese Kunst zugeschrieben und an ihrem Roman besonders die Darstellung von Hedwig als einer fortschrittlichen Frau bewundert, die aus Heimatliebe und Volksverbundenheit Ost-West-Konflikte zu verhindern vermochte359. Der politische Aspekt – Hedwigs Rolle als Brückenbauerin zwischen Ost und West – wird in mehreren Besprechungen aufgegriffen, wobei man

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München 1996; J. Derksen: Hedwig von Schlesien: Ein biografischer Roman. Leipzig 2008; R. Schumann: Hedwig von Schlesien – ein starkes Weib. Würzburg 2007; R. Schumann: Hedwig von Schlesien – eine Frau für Europa. Würzburg 2012. »[Ich – R.D.-J.] begann über die heilige Hedwig nachzudenken, ihrem faszinierenden Leben nachzugehen: ich bekam dabei Unterstützung durch den Bibliotheksdirektor Dr. Predeek von der Technischen Hochschule in Berlin, der mir Literatur des frühen Mittelalters aus der Staatsbibliothek beschaffte. Seine Auswahl der Werke war für mich eine dankenswerte Bereicherung meiner angefangenen schriftstellerischen Arbeit […]«. Storm, Größer als der Helfer ist die Not ja nicht! (wie Anm. 212), S. 9. Vgl. dazu Bibliografie, Literatur von und über Ruth Storm. Storm, Ruth: Tausend Jahre – ein Tag. In: »Evangelischer Buchberater« Nr. 4 / 1995, [o. S.]. Ruth Storm: Tausend Jahre – ein Tag. In: »Der Schlesische Katholik. Mitteilungsblatt des Heimatwerkes schlesischer Katholiken« Nr. 12 / 1955, [o. S.]. Vgl. J. Mosler: Wertvolle Neuerscheinung. Die heilige Hedwig von Schlesien. In: »Das Wort« Jg. 8, Nr. 2 / 1956, [o. S.]. Vgl. K. H. Kramberg: Große Herren – holde Damen. In: »Süddeutsche Zeitung« Nr. 287, vom 3. / 4. 12.1955, [o. S.].

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hierher unterschiedliche Argumente heranzieht und auf verschiedene historische Quellen zurückgreift. Der historische Wert des Romans und seine Bildungsfunktion entgehen den Kritikern ebenfalls nicht, die den Storm’schen Roman als eine gute, überzeitliche Lektüre bewerten360.

Abb. 3: »Haus Storm«. Federzeichnung von Friedrich Iwan 1958.

Wegen seiner breiten Rezeption, die über die Heimat- sowie Vertriebenenzeitungen hinausging, unterscheidet sich Tausend Jahre – ein Tag von den übrigen Romanen von Ruth Storm, die man dennoch immer wieder eindeutig in den Kontext der Heimatliteratur eingeordnet hat. Dieses Schicksal wurde auch den weiteren, schon in Wangen im Allgäu entstanden Prosawerken zuteil. Die Familie Storm zog 1956 in dieses Baden-Württembergische Städtchen um361, wo 1950 durch die Initiative von Willibald Köhler, Egon H. Rakette, Carl Ritter, Karl Schodrok, Alfons Hayduk, Robert Bednorz u. a. der sog. Wangener Kreis – Gesellschaft für Literatur und Kunst »Der Osten« e. V. – entstand, dessen Ziel es nach Carl Ritters Worten war, »verstreute und vielfach in Existenznot lebende schlesische Künstler zu sammeln, ihnen Heim- und Arbeitsstätten zu errichten, gerettetem Kulturgut wieder eine würdige Bleibe zu geben und ein lebendiges geistiges Zentrum zu schaffen, in dem die durch Krieg und Vertreibung zerrissenen Verbindungen zwischen den Künstlern und ihren Freunden neu geknüpft 360 Vgl. Storm, Ruth: Tausend Jahre – ein Tag. In: »Evangelischer Buchberater« Nr. 4 / 1995, [o. S.]. 361 Der Umzug fand nach dem Abitur des Sohnes Peter-Christoph statt.

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und vertieft werden konnten«.362 An den Wangener Kreis schlossen sich viele aus Nieder- und Oberschlesien stammende Künstler, Dichter und Literaten wie z. B. Wilhelm Meridies, Wolfgang von Websky, Hans Niekrawietz, Werner Fechner, Gerda Stryi-Leitgeb, Anni Korn-Gisevius u. a. an, die Ruth Storm schon aus ihren Schreiberhauer Jahren bekannt waren. In Wangen entstand danach, dank der freundlichen Aufnahme und Unterstützung durch den Bürgermeister Wilhelm Uhl und den Landrat Walter Münch, eine schlesische Künstlersiedlung auf dem Atzenberg363, wo auch das Deutsche Eichendorff-Museum, das Gustav-FreitagArchiv, das Hermann-Stehr-Archiv und das Carl-Holtei-Archiv ihren Sitz fanden364. Ruth Storm entschied sich jedoch nicht, in der Künstlersiedlung zu wohnen, sondern im Stadtteil Wittwais, wo Anfang der 1950er eine neue Siedlung entstand, in welcher ein Drittel der neuen Einwohner Heimatvertriebene aus Schlesien waren365. Die Wahl eines abseits gelegenen Wohnsitzes bedeutete aber nicht, dass sich die Schriftstellerin von dem Wangener Kreis distanzieren wollte. Jahr für Jahr nahm sie an den seit 1951 veranstalteten Wangener Gesprächen teil366, während deren Lesungen, Büchervorstellungen, Diskussionen und andere Aktivitäten stattfanden, deren Ziel es war, die Erinnerung an die deutschsprachige schlesische Kultur zu pflegen. Dennoch muss an dieser Stelle hervorge362 C. Ritter: Rückblick und Ausblick zum 25jährigen Bestehen des Wangener Kreises. Gesellschaft für Literatur und Kunst »Der Osten«. In: Hausarchiv Storm, Kasten 22, Nr. 624. 363 Die Entstehung dieser Siedlung verdankte man vor allem der Stadt Wangen, die den aus Schlesien vertriebenen Künstlern und Mitgliedern des Wangener Kreises Grundstücke zum Bau von Eigenheimen zur Verfügung stellte. Vgl. ebd. Die Stadt Wangen zählte 1939 rund 8 000 Einwohner, im Jahre 1956 schon über 12 000. Diese Erhöhung der Einwohnerzahl war das Resultat einer bewussten Stadtpolitik, die im Anstieg der Einwohnerzahl und Ausbau der Stadt deren Entwicklungsmöglichkeiten erkannte. Vgl. H. Bausinger, M. Braun, H. Schwedt: Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts Tübingen. Stuttgart 1959, S. 56ff. Über den Bau der Schlesischen Künstlerkolonie auf dem Atzenberg vgl. R. Jensch: Stadtchronik Wangen im Allgäu. Lindenberg i. A. 2015, S. 606–608. 364 Das Eichendorff- und Gustav-Freitag-Museum gelangten ab 1988 in den Besitz der Stadt Wangen und wurden ein Teil der städtischen Museen. Der Nachlass von H. Stehr ist hingegen als Sammlungsbestand in das Deutsche Literaturarchiv in Marbach eingegliedert. Vgl. Jensch, Stadtchronik Wangen (wie Anm. 363), S. 607f. 365 Als die Familie Storm ein Reihenhaus in der Wittwais-Siedlung bezog, befanden sich dort ca. 140 Gebäude. Die Straßennamen erinnerten an die schlesischen Orte bzw. historische Regionen. Vgl. ebd. und auch W. Uhl: Erinnerungen an die Entstehung der Wittwaissiedlung. In: »Nun hat die Wittwais eine Nase im Gesicht! 40 Jahre Evangelisches Gemeindezentrum Wangen Wittwais«, hrsg. von A. Benk, P. Felkendorff, F. Hönig, W. Krischke, J. Schollmayer, P.-Chr. Storm. Wangen i. A. 2004, S. 9–14, hier: S. 14. 366 R. Storms Aktivitäten in den »Wangener Gesprächen« dokumentieren zahlreiche Zeitungsartikel und Berichte. Vgl. z. B. Schlesische Woche und Wangener Gespräche. In: »Der Schlesier«, Nr. 43 / 1964, [o. S.]; Frau Ruth Storm las Erzählungen. Der Kornhausaal reichte nicht für alle Zuhörer. In: »Schwäbische Zeitung«, vom 10. 10. 1964. 20 Jahre Wangener Kreis. In: »Unser Oberschlesien« Nr. 20, vom 22. 10. 1970. Vgl. auch Hausarchiv Storm, Kasten 22, Nr. 624 (Ruth Storm »Wangener Gespräche«, 1953–1991).

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hoben werden, dass die Schriftstellerin sich vom literarischen Betrieb eher fernhielt, aber zugleich Mitglied des erwähnten Wangener Kreises und der Künstlergilde Esslingen e.V. blieb. Aus Korrespondenz und Dokumenten lassen sich freilich Kontakte zu anderen Schriftstellern und Künstlern rekonstruieren, allerdings ohne Anspruch, wie es der Sohn Peter-Christoph Storm betont, auf Vollständigkeit367. Die ländliche Umgebung, der Blick auf die Alpen sowie die Möglichkeit, Pferde zu züchten368, übten auf die Schriftstellerin eine unwiderstehliche Kraft aus, die ihren Lebens- und Arbeitsrhythmus bestimmte. Aus der Nähe zur Berglandschaft und den veränderten Lebensumständen schöpfte sie neue Inspiration. In Wangen sind weitere zehn Prosawerke und ein Gedichtband entstanden. 1961 wurde das Tagebuch Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr veröffentlicht, dessen Authentizität und Einfachheit des Ausdrucks sowohl Leser als auch Kritiker überzeugte. Die Erlebnisse vom 29. Januar 1945 bis zum 22. Juni 1946, u. a. der Einmarsch der Roten Armee und der Aufbau der polnischen Staatsstruktur bis zum Moment des Abschieds von der Heimat, der die Autorin in malerischen Bildern des Riesengebirges eine Huldigung widmet, wurden einerseits aus eigener Perspektive dargestellt, andererseits sprach die Autorin im Namen von vielen – angefangen mit den Bewohnern der Schreiberhauer Täler über die Künstlerkolonie bis hin zu allen anderen Vertriebenen, die mit ihr die Ängste und Trauer dieser schwierigen Nachkriegszeit teilen konnten. Daher sind die Rezensionen dieser Tagebücher eher zurückhaltend: Es wird jeweils deren persönlicher Charakter, die Stimmung gelobt369 und die Aufzeichnungskunst als »eindrucksvoll« bezeichnet.370 Der Schriftstellerkollege Carl Zuckmayer drückt in seinem Brief an Ruth Storm seine Ergriffenheit nach der Lektüre ihrer Tagebücher aus und bemerkt, dass sie nicht nur das harte Schicksal der Heimatvertriebenen, sondern auch das der Hauptmann’schen Welt wiedergegeben habe371. 367 P.-Chr. Storm im Brief an mich vom 14. 03. 2019. Der Sohn nennt auch eine lange Liste von Schriftsteller- und Künstlerfreunden sowie Bekannten der Mutter, zu welchen u. a. W. und M. Fechner, M. Hauptmann, H.E. Oberländer, O. Oltmanns, A. Pfohl, I. Reicke, E. Rülke, B. Zimmermann, E. Bach, E.G. Bleisch K.J. Blisch, K. Fleischer und M. Fleischer-Mucha, A. Haselbach, J. Hoffbauer, F. Iwan, F. v. Jackowski, W. und M. Köhler, H. Hartung, W. Meridies und U. Meridies, H. Niekrawietz, E. H. Rakette, E. G. Schulz, H. Stritzke, B. Suchner, M. Taubitz, W. und W. v. Websky u. a. zählten. 368 Über den Wangener Pferdestall von R. Storm vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 21, Nr. 623 (Ruth Storm: »Stall Schlesien RS« / Papiere, Briefe, Rechnungen 1948–1979). 369 I. Derks: Kindheit im Riesengebirge. In: »Schlesische Bergwacht« Nr. 8, vom 15. 03. 1966, [o. S.]. 370 R. Storm, Ich schrieb es auf… In: »Der Büchermarkt« Nr. IV / 1963, [o. S.]. Vgl. auch E. Birke: R. Storm, Ich schrieb es auf…. In: »Blätter für deutsche Landesgeschichte« Jg. 98, 1962, [o. S.]. 371 Vgl. C. Zuckmayer im Brief an R. Storm vom 13. 04. 1970. Hausarchiv Storm, Kasten 4, Nr. 516. Der Brief von R. Storm an C. Zuckmayer befindet sich im Literaturarchiv in Marbach. Vgl. unter Zugangsnummer 1995.0001 und Mediennummer S000523693.

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Auch in dem zwei Jahre später erschienen Roman Der Verkleidete (1963) bleibt Ruth Storm dem Motiv der Vertreibung aus der Heimat treu. Diesmal stellt sie aber die Integrationsprozesse der Vertriebenen in den Vordergrund. Der für diesen Roman gewählte Perspektivenwechsel gewährleistet jedoch eine andere Herangehensweise an dieses Motiv. Die Handlung beginnt nämlich nicht im Osten Deutschlands, sondern in den westlichen Gebieten, wohin die Vertriebenen zufällig verteilt wurden. Der Hof der Kriegerwitwe Helene Tiedemann wird zur Zuflucht für zwei Vertriebene aus Schlesien: Elly Möbus, eine Lehrerin, und Anton Erben, den sein Pass als Siedler ausweist. In Wirklichkeit hat er aber auf der Flucht eine fremde Identität angenommen, um das Leben in der Fremde von Anfang an, ohne die Last der Erinnerung, beginnen zu können. Die gastfreundliche Atmosphäre des niedersächsischen Gutshofes Brelichloh, nicht weit entfernt von einer Industriestadt372, verhilft den beiden zu ihrem Neuanfang in der zweiten Heimat. Der Begriff der Heimat scheint in diesem Roman eine andere semantische Füllung zu bekommen, denn Anton Erben, der sich hinter der symbolhaften und titelgebenden Figur des »Verkleideten« verbirgt, wird nicht nur zum Repräsentanten einer neuen Nachkriegswirklichkeit, sondern auch zum religiös aufgefassten Wegbereiter einer »ewigen« Heimat. Christliche Elemente durchzogen zwar schon von Anfang an das Werk von Ruth Storm, aber erst Der Verkleidete lässt sich als eine Erklärung ihres Glaubens und der Weltanschauung begreifen. Aus diesem Grunde behauptet Hajo Knebel, der Roman sei für »besinnliche Leser« bestimmt und gelte als Symbol der Hoffnung und Gewissheit in schwierigen Nachkriegsjahren373. Die Integrationsproblematik beschäftigte Ruth Storm seit Anfang der 60er Jahre, was zweifelsohne auf die Siedlung Wittwais und deren Einwohnerstruktur zurückzuführen ist. Die Stadt Wangen im Allgäu hat nach dem Zweiten Weltkrieg ca. 800 Heimatvertriebene aus anderen Bundesländern aufgenommen, die aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern, Rumänien und vielen anderen Herkunftsgebieten stammten374. Die Zahl der neuen Einwohner stieg von Jahr zu Jahr und die 372 In diesem Roman spielt die Autorin auf einen topographisch nachweisbaren Handlungsraum, d. h. auf Peine und dessen Umgebung, an. Vgl. Vertriebenenschicksal mitten unter uns. »Der Verkleidete« – ein neuer Roman von Ruth Storm. In: »Peiner Allgemeiner Anzeiger«, vom 21. 08. 1963, [o. S.]. 373 Vgl. H. Knebel: R. Storm, Der Verkleidete. In: »Glaube und Heimat. Evangelisches Sonntagsblatt« Nr. 1 / 2, vom 27. 12. 1964–01. 01. 1965, [o. S.]. Ein anderer Kritiker nennt den Roman Der Verkleidete »den bisher reifsten Roman der Verfasserin«. Vgl. R. Storm, Der Verkleidete. In. »Riesengebirgsbote« Nr. 1 / 1964, [o. S.]. Die Kritik in der »Schwäbischen Zeitung« äußerte sich sehr lobend über die Charakterführung der Figuren und über eine gelungene Dialoggestaltung: »wie psychologisch überzeugend die handelnden Personen von Ruth Storm dargestellt werden, […] man erkennt ihren Menschen vielmehr aus ihren Worten und Taten.« G. Richter: Beredete Zeugen. In: »Schwäbische Zeitung«, vom 19. 10. 1963, [o. S.]. 374 Vgl. Jensch, Stadtchronik Wangen i. A. (wie Anm. 363), S. 604.

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neue Siedlung wurde Zeuge der Akkulturationsprozesse, die auch Ruth Storm aufmerksam beobachtete. Wohnungsnot, Generationskonflikte, kulturelle und konfessionelle Unterschiede375, Einbürgerungsprobleme, die oft zu kriminellen Taten führten376, der Mangel an öffentlichen Einrichtungen wie Fußwegen oder Kindergärten, das Aufkommen der Konsumgesellschaft und viele andere Folgen gesellschaftlicher Transformation konnten dem Auge der Schriftstellerin nicht entgehen, so begann sie diese in Kurzgeschichten zu fassen, die dann zu einem polyphonischen Werk angewachsen sind. An dem Roman, der ursprünglich den Titel So ist das Leben trug, begann die Autorin am 1. Oktober 1962 zu arbeiten, erschienen ist er allerdings erst postum im Jahre 2005 als Unter neuen Dächern. Roman einer Wohnsiedlung377, anlässlich des 100. Geburtstages der Schriftstellerin. Ihre Siedlung würdigte Ruth Storm auch im Gedicht Das neue Haus und im Spruch für die Gedenktafel an der Wittwaiser Kirche378. Einerseits war Ruth Storm mit der literarischen Bearbeitung vom Einleben der Vertriebenen beschäftigt, andererseits wollte sie durch Besinnung auf die verlorene Heimat, deren Landschaften und Menschen, ihre Sehnsucht stillen und betrachtete das Schreiben als eine Art Therapie, die ihr dabei helfen sollte. Innerhalb von zwanzig Jahren erscheinen drei Prosawerke, die ihren Erinnerungen an die Kindheit in Oberschlesien, an die glücklichen Jahre in Schreiberhau und an die Familiengeschichte Rechnung tragen. Ein Stückchen Erde. Roman aus den schlesischen Bergen (1965)379 spielt in der niederschlesischen Heimat der Autorin, im Riesengebirge und spiegelt die Stimmung der Vorkriegsjahrzehnte wider. Das 375 Wangen i. A. war und ist überwiegend katholisch (zu 90 %). Unter den Vertriebenen befand sich aber eine evangelische Minderheit, die in Wittwais ein Gemeindezentrum mit Kirche, Pfarramt und Kindergarten gründete. Vgl. ebd., S. 604. 376 Nach wissenschaftlichen Untersuchungen waren Streitereien und Schlägereien in Wittwais an der Tagesordnung, was dazu führte, dass man diese Siedlung das ›Partisanenviertel‹ nannte. Vgl. Bausinger et al., Neue Siedlungen (wie Anm. 363), S. 56. 377 Der Roman blieb von der Kritik unbeachtet. 378 Eine von vier Strophen ist den aus verschiedenen Gebieten zugewanderten Einwohnern gewidmet: Viel wandermüde Füße fanden, gelöst von allen Heimatbanden, nun Ruh im Württemberger Land, geleitet treu von Gottes Hand. Auf der Gedenktafel stehen Worte von R. Storm, die sowohl ihr eigenes Schicksal als auch das aller Vertriebenen zum Ausdruck bringen: »Wir waren entwurzelt, hatten keine Heimstatt mehr, wir kamen aus Trümmern, die Hände leer. Verweht waren wir aus Süd und Ost und Nord. Gott aber blieb uns Zuversicht und Hort«. (Text: R. Storm 1973; Graphik: H. Negro 1974). Vgl. Benk et al., »Nun hat die Wittwais eine Nase im Gesicht!« (wie Anm. 365), Umschlagseite. 379 Aus Ein Stückchen Erde las R. Storm während der 13. Wangener Gespräche. Vgl. W. Stanke: 13. Wangener Gespräche. Eichendorff-Preis an Hans Niekrawietz (Oppeln). In: »Schwäbische Zeitung« Nr. 22, vom 18. Nov. 1965, [o. S.].

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Idyllische der Gegend wird kaum durch die Informationen über Kämpfe um Warschau 1939, die den Protagonisten, Kapitän Richard Bother, die Kriegsgeschehnisse lediglich vorahnen lassen, getrübt. Die Kritiken, allerdings überwiegend aus den schlesischen Presseorganen, schenkten diesem Roman relativ viel Aufmerksamkeit: H. O. Thiel zählt ihn sogar zu den besten der Autorin380, die anderen Kritiker verweisen auf die Treue dem Storm’schen Thema gegenüber, und zwar der erlebten und verehrten Heimat381 oder loben die Entpolitisierung des Romans, die durch Menschenkenntnis ersetzt wird382. Anders wurde allerdings der Roman … und wurden nicht gefragt. Zeitgeschehen aus der Perspektive eines Kindes (1972) wahrgenommen, das zum Schauplatz nicht das Riesengebirge, sondern vor allem die Geburtsstadt von Ruth Storm – Kattowitz hat. Die in der Hauptstadt Oberschlesiens verbrachten Kindheits- und Jugendjahre, die sich in den Büroräumen der Druckerei und Zeitungsredaktion widerspiegeln, dann der Aufenthalt in einem Internat und letztendlich der Besuch im Zweitwohnsitz der Familie in Schreiberhau geschehen vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse, des Ersten Weltkrieges, der Schlesischen Aufstände und der Aufteilung Oberschlesiens und muten autobiografisch an. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit, die Erinnerung an die Familie, insbesondere an den Vater und die Großmutter, machen den persönlichen Wert des Romans aus, der sich aber eher dem Interesse der Kritik entzieht. Im Fall dieses Romans bemerkten die Rezensenten vor allem den historischen Kontext; viele verwiesen darauf, dass es der Schriftstellerin gelungen sei, »ein Stück Geschichte« zu erfassen, und dabei auf eine »ganz eigentümliche Art eingefangen« zu haben, was angesichts der fehlenden Heimatliteratur als ein Verdienst angesehen werden sollte383. E. Dittberner betont hingegen die Perspektive des Kindes, die das Geschehen zum Teil eben den historischen Ereignissen entrückt, andererseits mit der »sozialen Sensibilität« der naiven und lebensunerfahrenen Erzählenden korrespondiert384. Von großer Bedeutung scheint dabei der Beitrag von Walter Stanke zu sein, der auf die damalige Aktualität dieses Buches verweist und den Grund dafür erklärt, warum die Schriftstellerin mit der Herausgabe der Tagebücher Anfang der 1970er Jahre den 380 Vgl. H. O. Thiel: R. Storm, Ein Stückchen Erde. In: »Buchanzeiger für Öffentliche Büchereien«, Jan. 1966, [o. S.]. 381 Vgl. J. Hoffbauer: Ein Stückchen Erde. In: »Ostdeutscher Literatur-Anzeiger« Jg. XII, Nr. 2 / April 1966, [o. S.]. 382 Vgl. Kapitän Bothers zweite Heimat. In »Schwäbische Zeitung«, Jan. 1966, [o. S.]. 383 W. Görlitz: Kartoffelkrieg in Kattowitz. In: »Die Welt« Nr. 279, vom 30. 11. 1972, [o. S.]. Eine ähnliche Stellungnahme erfolgte in der Sendung des Bayrischen Rundfunks vom 11. 10. 1972 (um 17.45 Uhr). Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 15, Nr. 594. Vgl. auch Zeitgeschichte. In: »Oberschlesien« Jg. 31, Nr. 19, vom 9. 10. 1973, [o. S.]. 384 Vgl. E. Dittberner: Das Kind erinnert sich. In: »Schwäbische Zeitung« Nr. 239, vom 15. 10. 1973, [o. S.].

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Zeitgeist in der Bundesrepublik getroffen hat: »Ist es die brennende Aktualität, die dieses Buch gerade in diesen erregenden Wochen der Diskussion über das hin und her der Annahme oder der Ablehnung der Ostverträge, ist es die Erinnerung an ein Weltgeschehen in Oberschlesien, das die Dichterin Ruth Storm in den schlichten Schilderungen des Zeitgeschehens aus der Perspektive eines Kindes wach werden läßt, reißt sie doch mit diesem Buch den Vorhang auf… .«385

Abb. 4: Ruth Storm (1905–1993). Gemälde von Werner Fechner Wangen im Allgäu 1967.

Einen wichtigen Platz nimmt im Prosawerk von Ruth Storm der 1978 erschienene Roman Odersaga. Ein Schloß am Strom ein, der aber bisher weder bei den Lesern noch den Kritikern Beachtung fand.386 Seine besondere Position im Œuvre der Schriftstellerin ergibt sich allerdings aus dem Konzept des Handlungsraumes, der sowohl Oberschlesien (Kattowitz, Pleß, Myslowitz), Niederschlesien (Breslau, Schreiberhau, Trebnitz und viele andere fiktive sowie authentische Orte) und weit von dem schlesischen Boden entfernte deutsche sowie ausländische Gebiete (München, Estland, Südfrankreich) umfasst. Der Kritiker Karl Schindler bemerkt hierzu treffend: »Ruth Storm bietet nicht nur einen lokal begrenzten Ausschnitt Schlesiens, auch nicht einen nur in Ober-, 385 W. Stanke: …und wurden nicht gefragt. Zum neuen Buch von Ruth Storm im Oberschlesischen Heimatverlag. In: »Oberschlesien« Jg. 22, Nr. 8, vom 27. 04. 1972, [o. S.]. 386 Vgl. die in der Bibliografie verzeichneten Buchkritiken und Rezensionen von L. von Groeling, M. Köhler, K. Schindler, B. Strehblow, Dr. Wiemer, wi oder H.H.

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Mittel- oder Niederschlesien spielenden Roman, bevorzugt auch nicht eine bestimmte Landschaftsform (Gebirge, Ebene, Flußlandschaft) und Siedlungsform (Dorf, Kreisstadt oder Großstadt); insofern gibt der Untertitel ›Das Schloß am Strom‹ kein ganz zutreffendes Bild von dem inhaltlichen Gefüge des Werkes[…].«387 Der Roman verfolgt zwar das Ziel – dem Urteil der Kritiker zufolge – im Symbol des Schlosses und in der Gattung einer Familiensaga388ein »schlesisches Spektrum erlebter Zeit«389 aufgefächert zu präsentieren, und dadurch den »Kristallisationspunkt [des Heimwehs – R.D.-J.]«390 zu erreichen, an die Geschichte des Aufbaus und Niedergangs vom deutschen Schlesien zu erinnern391, aber die Interpretationslinien reichen schon über die Zeit und den Geschmack der aus Schlesien stammenden Leser hinaus. Die Lebenswege dreier Schwestern (Anna Margarete, Bertha, Karoline) spielen vor dem Hintergrund historischer Ereignisse des 20. Jahrhunderts: im Ersten und Zweiten Weltkrieg, während der Oktoberrevolution 1917, des dritten schlesischen Aufstandes 1921, der Belagerung Breslaus und vor dem Hintergrund der Vertreibung aus der schlesischen Heimat. So wird die Frage nach dem gesellschaftlichen Wandel dieser Zeit, nach der Position und Zukunft der vermögenden Fabrikantenfamilien Schlesiens (die Breslauer Familien Gottschalk und Lehan), der neuen sich gerade emporarbeitenden Industriellen- und Unternehmerschicht (Franz Gaebler, August Rautenberg) oder der frei gesinnten Künstler- und Intellektuellenboheme der Wilhelminischen Zeit gestellt. Beide Weltkriege, Revolution und Aufstände, die als Gegenspieler von nur guten oder nur bösen Figuren des Romans392 fungieren, sollen zu einer Diskussion über die 387 K. Schindler: Schlesisches Spektrum erlebter Zeit. In: »Unser Oberschlesien«, vom 8. 06. 1979, [o. S.]. 388 Mit dieser Gattung schließt sich die Schriftstellerin an die Entwicklungstendenzen der bundesrepublikanischen Literatur der 1970er Jahre an, die im Zeichen einer Hinwendung zum Subjektiven und Biografischen sowie der Auseinandersetzung mit der Väter- sowie Familiengeschichte stehen. Vgl. Scheitler, Deutsche Gegenwartsprosa seit 1970 (wie Anm. 152), S. 235–249. Über das gegenwärtige Verständnis des Familienromans vgl. G. Friedrich: Opfererinnerung nach der deutschen Vereinigung als »Familienroman«. In: Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, hrsg. von F. Cambi. Würzburg 2008, S. 205–222. 389 Schindler, Schlesisches Spektrum erlebter Zeit (wie Anm. 387). 390 wi: Ein schlesisches Heimweh-Buch. In: »Schwäbische Zeitung«, vom 7. 12. 1979, [o. S.]. 391 Vgl. Dr. Wiemer: Ruth Storm. Odersaga. Das Schloß am Strom. In: »Der Schlesier« Nr. 18, vom 2. 05. 1980, [o. S.]; B. Strehblow (Erle Bach): Buchbesprechung. In: »Schlesische Bergwacht« 30 Jg., Nr. 11, vom 5. 06. 1980, [o. S.]; M. Köhler: Ein wundervolles Land. Verdichtete Erinnerungen Ruth Storms an Schlesien. In: »Schwäbische Zeitung« Nr. 18, vom 23. 01. 1979, [o. S.]. 392 Über die Figurenkonzeption in diesem Roman urteilt ein anonymer Kritiker (wi) wie folgt: »In dem Buch gibt es nur gute und edle Menschen. Das Böse bleibt unpersönlich, schemenhaft. Alle Bewohner des Schlosses an der Oder […] sind die Liebenswürdigkeit und Rücksicht in Person.« Vgl. wi, Ein schlesisches Heimweh-Buch (wie Anm. 390). Ein anderer

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neue Weltbeschaffenheit und deren Werte anregen. Erstens wird das alte Europa in seinen Grenzen und Funktion in Frage gestellt, was durch Erweiterung des für Ruth Storm charakteristischen Handlungsraumes von Schlesien und Einführung von nichtdeutschen Protagonisten geschieht. In zwei Gestalten des Schlosses Odersaga sind Deutschlands westliche und östliche Nachbarn in das Handlungsgefüge eingereiht: durch eine junge Französin und eine alte Estin. Ihre Verbindung mit schlesischem Schicksal bietet einen Vorklang europäischer, völkerverbindender Gemeinsamkeit, auf die alle hoffen, und die blindwütender Nationalismus aller Seiten geschlagen hat.393 Ein neues Europa sollte dabei auf der Kraft des Geistes und der Familienverbundenheit und nicht der Bodenständigkeit oder nationaler Zugehörigkeit beruhen.394 Bedeutende Rolle kann in diesem letzten Storm’schen Roman zweifelsohne den Frauenfiguren zugeschrieben werden. Die Ehen der Schwestern Lehan und ihre Erfüllung in der Gattinnen- und Mutterrolle dienen der Schriftstellerin nämlich zur Auseinandersetzung mit dem sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. vollziehenden Wechsel von Weiblichkeitsparadigmata, der eine partielle Loslösung von bürgerlicher Moral und stereotypen Rollenzuweisungen dokumentiert und neue, auf selbständiger Entscheidung basierende Entwicklungsmöglichkeiten für beide Geschlechter anvisiert, ohne allerdings auf dessen kulturhistorische Bedingtheit einzugehen. Die letzten Schaffensjahre von Ruth Storm bringen vor allem kurze Prosaformen hervor. 1977 wird die Erzählung Wieder war die Erde verdorben vor Gottes Augen. Die einfältigen Männer vom Werk 107 veröffentlicht, die schon 1952 zur Konfirmation ihres Sohnes entstanden ist, den Nimbus des poetischen Realismus trägt und sich in die damalige Erzählweise der Autorin einschreibt395. Auch in dieser Erzählung entwirft Ruth Storm eine Gegenwelt, die von Alltagsproblemen frei ist und in der andere Gesetze herrschen. Jene Welt wird von einer außergewöhnlichen Person geleitet, die die anderen dorthin führen kann, wenn sie die Berufung verspüren und die Besonderheit ihres geistigen Anführers anerkennen. Antonio, der in diesem Werk eine solche Rolle spielt, kann die anderen dazu verleiten, auf die Familie und Arbeit verzichten zu wollen und einem Leben in einem geheimnisvollen Niemandsland zuzusteuern. P.-Chr. Storm kommentiert die Entstehung und Deutung dieses rätselhaften Prosawerkes folgenderweise: Kommentar: »Die vielen handelnden Figuren erscheinen aber zu verhalten und liebenswert: mehr Leidenschaft und weniger Glätte hätte den Roman spannender werden lassen.« Vgl. H.H.: Glückvolle Vergangenheit. In: »Die Welt« Nr. 126, vom 15. 09. 1979, [o. S.]. 393 Schindler, Schlesisches Spektrum erlebter Zeit (wie Anm. 387). 394 Vgl. L. von Groeling: Das Schloß am Strom. In: »Der Literat. Zeitschrift für Literatur und Kunst« Nr. 6 / Juni 1979, [o. S.]. 395 Zum Drama Der Herr der Welt vgl. S. 85f.

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Aus dieser Erzählung spricht die tiefe Sorge um die Zukunft der Menschen, die ohne Menschenwürde und ohne Gott in einer gleichmacherischen Maschinenwelt erstarrt sind. Aber Gott, die ewige Kraft der Stille, hält am Ende aller materiellen Güter wieder in den Einfältigen einen neuen ideellen Anfang bereit.396

In den 1980er Jahren erscheint außerdem eine Erzählung Ferngeboren und doch heimatbewußt (1988), die an eine näher nicht bekannte Kollegin gerichtet ist, und den Begriff der Heimat zu erfassen versucht. In essayartiger Konvention werden Vor- und Nachteile einer Heimat angeführt, die für einen Vertrieben, der ohne Heimat geblieben ist, selbstverständlich eine andere Bedeutung besitzt. Das Konzept von Heimat scheint somit eine existenzielle Dimension zu gewinnen, und deren Verlust lässt sich mit einer Grenzsituation vergleichen. Um Heimat, die Geschichte Schlesiens, Flucht und Vertreibung kreisen ebenfalls die im Band Das geheime Brot. Erlebtes und Bewahrtes (1985) gesammelten Erzählungen, die schon früher in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, aber erst nach Jahren zu einem Ganzen verwoben wurden. Es geht der Autorin dabei nicht nur darum, ihr bis dahin zerstreutes Erzählwerk zusammenzufügen, sondern mit den einzelnen Geschichten zu zeigen, was es den Millionen Heimatlosen möglich machte, »Schutz und Trost vor den Härten der damaligen Verantwortlichen bis zum Zusammenbruch und der endgültigen Entwurzelung [zu finden]«397. Das im Titel verwahrte »geheime Brot« versinnbildlichte für die Autorin den »in Not und Angst bewährten christlichen Glauben […], hohe Menschlichkeit und tiefes Gottvertrauen […]«398. Der Zeitraum der Erzählungen reicht auf das frühe Mittelalter und die Lebensgeschichte der heiligen Hedwig zurück, deren Kinder, besonders von Boleslaw I. dem Langen, Gründer der Klosterstiftung zu Leubus (Der Wegbereiter), über den Zweiten Schlesischen Krieg, der vom preußischen Meldereiter Lengenfeld und seinem Pferd Mut, Klugheit und Opferbereitschaft bedeutet (Der Befehl), oder die Ereignisse des Ersten Weltkrieges, die im Hinterland an der dalmatischen Küste spielen (Begegnung). Die Handlungsspielräume umfassen im Weiteren schlesische Gebiete, Wälder um Pleß und behandeln die neue politische Lage der Region nach der Aufteilung (Der tote Pan) oder drücken die nationalen Spannungen unter den Bewohnern von Oberschlesien während der Abstimmungszeit (Die Grubenlampe) aus. Die Mehrheit versetzt den Leser in den geographisch sowie historisch von Ruth Storm mehrmals betretenen Raum zwischen den beiden Weltkriegen, in die Zeit der Niederlage des Jahres 1945, der Flucht und Vertreibung. Ins Blickfeld geraten wiederum Mütter, ältere Frauen und Männer, denen es am schwersten fällt, von ihrer Heimat Abschied zu nehmen (Die Ge396 Storm, »Vertriebene Schlesier, das ist Euer Buch« (wie Anm. 210), S. 25. 397 Storm: Vorwort. In: Dies.: Das geheime Brot (wie Anm. 232), S. 8. 398 Storm, »Vertriebene Schlesier, dies ist Euer Buch!« (wie Anm. 210), S. 26.

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fangene vom Isermoor, Das Klavier der Anna Petruschka399, Vögel kennen keine Grenzen, Der Himmelsschlüssel). Hoffnung und Glaube verleihen ihnen die einzige, notwendige Überlebenskraft (Der Laienpredigt). Einen wichtigen Teil des Sammelbandes bilden jene Texte, in welchen das Schicksal und dessen Einfluss auf das menschliche Leben hinterfragt werden (Das Gewinnlos, Der Knabe im Steinbruch, Antiquitäten). E. G. Schulz hebt im Nachwort zu diesem Band hervor, dass sich hier Ruth Storm als »Meisterin der kleinen Form zeigt, [denn – R.D.-J.] die kurze Erzählung ist in unseren turbulenten Zeiten vielleicht die angemessenste epische Form der Gestaltung – auch für den Leser, der oft nicht in der Lage ist, einen lebensumspannenden Roman zu bewältigen.«400 So wendet sich Ruth Storm in ihren letzten Schaffensjahren tatsächlich nur noch kleineren Formen – Erzählungen und Gedichten – zu. 1992 erschien die Erzählung Glück muss man haben. Abenteuer zweier Freunde (1992), die dem Genre der Kinder- und Jugendliteratur angehört, und eines der die Autorin charakterisierenden Themen aufgreift – die Freundschaft zwischen Mensch und Tier401. In ihrer letzten aktiven Schreibphase erschien auch der Gedichtband Der Zeitenuhr unentrinnbarer Sand. Gesammeltes aus Jahren (1983), in dem ausgewählte, über Jahrzehnte verfasste Gedichte der Autorin in vier Themenkreisen gruppiert wurden. Der erste vorangestellte Teil, betitelt mit Das Ewige, akzentuiert das, was Ruth Storm ihr Leben lang einen Orientierungsrahmen bot – den Glauben. Die hier gesammelten Gedichte drücken Gottes Lob aus und preisen die Anerkennung des göttlichen Willens sowie der aus dem Glauben resultierenden Geborgenheit. Im Teil Wir geht Ruth Storm auf kollektive sowie individuelle Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, an Flucht und Vertreibung ein. Ähnlich konzipiert ist auch der dritte Teil (Im Wind der Äonen), in dem sie abermals der Heimat gedenkt, die sich jedoch vor allem in der Schönheit und Einmaligkeit der 399 Für diese Erzählung wurde R. Storm 1978 der Preis der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat im 10. Hörspiel- und Erzählwerkwettbewerb »Was bleibt?« verliehen. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 11, Nr. 592 (2). Das Klavier der Anna Petruschka wurde von Margarethe Korzeniewicz ins Polnische übersetzt. Vgl. R. Storm: Pianino Anny Petruschki. In: »Eichendorff-Hefte. Zeszyty Eichendorffa« Nr. 9 / 2005, S. 82–92. 400 E. G. Schulz: Nachwort. In: Storm, Das geheime Brot (wie Anm. 232), S. 139. 401 R. Storm verfasste Kindergeschichten schon in den 1940er Jahren. Eine der ersten Kurzgeschichten für Kinder, die aus ihrer Feder stammte, war Bingo. Vgl. R. Storm: Bingo. In: »Ping-Pong. Kinderzeitschrift«. München 1949, Jg. IV, Nr. 1, S. 6f. Vgl. auch Hausarchiv Storm, Kasten 18, Nr. 609. In den 1950er Jahren entstand eine unveröffentlichte Traumerzählung, die von einer Freundesgruppe erzählt, die sich auf Wanderung in ein glückliches Land befindet. Vgl. R. Storm: Friedenshaus. Eine Erzählung für Kinder und solche Leute, die sich ihren Kinderglauben erhalten konnten (um 1955/1960). Manuskript im Hausarchiv Storm, Kasten 22, Nr. 626. Ebenfalls unveröffentlicht blieb die Science-Fiction-Geschichte Kommt ein Vogel geflogen (1981–1982), gewidmet der Enkelin. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 25, Nr. 644.

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Ruth Storm und ihr Weg als Schriftstellerin

Landschaft offenbart, wobei die zuletzt gesammelten lyrischen Beiträge einen bekenntnishaften Charakter tragen (Zeittexte) und den Sinn der menschlichen Existenz sowie die Abwege des Fortschritts hinterfragen. Klaus Hildebrandt macht auf das Schwanken des lyrischen Ichs zwischen »Zuversicht und Resignation«402 aufmerksam, die sich auf die politische Lage Europas zurückführen lässt. Diese Haltung korrespondiert mit dem Gefühl einer Heimatlosigkeit, welche existenziell gesehen jeden Menschen betrifft, und die im Fall eines an Gott Glaubenden eine transzendentale Wende vorwegnimmt. Die 1980er Jahre stehen für Ruth Storm im Zeichen von Ehrungen und Preisen: Im Jahre 1983 wurde der Schriftstellerin der Eichendorff-Preis403 verliehen, ein Jahr später – der Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen404. Eine der höchsten Ehrungen, das Bundesverdienstkreuz am Bande, wurde ihr am 25. März 1986 im Wangener Rathaus überreicht. In allen Laudationes pries man den Beitrag von Ruth Storm zur Darstellung des schlesischen Schicksals nach beiden Weltkriegen, welches sie mit ihren »Romanen, Erzählungen und Dokumentarberichten nicht nur als Chronistin glaubwürdig bezeugt und sachlich festgehalten, sondern in tiefem Wissen um die Gefährdungen der Humanität leidvoll erfahren und aus den Kräften des Gemüts gestaltend überwunden hat«405, und »sie teilte auch, frei von jeder Sehnsucht nach Rache und Vergeltung, die opferwillige Bereitschaft zum Wiederaufbau eines an die alten Werte der Überlieferung anknüpfenden Deutschland dort, wo es sich frei entfalten konnte«.406

402 Hildebrandt, Ruth Storm (wie Anm. 210), S. 560. Vgl. auch andere in der Bibliografie verzeichneten Rezensionen dieses Gedichtbandes von E. Bach. K. Schindler, dk und mk. 403 Die Tradition des Eichendorff-Preises reicht in die 1920er Jahre zurück. Damals, wie auch heute, wurde er an Schriftsteller und Dichter vergeben, die in ihrem Werk die Kultur des Heimatlandes Schlesien pflegen. Zu den ersten Preisträgern gehörten in der Vorkriegszeit u. a. B. Arndt und M. Herrmann-Neiße. Nach der Gründung des Wangener Kreises wurde 1956 dieser Preis an die in Tradition Eichendorffs Kulturschaffenden verliehen. Wegen seines geringen Preisgeldes wurde er in den 1950er ein »Taugenichts-Reise-Stipendium« genannt. Bis heute wurde der Preis über 70 Autoren überreicht. Vgl. M. Köhler: Der Eichendorff-Preis und seine Tradition. Hausarchiv Storm, Kasten 23, Nr. 633. Vgl. die Preisträgerliste www.wangener-kreis.de [Zugriff: 14. 02. 2021]. 404 Der Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen wurde 1977 von der niedersächsischen Landesregierung gestiftet und wird bis heute an Künstler vergeben, die Schlesier sind oder deren auszuzeichnendes Werk wesentliche Bezüge zu Schlesien ausweist. 405 Zitat aus der Urkunde des Eichendorff-Preises vergeben an R. Storm am 2. 10. 1993 im Rahmen der 33. Wangener Gespräche. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 23, Nr. 633. Vgl. auch andere Kommentare, Berichte nach der Verleihung dieses Preises. M. Köhler: EichendorffPreis für Ruth Storm. In: »Riesengebirgsbote« Nr. 7 / 1983, [o. S.]; M. Köhler: EichendorffPreis für Ruth Storm – für eine Dichterin, die ihn um Schlesien verdient gemacht hat. In: »Schlesische Bergwacht« Nr. 33, vom 20. 04. 1983, [o. S.]. 406 E.G. Schulz: Laudatio auf Ruth Storm zur Verleihung des Sonderpreises des Schlesischen Kulturpreises 1984 des Landes Niedersachsen. Hausarchiv Storm, Kasten 7, Nr. 581.

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Entwurzelt. Ein neues Leben im Westen

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Wegen einer Augenkrankheit kann Ruth Storm nicht mehr alleine leben und zieht in den 1990er Jahren zur Familie ihres Sohnes nach Berlin. Hier stirbt sie am 13. Dezember 1993, die Beerdigung findet am 21. Dezember auf dem Waldfriedhof in Berlin-Charlottenburg statt. Auch im Tod blieb sie ihrer schlesischen Heimat und ihren Leidenschaften treu: Sie trug, ihrem letzten Willen gemäß, einen schwarzen Reitrock, an welchem eine Nadel mit dem schlesischen Adler und der Inschrift »Fern doch treu verbunden«407 angeheftet war.

Abb. 5: Bronzetafel von Elsbeth Siebenbürger enthüllt am 1. Juni 2005 am Haus Storm in Wangen im Allgäu – Wittwais.

Anlässlich des 100. Geburtstages gedachte man feierlich des Lebens und Werkes der Schriftstellerin, indem man postum den Roman Unter neuen Dächern (2005)408 herausgab, am 1. Juni 2005 eine Bronzetafel am Haus der Familie Storm enthüllte409 und ihr in der Stadtbücherei eine Ausstellung widmete410.

407 Vgl. Traueranzeigen, Nachrufe sowie Trauerpost im Hausarchiv Storm, Kasten 6, Nr. 544 und 545. 408 Vgl. Kapitel 7.3. 409 Zwei Jahre vorher beschloss der Gemeinderat der Großen Kreisstadt Wangen i. A. den Weg vom Baugebiet Haid-Mitte nach Nieratz Ruth-Storm-Weg zu benennen. 410 Die Ausstellung fand vom 22.09. bis 1. 10. 2005 im Rahmen der 55. Wangener Gespräche statt, sie bestand aus 13 Wechselrahmen mit Fotografien und Original-Dokumenten von und über R. Storm und wurde von P.-Chr. Storm und Chr. Storm bearbeitet. Vgl. Hausarchiv Storm, Kasten 7, Nr. 579 / 1–4.

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Vom Materiellen zum Geistigen. Heimat in ihren beweglichen Lebensräumen

Untersucht man Ruth Storms Prosawerke im Hinblick auf Heimatbilder, so lässt sich eine wichtige Rolle materieller Wahrzeichen festhalten, die das Verhältnis Figur / Erzähler versus Charakter / Fokalisator411 prägen. Die Existenz der Protagonisten spiegelt sich in der Wahrnehmung der Räume wider, in denen sie mit Gegenständen in Kontakt treten. Diese Form des »Darinnenseins«412 setzt ein referenzielles Verhältnis zwischen Individuum und Außenwelt voraus, wobei Edmund Husserl in seinem Verständnis von Phänomenologie der zuletzt genannten keine Selbstständigkeit zugeschrieben hat. Das erfordert im Weiteren eine Arbeitsmethode der Beschreibung der objektiven Realität und zieht nicht deren Erklärung oder Analyse nach sich.413 So eröffnet sich Bernhard Waldenfels zufolge ein Raum für eine subjektive Wahrnehmung, für das Reflektieren und Umanalysieren des Wahrgenommenen.414 Dieses In-Kontakt-Treten von Mensch und Raum vollzieht sich mit Hilfe des Optischen und impliziert eine modellierende Perspektive. Phänomenologisch betrachtet gehen dann alle Reize vom Subjekt aus und der »Ichleib«415 spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle, denn er konstituiert den Bezug zur Welt und zu den Anderen und gestaltet die Selbstwahrnehmung mit.416 Das gegenseitige Verhältnis zwischen Mensch und Raum führt allerdings zur Entstehung von einem Zwischen-Raum, der Katharina Rist zufolge als ein Schwellenphänomen begriffen werden kann, »das zwischen den 411 Im Hinblick auf M. Bals Narratologie muss an dieser Stelle zwischen Figur und Charakter sowie Erzähler und Fokalisator unterschieden werden. 412 Unter diesem Begriff versteht W. Götz eine Grundform des Daseins im Raum, der vom Menschen zuerst »gelebt« und »erlebt« wird, bevor er sich infolge der Betrachtung in seinem Bewusstsein konstituiert. Vgl. W. Götz: Dasein und Raum. Philosophische Untersuchungen zum Verhältnis vom Raumerlebnis, Raumtheorie und gelebtem Dasein. Tübingen 1970, S. 162f. 413 Vgl. B. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. München 1992, S. 17. 414 Vgl. B. Waldenfels: Wahrnehmung. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von H. Krings et al., Bd. 3. München 1972, S. 1672f. 415 E. Husserl: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. In: »Husserliana« XVI / 1973, S. 80. 416 Vgl. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie (wie Anm. 413), S. 54.

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Vom Materiellen zum Geistigen

sogenannten atmosphärestiftenden Subjekten oder Objekten und deren Umgebung angesiedelt ist. […] Es handelt sich demnach um etwas Zusätzliches, nicht um etwas, das mit dem jeweiligen Ding oder Mensch immer schon als gegeben vorgefunden wird.«417 Dieses Dazwischen, dessen Konstituierung und atmosphärischer Charakter418, können neben Menschen und Räumen als wichtige Komponenten des Storm’schen Heimatsbegriffs verstanden und für die Analyse fruchtbar gemacht werden. Im Prosawerk der Schriftstellerin räumt man den Lebensetappen der Hauptfiguren viel Platz ein. Die Autorin scheint dabei nicht das Ziel zu verfolgen, das Schicksal der jeweiligen Figur, ihrer Familie samt anderen Mitgliedern zu rekonstruieren419, sondern fokussiert sich auf einen bzw. mehrere Ausschnitte aus dem Leben, in denen die wichtigsten Lebensmomente der Protagonisten rekapituliert werden. Jene Momente überschneiden sich mit historischen Ereignissen und werden durch konkrete geografische Räume bedingt: Ober- und Niederschlesien als Schauplatz der Handlung oder verschiedene Orte in der Bundesrepublik. Diese chronotopische Auffassung von Raum und Zeit, die immer voneinander abhängen420, bekräftigt deren ambivalente Funktion. Storms Räume gelten freilich einerseits als ein Wirkungsbereich des Privaten und Subjektiven, indem sie ein Reservoir für Alltagsgeschehnisse der Protagonisten bilden und in Opposition zur Welt des Öffentlichen421 erscheinen, andererseits verleiht man ihnen mal durch ihre Konkretisierung (als Kattowitz, Schreiberhau, Breslau), mal Unbestimmbarkeit (anonyme Gebirgsgegenden mit unbenannten bzw. fiktiven

417 K. Rist: Gedächtnis-Räume als literarisches Phänomen in den Kurzgeschichten von Elisabeth Bowen. Würzburg 1999, S. 14. 418 K. Rist verweist in ihren Überlegungen auf zwei unterschiedliche Definition der Atmosphäre von H. Schmitz und G. Böhme. Für den ersten ist die Atmosphäre etwas Eigenständiges, für den zweiten wird sie von Menschen und Dingen ausgelöst und getragen. Vgl. ebd. 419 Eine Ausnahme bildet hier der Roman Odersaga, in welchem die Lebensläufe dreier Schwestern vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse im Zeitraum beider Weltkriege dargestellt werden. In diesem Roman geht es zwar um die Widerspiegelung verschiedener weiblicher Lebenswege, aber das gesellschaftlich-historische Umfeld spielt dabei eine wesentliche Rolle, so dass das Werk mehr zu einem Zeitpanorama wird. 420 Vgl. M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a.M. 1986, S. 7. 421 S. Burk verweist auf den Wandel des Begriffs Privatheit, der sich heutzutage nicht mehr als Gegenpart zum Öffentlichen (H. Arendt oder J. Habermas zufolge) definieren lässt. Nach O. Flügel-Martinsen handelt es sich eher um abstrakte Konzepte, zwischen denen »eine komplementäre oder gar dialektische Relation besteht und deren Grenzziehung stets aufs Neue ausgehandelt werden muss.« Vgl. über Definitionen der Privatheit S. Burk: Einleitung. In: Privates Erzählen. Formen und Funktionen von Privatheit in der Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, hrsg. von S. Burk, T. Klepikova, M. Piegsa. Berlin et al. 2018, S. 9; O. FlügelMartinsen: Privatheit zwischen Moral und Politik. Konturen und Konsequenzen eines Spannungsverhältnisses. Zit. nach ebd.

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Flüssen, Tälern, Bergen)422 einen allgemeinen Charakter423. Durch diese topographische Veranschaulichung wird der private Kontext erweitert und bekommt ein universelles Gepräge: die Lebens- und Wirkungsräume der Protagonisten können als Erinnerungsorte zunächst zum Modus des kommunikativen und dann des kulturellen Gedächtnisses werden. In der Sphäre des Privaten werden in jedem der behandelten Prosawerke konkrete Räume ausgesondert, die als Verdichtung und Zeichen-System des Erlebten und Erinnerten gelten können. Es trennt sie die Zäsur des Vertreibungserlebnisses, die auf die Auswahl jener Räume einen Einfluss hat. Vor dem Verlust der Heimat beschränkt sich nämlich der Lebensraum auf geschlossene Bereiche, danach wird er immer wieder ausgeweitet.

3.1

Das Haus und seine Räume

Eine außergewöhnliche engrammatische Funktion schreibt Ruth Storm dem Haus als Sitz der Familie zu. Mit einer solchen Verwendung des Motivs unterscheidet sich die Schriftstellerin kaum von anderen Autoren, die das Haus ebenfalls als Erinnerungsmetapher anwenden. Das Haus als Symbol der Beständigkeit, Tradition und Familienbande geht des Öfteren mit dem Motiv der verlorenen Heimat einher.424 Storms Haus erscheint zunächst als ein Ort, dessen physikalische Bestimmbarkeit durch konkrete Lebensräume oder Gegenstände gekennzeichnet ist. Diese von Werk zu Werk variierende Ansammlung von Heim-Orten verwandelt sich – den Raumtheorien von Michel de Certeau zufolge – in einen Raum, denn »ein Ort ist die Ordnung (egal welcher Art), nach der 422 Die Vermeidung von geographisch erkennbaren Orten und Toponymen kennzeichnet auch andere Werke der aus Schlesien stammenden Autoren. Vgl. R. Rduch, »O, heiliger Heimatrauch!« Schlesien in der Prosa von Arnold Ulitz. In: Eine Provinz in der Literatur (wie Anm. 38), S. 128. 423 Wie es schon früher angemerkt wurde, verweigert sich R. Storm, ihren Prosawerken die Gattungsbezeichnung Autobiografie / autobiografischer Roman zuzuerkennen, aber eindeutige Bezüge zu ihren Lebensstationen liegen auf der Hand. Vgl. Kapitel 2, S. 55f. 424 Das Motiv des Hauses im Werk schlesischer Autoren untersucht u. a. K. Dubeck. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 155–193 (bei E. Rakette), S. 208–241 (bei L. Horˇka), S. 251–279 (bei M. Klimas-Błahutowa), S. 297–335 (bei A. Müller). Auch M. Czarneckas Analyse des Heimat-Motivs im Werk von G. Hauptmann ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des ›schlesischen‹ Heimat-Konzepts. Vgl. M. Czarnecka: »Bin ich noch in meinem Hause?« Zum Verständnis und Konzept der Heimat im Leben und Werk Gerhart Hauptmanns (1862–1946). In: Heimat als Chance und Herausforderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat (wie Anm. 56), S. 108–120. Vgl. auch die Interpretation des Romans One by One in the Darkness der irischen Schriftstellerin, Deirdre Madden, die eine materielle und ideelle Funktion des Hauses im Erinnerungsprozess (Haus versus Heim) hervorhebt. L. Drong: Tropy konfliktu. Retoryka pamie˛ci kulturowej we współczesnej powies´ci północnoirlandzkiej. Katowice 2019, S. 197f.

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Vom Materiellen zum Geistigen

Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. […]; jedes [Element – R.D.-J.] befindet sich in einem ›eigenen‹ und abgetrennten Bereich, den es definiert. […] Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsträger und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen.«425 Ein so begriffener Unterschied zwischen Ort und Raum macht deutlich, dass Orte narrative Akte stimulieren, Geschichten auslösen und den Betrachter zum Hinschauen bewegen. So werden die Heim-Orte im Lauf des Erzählens in Bewegung gesetzt und zu Räumen gemacht, in denen sich die Transposition des Materiellen ins Geistige vollzieht. Als Raum jener Ereignishaftigkeit gilt im Prosawerk von Ruth Storm das Haus. Das Haus übernimmt aus literaturanalytischer Sicht in jedem der behandelten Prosawerke die Funktion eines Handlungs-, Lebens, Kontrastraumes und fungiert als Raumsymbol. Ein so umfassendes Bild des Hauses schließt mehrere Bedeutungsebenen ein, es bringt nicht nur die Persönlichkeit des Besitzers zum Ausdruck, sondern spiegelt auch den produzierten Raum mit dessen Akteuren wider.426 Im Roman Das letzte Gericht vererbt Marianne Erpach den Familiensitz samt des Sägewerkes; die Protagonistin bewirtschaftet die väterliche Nachlassenschaft in dem letzten schweren Kriegsjahr bis zur Vertreibung aus der Heimat. Die Rückkehr ins Elternhaus427 und anschließend die Übernahme des Hofes nach ihres Vaters Tod lösen somit die Handlung aus und bilden den Rahmen für die Motivation von Mariannes Verhalten sowie das hartnäckige Ausharren bei dem Familienbesitz trotz Gefahr, Erniedrigung und politischer Unruhen des ersten Nachkriegsjahres. Die Rückkehr in das Hauses nach der langjährigen Abwesenheit, Rekonstruktion des alten Alltagsrhythmus dessen Bewohner und das Mitgestalten der neuen Lebensverhältnisse machen aus Erpachshof einen Lebensraum, der nicht nur die Existenz der Familie des Rackentaler Sägewerksbesitzers Carl Christian Erpach widerspiegelt, sondern auch die Wohn-, Lebensund Arbeitskultur dieser zunächst topographisch näher unbestimmten Ge-

425 Certeau, Die Kunst des Handelns (wie Anm. 47), S. 217f. 426 Ein solches komplexes Bild des Hauses fügt sich teilweise in die heutige Philosophie des Hauses und den minimalistischen Lebensstil ein, die sowohl Einrichtung, Funktionalität als auch epistemologischen Charakter des Hauses in Erwägung ziehen und auf die Grundbedürfnisse des konsumierenden Einwohners aufmerksam machen. Vgl. J. Lane: Das einfache Leben. Vom Glück des Wenigen. Bielefeld 2012. 427 R. Storm greift oft das Motiv der Heimkehr auf, aber nie wird es im Kontext des Heimatverlustes gebraucht, sondern eher als Akt der Versöhnung eines verlorenen Menschen mit seiner Familie und dem Herkunftsort oder als Erlösung vom tragischen Schicksal. Auf diese Art und Weise lässt sich ebenfalls die Rückkehr von Karoline in Odersaga, Kapitän Bother in Ein Stückchen Erde oder des Ehemannes in Ich schrieb es auf. L.F. Helbig spricht sogar von »vielmehrigen Heimkehrern« (Marianne, ihr Bruder Wilhelm in Das vorletzte Gericht; sog. Lumpenkerl in Ein Stückchen Erde). Vgl. Helbig, Vom Unglück der Zeit. Schlesien in einigen Romanen seit der Vertreibung (wie Anm. 305), S. 26.

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birgsregion428 in Erscheinung treten lässt. Sie stehen offensichtlich im Kontrast zum Berliner Leben, in welches sich Marianne nach der Heirat mit dem Industriellen Friedrich Merker geflüchtet hatte, und von dem sie nach dem Tod des Ehemannes mit Erleichterung Abschied nimmt. Nach einem ähnlichen Schema konstruiert Ruth Storm auch andere Häuser, indem sie die Raumfunktionen vervielfältigt, die Häuser selbst mit neuen semantischen sowie symbolischen Inhalten auflädt. In Ein Stückchen Erde. Roman aus schlesischen Bergen lässt der in den Ruhestand versetzte Marine-Kapitän Richard Bother ein Haus in Schmalbach, einer Ortschaft in der Gebirgslandschaft, errichten, in dem er Ruhe und Versöhnung mit sich selbst nach den schwerwiegenden Erlebnissen des Ersten Weltkrieges und dem Tod seines Sohnes im Kindesalter zu finden erhofft. Auch in diesem Fall bedingt das neu gebaute Haus den weiteren Verlauf der Handlung, bringt das Leben des Protagonisten sowie seines Umkreises näher und lässt den Wert des ländlichen Friedens am Vortag des Zweiten Weltkrieges verdeutlichen. Im Roman Odersaga. Das Schloß am Strom handelt es sich dagegen um mehrere Wohnsitze, die die Vertreter der Breslauer Familie Lehan im Besitz haben, die sie entweder verkaufen oder verlieren, um letztendlich im erträumten Schloß Odersaga ihre (vor)letzte Station zu finden. In diesem Roman findet eine Zergliederung in mehrere Haushalte statt: Zunächst geht es um den Haushalt der Eltern Lehan, Besitzer eines vermögenden bürgerlichen Hauses am Breslauer Stadtgraben, dann um den ihrer ältesten Tochter Anna Margarete (im aufblühenden oberschlesischen Kattowitz und im von deren Ehemann erworbenen Schloss Odersaga), den der mittleren Tochter Bertha und ihres Mannes August Rautenberg, die sich einer prächtigen an den Breslauer Zoo grenzenden Villa rühmen konnten, um die Münchener Bleibe der jüngsten Karoline, welche ihr erstes Atelier beherbergt, sowie das Sommerhäuschen der Familie in Schreiberhau und letztendlich das Landgasthaus in Niederbayern, in welchem die aus dem Krieg geretteten Angehörigen nach der Vertreibung aus Schlesien ihren Zufluchtsort finden. In ihrer Funktion bleibt das Haus in allen hier besprochenen Werken als Geborgenheits- und Zufluchtsort unverändert. Das Haus wird zwar jeweils als Sitz einer Familie dargestellt, aber dahinter verbirgt sich keinesfalls eine intakte, aus mehreren Vertretern und Generationen bestehende Sippe. Marianne Erpach und Bother sind alleinstehend, einige Familien kinderlos (Anna Margaretes und Karolines), manchmal sind deren Mit428 Es ist charakteristisch, dass in den ersten Nachkriegswerken Storms toponymische Bezeichnungen entweder fehlen oder später eingeführt werden, als ob die Autorin die autobiografischen Komponenten um der Objektivität willen verwischen möchte. Die in den 1970er Jahren entstandenen Werke kennzeichnet schon eine für die Neue Subjektivität typische persönliche Haltung und stärkere Neigung zum Autobiografischen (z. B. in … und wurden nicht gefragt oder Odersaga).

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Vom Materiellen zum Geistigen

glieder über längere Zeit abwesend (die Väter in Ich schrieb es auf und … und wurden nicht gefragt). Nichtsdestotrotz wird das Haus symbolisch zum Hort des Familiären, der Tradition und der Beständigkeit schlechthin. Eine solche Wirkung des Hauses wird durch dessen genaue Beschreibung sowie die Rekonstruktion der dort herrschenden Atmosphäre erreicht. Sie erfolgen jeweils etappenweise und werden aus dem Fokus eines hetero- (Das vorletzte Gericht, Ein Stückchen Erde) oder homodiegetischen Erzählers vollzogen (Ich schrieb es auf und … und wurden nicht gefragt). Da das Haus nicht bei der ersten Vorstellung komplex beschrieben, sondern in mehreren räumlichen Konstellationen präsentiert wird, scheint das eine durchdachte narrative Strategie zu sein, denn es verstärkt den Eindruck eines Aneignungsprozesses und entspricht dem Bewohnbar-Machen eines Hauses. Als Marianne Erpach in das Elternhaus zurückkehrt, wird sie zunächst mit ihrem Zimmer konfrontiert, das sie seit Jahrzehnten nicht betreten hat. Die ihr noch ganz wieder vertraute Ausstattung des unveränderten Zimmers wird mit einem Ausruf »Dieses Zimmer!« (VG, 10) begrüßt. Sowohl der Aufruf als auch weitere Überlegungen sind in Form von erlebter Rede formuliert, wodurch offensichtlich die Teilnahme an der Wahrnehmung des Raumes und die Identifikation mit der Betrachtenden erzielt wird. Der Gebrauch erlebter Rede zieht die Teilung der Perspektive zwischen Fokalisator, Figur und Leser nach sich und verursacht den Wandel des Zimmers von einem Erinnerungsort zu einem Erinnerungsraum, in dem sich individuelle Erlebnisse Mariannes mit den kollektiven Erfahrungen von anderen decken können. Das Kindheits- und Jugendzimmer löst nicht nur Erinnerungen an die dort glücklich verbrachte Zeit, sondern wird durch die Exposition zweier Ausstattungselemente zum Symbol der weiblichen Entfaltung, die sich während der Berliner Jahre vollzogen hat und erst jetzt nach dem Tod des Vaters und in Auseinandersetzung mit den Schrecken des Krieges ihre Abrundung erfährt. In ihrem alten Zimmer findet Marianne nämlich einen Spiegel vor, der ihr als ein »Imaginationsauslöser«429 einen Rückblick auf Vergangenes und zugleich eine Vorausschau in die Zukunft gewährt: Eine ganze Weile blieb Marianne mitten im Raum auf dem weichen handgewebten Schafwollteppich stehen. Sie hatte ihre Hände über die Brust gefaltet. In dem großen Wandspiegel, an dem rechts und links gedrehte Lichthalter mit Wachskerzen hingen, sah sie ihr eigenes Bild. […] Stand hinter ihr nicht jemand, der dunkel über sie hinweg mit in den Spiegel sah? Sie schloß die Augen, eine madonnenhafte Zartheit lag für Sekunden über ihren entspannten Zügen, dann holte sie aus ihrer Tasche Streichhölzer hervor und steckte die Lichter an. Es waren wohl noch dieselben Kerzen, die damals zum 429 Über die memoriale Funktion der Dinge vgl. J. Joachimsthaler: Gedächtnis-Imperien – Die Rückgewinnung literarischer Imaginationshoheit über das Vergangene. In: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1945, hrsg. von C. Gansel, M. Joch, M. Wolting. Göttingen 2015, S. 177–193.

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letztenmal gebrannt hatten. Gewiß war es so, alles blieb hier an seinem Platz, wenn auch die Zeit weiterrollte, wenn selbst eine Welt in Scherben ginge. (VG, 10f.)

Die Aneignung zweier Metaphern – des Spiegels und des Lichtes – weckt hiermit zwangsläufig Assoziationen mit der für die feministische Literaturkritik charakteristischen Sinnbildung, die im Spiegel die »Urszene des Gedächtnisses« und somit die Auslösung einer neuen identitätsstiftenden Lebensweise von Frauen erblickt430. So lernt Marianne ebenfalls das für viele Jahre verlassene Elternhaus aufs Neue kennen, indem sie weitere Zimmer ganz genau betrachtet, einzelne Gegenstände in den Blick nimmt und dessen Bedeutung neu (be)wertet. Beim Hinsehen durchwandert sie ausgewählte Episoden aus der Familiengeschichte, besonders diejenigen, die von deren Aufschwung und Position zeugen. Trotz der vom Erzähler signalisierten Wandlung im Erpachshof, des Wechsels des Besitzers vom Großvater zum Vater und jetzt zu Marianne, erliegt diese Veränderung keiner Materialisierung, denn das Haus gibt das Bewusstsein der Kontinuität und Beständigkeit von Familientradition, welche durch das Fokalisierungsmanöver eines vom heterodiegetischen zum homodiegetischen wechselnden Erzählers in Erscheinung tritt: In steifer Ordnung standen die dunklen holzgeschnitzten Stühle an den Wänden. Auf dem langen, blankgescheuerten Tisch leuchtete wie in jedem Herbst die flache Messingschale mit Zierkürbissen, die der ovale Goldspiegel wiedergab, der in leichter Neigung zwischen den beiden Balkontüren hing. […] Marianne tastete mit der Hand fast zärtlich über die kühle, silbrige Fläche, so als streichelte sie die Gesichter, die einst darin sich wiedergegeben hatten. (VG, 13)

Die Transposition des Ortes in einen Raum vollzieht sich in diesem Moment mit Hilfe der engrammatischen Kraft von Gegenständen, die akribisch als Tisch, Stühle, Messingschale, Goldspiegel, Balkontür aufgezählt und in ihrer Beschaf430 A. Günter äußert sich jedoch kritisch über die Selbstbespiegelung von Frauen sowie über die Spiegelung in einer anderen Frau und argumentiert diesen scheinbaren Identitätsprozess wie folgt: »Die Spiegelung in der anderen Frau verspricht einer Frau, so die frauenbewegte Vorstellung, zu sich selber in ein befreiendes und autorisierendes Verhältnis zu kommen. Der Spiegel, in dem die Blicke der anderen reflektieren, ermöglicht die Vorstellung von Ganzheit, Identität und Selbstentwurf. Es kann jedoch ein kontraproduktives Körper-anKörper-Sein mit anderen Frauen zum Resultat haben, verursacht durch das Fortwirken einer unverarbeiteten, problematischen, frühkindlichen Abhängigkeit.« A. Günter: Literatur und Kultur als Geschlechterpolitik. Feministisch-literaturwissenschaftliche Begriffswelten und ihre Denk(t)räume. Freiburg 1997, S. 130. Über verschiedene Deutungen des Spiegels in der Literatur von Frauen vgl. Weigel, Die Stimme der Medusa (wie Anm. 73), S. 267–298, hier: S. 287; J. Drynda: Spiegel-Frauen. Zum Spiegelmotiv in Prosatexten zeitgenössischer österreichischer Autorinnen. Frankfurt a.M. et al. 2012. In den 1970er Jahren wurde in der bundesrepublikanischen Frauenliteratur das Spiegel-Motiv als Protest gegen den prüfenden Blick des Mannes gebraucht und durch die Metapher einer »sich selbst verdoppelnden Frau« ergänzt, die auch auf Marianne zutrifft. Vgl. M. Czarnecka: Frauenliteratur der 70er und 80er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Warszawa / Wrocław 1988, S. 164.

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fenheit charakterisiert werden. Erscheinen diese Dinge als an die Tradition der Familie festgebunden, spiegelt sich in ihnen deren Geschichte wider, so werden sie im Prozess der Betrachtung der Vergangenheit entrissen und für die Gegenwart tauglich, sogar unentbehrlich gemacht. Das Vergangene wird vergegenwärtigt, die Vorfahren leben drinnen fort, und sie werden nun von der weiblichen Repräsentantin durch ihre optische und haptische Wahrnehmung nochmals heraufbeschworen und dadurch in Bewegung gesetzt. Dieser Prozess entsteht durch die Verlegung der Fokalisierungsperspektive vom Aussehen des Zimmers auf Marianne, vom Äußeren auf das Innere der Protagonistin, und es führt dazu, dass sie ins Blickfeld des Geschehens gerückt wird und zum Medium nicht nur des Erzählvorgangs, sondern auch des Erinnerungsprozesses wird. Durch die darauffolgende Anführung eines von der Kinderfrau mehrmals zitierten Märchenspruches »Spieglein, Spieglein an der Wand« (VG, 13) wird eine Brücke zwischen der Vergangenheit, die die Vorfahren und Bekannten samt ihrer gemeinsam verbrachten Feiertage umfasst, und der Gegenwart, die sich für Marianne im Moment des Betretens des Festsaals im Erpachshof bekundet, und der noch unbekannten, aber zu erahnenden Zukunft, die sich schon jetzt gespenstisch über das Familienerbe erstreckt. Über diese Verschmelzung von Zeit, Raum und Erinnerung reflektiert Marianne wie folgt: Seltsam, daß Gegenstände älter und dauerhafter sein können als lebendiges Blut, seltsam, daß Gegenstände sprechen können. Ist nicht der ganze Saal mit Menschen angefüllt? Brennen nicht die auf der langen Tafel mit dem feinen schlesischen Damast unzählige Kerzen? Funkelt nicht in den alten böhmischen Gläsern zwischen duftenden Rosenranken köstlicher Wein? […] Ach. Spieglein, Spieglein an der Wand, viel hat in deinem Rahmen gelebt – unzählige werden noch in dich schauen […]. (VG, 13)

Diese im Haus schlummernden, »verschieden gearteten Dynamismen«431, die nach Gaston Bachelard auf Kontinuität dreier Zeitdimensionen beruhen, kommen Marianne allerdings nicht gleich in den Sinn; erst durch weitere Erkundung des elterlichen Hauses, durch Wahrnehmung von Räumen und Dingen und die Schaffung einer Zwischen-Kontaktzone wird sie sich der Bedeutung des Hauses immer bewusster. Bei dieser Erkundung wird sich der Spiegel immer als ein Erinnerungsmedium erweisen, das nicht nur die Familiengeschichte, die Kindheits- und Jugenderlebnisse der Protagonistin zum Ausdruck bringt, sondern auch das Wesen und die Wirkung des Erinnerungsprozesses grundsätzlich hinterfragt, was ohne die Auffächerung der Erzählperspektive, ohne den Wechsel vom heterodiegetischen zum homodiegetischen Fokalisator nicht möglich wäre. Die von Marianne gestellten Fragen verstärken zusätzlich die Wirkung des

431 G. Bachelard: Poetik des Raumes. München 1960, S. 38f.

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Spiegel-Mediums, sie scheinen nämlich Mariannes Gedächtnispotenzial zu steuern sowie das des Lesers zu betätigen. Die engrammatische Funktion der Dinge wird demnächst durch die Einführung eines neuen Gegenstandes bestätigt, der Marianne immer fester an den häuslichen Raum bindet. Als sie als neue Eigentümerin des Erpachshofes einen Schlüsselbund erhält und dadurch zur Wächterin von »Ordnung und Besitz« (VG, 17) des Jahrhunderte alten Familienvermögens wird, kommt es wiederum zur Dynamisierung ihres Verhältnisses mit der Umgebung und zur Verinnerlichung der Außenwelt. Sie wird zur Herrin des Hauses gekürt und nimmt diese Auszeichnung voller Würde an. Je mehr ihr die Tatsache, dass sie in einigen Monaten dieser ›Macht‹ beraubt werden könnte, bewusster wird, desto stärker geht ihr die Schwere dieses Vermächtnisses auf. Die symbolische Aussage des aus mehreren Teilen bestehenden Schlüsselbundes macht auf zahlreiche Erinnerungsfäden aufmerksam, die nur im Gefüge eine Einheit bilden und sich vor allem in materieller Form als Träger des Vergangenen und gleicherweise der Gegenwart entpuppen, was durch die Wiedergabe von haptischen Eindrücken wiederum verstärkt wird: Und Monate später, als sie das nutzlos gewordene Bund zwischen zerbrochenem Hausgerät, von Wind und Wetter verrostet, in einer Wasserpfütze wiederfand, fühlte sie, daß mit diesen kleinen und großen Schlüsseln eine Welt zusammengehalten war, die Ordnung und Wohlhabenheit, die generationenlang einen großen Kreis von Menschen erfüllte, ja einem ganzen Volk zugehörte. Sie ließ einen Schlüssel nach dem anderen durch die Finger gleiten. (VG, 18)

Marianne bildet im Ensemble der Storm’schen Figuren eine Ausnahme, in dem sie in das Elternhaus nach längerer Abwesenheit zurückkehrt, es wiederfindet, betastet und parallel dazu die Fähigkeiten des Erinnerungspotenzials, dessen Einschränkungen einerseits und Wirksamkeit andererseits hinterfragt. Im Fall späterer Romane und deren Protagonisten wird das Haus ebenfalls zum Symbol der Heimat erhoben, aber es hat schon eine andere Vorgeschichte. Es wird nämlich erbaut (Ein Stückchen Erde), durch den Kauf erworben (Odersaga) oder ist seit eh und je ein fester Sitz der Familie, durch welchen deren Identität unerschütterlich zu sein scheint (… und wurden nicht gefragt, Ich schrieb es auf). Auf der Entstehungsgeschichte dieser vier Häuser und deren Funktion beruhen jeweils Konstrukte von Räumen, die sich als unterschiedliche Vorstellungen von Haus als Gebäude und Heim als menschliche Gemeinschaft begreifen lassen und sich darüber hinaus als »Topographie [des] inneren Seins«432, so Gaston Bachelard, entpuppen, denn – den Gedanken des französischen Philosophen weiter verfolgend – »wenn wir uns an ›Häuser‹ und ›Zimmer‹ erinnern, lernen wir damit 432 Ebd., S. 31.

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in uns selbst zu ›wohnen‹.«433 Schaut man auf die einzelnen Häuser im Prosawerk von Ruth Storm, so fällt es auf, dass der Fokus in Ein Stückchen Erde auf den Innenraum und die Verteilung von Stuben gelegt wird, denn ausgerechnet der Bau des Hauses »jenseits aller Bequemlichkeit« (SE, 5) soll die Lücke nach dem Tod des Sohnes füllen, deswegen spiegelt die genaue Beschreibung des Wohnungsplans einerseits das Netz der geistigen Verwirrung des unglücklichen Vaters wider, andererseits soll die übersichtliche Struktur der neuen Bleibe dem Protagonisten zur Umorientierung im Leben verhelfen. Sohnshaus war kein Wohnhaus im landläufigen Sinne, auch keine Hütte, es glich im Stil einer alten Gebirgsbaude. Ein breiter, steingepflasterter Flur teilte es. Rechts lagen die Wohnräume, links befand sich ein großer Stall mit mehreren leeren, holzverschlagenen Viehständen. Über das ganze Erdgeschoß lief der Boden. Der hintere Ausgang führte zu einem kleinen Holz- und Geräteschuppen und zum Quellbach, der sein Lied in einen Steintrog plätscherte. (E, 6)

Die Benennung des neuen Hauses von Kapitän Bother als »Sohnshaus« soll die Kontinuität der Sippe und eine materielle Nachlassenschaft gewähren. Die symbolische Aussage des Hauses, das Bother im Moment des Kriegseinzugs verlässt und wahrscheinlich nie wiedersehen wird, erfährt im selbst eingepflanzten oder eigentlich umgepflanzten Baum ihre semantisch eindeutig kodierte Ergänzung. Bother hat nämlich einen Buchensämling nachts im Wald ausgegraben und ihn hinter dem neugebauten Haus eingepflanzt, in die Grube das Foto seines verstorbenen Sohnes hineingeworfen, damit »die Wurzeln des Bäumchens sich darüber schützend breiten konnten« (E, 26). Der Baum soll den Kapitän von der Vergangenheit befreien und an die Gegenwart binden; er bedeutet, ähnlich wie das Haus und der Schlüsselbund in Das vorletzte Gericht, Kontinuität, Stabilität und innere Ruhe. Dass sich der Protagonist im eigenen Haus unterhalb des Braunen Berges niederlassen und dort einwurzeln will, verdeutlicht nicht nur die eingepflanzte Buche, sondern eine den Roman durchziehende Baum- und Holzmetaphorik: Die häusliche Geborgenheit wird nämlich von der Eichentür beschützt (E, 5), die Ansammlung von Holz »für die harten Monate« (E, 103) gilt als Garant des Überdauerns, die Verzierung der Decke und Wände mit Holz (E, 75) erfreut die Augen. Es ist hervorzuheben, dass in Ein Stückchen Erde das Haus nach eigenem Entwurf des Protagonisten erbaut wurde, so kennt der heterodiegetische Erzähler beinahe jedes Element seiner Konstruktion und Einrichtung und kann sogar den Leser durch die einzelnen Räume führen und sie für ihn beschreiben. Parallel dazu wird die Lebensgeschichte des Kapitäns, der Verlust seines Sohnes und der Transfer der neuen Umgebung (Nachbarn, Arbeiten, Haushalt) in die häuslichen Gemächer vollzo433 Ebd.

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gen. Trotzdem lässt sich Bothers Haus mit dem von Marianne nicht gleichsetzen, denn im ersten Fall bleibt das Haus nur ein Gebäude, dem es an Tradition, Kontinuität und Beständigkeit mangelt. Diese Attribute, die das Atmosphärische des Hauses ausmachen, lassen sich durch nichts ersetzten oder kompensieren. Im Gegensatz zu beiden Häusern, die zwar unterschiedlich, aber in ihrer Heimstruktur beständig, erscheint das Haus im späteren Roman Odersaga434. Hier wählt die Schriftstellerin eine andere Form des Hauses, das die anderen in Größe und Funktion übertrifft. Das nah an der Oder gelegene Schloss soll, den früheren Häusern ähnlich, für Anna Margarete Gaebler zum Geborgenheits- und Glücksort werden. Die vom Ehemann beschenkte Protagonistin muss und will dieses Glück mit den anderen Familienmitgliedern, Bekannten und Freunden teilen, die von Schicksalsschlägen getroffen in geräumigen Gemächern des Schlosses immer eine Zuflucht finden können. So wird das Schloss als Sitz von verschiedenen Generationen, Gesellschaftsschichten und Völkern zu einer Festung stilisiert, die man erst durch zwei Höfe vom Außen erreichen kann, und als solches heterotopisch wirkt, was aus einer heterodiegetischen Perspektive kommentiert wird: Die ganze Anlage wirkte in der Art alter Wehrhöfe festungsmäßig, obwohl hinter dem zweiten Hof mit den Stallungen ein ausgedehnter Park lag, der mit seinem schilfumkränzten Teich und der Pappelallee in den baumlosen Raum der Wiesen und Äcker natürlich überging. […] Odersaga hatte öfters seinen Besitzer gewechselt, es mußte im Lauf der Jahrhunderte verschiedene An- und Umbauten erleben, ohne seinen Stil dabei einzubüßen. Ja es schien, als habe das alte Bauwerk den jeweiligen Eigentümer gezwungen, nichts Unpassendes hinzuzufügen […]. (O, 7)

Das Schloss besitzt, genauso wie Marianne Erpachs und Richard Bothers Domizile, ein eigenes Zentrum, »Herz« (O, 7) genannt, in dem sich die wichtigsten Lebensmomente der Familie, Vergangenheit und Gegenwart von Individuen, Gruppen und Nationen vereinen. Diesen zentralen Platz nehmen eine mittelalterliche Kapelle und ein Amorbrunnen ein, also Repräsentanten zweier gegensätzlicher Welten – einer sakralen, auf Tradition und Glaubensfundament beruhender Ordnung und einer weltlichen, flüchtigen und zufälligen. Während

434 Die Odersaga schreibt sich gattungsspezifisch in die Tradition des Familienromans ein, der zum Schauplatz einer Familiengeschichte wird. Mit der Wahl der Gattung belegt Ruth Storm ihren Versuch, den Entwicklungstendenzen der BRD-Literatur Schritt halten zu wollen. In den 1970er und 1980er Jahren sind nämlich viele Romane aus der Feder der Schriftstellerinnen gekommen (z. B. von I. Drewitz), die sich zum Ziel setzten, weibliche Privatgeschichte zu rekonstruieren. S. Weigel kommentiert diese Erscheinung wie folgt: »Damit haben die Schriftstellerinnen eine neue Variante der Familiensaga geschaffen, Texte, in denen der Blick auf die Familiengeschichte sich auf den Zweig ihrer weiblichen Mitglieder konzentriert, um Frauen-Erfahrungen im Generationenwechsel zu beleuchten. So wird historische Erfahrung auf subjektivem Wege angeeignet.« Weigel, Die Stimme der Medusa (wie Anm. 73), S. 155.

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sich aber beide Häuser als Garant der Beständigkeit, Hoffnung auf das neue Leben und Unerschütterlichkeit bewährter Werte interpretieren lassen, wird dem Schloss Odersaga eine andere Funktion zugeschrieben. Zwar wird Gaeblers neuer Sitz an der Oder als Objekt aus »Wahrheit und Traum« (O, 157) präsentiert, wo viele Familienmitglieder und Fremde Zuflucht finden, wo die Familie zusammentrifft, feiert und gemeinsam die schwierigsten Momente des Lebens zu verkraften versucht, trotzdem scheint hier der Geist der Häuslichkeit und des Glückes nur kurzlebig zu ein, was die Amor-Figur zum Ausdruck bringt. Sie wird nämlich Zeuge von Schicksalsschlägen der Bewohner, vom Tod des Vaters Lehan, dem Wahnsinnanfalls des Forstmeisters, aber auch der Liebesfaszination von Karoline. Das Plätschern des Brunnens gibt den Odersaga-Bewohnern zwar das Gefühl eines wiederkehrenden Rhythmus, einer Stabilität, aber es ermahnt vor dem »Hinwegspülen von Vergangenheit und Zeit« (O, 232) und erinnert an die Vergänglichkeit435. Die Aura der Vergänglichkeit durchdringt das Schloss, seitdem das Ehepaar Gaebler es betreten hat. Im Erzählerbericht wird zwar auf dessen ins Mittelalter zurückreichende Geschichte, auf mehrere Generationen der Bewohner, die ihren verdienten Ruheplatz in der Kapelle gefunden haben, hingewiesen, aber mit dem Tod des letzten Besitzers und dem Verkauf des Schlosses an Fremde zerbricht das Alte und es kann nicht mehr wiederhergestellt werden. Das Schloss Odersaga kennzeichnet freilich eine materielle Transparenz (Pflege um den Besitz, unveränderter Rhythmus von zyklischen Arbeiten, Sterbe- und Geburtsfälle), aber es evoziert auch eine rettungslos heranrückende Endsituation. Zunächst greift der Erste Weltkrieg in das Alltagsgeschehen des Familienschlosses ein und bringt den unglücklichen Tod von Franz Gaebler, dann auch von Karolines frisch vermählten Mann sowie Trauer um den in Russland für viele Jahre verschollenen Rautenberg, aber das Tragische verbindet die Familie und macht sie stärker. Erst das Hereinbrechen des Zweiten Weltkrieges in den Tagesrhythmus des Odersaga-Schlosses entfremdet es und macht seine bisher als zentral geltenden Objekte zu nichts bedeutenden und anonymen, die man bald aus der Erinnerung verdrängen wird. Dieser Prozess wird erneut vom heterodiegetischen Erzähler in kurzen Sätzen nähergebracht: Odersaga hatte begonnen, sein Gesicht zu verlieren. Schloß, Terrasse, der Innenhof waren vom Alltag erfüllt. Flatternde Wäsche, Kindergeschrei, ein ständiges Kommen und Gehen hatten das einst so harmonische Bild verändert. Selbst Amors Zeit schien vorbei zu sein, niemand nahm Notiz von ihm, so wie er unbeteiligt zuschaute, was sich zu seinen Füßen abspielte. (O, 285f.) 435 Auf diese Attribute verweist auch M. Wolting in ihrem dem Motiv des Brunnens in der deutschen Literatur gewidmeten Buch. Vgl. M. Wolting: Motyw studni w literaturze i sztuce niemieckiej: studium kulturoznawcze. Wrocław 2005, S. 57f.

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Der Niedergang des Schlosses – die Zerstörung des Brunnens, die Schändung der Kapelle durch die Entfernung der Toten aus der Gruft und letztendlich das Abbrennen der ganzen Schlossanlage – bringt das definitive Ende einer ganzen Ära. Aus einem Haus werden nur Steine, genauso wie aus anderen in diesem Roman zerstörten Häusern (Berthas Haus am Breslauer Zoo oder Gaeblers Kattowitzer Wohnung). Der für die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Romane von Ruth Storm charakteristische materielle Charakter der Heimat, der sich in der Gegenwart vom Haus als solches, traditionsreicher Gegenstände / Objekte (Schüssel, Spiegel, Brunnen, Kapelle) oder symbolischer Formen des Besitzes (Schlüsselbund) manifestiert, findet man in Odersaga nicht mehr. Das Materielle verliert hier an Bedeutung und erscheint als vorübergehend. Eine Erklärung dafür liefert die Aussage des Familienfreundes, des Historikers Pohl, der im niederbayrischen Landhaus – dem Zufluchtsort der aus der Heimat und dem Schloss Vertriebenen – die dort Versammelten auf eine ihnen bisher unbekannte Definition des Heimatsbegriffs aufmerksam macht: »Wir sind älter, ja beinahe alt geworden! Aber gerade unser Alter«, rief er fast leidenschaftlich aus »verpflichtet uns als Augenzeugen, für das, was wir verloren haben, noch etwas zu leisten. Unser geistiges Erbe muß weiterleben! Die angestammte Bevölkerung ist die Seele eines Landes, wenn diese Seele plötzlich herausgerissen und in alle Winde verstreut wurde, verliert das Land für immer sein ursprüngliches Gesicht. Unser Schlesien ist untergegangen, weil man es seiner Seele beraubte. Aber in uns lebt sie weiter! […].« (O, 31)

Der Brunnen und die Kapelle als kodierte Formen der ›unterzugehenden Seele‹ waren also von Anfang an zum Verhängnis verurteilt und konnten die Kriegswirren nicht überstehen. Nur das Nicht-Materielle kann fortbestehen und wird von Menschen, unabhängig von Ort, Tradition und Beziehungen, mitgetragen. Ein so gedeutetes Haus verliert seine statische Natur und wird in Bewegung gesetzt. Aus den dargestellten Bildern des Hauses ist ersichtlich, dass es in Ruth Storms Prosawerk mehrere, im Laufe ihrer schriftstellerischen Aktivität variierende Funktionen erfüllt. Das Haus ist einerseits als Besitz, Tradition und Erbe in seiner Materialität verhaftet und wird andererseits in dieser Gestalt gleichsam als flüchtig und vergänglich gedeutet. Die Fokalisierung auf das Haus erfolgt in der Regel aus der Perspektive eines heterodiegetischen Erzählers, der die Erzählung an die Hauptfiguren (Marianne, Bother, Schwestern Lehan etc.) abgibt, um in erlebter Rede die »Konstruktion des Inneren«436 – sowohl des Hauses als auch seines Besitzers – wiederzugeben. Sei es als eine Metapher der Geborgenheit und Selbsterfahrung, sei es als ein Erinnerungsmedium, kann das Haus nicht alleine

436 Bachelard, Poetik des Raumes (wie Anm. 431), S. 31.

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stehen und von der Welt isoliert bleiben. Zwar kann es – so Bachelard – als eine Zelle betrachtet werden, aber auch in dieser Form muss es sich mal der Welt öffnen, transzendieren und die Dialektik des Drinnen und Draußen437 für sich entdecken und nutzen, denn »die Räume, die man liebt, wollen nicht immer eingeschlossen sein! Sie entfalten sich. Man könnte sagen, sie lassen sich leicht anderswohin übertragen, in andere Zeiten, auf verschiedene Traum- und Erinnerungsebenen.«438 Diese Notwendigkeit des Sich-Öffnens von häuslichen Räumen wohnt auch dem Haus-Bild Storms inne, dieses wird allerdings unterschiedlich realisiert: In Das vorletzte Gericht und Ein Stückchen Erde spielt die Handlung meistens drinnen, abgesehen von gelegentlichen Besuchen, Spaziergängen oder Geschäftsreisen der Hauptfiguren; in Odersaga gelingt es, einen Übergang aus dem geliebten Raum in einen Geistig-Abstrakten symbolisch abzubilden. In …und wurden nicht gefragt und Ich schrieb es auf lässt sich dagegen eine Reflexion über das ontologische Verhältnis zwischen Drinnen und Draußen erkennen.

3.2

Drinnen und Draußen oder die Schwelle des Hauses übertreten

In … und wurden nicht gefragt, wo sich die Bewegung des Schließens und Öffnens von Räumen am besten nachvollziehen lässt, entspricht die Fokalisierung einerseits dem vertrauten Schema und wird auf das Haus, dessen Mitglieder und Familienverhältnisse ausgerichtet, andererseits zieht sie immer weitere Kreise, welche – außer der Familie – zunächst deren Umgebung, dann das städtische Milieu und im Weiteren die damaligen kultur-gesellschaftlichen Prozesse einer jungen Industriestadt umfassen, um letztendlich der großen Geschichte Platz einzuräumen. Die räumlichen Begebenheiten sind in den fragmentarisch aufgefassten Erlebnissen des namenlosen Kindes präsent und sie spielen eine nicht minder wichtige Rolle als die zeitlichen. Oberschlesien, insbesondere seine Hauptstadt Kattowitz, wird hier im Sinne von Henri Lefebvre zum Produktionsraum, der nicht nur die innere Entwicklung des Kindes und dessen Leben determiniert, sondern auch die Ereignishaftigkeit, Figurenkonstellation und -konzeption prägt sowie zum Träger der politisch-kulturellen Verhältnisse wird. Im Falle des Kindes scheint auch dessen Habitus eine wichtige Rolle zu spielen. Das Mädchen, das sich chronologisch an die frühesten Jahre seiner Kindheit, Schulzeit – zunächst im oberschlesischen Kattowitz, dann in der Gnadenfreier Bildungsanstalt – zurückerinnert, ist Tochter des prominenten Drucker-, Ver437 Vgl. ebd., S. 33. 438 Ebd., S. 84.

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Drinnen und Draußen oder die Schwelle des Hauses übertreten

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lags- und Zeitungshauses, dessen Name aber nicht erwähnt wird439. Das Haus des Kindes ist zugleich der Redaktions- und Druckereisitz, was dazu führt, dass das Kind mitten in den Wirren des politischen Geschehens aufwächst, was das Haus und im Weiteren den Begriff der Heimat national, kulturell, sozial sowie konfessionell überschattet. Das Leben im Grenzland, wo drei Großmächte – Russland, Deutschland und Österreich zusammenstoßen, und wo ethnische Minderheiten zusammengewachsen existieren, lehrt das Kind die Dialektik zwischen Drinnen und Draußen, Haus und Welt, Eigen und Fremd zu unterscheiden, ohne sich dieser Differenzen anfänglich überhaupt bewusst zu sein. Mit einer dem Taugenichts eigenen Naivität entdeckt das Mädchen das Funktionieren und die Regeln eines bürgerlichen Hauses, Dilemmata deren Dienerschaft, die unverständliche Sprache der Wasserpolacken, Straßen und Gebäude der aufblühenden Industriestadt Kattowitz samt ihrer unzähligen Fördertürme, Schornsteine, aber auch Wälder und Grünanlagen. An viele sinnliche Erfahrungen schließen sich existenzielle Grenzsituationen an: der Tod der im Haus angestellten Wäschefrau, die Armut in den Kattowitzer Mietskasernen, die Überwindung einer tödlichen Krankheitsgefahr im Gnadenfreier Internat, Bilder vom Ersten Weltkrieg und dem dritten schlesischen Aufstand, der die Familie zum Abschied von der Heimatstadt zwingt und die Übersiedlung nach Schreiberhau in Niederschlesien nach sich zieht. Die Verknüpfung von Privatem und Politischem, Innerem und Öffentlichem wird durch eine Distanz hervorrufende Perspektive des Kindes verstärkt, was die Konzentration auf viele Details ermöglicht, die dabei ein buntes Panorama der Heimat entstehen lassen, einer Heimat, in welcher jedes Element seine eigene Geschichte besitzt; sie alle bilden jedoch ein Netz von systembedingten Umständen. Die Fokalisierung erfolgt mit den Augen eines Kindes, welches sich auf die Wahrnehmung von ausgewählten Objekten konzentriert und diese zu Akteuren der Handlung sowie des dynamischen Heimatbegriffs macht. Genauso wie im Fall der zuvor besprochenen Romane wird auch hier zunächst das Familienhaus in den Vordergrund gestellt. Es wird – dem Roman Das vorletzte Gericht ähnlich – nicht nur als Lebensraum, sondern als Erinnerungsmedium der Stadt- und 439 Es lassen sich hier zwangsläufig Assoziationen mit dem Vater der Schriftstellerin Carl Siwinna feststellen. Die Strategie des autobiografischen Schreibens bleibt auch im Falle dieses Werkes dieselbe: Die Autorin sucht einerseits dessen generativen Charakter zu bekräftigen, andererseits will sie durch das Vermeiden der Ich-Form das Autobiografische leugnen. Das Bestreiten des Autobiografischen vollzieht sich zusätzlich durch den Verzicht auf den Eigennamen der Hauptfigur. Mit diesen Strategien gibt die Autorin zu verstehen, dass sie ihr Werk nicht als Selbstlebensbeschreibung rezipiert wissen will. An dieser Stelle wäre wohl auf den autobiografischen Pakt zu verweisen, der ein verständnisvolles Kommunizieren zwischen Autor und Leser impliziert. Vgl. P. Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hrsg. von G. Niggl. Darmstadt 1989, S. 214–257.

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Vom Materiellen zum Geistigen

Familiengeschichte präsentiert. In den Vordergrund der Darstellung werden allerdings nicht die Privaträume (z. B. Ess- und Wohnzimmer, Kinderstube etc.) gerückt, sondern die eher »öffentlichen« Räumlichkeiten der Druckerei und des Redaktionsbüros. Diese Orte, die das Leben der Familie seit Jahrhunderten bestimmen, werden zum Herz des Hauses, das eine Symbiose mit der Stadt sowie mit der Region eingeht. Symbolisch kommt diese Verknüpfung in einem alten im Konferenzzimmer der Redaktion hängenden Stich Kattowitz in den 1830er Jahren zum Ausdruck, welchen das Kind als erstes Objekt des Elternhauses vorstellt. Durch diese Fokussierung auf das Gemälde kommt es zu einer Verknüpfung von Privatem und Öffentlichem, von Haus und Außenwelt. Die Geschichte der Familie, des Unternehmens und der Stadt gehören zusammen, worauf der heterodiegetische Erzähler ausdrücklich aufmerksam macht. Der das Familienhaus umgebende Garten musste dem städtischen Neubau Platz machen, die ländlichen Lebensformen wurden durch die neuen einer aufblühenden Kohle- und Schwerindustriestadt ersetzt. An diesen Prozess erinnert der Stich, welcher dreidimensional den Aufschwung von Kattowitz, von Drucker- und Verlagsfamilie großmütterlicherseits und im Weiteren von des Kindes Identitätsbildung wiedergibt. Das Kind nimmt diese Wandlungsprozesse vorweg, indem es das Bild genau betrachtet, als ob es sie festhalten und vor dem Auslöschen aufbewahren möchte: Das Kind sah sich dieses Bild oft an. Es gehörte in Vaters Sammlung. Auch oben in der Wohnung hingen ähnliche Stiche von Hütten und Gruben, einige waren koloriert. Aber dieses Bild im Konferenzzimmer war etwas Besonderes! Kühe und Schafe, bäuerliche Menschen bei der Arbeit und vespernde Kinder unter einem schattigen Baum belebten den Vordergrund. Ein Leiterwagen mit kleinen abgemagerten Pferden mahlte durch die tiefe Spur eines Landweges, und am Horizont flammten Feuer mit Rauch auf. Die Industrie schrieb ihre ersten Zeichen in den weiten Himmel über der oberschlesischen Erde. (UwnG, 6)

Obgleich das Bild einen gewaltsamen Wandel und die daraus resultierende Unstabilität vorwegnimmt, erblickt das Kind darin doch eine Kontinuität der individuellen sowie der allgemeinen Geschichte, in der aber Familie und Stadt keine Gegensätze, sondern eher eine Einheit bilden. Beide scheinen sogar wie die Wurzeln stark in den Boden, in die Geschichte und Tradition des Ortes eingewachsen zu sein, das Gedächtnis und die Identität des dazu gehörenden Menschen prägend. Ähnlich wie im Fall Mariannes in Das vorletzte Gericht wird auch hier einem Gegenstand engrammatische Kraft verliehen. Das Bild löst Reflexionen über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukunft aus, hinterfragt die Rolle des Erinnerungsprozesses und situiert ihn zwischen Privatem und Öffentlichem versus Individuellem und Kollektivem. Das Kind übernimmt in dieser Situation

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die Rolle des Betrachters und nimmt in erlebter Rede zu diesen Prozessen Stellung: Vielleicht hatte der Baum auf dem Bild an der Stelle gestanden, wo sich jetzt ihr Haus und die Druckerei befanden. Ob seine Wurzeln noch unter den Kellern lagen? Beim Einschlafen war dem Kind, als rauschten seine Äste weiterverzweigt über ihm, aber vielleicht war es nur das emsige Lied der Zeitungsmaschine, das im Schlaf ferner und ferner wurde. Seltsam, warum veränderte sich alles fortwährend? Erst wich das Feld, dann Großmamas Garten – würden die festen Häuser und Straßen auch einmal fallen? (UwnG, 7)

Der Wandel sowohl der persönlichen als auch globalen Ereignisse wird in den Erinnerungen des Kindes dynamisiert; sie sollen von nichts aufgehalten werden. Für diesen fortschrittlichen Prozess steht vor allem die Druckerei stellvertretend. Die Druckerei lebt im Kinde, beschäftigt seine Sinne auch dann, wenn die Pressemaschinen außer Betrieb sind und die alltägliche Geschäftigkeit stillgelegt wird: Tag und Nacht dasselbe Geräusch. Beim Einschlafen und Erwachen. In der Frühe schlurften Schritte im Hof, dazu Gemurmel. Wartende Zeitungsträger, Frauen und Männer, manchmal auch Kinder. Selbst bei geschlossenen Fenstern war es nicht still. Das Geräusch, dieser maschinelle Singsang der Rotationsmaschinen mit seinem gleichmäßigen eiligen Kehrreim, drang wie Staub durch alle Ritze, wenn es einmal verstummte, erschrak das Kind. Aber auch die Stille lebte, sie hatte ihre eigene Stimme; in den Ohren rauschte sie, oder sie warf den Schrei einer hoch über den Dächern fliegenden Schwalbe prickelnd durch den Körper. (UwnG, 5)

Wie der die Nase durchbohrende Staub, so dringt sich auch das Geschäftsleben des Zeitungs- und Druckereihauses in das Innenleben des Kindes ein und regt seine Neugier an. Infolgedessen durchwandert es zunächst die Zimmer des Elternhauses und erkundet seine offenen wie auch vor den kindlichen Augen verborgenen Räume. Es bewegt sich dabei quasi nach dem Haus-Konzept von Gaston Bachelard, nach dem das Haus eine »Anregung für unser Vertikalbewußtsein […], für das Zentralisierungsbewußtsein«440 ist, und es geht von unten nach oben, vom Keller bis zum Dachboden, »vom Irrationalen zum Rationalen«441. Nach der Druckerei befinden sich auf der Erkundungsroute des Kindes die Küche und Waschküche, in denen es Kontakt mit den polnischen Dienstmädchen hat. Diese jungen Frauen Anna und Sophie, ähnlich wie die Waschfrau Therese, die Flickerin Fräulein Kopetzki oder die Köchin, führen das Kind in die Welt der Erwachsenen, die ihm als neu, manchmal auch rätselhaft, sogar exotisch erscheint. Das in einem bürgerlichen Haus aufwachsende Mädchen ist aus dem Lebensbereich der Eltern praktisch ausgeschlossen, denn der 440 Bachelard, Die Poetik des Raumes (wie Anm. 431), S. 50. 441 Ebd., S. 50.

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Vater ist mit dem Geschäft beschäftigt und die Mutter erscheint gelegentlich als Nebenfigur. Diese Frauen, die polnischer bzw. oberschlesischer Abstammung sind, was das Kind bis zum Ausbruch des Schlesischen Aufstandes nicht beachtet, enthüllen vor ihm viele Mechanismen zwischenmenschlicher Beziehungen, wie z. B. die Existenz des sog. Milchbruders und dessen Mutter, die das Kind statt seiner leiblichen genährt hat, oder das politische Engagement des Sozialisten Kopetzki, der in Berlin um ein neues Deutschland zu kämpfen versucht. Dank den Dienstmädchen kann das Kind die einheimischen Sitten und Bräuche kennenlernen, und vor allem mit den unter den katholischen Schlesiern besonders verehrten Heiligen – Hedwig und Anna – für immer Freundschaft schließen. Das in der Küche erhaltene Bild der schlesischen Heiligen wird nicht nur zur Erinnerungsmetapher der weiblichen Küchengespräche, sondern auch zum lebendigen Symbol der Heimat, mit welchem sich das Kind immer identifizieren kann und zu welchem es Zuflucht findet. Darüber hinaus wird die Heilige zur Verkörperung der menschlichen Existenz überhaupt, zur Transposition des Materiellen ins Geistige: Ach, die Köchin verstand die Züge der Heiligen zu beleben! […] Die heilige Hedwig jedoch habe hier gelebt, war Fleisch und Blut gewesen auf ihrer schlesischen Erde hinter Breslau. Das Kind sah, wie eine Veränderung mit der Köchin vor sich ging. Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet, ihre blaßblauen, etwas hervorstechenden Augen starrten verzückt über nach oben, als müßte dort an der verrußten Decke der Herdecke etwas Anbetungswürdiges hängen. […] Sie – hat – gelebt! Staunen erfüllte das Kind. Sein Bildchen in der Hand zitterte, die Frauengestalt in dem langen Gewand mit der Modellkirche im Arm bewegte sich dabei […]. (UwnG, 27f.)

Jene geheimnisvolle Vereinbarung des Realen mit dem Imaginären, die Möglichkeit, den begrenzten Raum der Küche verlassen zu können, werden für das Kind zur Vision einer Heilstätte, die jeder vom beliebigen Ort erreichen kann und nur für sich behalten darf. Diese Gefühle des Transzendenten, der Vereinigung von Körperlichem und Geistigem, der Geschichte mit der Gegenwart, aber zugleich von gegensätzlichen Emotionen – von Angst und Mut, Ärger und Mitleid, Hass und Bewunderung – werden dem Kinde nicht nur im geschlossenen Raum der Küche, sondern auch draußen, auf dem freien Feld des Grenzlandes, am sog. Dreikaisereck zuteil442. Beide Bereiche des Drinnens und Draußens verbindet erneut die Gestalt der heilige Hedwig. Die Exkursion mit dem Vater in die Grenzzone der drei Reiche wird einerseits zu einem Initiationserlebnis, das dem Kind den Schutzpanzer der politischen 442 Zum Dreikaisereck vgl. Kap. 6, S. 212ff. Das Motiv des Dreikaiserecks wurde auch von anderen aus Oberschlesien stammenden Autoren aufgegriffen, oft als »greifbares Symbol des Grenzlandes«. Rduch, »O, heiliger Heimatrauch!« Schlesien in der Prosa von Arnold Ulitz (wie Anm. 38), S. 130.

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und sozialen Unwissenheit entreißen und zur Erfahrung der Differenz zwischen Eigen und Fremd, zwischen Drinnen und Draußen führen soll. Auf der Grenzbrücke wird es das Bildchen der heiligen Hedwig geschenkt bekommen und die Dimension des Unerreichbaren, des ewigen »Himmelreiches, das [das größte ist, und keine Grenzen kennt]« (UwnG, 10), kennenlernen. So wird das Dreikaisereck zum Raum erhoben, wo nationale (polnisch versus deutsch), soziale (arm versus reich) und konfessionelle (evangelisch versus katholisch) Unterschiede zwar nicht aufgehoben, aber in einer möglichen transparenten Koexistenz wahrgenommen werden. Mit Interesse und Verwunderung stellt sich nämlich das Kind die Vereinigung von der Przemsa und der Weichsel vor443, blickt auf drei reale Reiche herab und dank einem die Familie begleitenden Pfarrer nimmt es die Existenz einer politisch unabhängigen Sphäre, die des Himmelreiches, zur Kenntnis. Dieses Zusammenspiel findet in dem »etwas zerknitterten Heiligenbildchen [von Hedwig], das der Geistliche wohl schon lange mit sich herumgetragen hatte« (UwnG, 10), und welches auch »über dem Bett der Köchin unter einem Rosenkranz [hängt]« (UwnG, 11) seine Verkörperung. In dieser Form und Funktion wird das Bild das Kind begleiten und zum Sinnbild der Heimat werden. Die Enkodierung des neu gewonnenen Heimatbegriffs schränkt ihn auf etwas materiell Greifbares ein, wodurch er eine Konkretisierung erfährt, im Weiteren die Identität gestaltet und sie beinahe für immer befestigt; durch eine immerwährende Zugänglichkeit dieses Heimatcodes verdeutlicht sich vorab dessen bedeutendes Merkmal: eine Offenheit, die die Beschränktheit der Materie zwangsläufig zu sprengen weiß und den Übergang zum Geistigen verschafft. Jene Offenheit wird zusätzlich in der Metapher des Dreikaiserecks selbst abgerundet, der einerseits als ein begrenztes Territorium vorgestellt wird, andererseits als ein Knoten- und Orientierungspunkt für viele Wege, Menschen und Weltanschauungen gilt. Die Besucher strömen auf das Grenzland über die Brücke hin, die die Dialektik der Grenzlandmenschenexistenz und des menschlichen Daseins schlechthin veranschaulicht: Noch faszinierender als die Sicht vom Bismarckturm war die Brücke, die Grenzbrücke zwischen dem deutschen Reich und Russisch-Polen! Im Zentrum von Myslowitz, durch eine kurze, engbebaute Seitenstraße erreichbar, begann diese zweihundertsechzig

443 Vom Bismarckturm aus war die Vereinigung von der Weißen und der Schwarzen Przemsa zu sehen. Die Przemsa mündet in die Weichsel ca. 20 km. weiter, was man vom Dreikaisereck, auch bei guten Witterungsbedingungen, eher nicht sehen konnte, im Gegensatz zu den Beskiden, die in diesem Fragment auch als Element jener fremden Welt beschrieben wurden: »Im Süden wogte ein Meer von dunklen Wäldern, und die zarte Berglinie der Beskiden schwebte krönend über ihren Wipfeln. Doch nordöstlich verschwamm die Landschaft in grauem Dunst. Die Przemsa vereinte sich dort mit der Weichsel und legte über das russischpolnische Gebiet einen trüben Schleier, undurchsichtig, geheimnisvoll, in dem die Kosaken mit ihren Lanzen lautlos gleich einem Spuk verschwanden« (UwnG, 9f.).

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Meter lange Holzbrücke in das fremde Land. […] Alles auf der Brücke flutete, gleich dem Wasser unter ihr, beglückend und beklemmend zugleich. Die Schlagbäume am Anfang und Ende der zwei Kaiserreiche hielten alles im Bann. (UwnG, 12)

Das Widersprüchliche, das dem Heimatbegriff in einer Grenzregion innewohnt, wird das Kind auch bei weiterer Erkundung der Haus- und Stadträume wahrnehmen. Das Kind wechselt dabei ständig zwischen den Räumen des eigenen Hauses und denen der Außenwelt, die als eine notwendige gegenseitige Ergänzung erscheinen. Der Fokus liegt wiederum auf konkreten Räumen, die der Fokalisator bewusst zu rekonstruieren sucht. Zu solchen Räumen, die den sich vertikal bewegenden Betrachter an das Geheimnisvolle und Rätselhafte des Daseins herankommen lassen, gehört die Waschküche, wo sich das Kind alle vier Wochen mit Therese, Vertreterin der Kattowitzer Armenschichten, trifft. Die besondere Rolle der Waschküche ist durch ihre Lage und die dort herrschende Atmosphäre zu erklären: Die Waschküche lag am Ende eines langen Ganges hinter einem Mauerknick unter dem Dach des mehrstöckigen Wohnhauses. Das Kind mußte an den vielen Lattenverschlägen der Bodenkammern vorbeilaufen, ehe es die Stimmen oder den Gesang der Wäscherinnen vernahm. Therese kannte viele Lieder. Gesang verkürzte ihre Arbeitszeit, und die Mädchen sangen mit. Endlose Strophen einer gleichen Melodie reihten sich aneinander […]. (UwnG, 29)

Der schwer zu erreichende Raum bot ein Versteck und gewährleistete eine gewisse Unantastbarkeit, man konnte dort, entfernt von dem Alltagsrhythmus, dem Ton der Musik folgen und in der sich wiederholenden Melodie das Kreismäßige der eigenen Existenz finden. Der Dachboden beherbergt auch »verstaubte Gegenstände, Zeitungsstöße, alte Matrizen und Mauern von Akten, Journalen und Büchern« (UwnG, 30) und auch ein Fläschchen Wasser vom Jordan, »mit dem das Kind getauft worden war« (UwnG, 30). Das mühselige Erklettern der Dachbodenräume bedeutet also nicht nur die Suche nach einer guten Gesellschaft, sondern die Rückkehr zum Ursprung, zu den Wurzeln der eigenen Geschichte und zum Familienerbe. Der Dachboden ist übrigens nicht der einzige Winkel, »in dem sich [das Kind – R.D.-J.] gern verkriecht, sich in sich zusammenzieht«, wo es den »Keim des Zimmers, den Keim eines Hauses«444 wahrhaben darf. Wegen der seltenen Besuche wirkt dieser Raum, besonders dessen Atmosphäre, die durch Singen und angesammelte Andenken verdichtet wird, beinahe mystisch und er lässt in ihm den Eindruck des Sakralen entstehen. Folgt man der Bachelard’schen Philosophie des Winkels, so stellt er sich als ein Raum der Reise zu den Wurzeln des individuellen (Familie) oder des kollektiven Gedächtnisses (Bücher, Zeitungen). Das Kind verfügt im Haus über mehrere 444 Bachelard, Die Poetik des Raumes (wie Anm. 431), S. 165.

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Winkel, die auf einzelnen Etagen untergebracht, die Funktion verschiedener Initiationsformen annehmen. So führt der Dachbodenunterschlupf zum Ursprung des Menschenseins schlechthin, die heimlichen Besuche im Lagerraum der Druckerei machen das Kind mit dort aufbewahrten Büchern vertraut und offenbaren die Macht des kulturellen Potenzials, wohingegen das Versteck hinter der Gardine es in die Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens einweiht, die sich im Grenzland in ihren multikulturellen Erscheinungsformen ausbreiten. Aus diesem Versteck nimmt das Kind mit verstohlenem Blick, vom heterodiegetischen Erzähler unterstützt, die besondere Atmosphäre der katholischen Prozession am Fronleichnamstag wahr. Dieser Zug durch die Hauptstraße wird für die Kleine zu einem beinahe theatralen Spektakel, das alle Sinne der Betrachtenden aktiviert. Das von diesen Eindrücken angeregte Kind inszeniert mithilfe der eigenen Vorstellungskraft den Verlauf der Prozession, indem es Regie führt, alle Elemente des Spiels exakt aufzählt, regionale sowie religiöse Identitätskomponenten miteinbeziehend. Die ihr anvertraute Straße nimmt eine neue Gestalt an: Die lange Hauptstraße vom Wilhelmsplatz bis zum Ring war verwandelt. Birkengrün schmückten die Häuser, Blumenteppiche leuchteten vor den aufgebauten Altären und der Duft von Weihrauch darüber hielt alles im Bann. Unter dem von vier Männern gehaltenen, leicht schwankenden Baldachin trug langsamen Schrittes ein Priester die Monstranz mit dem Leib des Herrn. Die Handglocken der Ministranten klingelten. Der Zug erstarrte, betend sanken die Menschen auf die Knie. Mitten im Straßenstaub, auf den Gleisen der Bahn, an den Rinnsteinen und Gaslaternen neigten sie sich vor der Majestät, dessen Reich keine Grenzen kennt. Die Bergleute nahmen ihre Kappen ab, windbewegt flatterten die weißen, roten und schwarzen Federn. Still hielten die Kinder ihre Blumenkörbchen in den gefalteten Händen, und die geneigten Köpfe der Fronleichnamspilger drückten nur einen Wunsch aus, Gott zu danken. (UwnG, 32)

Das die Prozession aus dem Inneren des Hauses beobachtende Kind schwankt zwischen Bewunderung für die bunte Versammlung von Gleichgesinnten und Neid, nicht dazu gehören zu können. Unbewusst artikuliert es die Gründe für seine Andersartigkeit, die die typische altersgemäße Unerfahrenheit weit übersteigen, denn das Kind verspürt als Protestantin die eigene religiöse Disparatheit, als Deutsche nationale Fremdheit und letztendlich als Bürgerliche die kulturelle Unangepasstheit der Masse gegenüber. Trotz dieser gravierenden Unterschiede fühlt es sich mit dem die Mehrheit bildenden Volk verbunden und scheint ein Teil dessen zu sein. Anders sieht jedoch die Situation nach dem Verlassen des Hauses aus. Das Kind durchwandert zwar die Stadt, besucht die Schule, verbringt seine Freizeit auf der städtischen Eisbahn, macht mit Erna Spaziergänge, beobachtet die Stadtbewohner, nimmt an deren Lebensformen teil, aber meistens empfindet es ein Gefühl der Fremdheit, das mit unterschiedlichem Grad wahrgenommen wird;

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diese Erkundungen des Draußens erscheinen jeweils als ereignishaft, sie scheinen das Kind zu verändern und seine Persönlichkeit schrittweise zu gestalten. Besonders profitiert es von Begegnungen mit den nicht-bürgerlichen Personen. Als die Wäscherin Therese erkrankt, stattet ihr das Dienstmädchen Anna, von dem Kind begleitet, einen Besuch ab, welcher die Protagonistin zum ersten Mal in ihrem Leben in das Kattowitzer Armenviertel führt. Die im Totenbett liegende Therese bekommt die letzte Ölung und wird von der auf der Treppe hockenden Nachbarschaft verabschiedet. Angesichts dieser selbstlosen Gemeinschaft wird das Kind von zweierlei gegensätzlichen Gefühlen betroffen: Einerseits bewundert es eine ihm bisher unbekannte Solidarität mit dem Mitmenschen, andererseits kann es sein Erstaunen über das überall herrschende Elend nicht verbergen. An diese ganz neuen Erfahrungen schließt sich überdies das Erlebnis einer Grenzsituation an: Der Kontakt mit einer Sterbenden und die Reaktion auf den Tod lassen den Sinn des Daseins sowie der menschlichen Lebensaktivität hinterfragen. Auch in dieser Situation schaut die Hauptfigur auf die Ereignisse aus der Perspektive eines heterodiegetischen Fokalisators, der darüber folgenderweise berichtet: Therese wohnte in der dritten Etage. Auf jedem Stockwerk stand ein Knäuel Menschen, Frauen, Männer und Kinder mit offenen Mäulern und aufgerissenen Augen. In dem langen Gang zu Thereses Zimmer las das Kind an vielen Türen verschiedene Namen. Ein säuerlicher, mit Knoblauch durchsetzter Geruch zog mit ihnen. Am Ende des Flurs stand eine Tür auf. […] War das aber wirklich Therese, die das Kind vor kurzem noch auf ihren starken Armen trug, damit es die Dachluken aufstoßen konnte, um die Feuerscheine der Arbeit am Himmel brennen zu sehen? […] Therese war ein Arbeitstier gewesen, treu und stark wie ein Pferd. Sie hatte geschuftet von früh bis spät, ohne an sich zu denken, bis es sie hingeworfen hat, dort auf die eiserne Bettstelle in die blauweiß gewürfelten Kissen, um sie nie mehr aufstehen zu lassen, so wie ein treues Tier plötzlich in den Sielen umfällt. (UwnG, 39)

Dem Volk begegnet das Kind nicht nur in den Armenvierteln der oberschlesischen Industriestadt445. Die Bilder der Außenwelt fokussieren sich oft auf ver445 Es ist anzumerken, dass auch im Roman Die Odersaga die Dienerschaft und Vertreter unterer Kattowitzer Schichten in den Vordergrund gestellt werden. Es wird der letzten Gruppe sogar ein aggressives, primitives Benehmen zugeschrieben, das bei dem Ehepaar Anna Margarete und Franz Gaebler Angst auslöst, was allerdings nicht als ein verallgemeinerndes Urteil über diese Schicht angesehen werden kann, sondern als eher eine Privatangelegenheit, die mit dem sozialen Status der Familie Gaeblers verbunden ist. Vgl. O, 78. An einer anderen Stelle wird aber auch Mitleid mit den oberschlesischen Armen ausgedrückt sowie Franz’ Bestrebungen hervorgehoben, für die von Armut Betroffenen neue Wohnhäuser bauen zu wollen: »Dürftig gekleidete Kinder klaubten an einer Abfallhalde nach Kohleresten und sammelten sie in die Säcke. Gebückt hackten Frauen in den Furchen von Kartoffelbeeten, und ein alter Mann ließ an Stricken zwei Ziegen auf dem bewachsenen Weg zwischen den handtuchartig angelegten Feldstücken grasen. […] Gaebler war daher bestrebt, auf dem Gebiet des Wohnsektors für bessere Verhältnisse einzutreten.« (O, 102f.)

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schiedene Erscheinungsformen der oberschlesischen katholischen Frömmigkeit. Das Kind enthüllt dabei deren zwei Ausprägungen – eine institutionelle und eine volkstümliche. Die Beschreibung der im Stadtzentrum gelegenen Marienkirche446 ist mit den feierlichen Ostertagen verbunden, die das Kind mit ihrer Aura in den Bann ziehen und den kirchlichen Raum wegen seiner festlichen Ausstattung und Beleuchtung zu einem außergewöhnlichen sakralen Objekt stilisieren, dessen Stimmung mit der im Inneren des Kindes korrespondiert: Die Glocken von St. Marien dröhnten durch die lange Holtzestraße, an dessen Ende die Kirche lag mit ihrem von festlich gekleideten Menschen umdrängten Portal. Die Sonne schien klar. Rauch, Ruß und Staub zogen nicht wie sonst über die Dächer, und aus dem katholischen Gotteshaus klang das Singen der Gemeinde nach draußen wie eine jubelnde Verheißung. […] Einige Zeit standen die beiden [Kind und Anna – R. D.-J.] noch am Eingang hinter den vollbesetzten Kirchenbänken. Der Gesang des Priesters, Geruch von Weihrauch, das Klingeln unter dem betenden Gemurmel der niederknienden Gemeinde waren dem Kind ein neues Osterwunder. Es stand entrückt […]. (UwnG, 59)

Ähnlich benimmt sich auch die Hauptfigur während einer heimlichen Eskapade mit den Dienstmädchen, die sich – dem hiesigen volkstümlichen Ostersonntagbrauch folgend – in aller Frühe sprachlos an die Klodnitzquelle447 begeben, um dort die Auferstehung Christi zu bejubeln, eine innere Reinigung zu durchleben und letztendlich – oder zu allererst – die Heiratsreife zu erreichen. Der für ein Kind mühsame Weg zur Quelle und das Ritual der Reinigung ergreifen es freilich

446 In … und wurden nicht gefragt wird die Marienkirche in Kattowitz ins Blickfeld des kindlichen Interesses gerückt, was auf die Rolle der Großmutter für das heranwachsende Mädchen zurückzuführen ist (mehr darüber im Kapitel 5.1), in Die Odersaga spielt hingegen die ebenfalls zentral gelegene evangelische Auferstehungskirche eine bedeutende Rolle, indem sie zum Schauplatz des Weihnachtsfestes des jungen Ehepaares wird und an die Sozialisationsprozesse von Franz anknüpft. Der Erzählerbericht verleiht diesem Ort und zugleich der Zeit einen besonderen Rang: »Die Umwelt verwandelte sich, winterlicher Zauber deckte den Alltag zu. Rings die hohen Fabrikschornsteine rauchten nicht mehr, über dem werktätigen Land breitete sich Friede aus von Glocken eingeläutet, die von der evangelischen Auferstehungskirche zur Weihnachtsandacht riefen. Die Menschen stapften vermummt durch den Schnee über den Marktplatz am Theater vorbei, die breite Straße entlang bis zum erleuchteten Gotteshaus. […] Der Kirchendiener steckte mit einem langen Stock, an dessen Ende eine brennende Kerze befestigt war, die Lichter auf der großen Fichte neben dem Altar an, und ihr Glanz erfüllte den Gottesraum mit Weihnachtsstimmung. ›Vom Himmel hoch –‹, Martin Luthers inniges Lied stimmte der Chor auf der Empore an, und es lag frohe Botschaft in dem vielstimmigen Gesang.« (O, 79f.) Die Beschreibung des Weihnachtsfestes kommt fast in jedem Roman von Ruth Storm vor und bildet ein wichtiges Element der Familientradition, besonders der Weihnachtsbaum, es geht in diesen Fragmenten mehr um die Wiederherstellung einer besonderen Atmosphäre als um die Betonung der Familienbande. Vgl. VG, 72; O, 75–77; UwnG 109; Isa, 80f. 447 Die Klodnitz ist ein rechter Zufluss zur Oder, der im südlichen Teil von Kattowitz, im Wohnviertel Brynów / dt. Brynow, entspringt. Die Quelle ist vom Stadtzentrum ca. 5 km. entfernt.

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nicht minder als die Kontakte mit den institutionalisierten Religionsformen und ziehen erneut in ihren zauberhaften Bann, dem es trotz (oder wegen?) der wieder und wieder empfundenen Fremdheit nicht entgehen kann. Die Quelle! Die Quelle zog mit magnetischen Kräften. Schon kauerte Anna nieder und beugte sich zu dem silbernen Strahl, der in ihre gewölbten Hände lief, die das wundertätige Wasser immer wieder und wieder über ihr beseligtes Gesicht schöpften. Auch Sophie tat es der Köchin gleich, beide gaben sich dieser Handlung voll Inbrunst hin, und das Kind wagte nicht, näher zu kommen. (UwnG, 56)

Viele aus Kattowitz stammende Heimatbilder sind mit zwiespältigen Gefühlen behaftet, einerseits empfindet das Kind, wie an der Klodnitzquelle, eine beinahe mystische Vereinigung mit dem Ort, andererseits kann es das Gefühl nicht loswerden, dort völlig fremd zu sein. Jener Widerspruch, der sich sowohl zu Hause als auch außerhalb zeigt, und der die Initiationserlebnisse sowie den Reifeprozess des Kindes begleitet, macht der Hauptfigur deutlich, einen Zwischen-Raum zu finden, der sich aber mehr im phänomenologischen Sinne als ein Bereich zwischen Subjekt und Objekten verstehen lässt, der von der Last der Anschauung und deren Folgen befreien kann. Es bedeutet in der Praxis eine Flucht vor dem in der interkulturellen Auslegung fungierenden Zwischenraum, wo sich verschiedene »Geschichten, Sprachen, Erinnerungen, die Verwandtschaftsbeziehungen, Identitäten, Mentalitäten und Animositäten überlagern, überlappen, miteinander verzahnen«.448 Die Idee eines für die Identität notwendigen Zwischen-Raumes wird schon während des Dreikaisereckbesuchs vorausgedeutet und nur durch die Zuspitzung der nationalen Konflikte in Oberschlesien 1918–1921 weiter verstärkt449. Bleibt der Zwischen-Raum am Dreikaisereck noch eine vage Vorstellung, im Versteck hinter der Gardine eine Alternative, so scheint er nach dem Verlust der nationalen Konturen der Heimat 1921 eine Notwendigkeit zu sein, der in einem neuen Wohnort, den die Familie des Kindes nach dem Verlassen des Kattowitzer Hauses im niederschlesischen Schreiberhau findet, seine Konkretisierung erfährt. Genau wie im Fall von Kattowitz wird auch hier Schreiberhau entweder namentlich genannt (meistens in autobiografisch geprägter Prosa) oder es lässt sich in fast allen Handlungsorten erkennen. Dieser Ort wird nicht nur in … und wurden nicht gefragt zu einer Traumheimat erhoben, auch in Ich schrieb es auf und Odersaga wird dieses paradiesische Konstrukt 448 P. O. Loew, Chr. Pletzing, Th. Serrer: Zwischen Enteignung und Aneignung: Geschichte und Geschichten in den »Zwischenräumen Mitteleuropas«. In: Wiedergewonnene Geschichte, hrsg. von O. Loew, Chr. Pletzing, Th. Serrer. Wiesbaden 2006, S. 9. Die Vorstellung des Kindes von einem Zwischen-Raum unterscheidet sich auch von dem von H. Bhabha in den kulturwissenschaftlichen Diskurs eingeführten Begriff von third space, in dem »andauerndes Überqueren« von Kulturen entsteht. Vgl. H. K. Bhabha: Über kulturelle Hybriditäten. Tradition und Übersetzung. Wien 2012, S. 61. 449 Auf diesen Bestandteil des Heimatbegriffes von R. Storm wird in Kapitel 6 eingegangen.

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bekräftigt, obwohl in beiden letztgenannten Werken diese Gebirgsortschaft zum Schauplatz der Kriegsereignisse und der Vertreibung wird. In … und wurde nicht gefragt spielen Kattowitz und Schreiberhau weiterhin die Funktion von Kontrasträumen, indem sie literarisch und kulturell vertraute Gegensatzpaare Stadt – Land, Fortschritt – Stillstand, Lebenstempo – Ruhe, politischer Wirrwarr – ungestörte Verhältnisse oder Fremd – Eigen zum Ausdruck bringen. War für die Kattowitzer Zeit eine mehr oder weniger gelungene Suche nach dem Ursprung charakteristisch, so wird Schreiberhau zur ontologisch begriffenen Quelle selbst. Nach den Unruhen der Schlesischen Aufstände, dem Verlust des Kattowitzer Familiensitzes, der Flucht aus Oberschlesien und einer lebensbedrohlichen Krankheit findet die junge Erwachsene in Schreiberhau nicht nur einen Zufluchtsort, sondern eine paradiesische Oase, die vor der Welt schützt und das Gefühl der Zeitlosigkeit gewährt. Die Hauptfigur betritt diesen Raum nicht mehr als ein Kind, obwohl es weiterhin so bezeichnet wird, sondern als eine Erwachsene, die den Übergang vom Kattowitz der Kindheit zum Schreiberhau der bewussten Existenz als eine Grenzsituation nutzt, um zu sich selbst, zu einer stabilen Identitätsgewinnung zu gelangen. Der erreichte Zustand bedeutet eine seit langem ersehnte Harmonie mit der Umwelt, den Umständen und sich selbst. Jenes »pausenlose Glück« (UwnG, 97) eröffnet vor der Protagonistin das Reich der Natur, deren Reinheit, die das Kind aus Oberschlesien nicht gekannt hat, »zum Spiegel der zeitlosen Gegenwart« (UwnG, 97) wird. Das Leben wird zum wahren Mysterium, von welchem die Protagonistin noch in Kattowitz geschwärmt hat, indem sie mit verschiedenen religiösen oder geheimnisvollen Lebensformen in Berührung kam. Das Schreiberhauer »langgestreckte Bauernhaus, im ländlichen Stil modernisiert, dicht an der Fahrstraße des Mitteldorfes, wo die Quelle in den bemoosten Steintrog plätscherte« (UwnG, 99) wird zum Hort der Sicherheit und des Vergessens, wo das Kind [ j]eden Abend mit Erwartung auf den nächsten Tag einschlief, [und wo] alle Angst vor dem Ungewissen, die es seit dem jähen Abschied von Heimat und Elternhaus wie einen flatternden düsteren Umhang getragen hatte, gewichen war. (UwnG, 97)

Der Reifeprozess findet auch in der Fokalisierung seinen Niederschlag, als das bisher ausschließlich betrachtende Kind zum reflektierenden Subjekt wird, das in den Erzählvorgang in erlebter Rede eintritt und eine urteilsfähige Position einnimmt: Der Mensch war ein Schiff, das in die Täler und Höhen der hereinbrechenden Wetter gerissen wurde und kämpfen musste, um sich über Wasser zu halten, Leben war Freude und Schmerz zugleich! Jeder Wechsel brachte Erfahrung und Offenbarung, jeder Wechsel wurde zum wachsenden Ring um den eigenen Lebensbaum. Das Kind hatte es an den Schnittflächen der alten Stämme gesehen. Heute genoß es Freude, beseligte Freude im Anblick des lichtgewonnenen Tages im Frostglanz der vorangegangenen

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kalten Nacht. Zog nicht Gesang durch die Lüfte? Schien Musik nicht vom Himmel zu strömen? […] Im Horchen schien das Kind mitzuschwingen in diesem Element des Glanzes, das über die Weite der winterlichen Berge ein Fest zu feiern schien. (UwnG, 96f.)

Die Identifikation mit dem Ort, dessen Mythisierung ihn in einen unvergesslichen, außergewöhnlichen Raum verwandeln lässt, kann als eine Traumprojektion einer ideellen Heimat betrachtet werden, die trotz ihrer toponymischen Zuordnung eher utopisch anmutet. Die paradiesische Aura dieses Ortes verstärkt nämlich zusätzlich dessen Egalitätscharakter, denn das Kind – im Gegensatz zu den Kattowitzer Räumen – teilt das momentane Glück und das Gefühl der Erfüllung mit anderen Familienmitgliedern, für welche der Schreiberhauer Sitz samt der Umgebung zur Verkörperung von Gottes Existenz und zum symbolischen Ausdruck von der »Handschrift des Schöpfers« (UwnG, 195) wird. Diese Deutung von Schreiberhau erfährt in anderen Prosawerken eine Erweiterung und zugleich Vertiefung. So greift die Autorin in Die Odersaga das Motiv des Wiederkehrens in diesen Riesengebirgsort erneut auf und benutzt es mehrmals. In Schreiberhau mietet die Familie Lehan ein Landhaus, in welchem die Schwestern von Kindheit an gerne ihre Zeit verbringen. Der Lieblingsort von Anne Margarete muss daher zum Ziele ihrer Hochzeitsreise werden, auch ihre jüngere Schwester entscheidet sich, dort ihre Flitterwoche zu verbringen und letztendlich dieses Haus in ihrer zweiten Ehe zu ihrem Wohn- und Arbeitsort zu wählen. In jeder dieser Situationen wird auf die magische Kraft jenes Ortes hingewiesen und dessen Einmaligkeit bestätigt. Für Anna Margarete gilt Schreiberhau als Verkörperung der Harmonie und des vollkommenen Schöpfungsaktes, der den Menschen beseelt und positiv anstimmt: »Alles paßte hier zusammen, war im Einklang mit Wolken und Winden, mit Mensch und Tier und hielt sein ungekünsteltes Wesen den Ankommenden entgegen.« (O, 47). Diese Atmosphäre ergreift auch ihren Ehemann, der im Kontakt mit Schreiberhau seiner Frau näherkommt, ihre Bedürfnisse besser begreift und selbst den Zustand einer Harmonie und innerer Zufriedenheit erreicht. Auch das andere Paar – Karoline und Felix – betreten das Riesengebirge als Raum und das Schreiberhauer Landhaus wie ein Paradies, »das keine Sorge kennt« (O, 191), und wo nur »Friede, unendlicher Friede« (O, 192) herrscht. Als Felix im Ersten Weltkrieg ums Leben kommt, und Karoline zum zweiten Mal heiratet, entscheidet sie sich mit ihrem zweiten Ehemann Mensel eine Künstlerehe in Schreiberhau zu leben, denn nur dort kann sie sich vom Witwenstand erholen, nach dem Naturrhythmus leben und ihrer künstlerischen Begabung folgen. Im Fall dieses Paares wird das Schreiberhauer Landhaus zum Raum der Kreativität, des immerwährenden Schaffensprozesses und Gegenseitigkeit einer Künstlerbeziehung. Die Besonderheit des Ortes wird auch hier in einem Wort eingeschlossen, dessen Ein-

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Drinnen und Draußen oder die Schwelle des Hauses übertreten

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deutigkeit keinen Zweifel hinterlässt, dass Schreiberhau nicht als eine Utopie fungiert, sondern ein realer Ort ist, wo man das ersehnte Glück finden kann: Welch Glück, heimgekehrt zu sein! Wenn sie ins Tal schauten, wußten sie, dort wo der Dunst der Ebene am Horizont verschwamm, floß der Strom, lag Odersaga und die alte Vaterstadt Breslau. Vertraute Namen voller Erinnerungen, die Geborgenheit verhießen. Wie war es so beruhigend, den heimatlichen Boden unter den Füßen zu wissen! Mensel spürte die Kräfte, die ihm entgegenströmten, und aus denen er schöpfen würde.

Heimat als »geglückte Identität«450 wirkt zwar in allen angeführten Bildern durchaus realistisch, aber zugleich flüchtig. Schreiberhau wird hier nämlich zu einem Erholungs-, Ferien- oder Erbauungsort stilisiert. Blickt man auf die Bilder der Schreiberhauer Häuser zurück451, so stellt sich heraus, dass deren Materialität eher belanglos ist und dass sie von Anfang an als zeit- und ortsentrückt dargestellt wurden und als Gegenstück zum Logos, zum Erklärbaren fungieren452. In der zeitlosen Schwebe hängend bieten sie in allen behandelten Prosawerken Ruth Storms ein exterritoriales Gebiet, das sich zwischen Zeiten situiert und nach einem eigenen, dem alltäglichen Leben entrückten Rhythmus existiert. So entsteht der Eindruck, Ruth Storm wolle einen Mythos453 von Schreiberhau hervorbringen, der sich aber nur in … und wurden nicht gefragt als konstant, wirklichkeitsfremd, gefühlsbetont und durchaus gut noch standhaft erweist. Sein mythischer Charakter zerfällt schon in Odersaga an Veränderbarkeit der räumlichen wie auch strukturellen Beschaffenheit. Mit dem Kriegsausbruch verliert es endgültig an seinem Charakter und so geht auch seine mythenbildende Funktion verloren. Nichtsdestotrotz verdeutlicht eine so formulierte Erinnerungsmetapher die besondere Situierung von Schreiberhau, dank der das Subjekt den Zwischen-Raum der Existenz in Besitz nehmen darf und an dem es »endlich seine wahre Bestimmung in dieser Welt vollzogen und begriffen hat.«454 Schreiberhau ist daher mehr als ein mythisches Bewusstsein im Sinne von Ernst Cassirer zu verstehen, denn dessen Existenz scheint mehr ein Denkmodell zu gewähren, auf

450 M. Brumlik: Diesseits von Utopie und Mythos. Versuch, zu einem vernünftigen Begriff von Heimat zu kommen. In: Ernst Bloch und die Heimat, hrsg. von K. Rohrbacher. Ludwigshafen 1989, S. 36. 451 Es wurde in dieser Analyse das Haus im Tagebuch Ich schrieb es auf nicht berücksichtigt, denn diesem Werk wurde in Kapitel 7 mehr Platz eingeräumt und dessen Funktion im Hinblick auf die bevorstehende Vertreibung besprochen. 452 Auf solche Attribute des Mythos verweist I. Scheitler. Vgl. I. Scheitler: Mythos. In: Scheitler, Deutsche Gegenwartsprosa seit 1970 (wie Anm. 152), S. 190. 453 Hier greife ich auf die klassische Definition des Mythos von R. Bain zurück, der auf Unterschiede zwischen mythischem und realem Denken verweist. Vgl. R. Bain: Man, the MythMaker. In: »Scientific Monthly« 65, Nr. 1 / 1947, S. 61–69, hier: S. 65; Vgl. B. Szacka: Czas przeszły, pamie˛´c, mit. Warszawa 2006, S. 74f. 454 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (wie Anm. 139), S. 1628.

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welches man sich jederzeit berufen kann, wo Gefühle objektiviert und dadurch verstärkt werden455.

3.3

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Das Haus als Erinnerungsmetapher der Heimat spielt in Ruth Storms Werken eine zentrale Rolle. Die Figuren fühlen sich ohne Ausnahme an ihr Haus gebunden, dessen Heterotopie markant ist und den Heimatbegriff prägt. Trotzdem sind diese isolierten Häuser Bestandteile einer Gemeinschaft, deren Herkunft, Identität, Interessen, Werte und Zukunftsziele in den Fokus der Betrachtung gerückt werden. Jener Gemeinschaftssinn trifft allerdings nicht auf alle Heimatorte zu und ist vor allem mit Schreiberhau und anderen Gebirgsortschaften verbunden. In den in Kattowitz spielenden Werken dominiert dagegen das Gefühl der Einsamkeit und Beziehungslosigkeit. Das für die kleinen Gebirgsgemeinschaften charakteristische Zugehörigkeitsgefühl äußert sich in Storms Prosawerken sehr unterschiedlich. So besteht in Das vorletzte Gericht das Wesen einer Gemeinschaft darin, dass sie im Moment des Todes eines ihrer Vertreter zusammenhält und man von dem Verstorbenen gemeinsam Abschied nimmt. Alle an Erpachs Sarg Versammelten gedenken des Sägewerksbesitzers, aber in der von dem Gemeindeältesten gehaltenen Rede wird nicht nur der langjährige Nachbar gewürdigt, sondern seine Familientradition vor dem Hintergrund der lokalen Chronik rekonstruiert und aufgewertet. Dem Umzug von Nachbarn, die zum Erpachshof »aus den entferntesten Winkeln herbeiströmten« (VG, 19), wird vom Erzähler eine transzendente Form verliehen, denn nicht nur »der Erpach Kalle« wird die Grenze von Leben und Tod passieren, auch seine Begleiter betreten die Wege der Selbst- und Fremderfahrung, indem sie im Kontakt mit dem Verstorbenen nach dem Sinn des Daseins und der Macht der Tradition fragen. Der universelle, überzeitliche und transitive Charakter jenes Aktes wird durch die Aufzählung der Begräbnisteilnehmer (»Frauen und Männer, Fuhrleute, Holzfäller, Waldarbeiter, Kleinbauern und Handwerker« – VG, 20), Hervorhebung der Fortsetzbarkeit dieser örtlichen Sitte (»ganze Geschlechterreihen schienen vorbeizudefilieren« – VG, 20) und Unerklärbarkeit der Ehrfurcht vor ewigen Gesetzen (»als wenn eine geheime Macht sie dazu triebe, als stürbe mit dem Alten aus, was dem Tal Ansehen und Eigenart gegeben hatte.« – VG, 20) verdeutlicht. Das im Moment der väterlichen Beisetzung gewonnene 455 Über das Konzept mythischen Denkens äußert sich E. Cassirer in seinem Essay Versuch über den Menschen (An Essay on Man, Yale University, New Haven/London 1944), in dem er von einem einheitlichen Weltbild schwärmt. Vgl. E. Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg 2007, S. 49–55.

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Gefühl des Zusammengehörens zum Tal weckt bei Marianne eine starke Bindung an das Haus und verstärkt ihre Identifikation mit dem Ort. Die Gemeinschaft erscheint als ein Kollektiv, dessen Mitglieder einander unterstützen, füreinander da sind oder gerne gemeinsam ihre Zeit verbringen. Die zusammen verbrachten Abende spielen besonders in der Kriegszeit eine wichtige Rolle, denn sie verstärken »den Glauben an das Schöne und Gute im Menschenleben.« (Isa, 27). In Das vorletzte Gericht schöpft die Protagonistin jene Kraft unter anderem aus den geselligen Treffen im Hause der Brüder Conrad und Max von Lampnitz. Conrad als Graphiker und Max »mit pädagogischem und sprachlichem Talent« (VG, 28) sorgten in ihrem Salon für eine besondere Atmosphäre, die auf Gegenseitigkeit der Teilnehmer, die einander offen begegneten, und auf Gesprächen über Kunst, die in Begleitung von Musikkonzerten stattfanden456, beruhten. Zu diesen Treffen wurden Bekannte und Nachbarn aus dem Rackental eingeladen, aber auch Kriegsverwundete aus den Lazaretten, die »durch musikalische Nachmittage geistige Anregung« (VG, 35) bekamen. Ein solches Beisammensein lässt sich als eine geistige Nahrung für alle Versammelten interpretieren, die dank der Kunst den Krieg vergessen konnten und die Hoffnung auf das Humane wiedergewannen: Man sprach nicht vom Krieg, nicht von den letzten Frontereignissen und schweren Luftangriffen, sondern durch das Spiel des Künstlers aufgeschlossen, floß das Gespräch aus anderen Quellen. Wenn auch die unerbittlichen Gesetze des Krieges die Stätten der Kunst arm gemacht hatten, so schienen doch die Herzen weit offengeblieben zu sein für alles Unvergängliche. Sie sollten wohl goldene Brücke für die Zukunft bleiben. (VG, 35)

Eine ähnliche, obwohl weniger hoffnungsvolle und zukunftsorientierte Stimmung herrscht ebenfalls im Hauptmannhause, das in Ich schrieb es auf mehrmals vorkommt457. Auch hier treffen sich Nachbarn, die jene »Lichtblicke« (Isa, 13), in den letzten Kriegsmonaten mit Flüchtlingen aus Schlesien und Ostpreußen tei456 Aus dem Zitat lässt sich offensichtlich eine Anspielung auf das kulturelle Leben und die Wirkung der Salons in der Schreiberhauer Künstlerkolonie herauslesen. Vgl. Grundmann, Schreiberhau im Riesengebirge (wie Anm. 299), S. 136–141. 457 Die Familie Siwinna erwarb das Haus »Rundblick« in Schreiberhau und so wurde sie zu Carl Hauptmanns Nachbarn. Vgl. Kapitel 2, S. 80f. Der Ankauf des Hauses, die Begegnung mit Carl Hauptmann, die Spiele des Kindes mit Monona, der Tochter des Schriftstellers, werden in … und wurden nicht gefragt (UwnG, 99–103) beschrieben. In Ich schrieb es auf wird mehrmals auf die Kontakte mit der Familie Hauptmann eingegangen; die Ich-Erzählerin beschreibt den Weg durch den Park, den sie bergab mehrmals durchgemacht hat. Es erscheint dort eine Bemerkung, die belegt, wie die deutschen Einwohner dank Gerhart Hauptmann von den Russen und Polen verschont wurden: »Monona war bei ihrem Onkel Gerhart in Agnetendorf. Der alte Herr war zuversichtlich und unbehelligt. Das ganze Dorf scheint durch die Gegenwart des greisen Dichters einen gewissen Schutz zu genießen. Plünderungen und Gewalttätigkeiten sind dort nicht an der Tagesordnung, wahrscheinlich sorgt man für Ordnung und Frieden wegen Hauptmanns internationaler Bedeutung und der Besuche ausländischer Journalisten« (Isa, 56).

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len. Die Hausherrinnen Maria und Monona Hauptmann treten dabei als gastfreundlich458, offen – sowohl den Einheimischen als auch den Fremden gegenüber – und organisatorisch talentiert auf. Sie sind imstande, alle Gäste zu beherbergen, ohne den Mut zu verlieren. Die beiden Damen sind sich dessen bewusst, dass in diesen schwierigen Zeiten sich nur der Geist bewähren kann. So kümmern sie sich um solche Formen des geselligen Lebens, die die Menschen erheitern und zugleich an die humanen Werte erinnern können. Musik und Literatur wird somit ein besonderer Wert zugeschrieben, denn sie können nicht nur eine therapeutische Funktion erfüllen, sondern sie machen auch die Dimension einer tieferen Existenz, eines Unergründbaren und Geheimnisvollen, das noch zu entdecken bleibt, deutlich: Der Druck der Russen von Goldberg und Schweidnitz her hält an. Trotzdem war am Abend ein Klavierkonzert im Hause Hauptmann mit Musik von Mozart, Bach und einem modernen Konzert. Abschied? Für immer? Seltsame Stimmung. Eingebettet in Musik versank man in dem Unbegrenzten und Ewiggültigen, das durch nichts erschüttert werden kann. (Isa, 26)

Je mehr sich aber die Situation an der Front verschlechtert, desto instabiler erscheinen Musik und Literatur als geistige Stützen und das schreibende Ich beginnt nach anderen Anhaltspunkten zu suchen: Bei Hauptmann lesen wir an manchen Abenden Goethe. Nein, die Worte sind nicht leer, aber der Tageslauf und der Kampf um das tägliche Dasein sind so außergewöhnlich hart, daß ich oft nicht die rechte Einstellung finde, wahrscheinlich bin ich zu müde. Arno Holz sagte einmal: »Was nützt denn Shakespeare, Kant und Luther, der Armut ist ein Stückchen Butter erhabener als der ganze Faust. Worte der Bibel bringen mehr Trost.« (Isa, 75)

Wenn Musik und Literatur versagen, greifen die Hausherrinnen zur Populärkultur und Volkstradition und erinnern sich an alte Lieder, besonders in der Advents- und Weihnachtszeit. Der Weihnachtsabend wird auch bei den Hauptmanns feierlich begangen und er beschert die im Hause der Dichterwitwe Versammelten mit besonderem »Weihnachtslicht, [das] die Zuversicht auf Erlösung, baldigen Frieden«459 (Isa, 81) bringt. Die aus verschiedenen Landesecken stammenden Gäste können sich dadurch für eine Weile über die Kriegswirklichkeit

458 Davon mag z. B. das folgende Zitat zeugen: »Wir übernachten jetzt bei Hauptmann. Maria und Monona gaben uns ihr Schafzimmer, sie zogen dafür in die Bibliothek; so ist unsere Hausmeisterwohnung entlastet.« (Isa, 49) 459 Dieses Zitat entstammt dem von Ruth Storm speziell für den Weihnachtabend 1945 geschriebenen dreistrophigen Gedicht, das von ihrem Sohn vorgetragen wurde. Vgl. Isa, 81.

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hinwegversetzten und unter dem »schützenden Dach des Dichterhauses« (Isa, 80)460 das Gefühl der Sicherheit genießen.461 Allerdings ist anzumerken, dass die Gemeinschaften in Ruth Storms Prosawerken nur scheinbar geschlossenen sind. In erster Linie gehören ihnen zwar Einheimische an, aber sie sind jedem neuen Mitglied gegenüber offen, sie nehmen Ankömmlinge in Schutz, kümmern sich um sie, bis sie sich darin selbst etablieren. Solche Sympathieausdrücke sind z. B. dem Kapitän Richard Bother in Ein Stückchen Erde, dem Kriegsverwundeten Gabriel Wismar aus Ostpreußen in Das vorletzte Gericht oder den Ausländerinnen, der französischen Lehrerin Madeleine Lorraine und der estnischen Kinderbetreuerin Tanja aus Odersaga entgegengebracht worden. In der Gemeinschaft gibt es aber auch Platz für diejenigen, die vom Schicksal nicht verschont wurden, die zu den ärmsten in der Gesellschaft gehören und auf Unterstützung und Solidarität anderer Gruppen angewiesen sind. So tritt in Ein Stückchen Erde ein Obdachloser auf, genannt Lumpenkerle, der in seine alte Heimat zurückkehrt, um dort zu sterben und begraben zu werden. Der Kapitän Bother verstößt diesen ewigen Wanderer nicht und erlaubt es, dass er in seinem Stall Ruhe und die letzte Lebensstation findet. Er betrachtet ihn behutsam und sorgenvoll, voller Ehrfurcht vor der flüchtigen menschlichen Existenz und deren kreisförmigen Bewegung: »Du bist müde«, Bother erhob sich. »Du kannst in meinem Stall schlafen.« Der Kapitän faßte den Greis unter die Arme, und Schritt für Schritt ließ dieser sich willig führen. Bother legte ihn in eine leere Bucht, wo er Vorratsstroh aufbewahrte. Er holte sich einen Schemel und setzte sich zu dem Mann. […] Sein Atem ging pfeifend, und seine Hände 460 Die Weihnachtsatmosphäre im Hauptmannhaus gibt die Ich-Erzählerin an einigen Stellen ihres Tagebuches wieder: »Und bald ist Weihnachten! Bei Hauptmann fühlt man ein wenig davon. Monona singt morgens im Flur Weihnachtslieder, sie weckt uns damit. […] Heiliger Abend im Haus von Carl Hauptmann. Fremde Menschen, durch das Schicksal unter das schützende Dach des Dichterhauses geweht, kamen sich nahe.« (Isa, 80) 461 Dieses Praktizieren von geselligen Lebensformen während des Krieges zwingt an dieser Stelle zwangsläufig zur Reflexion. Ruth Storms Prosawerke charakterisiert nämlich ein Desinteresse an historischen Ereignissen, am Verlauf des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Politik. Bis auf den Roman Odersaga werden sie gar nicht thematisiert. Die Provinz in ihren Werken scheint bis zum Einmarsch der Russen vom Krieg und Nationalsozialismus unberührt zu bleiben. Im Hinblick auf »Provinzialisierung« und Faschismus bemerkt N. Mecklenburg allerdings eine Gegentendenz, »die darin besteht, dass sich die Folgen der faschistischen ›Machtergreifung‹ desto eindringlicher zeigen lassen, je ›harmloser‹, ›gemütlicher‹ – auch nach 1945 – der Ort sich gibt, an dem sie in Erscheinung trat.« N. Mecklenburg: Faschismus und Alltag in deutscher Gegenwartsprosa. Kempowski und andere. In: Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, hrsg. von H. Wagener. Stuttgart 1977, S. 26. Der Vorwurf, die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu meiden, wurde auch H. Bienek gestellt. Vgl. T. Voß: Die Wiedergeburt der verlorenen Heimat aus dem Geist des Romans. Der Schriftsteller Horst Bienek und Schlesien als synästhetischer Grenzraum. In: »Convivium« 2017, S. 32.

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wurde so unruhig, sie flatterten hin und her, endlich fanden sie die Brusttasche und er zog ein buntes Tuch hervor. […] Eine merkwürdige Begegnung für den Kapitän; er hatte diesem Kaiser gedient, aber er war für ihn wertlos geworden, während dem Landstreicher das goldene Bild wertvoll blieb. (E, 155f.)

Eine ähnliche Solidaritätsgeste mit den Ärmsten kennzeichnet das Benehmen von Anna Margarete, genannt Merle, die mit der Gründung eines Kinderhortes für deren Entwicklung und Sicherheit sorgt, wenn die Eltern Feldarbeiten verrichten müssen. Diese karitative Tätigkeit verlangt von der Protagonistin Organisationstalent und Freigebigkeit, aber ihren Gemeinschaftssinn zeigt sie am besten erst dann, als sie nach der Pogromnacht zu den jüdischen Nachbarn Veitl geht und ihnen Hilfe anbietet. Mit dem Auftrag für Else Veitl, ein neues Kleid nähen zu lassen, will sie nur einen Vorwand finden, die von den Nazis geschändete Familie finanziell zu unterstützen und zu trösten. Ihr Benehmen beschränkt sich nicht auf solche Solidaritätsgesten, sondern nimmt auch konkrete Formen an, die auch der Gemeinde die Möglichkeit geben, sich zu bewähren. Dank Merles Engagement konnte der am Herzschlag verstorbene Veitl nach Breslau überführt und auf dem jüdischen Friedhof neben seiner Frau beigesetzt werden, »außerdem bot sie Else an, nach Odersaga zu ziehen« (O, 265), damit sie im geschändeten Haus nicht bleiben muss. Als Else tödlich verunglückt, wird sie auf Merles Anordnung in der Schlosskapelle aufgebahrt und vom hiesigen Pastor verabschiedet, was den Zugehörigkeitssinn der Gemeinde stärken mag. Dieser ökumenische Abschied stößt zwar auf breite Kritik der nationalsozialistischen Behörde und der eingefleischten Parteigenossen, nichtsdestotrotz wird das gemeinsame Gebet über der Leiche der jüdischen Kolkwitzer Schneiderin zum Ausdruck des Humanen und Protest gegen den Verstoß gegen die Menschenwürde: Pastor Hänischs Nachfolger, ein noch junger Geistlicher, kam am Vorabend der Abfahrt auf Merles Wunsch, um zum Abschied ein Gebet zu sprechen. Es war eine eindringliche Bitte, die den Geist der Brüderlichkeit ausstrahlte und die wenigen Zuhörer sehr bewegte. […] Heimlich wurde in dieser Zeit wohl ähnliches gebetet, aber daß der junge Pastor Voigt offen bekannte, was viele Menschen bedrückte, war mutig. Ja, die Zuhörer hatten den Eindruck, der Geistliche benutzte die Gelegenheit, um zu mahnen, daß Gottes Mühlen langsam mahlen, aber trefflich fein, und wo Unrecht geschah, könne sich niemand einem höheren Richterspruch entziehen, das brauche nicht heute oder morgen zu sein – Gott habe ein anderes Zeitmaß als die Menschen. (O, 267)

Eine solche Gemeinschaft kann jedoch ohne ihre geistige Autorität nicht überleben, sie braucht jeweils einen Wegweiser, der ihr die Entwicklung vorzeigen und sie besonders in schwierigen Zeiten zusammenhalten würde. In jedem der Storm’schen Romane spielen die lokalen Anführer eine wichtige Rolle; als Nebenfiguren erscheinen sie nur in wenigen Szenen, dennoch wirken ihr Auftritt,

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ihre Ansichten und das Benehmen beeindruckend und vorbildhaft. In dem Roman Das vorletzte Gericht übernimmt eine solche Funktion der Gemeindeälteste Neubauer. Er ist derjenige, der die Toten aus dem Rackental verabschiedet, die Bilder der Vorfahren beschwört, die Geschichte der Gegend sehr gut kennt und deswegen als Stütze für die anderen gilt. Nicht zufällig sieht Marianne in diesem Greis einen starken Mann mit dem Hammer auf der Schulter, und als er »aus dem Saal [ging, hatte Marianne das Gefühl], als schwankte das alte Haus« (VG, 25). Frauke Janzen erblickt in der Figur Neubauers den Vorboten des Untergangs Schlesiens, der die kommende Apokalypse voraussieht und sie durch die Anwendung des schlesischen Dialekts explizit zum Ausdruck bringt.462 Folgt man dieser Interpretation, so muss man Neubauer, der zusammen mit seiner Schwiegertochter und dem Enkel nach dem Einmarsch der Russen und Verlust des eigenen Hauses in Mariannes Hausmeisterwohnung einzieht, eine symbolische Rolle des Wächters der Heimat zuschreiben463, der sie nie verlassen wird und mit ihr untergeht. Sein Opfer soll aber nicht das Ende, sondern einen Anfang bedeuten, Anfang einer neuen, noch unbekannten Zeit. Der Fokalisator offenbart diese dem Gemeindeältesten auferlegte Bürde, indem er aus dessen Innensicht spricht: Am Krankenlager des Enkelsohnes war es dem Alten klar geworden, daß Wächter zurückbleiben mußten, auch wenn sie nur still in den Wäldern ruhen sollten, aber an solchen Sturmtagen, wie diesen, würde die Landschaft wieder ihnen gehören, nur ihnen allen! Ihre Klagen würden an Türen und Fenstern rütteln, daß die Menschen dahinter das Fürchten lernten. (VG, 208)

Neubauer wird sich dem Befehl, die Heimat zu verlassen, nicht beugen, denn er will sich als »ein hergelaufener Hund nicht verjagen« (VG, 240) lassen, deswegen geht er in die Berge und wird dort, an einem schon früher ausgesuchten Baum, von welchem her er »das schlesische Land, […] und drüben, jenseits der fernen Höhen, das böhmische, wo er geboren war« (VG, 243) sah, den Tod finden. Ähnlich wie Neubauer wird auch der Major Wiemann aus Odersaga die Heimat nicht verlassen wollen. Beide Figuren unterscheiden sich voneinander durch ihre soziale Abstammung, Ausbildung und den gesellschaftlichen Status, beide genießen aber die Anerkennung ihrer Umgebung und fungieren als Beschützer der alten Sittenordnung. Die Fokalisierungsperspektive dieser beiden 462 Es handelt sich um die folgende Aussage: »Wenn er jetzt meint […], daß es mit allem vorbei ist, so meint er nicht nur sein Haus, uns oalle meint er, ju – uns oalle!« (VG 31). Zur Deutung des Romans Das vorletzte Gericht im Hinblick auf dessen apokalyptische Dramaturgie vgl. F. Janzen: Zum Verhältnis vom Heimatverlust und Neubeginn in frühen Romanen über Flucht und Vertreibung. In: »Studia Germanica Posnaniensia« XXXIV / 2013, S. 85–100, hier: S. 89f. 463 Die Analogie zu M. Halbwachs’ Konzept eines Wächters der Tradition liegt auf der Hand. Vgl. M. Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin / Neuwied 1966, S. 151.

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älteren und erfahreneren Männer ist auf die Bewahrung der Tradition ausgerichtet, wobei jeder von ihnen diesen Begriff anders versteht. Sieht Neubauer in der Generationenkontinuität den Sinn des menschlichen Daseins, der jedem zustehen sollte, so erkennt Wiemann den Fortbestand in der moralischen Haltbarkeit, die – politische und historische Ereignisse zuwider – immer auf Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Zivilcourage setzt. Wiemanns Ratschläge, auf die Anne Margarete hört, lassen sich als Mahnworte nicht nur an die ganze Gemeinde, sondern an die deutsche Nation lesen. Der alte Major ist der Einzige, der das Ende der nationalsozialistischen Politik vorhersieht und vor der Katastrophe warnt, indem er Parallelen zwischen der geschätzten Tradition und dem arroganten Ritus der neuen Herrscher enthüllt. Seine schonungslose Kritik an Hitler kann genauso beeindruckend wirken wie sein Selbstmord am Grab der verstorbenen Frau angesichts der Verhaftungsaktion, die gegen die Anhänger des Kreisauer Kreises gerichtet war. In seinem politischen Manifest formuliert er einen eindeutigen Wegweiser, der nicht nur an Anna Margarete, sondern an die ganze Gemeinde gerichtet ist: »Wollen Sie diesem Österreicher, diesem Hitler, auch nachlaufen?« funkelte er sie [Anna Margarete – R.D.-J.] an. »Machen sie nicht mit! Sie werden sich noch wundern, wohin er uns steuert!« […] »Das ist es ja gerade!« polterte der ehemalige Soldat, »die Weise, die der bläst, tönt gar lieblich in jedermanns Ohr. Das ist das Gefährliche, wenn ununterbrochen dasselbe gehämmert wird, dann glaubt bald der größte Skeptiker daran. Mein Neffe Weber ist jetzt mit der Aufgabe betraut worden, hier in der Nähe ein Arbeitsdienstlager aufzubauen. Das wird ihm liegen! Und das ist auch ganz gescheit, zieht die arbeitslose Jugend von der Straße ab! Mit all solchen zweckmäßigen Maßnahmen gewinnt der Österreicher natürlich Ansehen, aber – alles geht im Eilzugtempo, vielen Maßnahmen fehlt die solide Grundlage.« (O, 257)

Wiemann kann die Unrechtstaten Hitlers auf keine Art und Weise legitimieren, denn sie beweisen die Eitelkeit des Reichskanzlers und können nur zum Untergang führen (O, 258). Der Reservemajor ist nicht die einzige Figur des Storm’schen Werkes, die aus Perspektive der eigenen Kriegserfahrungen und des langjährigen Militärdienstes zur inneren Disziplin und Aufrichtigkeit rät. Auch dem Kapitän Richard Bother wird die Rolle einer dörflichen Autorität zugeschrieben. Als Fremder weckt er zunächst nur das Interesse der Gemeinschaft, man will ihn kennenlernen und etwas mehr von ihm erfahren, aber als er zum Geburtshelfer eines unehelichen Kindes wird, kann er dadurch die Sympathie und Anerkennung der Gemeindevertreter gewinnen und zu deren festem Teil werden. So übernimmt er nicht nur die Rolle des Paten von Michael, sondern auch des ganzen Dorfes, sich um das Wohl beider kümmernd. So wird er mit dem heiligen Joseph verglichen, »einem umsorgenden alten Mann«, der mit seiner Magd durch die Gegend zieht. Die in den Mund gelegten Worte über die Rolle der Nachbarschaft verdeutlichen

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seine Funktion in Schmalbach und in der Heimat jedes Menschen: »eine gute Nachbarschaft wäre wichtig, diese Leute kannten die Verhältnisse des Dorfes näher und konnten ihm vielleicht einen tüchtigen Handwerker empfehlen, denn noch manche Arbeit war auf dem Grundstück zu tun […].« (E, 9). Ursprünglich rechnet er mit Hilfe der Anderen, bald wird er aber selbst zum Helfer und Muster von nachbarschaftlicher Fürsorge und wahrer Freundschaft, der statt von anderen zu erwarten, selbst immer etwas anbieten kann. Nicht nur die Autoritäten gelten als Wegweiser für die jeweilige Gemeinschaft. In jedem der Romane werden nämlich Werte verschlüsselt, die von den Protagonisten, besonders in schweren Kriegszeiten, als Anhaltspunkte angesehen werden, die aber zugleich das Wesen der Gemeinschaftsexistenz belegen lassen. Zu solchen Werten gehören Pflichtbewusstsein, Tüchtigkeit und Arbeitsethos, also jene Tugenden, die die Literatur der verlorenen Heimat durchziehen und darin eine identitätsstiftende Wirkung ausüben464. Nach diesen Eigenschaften richten sich Ruth Storms Figuren, indem sie ihren Alltagsaufgaben nachgehen. Nicht zufällig werden als Handlungsorte die Druckerei (… und wurden nicht gefragt), das Sägewerk (Das vorletzte Gericht), der Bauernhof (Ein Stückchen Erde, Der Verkleidete) oder die Schlosswirtschaft (Odersaga) gewählt, denn sie exemplifizieren den Lebenssinn der Protagonisten und sind einer der Gründe für die Identifikation mit der Heimat. Welche Rolle der Arbeit zukommt und wie sie die Selbstfindung des Menschen prägen kann, erklärt Marianne in Das Vorletzte Gericht: »Hier war ein Mensch von dem friedlichen Pflichtenkreis einer vertrauten Arbeit erfüllt und beschenkt.« (VG, 60) Die Pflichterfüllung und Zufriedenheit mit der eigenen Leistung werden von der Protagonistin als eine Gabe angesehen, welche eines der Ziele der Selbstverwirklichung ausmacht. Sie gewinnt an doppelter Bedeutung, wenn sie nicht nur dem Individuum, sondern der heimatlichen Gemeinschaft dient. Verliert man die Arbeit, so schwindet auch der Lebenssinn dahin. Dann bleibt nur der Tod übrig, für welchen sich in Das vorletzte Gericht Neubauer und Wismars Vater entscheiden. Über den Schritt dieses 464 Diese Tugenden kennzeichnen ebenfalls die Protagonisten der aus Ostpreußen stammenden Autoren und tauchen oft in deren autobiografischen Aufzeichnungen auf. Im Katalog der Tugenden des preußischen Ethos finden sich z. B. Arbeitsfleiß, Anständigkeit, Nächstenliebe, bescheidene Lebensansprüche, Disziplin u. a. Vgl. M. Borzyszkowska-Szewczyk: Das Bild der Region durch das Prisma des adeligen Familiensitzes. Zu autobiographischen Schriften von Nachkommen des Adels aus Ostpreußen und Hinterpommern nach 1945. In: Erzählregionen. Regionales Erzählen und Erzählen über eine Region. Aachen 2011, S. 42–45. Auch K. Dubeck sondert in ihrer Analyse vierer der aus Schlesien stammenden Autoren Romane ein Wertesystem aus, zu dem in erster Linie Liebe, Glaube und Hoffnung gehören. Vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 174. G. B. Szewczyk verweist auf dieselben Tugenden von schlesischen Protagonisten. Vgl. G. B. Szewczyk: Grenzüberschreitungen: Schlesien in der Nachkriegsprosa von Egon H. Rakette. In: Eine Provinz in der Literatur (wie Anm. 38), S. 122.

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Letzten reflektiert Marianne missmutig und verweist auf die Notwendigkeit der Generationenfortsetzbarkeit und deren Rolle für den Identitätsprozess eines Menschen: Noch lange grübelte Marianne am Abend über diese Begegnung nach. Sie dachte an den alten Mann, der wohl zeitlebens treu seine Pflicht erfüllt hatte, und der nun freiwillig in die großen Wälder schlafen gehen wollte, weil es keinen anderen Weg mehr für ihn gab. Dieser Mann war ein Teil des Volkes, vielleicht hatten schon seine Väter in der gleichen Schmiede gearbeitet, nun aber tat sich ein Abgrund vor ihm auf, den der junge starke Sohn nicht überspringen konnte, darum vergrub der Alte sein Werkzeug. Er hatte all das, was seinen Vorfahren und seinem eigenen Leben Kraft und Inhalt gegeben hatte, dem dunklen Schoß der Erde anvertraut, er wollte es nicht sinnlos verrotten lassen und durch fremde Hände entweiht wissen. (VG, 63)

Derselbe Gedanken quält Matthes Baumert, Mariannes Cousin und Helfer am Erpachshof, der nach dem Einmarsch der Russen das menschenleere und stillstehende Sägewerk beobachtet und nicht glauben kann, dass »alles, was auf Erpachshof wie ein Uhrwerk gearbeitet hatte, vergessen und achtlos beiseite gestoßen worden [war – R.D.–J.].« (VG, 168). Die kaputte Uhr versinnbildlicht in dieser Situation das Ende einer Zeit, einer Lebenskultur, die mit ihren Einwohnern zugrunde gerichtet wird. Die Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit des Schicksals der deutschen Einwohner besiegelt – so Frauke Janzen – die Überführung der Uhr durch die Russen. Als im Austauschhandel mit den Polen eine andere Uhr verkauft, und für das erworbene Geld Essen gekauft wird, bleibt den Erpachshof-Einwohnern nichts anderes übrig, als über den Witz des Jungen Gerhard zu lachen, sie hätten die Uhr aufgegessen.465 Auch wenn Arbeit und Tüchtigkeit nicht direkt ins Blickfeld des hetero- oder homodiegetischen Fokalistators geraten, so durchziehen sie die Prosawerke Ruth Storms leitmotivisch und prägen die Identität sowohl der Haupt- als auch Nebenfiguren. Die Arbeit wird einerseits als Pflichterfüllung den Vorfahren und ihrer jahrzehntelangen Mühe gegenüber verstanden (Marianne, Großmutter des Kindes) oder als Leistung, die den Familienmitgliedern dienen soll (Vater Lehan, Rautenberg, Eva Lähn etc.), oder zum Gemeinwohl beitragen kann (Franz Gaebler, Richard Bother). Der ethische Wert der Arbeit verhilft zweifelsohne dazu, in Krisensituationen die Menschenwürde aufzubewahren (Marianne, Ich-Erzählerin, Eva Lähn, Wismar). Es ist hervorzuheben, dass Arbeit als Tugend an sich verstanden wird, die man nicht benennen, begründen bzw. legitimieren muss. Da sie sowohl Individuen als auch einzelne Vertreter der Gemeinschaft betrifft, bildet sie eine identitätsstiftende Kategorie, die dabei allgemein akzeptiert wird. 465 Über das Motiv der Uhr in Das vorletzte Gericht vgl. Janzen, Zum Verhältnis vom Heimatverlust und Neubeginn in frühen Romanen über Flucht und Vertreibung (wie Anm. 462), S. 91.

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Storms Vorstellung von einer Gemeinschaft ist daher eine kompromissartige. Amitai Etzionis Konzept einer aktiven Gemeinschaft zufolge verlangt eine solche Formation nach Anpassungsmechanismen, denn es ist notwendig, dass die gemeinsamen Werte die individuellen Freiheiten übersteigen und dadurch zur Quelle der moralischen Orientierung für eine Gruppe werden, die wiederum als ein soziales Netzwerk von Menschen wahrgenommen werden kann.466 Im Fall von Storms Helden scheinen sich die gemeinschaftlichen und individuellen Werte sogar anzugleichen, die Haupt- und Nebenfiguren folgen Idealen, die sie akzeptieren, schätzen und als wegweisend anerkennen, die aber von Anderen genauso wahrgenommen werden, so dass kein Zwang entsteht, auf eigene Werte zu verzichten, sondern sie können in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten ins Sichtbare transponiert werden, ohne dem sozialen Druck ausgesetzt zu sein und ohne über ethische Dilemmata streiten zu müssen.467 Eine solche Übereinstimmung betrifft alle anderen Werte bzw. ethisch-moralischen Aspekte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Auch der Begriff der Heimat versteht sich von selbst, so muss er nicht definiert, benannt oder mit der Wirklichkeit konfrontiert werden. Jene Unfähigkeit, die verlorene Heimat zu definieren468, über sie sprechen oder reflektieren zu können, kennzeichnet die Nachkriegsliteratur im Allgemeinen, so bildet Storms Werk im Hinblick darauf keine Ausnahme. Einmal benutzt Marianne das Wort Heimat, als sie an ihre Heirat denkt und das darauffolgende Verlassen des elterlichen Hauses. Die in ihrer Erinnerung behaltene Heimat gilt in diesen schwierigen Jahren als Unterstützung und Identitätswegweiser: Die ganzen langen Jahre in Berlin war ihr der Gedanke an zuhause eine unsichtbare Stütze gewesen, aber erst jetzt wurde ihr das ganz bewußt. Sie würde ein loses Blatt sein, wenn sie die Heimat verlor. (VG, 127)

In Ein Stückchen Erde definiert es Bother dagegen als Heim, zugleich auf mehrere Komponenten dieses Begriffs verweisend:

466 Vgl. A. Etzioni: Die Entdeckung des Gemeinwesens: Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus. Frankfurt a. M. 1998, S. 295. Auch wenn Etzionis Konzept als überholt gelten mag, so verdeutlicht es zweifelsohne R. Storms Vorstellung von einer Gemeinschaft. Über den archaischen Charakter dieses Konzepts vgl. S. Prideaux: From Organisational Theory to the New Communitarium of Amitai Etzioni. In: »Canadian Journal of Sociology«, 27 (2002) 1, S. 69–81. 467 Über verschiedene Mechanismen und Abhängigkeiten von Gemeinschaften vgl. Zirfas, Jörissen, Phänomenologien der Identität (wie Anm. 52), S. 126. 468 In Storms Romanen taucht der Heimatbegriff sehr selten auf. Vgl. z. B. VG 67, 108, 115, 127. Es ist aber eine Tendenz, die in vielen literarischen Texten über sog. verlorene Heimat zu bemerken ist. Vgl. hierzu Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 344.

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Vom Materiellen zum Geistigen

Heim! Heim war nicht nur Sohnshaus, die Dackel, der Braune Berg, heim war das ganze Tal, die Landschaft mit ihren Menschen, dazu gehörte die Geißlerin genauso wie der kleine Michael, und vor allem Eva Lähn. (E, 118)

Das Unvermögen, die Heimat wortwörtlich zu benennen, überschneidet sich mit den Versuchen, den Erinnerungsprozess als solchen zu semantisieren. Auch daran scheitern die Helden und sind nicht imstande, das Erlebte und Erinnerte zu beschreiben. Nur Marianne erscheinen die Erinnerungen als »das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann« (VG, 41) und dabei »als Vermächtnis« (VG, 186). Auch wenn die Figuren den Erinnerungsprozess nicht benennen wollen / können, so geben sie sich Mühe all das, was sie erlebt haben und erleben, mithilfe von Bildern festzuhalten. Zu diesem Zweck benutzen sie Gemälde, Fotos oder andere Kunsterzeugnisse469, die aber jeweils die individuellen Erinnerungsprozesse veranschaulichen. In Das vorletzte Gericht zeichnet der Maler von Lampnitz den Toten Erpach und dessen Hände als Ausdruck eines mühevollen Lebens sowie Marianne als ein sorgenloses Mädchen mit »viel Musikalität« (VG, 29) nach; in Ein Stückchen Erde will der Maler Carl Pressen die Menschen gar nicht porträtieren, sondern die Landschaft malen, dann aber, nachdem er ausnahmsweise das Bild seiner jungen Frau Bertha angefertigt hat, begreift er seine Mission und entscheidet sich, auf den Porträts Nachbarn und Bekannte aus dem Tal zu verewigen, weil ihn etwas dazu »treibt« (E, 147). Die Malerfiguren bevölkern hingegen den Roman Odersaga und sind ständig bemüht, sowohl Familienmitglieder, Treffen, Landschaft sowie Gebäude wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. Auf die symbolische Funktion der Bilder verweist hier das Porträt der Oma der Schwestern Lehan, das im Salon unter dem der Urgroßmutter hängt, und an die weibliche Genealogie der Familie erinnert. Das Porträt wurde von dem Großvater angefertigt und stellt nicht nur dessen früh verstorbene Frau dar, sondern gleichzeitig das Familienhaus im Waldenburger Bergland vor dem Hintergrund des Garn- und Hanfspinnereigebäude (O, 32). In diesem Bild wird die Geschichte der Familie mütterlicherseits eingeschlossen, an welche sich die Schicksale der kommenden Generationen anschließen und welche nicht nur die Tradition, sondern auch den Wandel vorwegnimmt, denn das zeichnerische Talent des Großvaters hat seine Enkelin geerbt, die den Weg einer selbständigen Künstlerin betreten wird. Eines Bildes bedient sich ebenfalls das Kind in …und wurden nicht gefragt, das die Geschichte der Stadt Kattowitz und die der eigenen Familie zu verknüpfen sucht; an einer anderen Stelle bemängelt die junge Schülerin die Hausaufgaben, die von ihr abverlangen, die Wirklichkeit 469 Es ist an dieser Stelle zu erinnern, dass Ruth Storm, besonders in Schreiberhau, viel mit Malerei in Berührung kam. Ihre Verwandte, Katarina Gansser-Stephan, war Künstlerin, die die Familienmitglieder porträtiert hat. Das Motiv der Kunst ist daher stark autobiografisch geprägt. Vgl. dazu Kapitel 2, S. 83.

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in Zahlen auszudrücken und nicht in Bildern. Die Bilder scheinen ihr aussagekräftiger zu sein, denn sie können nicht nur die erfassten Details wiedergeben, sondern auch die nicht zu benennenden Gefühle, wie das Besitzen von zwei Müttern – einer leiblichen und einer Milchmutter und dabei eines Milchbruders, von dessen Existenz man nichts gewusst hat. Die Zahlen irrlichterten und verschwammen teuflisch. Warum verlangte der Ordinarius statt »Rechnen« nicht »Zeichnen!« Oh, das Kind hätte Jelena gemalt, nichts hätte es an ihr vergessen, weder die lose über den schwarzen Tuchrock fallende Bluse, noch ihren dicken Zopf, der hinten unter den Fransen ihres Kopftuches hervorkam. Auch den Schirm und das Leinentuchbündel hätte das Kind mitgezeichnet. Leider war Rechnen, nicht Zeichnen! (UwnG, 18f.)

Die Funktion der Gemälde übernehmen gelegentlich Fotos oder Briefe, denen eine ähnliche engrammatische Kraft zugeschrieben wird. So sehen sich Bother und seine Haushälterin während des letzten gemeinsamen Weihnachtsabends Fotos seiner Nächsten an und lesen Briefe, um die Toten sprechen zu lassen (E, 118). Die Toten will man auch vor ihrem Weg ins Jenseits kurz anhalten, indem man ihre Totenmasken anfertigt und sie dadurch für die Nachkommenschaft verewigt. So geht auch eine Künstlerin in der Leichenhalle des Warmbrunner Krankenhauses vor, die »im rotgelben Ton das stille und so klein gewordene Gesicht des Malers [Oberländers – R.D–J.] modellierte.« (Isa, 8) Sie wollte sein »seliges Sterben, [das sich wohl in seinen Zügen widerspiegelte, festhalten – R.D.J.].« (Isa, 9) Das Schaffen hatte für die Künstlerin eine therapeutische Funktion, denn sie konnte sich von der Trauer befreien und »im gestaltenden Zwiegespräch Abschied [nehmen – R.D.-J.].« (Isa, 10) Die in einzelnen Prosawerken angesammelten Bilder beziehen sich auf persönliche Erlebnisse, sie betreffen Einzelpersonen, selten Gruppen von Menschen, ihre engrammatische Kraft geht daher an der mangelnden Frequenz und spärlicher Beschreibung dahin, was eine durchdachte Strategie dokumentiert, denn die Bilder und Fotos wirken durch ihre Materialität als begrenzt. Um jedoch ein wirkliches Erinnerungsmedium zu finden, die eine symbolische Funktion hätte, greift die Autorin in zwei ihrer Prosawerke zur Metapher der Erde: In Storms Erstlingsroman Das vorletzte Gericht legt sich Marianne zu Boden, um sich vor einem Feindestreifen zu verstecken und auf einmal wird sie »einst mit dem dunklen Gras ihrer eigenen Scholle, [es ist ihr – R.D.-J.], sie selbst sei ein Stück von ihr, einem Samenkorn gleich, das still und vertrauensvoll im Schoß dieser Erde ruhte« (VG, 177). Symbolisch vereinigt sich Marianne mit der Erde und dieses Bündnis kann durch nichts zerschlagen werden. Eine mysteriöse Verbrüderung mit der Erde geschieht auch in Ich schrieb es auf, wo die Erde zum Zeugen der tragischen Ereignisse der Nachkriegsjahre wird und als Mitbringsel aus der Heimat deren immerwährende Verkörperung anbietet: »Ein Stückchen

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Vom Materiellen zum Geistigen

Erde, schlesischen Heimatboden, habe ich schon in unser Gepäck getan, ich will diese Erde hüten, die jetzt soviel Blut und Tränen trinkt.« (Isa, 25) Die Anwendung des Erde-Symbols470 vereinigt somit das materielle Potenzial der Heimat, die sich im Haus, dessen Gegenständen und Erinnerungsmedien (Bilder, Skulpturen, Fotos, Briefe) ausdrückt, mit dem Geistigen, das nicht nur auf Erinnerung, Bewahrung von Werten beruht, sondern einen Anschluss jedes Einzelnen an die ontologisch begründete Weltordnung voraussetzt, deren Wesen eine Art Ambivalenz innewohnt: die Finalität räumt einer ewigen Bewegung Platz ein.471

470 Das Motiv der Erde taucht in den Werken der aus Schlesien stammenden Autoren häufig auf. Bei H. Bienek nimmt es die Gestalt der Mutter-Erde an und wird ins Mythische erhöht. Vgl. Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 260ff. 471 In ihrem Essay drückt R. Storm im ähnlichen Ton ihre Trauer über den Verlust der geistigen Kraft unter den Vertriebenen aus, die sie als entwurzelt, herausgerissen bezeichnet und mit einem »gestrandeten Fisch«, der sein Element verlor, vergleicht. Auch in dieser Abhandlung hebt sie ihre Überzeugung hervor, nur das Immaterielle möge als richtige Lebensquelle gelten. Vgl. R. Storm: Für Freiheit und Menschenwürde. In: »Schlesien« 19. Jg., H. 3 / 1974, S. 179f.

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Natura naturans. Natur- und Landschaft als Komponenten des Heimatbegriffs

Die Heimat – sei es eine erinnerte, verlorene, ersehnte oder existente – findet des Öfteren in den Natur- und Landschaftsbildern ihre literarische Verarbeitung472. Auch Ruth Storms Heimatbegriff wird durch ihre enge Bindung an die Natur bestimmt. Eine besondere Rolle, die der Natur mit deren zwei konstitutiven Elementen – Landschaft und Tieren – zugeschrieben wird, ist im Fall der Schriftstellerin ebenfalls autobiografisch geprägt und kann auf ihre Herkunft zurückgeführt werden. Die im oberschlesischen Kattowitz verbrachten Kindheits- und Jugendjahre haben ihre affirmative Haltung der Natur gegenüber beeinflussen können. Ihre Sehnsucht nach dem Kontakt mit der Natur, die sie besonders in einer Industrieregion vermisst, machte sie daher gegenüber den Reizen der Landschaften besonders empfänglich. Diese naturfreundliche Haltung ist nur scheinbar auf die Herkunft der Schriftstellerin zurückzuführen, denn ihr Verhältnis zur Natur konstituiert sich tatsächlich erst nach dem Verlassen der oberschlesischen Industrieregion und der Ankunft im Riesengebirge. Die Diskrepanz zwischen Land und Stadt, Natur und Kultur473 wird dann zum erkennbaren Zeichen ihres Gesamtwerkes, aber sie wird nur in jenen Werken thematisiert, in denen die Handlung in Oberschlesien bzw. in Breslau spielt, in allen anderen steht dagegen die Gebirgslandschaft mit ihrer Schönheit, Kraft und existentieller Mehrdimensionalität im Vordergrund und sie gilt Ruth Storm als etwas Ursprüngliches, Gegebenes und Unantastbares. Eine dualistische Vorstellung von Natur und ihrem zivilisatorischen Pendant würde allerdings in Bezug auf Storms Werk eine Vereinfachung bedeuten. Nicht angemessen wäre ebenfalls die Erwartung von typischen literarischen Funktionen von Natur. Die 472 Über das Verhältnis von Natur und Heimat vgl. z. B. Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 51–53, 85–87, 184, 218; Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 153–155, 295–297. 473 Es ist an dieser Stelle auf die erste Schaffensphase der Schriftstellerin hinzuweisen, in der sie zu den Heimatkunstbewegung-Motiven tendierte. In beiden Romanen aus den 1950er Jahren lässt sich noch der Dualismus zwischen Land und Stadt, Natur und Fortschritt wahrnehmen. Vgl. Kapitel 2, S. 70–79.

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Natura naturans. Natur- und Landschaft als Komponenten des Heimatbegriffs

Prosawerke von Ruth Storm bieten keine als naturalistisch begriffenen, genauen und detailgetreuen Abbildungen der Außenwelt, die man als Rekonstruktion ihrer verlorenen Heimat ansehen könnte. Die zur Realitätsnähe tendierenden Beschreibungen tragen zwar ein Stimmungspotenzial in sich, das sich aber aufgrund des dynamischen Wechsels von Szenen auflöst. Die Natur übernimmt dabei gelegentlich die Funktion einer Kulisse, vor welcher sich die Handlung der jeweiligen Werke abspielt; sie spiegelt die inneren Vorgänge der Figuren bzw. deren Determiniertheit durch Naturprozesse474 wider. All diese Funktionen sind aber auf das Notwendigste reduziert, als ob die Autorin nicht bestrebt wäre, die heimatliche Natur in ihren Einzelheiten festzuhalten. Dennoch offenbart sich die Natur in den Storm’schen Werken in ihrer regionalen Tragweite und enthüllt das für sie Charakteristische. Die Rolle der Natur bei Ruth Storm lässt sich allerdings mit dem von Hubert Orłowski definierten Rang der ostpreußischen Landschaft gleichsetzen, die zum Mythos erhoben dann besonders im Erinnerungsprozess stark identitätsstiftend wirkt. Die der preußischen Landschaft zugeschriebenen Funktionen, die auf visuellen, biotopischen, ästhetischen sowie ahistorischen Faktoren475 beruhen, können jedoch auf die Analyse der Naturbilder im Prosawerk Ruth Storms ebenfalls Anwendung finden. Der noch im Geist der Heimatkunst entstandene Erzählband Ein Mann kehrt heim arbeitet den Dualismus von Land und Stadt, Natur und Kultur heraus und bildet den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen und die Positionierung der Naturbilder im Erinnerungsprozess, deren Rolle – Orłowskis Typologie heranziehend – als antizivilisatorisches Biotop deutlich wird. Schaut man auf die einzelnen von ihnen, so entsteht ein aus vielen Elementen zusammengesetztes Porträt der Heimat. Von diesem Dualismus ausgehend, muss festgehalten werden, dass die Zivilisation in Ruth Storms Prosawerken immer die Stadt verkörpert, die allerdings nicht im topographischen Detail dargestellt wird, sondern eher als ein Netz von Straßen und Gebäuden, das die Verstrickung des Menschen in ein System allgemein veranschaulicht. In …und wurden nicht gefragt erstreckt sich die skizzenhaft abgebildete Stadt Kattowitz über das Gelände des ehemaligen Dorfes, was das dialektische Verhältnis zwischen Natur und Kultur doppelt unterstreicht. Die Entwicklung der Stadt verläuft dabei parallel zu der sich ge474 In der Forschung wird oft auf diese Kategorie der Natur hingewiesen, die den Menschen als von ihr abhängig darstellt. Im Gegensatz dazu taucht das Aufklärungsmodell auf, nach dem der Mensch sich der Natur unterzuordnen versucht. Vgl. dazu eine Interpretation von Galizien-Bildern von M. Kłan´ska: Die Funktionen der galizischen Landschaft in den Werken von Leopold Sacher-Sacher Masoch, Karl Emil Franzos und Joseph Roth. In: Funktion von Natur und Landschaft in der österreichischen Literatur, hrsg. von R. Battiston-Zuliani. Berlin et al. 2004, S. 51–72. 475 Vgl. H. Orłowski: Za górami, za lasami… O niemieckiej literaturze Prus Wschodnich 1863– 1945. Olsztyn 2003, S. 27 und 11f.

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Natura naturans. Natur- und Landschaft als Komponenten des Heimatbegriffs

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nauso dynamisch gestaltenden Familiengeschichte. Von dieser zivilisatorischen Transformation wird von der Großmutter des Kindes erzählt, die das Wachsen der Stadt als einen natürlichen Prozess darstellt, der in ihrem weiblichen Narrativ dem Aufwachsen eines Kindes gleicht. Interessanterweise wird dieser Prozess einerseits befürwortet, andererseits lässt sich aus der großmütterlichen Erzählung die Sorge um die dem Verfall ausgesetzte Umwelt und die Zerstörung der ursprünglichen Natur herauslesen: Großmama erzählte: Wo die Fleischerei sich befand, wäre früher ihr Garten gewesen, ein großer mit Büschen und Bäumen, der Vater und alle Onkel und Tanten hätten als Kinder dort gespielt. Warum war der Garten fort? Warum gab es zwischen den Höhen keine Bäume und Sträucher mehr? Wer gab den Befehl, sie zu fällen und zu zerlegen? Vielleicht niemand. Die Stadt wuchs aus sich selbst heraus wie eine Pflanze, die zum Licht, zur Entfaltung drängte. Die Menschen konnten die Erde und Bäume und Blumen nicht festhalten, sie wurden einfach mitgezogen von den wachsenden Häusern und Mauern und Straßenzügen. Rechts und links polterten über das Pflaster schwerbeladene Fuhrwerke mit Kohle und Eisen; und die »Elektrische« fuhr laut bimmelnd in der Mitte der Straße auf Schienen. (UwnG, 6)

Die Beherrschung der Stadt durch Industrie und Fortschritt wird letztlich akzeptiert und als eine richtige Entwicklung betrachtet. Nur einmal bemerkt das erzählende Kind, dass noch eine andere Welt außerhalb der Stadtgrenzen existiere. Das gemeinsame Picknick der Familie in den »dichten Laubwäldern südlich der Stadt« (UwnG, 72) gibt dem Kind die Möglichkeit, zum ersten Mal die üppige, ungezähmte und vom Menschen unabhängige Natur zu genießen, deren Vielfalt es das Gefühl von Ewigkeit erahnen lässt: Wenn doch diese Fahrt nie aufhörte! Wenn sie so bis an das Ende der Welt fahren könnten und wieder zurück, Tag und Nacht, Monde und Jahre lang. Durch die Blütenpracht des Frühlings, vorbei an wogenden Ährenfeldern und zwischen der Wälder harzigen Stämmen, an denen die Buntspechte klopften und die schwarzen Hirschkäfer emporkrabbelten und die Eichhörnchen in fliegenden Sprüngen durch die Zweige, roten Blitzen gleich, davonhuschten. Ja fahren bis an das Ende der Welt mit vielen Pferden! (UwnG, 72)

Diesem außerhalb der Stadt liegenden Paradies, einem locus amoenus ähnlich, wird aber unverzüglich eine vom Menschen beherrschte und ihm untertänig gemachte Fläche entgegengestellt, die mit der ursprünglichen Natur nichts mehr zu tun hat, sondern als eine zivilisierte Lebensform eher den freien Geist des Menschen einschränkt. Die schon von Natureindrücken gesättigte Gesellschaft kehrt nämlich nicht durch den Wald zurück, sondern »auf der Chaussee an den Halden entlang, an den Grubenteichen, Tümpeln und Brüchen vorbei, wo die Warntafeln mit den Totenköpfen standen.« (UwnG, 73) Der von dem Fokalisierenden hervorgehobene Unterschied zwischen Industriestadt und Waldnatur,

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der in den Werken oberschlesischer Autoren zu einem häufigen Motiv gehört476, dient aber nicht dazu, die Zerstörung der Natur anzuprangern und zugleich den dem schlesischen Wald oft zugeschriebenen mythischen Charakter zu offenbaren477, sondern zur Akzeptanz eines unabwendbaren Schicksals und der linearen Geschichtsentwicklung. Der Fortschritt ließe sich nicht anhalten, genauso wie der baldige Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der die Welt des Kindes zerstören wird. Das in Kattowitz aufwachsende Kind entbehrt merkwürdigerweise der Kontakte mit der Natur nicht und lebt voller Unbewusstheit, dass eine von Menschenhand noch unberührte Welt existiere. So erscheint ihm die Stadt zwar als etwas Naturfremdes, aber nicht Feindliches und keineswegs Bedrohliches. Ein solches Verständnis von der Stadt hebt Ruth Storms autobiografisches Werk … und wurden nicht gefragt von anderen schlesischen Autoren ab, die seit Anfang des 20. Jhs. gegen die Großstadt gerichtete Romane verfassten, in denen nach Arno Lubos »Kritik an der zivilisatorischen und technischen Entwicklung«478 geübt wurde. Das Bewusstsein der zivilisatorischen Übermacht geht dem Kind erst später auf, als es während des ersten Besuchs in Schreiberhau bemerkt, es gebe einen »Himmel, den sie noch nie sah, ineinanderfließende Farbtöne vom zarten Grün und Rosa bis zum gleißenden Honiggelb […].« (UwnG, 98) In diesem Moment verwandelt sich die Natur in den Augen des Betrachters von einem stummen Objekt zum selbständigen Subjekt, das eine konkrete Gestalt annimmt und geradezu als Partner und Begleiter erscheint. Dieses Modell ihres Naturverständnisses greift die Schriftstellerin ebenfalls im Roman Odersaga auf, in dem Großstädte (Breslau, München, Hamburg, Kattowitz) zum Ländlichen in Gegensatz treten. Wiederum werden hier die Städte als naturlose Räume der Zivilisation, Schreiberhau dagegen als Paradieslandschaft und das fiktive Kolkwitz, wo sich das Schloss Odersaga befindet, als Agrarland dargestellt. Der Gegensatz wird mit Hilfe zweier Symbole ausgedrückt. Der in der Stadt eingesperrte Mensch kommt in dem metaphorischen Bild des Breslauer Zoo zum Ausdruck, an welchen das Haus der mittleren Schwester Lehan grenzt. Die von den Tieren ausgehenden Laute erfüllen Bertha Rautenberg mit Unruhe und verdeutlichen ihr das Eingeschlossensein in der Stadt und in der Wohnung, 476 Vgl. z. B. E. Przywara: Was ich Kattowitz verdanke. In: »Der Oberschlesier« Jg. 4, H. 4 / 1932, S. 217f. 477 Auf den ontologisch begründeten, mal mystisch, mal mythisch anmutenden Wald in Werken ausgewählter oberschlesischer Autoren (E. Drewitz, W. Grünfeld, G. Hyckel u. a.) verweist N. Nowara-Matusik. Vgl. N. Nowara-Matusik: Las w literaturze niemieckiej na Górnym S´la˛sku. In: »Wortfolge« Nr. 3 / 2019, S. 7–24. 478 Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 254), S. 68. Eine Gegenposition nimmt N. Nowara-Matusik in ihrem erwähnten Aufsatz ein. Vgl. Anm. 477. Auch im Werk A. Ulitz’ finden sich – so R. Rduch – die gewohnten Gegensatzpaare »Stadt als Übel« und »Naturlandschaft als Erlösung«. Rduch, »O, heiliger Heimatrauch!« Schlesien in der Prosa von Arnold Ulitz. In: Eine Provinz in der Literatur (wie Anm. 38), S. 135f.

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aus der es – genauso wie aus dem Zustand der inneren Beklommenheit – keinen Ausweg gibt, auch keine Fluchtmöglichkeit, besonders aus dem von der Roten Armee belagerten Breslau479: Die Fenster waren geöffnet, sternklar stand die mondlose Nacht über dem Strom, vom nahen Zoo drang durch die Dunkelheit zuweilen der Ruf eines Tieres. Bertha empfand bei diesen Lauten zur nächtlichen Stunde etwas Bedrohendes, doch Rautenberg lächelte beruhigend – daran gewöhne man sich! Später deutet Bertha diese Urschreie der Kreatur als Warnsignal. Auch neben Glück und Frieden kann Unheimliches lauern, nicht heute und morgen, vielleicht an einem anderen Tag. (O, 40)

Diesem Gefühl der Ausweglosigkeit und der Unabwendbarkeit des Schicksals wird die von Franz Gaebler, dem »erfolgreichen Unternehmer aus dem oberschlesischen Kohlenrevier« (O, 8), dargestellte Metapher des Oder-Flusses entgegengesetzt, der wiederum auf die Bindung des Menschen an die Natur, auf deren geheimnisvolle Kraft und den die Menschen versöhnenden Charakter anspielt. Für Franz erscheint die Oder als ein »Schicksalsstrom« (O, 48), was er – anders als Bertha – als Zusammentreffen der von der Natur geplanten Ereignisse und Zusammenspiel von menschlichen Charakteren deutet480. Diese Kraft der Oder umfasst nicht nur Individuen, sondern auch Völker, die in dem Fluss ihre regionale sowie nationale Identität wiederfinden können.481 So wird die Oder, an der das Schloss Odersaga liegt, zur Metapher der »schlesischen Vielgestaltigkeit« (O, 125), zur Verknüpfung von Individuellem und Allgemeinem. 479 Über den Moment der Belagerung und die Reaktion der Tiere im Zoo berichtet Bertha aus der Innensicht wie folgt: »Bertha Rautenberg schlich die ersten Wochen müde durchs Haus und hatte einen schlechten Schlaf. Nachts drang wieder das Heulen der Wölfe und Schakale des nahen Zoos in ihr Bewußtsein, Jahre hindurch hatte Bertha es nicht mehr beachtet. Jetzt aber ängstigten sie diese Laute, es war ihr, als kämen sie von weit her, von gierigen, gefürchteten Rudeln, die früher in der Winterzeit über die östliche Grenze die vereiste Oder entlang westwärts gelaufen waren.« (O, 280) Trotz der Lebensgefahr entscheidet sich Bertha mit ihrer kranken Tochter im von den Sowjets umkämpften Breslau zu bleiben, als ob sie das Haus und die Stadt – dem Befehl des Gauleiters folgend – »bis zum letzten Blutstropfen und bis zu letzter Patrone« verteidigen wollte. Vgl. dazu U. Klußmann: Breslauer Apokalypse. In: Die Deutschen im Osten Europas (wie Anm. 131), S. 198–200. Über literarische Bilder des belagerten Breslau 1945 vgl. E. Jarosz-Sienkiewicz: »Der Himmel war unten«. Das narrative Bild des belagerten Breslau. In: Silesia in litteris servata (wie Anm. 5), S. 157–170. 480 Franz hat Anna Margarete auf einer Oderschifffahrt kennengelernt, deswegen hat der Fluss für ihn eine Doppelfunktion: als Quelle des Eheglücks und der Vorsehung, die von der Natur kommt. Vgl. die Beschreibung der Oderschifffahrt O, 10–13. Vgl. andere Aussagen Gaeblers über die Oder O, 48, 105, 125. Auch in Das vorletzte Gericht ist von einem »urzeitenalten Oderstrom«, aus dem man Kräfte schöpft, die Rede. Vgl. VG, S. 51. 481 Vgl. hierzu über Flüsse (Rhein, Oder) und deren mythosbildende Funktion G. Cepl-Kaufmann, A. Johanning-Radzˇiene: Mythos Rhein: zur Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2019, hier insbesondere: S. 242–270; B. Halicka: Wie ein Fluß zum Mythos wurde. In: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-im-fluss/159602/wie-ein-flusszum-mythos-wurde [Zugriff: 25. 04. 2021].

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Durch das Epitheton »alter Strom« nimmt die Oder die Funktion einer Beschützerin der Tradition, der Geschichte und Gegenwart, des Ursprungs und der Entfaltung.482 Auf diese besondere Rolle verweist Karoline, indem sie den Ankauf des Schlosses Odersaga kommentiert: Über Odersaga liegt ein besonderer Reiz. Ich habe das Gefühl, Anne Margarete wird sich dort wohl fühlen. Vielleicht liegt es daran, daß der Strom ihr von der Kindheit an vertraut ist, von unserem lieben Breslau herunterfließt, bitte lache nicht, und Grüße von mir bringt. Ich werfe von der Kaiserbrücke mitunter kleine Zettel an sie ins Wasser, die mitunter davonschwimmen. Die Fenster des Schlosses, besonders die im Dachgeschoß, wo sich die Gastzimmer befinden, lassen die Blicke weit schweifen. Die Oder von dort in ihrem Lauf zu sehen, hat etwas Beruhigendes. (O, 129)

Die Oder als verbindender Fluss, der Menschen einander näherbringt und das Gefühl der Zusammengehörigkeit verstärkt, gehört zweifelsohne zu den symbolisch geprägten Bildern der Heimat, die aber nicht jedes Prosawerk der Autorin kennzeichnen. Odersaga bildet hiermit eine Ausnahme, denn die Oder, die von dem Oberschlesier Gaebler am häufigsten angeführt wird, soll die einzelnen Teile des Landes vereinigen und auf die Entwicklungsgeschichte von einem Agrarland zu einer im Aufschwung begriffenen Region anspielen. Dieser Dualismus findet sich aber nur in diesen zwei Storm’schen Romanen, in anderen erscheint die Natur als ein homogenes Gebilde, dessen Urkraft aus allen Erscheinungsformen herauszulesen ist. Diese stabile, unversehrte, außergewöhnliche Natur ist in der Gebirgslandschaft um Schreiberhau oder in anderen nicht näher bestimmten Ortschaften zu finden, die aber auf das Riesengebirge verweisen. Ruth Storm scheint dabei den von Arno Lubos charakterisierten Entwicklungstendenzen der schlesischen Landschaftsbeschreibung nur teilweise zu folgen. Die Wahl zwischen realistischer, sozialer und naturromantischer Betrachtung der Natur ermöglichte den schlesischen Autoren einerseits die Fokussierung auf einzelne wichtige Probleme der Region, andererseits gab die Natur ein komplexes Bild ab und wurde somit als eine Ganzheit begriffen.483 Lubos suggeriert, dass die Natur ein Bestandteil des sozial-kulturellen Systems sei, das sich aneinanderfügt und einander bedingt. Auch für Ruth Storm mag eine Verbindung des Menschen mit der Natur eine Bündelung von Kräften ergeben, in dem aber das individualistische Prinzip des Menschen sich als ausschlaggebend erweist und das SozialRealistische verdrängt. Besonders die Natur der Gebirgslandschaft wird zu solch 482 An dieser Stelle ist auf die Allegorie der Oder im Werk des schlesischen Schriftstellers Paul Keller (1873–1932) hinzuweisen, der diesem Fluss mütterliche Züge zugeschrieben hat. Eines der personifizierten Merkmale der Oder war nach diesem Heimatautor ihre Universalität, Hartnäckigkeit und Strebsamkeit. R. Storm macht den Leser dagegen auf andere OderAttribute aufmerksam. Vgl. P. Keller: Mutter Oder. In: Schlesisches Hausbuch, hrsg. von D. H. Klein, H. Rosbach. Husum 1998, S. 98–99. 483 Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 20), S. 85.

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einem Ort stilisiert, der von der Zivilisation entfernt nach eigenem Rhythmus lebt484, in dem die Koexistenzregeln eher offen sind und an die Situation angepasst werden, sodass weder der Mensch noch die Natur eine übergeordnete Rolle einnehmen können. Bei Ruth Storm nimmt diese naturgegebene Formation zumeist die Gestalt eines Tales an, in dem sich die Protagonisten niederlassen, und das sie zugleich für die Verkörperung ihrer Heimat halten. Dieses Tal wird allerdings keineswegs als Idyll beschrieben, sondern zunächst als ein isolierter Raum vorgestellt. Der nach Hause zurückkehrenden Marianne in Das vorletzte Gericht erscheint Rackental als ein Ort, der rings von »Höhen mit ihren scharfen Rücken und zackigen Felsenkanten« (VG, 5) umgeben ist.485 Das abgesunkene, vom Nebel verhüllte Tal wird von oben von Krähenschwärmen, von den Einheimischen »Totenvögel« (VG, 5) genannt, bewacht, und präsentiert sich als ein finsterer, beinahe höllischer Raum .486 Erst im Laufe der Handlung entpuppt sich das Tal nicht als Bedrohung, sondern als eine Schutz gewährende Heimat. Dieser Identifikationsprozess mit dem Tal findet allerdings nicht automatisch statt, sondern beruht auf einer schrittweise durchgeführten Darstellung von Landschaftselementen, die sich dann zu einem Ganzen zusammenfügen. In Ein Stückchen Erde wird das Tal zwar in helleren Farben und bei Tageslicht dargestellt, jedoch bemerkt Bother die Eingeschränktheit des Betrachters, der nicht imstande ist, die Weite des Tales mit eigenen Augen zu erfassen und es in seinen Gedanken zu rekonstruieren. Die kontemplative Wahrnehmung der Gegend verwandelt sich in eine nostalgische, zukunftsorientierte Stimmung, die den bevorstehenden Verlust des Paradieses vorwegnimmt und damit einen erzwungenen Erinnerungsprozess impliziert. Der Wechsel der Wahrnehmungssichten korrespondiert dabei mit dem Wandel der Erzählperspektive, die zunächst durch einen auktorialen Erzähler realisiert wird, dann in die Innensicht des Protagonisten übergeht, um am Ende monologisierend zu wirken: Er saß immer noch nachdenklich vor seiner Tür, die kurze Pfeife im Munde, vor ihm lag die Weite des Tales mit den feinen Konturen des Berggürtels am Horizont in einer 484 Das Motiv der verlorenen Heimat als Paradies bzw. Arkadien wird oft sowohl bei den Autoren der ersten als auch der Enkelgeneration aufgegriffen. Vgl. dazu z. B. Burdziej, Utracony Heimat (wie Anm. 162), S. 215–221. Das Riesengebirge als Stimmungsraum wird zum Signum der deutschsprachigen Literatur aus Niederschlesien. Mehr über die Bilder einer »unverfälschten Natur« der Region vgl. Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 254), S. 76 (über H. Kaboth), S. 85–89 (über den Dichter des Isergebirges G. Leutelt) und S. 90–97. 485 Ein so dargestellter Raum ist eindeutig heterotopisch, was die Abgeschiedenheit der Heimat noch verdeutlicht. Solche heterotopischen Bilder der Heimat durchziehen das Werk der Autorin. 486 L.F. Helbig sieht in den »Totenvögeln« Vorzeichen der kommenden Apokalypse. Vgl. Helbig, Vom Unglück der Zeit. Schlesien in einigen Romanen seit der Vertreibung (wie Anm. 305), S. 26.

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Klarheit ausgebreitet, und das ferne Dorf mit seinen Höfen, Wiesen, Feldern, und bewaldeten Höhen rückte unwirklich nah heran. Wie das Gemälde eines alten Meisters, dachte der Kapitän und schlug seinen Pfeifenkopf am Stiefelabsatz aus, wir können es wohl betrachten, aber niemals nachgestalten. Er sagte es laut und stand auf; auch die Hunde erhoben sich. (E, 6)

In beiden Fällen wird das Tal als Ort eines sich herannähernden Endes dargestellt, dessen Kommen die Betrachter jeweils vorhersehen. Diese in die Zukunft gerichtete Wahrnehmung der Landschaft fördert allerdings das Bedürfnis, alle Eindrücke aufzubewahren und ihren ästhetischen Wert zu erhöhen487. Genauso wie die materiellen Heimatbilder werden ebenfalls die Landschaften einzeln abgebildet, aber sie wirken erst in ihrer Komplexität. So besteht die heimatliche Landschaft aus Bildern, die durch ihre Allgemeinheit auffallen und möglicherweise eine Gedächtnisstütze sein sollen. Die von Storm beschriebene Landschaft setzt sich daher aus einigen sich in den meisten Werken wiederholenden Motiven zusammen (Wald, Bäume, Tiere, Jahreszeiten und Witterungserscheinungen)488, von denen, individuell wie auch kollektiv, Abschied genommen werden muss. Das Motiv des Waldes verbindet besonders drei der analysierten Romane (Das vorletzte Gericht, Ein Stückchen Erde und Ich schrieb es auf) und bleibt in seiner Funktion als Verborgenheits- und Zufluchtsort konstant489. Das Fliehen in den Wald bedeutet aber nicht, dass man ihn als Erholungs- und Meditationsraum betrachtet, sondern eher als Versteck und selbst gewählten Todesort. Die Umkehrung der Funktion des Waldes wird von der »Furie des Krieges« (VG, 40) verursacht, was Marianne folgenderweise pointiert: Marianne hatte die Augen geschlossen, sie lauschte auf die vertrauten Klänge der Holzfäller, und ihre Nasenflügel weiteten sich, als wollte sie auch den Rauch der Meiler tief in sich eintrinken. Einige Minuten verharrte sie so, dann stieg sie aus. Sie ging langsam an den Straßenrand und sah in die Weite des Tales, das an dieser Stelle des Gebirges in blendender Pracht vor ihr lag. […] In der Tiefe schimmerten die braunen Felder, die bewaldeten Hügel, die blitzenden Teiche, grüßten die langgezogenen Dörfer 487 In solchen Bildern offenbart sich das dritte von H. Orłowski genannte Merkmal der Landschaft, die als Gefüge von ästhetischen Attributen vorkommt. Vgl. Orłowski, Za górami, za lasami… (wie Anm. 475), S. 11f. 488 Diese Tendenz zur Verallgemeinerung der Naturbilder lässt sich auch bei anderen Autoren beobachten, was A. Lubos für ein Spezifikum der schlesischen Literatur seit Eichendorff hält. Sie ermöglicht es auch, realistische, soziale und naturromantische Merkmale der Heimat in Einklang bringen zu lassen. Vgl. Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 254), S. 78. 489 R. Storm geht zwar auf die Grundbedeutung der Waldsymbolik zurück, aber der Wald steht in ihrer Prosa nicht nur für die »Verborgenheit und Täuschung« oder für das »Andere, Ursprüngliche und die Freiheit« stellvertretend, sondern er wird zu einem Sekundärraum, der den Verlust des realen kompensieren soll. Er ist dabei nicht das Ziel an sich, sondern das zur Entscheidung hinführende Mittel. Zur Symbolik des Waldes vgl. Metzler Lexikon literarischer Symbole, hrsg. von G. Butzer, J. Jacob. Stuttgart 2012, S. 470f.

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mit ihren Kirchtürmen herüber. Soweit das Auge sah – ein gesegnetes, geordnetes Tal mit vereinzelten großen Schornsteinen am Horizont, wo der Häuserkranz der Kreisstadt durch den Dunst der Ferne zart übermalt hervorleuchtete. Die Furie des Krieges hatte die Landschaft nicht berührt, nur selten hatte der Heulton der Sirenen durch die Weite des Tales gegellt. (VG, 40)

Dieses Bild eines ruhigen Waldes und der Welt der Kindheit, während deren Marianne barfuß durch bemooste Waldwiesen lief und Pilze sammelte (VG, 15), werden im Gedächtnis gespeichert und somit der Gegenwart entzogen. Obwohl der Wald vom Jetzt an Potenzial verliert, so bleibt er doch der einzige Ort, wo man sich vor den die Ordnung des Tales zerstörenden Besatzer verstecken kann. Marianne findet solches Versteck hoch im Bergwald, zuerst im Futterhaus, das ihr aber als zu nahe gelegen erscheint, dann hinter einer Felsgruppe, wo sie sich ein provisorisches Zelt einrichtet. Der Bau des Verstecks macht sie stärker, denn die aus der Natur fließende Kraft lässt sie den verlorenen Mut wieder gewinnen und sie wird von Ruhe erfüllt. Die im Schnee, unter dem »dunkelgrünen Gewölbe« (VG, 107) liegende Marianne erlebt einen Wandel, der sie auf höhere Werte aufmerksam macht, auf die Anwesenheit Gottes und dessen Macht über die Welt. Die Rückkehr nach unten bereitet dann kein Problem mehr, mit dem gestärkten Glauben kann sie der Nachkriegswirklichkeit die Stirn bieten.490 Der Wald hat ebenfalls in Ich schrieb es auf eine läuternde Funktion, indem er zum Ort des Freitodes und dadurch zum ewigen Verbleiben in der Heimat wird. Die Ich-Erzählerin gesteht die innere Bereitschaft, den Tod in den Bergen finden zu wollen und legitimiert sie, ähnlich Marianne, mit dem Schutz Gottes: Unser alter Wald! Heute schien er uns aber nicht so vertraut, wahrscheinlich, weil wir unter harten Gesetzen stehen, die uns zwingen, an Außergewöhnliches zu denken. […] Wenn wir uns hier verstecken, können wir weder erfrieren, noch verhungern. Für alle Fälle wäre es ein Unterschlupf, falls wir unser Haus verlassen müßten. […] Der Schnee ist weich, und der Wald ist uns vertraut, in den hohen Wipfeln rauscht das ewige alte Lied. Für mich wäre der Tod des Erfrierens hier draußen unter Gottes Zelt nicht schrecklich. Aber so lange unsere Kräfte reichen, wollen wir uns behaupten […]. (Isa, 10)

So wie der Wald eine Grenze zwischen Früher und Jetzt markiert, so spielen ebenfalls die Bäume im übertragenen Sinn die Rolle von Repräsentanten der Heimat, die das Vergangene mit der Gegenwart und der Zukunft verbinden und – den geopoetischen Ansätzen zufolge – zur Metapher der Verwurzelung wer-

490 Diese Schnee-Szene weckt zwangsläufig Assoziationen mit dem Schnee-Kapitel in Th. Manns Der Zauberberg. Beide thematisieren einen Umbruch in der Weltanschauung des Protagonisten und enden mit der Rückkehr zur Wirklichkeit.

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den491. In Das vorletzte Gericht wird insbesondere die »blauschimmernde Tanne, die schon Jahrzehnte vor dem Erpachschen Haus stand« (VG, 9) zum Symbol der Familiengeschichte und zum Wahrzeichen des Hauses (VG, 71), und als sie durch einen Militärwagen gefällt wird, ist das ein Hinweis auf das Ende und ein Warnsignal, dass man »vor dem jähen Zugriff des Schicksals nicht mehr sicher« (VG, 71) sein kann. In Ein Stückchen Erde zieht sich hingegen das Motiv des entwurzelten Baumes durch das ganze Werk hindurch; vor Jahren hat sein Sturz zum Tod des Ehemannes von Bothers Haushälterin geführt, jetzt wird derselbe Baum von dem Maler Pressen auf seinem Bild wiederbelebt und symbolisch zum Schicksalsboten gemacht, zum Anzeichen von unabwendbaren Ereignissen, die niemand und nichts aufhalten kann. Der Baum wird aber noch einmal belebt, indem der Kapitän Bother das bei ihm zu Hause hängende Bild betrachtet und sich eine Situation vorstellt, in der der Baum den Bildrahmen verlässt, weiterlebt, zwar dem Boden entrissen, dennoch in seiner Existenz bestärkt und in den Dienst der menschlichen Erinnerung gestellt. Die Wahrnehmung der Landschaft kennzeichnet einerseits das Bewusstsein einer vom Schicksal herbeigeführten Grenzsituation, die das Ende einer glücklichen und den Anfang einer neuen, tragischen Zeit markiert. Andererseits scheint die Landschaft eine Kontinuität zu gewähren, die sich in dem Wechsel der Jahreszeiten offenbart, mit denen auch die Arbeiten in und um das Haus eng verbunden sind.492 Die periodisch wiederkehrenden Jahreszeiten geben den Protagonisten das Gefühl des kreisförmigen Laufs ihrer Existenz und versichern die Stabilität des Lebenszyklus, und – was vor allem in den ersten Nachkriegsmonaten wichtig war – machen das Ausharren in der Heimat leichter. In Ein Stückchen Erde und Ich schrieb es auf wird dem Sommer und dem Winter eine besondere Rolle zugeschrieben. In der Beschreibung der Natur in den Sommermonaten offenbart sich die Schönheit des Landes und eine ihm innewohnende Kraft, eine Art Euphorie, die die beschriebene Gegend einem kleinen Paradies ähnlich macht, dessen Pracht durch visuelle und akustische Eindrücke unvergesslich wird: Sommer, Sommer, Sommer. Feld und Wald, Berg und Tal durchströmte der heiße Atem der Sonne, auch nachts lag die Inbrunst, mit der sie die Erde täglich umfing, über der Weite der Landschaft. Die Grillen zirpten, auf den Wiesen rings um Sohnshaus und hinunter nach Schmalbach herrschte ein einziges Grillenkonzert. Nur ab und an harfte der Wind eine andere Weise durch die Büsche, Fledermäuse flogen geräuschlos um die 491 Vgl. K. White: Grounding a World. In: Grounding a World. Essays on the Work of Kenneth White, ed. G. Bowd, Ch. Forsdick, N. Bissell. Glasgow 2005 (hier insbesondere über die Rückkehr zu den Wurzeln auf S. 213f.). 492 Nach dem Prinzip der Jahreszeiten, in welche Geschehnisse eingebettet sind, konstruiert ihre Romane ebenfalls Dagmar von Mutius. Vgl. Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 20), S. 355.

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aufgestellten Kornpuppen. Der Himmel war hell, zartgrün im Westen, und im Osten holte ein dunkles Blau die ernsten Sterne hervor. (E, 57)

Die Wiederkehr des Sommers wird von den Bewohnern des Tales immer begrüßt, denn man erwartet nicht nur seinen Glanz, Wärme und »leichten Goldton« (E, 77), sondern freut sich auf die Ernte, die die Krönung der menschlichen Arbeit bedeutet. Die Beweglichkeit auf den Feldern, die durch kollektives Engagement erbrachte Leistung verleihen den Sommerbildern eine besondere Schaffenskraft: die einzelnen Elemente der Natur beleben einander, sie bilden eine Kette von neuen Formen, die kein Ende zu haben scheint; akustische und visuelle Reize ergänzen sich gegenseitig und fördern die Wahrnehmung der Komplexität des präsentierten Naturbildes: Überall waren die Felder belebt. Von allen Hügeln sang und rief es. Die bunten Kopftücher der Frauen und Mädchen leuchteten. Knarrende, hochbepackte Wagen schwankten auf den Pfaden. Die ungemähten Wiesen schimmerten dunkelgrün, wie weiße Sterne blinkten die Schierlingsdolden dazwischen. Und dort, wo das Gras gemäht war, wirkten die Flächen wie hellgrüne Teppiche von den dunklen, fast lila schillernden Pflugschollen der Äcker innig umschlossen. (E, 78)

Das idyllische Bild einer Ernte- und Friedenszeit wird nur vom Auftreten des giftigen Schierlings zerstört, der ein Hinweis auf das kommende Unheil sein könnte. In Ein Stückchen Erde wird der Sommer schnell vom Herbst, und dieser vom Winter abgelöst, jede neue Jahreszeit bringt andere Arbeitsformen und Pflichten, die das Gefühl des unveränderten Lebensrhythmus verstärken. Aus diesem Kreislauf der vorbestimmten Aufgaben, Tätigkeiten und der regelmäßig wechselnden Naturbilder werden die Bewohner der Gebirgsorte durch den Krieg geworfen. Der Krieg verändert die Wahrnehmung der Landschaft und verleiht einigen Witterungserscheinungsformen eine neue Bedeutung. Dieser veränderte Blick auf die Natur und die Umdeutung ihrer Funktion lassen sich eher aus Einzelelementen ablesen, die – neben dem schon behandelten Wald – eine neue Gestalt annehmen. Dieses Phänomen ist am besten in Ich schreib es auf zu beobachten, wo die Ich-Erzählerin in den letzten Kriegsmonaten und der Nachkriegszeit bestimmte, für sie wichtige Komponenten des gesamten Naturbildes hervorhebt, um mit deren Hilfe die Grenzsituation des Hausverlustes, der Erniedrigung und letztendlich der Vertreibung zum Ausdruck zu bringen. Der personifizierte Winter scheint dabei die Hauptrolle zu spielen, denn er schlägt sich – anders als in Ein Stückchen Erde – auf die Seite der Gegner, indem er der besetzten Bevölkerung das Leben wesentlich erschwert. Er kommt sehr früh, schon Mitte November, und dauert über fünf Monate, auch wenn ihn die Erzählerin mehrmals ›beschwört‹ und seine »vom Himmel entrollten Schneefahnen« (Isa, 64) wegzunehmen versucht. Der nicht aufhörende Schneefall jagt der

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Erzählerin Angst ein und ruft das Gefühl der Ausweglosigkeit aus dieser Situation hervor: In Ober-Schreiberhau wimmelt es von Menschen. Die Hauptstraße ist eine einzige Parade, als ob ein Wintersportfest wäre. Wie eisig es ist, und wie unentwegt die Flocken treiben! Ob wir das vergessene, unerreichbare Tal werden, an dem die blutige Schlacht vorbeibraust? Zu Fuß fortzugehen, wäre nicht möglich, es schneit und schneit. Die Russen haben ihre rechten Begleiter mitgebracht! (Isa, 8)

Das Tal wird fast ein halbes Jahr lang nicht nur von den Sowjets, sondern auch von »unendlichen Schneemassen« (Isa, 92) besetzt; beide machen die Menschen unfrei und zwingen sie zu schwerer körperlicher Arbeit bei der Räumung von Schnee. Diesen Zustand einer doppelten Belastung, die – erneut Orłowski heranziehend – einen einerseits ahistorischen Charakter trägt, andererseits eine historisch bedingte Wirkung evoziert493, unterbricht der Frühling, der »mit erstem Vogelfrohlocken« (Isa, 88) Hoffnung auf eine Besserung der Situation bringt und zugleich Fernweh weckt, was das bevorstehende Verlassen der Heimat vorwegnimmt. Anders als in Ein Stückchen Erde steht der Wechsel der Jahreszeiten nicht mehr für Stabilität, sondern bedeutet nur eine vorübergehende Station. In dieser Erwartungszeit494, in der die Ich-Erzählerin die ursprüngliche Hoffnung auf das Verbleiben in der Heimat und die Rückkehr zur Normalität schrittweise verliert, macht sie sich verschiedene Naturelemente zunutze, die ihr in dieser schwierigen Situation Trost bringen. So fungiert der Himmel als eine Brücke zwischen getrennten Familienmitgliedern, denn das Bewusstsein der Ich-Erzählerin, dass »die gleichen Sterne über uns und [ihnen leuchten, – R.D.-J.]« (Isa, 7), stärkt sie und gibt ihr Überlebenskraft. Die immer mehr verzweifelte Tagebuchautorin blickt dann in den Himmel, wenn sie nach einem Gegensatz zu der sie bedrückenden Traurigkeit sucht, der Himmel erscheint ihr in diesem Moment »luftig hell, aber das Herz bleibt schwer« (Isa, 13); andererseits korrespondiert ein »bleierner Himmel, [der – R.D.-J.] drückend über dem Tal hängt« (Isa, 23) mit dem »Elend auf den Fluchtstraßen« (Isa, 23) und der bedrohlichen Situation, die das Leben und Denken der Talbewohner erlahmt. Solche düsteren Naturbilder bilden allerdings die Ausnahme und werden rasch von fröhlichen, helleren verdrängt. Die Natur wird dabei in die Handlung eingebettet, sie spiegelt sowohl das Innere der Erzählerin als auch das Kriegsgeschehen wider. In der Beschreibung 493 Vgl. Orłowski, Za górami, za lasami… (wie Anm. 475), S. 11f. 494 Es ist charakteristisch, dass die Persönlichkeit der Tagebuchautorin durch die Haltung des Erwartens und nicht des bloßen Wartens gekennzeichnet ist. Zwischen diesen ontologischen Phänomenen unterscheidet L. Pikulik, indem er »Erwartung als ein Gerichtetsein auf ein Ziel« betrachtet, Warten dagegen als »das zuständige Verhalten, zu dem man verurteilt ist, solange das Ziel nicht erreicht ist, als Gebannt sein in einem Nochnicht.« Vgl. L. Pikulik: Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten. An Beispielen aus der Geistesgeschichte, Literatur und Kunst. Göttingen 1997, S. 15.

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der morgendlichen Sonne, die sich durch den Nebel kämpft, wird ihre Durchsetzungskraft der Kampfkraft der sich nähernden Roten Armee entgegenstellt, beide erscheinen dabei nahezu gleich stark und unbesiegbar: Die Sonne siegte, sie taucht über dem Waldrücken wie ein feuriger Ball auf und wirft ihr Licht über die frostharten Hänge, und die kleinen Meisen fliegen zirpend von Ast zu Ast. Die Sowjets stehen 25 Kilometer von uns entfernt. (Isa, 20)

Nur die Natur besitzt die Kraft, vor der Geschichte zu bestehen, alle Katastrophen, Niederlagen und Demütigungen zu ertragen und unverändert zu bleiben. In dieser Gestalt ist sie immer für die Menschen da, wie die Vögel, die »den Frühling einsingen, trotz Schnee und Terror« (Isa, 93), wie der »Kuckuck, [der – R.D.-J.] ruft, die Wildtauben, [die – R.D.-J.] gurren und lachen wie jedes Jahr« (Isa, 99f.). Diese Gabe der Natur, unberührt weiterleben zu können, wird ihr quasi als ein mythisches Tribut gezollt, das sie auszeichnet und zu einem höheren Wesen, »zu einer anderen Welt« (Isa, 14) erhebt. Die wichtigste Rolle der Natur besteht in ihrer Kraft, den Menschen Hoffnung zu geben. Die Erinnerung an verschiedene Naturbilder in schwierigen Lebensmomenten erweist sich als eine natürliche, zuverlässige Stütze. Die bunte, zum Leben erwachende Natur tröstet die Ich-Erzählerin, die ihren in den Krieg eingezogenen Mann vermisst: Über Nacht ist es frühlingshaft mild geworden. Es taut, die Sonne glitzert golden über der Schneekoppe durch das graue Gewölk, auf unserem Hang zeigt sich das erste Grün der Wiesen. Wenn ich nur einmal Nachricht von meinem Mann hätte! (Isa, 12)

Die Natur erweist sich als Hilfsmittel besonders in der Übergangsphase, in der man sich schon der Katastrophe des Deutschen Reiches bewusst ist und sich mit den Herrschaftsmaßnahmen der künftigen Sieger noch nicht konfrontiert sieht. Die Natur schenkt noch Ruhe und motiviert zur Arbeit, auch wenn der bevorstehende Wandel der Situation nicht abzuwenden ist: Man lebt den Tag, genießt jeden Morgen wie ein Geschenk. Der Frühling spannt sich verschwenderisch über unser Tal. Seidenblauer Himmel, strahlender Sonnenaufgang, Wärme und Licht, erstes Knospen. Ich gehe durch die Felder und freue mich über jede Spitze, die hervorlugt. Gleich möchte ich zu arbeiten anfangen, umgraben, säen; aber es gibt zu viel anderes zu erledigen […]. (Isa, 32)

Trotz der trostspendenden Funktion der Natur verliert sie im Laufe der Besatzungsmonate an Kraft; Angst, Elend und Trauer beherrschen die betrachtende Ich-Erzählerin dermaßen, dass sie zwar »die leuchtende, warme Sonne […], die Wiesen des Morgens im grau schimmernden Tau« (Isa, 59) erblickt, aber das Gefühl der Angst vor betrunkenen Russen nicht überwinden kann. Die Angst vor der ungewissen Zukunft stumpft die Ich-Erzählerin immer wieder gegen die sie umgebende Welt ab und lässt die Schönheit der Natur fast unbemerkt. Einzelne Impulse wie die in der Sonne reifenden Erdbeeren (Isa, 109) sind nicht mehr in

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der Lage, der Betrachtenden die Natur mit ihren positiven Attributen zu vermitteln. Die Tagebuchautorin führt in den letzten Monaten vor der Vertreibung die Mohnblume in ihre Eintragungen ein.495 Diese Blume mit der ihr zugeschriebenen therapeutischen schmerzlindernden Wirkung soll ihr symbolisch den erahnten Abschied von der Heimat leichter machen. Die Mohnblume tritt in den Notizen in drei Varianten in Erscheinung: zuerst als eine schöne Blume, voller Reinheit und göttlicher Provenienz (Isa, 98), dann als Farbe der Bergkonturen, die sich mohnblau kleiden und schließlich schon auf der Flucht, als die ihre Heimat Verlassenden den Eindruck haben, als wäre die Erde mit blühendem wildem Mohn wie mit Blut getränkt (Isa, 117f.). Dieses symbolische Betäubungsmittel soll die Protagonistin zunächst vor dem schmerzlichen Verlust der geliebten Pferde, dann der Heimat, schützen. Pferde spielen dabei als Element der Natur in jedem der Storm’schen Werke eine besondere Rolle496, auch die einer Erinnerungsmetapher497. Meistens, wie für die Tagebuchautorin in Ich schrieb es auf, avancieren sie zu den besten Freunden498, die besonders in den schwierigen Kriegs- und Nachkriegsmonaten Trost 495 Auch in D. von Mutius’ Roman Wetterleuchten (1961) taucht das Mohn-Motiv auf. Vgl. Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 20), S. 355. 496 Das Motiv der Pferde ist im Werk Ruth Storms durchaus autobiografisch bedingt. Vgl. Kapitel 2, S. 81ff. 497 Das Motiv der Pferde wird oft in den Werken der aus Ostpreußen stammenden Autoren aufgegriffen: sie treten dann als festes Element der Familien- und Standestradition, der eigenen Identität und darüber hinaus der Heimat auf. Für H. Graf von Lehndorff haben die Pferde ebenfalls eine bedeutende Rolle gespielt, sowohl der alltägliche Umgang mit ihnen, die Reiterei, Auktionen als auch Gespräche über diese Tiere. Vgl. H. Graf von Lehndorff: Menschen, Pferde, weites Land. Kindheits- und Jugenderinnerungen. München 1981, hier: S. 90–96. Pferde, besonders Trakehner, spielen auch bedeutende Rolle in der Erinnerungskultur des ostpreußischen Adels. Vgl. M. Borzyszkowska-Szewczyk: Pamie˛c´ dla przyszłos´ci. Literatura wspomnieniowa potomków szlachty pruskiej z Pomorza Zachodniego i Prus Wschodnich po 1945. Wrocław 2009, S. 121f. 498 In … und wurden nicht gefragt entwickelt sich ein enges Verhältnis zwischen dem Kind und dem Reitpferd des Vaters namens Dalma, das auf dem Gut Marienhof in der Nähe der Ferdinandgrube gehalten wird. Für ein kleines, in der Industriestadt aufwachsendes Kind erscheint diese Ostpreußenstute wie eine Königin, deren taktmäßige Bewegung es »beglückt und verzaubert« (UwnG, 63) und an deren dunklem und glänzendem Fell es sich nicht sattsehen kann. Als das Pferd infolge der Kriegsgeschehnisse erschossen werden muss, kann sich das Kind nicht über den Verlust ihrer immer bewunderten »Seidenglänzenden«, »Tänzerin« und »Schwebenden« (UwnG, 111) hinwegsetzen. Pferde spielen nicht nur die Rolle von Spielkameraden und Freunden, sondern sie werden auch zum Symbol des Ländlichen, der Idylle, die man dem technischen Fortschritt entgegensetzt. Der Kapitän Bother entscheidet sich für den Auktionskauf einer ostpreußischen Stute, um seine Bindung an die Natur und seine neue Heimat zu besiegeln. Auf dem Weg zum Auktionskauf reflektiert er über den Vorrang des Landlebens im Gegensatz zu dem naturfernen einer Stadt. Die Krönung solch eines glücklichen Lebens mitten in der Natur scheint ihm ein Pferd zu sein. Seine Zugfahrt verdeutlicht diesen Dualismus und spricht der Gebirgslandschaft ihre Attribute eindeutig zu (E, 117). In Das vorletzte Gericht gehört Gabriel Wismar zu den

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spenden und den Glauben an das Humane nicht verlieren lassen. Das Bosniakenpferd Minka und das Stutenfohlen Buschy besitzen durch ihre freie Haltung die Aura von Freiheit und Unbeschränktheit, die die Tagebuchautorin vermisst. Sie erfreut sich besonders an der Gegenwart beider Pferde und deren Bewegungsfreiheit, die sie gerne selbst genießen möchte: Aber ich habe noch die zwei Stuten! Über die weiten Bergkoppeln toben die beiden mit schwungvollen, schwebenden Gängen, in den dichten Mähnen und langen Schweifen spielt der frühlingswilde Wind. Die edlen Araberköpfe mit den zierlichen beweglichen Ohren wittern oft weit in die Landschaft; die alte Haltung der Steppentiere, sie trinken die Lüfte in sich ein. Oft lausche ich dem Pulsschlag der Kreatur, um das furchtbare Geschehen zu vergessen. (Isa, 34f.)

Die Ausstrahlungskraft von Minka und Buschy wirkt sich auch auf die IchErzählerin schöpferisch aus, in ihrer Begleitung, im Stall, verfasst sie ihr Tagebuch. Die Nähe eines der Pferde, das seinen »Kopf an [ihren – R.D.-J.] Arm legt, [und das – R. D.-J.], wenn es [ihm – R. D.-J.] zu langweilig wird, an [ihrem – R. D.J.] Füllfederhalter […] knabbert« (Isa, 88), erfüllt die Schreibende mit Ruhe und Sicherheit. Dank der offen oder zurückhaltend erwiesenen Zuneigung der Pferde fällt auf »diese Wochen und Monate immer ein freundliches Licht« (Isa, 88). So fällt es der Protagonistin sehr schwer, sich von den Pferden verabschieden zu müssen, deswegen bemüht sie sich, für sie einen neuen, tierliebenden polnischen Besitzer zu finden. Als der Verkauf nicht zustande kommt, weil beide Pferde von einem Vertreter der polnischen Behörde beschlagnahmt werden, muss sich die Familie »der Gewalt fügen« (Isa, 111) und die Freunde in fremde Hände geben. Der Moment des Abschieds wird von der Erzählerin mit allen Details beschrieben, als ob sie die Pferde in ihren Erinnerungen für immer behalten möchte: Unsere Pferde stehen mit blankem Haar, federnd in den Gelenken, auf der saftgrünen Weide. Die Trennung von ihnen fällt mir am schwersten. Zwei Lebewesen, die wir dem ungewissen Schicksal überlassen müssen. […] Eine Minka mit ihrem Vollblutexterieur en miniature werde ich wohl als Zuchttier nie wieder bekommen, und das Wildpferdchen Buschy mit dem leichten Aalstrich auf dem Rücken wird wohl in seiner rührenden Zutraulichkeit einmalig bleiben. So muß ich auch von ihnen Abschied nehmen; ade, ade – o Scheiden, bitteres Weh! (Isa, 99)

Nicht nur von den Pferden wird im Tagebuch Abschied genommen, sondern von der ganzen Natur, wobei die Trennung von der Heimat und deren Landschaft in mehreren Schritten stattfindet. Als der Moment des Verlassens der Heimat Pferdekennern; die Erinnerung an die Zucht dieser Tiere in seiner ostpreußischen Heimat sowie Gespräche mit Marianne über deren Aussehen und Pflege sind ein Teil seiner Vergangenheitsaufarbeitung. Mit der präzisen Beschreibung der Pferde bestätigt die Schriftstellerin ihre eigenen hippologischen Kenntnisse und nutzt sie als Erinnerungsfiguren. Vgl. dazu VG, 6, 8, 98, 101f., 128, 170.

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immer näher heranrückt, kommt es zum Rollenaustauch und die Natur scheint – so die Tagebuchautorin – das Abschiedsfest für die Talbewohner zu veranstalten, indem sie »über des Tales grüner Au Wolken königlich im hohen Blau segeln« (Isa, 102) lässt. Ein endgültiger Abschied von der Heimat und ihrer Natur findet aber symbolisch in der Umarmung der vor dem Haus stehenden Linde seinen Ausdruck. Durch diese Geste vollzieht sich der Akt des Wurzeln-Schlagens, das in der Geopoetik als ein Grounding a World499 definiert wird, und der eine Rückkehr zur Erde, zu ihrem ursprünglichen Potenzial bedeutet. Der Akt trägt dabei nicht nur eine symbolische Bedeutung, sondern er versinnbildlicht einen direkten, körperlichen Kontakt mit der Erde, der durch Berührung mit deren Elementen zustande kommt. Die Tagebuchautorin hört in diesem Moment auf, sie selbst zu sein, befreit sich von ihrer Tragik und findet in der Vereinigung mit dem Baum eine neue Lebenskraft, die von der Borke herkommend in die Haut, in das Blut eindringt und den ganzen Körper vereinnahmt500. Diese Annäherung an die Linde, an deren Rinde versinnbildlicht der Wahrnehmenden die Wiederholbarkeit des menschlichen Lebenszyklus, der in den Naturrhythmus eingeschrieben ist und als solcher unendlich wirkt. In der Bindung an den Baum vergegenwärtigt sich somit die Macht der Erinnerung, die von diesem Moment die Protagonistin nicht verlassen wird, was den Leser sie in jeder Situation, besonders »im armen Wanderkleide« (Isa, 108), begleiten lassen wird. Auf eine ähnliche Art und Weise nimmt auch Richard Bother von seinem Haus Abschied, obwohl er es noch nicht weiß, dass er es nicht mehr sehen wird. Auch er schließt seine Heimat im Inneren ein und hofft, dass man sie seinen Erinnerungen nie entreißen wird: Der Kapitän Richard Bother konnte die Augen schließen und jeder Hang, jeder Baum, jedes Wäldchen, jedes Haus und jeder Acker blieben in seinem Inneren haften. Alles war in ihm verankert, er war nicht mehr heimatlos, und wenn er nicht mehr zurückkehren sollte, so trug er dieses Stückchen Erde bis zum letzten Atemzug im Herzen. Er mußte wohl erst so alt und reif werden, um den Begriff Besitz zu erkennen. Nicht was Eigentum war in der Auffassung des allgemeinen Wertes besaß man, sondern nur das, was einen erfüllte, es gehörte einem ganz und gar und über Zeit und Raum hinaus. (E, 181f.)

Ruth Storms Konzept der Natur folgt einerseits der dualistischen Deutung der heimatlichen Landschaftsbilder, was sich besonders an der Achse des industriellen bzw. großstädtischen Schlesiens verdeutlichen lässt, andererseits aber wird 499 Vgl. White, Grounding a World. In: Grounding a World (wie Anm. 491). 500 Zur geopoetischen Baum-Metapher vgl. A. Kronberg: Geopoetyka. Zwia˛zki literatury i ´srodowiska. Łódz´ 2014, S. 187ff. Bäume als Erinnerungsmetaphern spielen ebenfalls eine wichtige Rolle in der Memoirenliteratur des preußischen Adels, besonders Eichen, die als Symbol der Verwurzelung gelten. Vgl. Borzyszkowska-Szewczyk, Pamie˛´c dla przyszłos´ci (wie Anm. 497), S. 124–126.

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Natura naturans. Natur- und Landschaft als Komponenten des Heimatbegriffs

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der Natur ihre metaphysische Kraft wieder zurückgegeben. Natur als Konstituente der Heimat, die sich nur selten als stimmungsbildend offenbart, wird zu einem überzeitlichen Phänomen, das sich über Raum und Zeit erhebt. So kann die Natur in Ruth Storms Prosawerk nur beschränkt als eine ästhetische Wahrnehmung aufgefasst werden, denn sie ist kaum auf das Augenblickliche fixiert, sondern sprengt den Zeitrahmen des Jetzt und wird in die Zukunft schon im Moment des Wahrnehmens übertragen. Das Betrachten geschieht dabei nicht ›um des Sehens willen‹501, sondern nimmt schon die Gedächtnisspeicherung und dann den Erinnerungsprozess mit auf.

501 Hier spiele ich auf die Definition ästhetischer Wahrnehmung von M. Seel an, nach der der Akt der Wahrnehmung nicht zweckbedingt ist, sondern um der Wahrnehmung willen selbst geschieht. M. Seel betont auch drei Faktoren, die diese Art der Natur- und Landschaftswahrnehmung prägen: Gegebenheit, Dimension und Offenheit als räumliche Kategorien erweisen sich als vereinnahmend, abmessungsuntauglich, endlos und kaum zu erfassen. Diese Definition verdeutlicht, wie zielorientiert die Naturwahrnehmung bei Ruth Storm ist. Vgl. M. Seel: Über den Raum und die Zeit ästhetischer Landschaften. In: Natur, Räume, Landschaften, hrsg. von B. Krause, U. Scheck. München 1996, S. 9–23, hier: 11–18.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«502

Im Prosawerk von Ruth Storm treten zumeist Frauen als Hauptfiguren auf, nur in Ein Stückchen Erde und Der Verkleidete kommt es zu einer »Be-Mannung«503, die sich durch die Fokalisierung auf einen männlichen Protagonisten kennzeichnet, der allerdings jeweils von vielen Frauen umgeben ist, mit denen er in Aktion tritt; in Odersaga vollzieht sich sogar ein Perspektivenwechsel von Franz Gaebler auf die Schwestern Lehan, die ins Blickfeld des Fokalisators kommen und der ihnen gelegentlich das Wort überlässt. Im Hinblick auf das Motiv der Heimat ermöglichen eine solche Figurenkonstellation sowie Fokalisierung, es geschlechtsspezifisch zu betrachten. Eine dominante Frauenrepräsentanz504 im Prosawerk von Ruth Storm führt jedoch nicht nur zu einer Analyse des Verhältnisses Heimat versus Geschlecht, sondern richtet das Interesse auch auf die Triade Heimat – Erinnerung – Raum. Die Frage nach dieser Verflechtung von Phänomenen verlangt in der Literaturforschung keineswegs zwingend eine genderorientierte Analyse, aber eine genderorientierte Analyse öffnet immerhin einen Explorationsbereich, der die Rolle des weiblichen Blickwinkels – sei es als Autorin, sei es als Figur – beim Konstruieren von Heimat hinterfragt und freilegt. Folgt man der These zweier Historikerinnen Silvia Schraut und Silvia Paletschek, so sollte sich ein Grenzland bzw. eine Region für einen genderorientierte Erinnerungsraum

502 O, 269. 503 Mit diesem Begriff bezeichnet die feministische Literaturkritik eine solche Personen- und Erzählkonzeption, in der Männer zu Hauptfiguren werden und der Text aus ihrer Perspektive erzählt wird. Vgl. Scheitler, Deutsche Gegenwartsprosa seit 1970 (wie Anm. 152), S. 266. 504 Die Dominanz der Frauenfiguren als Repräsentantinnen der Heimat kennzeichnet ebenfalls die Gleiwitzer Tetralogie von H. Bienek. H. Böll hat darauf hingewiesen, dass ihm Bieneks Romane »weiblich« vorkommen. W. Schneiß rekurriert auf diesen Gedanken, indem er die »mythisch-mystische Prägung der Schlesienbilder« bei Bienek analysiert und die »Versklavung der Männer durch die ›Frauen dieser schwarzen Erde‹« einerseits, und derer mütterlich-sorgende Haltung andererseits konstatiert. Vgl. Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 264.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

besonders gut eignen505. Aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht scheint dagegen das Wechselspiel von individuellen und kollektiven Erinnerungen und deren Gestaltungsprinzip wesentlich zu sein, was Thorsten Erdbrügger, Inga Probst und Ilse Nagelschmidt in ihren Untersuchungen zum Gendergedächtnis unterstreichen506. In der Literaturforschung wird zudem davon ausgegangen, dass weibliche Ästhetik nach einer Verarbeitung von Erfahrungen ansetzt, und dass jene Privaterlebnisse in fiktiven Texten umgestaltet werden können507, die darüber hinaus durch soziale oder symbolische Formen des kulturellen Gedächtnisses überlagert und in Auseinandersetzung mit ihnen herausgebildet werden.508 Die Analyse der Abgrenzung der individuellen weiblichen Erinnerungen von den kulturell dominanten kann – so Ilse Nagelschmidt – aufschlussreiche Ergebnisse hervorbringen, die wiederum an die Frage nach der Art der »Ein-Räumung« von Frauen gekoppelt sind. Unter diesem Begriff verstehen Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann eine neue Situierung des Subjekts an der temporalen wie auch lokalen Achse, zwischen Privatem / Individuellem und Öffentlichem / Offiziellem, die miteinander kombiniert als konstitutive Elemente der Identitätsbildung angesehen werden. Diese neue Raumordnung rühre von »Beschleunigung und Mobilisierung« der historisch-kulturellen Umwälzungen her und könne zu dysphorischen Zuständen der Dislozierung und Desorientierung führen509. Diese Fragestellung liefert somit noch einen anderen bedeutsamen Analysestoff: den von Kontaktzonen von individuellen weiblichen und kollektiven, meistens männlichen, Erinnerungsformen, die sich wiederum in Räumen und durch körperliche Berührung manifestieren bzw. unbemerkt bleiben müssen / wollen. Es soll also die Körpersprache der weiblichen Figuren untersucht werden, die als Zugang zu den eigenen Kräften begriffen wird, als eine Möglichkeit mit der Welt in Berührung zu kommen und dabei eigene Grenzen anzuerkennen bzw. zu überwinden510.

505 Vgl. dazu Einleitung, S. 22ff. 506 Vgl. ebd. 507 Nach H. Marcuse werden weibliche Eigenschaften (Rezeptivität, Gewaltlosigkeit, Zärtlichkeit) in den (ästhetischen) Produktionsprozess aufgenommen, was ihn maßgeblich verändert hat. Vgl. H. Marcuse: Marxismus und Feminismus. In: Ders.: Zeitmessungen. Frankfurt a. M. 1975, S. 9ff. 508 Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2002, S. 48–56; M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (wie Anm. 463), S. 23. 509 Vgl. I. Mülder-Bach, G. Neumann: Einleitung. In: Räume der Romantik, hrsg. von I. MülderBach, G. Neumann. Würzburg 2007, S. 7. 510 Die Körpersprache definiere ich nach I. Scheitler. Vgl. Scheitler, Deutsche Gegenwartsprosa seit 1970 (wie Anm. 152), S. 271. Diese Körpersprache als Berührung mit der Welt, also mit dem Raum, und das Herstellen von Zwischen-Räumen korrespondiert zwangsläufig mit dem phänomenologischen Konzept des Daseins. Vgl. Kapitel 3, S. 103f.

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Die ›Großen Mütter‹ – Bertha und Marianne

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Begibt man sich in die Lebens-, Wirkungs- und Renitenz-Räume der Storm’schen Frauenfiguren, so lässt sich feststellen, dass sie meistens Vertreterinnen eines Standes – des Bürgertums – sind (… und wurden nicht gefragt, Odersaga, Ich schrieb es auf, Ein Stückchen Erde); in einigen Werken gehören sie dem ländlichen Mittelstand (Das vorletzte Gericht, Ein Stückchen Erde) an oder sie stammen aus sozialer Unterschicht (Dienstmädchen oberschlesischer Herkunft). Eine Ausnahme bildet die heilige Hedwig in Tausend Jahre – ein Tag, die zu einer mythisch-nationalen Verkörperung Schlesiens erhoben wird. Der Ansatz zur einer Typologisierung dieser Frauenfiguren im Hinblick auf deren signifikante Position im Heimatraum, isoliert eine Gruppe von Frauen, die in der von Männern und Kriegen beherrschten Welt als Alleinstehende sehr gut zurechtkommen (Großmutter Bertha in … und wurden nicht gefragt, Marianne Erpach in Das vorletzte Gericht); eine andere Gruppe bilden verheiratete Frauen, deren Beziehungen in der Ehe und der Prozess der Selbstbestimmung in den Vordergrund gerückt werden (die Schwestern Anna Margarete, Karoline und Bertha in Odersaga, die Ich-Erzählerin in Ich schrieb es auf). Die Konzeption der weiblichen Figuren bestimmt ebenfalls ihre Mutterrolle (Gisela Zarrer und Eva Lähn in Ein Stückchen Erde, die Ich-Erzählerin in Ich schrieb es auf). Diese drei Typen – jeweils Haupt- bzw. Nebenfiguren – verbindet nicht ihre Standeszugehörigkeit, sondern ihre Charakterstärke, die sich jedoch hauptsächlich im häuslichen Milieu, in der Familie oder dem Bekanntenkreis zeigt, was dem Raumkonzept von Ruth Storm entspricht und dem Heimatbild konkrete, schon bekannte Konturen verleiht. Die Räume des weiblichen Inneren korrespondieren somit in den meisten Fällen mit den des Äußeren: Beide kommen als geschlossen, stabil und geregelt vor. Nur selten überschreiten die Figuren die Grenzen des häuslichen Bereichs, indem sie – wie die Großmutter Bertha in … und wurden nicht gefragt – in der Öffentlichkeit aktiv und für die Gesellschaft erkennbar werden; nur wenige von ihnen (Karoline Lehan als Künstlerin, Madelaine als Gouvernante) finden in der Öffentlichkeit ihre Selbstverwirklichung.

5.1

Die ›Großen Mütter‹ – Bertha und Marianne

Wenn man davon ausgeht, Storms Frauen haben ihr Heimatbild geprägt, sie haben dessen Ausprägung transparent gemacht, dann ist dieses Faktum zweifellos auf deren Charakterstärke zurückzuführen. Die Handlungsräume aller Prosawerke Ruth Storms werden von starken Frauen bestimmt, die sich in jeder Situation durchzusetzen wissen. Ein solches Konzept basiert sicherlich auf den Weiblichkeitsmodellen und -praktiken der 1920er und 1930er Jahre sowie der bundesdeutschen Nachkriegswirklichkeit. Die Frauenbilder dieser Jahrzehnte kennzeichnet eine gewisse Ambivalenz, einerseits folgen sie in ihrer Konzeption

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit, die die Frauenrollen auf den häuslichen Raum beschränken, und die mit der ansteigenden Sympathie für den Nationalsozialismus immer konservativer werden, andererseits schwärmen sie für die aus Normen und bürgerlicher Moral gelöste »Neue Frau«511. Mit der Verstärkung der nationalsozialistischen Tendenzen fließen in die Literatur dieser Jahrzehnte immer mehr Frauenfiguren ein, die den traditionellen Rollenzuschreibungen und moralischen Werten verhaftet und durch ihre ausgeprägte Mütterlichkeit gekennzeichnet sind. Solche Vorstellungen von Weiblichkeit nehmen besonders im Nationalsozialismus drastisch zu, wenn die Frauen nach ihrer »Gebärleistung«512 eingestuft und zur Erbin einer unverfälschten »arischen« Rasse, häuslicher Tugenden und ewiger Sitte gemacht werden513. Es kommt auch zugleich zur »Heroisierung des Mütterlichen«514, die sich auf das Private sowie Öffentliche erstreckt. Beide Frauentypen – die traditionellen wie auch neuen – geraten bei ihren Gegnern in Misskredit und werden als Gegenmodelle verworfen. Auch Ruth Storm scheint bemüht zu sein, diese Paradigmen der Weiblichkeit zu kolportieren, obwohl ein konsequentes Tendieren zu traditionellen Rollen als Ehefrau und Mutter in allen ihren Prosawerken erkennbar ist, und sog. »Neue Frauen« (Madeleine und Karoline in Odersaga) nur ausnahmsweise in Erscheinung treten. Die nationalsozialistischen Mutterbilder oder Erziehungsmuster sind in allen behandelten Prosawerken disponibel.515 Der starke Hang zur patriarchal begriffenen Weiblichkeit bedeutet nicht, dass der Vaterherrschaft Vorrang eingeräumt wird und dass Männer als Familienoberhaupt fungieren. Ganz im Gegenteil: als häufig Abwesende, Verstorbene oder Beschäftigte fallen die Ehemänner, Väter oder Brüder konzeptionell schwach aus und werden als Charaktere von ihren Lebensgefährtinnen in vielen Bereichen übertroffen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass im Fall der Protagonistinnen bei Ruth Storm 511 In den 1920er Jahren nehmen viele Schriftstellerinnen (z. B. I. Keun, V. Baum, C. Viebig, L. Haller u. a.) soziale, ökonomische und kulturelle Veränderungen der Nachkriegswirklichkeit in ihre Werke auf, die sich in Rollen von berufstätigen, von moralischen Zwängen befreiten Frauen äußern. Vgl. H. Soltau: Die Anstrengungen des Aufbruchs. Romanautorinnen und ihre Heldinnen in der Weimarer Republik. In: Deutsche Literatur von Frauen, hrsg. von G. Brinker-Gabler, Bd.2. München 1988, S. 220–234; B. Drescher: Die ›Neue Frau‹. In: Autorinnen der Weimarer Republik, hrsg. von W. Fähnders, H. Karrenbrock. Bielefeld 2003, S. 163–186. 512 J. Fest: Deutsche Frau und Mutter. Die Rolle der Frau im Dritten Reich. In: Ders.: Das Gesicht des Dritten Reiches. München / Zürich 1997, S. 357. 513 Vgl. ebd., S. 361. 514 H. Sarkowicz, A. Mentzer: Literatur im Nazi-Deutschland. Ein biographisches Lexikon. Hamburg / Wien 2000, S. 319–322. 515 Gemeint ist hier vor allem die sog. harte Pädagogik der Nationalsozialisten und deren Aufruf zum Verzicht auf intellektuelle Erziehung. Vgl. Die Familie, hrsg. von I. Weber-Kellermann. Frankfurt a.M. 1996, S. 257.

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nur die traditionelle Zuordnung zum häuslichen Raum bleibt, den sie aber mit ihren eigenen Gedanken, Aktivitäten und Entscheidungen füllen. Die Reihe der starken weiblichen Charaktere eröffnet in … und wurden nicht gefragt die Großmutter Bertha. Als Familienälteste gilt sie als erfahren und zuverlässig, aber ihre besondere Rolle ist nicht dem Alter zu verdanken. Bertha wird von Anfang an als eine selbstständige Person dargestellt, die – zwar verwitwet – finanziell unabhängig auf die Unterstützung der Kinder nicht angewiesen ist. Bertha, Anna Bronski, der Großmutter von Oskar Matzerath, ähnlich516, verkörpert jene mythische Bindung an das Dasein, an dessen Geheimnisse und Urkräfte, die auch an den Herkunftsort gekoppelt sind, und in welche sie besonders die Enkelin einweiht. Aus dem großmütterlichen Munde erfährt das Kind die Gründungsgeschichte der Familie und der Stadt517; beide Erzählungen fügen sich zu einem Ganzen zusammen und sind als Projektionen einer besseren, paradiesisch anmutenden Welt zu lesen, deren Fluidum man nicht entgehen kann. Da die Gründungsgeschichte der Stadt Kattowitz, die hier der Weltschöpfung ähnelt, mit der Familie großmütterlicherseits verbunden ist, wird die Großmutter Bertha quasi zu einer literarischen Fusion der drei Räume Familie, Stadt und Welt und damit im gewissen Sinne verabsolutiert. Die Großmutter zeigt sich im Lauf der Handlung jedoch nicht nur als lediglich mythische Vorstellung von Ursprung, Tradition und Weiblichkeit. Mit ihrem Denken und Handeln verkehrt sie das statische Bild einer archetypischen Urmutter ins Gegenteil, indem sie es erweitert, modifiziert und universalisiert. In Bertha werden alle Eigenschaften einer Urmutter subsumiert, wie sie Carl Gustav Jung definiert hat: Sorge um eigene Kinder, um die Menschheit, Natürlichkeit, Gottheit, Religiöses, Macht etc.518 Im Weiteren entfernt sie sich von einem idealisierten Bild der Mutter und betritt entschieden männliches Terrain. In einer damals rein männlich kodierten Rolle tritt Bertha die Stelle als Geschäftsführerin und Chefredakteurin einer Zeitung an; als Vorgesetzte vereinigt sie in ihren Händen 516 Die Ähnlichkeit zwischen Bertha und Großmutter Bronski ist aber eine scheinbare, denn Grass’ Babka gilt als Personifikation von der Großen Mutter Erde, die »nicht nur frucht-, sondern auch furchtbare Gewalt der Natur repräsentiert […]« und ein Wechselspiel zwischen »Lebendigkeit und Sterblichkeit« impliziert. Berthas Gebundenheit an das Naturhafte lässt jedoch keine Zweifel an deren Vitalität und nicht Todesbezogenheit aufkommen. Über Symbolik von Anna Bronski vgl. M. Bauer: Im Fuchsbau der Geschichte. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart 1993, S. 173. 517 Die Großmutter Bertha übernimmt hier die Rolle einer Worthüterin, die F. A. Kittler zufolge in der Romantik einsetzt bzw. semantisiert und mit Erfolg in weiteren Jahrhunderten fortgesetzt wird. Vgl. F. A. Kittler: Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur Erfindung der Sexualität in der Romantik. In: Romantik in Deutschland, hrsg. von R. Brinkmann. Stuttgart 1978, S. 102–114. 518 C. G. Jung: Die psychologischen Aspekte des Mutter-Archetyps (1938). In: Ders.: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, hrsg. v. L. Jung-Merker u. E. Rüf. Gesammelte Werke, Bd. 9. Zürich 1954, S. 89–123.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

die Macht einer Chefin und die Empathie einer beschützenden Mutter, quasi ein androgynes Geschlechtermodell in die Wege leitend. Diese Vereinigung gipfelt in der Szene, die das Kind in seinen Erinnerungen für immer behält. An jedem Samstag zahlte die Oma den »kleinen Angestellten, Arbeitern und Zeitungsausträgern das Wochengeld aus« (UwnG, 22), was ihr unternehmerisches Talent unterstreicht und von ihrer starken Position im Familienbetrieb zeugt519. An einem der Zahltage wird das Kind zum Zeugen, wie die Großmutter eine arme schluchzende Frau mit zwei Kleinkindern tröstet und ihr konkrete Hilfe verspricht, was die Bedürftige auf der Stelle beruhigt. Von Bertha aufgefordert schenkt das Kind der Armen und ihrem Kleinen einen Apfel, der zum Symbol der Solidarität und Menschlichkeit wird. Um die karitative Tätigkeit der Großmutter richtig einschätzen zu können, muss man sich jedoch der tragischen Lage der Armen vergegenwärtigen, deren Beschreibung aber nicht von Bertha kommt, sondern von der Flickerin Kopetzki zum Ausdruck gebracht wird: Der Mann trinkt, der Lohn ist gering, aber der Mann versäuft ihn, ihre Wohnung ist dunkel und eng und vielleicht feucht. Die Frau hat kein Geld, um der Familie ein nahrhaftes Essen zu kaufen, sie macht Suppen, Wassersuppen mit eingebrocktem Brot, und sonntags gibt’s Klöße, harte Mehlklöße, die im Magen liegen bleiben wie Blei und ein Sattsein vortäuschen. (UwnG, 24)

Durch solch eine Gegenüberstellung von Paradies, das durch den geschenkten Apfel als Verheißung besserer Zeiten herbeigerufen wird, und Hölle, die der Familie durch den Mann und armselige Lebensbedingungen angerichtet wird, stellt der homodiegetische Fokalisator einen Kontrast her, der als Gradmesser für den Entwicklungsstand einer kapitalistischen Industriegesellschaft anfangs des 20. Jhs. fungieren kann, insbesondere für die Stellung der Frauen, die nur auf sich selbst bzw. auf die Hilfe anderer angewiesen waren. Die Großmutter Bertha wird als eine gütige, fürsorgliche Person dargestellt, die um die Sorgen und Nöte der armen Leute weiß und sie den eigenen Möglichkeiten nach zu unterstützen versucht. Dass sie die für eine Industriestadt, die »die Menschen vom Lande fortlockt« (UwnG, 25), charakteristischen Probleme der gesellschaftlichen Ungleichheit nicht lösen kann, ist ihr bewusst und sie kann nur das tun, was sich in ihrem Wirkungsbereich befindet: nur dem Menschen helfen. So gehört zu ihren Schützlingen auch ein gewisser Albert Korfanty520, der als ein armer, aber intelligenter Junge von dem ortsansässigen Pfarrer unterstützt 519 Hinter der Großmutter Bertha verbirgt sich Ruth Storms Oma, die nach dem Tod ihres Mannes die Radaktion der »Kattowitzer Zeitung« und der Druckerei bis zu Volljährigkeit ihrer Söhne alleine geführt hat. Vgl. Kapitel 2, S. 59. 520 R. Storm verwendet den Vornamen Albert (und nicht Adalbert), den deutschen Historikern ähnlich. Vgl. S. Karski: Albert (Wojciech) Korfanty. Eine Biographie. Dülmen 1990. Vgl. auch Die Waisen von Versailles (wie Anm. 161), S. 155.

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wird. Er konnte bei der Großmutter Bertha »Freitisch und Taschengeld« (UwnG, 50) bekommen, aber nicht ganz umsonst, er musste den Söhnen bei ihren Hausaufgaben helfen. Zusätzlich hat er von der Atmosphäre des Hauses profitiert, indem er den »Gesprächen der Großen aufmerksam folgte« (UwnG, 50), die Berichte der Redakteure belauschte, was ihm einige Jahre später zum Beruf des Journalisten in Berlin verhalf. Der Beitrag der Großmutter zu Korfantys Entwicklung ist in den Augen des Erzählers nicht zu unterschätzen, denn ohne den Beistand dieser Familie hätte er es nicht so weit gebracht. Das Engagement der Großmutter umfasst nicht nur einzelne Menschen, sie unterstützt finanziell auch die kirchlichen Institutionen und spendet Geld für neue Einrichtungen, z. B. für das vor der Kattowitzer Marienkirche stehende Kreuz. Die konfessionelle Zugehörigkeit der Großmutter Bertha eröffnet übrigens ihrer Enkelin die Möglichkeit für ein neues Weltverständnis. Die Oma als einzige Katholikin im evangelischen Haus weckt viel Verwunderung bei dem Kind, das deren tiefen Glauben, ihren täglichen morgigen Kirchengang beobachtend, viel Interesse an kulturellen und religiösen Unterschieden zeigt und sie zu begreifen und zu schätzen beginnt. Die von der Großmutter gegebenen Impulse animieren das Kind jeweils zum Fragen und Nachdenken und machen es wissensbegierig und weltoffener. Die Großmutter bewährt sich auch in schwierigen Lebenssituationen. Im Moment des Kriegsendes und der Abdankung des Kaisers übernimmt sie die Führung der Zeitungsredaktion und leitet die Überarbeitung von historisch neuartigen Artikeln. In den schwierigen Momenten des Ersten Weltkrieges gelten sie und ihre Wohnung als Ort der Geborgenheit und Stabilität. Als aus dem Haus des Kindes Möbel geräumt werden, flüchtet sie sich zu ihrer Oma, bei der alles wie »an seinem gewohnten Platz« (UwnG, 122) steht und die auf die Enkelin mit ihren tröstenden Armen und klugen Erklärungen der Situation wartet. Auch während der schlesischen Aufstände zeigt die Großmutter Nervenstärke und gibt der ganzen Familie praktische Anweisungen, die ihr bei deren weiterem Funktionieren behilflich sind. So füllt sie die Badewanne vorsorglich mit Wasser (UwnG, 158), weil sie schon weiß, dass die Aufständischen die Stadt von Wasserversorgung abschneiden werden; mit Stolz, nur ihre »gütigen grauen Augen« (UwnG, 176) zusammenziehend, kann sie sich über ihre Situation als Geisel kritisch äußern, als sie in der Wohnung eingesperrt auf die Rückkehr des Vaters des Kindes wartet. Die wichtigste Aufgabe der Großmutter besteht allerdings darin, das Kind in die Welt der Erwachsenen einzuführen und es selbständig werden zu lassen. Der Moment der Initiation erfolgt durch den an das ins Internat gesteckte Kind geschriebenen Brief, der ein »Felsblock war, der nicht so einfach fortgeschoben werden konnte« (UwnG, 135). In dem Brief beschreibt sie die Situation im Kattowitz in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, über die Abstimmung,

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Flucht des Vaters und die neuen Lebensbedingungen. Davon erfährt man aber nicht aus dem Brief der Großmutter, sondern aus der ihm folgenden Antwort der Enkelin, in der sie die Ereignisse kommentiert und auf wichtige Zusammenhänge hinweist, die der Oma Trost spenden sollten. Zum ersten Mal ist das Kind keine fragende Person, sondern ein der Situation bewusstes Mitglied der Familie und der Gesellschaft, das gute Antworten hat, die Situation, auch im politischen Bereich überblickt und dadurch mit der Großmutter ins Gespräch zu kommen vermag: Das geht doch gar nicht, Großmama, er ist doch dort geboren und ich auch. Und wie Du mir selbst erzähltest, hast Du doch als junge Frau mit Großpapa alles dort aufgebaut, das Haus, die Buchhandlung, die Druckerei, wo früher ein Garten gewesen wäre, und noch früher nur Brachland. Warum müssen wir dafür nun all dieses Schreckliche erleben? Nur weil wir an einer Grenze wohnen, den Krieg verloren und keinen Kaiser mehr haben? (UwnG, 136)

In diesem Moment scheint mit der Stellung von rhetorischen Fragen die Zeit der Lehre und Unschuld abgeschlossen zu sein, das von Bertha auf das Leben vorbereitete Mädchen hört auf, mit naiven Augen auf die sie umgebende Welt zu schauen und es wird immer klüger und aufmerksamer, die Kraft schöpft es aber aus der Tatsache, dass sie von ihrer Großmutter und Mutter, der aber nur eine zweitrangige Rolle zugeteilt wird, nicht getrennt wird und von deren Lebensklugheit profitieren kann. Symbolisch drückt sich das in den vier am Zugfenster stehenden Frauen aus, die die Kontinuität, Stabilität und Tradition bedeuten: Stumm standen die vier Frauen am geöffneten Coupéfenster und genossen den Frieden, der die Handschrift des Schöpfers trug. Und sie blieben schweigsam, alt und jung fühlten von draußen Kräfte aus ewigen Brunnen quellen. […] Sie waren da, waren in einer Geborgenheit, angelangt in der Sicherheit und Ordnung eines normalen Lebens. (UwnG, 195)

Eine starke Frau besitzt somit die Kraft, andere Frauen zusammenzuhalten, sie durch schwierige Zeiten zu führen und ihnen als Wegweiserin zu dienen. Letztendlich wird die Großmutter zur Mutter aller Menschen erhoben, die immer da ist, und für die die Kinder »eine ständige Quelle der Freude« (UwnG, 182) bedeutet. Die universale Mütterlichkeit Berthas, die wiederum Assoziationen mit der Großen Mutter auf den Plan ruft, wird diesmal nicht nur auf das Kind, die Familie oder die nächste Umgebung übertragen, sondern auf die gerade verlorene Heimat. Der Anblick des verlassenen Hauses, der Stadt oder bekannter Orte lässt bei dem Kind kein Unbehagen aufkommen, denn all das, was ihm lieb ist, verdichtet sich in der Gestalt der Großmutter, deren Gegenwart auch für die Zukunft relevant ist. Die der Großmutterfigur zugeschriebene Symbolik macht zugleich die Verzahnung von Tradition und Moderne bei der Konstruktion des

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Die ›Großen Mütter‹ – Bertha und Marianne

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Heimatbegriffs transparent, der auf ein Wechselspiel zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsebene baut und die räumliche Dimension vollends ausspart. Die Charakterzüge einer ›Großen Mutter‹ werden im Prosawerk nicht nur an der Großmutter Bertha exemplifiziert. Zu der Gruppe von starken Frauen kann ebenfalls Marianne Merker, geborene Erpach, aus Das vorletzte Gericht gezählt werden. Beide Frauen unterscheiden sich durch ihr Alter, ihre Position in der Gesellschaft und die Lebenssituation, in der sie sich befinden. Im Fall der Großmutter Bertha ist in ihre Ur-Natur ein breiterer gesellschaftlich-kultureller Kontext eingeschrieben, der während der Handlung zwar Modifizierungen unterliegt, ohne jedoch die Festigkeit des Charakters zu beeinträchtigen. Die Konzeption einer mythischen Ur-Natur, die auf dem Prinzip der alles und alle, sowohl Familienmitglieder als auch Fremde, Angehörige unterschiedlicher Konfessionen sowie Nationalitäten, umfassenden Mütterlichkeit beruht, kommt an ihrem Beispiel unverkennbar zum Tragen. Eine ganz andere Konzeption der starken Weiblichkeit zeigt die Autorin gerade am Beispiel von Marianne. Ist die Großmutter Bertha ein schon vorbestimmter, musterhafter Charakter, so scheint die Protagonistin aus Das vorletzte Gericht erst im Entstehen begriffen zu sein. Ihr Weg zur Selbstfindung, Entfaltung der Persönlichkeit und deren Offenlegung geschieht vor dem Hintergrund historischer Ereignisse und in Auseinandersetzung mit zahlreichen Grenzsituationen: Tod, Verlust und Gewalt. Auf der symbolischen Ebene findet dieser Prozess in dem den Roman durchziehenden Motiv des Nebels statt, der Marianne zunächst bei ihrer Ankunft in dem seit mehr als fünfzehn Jahren nicht besuchten Elternhaus umhüllt, und aus dem dann die ihr gut bekannte heimatliche Landschaft samt den das Unheil stiftenden »Totenvögeln« (VG, 5) auftaucht, die auf weiteren Etappen ihres immer schwierigeren und schicksalhaften Lebens »durch das Tal braut« (VG, 17) und »dichter« (VG, 35) wird. Die verschlüsselte Funktion des sich ins Tal legenden Nebels und die Parallelität dieser Erscheinung zu der Charakterbildung von Marianne gibt sehr treffend das folgende Zitat – ein Fragment des Gesprächs zwischen der Protagonistin und einem Fremden, der mit der Flüchtlingsgruppe den Erpachshof erreicht und die dort Versammelten über die Kriegslage ins Bild setzt, wieder: Haben Sie schon einmal die Landschaft beobachtet, wenn die Nebel ziehen? Ein Wanderer im Nebel ist etwas Merkwürdiges, er hat sein Ziel wohl innerlich vor Augen, aber er kann sich nur auf die Sinne verlassen. So wird es unserem Volk gehen, so wird es jedem einzelnen von uns gehen, Ihnen, mir und vielen anderen, einsam wird ein jeder sein, niemand wird seinen Nebenmann sehen, wir werden lange wandern müssen, bis wir weiser werden und durch die Nebel allmählich einen neuen Weg erkennen. (VG, 163)

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Mariannes Lebensweg scheint in die von dem geheimnisvollen, mit predigerhaften Merkmalen ausgestatteten Fremden gezeigte Richtung zu führen. Auch sie ist von Anfang an alleine und muss den Hindernissen des Schicksals ins Auge sehen und wie ein Wanderer ihr Lebensziel finden. Der Prozess der Selbstfindung setzt für Marianne nach dem Tod des Vaters ein, als sie zur Erbin des Familienhofes und der Generationentradition wird. Die symbolische Übertragung der Macht von den männlichen Eigentümern des Erpachshofes auf eine Frau bewegt Marianne zur Aktivität, der viele Reflexionen und Fragen nach der ihr zugewiesenen Rolle, dem wahren Lebenssinn und überzeitlichen Werten, die das Wesen des Menschlichen ausmachen, vorangehen. Zum Nachdenken regt sie der im Salon des Hauses hängende Spiegel an521, in den sie mehrmals blickt, und der sie auf viele ihr bisher unbekannte bzw. unbewusste Aspekte des eigenen und des Lebens anderer Menschen aufmerksam macht. Im Spiegel kann sie ihre Falten als Ausdruck der vorübergehenden Jugend sehen (»das Licht trog nicht, da und dort zeigten sich Falten« – VG, 11), aber zugleich auch einer abgeschlossenen Etappe der Unreife und der beginnenden Klugheit und Erfahrung. Nicht zufällig lässt sich im Spiegelbild ihre »madonnenhafte Zartheit« (VG, 11) erkennen, die mit ihrer von dem Maler Lampnitz konkretisierten Vorstellung von Sybille korrespondiert, in deren Bewegungen, »in ihrer Art zu sprechen […] Musikalität« (VG, 29) liegt. Diese anscheinend widersprüchlichen Bilder – der christlichen und altertümlichen Kultur entnommen – lassen zwei unterschiedliche Eigenschaften von Marianne erkennen, die sich im Laufe der Kriegs- und Nachkriegsjahre in ihrem Charakter vereinigen. Einerseits wird sich Marianne in eine mit Mutterschaftsinstinkt ausgestattete Frau verwandeln, bei der Personen aus ihrer Umgebung wie auch Fremde Unterstützung und Trost finden können, die sich dann in der Rolle der Pflegemutter für den verwaisten Gerhart, das Enkelkind von Neubauer verwirklichen wird. Auf der anderen Seite sollte Marianne – der mythologischen Überlieferungen nach – eine Weissagerin verkörpern, die nicht nur die Zukunft vorhersagen kann, sondern als gute und zuverlässige Ratgeberin wirkt. Wird sie dann den Menschen mit ihrer Haltung oder ihrem Wort zur Seite stehen, so scheint nicht diese Gabe ihre Natur auszuzeichnen. Wolfger Stumpfe verweist, Bildnisse von Sybille in der bildenden Kunst Italiens der frühen Neuzeit analysierend, auf die sich seit dem 17. Jahrhundert vollzogene Erweiterung des Bedeutungsspektrums dieser griechisch-römischen oder heidnisch-christlichen Prophetin522, die man seit dieser Zeit nicht nur als »eine Verkünderin des künftigen Geschehens« versteht, sondern eine »Verschmelzung verschiedener 521 Zur Erinnerungsmetapher des Spiegels vgl. Kapitel 3, S. 108ff. 522 Zum Sibylle-Mythos vgl. J. Beyer: Sibyllen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 12. Berlin, New York 2007, S. 625– 630.

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Konzepte des ›außergewöhnlichen Menschen‹, z. B. des Helden, Königs, Dichters, Priesters, Propheten […]«523, welche die Verlagerung von äußeren, bisher im Zentrum des Interesses von Künstlern und Dichtern stehenden Merkmalen auf die inneren Inhalte nach sich zieht. Die Hervorhebung des Inneren von Sybille macht – so Stumpfe – eine neue Dimension in der Kunstbetrachtung deutlich, die auf eine Verknüpfung von christlichen Elementen (Eucharistie) und Mütterlichkeit zurückgeht524. Mariannes Figurenkonzeption scheint jenes Konzept von der frühneuzeitlichen Sybille zu bestätigen. Die Bildung ihres Charakters erfolgt allerdings schrittweise und setzt sich aus neuen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Begegnungen mit Menschen zusammen. Zu einer der ersten Erfahrungen gehört der Tod des Vaters, infolgedessen sie nicht nur »zu seiner Erbin« (VG, 32) wird, sondern zur Erbin und Stammutter der ganzen Erpach’schen Sippe. Im Spiegel an der Wand sieht sie aber vor allem den Sarg der Mutter, an die sie sich ständig erinnert, sei es durch den Märchenspruch »Spieglein, Spieglein an der Wand« (VG, 13), sei es dank der von ihrem Bruder Wilhelm, Komponisten, bearbeiteten Kindheitsmelodie der Mutter, die von ihr mehrmals angestimmt wurde. Die Tradition der weiblichen Linie der Familie findet in der Geschichte der vom Erpachshof geflüchteten Großmutter zusätzlich ihre Vollendung, und macht deutlich, dass der Tod bzw. die Flucht der Frauen eine Art Lösung von ihren Problemen, ein Ausweg aus den von ihnen übernommenen Rollen verstanden werden kann525. Marianne begreift sich als ein Bindeglied in dieser weiblichen Familienkette, die sie aber mehr nur der Tradition wegen ausfüllen und fortsetzen will. Ihr eigenes Leben sucht sie dagegen selbst zu gestalten. Dies äußert sich zuerst in Mariannes Entscheidung, im Alter von 18 gegen den väterlichen Willen den Berliner Industriellen Friedrich Merker zu heiraten. Die Liebe zu diesem Mann, der sich in eine »Wildkatze« (VG, 30) verliebt hat und sich sein weiteres Leben ohne sie nicht vorstellen konnte, führte zum Bruch mit der 523 W. Stumpfe: Sibyllendarstellung im Italien der frühen Neuzeit. Über die Identität und den Bedeutungsgehalt einer heidnisch-christlichen Figur. Diss. Trier 2005, S. 82. 524 W. Stumpfe unterzieht einer kunsthistorischen Analyse den neuen Tempel Salomons im Oratorio del Gonfalone in Rom und führt die Attribute der Hellseherin – Kind, Füllhorn, Kornähren, Tempel – vor, die auf deren Mütterlichkeitskonzeption hindeuten. Weitere symbolhafte Vorstellungen (Kelch) sind Anzeichen für die christliche Deutung Sybilles als Prophetin des Leidens und der Auferstehung Christi und des Weltendes. Vgl. ebd., S. 84–97. 525 Sowohl Mariannes Mutter als auch Großmutter fühlen sich am Erpachshof fremd. Von der Großmutter und ihrem spektakulären Abschied von der Familie erfährt Marianne erst am Tag der Beisetzung des Vaters. Der alte Neubauer verweist darauf, dass sich diese mit einer lokalen Legende umwobene Trennung auf Mariannes Vater stark ausgewirkt hat, so dass er »nichts vergessen [hat – R.D.-J.] und das Andenken der schönen Mutter tief im Herzen bewahrt.« (VG, 23) Die aus Breslau stammende Mutter hat sich hingegen im Wald verlaufen und wurde von Mariannes »Vater im erschöpften Zustand aufgefunden« (VG, 24) und ist schon dort bis zu ihrem frühen Tod geblieben. In beiden Fällen wurde von einem »kurzen Glück« (VG, 24) gesprochen.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Familie und zum Verlassen der Heimat. Die Ehe und das Leben in der Großstadt sind jene Lebensform, die beide weiblichen Vorfahren anzustreben suchten, ohne eine konkrete Vorstellung davon zu haben. Marianne wird in der Ehe mit einem Geschäftsmann konfrontiert, was ihr ermöglicht, das eigene Bild von einer sie zufriedenstellenden Frau-Mann-Beziehung zu entwerfen. Von ihren Gründen, sich von dem Mann zu trennen, erzählt sie der Tante Magdalene offen und aufrichtig: Friedrich machte sein Geschäft zum Idol, er kannte nur Projekte, unsere Zeit kam seinen Plänen entgegen, ich ging nicht mehr mit ihm, ich lief hinter ihm her. Das war ermüdend, aber ich wollte mich nicht aufgeben, ich wollte nicht nur dem Namen nach Frau eines Mannes sein, sondern auch seine Begleiterin. So löste ich mich von ihm, weil meine Ehe keine Ehe mehr war […] Aber sein eigenes Tempo warf ihn aus der Bahn; er starb eigentlich seinen eigenen Tod, die Maschine, die er zu seinem Gott erhoben hatte, vernichtete ihn. (VG, 81)

So vermisst Marianne in ihrer Ehe eine partnerschaftliche Beziehung, in der sie dem Mann gleichgestellt wäre, wobei sie ihren Wunsch nicht auf die Präsenz im Öffentlichen bezieht, sondern auf die geistige Sphäre. Diese Impulse für die Entfaltung ihres inneren Potenzials bekommt sie erst später von zwei anderen Männern: ihrem Bruder Wilhelm und dem Frontsoldaten Gabriel Wismar, der nach seinem Lazarettaufenthalt im Rackental ihr im Sägewerk und auf dem Hof hilft. Beide bereichern sie mit anderen geistigen Gaben, die ihr zu Wegweiser nicht nur für die schwierige Kriegs- und Nachkriegszeit werden, sondern für das ganze Leben. Aus den Gesprächen und besonders aus dem letzten Brief von Wilhelm erfährt sie vom Wert des Göttlichen, das »über alle Dinge und Zeiten gestellt« (VG, 65) werden soll526, und der den Menschen mit Harmonie erfüllt. Von Wismar lernt sie hingegen das Arbeitsethos: er unterrichtet sie in der Pferdezucht und den Feldarbeiten. Mit solchen Wegweisern ausgestattet gewinnt Marianne an Kräften und sie setzt sie in viele Taten um. Zunächst übernimmt sie die Pflichten der Köchin, als diese erkrankt, und bereitet für die Hauseinwohner und Sägewerkarbeiter Essen zu. Sie nimmt sich eines todkranken Kindes von Flüchtlingen an, als es von allen verlassen, fieberzitternd, einen menschenwürdigen Ort zum Sterben braucht. Marianne nimmt das namenlose Mädchen in ihr Bett, flößt ihm Milch mit Honig ein, begleitet es bis zum letzten Moment und nach dem Tod dieses »fremden Kindes« (VG; 97) kümmert sie sich um dessen Begräbnis. Als Erpachshof-Besitzerin fühlt sie sich für alle verantwortlich, und unterstützt sie besonders dann, wenn sie von Verzweiflung, Angst und Krankheiten betroffen sind. Ihre sich auf der Flucht in den Westen befindende Schwiegermutter, die sich im Erpachshof für eine Nacht aufhält, unter anderem 526 Wilhelm ist auch derjenige, der mit Marianne über das Problem der deutschen Schuld spricht. Mehr dazu im Kapitel 6, S. 230ff.

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mit der Absicht, Marianne in den Westen mitnehmen zu wollen, bemerkt den Wandel ihrer Schwiegertochter, die in ihrer Heimat mit dem früheren und vom Ehemann unterdrückten Mädchen nichts zu tun hat. Sie konstatiert mit Verwunderung, was auf Mariannes Veränderung Einfluss gehabt haben soll: Hier aber auf Erpachshof, in ihrem alten Vaterhause war Marianne noch einmal sie selber geworden, trotz ihrer zweiunddreißig Jahre lag über ihrer reifen Schönheit ein leuchtender Jugendschmelz, der von einer starken inneren Kraft ausgehen mußte und jeden gefangennahm. (VG, 123)

Mit dem Besuch der Familie Merker, der Marianne wie »Flamme« und »Zauber« (VG, 89) erscheint, wird etwas durchaus Zentrales ausgesagt: Die Erpachshofherrin gewinnt nämlich die identitätsstiftende Überzeugung, dass sie mit der Familie Merker nicht fliehen könne, weil sie »die Heimat in kommender Not nicht verlassen […], hier bis zum Äußersten ausharren« (VG, 89) wolle, weil sie sich dem Vater und Bruder verpflichtet fühle. Die innere Stärke lässt sie den Einmarsch der Roten Armee, das zwangsweise Verlassen des Hauses und dessen Plünderung überstehen. Im Weiteren sieht sie sich durch diese starke Bindung in allen Entscheidungen und Taten so gestärkt, dass sie z. B. weder eine weiße noch eine rote Fahne heraushängen will (VG, 147), als das Tal von den Sowjets besetzt wird. Sie kann sich auch gegen einen aggressiven Offizier zur Wehr setzen, kurz nachdem er ihren Cousin Mathes getötet hat. Mit Demut und Ruhe verkraftet sie den Verlust von wertvollen Gegenständen, denn sie lernt, dass »alle Werte wertlos« (VG, 110) sind, und dass »aller persönlicher Besitz verblaßt« (VG, 166). Jene tröstenden Worte gibt sie auch an andere weiter – an Tante Magdalene, Mathes, seine Schwester Luise und die Familie Neubauer, solange sie noch am Leben sind. Sie verliert ihren Stolz, Mut und ihre Stärke nicht, als sie ihr Haus für immer verlassen muss: »trotz ihres Gepäcks [geht sie – R.D.-J.] aufrecht vom Hof ihrer Väter« (VG, 243). Marianne geht von ihrer Heimat als eine starke und selbstbewusste Frau, die sich in ihrem neuen Leben gut bewähren wird: als Mutter für Gerhart und tüchtige, arbeitsame Frau, die in der Lage ist, in der neuen Heimat selbst auszukommen, Geld zu verdienen und eine neue Welt um sich herum aufzubauen. Sie gehört zu jenen, die – den Worten eines der anonymen Flüchtlinge nach – nach der Katastrophe auferstehen wird, denn sie hat »die seelische Kraft dazu« (VG, 250). Diese Kraft verdankt Marianne zunächst sich selbst, dann aber dem festen in der Waldszene gewonnenen Glauben an Gott.527 Der Weg Mariannes von einer in ihrer Individualität verhafteten Person zu der vernünftig denkenden und handelnden Frau, der auf zwei Etappen – in Erpachshof und dann nach der Flucht – realisiert wird, hebt erneut die EntRäumlichung der Heimat hervor. Korrespondiert im Fall der Großmutter der 527 Vgl. Kapitel 4, S. 151f.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Verlust der Heimat mit der absoluten Schwächung des Raumsinns zugunsten der Zeit, die im Roman dem Prinzip der Gleichzeitigkeit folgt, so geht Marianne weiter: Sie entbindet sich sowohl aus einer zeitlich wie auch räumlich bedingten Heimat und sie gießt sie in eine verinnerlichte Formel, die sie jederzeit geistig erwachen lässt. Diese innere Kraft, einer Ur-Natur gleichgesetzt, stellt Verbindungslinien zwischen Menschen und Zeiten her und scheint immerwährend zu sein. Als Verkörperung einer gynäokratischen Kultur im Sinne Bachofens, die Dualismen aufhebt, eine Brücke zwischen Leben und Tod schlägt, können die Mütter-Figuren utopische Orte kreieren, sich über Zeit und Raum hinwegsetzen, »alles von [ihnen – R.D.-J.] Gebildete wieder in ihrem Schosse aufnehmen«528 und dadurch als Begründerinnen einer neuen, noch unbestimmten Heimat fungieren. Es ist bemerkenswert, dass die Bindung der Storm’schen Mütter, wie auch anderer Frauen, an die Natur, ihre direkte Verbindung zur Mutter Erde, die sich in verschiedenen Formen ausdrückt (Erbinnen der Familientradition, umsorgende Mütter für alle, Vermittlerinnen von ontologischen und ethischen Kategorien, Bindeglied zwischen Leben und Tod etc.), sie nicht in Opposition zu Männern bringt und dem patriarchalen System zum Opfer fallen lässt. Die der Protagonistin Valeska Piontek aus Horst Bieneks Die erste Polka zugeschriebene tragische Haltung529, die sie – Wolfgang Schneiß zufolge – einerseits als eine aktiv handelnde und mit Erfolg um ihre Familie kämpfende Frau charakterisiert, andererseits ihre Niederlage im Konflikt mit Männern um sie herum deutlich macht530, ist bei Ruth Storm nicht zu finden. Ihre Mutterfiguren gehen aus Konflikt- und Krisensituationen gestärkt hervor, sie verlieren trotz neuer Umstände und der tragischen Lage nicht an ihrer Aktivität und können sie auf andere übertragen.

528 J. J. Bachofen: Das Mutterrecht: eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Stuttgart 1861, S. 131. 529 Auf diese Tragik verweist H. W. Sabais, indem er Valeskas matriarchale Beschaffenheit hervorhebt, die ihre Familie – mindestens auf bestimmten Etappen – aus den Kriegs- und Krisensituationen herausgehen lässt, die für die Protagonistin jedoch in den persönlichen Notstand und final in den Tod münden. Vgl. H.W. Sabais: Bieneks epischer Schauplatz. In: Bienek lesen, hrsg. von M. Krüger. München 1980, S. 61f. 530 W. Schneiß interpretiert Valeskas Tragik wie folgt: »[…] als Mutter Courage steuert sie scheinbar erfolgreich durch die Wirren des Krieges. Und doch bleibt sie vereinsamt und im tiefen Konflikt mit Mann, Bruder und Kindern. Am Ende ist sie ›nur noch eine alte vermummte Frau, die hinter einem Planwagen herstapfte‹. Sie geht im brennenden Dresden unter. Anhand ihres Lebens wird die ganze Tragik Oberschlesiens sichtbar.« Schneiß, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland (wie Anm. 157), S. 264.

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Die Schwestern Lehan – drei Paradigmen der Ehe und Weiblichkeit

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Die Schwestern Lehan – drei Paradigmen der Ehe und Weiblichkeit

Die Figurenkonzeption von Großmutter Bertha und Marianne lässt sich auf historischkulturelle Umstände zurückführen. Auch im Hinblick auf das literarische Weiblichheitsmodell weist sie viele Analogien zu den in der Weimarer Republik und im Dritten Reich geltenden Vorstellungen von Frauenrollen auf. Der 1978 während der ersten Phase in der Frauenbewegung in der BRD verfasste und veröffentlichte Roman Odersaga ist dagegen ein Versuch, Frauenrollen zu hinterfragen, sie dem Geschlechterdiskurs der 70er Jahre des 20. Jhs. zuzuführen und über die Verortung von Frauen im Kontext des damaligen Heimatbegriffs zu reflektieren. Die Erwartung, dieser Familienroman zeichne die Entwicklungstendenzen der Frauenliteratur nach bzw. fächere ihre bedeutenden Gesichtspunkte auf, trifft jedoch nicht zu. Als Diskussionspunkt wird von der Autorin vor allem die Ehe in den Raum gestellt, aber auch Frauen- und Männerbilder schlechthin und deren Selbstverwirklichungsmöglichkeiten in der damaligen Gesellschaft werden ins Blickfeld des Fokalisators gerückt. Sowohl die Ehe als auch Frauen- und Männerrollen werden auf zwei Weisen definiert: einerseits von der Seniorin der Familie, Mutter Lehan, andererseits von ihren drei Töchtern: Anna Margarete, Bertha und Karoline. Die Mutter, Repräsentantin des vermögenden Breslauer Bürgertums, gibt in ihren inneren Monologen sowie in den Abendgesprächen mit ihrem Mann die gewünschte Entwicklungsrichtung der drei jungen Frauen vor, indem sie die bürgerliche Sittlichkeit beschützt531 und durch ihre Ratschläge sowie Ansichten deren Entscheidungen zu beeinflussen versucht532. Der Katalog der zu befolgenden Normen ist allerdings sehr be-

531 R. Storm liegen – so meine Hypothese – die falsche bürgerliche Moral und deren subversiver Charakter am Herzen. Es fehlt ihr an Mut bzw. an Kenntnissen über die Entwicklungsmöglichkeiten der damaligen Frauen, dennoch führt sie in ihre Werke Frauenfiguren ein, die sich der starren, die Freiheit des Individuums einschränkenden Gesellschaftsnormen widersetzen. In Ein Stückchen Erde unterliegt die Mutterfigur einer »Verdoppelung«, denn als erste wird die biologische Mutter – Giesela Zarrer – eingeführt, dann die Adoptivmutter und zugleich Patin des neugeborenen Kindes – Eva Lähn, die kinderlos bleibt. Gisela Zarrer muss der bürgerlichen Konvention gemäß ihre Schwangerschaft vor der Familie verheimlichen, denn sie ist nicht imstande, das uneheliche Kind zu erziehen, auch wenn sie dessen Vater liebt. Sie ist sich ihrer Entscheidung bewusst und legt aufrichtig vor Bother ihr Bekenntnis ab, indem sie nicht nur die Gesellschaft, ihre Schicht, sondern auch sich selbst beschuldigt: »Ich gehe in mein bürgerliches Leben zurück, und ich verberge etwas. Es ist vielleicht feige von mir, aber – ich kann nicht anders. Ich habe nicht die Kraft dazu, für das Kind einzustehen, und ich könnte ihm auch im Augenblick keine Zukunft bieten. So gibt es für mich nur die Trennung.« (E, 60) 532 Die Haltung der Mutter Lehan geht in die Richtung der matriarchalen Herrschaftsform, die aber in der Denkweise und im Benehmen des Vaters ihren Gegenpol findet. Mit diesem

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scheiden und beschränkt sich auf die Kontrolle des geselligen Lebens junger Frauen, denn alle »Tanzstunden und Abschiedsbälle waren vorgeschrieben gewesen [und verliefen – R.D.-J.] unter den Augen der Mütter, Tanten und Gouvernanten nach einem Schema« (O, 14). Auch die Heiratsreihenfolge in der Familie Lehan soll dem Alter folgen, die Vermählung der Jüngeren vor der Älteren wäre ausgeschlossen gewesen, es durfte nur »von oben herunter« (O, 30) geheiratet werden. Die Mutter Lehan gerät jeweils in Missstimmung, wenn sie erfährt, eine der Töchter müsste in der Ehe die Position der Zweiten spielen. Es handelt sich zunächst um Bertha, die August Rautenberg, den verwitweten »Großkaufmann im Holzgeschäft mit vielen Niederlassungen in der Provinz und internationalen Verbindungen« (O, 18), heiraten will; mehr Kummer bereitet der Mutter allerdings der Heiratsantrag von Franz Gaebler, der als Geschiedener und dazu aus unklaren familiären Verhältnissen (O, 34) stammend als kein entsprechender Lebensgefährte für die älteste Tochter Anna Margarete eingestuft wird. Die Familie, ihre Abstammung und dort herrschende Beziehungen sind bei Lehans Garant des Glücks. Die Eltern Lehan richten sich in ihrem Urteil über ein erfolgreiches Familienleben nach der vermeintlichen biologischen Determination und der positivistischen Milieutheorie und befürchten, falsche Verhaltensmuster könnten vererbt und auf die neue Familie übertragen werden. Ihre Ansichten formulierend denken sie allerding vor allem an das Glück der eigenen Tochter. Sie argumentieren hierbei folgenderweise: Frau Lehan klopfte mit ihrem Kamm auf die Glasplatte des Frisiertisches: »Gewiß, gewiß«, sagte sie etwas gereizt, »aber es handelt sich doch um das Glück unseres Kindes, um die Klarheit in den familiären Verhältnissen, die auch im späteren Leben wichtig ist.« […] »Nun ja, er ist in Verhältnissen groß geworden, die jetzt nicht mehr zu ihm passen, er ist über sie hinausgewachsen. Er ist ein Selfmademan, Volksschüler gewesen, verstehst Du? Und wer weiß, was er alles an Traurigkeiten als Kind durchmachen mußte. Vielleicht gehörte er überhaupt gar nicht in dieses Milieu. Man weiß ja, wie gern verrutschte Kinder von hohen Herrn verborgen oder abgeschoben werden.« (O, 35)

Die Sorge um die Familienbeziehungen, um deren Fortbestand dient nicht nur privaten Zwecken, sondern versichert auch die Kontinuität eines Staates, denn die Familie bindet – so der Vater Lehan – »an Heimat und Vaterland« (O, 32). Diese Überzeugung wird im Roman an mehreren Stellen formuliert, besonders bei den Familienfeiern, und aus dem Mund der Pastoren, die – wie der Prediger in der Maria-Magdalena-Kirche in Breslau – »in der Pflege der Tradition einen ihrer stärksten [der Familie – R.D.-J] Grundpfeiler« (O, 94) sehen. Die Erwar-

Konzept eines Gleichgewichtes zwischen den Geschlechtern positioniert sich die Autorin gegen den kritischen Feminismus.

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Die Schwestern Lehan – drei Paradigmen der Ehe und Weiblichkeit

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tungen der Familie gegenüber scheinen bei den Eltern Lehan zwar traditionell zu sein, aber die Art und Weise, wie sie darüber diskutieren, deutet schon den Wechsel des Ehe- und Geschlechterparadigmas an. Beide verteidigen nämlich die bürgerlichen Normen nicht, sie bilden für sie lediglich einen Ausganspunkt für deren Revidierung und die neue Standortbestimmung, die sich meistens – von Kompromissbereitschaft unterstützt – in ihren Abendgesprächen vollzieht. Die Aufmerksamkeit der Mutter Lehan, die sich als eine beteiligte Beobachterin des gesellschaftlichen Lebens erweist, entzieht sich dem Wandel in diesem Bereich nicht, der aus dem »Fortschritt des zwanzigsten Jahrhunderts [resultiere und – R.D.-J.] sich auch auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau auszuwirken« (O, 64) beginne. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich im Weiteren die Toleranz und Offenheit in der Denkweise der Eltern Lehan. Sie gewähren ihren Töchtern eine freie Entwicklung und verhindern ihren Weg zur Selbstständigkeit sowie deren Selbstfindung in der Ehe nicht. Diese Wege verlaufen zwar unterschiedlich, aber es verbinden sie die von der Mutter Lehan formulierten Grundsätze einer guten Ehe, die sich auf »das Fluidum gegenseitiger Zuneigung« (O, 25) und die Überzeugung, »ein Paar fürs Leben zu sein« (O, 21), stützen. Das Interesse des Fokalisators, der quasi bürgerlichen Normen folgt, ist auf die Älteste konzentriert. Die Entwicklung der mittleren Schwester scheint allerdings eine Übergangsform zwischen Tradition und Moderne zu sein. Sie erscheint als eine vollkommene Braut, dann Ehefrau und letztendlich Mutter. Ruth Storms Frauenfiguren, so auch Bertha, widersprechen somit den feministischen Vorstellungen vom Patriarchat, sie wollen »durch die Heirat eine Heimat« (O, 164) finden, wo sie sich verwirklichen können. Bertha wird von ihrem Mann beinahe vergöttert, was sie »glücksstrahlend und verzaubert« (O, 38) macht und an allen Ritualen der Trauung und dann der Ehe teilnehmen lässt: Was für ein Tag, was für eine Hochstimmung im Mittelpunkt zu stehen und von einem sprühenden Partner mitgerissen zu werden! All das machte leichtfüßig und frei von Vorurteilen und Ängsten, die ein junges Mädchen bedrängten, wenn es galt, aus einem geliebten Elternhaus zu gehen. Sie tanzte mit ihrem Bräutigam ähnlich beschwingt wie bei dem Fest im Walde ihren letzten Walzer. (O, 38)

Diese Hochzeitsstimmung wird diese Ehe bis an ihr Ende tragen. Seitdem Rautenberg seine Frau über die Schwelle des Hauses trug, konnte sie in ihrem Mann nur Unterstützung und Anregung für eigene Entwicklungen finden. Schon nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise durch das russische Baltikum fand ihre Familie sie sehr verändert und stellte Berthas Entwicklung »zu einer mütterlichen Frau erblüht« (O, 71) fest. Bei allen weckte dieses Paar den Eindruck einer Partnerschaft, die sich in den Gesten des Mannes und der Veränderung von dessen Ehefrau ausdrückte:

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Über dem Paar lag eine Übereinstimmung, die bei geringsten Anlässen sich bemerkbar machte. In der Art, wie er ihr behutsam den Schal um die Schultern legte oder einen heruntergefallenen Gegenstand aufhob, in allem spiegelte sich seine zärtliche Einstellung zu Bertha wider. Auch Mutter Lehan bemerkte sein kavaliermäßiges Verhalten, das nicht angelernt, sondern seinem freien Gefühl entsprach, und sie war beglückt über diese ideale Partnerschaft. (O, 71)

Diese Beziehung verändert auch Bertha, bei der die Familienmitglieder die Entwicklung einer »guten Beobachtungsgabe« und infolgedessen auch eine »Erzählerbegabung« (O, 71) feststellen. Durch die Gewinnung eines neuen, besseren Sprachpotenzials wird Bertha zu einer gleichwertigen Partnerin ihres Mannes. Die innige Verbindung zwischen den Ehepartnern verstärkt sich noch mehr im Moment der Geburt des ersten Kindes, Carl, als sie ihr Glück ungestört genießen können und den Wert des Augenblickes zu schätzen lernen, der »zwischen zwei Menschen eine so bewußte, tiefe Verbundenheit hervorrufen [kann – R.D.-J.], nur Augenblicke, aber sie gleichen zündenden Funken, die nie verlöschen werden.« (O, 92). Diesen Bund des Verständnisses und einer endlosen Verzauberung wird nichts und niemand zerstören. Auch wenn August im Ersten Weltkrieg von einer Geschäftsreise ins Baltikum nicht zurückkehrt, und nur ein Lebenszeichen von ihm kommt, wird ihn Berta voller Hoffnung erwarten und den Glauben an seine Rückkehr nicht verlieren. Die Verbundenheit mit ihrem Mann lässt sie auch nach seinem Tod ihr Haus nicht verlassen und dort mit ihrer jüngsten Tochter bis zum Einmarsch der Russen verharren, denn die gut im Gedächtnis behaltenen Worte des Mannes, das sie das Haus nicht verlassen dürfe, verleihen ihr Kraft und beleben ihre Phantasie, als sie das Zimmer mit Rosen füllt, um den Tod im einstürzenden Haus leichter zu machen. Am Beispiel der Ehe von Bertha und August Rautenberg konstruiert Ruth Storm ein im Grunde genommen traditionelles Paar, das in der Erziehung der Kinder, in der Vermehrung des Unternehmensvermögens, dessen Führung während des Ersten Weltkrieges Bertha übernehmen muss, und in der Harmonie des Alltagslebens, erfüllt von Gegenseitigkeit und Treue, sein Glück findet, dass eigentlich nur zweimal gestört wird: durch Augusts Gefangenschaft in Russland und im Moment des Todes der mittleren Tochter. Dieses Ehepaar wird im Roman aber eher am Rande der Handlung dargestellt, denn im Fokus des Interesses befinden sich – wie schon erwähnt – zwei andere Schwestern, deren gegenseitige Beziehungen mit dem am Beispiel von Bertha und August präsentierten Bild einer traditionellen Ehe kontrastieren. Im Gegensatz zur mittleren Schwester sucht die jüngste zunächst ihre Selbstverwirklichung in der Ausbildung zur Künstlerin. Ihrer Entscheidung steht zuerst die Mutter Lehan im Wege, der es »gräßlich wäre, eine emanzipierte Tochter zu haben, ihr kämen dabei immer die englischen Suffragetten in den Sinn.« (O, 52) In ihrem Inneren wünscht sich die Mutter, Karoline wähle ihren Lebenslauf, lerne nähen und kochen, um »als

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Die Schwestern Lehan – drei Paradigmen der Ehe und Weiblichkeit

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verheiratete Frau gut wirtschaften zu können« (O, 52). Mutter Lehan ist nicht die einzige Figur, die sich über die Berufs- und Lebenspläne ihrer Tochter abschätzig äußert.533 Auch der Künstlerkollege, Rudolf Mensel, den Karoline auf einem Ausflug nach Trebnitz kennengelernt hat, urteilt negativ über Frauen, die sich der Malerei angenommen haben.534 Nicht die ganze männliche Künstlerwelt tritt aber gegen Karolines Träume an. Positive Anregungen bekommt sie von einem jungen Privatdozenten an der Breslauer Universität, Dr. Pohl, der mit seinen Hinweisen in ihr das Interesse weckt, die Realisierungsmöglichkeiten bahnt und vor allem die junge, talentierte Frau auf den Wert der freien Persönlichkeitsentfaltung aufmerksam macht. Als ein Hindernis auf dem Wege zur Selbstrealisierung nennt er aber die Ehe: Ich habe die schönsten vielversprechendsten Blüten in den Fesseln der Ehe verwelken, oft auch brechen gesehen. Machen Sie da nicht mit! Es wäre schade um Sie, bei Ihnen sind Voraussetzungen vorhanden, die zu großen Hoffnungen berechtigen. Sehen Sie sich erst mal die Welt an, lernen Sie das Leben kennen, das so ganz anders aussieht als aus der Perspektive eines vorsorgenden Elternhauses. Ein Künstler braucht Eindrücke. Er muß sie in sich verarbeiten, er darf sich nichts leicht machen, sonst taugen seine Arbeiten nicht, sie werden blutleer, zweitrangig, eben unbedeutend. Sie müssen nach München gehen, Paris, den Louvre besuchen und Italien – immer wieder Italien! Dann erst werden Sie wissen, was Sie sich als Malerin zumuten können. Sie müssen abseits gehen, um zu reifen. Vor allem sich niemals verzetteln! Sich immer selbst treu bleiben! (O, 24)

Diese Worte geben Karoline den Impuls, sich mit ihren Plänen durchzusetzen zu versuchen. Nach dem Gespräch mit Pohl fragt sie sich in ihrem Tagebuch, was für eine Frau wichtiger wäre, »etwas Persönliches zu werden, als nur auf einen Ehemann zu warten, von dem man zeitlebens abhängig sein [wird].« (O, 28) Dank Pohl kann sie jene Kräfte in sich aktivieren, die in ihr schon lange verborgen waren und sie entscheidet sich nach München zu gehen und dort ihr Kunststudium zu beginnen. Dieser Schritt, zuerst gegen den Willen der Mutter Lehan, ermöglicht ihr nicht nur das Studium, sondern auch Kontakte zu einem Intellektuellenkreis, der sie innerlich bereichert und sie den Wert der – von Pohl ebenfalls hochgeschätzten – »Freundschaft ohne Selbstsucht« (O, 28) begreifen 533 So repräsentiert die Mutter Lehan die seit dem 18. Jh. im öffentlichen Bewusstsein fest verankerte Meinung, eine Frau als Künstlerin widerspreche der Moral und führe ein anstößiges Leben. Dieses Motiv wurde in der Literaturforschung an einer Fülle von Beispielen dargelegt. Über die Klischierung des Schauspielerstandes vgl. Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, hrsg. von R. Möhrmann. Frankfurt a.M. 1989; C. Caduff: Zur Geschichte der weiblichen Bühnenpräsenz. In: »Schritte ins Offene. Frau macht Theater« 6 / 1995, S. 7–11. 534 Neid und üble Nachrede in Künstlerkreisen sind häufige Sujets in Literatur und Kultur. Vgl. X.M. Riebe: Neid und Missgunst unter Künstlern und Künstlerinnen. In: https://bild-art.de /neid-und-missgunst-unter-kuenstlern-und-kuenstlerinnen [Zugriff: 15. 05. 2021].

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lässt. Karoline wohnt in München bei Frau Hardank, einer Cousine von August Rautenberg, die in ihrem Haus am Starnberger See einen Salon führt, wo sich regelmäßig die Kunsthandwerkerin Martha Brockmann, die »schnitzen, töpfern und phantasievolle Wandbehänge anfertigen [kann – R.D.-J.] und einen feinen Spürsinn für die kulturellen Regungen der Zeit [besitzt – R.D.-J.]« (O, 88), ein Journalist, der nach vielen Reisen durch Europa über die balkanischen Länder über politische Gärung, Nationalismen und kulturelle Vielfalt dieses Europateiles berichtet, und ein Oberstleutnant, der viel Zeit im militärischen Einsatz in China verbracht hat, zusammentreffen. An diese Gesellschaft schließt sich gelegentlich der alte Bekannte Mensel, ein Breslauer Gegner von »Malweibern« (O, 64), an. Die Gastgeberin, Hedwig Hardank, entzückt dabei die Versammelten mit ihrer »vornehmen damenhaften Zurückhaltung im Verkehr mit jedermann« (O, 86) und bewirkt, dass sich jeder in ihrem Haus wohl fühlt. Die regen Gespräche, besonders über die neuen Entwicklungen in der Kunst, zu deren Zentrum München geworden ist, beeinflussen Karoline und machen sie reifer. Dank der Gründung eines eigenen Ateliers, wo sie in Ruhe arbeiten kann, gewinnt sie einen eigenen Raum, der als Anfang ihrer Karriere gelten kann535. Besuche in der Heimat, besonders in dem schwesterlichen Schloss Odersaga, wo Familienfeiern begangen werden und wo sie das vermisste Familienleben genießen kann, bringen sie jedoch auf den Gedanken, dass sie als Künstlerin einsam ist, dass ihre Schwestern »durch die Heirat eine Heimat« (O, 164) gefunden haben. Seit diesem Moment gelangt sie in ein Kreuzfeuer von Fragen und Entscheidungsdilemmata, die sie zwischen der Ehe, die sie mit dem Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit zu zweit verbindet, und dem Künstlertum, das ein ständiges Ringen und Einsamkeit bedeutet, hin und herreißen. Als sie sich in ihren Cousin Felix Büchting verliebt und ihn heiratet, empfindet sie diese Entscheidung als Verrat an ihrer künstlerischen Berufung (O, 174). Die kurzzeitige Ehe mit Felix, der als U-BootOffizier im Ersten Weltkrieg ums Leben kommt, bringt ihr aber – wider Erwarten – viel Zufriedenheit, weil sie dank der Verbindung mit einem Mann Gegenseitigkeit, Humor und Verständnis kennenlernen kann. In der Richtigkeit der Eheschließung bekräftigt Karoline niemand anderer als Pohl selbst, der ihr vorher von der frühzeitigen Heirat abgeraten hat, denn er hält den vorhergesehenen Selbstfindungsprozess von Karoline für gelungen und erblickt in ihr weiteres Potenzial, das sie anderen vermitteln könnte. Er argumentiert die neuen Aufgaben, die Karoline mit der Heirat in der Kriegszeit auf sich genommen hat, folgenderweise:

535 An dieser Stelle zeigt sich offensichtlich R. Storms schriftstellerische Erfahrung, wie wichtig für einen Autor der eigene Arbeitsplatz, das eigene Zimmer ist. Zu dieser Problematik vgl. T. Schlie: Wo Frauen ihre Bücher schreiben. München / Wien 2014.

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Der Doktor erklärte vor allen Gästen, er habe die in Karoline schlummernden Fähigkeiten geahnt und erkannt, daß sie von künstlerischen Interessen durchdrungen gewesen sei, und sie ermuntert, ihre Begabung zu nutzen. Wenn sie nun in den Stand der Ehe trete, so glaube er doch, daß die gewonnene Basis der Münchener Zeit ausreichen werde, sich weiter zu entwickeln und schöpferisch tätig zu sein hier nun auf Odersaga, das mit seiner Landschaft und seinen Menschen einem Künstler dankbare Aufgaben stelle. Wie überhaupt die Stellung der Frau infolge des Krieges sich nun entscheidend zu wandeln beginnt, weil sie zwangsläufig Pflichten übernehmen muß, von denen sie bisher ferngehalten worden war. Und wenn der Krieg beendet sein wird, dann wird eine neue Zeit die Frauen von vielen als zu eng befundenen Bindungen gelöst haben. (O, 188)

Karolina versteht die Bürde der neuen Berufung und nimmt sie an, zumal die mit ihrem Bräutigam und dann Ehemann gemeinsam verbrachte Zeit im Riesengebirge ihr viel Freude bereitet. Dann zieht sie mit Felix an die Nordseeküste und wartet voller Ungeduld auf jeden gemeinsamen Kurzzeiturlaub mit ihrem frisch vermählten Gatten, bis er tödlich verunglückt. Der Witwenstand ruft in ihr alte Leidenschaften hervor, sie braucht erneut den Kontakt mit der Kunst, zumal sie viele neue schöpferische Ideen hat und nur einen Anlass für deren Ausführung benötigt. Die Rückkehr in das Nachkriegsmünchen bedeutet keineswegs ein Eintauchen in die Salongesellschaft, denn deren Teilnehmer sind infolge der Kriegswirrnisse ums Leben gekommen, verschwunden oder umgezogen; Frau Hardank wurde gezwungen, aufgrund der Wohnungsnot, Untermieter aufzunehmen. Das künstlerische Umfeld von Karoline verändert sich, trotzdem beginnt sie in München wieder zu schaffen und ihre Arbeiten finden Anerkennung. Die ersten Erfolge nach einer Ausstellung in einer kleinen Galerie und die positive Besprechung ihres Bildes in der Presse wirken sich auf sie erfreulich aus, aber die Stadt hat ihr nichts mehr zu bieten. Karoline wird sich dessen erst dann bewusst, als sie ihrem Freund Mensel wieder begegnet und seine Gegenwart in ihr die Sehnsucht nach der Heimat weckt. Als er ihr seine Liebe gesteht, die in ihm seit dem ersten Treffen entstanden ist, und ihr einen Heiratsantrag macht, begreift sie wohin sie gehört, was ihr »Endziel« (O, 254) ist. Diese Erkenntnis macht sie zwar wieder von einem Mann abhängig, denn sie bezeichnet Mensel als einen Mann, der »ihr Leben in die Hand genommen hat« (O, 254), aber in der Vereinigung mit einem Schlesier, und dazu einem Künstler, hofft sie ihr Glück wiederfinden zu können. Karolines Wünsche gehen in Erfüllung, als ein Künstlerehepaar beziehen sie ein Haus in Schreiberhau, wo sie zusammenarbeiten können. Diese Konstellation scheint aber wieder einem typisch Storm’schen Modell zu folgen. Karoline und Rudolf leben und schaffen zusammen, aber jeder Künstler bewahrt sich seine Autonomie, die nicht unbedingt aus der Realisierung der eigenen Schaffensvorhaben resultiert, sondern einen mittleren Weg der Wahl, der unmerklichen Gegenbildung und Selbstfindung bedeutet. Als Künstlerehepaar beeinflussen sie einander, entwickeln sich parallel, ohne die eigene

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Freiheit zu gefährden. Sie fühlen sich dabei völlig glücklich und erfüllt, zumal die sie umgebende Landschaft sie inspiriert und beseelt. Dieser neue Zustand versetzt Karoline teilweise in Erstaunen, denn sie hat bisher entweder das Künstleroder das Eheleben geführt, nie beide Existenzformen in Einklang zu bringen versucht. Sie konstatiert über diesen Zustand folgenderweise: Es war seltsam, Karoline hatte keinen Drang, es ihrem Mann gleichzutun. Ihre Malsachen ließ sie unausgepackt, sie gab sich ganz dem Gefühl hin, geliebt und umsorgt zu werden. Sie genoß, daß Mensels Beruf ihn nicht täglich hinaustrieb, sondern seine Tätigkeit ihren gemeinsamen Zeitplan bestimmte und sie mit einbezog in alle Bereiche seines schöpferischen Wirkens. Auch regten ihn Karolines Einfälle und Vorstellungen an, ihr sicheres Auge verhalf seinen Arbeiten oft zu einem besonderen Schmelz. Unmerklich verstand sie es, Einfluß auf sein Schaffen zu nehmen, ohne sich an der Ausführung zu beteiligen. (O, 260)

Karoline scheint in dieser Beziehung einerseits die Rolle einer Muse zu spielen, die sich für ihren Partner aufopfert und dadurch zwar mit ihrem eignen Schaffen zu kurz kommt, aber sie begreift diesen Zustand nicht als eine Beschränkung, sondern die Möglichkeit eines kreativen Dialogs, der sie auch in Zukunft künstlerisch stimulieren wird. Für Mensel spielt Karoline das Objekt des Betrachtens, das erste Bild nach der Eheschließung ist beispielsweise ihr Porträt, in dem er bei der Darstellung ihrer Gestalt den Kontrast zwischen Hell und Dunkel anwendet und sie selbst vor dem Hintergrund der Landschaft zeigt. Solch eine kontrastive Darstellung mag auf den Entwicklungsweg Karolines hinweisen, auf ihre Dilemmata, zwischen einer Künstlerexistenz und Eheleben wählen zu müssen, die zugunsten der Heimat entschieden wurden. Das Gestirn Heimat, Ehe und Künstlertum wird somit zu einer vollkommenen weiblichen Selbstverwirklichung. Die im Roman Odersaga dargestellte triadische Konzeption der Weiblichkeit beruht auf drei unterschiedlichen Frauencharakteren, die ihre Ehen – individuellen Bedürfnissen nach – arrangieren. In den beiden dargestellten Fällen kann von Gegenseitigkeit, Erfüllung und Glück gesprochen werden. Im Fall von Bertha und Karoline ist der Zustand von Harmonie in einer Frau-Mann-Beziehung nur im Raum der Heimat realisierbar: Bertha fühlt sich durch ihren Mann an die Heimat untrennbar gebunden, Karoline findet in der Rückkehr zur Heimat und in der Identifikation mit ihrem Gatten ihre Selbstverwirklichung. Die Lebens- und Ehegeschichte der ältesten Schwester – Anna Margarete – bietet ein weiteres Modell an. Die im Erzählerbericht enthaltene Beschreibung der Protagonistin visiert ein weibliches Ideal an, das eine »mit äußeren Reizen ausgestattete« Frau beschreibt, die sie aber erst mit »ihrer Eigenwilligkeit und romantischer Einstellung [als – R.D.-J.] begehrenswert erscheinen lassen« (O, 8). Anna Margaretes Bild scheint somit dem Vorbild einer weiblichen Anmut zu

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Die Schwestern Lehan – drei Paradigmen der Ehe und Weiblichkeit

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entsprechen, das in Schillers ›schöner Seele‹ ihre Verkörperung erfuhr, sie ist nämlich sowohl äußerlich als auch innerlich beeindruckend, aber die innere Schönheit wird erst im Laufe der Handlung in Erscheinung treten. Es ist anzumerken, dass im Fall von Anna Margarete ihre Rolle in der Ehe vorbestimmt ist. Diese Ehe wird entweder von einem heterodiegetischen oder homodiegetischen Fokalisator, den der Gatte Franz verkörpert, definiert. Der Ehefrau werden von beiden Erzählertypen konkrete Merkmale und die damit verbundene Funktion zugeschrieben, die aber auf den Mann fokussiert ist. Anna Margarete erscheint dem Mann als eine Ergänzung davon, »was ihm fehlte oder was er übersah« (O, 61). Der Ehemann bestimmt hier die Aufgaben der Frau und vor allem das gegenseitige Verhältnis der Eheleute. Seine Ehefrau soll ihrem Gatten stets »vertrauen, ihn nicht über seine früheren Jahre ausfragen, sondern in ihm ihren getreuen Ritter sehen, der sie beschützt und lieben wolle […].« (O, 49) Franz erwartet von Anna Margarete, die er an einer anderen Stelle seinen »tapferen kleinen Knappen« (O, 78) genannt hat, stillen Gehorsam und treues Leben an seiner Seite. Die Ehefrau übernimmt zuerst diese Aufgabe voller Akzeptanz, denn sie bemitleidet ihren Mann wegen seiner schwierigen Kindheit in einer ihn nicht liebenden Familie, aus diesem Grunde willigt sie in ihre Rollen der Frau und Geliebten ein, aber auch in die Rolle der Mutter und hilfreichen Schwester, denn sie will ihrem Mann die Leidenszeit seiner frühen Jahre vergessen lassen. Die Fokussierung auf den Mann wird in dieser Beziehung zwangsläufig als etwas Normales angenommen, was dem männlichen Geschlecht gebührt. Zwar versucht Franz für einen Augenblick mit den Augen seiner frisch vermählten Frau zu schauen (O, 51), und auch sie empfindet »ein Band der Liebe« (O, 83), das bewirkt, dass sie »füreinander bestimmt sind« (O, 81), trotzdem ist die Disharmonie in dieser Beziehung von Anfang an sehr deutlich. Franz kümmert sich um seine Frau, macht ihr Geschenke, versucht ihr nur das Beste anzubieten, was auch ihrem Interesse und ihren Bedürfnissen entgegenkommen würde. Um ihr die Einsamkeit in der Kattowitzer Wohnung erträglicher zu machen, schenkt er ihr einen Hund; aus Sorge um sie und ihre Zukunft erwirbt er das Schloss Odersaga, wo sie ihre Heimat findet. Es fehlt allerdings in dieser Beziehung an der Gegenseitigkeit, die sich dann in eine Art Partnerschaft verwandeln und die Eheleute zu Freunden machen würde. Der Grund dafür liegt einerseits in Franz’ erfolgreichem Berufsleben. Aber nicht seine Karriere erscheint in dieser Beziehung als Hindernis, sondern vor allem seine schon von den Eltern Lehan bemängelte Abstammung, die seine innere Welt bestimmt, und es nicht erlaubt, den Ehepartner mit der Liebe zu bescheren, die ein Verständnis für die Schwächen und Bedürfnisse des anderen zugunsten der eigenen einschließen würde. Franz selbst bekennt sich zu dieser Belastung, indem er während der Taufe von Carl Rautenberg über seine Kindheit nachgrübelt:

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Seine trostlose Kindheit bedrückte ihn. Was wußten diese Menschen, diese wohlsituierten Bürger schon von der Armseligkeit eines ausgesetzten Kindes! Sie würden kaum nachempfinden können, unter was für Anstrengungen und Entbehrungen solch ein zunächst hilfloses Geschöpf heranwuchs. Hunger und dürftige Kleidung waren ihnen ebenfalls unbekannt. […] Da war diese zanksüchtige Frau, die ihn schlug, die sich über seine unbewußte Aufsässigkeit und Verachtung empörte, und dadurch ihr schlechtes Gewissen verriet, ihn hungern ließ und mit Arbeiten überhäufte. (O, 96f.)

Gaeblers Rekonstruktion der eigenen Kindheit macht ihn auf die starken und schwachen Seiten seines Charakters aufmerksam, die ihn seine »geistige Überlegenheit« (O, 97) einerseits und seinen fehlenden Mut, eine Familie zu gründen, andererseits spüren lassen. Diese Faktoren führen dazu, dass die erstrebte »Zweisamkeit« (O, 97) mit Anna Margarete nur zur Verpflichtung wird und nicht zu einem wahren Gefühl. Franz’ Bestrebungen, sein Leben unter Kontrolle zu haben und es zum Erfolg, der ihn von der gehassten Umwelt der Kindheitsjahre eindeutig trennen würde, zu bringen, lassen ihn die Erwartungen der ihm am nächsten stehenden Person außer Acht und nur seine Ziele verfolgen. Die Angst vor eigenen Kindern macht seine Frau unglücklich und beraubt sie der Mutterschaft, worüber sie sich aber – als eine ihrem Mann ergebene Dienerin – kein einziges Mal beklagt. Ihre versteckte Trauer erkennt allerdings die Mutter Lehan, die das merkwürdige Benehmen ihrer ältesten Tochter bei der Taufe von Carl Rautenberg bemerkt und dem Vater verurteilend mitteilt: Gaebler ist seit seiner Jugend und jetzt in seinem Beruf mit Dingen belastet, die ihn hart gegen vieles machen. Ich glaube als Mutter, mich da nicht zu täuschen. Das größte Glück einer liebenden Frau ist und bleibt doch die Mutterschaft. Auf sie vielleicht verzichten zu müssen, muß bitter sein. (O, 93)

Die Unmöglichkeit, Mutter zu werden, führt dazu, dass Anna Margarete intensiv nach ihrer Standortbestimmung zu fragen beginnt, dass sie ihr inneres Potenzial hinterfragt und nach einer Selbstverwirklichung in der Ehe sucht. Nach der Heirat erfolgt eine schnelle, sowohl äußere als auch innere Loslösung von ihrem Elternhaus, was sie selber ohne Bedauern verarbeitet und als Anzeichen eines eigenen Lebensweges, den sie anders als ihre Schwester Bertha beschreiten will, der zwar »ein steiler und dornenvoller [sein wird – R.D.-J], der aber auf einen Gipfel führen konnte.« (O, 95). In der Auseinandersetzung mit ihrem Elternhaus, und somit dessen bürgerlicher Tradition sowie mit dem Ehemodell Rautenbergs, das für sie eine Kopie des elterlichen ist, formuliert sie ihre Ziele, die aus ihr, Oma Bertha und Marianne ähnlich, eine ›Große Mutter‹ werden lassen: In ihr drängte das Leben, ihre reiche Vorstellungsgabe sehnte sich nach Bestätigung, Kräfte, die nicht brachliegen durften. Noch war sie sich nicht klar, was sie ausfüllen könnten, aber nur dem Haushalt vorzustehen, nur dem Mann Wirtin und Ehegefährtin

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Die Schwestern Lehan – drei Paradigmen der Ehe und Weiblichkeit

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zu sein, ein Leben ohne Kinder würde sie auf die Dauer nicht befriedigen können. Ihre mütterlichen Kräfte drängten, sich zu entfalten. (O, 95)

Auf das Vorbild der Großen Mutter macht sie übrigens Franz selbst aufmerksam, der die aus dem oberschlesischen Miechowitz stammende Eva Thiele-Winckler verehrt, die als eine unverheiratete Frau sich den Hilfsbedürftigen widmete, für Arme und Kranke eine Stätte der Zuflucht und Geborgenheit gegründet hat, wo sie immer mit Unterstützung rechnen konnten536. Auch Anna Margarete wird im Roman zu einer Mutter von Einsamen, Verlassenen, Heimatlosen oder Unselbstständigen. In Oberschlesien regt sie zunächst ihren Mann dazu an, für eine Wohnsiedlung für arme Familien einzutreten. Ihr Plan sah es vor, dass man diese Buden [abreißt – R.D.-J.]. Jede Familie sollte hier ein kleines Haus haben und einen Garten, die Frauen hätten dann nicht mehr den weiten Weg, sie wären dann nicht mehr gezwungen, ihre Ernten mühsam mit dem Schubkarren in die Stadt und dann hinauf in ihre Wohnungen zu schaffen. Ein freundliches Zuhaus sollte auch jede Arbeiterfamilie haben. (O, 102)

Selbst kann sich Anna Margarete an der Ausführung ihrer Träume nicht beteiligen, aber Franz vermag das Projekt mit Hilfe von städtischen und staatlichen Behörden durchzusetzen. Durch den Umzug wird der Wirkungsbereich der Protagonistin nach Odersaga verlegt, wo sie alleine das Schloss samt dem landwirtschaftlichen Betrieb bewirtschaftet und verschiedene Aktivitäten unternimmt. Unter ihre Fittiche nimmt sie der Reihe nach die Vorbesitzerin des Schlosses, Johanna von Rengersdorff, die nach dem Tod ihres Bruders das verschuldete Familienerbe Odersaga zu verkaufen gezwungen ist, die Französin – Madeleine Lorraine, die Mutter Lehan, die Schwester Karoline, ein verwaistes Mädchen namens Ines, das mit ihrer Betreuerin vor den Schrecken der Oktoberrevolution aus Estland geflohen ist und die Jüdin Else Veitl. Alle auf dem Schloss wohnenden Frauen werden dabei zu »Freudinnen und Helferinnen« (O, 162), die gemeinsame Aktivitäten, aber auch Schicksalsschläge verbinden. Anna Margarete, die als Schlossbesitzerin von der Französin Madeleine Merle genannt wird, gründet einen Kinderhort, in dem »die sich selbst oft überlassene Jugend der arbeitenden Mütter im Dorf nach dem Vorbild des Lehmgrubener Diakonissenhauses in Breslau« (O, 170) Pflege und Bildung finden kann. Im Hort engagieren sich alle Bewohnerinnen des Schlosses, die einander auch in anderen schwierigen Momenten ihres Lebens unterstützen. Nach dem Verlust des Bru536 E. von Thiele-Winckler (1866–1930) gründete eigene diakonische Einrichtungen für Arme, Alte und Behinderte sowie »Kinderheimaten« für verlassene Kinder. Dank ihrem Engagement für Bedürftige bekam sie den Beinamen Mutter Eva. Vgl. B. Rohr: »… mich selbst und alles, was ich war und hatte, hineinwerfen in den Jammer der Zeit«. Würdigung von Lebenswerk und Persönlichkeit Eva von Thiele-Wincklers (1866–1930) vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zeitströmungen. Dissertation. Universität Bremen 2005.

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ders im Ersten Weltkrieg kann die Jüdin Else Veitl bei den Frauen aus Odersaga Trost finden und betrachtet deren Gesellschaft als wahre Hilfe. So denkt sie an das Schloss als Ort, wo sie vielerlei Unterstützung sowohl innerlich als auch materiell erfahren kann: Der Umgang mit den Frauen von Odersaga wirkte auf Veitl Else anspornend und gab ihr Selbstsicherheit, in all den langen Jahren hatte sie in Kolkwitz keine Kundschaft gehabt, die ihre Arbeit so anerkannte wie diese. Obwohl die Damen gewohnt waren, Ansprüche hinsichtlich Geschmack und Verarbeitung zu stellen, lobten sie sie, wie gut sie es verstünde, zu modernisieren und umzuarbeiten. (O, 196)

Eine Frauensolidarität kann Else auch später erfahren, als in der Pogromnacht das Geschäft ihres Vaters zerstört wird, er selbst vom Herzschlag getroffen kurz darauf stirbt und sie allein in einer feindlichen Gemeinde weiterleben muss. Als ein anderes Beispiel für einen Schwesternbund kann die freundschaftliche Beziehung zwischen Merle und Madeleine gelten. Als die Französin während des Krieges des Verrats bezichtigt wird, nimmt sie die Odersaga-Herrin auf und verteidigt vor Verleumdungen und Hass, denen sie als Fremde ausgesetzt ist: Madeleine war gerührt und voller Mitgefühl zu sehen, wie Merle ihr Los und die Unerbittlichkeit des Schicksals zu tragen sich mühte. […] Doch Merle blieb abwesend, ihre Glieder waren schwer wie Blei und von Tränen müde ihre Augen. Nachdem Madeleine ihr das Nachthemd übergestreift hatte, umarmten sie sich. Wie wohltuend war es, nicht allein zu sein im Schmerz! Die kleine Französin und ihre deutsche Schwester küßten sich, Trauer und Mitgefühl legten zu dieser Stunde den Grund zu einer lebenslangen Freundschaft. (O, 232).

Der Höhepunkt ihrer mütterlichen Fürsorge wird durch die Adoption von Ines erreicht, die als Tochter der estnischen Bekannten Rautenbergs zusammen mit ihrer Pflegemutter Tanja zuerst nach Breslau, dann nach Odersaga kommt. Auch dieses Kind wird von der Frauengemeinschaft mit Offenheit, Herz und Engagement angenommen, alle Frauen »nähten Wäsche, häkelten und strickten, und Frau Lehan frischte dabei Erinnerungen an die Zeit ihrer ersten Mutterschaft auf. Alle sahen der Ankunft des Kindes mit Anteilnahme entgegen […].« (O, 209). In Merle wird Ines »ihre wahre Mutter« (O, 237) finden, die sie in der weiblichen Odersaga-Gemeinschaft großwerden, ausbilden lässt und dann mit Carl Rautenberg, in den sie sich verliebt, verheiratet. Noch vor dem Verlassen der Odersaga wird sie dank Ines zur glücklichen Großmutter, die in der Geburt des Enkelkindes »die Hoffnung der Mütter [und – R.D.-J.] eine Brücke in die Zukunft« erblickt. In den schwierigen Kriegs- und Nachkriegsmonaten ist Merle diejenige, die das Leben auf Odersaga organisiert, die Leute, jene »gesichtslose Gruppe« (O, 285) aus dem ausgebombten Hamburg, die in ihrem Schloss nach Zuflucht suchen und die sie unter ihr Dach nimmt, wo sie mühevoll an den Tarnnetzten zu Kriegszwecken arbeitet. Merle wird auch nach der Vertreibung

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Die heilige Hedwig – die Urmutter Schlesiens

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die Rolle der Seniorin der Familie spielen, obwohl man das von ihr angesichts ihres Alters nicht erwartet. In dem von Carl gebauten Landhaus wird sie das Zimmer im Dachboden beziehen, und von dort aus als Schutzengel die anderen Familienmitglieder bewachen. Im Dachboden richtet sie für ihren in Kattowitz während des dritten Aufstandes verschollenen Mann eine Erinnerungsecke ein, wo sie seiner mit Licht und Blumen gedenkt. In ihren Erinnerungen rekapituliert sie den Charakter ihrer gemeinsamen Ehe, in der der Mann als »verwunschener Prinz« (O, 320) und dessen früher Tod als richtungsweisend erscheinen. Als Witwe gewann sie nachweislich an Selbstständigkeit und konnte die Rolle einer großen Helferin übernehmen, die ihr die Realisierungsmöglichkeiten außerhalb des Ehebundes brachte. In der Mutterschaft, die nicht nur ihr eigenes Kind, sondern viele andere Bedürftige umfasste, hat sie ihre Kräfte entfalten können.

5.3

Die heilige Hedwig – die Urmutter Schlesiens

Die heilige Hedwig als Stoff spielt im literarischen Œuvre der Schriftstellerin Ruth Storm aus vielen Gründen eine wichtige Rolle. Das Leben und Werk dieser Heiligen beschäftigten die Schriftstellerin von ihrem literarischen Debüt an und nach jahrzehntelangen Vorarbeiten fanden sie im Roman Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig (1955) ihren Niederschlag.537 Auf die aus dem bayrischen Andechs-Meranien stammende schlesische Herzogin Hedwig (1174–1243), Gattin des Piastenherzogs Heinrich I., wurde Ruth Storm in ihrem Elternhaus aufmerksam gemacht, worauf sie im Nachwort zu ihrem HedwigRoman hinweist: Durch das Heiligenbildchen einer Angestellten meines Elternhauses wurde ich schon als Kind angeregt, über die Herzogin Hedwig nachzudenken; später habe ich mir die Aufgabe gestellt, ihrem Leben nachzugehen. Immer waren ferne Stimmen da, die zur Gestaltung drängten. (H, 298)

537 Der Hedwig-Stoff wird im Prosawerk sowie in kleineren Pressebeiträgen der Schriftstellerin ständig aufgegriffen. Er taucht z. B. in den Romanen … und wurden nicht gefragt (Das Bildchen der heiligen Hedwig bekommt das Kind am Dreikaisereck und kann es in der Küche mit den oberschlesischen Dienstmädchen bewundern. Vgl. UwnG, 10, 27f.) oder in Odersaga (Die Breslauer Gesellschaft unternimmt eine Reise nach Trebnitz, »an die Wiege Schlesiens«, wo sie aus Sicht des homodiegetischen Erzählers, dessen Rolle Dr. Pohl übernimmt, mit der Lebensgeschichte der Heiligen und dem Gründungsmythos des Klosters vertraut gemacht wird. Vgl. O, 65–68). Im Nachwort zu ihrem Hedwig-Roman betont R. Storm, wie schwierig es in den 1930er Jahren gewesen war, an die Quellen zum Leben und Werk der schlesischen Herzogin zu gelangen. Über den Hedwig-Stoff, die Entstehungsgeschichte des Romans sowie dessen äußerst positive Rezeption vgl. Kapitel 2, S. 87ff. Vgl. Auch R. Storm: Aus einer Wildnis einen Garten machen. Herzogin Hedwig von Schlesien. In: Große Schlesier, hrsg. von A. Hayduk. München 1957, S. 9–12.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Diese kindliche Faszination hätte keine Auswirkungen gehabt, wenn im Bild dieser katholischen Heiligen, die zur Patronin Schlesiens erhoben wurde, für die Schriftstellerin nicht ein Schatz an Ideen verborgen gewesen wäre. Storms Studien über Leben und Werk der schlesischen Herzogin lassen sie nämlich in dieser mittelalterlichen Frau einen Garanten der erfolgreichen Entwicklung ihrer Heimat entdecken, der über Jahrtausende nichts an ihrer Kraft verloren hat, und aus welchem man immer schöpfen kann. Im Werk der Schriftstellerin verkörpert Hedwig das Ideal einer Herrscherin, Mutter und eines frommen Menschen, der durch seine Denkweise, Haltung und Vorstellungskraft zum Reichtum Schlesiens beitrug. So baut die Schriftstellerin einen Mythos der schlesischen Herzogin auf, der auf der Stärke der Herrscherin und der Aufschwungsentwicklung ihres Landes fußt. In dieser Figur gehen in Storms Werken Vaterland und Heimat einen festen Bund ein, bei dem es jeweils um ein Konstrukt geht, der sich nicht nur auf einen weiblichen Lebensraum bezieht und an Wertebegriffen einer Person bzw. Gruppe orientiert ist, sondern der sich auf immer neue Orte, Gebiete, Länder erstreckt und dadurch an kollektiver Identität und einer universellen Botschaft gewinnt. Storms Umgang mit dem Hedwig-Stoff dokumentiert das Wechselspiel zwischen Heimat- und Vaterlandbegriff, zwischen dessen regionalem / individuellem und nationalem / allgemeinem Charakter, wobei die Kategorie des Geschlechts ausschlaggebend ist. Hedwig als Erinnerungsmetapher rückt nicht nur das weibliche Geschlecht im Raum der Heimat ins Blickfeld, sondern sie enthüllt dessen subversives Potenzial im national-heimatlichen Diskurs. Im Fall dieses Werkes stellt sich außerdem aus der Perspektive der modernen historischen Narratologie die Frage, wie Ruth Storm die geschichtlichen Ereignisse, insbesondere die Figur einer Herrscherin, erzählerisch gestaltet, wie sie – Hayden White zufolge – narrativ modelliert wird538. Zieht man allerdings die gattungsspezifischen Merkmale eines historischen Romans heran, so stellt man fest, dass Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig dem klassischen historischen Roman entspricht, der vor dem Hintergrund geschichtlicher Ereignisse spielt, diese wahrheitsgetreu wiedergibt und auf eine Heldin fokussiert ist, die anschließend zum Ideal erhoben wird.539 Diesen Kri538 Nach H. Whites Konzept der Geschichtsschreibung unterliegt jede Darstellung von historischen Prozessen poetologischen Kategorien. So gelten historische Texte als narrative Artefakte. Whites Anliegen zielt aber nicht darauf ab, bestimmte historische Ereignisse in Frage zu stellen, sondern die Art und Weise deren Benennung und Klassifizierung zu hinterfragen. Vgl. H. White: Proza historyczna. Kraków 2009, S. 120–122; H. White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M. 1991. Über die metaphorische Sprache des Geschichtsdiskurses vgl. auch R. Barthes: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt a.M. 2006, S. 149–182. 539 Diese grob dargestellten Merkmale eines historischen Romans sind in Anlehnung an das Grundlagenwerk des Genres von Walter Scott entstanden. H.-J. Müllenbrock: Der historische Roman. Heidelberg 2003, S. 1–47.

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Die heilige Hedwig – die Urmutter Schlesiens

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terien nach sollten die Protagonisten fiktiv gewesen sein. Sie können jedoch historisch sprechen, denken und agieren und deren Besonderheiten werden aus der historischen Eigenart ihrer Zeit abgleitet.540 Mit ihrem Roman knüpft die Schriftstellerin zugleich an die hagiographische Tradition an, die aber nur einen Ausgangspunkt für den Plot ausmacht, denn es geht im Roman vor allem um die Hervorhebung der politischen Bedeutung der Herzogin und deren Rolle als Stammmutter des deutschen Schlesiens, was ihr Heiligwerden überschattet.541 Zwar entbehrt das Narrativ von Hedwig des Aspekts ihrer behaupteten Erwähltheit nicht, aber das Augenmerk wird auf die Spannung zwischen weiblichem Individuum und Notwendigkeit dessen kollektiver Anerkennung gelenkt. Als Heilige und authentische Person mag sie schon vorgeformt sein, aber die Art der Modellierung und Instrumentalisierung für den Heimat- und Vaterlandsdiskurs scheint im Mittelpunkt des Fokalisator-Interesses zu stehen, zumal dieses Thema bei anderen Bearbeitungen dieses Stoffes nicht an erster Stelle behandelt wird.542 Auf den politischen Rang der Grafschaft Andechs-Dießen und des Herzogtums Meranien, an deren Spitze Hedwigs Vater, Berchthold VI., der Waffengefährte des Piastenherzogs Boleslaw I., steht, verweist nämlich der Erzähler schon in den ersten Sätzen des Romans, indem er die Lage der Burg zu Andechs und ein »gesegnetes Land, reich und wohlgeordnet, fruchtbar gehalten im steten Wechsel der Ernten« (H, 7) hochpreist. Auch die Gegenwart eines über der Burg kreisenden Adlers, der »in kraftvollen Stößen sich gegen das Wetter stemmt und in den Himmel strebt« (H, 8), verdeutlicht die Position dieser bayrischen Adelsfamilie. Jenen herrschaftlichen Attributen wird die Steppe der neue Heimat Hedwigs gegenübergestellt, die sich das Mädchen als ein »kriegerisches Reich der Mongolen« (H, 8) vorstellt. Das Leben einer dem Kloster Kitzingen gerade entsprungenen sehr jungen Braut, die den polnischen Herzog Heinrich I. heiraten und mit ihm in sein Land, in eine »ihr noch fremde, fremde Welt« (H, 10) ziehen 540 Nach G. Lukács handelt es sich hier um sog. spezifisch Historisches. Vgl. G. Lukács: Der historische Roman. Berlin 1955, S. 11. 541 In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass für eine evangelische Schriftstellerin der Aspekt des Heiligtums eher marginal erscheint. 542 Die hagiographische Auffassung des Lebens von Hedwig stützt sich auf das Dokument von Konrad Baumgarten aus dem Jahre 1504, das ins Hochdeutsche übersetzt wurde (als Quelle für weitere Bearbeitungen gilt immerhin A. Knoblichs Werk. Vgl. Anm. 353). Es liegen zahlreiche dokumentarische Arbeiten, meistens katholischer Autoren, vor, die auf verschiedene Aspekte der Heiligen-Wirkung ausgerichtet sind (Vgl. in der Biografie Monografien von J. Gottschalk, W. Nigg, W. Hünermann, B. Schneider). Bisher sind zwei andere Romane erschienen, die dem Leben und Werk der schlesischen Heiligen faktengetreu nachgegangen sind (Vgl. in der Bibliografie Romane von J. Derksen und R. Schumann). In Schlesien wurde Hedwig in der Legendenpoesie schon im Mittelalter verehrt (z. B. von Peregrinus von Ratibor). Vgl. A. Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1. München 1960, S. 22–24.

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soll, wird sich aber nicht zwischen den beiden Gegenpolen von alter und neuer Heimat gestalten, sondern ist auf eine Entwicklung sowohl der Protagonistin als auch ihres durch Heirat erworbenen Herrschaftslandes Schlesien ausgerichtet. Die Parallelität beider Wege – des privaten und öffentlichen – wird mehrdimensional realisiert und beruht auf durchdachter Fokalisierung. Der schrittweise Aufbau des weiblichen, überdurchschnittlichen Charakters und des Landes wird aus der Perspektive eines heterodiegetischen und seltener homodiegetischen Erzählers, auch durch Hedwig selbst, präsentiert, was auf intertextueller Ebene durch Zitationen, Zaubersprüche, Lieder, Märchen und Träume ihre Abrundung findet. Im Fokus der Narration stehen ebenfalls zwei Themenbereiche: Individualität und Politik. Zur Sphäre der persönlichen Entfaltung Hedwigs gehören ihr Ehe- und Familienleben und ihr Verhältnis zu anderen Menschen. Das Politische bilden dagegen die Rivalitätskämpfe am Hof der schlesischen Piasten, deren Verbindungen zu Ost und West sowie die Erschaffung eines starken Schlesiens, das sich im Kreuzfeuer vieler Machtinteressen, Auseinandersetzungen, aber auch Planungen und Modernisierungsvorschläge zu konstituieren versucht. Schlesien, dessen Entwicklung von einem Land »ohne Spuren von Kultur« (H, 56) bis zu einem wirtschaftlich und geistig stabilen Herzogtum, bildet das Bindeglied zwischen Öffentlichem und Privatem und verursacht, dass man es als ein identitätsstiftendes Element von Hedwigs Person wahrnimmt. Das Konstruieren von einer sich erst formenden Persönlichkeit der Herzogin und deren Land wird auf der sprachlichen Ebene initiiert, der die Aura des Sakralen anhaftet, und die wiederum den zu konstruierenden Mythos der Heiligen verstärkt. Diese besondere Stimmung um die kleine Hedwig erzeugt zunächst die Rekapitulation der Worte der alten Amme, die Hedwig, wie früher auch schon ihre Mutter, großgezogen hat, und die ihrem Zögling eine engagierte Zukunft voller Taten prophezeit. Mit dem Ausruf »Hathuwick, du dem Kampf und Sieg Geweihte, Hathuwick!« (H, 11) wird somit das Schicksal der künftigen Herzogin Schlesiens verkündet und deren Wirkungsgeschichte vorausgedeutet. In Verbindung mit dieser Weissagung erscheint die Namensgebung des Gatten, der die junge Gemahlin »Hadwiga!« (H, 14) nennt, wie ein Zauberspruch, der in der Protagonistin Spannung erzeugt und vor ihr das Geheimnis der Vorsehung enthüllt: Das Jauchzen der Knabenstimmen, das die Menge mitreißt in einem dankerfüllten Choral, läßt das Wort nur bis an Hedwigs Ohr dringen. Hadwiga, braust es durch das Kirchenschiff, Hadwiga, stoßen die Fanfaren in die Töne der Harfen und der Fiedeln, Hadwiga, klingt es in ihr wie ein Zauberwort, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geheimnisvoll zu verbinden scheint. Denn als das Wort über Heinrichs Lippen kam, dachte sie an die dunkle Weissagung ihrer verstorbenen Kinderfrau: Hathuwick, du dem Kampf und Sieg Geweihte! und Tränen verschleiern ihren Blick. (H, 14)

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Der in deutscher wie auch in polnischer Fassung ausgesprochene Name scheint eine Brücke zwischen zwei Glaubenswelten – der heidnischen und der christlichen – sowie zweier Kulturen – der deutschen und der polnischen, der volkstümlichen und der höfischen – zu sein. Für sie gehören diese Welten zusammen, denn sie werden von Gott und dem von ihm bestimmten Schicksal gelenkt. Der Glaube an die Kraft Gottes und eine demutsvolle Haltung Hedwigs machen aus ihr zunächst das Werkzeug des Schöpfers, das ihre Lebensbestimmung annimmt sowie den Ehemann und die fremde Heimat akzeptieren lässt; nach der Ankunft in ihrer neuen Heimat verändert sich aber ihre Rolle. War sie in ihrer Heimat noch ein Kind, schenkte man ihr keine Aufmerksamkeit, so wird sie jetzt im Lande des Gatten ins Blickfeld gerückt. Von einer untergeordneten und für den Fokalisator unbedeutenden Person wird sie nun bei jeder Begegnung zum Mittelpunkt der Anschauung. Aus dem ihr geschenkten Interesse beginnt sie ihre Kraft zu schöpfen, sie wird selbstbewusster und hört auf, ein Kind zu sein. Das Interesse der Betrachter gilt vor allem Hedwigs Ausstrahlung, die sie fasziniert und in ihren Augen eine große Zukunft verspricht. Die Verheißung von Hedwigs künftigen Taten wird erneut verschiedenartig narrativ gestaltet. Meistens entnimmt man den Kommentaren zunächst des Volkes, dann der Geistlichen und letztendlich der Adligen, dass Hedwig ihnen schon bei der ersten Begegnung wie eine mit göttlichen Eigenschaften ausgestattete Person erscheint, wobei sie für die einen eine »Madonna« (H, 36) ist, für die anderen die »Gottesmutter« (H, 40) oder – wie für den fahrenden Sänger, der die junge Herzogin in einem Lied besingt – die Verkörperung von Weiblichkeit, Mütterlichkeit und Glück. Aus dem Gespräch zweier Mönche von Leubus, die das herzogliche Paar auf ihrer Heimreise im Kloster begrüßen wollen, erfährt man von einer geheimnisvollen Frau, die über das Land [ging – R. D.-J.], eine lange Schleppe trug sie, und wo ihr Gewand den Boden berührte, fing alles zu blühen an, die Felder wurden furchtbar, wir konnten die Fülle nicht bergen und mußten aus anderen Ländern Menschen holen, um die Ernte einzubringen. (H, 52)

Diese allegorische Figur einer Reichtum und Wohlstand bringenden Frau nimmt Hedwigs baldiges Programm der Siedlerkolonisation vorweg. Die Herzogin selbst visiert diese Aufgabe zunächst in ihren Träumen an, in denen sie als eine »Fackel [brennt – R.D.-J.], hochgehoben von der Hand des Volkes!« (H, 36). Über die Verwirklichung dieser Pläne kann sie freilich auch selbst sprechen, als sie mit dem Ehemann an der Oder steht und von den Modernisierungsprozessen in Schlesien schwärmt. Sie entwirft sie mit einer für eine Dreizehnjährige untypischen Sachkenntnis und Sicherheit ihrer Entscheidung, die sie ziemlich rechthaberisch formuliert, ohne an irgendwelchen Misserfolg zu denken. Ihr Vorsatz wird konkret und eindeutig festgehalten: »Ich will meinen Untertanen eine ge-

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rechte Herrin sein, Siedler ins Land ziehen, daß es Frucht trage, und ein Leben führen, das Gott wohlgefällig ist.« (H, 56). Hedwigs Herausforderung geht mit dem Traum zweier Mönche einher und bestätigt zum zweiten Mal die Besonderheit ihrer Aufgabe, die sie selbst als eine Art »Brücke vom Westen und Osten« (H, 55) einsieht, die eine zusätzliche Verstärkung im Symbol eines gerade über die Oder gespannten Regenbogens erfährt. Die Wahrhaftigkeit dieser Aussage wird auch – schon zum dritten Mal – von dem Leubuser Abt beglaubigt, der voller Überzeugung von der baldigen Entfaltung von Hedwigs Persönlichkeit spricht und ihr Wissen bewundert.543 Die gewählte Perspektive, der Wechsel zwischen Partien eines heterodiegetischen und homodiegetischen Erzählers sowie die Wiederholbarkeit der Stellungnahme von Protagonisten aus verschiedenen Schichten (Volk, Geistliche) und Nationen (Polen, Deutsche), tragen kontinuierlich zum Aufbauen des Mythos dieser Heiligen bei. Die obige Vorstellung von Hedwig weist nach, dass man aus dem Munde vieler, meistens Neben- und Randfiguren, von ihrer Persönlichkeitsentfaltung hört und diese unbewusst als Ausdruck einer transzendenten Kraft versteht. Aber diese Erwartung hat mehr eine präfigurative Funktion, d. h. die Redner nehmen aufgrund von ihrem Wissen und ihrer Vorstellungskraft die Vervollkommnung von Hedwig an. Ihr Fall widerspricht aber einem typischen Narrativ einer Heiligenlegende, denn sie entwickelt sich nicht im Laufe der Handlung und nicht dank einer transzendenten Macht, die über ihr Leben bestimmt. Hedwig wird vom Erzähler als eine – trotz ihres jungen Alters – schon vorgeformte Person dargestellt, die sich durch ein Denkpotenzial und eine daraus resultierende Selbständigkeit auszeichnet. Der unerschütterliche Glaube an Gott und das von ihm für sie gewählte Schicksal begleitet sie von Anfang an und bestärkt sie in ihrem Handeln. Darüber hinaus verweist der Erzähler auf die Bildung Hedwigs, die ein dritter – neben Charakter und Glaube – wichtiger Faktor deren Persönlichkeitsbildung ist. Neben weiblichen Haushaltskünsten gehören dazu auch Lesen und Schreiben, die ihr bei der Entfaltung der noch im Verborgenen schlummernden Gaben helfen werden: Sie versteht der Harfe Melodien zu entlocken, sie kann lesen und schreiben, auch das Nähen und Weben und das Sticken von Meßgewändern sind ihr nicht fremd. Neben diesen Kenntnissen aber, die sie über viele ihrer Altersgenossinnen hinausheben, bewegen sie Ahnungen und Gedanken, geboren zwischen Kindheit und Reife, die um ihr ferneres Leben kreisen, die sie nicht zu deuten vermag. (H, 10)

543 Hedwigs Bildung wird in historischen Quellen nachgewiesen. Vgl. Die Legende der heiligen Hedwig: in der Übersetzung des Kilian von Meiningen, hrsg. von S. Seelbach. Münster 2016, S. 10–21; A. Doroszewska: Otoczenie Henryka Brodatego i Jadwigi jako ´srodowisko społeczne. Warszawa 1978, S. 59.

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Die innere Kraft erleichtert der dreizehnjährigen Hedwig den Kontakt mit den Erwachsenen, denen sie mit herrschaftlicher Haltung und taktvoller Offenheit begegnet, und die sie »mit dem Herzen« (H, 220) zu gewinnen weiß. Ein solches Verhalten kennzeichnet auch ihren Ehebund mit Heinrich, den sie wie einen »ungezähmten Hengst [mit – R.D.-J.] […] Geschicklichkeit […] zu Gehorsam zwingen« (H, 13) will. Diese Aussage Hedwigs zeugt von ihrem Mut und vor allem von einem für die damaligen gesellschaftlichen Normen untypischen Verhalten einer Frau, die man zur Rolle eines gehorsamen und ihrem Vormund untergeordneten Geschlechts erzogen hat. Hedwig gewinnt in dieser Beziehung von Anfang an eine übergeordnete Position, die es ihr sogar erlaubt, ihren Mann zu belehren. Als er ihr die erste gemeinsame Nacht erst nach dem Passieren des schlesischen Territoriums vorschlägt, willigt sie darin ein, denn sie weiß, dass Heinrich als Herrscher über ihr persönliches Glück zu entscheiden hat. Der Ehegatte kommentiert diese klugen Worte seiner frisch verehelichten Frau wie folgt: Das Leuchten schwindet aus seinen Augen. Die Anrede mahnt ihn, daß die Pflicht über das persönliche Glück zu stellen ist. Unbewußt hat Hedwig ihn daran erinnert, und so neigt er sich zu ihr und spricht, daß nur sie es vernehmen kann: »Mit dir, Hedwig, wird es leicht sein, ein Land zu regieren.« (H, 32)

Seit diesem Moment werden in dieser Beziehung die Rollen festgelegt, die sie zum »Ruf« und ihn zum »Widerhall« (H, 32) prädestinieren. Diese Zuschreibung von Aufgaben bezeugt eindeutig die Festigkeit von Hedwigs Charakter und die Rationalität ihres selbstbewussten Handelns, das keiner von außen kommenden Steuerung bedarf. Durch die Authentizität ihres Handelns scheint Hedwig durchaus menschlich zu sein, aber nicht nur ihre Besonnenheit, mit der sie die Altersgenossen weit überholen mag, sondern gleichermaßen ihre Emotionalität bildet eine sie auszeichnende Eigenschaft, die sie von der providenziellen Erwähltheit entfernt. Sie geht die erste sexuelle Beziehung mit ihrem Mann nicht aus Pflicht ein, sondern aus Liebe und zum Teil Neugier, für welche sie Gott in ihrem Morgengebet dankt. Die Natürlichkeit ihres Benehmens und das vertraute Verhältnis, das sich in dieser Nacht zwischen den Eheleuten entspinnt, machen aus ihr einen einerseits normalen Menschen, andererseits verweisen sie auf ihre Einmaligkeit, denn eine Partnerschaftsbeziehung in der Ehe war im Mittelalter eine Ausnahme544. Dieser Faden des gegenseitigen Verständnisses wird sich noch 544 Eine Art Partnerschaft entwickelte sich ebenfalls zwischen Hedwig und ihrem Schwiegervater Boleslaw, der sie wie eine Tochter betrachtet und in schwierigen Momenten, z. B. nach dem Tod des ersten Kindes, unterstützt. Eine solche Beziehung, die auf Verständnis, Offenheit und Dialog beruht, war den damaligen kulturellen Verhältnissen nach ungewöhnlich. K. van Eickels kommentiert den Status der mittelalterlichen Ehe wie folgt: »Die Ehe hatte im Hoch- und Spätmittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein einen klar bestimmten

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vertiefen, besonders wenn sie die Zeit alleine ungestört miteinander verbringen können, wie z. B. nach einer Jagd in den Trebnitzer Wäldern, während der der Herzog verunglückt und sich in einer Waldhütte von den erlittenen Wunden erholen muss. Unter dem Einfluss seiner Frau verändert sich auch Heinrich, der die Innigkeit einer Frau-Mann-Beziehung erst kennenlernt und aus einer weiblichen Perspektive auf die ihn umgebende Welt und seine Untertanen schaut: Hedwigs Phantasie, die Kraft ihrer Seele und ihre Frömmigkeit reißen auch den Herzog mit fort zu neuen Erkenntnissen. In der Stille der Hütte öffnet sich ihm Hedwigs innere Welt. Kein Regierungsgeschäft, kein lärmendes geselliges Gefolge. Kein Waffenstillstand lenkt ihn ab. Hedwig ist um ihn […]. […] Der junge Herzog lauscht und erkennt seine Umgebung plötzlich in einem neuen Licht, wie in einem Spiegel sieht er sein Land, seine Untertanen und seine ränkesüchtigen Verwandten. Und hört aus dem Munde Hedwigs, welche Zukunft dieses Land haben kann, wenn es mit der Macht des Geistes und des Herzens, nicht nur mit der Gewalt des Schwertes, regiert und verwaltet wird. (H, 84)

Dieses Modell eines im Geiste starken Staates, der zugleich eine friedvolle Menschengemeinschaft bildet, wird Hedwig das ganze Leben lang verwirklichen wollen. Diese Idee wird aber zum Zankapfel zwischen den beiden Eheleuten, denn als die herzoglichen Söhne – Heinrich II. und Konrad – erwachsen werden, erliegt der Vater dem Ehrgeiz des Zweitgeborenen und entscheidet sich das Herzogtum zu teilen. Seit diesem Beschluss gehen die Wege der Eheleute auseinander. Es ist hier anzumerken, dass sich die Herzogin in dieser Situation nach göttlichem Recht und staatlichem Gesetz richtet, das dem Älteren die Macht zuspricht. Mit einer solchen Haltung übersteigt sie ihre Kompetenzen, verlässt den ihr zuerkannten privaten Bereich und betritt den des Öffentlichen. Der sich vollziehende Rollenwechsel von der Mutter zur Herrscherin nimmt einen dialektischen Charakter an, denn er beruht auf dem Prinzip der Vernunft, die sich in Opposition zu Emotionen stellt, und die nach Einigkeit im Lande fordert. Die Teilung des Herzogtums wird ihm nur Schaden bringen, was sie gut argumentieren kann: »Es gibt nur einen Erbprinzen«, sagt sie und erhebt sich. »Was meinst Du damit?« »Daß das Land, im Aufblühen begriffen, die Führung einer Hand, einer ruhigen Hand bedarf und bewahrt bleiben muß von jeder Zwietracht unserer Sippe, die jahrelang diesem armen Volk nur Wunden geschlagen hat. Heinrich muß allein die Krone tragen, wenn unser Mühen um das Wohl des Landes nicht umsonst gewesen sein soll. Wir…« (H, 190)

sozialen Zweck: die geregelte ›Erzeugung‹ als legitim anerkannter Nachkommen und die geregelte Weitergabe von Besitz, denn nur eheliche Nachkommen galten als erbberechtigt. Eheverbindungen dienten zudem der Schaffung eines Netzwerks sozialer Beziehungen.« K. van Eickels: Ehe und Familie im Mittelalter. Bamberg 2018. https://fis.uni-bamberg.de/hand le/uniba/43620 [Zugriff: 09. 05. 2021].

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Hedwigs Befürchtungen, die Teilung des Landes habe Zwist, Kämpfe und Tod bringen können, bewahrheiten sich; der Bruderkrieg zwischen Heinrich I. und Konrad, der in der Schlacht um Steudnitz545 seinen Gipfel erreicht, kostet das Leben vieler treuer Untertanen und führt zur symbolischen Trennung der Ehegatten, die nach dem Beenden der kriegerischen Auseinandersetzungen und dem tödlichen Unglück von Konrad ein Gelübde ihrer ehelichen Enthaltsamkeit ablegen. Seit dieser Zeit verändert sich das Verhältnis der beiden zueinander: Hedwig kümmert sich nur dann um den Mann, wenn seine Sicherheit mit der des Landes einhergeht, bei allen privaten Angelegenheiten verweigert sie jegliche Kontakte und lässt sich auch dann nicht erweichen, wenn er nach ihr im Sterbebett ruft. Der wegen seiner politischen Intrigen von der Kirche mit dem Bann belegte Herzog wird in der Einsamkeit seiner Burg Crossen das Leben beenden, denn Hedwig erwartet von ihm, dass er seine Schuld einsieht und Gott um Verzeihung bittet. Nur im Akt der Buße hätte es zu dem Moment der Vereinigung mit seiner Frau kommen können, die weiterhin von einer Gemeinschaft unschuldiger und gerechter Menschen schwärmt. Der Fokalisator deutet diese Tat Hedwigs nicht als Legitimierung des kirchlichen Gesetzes, das den gegen seine Feinde agierenden Herzog zur Verbannung verurteilt, sondern als deren fromme Botschaft, jeden Menschen zu Gott führen zu wollen. Die Argumentation des heterodiegetischen Erzählers, der Heinrichs Zweifel durchschaut, nimmt die Funktion einer Prolepsis ein, denn der sterbende Herzog beantwortet die ihn im Inneren befallenden Fragen nach der Motivation seiner Gattin wie folgt: Meidet ihn die Fürstin, weil die Kirche ihn mit dem Bann belegt hat? Mancher mag es so deuten, Hedwig aber weiß, daß sie diesmal nicht helfen kann. Nur wenn er allein ist mit seinen Gedanken an Gott in der letzten Stunde seines Lebens, wird er demütig werden. So bereitet ihm Hedwig den Weg in die Ewigkeit, hoffend, daß er den Sinn ihrer Botschaft verstehen wird, er, der sich stets nur ihrer Gegenwart hingegeben hat und durch die Kraft ihrer Seele sich von allen Schlacken befreit fühlte. (H, 274)

In ihrem Handeln ist Hedwig aber nur selten auf eine Missionstätigkeit bedacht Ihr Ziel ist nämlich nicht, Menschen zu Gott zu führen, sondern sich mehr um irdische Angelegenheiten zu kümmern. Sie begreift sich selbst als Mutter von

545 Die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Konrad (1195–1214) und Heinrich (1197– 1241) fand auf dem Schlachtfeld zwischen Steudnitz und Rothkirch bei Liegnitz (1214) statt und endete mit dem Sieg des jüngeren, der Besiegte verlor in demselben Jahr durch den Sturz vom Pferd das Leben. Vgl. A. Otto: Geschichte Schlesiens von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten. Breslau 1835, S. 37. Über die Teilung und dessen schwerwiegende politische Konsequenzen vgl. R. Barkowski: Die Piasten und die Anfänge des polnischen Staates. Berlin 2018, S. 88–98.

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eigenen Kindern wie auch von allen Menschen.546 Ihre mütterlichen Instinkte zeigen sich schon während der Fahrt in die neue Heimat, als sie sich des Knechtes Hubertus annimmt, der von ihrem Vater dem Gefolge zugeordnet wurde. Der von Heimweh geplagte Landsmann bekommt von Hedwig Trost, wird zu ihrem Freund und beschützt sie bis zu seinem Tod während des Bruderkampfes bei Steudnitz. Auch für seine Kinder ist sie mehr als eine herzogliche Mutter, von der man damals erwartete, männlichen Nachwuchs zu gebären und ihn dann in erzieherische Obhut zu geben. Sie beweint jedes verstorbene Kind im Stillen, denn es ziemt sich nicht, als Fürstin wahre Gefühle zu zeigen; wider alle Konventionen bemüht sie sich ihren Kindern in schwierigen Momenten beizustehen, z. B. während ihrer Krankheiten547 oder als sie mit den für sie tragischen Ereignissen konfrontiert sind, wie z. B. Gertrud, deren Bräutigam rachesüchtig den König tötet und dadurch Hedwigs Familie und Gertrud selbst in Verruf bringt.548 546 Auch Hedwigs Mutterrolle, ihre Aufopferung und Sorge um Kinder, finden in den historischen Quellen Bestätigung. Vgl. A. Kiełbasa: S´wie˛ta Jadwiga S´la˛ska jako wychowawczyni własnych dzieci i wnuków. Trzebnica 1994, S. 28ff. 547 Hedwigs Wachen am Krankenbett Konrads zeugt von ihren mütterlichen Instinkten, die sie den Sohn nicht ohne Pflege lassen. Auf der anderen Seite ist sie eine aufmerksame Mutter, die mit psychologischen Kenntnissen die Entwicklung aller Kinder beobachtet, deren Schwächen und Stärken bemerkt und sie zu belehren versucht. Sie ist dabei, wie im Fall Konrads, nicht aufdringlich, lässt ihn nur mit entsprechenden Beispielen lenken, die nichts suggerieren und nur dem ehrgeizigen und machtgierigen Jungen friedliche Entwicklungsperspektiven vorschlagen. Die Moral des von der Mutter erzählten Märchens (»Drei verschiedene Herzen müssen schon sein auf Erden, damit die Welt in steter Ergänzung bestehen kann« – H, 145), die zur Toleranz und Gegenseitigkeit aufruft, soll ihm zum Wegweiser werden, den er sich aber nicht zu Herzen nimmt, was in der Folge zu einem schwer folgenden Bruderkrieg führt. 548 Gertrud wurde im Roman mit Otto von Wittelsbach verlobt, der den König Philipp tötete, als er ihm die Heiratserlaubnis entzogen hat. Da Otto mit Hedwigs Brüdern befreundet war, werden auch sie der Verschwörung bezichtigt und müssen fliehen, was die ganze Familie der Verachtung aussetzt. Der personale Erzähler, der Hedwigs Innensicht repräsentiert, berichtet darüber wie folgt: »Otto von Wittelsbach, Ekbert und ihr älterer Bruder Heinrich von Andechs gehören nicht dazu, sie sind geächtet. Die Familie derer von Andechs-Dießen wird niemals mehr einen Hof führen, die ehrwürdige Stammburg ist geschleift, die Besitztümer sind verbrannt und geplündert, der alte Vater, Berchthold, mußte fliehen und ist vor Gram über die Schande der Söhne in den Armen ihm ergebener Bauersleute gestorben.« (H, 166) Den Geschichtsquellen nach ging es bei der Verweigerung der Heiratserlaubnis für Otto von Wittelsbach (historischer Name: Otto VIII. von Wittelsbach) gar nicht um eine Vermählung mit der Piastentochter, Gertrud, sondern um die seitens des Königs Phillip von Schwaben gebrochene Verlobung mit dessen Tochter Kunigunde. Der verletzte Stolz des bayrischen Pfalzgrafen soll zum Mord am König geführt haben. Es wird angenommen, dass Otto den König aus Rache ermordete. Vgl. L. Holzfurtner: Otto VIII. v. Wittelsbach. In: Neue Deutsche Biographie, Band 19. Berlin 1999, S. 673; B. U. Hucker: Der Königsmord von 1208. Privatrache oder Staatsstreich? In: Die Andechs-Meranier in Franken. Europäisches Fürstentum im Hochmittelalter von Zabern. Mainz 1998, S. 111–127. Nach diesem für die Familie tragischen Ereignis entschied sich Gertrud, dem Trebnitzer Kloster beizutreten, und sie wurde nachher seine Äbtissin.

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Seit dem Tod des ersten Kindes ist sich aber Hedwig dessen bewusst, das für eine Herrscherin, die ein höheres Ziel verfolgt, die Familie zweitrangig sein muss. Auf diese Notwendigkeit macht sie der erfahrene und kluge Schwiegervater Boleslaw aufmerksam, der sie nach dem Verlust des erstgeborenen Töchterchens in den Staatssachen tröstend unterrichtet: »Ich bin kein Heiliger gewesen; wo man mit dem Schwert zuschlagen muß, können keine Schalmeien geblasen werden. Du selbst aber wirst in der kurzen Zeit erkannt haben, daß man hier achtgeben und die Augen offenhalten muß. Wenn Heinrich als regierender Landesherr den Herzoghut tragen wird, dann werden die Anforderungen an dich noch größer werden. Was ich für Schlesien getan, wofür ich eingetreten bin gegen viele Feinde, gegen Ränke und in offener Schlacht, haltet fest daran, baut darauf, denkt an das Reich der Deutschen, an ihre Ordnung und Gesittung, an ihre Kirchen und Kathedralen. Ein jungfräuliches Feld liegt vor euch, pflügt es und sät voller Glauben. Du selbst stehst noch am Anfang, frühes Leid mußtest du erfahren! Wie wir Schicksalsschläge hinnehmen, danach wird unser Wert gemessen und unsere Stärke erprobt.« (H, 117f.)

Seit dieser Erfahrung scheint Hedwig auf ein Ziel fokussiert zu sein: auf Schlesien. Sie sorgt ab nun für Frieden und Wohlstand ihrer Heimat, die ihr von Gott ausgewählt wurde. Ihr Leben in der Fremde spielt sich in Opposition zu deren Mitgliedern aus, die sie aber zur Mitwirkung am Wohlstand Schlesiens anregen. Seit der Ankunft auf dem Breslauer Hof wird sie aus der Perspektive zweier antagonistischen Fronten betrachtet – einer der Freunde und einer der Feinde. Diese Frontenpolitik scheint am Hof gang und gäbe zu sein, denn auch die Herzogin Adeleid549 war »den Polen verhaßt« (H, 43) und musste um ihre Macht und die ihrer Kinder hartnäckig kämpfen, woran sich zwei herzogliche Reiter noch gut erinnern können. Hedwig begegnet deswegen zunächst Ablehnung, weil die Erinnerung an die Herrschaftszeit der Eltern von Boleslaw noch frisch ist und man in der neuen deutschen Herzogin eine Gefahr sieht, aber nicht, weil man ihren machtgierigen und zanksüchtigen Charakter befürchtet, sondern weil sie »ein deutsches Fürstenkind« (H, 76) ist, dem die in der Heimat vermittelten Ideale näher sind als die Ordnung des neuen Landes und dessen Kultur. Jelina, die Ehefrau des polnischen Herzogs von Oppeln, spricht ihr Urteil über die Ehefrau von Heinrich I. nach einem nur flüchtigen Kontakt aus, der sie aber ein positives Bild von der jungen Herrscherin entstehen lässt. Die Vorurteile den Deutschen gegenüber und die Angst vor dem Verlust der eigenen Position scheinen sowieso die Oberhand zu gewinnen:

549 Gemeint ist hier die Mutter von Boleslaw I. (Bolesław I., genannt den Langen), Agnes von Babenberg (1108/1113–1163), die Ehefrau des Seniorherzogs von Polen und des Herzogs von Schlesien, Władysław II., die wegen ihrer die Untertanen tyrannisierenden Herrschaft das Land verlassen mussten und nie mehr dorthin zurückgekehrt sind.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Was diese deutsche Prinzessin mitbekommen hat und in sich trägt, wird sie verteidigen und in ihrer Umgebung zu gestalten versuchen; wie die Andechserin dieses Bild zu schildern versteht, so wird sie ihre Umgebung in ihren Sitten und Gebräuchen beeinflussen. Sie wird den Gegensatz zwischen den Familien vertiefen, nicht heute, vielleicht auch nicht morgen; daß aber, da Ämter und Würden schon am Hof Boleslaws mehr und mehr Deutschen übertragen sind, Kämpfe die Folge sein werden, daran zweifelt Jelina nicht. (H, 77)

Hedwig, die mit der Gabe, Tierlaute zu verstehen550 und Menschengedanken zu erraten versehen ist, durchschaut die Befürchtungen und die gehässigen Pläne ihrer Gegner und will sie mit Politik der Versöhnung zerstreuen. In direkter Auseinandersetzung mit politischen Gegnern greift sie zu ihrer stärksten Waffe – zu der des Herzens, mit dem sie alle Probleme schlichtet. So geschieht es, als sie dem Halbbruder ihres Mannes, Jaroslaw, dem Herzog von Oppeln, begegnet, der eine kriegerische Übernahme des Territoriums plant, das Heinrich I. zugesprochen wurde, denn er will als Erstgeborener der alleinige Herzog von Schlesien und Polen werden. Seine tückischen Absichten werden von Hedwig durchschaut und er selbst mit Wärme, Verständnis (»Es muß nicht leicht für Euch gewesen sein«; H, 64) und Offenheit aufgenommen. Unter dem Einfluss der künftigen Heiligen verzichtet Jaroslaw für einen Augenblick auf seine Pläne, wird im Bann der Engelfigur seiner Schwägerin milde. Dieselbe Wirkung erreicht Hedwig in Plock, als sie mit Herzog Conrad von Masowien über die Befreiung ihres Ehemannes verhandelt. Hedwig, der Heinrichs Politik und somit auch die Unterstützung der Machtkämpfe in Kleinpolen nicht gefallen haben551, begibt sich im Winter zur Burg des Herren von Masowien, der ihren Mann in Krakau gefangen genommen und nach Plock überführt hat552. Auch in diesem Fall entbehrt die 550 Vgl. dazu H, 29. Über die Wundertaten Hedwigs zu Lebzeiten und nach dem Tod vgl. Die Legende der heiligen Hedwig (wie Anm. 543), S. 91–103 und 127–249. 551 Es handelt sich hier um den Streit zwischen Leszek dem Weißen (polnisch Leszek Biały) (1186–1227), im Roman Lesko genannt, der nach vielen Bemühungen bei der Nachfolge seines Vaters, Kasimir des Gerechten, das Amt des Seniorherzogs von Polen in Krakau antreten durfte. Bei der Erlangung des Throns von Kleinpolen stand ihm aber sein Onkel Mieszko der Alte, der ältere Bruder seines Vaters, im Wege. Seine Herrschaft in Krakau wurde durch die Auseinandersetzungen zwischen den polnischen Herzögen, darunter Heinrich I., Władysław III. dem Dünnbein und Conrad von Masowien, unterbrochen. Der Streit endete tragisch auf dem Treffen in Gonsawa (polnisch Ga˛sawa), während dessen Leszek von Swantopolk II., Herzog von Pommerellen, überfallen und ermordet wurde. Auf diese Ereignisse spielt auch Ruth Storm an, in deren Roman Heinrich I. schwer verwundet wird und seine Ritter ums Leben kommen. Vgl. H, 230–238. 552 Aus Hedwigs Innensicht werden diese Ereignisse wie folgt nacherzählt: »Ständig kreisen ihre Gedanken um die Geschehnisse, von denen sie Kunde erhielt. Immer klarer wird auf dieser langen Fahrt in Hedwig die Art ihrer Forderung, mit der sie Conrad von Masowien gegenübertreten will. Hinterhältig überwältigte er Herzog Heinrich I. Zu Spytkowicz drang während des Hochamtes ein bewaffneter Haufen in die Kirche, bemächtigte sich des Herzogs und schleppte ihn nach Plock in Conrads ferne Hauptburg an der Weichsel.« (H, 251)

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Die heilige Hedwig – die Urmutter Schlesiens

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Auseinandersetzung jeglicher Gewalt, denn Hedwig bedient sich des Wortes, das eine überzeugende Macht ausübt und auf dem Wege zu einer Lösung sich wirksamer erweist als alle Männerstreitereien oder Militäreinsatz. Die Entscheidung der Fürstin, alleine nach Plock zu fahren, stößt zuerst auf den Widerwillen seines Sohnes Heinrich II., der sich um eine allein reisende Frau Sorgen macht, zumal sie direkt dem gefährlichen Feind entgegenfahren wird. Als er aber ihre Gründe begreift, die Ehre des Herzogtums, seines Gatten sowie die Würde des Standes verteidigen zu wollen, kann er diesen Vorsatz nur unterstützen. Für Hedwig bedeutet nämlich Herrschaft nicht nur Macht, sondern auch Verantwortung für das Land, für die Untertanen und die Sippe; der wahre Herrscher soll sich nach dem Recht richten und den Frieden des Landes um des eigenen Machtwillens nicht riskieren. Ihr Ehemann hat sich dagegen in den Streit zwischen den Herzogtümern verstrickt und als Verbrüderter des in Gonsawa ermordeten Herzogs Lesko553 fühlt er sich verpflichtet, weiter zu kämpfen, das Erbe des Freundes zu verteidigen und an seinen Mördern Rache zu nehmen. Seine Gefangenschaft in Plock ist in den Augen Hedwigs eine schwerwiegende Folge dieses Verhaltens. Mit ihren Argumenten und Friedensabsichten vermag sie aber sowohl den Mann zu befreien als auch einen Vertrag mit dem bisherigen Feind zu schließen. Auch in der Auseinandersetzung mit Conrad und seiner Schwester Mariette, der früheren Geliebten von Hedwigs Sohn Konrad, wird die schlesische Herzogin aus einer schon vertrauten Sicht eines von ihrer Kraft überzeugten Beobachters präsentiert. Auf den ersten Blick macht sie den Eindruck einer Heiligen, die mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Empathie für jeden Leidenden entzückt. Der Bericht des heterodiegetischen Erzählers lässt keine Zweifel, dass eine vom Nimbus der Besonderheit umwobene Person die Burg Plock betreten hat: Von zwei Dienern begleitet erscheint Hedwig. Sie bleibt einen Augenblick auf der Schwelle stehen, und im Rahmen der Tür, warm beschienen von dem flackernden Licht, wirkt sie wie ein lebendes Mutter-Gottes-Bild. Sie ist noch im Reisekleid, der Pelzkragen hängt feucht auf ihren Schultern, ein einfaches graues Tuch umschließt ihren Kopf. Ruhig blicken die großen blauen Augen dem Herzog von Masowien entgegen. Conrad und Marietta erheben sich, der Herzog mit einem Gefühl der Achtung, das Hohn und Spott vergessen läßt, mit denen er sie zu empfangen gedachte. Diese alternde Frau vor ihm in ihrer Würde hat, weil sie an ihren Erfolg glaubt, den beschwerlichen Weg im Winter zu ihm gewagt. (H, 258)

Die Achtung vor Hedwig steigert noch mehr die Haltung der Herzogin, die frei von Angst und Demut ist; die völlige Anerkennung findet freilich erst ihre Rede, in der sie Conrad und das ganze Fürstengeschlecht an deren Pflicht, Recht zu tun, mahnend erinnert, das vor der Geschichte bestehen kann. Sein nur dem eigenen 553 Vgl. Anm. 551.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

Wohl dienende Handeln lässt den Herrscher ein Risiko eingehen, womit er den guten Ruf seiner Sippe für immer ruiniert. Außerdem hebt Hedwig die grundsätzliche Pflicht hervor, bei Kriegsgefahr Einigkeit erzielen zu müssen. Sie formuliert diese Herausforderung am Vortage der großen Mongolenexpansion, von welcher viele Herzogtümer betroffen sein können. Angesichts dieser Bedrohung der christlichen Welt rät sie Conrad von Masowien zum Frieden mit den Nachbarn, auf die man sich in schweren Zeiten immer verlassen könne. Hedwig kann also nicht nur schön und überzeugend reden; sie bewährt sich in ihren politischen Missionen auch als eine gute Strategin, die die Interessen des eigenen Landes zu vertreten weiß und dessen Zukunft stets im Auge hat. Als Folge einer solchen Taktik soll sich der Verlobungsvertrag zwischen den Kindern von Heinrich II. und Conrad von Masowien erweisen.554 Die Kompromissbereitschaft und Weitsichtigkeit von Hedwig machen aus ihr eine erfolgreiche Botschafterin Schlesiens. Aber es wäre falsch zu denken, dass sich ihre Mission im Bereich der Politik realisiere. Die Herzogin ist eine tatkräftige Person, die für den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung ihrer Heimat sorgt, denn »Schlesien soll ein stolzer, gesunder Baum werden!« (H, 90). Seit ihrer Ankunft hört sie nämlich »auf die Stimme des Landes, auf die Stimmen, die von Gott kommen, dem sie dienen will wie ein ergebener Knecht seinem Herrn.« (H, 67) Diese Stimmen versprachen ihr eine geistige Entwicklung des Landes, die »Macht des Herzens« (H, 84) voraussetzt, und die Gewalt des Schwertes ablehnt. Dieser Dienst veräußerlicht sich hauptsächlich im Bau von Klöstern. Hedwig steckt ihre Energie vor allem in den Bau des Klosters Trebnitz, das als Dank für die Rettung des Herzogs Heinrich begriffen wird, denn wo man »Böses sann, soll Gutes geschehen!« (H, 100) Die Baupläne des Klosters vereinigen die Eheleute, verstärken ihre Partnerschaft und bezeugen zugleich die Gleichrangigkeit von Frau und Mann. Die gemeinsam geschmiedeten Pläne werden zur Miniatur des großen Konzepts vom starken Schlesien, das von neuen Siedlern bewohnt, um das westliche Kulturgut bereichert, unter dem Ansatz von neuen Feldarbeitsmethoden zu einem florierenden Land werden soll: Bauen, herrlicher Gedanke! Bauen in dieser Wildnis! Der Herzog lässt seinen Grab- und Schanzmeister aus Breslau kommen, Boten werden zum Abt nach Leubus geschickt, mit ihm soll beraten werden, was als erstes zu tun sei. Meister aus dem Reich sollen kommen, die andere Vorbilder haben, als das unerschlossene Schlesien im Augenblick bieten kann. Durch die körperliche Behinderung zur Untätigkeit verdammt, hat Hedwigs Anregung im Herzog neue Kräfte geweckt. Tage und Nächte sind angefüllt mit 554 Conrads Sohn Bolesław I. heiratete Gertrud, die Tochter von Heinrich II., im Jahre 1234. Die Ehe blieb kinderlos. Den zweiten Sohn, Kasimir von Kujawien (Kazimierz I. Kujawski), verband der eheliche Bund mit Konstantia. Vgl. K. Jasin´ski: Rodowód Piastów małopolskich i kujawskich. Poznan´ / Wrocław 2001; K. Jasin´ski: Rodowód Piastów ´sla˛skich, cz.1. Kraków 2007, S. 1221–1227.

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Die heilige Hedwig – die Urmutter Schlesiens

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Gesprächen, Plänen und Gedanken. Kuriere kommen, das Jagdhaus verwandelt sich in eine Bauhütte, es wird gemessen und berechnet, auch die ersten Mönche aus Leubus treffen ein. […] Bald werden Mauern dort stehen und Türme aus festem Stein. Türme und Mauern, höher als Bäume! Glocken würden läuten und Choräle gesungen werden. O Wunder, über Wunder! (H, 100f.)

Im Laufe der Zeit wird die Mühe um die Entwicklung des Landes zu Hedwigs Priorität und die Familie in den Hintergrund gedrängt, denn sie weiß schon, dass ihre Kinder selbstständig geworden sind und das sie selbst gut zurechtkommen können. Einzig in der Arbeit für das Gemeinwohl findet sie ihr Glück, besonders in der Überzeugung, dass »die Besiedlung fortschreitet und das das Leben des Volkes sich bessert.« (H, 187). Je älter Hedwig wird, desto weniger beachtet sie die materiellen Bedingungen und persönlichen Bedürfnisse. Ihre Familie wird immer größer, sie umfasst nämlich die Siedler, die Nonnen des Klosters Trebnitz, die Dienerschaft555, um deren Schicksal sie sich kümmert, die Pestkranken, die in den von Hedwig und den Nonnen geführten Krankenhäusern Hilfe finden. Sie ist dabei nicht nur eine Stifterin, sondern immer auch eine aktive Stütze, die für die Kranken selbst sorgt, die sich nicht scheut, »in das Unglück zu fahren, mit eigenen Augen [zu sehen – R.D.-J.], mit eigenen Ohren [zu – R.D.-J.] hören!« (H, 218). Die letzte Aufgabe, die sie zu erfüllen hat, ist trotz ihrer persönlichen Tragödie – des Opfertodes des Sohnes Heinrich II. auf dem Schlachtfeld von Liegnitz – den Glaubensfeind, die Mongolen, aufzuhalten. Die Schwermut, die nach dem Kampf entsteht, das Bewusstsein der Niederlage und vieler Opfer lassen sie aber nicht verzweifeln, denn sie ist vom Sinn ihrer gemeinsamen Bemühungen überzeugt, die der Nachkommenschaft, verstanden als eine Menschengemeinschaft, dienen soll. Die Verantwortung für den Anderen, für die kommenden Generationen, die von der Leistung der Vorfahren profitieren werden, soll jeden Herrschenden auszeichnen, der sich dadurch den Weg in die Ewigkeit ebnet. Die Berufung zur Heiligkeit ist für Hedwig nichts Anderes als ein Dienen der Heimat, die sich über die irdischen Güter hinwegsetzt und ins Ewige hinreicht. Diese Botschaft gibt Hedwig an ihre Schwiegertochter Anna weiter, die nach dem Tod von Heinrich II. die Verantwortung für das Land übernehmen soll. Diese weibliche Generationenkette scheint ein Garant der Entwicklung und Beständigkeit Schlesiens zu sein. Die von Hedwig vermachten Worte gewinnen einen überzeitlichen Charakter, der den mittelalterlichen Raum zu sprengen und bis in die Gegenwart, bis zur europäischen Nachkriegswirklichkeit hinzureichen scheint:

555 Die Quellen liefern relativ viele Informationen über den Kreis der Beamten, Diener und Zöglinge um den Herzog und seine Frau. Vgl. Doroszewska, Otoczenie Henryka Brodatego i Jadwigi jako ´srodowisko społeczne (wie Anm. 543), S. 22–49.

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Mulier agendi. Frauen als »Inbegriff der Heimat«

»Wir Fürsten streben nach Macht; wenn uns aber neben der Macht auch die Verantwortung für unsere Untertanen bewußt ist, öffnet sich für uns das Tor zur Ewigkeit. Wir haben danach gestrebt. Wenn diese Verantwortung zu übernehmen den Enkeln schwerfällt in den Zeiten, die kommen werden, verzweifele nicht Anna! Schlesiens beste Männer sind im Kampf geblieben, die Hand des Herrschers fehlt, obdachlose und verzweifelte Menschen irren noch immer umher, das Elend der Witwen und Waisen ist groß, viele sind für immer verschleppt worden und werden die Heimat wohl nie mehr wiedersehen. Diese Erbschaft kann mutlos machen – und doch Anna, ich glaube an unseres Landes Zukunft! […] Wer am Ende des irdischen Lebens angekommen ist, weiß, daß die Güter dieser Erde wertlos sind. Gültig ist nur unser Wesen, Gottes Stimme, die in unserer eigenen Brust …« (H, 295f.)

Hedwig von Schlesien gerät ständig mit der äußeren Welt in Berührung; nach dem Verlassen ihrer bayrischen Heimat betritt sie immer neue Räume, nimmt Kontakte mit verschiedenen Menschen auf, mit denen sie Verbindungen eingeht. In ihrem Fall gipfelt der Prozess der Ein-Räumung in einem Zwischen-Raum, in dem das Private und Öffentliche einander ergänzen und transferieren. Auch der Einsatz von Körpersprache, die sich durch zahlreiche Kontaktzonen realisiert, führt zur Selbstfindung der Herzogin. Dieser Prozess kommt aber nicht als transzendental begründetes Phänomen zustande, obwohl Hedwigs Status als Erwählte diesen Eindruck befördert. Der Anschluss an die Welt ist vor allem durch die Arbeit für die Welt möglich, die ein selbstloses Verhältnis zu ihr bedeutet. Hedwig schöpft ihre Kraft und später auch die Macht aus dem Traum von einer friedvollen Menschengemeinschaft, die als immerwährend begriffen wird. Als Erinnerungsmetapher verkörpert die schlesische Herzogin das Potenzial eines sich über Jahrhunderte entwickelnden Landes, dessen Schicksal in den Händen einer Frau gelegen haben soll. Diese Frau ist dem männlichen Teil innerhalb ihres Standes gleichgestellt und als völlig selbstständig Agierende in der Lage, Andere zur Aktivität und friedlichem Handeln zu bewegen.

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»Zu Hause und doch nicht zu Hause«556. ›Umschriften‹ der Geschichte versus Identitätssuche im Wirrwarr des 20. Jahrhunderts

Aleida Assmann bemerkt zu Recht, dass mit der Pluralisierung von Geschichte auch die Pluralisierung der Gedächtnisse zustande kam, die sich aus einer immer deutlicheren Trennung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis ergab. Beide Erscheinungen waren auch mit der Entwicklung von Medien verbunden und ließen so neue Erinnerungsräume entstehen.557 Der Umgang mit Geschichte und die ihn begleitende Reflexion über das Vergangene und die Zukunft führt zur Fragestellung, wie historische Ereignisse das Ich beeinflussen, sein Gedächtnispotenzial verstärken bzw. abschwächen, ob sie ihm zur Last werden und / oder zur (un)nötigen kollektiven Identität verhelfen. Maurice Halbwachs verwies dabei auf den Unterschied zwischen kollektiver Gruppenerinnerung und deren Kongruenzmerkmal und dem historischen Gedächtnis, das einem »Ozean gleich«558 identitätsstörend wirkt. Außerdem kennzeichnet jene kollektive Erinnerung eine gewisse Abneigung jeglichen Veränderungen gegenüber, aus denen sich jedoch die Geschichte speist. So stellt sich das Gedächtnis in Opposition zur Geschichte559 oder ihr gegenseitiges Verhältnis nimmt – so Aleida Assmann – eine bewohnte und unbewohnte Form an. Das selektive, bewohnte Gedächtnis differenziert nur das aus, was für ein Individuum von Bedeutung ist und sich als identitätsprägend erweist, wogegen die unbewohnte Form auf offizielle und objektivierende Vermittlung vom Vergangenen abzielt560. Eine nicht geringere Rolle spielen dabei kognitive Prozesse, die die Unterscheidung zwischen beiden Formen ermöglichen und zu bewussten Bearbeitungsprozessen 556 UwnG, 88. 557 Vgl. Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 41), S. 49. Es ist anzumerken, dass diese nach A. Assmann seit der Renaissance dauernde Erscheinung durch Phasen der Singularisierung unterbrochen wird, in denen sich Trends zur Verallgemeinerung bzw. Vereinheitlichung von historischen Prozessen feststellen lassen. 558 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1985, S. 72f. 559 Das gegenseitige Verhältnis zwischen Geschichte und Gedächtnis diskutiert A. Assmann, indem sie Positionen von F. Nietzsche, M. Halbwachs und P. Nora vergleicht. Vgl. Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 41), S. 130–133. 560 Vgl. ebd., S. 134.

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›Umschriften‹ der Geschichte versus Identitätssuche

führen, was allerdings erst nach einem zeitlichen Abstand, nach der Aktivierung von Erinnerungsspuren, jenen »Umschriften« des Erlebten, geschieht.561 Das Balancieren zwischen Gedächtnis und Geschichte kennzeichnet auch das Gesamtwerk von Ruth Storm. Ihre Heimaträume sind eng mit den Wendepunkten der europäischen Geschichte des 20. Jhs. verbunden: dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, infolge deren sich die Lebenssituation der Protagonisten gegen ihren Willen jeweils verändert. Diese Auseinandersetzung mit geschichtlichen Ereignissen des 20. Jhs. geht wiederum auf den besonderen Handlungsraum der Werke Storms zurück, denn die Ereignisse spielen in Schlesien, oft im oberschlesischen Grenzraum oder im niederschlesischen Riesengebirge, was die Figuren auf Geschehnisse dieser Provinzräume beschränkt, und zur Folge hat, dass sie mit historischen Ereignissen selten direkt in Berührung kommen und auf ihr bewohntes Gedächtnis angewiesen sind oder sein wollen. Einerseits mag dieser Zustand der Isolierung auf die geopolitische Lage der Handlungsräume562 und des bewohnten Gedächtnisses der Autorin selbst zurückzuführen sein, andererseits drückt sich in allen ihren Prosawerken ein typisches Syndrom der Abkapselung von der belastenden deutschen Vergangenheit563 und das Bedürfnis aus, sie aus der Erinnerung sowohl der Figuren als auch des Schriftstellers/der Schriftstellerin zu verdrängen. Als ein weiterer Grund für einen selektiven Umgang mit Geschichte kann eine Emotionslähmung in der unmittelbaren Nachkriegszeit gelten, die als ein Abwehrmechanismus angesehen werden kann564, der es leichter macht, sich von den »widerständigen und zerstreuenden eigenen Erinnerungen abzuschirmen«565. Der in der Nachkriegszeit dominierende kollektive Erinnerungsdiskurs führte wiederum zum aufgezwungenen Verlust von privaten Geschichten, dem man sich direkt nach 1945 nicht widersetzen konnte566; erst in den 1970er und 1980er kam es zur Niederschrift von individuellen 561 Den Begriff »Umschriften« für die Aktivierung von Erinnerungsspuren verwendet S. Freud. Vgl. ebd., S. 106. 562 N. Mecklenburg betont im Kontext der Vergangenheitsbewältigung in den bundesdeutschen Romanen, dass die Entfernung vom Zentrum die Provinz harmloser und unpolitischer machte. Vgl. Mecklenburg, Faschismus und Alltag in deutscher Gegenwartsprosa (wie Anm. 461), S. 26. 563 J. Joachimsthaler: Würzen. Formen. Trommeln. Das Gesamtkunstwerk Günter Grass’. In. www.literaturkritik.de/public/rezension.ph.?/rez.id20651 (10. 03.2016) [Zugriff: 20. 09. 2020]. 564 Von der Emotionslähmung dieser Zeit spricht H. Böll. Vgl. U. Krellner: »Aber im Keller die Leichen / sind immer noch da«. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989 (wie Anm. 28), S. 110f. 565 A. Assmann bezieht sich in ihren Überlegungen über die Kraft des Vergessens auf Nietzsche und sein Konzept, die unerwünschten Erinnerungen aus dem Gedächtnis verdrängen zu müssen. Vgl. Assman, Erinnerungsräume (wie Anm. 41), S. 65. 566 Ähnlich argumentiert auch H. Arendt, die von der Vernichtung der individuellen Erinnerungen der Deutschen spricht. Vgl. Arendt, Die verborgene Tradition (wie Anm. 61), S. 35f. Vgl. auch Peitsch, »Deutschlands Gedächtnis und seine dunkelste Zeit« (wie Anm. 37).

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Einbruch der Geschichte in die Heimat – der Erste Weltkrieg

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Erinnerungen, die sich als Michel Foucaults contre-mémoiré verstehen lassen. Eine die Nachkriegsjahrzehnte vereinigende Ästhetisierungsstrategie von Erinnerungsdiskurs beruhte hauptsächlich darauf, das Vergangene »bruchstückhaft und in großen Zeitabständen« zu erzählen.567 Da sich Ruth Storm auf mehrere Zeitperioden der bundesdeutschen Nachkriegswirklichkeit bezieht, kann man auch von verschiedenen Ästhetisierungsmodi ihres heimatorientierten Erinnerungsprozesses sprechen. Sie entsprechen weitgehend dem von Aleida Assmann vorgeschlagenen Modell dreier Phasen. Die erste von ihnen ist die der sprachlosen Wahrnehmung, die zweite einer gegenwartsbezogenen Vis-Rückschau und die dritte – Gefühle generierende, die »im Prozess der dichterischen Kontemplation bewusst aufgearbeitet und mit neuen Emotionen besetzt werden können.«568

6.1

Einbruch der Geschichte in die Heimat – der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg bestimmt auf der Ebene des bewohnten sowie unbewohnten Gedächtnisses das Storm’sche Bild von der Heimat, obwohl er nur in zwei Romanen – Odersaga und …und wurden nicht gefragt – eine wichtige Rolle spielt; für andere Prosawerke bildet dagegen der Zweite Weltkrieg den historischen Hintergrund der Handlung. Den Höhepunkt des zweiten genannten Erinnerungsraumes macht zweifelsohne die Vertreibung aus der Heimat aus. Die Bilder von der Zeit des Ersten Weltkrieges beginnen in beiden Romanen mit dem Kriegsanfang, der mit den Pressemeldungen über den Mord in Sarajewo einsetzt. In … und wurden nicht gefragt wird eine Sonntagsgesellschaft, die gerade von einem Picknick in den Kattowitzer Wäldern zurückkehrt, mit den ersten Nachrichten des drohenden Krieges konfrontiert. Die aus der Sicht des Kindes erzählten Ereignisse ziehen eine Trennungslinie zwischen Gestern und Heute, zwischen Öffentlichem und Privatem, großer Geschichte und gewöhnlichem Alltag. Der hereinbrechende Krieg erweckt in der oberschlesischen Stadt von Anfang an einen oberflächlichen Eindruck, als ob die drohenden kriegerischen Auseinandersetzungen bald vergehen sollten und nur eine Episode wären, die man wegen ihrer Flüchtigkeit gar nicht beschreiben muss. In dieser Szene wird aber das Kind vom Fokalisator beauftragt, aus eigener Perspektive die Welt zu betrachten und sie, aus der Sprachlosigkeit der historischen Ohnmacht ausbrechend, zu beschreiben.569 Die Suche nach ars und vis gewinnt somit an Konturen. 567 D. Forte: Das Haus auf meinen Schultern. Romantrilogie. Frankfurt a.M. 2003, S. 585. 568 Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 41), S. 105. 569 Über die Rolle des Kindes in der ersten Phase, besonders seine Sprachlosigkeit, die den Eindruck der Ratlosigkeit des Individuums der Geschichte gegenüber exemplifiziert vgl. ebd., S. 105.

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›Umschriften‹ der Geschichte versus Identitätssuche

Zuerst wird die visuelle Technik der Festlegung von Ereignissen angewendet: Die Sonntagsspaziergänger verwandeln sich in eine ungeordnete Menschenmenge, die den Anbruch des Neuen, des Unbekannten, des Besonderen, das im Extrablatt der väterlichen Zeitung ihre Verkörperung findet, ›begrüßt‹. Mit der Einführung der Zeitung in die Handlung werden somit Vis-Artefakte eingeleitet, die die Versammelten die Grenze der individuellen Sprachlosigkeit der Geschichte gegenüber überschreiten lassen. Das Kind drückt seine Verwunderung über die unerwarteten Neuigkeiten aus, indem es in einem inneren, den Verlauf der Ereignisse dynamisierenden Bericht, Folgendes bemerkt: Doch seltsam, wo sonst an Feiertagen ein sorglos bummelndes Promenieren auf den Bürgersteigen herrschte, ballten sich Menschen. Vom Ring bis in die Hauptstraße hinein, Kopf an Kopf. Die Leute schienen sich um etwas zu reißen, sie quirlten durcheinander, schwenkten ein druckfeuchtes Papier. Der Landauer mußte halten, die Fahrbahn war blockiert. Großmama stieg aus und nahm das Kind an die Hand, um zu Fuß nach Haus zu kommen, während das Gespann in eine Seitenstraße einbog, um auf einem Umweg weiter nach Baildonhütte zu fahren. (UwnG, 72)

Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaares in Sarajewo bedeutet noch nicht den Kriegsbeginn, trotzdem erkennt das Kind in diesem Ereignis etwas Sensationelles, was jedoch das einheimische Territorium noch nicht überschreitet und einen durchaus begrenzten Charakter trägt. Anders sieht der Journalist in Odersaga das Attentat, der als erwachsener und erfahrener Mensch die Ernsthaftigkeit der Lage gleich erkennt. Als Balkankorrespondent ist er mit den Problemen dieser Region und allgemein von Österreich-Ungarn sehr gut vertraut und kann die Gefahr des aufsteigenden Nationalismus richtig deuten. Der Journalist nutzt sein Wissen und seine Erfahrung, indem er die Situation nicht nur lokal, sondern auch global interpretiert. Er beurteilt insbesondere auch das künftige politische und militärische Dilemma Deutschlands, das sich »im Falle eines Krieges nach Ost und West zu verteidigen [hat – R.D.-J]« (O, 167). In den beiden Figuren decken sich also zwei Positionen ab: die des Kindes, das sich weder einer Bedrohung noch Katastrophe bewusst ist, und die eines erfahrenen Korrespondenten. Nichtsdestotrotz wird sich der Krieg auf die Menschen gleichermaßen auswirken, er wird das Leben im Hinterland verändern und in private Verhältnisse massiv eingreifen. Auch das Kind wird dessen Wirkung selbst erfahren können, als es sich während ihrer Sommerferien am Meer von seiner englischen Spielgefährtin trennen muss, die im Moment des Kriegsausbruchs gezwungen wird, den Urlaubsort vorzeitig zu verlassen. Trotz der lächerlichen Verleumdungen, die kleine Engländerin Mary sei eine Spionin gewesen, verliert das Kind das Vertrauen in die geknüpften Freundschaftsbande nicht und in deren Namen baut es eine Brücke aus Muscheln, die der »Erinnerung an die Ritte am Rande des Wassers zwischen Deutschland und England« (UwnG, 81) dienen

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Einbruch der Geschichte in die Heimat – der Erste Weltkrieg

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sollten. Einige Wochen nach dem Ausbruch des Krieges ist das Kind schon imstande, zwischen Privatem und Politischem zu unterscheiden, allerdings vermag es noch nicht, beide Begriffe einzuordnen bzw. sie zu staffeln. Das Kind beginnt sich stark mit seinem Vaterland zu identifizieren und möchte das Land im Krieg unterstützen, was vor allem während der Massenveranstaltungen unter Beteiligung des deutschen Kaisers stattfindet. Diese Art der Verarbeitung von historischen Ereignissen ist ein Indiz dafür, wie schnell sich der Übergang von der Phase der naiven, sprachlosen Form der Geschichtsbetrachtung zu einer semantisch bewussteren vollzieht, der zugleich die Transposition des Individuellen ins Kollektiv-Nationale umfasst. Die zweite Art der Geschichtswahrnehmung kommt dann zustande, als das Kind zum ersten Mal dem Kaiser im Moment der Mobilmachung begegnet, während deren der Herrscher an die Einigkeit der Deutschen appelliert und dazu aufruft, im Namen der Nation Unterschiede und Streitereien abzubauen. Die steigende Identifizierung des Kindes mit der eigenen Nation wird aber durch die unheimliche »Gesichtslosigkeit der Masse« (UwnG, 83) abgeschwächt und folglich durch das Bedauern, die englische Freundin Mary nie mehr sehen zu können, letztendlich zunichte gemacht. Seit der Rede des Kaisers, also seit der verstärkten Repräsentanz von vis, positioniert sich das Kind außerhalb der politischen Ereignisse und ist während des Krieges ständig bemüht, ein Versteck zu finden. Diese Unterschlüpfe nehmen jeweils andere Formen an: mal verkriecht sich das Kind »am Fenster des Eßzimmers« (UwnG, 88), von wo her es voller Schmerz das in den Krieg ziehende Pferd Dalma beobachten kann; ein anderes Mal findet es eine verstellte Ecke auf dem »obersten Baumstamm eines hochgestapelten Holzstoßes« (UwnG, 93). Von dieser hohen Position an erhebt es eine Anklage gegen den Krieg und seine Folgen: Warum, warum nur konnte nicht alles so bleiben wie früher? Nur ein paar Monate lagen zwischen dem Früher, doch diese Wochen hatten alles verschoben, verwandelt. Ob die Koscheniere ihre Sensen schärfen würden? Wenn jemand käme und fordere: »Opfere Dein Herz, und alles wird werden, wie es früher gewesen war!« Ich würde mein Herz opfern, war des Kindes innerliche Antwort […], dann würden die Lerchen singen, und Christ wäre wieder erstanden, und Anna und Sophia würden sich an den Händen fassen und umherhüpfen und freudig aufkreischen über das Osterspritzen der Burschen. (UwnG, 93f.)

Die Kriegswirklichkeit zerstört nicht nur die Welt des gemeinsamen Familienlebens und des Spiels, die für ein Kind wohlhabender Eltern als Garant der Geborgenheit und des Glücks galten, sondern sie stiftet im Bereich bisheriger kindlicher Wertvorstellungen Unruhe. Das Kind verliert den Boden unter den Füßen und fühlt sich ratlos, auf der anderen Seite wird der Verstoß aus dem Paradies der kindlichen Träume zur Zäsur auf dem Weg zum Erwachsenwerden,

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›Umschriften‹ der Geschichte versus Identitätssuche

denn das Mädchen beginnt über existenzielle Begriffe zu reflektieren und versucht sie mit ihren eigenen Gedanken zu hinterfragen. Die Kategorie der Zeit, die mit der Vergänglichkeit und innerer Leere assoziiert wird, führt die Protagonistin zu ganz neuen Maßstäben, nach welchen sie ihr Leben einzuordnen versucht. Die vereinzelten Momente der Wiederherstellung der gewohnten Ordnung bringen sie zu keinen zufriedenstellenden Resultaten, auch der Besuch des Kaisers in Pleß570 erscheint letztendlich trotz vielversprechender Stimmung des Wandels als ein verblassender Lichtreflex. Es ist bemerkenswert, wie das Kind dieses Treffen von »S.M.« (UwnG, 117) und dessen Untertanen zwecks der Rettung der vom Krieg vernichteten alten Welt ausnutzt. Die Begegnung findet während eines Gottesdienstes im Schloss von Pleß statt. Auf eine theatralische Art und Weise wird der Kaiser in den Mittelpunkt der Tagesereignisse gestellt, indem sein »holzgeschnitzter Sessel, mit rotem Plüsch überzogen« (UwnG, 115) von den einfallenden Sonnenstrahlen beleuchtet wird, was seinen Rang hervorhebt, aber auch auf dem kaiserlichen Amt die Hoffnung auf das baldige Kriegsende und den Sieg der Deutschen aufbauen lässt. Diese Hoffnung wird zusätzlich durch das gemeinsame, mit Inbrunst gesungene Lied Ein feste Burg ist unser Gott, das »durch den Raum brauste« (UwnG, 115) und das Gefühl der nationalen Einigkeit stärkte, wie auch durch das Bild eines in der Predigt mehrmals erwähnten Engels erhöht. Diese Hoffnung und Stärke stiftenden Bilder werden plötzlich von einem winzigen Sperrling entwertet, der die Aufmerksamkeit des Publikums vom Kaiser ablenkt und ihn für einen Augenblick quasi in den Hintergrund drängt. Mit dem Verschwinden des Vogels verlässt auch der Kaiser die Pleßer Kirche, noch bevor der Gottesdienst zu Ende geht. So gerät die an einen Mythos grenzende Figur des Kaisers ins Schwanken und hört auf, dem Kinde Trost zu spenden und Sicherheit zu geben. In die Welt der eigenen Gedanken vertieft, begreift das heranwachsende Mädchen, dass das Individuum in einer Krisensituation sich selbst überlassen ist und sich dem zyklischen Geschichtsverlauf fügen muss. Sehr deutlich kommt diese Ansicht in Form erlebter Rede zu Wort, als das Kind vor den Kriegsereignissen fliehend erst in der Schreiberhauer Umgebung Ruhe und Distanz findet: Und während das Kind vor kurzem glaubte, alles sei Vergänglichkeit, hier wurde ihm bewußt, daß es eingeschlossen war in eine Wellenbewegung, in ein Auf und Ab im ständig wechselnden Rhythmus, so wie auch Tag und Nacht auf dieser Erde sich ab570 In der oberschlesischen Stadt Pleß, in dem Schloss der Familie Hochberg, befand sich während des Ersten Weltkrieges, im Zeitraum von 20. 09. 1916 bis 10. 02. 1917, das »Große Hauptquartier« des Kaisers Wilhelm II. Das in …und wurden nicht gefragt dargestellte Treffen mit dem Kaiser und seine Beteiligung am Gottesdienst müssten in diese Periode gefallen sein, sofern es überhaupt stattgefunden hat. Vgl. https://artsandculture.google.com /exhibit/das-gro%C3%9Fe-hauptquartier-s-m-des-kaisers-und-k%C3%B6nigs/QQLzxTo3 [Zugriff: 20. 03. 2021].

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Einbruch der Geschichte in die Heimat – der Erste Weltkrieg

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lösten. Der Mensch war ein Schiff, das in die Täler und Höhen der hereinbrechenden Wetter gerissen wurde und kämpfen mußte, um sich über Wasser zu halten. Leben war Freude und Schmerz zugleich! Jeder Wechsel brachte Erfahrung und Offenbarung, jeder Wechsel wurde zum wachsenden Ring um den eigenen Lebensbaum. (UwnG, 96)

Der ständige Wandel des Lebens macht das Kind offener und lässt es die Welt so anzunehmen, wie sie ist. Eine Ausnahme bildet in diesem Erkenntnisprozess der endgültige Verlust der Heimat, den das Kind nicht akzeptieren kann und will571. An den Krieg, den man nur aus der Perspektive des Hinterlandes wahrnimmt, gewöhnt sich die Protagonistin und kann als Individuum den eigenen Platz innerhalb großer Ereignisse finden. Ähnlich reagieren die weiblichen Figuren im Roman Odersaga auf den Ersten Weltkrieg. Auch hier wird das Kriegsgeschehen im Hinterland verortet und vor allem auf Frauen fokussiert. Das Leben im Hinterland bringt für sie neue Aufgaben, die sie ohne Protest annehmen und willig zulassen, wie der Krieg ihre Wirkungsräume aufs Neue organisiert572. Die Bürde der weiblichen Existenz im Krieg wird im Roman während der Trauung von Karoline und Felix verdeutlicht. Dr. Pohl macht die während der Feier versammelte Gesellschaft auf die Bedürfnisse der neuen Zeit aufmerksam, auf den durch den Krieg brisant definierten Begriff des Individuums, das genauso wie im Falle des Kindes eine aufgezwungene Angepasstheit an den Lauf der Geschichte impliziert. Von diesen neuen Umständen scheint aber vor allem die Frau besonders getroffen zu sein. Von allen Opfern der rücksichtslosen Geschichte wird ihr eine Rolle zugeschrieben, die bereits in die Nachkriegswirklichkeit vorausschaut: »Wir werden uns daran gewöhnen müssen, Spielball von Kräften zu sein, die der einzelne nicht abwehren kann. Umso tiefer muß daher das Bewußtsein werden, unserem Land mit seiner hohen Kultur ehrlich weiter zu dienen. Dieser Krieg ist noch nicht beendet, der unglückliche Ausgang der Marneschlacht bindet unsere militärischen Kräfte weiter im Westen. Die Aufgabe an mehreren Fronten zu kämpfen ist ein schwer zu lösendes Rechenexempel. Daher wird im Inland jeder an seinem Platz das erfüllen müssen, was uns die Zeit diktiert. Und die Bedeutung der Frau wird durch ihre Leistung in einem neuen Licht erscheinen […]«. (UwnG, 189)

In der Hochzeitsrede spannt der mit der Familie Lehan befreundete und als Karolines Mentor geltende Akademiker Pohl einen Bogen zwischen großer Ge571 Auf den Verlust der Heimat der aus Oberschlesien stammenden Figuren wird im Weiteren eingegangen. Auf die infolge des Versailler Vertrages und danach der Abstimmung und der Aufstände verlorenen Gebiete wird, abgesehen von … und wurden nicht gefragt, nur am Rande eingegangen. 572 Auf eine Koexistenz zwischen sozialer Positionierung und aktiver Raumgestaltung in literarischen Texten über den Ersten Weltkrieg verweist nachdrücklich P. Zimniak. Vgl. P. Zimniak. Großer Krieg kleiner Leute. Perspektivierung des Ersten Weltkrieges in der polnischen Literatur 1914–1920. Göttingen 2016, S. 117.

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schichte, die sich direkt an der Front abspielt und das Resultat politischer Vorgänge ist, und dem privaten Leben der im Hinterland gebliebenen Bevölkerung. Symbolisch verbindet die beiden Welten die Zerrissenheit zwischen Fronten, die einerseits eine reale Lage der Kriegsgeschehnisse widerspiegelt (die Kämpfe an der West- und Ostfront), andererseits die psychische Kondition eines im Krieg zum Spielball herabgesetzten Menschen, insbesondere einer Frau, die in eine neue Situation hineinversetzt, die Last der häuslichen und gemeinschaftlichen Herausforderungen doppelt zu tragen hat. Die Protagonistinnen in Odersaga nehmen aber diese Aufgaben mit Geduld und Aufopferungsbereitschaft auf sich, denn sie sind imstande, ihr Leiden nur für die Familie und den geliebten Mann zu akzeptieren, und nicht im Namen des Vaterlandes. Werte wie Patriotismus oder Nationalismus sprechen sie nicht an und sie betrachten den Krieg eher als einen Angriff auf ihr privates Glück. Die Herauskristallisierung eines deutlichen Gegensatzes zwischen Geschichte und Identität, zwischen bewohntem und unbewohntem Gedächtnis liegt auf der Hand. Es ist charakteristisch, dass weder den Erinnerungen des Kindes noch der Bilanz der Schicksale dreier Schwestern, die den geschichtlichen Ereignissen der Kriegsjahre – materiell wie auch mental – zum Opfer fallen, eine rückschauende Sehnsucht nach dem Verlorenen anhaftet. Der Krieg überschattet zwar die naive Sichtweise des Kindes, aber es findet schließlich vor ihm in sich selbst ein Versteck; auch die weiblichen Figuren in Odersaga verlieren langsam ihre Kräfte und müssen sich immer wieder zusammenreißen: Nichtsdestotrotz kann der Krieg sie alle weder fatalistisch stimmen noch ihre Zukunftsvisionen beeinträchtigen. Die Protagonisten beider Romane schaffen den Übergang zur nächsten Phase der Geschichtswahrnehmung noch schneller: Sie formieren ihre Emotionen neu und wachsen zu Repräsentantinnen einer Gegen-Erinnerung, die sie außerhalb des kollektiven Diskurses bilden. Als Karolines frisch vermählter Ehemann Felix, ein »äußerst tüchtiger, unerschrockener und befähigter Offizier« (O, 203), ums Leben kommt, kann sie sich zwar als »schwergeprüfte Seemannsfrau« (O, 203) mit seinem Heldentod nicht abfinden, die Gedanken an seine letzten Lebensstunden nicht verdrängen, besonders an »sein Lebendig-Begrabenwerden in einem eisernen Sarg am Meeresboden vor Englands Küste« (O, 205), aber sie betrachtet diesen vorzeitigen Tod eines jungen Menschen, dessen Leben erst begonnen hatte, aus existentieller Sicht, die mit Empathie durchtränkt, alles andere ist als ein mit Nationalstolz erfülltes Bewusstsein von einer gerechten Pflichterfüllung. Durch die Räume des Oderschlosses irrend, quält sie sich mit den Visionen der sterbenden Matrosen wie folgt: Immer wieder stellte sie sich vor, was für ein schweres Sterben es für diese tatkräftigen, jungen Männer gewesen sein mußte. Nein, nein, es war nicht auszudenken, wie es sich abgespielt hatte! Und doch bedrängte sie diese Vorstellung bis in den Schlaf mit

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Einbruch der Geschichte in die Heimat – der Erste Weltkrieg

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schweren Träumen. Werden sie gebetet oder geflucht haben? Nach der Mutter, den Frauen und Bräuten gerufen haben? Werden sie geweint, vielleicht auch gelästert oder wie Irre gelacht haben? Ihre Sinne konnten sich im letzten Aufbäumen gegen einen so unsinnigen frühen Tod verwirren – vielleicht auch hat jemand ein Gotteswort gesprochen und vielleicht – getröstet. (O, 205)

Das persönliche Unglück geht in der Tragödie von vielen auf, die Erinnerung an den gefallenen Mann muss jedoch ganz individuelle Züge bekommen, damit sie nicht verschwindet und er selbst an sie stärker gebunden bleibt. Durch das Errichten einer Gedenkplatte am Grab des Vaters im Schlosspark macht sie die Erinnerung an Felix lebendig und befreit sich von den quälenden Gedanken. Auch für die mittlere Schwester Bertha bedeutet der Einbruch der Geschichte in ihren Alltag eine Trennung vom Mann, den der Erste Weltkrieg auf einer Geschäftsreise durch Estland überrascht hat. Von den Russen als Spion gefangen gehalten, bleibt sein Aufenthaltsort über den ganzen Krieg hinweg unbekannt. Das einzige Lebenszeichen von August Rautenberg ist ein über Schweden nach Deutschland geschmuggelter Brief, den die besorgte Ehefrau auswendig lernt und in Krisenmomenten zitiert. Bertha verliert die Hoffnung auf eine glückliche Rückkehr ihres Mannes nicht und entscheidet sich, das Haus so lange nicht zu verlassen, bis er zurückkommt. Der Glaube an das Wiedersehen verleiht den traurigen Kriegsjahren Hoffnung und verstärkt nur Berthas Liebe, die sich zu einem Gefühl vom »Miteinander über Raum und Zeit« (O, 184) erhebt. Die durch den Krieg gefestigte Zuneigung zum Mann verursacht, dass nach der Entlassung aus der Gefangenschaft »nach vier Jahren des Hoffens und Harrens Bertha und Rautenberg keine Entfremdung [empfinden – R.D.-J.], [und dass – R. D.-J.] die Gegenwart berauschend fühlbar [wird und – R.D.-J.] ihre Zweisamkeit von neuem erblühen [kann – R.D.-J.]« (O, 213). Sowohl im Fall Karolines als auch Berthas wird der Krieg zu einer Grenzsituation, in der der Schmerz eine bedeutende Rolle spielt. Man hat hier dabei mit zwei Arten von Schmerz zu tun: dem des Verlustes und dem der Sorge um eine geliebte Person. Beide durch den Krieg verursacht tragen zur Selbstfindung, zur Aufdeckung von bisher verdrängten Gefühlen von Angst, Einsamkeit und Unsicherheit bei, die ursprünglich nicht zu bekämpfen sind, denn der leidende Mensch wird durch eine sprachliche Ohnmacht gelähmt, die verursacht, dass man das Erfahrene nicht versprachlichen kann und dadurch auch im Inneren verstummt.573 Beide können sich aber von dieser Situation im Moment der Vi573 Über das Verstummen eines Leidenden und zugleich dessen Verwilderung sprach schon Sophokles; dieses Motiv durchzieht sowohl die Literatur als auch Philosophie seit dem Altertum. Über die Wildheit des Leides reflektiert der polnische Philosoph K. T. Wieczorek, der darauf verweist, dass der Ausweg aus dem Leid eine neue Umgangsform mit sich selbst anvisiert. Vgl. K. T. Wieczorek: Samotnos´c´ bólu, ból samotnos´ci. In: »Ethos« 30 (2017), Nr. 4 (120), S. 19–48.

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sualisierung des Leidens befreien: Karoline durch ihre bunten Bilder, die als Gegenstücke zur Kriegswirklichkeit erscheinen, und Bertha durch das Zitieren von Passagen aus dem Brief des verschollenen Mannes. Durch diese Formen, einerseits der Leidbekämpfung, andererseits der Annäherung an den vermissten Partner, binden sie sich zugleich an den Raum und verorten noch mehr in der Heimat. Diese Möglichkeit hat die dritte Schwester nicht, deren Mann zum Opfer der nationalen Auseinandersetzungen in Oberschlesien wird. Franz Gaebler wird von den polnischen Aufständischen aus der Kattowitzer Wohnung geholt und bei einem Fluchtversuch erschossen. Seine Leiche wird danach von zwei Aufständischen in den Wald geschleppt und dort verscharrt. Im Gegensatz zu ihren Schwestern wird Merle der Hoffnung beraubt, als die Nachricht vom Tod des Mannes kommt. Zunächst macht sie die Gewissheit, den Ehemann nie mehr zu sehen, wie gelähmt, aber auch sie begreift schnell, dass das versteckte Leid und die zu lange getragene Trauer das weitere Leben des Menschen nachhaltig verändern. Den Schwestern ähnlich, entscheidet sie sich von den schmerzlichen Erfahrungen zu verabschieden, ohne jedoch den Ehemann zu vergessen. Auch in dieser Situation erweist sich das Foto des Verstorbenen, vor welchem man Kerzen anzündet, als eine wirksame Therapie, die das Vergangene mit der Gegenwart verbindet. Dieser Raum liegt, genauso wie die Verstecke des Kindes in … und wurden nicht gefragt, abseits der großen Geschichte, von der Reflexion über historische Determiniertheit abgeschirmt und nur auf das Individuelle, auf einen freien Umgang mit Erinnerungen fixiert.

6.2

Oberschlesien im Kreuzfeuer nationaler Konflikte

Der Erste Weltkrieg bildet zwar einen einschneidenden Moment in den Storm’schen Romanen, indem er das weitere Leben aller Figuren beeinflusst und die Konturen des bewohnten Gedächtnisses markiert, das aber in viel größerem Maß von der Volksabstimmung in Oberschlesien 1921, dem darauffolgenden Dritten Schlesischen Aufstand und infolgedessen der Teilung dieses Industriegebiets geprägt wird.574 Dem politischen Konflikt des Jahres 1921, der als Folge der geopolitischen Lage Oberschlesiens den Protagonisten in … und wurden nicht gefragt und Odersaga von Anfang an ins Bewusstsein dringt, wird eine andere Rolle zugemessen als dem Ersten Weltkrieg. Die Ereignisse des Jahres 1921 fordern von dem sich erinnernden Kind wie auch den Figuren um Gaebler immer wieder, das utopische Bild von einer interkulturellen Gemeinschaft des oberschlesischen Grenzraumes für nicht realisierbar zu erklären und ihre nationale Identität – auch wider Willen – eindeutig bestimmen zu müssen. So 574 Über die Volksabstimmung und Aufstände in Oberchlesien 1919–1921 vgl. Kap. 2, S. 62f.

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Oberschlesien im Kreuzfeuer nationaler Konflikte

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kommt es zu einer Überschneidung von Identität, Geschichte und Nation575, die auch die Räume des bewohnten und unbewohnten Gedächtnisses vermischt und die etablierte Vorstellung von der Heimat dekonstruiert. Die nationale Vielfalt der Region Oberschlesien kommt topographisch gesehen im Dreikaisereck zum Ausdruck, wo bis 1918 die Grenzen dreier Kaiserreiche zusammentrafen.576 Insbesondere dort – noch lange vor dem Ausbruch des Krieges – wird es dem Kind bewusst, dass Nationalität und Politik die Menschen trennen und nur zu Leid führen. Auf der Brücke des Grenzlandes begegnet das Kind einer Greisin, die vor dem Bildstock des heiligen Nepomuk kniend ihres vor mehr als dreißig Jahren von einer Grenzpatrouille getöteten Bräutigams gedenkt. In dieser demütigen Haltung drückt sich die Ratlosigkeit den politischen Mechanismen gegenüber aus und die stumme Akzeptanz der Lage eines Grenzlandmenschen, der in einem Zwischenraum wohnt, der ihm aber keinen Schutz gewährt, ganz im Gegenteil – ihn nur Gefahren aussetzen lässt. Jene Gefahren, aus Hass und Rivalität resultierend, bewirken aber Schneeballeffekt: Sie werden von Tag zu Tag größer, bis sie eines Tages explodieren. Diese Erfahrung lässt das Kind seit dem Besuch am Dreikaisereck nicht los, indem es immer neue Artefakte der nationalen Unterschiede wahrnimmt. Zunächst erscheinen sie ihm als disparate oder außergewöhnliche Formen der anderen, unbekannten Kultur. Im Laufe der Zeit entpuppen sie sich als trennende Unterschiede, die keinen Kompromiss anerkennen. Am Dreikaisereck hört das Kind zwei Begriffe, die als Signifikanten für den nationalen Zwiespalt stehen. Auf der einen Seite sind das Koscheniere, die mit den Sensen schwankend in der Erzählung der betenden Greisin wie Henker ihres unschuldigen, zur Arbeit auf dem anderen Grenzgebiet eilenden Geliebten erscheinen. Die dem Kind Angst einjagenden »Sensenmänner« (UwnG, 14) verdeutlichen zudem, dass es in einer »gefährlichen Zeit wohl schwer [ist – R.D.-J.], Freund von Feind zu unterscheiden« (UwnG, 14). So stehen die Koscheniere für eine negative Wahrnehmung des Anderen, die die Verteidigung des eigenen Gebiets vor dem Fremden bedeutet und sich gegen das friedliche Zusammenleben abgrenzt. Auf der anderen Seite kann die nationale Kluft nur auf friedlichem Wege überbrückt werden. Die Merkmale des Fremden erscheinen dann als eine seltene Eigentümlichkeit, die nur Bewunderung wecken kann. Darauf macht der Vater das Kind aufmerksam, indem er das »glühende, nationale Herz« (UwnG, 15) der Polen lobt, gleichzeitig die Folgen einer künftigen polnischen Erhebung befürchtend. Die Annäherung an die für das Kind fremden Polen führt jeweils zum Gefühl der Andersartigkeit, die manchmal mit Ablehnung, Trauer 575 Auf diese Verflechtung verweist A. Assmann im Kontext des Erinnerungsprozesses. Vgl. Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 41), S. 64–84. 576 Vgl. dazu Kapitel 3, S. 120–126.

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oder Angst korrespondiert. Diese Emotionen variieren von Situation zu Situation, aus einer kindlichen, voller Naivität Perspektive erkundet das heranwachsende Mädchen das Gebiet des Fremden und lernt es von dem Eigenen abzugrenzen; im Laufe der Zeit kommt es zur Überzeugung, das Fremde gewinne über das Eigene die Oberhand und reiße ihm seine Heimat Stück für Stück ab. Es ist dabei charakteristisch, dass das National-Fremde am Beispiel ausgewählter Vertreter ausgeführt und nicht komplex als eine Gruppenerscheinung präsentiert wird577, so vollzieht sich eine bruchstückhafte Aufdeckung der Erinnerungen, die aus Fragmenten ein vollständiges Bild nationaler Stereotype rekonstruieren lassen. Die Annäherung an das Fremde, das dem Kinde zunächst in kleinen Formen in privaten Räumen begegnet, stärkt zugleich seine innere Verfasstheit und führt zur Identitätsbildung. Die ersten Kontakte mit den Polen verlaufen allerdings friedlich. Das Kind spielt gerne mit dem sog. Milchbruder Franzek und denkt mit Sympathie an die gemeinsame Milchmutter Jelena, deren Besuche im Elternhaus in einer lockeren, freundschaftlichen Atmosphäre verlaufen. Die in der Küche versammelten Dienstmädchen »schwatzten dabei in ihrem Wasserpolnisch mit der Köchin und dem Stubenmädchen, bis die Eltern kamen, die die Geschenke [Käse, Eier und zwei lange Streuselkuchen – R.D.-J.] bewunderten und Jelena mit ins Wohnzimmer nahmen, um ihr gleichfalls ein Geschenk zu machen. Sie bekam Geld, für das sie dem Jungen ein Paar Stiefel kaufen würde.« (UwnG, 17) Das Kind und Franzek, die Hände haltend, laufen inzwischen über den Hof, besteigen Pferde und schimpfen im oberschlesischen Dialekt »Pieruna«, der im Werk Storms selten zu finden ist578. Jelena betrachtet das Mädchen wie das eigene Kind, sie 577 Dieses Forschungsmodell des Fremden, entwickelt von H. Dyserinck, M. Beller, M. S. Fischer oder J. Link, stützt sich auf das Prinzip der dreiwertigen Valenz und setzt voraus, dass einzelne Vertreter einer Nation und nicht die ganze ausgewertet werden, wodurch die individuelle Prägung sowie semantische Codierung des untersuchten Objekts zur Sprache kommen. Vgl. M. Beller: Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, hrsg. von E. Agazzi. Göttingen 2006, S. 38; Kulturthema Kommunikation. Konzepte, Inhalt, Funktionen, hrsg. von A. Wierlacher. Möhnesee 2000, S. 270. 578 Dieses Wort ist im oberschlesischen Dialekt ein Schimpfwort, das sich mit dem deutschen »Donnerwetter« vergleichen lässt. Wie schon angemerkt, lassen sich im Werk der Schriftstellerin wenige Sprachvarianten des oberschlesischen Dialekts finden, auch das Niederschlesische kommt nur in Ausnahmefällen vor. Im Hinblick auf den oberschlesischen Dialekt lässt sich annehmen, dass er ihr unbekannt war oder dass sie ihn aus der Kindheit nicht in Erinnerung behalten hat; im Niederschlesischen verfasste sie dagegen das Drama Das Haus am Hügel. Vgl. Kapitel 2, S. 85. Im Hinblick auf interkulturellen Charakter des Grenzlandes Oberschlesien lässt sich bemerken, dass R. Storm ihn nicht durch dessen Mehrsprachigkeit definiert. Man sucht in ihrem Werk vergeblich nach Barbarismen, Parallelität oder ›hybriden Sprachen‹, in denen es zur Vermischung von Sprachen und dadurch Kulturen kommt, was im Werk anderer schlesischer Autoren (A. Scholtis, H. Bienek, E. Rakette u. a.) oft zu finden ist. Zur Bedeutung des schlesischen Dialekts als distinktives Merkmal der Heimat vgl. Dubeck, Heimat Schlesien nach 1945 (wie Anm. 85), S. 184–188.

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umarmt es bei jedem Besuch und drückt es an sich, so dass zwischen beiden ein herzliches Verhältnis entsteht, das weder durch Jelenas polnische Herkunft noch deren unverständliches Deutsch gestört werden konnte. Durch die Kontakte mit der Milchmutter fällt es dem Kinde schwer, einen Unterschied zwischen den Wörtern »Polen, Kongreßpolen, Pollaken, Großpolen und Wasserpolen« (UwnG, 16) zu erkenne. Als Kind betrachtet es die anders sprechenden Polen als ein entfremdendes Element, das es in bestimmten Konstellationen sogar zur Einsamkeit verurteilt. Eine solche Verkörperung des Fremden ist Libuscha, die als Polin zu Hause unterrichtet wird, kein Deutsch sprechen kann und mit der Schulfreundin des Kindes, Bogna, befreundet ist. Ihr Erscheinen bewirkt, dass sich die Schulkameradin in einer bestimmten Situation vom Kind entfernt, mit ihm nicht weitergehen will und es auf der Straße stehen lässt. Libuschas Beschreibung folgt dabei einer stereotypen Vorstellung von einer schönen Polin, die sich durch eine schlanke Figur und »lebhafte Anmut, ihre weißblonden glatten Zöpfe« (UwnG, 16) auszeichnet.579 Auch ihre Kleidungsweise und ihr Benehmen sind national gefärbt und weisen auf die kommenden politischen Auseinandersetzungen hin, die für Polen erfolgreich enden werden, was der heterodiegetische Erzähler aus einer intentional gemischten, kindlich-erwachsenen Perspektive vorwegnimmt: Wenn sie im kurzen Faltenrock und schneeweißem Sweater, eine viereckige Strickmütze von weißroter Farbe etwas schräg, wie eine Konfederatka, über den seidigen Scheitel gezogen, im Winter auf der Eisenbahn hinter der Marthahütte dahinjagte, Schleifen und Wirbel drehte, lag hinter dieser Tollkühnheit noch anderes verborgen. Im Dunst des grauen Dezembertages, über der blanken Fläche des Eises, wurde das Weißrot der Davonsausenden, Polens Nationalfarben, zu einem verheißungsvollen Signal. (UwnG, 16)

Das Kind bekommt noch andere Signale, die von den bevorstehenden nationalen Auseinandersetzungen künden. Es entnimmt sie der auf Polnisch gehaltenen Rede von Annas Bekanntem, dem die Mädchen am Ostermorgen an der Klodnitzquelle begegnen. Er schaut auf das »Kind von der Zeitung« (UwnG, 58) aus der Perspektive eines »Pollacken von der Oheimgrube« (UwnG, 58); sein Blick und seine »wilde und unberechenbare« (UwnG, 58) Haltung korrespondieren Zur Mehrsprachigkeit und deren Funktionen in literarischen Texten vgl. R. Makarska: »Nackt wie ein heiliger Türke«. In: »Zeitschrift für interkulturelle Germanistik« 6 (2005), S. 119–133. 579 Das Motiv der schönen, sich durch ihr Äußeres auszeichnenden Polin wurde von zahlreichen deutschsprachigen Autoren schon seit dem 18. Jahrhundert oft aufgegriffen. Vgl. B. Matuszak-Loose: »Verschiedenheit schafft Vergleichung…« – Kulturelle Fremdheit am Beispiel des literarischen Bildes schöner Polinnen in deutschsprachigen Texten. In: Polnischdeutsche Wechselbeziehungen im zweiten Millennium, Bd. 1, hrsg. von J. Papiór. Bydgoszcz 2001, S. 244–254.

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mit dem »abschätzenden Schweigen« (UwnG, 58) und dann mit dem Fuchteln mit dem Zweig, als ob er mit ihm »einen unsichtbaren Gegner« (UwnG, 58) peitschen wollte. Die einzelnen Kontakte des Kindes mit der ihr kulturell fremden Welt, die allerdings immer breitere Kreise ziehen – mit dem Zuhause beginnend, über die Brücke am Dreikaisereck und mit zahlreichen Begegnungen auf der Straße endend – nehmen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu. In der Vorstellungskraft des Kindes entsteht nach der Bekanntmachung der Beschlüsse des Versailler Vertrags in seinem Elternhaus ein leerer Raum, den es nicht erkennen kann und der ihm fremd vorkommt: Alles erschien auf einmal ohne Glanz. Trübe verging das Weihnachtsfest, und selbst die Sonne über den bereiften Dächern war verhangen. Das Kind pendelte von der oberen Etage der Wohnung in die untere, überall fehlte etwas, einige Räume waren sogar verschlossen – und nun gab es auch keinen Kaiser! Das Hauptquartier hatte sich aufgelöst. Statt Schlagbäumen gab es jetzt Stacheldraht auf der langen Holzbrücke über die Przemsa. Russischpolen schien sich in ein selbständiges Polen verwandeln zu wollen. (UwnG, 127)

Die polyphonen Stimmen der Erwachsenen skizzieren die politische Situation in Oberschlesien nach 1918 in groben Zügen: Oberschlesien gerät unter Kontrolle fremder Mächte, das Kind fühlt sich bedroht und hilflos. Aus der Ausweglosigkeit dieser Situationen findet es eine Rettung in der Sprache. Die neue Wirklichkeit, in der sich – wie es der Vater betont – »die Polen rühren, und ihre geschickten Unterhändler bei den Alliierten« (UwnG, 128) suchen, spiegelt das Wort die Abstimmung wider, an welches sich dann neue Begriffe und Bilder anreihen: französische Tanks, fremde Uniformen, Zensur. Im Gegenspiel zum öffentlichen Diskurs entwickelt das Kind eine eigene Sprache, die sich aus codierten Schlagworten zusammensetzt, und auf diese Art und Weise seine Empfindungen versprachlicht: O/S? Haute Silesie – Polska – SOS! (UwnG, 128)

Diese im Mathematikunterricht niedergeschriebenen Zeilen wecken das Interesse des Lehrers, der die knappe Formulierung und den politischen Sinn der jungen Autorin lobt. Um das Kind vor den politischen Unruhen zu schützen, wird es in einem weit von Oberschlesien entfernten Internat untergebracht. Der Aufenthalt dort hält das Kind von den Ereignissen ab, deren Verlauf es erst einem Brief der Großmutter entnehmen kann, die ihre Enkelin vor allem mit den familiären Problemen vertraut macht: mit der Flucht des Vaters vor den polnischen Aufständischen und dem Bruch in der Familientradition. Das Kind kommt im Antwortbrief mit konkreten Argumenten mit der Großmutter ins Gespräch,

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Oberschlesien im Kreuzfeuer nationaler Konflikte

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denn auch für das Mädchen ist die Bindung der Familie an Oberschlesien ausschlaggebend, was es selbstständig formuliert und treffend pointiert: Aber daß der Vater nie mehr nach Oberschlesien zurück kann, wenn die Abstimmung für uns schlecht ausfallen sollte, will mir nicht in den Kopf. Das geht doch gar nicht, Großmama, er ist doch dort geboren und ich auch. Und wie Du mir selbst erzähltest, hast Du doch als junge Frau mit Großpapa alles dort aufgebaut, das Haus, die Buchhandlung, die Druckerei, wo früher ein Garten gewesen wäre, und noch früher nur Brachland. Warum müssen wir dafür nun all dieses Schreckliche erleben? Nun weil wir an einer Grenze wohnen, den Krieg verloren und keinen Kaiser mehr haben? (UwnG, 136)

Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges und den politischen Spannungen in Oberschlesien beginnt das Erwachsenwerden des Kindes, das die Situation in der Region mit seinen einerseits naiven, andererseits scharfsinnigen Augen wahrnimmt. Jene kindliche Sicht verschwindet aber im Moment des Ausbruchs des dritten schlesischen Aufstandes und wird durch eine des politisch erfahrenen und nationalbewussten Betrachters ersetzt. Das Verlassen des Internats erfolgt kurz vor der Abstimmung, die dem Kind Hoffnung auf Normalität bringt. Darüber hinaus zieht das Mädchen eine Verbindungslinie zwischen Privatem und Geschichte, zwischen seiner persönlichen Lage und der der Heimat. Beides befindet sich in einer Krise: das Kind kämpfte gegen eine schwere Krankheit und die »Vaterstadt um ihr Lebensrecht« (UwnG, 149). Die Überwindung der Todesgefahr beim Kind deckt sich freilich nicht mit einem Sieg auf politischem Gebiet. Schon auf dem Rückweg in die Heimat wird das Kind mit den neuesten Nachrichten konfrontiert, die einerseits über die hohen Prozentverhältnisse bei der Volksabstimmung für die Deutschen berichten, andererseits eine ungerechte Entscheidung und Gewaltakte verlautbaren. Die Zugpassagiere befürchten den dritten Aufstand und beschimpfen dessen Anführer Korfanty, indem sie seine Taktik entschleiern: »Ich fürchte einen neuen Aufstand! Es ist diesem Korfanty schon zweimal damit gelungen, bestimmte Ziele zu erreichen. Immer wenn sich die Waagschale zu Gunsten Deutschlands senkte, ist der Gegenhebel – die rohe Gewalt, in Bewegung gesetzt worden, um eine Situation der Unsicherheit zu schaffen, aus der heraus dann die polnischen Vorteile kommen. […] Er wettert gegen die Schlotbarone, verspricht den Städten Wohlstand, und auf dem Lande jedem Kätner eine Kuh. Und das soll nicht verlocken nach den mageren Kohlrübenwintern?« (UwnG, 151f.)

Korfantys Maßnahmen wären jedoch ohne die Unterstützung der Alliierten wenig wirksam gewesen. Die Sympathie der Franzosen mit den Polen verurteilt in den Augen des Mitreisenden die Deutschen zur Niederlage, besonders die Zensur, der nur die deutsche Presse unterliegt, während sich die polnische frei entwickelt haben soll. Die Perspektive des Kindes schafft zu den Ereignissen

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Distanz und lässt sie zuerst als Elemente einer entfernten, nicht realen Welt annehmen. Erst nach der Ankunft im Elternhaus wird ihm die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst, als es sich herausstellt, dass die Köchin Anna kündigt. An dieser Entscheidung wäre nichts Besonderes, wenn sie das Haus ihrer langjährigen Arbeitgeber nicht als eine »Triumphatorin« verlassen hätte, die »unverschämt« (UwnG, 154) die Frage danach stellte, wer letztendlich in diesem deutsch-polnischen Streit Recht habe. Mit dem Abschied von Anna und ihrem Korb, der dem Kind als Spielzeug gedient hat, geht eine Zeit, »etwas Unwiederbringliches« (UwnG, 154), zu Ende und beginnt eine neue Phase sowohl im Leben der Protagonistin als auch ihrer Heimat. Der Ausbruch des dritten Schlesischen Aufstandes in der Nacht vom 2. zum 3. Mai 1921 wird zunächst vom heterodiegetischen Erzähler kommentiert, der die Ereignisse dieser Auseinandersetzung mit den des Ersten Weltkrieges vergleicht. Ganz schnell merkt das Kind alleine, das zum Fokalisator wird, den Unterschied zwischen den beiden Straßenszenen: bei der »Kartoffelrevolution« (UwnG, 155) war die plündernde, verhungerte Masse von der Polizei und Feuerwehr beherrschbar, die Aufständischen bilden aber jetzt eine unkontrollierbare Menge, die das Kind an die immer gefürchteten Koscheniere, Sensenmänner, die »hart, unerbittlich, tödlich« (UwnG, 155) auftreten, erinnert. Das die marschierenden Aufständischen beobachtende Kind registriert jede Bewegung, jedes Element ihrer Kleidung und ruft seine Erinnerungen an die unfreundlichen Gesichter wach, die ihm bisher begegnet sind. Die Aufständischen erscheinen in jeder Konstellation als feindlich und aggressiv, denn [ihre – R.D.-J.] Gewehre waren gegen die Fenster der Wohnhäuser gerichtet, selbst wenn sich nur eine Gardine bewegte, wurde hineingefeuert. Die Männer trugen offene Hemden, Sportmützen, in ihren Koppelriemen, die über die Jacken geschnallt waren, steckten Handgranaten. Die gleichen Gestalten, die dem Kind während der Eisenbahnfahrt auf den Bahnhöfen aufgefallen waren, strotzten jetzt in Waffen. Die aufgehende Sonne färbte Gesichter und Hände blutrot. Und da lagen auch schon auf dem Straßenpflaster unbewegliche Körper, die unter den Armen erfaßt und an die Häuser gezogen wurde, um sie aus dem Wege zu räumen. (UwnG, 155f.)

Die Angst vor den marschierenden Gruppen zwingt die Frauen, die nur auf sich angewiesen sind, zur Abwehr. Es ist hier anzumerken, wie schnell sich der öffentliche Raum in einen privaten verwandelt und wie der private Raum von Frauen inszeniert wird. Sie erfüllen ihn mit Bewegung, mit spontanen, aber durchaus kontrollierten Aktivitäten, die einen Gegenpol zur männlich dominierten Außenwelt des Kampfes und des Chaos bilden. Und so verstecken sie sich im Hinterraum des Hauses, um dort einen sicheren Raum schaffen zu können, dann lassen sie Wasser in die Badewanne einlaufen, weil die Trinkwasserversorgung der Stadt von Aufständischen kontrolliert wird, und schlaflos »lauschen

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[sie – R.D.-J.] in die Nacht« (UwnG, 10). Aus Sicherheitsgründen versuchen sie sich von der Welt abzuschotten, und so werden sie zu Gefangenen in der eigenen Wohnung. Dieses Eingeschlossen-Sein, »eingeengt in Häusermauern und Straßen, während draußen der Frühling seine Schalmeien in die jungen Blätter der Bäume blies, wurde von Tag zu Tag eine schwerere Last« (UwnG, 161). Das Durchbrechen der heterotopischen Zone der häuslichen Gefangenschaft, die durch neue Einschränkungen – Vorräteknappheit, Wassermangel, Stromausfall – immer schmerzlicher wird, geschieht nur dank der Vorstellungskraft des Kindes. Es belauscht die Erwachsenengespräche und versucht, aus ihnen den wahren Stand der Dinge herauszulesen. Die aufgeschnappten Mitteilungsfragmente ergeben das dynamische Bild einer gespaltenen Region, die nur aus Kontrasten besteht: der Ruf nach der Abstimmungspolizei und den Besatzungsmächten wird durch ein Geschoss aus einer Waffe von Aufständischen abgedämpft. Das Verhängen dieses Zustandes wird durch das unerwartete Telefonat des Vaters aufgehoben, das für die alleinstehenden Frauen eine Brücke zur Normalität bedeutet, »die würgende Ruhe« (UwnG, 158) kontrastiert dagegen mit dem Winseln des Dackels. Die Fragen des Kindes erhalten eindeutige Antworten, die in den Gesprächen der Großmutter und Mutter ausgesprochen werden: Die Insurgenten wollen durch diesen dritten Korfantyaufstand mit Gewalt eine Revision des Abstimmungsergebnisses erzwingen. Systematisch sind in der vergangenen Nacht alle Bahnhöfe im Industriegebiet besetzt worden. Zug- und Postverbindungen sind zerstört, Brücken und Bahnübergänge gesprengt, die Telefonleitungen zerschnitten, ein Teil der deutschen Abstimmungspolizei ist ausgeschaltet, wahrscheinlich ermordet worden. Die deutsche Bevölkerung ist systematisch mit einem Schlag vom Reich abgeschnitten, schwer bewaffnete Insurgenten haben in den Städten und ländlichen Bezirken die Oberhand. (UwnG, 159f.)

In ihren Gedanken will das Kind diesen hoffnungslosen Belagerungszustand bewältigen, sich für das Vaterland einsetzen und – Jeanne d’Arc ähnlich – ihm das »Herz opfern« (UwnG, 160), oder es verbluten lassen und das Land von den »Eindringlingen« (UwnG, 160) befreien. In diesem Moment lassen sich für einen Augenblick die Sphären der Identität, Geschichte und Nation vereinigen: Das Ich kann sich in dieser Grenzsituation einer Gefangenen nur durch das Kollektive definieren, was ihm während des Ersten Weltkrieges als unnötig erschien. Jetzt, im Moment des drohenden Heimatverlustes, den das Kind erahnt, zeigt sich diese Identifikation mit anderen als eine notwendige Lösung. Mit der Dauer des Belagerungszustandes spitzen sich die Konfliktsituationen zu, es kommt zu direkten Auseinandersetzungen auf der Straße, zwischen Menschenmassen und den Panzern der Alliierten; die Gefühle der »Angst, Trauer, Klage« (UwnG, 170) gehen jedoch in einer nahen Explosion unter. Das heiß für die weiblichen Ge-

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fangenen, dass die äußere Welt ihren Raum immer mehr dominiert und schrittweise auch das Innere beherrscht. Nur der virtuelle Wechsel des Aktionsraumes, der von der abgeschlossenen Wohnung zum Annaberg verlegt wird, wo die entscheidende Schlacht des dritten Aufstandes stattfand, kann die innere Abkapselung unterbrechen. Diese räumliche Eröffnung wird doppelt benötigt, einerseits bedeutet sie das Verlassen der Wohnung, andererseits lenkt der Erzähler die Aufmerksamkeit des gefangenen Kindes auf die mythische Aura des Berges, von der die Hoffnung herkommt, keine Gefangenen mehr zu sein. Die Projektion von der heilenden Macht der heiligen Anna erweist sich auch in diesem Fall als vergebens. Sie kippt unerwartet ins Triviale um, als ein Transport mit Kartoffeln beschossen wird, Todesopfer bringt und den Zugang zum Essen versperrt. Die Zuspitzung der Ereignisse lässt weder das Kind noch dessen Familie nach Hause zurückkehren. Körperlich bleiben sie zwar noch im Haus, aber ihre Gedanken kreisen um die Stadt, sie gehen durch die Straßen und wollen sie nach eigener Vorstellung dynamisieren. Draußen geht jedoch die weibliche Kraft verloren, auch das individuelle Potenzial kann mit dem Kollektiven nicht ausgeglichen werden. Zur Vorstufe des letzten tragischen Moments wird die Entdeckung der toten Mitglieder der Abstimmungspolizei, dem ein individueller, verbaler Akt des Kindes entgegengesetzt wird. Das nahende Ende wird aber nicht direkt in einer Gewaltszene dargestellt, sondern mit Hilfe von vielen metaphorischen Naturbildern verschlüsselt, die durch die zerstörte Natur, »versteinerte Wälder«, »Regen und Wind«, »zu Boden rieselnde Nadeln« (UwnG, 173) versinnbildlicht werden. Es ist charakteristisch, dass dieser Code seine regionale Verschlüsselung verrät, indem er an die Ursprünge dieses Industriegebiets und an seine Bindung an die Natur wie auch an die laufende Zerstörung durch den Fortschritt erinnert. Im Zugriff auf die Natur drückt sich, gerade in dieser lebensbedrohlichen Situation, die Überzeugung des Fokalisators vom zyklischen Lauf der Geschichte aus: Diese Häuser und Straßen, die Wohnungen und das Schicksal vieler arbeitsamer Menschen schwankten jetzt gleichfalls wie vor Jahrmillionen die großen Wälder, bis in die Wurzeln waren einst die Bäume erschüttert worden, um zu versinken – das Leben, dachte das Kind, ist schwer zu begreifen, es ist furchtbar und herrlich zugleich! (UwnG, 174)

Diese Reflexion lässt das Kind sich mit dem für die Deutschen tragischen Ende des Aufstandes abfinden, die Flucht aus der Stadt dank der Unterstützung eines englischen Offiziers als Erlösung empfinden und die Hoffnung auf das Neue, Unbekannte, auf etwas, was sich hinter der deutsch-polnischen Grenze befindet, richten. Den Zustand des Eingeschlossen-Seins, der äußeren wie auch inneren Freiheitsbeschränkung, die zunächst durch den Aufstand und danach durch die gegen die Familie des Zeitungsbesitzers gerichteten Sicherheitsmaßnahmen der

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polnischen Behörden verursacht wird, machen den Abschied von der Heimat leichter, obwohl es weder dem Kind noch den anderen Familienmitgliedern in den Sinn kommt, dass sie nach Oberschlesien nie mehr zurückkehren werden. Der Abschied wird lediglich als ein Akt der Befreiung und Rettung aus einer lebensgefährlichen Situation begriffen. Für das Kind bedeutet das aufgezwungene Verlassen der Heimat eine Zäsur, mit welcher das Erwachsenenleben und die Suche nach einer neuen Verwurzelung einsetzt. So erweist sich die Geschichte, die besonders für die Heimat einen Orientierungsrahmen bildet, doch als identitätsstiftend und für das Gedächtnis fruchtbar. Diese identitätsstiftende Rolle der Geschichte scheint aber speziell in einer Grenzregion und unter Anwendung eines kindlichen Narrativs möglich zu sein. Die Fokalisierungsstrategie orientiert sich zunächst an den Ereignissen des Ersten Weltkrieges, der für das Kind an historischer Dimension einbüßt und sich mehr als ein existenzielles Erlebnis erweist, das Änderungen der bisherigen Lebensweise und der als unanfechtbar geltenden sozialen und moralischen Normen impliziert. Das Fehlen des kollektiven Narrativs, das sich hier auf das Attentat auf den Kronprinzen, den Moment des Kriegsausbruchs und Begegnungen mit dem Kaiser beschränkt, die durch die Optik eines naiven, allerdings innerlich engagierten Kindes dargestellt werden, führt zur eindeutigen Verlagerung auf lokale Geschichte und deren verstärkte Individualisierung, die in der Begrenzung der Wirkungs- und sogar Denkmöglichkeiten gipfelt. Die Transposition der Heimaträume vollzieht sich nicht nur durch die Wahl einer bestimmten Perspektive, sondern durch deren Geschlechtslosigkeit. Das Kind, dessen weibliches Geschlecht nur an wenigen Stellen zu erkennen ist (z. B. durch die Benennung der Spielzeuge, Namen der Freudinnen, Kleider oder Anteilnahme am weiblichen Ritual an der Klodnitzquelle), sorgt für eine gewisse Neutralität, der das kollektive Narrativ des typisch militärischen wie auch des politischen Kontextes fehlt. Das Alter des Kindes fördert darüber hinaus die kognitiven Fähigkeiten, die Entfaltung des Gedächtnisses und des Konzentrationsvermögens580, die den Erinnerungsprozess evaluieren und dadurch akut sowie valide machen. Die Naivität und das unbestimmte Geschlecht des Kindes bewirken, dass es sich zunächst von den historischen Ereignissen distanziert, das Wechselspiel der Emotionen zu beruhigen versucht und den Moment der für das Alter typischen Entfremdung zwecks Selbstfindung nutzt.581 580 Auf diese Fähigkeiten des Gedächtnisses in der Jugend verweist nachdrücklich D. Draaisma. Vgl. D. Draaisma: Fabryka nostalgii o fenomenie pamie˛ci wieku dojrzałego. Wołowiec 2010, S. 87. 581 Das Kind lässt sich mit G. Grass’ Oskar Matzerath vergleichen, der nach der polnischen Literaturwissenschaftlerin M. Janion als eine bewusst eingesetzte Figuration der Entfremdung im historischen Prozess und eine konsequent vorgenommene Distanzierung vom Raum des unbewohnten Gedächtnisses gedeutet werden kann. Nach M. Janion ist Oskar eine

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Welche Rolle Perspektive und Geschlecht beim kollektiven und individuellen Narrativ der regionalen Geschichte spielen können, zeigt Ruth Storm hingegen im Roman Odersaga, dessen Handlung aber nur teilweise in Oberschlesien spielt. Der aus Kattowitz stammende Franz Gaebler gehört zu Pionieren dieser Industriestadt, die bemüht sind, zum wirtschaftlichen Aufschwung der Region beizutragen, aber auch den Armen und Bedürftigen, die den Industrialisierungsprozessen zum Opfer fallen, helfen zu wollen. Seine Pläne wurden durch die Aufständischen unterbrochen. Die Einführung der männlichen Figur und deren Ermordung verändern wesentlich den Standort des Fokalisators sowie dessen Objekte. Auch dem Narrativ werden eindeutig kollektiv-nationale Merkmale hinzugefügt. In Odersaga wird ebenfalls über die historischen Ereignisse der Jahre 1918–1921 vom heterodiegetischen Erzähler berichtet, der zunächst auf die Beschlüsse des Friedensvertrags von Versailles, der »durch seine Härte den Grund zu neuen Konflikten legen sollte« (O, 220), eingeht, im Weiteren die politische Situation in Oberschlesien beschreibt582, die auf die Perspektive der Deutschen fokussiert ist. Der Erzähler, der im Vergleich zum Zugpassagier in … und wurden nicht gefragt sachlich und informativ spricht, ohne sich auf Spekulationen einzulassen, stellt die Argumentationsweise der Deutschen wie folgt fest: Inzwischen hatte die deutsche Einwohnerschaft Tage und Wochen des Schreckens und Terrors zu bestehen. Als dann fast 2/3 aller Stimmen sich für den Verbleib für Deutschland entschieden, rief der polnische Abstimmungskommissar Korfanty zum dritten polnischen Aufstand aus, der Loyalität der überwiegend französischen Besatzungstruppen unter dem Befehl von General Le Rond gewiß. Waffen für die »Insurgentenarmee«, für die in ganz Polen geworben worden war, gelangten ungehindert über die ehemals deutsch-russische Grenze nach Oberschlesien. In der Nacht vom 2. zum 3. Mai 1921 begann schlagartig der Putsch, der vollendete Tatsachen schaffen sollte und das Land in ein Chaos zu stürzen drohte. (O, 221)

In diesen kurzen Bericht schließt sich der Verlauf und das Resultat des dritten Aufstandes ein, vor dessen Hintergrund sich das persönliche Schicksal eines der vielen deutschsprachigen Einwohner abspielt. Franz wird von den Aufständischen am Tag seiner geplanten Abreise nach Odersaga aus der Wohnung geholt, nachdem ihn eine heftige Detonation aus dem Schlaf gerissen hatte. Die be»Synthese der Fremdheit«. Vgl. M. Janion: Rozpla˛tywanie Grassa. In: Polskie pytania o Grassa, hrsg. von M. Janion. Warszawa 1988, S. 18–32, S. 29. 582 Es ist hier anzumerken, dass die Argumente des Erzählers in Opposition zu den der polnischen Historiker stehen. Der 100. Gedenktag der schlesischen Aufstände gab beiden Seiten des damaligen Konflikts keinen Anlass zur vergleichenden Studie dieses historischen Ereignisses. Die neueste, allerdings nur aus polnischer Sicht verfasste, Monografie der Schlesischen Aufstände legte vor Kurzem R. Kaczmarek vor. Vgl. R. Kaczmarek: Powstania S´la˛skie. 1919–1920–1921. Nieznana wojna polsko-niemiecka. Kraków 2020.

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waffneten Zivilisten sind besonders an Gaebler interessiert, der in der Region die deutsche Betriebsverwaltung vertritt. Dass soziale Unterschiede der Verhaftung zugrunde liegen, kommt in der Aussage eines seiner Entführer zum Ausdruck, der sich und andere als »Herren« (O, 223) bezeichnet. Im Fall Gaeblers geht es nicht nur um die Tatsache, dass er der ärmeren Bevölkerung als Repräsentant der gehassten Arbeitgeber erscheint, sondern auch um private Angelegenheiten, die wiederum auf seine Kindheitsjahre in einer Adoptionsfamilie zurückgehen, in der er misshandelt und gedemütigt wurde. Auch in diesem Roman vermischt sich die Perspektive des Erzählers mit der Innensicht der Figur, in diesem konkreten Fall kommen noch das kollektive sowie individuelle Gedächtnis hinzu. Die Gedanken Gaeblers sind einerseits mit den Ursachen für seine Behandlung durch die Aufständischen beschäftigt, andererseits gelten sie der Einschätzung der politischen Situation in Oberschlesien. Er fragt in Form erlebter Rede nach der Rolle der interalliierten Besatzung, die »für Ruhe, Ordnung und Schutz im Lande zu sorgen hatte nun nach der Abstimmung, in der die Entscheidung für Deutschland gefallen war? Sie schien nicht gewillt ihre Pflicht zu tun, aber alles zu dulden, was hier geschah« (O, 223).583 Nach der Tötung Gaeblers bei einem Fluchtversuch werden aber weder politische noch nationale Aspekte hervorgehoben, sondern erneut das Soziale. Die Aufständischen berauben Gaebler der Jacke und anderer Gegenstände; sie entscheiden sich nach einer Weile Ungewissheit, ihn dem christlichen Glauben gemäß beizusetzen. Mit dieser Geste wollen sie sich über Gaeblers »Pech, ein Deutscher zu sein« (O, 225), hinwegsetzen und seinem sinnlosen Tod einen Sinn geben. Der Streit zwischen zwei jungen Aufständischen zeigt dabei, aus der Perspektive des Erzählers schauend, ihre Naivität und ihre Unbewusstheit, in wessen Namen und für welche Zwecke sie kämpfen. Nicht zufällig findet diese Haltung beider Jungen im polnischen Schimpfwort »Dupa« (O, 226) ihren Ausdruck, denn die Wirksamkeit ihrer Tat und deren Motivation erweisen sich als zufällig und nutzlos. Mit dem Grab im Wald schließt sich jedoch der Lebenskreis von Franz, denn als Bursche ist er nicht nur einmal »in die Wälder südlich der Stadt gefahren, um allein zu sein, im Gras zu liegen und den ziehenden Wolken nachzuschauen« (O, 224). Als das Kind in 583 Die französischen Soldaten der interalliierten Kommission haben sich in vielen Situationen, in denen sie eingreifen sollte, passiv gezeigt. Vgl. ebd., S. 384. Für die Haltung der Franzosen während der Abstimmung und der Schlesischen Aufstände findet man auf deutscher Seite folgende Erklärung: »Ein stabiles und dank Oberschlesien potentes Polen war Kernstück eines Cordon sanitaire mittelosteuropäischer Staaten, die nach Frankreichs Vorstellung sowohl Sowjetrussland als auch Deutschland in Schach halten sollten. Zugleich sollte die ›Waffenschmiede‹ Oberschlesien dem Reich für immer entzogen werden – mit dem für Paris angenehmen Nebeneffekt, dass man künftig umso wirkungsvoller mit einer französischen Ruhrbesetzung drohen konnte. Dementsprechend pro polnisch war die französische Politik.« K. Eichner: Vor 100 Jahren: Die Volksabstimmung in Oberschlesien. In. »Schlesischer Kulturspiegel« 56. Jg., 1 / 21 / 2021, S. 1.

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seine Heimat von der Last der regionalen Geschichtsverwirrungen tief betroffen verließ, allerdings voller Hoffnung auf ein neues Leben, so endet Gaeblers Weg doch durchaus tragisch. Die Tragik seines Schicksals steigert ebenfalls die Sinnlosigkeit seines Todes, die sich weder politisch noch privat legitimieren lässt. Diese zwei Beispiele – Gaeblers Schicksal in Odersaga und die des Kindes in … und wurden nicht gefragt – verdeutlichen die Komplexität der politischen Lage Oberschlesiens und zeigen die Ratlosigkeit des Einzelnen den geschichtlichen Ereignissen gegenüber. Der Mensch eines heterogenen Grenzlandes wird von äußeren Faktoren blockiert und ist auf die Wendungen des Schicksals zurückgeworfen.

6.3

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – »unerzählte Geschichte«584

Das Prosawerk von Ruth Storm kennzeichnet offenbar ein dualistisches Auffassen von historischen Ereignissen, was bereits die Analyse des Motivs des Ersten Weltkrieges sowie der Teilung Oberschlesiens belegt hat. Einerseits werden sie marginal behandelt, andererseits dienen sie als Auslöser der Ereignishaftigkeit und Identitätsbildung der Figuren, die sich allerdings auf mehrere Etappen erstreckt. Auch der Zweite Weltkrieg erscheint als ein einschneidendes Ereignis, jedoch bleibt dessen Funktion generell, wie in anderen Texten, unbedeutend, denn von der Kriegsführung, militärischen Aktionen bzw. der Innenpolitik des nationalsozialistischen Staates ist selten die Rede.585 Die historische Intensität lässt sich erst mit dem Einmarsch der Sowjets, dann mit dem Einsetzen der polnischen Verwaltung, der Kapitulation des Dritten Reiches und abschließend der Vertreibung wahrnehmen. Auch bei der Darstellung dieser wichtigen Etappe des Zeitgeschehens wendet die Schriftstellerin die Technik des bruch584 Forte, Das Haus auf meinen Schultern (wie Anm. 567), S. 585. 585 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird z. B. im Roman Ein Stückchen Erde angedeutet. Eva Lähns Ehemann kommt während des Angriffs auf Polen in der Nähe Warschaus am 23. Sept. 1939 ums Leben und wird in seinem Heimatort in Anwesenheit der Familie und Freunde nur symbolisch beigesetzt. Am Tag seines Begräbnisses wird eine Eiche eingepflanzt und diese Stelle mit einer Tafel mit Lebensdaten des Gefallenen versehen. Vgl. E, 178f. Dem Frontbrief von Joachim Heinrich Lähn an seine Frau entnimmt man eine spärliche Information über den Ablauf der Frontgeschehnisse in Polen: »staubige Straßen, endlose Kolonnen, unentwegtes Marschieren und Marschieren«. (E, 171) In Das vorletzte Gericht wird der Krieg zunächst im Kontext der in Mariannes Ortschaft untergebrachten Soldaten dargestellt, deren Aufenthalt im Lazarett der Bruder Wilhelm mit seinen musikalischen Auftritten zu verschönern versucht. (VG, 34f.) Mariannes Sägewerk wurden auch zwei Lazarettsoldaten als Helfer zugeteilt. Der Krieg erreicht Rackental erst mit den ersten Flüchtlingen aus dem Osten.

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stückhaften Gedächtnisses an, indem sie in jedem der Prosawerke Bilder des Vergangenen variieren lässt. Eine Ausnahme machen hier die Stationen des Vertreibungsprozesses aus, die von Text zu Text eine Umdichtung erfahren. Auf die Zeit des Nationalsozialismus spielt die Autorin nur im Roman Odersaga an, in dem aber fast keine konkreten historischen Namen oder Ereignisse genannt werden. Von einem ›neuen Kurs‹ berichtet der Erzähler, indem er den Neffen vom Major Wiemann vorstellt. Der Gast des Majors erscheint als Agitator, der als »ehemaliger aktiver Offizier, ein Frontkämpfer, für einen unbekannten Politiker warb« (O, 249).586 Dem Bericht des Erzählers, in den auch Aussagen des Neffen in indirekter Rede eingeflochten sind, lassen sich die Propagandaslogans der NSDAP entnehmen, die von einem starken deutschen Volk und vom Auflösen des Heeres von »Enttäuschten, Entrechteten und Verarmten« (O, 249) schwärmen und zum Handeln aufrufen, denn »wer handelt, hat recht!« (O, 251) Der Parteivorsitzende der NSDAP wird auch von dem wirksamen Agitator über Maßen gelobt: »Dieser Führer, der eine Zeitlang im Feld erblindet gewesen war, der den Krieg als einfacher Soldat bis ins Letzte durchgemacht hat, ist der beste Garant für den Frieden, der richtige Anwalt, um auf friedlichem Weg Deutschland aus seiner erbärmlichen Lage herauszuhelfen!« (O, 250)

Dem Enthusiasmus des Verwandten widerspricht der Major, der die Fähigkeiten eines Österreichers, Deutschland retten zu können, widerlegt und auf dessen rhetorische Künste und die Macht eines Agitators, »der die Stimmen zu fangen« (O, 250) weiß, verweist. Die feste, entschlossene Haltung Wiemanns kommt auch bei den Wahlen zum Ausdruck, als er allen zweifelnden, darunter Merle, davon abrät, »diesem Österreicher, diesem Hitler […] nachzulaufen« (O, 257). Er hat nämlich seine Methoden, die Ziele der Partei und deren Realisierung gut durchschaut: »Das ist es ja gerade!« polterte der ehemalige Soldat, »die Weise, die der bläst, tönt gar lieblich in jedermanns Ohr. Das ist das Gefährliche, wenn ununterbrochen dasselbe gehämmert wird, dann glaubt bald der größte Skeptiker daran. Mein Neffe Weber ist

586 An diesen wenigen Stellen des Romans wird deutlich auf einige Punkte des seit 1933 propagierten Programms der NSDAP eingegangen, dessen Ziel es war, eine »Volksgemeinschaft« aufbauen zu wollen. Der Einsatz dieser neuen geschlossenen staatlichen Formation, die politische Gegner und »Gemeinschaftsfremde« ausschloss, wurde durch die Medien und ›von unten‹ betrieben, was in Odersaga exemplarisch belegt wird. Das Konstrukt einer Gemeinschaft ›von unten‹ beruhte auf der Vorstellung, den Führer bei seinem Programm der »nationalen Wiedergeburt« zu unterstützen, was sich ebenfalls aus dem Auftritt des Agitators herauslesen lässt. Über das Programm der »Volksgemeinschaft« und die Propagandamaßnahmen ›von unten‹ vgl. Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, hrsg. von F. Bajohr, M. Wildt. Frankfurt a.M. 2009; Führer befiehl… Selbstzeugnisse aus der »Kampfzeit« der NSDAP, hrsg. von A. Tyrell. Bildlach 1991.

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jetzt mit der Aufgabe betraut worden, hier in der Nähe ein Arbeitsdienstlager aufzubauen. […] Und das ist auch ganz gescheit, zieht die arbeitslose Jugend von der Straße ab. Mit all solchen zweckmäßigen Maßnahmen gewinnt der Österreicher natürlich Ansehen, aber – alles geht im Eilzugtempo, vielen Maßnahmen fehlt die solide Grundlage.« (O, 257)

Ob sich Merle diese Worte des Freundes zu Herzen genommen hat, für wen sie ihre Stimme abgelegt hat, bleibt ungewiss. In ihren Taten zeigt sie aber ihre Solidarität mit dem Major und widersetzt sich mutig den Parteiverordnungen. Nicht nur der Major Wiemann ist eine Figuration von Merles Gewissen, sondern auch der Bedienstete, der Ackerkutscher Conrad, der sich in seiner Kritik über den nächtlichen Pogrom in Kolkwitz an den König Friedrich II. und sein Gesetz, dass »in Preußen jeder nach seiner Fasson selig werden kann« (O, 263), zurückerinnert. Trotz guter Mentoren bleibt Merle, genauso wie andere Frauen im Roman, politisch passiv. Vielleicht von den beiden Figuren angeregt oder aus eigenem Impuls entscheidet sie sich nach dem Judenpogrom in Kolkwitz der Familie Veitl zu helfen, aber in ihren Taten und Worten bleibt sie im Weiteren zurückhaltend. Sie gehört zwar nicht zu der Masse der NSDAP-Anhänger, was ihr vom Gemeindevorsteher übel genommen wird, aber sie ist nicht bereit bzw. unwillig, zu den politischen Ereignissen offen und eindeutig Stellung zu nehmen. Merles Lebensschwerpunkt fokussiert sich auf die Haushaltsarbeiten, denen sie während des Zweiten Weltkrieges gemeinsam mit anderen Frauen von Odersaga nachgeht. In ihrem Arbeitsfleiß scheinen sie dabei dem nationalsozialistischen Arbeitsethos zu folgen, der von den ledigen Frauen ein selbstloses Engagement verlangte und sie zu verschiedenen Formen der Dienstverpflichtung zwang587. Auch die Odersaga-Frauen zeichnen sich durch zahlreiche Aktivitäten aus, viele von ihnen wurden schon aus eigener Initiative noch vor 1933 unternommen (Kinderhort), aber während des Krieges muss sich das ganze weibliche Personal für die Produktion von Tarnnetzen einsetzen, die deren Kräfte völlig verzehrt. In die Beschreibung dieser quasi am Rande der Handlung vermerkten Diensttätigkeit werden vom heterodiegetischen Erzähler Informationen aus der Politikwelt eingeflochten, die die Hausbewohner aus der Heterotopie des Schlosses herausreißen. So liest man über »die Wiedergewinnung der Wehrhoheit über das Rheinland und die Pfalz, die Rückkehr des Saarlandes, den Anschluss Österreichs 587 An dieser Stelle ist zu betonen, dass sich im Dritten Reich die Einstellung zur Berufstätigkeit der Frauen verändert hat. Nach der Machtergreifung Hitlers wollte man die Frauen aus dem Berufsleben zugunsten ihrer Hausfrau- und Mutterrollen verdrängen. Die Kriegsführung und infolge dessen die Notwendigkeit, Männer am Arbeitsplatz zu ersetzen, hat jedoch den Arbeitsmarkt für Frauen wesentlich verändert. Zum Arbeitsdient waren vor allem Frauen aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu verpflichtet, die bürgerlichen und adligen wurden von diesen Aufgaben freigestellt. Vgl. C. Koonz: Mütter im Vaterland. Reinbek 1994, S. 250ff.

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und die Abtretung des Sudetenlandes nach dem Münchener Abkommen an das Dritte Reich« (O, 268), später über den »Blitzkrieg« (O, 276), »Angriff auf die Sowjetunion« (O, 283) und den »Wendepunkt des Krieges […] in der Tragödie von Stalingrad im Winter 1942/1943« (O, 286) wie auch »die erhöhte Fliegertätigkeit des Feindes im fünften Kriegsjahr« (O, 287). Diese Ereignisse ernten heftige Kritik des Majors, der Hitler, seine Politik und deren Folgen schonungslos anprangert, ohne die Konsequenzen seiner ungezügelten Rede zu bedenken.588 Der Major Wiemann hat nicht nur Mut, sich über Hitler und seine »Politik der Experimente, die alle Gefahren des Mißlingens, ja der Katastrophe in sich birgt« (O, 277) zu äußern, sondern er beteiligt sich an konspirativen Aktionen, die gegen Hitler gerichtet sind. Zwar leugnet er die Zugehörigkeit zum Kreisauer Kreis, aber ist über dessen Tätigkeit sehr gut informiert, genauso wie über den Verlauf des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944. Auch diesmal kann er sich einer Kritik nicht enthalten, aber sein Kommentar billigt das Attentat mit der verpassten Chance, den verhassten Führer loszuwerden: Auf den Führer ist ein Attentat verübt worden, mit einer Zeitbombe. Ehrlicher und sicherer wäre es gewesen auf ihn zu schießen, dann hätte man auch getroffen. So entstand nur Verwirrung, die dem Attentäter zum Verhängnis werden wird. Was daraus entsteht, können Sie sich denken. Aus Wut und Rache – Massenverhaftungen! Alle, die irgendetwas auszusetzen hatten, und sich verdächtigt gemacht haben, sind in Gefahr verhaftet zu werden. Die Kreisauer sollen schon in den Händen der Gestapo sein. Ich habe nicht zu diesem Kreis gehört, mich aber mit Kritik nicht zurückgehalten, das wissen Sie ja – und andere wohl auch. (O, 288)

Nach diesem Gespräch mit Merle entscheidet sich der Major, den Krieg auf seine Weise zu beenden, indem er sich am Grabe seiner Frau das Leben nimmt. Die spärlich angeführten Informationen über den Zweiten Weltkrieg wirken irritierend, zumal Ruth Storms Prosawerke als Zeitromane bzw. Zeiterzählungen bezeichnet werden können. Ihre Handlung ist in einen konkreten historischen,

588 Über die politische Expansion Hitlers, besonders im Jahr 1938, äußerte sich der Major folgenderweise: »Bei den Machthabern fehlen Bildung und Geschichtskenntnisse, ohne die keine Regierung im Völkerkonzert auskommt, um auf die Dauer unbeschadet das Staatsschiff zwischen Ländern hindurchzusteuern. Überschätzung der eigenen Kräfte kann bald eine Situation schaffen, die zum Kriege führt, wenn die Regierung bei ihren territorialen Ansprüchen keine Grenzen kennt« (O, 268). Nach dem Ausbruch des Krieges im September 1939 ahnt er das tragische Ende für das ganze Volk voraus: »Es ist so weit! Nun hat er es fertig gebracht uns mit einem Krieg zu beglücken, unser Friedenskanzler! Wir werden ins Geschirr treten müssen! Wir werden alle wieder eingespannt, jawohl, Herr Müller! Die meisten glauben an einen Blitzkrieg, nach dem Muster von Hitlers Erfolgen. August vierzehn hat man auch gedacht, Weihnachten wäre alles vorbei, und dann wurden vier Jahre daraus, und die Welt veränderte sich gründlich. Sobald die ersten Schüsse fallen, gibt es kein Halten, so wie eine Lawine alles mit sich reißt, wenn sie im Rollen ist. Eine Lawine kann man nicht aufhalten, Herr Müller, keiner kann –« (O, 276).

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kulturellen wie auch sozialen Rahmen eingepasst, aus dem allerdings der Zweite Weltkrieg praktisch ausgeklammert wird: Weder individuelle noch kollektive Erfahrungen werden bei Ruth Storm ins Sichtbare transponiert, als ob der Krieg und mit ihm die Erinnerungen gar nicht existierten. Die schon anfangs dieses Kapitels angeführten Gründe für das Verschweigen von historischen Tatsachen können ebenfalls auf Ruth Storm zutreffen. In Das vorletzte Gericht liefert der heterodiegetische Erzähler eine Erklärung dafür, indem er Folgendes ausführt: Man sprach nicht vom Kriege, nicht von den letzten Frontereignissen und schweren Luftangriffen, sondern durch das Spiel des Künstlers aufgeschlossen, floß das Gespräch aus anderen Quellen. Wenn auch die unerbittlichen Gesetze des Krieges die Stätten der Kunst arm gemacht hatten, so schienen doch die Herzen weit offengeblieben zu sein für alles Unvergängliche. Sie sollten wohl die goldene Brücke für die Zukunft bleiben. (VG, 34f.)

In diesem welt- und kriegsentrückten Raum positioniert Ruth Storm die Heimat ihrer Figuren, die fast ganz entpolitisiert, für weitere Generationen als ein utopisch-nostalgisches Reservoire des geistigen Potenzials weiter bestehen soll. Aus diesem Raum scheint jedoch das Trauma des Krieges fast gänzlich erloschen zu sein, als ob die Schriftstellerin ein Unbehagen an diesen Erinnerungen empfunden hätte. Der von Aleida Assmann in den Erinnerungsdiskurs eingeführte Begriff eines ›Unbehagens an der Erinnerungskultur‹ setzt jedoch ein dialogisches oder monologisches Reflektieren über das Erlebte und Erinnerte voraus589, welche den Prozess des Erinnerns bzw. Vergessens verstärken. Sucht man nach der einen oder anderen Form in Storms Romanen, so wird man enttäuscht werden, denn die Schriftstellerin stellt die Kriegsereignisse und den nationalsozialistischen Alltag aus der Perspektive eines heterodiegetischen Erzählers dar, der diese Themen gar nicht in den Blickwinkel des Interesses rückt. So kommt er weder mit Kriegsgeschehnissen in Berührung, noch will er sie mit Hilfe homodiegetischer Partien wiedergeben. Spuren des Auslöschens des Erfahrenen sind ebenfalls nicht zu finden. Der Krieg wie auch die nationalsozialistische Vergangenheit bleiben unerzählt.

589 A. Assmann unterscheidet vier Umgangsarten mit traumatischen Ereignissen. Sie beruhen auf einem Dialog mit der Vergangenheit (dialogisches Erinnern und dialogisches Vergessen) oder Monolog (Erinnern, dessen Ziel es ist, das Vergangene niemals zu vergessen, oder es auf diese Art und Weise zu überwinden). Vgl. A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013, S. 182.

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Genauso wie im Fall des Ersten Weltkrieges verengt auch beim Zweiten Weltkrieg die Autorin den Raum des kollektiven Gedächtnisses auf ein Minimum, auf Benennung von selektiv gewählten Ereignissen oder auf bestimmte Phasen der Kriegsgeschehnisse. Merkwürdigerweise bleibt er auch von der nationalsozialistischen Staatsordnung unberührt.591 Als Grenzerfahrung gilt im Prosawerk die von Geschichte bedingte Gewalt des Heimatverlustes, der als Leitmotiv alle Werke der Autorin durchzieht. Die ersten Anzeichen der nahenden Katastrophe sind die Flüchtlinge. In manchen Romanen, wie in Odersaga kommen sie schon während des Krieges aus dem Westen, um sich vor den Luftangriffen zu schützen. Bevor die Siegermächte die weit von den Hauptstraßen abgelegenen Häuser von Odersaga, Erpachshof oder Schreiberhau erreichen, werden deren Bewohner mit der Flüchtlingswelle aus den östlichen deutschen Gebieten konfrontiert und danach selbst vor die Entscheidung gestellt, sich den Flüchtlingen und Vertriebenen anzuschließen oder den Angriff im eigenen Haus zu erwarten. So geraten in den Fokus des heterodiegetischen Erzählers meistens Flüchtlinge als anonyme Masse, aber nicht deren Schicksale, denn auf narrativer Ebene werden hauptsächlich Einheimische transparent geschildert, deren Emotionen und Auseinandersetzung mit der auch ihnen drohenden Flucht. Das Betrachten der Flüchtlinge aus dem Osten erregt in den Protagonisten jedoch keine Angst, der Glaube daran, dass man das eigene Haus und die Freiheit bewahren kann, spendet ihnen allen – Merle aus Odersaga, Marianne aus Das vorletzte Gericht, der Ich-Erzählerin aus Ich schrieb es auf – Hoffnung, die sie von der Flucht abhält. Es ist hervorzuheben, dass das Motiv der Flucht in den ersten Nachkriegsromanen Storms ein zentrales ist und mit der zeitlichen Distanzierung von den Kriegsgeschehnissen an Darstellungsintensität einbüßt. In Das vorletzte Gericht beginnt die Handlung im letzten Kriegsjahr – im Herbst 1944, als der erste Schnee fällt. Die Kriegsgeschehnisse werden hier allerdings nur auf die vorletzte und letzte militärische Etappe reduziert – auf die Mobilmachung älterer Männer, die Marianne marschierend in die Richtung der Übungsplätze beobachtet, ohne ihr Erstaunen verbergen zu könne, dass es sich um »bejahrte Leute« (VG, 45) handelt. Ihr Mitleid mit ihnen wird aber den schroffen, sachlichen und realistischen Kommentaren eines Postboten entgegengestellt, der eine Hilfe von Greisen und Kindern als nutzlos ansieht und den weiteren Verlauf der Ereignisse als »vorausbestimmt« (VG, 46) bezeichnet. Noch mutiger und offener sind die Soldaten, 590 O, 289. 591 In diesem Kontext lässt sich im Fall von Ruth Storm nicht von Spuren des Nationalsozialismus im Alltag nach dem Interpretationsmodell von N. Mecklenburg sprechen. Vgl. Mecklenburg, Faschismus und Alltag in deutscher Gegenwartsprosa (wie Anm. 461), S. 11– 32.

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die als Kriegsverwundete den Feldarbeiten in der Ortschaft zugewiesen wurden, und die alles, was man den Leuten »jahrelang schon [vorgebetet hat – R.D.-J.]« (VG, 49) als »Scheiße« (VG, 49) beschimpfen; dagegen gibt es für einen von ihnen – Wismar – nur eine Lösung: »die Suppe auslöffeln« (VG, 50) zu müssen. Die Beschreibung der letzten Kriegsmonate findet im Brief des Bruders Wilhelm ihren Ausdruck, der, zur Verteidigung der Oderstellungen delegiert, an Marianne vom »Rande der Welt, einer Welt, die untergehen wird« (VG, 51), schreibt. Auch Marianne reflektiert über die neue Lage der Dinge und betrachtet zunächst die Worte der Soldaten als ein »Seziermesser des Volkes« (VG, 51); dank dem Brief des Bruders erkennt sie, dass die belauschten Gespräche der Soldaten und die Briefbotschaft des Bruders zur Aufdeckung der katastrophalen Kriegswirklichkeit und Hinterfragung des Kriegs- sowie Lebenssinns führen. Es ist hier anzumerken, dass die Geschwister wohl nicht imstande waren, über den Krieg und dessen Folgen direkt zu sprechen, sondern sich eines Briefes bedienen mussten, der hier eine doppelte Funktion zu spielen hat: als Erinnerungsmedium ruft er die Ereignisse der letzten Kriegsmonate ab, als Kommunikationsmittel drückt er dagegen das sprachliche Unvermögen aus, sich über die durch den Krieg verursachte axiologische Kluft hinwegsetzen zu können. Wilhelms Brief – einer Beichte ähnlich – ist solch ein Versuch, eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schlagen. Ein solcher Abschied vom Krieg und den Jahren des Nationalsozialismus impliziert die Frage nach der deutschen Schuld. Das Problem der politischen Haftung der Deutschen für den Zweiten Weltkrieg, durch Karl Jaspers Schrift zur öffentlichen Debatte geworden, bezieht sich hier vorab auf die Verantwortung der Machthaber, ohne die ideologischen Grundsätze des Nationalsozialismus und dessen Ursachen zu benennen. Wilhelm geht es in seinen weiteren Überlegungen weniger um die Ermittlung von Schuldigen, sondern um die Definition der Schuld im ontologisch-ethischen Sinne. Er befragt die Landsleute nach dem wahren »Besitz« (VG, 53) des Einzelnen, zu dessen Wesen die Fähigkeit gehört, sich über Zeit und Raum zu erstrecken und eine transzendente Kraft zu legitimieren. Das Ringen um jene »geheimnisvollen Bande, die in unserem Wesen ihre ständige Auferstehung feiern« (VG, 53), ist bei Mariannes Bruder im religiösen Kontext verwurzelt und lässt sich als göttliche Vorsehung identifizieren. Zusätzlich wird die Beschaffenheit der menschlichen Existenz mit den nationalen Eigenschaften der Deutschen in Verbindung gesetzt. Wilhelm sieht diese Verkoppelung von Individuellem und Nationalem folgenderweise: Wir alle sind Werkzeug in Gottes Hand. Vielleicht sind wir Deutsche immer weit mehr sein Werkzeug gewesen als andere Völker, und das hat uns verdorben, überheblich oder blind gemacht für das Nüchterne und Reale. Und nun müssen wir so tief fallen, um noch einmal eine Wandlung durchzumachen, diese Wandlung zum einfachen gläubigen Menschen! Es können Jahre, Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte vergehen, bis wir die

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Form erhalten, die für uns nötig ist, um ohne Anstoß in dem Reigen der anderen Völker mitschwingen zu können. (VG, 53)

Das Hauptproblem, sowohl auf persönlicher als auch nationaler Ebene, beruht in den Augen des Musikers Wilhelm Erpach auf dem Mangel an »der menschlichen Demut, [dem Maß – R.D.-J.] der Achtung des lebendigen Menschen« (VG, 53). Wilhelm will keine Aufbesserungsprogramme vornehmen, er ist von der Ankunft des Neuen, eines »Umschmelzprozesses« (VG, 53) überzeugt, und deswegen bereit, sich »den Gesetzen der Ewigkeit« (VG, 53) unterzuordnen, und aus dem Leben zu scheiden. Bevor er diesen mutigen, für ihn zugleich endgültigen, Schritt wagt, fühlt er sich verpflichtet, in Briefform eine Beichte abzulegen und – als die einzige der Storm’schen Figuren – die Frage nach der Schuld zu stellen. Seine Deutung der Schuld verweist auf deren moralischen Charakter: Wo ist da Schuld? Wo ist da Fehle? Die Irdischen sind leicht geneigt, für alle Dinge den Verantwortlichen zu suchen, verantwortlich aber ist nur der, der bewußt etwas Böses geschaffen oder Besseres zu tun versäumt hat. Die Masse unseres Volkes hat sich aus den Notzeiten des ersten verlorenen Weltkrieges heraus von der falschen Morgenröte eines neuen Tages täuschen lassen, das wird ihr zum Verhängnis werden in einem Maß, in dem allein schon alle Schuld abgebüßt sein müßte, wenn die Gerechtigkeit selber die Waagschale halten könnte. (VG, 54)

Wilhelm lehnt auch individuelle moralische Schuld überhaupt ab, denn er versucht die Deutschen von der Verantwortung für den Zweiten Krieg freizusprechen, indem er die Entstehung des Nationalsozialismus und deren Folgen auf die Niederlage des Jahres 1918 zurückführt. Wilhelms Verständnis des deutschen Schicksals korrespondiert mit Jaspers Ablehnung der Kollektivschuld592, denn für schuldig hält der Musiker Erpach nur diejenigen, die etwas Böses getan hätten. Des Untergangs, besonders der deutschen Kultur, sich vollends bewusst, sieht er den Ausweg nur im Tod. Seine Schwester Marianne denkt zunächst weder über die Worte der Soldaten noch des Bruders nach, die Kluft zwischen den Radiosendungen und abgelauschten Gesprächen scheint ihr unerklärlich. Eine Auseinandersetzung mit beiden gegensätzlichen Meinungen erfolgt Anfang des Jahres 1945, kurz nach dem Silvesterabend, als der Nachbar mit der Schreckensnachricht kommt, »die Russen wären zu einem Großangriff auf den gesamten deutschen Osten angetreten, die erste Panzerwelle stoße auf Oberschlesien zu« (VG, 85). Die Zuspitzung der Lage zwingt dem Fokalisator einen dramatischen Modus auf. Die weiteren Ereignisse scheinen einer Inszenierung zu folgen.593 Der auf592 Vgl. K. Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. München 2012, S. 57–61. 593 Auch F. Janzen verwendet den Begriff »Erzähldramaturgie«, indem sie die Darstellungsweise der Monate vor und während der Vertreibung am Beispiel dreier Romane von R. Storm, R.

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gegangene »blutige Vorhang« (VG, 85) wird die Figuren des Geschehens in zwei Gruppen teilen: die Agierenden und die Zuschauer. Zunächst gehört Marianne zu den passiven Betrachtern, nach dem Einmarsch der Sowjets wird die Rolle vertauscht werden. Vor ihren Augen spielen sich bis zur Kapitulation viele dramatische Szenen ab. Als Vorboten des Unglücks treten in diesem Spektakel die Flüchtlinge aus dem Rheinland auf, denen bald andere Talbewohner folgen werden, die alle den mit »Angst« und »atemloser Hast geschwängerten Äther« (VG, 86) spürend und »von dem Schreien und Stöhnen Verzweifelter und Strebender« (VG, 88) erfüllt, möglichst schnell fliehen wollen, um ihr Leben zu retten. Vor Mariannes Augen, die sich entscheidet abzuwarten »und – dableiben, solange es geht« (VG, 85), bildet sich eine endlose Kolonne von Flüchtlingen, die nicht nur der Roten Armee, sondern auch dem Tode zu entfliehen beeilt ist: Am Rande der schlesischen Landstraße starrten in stummer Klage Mensch und Tier in den unbarmherzigen grauen Himmel, während ein nicht abreißender Zug von Wagen, Mensch und Vieh fluchend und knarrend weiter ins Ungewisse rollte. Manches Auge haftete entsetzt auf den Toten am Weg, aber niemand erbarmte sich ihrer, kein Spaten Erde deckte sie zu, nur der Schnee legte hie und da sein leichtes Tuch über sie. (VG, 87)

Marianne sieht schweigend den Flüchtlingen zu, sowohl den Fremden als auch den Einwohnern des Rackentals, die ihr Gepäck in Eile packen. Wortlos betrachtet sie auch die immer neuen Flüchtlingswellen, die für einen von oben auf das Tal hinschauenden Zuschauer verschiedene Formen annehmen. Die Betrachtende überwältigen vor allem verschiedene Geräusche, die »ein unentwegtes Rollen Tag und Nacht« (VG, 91) verursachen. An diese akustischen Reize schließen sich auch andere an, so dass es schwerfällt, zwischen Rauschen und Brausen eines Wassers und dem Klang der Pferdehufe und Schritten zu unterscheiden. Immer neue Szenen, in denen sich die Akteure ändern, werden ›aufgeführt‹. In einer von ihnen spielen die Frauen eine bedeutende Rolle, denn sie sind diejenigen, die dem Schicksal überlassen und auf sich selbst angewiesen, »das kleine schiefe Leiterwägelchen mit ihrer letzten Habe an der anderen Hand hinter sich« (VG, 91) herziehend, die harten Lebensbedingungen zu bestehen haben. Die namenlosen Frauen treten als ›Massenheldinnen‹ auf, nur vereinzelt werden sie namentlich genannt. Es geschieht zum Beispiel im Fall eines todkranken, von seinen Schicksalsgenossen bei Marianne zurückgelassenen Mädchens, dessen sie sich annimmt, es zu füttern, zu erwärmen, mit beruhigenden Worten zu trösten und würdig zu bestatten versucht. Beim Tod des Kindes erhebt Marianne eine Klage, die sich als eine polyphone Stimme zu Wilhelms Schuldbefragung verstehen lässt, in der sie sich vom politischen Kontext distanziert und

Hoffmann und K. Boreé analysiert. Vgl. Janzen, Zum Verhältnis vom Heimatverlust und Neubeginn in frühen Romanen über Flucht und Vertreibung (wie Anm. 462), S. 88.

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das persönliche Leid der Unschuldigen, der Opfer des Krieges thematisiert. Die Opposition zwischen Individuum und Totalitarismus, Mensch und Politik tritt dabei deutlich in Erscheinung: Die Schuld derer, die diese Hölle entfesselt hatten, wuchs angesichts solch eines unschuldigen Opfers ins Unermeßliche. Aber wer kann die höhere Ordnung ergründen? Vielleicht wurden diese reinen Kinder die einzigen Fürbitter vor dem Thron des Herrn. Wenn sie flehend ihre Händchen erhoben, war vielleicht manche Schuld auf Erden gesühnt. (VG, 95)

Die gestellten Fragen, die aus der Innenperspektive Mariannes kommen, bleiben ohne Antwort. Die Dynamik der Ereignisse lässt Marianne keine Zeit zum Nachdenken. Der Tod des namenlosen Kindes bildet eine Zäsur, die durch das plötzliche Auftreten von durch eine Explosion in einem Pferdelazarett ausgebrochenen Pferde noch verstärkt wird. Die verschreckten Tiere verlieren an Kräften und suchen instinktiv Hilfe beieinander. Zu einem Klumpen zusammengeballt können sie als eine Metapher der Nichtigkeit jeder Kreatur betrachtet werden, die der Krieg schonungslose entlarvt. Die Hilflosigkeit der Pferde deckt sich mit der Not der Protagonistin, die in dieser Situation weder den Tieren noch sich selbst helfen kann, so wie sie auch vorher in der Auseinandersetzung mit dem Tod des unschuldigen Kindes verstummte. Beide Ereignisse – der Tod des unbekannten Kindes und die Panik der Pferde – bilden ein retardierendes Moment. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Tragik des Ortes und seiner Einwohner episodenhaft abspielt. Die dramatischen Abläufe werden aber auf zwei Ebenen intensiviert. Der doppelte Notstand lässt Marianne in ihrem Inneren erneut nach dem Sinn der Opfer fragen, und die einzige Antwort, die ihr plausibel vorkommt, sieht sie in der Chance der »Verständigung unter den Völkern« (VG, 102). Marianne scheint in ihren Gedanken eindeutig einer Viktimisierungsstrategie zu folgen, die Katarzyna S´liwin´ska in ihrer Analyse von Nachkriegsprosawerken als eine für die deutsche Literatur dieser Zeit typische Tendenz diagnostiziert.594 In die Opfer-Rolle versetzt Ruth Storm nur Deutsche, seien es Flüchtlinge, verwundete Soldaten, auf die Gunst der Sieger angewiesene Einheimische oder bloß Pferde, allen anderen wird der Status als vom Krieg Betroffener abgesprochen. Mariannes Überlegungen verlieren daher an Tragweite und die Fragen selbst erscheinen banal. Auch die Protagonistin kann ad hoc keine Lösungen finden, der Wechsel der Situationen und Akteure reißt sie mit und sie verwandelt sich wiederum von einer Betrachtenden zur Agierenden. Die momentane Unschlüssigkeit abwehrend entscheidet sie sich zunächst für die Vorbereitung eines 594 Vgl. Katarzyna S´liwin´ska: Eine deutsche Odyssee? Figurationen der Irrfahrt in der deutschen Literatur über Flucht und Vertreibung. In: »Linguae Mundi« 5 / 2010, S. 127–150, hier: S. 135.

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Verstecks im Bergwald, wo sie verlorene Ruhe und ersehnte Geborgenheit findet. Diese Waldszene595 – zu einem neuen dramatischen Moment erhoben – geht dem Höhepunkt der Flüchtlingstragödie voran und festigt in der Protagonistin die Überzeugung, das Elternhaus nicht verlassen zu wollen und »das Leben trotz Not und Tod und Gefahr weiterzuleben« (VG, 113). An diese für eine Weile anhaltende Handlung reihen sich unmittelbar neue, unerwartete Ereignisse an, die auf den Höhepunkt der sich abspielenden »deutschen« Tragödie zulaufen. Es ist für die Protagonistin das unerwartete Eingreifen der aus Oberschlesien fliehenden Familie des Ehemannes, die sie von der Notwendigkeit der Flucht in den Westen zu überzeugen versucht. Die sich im verbalen Kreuzfeuer von der Schwiegermutter, Schwager und Schwägerin befindende Marianne zeigt sich in ihrer zwar einsamen, aber entschlossenen Haltung als eine tapfere, unerschrockene Person, die sich der Gefahr und deren Konsequenzen bewusst ist, die aber sich dem Vater und Bruder gegebenen Wort verpflichtet fühlt und die Heimat nie zu verlassen beabsichtigt. Als einsame Kämpferin, die in der Auseinandersetzung mit drei Gegnern gleichzeitig konfrontiert wird, erringt sie vorläufig einen Sieg, der sie jedoch bald in die Katastrophe führen wird. In den Augen der Verwandten ihres Mannes erscheint sie jedoch als eine treue Verteidigerin der Heimat, die zu politischen Verlierern des NS-Staates in Opposition steht. Das Wechselspiel von Gegensätzen Bleiben vs. Fliehen, Kämpfen vs. Kapitulieren, Mut vs. Angst, Resignation vs. Hoffnung stimulieren die Inszenierung des Raumes, der durch ständigen Austausch von Personen, Emotionen und Situationen in Bewegung gesetzt wird. Die Dynamik der Darstellung, durch mehrere Fokalisierungsobjekte verstärkt, trägt eine doppelte Signatur: sie repräsentiert etwas Unvorhersehbares und Unbekanntes, aber auch Finales und Eingrenzendes. Die in einer weiteren Szene dargestellten Gegenstände, unter welchen sich materielle Anzeichen der zu verabschiedenden alten Zeit befinden, werden in den Raum einer offenen Straße projiziert, die als Paradox einen Weg ohne Ausweg bedeutet. Der dialektische Charakter dieser Szene wird durch das für Flüchtlinge sowie Einheimische gemeinsame Gefühl von Verlassenheit, Unabwendbarkeit und Irreversibilität dieser Situation aufgehoben: Die Reichstraße 121, die ins Böhmische führte, nahm die Parade der modernen Völkerwanderung ab. Ganze Dörfer waren unterwegs, Gutsherrschaften mit allem Gesinde, Vieh und ihren Pferden zogen zwischen Soldatenhaufen. Motorisiert, beritten, zu Fuß wälzte sich die staubige Schlange durch die dunkelgrünen Wälder. Beschädigte Fahrzeuge, verendete Tiere blieben am Wegrand zurück, Uniformen und Auszeichnungen wurden weggeworfen. Karten, Papiere und Photographien bedeckten die Straße; unter den Pferdehufen und Rädern wurde alles zermahlen, zertrampelt und unkenntlich gemacht. Der Höhepunkt schien erreicht zu sein. Das Ende war da! (VG, 135) 595 Vgl. Kapitel 4, S. 150f.

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Die Komplexität des kommenden Endes verdeutlichen auch weitere Ereignisse, die durch Boten übermittelt werden: Hitlers Selbstmord, den die Menschen, »abgestumpft […] durch die langen Jahre des Krieges« (VG, 132), lediglich zur Kenntnis nehmen, die im Ofen verbrannten oder vergrabenen Uniformen der deutschen Soldaten (VG, 138f.) und zuletzt die Kapitulation. Die Unterzeichnung des Aktes der deutschen Niederlage bedeutet allerdings noch nicht den Beginn des Friedens. Auf narrativer Ebene ist zwar eine Art Auflösung der Handlung und der emotionalen Spannung zu sehen, aber schon die nächsten Szenen kündigen das erneute Aufgehen des Vorhangs an und bilden die Grundlagen für den weiteren Fortgang der Tragödie. Als Vorbote der tragischen Ereignisse erscheint zunächst Matthes’ Schwester Luise, die aus Hirschberg »durch die Finsternis des Waldes über Stein und Wurzelwerk« (VG, 140) vor den Russen fliehend die Hiobsbotschaft über das Eindringen der Roten Armee in die Stadt mitbringt. An den knappen Bericht der alten, beinahe verstummten Luise schließen sich bald weitere an, die eine Steigerung von Angst- und Unruhezuständen bewirken. Mariannes Nachbar – als zweiter Bote des tragischen Schicksals – schildert ausführlich seine erste Begegnung mit den Sowjetsoldaten: »Sie haben mir den Leiterwagen weggenommen, mein Geld, meine Uhr, den Rucksack abgerissen, man hat mich geschlagen und ›das für‹ – den Namen habe ich nicht verstanden, und ›das für‹ – – den Namen habe ich auch nicht verstanden, und dann kam noch ein anderer, der mich mit Fußtritten stieß und auch schrie ›und das für‹ – – ›und das für‹ – – und dann muß ich wohl zu Boden gefallen sein. […] Als ich wieder zum Bewußtsein kam, war die ganze Fahrbahn voller Russen. Aber ich habe mich gar nicht mehr gefürchtet, ich lag da, als ginge mich das alles nichts mehr an. Ich hatte ja nur noch Hemd und Hose. Ein endloser Zug zog die große Reichsstraße nach Prag mit roten Fahnen. […] Zeug lag umher, von der ältesten Tochter fand ich das Halstuch.« (VG, 146)

Die monologisierte Aussage des Nachbarn bringt, narrativ gesehen, eine neue historische Dimension ins Spiel. Er fasst in einigen Sätzen die kollektiven Erlebnisse der deutschen Bevölkerung zusammen, die den Einmarsch der Roten Armee darstellen: Gewalt- und Raubtaten, Vergewaltigungen und Schändungen.596 Das Kollektive ist zwangsläufig mit dem Individuellen verkoppelt, das in den bewohnten Erinnerungsraum eingehen wird. Die Dialektik beider Gedächtnisarten wird von nun den Heimatraum kennzeichnen. Der römischen Mythologie gemäß wird im Buch auch die dritte Parze ins Spiel gebracht, die diesmal ein mit den Sowjets verbrüderter Deutscher mit »fahlem Rattengesicht« (VG, 149) verkörpert, der mit den Besatzerstreifen von Haus zu 596 Über das berichtartige, der Aussage des Nachbarn ähnliche, historische sowie private Narrativ über den Einmarsch der Roten Armee, Vergewaltigungen von deutschen Frauen sowie verwaiste Kinder auf den Straßen, die auch R. Storm in die Handlung ihrer Werke mit einbezieht, vgl. Chr. Habbe: Die Zeit der Abrechnung. In: Die Deutschen im Osten Europas (wie Anm. 131), S. 201–216.

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Haus geht und nach versteckten Soldaten sucht. Seine Ankunft in den Rackentaler Häusern bedeutet Unheil. Es kommt aber nicht nur zum Wechsel von Vorboten dieser Situation, es verändern sich auch Akteure. Die Vertreter der Siegermächte, zunächst die Sowjets und dann die Polen, ersetzen in den mit Mariannes Augen inszenierten Szenen die Flüchtlingsmassen. Jedes Treffen mit den Siegern gleicht dabei dem retardierenden Moment, dem bald ein Zusammenbruch zu folgen droht. Als ein russischer Hauptmann den Erpachshof betritt, versucht Marianne noch die Höflichkeitsregeln zu befolgen, in der Hoffnung, dass ihr Pendant das gleiche kulturelle Niveau repräsentiert und seine Macht nicht ausüben wird. Die durch keine Erklärung gerechtfertigte Erschießung des Hundes Nero macht aber deutlich, dass die Besatzer weder die Etikette beachten noch für die Besiegten Verständnis haben. Ihr Ziel ist es, die Deutschen auszubeuten und ihre Siegermacht zu behaupten. Seit der Tötung Neros ist sich Marianne dieser Strategie der Soldaten völlig bewusst und sie reagiert darauf – merkwürdigerweise – mit Gleichgültigkeit. Während andere schreien, weinen oder nach einem Versteck suchen, hat sie »das Gefühl, als schaue sie durch eine gläserne Wand, durch die sie wohl alles haarscharf erkennen konnte, die sie aber vor einer unmittelbaren Berührung trennte.« (VG, 149) Die gewonnene Distanz ermöglicht es, alle kommenden Ereignisse, Kränkungen und Verluste mit Geduld zu ertragen, das Materielle außer Acht zu lassen und das Geistige zu schätzen zu wissen. Mit jener Distanz begegnet sie den Plünderungen in ihrem Haus, beurteilt die Situation nüchtern, ohne über die Vernichtung und die Schäden, auch die materiellen, zu klagen. Über ihre und der anderen Gefühle berichtet erneut der Erzähler, der die Klagen der Figuren formuliert, wie z. B. im folgenden Zitat: Kurz darauf war der Erpachshof von russischen Soldaten überflutet. Wie ein Termitenzug eroberten sie das Haus vom Keller bis unter das Dach. Es war der Rausch des Siegers! Monatelang hatten die Soldaten auf diesen Augenblick gewartet. Die Ordnung, die Sauberkeit, der Reichtum des gepflegten Anwesens versetzten sie in einen Taumel und steigerten das Tempo der Plünderung, daß die Bewohner, die im Flur an seiner Fensterseite zusammengeblieben waren, das Gefühl hatten, es handele sich um einen Überfall und raschen Abzug. (VG, 150)

Da Mariannes Haus zum Objekt der Plünderung wird und dessen Einwohner sich bedroht fühlen, entscheiden sie sich für den Umzug in die Werkmeisterwohnung, wo sie bis zur Vertreibung bleiben werden. Zwar erscheint Marianne diese Wohnung als eine »Oase« (VG, 152), in Wirklichkeit eröffnet dieser aufgezwungene Wandel des Wohnsitzes eine Serie des Leides. Mit dem Umzug verwandelt sich das dramatische Spektakel, an dem Marianne sich seit dem 12. Januar 1945 (VG, 86) beteiligt, in ein Passionsspiel, das aus mehreren Stationen bestehend, das Leid der Protagonistin sowie ihrer Landsleute widerspiegelt, das insbesondere durch die Verschmelzung von individueller und kol-

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lektiver Erfahrung zu einem Mysterium stilisiert wird. Blickt man auf den Ursprung des Wortes Mysterium in verschiedenen Kulturen, so wiederholt sich dessen Sinn als Offenbarung des Geheimnisses, Vermittlung von sonst verborgenen Informationen; in der christlichen Religion wird dagegen das Wort mysterion im Kontext des Kreuztodes Christi gebraucht und es kündet das Geheimnis des Glaubens an597. Dass Mariannes Leben zu einem Mysterium wird, belegt das plötzliche Erscheinen eines Fremden, dem Marianne im Stall begegnet, wo sie sich vor den Angriffen des auf sie lauernden russischen Hauptmannes versteckt. Auch er scheint ein Flüchtling zu sein, aber seine Herkunft und Ziel bleiben unbekannt, eindeutig dagegen ist seine Botschaft – eine Paraphrase der Worte des heiligen Augustinus – die die Lösung des deutschen Schicksals im Kreuz verkündet. In Anlehnung an den Kirchenvater Augustinus sieht er in der Nächstenliebe den Unterschied zwischen den Kindern Gottes und des Teufels598 und auf dieser Lehre baut er die neuen Lebensziele für das deutsche Volk und dessen Zukunft auf. Nach ihm können »Schuld und Fehler eines ganzen Volkes die Stufen zur höchsten Menschlichkeit werden« (VG, 159), nur auf diese Art und Weise lassen sich alle Leiden der Kriegsopfer legitimieren. Der Fremde nimmt in Mariannes Augen einmal die priesterhaften Züge an, ein anderes Mal kommt er ihr wie Christus selbst vor. In beiden Rollen begleitet er leidende Opfer des Krieges: eine alte Frau auf ihrem Weg zu Fuß an den Rhein, oder ein Geschwisterpaar, das die von den russischen Soldaten vergewaltigte Mutter in den Ruinen Breslaus verlor und alleine mit dem vollbepackten Handwagen zu den Verwandten im Westen zog. Nach diesen Geschichten fühlt sich Marianne bestärkt, kann das eigene Leid ertragen und in die Zukunft blicken, denn vor ihr »taten sich neue Räume auf, und aller persönlicher Besitz verblaßte« (VG, 166). Weder der Tod von Matthes, seiner Schwester Luise, der Tante Magdalene, noch die auf dem Wohnhaus von Erpachshof wehende rote Fahne oder der Brand von Wilhelms Haus können sie innerlich zerstören. Auch die Plünderung des Hauses kann sie nicht zerbrechen, obwohl sie im Wegschaffen aller Gegenstände die Stilllegung der ganzen väterlichen Wirtschaft und Familientradition sieht. Es ist charakteristisch, dass die letzte Plünderung des Erpachshofs vom Erzähler in großer Detailfülle wiedergegeben wird. Diesem Akt der Gewalt sehen Marianne 597 Vgl. Definitionen des Mysteriums nach K. Rahner: Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie. In: Beständiger Aufbruch. Festschrift für Erich Przywara, hrsg. von S. Behn. Nürnberg 1959, S. 181–216. 598 Eine solche Zusammenstellung von Repräsentanten der guten und bösen Kräfte weckt zwangsläufig Assoziationen mit H. Bölls Einteilungsprinzip der deutschen Gesellschaft in Büffel und Lämmer in Billard um halb zehn (1959). Zwar verbergen sich hinter Bölls Lämmern sog. sanfte Nicht-Einverstandene und die Büffel verkörpern die brutalen Mitläufer, so scheint sich das Denkschema in beiden Romanen zu decken. Vgl. B. Balzer: Billard um halb zehn. In: Ders.: Das literarische Werk Heinrich Bölls. Einführung und Kommentare. München 1997, S. 223–247.

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und die Neubauers zu, als ob sie die Erinnerung an die verloren gegangenen Gegenstände für immer behalten möchten: Eines Tages fuhren zwei Lastkraftwagen auf den Hof, mehrere Soldaten sprangen ab, sie gingen in das Haus und fingen zu räumen an. Sie lärmten und schrien und polterten mit den Möbeln hinunter, und was ihnen nicht zerbrechlich erschien, warfen sie zum Fenster hinaus. […] Als die alte Standuhr, die Mond und Sterne in ihrem Zifferblatt führte, herausgeschleppt wurde, lief ein Beben durch Marianne. Das Ticken der alten Uhr war der gleichmäßige Herzschlag ihres Vaterhauses gewesen, immer hatte sie ihn vernommen. […] Der Herzschlag des alten Wohnhauses war für immer zum Stillstand gebracht. (VG, 188f.)

Obwohl sich Marianne es nicht anmerken lässt, wie sehr diese Plünderung sie betroffen hat, wirken sich die nächsten Stationen ihres Leidensweges immer stärker auf sie aus. Besonders das Stillstehen der Uhr verkündet eine nahende Katastrophe, worauf Frauke Janzen in ihrer komparatistisch angelegten Interpretation der apokalyptischen Bilder in Das vorletzte Gericht anspielt.599 Auch über diese Kränkung muss sich die Protagonistin hinwegsetzen und neu zu denken beginnen. Nach dem Abmarsch der Russen kann sie nicht anders, als sich noch mit den neuen Einwohnern ihrer Heimat – mit den Polen – auseinanderzusetzen. Die Nachricht, von der Entstehung eines neuen polnischen Staates bis zu Oder und Neisse erscheint den Einheimischen als zunächst unglaubwürdig, zumal sie von allen Radio- oder Presseinformationen abgeschnitten wurden. Die Gerüchte von den »schwerbewaffneten Posten mit den viereckigen Mützen« (VG, 187), von den »uniformierten Polen an ihren Wagen [mit flatternder – R.D.-J.] weißroter Fahne« (VG, 185) verbreiten sich aber ganz schnell; ihre Bestätigung finden sie, sobald die ersten Polen das von der Welt weitgehend abgeschottete Rackental erreichen. Zunächst äußert der Erzähler Mitleid mit ihnen, denn sie scheinen, genauso wie die Deutschen, Opfer des Krieges zu sein, im Laufe der Zeit wird jedoch die Haltung der Polen angeprangert und sie selbst als Angreifer dargestellt. Schon in der Metapher der ersten herankommenden Welle drückt sich ein schwaches Verständnis für die ankommenden Polen aus, aber zugleich ein hartes Urteil über deren Ansprüche: Immer mehr Menschen wurden herangespült, sie kamen abgerissen mit düsteren Gesichtern, leeren Händen oder armseligen Bündeln daher, und es schien ihr gutes Recht zu sein, zu nehmen, was vorhanden war; und einige sagten, daß man ihnen auch so getan hätte, und daß Gleiches nur mit Gleichem vergolten werden müßte. Da wurden die Einwohner stumm und ließen sie gewähren. (VG, 188)

599 Vgl. Janzen, Zum Verhältnis vom Heimatverlust und Neubeginn in frühen Romanen über Flucht und Vertreibung (wie Anm. 462), S. 91.

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In diesem Moment kommt es zur Konfrontation zweier Kulturen, zum einen der der Sieger und Besiegten, zum anderen der Kultur der protestantischen und nicht-protestantischen Welt. Beide Vorstellungen verbinden Arbeitsethos und Leistung. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt an dieser Stelle auch die durch den sowjetischen Kommunismus geprägte Ständegleichheit und die Aufforderung zum gleichen Verteilen von Gütern. Beide Seiten des Konflikts sind dabei Opfer des Krieges, der sie schwer betroffen hat, besonders die Polen unter der nationalsozialistischen Besatzung, und beide Seiten wurden der eigenen Heimat beraubt. Das Verhältnis beider im Roman geschilderten Völker beruht – sich der Begriffe der komparatistischen Imagologie bedienend – auf der Typologie von Antithesen (Typologica antithetica600), die sich im Roman vertiefen. Es ist hier anzumerken, dass deutsche literarische Bilder von Russen und Polen meistens zugunsten der Russen ausfallen. Wenn nicht Sympathie, dann doch ein gewisses Verständnis des sowohl hetero- als auch homodiegetischen Erzählers schlägt sich auf die Seite der russischen Besatzer, deren Gegenwart im Rackental sich als vorübergehend erweist. Das wahre Problem der deutschen Bevölkerung sind die Polen, die – zu der Erzähldramaturgie der Ereignisse zurückkehrend – als dritter Massenheld der Tragödie auftreten. Konnte man den Russen »Kulturlosigkeit« und »Zerstörungswut« zuschreiben, die auch in anderen Romanen Ruth Storms zu finden sind601, so werden in den Figuren der Polen ausschließlich negative Merkmale gebündelt, die das Polenbild der Schriftstellerin abrunden. Unter den polnischen Zuwanderern befinden sich vor allem »Ratten und reißende Wölfe in Menschengestalt« (VG, 188), die nur an Raub, Plünderung und Verbrechen interessiert sind, und für welche das deutsche Eigentum zur Quelle des Reichtums werden sollte. Marianne ist sich des Ausmaßes der kommenden Verbrechen noch nicht bewusst, sie wird sie übrigens vor allem durch direkte Kontakte mit ihren polnischen Nachbarn erfahren. Einige Polen sind der Protagonistin nicht ganz fremd, mindestens eine der Personen, die eines Tages mit dem Einweisungsschein auf dem Erpachshof erscheint. Es handelt sich um das frühere Dienstmädchen, Mattka Krukolska aus der oberschlesischen Stadt Schoppinitz, die mit der Zunahme der Flüchtlingswellen plötzlich verschwindet, um wahrscheinlich die Gegenrichtung – den Osten – einzuschlagen. Sie kehrt 600 Der von M. Beller gebrauchte Begriff (neben Typologica analogica und Typolgica reciproca). Vgl. Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie (wie Anm. 577), S. 118f. 601 Vgl. S. Kersten: Die Romane von Monika Taubitz. Selbstbilder und Fremdbilder. In: Silesia in litteris servata. Paradigmen der Erinnerung in Texten schlesischer Autoren nach 1945, Bd. 2, hrsg. von E. Białek, P. Zimniak. Dresden 2010, S. 247. S. Kersten bemerkt hinzu, dass man die russische Kulturlosigkeit nicht pauschalisieren darf und dass im Werk von M. Taubitz auch gute und freundliche Russen auftreten, mit denen man sogar Bekanntschaft eingehen kann. Vgl. ebd, S. 249.

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voller Gewissheit zurück, dass sie vor Ort die Besitzer nicht mehr vorfindet und deren Eigentum für sich beanspruchen kann. Die Anwesenheit der alten Herrin hindert weder sie noch ihren Lebensgefährten daran, den Erpachshof in Besitz zu nehmen und Marianne praktisch zu ignorieren. Die Einstellung der Protagonistin zu den Fremden entspricht einerseits den stereotypischen Vorstellungen von den Vertretern der polnischen Nation. Den Ankömmlingen aus Polen wurden von der Autorin Namen auf -ska und -ski gegeben, die in der Vorstellung der Deutschen – so Hubert Orłowski – als typisch polnisch gelten602. Mattka Krukolska und Jannek Szlurskie603 entsprechen den Stereotypen nicht nur im Hinblick auf ihre Familiennamen, sondern sie wirken vor allem äußerlich durchaus polnisch. Der Pole Szlurskie wird als häßlich und unsympatisch dargestellt, in der Beschreibung des heterodiegetischen Erzählers deformiert und das Böse verkörpernd: Es war ein dicker, ungefähr vierzigjähriger Mensch mit roten Haaren, seine hellen Augen stachen wie Glasperlen unbeweglich aus seinem rosigen, schwammigen Gesicht hervor. Seine Nase war aufgespült, und zwischen seinen wulstigen Lippen hing ständig ein Zigarrenstummel. Alles war fett an ihm, kurz und prall, man hatte den Eindruck, ein Schwein, ein reifes Schlachtschwein sei maskiert und abgerichtet worden. (VG, 193)

Szlurskies teuflische Züge und sein animalisches Bild machen aus ihm eine durchaus negative Person, von der Marianne, genauso wie von seinen Brüdern, nur Böses angetan wird. Bevor die Polen zur Verkörperung des Nur-Bösen werden, welches Szlurskie schon beim ersten Einblick vorwegnimmt, dient Mattka ursprünglich als Vermittlerin zwischen den alten und neuen Bewohnern der Gegend. Sie ist diejenige, die Marianne und ihren Besitz in Schutz nimmt, indem sie es Jannek Schlurskie verbietet, Marianne das Pferd wegzunehmen. Marianne freut sich sogar, dass ihr Dienstmädchen zurückkam, denn mit ihr tauchte etwas Vertrautes auf, etwas, was sie an die alten Zeiten erinnerte. Trotz dieser Vertrautheit ist das aus der Sicht des Erzählers verbreitete Bild von der jungen Polin ebenfalls stereotyp. Mattka verkörpert eine schöne Polin, die sich 602 H. Orłowski verweist darauf, dass schon in H. Heines Berichten aus Polen die Namen auf -ski (Krapilinski und Waschlapski) eine bewusste Stigmatisierung bedeuteten. Vgl. H. Orłowski: Polnische Wirtschaft. Nowoczesny niemiecki dyskurs o Polsce. Olsztyn 1998, S. 163. 603 Es ist anzumerken, dass die Schriftstellerin die Namen ohne Kenntnis der polnischen Orthographie gebraucht. Im Fall von Mattka ist es schwer zu sagen, von welchem polnischen Vornamen diese Abkürzung abgeleitet wurde. Es ist auch fraglich, ob Jannek (sic!) Szlurskie, Fleischer aus Sosnowiec, als polnischer Vertriebener ins Rackental wirklich schon im Jahr 1945 hätte kommen können. Die ersten polnischen Vertriebenen stammten aus den ehemaligen polnischen Gebieten im Osten (meistens aus der Ukraine). Der Name Sosnowiec taucht wahrscheinlich deswegen auf, weil er für Ruth Storm als eine gebürtige Kattowitzerin zum Synonym vom ehemaligen Russisch-Polen wird und als solches zum Gegensatz von Deutschland. Die Opposition des polnischen Sosnowiec zum deutschen Kattowitz war in der damaligen Mentalität verwurzelt und wurde oft in dieser Form in der Literatur aufgegriffen.

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im Laufe Handlung in eine käufliche Verführerin verwandelt.604 Diese 18-jährige Frau behängt sich gerne mit »Gold, Pelzen und blitzenden Steinen« (VG, 194) und ist bemüht, eine gute Partie zu finden. Obwohl sie mit Jannek verbunden zu sein scheint, und nach seiner Gesellschaft sucht, was sich z. B. durch das Zuwerfen von Kusshänden manifestiert, hat sie andere Pläne und will sie auch bald realisieren. Solange sie aber auf dem Erpachshof lebt, können sich die Einwohner der Hausmeisterwohnung sicher fühlen. Mattka versorgt sie dabei mit Essen; sie steckt »dem kleinen Gerhart mitunter ein Brot zu, etwas Speck oder einen Zipfel fette Krakauer« (VG, 197), die der alte Neubauer nicht leiden kann, denn ihm bleibt »das fremde Zeug im Halse stecken.« (VG, 197) Die Mehrgenerationenfamilie Szlurskie wird aber im Laufe der Handlung immer gefährlicher. Die konsequente Aneignung von Erpachs Besitz605 grenzt Marianne von Tag zu Tag ein und bewirkt, dass sie sich in der eigenen Heimat immer unsicherer fühlt. Mariannes Kontakte mit der Familie Schlurskie sind Momente, die schrittweise zum Höhepunkt der deutschen Dramatis Personae führen. Zunächst nehmen die Szurskies Mariannes Haus in Besitz, indem sie den Haushalt, die Stallungen und die noch übrig gebliebenen Gegenstände ausgiebig begutachten. Marianne bedrückt dabei die Tatsache, dass für die neuen Besitzer nur Materielles von Belang ist, dass sie sich nur bereichern wollen und zum neuen Wohnort keine Bindung haben. Am schwersten belasten Marianne die jüngsten Brüder von Jannek, die in der Umgebung Raubfahrten betreiben. Auch deren Beschreibung ist sehr negativ; das demonstrativ Dämonische an deren Charakter – äußerlich wie innerlich – korrespondiert mit den Diebstählen und hat zur Folge, dass der Erpachshof in Verruf gerät und sowohl von den Polen als auch den Deutschen gemieden wird. Marianne möchte diese Menschen entschuldigen, indem sie ihr Benehmen auf das erlittene Leid und die Besonderheit ihrer Lage zurückführt. Sie argumentiert dabei folgenderweise, indem sie auf die innere Leere der jungen Räuber und deren Süchte verweist: Solange die Jagdgründe rings nicht ergiebig waren, war die Anwesenheit der wilden Brüder ein gewisser Schutz, anderes räuberisches Gesindel hielt sich fern: aber immer wieder beschlich Marianne die Sorge, was werden würde, wenn die ertragreichen Gefilde erschöpft waren und die neuen Bewohner seßhaft wurden, um sich dem Nächstliegenden zuzuwenden. Noch war es nicht so weit, noch wogte der Freudenrausch in diesen Menschen, die jahrelang selbst mit Gewalt niedergehalten worden waren. Eine Hochstimmung durchglühte sie, die ihre zurückgedrängte Leidenschaft voll entfaltete und die Menschen zum Spielball ihrer Süchte machte. Ihre Fesseln waren gesprengt, 604 Über die erotische Anziehungskraft der Polinnen vgl. Orłowski, Polnische Wirtschaft (wie Anm. 602), S. 193ff. 605 Die Besetzung der Häuser der Deutschen und die Übernahme deren Vermögens gehört ebenfalls zu häufigen Motiven der Vertreibungsliteratur. Vgl. ähnliche Bilder bei M. Taubitz in Kersten, Die Romane von Monika Taubitz (wie Anm. 601), S. 250f.

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und da noch keine Ordnung über ihnen waltetet, sie selbst noch nicht wußten, was mit ihnen weiter würde, hatte das Menschlich-Allzumenschliche sie gepackt und bestimmte ihr Tun und Lassen. (VG, 200)

Einerseits begreift Marianne die Handelsmotive der Angreifer nicht, andererseits rechtfertigt sie sie, auf deren persönliche sowie kollektive Erfahrungen zurückgreifend. Vor allem aber sieht sie in den Brüdern Szlurskie Menschen mit ihren Schwächen und Lastern, die infolge des ihnen früher angetanen Leids, der Freiheitsbeschränkungen wie auch sozialer Mißstände entstanden sind. Bald wird sich aber ihre Einstellung zu den gesetzlosen Nachbarn ändern. Das frühere Mitleid mit ihnen wird rasch durch ausschließlich negative Gefühle verdrängt. Diese steigen parallel zu den auf den tragischen Höhepunkt zulaufenden Ereignissen. Als man die Deutschen verpflichtet, eine weiße Binde als Erkennungszeichen zu tragen, übernimmt die Protagonistin die Rolle der Verfolgten, die in den polnischen Besatzern nur Täter sieht. Dem Besatzerrecht unterliegen dabei sowohl Erwachsene, Kinder als auch die Welt der Natur. Der kleine Gerhart wird von einem »fremden Jungen« (VG, 205) angegriffen, der ihm den Mantel ausziehen will, die Deutschen dürfen nicht mehr den Wald betreten und Marianne muss den polnischen Behörden ihr Pferd Trost zur Verfügung stellen, das als Zugtier ausgenutzt und zugrunde gerichtet wird. Der Notstand wird freilich nicht nur von den fremden Menschen verursacht, sondern auch von äußeren Faktoren: Von Hunger werden gleichermaßen Opfer und Täter betroffen. Nur diejenigen, die gut wirtschaften und von der eigenen Arbeit leben können, sind imstande, sich über Wasser zu halten. Über die schweren Momente des ersten Nachkriegsjahres berichtet der Erzähler wie folgt: Sie hatten die Ernte geborgen und verteilt, außer dem Kellervorrat an Winterkartoffeln hatten sie einige weitere Zentner sorgfältig vergraben, auch Möhren und Kohlrüben waren dabei. Drüben ins Haus lieferten sie zwölf Sack Kartoffeln ab, um vor Schnüffelei sicher zu sein; der alte Neubauer hatte sie brummig hinübergekarrt. Es war eine kluge Voraussicht! Denn bald fuhren die Fremden mit leeren Kastenwagen von Haus zu Haus und stöberten Keller und Schuppen nach Vorräten durch und nahmen den Leuten die letzte Ernte fort. Der Hunger wurde so groß, daß nun auch mancher Einheimische bettelnd von Tür zu Tür zog. (VG, 209)

Der Umgang mit Lebensmitteln, besonders in der Zeit der Krise, verdeutlicht zugleich das für die deutsche Literatur charakteristische Stereotyp vom tüchtigen Deutschen und schmarotzenden, faulen Polen606, das aber in diesem Kontext eher unbeabsichtigt vervielfältigt wird. Nichtsdestotrotz scheint die von Sandra Kersten vorgenommene Charakteristik der Polen in den Romanen von Monika Taubitz auch auf Storms Figuren zuzutreffen. Sandra Kersten beschreibt das 606 Über polnische und deutsche Vorstellung von Arbeit und Wirtschaften vgl. Orłowski, Polnische Wirtschaft (wie Anm. 602), S. 25–45.

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Charakteristikum eines Polen wie folgt: »Materielle Sorgenlosigkeit in Notzeiten zu Lasten der Deutschen, Gleichgültigkeit und Gewissenlosigkeit im Umgang mit fremdem Eigentum, Tobsuchtsanfälle, Trinkgelage oder das Stehlen in der Öffentlichkeit und während des Kirchgangs, prägen das Polenbild«607. Aus komparatistischer Sicht stellt sich hier die Frage nach der antithetischen Typologie der nationalen Vorstellungen und entsprechend nach dem Selbstbild der Deutschen. In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass sowohl Marianne als auch Personen aus ihrem Umkreis (Familie Neubauer, Nachbarn) sich dem Blickwinkel des Erzählers immer mehr entziehen, sodass man von ihren Alltagstätigkeiten, die der Aufrechterhaltung der nun bescheidenen Existenz dienen, immer weniger weiß. Trotz des tristen Daseins erledigen sie ununterbrochen ihre kleinen Verpflichtungen und Arbeitsaufgaben. Ihr Fleiß und Tüchtigkeit scheinen das konstitutive Element des dargestellten Selbstbildes zu sein. Auch Marianne findet in der Arbeit Trost, besonders nach dem Tod von Matthes und seiner Schwester. Ihrer inneren Stimme folgt sie mit Erleichterung, damit »der Schmerz sie nicht erwürge« (VG, 181). Außerdem markiert die Arbeit eine Grenze zwischen den emsigen Deutschen und den von ihr als müßig wahrgenommenen Polen, die nur nach leichter Beute suchen. Die nationalen Schranken und mit ihnen Hass und Abneigung werden jedoch durch gemeinsames Leid aufgehoben. Der überall herrschende Hunger lässt die Deutschen und Polen die Unterschiede und Vorurteile vergessen; der Mangel an Nahrungsmitteln sowie die Kälte verändern die Sichtweise der Menschen. Auch Marianne beginnt auf die Menschen anders zu schauen und bemerkt sogar, dass nicht alle von den hereinströmenden Scharen der Fremden »gewalttätig« (VG, 223) sind, dass sie in ihrer Heimat genug gelitten haben und genauso wie die Deutschen mit dem harten Schicksal fertig werden müssen. Die polnischen Nachbarn, die zu den neuen Wirten des Erpachshofs wurden, ändern sich im Laufe der Zeit und versuchen schrittweise den Haushaltsarbeiten nachzukommen. Ihre Bemühungen beobachtet Marianne, einerseits froh, dass der Betrieb wieder läuft, andererseits voll von Zweifeln, ob die neuen Besitzer irgendwann eine gute Beziehung mit dem neuen, für sie doch fremden Gut eingehen werden. Aus der Sicht des Erzählers wird das Urteil über die neuen Besitzer gefällt, das sie nur zu Verwaltern und keinen richtigen Herren macht: Da erschien ihr auf einmal das geschäftige Treiben der Fremden, ihr Lärmen, Rufen und Lachen wie etwas Unwirkliches, das sie nicht betraf, das sie überwunden hatte, das keine Qual mehr für sie war. Das Gefühl der Glaswand kam wieder in ihr auf, sie empfand keinen Haß, keine Verachtung; aus ihrer Armut stieg zuweilen das Erbarmen mit diesen Menschen auf, die nun Besitz hatten, der ihnen als Sühne zugefallen war. Niemals konnte dieses Gut ihr Eigentum werden, weil es nicht mit ihrer Hände Arbeit erworben 607 Kersten, Die Romane von Monika Taubitz (wie Anm. 601), S. 251.

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war und nicht mit dem Schweiß ihrer Väter durchtränkt und nicht gesegnet war von den Gebeten ihrer Mütter. (VG, 221f.)

Die Inbetriebnahme des Sägewerkes durch die Polen bedeutet für Marianne ein eindeutiges Urteil, das sie zum Verlassen der Heimat zwingt, denn als ehemalige Bewohner des Gutes werden sie von diesem Moment an nutzlos. Der Höhepunkt der Tragödie kündigt sich somit an, obwohl dessen Realisierung noch für eine Weile verzögert wird. Er wird zunächst im Traum des alten Neubauer greifbar, durch welchen sich ein aus der Ferne zu hörendes Rollen zieht, »Züge voll Menschen gesehen, Menschen wie Vieh verladen, […] Hunderte, Tausende von Zügen […].« (VG, 235) Das im Albtraum Gesehene wird demnächst von dem jüngsten Szlurskie versprachlicht, der es den Einwohnern der Hausmeisterwohnung fast hellseherisch verkündet. Die beiden Orakel leiten zum Höhepunkt der Tragödie über: zum amtlichen Akt der Vertreibung. Auch diese Etappe wird auf der sprachlichen Ebene realisiert, um zu verdeutlichen, dass man für dieses Erlebnis viele unterschiedliche Wörter finden muss, dass es aus verschiedenen Perspektiven nacherzählt werden soll, um es in Erinnerung behalten zu können. Daher wird der Vorgang verschriftlicht, um dessen Aussagekraft verdeutlichen zu können: Es dauerte auch gar nicht sehr lange, da kam eine Abordnung vom neuen polnischen Gemeindeamt. Es waren finstere Männer, die sich an den Tisch in die Küche setzten und auf große weiße Bogen umständlich die Namen der Deutschen, ihre Geburtsdaten und Berufe niederschrieben. Aber sie gaben keine Erklärungen ab, weswegen sie das taten; Szlurskies kamen mit ihnen, wenn sie auch an der Tür stehenblieben und nichts aufschrieben, so schauten sie sich doch genau im Raum um […]. (VG, 239)

Nach diesem Besuch beginnt die Zeit schneller zu laufen, die Bewohner der Hausmeisterwohnung packen ihre Sachen und bereiten sich auf das Verlassen des Wohnsitzes vor, das unverzüglich zu kommen scheint. Die Katastrophe nimmt Gestalt an und wird in der Darstellung auf wenige Ereignisse beschränkt: die Ankunft der Ausweisungs-Kommission, die Beschlagnahme der Hausmeisterwohnung und das Anschließen an die »Herde der Vertriebenen« (VG, 244). Jene »ungeordnete, sich schleppende Menschenkarawane« (VG, 244) wird in Mariannes Augen zur Verkörperung der Heimat, denn das mit den Nachbarn, »mit bekannten, abgehärmten Gesichtern« (VG, 244) gemeinsam erlittene Schicksal prägt sich in ihr Bewusstsein ein und bestimmt für immer das Bild des Herkunftslandes und dessen Einwohner. Marianne ist sich des endgültigen Abschieds von der Heimat bewusst und konzentriert sich im Moment der Trennung auf die Beschreibung nicht nur der Schicksalsgenossen, sondern möglichst vieler Elemente der so gut vertrauten Umgebung. Ohne auf konkrete Namen oder etwas Charakteristisches einzugehen, werden aus der Sicht des Erzählers deren konstitutive Elemente aufgezählt: Wiesen, Felder, Hänge und

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Häuser. Der Abschied endet abrupt und signalisiert ein vorhergesehenes tragisches Ende. Nach dem Aufhören von menschlichen Gesprächen lassen sich nur »schleppende Schritte, Stöhnen und scheues Flüstern« (VG, 245) wahrnehmen, die einen Abgrund entstehen lassen. Die aus Mariannes Perspektive dargestellten Kriegs- und Nachkriegsereignisse werden auf dem Prinzip des Dramatischen aufgebaut, das mit steigenden und fallenden Gefühlen der Protagonistin übereinstimmt. Diese narrative Strategie wiederholt sich in späteren Prosawerken der Schriftstellerin allerdings nicht. Um das Leben im Zwischenraum, dessen Grenzen die Kapitulation und Vertreibung markieren, aus einer anderen Perspektive erzählerisch zu erfassen, entscheidet sich Ruth Storm für die Gattung des Tagebuches. Mit der Wahl dieses Genres fügt sich die Autorin in die in den letzten Kriegsjahren herrschende Tendenz der weiblichen Autobiografik ein. Susanne zur Niedens Studien über Tagebücher von Frauen weisen ein reges Interesse an der Niederschrift von Erlebnissen aus der Krisenphase des NS-Regimes (von 1945 bis 1946) nach608. Die Aufzeichnung von persönlichen Erfahrungen entspringt im Fall dieser Autorinnen einerseits dem Bedürfnis, die damalige gesellschaftlich-politische Situation sprachlich bewältigen zu können609, andererseits der Notwendigkeit, trotz der Situation, oder vielleicht deswegen, zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Diese Suche nach sich selbst hat wiederum eine doppelte – individuelle sowie kollektive – Funktion, die der Schreibenden zur »Orientierung, Entlastung und Sicherheit«610 verhelfen und zugleich ihren Standort in der Gesellschaft bestimmen soll. Die zwischen dem 29. Januar 1945 und dem 28. Juni 1946 geführten Eintragungen sind eine Chronik der letzten Kriegsmonate des auf die Katastrophe zulaufenden Dritten Reiches, der ersten Nachkriegsjahre, der Vertreibung der Deutschen aus dem niederschlesischen Kurort Schreiberhau bis zur Ankunft in der neuen Heimat. Das erst 1961 erschienene Tagebuch Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr bewegt sich zwischen zwei ideellen Räumen des bewohnten und unbewohnten Gedächtnisses; das Persönliche wird daher in die Kollektiverfahrung der Vertriebenen projiziert und spielt vor dem Hintergrund der Odyssee, die mit dem Ansturm der Sowjets einsetzt und mit dem Verlassen der Heimat endet. Die Eintragungen werden regelmäßig gemacht und unterscheiden sich in ihrem Umfang kaum voneinander: sie umfassen jeweils einige 608 Vgl. S. zur Nieden: Tagebücher von Frauen im zerstörten Deutschland 1943 bis 1945. Tagebuchschreiben – ein populärer Brauch. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, hrsg. von M. Holdenried. Berlin 1995, S. 291. 609 Das Tagebuch gilt für die Autorinnen als »Genre der Krise«, das auf Grenzsituationen reagiert und als deren Therapie fungiert. Vgl. P. Boerner: Tagebuch. Stuttgart 1969, S. 11–22. 610 Nieden, Tagebücher von Frauen im zerstörten Deutschland 1943 bis 1945 (wie Anm. 608), S. 290.

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Zeilen, die höchstens im Abstand von zwei Tagen, einmal in einer Woche, entstanden sind. Ihre Knappheit ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie meistens in einem Stall entstanden sind, wo die Autorin ihr Tagebuch »unter der Futterkiste verborgen« (Isa, 87) hielt. Die thematische Fokussierung auf Kriegsgeschehen, Kämpfe um Schlesien, Flüchtlingswellen, Leben unter sowjetischer und polnischer Besatzung, Ausweisung und Ankunft in der neuen Heimat im Westen, die um Naturbeschreibungen und Reflexionen über das Metaphysische bereichert werden, deckt sich mit den Ereignissen des letzten Kapitels aus Das vorletzte Gericht und korrespondiert dadurch mit anderen Texten der Vertreibungsliteratur, die nach Louis F. Helbig gleiche Themen und Motive aufgreifen und einer ähnlichen Periodisierung folgen611. Einerseits berichtet das Ich des Tagebuches über Kriegsgeschehnisse und kommentiert sie, auf der anderen Seite spricht es aus dem Inneren der Autorin und legt Emotionen sowie Überlegungen offen. Die einzelnen Darstellungsformen gehören aber nicht zusammen, sondern sie bilden Ausschnitte, den Gedankenfragmenten des Ichs entsprechend, die von Tag zu Tag variieren und die Intensität der Erlebnisse widerspiegeln. Die Fokalisierungsstrategie der Ich-Erzählerin spielt dabei eine wichtige Rolle: Einmal ist sie – Marianne ähnlich – Zuschauerin, ein anderes Mal aktive Teilnehmerin am Geschehen oder Naturbetrachtende sowie Zeugin des menschlichen Leidens. Besonders am Anfang wird auf die von der Erzählerin angenommene Rolle einer Zuschauerin hingewiesen, als sie die sich anbahnenden Ereignisse noch nicht erfassen kann und zusammen mit den anderen die tobende Schlacht »von einer Galerie, vor der nur noch ein dünner Vorhang das grausige Geschehen auf der Bühne unten verhüllt« (Isa, 6), beobachtet. Die überraschende Wende im Kriegsgeschehen wird manchmal aus der Perspektive des Sohnes dargestellt, der mit Kindesscherz den Ernst der Situation entschärft, indem er mit einem Stahlhelm auf dem Kopf auf die Feinde wartet und die Dynamik des Krieges für einen Augenblick verlangsamt. Das spielende Kind mit seinem »kleinen Holzgewehr geschultert« (Isa, 22) lenkt die Aufmerksamkeit auf sich und von den russischen Gefangenen ab, die von deutschen Soldaten irgendwohin geführt werden, ohne zu wissen, wozu und warum. Mit der Zuspitzung des militärischen Konflikts und dem Angriff der Sowjetarmee wird auch die Zuschauerperspektive gewechselt und das Ich in einen Akteur verwandelt, der seine passive Haltung verliert und sich an den Ereignissen beteiligen muss. Dieser Wandel von Perspektive wird durch Metaphern ausgedrückt, die das Wortfeld Verlust und Katastrophe umfassen. Zunächst ist die Rede vom »vergessenen Tal« (Isa, 6), dann von einer »lautlosen Einsamkeit« (Isa, 9), vom »Tod des Erfrierens« (Isa, 10) oder einer »vergessenen Insel« (Isa, 33), die von »Apokalypse« (Isa, 20) betroffen abseits des Geschehens 611 Vgl. Helbig, Der ungeheure Verlust (wie Anm. 164), S. 65–99.

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lokalisert wird. Die mit diesen Metaphern erzeugte Stimmung einer Leere scheint das erzählende Ich durch eine weitere Metapher, der des Tarnnetzes abschwächen zu wollen. Die Herstellung der Tarnnetze durch die Zivilbevölkerung, besonders durch Frauen, verletzt die Finger und legt die Sinnlosigkeit dieser Tätigkeit offen, die den Herstellern einerseits Schutz geben soll, andererseits sie in die todbringende Maschinerie des Krieges verwickelt und zu dessen Werkzeugen macht. Jeglicher Protest ist dabei ausgeschlossen und kann jeden Boykottierenden nur ins Verderben führen. Nichtsdestotrotz scheint die metaphorische Funktion jener Netze klar, denn sie binden deren Produzenten an den Ort und lassen sie mit der Entscheidung über das Verlassen der Heimat hinauszögern. Die im Tagebuch mehrmals formulierten Fragen nach dem Bleiben oder Gehen werden in das Schicksal des Ichs verwoben und zugleich kollektiviert, denn sie betreffen mehrere Deutsche, die dennoch bald zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen werden. Dieser Prozess einer gewissen Verallgemeinerung von der ganz neuen und unerwarteten Erfahrung des bevorstehenden Heimatverlustes wird auf der sprachlichen Ebene allmählich präsent. Zunächst spricht die Tagebuchautorin in der ersten Person und artikuliert deutlich, dass das Ich nicht fliehen wolle, denn es finde die Flucht erstens zu riskant, zweitens es will das Haus Rundblick, wo die Familie immer so glücklich war, nicht verlassen (Isa, 6). Im Moment der drohenden russischen Offensive kommt es zum Übergang zum Plural und dem Verzicht auf persönliche Argumente. Das Ich spricht im Namen der Familie, aber zugleich auch der Nachbarn, indem es sich – des weiteren Fortgangs der Ereignisse unbewusst – eine Lage formuliert, die die Sowjets herbeiführen müssten, damit es zur Flucht komme: Der Arbeitsdienst, alle Lazarette sind jetzt fortgekommen. Auch in Hirschberg sind die wichtigsten Dienststellen geräumt worden. Das alles beunruhigt die Bevölkerung sehr. Ich telefonierte mit Familie v. G. und erfuhr, daß die Autobahn wieder frei sein soll, auch Löwenberg und Greiffenberg. Doch Greiffenberg soll gestern erneut von den Russen bombardiert worden sein. Wir verlassen unser Haus nur, wenn der Russe uns vor sich herjagen sollte. Bis zum Letzten hier in der sterbenden Heimat auszuhalten, ist unsere Schuldigkeit. (Isa, 18)

Eine Woche später, als die Front immer näher heranrückt, erliegt die kollektive Form einer Entpersonalisierung, die Argumente, die gegen die Flucht sprechen, werden allerdings noch sachlicher und glaubwürdiger, denn das Ich greift auf Gerüchte von Menschen zurück, die »das Flüchtlingselend zur Genüge kennen und genau wissen, was sie auf den Transporten und in den Auffanglagern erwartet« (Isa, 24). Die Angst vor dem Unbekannten und Fremden, das die Schreibende innerlich bindet, scheint manchmal größer als die Trennung von der Heimat, von deren materieller Form zu sein. Das Bleiben auf dem heimatlichen Boden gewährt der Autorin die Sicherheit, die sie mehr wertschätzt als die »so-

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genannte Geborgenheit des Reiches« (Isa, 29). Die Notwendigkeit der Flucht erscheint noch vage, aber deren Unvermeindlichkeit lässt sich leugnen, was die Tagebuchautorin in der Metapher der vorbereiteten Wanderausrüstung zum Ausdruck bringt. Am 5. März 1945, noch vor dem Einmarsch der Roten Armee, nimmt das lyrische Ich in Gedichtform von ihrer Heimat, deren »Bergen, Wäldern, brausend Fichten« (Isa, 30) Abschied, die Unmöglichkeit der Wiederkehr bestreitend, und bestätigt die Bereitschaft zum Weggehen, denn vor »jedem Haus und jeder Hütte [stehen schon – R.D.-J.] Wanderstab und Bettelsack, und an dem Weg ins Ungewisse, da wartet manches kühle Grab« (Isa, 30). Am Tag des Selbstmordes Hitlers verändert sich auch der Ton des Sprechens über das Verlassen der Heimat – der frühere hoffnungsvolle Mensch verwandelt sich in einen skeptischen, der eine nahende Katastrophe herankommen sieht. Nach dem Erscheinen der Sowjets in Schreiberhau verschwinden die Fragen nach dem Bleiben-Können oder Nichtbleiben-Können, und die Tagebuchautorin nimmt immer intensiver die Veränderungen in ihrer Heimat wahr. Ihre Entfremdung setzt mit dem Erscheinen der polnischen Einwohner ein und bedeutet einen Schritt für Schritt sich vertiefenden Verlust von Verortung, zuerst im eigenen Haus, dann in der Umgebung und letztendlich in der Heimat überhaupt. Dieses Fremdwerden wird in erster Linie durch visuelle und auditive Anzeichen der neuen Herrschafts- und Lebensformen gezeigt. Das Ich reflektiert den Wandel von den Schreiberhauer Straßen folgenderweise: Schreiberhau bekommt ein fremdes, feindliches Gesicht. Es gibt keine deutschen Aufschriften mehr. Wie erstarrt liegt alles da, kaum ein Huhn gackert, die Gänse sind ausgestorben. Aller Besitz wird ohne Ordnung wertlos. (Isa, 48)

Die Veränderung des früheren heimatlichen Wesens bemerkt dann das Ich auf jedem Schritt und Tritt, es bekommt einen »östlichen« Charakter (Isa, 76) und durch viele Verbote (Hausverbot, kein Betreten von Wald, Markierung der Deutschen mit der weißen Binde) verliert es seine vertrauten Attribute. Aber nicht die Verwaltungsgesetze, die das Ich mit Demut duldet, sondern der Kontakt mit den »slawischen Völkern als Herren« (Isa, 65) bewirkt die Entfremdung und den allmählichen Heimatverlust. Die Tagebuchautorin scheint zunächst zwischen den Sowjets und den Polen kaum zu unterscheiden. Sie sind in ihren Augen Vertreter der fremden, slawischen Kultur, die ihr schon aus ihrer Lebenszeit in Oberschlesien vertraut ist. Sie kann für sich auch nicht erklären, warum eine im deutsch-russischen, dicht von der polnischen Bevölkerung besiedelten Grenzland geborene und aufgewachsene Frau die beiden slawischen Völker voneinander nicht abgrenzen kann. Die Tagebuchautorin macht erst am 3. Juni 1945 eine Eintragung über die Ankunft von vielen uniformierten Polen, deren weiß-rote Fahnen an den Wagen wehten und die Pferde frei auf den Wiesen grasten (Isa, 35). Diese noch harmlosen

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Szenen werden bald mit Gewalttaten konfrontiert. Es entsteht der Eindruck, dass die Polen als Eroberer eintreffen und auf den Schreiberhauer Straßen ihren Sieg über die Deutschen feiern wollen. Von den Sowjets ist zunächst weder im Kontext der Besatzung noch der politischen Teilung Europas die Rede, welche das Ich zwar erahnt, obwohl das vergessene Tal weder Post-, Radio- oder Zeitungsnachrichten erreichen. Erst einen Monat später erscheinen die Rotarmisten und Polen zusammen und sorgen dafür, dass das Leben der Einwohner zum Schrecken wird. Für die Tagebuchautorin gehen die Besatzer bei ihren Gewalttaten Hand in Hand und wollen den Deutschen alles wegnehmen. Sie berichtet über »Plünderungen, Vieh- und Pferdediebstähle« (Isa, 36), und klagt darüber, dass »aus den Fabriken Maschinen fortgeholt werden, ja sogar die Eisenbahn wird demontiert.«612 (Isa, 36) Die ersten Kontakte mit den neuen Herren sind nur durch Gewaltakte gekennzeichnet, die im Zeichen von Zerstörung und Diebstahl stehen. Schon beim ersten Erscheinen der Sowjets werden weder das Haus der Tagebuchautorin noch sie selbst verschont. Sie berichtet über die erste Begegnung mit den Russen folgenderweise: Am 10. Juli kamen vier Russen mit einer Tschechin als Dolmetscherin zu uns. Sie gaben zunächst vor, Waffen zu suchen, dann aber plünderten sie das ganze Haus: der Telefonapparat wurde zertrümmert, die Leitungen aus der Wand gerissen und zerstört. Das Haus sah bald wie ein Schlachtfeld aus. Türen, Schubladen und Schränke standen offen und waren durchwühlt, Wäsche und Kleidungsstücke waren herausgerissen und zu Boden geschleudert. […] Ein Kerl schlug mich, als ich ihm klar machen wollte, daß er das Gebiß der Stute für ein großes Pferd nicht gebrauchen könne, wahrscheinlich verstand er mich nicht. (Isa, 36)

Seit diesem Moment sind die Eintragungen hauptsächlich auf Gewaltakte, die an den Einwohnern verübt werden, konzentriert. Fast jeden Tag berichtet sie über Misshandlungen, Beleidigungen und Demütigungen. Viele bekommt sie von anderen erzählt, oft wird sie selbst zu deren Zeugin oder sogar zu einer der Betroffenen. Die Liste der Gewaltakte beginnt mit scherzhaft-derben Verhaltensweisen wie das Spucken aufs Brot der Deutschen (Isa, 37), das Abreißen von Zweigen mit Obst (Isa, 38) oder dem Plündern von Blumenbeeten durch die Polinnen (Isa, 40). Diese eher harmlos wirkenden Taten verwandeln sich aber bald in Terrorakte, die die Tagebuchautorin akribisch und aufgewühlt wiedergibt: Immer wissen wir noch nicht, was die Sieger mit uns vorhaben. Die Bauern werden furchtbar geplagt. Vor einigen Tagen wurden alle Bewohner aus der Umgebung des Hauptmann-Hauses auf eine Wiese getrieben und sollten erschossen werden. Ursache 612 An einer anderen Stelle berichtet die Tagebuchautorin über den Transport von Röntgenapparaten aus den Krankenhäusern nach Russland und den sich daraus für die kranken Einwohner ergebenden medizinischen Problemen. Vgl. Isa, 79.

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war ein betrunkener Russe, der vom Fahrrad gefallen war und sich blutig geschlagen hatte. Die Polen behaupten, Deutsche hätten diesen Mann so zugerichtet. Glücklicherweise kam der Russe noch rechtzeitig zur Besinnung und erklärte den Zusammenhang. (Isa, 41)

Die Opfer von Gewaltakten werden auch Frauen, besonders junge, die während der Plünderungen vergewaltigt werden, die alten hingegen verprügelt (Isa, 77). Die Tagebuchautorin berichtet darüber voller Empörung, und verurteilt diese Willkür, die »zum Himmel schreit« (Isa, 77), als Unrecht. Es ist anzumerken, dass sie sowohl in ihrem in spärlichen Worten verfassten Bericht als auch im Kommentar dazu die Täter als Soldaten bezeichnet, ohne deren Nationalität zu nennen. Einige Zeilen später ist von »den Polen« die Rede, die alle Versuche der Deutschen, sich gegen Unrecht zu wehren, verhindern wollen, oder jeglichen Zusammenschluss als »Aufstand« (Isa, 77) bezeichnen. Die Polen werden ebenfalls als diejenigen dargestellt, die sich am Eigentum der Deutschen vergreifen und in den Privathäusern »wühlen« (Isa, 77). Zwar werden auch den Sowjets Plünderungen zugeschrieben, die »Schlagen, Prügeln, Fluchen und Schnauzen« (Isa, 42) begleiten, und bei denen man »keinen Unterschied zwischen Arbeitern, Bauern und Bürgern« (Isa, 42) macht, aber weil die Sowjets – wie es die Tagebuchautorin bemerkt – an die Polen »alle Gewalt abgegeben haben« (Isa, 43), kommt das ganze getane Übel auf die Rechnung der Letzten. Von ihren Unrechttaten werden die Deutschen in allen möglichen Bereichen getroffen. Die Familie der Tagebuchautorin wird des Hauses verwiesen und muss in eine kleinere Wohnung umziehen, wo es für acht Personen so wenig Platz gibt, dass manche Familienmitglieder auf zusammengeschobenen Stühlen schlafen müssen oder sogar gelegentlich außerhalb des Hauses, oft bei den Hauptmanns. Soweit sich die Tagebuchautorin mit dem Verlassen des eigenen Hauses binnen einer halben Stunde abfinden kann, stößt das Benehmen der neuen Bewohner des Hauses Rundblick auf Unverständnis und ruft nur Empörung sowie Traurigkeit hervor, die unterdrückt werden müssen und nur den Tagebuchblättern anvertraut werden können. Das schreibende Ich drückt diesen Zustand folgenderweise aus: In unser Haus ist eine polnische Parteiorganisation eingezogen, deren Parole »Plündern« heißt. Es ist schwer, unter dem gleichen Dach mit den Polen zu wohnen und die Entweihung und Verschleuderung der persönlichen Sachen zu sehen. Eine wüste Unordnung herrscht durch die Fenster; Aufregungen und Erniedrigungen gibt es nun täglich. Wir wissen nicht, wohin das führen soll, die Zustände grenzen an Anarchie, und der Terror ist für die Bevölkerung kaum noch zu ertragen. (Isa, 45)

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Das stereotype Bild von der polnischen Wirtschaft613 greift das Ich wiederum auf, indem es die Organisation des Arbeitsdienstes der Deutschen beschreibt. Die zum Verrichten von verschiedenen öffentlichen Aufgaben (Aufräumung, Schneeschippen, Dienstleistungen) gezwungenen Einwohner werden regelmäßig, oft mit Gewehr und Peitsche gejagt (Isa, 55), geholt und mit den schwersten Arbeiten belastet, die sie – wie zum Beispiel »Kasernenscheuern, Kartoffelschälen, Klosett- und Stallreinigung« (Isa, 55) – nur mit blanken Händen zu machen haben. Die Tagebuchautorin beschwert sich einerseits wegen der schweren körperlichen Arbeit, die die Talbewohner, meistens Bürgerliche und Intellektuelle, nicht gewohnt sind, andererseits kann sie die verächtliche Behandlung durch die neuen Herren nicht begreifen und deutet sie als eine Maßnahme, die dazu führen soll, die Deutschen zum Verlassen der Heimat zu zwingen614. Selbst kann sie zwar dieser »Jagd auf Frauen und Männer zum Arbeitseinsatz« (Isa, 67) entgehen, aber am Beispiel von Monona Hauptmann versinnbildlicht sie das Ausmaß einer solchen Erniedrigung: Monona ist nach fünf Tagen völlig erschöpft zurückgekommen, mit geschwollenen Füßen und Händen, ungewaschen, ungekämmt, durchnäßt bis auf die Haut. Einmal hatte sie mit ihren Leidensgenossen sechzehn Stunden hintereinander Schnee schaufeln müssen. Unter Tritten und Schlägen wurden sie zur Arbeit angehalten. Wer umfiel, wurde zunächst an der Gurgel gepackt und hochgerissen, zur Prüfung, ob er nicht simuliert. Als Essen gab es dreimal am Tag eine mit Kartoffelschalen und Strohstücken verkochte Wassersuppe. Schlafstätten waren: zwei enge Räume für die fünfzig Personen, Männer und Frauen zusammen. Platz war nur so viel, daß sie hockend schlafen konnten. Nachts kamen die Kerle und leuchteten die Mädchen mit Taschenlampen an; wer ihnen zulächelte, wurde herausgegriffen. »Dreckige Hure« und »Hallelujakruzifix« waren die Worte, mit denen sie angeredet und zur Arbeit getrieben wurden. (Isa, 89)

Insbesondere wörtliche Beleidigungen waren für das Ich und seinesgleichen besonders kränkend, denn sie waren alle als Angehörige eines gebildeten Gesellschaftskreises an solche sprachlichen Demütigungen nicht gewöhnt. Auch abschätzende Blicke oder andere belästigende Angriffe werden von der Autorin immer wieder erwähnt. Es sind dabei immer Polen, die solche Maßnahmen betreiben, ohne Rücksicht auf das Alter oder die versöhnende Haltung der Deutschen. Das Ich erzählt von solch einem ›Spiel‹ mit einem polnischen Soldaten: Gestern vertrat mir ein polnischer Soldat den Weg. Obwohl ich ihm Platz machte, ging er nicht an mir vorbei. Mindestens sechsmal stellte er sich grinsend vor mich hin, bevor er

613 Vgl. über die Fremdbilder in Das vorletzte Gericht S. 240ff. dieses Kapitels. 614 Das Ich drückt diesen Zustand mit Hilfe einer Schlinge-Metapher aus: »Die Schlinge um unseren Hals zieht sich mehr und mehr zu, die Fremden wollen uns zwingen, unser Land freiwillig zu verlassen.« (Isa, 66)

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mich weiter gehen ließ. Mein abweisendes Gesicht verleidete ihm wohl das Spiel. Ob dieser Vorfall Scherz oder Ernst war, kann ich nicht sagen; es war schon ziemlich dämmerig, wie gehetzt rannte ich mit meinem Topf Essen ins Hauptmannhaus und atmete befreit auf, als Frau Maria die Tür hinter mir verschloß. (Isa, 62)

Das Ich ist mit so vielen neuen, schmerzlichen Erfahrungen konfrontiert, dass es sich letztendlich zu müde fühlt, »alle Erlebnisse niederzuschreiben« (Isa, 43). Trotzdem ergibt sich aus seinen Eintragungen ein vielfältiges Bild vom deutschen Schicksal im Schlesien der ersten zwei Nachkriegsjahre. Der Verlust von materiellen Gütern, das Ausweisen aus Häusern, körperliche und geistige Belastung sowie das Gefühl, das Unrecht dulden zu müssen, durchziehen das ganze Tagebuch. Die Überzeugung von einer ungerechten Behandlung ergibt sich dabei aus zwei Gründen. Einerseits wird Schreiberhau als von der Welt abgeschottet beschrieben, die Tagebuchautorin existiert, genauso wie alle anderen Einwohner der Gegend, in Unsicherheit ihres Schicksals, denn sie hat keinen Kontakt mit Medien und lebt nur von Gerüchten. Alle dort wohnenden Deutschen sind sich nicht bewusst, dass Schlesien aufgrund des Jalta-Abkommens Polen zugesprochen wurde und dass sie zum Spielball vierer Mächte geworden sind. Manchmal scheint das Ich dieses Wissen zu besitzen, indem es von der bevorstehenden Ausweisung und dem Weg in den Westen (Isa, 64) spricht, an anderen Stellen tauchen wiederum viele Fragen nach der politischen Lage und der Zukunft Schlesiens auf: Wollen die Polen uns zur Auswanderung zwingen? Sollen keine Deutschen mehr in einem urdeutschen Land sein, wenn es zu einer Abstimmung kommen sollte wie 1921 in Oberschlesien? Welche Systematik liegt in dieser Enteignung und Entrechtung? (Isa, 68)

Dieser Eintragung lässt sich entnehmen, dass die Einstellung zu Polen nicht durch das Zeitgeschehen, nicht durch direkten Kontakt mit den Besatzern, weitaus weniger durch verbreitete Stereotype bedingt ist, sondern vor allem aus früheren persönlichen Erlebnissen des Ichs resultiert. Das Ich ruft seine Erinnerungen an die Kindheit und die Familiengeschichte ab und erinnert sich an den durch politische Faktoren erforderten Zwang, die oberschlesische Heimat für immer verlassen zu müssen. Die Parallelität der Ereignisse liegt dabei auf der Hand: Nun trifft uns das gleiche Los wie vor 25 Jahren meine Eltern in Oberschlesien, die auch das eigene Haus, den Besitz, die angestammte Heimat den Polen überlassen mußten. Das schwere Schicksal meiner Eltern hatte auch für mich als Kind nachhaltende Wirkung; da ich aber nun selbst in der Reife meines Lebens der gleichen Situation nochmals gegenüberstehe, scheint mir alles noch grausamer, hoffnungsloser und unerbittlicher. (Isa, 46)

Die Überzeugung von der Wiederholbarkeit der Geschichte, jenes »Welttheaters« (Isa, 44), verstärkt das eindeutig negative Bild der Polen, die in vielen Situationen

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als Besatzer dargestellt werden. Für die Tagebuchautorin erscheinen daher die Sowjets als diejenigen, die für das deutsche Schlesien eintreten und auch jetzt den Einheimischen beistehen, was eine der erhaltenen Nachrichten bestätigt: Von russischer Seite hörten wir, daß Schlesien »verwaltungsmäßig« polnisch werden soll, wir keine Rechte mehr hätten, und auch die Russen könnten nicht mehr eingreifen. Ob das glaubhaft ist? Tatsächlich ist wohl alles für uns verspielt. Wir haben nur eine einzige Waffe – nicht zu verzweifeln, auszuharren, gefaßt uns von dem alten Leben und allen Werten zu trennen, um für ein neues Dasein gerüstet zu sein. (Isa, 44)

Die Polen erscheinen in doppelter Opposition – zu den Sowjets, die nichts tun können, und zu den Deutschen, die sich den neuen Besitzern ihrer Häuser in jeder Hinsicht unterordnen müssen. Es wundert daher nicht, dass die Tagebuchautorin den Polen nichts Gutes abgewinnen kann. Äußerlich erscheinen sie ihr unangenehm, denn sie schrecken die Menschen mit ihren »pockennarbigen Verbrechergesichtern« (Isa, 37) ab615. Am »Strom dieser steigenden Flut« (Isa, 109) von Polen kann sie nur selten etwas Positives finden. Die Polen wecken im Ich vorwiegend negative Gedanken, was das folgende Zitat verdeutlicht: Vertrauenswürdig aussehende Menschen gibt es hier nicht mehr; in breiter Flut brandet vulgärstes Volk in den letzten deutschen Winkel. Ritterlichkeit ist unbekannt, die Sprache der Macht drückt sich in Prügeln, Ohrfeigen und Fußtritten aus. (Isa, 98)

Es kritisiert jede polnische Erscheinungsform, besonders die von den Polen begangenen Fest- und Feiertage, die immer zu Saufgelagen werden, als ob »dieses Volk [keine – R.D.-J.] andere Fröhlichkeit« (Isa, 99) gekannt hätte. Es gefällt der Schreibenden ebenso nicht, dass sie von den gelangweilten Polen mit ironischen Mienen bei der Arbeit beobachtet wird, weil sich in dieser Haltung ihre untertänige Position verstärkt ausdrückt. Nur zwei Mal scheint das Ich bemüht zu sein, dem historischen Wandel gerecht zu werden, indem es über die deutsch-polnischen Beziehungen reflektiert, über den Verlust von Oberschlesien und dem dortigen Elternhaus, die den Polen ohne Kampf, wie jetzt, zugefallen sind (Isa, 110). Die Wiederholbarkeit des für die Deutschen tragischen Schicksals korrespondiert für die Tagebuchautorin mit der gleichen Situation der Polen, die wieder, nach wenigen Jahren staatlicher Souveränität, von den Sowjets abhängig werden. Dieser Gedanke beschäftigt das Ich kurz vor der Vertreibung und lässt sich als eine versöhnende historische Legitimierung von unlösbaren nationalen Konflikten verstehen: 615 Die negativen Bezeichnungen für die Polen wiederholen sich mehrmals. Eine Anhäufung von verurteilenden Ausdrücken ist dem folgenden Zitat zu entnehmen: »Mörder, Verbrecher, Erpresser, Hehler und Stehler sind jetzt unsere allernächsten Nachbarn; die regste Fantasie kann sich nicht ausmalen, was für ein Gesindel um uns wohnt.« (Isa, 96) Zum negativen Polenbild vgl. auch die Analyse von »Das vorletzte Gericht« in diesem Kapitel S. 240ff.

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Und nun, siebenundzwanzig Jahre danach, erreicht uns hier in Schlesien, im Riesengebirge, wo niemals ein Wort polnisch gesprochen wurde, das gleiche Schicksal. Polen erbt heute wie damals ohne Kampf neues Land. Im Gegenteil, vor 28 Jahren haben wir erst Polen frei gemacht vom russischen Joch. Diese Gedanken bewegen mich beim Abschied, da von frühester Kindheit an der Pulsschlag der Geschichte offen vor mir lag. Wenn die Polen aber jetzt indirekt wieder unter russischer Oberhoheit stehen, werden sie niemals das freie Land werden, das einem Chopin vorschwebte. Diese Tatsache wird in Polen der ständige Zwiespalt bleiben; wir haben ihn an den geteilten Gefühlen mancher Polen jetzt ständig beobachten können. (Isa, 110)

Die Auseinandersetzung mit den Polen bildet zwar eins der Themen der Tagebücher, aber es wird von den Tag für Tag eingetragenen Berichten über die neuen Lebensbedingungen in der Heimat verdrängt, die allmählich einem Vegetieren »wie in der Verbannung« (Isa, 60) zu ähneln beginnen. Die Liste der alltäglichen Bürden wird immer länger; sie wird vom Verkauf der Kostbarkeiten an polnische Händler (Isa, 51) angeführt, mit Wasser- und Erhöhung der Strompreise fortgesetzt, um die Einführung von weißen Armbinden für die Deutschen, die Ablieferung des Viehs (Isa, 92) und dann um die Zahlung der Mieten an den polnischen Staat ergänzt616. Der Entzug aller Rechte, schwere Lebensbedingungen und kein Zugang zu Nachrichten tragen dazu bei, dass die Heimat immer fremder wird, dass es jedem Deutschen schwerfällt, in einer »polnisch verwalteten Sowjetrepublik« (Isa, 91) zu leben, und dass das Ich mit dem Gedanken an das Verlassen der Heimat immer wieder beschäftigt ist. Die Erfahrung der Liminalität der Vertreibung kommt in Ruth Storms Prosawerk in dreierlei Gestalt zu Wort. Im Roman Das vorletzte Gericht drückt der triadische, dramenähnliche Aufbau der Ereignisse, deren Grenze einerseits die Flucht vor der Roten Armee und die Vertreibung aus der Heimat andererseits bestimmen, die historische Determiniertheit und Tragik der Bevölkerung aus; im Tagebuch Ich schrieb es auf fällt das subjektiv Erzählte mit dem objektiv Wahrgenommenen zusammen und sie lassen den Eindruck eines erlebten Zwischenraumes entstehen, der mit Hilfe von täglichen Eintragungen und symbolischen Ergänzungen die Stationen des Abschieds von der Heimat markiert. Im Roman Odersaga findet hingegen die Tragödie des Zweiten Weltkrieges und der Vertreibung in einer episch begriffenen unerzählten Begebenheit ihren Niederschlag. Im Symbol des leerstehenden Schlosses Odersaga verdichtet sich die Erfahrung der Flüchtlinge und Vertriebenen, die nicht nur im Rückblick begriffen wird, sondern vor allem zukunftsorientiert ist. Das verlassene Schloss 616 An dieser Stelle bemerkt das Ich nicht nur die Tatsache der Einführung von Mieten, sondern zugleich die von der sozialistischen Regierung vollzogene Verstaatlichung bzw. Kollektivierung des Privateigentums: »Der polnische Staat zieht jetzt für jedes Zimmer Mieten ein, pro Raum und Monat 30 Zlotys ein. Hauseigentümer gibt es nicht mehr, der Staat selbst ist der Besitzer aller Gebäude.« (Isa, 93)

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wird zu einer schnellen Beute für die Rote Armee. Schlösser und Paläste waren in den letzten Kriegsmonaten und kurz danach oft in die Hände der Sowjets geraten und wurden nach der Plünderung und Zerstörung in Brand gesetzt. Ein solches Schicksal widerfährt auch dem Sitz der Familie Gaebler, aber die Russen erweisen sich in diesem Fall nicht nur als Diebe und Zerstörer, sondern auch als Schänder eines Heiligtums. Sie wagen es, die Toten aus den Schlossgrüften zu exhumieren und die Skelette an die Bäume zu hängen. Durch diese Tat berauben sie auch die Vertriebenen ihrer Wurzeln und schneiden sie von der Tradition ihrer Heimat sowie von humanen Werten ab. Für den Inspektor Müller und dessen Frau geht am Tag des Einmarsches der Sowjets eine Welt zugrunde, als sie zu Zeugen der Entehrung ihrer Vorfahren, des Untergangs ihres materiellen sowie geistigen Erbes werden. Das erschütternde Bild dieser Verwüstung lässt sie erstarren und beraubt des Glaubens an das Humane: In den Bäumen hingen menschliche Skelette. Das herausgerissene Gitter des Mausoleums lag im Gebüsch. In der Gruft waren die Särge erbrochen, durchwühlt und die Toten entfernt worden. Eine deutsche Soldatenmütze hing schief auf dem Schädel eines Knochengerüstes. Fassungslos stand das Paar vor der geschändeten Ruhestätte derer von Rengersdorff. Martl Müller schluchzte, auch der Inspektor kämpfte mit Tränen. Durch Büsche und Bäume raunte auf einmal ein Lüftchen. Zunächst zaghaft, aber dann fegte ein Wind durch die Äste in heftigen Stößen, die Gerippe bewegten sich im Rhythmus der Böen, die anhaltend und stärker wurden. (O, 303)

Die Ereignisse zerstören nicht nur das von den Russen in Brand gesetzte Schloss, sondern auch das vergangene Leben der Gemeinde, die von ihrer Tradition für immer Abschied nehmen muss. Der Inspektor Müller, der langjährige Verwalter der Odersaga, ist sich dieses Kontinuitätsbruches bewusst und fühlt sich als »durch höhere Gewalt aus seiner Verantwortung entlassen worden. Jetzt konnte er gehen, es war nichts mehr zu verwalten und zu behüten – es gab kein Odersaga mehr.« (O, 304) Das Verschwinden des materiellen und geistigen Erbes wird den alten Schlossgemeinschaftseinwohnern den Anlass zur Bildung einer neuen Heimat geben, deren immaterieller Charakter als ein identitätsbildendes Element gelten wird.

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Irgendwo oder Klein-Europa. Bilder der neuen Heimat

Mit welchem Ereignis, an welchem Platz beginnt die neue Heimat? Ist die neue Heimat ein Faktum oder nur eine Vorstellung? Kann man sie topographisch eingrenzen oder konstituiert sie sich eher innerlich-emotional in Opposition zur alten? Diese und ähnliche Fragen lassen sich weiter fortsetzen. Man findet auch nicht auf jede von ihnen eine Antwort, denn der neuen Heimat räumen die Schriftsteller gewöhnlich weniger bzw. gar keinen Raum ein. Auch für Ruth Storm ist die neue Heimat meistens die letzte Station einer langen Ereigniskette, die den »ungeheuren Verlust«617 und einen endgültigen Abschied von der richtigen Heimat markieren. Ruth Storm unterscheidet sich von anderen Autoren schlesischer Abstammung, dadurch dass sie den doppelten Verlust der Heimat – 1921 und 1946 – ins Zentrum ihres Interesses rückt. In beiden Fällen handelt es sich um eine ungewollte, durch Europas Geschichte bedingte Migration, die aber jeweils ein anderes Ende nimmt: Die oberschlesische Heimat wird nämlich nach Niederschlesien verlegt und findet dort ihre glückliche Fortsetzung; die Vertreibung aus dem Paradies des Riesengebirges bedeutet dagegen einen Neuanfang in der Fremde eines für die Storm’schen Figuren unbekannten Vaterlandes. Das Thema des Verlassens der oberschlesischen Heimat wird dabei nur in … und wurden nicht gefragt aufgegriffen und in Ich schrieb es auf zweimal erwähnt; das komplexe Bild der neuen Heimat im Westdeutschland wird dagegen in Das vorletzte Gericht, Ich schrieb es auf, Der Verkleidete, Unter neuen Dächern entworfen; in Odersaga wird auf das Motiv der Vertreibung eingegangen, ohne allerdings die Details des Lebens in der neuen Heimat zu beschreiben. In den zwei ersten Werken scheint die Darstellung der Vertreibung im Vordergrund zu stehen, die Figuren durchlaufen dabei dieselben Stationen und werden mit analogen Erlebnissen konfrontiert. In Der Verkleidete und Unter neuen Dächern wird dem Moment der Vertreibung weniger Aufmerksamkeit geschenkt, wobei die Inte617 Auch L.F. Helbig ist in seiner Studie auf die Vertreibung und weniger auf die neue Heimat fokussiert. Vgl. Helbig, Der ungeheure Verlust (wie Anm. 164), S. 190–211.

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Irgendwo oder Klein-Europa. Bilder der neuen Heimat

grationsprozesse die Plotentwicklung kennzeichnen. Die letztgenannte Sammlung unterscheidet sich in räumlicher Sicht von allen anderen, weil sich hier die Handlung in Süddeutschland abspielt, wobei die meisten Vertriebenen in Ruth Storms Prosawerken im Norden ihre Endstation finden.

7.1

Unterwegs zur neuen Heimat

Wenn man auf zwei Prosawerke Das vorletzte Gericht und Ich schrieb es auf, die den Weg der Vertriebenen in die neue Heimat nachvollziehen, schaut, so stellt sich heraus, dass das Abschließen der Haustür den Beginn des Weges markiert. Das Szenario sieht jeweils gleich aus. Dem Beschluss der Ausweisungskommission nach wird die Tür zur Hausmeisterwohnung in dem Roman Das vorletzte Gericht, wo Marianne samt ihrer Familie und den Neubauers Zuflucht vor den neuen russischen und polnischen Einwohnern ihres eigenen Hauses findet, »zugeschlagen und mit einem Siegel verschlossen« (VG, 243). Im Tagebuch Ich schrieb es auf gibt es eine parallele Szene, der aber viele Vorankündigungen vorangestellt werden, die sich auf semantischer Ebene auf das Wort Abschied fokussieren. Gegen Ostern 1946 taucht es im Tagebuch zum ersten Mal auf und wird danach regelmäßig gebraucht. So will sich das Ich von beinahe jedem Element der Heimat verabschieden, vom »üppigen Blühen und Grünen im ganzen Mittel-Schreiberhauer Gesenke« (Isa, 99), von »einer klaren Primelblüte« (Isa, 98), von den geliebten Pferden Buschy und Minka, den Waldvögeln, Garten- und Feldarbeiten sowie von der »dunkelgrünen, dunstigen Waldferne der Berge« (Isa, 112). Mit dem traurigen Blick begleitet es die sich »häuser- und straßenweise [vollziehende – R.D.-J.]« (Isa, 103) Vertreibung, die vielen Nachbarn, der Mutter und Tante zuteil wird. Es gelingt dem Ich noch einmal in Abwesenheit der Polen, die Herrin im eigenen Haus zu sein, was sie dann in ihren Augen ausweisungsbefugt macht, denn sie hat auf diese Art und Weise vom geliebten Haus Abschied genommen. Der lange erahnte Abschied fällt somit nicht so schwer und wird widerspruchslos vorbereitet, als ob es sich um eine gewöhnliche Reise handeln würde, die nur der trübe Gedanke an das Unbekannte verdirbt: Die Angst vor dem Ungewissen würgte alle. Der Abschied der Alteingesessenen schnitt ins Herz, es waren Bilder, die in ihrer rauhen Wirklichkeit fast unwirklich schienen. Jedermann ist Mitspieler in diesem Schauspiel auf der unerbittlichen Bühne des Weltgeschehens. Von 14 Uhr ab mußten wir uns bereit halten. Eine tage- und nächtelange Vorarbeit war nötig gewesen, um alles fest zu verpacken und noch vorhandene Wertegegenstände vor fremdem Zugriff zu verstecken, dazu kam noch das Zubereiten der Verpflegung. (Isa, 112)

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Unterwegs zur neuen Heimat

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Es ist hervorzuheben, dass das Ich den Moment der Ausweisung sehr genau beschreibt: den Vorbereitungen folgt die Aufzählung aller mitgenommenen und gebliebenen Gegenstände, dann finden das »Abschließen, Durchschnüffeln und Besichtigen des Hauses durch die Evakuierungskommission« (Isa, 113) statt. Mit dem endgültigen Verlassen des Hauses beginnt – auch im Roman Das vorletzte Gericht – die ›Odyssee‹, deren Etappen sich jeweils wiederholen. Die Protagonisten schließen sich der Gruppe der Nachbarn an, die schon »auf ihren Bündeln stumpf saß« (VG, 243). In Das vorletzte Gericht erfolgt ein genauer Bericht über das Sich-Anreihen an diese »Menschenkarawane« (VG, 244) von immer neuen Nachbarn, die aber anonym bleiben und nicht beim Namen genannt werden, als ob es in diesem Fall wirklich um alle Vertriebenen ginge. Diese Situation scheint ihnen ein Traum, ein »böser Spuk« (VG, 244) zu sein, denn sie wollen es nicht begreifen, dass sie nur mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken wegziehen müssen, während ihre Häuser, Güter, Viehe und alles, was ihnen wertvoll schien, zurückbleiben sollten. Mariannes letzter Kontakt mit der Heimat endet in diesem Moment, als der von den Soldaten eskortierte Menschenzug, ohne Lachen, ohne Singen, stöhnend und scheu flüsternd (VG, 245) das Tal verlässt. In dem Tagebuch werden die Erinnerungen des Ichs um den nächtlichen Aufenthalt am Schreiberhauer Bahnhof ergänzt, dann um die Beschreibung der Zugfahrt nach Hirschberg durch eine jetzt ganz fremd gewordene Gegend, um den »Marsch quer durch Hirschberg vom Bahnhof West nach Hartau, [der – R.D.-J.] eine qualvolle Prozession vor dem polnisch-slawischen Gesicht dieser urdeutschen Gebirgsstadt mit seiner alten Gnadenkirche« (Isa, 115) war. Die letzte Station in der alten Heimat, die dieses Attribut schon längst eingebüßt hat, bildet ein Lager hinter Stacheldraht, das die Tagebuchautorin beschreibt, indem sie sowohl auf die dort herrschenden Lebensbedingungen als auch auf den inneren Zustand deren Insassen hinweist: In unserer Baracke sind annähernd 250 Personen zusammengepfercht. Nach dem Leben in der Bergfreiheit ist diese Massenansammlung beklemmend. Die Klosetts bieten einen widerlichen Anblick. Aber wir lassen uns nicht niederziehen, auch die alten gebrechlichen Menschen halten bewunderungswürdig durch. Nun leben wir in der eigenen Heimat hinter Stacheldraht, bewacht von fremden Männern. In der Ferne blaut der feine Strich der Kammlinie. Aus der Nähe grüßt der Grünbusch herüber, den ich so oft vor Jahren frohen Sinns zu Pferd Richtung Fischbach durchstreifte, unterwegs zu guten Freunden. (Isa, 115)

Es ist anzumerken, wie eng die äußere und innere Welt der Tagebuchautorin miteinander gekoppelt sind, dass Raum und Gefühle einander bedingen, dass der Begriff der Heimat ein realer ist und alles Andere als Eingriff des Fremden und Bedrohlichen betrachtet werden wird. Die Kontrastwelten von Gefangenheit und Freiheit, die äußere Armut der Lebensverhältnisse und der innere Reichtum von

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Erinnerungen an die Heimat, die sich sowohl emotional als auch räumlich manifestieren, werden aber einander gegenübergestellt und keine von ihnen scheint minderwertiger zu sein. Das Vergangene wird zur Gegenwart, und diese wiederum reicht in das Vergangene zurück, die Vision der bevorstehenden Ereignisse wird allerdings nicht miteinbezogen, denn die Zukunft wird von der Schreibenden noch ausgeklammert. Auf diese Art und Weise wird ein Zwischenraum geschaffen, der einem zeitlosen Schwebezustand gleicht. Der Zwischenraum wird dabei so semantisiert, dass die Momente des In-der-HeimatBleibenwollens bzw. des Heimat-Verlassen-Müssens nachdrücklich verdeutlicht werden. Ein solcher Kontrapunkt ist die Kapelle, die abends auf dem Lagerplatz spielt und dadurch für den »Galgenhumor« (VG, 116) unter den Vertriebenen sorgt oder ein Stoffhündchen des Sohnes, das die Tragik der Situation auf groteske Art und Weise widerspiegelt. Sowohl im Tagebuch als auch im Roman spielt freilich die Fahrt im Güterzugwaggon eine wichtige Rolle, denn der hetero- bzw. homodiegetische Erzähler lernt dort zum ersten Mal in diesem geschlossenen Raum, sich das Neue und Fremde anzueignen. Zwar erscheinen die Passagiere in dieser Szene als entmenschlichte Nummern, mit Hilfe deren die polnische Behörde die Vertriebenen einzuordnen versucht618, trotzdem gewöhnen sie sich – merkwürdigerweise – ganz schnell an diese neue heterotopische Wirklichkeit und sind imstande, sie nur mit Hilfe von Humor zu ertragen. Die Tagebuchautorin beschreibt diese Situation wie folgt: Das Einschachteln in die glühend-heißen Güterwagen mit dem Gepäck ist nicht einfach. Kinder weinen, die Großen fluchen, wir lachen – die beste Methode, dieser unmöglichen Situation Herr zu werden, denn es gibt auch komische Momente. Endlich haben alle ihren Platz gefunden, eng aneinander gedrückt. Ein befreiender Augenblick ist es dann aber doch, als sich schließlich dieser endlose Güterzug mit der zusammengewürfelten Menschentracht in Bewegung setzt. (Isa, 117)

Das Einsteigen in den Zug ist zwar dem Betreten der Hölle ähnlich, aber komische Situationen entschärfen die Lage und wirken im Fall der Tagebuchautorin »entnervend« (Isa, 118). Der Fokus der Erzählung wird aber jeweils auf den Erinnerungsprozess als solchen gelegt, denn es kommt in beiden Prosawerken auf das Registrieren von allen Phasen, Ereignissen und menschlichen Reaktionen an. In beiden Berichten wiederholen sich nämlich Bilder von weinenden Kindern, Überfällen von Banditen, Kontakten mit »fragwürdigen Personen« (Isa, 118), schreienden und jammernden Menschen, die sich im psychischen Schock befindend laut über ihr Unverständnis für diese Situation klagen. Die für den Zug 618 Auch im Hinblick auf die Durchführung des Transports bemängelt das Ich die polnische Organisation wie folgt: »Von polnischer Seite kümmert man sich nicht um die richtige Numerierung, und erst unsere Leute schaffen Ordnung.« (Isa, 117)

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mit »siebenundfünfzig Güterwagen mit Menschenfracht, mit Männern, Frauen, Kindern und Greisen« (VG, 245) charakteristischen Bilder, die auf narrativer Ebene auf der Aufzählung und Wiederholung von Elementen der Wirklichkeit aufbauen, werden während dieser langen, mehrere Tage dauernden Fahrt von unerwarteten Szenen unterbrochen, die die Versammelten mit verschiedenen Grenzsituationen konfrontieren lassen. In Das vorletzte Gericht stirbt die Frau eines Schusters und er wehrt sich dagegen, ihre Leiche aus dem Zug zu werfen und erzwingt die Bestattung. Als der Zug weiterfahren muss, bleibt er am provisorischen Grab seiner Frau sitzen, die weitere Fahrt verweigernd. Eine solche Haltung entfacht eine Diskussion über das Versagen anderer Passagiere, die den Schuster im Stich gelassen haben, anstatt ihn zum Einsteigen zu zwingen. Die moralischen Dilemmata, die im Tagebuch in keiner Weise artikuliert werden, finden im Roman in den aus der Innensicht erzählten Passagen ihren Niederschlag. Der Blickwinkel des heterodiegetischen Erzählers wird durch Monologe und Dialoge der Figuren bereichert, was freilich die Intention der Autorin unterstrichen hat, an möglichst viele Vertriebene das Wort abzugeben und deren Probleme, Ängste und Gefühle zu artikulieren. In dieser Hinsicht decken sich die tagebuchartigen Notizen kaum mit der epischen Darstellung des Romans. Den Tagebuchstil kennzeichnet eine absichtliche oder sich aus Begrenzung in Zeit und Umfang ergebende Knappheit des Ausdrucks, die dagegen im Roman kompensiert wird. Drückt die Tagebuchautorin ihre und der anderen Befürchtungen um eine unbestimmte Fahrtdauer aus, um den Verbrauch von Vorräten, die Zukunft im fremden Land oder im weiten Amerika, wohin manche »im rollenden Gefängnis« (Isa, 119) auszuwandern planen, werden denselben Problemen im Roman längere Passagen gewidmet, die oft in Form von inneren Monologen eines Kollektivprotagonisten dargestellt werden. Die meist von rhetorischen Fragen eingeleiteten Überlegungen kreisen um den schmerzlichen Abschied und die Suche nach einer überzeugenden Erklärung dafür. Der einerseits kläglich artikulierte Protest gegen die Vertreibung aus der Heimat, die nicht mehr wiederzuerkennen ist, vermischt sich mit dem Bedürfnis, der Odyssee ein Ende setzten zu wollen und etwas Vertrautes, Eigenes um sich herum finden zu können. Ein Wir-Erzähler spricht darüber, einen appellativ-fordernden Ton anschlagend, wie folgt: Kennt ihr draußen das Land? Die reiche, fette schlesische Ebene! Ach, es war wohl besser, ganz still in dem großen, dunklen Sarg zu sitzen und keinen Blick durch den Ritz der Tür nach draußen zu werfen. […] Sie fuhren über ein fremdes Land, wie ein Schiff fährt über ein bewegtes, unbekanntes Meer; wer ausstieg, versank darin für immer wie der Schuster und der Mann, der nicht wiederkam. Oh, wenn doch endlich das andere Ufer käme, und sei es noch so fremd, nur Boden wollten sie alle wieder unter ihren Füßen haben, feste, gute Erde. (VG, 249)

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Das Passieren der Grenze und Erreichen des fremden Bodens – die nächste Station der Fahrt in die neue Heimat – verläuft in beiden Werken beinahe ähnlich: Im Tagebuch wird diese Tatsache in einem Satz markiert (»Um 23 Uhr läuft unser Zug in dem Durchgangslager Mariental bei Helmstedt ein.« Isa, 119), wobei im Roman ebenfalls nur eine, wieder im Plural ausgesprochene, Mitteilung erscheint: »Wir sind nun drüben, drüben im Westen!« (VG, 252) Im Tagebuch folgt dieser Eintragung kein Kommentar, im Roman aber wird die Überquerung der westdeutschen Grenze als Erlösung von dem Leiden und als Hoffnung auf ein besseres Leben gedeutet. Die Ankunft im Westen wirkt sich sogar heilend auf die Toten aus, die im »dunklen, stickigen Sarg« (VG, 252) endlich einen »erquickenden Schlaf« (VG, 252) finden können. Da das Tagebuch nach der Ankunft nur zwei, aber sehr inhaltsreiche Eintragungen bekommt, die berichtenderweise die einzelnen Etappen der Kontaktaufnahme mit der neuen Heimat darstellen, kann es im Weiteren mit dem Roman nicht konfrontiert werden. Die Tagebuchautorin verfolgte eindeutig das Ziel, die letzten Kriegsmonate und das erste Jahr seit dem Krieg bis zur Vertreibung aus Schreiberhau zu schildern, aber charakteristischerweise setzt sie das Schreiben in der neuen Heimat nicht mehr fort. Die Ankunft wird im Tagebuch in einigen Worten zusammengefasst: Aufnahme, Registrierung, Gepäckverteilung, Desinfektion, Strohlager, Rotes Kreuz, Weitertransport, Privatquartiere619. An diese Substantivkette, die den Ablauf von Geschehnissen zum Ausdruck bringt, schließen sich andere Komposita an, die den emotionalen Zustand der Vertriebenen ausdrücken. Es freut sie auf der einen Seite, dass sie endlich »ohne Angst« (Isa 120) schlafen können, auf der anderen werden sie von negativen Gefühlen der Entfremdung befallen, denn sie verstehen schnell, dass der Prozess der Integration nicht einfach sein wird: Aber je mehr wir den Lebensrhythmus der Stadt erfassen, um so tiefer empfinden wir, daß wir Eindringlinge sind, die Wohnungsnot und Ernährungsschwierigkeiten noch vermehren. […] Das Land ist flach, der Boden fruchtbar, Industrie und Landwirtschaft geben ihm sein Gepräge. Außerhalb des Ortes fließt der Mittellandkanal – das gibt uns ein Gefühl der Ferne. […] Entwurzelt zu sein, ist das schwerste Los, das Menschen treffen kann. (Isa, 121)

Das bemerkbare Gefühl des Fremdseins und der von Anfang an fehlenden Verwurzelung am neuen Ort werden im Roman metaphorisch noch prägnanter ausgedrückt. Der neuen Heimat widmet die Autorin das letzte Kapitel, dessen Titel Zum fremden Ufer auf die Isoliertheit einerseits und die erhoffte Integration andererseits verweist. Diesmal gebraucht der Erzähler eine Plural-Form, als ob er 619 Die Tagebuchautorin gibt den Namen ihrer neuen Heimatstadt an: »Wir wurden in Privatquartiere eingewiesen. Ein Teil unserer Landsleute kam aufs Land, die anderen blieben in Peine«. (Isa, 120)

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sich von den Ankommenden distanzieren möchte. Er hält die neuen Einwohner sowieso für Tote, die mit der »Fähre Charons« (VG, 253) gekommen für beide Welten – die alte und neue – ohne Wert erscheinen. Die vom Erzähler vollzogene Benennung der Vertriebenen besteht ebenfalls aus lauter Substantiven, die zum Teil auch der Alltagssprache und Ansichten der neuen Mitbewohner entsprechen620: »Flüchtlinge! Vertriebene! Heimatlose – schwankende Blätter, vom Sturmwind verweht! Ein millionenfaches Heer, hineingespült in ein zerstückeltes Vaterland.« (VG, 253) Dem Erzähler entgeht nichts, er schildert offen die Armut der Ankömmlinge, die in ihrer Heimat den ganzen Besitz hinter sich gelassen haben und von den Mitbürgern als Leichen und Verlorene betrachtet werden, die nicht einmal deren Mitleid verdienen und nur mit »argwöhnischen Augen« (VG, 253) betrachtet werden. Die Fremden werden nämlich als Bedrohung wahrgenommen, denn sie könnten all den Besitz der Einheimischen begehren, alles, »was sie selbst noch besaßen: Heimat, Beruf, Haus und Herd.« (VG, 254). Der Erzähler scheint aber für diese Situation volles Verständnis zu haben, und versucht versöhnlich viel zu erklären, und dadurch eine Art Brücke zwischen alten und neuen Einwohnern zu schlagen. Er argumentiert dabei folgenderweise: Wer nahm schon Schiffbrüchige auf, die nicht einmal einen Kochtopf hatten! War nicht ein jahrelanger Krieg über das Land gegangen und schienen die Segnungen des Friedens nicht noch in weiter Ferne zu liegen? Haltet nur euer Eigentum fest, ihr könnt es selber noch brauchen, wer weiß, was noch alles kommen wird! – Aber niemand hatte die Vertriebenen gefragt, was sie entbehren konnten; man hatte aus ihren vollen Scheuern genommen, und manch einer, der mehr gehabt hatte, als seine neuen Wirtsleute, lächelte über die Engherzigkeit und schwieg. Andere aber empörten sich und nahmen, wie man auch ihnen genommen hatte; und die Begriffe veränderten sich, und der Hunger war ein böser Diktator. (VG, 255)

Die Distanz, das Gefühl des Ungewollt-Seins621 empfindet langsam auch Marianne selbst, als sie durch die Stadt geht und ihren deutschen Charakter zwar bestätigt, deren Fremdheit und die eigene Nur-Besucher-Funktion jedoch nicht 620 Die Ankömmlinge stießen von Anfang an auf Ablehnung und wurden wegen ihrer sprachlichen und konfessionellen Andersartigkeit als »Polacken« beschimpft und ihre Vertriebenensiedlungen als »Mulattenzucht« oder »Neu-Korea« diffamiert und konnten zunächst mit den neuen Nachbarn keine Gemeinschaft eingehen. Besonders schmerzhaft wirkte sich auf Vertriebene das sog. Zerstückelungsprinzip aus, das die Niederlassung von ganzen Gruppen, Dörfern, Gläubigen derselben Konfession verhinderte und dadurch die Einsamkeit der Flüchtlinge verstärkte. Vgl. N. F. Pötzl: Hitlers letzte Opfer. In: Die Deutschen im Osten Europas. Eroberer, Siedler, Vertriebene (wie Anm. 131), S. 235–247, hier: S. 235, 237, 239. 621 Das Gefühl des Befremdens und Nichtdazugehörens unter den Vertriebenen und Flüchtlingen kennzeichnet sowohl literarische Texte als auch Dokumente. Dieser Zustand der wiederholten »Entheimatung« kommt aber meistens im Moment der zweiten Begegnung mit der verlorenen Heimat zustande. Vgl. A. Lehmann: Im Fremden ungewollten zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945–1990. München 1991, S. 114f.

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verleugnen kann. Es wird ihr bewusst, dass den Vertriebenen, den »ungebetenen, bettelarmen Gästen« (VG, 256), die »Lebensader durchgeschnitten worden ist« (VG, 258), dass sie ihr »biblisches Paradies« (VG, 258) für immer verloren haben und das gerade erreichte Neuland dessen Verheißung nie werden kann. Aus der Sicht eines heterodiegetischen Erzählers werden die Lage aller Vertriebenen, deren Sehnsucht und verlorene Hoffnung auf ein neues Leben treffend auf den Punkt gebracht: Es lag wohl auf einem anderen Stern, es war versunken wie das biblische Paradies, und ob man es Schlesien, Ostpreußen oder Pommern genannt hatte, es blieb das Land Nimmermehr. Es blieb das Land der Sehnsucht, das Land, wo der liebe Gott gewohnt hatte, wo die Menschen ihre Wurzeln spürten. Nun war allen die Lebensader durchgeschnitten worden, ihre Heimat hatte keinen Namen mehr; wie eine Fata Morgana schwebte sie über tausend und aber tausend Vertriebenen, und nur in ihren Träumen lebte es weiter, dieses unersetzliche Land Nimmermehr. (VG, 258)

Die in diesem Fragment vollzogene Abrechnung mit der alten Heimat sowie die Klage über die Nichtexistenz einer neuen scheinen für Marianne notwendig zu sein, denn ohne das Bewusstsein, was ihr die frühere Heimat bedeutete, und die Überzeugung, keine andere finden zu können, wäre ihre Annäherung an den neuen Wohnort kaum möglich gewesen. Marianne befindet sich aber in einer besonderen Situation, sie hat nämlich keine Zeit, von der alten Heimat zu schwärmen. Als Neubauers Tochter stirbt, muss sie deren Sohn Gerhart zur Mutter werden. Diese neue Rolle führt dazu, dass sie sich um Gerhart kümmern muss, und weder an die Lebensbedingungen vor Ort noch an sich selbst denken kann. Diese Fokussierung auf Mariannes Entfaltung als Mutter verursacht, dass der heterodiegetische Erzähler die Unterkunft der ehemaligen Rackentaler Einwohner zwar sehr gründlich beschreibt, im Verlauf der Handlung das Wort aber immer mehr an den homodiegetischen Erzähler, d. h. an Marianne selbst, abgibt. Das kleine mit vielen Details geschilderte Zimmer, das Marianne, Gerhart und eine gewisse Anna Bartsch, die verwitwete Seilerfrau aus dem niederschlesischen Schmiedeberg beziehen, wird zum multifunktionalen Raum: Zunächst spiegelt es die eingeengten Lebensverhältnisse seiner Bewohner wider, was im Kontrast zum Umfang des Erpachshofes steht. Der dürftige Haushalt besteht aus kargen Gegenständen, die die Wirtsleute, »eine Kaufmannsfamilie, zusammengetragen hatten, was sie entbehren konnten.« (VG, 261). Die lediglich in einem Satz eingeschlossene Beschreibung der Unterbringung drückt das Elend der Vertriebenenschicksale prägnant aus. Dieser neuen Bleibe, die die nächste Etappe ihres Lebens in der Fremde bedeutet, stehen sie zunächst positiv gegenüber, denn »nach dem Vegetieren im Massenquartier« (VG, 261) erweist sich der neue Unterschlupf als »eine Oase« (VG, 261). Im Fall von Marianne übernimmt das Zimmer zusätzlich die Rolle eines Erin-

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nerungsraumes, weil der Blick aus dem Fenster auf einen Garten und blühende Obstbäume geht, was bei ihr Reminiszenzen an die Heimat weckt, die sich nicht nur über die angebauten Felder und Grundstücke erstreckt, sondern auch weiter hinausreicht: Daheim hingen jetzt an den Sträuchern kirschengroße Johannisbeeren, reiften am Hang sonnensüß die Erdbeeren in langen Beeten, Himbeeren dufteten am Iserkamm, und unter dem dunklen Laub glänzte am Gestein und an den Wurzelstümpfen tiefschwarz die Heidelbeere. Im Keller und in den Fächern der Speisekammer daheim standen vor kurzem noch Vorräte für manchen Winter, andere hatten sie gegessen und vertan. (VG, 261)

Die Bilder der Heimat gehören aber zur Seltenheit, denn sie werden von Alltagssorgen überschattet und nur ab und zu wachgerufen. Die alltäglichen Probleme reihen sich, genauso wie im Tagebuch Ich schrieb es auf, in Substantivketten ein, in welchen alle Unbequemlichkeiten, Ängste und Strapazen des neuen Lebens zum Ausdruck gebracht werden. Wohnungsnot, Hunger und allgemeine Armut, von welcher sowohl die Einheimischen als auch Ankömmlinge betroffen sind, werden konkret benannt: »Gefängniszelle auf diesen paar Quadratmetern«, »zerrissene Schuhe«, »keine ordentliche Bettwäsche«, »keine Teller, keine Tassen, keine Töpfe«, »keine Barmittel« (VG, 262). Diese materiellen Sorgen verstärken zusätzlich das Gefühl der Entfremdung und der Heimatlosigkeit unter den eigenen Landsleuten. Marianne versucht allerdings deren Haltung zu begreifen, aber in einem aus ihrer Sicht formulierten Urteil, dem große Enttäuschung und Trauer zu entnehmen sind, findet man keine Erklärung für diese Situation: Marianne hatte stets mit vollen Händen gegeben, und nun sah sie, wie die Einheimischen aus einer gewissen Angst und Enge ihren Besitz festhielten wie etwas Unwiederbringliches. Diese Haltung riß eine tiefe Kluft zwischen die Menschen gleicher Sprache. Keiner wollte den anderen verstehen, jeder pochte auf sein gutes Recht, und so kam es, daß man überall die Vertriebenen als eine Plage empfand. (VG, 262)

Mariannes Bild der neuen Heimat ist dagegen voller Dynamik und sie hat auch keine Zeit, über die eigene Lage und die der anderen Vertriebenen zu reflektieren. Nach dem Selbstmord der Mitbewohnerin Anna Bartsch, die sich am Fensterkreuz des gemeinsamen Zimmers erhängt hat, weil sie diese neue Lebenssituation nicht verkraften konnte, werden ebenfalls in Marianne mit verstärkter Kraft Erinnerungen an die alte Heimat geweckt. In ihren Vorstellungen projiziert sie die Wälder des Riesengebirges, die sie zusammen mit Neubauer bewandert, indem sie alle vier Sinne aktiviert. Die bekannten Gestalten übermannen sie, die Geschichte der Region spielt sich in Fragmenten vor ihren Augen ab. Diese träumerischen Ausflüge in die heimatliche Welt machen ihr zugleich die Rolle der Erinnerung bewusst, denn sie »blieb der Born aus dem man immer wieder schöpfen konnte.« (VG, 282)

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Nicht nur Erinnerungen wirken auf Marianne heilstiftend. Es sind vor allem die Menschen aus der Heimat, die das Andenken an die alten Zeiten bewahren lassen und als eine Art Brücke zwischen Damals und Heute fungieren. Zu solchen Menschen gehören der Uralte und Gabriel Wismar. Beide hat sie in den letzten Kriegsmonaten kennengelernt, und von beiden musste sie sich trennen. Zufälligerweise begegnet sie ihnen in ihrem neuen Wohnort wieder. Sie lassen sich dabei als zwei Richtlinien ihrer Entwicklung in der neuen Heimat verstehen. Wismar plant, nach Amerika auszuwandern, und wünscht sich, sie ginge mit ihm zusammen. Auf dieses Angebot geht sie aber des Sohnes wegen nicht ein. Die zweite Person, die sie an die Heimat erinnern lässt, ist der »Uralte« (VG, 267). Marianne begegnete jenem geheimnisvollen Fremden von priesterhaftem Wesen zum ersten Mal im Stall des Erpachshofs. Das Gespräch mit ihm erwies sich während dieser schwierigen Nacht nach dem Einmarsch der Russen als tröstend, weil er ihr das Wesen des menschlichen Leidens erklärte. Als sie ihm zum zweiten Mal auf der Straße in ihrer neuen Heimatstadt begegnet, wirft seine Gegenwart die Frage nach dem »Sinn der Prüfung« (VG, 268) und die Notwendigkeit eines Neubeginns auf. Dieser ältere Mann von »weißhäuptiger Gestalt« (VG, 289) erscheint Marianne manchmal wie eine irreale, ihrer Phantasie entsprungene »legendäre Erscheinung« (VG, 289), in Wirklichkeit übernimmt er aber die Rolle eines Vermittlers zwischen Altem und Neuem, eines Deuters der Geschichte und Lehrers seiner eigenen Schicksalsgenossen, die ihn wie einen symbolischen Wegweiser in schwierigen Momenten in der neuen Heimat wahrnehmen. Eine solche Rolle spielt er ebenfalls für Marianne, aber seine als ein Appell formulierten Worte sind auch an andere Heimatlose gerichtet. Als ihm Marianne von ihrer Absicht erzählt, nach Amerika zu gehen, rät ihr der Uralte von dieser Entscheidung ab und argumentiert seine Ansicht folgenderweise: »Sie würden den Boden unter den Füßen verlieren, wenn erst der Ozean zwischen Ihnen und Europa liegt, ein Mensch wie Sie geht nicht nach Amerika, am wenigsten in seine Städte, der geht dort zugrunde wie eine Fisch am Strand, wir gehören hierher, Sie und ich und viele andere auch noch; wenn wir auch alles verloren haben, so haben wir doch nichts vergessen, und wir können nur diese Luft atmen, denn wir werden gebraucht, nötiger denn je, gerade wir Schiffbrüchigen, wir dürfen nicht fahnenflüchtig werden, alle anderen, nur wir nicht. Wir sind dazu aufgerufen worden, trotz allem hier zu bleiben – unsere Heimat ist untergegangen, es gibt kein Schlesien, kein Ostpreußen mehr, denn die Menschen, die Seele eines Landes, haben sie herausgerissen, aber diese Seele ist unsterblich, wenn sie im Nährboden ihrer Brüder bleibt.« (VG, 290)

Die vom Uralten ausgesprochenen Worte wirken wie ein Manifest der Vertriebenen, die sich ihrer Heimat entrissen in einem fremden deutschen Vaterland neu organisieren müssen. Die neue Heimat soll – so der Uralte – auf Menschen, deren innerer Stärke und Erinnerungen beruhen. Diesem Zukunftsmodell folgt auch Marianne, die sich in der Fremde nach kürzester Zeit selbstständig macht,

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indem sie gemeinsam mit Gerhart eine Gartenlaube außerhalb der Stadt bezieht, im Garten Gemüse anbaut und es auf dem städtischen Markt verkauft. Der kleine Verdienst reicht ihr zwar kaum, sie fristet ihr ärmliches Dasein, leidet unter Hunger und Kälte. Aber in ihrer Not kann sie auf Hilfe der Mitmenschen rechnen, z. B. des pensionierten Werkmeisters Lasurek, »der [für sie – R.D.-J.] sein eigenes Bett geräumt […], und auf einer Matratze auf dem Fußboden in der Küche derweilen geschlafen [hat – R.D.-J.], damit sie sich wieder erwärmen konnte« (VG, 296). Diese Gesten der Zusammengehörigkeit und der erforderlichen Gemeinschaft wirken auf sie bestärkend, lassen sie den Lebenssinn nicht verlieren und bringen »in ein seelisches Gleichgewicht« (VG, 298). Nicht nur die Selbstständigkeit, die Marianne die Gartenarbeit als Verdienstquelle garantiert und gleichzeitig auch Freude bereitet, sondern vor allem das Mutterwerden wird zum Fundament der neuen Heimat. Die neue Wirklichkeit, in der sie sich um einen anderen Menschen kümmern muss, die Möglichkeit, für den Sohn Gerhart leben zu können, der für sie zum Geschenk Gottes wird, in welchem »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeschlossen [bleiben – R.D.-J.]« (VG, 300), machen sie stark und tragen zu einer Neu- und Umbewertung bisheriger Lebensmaßstäbe. Durch das Muttergefühl findet Marianne in einem anderen Menschen die neue Heimat, die an keinen Raum gebunden ist und nach keinen Wurzeln verlangt. Sie will einfach diesem »heimatlosen Jungen Heimat sein.« (VG, 300). Die Verlagerung des Heimatbegriffs von einem Raum und einer an ihn gebundenen Tradition auf eine Person und Gefühlswelt, führen dazu, dass der Heimatbegriff ins Wanken gerät und neue Konturen gewinnt. Auf ein neues, gerade gewonnenes Verständnis der Heimat verweist noch einmal der Uralte, der Marianne in ihrer Gartenlaube aufsucht und zur Realisierung eines gemeinsamen Heimatkonzeptes einlädt. Das von des Uralten Enkeltochter vererbte Haus in Süddeutschland soll als Fundament der neuen Heimat dienen, die um einen Buchladen herum aufgebaut alle ihre Mitglieder »geistig miterhalten« (VG, 303) kann. Die Idee des Uralten, eine Gemeinschaft der Heimatlosen zu gründen, die auf der Erinnerung an die verlorene Heimat beruht und deren geistige Verarbeitung befördert, beseelt Marianne und versetzt sie sogleich in das Rackental zurück und lässt sie »das Haus auf dem Hügel zwischen den hohen Tannen im satten Braun und Weiß durch die Landschaft leuchten« (VG, 303) sehen. Dieses in Erinnerung gerufene Bild der Heimat erfüllt sie mit »Friede und Schönheit und Feierlichkeit« (VG, 303) und es lässt in ihr die Überzeugung von einer von Gott gesegneten Landschaft aufsteigen. Zwar trifft Marianne die Entscheidung für den Umzug nach Süddeutschland nicht, aber ihre Identifikation mit dem Gedanken des Uralten, ihre Überzeugung von einem wahren Heimatbegriff als geistige Gemeinschaft von Landsleuten kann als eine baldige Erfüllung dieses Wunsches verstanden werden.

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7.2

Irgendwo oder Klein-Europa. Bilder der neuen Heimat

Einheimische versus Ankömmlinge

Ruth Storm stellt das Bild der neuen Heimat nicht nur aus der Perspektive der Vertriebenen dar, sondern auch aus der der Einheimischen. Um beide Seiten miteinander konfrontieren zu können, projiziert sie in ihrem 1963 erschienenen Roman Der Verkleidete den Integrationsprozess in die Alltagsgeschehnisse des Gutshofes Brelichloh, der sich »zwischen Harz und Heide« (V, 5) befindet622. Dieser zu Helene Tiedemann und ihrem im Krieg gefallenen Mann gehörende Gutshof wird schon zu Anfang des Romans als ein Paradies gezeichnet, ein »Olymp«, »Göttersitz« oder ein »Herrensitz« (V, 5), dessen zusätzliches Attribut »eine starke Ölader« (V, 7) ausmacht, die unter Tiedemanns Rübenacker liegt, und welche in Zukunft zum Reichtum der Familie beitragen könnte, wenn sie nur diese Gelegenheit nutzen wollte. Außerdem hebt sich der Ort wesentlich von der industriellen Umgebung voller »Schornsteine, Fördertürme, Hochhöfen, Kräne, Halden und viel Rauch« (V, 5) ab und liegt direkt am Mittellandkanal, an dieser »langen, breiten Wasserstraße, die den Dortmund-Ems-Kanal, Weser und Elbe miteinander verband« (V, 8). All diese Attribute bekräftigen den besonderen Charakter dieses Ortes und machen aus ihm ein Idyll, das seinen Einwohnern nur Gutes beschert. Brelichloh wird, besonders nach dem Tod von Helenes Ehemann und Sohn, als sich die Herrin allein und unsicher fühlt, zum Zufluchtsort für Verwandte, Bekannte, Bedürftige und letztendlich für Flüchtlinge. In dieses Paradies dringt auch der Krieg ein, vor allem aber durch den Tod des Herren und die Notwendigkeit der weiblichen Wirtschaftsführung, was für Helene zwangsläufig anstrengend ist. Nach dem Kriegsende wird der Hof von Häftlingen und Zwangsarbeitern angegriffen, der Pferde beraubt623 und von den üblichen Nachkriegsnöten heimgesucht. Helene zeigt sich dabei als eine tüchtige, aktive und tatkräftige Frau, die jeder neuen Situation die Stirn bieten kann, aus ihr eine Lehre zieht und den Menschen sowie jedweden Umständen offen begegnet. Der heterodiegetische Erzähler leitet ihre Haltung von Einsamkeit und Duldung der Schicksalskraft ab. Er erklärt diese Beschaffenheit der Brelichloher Herrin folgenderweise:

622 Der Roman ist auch autobiografisch fundiert und spielt auf das Leben der Autorin im niedersächsischen Peine an. 623 An dieser Stelle ist die Begräbnispredigt des hiesigen Pfarrers nicht zu übersehen, der diese Tat, die auch ein tragisches Ende – den Tod der ältesten Bewohnerin von Brelichloh – genommen hat, zu entschuldigen versucht, was sich als eine Versöhnungsabsicht der Autorin deuten lässt: »Aber wollte er wirklich töten? War er nicht jahrelang ein Gefangener gewesen? Hatte er vielleicht im Rausch seiner plötzlichen Freiheit den Maßstab verloren? Wollte er nicht mit der Waffe in der Hand sich Respekt verschaffen, glaubte er sich dadurch nicht einen Halt zu geben im Unterbewußtsein seines Unrechtes dem fremden Gut gegenüber?« (V, 25)

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Einheimische versus Ankömmlinge

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Dadurch, daß Helene Tiedemann völlig allein dastand, obwohl ihr Haus voll von Menschen war, wurde sie sich bewußt, es war für sie nötig, nicht nur an die alltäglichen Pflichten zu denken sondern darüber hinaus; und dadurch, daß sie sich dieser Möglichkeit überhaupt bewußt war, wurde sie hellhörig und aufnahmefähig für das Hintergründige. Sie selbst hätte dies jetzt noch nicht so formulieren können; aber viel später, als noch andere Begebenheiten und Menschen an sie herantraten, mit denen sie nie vorher gerechnet hatte, gelangte sie selbst zu der Einsicht: es walte etwas über uns, dem wir uns nicht entziehen können, und je mehr wir uns dessen bewußt werden, um so richtiger würden wir handeln. (V, 45)

Helene nimmt mit ihrem Glauben an eine »höhere Bestimmung und Ordnung« (V, 52) sowohl die privaten als auch politisch-gesellschaftlichen Ereignisse mit Gelassenheit an und versucht jenen Menschen beizustehen, die aufgrund dieser einschneidenden Veränderungen Hilfe brauchen. Als sie von Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Gebieten hört, die in ihrer Gegend untergebracht werden müssen, stellt sie diesen Fremden zwei Zimmer in ihrem Haus zur Verfügung. Es bleibt unbekannt, aus welchen Motiven heraus sie handelt, ob sie den öffentlichen Meldungen folgt oder mehr wie ein »christlich denkender Mensch, […] von diesem Glauben durchdrungen […]« (V, 52) ist. Der Erzähler bringt beide Haltungen ins Spiel, indem er zunächst über den Verlust von »weiten Gebieten des deutschen Ostens« berichtet, die »von der angestammten Bevölkerung geräumt werden sollten« (V, 51), von »ausgeplünderten Menschen«, die »provinzweise ausgesiedelt und in den zerbombten, vom Krieg ausgelaugten Westen aufgenommen werden sollten« (V, 51). Einige Zeilen später kommentiert er aber ganz beiläufig, welche Rolle der christliche Glaube im Leben des Menschen spielen mag. Die Perspektive des heterodiegetischen Erzählers erfüllt dabei zweierlei Funktionen: Einerseits tritt er als Berichterstatter von historischen Ereignissen, andererseits als Stimme der Moral auf. Erst die Verknüpfung beider Funktionen hätte es ermöglichen können, sich auf die Ankunft der Flüchtlinge vorzubereiten. Die Vertriebenen werden im Roman Der Verkleidete nur anfangs gruppenweise dargestellt, im weiteren Verlauf der Handlung liegt der Fokus der Erzählung auf den Einzelschicksalen. Es ist anzumerken, dass die Vertriebenen erst im Moment der Ankunft ins Blickfeld des Erzählers geraten, aber es verwundert dabei, dass sie ganz entpersönlicht und nicht als Menschen, sondern Frachtobjekte auftreten. Sowohl Einheimische als auch Vertriebene tauchen in dieser Szene im Plural auf, was zwar ihre gleiche quantitative Beschaffenheit verdeutlicht, aber zugleich auf einen wesentlichen qualitativen Unterschied verweist, der die Einwohner dieser paradiesischen Gegend als Menschen gestaltet, die Ankömmlinge aber zu Gegenständen herabsetzt: Vielerlei Güter hatten die Brelichloher Gespanne mit den Jahren aus der Kreisstadt herangefahren: Kunstdünger, Kohle, Holz, Saatgut, Ziegeln und sonstiges Baumaterial,

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aber Menschenfracht, regelrechte Menschenfracht hatten sie noch nie aus der Stadt geholt. Die ersten Vertriebenen waren dort angekommen. Da die für diesen Zweck geräumte Schule zur Aufnahme weiterer Transporte freibleiben mußte, sollte die Leute nach außerhalb, auf die Landgemeinden, verteilt werden. (V, 52)

Die Verdinglichung der Flüchtlinge, die auf eine Fracht reduziert werden, lässt vermuten, dass sie auch in ihren neuen Wohnungen als Objekte und nicht Menschen betrachtet werden. Helene Tiedemann als lebendige Christin lässt aber diese These ins Gegenteil verkehren: Sie will nämlich Menschen helfen und ihnen eine Ersatzheimat schaffen. Sie nimmt zuerst zwei Vertriebene aus Schlesien bei sich auf – die Lehrerin Elly Möbus aus Liegnitz und den »Siedler« (V, 57) Anton Erben; dann wird sie dem Ehepaar Trebbin aus der Mark Brandenburg Unterkunft bieten. Die aus der Wriezener Gegend stammenden Trebbins waren keine Vertriebenen im eigentlichen Sinne des Wortes, so »wie die Menschen aus den polnisch verwalteten deutschen Ostprovinzen, sie waren regelrechte Flüchtlinge. Sie waren vor den neuen Zuständen, mit denen sie nicht fertig wurden, geflohen.« (V, 193f.). Helene Tiedemann wird zusätzlich einer aus drei Personen bestehenden Vertriebenenfamilie ihre bisher leerstehende Jagdhütte anbieten, aus der sie ein richtiges Zuhause machen werden. Anton Erben, Elly Möbus, Feldmanns und Trebbins repräsentieren vier unterschiedliche Typen von Vertriebenen und Flüchtlingen, die zugleich als unterschiedliche Integrationskonzepte gelten können. Alle diese Figuren werden mit dem Fremden konfrontiert, das sie zwangsläufig auf ihre verlorene Heimat zurückführt. Die Heimat erscheint dabei in ihrer Materialität als etwas Fragmentarisches, ihre Bilder entbehren im Grunde genommen jeglicher Details und werden nur gelegentlich aufgerufen. Es handelt sich im Fall der jeweiligen Figuren um einige semiotisch konkretisierte Objekte (Bauernhof, Kunststücke, Bücher, Silberbesteck etc.) oder um verlorene Sozialisationsformen, die unter neuen Umständen nicht mehr zu finden sind. Die Fremde bietet nämlich weniger Beziehungen zu den Anderen als die Heimat; sie erfüllt auch kaum ausgeprägte »epistemische Funktion für das Selbst- und Weltverstehen«624. Die für die Integrationsprozesse oder Kontaktzonen von verschiedenen Kulturen charakteristischen Mechanismen von »Über- und Unterordnung«625 kommen weder in diesem Roman Ruth Storms noch in allen anderen vor. Auch typische Reaktionen auf das Leben in der Fremde treffen auf die Prosawerke der Schriftstellerin nur begrenzt zu.626 Einerseits versuchen sich die 624 C. Albrecht: Fremdheit. In: Handbuch Interkulturelle Germanistik, hrsg. von A. Wierlacher, A. Bogner. München 2002, S. 233. 625 Über die sog. Dominanzkultur, die sich als eine Selbst- und Fremdwahrnehmung bestimmende kulturelle Herrschaftsstruktur in multikulturellen Gesellschaften vgl. B. Rommelspacher: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin 1995, S. 22. 626 Im Kontext der gegenwärtigen Migrationsstudien unterscheidet man drei dominante Integrationsmodelle: Mimikry, Groteske und Ambivalenz. Vgl. E. Hausbacher: Mimikry,

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Einheimische versus Ankömmlinge

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Ankömmlinge anzupassen, indem sie die ihnen vorgeschlagenen Lebensbedingungen und weitere Sozialisationsformen stillschweigend akzeptieren, andererseits heben sie durch ihre Haltung die eigene Position in der ihnen fremden Welt hervor. Wovon rühren diese ambivalenten Standpunkte und Lebensweisen her? Alle Figuren verfügen wohl über eine Charakterstärke, sie sind in die neue Heimat mit vorgeprägten Lebensansichten gekommen, denen sie treu bleiben und sich dadurch von Über- und Unterordnungsstrukturen fernhalten können. Die Ankömmlinge brauchen lediglich jemanden, der sie in ihrer bisherigen kulturellen Prägung unterstützt und sich als Mentor erweist. Diese Funktion erfüllen im Roman Der Verkleidete Helene Tiedemann und Anton Erben, dank denen die Vertriebenen den Begriff der ›kalten Heimat‹627 nicht kennenlernen müssen. Es ist charakteristisch, dass die Schriftstellerin ein symmetrisches Verhältnis zwischen Einheimischen und Vertriebenen aufbauen will und auf diese Art und Weise beiden Seiten die Verantwortung für eine gelungene Integration auferlegt. Beide erscheinen dabei als Subjekte, die dem Anderen begegnen, sie sind wiederum – im Sinne von Emmanuel Levinas – selbst als der Andere / die Andere wahrzunehmen.628 Die Figurenkonstellation des Romans ist jedoch nur scheinbar eine zweigeteilte. Zunächst werden nämlich Personen und Ereignisse um Helene gruppiert, deren Position aber einem ständigen Wechsel unterliegt. Zunächst erscheint sie als eine vom Krieg betroffene Frau, die aber aus zahlreichen Grenzsituationen Groteske, Ambivalenz. Zur Ästhetik transnationaler Migrationsliteratur. In: Zwischenräume der Migration. Über Eingrenzung der Kulturen. Bielefeld 2011, S. 219. 627 Auf die Integrationsschwierigkeiten, den Prozess der Anpassung und die damit verbundenen Opfer geht ausführlich A. Kossert ein. Vgl. Kossert, Kalte Heimat (wie Anm. 126), S. 87–138. 628 Besonders die Figur von Anton Erben lässt sich nach den Denkansätzen von E. Levinas interpretieren. Diesem ontologisch-ethischen Philosophie-Modell zufolge kann Anton die Funktion des Anderen spielen und in Interaktion mit dem Subjekt treten. Das Andere lässt sich nämlich nicht durch das Subjekt erklären und kann sich dessen Einfluss entziehen. Der Andere als eine vom Subjekt unabhängige und ihm fremde Substanz weckt Interesse und bestimmt das gegenseitige Verhältnis, denn er regt nämlich das Subjekt zum Handeln an, beunruhigt es und stört es sogar in seinem Egoismus, in seiner häuslichen Ruhe. Es spielt dabei die Begegnung mit dem Anderen eine ausschlaggebende Rolle. Auch Antons Ankunft und Wirkung in Helenes Haus verändern ihre Denkweise und ihre Wertevorstellung, wobei sich der Kontakt mit Helene als Subjekt auf den Titelhelden des Romans auswirkt. Vgl. dazu meinen Beitrag über Antons Funktion als der Andere, in den auch einige Passagen aus diesem Buch aufgenommen wurden. R. Dampc-Jarosz: Die Gemeinschaft der Anderen als Utopie? Einige Überlegungen zu Ruth Storms Roman »Der Verkleidete« (1963). In: Identity Issues in European Literatures, hrsg. von A. Adamowicz-Pos´piech, Renata Dampc-Jarosz, A. Rabsztyn. Göttingen 2021, S. 89–102. Über Levinas’ Konzept des Anderen vgl. Chr. Lienkamp: Der / die / das Andere bzw. Fremde im sozialphilosophischen Diskurs der Gegenwart. Eine Herausforderung der theologischen Sozialethik. In: »JCWS« 5 / 1996, S. 150–166, hier: S. 160; M. Pfeifer: Die Frage nach dem Subjekt. Levinas’ Philosophie als Ausdrucksform nachmetaphysischen Denkens. Würzburg 2009, S. 12ff.

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nicht als eine Verzweifelte und Niedergeschlagene hervorgeht, sondern innerlich gestärkt und äußerlich immer selbstständiger und besser organisiert. Ihr christlich motiviertes Handeln gilt in dieser Konstellation als Garant für eine offene Haltung und erfolgreiche Koexistenz der Deutschen im Westen mit den Vertriebenen aus dem Osten. Mit der Ankunft der Vertriebenen wird die gutmütige Helene schrittweise in den Hintergrund gerückt und auf die Rolle einer empfindsamen, klugen und lebenserfahrenen Frau beschränkt. Ihren Platz räumt sie dagegen dem Ankömmling – Anton Erben – ein, um den sich dann Personen und Ereignisse drehen werden. Durch diesen Perspektivenwechsel verlegt Ruth Storm den Schwerpunkt von den Einheimischen auf die Ankömmlinge, die ins Zentrum des Geschehens treten. Ihre Lebenswege führen allerdings immer zu Anton, der durch seine dynamische, offene, psychologische und mehrdimensionale Konzeption mit allen Figuren in Interaktion tritt. So bewegen sie sich zwischen Anton und Helene, als ob diese Konstellation eine notwendige Verflechtung von eigenen wie auch fremden Daseinsformen und Werten vorausgesetzt hätte. Als Antons Antagonistin und einer der Integrationstypen erscheint nämlich Elly Möbus, die sich als eine Person erkennbar macht, die den neuen Zustand am wenigsten gut erträgt. Ihr Problem mit der Integration diagnostiziert Erben, indem er bemerkt, Frau Möbus definiere sich durch ihren Beruf und den damit verbundenen Status, der sie daran verhindert, die neue Wirklichkeit zu akzeptieren. Als eine in ihrer Heimat angesehene Lehrerin will sie die Position bewahren und kann sich keine andere Berufsausübung vorstellen. Auch unter den neuen Umständen will sie genau dasselbe alte Leben führen. Erst als sie eine Lehrerstelle und bald eine Neubauwohnung in Aussicht gestellt bekommt, was sie ihrem hartnäckigen Schreiben von Bewerbungsbriefen an die Behörde und Schulen sowie der Haltung einer Selbsthelferin (»Sie können sich allein am besten helfen!«; V, 78) verdankt, beginnt sie sich ohne Vorwurf an die neue Wirklichkeit anzupassen. Ihr bisheriges Leben, eingeschlossen in mitgebrachten »Bildern, Büchern, ja sogar in einer kleinen Vase, [dazu – R. D.-J.] ein gesticktes Kissen und ein Silberbesteck […]« (V, 95), bindet sie zwar ununterbrochen an die alte Lebensweise und lässt das Neue als mangelhaft erscheinen, auch wenn sie in Brelichloh nur Gutes erfahren hat. Erst die Wiederherstellung ihrer alten Position lässt sie einen Platz in der neuen Heimat finden. Einen anderen Integrationstypus stellt die aus dem schlesischen CoselOderhafen stammende, bäuerliche Familie Feldmann dar. Die Mutter Feldmann definiert sich über ihr verlorenes Gut, zwei schöne schwarzbunte Kühe, das fette Schwein, ein Stück Feld und einen Garten (V, 61). Sie empfindet eine enge und dadurch hoffnungsspendende Bindung an ihre schöne Schwiegertochter Maria, über die sich nach Anton Erben eine »Frömmigkeit legte« (V, 148), denn beide Frauen fühlen sich durch den Tod des geliebten Ehemannes und Sohnes innig

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vereint. Maria kommt dabei eine schwierige Aufgabe zu, weil sie sich als jüngere um ihre Schwiegermutter und den Bruder kümmern muss, die im Vergleich zu anderen Vertriebenen wegen ihres Alters, körperlicher Gebrechen und bäuerlicher Herkunft als weniger integrationsfähig erscheinen. Im Gegensatz zur Lehrerin Möbus legen die Feldmanns keinen großen Wert auf das Materielle, obwohl sie sich in den langen, schlaflosen Nächten an ihren verlorenen Bauernhof erinnern und sich Gedanken machen, wer sich jetzt darum kümmern möge, und ob vor der Haustüre kein Unkraut wachse, aber das Bewusstsein der Unwiederbringlichkeit der Lage, mit welcher sie sich schon abgefunden haben (»Nein, sie könnten nichts dafür!«; V, 61) und die Notwendigkeit eines Neubeginns scheinen sie und ihre Überlegungen zu determinieren. Für das Einleben benötigen sie nur zwei Sachen: Verständnis der neuen Landsleute und Arbeit. Beider Werte entbehren sie vom Moment der Ankunft an. Sie wurden nämlich in ein Quartier eingewiesen, wo es kein Licht gab, wo sie auf der Erde schlafen mussten und von den Leuten »Pollaken« genannt wurden, wobei »weder Maria, noch Frau Feldmann und gleichfalls der Junge kein Wort polnisch« (V, 62) konnten. Auch die Gefühle der Einsamkeit und Ratlosigkeit am neuen Wohnort bedrücken sie, die Passivität und Nutzlosigkeit wirken sich auf alle drei genauso negativ aus und lassen sie depressiv werden, denn eine Beschäftigung verheiße schon für die bisher aktiven Bauernleute das Leben wie »im Paradiese« (V, 69). Diesen Problemen kommt Anton Erben entgegen, der den verzweifelten Flüchtlingen dank der Unterstützung von Helene Tiedemann hilft. In der Brelichloher alten Jagdhütte finden sie ein neues Zuhause, wo die Frauen im Garten Gemüse anbauen können und der Bruder Peter Macholl von Anton Erben zum Schafzüchter angelernt wird. Der heterodiegetische Erzähler teilt seine Perspektive mit Helene Tiedemann: Für den ersten Betrachter ist besonders die symbolische Aussage der Jagdhütte bemerkenswert, in der sich das Alte, in akribisch aufgezählten Gegenständen aus der Vergangenheit präsent, mit dem Neuen, in Talenten und Ehrgeiz der Familie transparent, versöhnt. Dem zweiten Betrachter kommt vor allem das der Jagdhütte innewohnende Bündnis zwischen Tradition des Herkunfts- und Ankunftslandes, zwischen Arbeitsethos und Nützlichkeit der menschlichen Praktiken hoffnungsvoll und zukunftsorientiert vor. Die aus Helenes Sicht beschriebene Wohnung drückt diese beiden Blickwinkel aus: Und als sie dann gegenübersaßen, in dem gleichen Raum, wo einst Walther Tiedemanns Jagdhausausrüstung an den Wänden gehangen hatte, war die Besucherin wieder überrascht, wie praktisch diese Leute sich eingerichtet hatten. Die Hütte war durch einen Schrank geteilt worden, hinter dem die Frauen schliefen. Peter Macholl hatte aus zwei alten Sprungfedermatratzen eine übereinanderliegende Bettstatt zusammengebastelt […]; er hatte sie auf vier dicke Holzklötze genagelt, der Strohsack darauf wurde tagsüber mit einer Decke verhüllt, und so konnten die Frauen Peters Schlafstätte auch als Sitzgelegenheit benutzten. […] Auf einer mit Blech benagelten Kiste standen Waschgefäße, und

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die Bänke, die Stühle und der Tisch im Vorraum gehörten noch zur ehemaligen Einrichtung. Alles war noch recht primitiv, aber doch ihr Eigentum, und mit der Zeit würden sie manches verbessern und vervollkommnen. (V, 86f.)

Die Jagdhütte lässt sich als ein symbolischer ›dritter Raum‹ interpretieren629, in dem zwei Kulturen einander begegnen und in dem man Unterschiede zu überbrücken sucht. Helene ist übrigens nicht die Einzige, die auf Nutzen der Zusammenarbeit und Integration von Flüchtlingen verweist. Auch der Bäcker Heinecke bewundert die Arbeit der neuen Jagdhüttenbwohner und lobt die – seiner Meinung nach – ökonomisch gerichtete Initiative Helenes, von welcher er selbst in Zukunft zu profitieren hofft.630 Allerdings visiert seine Haltung die Entwicklungstendenzen der bundesrepublikanischen Wirtschaft an, die leistungsorientiert dem Aufschwung der Konjunktur huldigt, was aus der Aussage Heineckes herauszulesen ist: »Und außerdem, na ja, die Leute von da hinten her, er schleuderte seine Rechte in östliche Richtung, haben es wohl jetzt nicht leicht, hier bei uns wieder Fuß zu fassen – aber diese Tiedemann! Er schüttelte den Kopf, man muß schon sagen, alle Achtung! Anstatt dieses Volk traurig herumsitzen zu haben, wird es einfach in eine neue Aufgabe eingespannt – alle Achtung.« (V, 72)

Eine Alternative für zwei vorgestellte Integrationsmodelle bietet das Ehepaar Trebbin, das sich – wie schon vorausgedeutet – für das freiwillige Verlassen ihrer Heimat entschied. Auch die Trebbins leiden ursprünglich in Helenes Gutshof unter der »Monotonie der Besitzlosigkeit« (V, 196), aber sie hoffen dort, den »Friede[n] der Seele« (V, 196) wiederzufinden. Der Weg zu diesem ersehnten Zustand führt ebenfalls über die Arbeit, aber auch über die Entwicklung früherer Leidenschaften. Im Fall von Paul Trebbin ist das das Blasen im Ortsorchester, was ihn mit der Gemeinschaft integriert und seinem Talent zur Entwicklung verhilft. Während Elly Möbus auf den Wiederaufbau ihrer früheren Position konzentriert war, schufen die Feldmanns eine Arbeitsgemeinschaft, so scheint das Ehepaar Trebbin diese zwei Modelle um eine freiwillig getroffene Entscheidung und eine Leidenschaft zu ergänzen, was die Realisierung einer utopischen Integrationsvision verspricht. Helene Tiedemann erscheint in den dargestellten Situationen als Schutzengel für die Vertriebenen und Flüchtlinge. Sie begegnet ihnen zwar offenen Herzens, 629 Selbstverständlich entspricht die Jagdhütten-Metapher nicht ganz H. Bhabhas Konzept von hybriden Räumen, aber sie mag als ein Alternative für einen ausbleibenden Dialog zwischen Einheimischen und Ankömmlingen angenommen werden. 630 Die Szene in der Jagdhütte sowie die Einstellung zum(r) Besitz(losigkeit) der Vertriebenen lassen sich als R. Storms Beitrag zur bundesdeutschen Lastenausgleich-Debatte verstehen. A. Kossert betont, dass die Zahlungen aus dem Lastenausgleich zur Ankurbelung der Wirtschaft und der Unterstützung von einheimischen Unternehmen beitrugen. Vgl. Kossert, Die kalte Heimat (wie Anm. 126), S. 100.

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aber der spiritus movens ihrer Entscheidungen und deren Ausführung ist in der Tat Anton Erben. Dieser Figur kommt eine besondere Rolle zu, denn der Titelheld mag als eine reale sowie mythische Verkörperung des Vertriebenen- und Flüchtlingsschicksals gelten. Auf seine doppelte Funktion wird schon im Titel verwiesen, als ein Verkleideter verfügt Erben nämlich über zwei Identitäten: die des alten Lebens in der Heimat und die des neuen, das zur Ewigkeit hinführen soll. Als Antagonist zu Elly Möbus besitzt Erben, bis auf einen »Rucksack mit einer aufgebundenen Militärdecke und einem Stock« (V, 54), praktisch nichts. Er nennt weder seinen Herkunftsort noch seinen Beruf. Erst das Vorlesen seiner Ausweisangaben legt seine Identität offen: Der 1885 in Westpreußen geborene Erben ist ein Landsmann von Frau Möbus, wohnhaft in Grünberg; die Information über den Beruf gibt ihn als einen Siedler aus, obwohl er sich selbst als »herrschaftlicher Kutscher« (V, 57) vorstellt. Von seinem früheren Leben nimmt er aber gerne Abschied, ohne sich Gedanken darüber zu machen, er hatte es »abgetan, so wie man ein Gewand ablegt, in das der Eigentümer nicht mehr hineinpaßt.« (V, 63). Antons Tagebucheintragungen kann man jedoch entnehmen, dass er mit seinem früheren Leben zufrieden war. Seine adlige Herkunft, Berufserfolge in einem hochentwickelten Industriegebiet, eine gute Ausbildung und systematisch gepflegtes Interesse an Kunst, die in einer wertvollen Sammlung von Kupferstichen und Graphiken seinen Niederschlag findet, sowie eine Zufriedenheit bringende Familie – all das erfüllt ihn mit Dankbarkeit. Anton entscheidet sich in Auseinandersetzung mit einer Grenzsituation, mit dem Angriff der Russen auf die Kutsche, mit der sein treuer Diener, Anton Erben, und er selbst fliehen, und welcher den Kutscher das Leben kosten wird, seine bisherige Existenz zu beenden und eine neue – unter dem Namen von Anton Erben – zu führen. Es soll das Leben eines Christen sein, zu dem ein langer Weg über Stolpersteine der Geschichte sowie persönliche Umbrüche führt, das er aber immer gewollt und für welches er sich bewusst entschieden hat. Antons Begründung dieser Wahl klingt nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges überzeugend631 und kann zugleich als ein Hinweis für alle anderen von der Vertreibung aus der Heimat Betroffenen gelten: Das einzige, das ihm geblieben war, war die Erbauung am Wort, am Wort Gottes. Es war ihm oft, als müsse er dankbar sein, daß alles so gekommen war, er fühlte an Leib und Seele, was es heißt, Christ zu sein. Er hatte die Empfindung, obwohl sein persönliches Leben aus den Angeln gehoben war, in ihm begann sich etwas zu regen, was er vorher nie vernommen hatte – oder vielleicht, alles, was er wohl gewußt und gelernt und auch

631 Chr. Graf von Krockow verweist darauf, dass die Vertreibung und der Verlust der Heimat im Fall des Adels zum Wandel der Lebensweise dessen Vertreter beitrugen, aber auch zur Entfaltung von bisher verborgenen bzw. ungeahnten Möglichkeiten. Vgl. Chr. Graf von Krockow: Zu Gast in drei Welten. Stuttgart 2000, S. 34ff.

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nachgesprochen hatte, bekam jetzt erst Sinn und Bedeutung. Er fühlte sich geborgen in Gott, und durch diese Geborgenheit, die ihn ganz durchdrang, vergaß er sein Unglück. Vielleicht war es nötig, einmal alles zu verlieren, vielleicht war dieser Zustand der absoluten Nacktheit und Armut die Vorstufe zu Gottes Kindschaft. (V, 64)

Erbens Annahme einer neuen Identität führt nicht nur zu seiner inneren Wandlung, sondern dazu, dass sich auch seine Umgebung mit ihm zusammen verändert. Anton will nicht nur ein wahrer Christ sein, sondern er wird zum Christus stilisiert und als solcher übernimmt er auch dessen Rolle. Zwar tritt er als einfacher Siedler auf, aber man erkennt gleich an ihm seine herrschaftliche Herkunft und erblickt in ihm einen Pfarrer (V, 59). Die Leute von Brelichloh und aus der Nachbarschaft können ihn oft mit der neuen Schafherde durch die Felder schreiten sehen, wie er die Tiere in den Armen trägt, und sie haben keinen Zweifel daran, dass er »der gute Hirt« (V, 89) ist. Erben erzählt den am Tisch des Tiedemann-Hofes Versammelten auch Gleichnisgeschichten, die sie belehren, Parallelen zwischen dem ihrigen und fremden Leben aufdecken und den Sinn des Lebens wiederfinden lassen. Besonders die Geschichte von einem Mann, der über ein Moor ging, ohne zu wissen, welche Gefahr auf ihn lauert, besitzt ihren besonderen Bezug zu den aus der Vertreibung Geretteten, die sich – in den Augen Antons – als »Wiedererstandene« (V, 91) fühlen sollen. Das von Erben geführte Tagebuch, in welchem er über seine letzten Kriegsmonate, über den »langen Wagenzug, ohne Anfang und Ende« (V, 105), über die Arbeit in einer Brauerei unter russischer und polnischer Besatzung, dann über die Vertreibung nach Westen berichtet, hat eine doppelte Funktion als Erinnerungsmedium: zunächst auf individueller, dann auf kollektiver Ebene. Paradoxerweise notiert Erben seine Erfahrungen aber nicht, um die Erinnerung daran zu bewahren, denn im Moment des Todes entscheidet er sich, das Wachstuchheft zu verbrennen, sondern um ein Gespräch mit sich selbst zu führen. Einem Menschen, der vielen Grenzsituationen ausgesetzt ist, fehlt es an einem Dialogpartner, mit welchem er alle Probleme besprechen könnte. Wenn man einen solchen nicht hat, muss man sich mit einem Selbstgespräch begnügen, um »in die Tiefen seines eigenen Ichs einzutauchen« (V, 97). Anton braucht solche Selbstgespräche, denn sie drücken seine Empfindungen, aber auch die eines jeden Vertriebenen aus. So konzentriert sich Anton einerseits auf die Wiedergabe von Etappen seiner Treckflucht, andererseits werden diese Geschehnisse durch Gedanken und Überlegungen unterbrochen, die Werte, die conditio humana und metaphysische Dinge hinterfragen. Das Geistige, das Ich und das Herz scheinen aus diesen Wortkämpfen als Sieger hervorzutreten; der Einzelne gewinnt an Bedeutung und jedes Treffen mit ihm scheint eine transzendente Aussage zu besitzen, aus jeder gewöhnlichen, alltäglichen Situation macht Anton eine Begegnung mit Gott. Das mit unbe-

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kannten Flüchtlingen verzehrte Brot wird zum Mysterium erhoben, das die Grausamkeit der Fluchtsituation nivelliert: »Da«, sagte sie und brach das Brot und hielt mir die eine Hälfte entgegen. Wie ich einst als junger Mensch zum erstenmal vor dem Altar den Leib des Herrn empfangen hatte, so feierlich nahm ich nun das Dargereichte aus ihrer Hand entgegen. Hier in meiner Not mit dem bohrenden Hungergefühl erschien mir diese Handlung nicht wie ein Symbol, sondern Wirklichkeit; bei jedem Bissen, den ich dann langsam zum Munde führte, empfand ich ein neues Leben in mir, mir wurde bewußt – Gott war bei uns! Denn dort, wo jemand half, ohne einen Vorteil für sich zu haben, nur um der Nächstenliebe willen, war ER mitten unter uns. In der wahren Lehre Christi kam es allein nur auf dieses Tun an, und so erschien mir die fremde Frau wie etwas Vertrautes. (V, 106f.)

Seit diesem Ereignis ist Anton bestrebt, eine Gemeinschaft von Fremden aufzubauen, die sich auf die Nächstenliebe, auf eine selbstlose Liebe stützen wird, eine Gemeinschaft, »eine große Familie de Christenheit« (V, 117), in der jeder seine Arbeit um der Zufriedenheit der Anderen willen leistet. Eine solche Gemeinschaft kann sich nur im Zeitraum vom Jetzt realisieren, denn ein Denken an das Vergangene und Zukünftige kann deren Entwicklung grundsätzlich schaden. Anton kann und will die Dimension des Augenblicks regieren lassen (V, 111), denn nur die Gegenwart spricht den Menschen von negativen Gefühlen, ihn quälenden Gewissensbissen oder Sehnsüchten frei. Das Genießen der Gegenwart von Anderen hat für Anton eine therapeutische Funktion, denn infolge des Angriffs der Russen verliert er sein Gedächtnis und kann sich weder an seinen Namen noch an den des Dieners, dessen Identität er angenommen hat, noch an andere Einzelheiten aus dem eigenen Leben erinnern. Erst im Laufe der Zeit werden bei ihm mit Hilfe von Zeichnungen, Gebäuden und Landschaftsbildern die Erinnerungen an die Vergangenheit geweckt, die dann im Tagebuch niedergeschrieben werden. Diese Amnesie scheint für den Vertriebenen vorteilhaft zu sein, denn sie ermöglicht es ihm, sich über tragische und schmerzliche Ereignisse hinwegzusetzen und nur in der Gegenwart nach einem Anhaltspunkt zu suchen. Das Sich-Nicht-Erinnern-Können, warum ein von den Russen verbranntes Schloss ihm so vertraut zu sein scheint, wirkt allerdings tröstend, und kann beim Verdrängen des Gedankens helfen, »einer Gruft entstiegen« (V, 128) zu sein. Das Leben in der Gegenwart kann nur dann – so Anton Erben – seinen Sinn haben, wenn es »durch die Arbeit zu dem Ursprung der einfachen Dinge« (V, 151) führt. Nach der Umsiedlung nach Brelichloh widmet er sich bedingungslos der Arbeit, als Verwalter des Tiedemann’schen Hofes ist er für Feld- und Stallarbeiten verantwortlich; auf seine Initiative hin wird auch eine Schafzucht gegründet, was Helene eine Geldeinnahme sichert und Anderen einen Arbeitsplatz verschafft. Anton erscheint dabei nicht nur als Verwalter, sondern vor allem als Freund von allen, die Unterstützung und Hilfe brauchen. Er steht allen

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Irgendwo oder Klein-Europa. Bilder der neuen Heimat

Flüchtlingen mit Rat und Tat bei, besonders denjenigen, die sich in der neuen Heimat nicht zurechtfinden können. In Anton Erben nur einen Helfer und Retter zu sehen, der nach dem Muster einer versöhnlichen Gemeinschaft von offenen Einheimischen und tüchtigen Flüchtlingen sucht, spiegelt seine Aufgabe jedoch nicht ganz wider. Er erfüllt nämlich im Roman noch eine andere Funktion: Sein mit Maria Feldmann kurz vor seinem Tod gezeugtes Kind soll zum Erben einer christlichen Weltanschauung werden, in der der Glaube an die Gotteskindschaft, Anspruchslosigkeit und Aufrichtigkeit im Leben überzeitlich wird. Scheiterte das in Ich schrieb es auf und Das vorletzte Gericht dargestellte Bild der neuen Heimat an Menschen und Umständen, meistens sozialer Natur, so ist das in Der Verkleidete präsentierte Konzept einer gelungenen Integration der Fremden eine Utopie, deren Realisierung allerdings möglich zu sein scheint, unter der einen Bedingung: der Nächstenliebe, aus der sich andere Werte einer Gemeinschaft herleiten lassen. Es ist noch anzumerken, dass diese Liebe zum anderen Menschen auch Vertreter anderer Nationen, inklusive Feinde, umfassen kann. Vor der Vertreibung wohnt und arbeitet Anton in einer Brennerei, die zunächst von den Russen, dann von den Polen bewirtschaftet wird. Zwischen Anton und den polnischen Arbeitern entwickelt sich im Laufe der Zeit ein Verhältnis von distanziertem Verständnis und taktvoller Akzeptanz, die sie viele, auch aktuelle Probleme632 gegenseitig wahrnehmen lässt. Im Kontakt mit den Polen und den Russen begreift Anton die Macht der Freiheit, die als Voraussetzung für einen harmonievoll funktionierenden Staat gilt, die aber als ein weit am Horizont liegendes Ideal erscheint: Die Freiheit, die jedes Geschöpf mit Kraft und Leben erfüllt, die die Gedanken weit spannt und das Herz überquellen läßt, war nicht nur aus diesem Lager gebannt, sondern schien in der Entwicklung neuer Staaten, die dem autokratischen System huldigten, überhaupt kein erstrebenswerter Faktor zu sein; das bedeutete, daß die Menschheit in seelischer und geistiger Beziehung einen Stillstand erleiden mußte. Inwieweit diese

632 Ruth Storm unternimmt in allen in diesem Kapitel behandelten Prosawerken den Versuch, sich dem Wesen der slawischen Völker zu nähern und diese zu verstehen. Diese Überlegungen stellt auch Anton an, indem er eine Diskrepanz zwischen Asien und Europa feststellt, die ihm auch aus der Zeit der Kindheit an dem Dreikaisereck im industriellen Oberschlesien bekannt war, und die sich »hier auf diesem unbedeutenden Raum eines ehemaligen schlesischen Gutsbetriebs in ihren Urelementen gegenüberstand.« (V, 136). Auch in Der Verkleidete spricht der Erzähler über die ungewollte polnische Abhängigkeit von den Sowjets, die keine gute Entwicklung verspricht: »In dem polnischen Ehepaar lag noch der fromme erdgebundene Mensch verankert, niemals wäre sonst dieser Mann in der Lage gewesen, mir diese Stimmungsskizze von seiner alten Heimat in Polen zu schildern. Die beiden halbwüchsigen Söhne und das junge Mädchen standen in dem Zwiespalt, in dem sich im Augenblick ganz Polen befand; es war wohl ein von Hitlermacht befreites Polen, aber es war kein freies Polen, und die Tendenz der neuen russischen Sowjetära im Hintergrund drückte der heranwachsenden Jugend ihren Stempel auf.« (V, 136)

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Die neue Heimat gemeinsam aufbauen können

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Lücke der ganzen ethischen Entwicklung und Haltung der Welt einen schweren Schock geben mußte, war noch nicht abzusehen. – (V, 146)

7.3

Die neue Heimat gemeinsam aufbauen können. Allerlei Geschichten von Integration

Das im Titel dieses Kapitels angedeutete Konzept von einer gemeinsamen Heimat, in der sich Einheimische von Ankömmlingen kaum unterscheiden, und in der man – wie in Europa – trotz Diversität eine Gemeinschaft bilden kann, lässt Ruth Storm erst im Prosawerk Unter neuen Dächern. Roman einer Wohnsiedlung umsetzen. Es ist hervorzuheben, dass der aus 80 Kapiteln, die selbständige Erzählungen sein könnten633, bestehende Roman erst 2005 postum erschien, obwohl es schon zu Ruth Storms Lebzeiten niedergeschrieben wurde. Zweifelte die Autorin an der Möglichkeit eines solchen Zusammenlebens von Einheimischen und Fremden, fand sie dieses Konzept utopisch oder erschien ihr das eigene Projekt zu naiv, um verwirklicht werden zu können und sie deshalb die Sammlung nach deren Niederschrift nicht gleich herausbringen wollte? Oder waren ihre Leser auf ein solches Modell der Koexistenz noch nicht vorbereitet? Vielleicht spielte auch die Gattungsfrage eine nicht minderwertige Rolle? Abgesehen von rezeptionsästhetischen Fragen, die schwer zu beantworten sind, scheint der Entwurf einer friedvollen und auf gegenseitigem Verständnis beruhenden Gemeinschaft durch die Komposition des Werkes hervorgehoben zu werden, das im Grunde genommen eine Rahmenerzählung ist, die mit einer ähnlichen Situation beginnt und endet. Der Bauer Grimmel, der seine Grundstücke, ein »uraltes Weideland« (UnD, 9) im Westen Deutschlands, an die Baugenossenschaft verkauft hat, die dort eine Wohnsiedlung errichtet hat, ärgert sich über die neuen Einwohner, die jetzt »aus allen Ecken und Enden herankrabbeln« (UnD, 9). Er kann diese Leute nicht leiden und bezeichnet sie als ein »Albdruck« (UnD, 11), nur deswegen, weil er sie nicht kennt, weil sie »von Gott weiß woher kamen« (UnD, 11). Aus Abneigung den Ankömmlingen gegenüber dreht er den Hahn seines Jauchewagens auf, um den Neuen mit dem Gestank die Luft zu verpesten. Im letzten Kapitel bestellt hingegen der Bauer seine Felder, diesmal schon mit einem Trecker, und wiederholt das Düngen mit Jauche. Diese Tätigkeit begleiten aber beiderseits keine negativen Gefühle, sowohl Grimmel als auch die Bewohner haben sich schon aneinander gewöhnt, man akzeptiert stillschweigend den Jauchegestank, weil er »wie der Duft […] wie die Stare, die Katzen und die lärmenden Kinder zum Frühling« (UnD, 284) gehören. Auch Grimmel begreift 633 Einige von ihnen, z. B. Der alte Mann und das Pferd und Der Himmelsschlüssel wurden im Erzählungsband Das geheime Brot vorabgedruckt. Vgl. DgB, S. 81–82, 93–96.

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den ewigen Rhythmus des menschlichen Lebens, »ständiges Kommen und Gehen – ja, ja, ein Gehen und Kommen!« (UnD, 284), aus welchem sich andere Daseinsformen ergeben. Die neue Siedlung etabliert sich somit im Bewusstsein der Ureinwohner, die gemeinsam erarbeiteten Regeln scheinen alle zufriedenzustellen. Die Enderzählung ist – trotz ihrer Derbheit – die letzte Stufe des Paradieses, einer Welt in der alle einander akzeptieren, auch wenn es von ihnen viel Ausdauer und Toleranz abverlangt. Der Weg zur Vervollkommnung führt allerdings über verschiedene Stationen und ist durchaus subjektiv. Um die Rolle des persönlichen Faktors zu verdeutlichen, führt die Autorin mehrere Figuren, die aus verschiedenen Teilen Europas in ihre zweite Heimat gekommen sind, ein; es sind »Leute aus Ungarn, aus dem Banat, aus Siebenbürgen, aus Jugoslawien und aus der Tschechoslowakei« (UnD, 20), aber auch diejenigen, die ihre bisherigen Wohnorte in Deutschland verlassen, um »das bunt zusammengewürfelte Dorf irgendwo im Bundesgebiet, ein Muster sozusagen uffs Exempel« (UnD, 20) zu beziehen und dort ein neues Leben zu führen. Sie treffen in der Siedlung Irgendwo mit der Überzeugung von deren Pioniercharakter ein, die dem Projekt eines vereinten Europas entspricht, von welchem Ida Bolle, eine der ersten neuen Bewohner/Bewohnerinnen, folgenderweise schwärmt: »Wir können uns Klein-Europa nennen«, sagte Ida Bolle, die Berlinerin, voll Stolz zu einem Beamten der Stadt, der die Einweisung in die Bauabschnitte vorzunehmen hatte, »das ganze Gelabere von den Bestrebungen zu einem vereinten Europa ist bei uns überflüssig, hier hat es schon begonnen, jawoll!« (UnD, 19)

Die Galerie der Figuren, denen einzelne Kapitel gewidmet sind, setzt sich aus Vertriebenen, hauptsächlich aus Ostpreußen, zusammen, aber auch aus anderen Regionen Europas, die nach mehreren Umzügen und Schicksalsschlägen endlich froh sind, »ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben« (UnD, 13). Zu der Gruppe der Vertriebenen gehören z. B. zwei ältere Schwestern, Leni und Erna, die Bauernfamilie Pakuleit, Frau Ruge mit ihrem schwererziehbarem Sohn Erwin und der braven Tochter Hilde, Frau Wiesmann und ihr körperlich behinderter Sohn Stefan, der alte Lips, ein Riesengebirgler und Alois Bergmann aus Preßburg in der Slowakei. Mit diesen Menschen, die vom »Rührlöffel des Schicksals, [der – R.D.J.] in die Lebenssuppe eingetaucht« (UwD, 18) wurden, kommen viele andere deutsche Bewohner in Kontakt: der alternde Journalist aus Sachsen, die Berlinerin Frau Bolle mit ihrer Familie, die in der ca. 2 Kilometer vom Stadtzentrum entfernten Siedlung ihr eigenes »Projekt« (UnD, 15) – die Gründung des ersten Lebensmittelgeschäfts, das bald eine Konkurrenz im Laden des Herrn Braune erfährt, realisieren wird, eine kinderreiche Familie, ein pensionierter Beamter, die Frau des Fernfahrers, der Pfarrer Reuter und viele andere, deren Schicksale sich miteinander überkreuzen oder nur episodenhaft erwähnt werden. Die spärlichen zeitlichen Hinweise, wie z. B. Information über das Alter der Kinder

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oder den Start des ersten Satelliten, des sowjetischen »Sputnik«, den man 1957 auf der Siedlungswiese feierlich begeht, ordnen die Handlung des Romans in das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Der größere zeitliche Abstand von den Kriegs- und Nachkriegsereignissen führt dazu, dass die Einwohner nur gelegentlich von ihren traumatischen Erlebnissen sprechen. Ihr Einleben in die neue Heimat spielt dagegen vor dem Hintergrund des Wiederaufbaus der BRD, deren kulturelle, soziale und wirtschaftliche Vielfalt den Verlust der Heimat verdrängt und das Leben der Siedlungsbewohner auf diesen Wandel konzentrieren lässt. Die Heimat erscheint den Flüchtlingen nunmehr noch als ein Traum, welchen der geheimnisvolle Schimmelreiter verkörpert, der nur am Anfang des Romans durch die Straßen der Siedlung zieht und schnell »in die Nebelseen der Wiese taucht« (UnD, 22). Seine »schattenhaften Umrisse« (UnD, 22) verflüchtigen sich aber sehr rasch, so dass diejenigen, die Pferdehufe gehört haben, nicht mehr wissen, ob sie sich in ihren Wahrnehmungen nicht getäuscht hätten. Der verschwindende Schimmel symbolisiert die schon verblassten Erinnerungen an das Alte und die Notwendigkeit einer Abkehr von der sie quälenden Nostalgie. In den Erinnerungen der Figuren tauchen die Bilder der verlorenen Heimat nur phasenweise auf. Alois Bergmann denkt an sein verlorenes Weingut und das ganze Vermögen im slowakischen Preßburg nach und vergleicht seinen früheren Reichtum mit der Wohnungsnot im Westen; der alte Lips, der aus der verlorenen Heimat lediglich einen Schlüssel zum Haus gerettet hat, träumt davon, mit diesem das verlassene Haus im Riesengebirge wieder öffnen zu können. Um die Herkunft von Hilde ihrer Adoptionsfamilie zu erklären, muss Frau Ruge auf die schrecklichen Ereignisse auf der Flucht aus Ostpreußen und den Tod ihrer leiblichen Mutter zurückgreifen. Nur die Schwestern Leni und Erna wollen Erinnerungen an die Heimat vor dem Auslöschen retten und richten aus eigenen Mitteln eine Erinnerungsstube ein, in der sie rein private Andenken ausstellen. Der Erzähler stellt Lenis Engagement für die Gründung dieser Stube wie folgt dar: Ernas Wandbehang mit den eingestickten Städtewappen schmückte die eine Seite, und der Maler hatte nach alten Fotografien Lenis verstorbenen Mann und ihre Eltern farblich lebendig in Öl gemalt. Es waren sehr gelungene Porträts, und Leni bedauerte, daß Erna sie nicht mehr sehen konnte. Auf einem Bordbrett standen einige Bücher, Geschichtliches, Romane aus der alten Heimat und Bildbände, die die Schönheit der Landschaft und historischen Bauwerke in Städten und Dörfern widerspiegelten. (UnD, 173)

Bei den Besuchern der Heimatstube werden mit Hilfe einzelner Gegenstände Erinnerungen wachgerufen, Erfahrungen ausgetauscht und Emotionen entblößt, die aber nur kurzweilig sind und über welche man sich schnell bei einer Tasse Tee mit Gebäck hinwegsetzen kann. Die Vergangenheit beschäftigt die einzelnen Bewohner der Wohnsiedlung immer seltener, symbolisch nimmt man von ihr,

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privat sowie öffentlich, in zweierlei Form Abschied. Zunächst schreibt Hilde Ruge an ihre auf der Flucht aus Ostpreußen ums Leben gekommene Mutter, von deren Existenz sie lange nichts gewusst hat. Als die Pflegemutter vor ihr das Geheimnis ihrer Abstammung enthüllt, gewinnt Hilde eine neue Identität und kann sich von den Lastern der Familie Ruge befreien, die wegen krimineller Tätigkeit des Bruders Erwin in Verruf gerät. Sie schneidet alle Bande mit der Vergangenheit und Gegenwart ab, und will ab jetzt aus beiden Zeitdimensionen schöpfend ein neues Leben beginnen. Durch den Briefkontakt mit ihrer Mutter schlägt Hilde eine Brücke zu ihren Wurzeln und gewinnt eine Identität, an der es ihr im Hause Ruges gefehlt hat. Über ihre Gefühle berichtet sie folgenderweise: Jetzt weiß ich, du gingst rüstend durch meinen Schlaf, und du machtest mich hellhörig, und so kam es auch, dass ich mich von den anderen innerlich entfernte, immer weiter und weiter, ein Kreis war um mich, von ganz anderen Kräften, ein magischer Kreis, der mich isoliert und gleichzeitig mit Spannungen auflud. Heute, wo der Bann gebrochen ist und das Geheimnis meiner Herkunft gelüftet wurde, werden mir diese unsichtbaren Fäden bewusst, sie umgaben mich fest, ganz fest, sie wiesen mir den rechten Weg. (UnD, 146)

Dieser Dialog mit der Mutter, in dem sie zwar nur als Zuhörerin in Erscheinung tritt, verhilft der Schreibenden zur Bestimmung ihres ontologischen Standortes; sie findet in der Beglaubigung des Ichs in der Welt (»[…], ich bin wirklich«; UnD, 146) ihre wahre Daseinsform, die sich schon unabhängig von der Familie, dem Herkunftsort und anderen identitätsbildenden Faktoren realisieren kann, aber in Verbindung mit der Tradition der eigenen Sippe. Hildes Brief lässt sich in diesem Kontext als eine Art Vertriebenen- und Flüchtlingsmanifest lesen, die ihrer Wurzeln beraubt, die eigene Identität neu aufbauen wollen / müssen, ohne jedoch jener mystischen Verbindung mit ihrem Ursprung zu entbehren. Auf den Vergangenheitsbewältigungsdiskurs wird auch im Kapitel Bewältigte Vergangenheit angespielt, in dem der gerade eingeschulte Kurt Worbs, Enkel von Ida Bolle, seine Mutter auf dem Schulweg fragt, was sie, ihr Ehemann und andere Familienmitglieder im Krieg gemacht hätten, und ob sie gegen Hitler gewesen wären. Der Sohn lässt sich mit den Antworten der Mutter, sie seien damals noch Kinder gewesen, nicht abspeisen und stellt die Frage »War er aber gegen den Hitler?« (UnD, 196) mehrmals, ohne jedoch eine echte Antwort zu erhalten. Im Gegensatz zu ihm sieht die Mutter in diesem Gespräch eine »so rasch bewältigte Vergangenheit« (UnD, 196), aber in der Tat spiegelt sich hier eine damals herrschende Tendenz wider, die nationalsozialistische Vergangenheit, besonders das Problem der deutschen Schuld, verdrängen zu wollen. In beiden Passagen wird deutlich, dass für die Wohnsiedlung, für die Gründung einer wahren Gemeinschaft von Nachbarn das Vergangene in den Hintergrund treten muss und die Gegenwart die Oberhand gewinnen sollte. Diesem Prinzip folgen auch – fast ohne

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Ausnahme – die Bewohner der Siedlung Irgendwo, unabhängig von ihrer Herkunft, dem sozialen Status und persönlichen Bedürfnissen, die ab dem Moment des Einzugs bemüht sind, der Gemeinschaft zu dienen. Diese Gemeinschaft besteht nach den Bewohnern aus kleinen Organisationsformen, die die Angehörigen zusammenhalten. Jede gemeinschaftliche Initiative erfordert einen Anführer, der Andere ermutigt, die Aufgaben verteilt und auf der letzten Etappe für die Würdigung des Projekts sorgt. Meistens spielt diese Rolle der Journalist, der verschiedene Initiativen durch seine Presseartikel in die Wege leitet. So ist es mit dem Bau des Fußweges, für welchen er auf den Seiten der lokalen Zeitung plädiert, indem er die Interessen der Gemeinschaft diplomatisch vertritt: Aber der Schreiber dieses Artikels klagte niemanden an, er stellte nur fest, man habe es versäumt, an den Menschen, an den Einzelnen, zu denken. Ja, der Fußgänger, das Schulkind, die älteren Leute waren total vergessen worden; man habe sie den Gefahren der großen Verkehrsstraße ausgesetzt, ohne an die Rücksichtlosigkeit mancher Kraftfahrer zu denken. […] Ein gefahrloser Fußweg zur Stadt, eine öffentliche Fernsprechstelle wären für die Siedlung eine vordringliche Notwendigkeit! (UnD, 32f.)

Auch andere gemeinsame Initiativen verbinden die Menschen; eine solche Rolle spielt z. B. der Garten, der für alle leidenschaftlichen Gärtner ein Treffpunkt und auch Gesprächsthema ist. Eine ähnliche Funktion erfüllen die Ruhebänke, die neu erbaute Kirche oder zwei Kindergärten, die »sowieso ein Kuriosum waren, rechts der evangelische und links der katholische, auf einen gemeinsamen konnte man sich nicht einigen« (UnD, 143), obwohl es dem Toleranzgedanken von vielen Einwohnern entsprechen würde.634 Die systematische Entwicklung der Siedlung und die Stärkung des Gemeinschaftssinns lassen die Menschen den Gedanken an eine offizielle Vertretung im Gemeinderat verwirklichen. Der Schwiegersohn von Frau Bolle erklärt dieses Bedürfnis folgendermaßen: »Jawohl, unsere Angelegenheiten«, fuhr Worbs fort, »können nur von jemandem klargelegt werden, der genau weiß, wo uns der Schuh drückt. Mit den Jahren wird das immer wichtiger werden, unsere Wohnsiedlung weitet sich aus, unsere Jugend wächst heran, und damit wachsen auch die Probleme! Aber wenn wir eine festgefügte Gemeinschaft bilden, Aussprachen haben und ein jeder weiß, wo er seine Sorgen vortragen kann, wird das ein Segen für alle sein, und der hohe Rat der Stadt wird nicht umhin können, uns ernst zu nehmen.« (UnD, 170)

Mit der Herausforderung der eigenen Vertretung nach Außen und mit dem den Roman abschließenden Siedlungsfest, auf dem alle Leute, »aus der Stadt, aus den umliegenden Dörfern und Weilern; sogar ein Omnibus voll von Menschen […] aus einer fernen Ortschaft, […] der Bürgermeister […], die Pfarrer beider 634 In dem Roman Unter neuen Dächern bildet Ruth Storm die Siedlung Wittwais ab. Vgl. Jensch, Die Siedlung Wittwais (wie Anm. 363).

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Konfessionen« (UnD, 209f.) zusammentreffen und gemeinsam ihre Zeit verbringen, erreicht die Gemeinschaft von zunächst ganz fremden Menschen ihre erstrebte Form – das Gefühl der selbstgewollten Zusammengehörigkeit. Es wäre falsch zu denken, dass diese Gemeinschaft nur idyllische Momente erlebt und sich konfliktfrei entwickelt. Zum Wesen einer Gemeinde gehören die unterschiedlichsten Probleme und es kommt darauf an, wie man sie gemeinsam zu bewältigen sucht, wie einzelne Bewohner einander unterstützen und für die Schwierigkeiten der anderen Verständnis aufbringen. Die Liste der Probleme deckt sich zugleich mit dem soziologischen Seismographen der BRD. Mit den kleinen kriminellen Delikten angefangen, wie z. B. Störung der Nachtruhe durch Jugendliche, Diebstähle, Angriffe auf ältere Personen, über häusliche Gewalt, die vor allem auf die Rechnung des »Zigeuners« (UnD, 50), Josef Reusch, geht, der im Affekt mehrfach auf seine Ehefrau und den Schwiegervater Bergmann einschlägt, bis er selbst im betrunkenen Zustand verunglückt, geht man dann zu ganz prosaischen Alltagsproblemen über, die in der Nachkriegszeit schwer zu lösen waren. In Unter neuen Dächern tauchen ebenfalls alleinstehende Mütter auf, deren Ehemänner im Krieg ums Leben gekommen sind, als verschollen oder unbekannt gelten. Die Erziehungsprobleme lasten dann auf den Schultern dieser Frauen, die nur auf sich selbst angewiesen, den Elternpflichten nicht gerecht werden können. So versagt Frau Runge, die sich als zu schwach erweist, um ihren Sohn vor den schädlichen Einflüssen einer Verbrecherbande zu schützen; eine anonyme Frau, als »Schlampe« bezeichnet (UnD, 81), hat weder Zeit noch Lust auf ihren Kleinen aufzupassen, der von einem Auto während gefährlicher Straßenspiele überfahren wird. Es gibt auch Figuren, die den neuen gesellschaftlichen Erscheinungen des Wirtschaftswunders zum Opfer fallen, wie die Ehefrau des Fernfahrers, die sich dem Einkaufsdrang nicht entziehen kann und Schulden macht, was dann für sie und ihre Ehe tragisch endet. In allen diesen Fällen äußern sich die Mitbürger kritisch über diese Kleinkriminellen, aber nie verurteilend, denn sie richten sich in ihrer Begründung nach Empathie und verstehen die Betroffenen zu rechtfertigen. So versucht z. B. die Nachbarin der eleganten Ehefrau des Fernfahrers deren Eitelkeit und Kaufsucht zu erklären: »An allem sind nur diese bunten Kataloge schuld«, sagte Frau Wilhelm zu ihrem Mann, als sich bei ihren Flurnachbarn die Wut endlich gelegt hatte, »und wenn ich nicht so alt und unförmig wäre, hätte ich mich vielleicht auch verlocken lassen, einmal eine große Dame zu sein.« (UnD, 192)

Anders werden diese kleinkriminellen Taten von den Außerhalbstehenden betrachtet, in deren Augen die Wohnsiedlung als Verbrecherhölle gilt. Diesen Vorwurf wehren die Bewohner gemeinschaftlich ab, indem sie ihre Diversität, Schwierigkeiten mit Integration verteidigen und klischeehafte, das Fremde ablehnende Urteile der Einheimischen in die Diskussion einbringen. Das folgende

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Zitat mag diesen, im Grunde genommen überzeitlichen Mechanismus enthüllen, dass man den Anderen kritischer als den Einheimischen begegnet. Es präsentiert zugleich das etablierte gemeinschaftliche Selbstbewusstsein der Gruppe von Irgendwo und zeugt von deren fester Verortung in der neuen Gesellschaft: Keine Wand würde hier stehen, geschweige ein Haus, und dort, wo unser Wirt das Bier ausschenkt, würden sicher Kühe weiden, Rindviecher, meine Herren! Wir sind aus allen Himmelsrichtungen zusammengeschmissen worden. Die gute alte Stadt dort unten hat uns aufgenommen, aber sie war zu klein, um uns in ihren Mauern bergen zu können, so hat sie uns außerhalb ihrer Grenzen gesetzt. […] Die unten in der Stadt rümpfen die Nase und sagen: ›Bei uns passiert das nicht, natürlich, dort oben, in der neuen Siedlung musste das wieder geschehen!‹ Sie zählen vielleicht die Untaten auf, angefangen vom Bombardement auf das Haus, dem Raubüberfall auf die alte Frau, den diversen Verkehrsunfällen durch Leichtsinn und Trunkenheit bis zu dem Mord. […] Wir haben uns hier die eigenen vier Wände erst wieder schaffen müssen, und dass Späne fallen, wo gehobelt wird, weiß jeder. (UnD, 247)

Die Worte von Otto Worbs können als eine neue, bewusste Erklärung von Vertriebenen, Flüchtlingen und Fremden wahrgenommen werden, denen man oft einen Platz außerhalb der jeweiligen schon etablierten Gemeinschaft zuweist, ohne auf die sie bestimmenden neuen Lebensumstände zu schauen. Viele oft abschätzige Urteile können solchen Gesellschaften schaden und es ist wichtig, sie abzuwägen und nach Gerechtigkeit zu streben. Man soll nach Worbs auf Unterschiede und Ähnlichkeiten achten und erst dann ein Urteil fällen, denn die Bedingungen, v. a. das Erfahrene und das Erlebte, prägen die Fremden und erschweren den Integrationsprozess. Dass dieser möglich ist und friedlich sowie erfolgreich verlaufen kann, bezweifelt die Autorin nicht. »Unter neuen Dächern« kann man eine Heimat finden, wenn man nur einen Gemeinschaftssinn weckt, Arbeitskräfte und genügend »Duldsamkeit« (UnD, 142) aufbringt. Ähnlich erklärt Andreas Kossert den Erfolg des Integrationsprozesses, indem er auf das Engagement und offene Haltung der Ankömmlinge verweist: Die oft gepriesene materielle Integration der Heimatlosen im Wirtschaftswunderland gelang letztlich, weil die Vertriebenen nicht in der Rolle der Betroffenen verharrten, sondern selbst Hand anlegten und durch ihre Leistungs- und Anpassungsbereitschaft, ihre Arbeitskraft und bald auch ihre Kaufkraft dieses Wirtschaftswunder ganz entscheidend mittrugen.635

Kosserts These zufolge kam es aber in der bundesrepublikanischen Geschichte zum Verdrängen des Vertriebenen-Beitrags und Aufwerten der EinheimischenRolle, die angeblich durch ihre »gewaltigen Leistungen die Heimatlosen inte635 Kossert, Die kalte Heimat (wie Anm. 126), S. 14. Vgl. auch K. J. Bade: Einleitung. In: Zeitzeugen im Interview. Flüchtlinge und Vertriebene im Raum Osnabrück nach 1945, hrsg. von K. J. Bade, H.-B. Meier, B. Parisius. Osnabrück 1997, S. 7–12, hier: S. 8.

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griert haben«636. So können Ruth Storms Romane als eine literarische Rehabilitierung der Vertriebenen-Leistung in ihrer neuen Heimat gelten.

636 Kossert, Die kalte Heimat (wie Anm. 126), S. 14.

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Schlussbemerkungen

Ihren Lesern und Literaturkritikern war Ruth Storm vor allem als »Chronistin schlesischen Schicksals«637 bekannt. Diese ehrenvolle Bezeichnung sollte einen engen Bezug der Schriftstellerin zu ihrer verlorenen Heimat herstellen. Sowohl in ihrem Privatleben als auch im Werk blieb sie in der Tat der Erinnerung an ihre schlesischen Herkunftsorte verhaftet. Untersucht man aber Ruth Storms Heimatbilder, so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass diese eine Art Ambivalenz kennzeichnet. Einerseits ist die aufs niederschlesische Riesengebirge und das oberschlesische Kattowitz fixierte, toponymisch konkretisierte Heimat durchaus bestimmbar und in der Gegenwart der mimetisch abgebildeten Lebensräume nicht widerlegbar, andererseits scheint das von der Schriftstellerin eingesetzte Narrativ auf eine Objektivierung wie auch Verallgemeinerung des Erlebten und Erinnerten zuzulaufen. Die Auswahl der Erzählstrategie, das Schwanken zwischen Ich- und Er-Form, nicht selten zugunsten der letzteren, gehörte zum Dilemma vieler Nachkriegsautoren, die sich an die Aufarbeitung ihrer individuellen sowie kollektiven Erinnerungen heranwagten. Die in diese Monografie einleitenden Worte von Christa Wolf, die ihren und ihrer Zeitgenossen Zwang, »in der dritten Person leben [zu müssen – R.D.-J.]«638, treffend wiedergeben, paraphrasiert auch Ruth Storm, die die Transposition des Subjektiven ins Objektive voraussetzt, um von Anderen gehört und gelesen zu werden.639 Jene kognitive Gestaltung des Erlebten – so Ruth Storm weiter – bildet jedoch den Ausgangspunkt für jeden/jede Schriftsteller/in. Diese Strategie korrespondiert mit Paul Ricoeurs Konzept von erzählter Zeit, das dem Rhythmus von Selektion, Konfiguration und Perspektivierung folgt640. Storms Bilder der Heimat stellen sich somit als auf Wirklichkeit basierende Konstrukte vor, die von der Schriftstellerin ausgewählt, dann aneinandergefügt und aus einem be637 Meridies, Ruth Storm – Chronistin schlesischen Schicksals (wie Anm. 26), S. 143. 638 Chr. Wolf: Das Vergangene ist nicht tot. In: Heimat. Ein deutsches Lesebuch, hrsg. von M. Kluge. München 1989, S. 203. 639 Vgl. Kapitel 2, S. 56. 640 Vgl. Einleitung, S. 21.

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Schlussbemerkungen

stimmten Fokus betrachtet werden. Alle drei Komponenten ermöglichen – so Shlomith Rimmon-Kenan – eine Panoramaperspektive und ein wertendes Urteil641. Beide Formen befördert die vom Fokalisator bevorzugte heterodiegetische Haltung, die in vielen Werken ebenfalls durch homodiegetische Erzählung ergänzt wird. Der sporadische Austausch beider Erzähler, unterstützt von einfacher Fabelführung, mangelnder Verdichtung von Motiven und fehlender Parallelität der Handlung sowie wenigen Dialogen, lässt beim Leser den Eindruck einer sachlichen Schilderung wecken und die Glaubwürdigkeit des Dargestellten nicht bezweifeln. Das Verfahren eines rekonstruierenden Konstruierens von Heimat ist jedoch erst aus dem Gesamtwerk der Schriftstellerin zu ersehen, denn eine Einzelanalyse gibt das Formen des heimatlichen Gebildes nicht vollständig wieder. Die Aneinanderreihung von Bildern der verlorenen Heimat verdeutlich parallel die mangelnde Verknüpfung von Ruth Storms Werken mit der bundesrepublikanischen Literaturgeschichte. Aus ihren in den 1950er Jahren entstandenen Romanen lässt sich nämlich eine gewisse Orientierungslosigkeit einer außerhalb des Literaturbetriebs stehenden Autorin herauslesen, die sich im Laufe ihrer schriftstellerischen Karriere an die geltenden Tendenzen entweder anpasst oder sie ganz ignoriert. Diese Adaptation an den damals ebenfalls im Aufschwung begriffenen Literaturmarkt äußert sich besonders in der Auswahl von Gattungen (Tagebuch, Semiautobiografie, Familiensaga in den 1970er Jahren) sowie Themen und Motiven (Integrationsprozesse, Wirtschaftswunder, Mann-Frau-Beziehungen, Kindheit etc.). Es gibt aber literarische Entwürfe, die sie, besonders in der Anfangsphase ihres Schaffens im Westen, entgegen der Mode und dem Erwartungshorizont der Leser entwickelte (z. B. die Veröffentlichung eines historischen Romans in den ersten Nachkriegsjahren). Zu solchen weniger beliebten Themen gehörte zweifelsohne die Bearbeitung der Flucht- und Vertreibungserfahrung in Das vorletzte Gericht, als sie noch dem (damals unerwünschten) kommunikativen Gedächtnis angehörte. Jenes Bewohnbarmachen von Gedächtnis, das Organisieren von Erinnerungen spiegelt ebenfalls Storms Suche nach einer Balance zwischen kommunikativen Artefakten und deren Transferierung in das Kollektive wider. Wie kommt dieser Prozess zustande? Wie wird das Narrativ der Heimat gestaltet? Die Analyse des Fokalisierungspotenzials von Ruth Storms Werken macht zunächst auf die Rolle der Räume und Charaktere aufmerksam, die ein kompensatorisches, reziprokes Verhältnis eingehen. Die sich durch Eingrenzungen kennzeichnenden Räume des Hauses, der Familie, des Ortes oder des Grenzlandes wirken scheinbar als geschlossen und sich nach eigenen, heterotopischen Regeln richtend, in Wirklichkeit werden sie durch ausgewählte Se641 Vgl. Einleitung, S. 20.

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Schlussbemerkungen

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miotisierungsstrategien dynamisiert. Diese Beweglichkeit der Räume, von denen das Haus im Sinne von Heimat (»Heim«) eine zentrale Rolle spielt, wird durch Gegenstände erreicht, die zugleich als Erinnerungsmetaphern fungieren, und die mit Charakteren in ein Wechselspiel treten, wodurch es zu einer Loslösung von Verdrängtem, Vergangenem und Schmerzlichem kommt. Die exponierten Gegenstände kommen mit der Außenwelt ins Gespräch, sie rufen Erinnerungen hervor, wie der Spiegel, der Schlüsselbund oder das Heiligen-Bildchen und viele andere, und lassen die Vergangenheit für eine Weile vergegenwärtigen, um sie dann für die Zukunft brauchbar machen zu können. Die Semiotisierung der Räume erfolgt jedoch nicht nur mit Hilfe von Gegenständen; auch die Naturbilder, die sich dem Auge des Betrachters – wie in der Analyse gezeigt wurde – in ihrer einfachsten Form als Wald oder Baum offenbaren, werden zu Subjekten erhoben und dadurch in ihrem ontologischen Charakter verfestigt. Die aus diesen Gegenständen strömende Intimität gewährt nach Gaston Bachelard den Eindruck einer besonderen Atmosphäre, »eines seelischen Zustandes«, der wiederum das Gefühl der Zugehörigkeit verstärkt642. Denkt man an dieser Stelle, dass Ruth Storm in ihren Werken eine Art »innere Topographie« abwickelt oder ein »Herzgedächtnis« aktiviert643, die einer Verarbeitung von Erlebtem und Erinnertem, der Schilderung von den sich durch ihre Materialität sowie Atmosphäre auszeichnenden Lebensräumen dienen würde, so übersieht man das ordnende Semiotisierungsprinzip ihres Werkes. Das Herausreißen der Räume aus ihrer erstarrten, nicht selten provinziellen Form, und infolgedessen die Auflösung der heterotopischen Behausung, die in den meisten Werken durch die Erfahrung einer Grenzsituation (Krieg, Tod, Flucht und Vertreibung) zustande kommt, führen zur Erweiterung des Materiellen und dadurch zu einer ständig notwendiger werdenden Verwurzelung in der Welt schlechthin. Die Parallelen zwischen grounding a house und grounding a world zeigen, dass das aufgezwungene Verlassen des Hauses zwar als eine Leiderfahrung betrachtet wird, aber seine Folgen ontologisch ausgewertet werden müssen. Der Tragik von Flucht und Vertreibung, die die Handlung der Prosawerke Storms von Anfang an durchzieht, und die auch in die Struktur jedes Hauses und Naturbildes eingeschrieben ist, vermittelt eine apokalyptische Stimmung644, die aber eine vorübergehende ist. Außerhalb des Hauses und jedes anderen eingrenzenden Raumes findet man einen neuen Bereich, der zum erneuten Wurzeln-Schlagen führen kann. Marianne Erpach, Anton Erben, Merle Gaebler, Richard Bother und 642 Bachelard, Poetik des Raumes (wie Anm. 431), S. 102. 643 Beide Begriffe bezieht S. Kersten auf D. von Mutius’ ästhetische Aufarbeitung von Erinnerungen. Vgl. Kersten, Heimat und Fremde. Dagmar von Mutius’ »Besuche am Rande der Tage« (wie Anm. 62), S. 255. 644 Zur Apokalypse im Werk Storms vgl. Interpretationen von F.L. Helbig und F. Janzen. Vgl. Anm. 462 und 486.

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Schlussbemerkungen

viele andere verlassen zwar ihre Heimat, aber dadurch schließen sie sich an einen ewigen Kreis der Existenz an und können in der Welt – im phänomenologischen Sinne – ihr Dasein (wieder-)finden und am Lebenszyklus teilnehmen. Diese phänomenologisch anmutende Vorstellung vom unveränderlichen, geschichteund schicksalsresistenten Sinn des menschlichen Lebens verdeutlicht die Flüchtigkeit des Materiellen und die Beständigkeit des Geistigen. Der Verlust der Heimat, ihres Lebensraumes und des daraus resultierenden identitätsstiftenden Potenzials hinterlassen eine Wunde, die aber geheilt werden muss, denn die Weltordnungen unterliegen einem ständigen Wandel, den man für sich und andere nutzen sollte. Diese Überzeugung und zugleich Hoffnung auf eine geglückte – wider Unzufriedenheit, Erniedrigung und Schicksalsschläge – Organisation der neuen Heimat, im Falle der Schriftstellerin auf christlichem Glauben beruhend, durchsetzt ihre Prosawerke und lässt eine utopisch-imaginäre Heimat entstehen, die sich vor allen (er-)öffnet. Die zuvor erwähnte Ambivalenz der Storm’schen Heimat zeigt sich nicht nur in der Raumbeschaffenheit, sondern vor allem in den Figuren und deren Interaktion(en). Diese lassen sich scheinbar – dem Raum ähnlich – als statisch, geschlossen, eindimensional und rational charakterisieren; ihre auf wenige Merkmale beschränkten Charaktere folgen meistens einer Schwarz-Weiß-Malerei, aber auch sie sind imstande, sich über ihre sie beschränkenden Umstände hinwegzusetzen und aktiv zu handeln. Diese Fähigkeit trifft vor allem auf die Frauen zu, die zwar in ihren traditionellen Rollen als Töchter, Ehefrauen und Mütter dargestellt, sich in der Welt organisieren können, quasi der »Kraft des Werdens [folgend – R.D.-J.], während die Majorität die Macht der Ohnmacht eines Zustandes, einer Situation bezeichnet«645. Diese aktive Haltung der Frauen lädt den Raum mit neuen Inhalten auf und trägt auf diesem Wege zu dessen Dynamisierung bei. Der rastlose Mensch der Nachkriegszeit galt als Garant seiner conditio humana und der hoffnungsspendenden Lebenskraft, die sich im menschlichen Handeln ausdrückt.646 Aktive Frauen verleihen durch ihre Kontakte mit der Welt, durch die sog. Körpersprache, dem Heimatbegriff ein ganz besonderes Gepräge, denn deren Ein-Räumung situiert sie zwischen Privatem und Öffentlichem und sie können somit der historischen Last entkommen, sie

645 G. Deluze: Ein Manifest weniger. 5. Das Theater und seine Politik. In: Ders.: Kleine Schriften. Berlin 1980, S. 66f. 646 H. Arendts These, nach der das »Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität« den Sinn der menschlichen Existenz und des Handelns ausmachen, korrespondiert in einigen Punkten mit R. Storms Ansichten, besonders im Hinblick auf die Aktivität, auf die Fähigkeit des Menschen, »selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.« Vgl. H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München / Zürich 1998, S. 21, 18.

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Schlussbemerkungen

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vor einem unbewohnten Gedächtnis schützen und das erlebte Zeitgeschehen individuell aufbewahren lassen. Für eine aus Schlesien stammende Schriftstellerin scheint aber der (R)regionale Bezug von besonderer Bedeutung zu sein. Storms Heimat deckt sich in vielerlei Hinsicht mit vertrauten Bildern von verlorener Heimat bei anderen Autoren. Von der Welt weit entrückte Räume, die in ihrer Entwicklung eher zurückgeblieben und fortschrittsunwillig sind, bündeln Tradition, Gebundenheit an den Ort und die Menschen sowie an die eine Gemeinschaft konsolidierenden Werte. So konzipiert werden die Heimaträume als solche zu Idyllen, zu kleinen Paradiesen stilisiert. »Heimatbesitz bedeutet [nämlich – R.D.-J.] Gewißheit, vor Gefahr und Tragik geschützt zu sein, bedeutet Lokalisierung des Daseins, Standortsicherheit der seelischen Kräfte, Bewußtsein der Gemeinschaft mit Gott, Natur und Menschen.«647 Diese von Arno Lubos zusammengestellten Merkmale eines nachromantischen Heimatverständnisses unter schlesischen Autoren zeichnet eine Art Universalität aus, die ebenfalls dem Werk von Ruth Storm eigen ist. Der Unterschied zwischen Storm und anderen aus der Region stammenden Autoren beruht jedoch darauf, dass sie das sog. »Schlesien-Bewußtsein«648 durch mehr oder weniger reale topographische Zuordnung definiert und es in das Ideelle verlegt, das Sozio-Kulturelle und Sprachliche eher ausklammernd. Die dadurch erreichte Öffnung des Regionalen resultiert aus der Loslösung von Eigenstereotypen, von Verallgemeinerung des Betrachtungsgegenstandes und sie führt zur Transposition der Heimat in die Sphäre des Geistigen, also von einer restorative[n] nostalgia in eine reflexive. Ein solches Konzept kann als ein immerwährendes Modell der Heimat betrachtet werden, das durch seine offene Form in ihren »Grenzen unbegrenzt«649 bleibt.

647 Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens (wie Anm. 254), S. 72. 648 Vgl. Anm. 194. 649 Das Zitat wurde einer Äußerung von A. Nossol entnommen, in der der Oppelner Bischof die neue Rolle Schlesiens nach 1989 kommentierte: »Europäische Vielfalt in Grenzen unbegrenzt, macht das eigentlich Schlesische aus.« Zit. nach Joachimsthaler, Die Literarisierung einer Region und die Regionalisierung ihrer Literatur (wie Anm. 4), S. 29.

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Literatur von Ruth Storm650

Bücher und selbständige Schriften (chronologisch) Ein Mann kehrt heim. Novellen und Erzählungen. Steuben-Verlag. Berlin 1935. 157 S. Das vorletzte Gericht. Roman. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1953. 355 S. – Das vorletzte Gericht. Roman. Lizenzausgabe. Deutscher Jugendbuch Verlag / Verlag der neuen Generation. Stuttgart o. J. [1954]. 303 S. – Das vorletzte Gericht. Roman. Das Haus am Hügel. Schauspiel. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1989. 340 S. Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der Herzogin Hedwig von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1955. 324 S. – Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien. Zweite Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München o. J. [1973]. 324 S. – Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien. Dritte Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1984. 324 S. – Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien. Dritte Auflage. Lizenzausgabe für Herder-Buchgemeinde, Freiburg, die Schweizer Volksbuchgemeinde, Luzern, und die Bonner Buchgemeinde, Bonn. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1984. 324 S. – Tausend Jahre – ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien. Vierte Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1989. 324 S. – Tausend Jahre – Ein Tag. Die Heilige Hedwig von Schlesien. Ungekürzte Ausgabe. Ullstein. Frankfurt am Main / Berlin 1993. 235 S.

650 Die Liste von Veröffentlichungen wurde aufgrund der von Ruth Storm in den Jahren 1946 bis 1993 gesammelten und im Ruth-Storm-Archiv vorhandenen Belegexemplare, ergänzt um postum bekannt gewordene Veröffentlichungen, von Prof. Dr. Peter-Christoph Storm zusammengestellt. Die Editionsrichtlinien für die vorliegende Liste entsprechen den Archivregeln.

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Literatur von Ruth Storm

– Tausend Jahre – Ein Tag. Lebensroman der heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien aus dem Hause Andechs und Meranien. Fünfte Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 2004. 302 S. Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1961. 121 S. – Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr. Zweite Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1983. 121 S. – Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr. Dritte Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 2002. 121 S. Der Verkleidete. Roman. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1963. 277 S. Ein Stückchen Erde. Roman aus den schlesischen Bergen. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1965. 183 S. – Ein Stückchen Erde. Roman aus den schlesischen Bergen. Zweite Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1983. 183 S. … und wurden nicht gefragt. Zeitgeschehen aus der Perspektive eines Kindes. Oberschlesischer Heimatverlag. Augsburg 1972. 197 S. – … und wurden nicht gefragt. Zeitgeschehen aus der Perspektive eines Kindes. Zweite, unveränderte Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1986. 197 S. Wieder war die Erde verdorben vor Gottes Augen. Die einfältigen Männer vom Werk 107. Martin Verlag Walter Berger. Buxheim / Allgäu o. J. [1977]. 67 S. Odersaga. Das Schloß am Strom. Roman. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München o. J. [1978]. 320 S. Der Zeitenuhr unentrinnbarer Sand. Gesammeltes aus Jahren. J. G. Bläschke Verlag. St. Michael 1983. 127 S. – Der Zeitenuhr unentrinnbarer Sand. Gesammeltes aus Jahren. Zweite, erweiterte Auflage. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1993. 142 S. Das geheime Brot. Erlebtes und Bewahrtes. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Eberhard G. Schulz. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1985. 146 S. Fern geboren und doch heimatbewußt. Künstlergilde e.V. Esslingen am Neckar 1988. 11 S. Glück muß man haben. Abenteuer zweier Freunde. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1992. 114 S. Unter neuen Dächern. Roman einer Wohnsiedlung. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 2005. 284 S.

Beiträge von Ruth Storm (chronologisch) Zu früh, Der Lebensmüde, Oberschlesisches Nachtbild. In: Hugo Kegel: Oberschlesien in der Dichtung. Neu bearbeitet von Karl Kaisig. Phönix-Verlag Carl Siwinna. Berlin 1926, S. 355–356. Meines Kindes erstes Weihnachtsgedicht in der Fremde (1946). In: »Schlesisches Hausbuch. Ausgabe Rübezahls Reich. Vier Jahre für die Heimat 1949–1953«, hrsg. von der Landsmannschaft Schlesien, Kreisgruppe Uelzen. Uelzen o. J. [1953], S. 33.

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Beiträge von Ruth Storm (chronologisch)

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Der alte Neubauer geht heim. In: »Der Schlesier. Ein Hauskalender für Ober- und Niederschlesier 1954. Jahrbuch der Landsmannschaft Schlesien«, hrsg. von Friedrich Stumpe. Verlag Rautenberg & Möckel. Leer (Ostfriesland) o. J. [1953], S. 68–70. Der Traum. In: Abschied und Begegnung. Fünfzehn deutsche Autoren aus Schlesien, hrsg. von Willibald Köhler, Egon H. Rakette. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1954, S. 171–180. Der Ewige. In: »Das Boot. Dichtung der Gegenwart«, hrsg. von Robert Grabski. Nr. 1, Januar 1955, Jg. 1. Herne in Westfalen 1955, S. 12. Gnade. In: »Das Boot. Zeitschrift für Dichtung der Gegenwart«, hrsg. von Robert Grabski. Nr. 4, Oktober 1955, Jg. 1. Herne in Westfalen, S. 4–5. Die Gefangene vom Isermoor. In: Aber das Herz hängt daran, hrsg. von Gemeinschaftswerk der Heimatvertriebenen. Brentanoverlag. Stuttgart 1955, S. 56–65. Der erste Sturm. In: Harald von Koenigswald: Land ohne Frieden. Georg Büchner Verlag. Darmstadt o. J. [1955], S. 340–342. Christnacht im Gebirge. In: »Das Boot. Zeitschrift für Dichtung der Gegenwart«, hrsg. von Robert Grabski. Nr. 5, Januar 1956, Jg. 2. Herne in Westfalen 1956, S. 6–7. Die Wartenden. In: Heimatland Musenalmanach. Lyrik, Prosa heimatvertriebener und einheimischer Autoren. Lebens- und Schaffensberichte deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Das Buch als Kulturspiegel, hrsg. von Wilhelm Wirbitzky. Musenalmanach Verlag. Marburg an der Lahn 1956, S. 29. Das vergessene Kind. Keiner kennt die Grenze… Erlebnisse der Rettung und Bewahrung durch Fügung, hrsg. vom Göttinger Arbeitskreis. Zusammengestellt, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Karl O. Kurth. Holzner-Verlag. Würzburg 1956, S. 81–85. Carl Hauptman der Seher. In: »Ostdeutsche Monatshefte. Erstes Dichtersonderheft Gerhart Hauptmann zum zehnjährigen Todestag«, hrsg. von Carl Lange, Helmut Rauschenberg Verlag. Stollham (Oldb.) / Berlin. 22. Jg., Heft 9, Juni 1956, S. 560. Die Gefangene vom Isermoor. In: Erzählungen deutscher Dichter. Für den Schulgebrauch zusammengestellt von Wilhelm Helmich und Paul Nentwig. Bd. IV. Georg Westermann Verlag. Braunschweig u. a. 1956, S. 233–240. Aus einer Wildnis einen Garten machen. In: Herzogin Hedwig von Schlesien Große Schlesier. Geistestaten – Lebensfahrten – Abenteuer, hrsg. von Alfons Hayduk. Aufstieg-Verlag. München 1957, S. 9–12. Abschied. In: Und die Welt hebt an zu singen. Anthologie schlesischer Lyrik, hrsg. von und eingeleitet von Hanns Gottschalk. Martin Verlag. Buxheim i. Iller 1958, S. 149. Bereitschaft. In: Und die Welt hebt an zu singen. Anthologie schlesischer Lyrik, hrsg. und eingeleitet von Hanns Gottschalk. Martin Verlag. Buxheim i. Iller 1958, S. 148. Friedrich Iwan: Dem Riesengebirgsmaler zum 70. Lebensjahr. In: »Ostdeutsche Monatshefte«, hrsg. von Helmut Rauschenbusch, 25. Jg., Heft 10. Berlin 1959, S. 609–612. Ich schrieb es auf. In: Das Riesengebirge in der Dichtung aus sechs Jahrhunderten. Eine Auswahl, hrsg. von Lucie Hillebrand. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1960, S. 83. Die unsichtbare Schranke. In: Vermächtnis der Lebenden. Oberschlesier erzählen, Band II. 85 preisgekrönte Beiträge von 53 Autoren aus dem 2. Preisausschreiben der Oberschlesischen Studienhilfe 1961. Oberschlesischer Heimatverlag. Augsburg 1962, S. 181– 183.

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Literatur von Ruth Storm

Das Porträt. In: Vermächtnis der Lebenden. Oberschlesier erzählen, Band II. 85 preisgekrönte Beiträge von 53 Autoren aus dem 2. Preisausschreiben der Oberschlesischen Studienhilfe 1961. Oberschlesischer Heimatverlag. Augsburg 1962, S. 90–93. Im Riesengebirgswald. In: »Meine liebe Heimat Du. Jahrbuch für die Stadt- und Landkreise des Riesen- und Isergebirges 1964«, hrsg. von Kläre Pohl. Verlag Schlesische Bergwacht. Wolfenbüttel 1963, S. 98. Aus der großen Flucht. In: Mein Lesebuch für das 7. und 8. Schuljahr. Lesebuchwerk für Volksschulen. Bearbeitet von Fritz Färber u. a. Bayerischer Schulbuch-Verlag. München 1965, S. 399–400. Pferdehaltung aus Passion. In: »Sankt Georg Almanach« 1965. Verlag Sankt Georg. Düsseldorf 1965, S. 44–48. Glücklich machen sollen wir. In: »Hedwigsjahrbuch 1967«, hrsg. von Johannes Smaczny anlässlich der 700. Jahrfeier der Heiligsprechung der Herzogin Hedwig von Schlesien im Jahre 1267 durch Papst Klemens IV. St. Hedwigswerk. Rühlermoor 1966, S. 116. Tausend Jahre – ein Jahr (sic!). In: »Hedwigsjahrbuch 1967«, hrsg. von Johannes Smaczny anlässlich der 700. Jahrfeier der Heiligsprechung der Herzogin Hedwig von Schlesien im Jahre 1267 durch Papst Klemens IV. St. Hedwigswerk. Rühlermoor 1966, S. 42–44. Christfest. In: »Meine liebe Heimat Du, Jahrbuch für die Stadt- und Landkreise des Riesenund Isergebirges 1967«, hrsg. von Kläre Pohl. Verlag Schlesische Bergwacht. Wolfenbüttel 1966, S. 15. Kleiner Lebensrapport. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 11, Heft II / 1966, S. 70–72. Die Zauberformel. In: Schlesische Liebesgeschichten, hrsg. von Alois Maria Kosler. Gräfe und Unzer Verlag. München 1967, S. 54–80. Laternenkinder. In: Gefährten: 60 deutsche Autoren und Künstler aus Schlesien, hrsg. von Egon H. Rakette. Gesellschaft für Literatur und Kunst »Der Osten« – Wangener Kreis. Wangen im Allgäu 1968, S. 90–91. Aus einer Wildnis einen Garten machen. Herzogin Hedwig von Schlesien. In: Zwischen Ostsee und Donau. Ein Sach- und Lesebuch für den Unterricht in der deutschen Ostkunde. Zusammengestellt von Albert Scheffler. Verlag Ch. Jaeger & Co. HannoverLinden 1968, S. 284–287. Eva von Thiele-Winckler 1866–1930. In: Große Deutsche aus Schlesien, hrsg. von Herbert Hupka. Gräfe und Unzer Verlag. München 1969, S. 214–220. Eva von Thiele-Winckler 1866–1930. In: Große Deutsche aus Schlesien, hrsg. von Herbert Hupka. Zweite Auflage. Langen Müller Verlag. München / Wien 1979, S. 214–220. Die unfreiwillige Reise. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 15, Heft I / 1970, S. 37–43. Nitschewo sagte der Russe. In: So gingen wir fort. Ostdeutsche Autoren erzählen von den letzten Tagen daheim, hrsg. von Rudolf Naujok. J. F. Lehmanns Verlag. München 1970, S. 213–218. Osterwasser. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 16, Heft I / 1971, S. 46–48. Gang zur ewigen Heimat. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 17, Heft IV / 1972, S. 229–230. Der Knabe im Steinbruch. In: Grenzüberschreitungen, hrsg. von von Egon H. Rakette. Herbig. München / Berlin 1973, S. 165–170.

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Beiträge von Ruth Storm (chronologisch)

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Im Riesengebirgswald. In: »Volkskalender für Schlesier 1974«, hrsg. von Hanns Gottschalk. 26. Jg. Aufstieg-Verlag. München [1973], S. 46. Der Befehl. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 19, Heft IV / 1973, S. 213–216. Für Freiheit und Menschenwürde. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 19, Heft III / 1974, S. 179–180. Der vertauschte Nikolaus. In: »Volkskalender für Schlesier 1975«, hrsg. von Hanns Gottschalk. 27. Jg. Aufstieg-Verlag. München [1974], S. 77–78. Weihnachtsgeschichte aus den schlesischen Bergen. In: Alles Werdende verlangt nach dem Segen der Stille. Ostdeutsches Weihnachtsbuch, eingeleitet und hrsg. von Erik Thomson. Martin Verlag Walter Berger. Buxheim / Allgäu [1974], S. 87–92. Bigullas letzte Wanderung. In: Auf meiner Straße – Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. im Auftrag des Frauenbundes für Heimat und Recht e.V. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1975, S. 106–109. Erloschene Sterne. In: Auf meiner Straße – Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. im Auftrag des Frauenbundes für Heimat und Recht e.V. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1975, S. 105. Immer wieder hoffen. In: Auf meiner Straße – Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. im Auftrag des Frauenbundes für Heimat und Recht e.V. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1975, S. 104. … und wurden nicht gefragt. Zeitgeschehen aus der Perspektive eines Kindes. In: Schriftzeichen. Beiträge des Wangener Kreises zur Idee des Friedens, hrsg. von Monika Taubitz, Dagmar v. Mutius und Alois M. Kosler. Verlag Werner. Heidenheim 1975, S. 161–163. Ewige Maria. In: »Volkskalender für Schlesier 1977«, hrsg. von Hanns Gottschalk. Jg. 29. Aufstieg-Verlag. München [1976], S. 110. Erloschene Sterne. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 21, Heft III / 1976, S. 158. Aus der Wildnis einen Garten machen. Herzogin Hedwig von Schlesien. In: Die Reise ins Schlesierland. Mit Wilhelm Menzel. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1977, S. 325–328. Baguleit denkt anders darüber. In: »Volkskalender für Schlesier 1978«, hrsg. von Hanns Gottschalk. Jg. 30. Aufstieg-Verlag. München [1977], S. 114–119. Die Zauberformel. In: Schlesische Liebesgeschichten, hrsg. von Alois Maria Kosler. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 36–55. Als vor der Flucht die Mutter starb. In: Alle Mütter dieser Welt. Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. von Irma Bornemann. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1978, S. 264. Der Mütter ungeschriebenes Gesetz. In: Alle Mütter dieser Welt. Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. von Irma Bornemann. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1978, S. 266–270. Für einen Täufling. In: Alle Mütter dieser Welt. Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. von Irma Bornemann. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1978, S. 265. Letzte Schritte. In: Schuldschein bis morgen. Erzählgedichte, hrsg. von Ernst Schremmer und Hanns Gottschalk. Delp’sche Verlagsbuchhandlung. München 1978, S. 77–78. Das Klavier der Anna Petruschka. In: »Volkskalender für Schlesier 1980«, hrsg. von Hanns Gottschalk. 32. Jg. Aufstieg-Verlag. München o. J. [1979], S. 66–72.

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Literatur von Ruth Storm

Die Grubenlampe. In: Vermächtnis der Lebenden. Oberschlesier erzählen. Band III, hrsg. von Alois M. Kosler und H.-J. von Garnier. Oberschlesischer Heimatverlag. Augsburg 1979, S. 275–277. Osterwasser. In: Ich erzähle Euch alles, was am Ostersonntag geschah. Gesammelt und herausgegeben von Erik Thomson. Martin Verlag / Walter Berger. Buxheim / Allgäu o. J. [1979], S. 158–163. Das Riesengebirge im Widerhall der Kunstschaffenden. In: Erinnerungsschrift zum hundertjährigen Bestehen des Riesengebirgsvereins am 1. August 1980: Unsere Heimat, hrsg. von Kurt Wiemer und Kurt Fromberg. Riesengebirgsverein. Meckenheim o. J. [1980], S. 65–67. Geschöpfe Gottes. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft –Volkskunde«. Jg. 25, Heft I / 1980, S. 99. Der Versöhnende. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde«. Jg. 25, Heft III / 1980, S. 182. Spätherbst. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft Volkskunde«. Jg. 25, Heft IV / 1980, S. 235. Abschied von Schreiberhau. In: Letzte Tage in Schlesien. Tagebücher, Erinnerungen und Dokumente der Vertreibung. Zusammengestellt und hrsg. von Herbert Hupka. Langen Müller. München / Wien 1981, S. 299–311. Dank den Pferden für das letzte Schreiberhauer Jahr. In: Brieger Gänse fliegen nicht. Ernstes und Heiteres aus der Feder schlesischer Autoren, hrsg. von Erle Bach. Verlag Gerhard Rautenberg. Leer (Ostfriesland) 1982, S. 27–29. Das entsprungene Roß. In: Brieger Gänse fliegen nicht. Ernstes und Heiteres aus der Feder schlesischer Autoren, hrsg. von Erle Bach. Verlag Gerhard Rautenberg. Leer (Ostfriesland) 1982, S. 99–102. Erloschene Sterne. In: Hiersein ist herrlich. Literaten zu Gast in Bad Ragaz-Pfäfers, hrsg. von Bernd Langer-Würben. Verlag Buchdruck+Offset AG. Bad Ragaz 1982, S. 174. Das Klavier der Anna Petruschka. In: Und das Leuchten blieb… Erzählungen, hrsg. und eingeführt von Peter Nasarski. Westkreuz-Verlag. Berlin / Bonn 1982, S. 35–43. Immer wieder hoffen. In: »Jahrbuch der Schlesier«, hrsg. von Helmut Preußler. Jg. 6 / [1983]. Preußler Verlag. Nürnberg [1983], S. 65. Vertrieben. In: Erinnern – Zurückschauen nach Jannowitz im Riesengebirge, hrsg. von Dora Puschmann. [Wangen im Allgäu 1983], S. 108. Zurückgeblieben. In: Erinnern – Zurückschauen nach Jannowitz im Riesengebirge, hrsg. von Dora Puschmann. [Wangen im Allgäu 1983], S. 4. Das Klavier der Anna Petruschka, Grenzland, Trennung, Letzte Schritte, Das neue Haus, Frühling, Reiterglück, Vogelflug, Aufkommendes Gewitter, Spätherbst, Gleichgewicht, Verwandlung, Erkenntnis. In: Oder VI, hrsg. von Waldemar Zylla. Laumann-Verlag. Dülmen 1984, S. 103–120. Bigullas letzte Wanderung. In: Blaue Berge, grüne Täler… Ein heimatliches Lesebuch vom Riesengebirge. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1984, S. 187–190. Der Traum. In: Blaue Berge, grüne Täler… Ein heimatliches Lesebuch vom Riesengebirge. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1984, S. 214–222. Ein Rübezahlbild. In: Blaue Berge, grüne Täler… Ein heimatliches Lesebuch vom Riesengebirge. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1984, S. 138–140. Letzter Wunsch. In: Blaue Berge, grüne Täler… Ein heimatliches Lesebuch vom Riesengebirge. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1984, S. 272–273.

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Beiträge von Ruth Storm (chronologisch)

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Trost. In: Blaue Berge, grüne Täler… Ein heimatliches Lesebuch vom Riesengebirge. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1984, S. 11. Vertrieben. In: Blaue Berge, grüne Täler… Ein heimatliches Lesebuch vom Riesengebirge. Helmut Preußler Verlag. Nürnberg 1984, S. 274–275. In Erinnerung an Katarina Gansser-Stephan. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahresschrift«. Jg. 29, Heft III / 1984, S. 190–191. Beschämend. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahresschrift«. Jg. 29, Heft IV / 1984, S. 234. Der vertauschte Nikolaus. In: »Wer verzeiht, kann wieder lachen«. Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. von Irma Bornemann. Frauenbund für Heimat und Recht im BdV e.V. Bonn 1985, S. 253–254. Stille Gaben. In: »Wer verzeiht, kann wieder lachen«. Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. von Irma Bornemann. Frauenbund für Heimat und Recht im BdV e.V. Bonn 1985 (S. 256). Zufriedenheit. In: »Wer verzeiht, kann wieder lachen«. Anthologie ostdeutscher Autorinnen der Gegenwart, hrsg. von Irma Bornemann. Frauenbund für Heimat und Recht im BdV e.V. Bonn 1985, S. 255. Artur Wasner, ein vergessener Maler. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahreszeitschrift«. Jg. 31, Heft I / 1986, S. 51–52. Widerhall auf Artur Wasners Werk. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahreszeitschrift«. Jg. 32, Heft IV / 1987, S. 247. Osterwasser. In: Oberschlesischer Bildkalender 1988. Im Auftrag der Oberschlesischen Studienhilfe e.V., hrsg. von Dieter Webhofen. Jg. 27. Diedorf Lettenbach [1987], S. Rückseite, Blatt April I und II. Im Gongschlag der Zeit. Dank an Wangen. In: Dank an Wangen im Allgäu, hrsg. von Monika Taubitz und Meinrad Köhler. Wangener Kreis, Gesellschaft für Literatur und Kunst »Der Osten« e.V. Wangen im Allgäu [1990], S. 15–17. Zuversicht. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahreszeitschrift«. Jg. 35, IV / 1990, S. 218. Der Traum. In: Schlesien. Ein Lesebuch. Ausgewählt und hrsg. von Manfred Kluge. Wilhelm Heyne Verlag. München 1991, S. 280–287. Oder. In: Oberschlesien in Farbe. Vom Sudetenland zur Oberschlesischen Platte, hrsg. von Erle Bach. Adam Kraft Verlag. Würzburg 1991, S. 66–67. Wirkungsstätten der heiligen Hedwig Zum Gedenken an die 750. Wiederkehr ihres Todestages am 15. 10. 1243. / Hedwig besucht den Leichnam ihres Sohnes. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahresschrift«. Jg. 38, Heft 4 / 1993, S. 193– 194. Gewißheit. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahresschrift«. Jg. 39, Heft 2 / 1994, S. 73. Der Himmelsschlüssel. In: Literaturkalender 1995. Spektrum des Geistes. Ein Querschnitt durch das Literaturschaffen der Gegenwart, hrsg. von Alix und Ingwert Paulsen. Jg. 44. Husum Druck- und Verlagsgesellschaft. Husum 1994, S. 56. Abschied aus Schreiberhau. In: Letzte Tage in Schlesien. Tagebücher, Erinnerungen und Dokumente der Vertreibung, hrsg. von Herbert Hupka. Ullstein Verlag. Berlin 1995, S. 299–311.

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Literatur von Ruth Storm

Fragmente aus Ich schrieb es auf – Das letzte Schreiberhauer Jahr (29. Januar 1945, 3. Februar 1945, 8. Februar 1945). In: Walter Kempowski: Das Echolot. Fuga Furiosa. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945. Erste Auflage. Vier Bände. Albrecht Knaus Verlag. München 1999, S. 48–50, 569, 250. Der tote Pan / S´mierc´ Fauna. In: »Zeszyty Eichendorffa / Eichendorff-Hefte. Historia – Kultura – Literatura / Geschichte – Kultur – Literatur«. Nr. 3 / 2003. Łubowice / Lubowitz, S. 44–49. Antiquitäten / Antyki. In: »Zeszyty Eichendorffa / Eichendorff-Hefte. Historia – Kultura – Literatura. Geschichte – Kultur – Literatur«. Nr. 8 / 2004. Łubowice / Lubowitz 2004, S. 80–95. Gedenktafel. In: Evangelische Kirchengemeinde Wangen im Allgäu: »Nun hat die Wittwais eine Nase im Gesicht!« 40 Jahre Evangelisches Gemeindezentrum Wangen-Wittwais. Kirche – Pfarrhaus – Kindergarten. Erinnerungen in Wort und Bild 1963 bis 2004. Pfarramt Wittwais. Wangen im Allgäu 2004, S. Vorblatt. Das neue Haus (Gedicht). In: Evangelische Kirchengemeinde Wangen im Allgäu: »Nun hat die Wittwais eine Nase im Gesicht!« 40 Jahre Evangelisches Gemeindezentrum WangenWittwais. Kirche – Pfarrhaus – Kindergarten. Erinnerungen in Wort und Bild 1963 bis 2004. Pfarramt Wittwais. Wangen im Allgäu 2004, S. 19. Unter neuen Dächern – Duldsamkeit. In: Evangelische Kirchengemeinde Wangen im Allgäu: »Nun hat die Wittwais eine Nase im Gesicht!« 40 Jahre Evangelisches Gemeindezentrum Wangen-Wittwais. Kirche – Pfarrhaus – Kindergarten. Erinnerungen in Wort und Bild 1963 bis 2004. Pfarramt Wittwais. Wangen im Allgäu 2004, S. 32. Pod grzbietami Izerów / Unter dem Iserkamm. In: »Sudety. Przyroda. Kultura. Historia«. Nr. 1 / 2004, S. 3. Der Traum. »Volkskalender für Schlesier 2005«. Jg. 57. Aufstieg-Verlag. Landshut 2004, S. 40–46. Verpflichtendes Erinnern, Aufbruch, Saatgut, Verlorenes Spielzeug (S. 157), Als der Himmel sich rötete (S. 158); Die Wadenden (S. 256); Sterbender Flüchtling (S. 277); Barmherzigkeit. In: Heimwärts schlägt mein Herz. Gedichte zur verlorenen Heimat im deutschen Osten, hrsg. von Ferdinand Urbanek. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 2005, S. 26, 155, 156, 157, 158, 256, 277, 278–279. Fragmente aus Ich schrieb es auf – Das letzte Schreiberhauer Jahr (Montag, 30. April 1945), Walter Kempowski: Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch. 2. Auflage. Albrecht Knaus Verlag. München 2005, S. 247–248. Auszug aus dem Gedicht Peter-Christoph Storm zum 8. 9. 1985. In: Peter-Christoph Storm: Umweltrecht. Einführung. Achte Auflage. Erich Schmidt Verlag. Berlin 2006, S. 5. Der Mutter ungeschriebenes Gesetz. In: »Volkskalender für Schlesier 2010«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 63. Aufstieg-Verlag. Landshut 2009, S. 35–38. Gewissheit. In: »Volkskalender für Schlesier 2011«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 64. Aufstieg-Verlag. Landshut 2010, S. 41. Laternenkinder. In: »Volkskalender für Schlesier 2012«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 65. Aufstieg-Verlag. Landshut 2011, S. 107. Der Christusmantel. In: »Volkskalender für Schlesier 2013«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 66. Aufstieg-Verlag. Landshut 2012, S. 122–124. Die Laienpredigt. In: »Volkskalender für Schlesier 2014«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 67. Aufstieg-Verlag. Landshut 2013, S. 62–63.

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Beiträge von Ruth Storm (chronologisch)

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Der alte Neubauer geht heim. In: »Volkskalender für Schlesier 2015«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 68. Aufstieg-Verlag. Landshut 2014, S. 49–51. Zum Christfest. Gedicht. In: »Volkskalender für Schlesier 2016«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 69. Aufstieg-Verlag. Landshut 2015, S. 121.

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Literatur über Ruth Storm

Hinweis auf die Uraufführung des Schauspiels von Ruth Storms Das Haus am Hügel am 26. August 1951. In: Festwoche der Breloher Gewerbeschau 25. Aug.–2. Sept. 1951 im Flüchtlingslager Breloh-Homheide. Programmheft Nr. 2122. W. Herzberg. Soltau o. J. [1951], S. 12 und S. 18. Rezension über Ruth Storms Das vorletzte Gericht. In: »Der Turmwart. Schweizerische Monatsschrift«, hrsg. von W. Meyer. Jg. 7, Nr. 4, Zürich / Dezember 1953, S. 137. Rezension über Ruth Storms Das vorletzte Gericht: »Vertriebene Schlesier, dies ist Euer Buch!« In: Hans Reimann: Die dritte Literazzia. Ein Streifzug durchs Dickicht der Bücher. Pohl & Co. München 1954, S. 257. Hinweis auf Ruth Storm und ihren Geburtstag. In: »Das Boot. Zeitschrift für Dichtung der Gegenwart«, hrsg. von R. Grabski. Jg. 1. Heft 3 / Juli 1955. Robert Grabski Verlag. Herne (Westfalen) 1955, S. 30. Joachim Engelmann: Schlesische Dichter und Schriftsteller fern der Heimat. Siebenter Bericht: Ruth Storm. In: »Der Schlesier. Ein Hauskalender für Ober- und Niederschlesier 1957«, hrsg. von A. Hayduk. Verlag Rautenberg & Möckel. Leer (Ostfriesland) [1956], S. 106–107. Erwähnung von Ruth Storm. In: Arno Lubos: Die schlesische Dichtung im 20. Jahrhundert. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. München 1961, S. 21 und S. 90. Porträtfoto von Ruth Storm. In: Reta Baumann: Autorenbildlexikon. Reta Baumann Verlag. Bayreuth 1961, S. 256. Rezension von Alfons Hayduk über Ruth Storms Ich schrieb es auf – Das letzte Schreiberhauer Jahr. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahreszeitschrift«. Jg. 7, Heft II / 1962, S. 121. Erwähnung von Ruth Storm. In: Karl Schindler: Heimat und Vertreibung in der schlesischen Dichtung. Aufstieg-Verlag. Munchen 1964, S. 28f., 49, 51, 53, 54. Karl Schodrok: Biographisches. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahreszeitschrift«. Jg. 11, Heft II /1966, S. 72. Walter Stanke: Ruth Storm. Auf den Pfaden der hl. Hedwig, Leben und Werk. In: »HedwigsJahrbuch 1968«, hrsg. von Msgr. J. Smaczny. St. Hedwigs-Werk / Osnabrück. Rühlermoor 1967, S. 49–55. Walter Stanke: Ruth Storm 65 Jahre. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 15, Heft 11 / 1970, S. 120–121.

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Literatur über Ruth Storm

Rezension von Jochen Hoffbauer über Ruth Storm …und wurden nicht gefragt. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 18, Heft 1 / 1973, S. 62–63. Karl Schindler: Ruth Storm zum 70. Geburtstag. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 20, Heft III / 1975, S. 186–187. Wilhelm Meridies: Ruth Storm – Chronistin schlesischen Schicksals. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 24, Heft III / 1979, S. 138–143. Eberhard Günter Schulz: Ruth Storm. 75 Jahre. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 25, Heft III / 1980, S. 191. Rezension von Margarete Arndt über Odersaga. In: »Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum«. Jg. 26, Heft III / 1981, S. 189. Biographie von Ruth Storm. In: »Kürschners Deutscher Literatur-Kalender 1981«. Jg. 58, hrsg. von W. Schuder. Walter de Gruyter. Berlin / New York 1981, S. 1608. Bernd Langer-Würben: Ruth Storm grüsst Bad Ragaz. In: Bernd Langer-Würben: Hiersein ist herrlich. Literaten zu Gast in Bad Ragaz-Pfäfers. Verlag Buchdruck+Offset AG. Bad Ragaz 1982, S. 171–173. Beitrag von Ernst-Edmund Keil: Ruth Storm. In: Vertrieben… Literarische Zeugnisse von Flucht und Vertreibung. Eine Auswahl aus Romanen, Erzählungen, Gedichten, Tagebüchern und Zeichnungen der Jahre 1945–1985. Gesammelt und hrsg. von Ernst-Edmund Keil mit einem historischen Exkurs von Hans-Werner Rautenberg. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Bonn 1985, S. 348. Konrad Werner: 1. Juni. 80. Geburtstag STORM, Ruth. Schriftstellerin. In: Ostdeutsche Gedenktage 1985. Persönlichkeiten und historische Ereignisse, hrsg. von Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Bonn 1984, S. 112–115. Erwähnung und Porträt von Ruth Storm beim Stichwort »Kattowitz«. In: Heinz Rudolf Fritsche: Schlesien-Wegweiser durch ein unvergessenes Land. 516 Abbildungen, darunter 124 Zeichnungen von Johannes Hinz. Adam Kraft Verlag. Mannheim 1985, S. 131–132. Hinweis auf Ruth Storm zum Bild »Kattowitz««. In: »Oberschlesischer Bildkalender 1984«. Im Auftrag der Oberschlesischen Studienhilfe e.V., hrsg. von Alois M. Kosler. Jg. 23. Oberschlesischer Heimatverlag. Dülmen [1983], (Rückseite Blatt April II). Louis F. Helbig: Vom Unglück der Zeit – Schlesien in einigen Romanen seit der Vertreibung. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft –Volkskunde. Eine Vierteljahreszeitschrift«. Jg. 31, Heft I / 1986, S. 26–35. Louis F. Helbig: Das Flucht- und Vertreibungsgeschehen in Belletristik und Literaturforschung 1945–1985. In: »Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau«. Band XXVII / 1986. Jan Thorbecke Verlag. Sigmaringen 1986, S. 223–278. [Zu Ruth Storm insb. S. 241f., 245, 247, 252, 254, 257, 277]. Rezension von Jochen Hoffbauer zur Neuauflage Das vorletzte Gericht / Das Haus am Hügel. In: »Schlesien: Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahreszeitschrift«. Jg. 34, Heft IV / 1989, S. 248–249. Biographie von Ruth Storm. In: Autoren in Baden-Württemberg. Ein aktuelles Nachschlagewerk. Silberburg-Verlag. Stuttgart 1991, S. 504–505. Erwähnung von Ruth Storm. In: Ulrich Schmilewski: Verlegt bei Korn in Breslau. Kleine Geschichte eines bedeutenden Verlages von 1732 bis heute. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 1991, S. 170, 171, 173.

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Literatur über Ruth Storm

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Beitrag von Eugeniusz Klin: Polnische Diplomarbeiten über schlesische Literatur. In: »Schlesien: Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahresschrift«. Jg. 37, Heft / 1992, S. 250–251. Rezension von Jochen Hoffbauer über Ruth Storms Glück muß man habe. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahresschrift«. Jg. 37, Heft 4 / 1992, S. 256. Eugeniusz Klin: Vertreibung und Verständigung im literarischen Werk von Ruth Storm. In: »Schlesien. Kunst – Wissenschaft – Volkskunde. Eine Vierteljahresschrift«. Jg. 38, Heft 1 / 1993, S. 43–51. Nachruf von Jochen Hoffbauer: Ruth Storm 1. Juni 1905 in Kattowitz, 13. Dezember 1993 in Berlin. In: »Oberschlesisches Jahrbuch«, Bd. 10. 1994. Im Auftrag der Stiftung Haus Oberschlesien, hrsg. von Hans-Ludwig Abmeier, Peter Chmiel u. a. Gebr. Mann Verlag. Berlin 1994, S. 275–278. Brigitte Steinert: Ruth Storm. In: Trauer und Zuversicht. Literatur der Heimatvertriebenen in Bayern. Katalog zur Ausstellung von 13. Juli bis 15. August 1995 im Augsburger Rathaus, hrsg. von Peter Fassl und Berndt Herrmann. Bezirk Schwaben. Augsburg 1995, S. 143. Eugeniusz Klin: Vertreibung und Verständigung im literarischen Werk von Ruth Storm. In: Tradition und Gegenwart – Studien zur Literatur Schlesiens., hrsg. von Eugeniusz Klin. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 2001, S. 105–113. Eugeniusz Klin: Die literarische Darstellung von Krieg und Vertreibung bei Wlodzimierz Odojewski 1930–) und Ruth Storm (1905–1993). In: Tradition und Gegenwart – Studien zur Literatur Schlesiens, hrsg. von Eugeniusz Klin. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 2001, S. 114–124. Eugeniusz Klin: Forschungsergebnisse zur schlesischen Literatur in der Grünberger Germanistik. In: Tradition und Gegenwart – Studien zur Literatur Schlesiens, hrsg. von Eugeniusz Klin. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Würzburg 2001, S. 154–159. Joanna Rostropowicz: Ruth Storms Schlesien / S´la˛sk Ruth Storm. In: »Zeszyty Eichendorffa / Eichendorff-Hefte«. Historia. Kultura. Literatura / Geschichte. Kultur. Literatur. Nr. 3 / 2003. Łubowice / Lubowitz 2003, S. 38–43. Meinrad Köhler: Ruth Storm. Chronistin schlesischen Schicksals. In: »Volkskalender für Schlesier 2005«, hrsg. von Monika Taubitz. Jg. 57. Aufstieg-Verlag. Landshut 2004, S. 39– 40. Peter-Christoph Storm: Ruth Storm – Unter neuen Dächern. Aus dem Leben und Werk meiner Mutter. Vortrag anlässlich der 55. Wangener Gespräche am 22. September 2005 im Weberzunfthaus zu Wangen im Allgäu. In: »Rocznik Łubowicki / Lubowitzer Jahrbuch / Lubowicka Rocenka«, hrsg. Oberschlesisches Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum in Lubowitz. Jg. 3 / 2005, S. 84–98. Konrad Werner: 1. Juni 2005. 100. Geburtstag. STORM, Ruth. Schriftstellerin. In: Persönlichkeiten und historische Ereignisse, hrsg. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Bonn 2006, S. 93–96. Eugeniusz Klin: Schicksal und Bewältigung der Vertreibung im Werk von Ruth Storm. In: Schicksal und Bewältigung der Flucht und Vertreibung von Deutschen und Polen. Vorträge und Berichte der Tagungen der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, hrsg. von Eberhard Günter Schulz. Georg Olms Verlag. Hildesheim / Zürich / New York 2009, S. 151– 159.

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Literatur über Ruth Storm

Sonia Waindok: Ruth Storm – Heimatkunst, Nationalsozialismus, christliche Allegorik. Versuch einer Bewertung neuer Archivalien. In: Deutsch im Kontakt der Kulturen – Schlesien und andere Vergleichsregionen. Akten der V. Internationalen Konferenz des Germanistischen Instituts der Universität Opole 19.–22. April 2004, hrsg. von Maria Katarzyna Lasatowicz, Andrea Rudolph, Norbert Richard Wolf. trafo verlag. Berlin 2006, S. 311–331. Peter-Christoph Storm: Vertriebene Schlesier, dies ist Euer Buch! Ruth Storm – Chronistin schlesischen Schicksals. In: »Deutscher Ostdienst DOD. Nachrichtenmagazin des Bundes der Vertriebenen«. Jg. 52., Nr. 9 / 2010. Bund der Vertriebenen. Bonn 2010, S. 25–26. Louis Ferdinand Helbig: Ruth Storm als schlesische und als deutsche Schriftstellerin. In: Silesia in litteris servata. Paradigmen der Erinnerung in Texten schlesischer Autoren nach 1945, hrsg. von Edward Bialek, Paweł Zimniak. Neisse Verlag. Dresden 2009, S. 171–187. Klaus Hildebrandt: Ruth Storm (1905–1993). In: Schlesische Lebensbilder, hrsg. im Auftrag der Historischen Kommission für Schlesien von Joachim Bahlcke. Band XI. Verlag Degener & Co. Insingen 2012, S. 549–562. Frauke Janzen: Zum Verhältnis vom Heimatverlust und Neubeginn in frühen Romanen über Flucht und Vertreibung. In: »Studia Germanica Posnaniensia«, XXXIV 2013, S. 85–100. Eberhard Günter Schulz: Die Dichterin aus der Kraft der Stille. Ruth Storm zum 80. Geburtstag. In: Eberhard Günter Schulz: Leuchtendes Schlesien. Betrachtungen zu Ereignissen und Persönlichkeiten, hrsg. von Viola Plump und Ulrich Schmilewski. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn. Görlitz 2013, S. 175–176. Eberhard Günter Schulz: Ruth Storm. Laudatio zur Verleihung des Schlesischen Kulturpreises 1984, S. 177–181. Suzanna Wycisk-Müller: Ruth Storm. In: Schöpferisches Schlesien von A bis Z. Engelsdorfer Verlag. Leipzig 2014, S. 221–224. Artur Robert Białachowski: Ruth Storm in der Vierteljahresschrift Schlesien. In: Literarisches Hirschberg. Beiträge zur Kulturgeschichte der ›Riesengebirgs-Goldstadt‹ und ihrer Umgebung, hrsg. von Edward Białek, Cezary Lipin´ski, Józef Zaprucki. Neisse Verlag. Dresden 2016, S. 425–436. Erle Bach: Ruth Storm stand im Mittelpunk. In: Erle Bach – Eine herausragende Schlesierin. Festschrift 35 Jahre erfolgreiche Arbeit, hrsg. von Friedrich Wilhelm Preuß, Ullrich Juncker. Arbeitskreis für schlesische Mundart. Selbstverlag. Wangen im Allgäu 2017, S. 49–51. Friedrich Wilhelm Preuß: Haus am Hügel; Schauspiel von Ruth Storm In: Erle Bach – Eine herausragende Schlesierin. Festschrift 35 Jahre erfolgreiche Arbeit, hrsg. von Friedrich Wilhelm Preuß, Ullrich Juncker. Arbeitskreis für schlesische Mundart. Selbstverlag. Wangen im Allgäu 2017, S. 99–100. Vera Stiller: Das Haus am Hügel. In: Erle Bach – Eine herausragende Schlesierin. Festschrift 35 Jahre erfolgreiche Arbeit, hrsg. von Friedrich Wilhelm Preuß, Ullrich Juncker. Arbeitskreis für schlesische Mundart. Selbstverlag. Wangen im Allgäu 2017, S. 99–100. Ruth Monicke: Ruth Storm, eine unvergessene Frau [mit Abdruck von Auszügen aus ›Ich schrieb es auf‹]. In: »Schlesische Bergwacht. Zeitschrift der Heimatvertriebenen aus Stadt und Kreis Hirschberg, dem Riesen- und Isergebirge und des Riesengebirgsvereins«. Jg. 68, Nr. 2. Isernhagen / 5. Februar 2018, S. 87–88.

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Literatur über Ruth Storm

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Artur Robert Białachowski: Ruth Storm w kwartalniku »Schlesien«. In: Kultura literacka dawnej Jeleniej Góry. Studia i szkice, red. Edward Białek, Natalia Południak. Atut. Wrocław 2019, S. 237–244.

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Bildernachweis

Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:

Ruth Storm (1905–1993). Wangen im Allgäu 1965. Foto: Hausarchiv Storm – Seite 57. »Haus Rundblick«. Mittel-Schreiberhau im Riesengebirge (um 1925). Foto Hausarchiv Storm – Seite 64. »Haus Storm«. Federzeichnung von Friedrich Iwan 1958. Foto: Hausarchiv Storm – Seite 89. Ruth Storm (1905–1993). Gemälde von Werner Fechner Wangen im Allgäu 1967. Foto: Hausarchiv Storm – Seite 95. Bronzetafel von Elsbeth Siebenbürger enthüllt am 1. Juni 2005 am Haus Storm im Wangen im Allgäu – Wittwais. Foto: Hausarchiv Storm – Seite 101.

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Personenregister

Adamowicz-Pos´piech, Agnieszka 271 Agazzi, Elena 214 Albrecht, Corinna 270 Altenberger, Falk 12, 47 Améry, Jean 41 Anz, Thomas 9 Applegate, Celia 27 Arendt, Hannah 21, 104, 204, 290 Arndt, Bruno 100 Assmann, Aleida 12, 17, 18, 44f., 50, 203– 205, 213, 228 Assmann, Jan 12, 162 Auerbach, Berthold 32 Babenberg, Agnes von 197 Bach, Erle 55, 91, 96, 100 Bach, Janina 50 Bachelard, Gaston 110f., 115f., 119, 122, 289 Bachmann, Ingeborg 24 Bachmann-Medick, Doris 20f. Bachofen, Johann Jakob 174 Bachtin, Michail 20, 104 Bade, Klaus J. 285 Bahlcke, Joachim 55 Bain, Read 129 Bajohr, Frank 225 Bal, Mieke 18–20, 103 Balzer, Bernd 237 Barkowski, Robert 195 Barth, Boris 62 Barthes, Roland 188 Bassmann, Winfried 10 Bastian, Andrea 27

Battiston-Zuliani, Régine 144 Bauch, Jost 27 Bauer, Matthias 165 Baum, Vicki 164 Baumgarten, Konrad 189 Bauriedl, Sybille 20 Bausinger, Hermann 28, 32, 90, 93 Bednorz, Robert 89 Beer, Johannes 84 Behn, Siegfried 237 Beller, Manfred 214, 239 Belschner, Wolfgang 27 Benner, Dietrich 43 Berg, Christa 43 Berg, Henk de 11 Bescansa, Carme 21, 27 Besch, Lutz 13 Beßlich, Barbara 14 Bethusy-Huc, Valeska 12 Beutner, Eduard 30 Beyer, Jürgen 170 Beyersdorf, Hermann 10 Bhabha, Homi K. 126, 274 Białek, Edward 10, 17, 239 Bienek, Horst 5, 9f., 16, 45–47, 52, 56, 133, 142, 161, 174, 214 Birke, Ernst 91 Blamberger, Günter 39 Blanke, Richard 44 Bleisch, Ernst Günther 51, 91 Blickle, Peter 30 Bliersbach, Gerhard 38 Blisch, Kurt Jan 91 Bloch, Ernst 39f., 129

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Personenregister

Bobrowski, Johannes 10 Boerner, Peter 245 Bogner, Andrea 270 Böhme, Gernot 21, 50, 78, 104 Bolesław I. der Lange 197, 200 Böll, Heinrich 5, 38–40, 161, 204, 237 Böll, René 39 Bölsche, Wilhelm 78, 81 Boreé, Karl 232 Borzyszkowska-Szewczyk, Miłosława 137, 156, 158 Bourdieu, Pierre 58 Boym, Svetlana 25 Brahm, Otto 78 Brepohl, Wilhelm 24, 30 Brinker-Gabler, Gisela 164 Brinkmann, Richard 165 Bronnen, Arnolt 67 Brude-Firnau, Gisela 30 Brumlik, Micha 129 Buchwald, Karl 59 Buczek, Robert 17 Burdziej, Aleksandra 45, 49, 149 Burgdorf, Dieter 30 Burk, Steffen 104 Butzer, Günter 150 Caduff, Corina 179 Cambi, Fabrizio 96 Cassirer, Ernst 129f. Cepl-Kaufmann, Gertrude 10, 23, 43, 47, 52, 147 Certeau, Michel de 18, 105f. Charim, Isolde 42 Colli, Giorgio 15 Collodi, Carlo 59 Conrad von Masowien 198–200 Conze, Vanessa 67 Czarnecka, Mirosława 26, 105, 109 Daemmrich, Horst S. 29 Daemmrich, Ingrid G. 29 Damásio, António R. 21 Dampc-Jarosz, Renata 12, 35, 271 De Lombaerde, Philippe 10 Deluze, Gilles 290

Derks, Ingeborg 91 Derksen, Johannes 88, 189 Dimter, Walter 51 Dittberner, Eva 94 Doroszewska, Anna 192, 201 Dorschel, Andreas 75 Draaisma, Douwe 221 Draesner, Ulrike 49 Drescher, Barbara 164 Drewitz, Erna 146 Drewitz, Ingeborg 113 Drong, Leszek 105 Drynda, Joanna 109 Dubeck, Kirsti 28–30, 36, 50–53, 105, 137, 139, 143, 214 Dückers, Tanja 49 Dyserinck, Hugo 214 Eichner, Karsten 223 Eickels, Klaus van 193f. Eigler, Friederike 17, 20f. Elias, Norbert 58 Engel, Walter 11 Engels, Friedrich 32 Erdbrügger, Thorsten 23, 162 Erenz, Benedikt 44 Erll, Astrid 18, 36 Eryilmaz, Ӧngün 27 Etzioni, Amitai 139 Fähnders, Walter 164 Fairlie, Gerard 59 Fasbender, Christoph 30 Fassmann, Heinz 11 Fechner, Hanns 78 Fechner, Werner 90f., 95, 331 Fest, Joachim 164 Fischer, Manfred S. 214 Fischer-Lichte, Erika 21 Fleischer, Karl 91 Fleischer-Mucha, Margret 91 Fludernik, Monika 20 Flügel-Martinsen, Oliver 104 Forte, Dieter 205, 224 Foucault, Michel 20, 205 François, Etienne 44

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Personenregister

Franzos, Karl Emil 144 Freud, Sigmund 204 Friedrich, Gerhard 96 Frisch, Max 27f., 39 Fritsche, Heinz-Rudolf 13 Fritsche, Julius 63 Gansel, Carsten 108 Gansser-Stephan, Katarina 83, 140 Gebhard, Gunther 25 Geisler, Oliver 25 Gelfert, Hans-Dieter 27 Genette, Gérard 18, 20 Gertrud 196 Gidion, Heidi 18 Goethe, Johann Wolfgang von 81, 132 Görlitz, Walter 94 Gottschalk, Joseph 189 Götz, Walter 103 Grabowski, Elisabeth 67 Grass, Günter 10, 23, 30, 45–48, 52f., 165, 204, 221f. Grätz, Katharina 14 Gravenhorst, Traud 22, 81 Greverus, Ina-Maria 29f. Grimm, Hans 36 Groeling, Leontine von 95, 97 Großbongardt, Annette 38 Gröschel, Bernhard 58 Grucza, Franciszek 30 Grundmann, Günther 78, 131 Grunewald, Ekkehard 87 Grünfeld, Walter 146 Günter, Andrea 109 Günzel, Stephan 20 Gussone, Nikolaus 87 Habbe, Christian 235 Habermas, Jürgen 48, 104 Hahn, Eva 44 Hahn, Hans Henning 43f. Halbwachs, Maurice 135, 162, 203 Halicka, Beata 147 Hallet, Wolfgang 20 Hamann, Christof 32 Hamsun, Knut 81

Härtling, Peter 45 Hartung, Hugo 85, 91 Haselbach, Albrecht 91 Hassell, Ulrich von 79 Hauptmann, Carl 16, 78, 80, 83, 131–133 Hauptmann, Gerhart 67, 105, 131 Hauptmann, Maria 80, 91, 131–133, 249f. Hauptmann, Monona 131–133, 249–252 Hausbacher, Eva 270 Hayduk, Alfons 67, 83, 89, 187 Hedwig von Schlesien 61, 68, 70, 83, 87f., 98, 120f., 163, 187–189, 192, 196, 198 Heidelberger, Leonhard I. 41 Hein, Alfred 12, 36 Heine, Heinrich 240 Heinrich, Dieter 19 Heinrich I. (Heinrich der Bärtige) 88, 187, 189, 195, 197f. Heinrich II. 194, 199–201 Helbig, Louis F. 10, 12f., 16, 45f., 48, 50f., 79, 84, 106, 149, 246, 257, 289 Hermand, Jost 33f. Hermanowski, Georg 51 Herrmann-Neiße, Max 36, 100 Heukenkamp, Ursula 70 Heydebrand, Renate von 9 Hildebrand, Olaf 14 Hildebrandt, Klaus 55, 100 Hillebrand, Bruno 21 Hirsch, Helga 50 Hitler, Adolf 36, 38, 69, 75, 79, 136, 225– 227, 235, 248, 263, 282 Hoffbauer, Jochen 25, 91, 94 Hoffmann, Ruth 22, 232 Holdenried, Michaela 245 Holz, Arno 132 Holzfurtner, Ludwig 196 Honsza, Norbert 10f. Horˇka, Ludmilla 51, 105 Hucker, Bernd Ulrich 196 Huelle, Paweł 12 Hülz, Martina 27 Hünermann, Wilhelm 189 Hupka, Herbert 83 Husserl, Edmund 103 Hyckel, Georg 146

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Personenregister

Ihlenfeld, Kurt 45f. Iwan, Friedrich 83, 89, 91, 331 Jackowski, Franz von 91 Jacob, Joachim 150 Jäger, Jens 27–29 Janesch, Sabrina 49 Janion, Maria 221f. Janzen, Frauke 13, 135, 138, 231f., 238, 289 Jaroslaw von Oppeln (Jarosław Opolski) 197f. Jasin´ski, Kazimierz 200 Jaspers, Karl 230f. Jens, Walter 56 Joachimsthaler, Jürgen 10f., 22, 45, 50, 108, 204, 291 Johanning-Radzˇiene, Antje 43, 147 Jörissen, Benjamin 19, 139 Jung, Carl Gustav 165f Junk, Claudia 36 Kaboth, Hans 149 Kaczmarek, Ryszard 222 Kała˛z˙ny, Jerzy 17 Kalow, Gert 53 Kant, Immanuel 132 Karp, Hans-Jürgen 11 Karrenbrock, Helga 164 Karski, Sigmund 166 Kasimir der Gerechte (Kazimierz Sprawiedliwy) 198 Kasimir von Kujawien (Kazimierz I Kujawski) 200 Kegel, Hugo 66 Keller, Paul 148 Kersten, Sandra 22, 239, 241–243, 289 Keun, Irmgard 164 Kiełbasa, Antoni 196 Kiesel, Helmuth 52, 67 Kittler, Friedrich A. 165 Kłan´ska, Maria 144 Klaußmann, Anton O. 59 Klepikova, Tatiana 104 Klimas-Błahutowa, Maria 51, 105 Klin, Eugeniusz 13 Kłosowicz, Krzysztof 12

Kluge, Manfred 5, 287 Klußmann, Uwe 38, 147 Knebel, Hajo 92 Knoblich, Augustin 87, 189 Knötel, Richard 58f. Kobylin´ska, Ewa 48 Koch, Werner 39 Köhler, Meinrad 55, 91, 95f., 100 Köhler, Willibald 89, 91 Kołakowski, Leszek 28 Kolbacher, Josef 11 Kon´czał, Kornelia 25 König, René 30 Konrad 194–196, 199 Koonz, Claudia 226 Koperlik, Reinhard 59 Korfanty, Albert (Wojciech) 61, 68, 166f., 217, 219, 222 Korn, Wilhelm Gottlieb 83 Korn-Gisevius, Annie 90 Korzeniewicz, Margarethe 99 Korzeniewska, Amelia 17 Korzeniewski, Bartosz 17 Koselleck, Reinhart 24 Kosler, Alois-Maria 51 Kossert, Andreas 27, 36f., 271, 274, 285f. Krause, Burkhardt 159 Krause, Rudolf 70 Krellner, Ulrich 204 Krings, Hermann 103 Krisch, Marek 12 Krockow, Christian von (Graf) 17, 275 Kroll, Frank-Lothar 51 Kronberg, Anna 158 Krzywon, Ernst J. 51–53 Kühne, Olaf 27 Kurt, Kemal 41 Lane, John 106 Lasatowicz, Maria Katarzyna 66 Latour, Bruno 42 Lázárescu, Mariana 50 Lefebvre, Henri 20, 116 Lehmann, Albrecht 263 Lehndorff, Hans von (Graf) 156 Lehnert, Gertrud 20f.

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Personenregister

Lejeune, Philippe 117 Lenz, Siegfried 10, 30, 45–47 Leszek der Weiße (Leszek Biały) 198 Leszek von Swantopolk II. (Leszek S´wie˛topełk) 198 Leutelt, Gustav 149 Levinas, Emmanuel 271 Lienkamp, Christoph 271 Link, Jürgen 214 Lipon´ska-Sajdak, Jadwiga 59 Loew, Peter Oliver 126 Lotman, Jurij M. 21 Lövenich, Friedhelm 32 Lubos, Arno 12–14, 51, 67, 146, 148–150, 152, 156, 189, 291 Lukács, Georg 189 Luther, Martin 125, 132

Müller, Olaf 49 Müller-Michaels, Harro 56 Mutius, Dagmar von 22, 152, 156, 289

Majowski, W. (Wilhelm) 59, 63 Makarska, Renata 215 Mann, Thomas 151 Marchwitza, Hans 12 Marcuse, Herbert 162 Marquard, Odo 19 Marx, Karl 32 Matuszak-Loose, Bernadetta 215 Mayr, Walter 50 Mecklenburg, Norbert 10, 43, 47, 50, 52f., 133, 204, 229 Meier, Hans-Bernd 285 Mentzer, Alf 164 Meridies, Wilhelm 14, 56, 90f., 287 Meridies (Meridies-Stehr), Ursula 91 Merk, Roland 5 Meus, Paweł 12, 35 Mieszko der Alte 198 Mitscherlich, Alexander 53 Moennighoff, Burkhard 30 Möhrmann, Renate 179 Montinari, Mazzino 15 Mosler, Josef 63, 87f. Motekat, Helmut 10 Mülder-Bach, Inka 162 Müllenbrock, Heinz-Joachim 188 Müller, Arno 51, 105 Müller, Herta 53

Oberländer, Hans E. 78, 91, 141 Oelkers, Jürgen 43 Oltmanns, Olly 91 Orłowski, Hubert 17f., 25, 43, 47f., 144, 150, 154, 240–242 Ossowski, Mirosław 10, 45, 47 Otto, August 195 Otto VIII. von Wittelsbach 196

Nagelschmidt, Ilse 21, 23, 27, 36, 52, 162 Neuen, Christoph 18 Neumann, Birgit 17, 20 Neumann, Gerhard 162 Neutatz, Dietmar 62 Nieden, Susanne zur 245 Niekrawietz, Hans 81, 90f., 93 Nietzsche, Friedrich 15, 203f. Nigg, Walter 87, 189 Niggl, Günter 117 Nora, Pierre 50, 203 Novalis 31 Nowara-Matusik, Nina 12, 146

Paletschek, Silvia 22, 161 Pankalla, Gerhard 52 Papiór, Jan 215 Peitsch, Helmut 17, 204 Pfeifer, Markus 271 Pfeifer, Wolfgang 28 Pfohl, Alexander 78, 91 Philipp (König von Schwaben) Piegsa, Miriam 104 Pieper, Dietmar 44, 68 Pikulik, Lothar 154 Pinder, Wilhelm 18 Pletzing, Christian 126 Pollex, Wilhelm 24 Postler, Anna Rosine 58 Pott, Hans-Georg 23 Pötzl, Norbert F. 38, 263 Prangel, Matthias 11 Prideaux, Simon 139

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196

338

Personenregister

Probst, Inga 23, 162 Przywara, Erich 146, 237 Puschmann, Dora 78 Rabl, Kurt 30 Rabsztyn, Andrzej 271 Rahner, Karl 237 Rakette, Egon H. 51, 53, 89, 91, 105, 137, 214 Rduch, Robert 12, 105, 120, 146 Reeger, Ursula 11 Reicke, Ilse 91 Richter, Gustav 92 Ricoeur, Paul 15, 18, 21, 287 Riebe, Xenia M. 179 Riehl, Wilhelm Heinrich 32 Rimmon-Kenan, Shlomith 19f., 288 Ring, Max 12 Rist, Katharina 103f. Ritter, Carl 89f. Rochlitz, Rainer 15 Rohkrämer, Thomas 74 Rohr, Barbara 185 Rohrbacher, Klaus 129 Rommelspacher, Birgit 270 Rosbach, Heike 148 Rose, Ambrosius 52 Rossbacher, Karlheinz 30, 71 Roth, Joseph 144 Rudolph, Andrea 66 Rülke, Ernst 91 Rutka, Anna 22, 49 Sabais, Heinz Winfried 174 Sacher-Sacher Masoch, Leopold 144 Safranski, Rüdiger 40 Salgari, Emilio 59 Sarkowicz, Hans 164 Schaal, Björn 30 Schallié, Charlotte 5 Scharnowski, Susanne 29–37, 40, 42 Scheck, Ulrich 159 Scheffel, Michael 32 Scheitler, Irmgard 43, 96, 129, 161f. Schickele, René 43 Schier, Michaela 20

Schindler, Karl 95–97, 100 Schlaf, Johannes 78 Schlie, Tania 180 Schmidt, Arno 9f. Schmidt-Henkel, Gerhard 51 Schmitz, Walter 11, 28 Schmitz-Berning, Cornelia 74 Schneider, Bernhard 189 Schneider, Rolf 48 Schneider, Thomas F. 36 Schneiß, Wolfgang 43–47, 142f., 161, 174 Schnell, Ralf 10, 40, 87 Schock, Ralph 53 Schodrok, Karl 89 Scholtis, August 43, 214 Schraut, Silvia 22, 161 Schröter, Steffen 25 Schultze-Naumburg, Paul 33 Schulz, Eberhard G. 13, 61, 91, 99f. Schulze Wessel, Julia 40 Schumann, Renata 88, 189 Schwartz, Michael 50 Scott, Walter 188 Sebald, Gerd 44 Seel, Martin 159 Seelbach, Sabine 192 Seifert, Manfred 27f. Serrer, Thomas 126 Shakespeare, William 132 Silbergleit, Arthur 12 Siwinna, Adolf Hans Wilhelm 59 Siwinna, Bertha Emma Emilie 59, 61, 165f. Siwinna, Carl Emil Hermann 13, 58–65, 70, 77, 80, 117, 131 Siwinna, Carl Gottfried Julius 58 Siwinna, Georg(e) Gottfried Adolf 59 Siwinna, Gertrud Elisabeth 59 Siwinna, Gottfried 59 Siwinna, Helene Auguste Dorothea 60 Siwinna, Ilse 60 Siwinna, Kurt Paul 59 Siwinna, Margarethe Helene 59 Skop, Michał 12 S´liwin´ska, Katarzyna 233 Söderbaum, Fredrik 10 Soltau, Heide 164

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Personenregister

Sombart, Werner 78 Sophokles 211 Spellerberg, Annette 27 Stanisˇicˇ, Sasˇa 5, 41 Stanke, Walter 68, 93–95 Stanzel, Franz K. 20 Stehr, Hermann 67, 78, 90 Storm, Ernst 14, 65f., 68, 75, 77, 79, 81 Storm, Peter-Christoph 26, 55f., 58, 60, 66, 68, 77, 81–83, 89–91, 97, 101, 315 Strehblow, Barbara (Erle Bach) 95f. Stritzke, Helen 91 Strüver, Anke 20 Stryi-Leitgeb, Gerda 90 Stumpfe, Wolfger 170f. Suchner, Barbara 91 Supranowicz, Radosław 28 Surminski, Arno 10, 45–47 S´wiatłowski, Zbigniew 47 Szacka, Barbara 129 Szewczyk, Graz˙yna B. 12, 43, 137 Szota, Zofia 59 Tanner, Jakob 39 Taubitz, Monika 22, 45, 91, 239, 241–243 Thalen, Ruth 85 Thiel, Hermann 94 Thiele-Winckler, Eva 83, 185 Tokarczuk, Olga 50 Traba, Robert 11, 43 Trepte, Hans-Christian 28 Tyrell, Albrecht 225 Uhl, Wilhelm 90 Ulitz, Arnold 12, 105, 120, 146 Viebig, Clara 164 Vormweg, Heinrich 87 Voß, Thorsten 133 Vosskamp, Wilhelm 11 Waggerl, Karl Heinrich Wagner, Hans 10

13

Waindok, Sonia 13f., 66, 69–71, 74 Waldenfels, Bernhard 103 Wapnewski, Peter 10 Wasner, Artur 83 Weber, Florian 27 Weber, Matthias 11 Weber-Kellermann, Ingeborg 164 Websky, Wolfgang von 90f. Wegener, Michael 51 Weigel, Sigrid 25, 57, 109, 113 Weigelt, Klaus 10, 27 Welzer, Harald 44 White, Hayden 188 White, Kenneth 152, 158 Wichmann, Georg 78 Wichmann, Hans 78 Wiechert, Ernst 10, 45–47 Wieczorek, Krzysztof T. 211 Wierlacher, Alois 10, 214, 270 Wiese, Benno von 70 Wiesmüller, Wolfgang 9 Wietek, Gerhard 78 Wildt, Michael 225 Wilhelm II. 63, 208 Wille, Bruno 78 Witte, Bernd 43 Władysław III. der Dünnbein 198 Władysław II. 197 Wolf, Christa 5, 20, 30, 45, 56, 287 Wolf, Norbert Richard 66 Wolting, Monika 108, 114 Wulf, Joseph 69 Zimmermann, Bodo 91 Zimmermann, Volker 62 Zimniak, Paweł 10f., 17, 22, 29, 39, 53f., 209, 239 Zinggeler, Margrit V. 5 Zirfas, Jörg 19, 139 Zuckmayer, Carl 91 Z˙ylin´ski, Leszek 30 Z˙ytyniec, Rafał 43

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