Hilfe für Juden in München: Annemarie und Rudolf Cohen und die Quäker 1938–1941 3486717324, 9783486717327

zwischen November 1938 und Dezember 1941 suchten mehr als 300 Mitbürger jüdischer Herkunft Hilfe bei Rudolf und Annemari

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Hilfe für Juden in München: Annemarie und Rudolf Cohen und die Quäker 1938–1941
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Die Juden in Schwaben

Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern Herausgegeben von Michael Brenner und Andreas Heusler Band 6

Oldenbourg Verlag München 2013

Michael Brenner · Sabine Ullmann (Hrsg.)

Die Juden in Schwaben

Oldenbourg Verlag München 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 143, D-81671 München Internet: oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver­wertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzu­ lässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über­setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: hauser lacour Umschlagbild: Kinder der Synagogenklasse der Jüdischen Gemeinde Augsburg um 1938 © Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben/George Sturm, Englewood, New Jersey/ USA Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISBN 978-3-486-70484-6 E-ISBN 978-3-486-71513-2

INHALT Vorwort von Michael Brenner und Sabine Ullmann . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Sabine Ullmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Alfred Haverkamp „Kammerknechtschaft“ und „Bürgerstatus“ der Juden diesseits und jenseits der Alpen während des späten Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Gregor Maier Händler, Ärzte, Bauarbeiter. Die wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder der Augsburger Juden 1276–1348. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Christian Jörg Zwischen Basler Konzil, Königtum und reichsstädtischen Interessen. Kennzeichnung und Ausweisung der Augsburger Juden in europäischen Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Christian Scholl Die Ulmer Juden und ihr Umfeld im 14. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . .

93

Stefan Lang Zwischen Reich und Territorien. Innen- und Außenperspektiven jüdischen Lebens im „Land zu Schwaben“ in der Frühen Neuzeit . . . . .

115

Johannes Mordstein „Dass wür ebenfahlss eur hochgräffliche Excellenz gehorsame Unterthanen seint.“ Partizipation von Juden an der Legislationspraxis des frühmodernen Staates am Beispiel der Grafschaft Oettingen 1637–1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Claudia Ried Jüdisches Leben auf dem Land im Wandel. Zu den Auswirkungen des bayerischen Judenedikts von 1813 auf schwäbische Landjudengemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Rolf Kießling Gab es einen pragmatischen Weg zur Emanzipation? Die jüdischen Gemeinden in Schwaben an der Schwelle zur Moderne . . . . . . . . . . . . .

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VI

Inhalt

Martina Steber Jüdische Geschichte und bürgerliche Regionalhistoriographie im bayerischen Schwaben zwischen Kaiserreich und NS-Regime . . . . . . . .

201

Benigna Schönhagen Die zweite jüdische Gemeinde von Augsburg 1861–1943 . . . . . . . . . . . .

225

Andreas Wirsching Jüdische Friedhöfe in Schwaben 1933–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Barbara Hutzelmann „Vernichtung durch Arbeit“ und „Jidiszes Centr“. Juden in Landsberg am Lech 1944 bis 1950. Geschichte und Erinnerung. . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Michael Brenner Jüdisches Leben in Bayerisch-Schwaben nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

Auswahlbibliographie zur Geschichte der Juden in Schwaben . . . . . . . .

297

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303 303 307

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VORWORT Der vorliegende Band vereint die Vorträge, die auf einer Tagung zur „Geschichte der Juden in Schwaben“ im Februar 2009 in Augsburg gehalten wurden. Diese Tagung war zugleich der dritte Teil einer Veranstaltungsreihe, die die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und der Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München in dichter Folge, beginnend 2006 in der Oberpfalz, fortgesetzt 2007 in Franken, veranstaltet haben. Der Band zu Schwaben wurde gemeinsam mit der Professur für Landesgeschichte an der katholischen Universität EichstättIngolstadt durchgeführt. Damit stehen die in ihrer Struktur sehr verschiedenen historischen Landschaften des heutigen Bundeslandes Bayern – Altbayern, Franken, die Oberpfalz und Schwaben – im Mittelpunkt. Sie geben in einer vergleichenden Perspektive und an einer entscheidenden Schnittstelle im süddeutschen Raum Einblicke in die jüdische Geschichte Deutschlands der Vormoderne sowie der Moderne. So finden sich hier vor 1806 sowohl großflächige Staaten, die der jüdischen Bevölkerung den Zugang bis auf wenige Ausnahmen verwehrten, wie das Wittelsbacher Herzogtum in Altbayern, als auch Landschaften mit zahlreichen Judengemeinden, in denen kleinräumige Staatsformen vorherrschten, wie dies in Schwaben der Fall war. Den Ausgangspunkt für die einzelnen Bände bildet dabei jeweils die Zusammenfassung bestehender historischer Befunde sowie die Vorstellung neuer, aktueller Forschungsprojekte und deren Vermittlung an ein möglichst breites, interessiertes Publikum. Die Tagung zu Schwaben stand von Anfang an auf „vielen Beinen“ – bei der Konzeption und Organisation haben verschiedene Personen und Institutionen zusammengewirkt, denen die Herausgeber herzlich danken möchten. Dies sind an erster Stelle die Gastgeber der Tagung, die Jüdische Gemeinde Augsburg sowie das Jüdische Museum Augsburg-Schwaben und ihre Leiterin Frau Dr. Benigna Schönhagen. Sie haben uns dankenswerterweise nicht nur ihre Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, sondern auch wesentlich die organisatorische Durchführung mitgetragen. Die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit hat sowohl die Tagung als auch die Drucklegung finanziert und mit organisiert. Der Dank der Herausgeber gilt weiterhin Frau Dr. Monika Halbinger für die redaktionelle Bearbeitung des Bandes. Realisiert werden konnte das Buch dank der Autoren, die sich auf das Konzept der Herausgeber eingelassen und mit ihren einzelnen Forschungen zu verschiedenen Epochen und Themen der jüdischen Geschichte Schwabens diesen Band gestaltet haben. Nicht dokumentiert werden konnte in der Publikation die Podiumsdiskussion zum Thema „Jüdisches Leben in Schwaben und Augsburg heute“, die von Rabbiner Dr. Henry Brandt, Dr. Peter Fassl, Gernot Römer und Benigna Schönhagen unter der Moderation von Michael Brenner veranstaltet wurde.

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Vorwort

Die „vielen Beine“, auf denen die Tagung stand, sind bezeichnend für die Rahmenbedingungen, in denen sich gegenwärtig die Erforschung jüdischer Geschichte in Deutschland vollzieht. Diese Strukturen sind in besonderer Weise davon geprägt, dass eine wachsende Zahl außeruniversitärer Einrichtungen wie Heimatpflege, Museen und Archive auf diesem Felde tätig sind. Das Wachstum der Interessen an jüdischer Geschichte im Rahmen der Denkmalgeschichte, der Stadt- und Lokalgeschichte sowie im breiten Kontext politischer Kulturarbeit lässt sich in vieler Hinsicht beobachten – besonders in Schwaben. Hier wirken die Museumsprojekte in eine breite Öffentlichkeit, wie das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben oder die Einzelausstellung in Ichenhausen. Als Erinnerungsstätten sind gerade die erhaltenen und restaurierten Landsynagogen, getragen von örtlichen Freundeskreisen und Vereinen wichtige Bausteine. Das Netzwerk „Historische Synagogenorte in Bayerisch-Schwaben“ führt seit 2004 nun auch die einzelnen Aktivitäten unter einem überörtlichen, regionalen Dach zusammen. Nicht zuletzt haben die Initiativen der Bezirksheimatpflege schon vor nunmehr 20 Jahren mit den Irseer Tagungen frühe und wichtige Impulse gegeben. In weitaus größerem Umfang als in anderen Bereichen der historischen Forschung ergeben sich in der jüdischen Geschichte daher gemeinsame Schnittstellen zwischen universitärer Wissenschaft, außeruniversitären Einrichtungen und einer interessierten Öffentlichkeit. Der Austausch zwischen beiden Seiten, wie er sich gegenwärtig in der jüdischen Historiographie vollzieht, soll mit diesem Band wieder ein Stück weitergeführt werden. Die Herausgeber wünschen dem Buch dabei ein ebenso breites Interesse, wie es die Tagung gefunden hat, die von zahlreichen Gästen, Zuhörern und Diskutanten besucht wurde. Die Bedeutung Schwabens als jüdische Landschaft in wechselnden Zuschnitten und verschiedenen historischen Epochen zeigt sich in den anhaltenden Forschungsaktivitäten, die von den verschiedensten Seiten erfolgen und die dieser Band dokumentiert. Michael Brenner

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Sabine Ullmann

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EINLEITUNG Von Sabine Ullmann

Der Titel des Buches „Geschichte der Juden in Schwaben“ mag trotz seiner Schlichtheit den Leser verwirren: Welches Schwaben ist gemeint? Diese Frage ist berechtigt, denn die historische Landschaft weist durch wechselnde Grenzziehungen und veränderte herrschaftliche Zuordnungen mehrere Brüche auf. Das Schwaben des Mittelalters ist weitaus größer, wenn wir es mit dem alemannischen Stammes- und Sprachgebiet und dem hochmittelalterlichen Herzogtum gleichsetzen, als der heutige Regierungsbezirk Schwaben. Am ehesten deckt sich der mittelalterliche Schwabenbegriff mit der regionalen Bezeichnung „Oberschwaben“, die das Gebiet zwischen Schwarzwald und Lech, Bodensee und Donau umschreibt. In nachstaufischer Zeit war dieser Raum mit dem Erlöschen der schwäbischen Herzogswürde 1268 dann durch eine Vielzahl vornehmlich kleinerer Reichsstände geprägt – darunter Klosterstaaten, Reichsritterschaften und die Herrschaftsgebiete der Reichsstädte. Während der Auflösung des Alten Reiches seit 1803 erfolgte die Aufteilung der kleinräumigen Territorienwelt zwischen den neu geschaffenen Königreichen Württemberg und Bayern sowie dem Großherzogtum Baden. Erst mit der Bildung moderner Verwaltungseinheiten innerhalb Bayerns erhielt der Regierungsbezirk Schwaben schließlich seinen aktuellen Zuschnitt. Dabei wurde von Schwaben nur der östliche Randstreifen bayerisch, während die Mehrheit der anderen Gebiete an Württemberg bzw. Baden fiel.1 Der kleinere Zuschnitt des Regierungsbezirks, der den Raum zwischen Iller und Lech umfasst, ist somit erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Bis heute ist die staatlich-administrative Einheit durch Teilregionen geprägt, die – wie das Ries oder das Allgäu – eigene Zusammengehörigkeiten und Kontinuitätsfaktoren aufweisen. Zugleich wird er mit verschiedenen Begriffen betitelt: mit „Ostschwaben“, wenn man den Blick stärker auf den Zusammenhang mit dem hochmittelalterlichen Herzogtum Schwaben lenken möchte oder mit „Bayerisch-Schwaben“, wenn man die Zugehörigkeit zu Bayern entsprechend gewichtet wissen will. Ungeachtet dieser variierenden historisch-politischen Landkarte mit ihren regionalen Ausdifferenzierungen lässt sich ein kontinuierlicher Diskurs über das „Land zu Schwaben“ seit dem Spätmittelalter fassen, der die Divergenzen des Begriffs sowie seine Wahrnehmung und gesellschaftlich-politische Ge1 Zur politischen Landkarte Schwabens im historischen Wandel zuletzt mit weiteren Literaturhinweisen: Rolf Kießling: Kleine Geschichte Schwabens, Regensburg 2009, S. 9–13; Dietmar Schiersner: Das Land der Schwaben auf der Karte suchend. Historische Zugänge zu einer Region, in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur 55 (2007), S. 11–26.

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brauchsweise als „mental map“ verdeutlicht.2 Bereits in den Briefen und literarischen Texten der Humanistenkreise spielte im Kontext der „patria“ die Bezugsgröße Schwaben eine wichtige Rolle.3 Auf politischer Ebene knüpften die überterritorialen bündischen Organisationen, wie der „Schwäbische Städtebund“, die „Adelsgesellschaft mit St. Jörgenschild in Schwaben“ oder der „Schwäbische Bund“ am Schwabenbegriff an. Der räumliche Kontinuitätsfaktor kam schließlich auch im Zuge der Reichsreform beim Aufbau der Reichskreise in den Jahren 1500 bis 1512 zum Tragen. Die neuen Staatsbildungen nach dem Wiener Kongress spalteten diese regionalen Zusammenhänge auf. Der Schwabendiskurs erhielt so eine württembergische und eine bayerische Variante: einmal im Gegenüber von „Oberschwaben“ und „Innerschwaben“, einmal in der Spannung zwischen „Bayerisch-Schwaben“ und „Altbayern“. Die Autoren des Bandes haben daher das Verständnis des Begriffs „Schwaben“ an die behandelten zeitlichen Abschnitte und in Bezug zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung angepasst. Die räumliche Konstruktion des Regierungsbezirks kann für historische Fragestellungen des Mittelalters sowie der Frühen Neuzeit nur eine begrenzte Relevanz gewinnen, da meist größere Raumstrukturen und Wirkungszusammenhänge maßgeblich sind. Für die jüdische Geschichte des Mittelalters wird in den Beiträgen von Christian Jörg, Gregor Maier und Christian Scholl folglich der weitaus größere Raum bis an die Alpen und den Schwarzwald evident. Der Beitrag von Alfred Haverkamp kontextualisiert dieses mittelalterliche Schwaben als Zentrallandschaft des Judentums mit anderen Regionen des Reiches sowie mit Italien und Sizilien. Bei Claudia Ried, Rolf Kießling und Martina Steber, die das 19. Jahrhundert behandeln, steht dagegen der heutige Regierungsbezirk im Mittelpunkt, da die bayerische Politik mit dem restriktiven Judenedikt von 1813 regionalspezifische Ausgangsbedingungen schuf. Ebenso konzentrieren sich Michael Brenner, Barbara Hutzelmann und Andreas Wirsching in ihren Aufsätzen zur Geschichte des Nationalsozialismus bzw. zur Zeit nach 1945 auf diese administrativ-staatliche Raumeinheit, wobei mit Landsberg am Lech, der Stadt im Zentrum des Lechrains, auch die Grenzlandschaft zwischen Altbayern und Schwaben berührt wird. Stefan Lang, der die Umbruchsphase um 1500 beleuchtet, wählt wieder den größeren Zugriff, um die Migrationen und gemeindlich-sozialen Zusammenhänge aufzuzeigen. Dagegen thematisiert Johannes Mordstein mit den Oettinger Grafschaften einen Herrschaftskomplex, 2

Vgl. dazu grundlegend für das 19. und 20. Jahrhundert: Martina Steber: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime (Bürgertum Neue Folge, Bd. 9), Göttingen 2010; weiterhin: Rolf Kießling/Dietmar Schniersner (Hg.): Erinnerungsorte in Oberschwaben. Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis (Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 8), Konstanz 2009. 3 Klaus Graf: Das „Land“ Schwaben im späten Mittelalter, in: Peter Moraw (Hg.): Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter (ZHF-Beiheft 14), Berlin 1992, S. 127–164.

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Einleitung

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der die regionalen Besonderheiten des frühneuzeitlichen Landjudentums im östlichen Teil Schwabens offen legt. Ein besonderes Gewicht erhielt schließlich – u. a. im Beitrag von Benigna Schönhagen – der Fokus auf Augsburg, das als Bischofs- und Reichsstadt sowie als Sitz der Regierung von Schwaben für die Geschicke der jüdischen Gemeinden über die Epochen hinweg eine zentrale Rolle spielte. Die historischen Strukturmerkmale der Regionen Schwabens haben die jüdische Geschichte dieses Raumes in besonderer Weise mit geprägt und kommen in den einzelnen Beiträgen zur Sprache. Dies ist zunächst der vergleichsweise hohe Urbanisierungsgrad im Hoch- und Spätmittelalter. Weil Schwaben eine von den städtischen Zentren geprägte Landschaft war, spielte auch das urbane Judentum des Mittelalters eine entscheidende Rolle – von hier nahm die jüdische Geschichte Schwabens ihren Anfang. Urkundlich gesicherte Siedlungsnachweise liegen für Augsburg, Ulm, Donauwörth und Lindau in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts vor, diese beziehen sich vor allem auf die Reichssteuerliste aus dem Jahre 1241. Die frühesten Belege für Nördlingen lassen sich aus der Rindfleischverfolgung 1298 erschließen, für Memmingen und Kaufbeuren stammen sie aus den Listen von Verfolgungsorten der Pestpogrome von 1348 bis 1350, für Kempten erst aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.4 Im Vergleich mit den Kulturlandschaften südlich der Alpen – Sizilien, Süditalien, Nord- und Mittelitalien – bettet Alfred Haverkamp diese jüdischurbane Landschaft in den europäischen Kontext ein. Kennzeichnend ist insgesamt – und dafür ist Augsburg ein treffendes Beispiel – die Ansiedlung von Juden in den Kathedralstädten in Zusammenhang mit dem Einsetzen der Urbanisierung. Eine enge Verknüpfung mit den Bischöfen sowie mit den Königen, aber auch mit den Einwohnern und den christlichen Gemeinden der Städte prägte das Leben der Juden. Dabei deckt Alfred Haverkamp anhand zweier zentraler rechtlicher Institutionen, der Kammerknechtschaft und dem Bürgerrecht, die unterschiedlichen Lebensbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten der Judenschaften diesseits und jenseits der Alpen auf. Da in Italien der Einfluss des Königtums geringer war, spielte auch die Kammerknechtschaft eine marginale Rolle, dagegen gewann der von den Kommunen gesteuerte Bürgerstatus, der einen vertraglich fixierten Schutz ihrer Religion, ihrer Person und ihres Besitzes durch die christlichen Stadtgemeinden beinhaltete, entscheidendes Gewicht. Umgekehrt sorgten die direkten Einflussmöglichkeiten auf die Juden durch das nachstaufische Königtum in den engeren Reichslanden, und somit auch in Schwaben, für die Ausbreitung der Kammerknechtschaft. 4 Jörg R. Müller: Zur mittelalterlichen Siedlungsgeschichte der Juden im schwäbischen Raum, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Geschichte der Juden von der Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk, 3 Bde, (Forschungen zur Geschichte der Juden A 14) Bd. 1, S. 99–127.

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Wie intensiv dabei die Kontakte zwischen der christlichen Stadtgemeinde und der Judenschaft im ökonomischen Bereich waren, demonstriert Gregor Maier in seiner Darstellung der wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder am Beispiel Augsburgs. Für die erste jüdische Gemeinde bis 1348 rekonstruiert er eine breite Palette an Erwerbsweisen, die das bekannte Bild einer ausschließlichen Konzentration auf den Geld- und Kredithandel erheblich relativieren. So spielten auch der Weinhandel, der Pferdehandel sowie der Handel mit Textilien und Viktualien bereits eine entscheidende Rolle. Neben der breiten Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsleben – entgegen der These einer ökonomischen Nischenexistenz – sind nicht zuletzt die Nachweise von jüdischen Handwerkern in christlichen Diensten bemerkenswert. Auch im Beitrag von Christian Jörg steht Augsburg im Mittelpunkt – nun allerdings nicht im Hinblick auf integrierende Faktoren, sondern auf die zunehmenden restriktiven Beschlüsse im Vorfeld der Ausweisung der Judengemeinde zwischen 1432 bis 1438. Ordnet man die Augsburger Vorgänge in einen größeren Kontext ein, so zeigt sich, dass die Beschlüsse des Rates keineswegs singulär waren. Neben den Reformdiskussionen im Umfeld des Basler Konzils lagen die Ursachen in den königlichen Bemühungen um eine Herrschaftsintensivierung im Reich sowie vor allem in den umfangreichen Schuldentilgungen unter König Wenzel, die die Finanzkraft der Gemeinden zerstörten. Dass die Juden Augsburgs sich diesen Entwicklungen entgegenzustemmen suchten, zeigen ihre diplomatischen Aktivitäten sowie die Versuche über Ausgleichszahlungen derartige Repressalien abzuwenden – was letztlich ein erfolgloses Bemühen blieb. Die Wechselwirkung von Krisenerscheinungen und Reformkonzeptionen der Kirche sowie des Reiches auf das Verhältnis zwischen Christen und Juden verdeutlicht auch der Aufsatz von Christian Scholl über den Entwicklungsgang der jüdischen Gemeinde in Ulm während des 14. Jahrhunderts – ein Jahrhundert, das vor allem geprägt war durch das Pestpogrom im Jahre 1349. Die ältere Vorstellung, dass die Verfolgung überwiegend von den unteren Schichten ausgegangen war, lässt sich auch für Ulm nicht belegen, da die städtische Elite durch den Erwerb von Immobilienbesitz im Judenviertel entscheidend profitierte. Zugleich war der Rat bald schon wieder an einer funktionierenden und prosperierenden jüdischen Gemeinde interessiert. Der erhöhte städtische Geld- und Kreditbedarf – forciert durch die territoriale Expansion, den Baubeginn des Münsters sowie die militärische Mitwirkung in mehreren Städtebünden – machte eine wohlhabende Judengemeinde erforderlich. Zusammengelesen gewinnen die nachgezeichneten Entwicklungslinien für Augsburg und Ulm in diesen ersten vier Beiträgen geradezu einen modellhaften Charakter für die Lebensbedingungen und das Schicksal der Judenschaften in den mittelalterlichen Städten. Nach der frühen Ansiedlung konnten sich die Gemeinden unter dem Schutz des Kaisers und der Stadtgemeinde auch wirtschaftlich entfalten. Die Pestpogrome brachten einen entscheidenden Einschnitt, dem allerdings ein rascher Neuanfang folgte. Von den finanzi-

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ellen Belastungen im Zuge der beiden Schuldentilgungen von 1385 und 1390 konnten sich die Augsburger wie die Ulmer Juden allerdings nicht mehr erholen – sie leiteten den wirtschaftlichen Niedergang ein, der bis zu ihrer Ausweisung im Jahre 1440/42 bzw. 1499 unumkehrbar blieb. Mit den folgenreichen restriktiven Maßnahmen des 15. Jahrhunderts wurde schließlich die letzte Phase des urbanen Judentums des Mittelalters in Schwaben eingeleitet. Am Beginn der Frühen Neuzeit vollzogen sich dann durch die Vertreibungen langfristige und komplexe Migrationen. Das jüdische Leben war im 16. Jahrhundert nun von einer hohen Mobilität sowie von kleinen Streusiedlungen geprägt, die sich vornehmlich in den Herrschaftsgebieten des schwäbisch-österreichischen Adels befanden. Sie fungierten dabei als Rückzugsgebiete und boten im Gegensatz zur vorherrschenden antijüdischen Politik der Städte und der größeren Fürstentümer eine Existenzchance. Die damit ausgelöste Verschiebung der jüdischen Wohnorte in die Dorfgemeinden und Marktorte hatte nicht nur siedlungsgeschichtliche Folgen, sondern führte auch zu weitreichenden Veränderungen in den Erwerbsweisen, den religiös-kulturellen Lebenszusammenhängen und zu neuen gemeindlichen Organisationsformen. Größere Gebietsgemeinden in Form der Medinot, den neuen regionalen Strukturelementen jüdischen Lebens, lösten die städtisch-lokalen Gemeinden ab. In Schwaben nahm das Medinat nicht nur in seinem Titel auf den Raum Bezug, vielmehr weisen eine Reihe an Indizien darauf hin, dass damit auch innere Kohärenzen und Identitäten verbunden waren. Stefan Lang zeigt, dass die Selbst- und Fremdbezeichnung als „Juden im Land zu Schwaben“ während des 16. Jahrhunderts von Juden wie Christen verwendet wurde. Traditionen und territorienübergreifende Strukturen, die über weite Teile des 16. Jahrhunderts bestanden und auch zu fiskalischen Zwecken des Reiches gedient hatten, spiegeln sich darin wider. Diese jüdische Landschaft erstreckte sich im 16. und noch im 17. Jahrhundert offensichtlich nicht nur über den ostschwäbischen Raum mit dem Zentrum der habsburgischen Markgrafschaft Burgau,5 sondern griff noch weiter nach Oberschwaben aus. Die Ausbildung des frühneuzeitlichen Landjudentums mit seinen epochenspezifischen Gemeindeorganisationen, Erwerbsweisen und religiös-kulturellen Bedingungen ist ein reichsweites Phänomen, das allerdings für den Raum des heutigen Regierungsbezirks Schwaben typische Merkmale aufweist. Die jüdische Bevölkerung genoss hier den Vorzug jeweils in großen, örtlichen Glaubensgemeinschaften zu leben. In Fischach zählte man 1743 113 Judenfamilien, in Ichenhausen um 1750 schon 120 jüdische Haushalte mit steigender Tendenz. Dagegen finden sich im Saar-Mosel-Raum, in Franken oder im Kraichgau auch im 18. Jahrhundert noch oftmals Ortschaften mit nur einer oder zwei jüdischen Familien. Eine Erklärung liefern die politischen Struktu5 Stefan Rohrbacher: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 80–109.

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ren, die nicht nur von einem hohen Grad der territorialen Zersplitterung gekennzeichnet waren, sondern auch von herrschaftlichen Konkurrenzen. Der Judenschutz gewann dabei eine wichtige fiskalische Funktion, war aber zugleich ein politisches Statussymbol für die vielfach umstrittene Landeshoheit. Mit der Ansiedlung von Juden konnte jede Seite auf äußerst lukrative Weise die Anzahl der besteuerbaren Untertanen vermehren und zugleich ihre jeweilige Position in den zahlreichen territorialen Herrschaftskonflikten immer wieder neu definieren bzw. behaupten. Ein Prozess, der sich sehr deutlich in den vorderösterreichischen Besitzungen beobachten lässt, wo die Habsburger mit den autonomen Rechten des Adels rangen, so dass beide Seiten das Judenregal für sich und geradezu im Wettlauf gegeneinander beanspruchten. Da aber zugleich andere Herrschaftsträger in der Region, wie die Fugger, das Hochstift Augsburg sowie die Klöster und Stifte, Juden die Ansiedlung verwehrten, konzentrierte sich die jüdische Bevölkerung Schwabens auf wenige Dörfer und Märkte, erreichte dort aber sehr hohe Zahlen. In anderen Regionen des Reiches ließ dagegen die parallele Schutzaufnahme zahlreicher Herrschaftsträger und nicht die Konzentration auf einige wenige schutzbereite Obrigkeiten eine wesentlich breitere Streuung entstehen. Diese regionalspezifische Siedlungssituation in Folge der Herrschaftsverhältnisse hatte weitreichende Konsequenzen für die Lebensbedingungen des Judentums in Schwaben. Was sonst nur von Fall zu Fall durch Zusammenkünfte von Glaubensgenossen benachbarter Orte zu erreichen war, der Synagogengottesdienst, fand hier regelmäßig statt, und die entsprechenden Baulichkeiten waren bereits im 18. Jahrhundert in einer besonders repräsentativen Form vorhanden.6 Darüber hinaus konnten sich die Judengemeinden in den meisten Dörfern über ihren Hausbesitz eine Beteiligung an den Allmenderechten sowie eine Mitwirkung in kommunalen Angelegenheiten erkämpfen. Weitere Handlungsmöglichkeiten beschreibt Johannes Mordstein für die „Judendörfer“ in den Oettinger Grafschaften, in denen sich diese Verhältnisse nochmals im Kleinen verdichteten, da auch die verschiedenen Linien des gräflichen Hauses um die Nutzung des Judenschutzes konkurrierten. Diese Situation eröffnete den Judenschaften einen breiten politischen Handlungsspielraum und gab dem Verhältnis zwischen Obrigkeit und Juden eine eigene Prägung. Johannes Mordstein kann eine intensive Kommunikationssituation ausmachen, in der die jüdische Seite ihre Interessen über Supplikationsverfahren breit artikulierte und durch die Androhung einer Emigration in eine andere Teillinie zum Schaden der Schutzherrschaften letztlich auch durchsetzen konnte. Auf diesem Wege partizipierten die Schutzjuden an der Ausgestaltung des Judenrechts – ihr rechtlicher Minderstatus blieb freilich trotzdem unbestritten. 6

Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650–1750 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151), Göttingen 1999.

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Das waren die Ausgangsbedingungen mit denen die Judengemeinden Schwabens in das 19. Jahrhundert gingen, das durch die schrittweise rechtliche Gleichstellung, die Verbürgerlichung sowie die Akkulturation tiefgreifende Einschnitte brachte. Auch dies sind deutschlandweite Vorgänge, aber in Bayern wirkte das historisch bedingte Verteilungsmuster in spezifischer Weise fort. Die Angliederung Frankens und Schwabens brachte jüdische Gemeinden in großer Anzahl in den bayerischen Staatsverband, in dem zuvor seit der endgültigen Ausweisung aus dem Herzogtum 1553 kaum mehr Juden gelebt hatten. Mit dem Prozess der Urbanisierung und der Wiederzulassung der Juden in die Städte entstand eine neue regionale Struktur mit einem enormen Wachstum der städtischen Gemeinden zwischen 1875 und 1910. Dabei wies das bayerische Judenedikt von 1813 zunächst im Vergleich mit anderen Gesetzeswerken der neuen deutschen Mittelstaaten einen insgesamt sehr restriktiven Charakter auf. Der hier formulierte Matrikelparagraph verwehrte der jüdischen Bevölkerung für fast fünf Jahrzehnte die freie und ungehinderte Niederlassung in Bayern. Claudia Ried analysiert die Auswirkungen des Edikts auf die Landgemeinden Schwabens und relativiert diese in einem differenzierten Bild. Erst die Auswanderungsbewegung nach Amerika drei Jahrzehnte später erbrachte den von staatlicher Seite gewünschten Bevölkerungsrückgang. Ebenso wenig griff die intendierte Veränderung der Berufsstruktur durch die Bekämpfung des Hausierhandels. Aufgrund fehlender Traditionen, aber vor allem der Krise des Handwerks durch die einsetzende Industrialisierung blieb nach wie vor der Handel der entscheidende Erwerbszweig. Einen tiefen Einschnitt brachten allerdings die Abschaffung der rabbinischen Gerichtsbarkeit sowie die zunehmende staatliche Durchdringung innergemeindlicher Belange. Diese Eingriffe in die religiöse Praxis provozierten zudem erhebliche Spannungen in den Gemeinden zwischen Orthodoxie und Reformjudentum. Auch Rolf Kießling verfolgt in seinem Beitrag die Wirkungszusammenhänge der bayerischen Judenpolitik in Schwaben. Er wirft ein neues Licht auf die bayerische Emanzipationsgesetzgebung, indem er diese in den Kontext der langfristigen Entwicklungstendenzen in den schwäbischen Territorien stellt. Dabei wird ersichtlich, dass die bayerischen Reformgesetze zwar auf den Aufklärungsdiskurs zurückgriffen, zugleich aber Endpunkt einer langfristigen Entwicklung staatlicher Verdichtung waren. Weniger ein humanitäres Toleranzideal, sondern vielmehr das praktische Bedürfnis nach stärkerer staatlicher Integration aller Bevölkerungsteile war dabei entscheidend. Die Unterstellung der bisher autonomen jüdischen Gemeinden unter die Kontrolle des Staates als Zielvorstellung und der ebenso zu beobachtende Anpassungsdruck der Majoritätsgesellschaft auf die Minderheit bestimmten mithin das restriktive Vorgehen. Die fortschreitende Integration im Verlauf des 19. Jahrhunderts hat ihren Niederschlag auch in der Regionalhistoriographie gefunden. Martina Steber legt in ihrer Untersuchung dar, wie bis um die Jahrhundertwende die jüdische Geschichte in der Literatur Bayerisch-Schwabens fest verankert war – zu-

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Sabine Ullmann

nächst geschrieben von Juden und Christen, wobei die Autoren vor allem aus dem liberalen, protestantischen Bürgertum der Städte kamen. Die lokale wie regionale Geschichtsschreibung zum Judentum Schwabens entwickelte sich mithin sowohl aus einer allgemeinen auf die Region ausgerichteten Geschichtsbewegung heraus sowie sie spezifisch jüdische Wurzeln hatte. Als mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die liberalen Konzepte immer mehr verdrängt wurden und sich regionale Identität zunehmend mit dem Heimatbegriff verband, wurde aus der jüdischen Geschichte Bayerisch-Schwabens die Geschichte der „Judenfrage“ – wofür die antisemitischen Arbeiten von Eduard Gebele ein trauriges Beispiel sind. Ebenfalls in einer langen Linie von den ersten, noch vereinzelten Wiederzulassungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum NS-Regime zeichnet Benigna Schönhagen die Entstehungszusammenhänge der zweiten jüdischen Gemeinde Augsburgs nach. Entscheidende Entwicklungsschübe vollzogen sich mit dem Sieg der Liberalen bei den Kommunalwahlen 1857 und dann vor allem mit der Auflösung des Matrikelparagraphen 1861, mit dem auch die staatliche Genehmigung zur Bildung einer Kultusgemeinde erfolgte. Widersprüchliche Phänomene bestimmten die Geschichte der Gemeinde in den folgenden Jahrzehnten. Einerseits beseitigte die Weimarer Republik die letzten rechtlichen Einschränkungen, verhalf dem Reformjudentum zum Durchbruch und sorgte für eine selbstverständliche Akzeptanz im alltäglichen Umgang, andererseits kam es zunehmend zu antisemitischen Übergriffen.7 Die wachsende Bedrohung durch den nach 1933 zur Staatsideologie erhobenen Antisemitismus nahm die Mehrheit der weithin integrierten Augsburger Juden nur langsam wahr. Einige reagierten darauf mit Emigration, viele mit einer Intensivierung jüdischen Lebens und einer Rückbesinnung auf ihre Traditionen. Zu den erstaunlichen Phänomenen jüdischer Existenz in der NS-Zeit gehört daher die Stärkung jüdischen Lebens mitten im Untergang – kurz bevor mit den Deportationen zwischen 1941 bis 1943 die Gemeinde ausgelöscht wurde. Von der Vernichtung jüdischen Lebens fast unberührt blieben die Friedhöfe der Judengemeinden Schwabens, deren Geschichte Andreas Wirsching erklärt. Im Gegensatz zu anderen Bereichen gab das Regime dem antisemitischen Mob in der Partei hier keine rechtliche Handhabe in Form eines antijüdischen Sonderrechts. Auf Drängen der Kommunen, die die Friedhöfe beseitigt wissen wollten, wurde zwar 1939 ein neues Reichsfriedhofsgesetz nach den ideologischen Zielvorgaben entworfen, da dieses aber auch das christliche Bestattungswesen umfasste, sah man im Hinblick auf die Kriegssituation von einem Erlass ab. Die Möglichkeit der Arisierung durch einen Scheinankauf der Friedhofsgrundstücke schreckte durch komplizierte Verfahrenswege der Reichsfinanzverwaltung und unklare Eigentumsrechte die kaufwilligen Gemeinden zudem ab. Die Paradoxien und Banalitäten der Reichsverwaltung sorgten schließlich dafür, dass die jüdischen Friedhöfe als kultu7

Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000.

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relle Denkmäler und Erinnerungsorte an das zerstörte Judentum Schwabens erhalten blieben. Zu den unmittelbaren Folgeerscheinungen des NS-Regime gehörten auch die DP-Lager, von denen eines der größten Deutschlands in unmittelbarer Nähe zum Regierungsbezirk Schwaben, in Landsberg am Lech, bis 1950 bestand. Für wenige Jahre entstand hier nochmals ein vielfältiges jüdisches Leben, das getragen wurde von der She’erit Hapletah, dem „Rest der Geretteten“ wie die Überlebenden aus Deutschland, Polen und Südosteuropa sich selbst bezeichneten. Barbara Hutzelmann rekonstruiert die schwierigen Bedingungen, unter denen die Lagerselbstverwaltung politische, religiöse und kulturelle Strukturen bis hin zu einer eigenen Presse, der Landsberger Lagercajtung, aufbaute. Das Zusammentreffen der jüdischen Überlebenden im DPLager mit der deutschen Bevölkerung von Landsberg war durch Schuldabwehr und eine Selbstviktimisierung, die durch die Not der Nachkriegsverhältnisse unterstützt wurde, gekennzeichnet. Von Anfang an war es daher Ziel der Stadt, das den deutschen Behörden nicht zugängliche Lager so schnell wie möglich zu schließen. Mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 verringerte sich die Anzahl der in Landsberg lebenden DPs stetig. Trotzdem verblieben etwa 400, meist osteuropäische Insassen, nach der Schließung des Lagers Ende Oktober 1950 in Augsburg. Sie bildeten mit einer kleinen, aus ehemaligen Augsburger Juden bestehenden Gruppe erneut eine Gemeinde. Michael Brenner stellt deren Entwicklungsgang in verschiedenen Etappen von der Neugründung der Gemeinde 1945 bis zur Einweihung der „kleinen Synagoge“ 1963, der Wiedereröffnung der großen Synagoge 1985 und einer „dritten Augsburger Gemeinde“ seit 1990 dar. Die ersten Jahre waren geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen den deutschen Juden und der größeren Anzahl von ostjüdischen DPs, die sich nicht nur durch ihre Sprache, sondern auch durch ihre politischen und religiösen Einstellungen unterschieden. Erst 1954 gestand unter dem Druck der Behörden die deutsch-jüdische Gemeindeführung den nichtdeutschen Staatsangehörigen Mitgliedschaft und gleiche Rechte zu. Ein weiteres Problemfeld war der Konflikt zwischen der örtlich-regionalen Nachkriegsgemeinde und den internationalen jüdischen Nachfolgeorganisationen um das verbliebene Gemeindevermögen. Während man von internationaler Seite das Erbe der ehemals bestehenden jüdischen Institutionen vor allem dem Staat Israel zukommen lassen wollte, kämpften die neugegründeten Gemeinden um ihre Position als anerkannte Rechtsnachfolger der Vorkriegsgemeinden. Das kontinuierliche Schrumpfen der Gemeinde konnte schließlich seit 1990 durch die Einwanderung von Juden aus Russland aufgefangen werden. Gegenwärtig besteht die durch Alexander Mazo und Rabbiner Dr. Henry Brandt geleitete Augsburger Gemeinde zu 90% aus Zuwandererfamilien aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten – damit ist die Zukunft jüdischen Lebens in Bayerisch-Schwaben auch im 21. Jahrhundert gewährleistet.

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„KAMMERKNECHTSCHAFT“ UND „BÜRGERSTATUS“ DER JUDEN DIESSEITS UND JENSEITS DER ALPEN WÄHREND DES SPÄTEN MITTELALTERS Israel J. Yuval zum 60. Geburtstag

Von Alfred Haverkamp

Der erste Hauptteil bietet Hinweise auf den Forschungsstand1, auf die thematischen Zentralbegriffe, unter denen jener der „Kammerknechtschaft“ in Augsburg erstmals von Kaiser Friedrich II. proklamiert wurde, auf die europäischen und mediterranen Implikationen der Geschichte der Juden beiderseits der Alpen und Begründungen für meine Vorgehensweise. Im zweiten folgt eine vergleichende, an den Leitbegriffen orientierte Betrachtung der Geschichte der Juden in den auch für die Juden maßgeblichen Kulturlandschaften nördlich und südlich der Alpen. Abschließend werden die Beobachtungen thesenartig zusammengefasst.

I. Alpenübergreifende Studien erfordern auch für das späte Mittelalter die Beachtung der Unterschiede, der Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Beeinflussungen zwischen dem vom antiken Erbe langfristig bestimmten Mittelmeerraum einerseits und dem nach den Maßstäben der mediterranen Hochkultur jüngeren kontinentalen Europa andererseits. Der sich insbesondere in den urbanen Lebensformen bis hin zu den Universitäten äußernde Vorsprung des Südens verringerte sich zwar im Verlaufe der Christianisierung, die sich bezeichnenderweise im späteren Geltungsbereich des römisch-deutschen Reichs vom 3. bis zum 13. Jahrhundert – also über ein Jahrtausend – erstreckte, blieb aber in Mittel- und Norditalien bestehen. So setzte der in den Städ1 Wegen der sachlichen, räumlichen und zeitlichen Weite des Themas müssen die Anmerkungen auf die wichtigste Sekundärliteratur und auf die Belege über die zitierten Quellen beschränkt werden. Generell verweise ich auf meinen ebenfalls aus einem Vortrag erwachsenen Versuch eines bisher nicht systematisch angelegten Vergleichs über die Geschichte der Juden beiderseits der Alpen in: Ebrei in Italia e in Germania nel Tardo Medioevo. Spunti per un confronto, in: Uwe Israel/Robert Jütte/Reinhold C. Mueller (Hg.): „Interstizi“. Culture ebraico-cristiane a Venezia e nei domini veneziani tra Medioevo e Età Moderna, Rom 2010 (Centro Tedesco di Studi Veneziani, Ricerche 5), S. 47–100. – Der folgende Beitrag und die Aufsätze von Christian Jörg, Gregor Maier und Christian Scholl in diesem Band sind untereinander abgestimmt.

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Alfred Haverkamp

ten kulminierende, mit tiefgreifenden Veränderungen gekoppelte Rückgang der Bevölkerung und der wirtschaftlichen Produktion im Süden bereits um 1300 ein und damit etwa ein halbes Jahrhundert vor jenen nördlich des Gebirges. Er erfolgte südlich der Alpen jedoch von einem insgesamt viel höheren Niveau aus. So blieb auch noch im späten Mittelalter ein Kulturgefälle vom Süden zum Norden erhalten, freilich seit dem 14. Jahrhundert mit dem gravierenden Unterschied, dass Süditalien und Sizilien gegenüber Nord- und Mittelitalien langfristig in Rückstand gerieten. Studien mit einem sachlich und räumlich weiter ausgreifenden, das kontinentale Mitteleuropa und die mediterranen Landschaften Italiens umspannenden Horizont sind bisher insgesamt äußerst rar und hinsichtlich der Geschichte der Juden nicht publiziert worden. Ein weiteres Hindernis bildet nach wie vor die unzureichende Erschließung der überlieferten Quellen. Sie unterscheiden sich in ihrer Quantität und Qualität nördlich und südlich der Alpen erheblich. Die Mängel in der Quellenedition sind für die Landschaften nördlich der Alpen2 gravierender als für jene im Süden. Andererseits existiert südlich der Alpen kein Werk, das der „Germania Judaica“3 oder dem Trierer 2

Das grundlegende, wenn auch inzwischen revisionsbedürftige Werk von Julius Aronius: Regesten zur Geschichte der Juden im Fränkischen und Deutschen Reiche bis zum Jahre 1273, hg. im Auftrage der Historischen Commission für Geschichte der Juden in Deutschland, bearb. unter Mitwirkung v. Albert Dresdner und Ludwig Lewinski, Berlin 1902 (in Lieferungen erschienen 1887–1902; ND 1970) ist leider nicht fortgesetzt worden. Eine umfassende Edition der hebräischen, lateinischen und volkssprachigen Quellen für die Zeit von 1273 bis 1519 ist das Ziel des von mir am Arye-Maimon-Institut für Geschichte der Juden geleiteten Projekts der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur: „Corpus der Quellen zur mittelalterlichen Geschichte der Juden im Reichsgebiet“ (weitere Informationen: http://amigj.uni-trier.de). 3 Ausdrücklich hingewiesen sei auf die offenkundig bisher kaum genutzte Möglichkeit, dieses Standardwerk auch für aufschlussreiche Informationen zur Orts- und Regionalgeschichte zu nutzen, was gleichfalls für das in Anm. 4 zitierte Kartenwerk zutrifft: I. Elbogen/A. Freimann/H. Tykocinski (Hg.): Germania Judaica, Bd. I. Von den ältesten Zeiten bis 1238, 2 Teilbde., Tübingen 1917, 1934 (ND 1963); Zvi Avneri (Hg.): Germania Judaica, Bd. II. Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 2 Halbbde., Tübingen 1968; Arye Maimon in Zusammenarbeit mit Yacov Guggenheim (Hg.): Germania Judaica, Band III. 1350–1519: 1. Teilbd.: Ortschaftsartikel Aach – Lychen, Tübingen 1987; Arye Maimon s. A./Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim (Hg.): 2. Teilbd.: Ortschaftsartikel Mährisch-Budwitz – Zwolle, Tübingen 1995; 3. Teilbd.: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices, Tübingen 2003. Zur Geschichte dieses 1903 initiierten grundlegenden Werkes vgl. die Autobiographie von Arye Maimon: Wanderungen und Wandlungen. Die Geschichte meines Lebens, hg. vom Arye-Maimon-Institut für Geschichte der Juden, Universität Trier, Trier 1998; Alfred Haverkamp: Dr. Herbert Fischer/Arye Maimon (1903– 1988): Eine Würdigung aus Anlaß des 1. Arye-Maimon-Vortrags am 4. November 1998, in: Israel J. Yuval: Pessach und Ostern: Dialog und Polemik in Spätantike und Mittelalter, Trier 1999 (Kleine Schriften des Arye-Maimon-Institus 1), S. 1–9. Mit neuen Einsichten über die Geschichte der „Germania Judaica“ während der nationalsozialistischen Tyrannei und insbesondere über die Mitwirkung des bekannten Historikers Willy Cohn, dessen Beiträge bis auf den ausführlichen Artikel über Breslau verloren gingen, vgl. Norbert Conrads: Die verlorene Germania Judaica. Ein Handbuch- und Autorenschicksal im

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„Kammerknechtschaft“ und „Bürgerstatus“ der Juden im späten Mittelalter

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Kommentierten Kartenwerk4 vergleichbar wäre.5 „Kammerknechtschaft“6 und Bürgerstatus der Juden7 sind für das späte Mittelalter unzureichend erDritten Reich, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa 15 (2008), S. 215–254. 4 Alfred Haverkamp (Hg.): Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk, Redaktion: Jörg R. Müller, Teil 1: Kommentarband; Teil 2: Ortskatalog, Teil 3: Karten, Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 14, 1–3). 5 Vgl. zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand: Michael Toch: Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998, 2. Auflage 2003 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44); Alfred Haverkamp: Juden im Mittelalter: Neue Fragen und Einsichten, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 29 (2000), S. 4–23; zuletzt den „Review Essay“ von Edward Peters: „Settlement, Assimilation, Distinctive Identiy“. A Century of Historians and Historiography of Medieval German Jewry, 1902–2002, in: The Jewish Quarterly Review 97 (2007), S. 237–279. Für die Geschichte der Juden in Italien vgl. die für das Mittelalter einschlägigen Beiträge in Corrado Vivanti (Hg.): Gli ebrei in Italia, I. Dall’alto Medioevo all’età dei ghetti, Torino 1996 (Storia d’Italia, Annali 11*); ferner die Bibliographien von Shlomo Simonsohn: Lo stato attuale della ricerca storica sugli Ebrei in Italia, in: Italia Judaica. Atti del I Convegno internazionale, Bari, 18–22 maggio 1981, Roma 1983 (Ministero per i beni culturali e ambientali, pubblicazione degli Archivi di Stato, saggi 2), S. 29–37; Ders./Manuela M. Consonni (Hg.), Biblioteca italoebraica. Bibliografia per la storia degli ebrei in Italia 1996–2005, Firenze 2007 (Associazone Italiana per lo Studio del Giudaismo, testi et studi 22); als neuere Bilanz für Nord- und Mittelitalien mit Hinweisen auf offene Fragen vgl. Michele Luzzati: Nord- und Mittelitalien: Bilanz und Perspektiven der Forschung, in: Christoph Cluse (Hg.): Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposions in Speyer vom 20. bis 25. Oktober 2002, Trier 2004, S. 209–217 (auch in englischer Fassung in: Christoph Cluse (Hg.): The Jews of Europe in the Middle Ages (Tenth to Fifteenth Centuries), Turnhout 2004 (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 4), S. 191–199). In diesem Tagungsband und in anderen Publikationen zur Speyerer Tagung sind weitere, für unsere Thematik einschlägige Beiträge enthalten. Zur Information über die Geschichte Italiens im Mittelalter vgl. Alfred Haverkamp: Italien im hohen und späten Mittelalter 1056–1454, in: Ferdinand Seibt (Hg.): Europa im Hoch- und Spätmittelalter, Stuttgart 1987 (Handbuch der europäischen Geschichte 2), S. 546–681 und (Art.) Italien, in: Lexikon des Mittalalters V, 1991, Sp. 705–762. 6 Hervorgehoben seien Dietmar Willoweit: Die Rechtsstellung der Juden, in: Maimon u. a. 2003 (wie Anm. 3), S. 2165–2207, 2165, 2178; Alexander Patschovsky: Das Rechtsverhältnis der Juden zum deutschen König (9.–14. Jahrhundert), in: ZRG GA (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung) 110 (1993), S. 331–371; Christine Magin: „Wie es umb der iuden recht stet“. Der Status der Juden in spätmittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern, Göttingen 1999; David Abulafia: The Servitude of Jews and Muslims in the Medieval Mediterranean: Origins and Diffusion, in: Mélanges de l’École Française de Rome, Moyen Âge 112 (2000), S. 687–714; Ders.: Der König und die Juden, in: Cluse 2004 (wie Anm. 5), S. 60–71 (in der englischen Ausgabe S. 43–54); Ders.: The first Servi Camere Regie in Sicily, in: Giancarlo Andenna/Hubert Houben (Hg.): Mediterraneo, Mezzogiorno, Europa. Studi in onore di Cosimo Damiano Fonseca, Bari 2004, S. 1–13; François Soyer: The Persecution of the Jews and Muslims of Portugal. King Manuel I and the End of Religious Tolerance (1496–7), Leiden/Boston 2007 (The Medieval Mediterranean 69), S. 46–56. 7 Alfred Haverkamp: „Concivilitas“ von Christen und Juden in Aschkenas im Mittelalter (1996), zuletzt in: Ders.: Gemeinden, Gemeinschaften und Kommunikationsformen im hohen und späten Mittelalter. Festgabe zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hg. v. Fried-

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forscht. Noch weniger beachtet sind die Zusammenhänge zwischen ihnen und damit ihre Bedeutung für das Leben der Juden in und mit der christlichen Mehrheit, worauf mein Thema zielt. Dem Terminus „Kammerknechtschaft“ liegt die Kombination der lateinischen Begriffe camera und servus- Status respektive servitus zugrunde. Camera bedeutet im engeren Sinne Schlaf- und Wohnraum. Diesem Kernbereich zugeordnet waren seit dem frühen Mittelalter Personen unterschiedlichen Ranges im engsten Umfeld königlicher, adliger und geistlicher Herrschaftsträger. Sie wurden vielfach auch als familiares, als Vertraute mit besonderen Aufgaben, bezeichnet.8 Schon daraus geht hervor, dass der Sinngehalt von camera weit über jenen von fiscus hinaus geht, der sich auf herrschaftliche Ressourcen und Einkünfte beschränkt. Seit Friedrich Barbarossa wurden neben bedeutenden Stadtgemeinden – so Cremona, die wichtigste Verbündete Barbarossas im Kampf gegen Mailand – auch Juden, wie jene von Worms, als zur camera imperatoris respektive imperii gehörig bezeichnet.9 Im 15. Jahrhundert betrachteten einige Freie Städte (oder auch Reichsstädte) diesseits der Alpen es als Auszeichnung, zur camera imperii zu gehören, und stützten darauf ihren Anspruch, (erstens) Kaiser und Reich nur direkt Steuern zu leisten und (zweitens) vom Kaiser nicht verpfändet zu werden.10 Diesen Bedeutungsgehalten widerspricht die Verbindung von camera und servus nur dann, wenn servus allein im Sinne von Höriger, Leibeigener oder sogar Sklave und entsprechend servitus beziehungsweise Knechtschaft als extreme Position der Unfreiheit verstanden werden. Dass dies unzulässig ist, zeigen bereits die Selbstzuschreibungen Kaiser Ottos III. als servus apostolorum oder der Päpste als servus servorum Dei. Eine solche Erhöhung als Diehelm Burgard/Lukas Clemens/Michael Matheus, Trier 2002, S. 315–344; Ders.: Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext: Konzeptionen und Aspekte, in: Christoph Cluse/ Alfred Haverkamp/Israel J. Yuval (Hg.): Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 13), S. 1–36; HansJörg Gilomen: Städtische Sondergruppen im Bürgerrecht, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550), Berlin 2002 (ZHF, Beiheft 30), S. 125–167; Barbara Türke: Anmerkungen zum Bürgerbegriff im Mittelalter. Das Beispiel christlicher und jüdischer Bürger der Reichsstadt Nördlingen im 15. Jahrhundert, in: Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg.): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main u. a., S. 135–154; Shlomo Simonsohn: La condizione giuridica degli ebrei nell’ Italia centrale e settentrionale (secoli XII–XVI), in: Vivanti 1996 (wie Anm. 5), S. 95–120; Ariel Toaff: Judei Cives? Gli Ebrei nei catasti di Perugia del Trecento, in: Zakhor 4 (2000), S. 11–36. 8 Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch II, Sp. 110. zu familia, familiaris, familiaritas vgl. J. F. Niermeyer/C. van de Kieft: Mediae latinitatis lexicon minus, 2. Aufl., Leiden 2002, Band I, S. 535–536; zu fiscus ebd., S. 570–572. 9 Heinrich Appelt (Hg.): Die Urkunden Friedrichs I., 1152–1158, Hannover 1975 (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae X/1), Nr. 166, S. 284–286. 10 Vgl. Ernst Schubert: (Art.) Kammer, Kämmerer, in: Lexikon des Mittelalters V, 1996, Sp. 885 f.

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ner Gottes gehört zur jüdisch-biblischen Tradition wie in der Bezeichnung der Juden als „‚abadim‘, Diener, des Herrn“ oder Moses’ als „‚ebed Adonai‘, Knecht“ oder sogar „Sklave Gottes“.11 Bis heute – vor allem im süddeutschen Sprachraum verbreitet – ist servus als Grußformel. Dem entspricht im Italienischen die von sciavo-Sklave abgeleitete Variante „ciao“. Den negativen Gegenpol bildete die aus der Antike weiterwirkende, römisch-rechtlich fixierte Bedeutung von „servus“ als prinzipiell rechtloser „Sklave“. Diese Rechtstradition wurde seit dem 11./12. Jahrhundert in der „Renaissance“ des römischen Rechts reaktiviert. Erst seitdem begann die auf slavus (also „Slawe“) gründende Geschichte des Begriffs „Sklave“-„Sklaverei“. Sie verlief parallel zur Verbreitung des Sklavenstatus in der auch im Zusammenhang von Kreuzzügen expandierenden mediterranen westlichen Christenheit. Von der Einschätzung und Behandlung als Sklaven betroffen waren angeblich oder tatsächlich andersgläubige, als „Heiden“ geltende „Slawen“ und auch Moslems.12 Juden wurden schon seit der Spätantike von Christen oft als infideles – im Sinne von „Ungläubigen“ und zugleich von „Ungetreuen“ – eingeschätzt und behandelt, nicht selten beraubt, verfolgt und vertrieben. Dies entsprach nicht der von christlichen Theologen und Amtsträgern bis hin zu Päpsten vertretenen Lehre, die Juden als Zeugen der Wahrheit – und somit Überlegenheit – des Christentums zu dulden, ehe am Ende aller Zeit ihre Bekehrung erfolge. Die Duldung der Juden setzte die untergeordnete Stellung der Juden voraus. Diese Auffassung spitzte Papst Innozenz III. 1205 mit dem Vorwurf des Mordes an Christus zur perpetua servitus, zur ewigen Knechtschaft, der Juden zu. Die Verschärfung wurde unter Papst Gregor IX. 1234 in die schnell weit verbreitete Sammlung der Dekretalen aufgenommen und so höchst wirksam.13 Dazu trug auch Thomas von Aquin bei, indem er aus dieser „Rechtsauffassung“ das prinzipielle Verfügungsrecht der Kirche oder auch der Fürsten über den Besitz der Juden ableitete, wovon nur das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige verschont sein sollte.14 11 Abulafia 2004 (wie Anm. 6), S. 64; vgl. Josef Hayim Yerushalmi: „Diener von Königen und nicht Diener von Dienern“. Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden, München 1995 (Carl Friedrich von Siemens-Stiftung, Themen 58). 12 Vgl. Alfred Haverkamp: Die Erneuerung der Sklaverei im Mittelmeerraum während des hohen Mittelalters. Fremdheit, Herkunft und Funktion, in: Elisabeth Herrmann-Otto (Hg.): Unfreie Arbeits- und Lebensverhältnisse von der Antike bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Hildesheim/Zürich/New York 2005 (Sklaverei – Knechtschaft – Zwangsarbeit 1), S. 130–166. 13 Shlomo Simonsohn: The Apostolic See and the Jews. Documents: 492–1404, Toronto 1988 (Studies and Texts 94), Nr. 82, S. 86–88 (auch mit Hinweisen auf die Überlieferung). 14 Vgl. Hans Liebeschütz: Synagoge und Ecclesia. Religionsgeschichtliche Studien über die Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum im Hochmittelalter. Aus dem Nachlaß […] hg. v. Alexander Patschovsky, Heidelberg 1983, S. 222–235; vgl. Christoph Cluse: Studien zur Geschichte der Juden in den mittelalterlichen Niederlanden, Hannover 2000 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 10), S. 171–185.

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Das weite Bedeutungsspektrum von servus ließ also viele Möglichkeiten der konkreten Anwendung zu. Es stand daher auch im Zentrum der zahlreichen Erörterungen über „Freiheit“ und „Unfreiheit“, die seit dem 12., auf noch breiterer Basis seit dem 13. Jahrhundert auch nördlich der Alpen geführt wurden.15 Es ist hinsichtlich der Juden jeweils nur näher zu bestimmen unter Berücksichtigung der Lebensumstände wie auch des Handelns und der Selbsteinschätzung der so bezeichneten Personen und nicht zuletzt der Motivationen und des Verhaltens der kaiserlichen, königlichen oder anderweitigen geistlichen und weltlichen Herren. Die Charakterisierung der Juden als servi camerae des Kaisers geschah erstmals in Augsburg im Juli 1236, und zwar auf dem großen Hoftag Kaiser Friedrichs II. vor dem geplanten Aufbruch des kaiserlichen Heeres in den Krieg gegen antikaiserliche, vom Papsttum unterstützte Städte Oberitaliens.16 Der aktuelle Beweggrund für das damals vom imperator, Ierusalem et Sycilie rex ausgestellte Privileg für die Juden des Regnum Alemannie war die Judenverfolgung in den badischen Orten Lauda und Tauberbischofsheim sowie in Fulda. Sie wurde erstmals in diesem Königreich unter der förmlichen Anklage des Ritualmordes durchgeführt. Die Täter waren crucesignati, also mit dem Kreuz Bezeichnete. Ihr Ziel war wohl die Teilnahme an einem von Papst Gregor IX. 1234 propagierten Kreuzzug gegen die Muslime im Heiligen Land. Sie schlossen sich jedoch offenbar der vom Papst und anderen hohen Geistlichen geforderten und von Dominikanern geleiteten Ketzerbekämpfung an und ermordeten in Fulda 32 oder 34 Jüdinnen und Juden, die demnach wegen des angeblichen Ritualmordes den Ketzern gleichgestellt wurden. Die Kompetenz für die Ketzerbekämpfung war wiederum zwischen Friedrich II. und dem Papsttum umstritten. Der Vorwurf des Ritualmordes gegen die Fuldaer Juden wurde zudem von fürstlicher Seite in einer dem kaiserlichen Hofgericht vorgelegten Anklage gegen die Juden erhoben. Die daraufhin – unter Übernahme von Formen des Inquisitionsprozesses – eingeleitete gerichtliche Untersuchung kam erst auf dem Augsburger Hoftag zu einem für die Juden positiven Urteil. Dafür hatte das fachkundige Votum der meisten, also nicht aller, dazu eigens geladener getaufter Juden aus England, Spanien und Frankreich die Grundlage geschaffen.17

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Vgl. Bernhard Töpfer: Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschaftsund Staatstheorie, Stuttgart 1999 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45); Franz Dorn: Der Unfreiheitsdiskurs in deutschen Rechtsbüchern des Hoch- und Spätmittelalters, in: Herrmann-Otto 2005 (wie Anm. 12), S. 167–205; zu den unterschiedlichen Tendenzen über die Einschätzung der rechtlichen Stellung der Juden auch hinsichtlich der „Kammerknechtschaft“ in den einflussreichen Rechtsbüchern nördlich der Alpen vgl. Magin 1999 (wie Anm. 6). 16 Ludwig Weiland (Hg.): Constitutiones et Acta publica imperatorum et regum, Bd. II, Hannover 1896 (MGH Legum sectio IV/2), S. 274–278. 17 Vgl. Bernhard Diestelkamp: Der Vorwurf des Ritualmordes gegen Juden vor dem Hofgericht Kaiser Friedrichs II. im Jahr 1236, in: Dieter Simon (Hg.): Religiöse Devianz. Un-

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Auch die Teilnahme dieser Experten, die über die Situation der Juden im Westen Europas unter christlicher und muslimischer Herrschaft und teils auch über Sklaverei aus eigener Erfahrung informiert waren, legt nahe, dass in Augsburg Grundsatzfragen der Beziehungen des Christentums und insbesondere des Kaisers zu Un- oder Andersgläubigen erörtert wurden. Diese Kernfrage war notwendigerweise eng mit der Konkurrenz zwischen Kaisertum und Papsttum verknüpft und so zugleich mit der aktuellen Zuspitzung des politischen Konflikts zwischen beiden höchsten Gewalten. Tatsächlich ist im Augsburger Privileg ein entsprechendes Herrschaftsprogramm des Kaisers enthalten. Demnach ist dem Kaiser von der göttlichen Vorsehung die Aufgabe zugewiesen, zwar vorrangig für die fideles Christi zu wirken, jedoch ebenfalls für die infideles. Über die infideles habe er wie über ein ihm überantwortetes, ihm eigenes Volk (velut peculiaris commissus populus) „gottesfürchtig“ (pie) zu herrschen und es „gerecht“ (iuste) zu schützen, damit sie nicht zusammen mit den fideles von den Mächtigeren mit Gewalt unterdrückt würden.18 Dass mit infideles in erster Linie die Juden gemeint waren, zeigt bereits der in der Bibel und bei den Kirchenvätern belegte, auf die Beziehungen zwischen Gott und dem Volk Israel bezogene Begriff peculiaris populus. In peculiaris ist zugleich die Konnotation „eigen“ enthalten. Über die Juden soll demnach tersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichungen im westlichen und östlichen Mittelalter, Frankfurt am Main 1990 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 48), S. 19–39; mit offener Interpretation Gerd Mentgen: Kreuzzugsmentalität bei antijüdischen Aktionen nach 1190, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge; Sigmaringen 1999 (Vorträge und Forschungen 47), S. 287–326, 299–301. Über die „Konvergenzzonen“ zwischen Juden und Ketzern vgl. Alexander Patschovsky: Feindbilder der Kirche: Juden und Ketzer im Vergleich, in: ebd., S. 326–357. Während die deutschen Rechtsbücher, die von kanonistischen Traditionen bestimmt waren, Juden, Heiden und Ketzer als Ungläubige zu einer Gruppe zusammenfassten, geschah dies nicht in jenen, „die nicht vom kanonistischen Recht geprägt waren“; vgl. Magin 1999 (wie Anm. 6), (zusammenfassend) S. 403 f. Mit neuen Erkenntnissen insbesondere über die Rolle des Konvertiten Donin im Zusammenhang des Privilegs Friedrichs II. vgl. Israel Y. Yuval: Two Nations in Your Womb. Perceptions of Jews and Christians in Late Antiquity and the Middle Ages, Berkeley/Los Angeles/London 2006 (hebr. 2000), in deutscher Fassung: Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter, Göttingen 2007 (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 4), S. 276–282; ders.: Das Jahr 1240. Das Ende des jüdischen Milleniums, in: Gundula Grebner/Johannes Fried: Kulturtransfer und Hofgesellschaft im Mittelalter. Wissenskultur am sizlianischen und kastilischen Hof im 13. Jahrhundert, Berlin 2008 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 15), S. 13–40, 25–33. 18 Weiland 1896 (wie Anm. 16), S. 274 (im unmittelbaren Anschluss an die Intitulatio), Zeile 15–21. Die Formulierungen bieten Kernaussagen der Herrschaftsauffassung Friedrichs II., wie sie insbesondere im Prooemium der Konstitutionen von Melfi 1231 proklamiert worden waren; vgl. allgemein Wolfgang Stürner: Friedrich II., Bd. 2, Darmstadt 2000, S. 189–210. Die Einbeziehung der Juden in die „infideles“ steht im scharfen Kontrast zu dem Diplom Friedrichs I. für die Regensburger Juden von 1182, vgl. Heinrich Appelt (Hg.): Urkunden Friedrichs I. 1181–1190, Hannover 1990 (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae X/4), Nr. 833, S. 43 f.

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nur der Kaiser Rechte – also eine Monopolstellung – haben. Dieses alleinige Verfügungsrecht brachte Friedrich II. nur wenige Monate später gegenüber dem Papst hinsichtlich der Juden sowohl im Regnum Sicilie als auch im imperium unmissverständlich zum Ausdruck.19 In diesem religiös begründeten Monopolanspruch war aus kaiserlicher Sicht die Charakterisierung der Juden als servi camere nostre begründet. Für das Bedeutungsspektrum von servi camere im Augsburger Privileg relevant ist, dass damals die päpstlich-kanonistische Auffassung über die ewige Knechtschaft der Juden weithin bekannt war. Eben damit begründete der Kaiser nur ein dreiviertel Jahr nach dem Augsburger Hoftag im Privileg für die Wiener christlichen Bürger den Ausschluss der Juden von Amtsfunktionen über Christen.20 Noch vor dem Freispruch erließ der Kaiser in demselben Augsburger Privileg eine Grundordnung der Rechte für universi Alemanniae servi camere nostre. Dafür griff er – ausdrücklich auf deren Bitte hin – auf das anschließend wiedergegebene Privileg zurück, das sein Großvater Kaiser Friedrich I. 1157 den Juden von Worms verliehen hatte. Dieses war weithin identisch mit den bereits von Kaiser Heinrich IV. 1090 ausgestellten Privilegien für die Juden der Schum-Gemeinden Worms und Speyer, in die wiederum auch Rechtssatzungen der Karolinger für Juden aufgenommen worden waren.21 Dieses traditionsreiche Privileg von 1157 erklärte Friedrich II. in Augsburg als gültig für „alle zu unserer kaiserlichen Kammer unmittelbar gehörigen Juden“ des „deutschen“ Königreichs.22 Die Bestätigung und Ausweitung des Privilegs wie auch den Freispruch der Juden vom Ritualmord sicherte der Kaiser mit dem servus camere nostre-Status der Juden ab. Nur jene unter den christlichen weltlichen und kirchlichen Amtsträgern wie auch unter den „cives“ erweisen dem Kaiser die gebührende Ehre (honor), die sich gegenüber den jüdischen servi des Kaisers (Iudeis servis nostris) wohlwollend und wohltuend verhalten.23 Die Wahrung des kaiserlichen honor wurde also abhängig gemacht vom Verhalten der christlichen fideles gegenüber den aus kaiserlicher Sicht un- oder andersgläubigen (infideles) Juden. Mit diesem Anspruch war implizit eine Eingriffsmöglichkeit des Kaisers in Herrschaften aller Art, in denen Juden lebten, und damit auch in die entspre19

Vom September 1236: Aronius 1902 (wie Anm. 2), Nr. 498, S. 217. Eveline Brugger/Birgit Wiedl (Hg.): Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter. Band 1: Von den Anfängen bis 1338, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, Nr. 17, S. 28 f. vom April 1237, vgl. auch Nr. 18, S. 29 f. 21 Appelt 1975 (wie Anm. 9) mit Hinweisen auf die Überlieferungsgeschichte: bes. S. 285, Z. 14 (im Kommentar der Edition wird fälschlicherweise „Kammerknechtschaft“ verwendet). 22 Weiland 1896 (wie Anm. 16), S. 274, Z. 28f: […] omnibus Iudeis [Alemannie] ad cameram nostram immediate spectantibus […]. 23 Weiland 1896 (wie Anm. 16), S. 275, Z. 43–46. 20

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chenden Stadtgemeinden verknüpft. Zugleich nutzte Friedrich II. den erhöhten Schutzbedarf für die Steigerung der Abhängigkeit der jüdischen servi vom Kaiser und damit seiner Verfügungsgewalt über sie. Dies geschah in Formulierungen, die als eine unfreie Stellung der Juden verstanden und für deren Realisierung benutzt werden konnten. Das derart vieldeutige Augsburger Privileg Kaiser Friedrichs II. von 1236 wirkte weit und nachhaltig. Bereits im November 1237 verwandte die kaiserliche Kanzlei den Begriff servus camere nostre in einem Privileg für den dem Kaiser nahestehenden magister und Arzt Busach von Palermo, den er wegen seiner besonderen Verdienste von allen Steuern und Abgaben an den kaiserlichen Hof befreite.24 Im August 1238 geschah dies auch in dem kaiserlichen Privileg für die Wiener Juden, das wesentliche Bestimmungen des Wormser Diploms in der Augsburger Fassung enthielt.25 Seitdem wurde der Begriff servus camere nostre für Juden nördlich der Alpen in den Diplomen üblich. Der Augsburger Rechtsakt wurde auf Initiative führender Juden im Regnum Alemanniae, die über die Originalfassung verfügten, im Jahre 1260 vom Wormser Bischof in Abschrift beglaubigt. Diese wurde ihrerseits hundert Jahre später – 1360, also nach den etwa ein Jahrzehnt zuvor erfolgten katastrophalen Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes – vom Kölner Erzbischof „auf Bitten der in seinem Land und Herrschaftsgebiet lebenden Juden“ erneut publiziert.26 Einige grundlegende Bestandteile des Privilegs von 1236 wurden berücksichtigt in den seitdem von Fürsten respektive Königen erlassenen Judenordnungen in Österreich, in Ungarn, in Böhmen und Mähren, Großpolen, Meißen, Schlesien und in Litauen mit Gültigkeit teils bis ins 18. Jahrhundert.27 Auf das im Augsburger Rechtsakt ausgeweitete Wormser Privileg stützten sich auch aschkenasische, also „deutsche“ Juden, die seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts nach Italien einwanderten, in ihren Verträgen (condotte) 24 Shlomo Simonsohn: The Jews in Sicily, Bd. 1: 383–1300, Leiden/New York/Köln 1997 (Studia Post-Biblica, vol. 48,3), Nr. 214, S. 453. Vgl. weitere Belege nach Register. 25 Brugger/Wiedl 2005 (wie Anm. 20), Nr. 20, S. 31 f. 26 Aronius 1902 (wie Anm. 2), Nr. 658, S. 274 f.; Wilhelm Jansen (Hg.): Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Band 6 (1349–1362), Köln/Bonn 1977 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 21), Nr. 1282, S. 359; vgl. Diestelkamp 1990 (wie Anm. 17), S. 38 f. 27 Vgl. Friedrich Lotter: Geltungsbereich und Wirksamkeit des Rechts der kaiserlichen Judenprivilegien im Hochmittelalter, in: Aschkenas 1 (1991), S. 23–64; Zofia Kowalska: Die großpolnischen und schlesischen Judenschutzbriefe des 13. Jahrhunderts im Verhältnis zu den Privilegien Kaiser Friedrichs II. (1238) und Herzog Friedrichs II. von Österreich (1244). Filiation der Dokumente und inhaltliche Analyse, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 47 (1998), S. 1–20, und Brugger/Wiedl 2005 (wie Anm. 20), Nr. 20, S. 31 f. (1238), Nr. 14, S. 35–38 (1244); Jörg R. Müller: Juden im Westen des Reiches. Einflüsse, Eigenständigkeiten und Wirkungen im hohen und späten Mittelalter, in: Franz Irsigler (Hg.): Zwischen Maas und Rhein. Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert. Versuch einer Bilanz, Trier 2006 (Trierer Historische Forschungen 61), S. 403–434, dort besonders S. 430.

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mit den christlichen Stadtgemeinden28, bezeichnenderweise jedoch ohne Bezug auf die Kammerknechtschaft. In diesen Verträgen stand vielmehr der Bürgerstatus der Juden im Zentrum. Die Stellung der Juden als Bürger konkretisierte in erster Linie ihre Relationen zu den christlichen cives und zur jeweiligen christlichen Stadtgemeinde. Ebenso wie der servus-Begriff war auch der des civis römisch-antiken Ursprungs. Der bereits im dritten Jahrhundert generell eingeführte Status der Juden als cives wirkte in den mediterranen romanischen Landschaften im Mittelalter fort.29 Er wird in den überlieferten Quellen freilich erst seit dem 12./13. Jahrhundert wieder deutlicher fassbar und ist seit dem endenden 13. Jahrhundert im „lateinischen“ Westen auch außerhalb der Mittelmeerländer für Juden nachzuweisen. Im Unterschied zu der vieldeutigen „Kammerknechtschaft“ war der vertraglich fixierte „Bürgerstatus“ der Juden von servilen Deutungsmöglichkeiten frei. Der Bürgerstatus der Juden unterschied sich substantiell von dem der Christen. Die Juden waren selbst in Gemeinden organisiert oder in primär um Familien gebildeten Gemeinschaften, die gleicherweise in ihrer Religion fundiert waren. Die von der christlichen Mehrheit bestimmten Gemeinden waren durch ihre religiöse Prägung ebenso exklusiv christlich. Daher setzte eine in jeder Hinsicht mit den Christen identische Mitgliedschaft von Juden in den christlichen Gemeinden ihre Konversion voraus. Deshalb musste im Bürgerstatus der Juden ihre religiöse Eigenart enthalten sein. Für die einzelnen Juden und für die jeweilige jüdische Gemeinde entscheidend war der sich aus dieser rechtlichen Bindung ergebende Schutz ihrer Religion, ihrer Person und ihres Besitzes durch die christliche Stadtgemeinde innerhalb und außerhalb der von ihnen bewohnten Stadt. Für die Analyse dieser komplexen Sachverhalte wähle ich als Vergleichshorizont die italienische Halbinsel unter Einschluss Siziliens und den Geltungsbereich des römisch-deutschen Reichs, der auch Gebiete südlich der Alpenkämme umfasste. Für diese weite Perspektive spricht – neben den geschilderten Befunden über „Kammerknechtschaft“ und „Bürgerstatus“ – auch die Tatsache, dass diese Regionen insgesamt seit der Wende zum 14. Jahrhundert Zentrallandschaften des Judentums innerhalb der lateinischen Christenheit bildeten. Daneben behauptete das sephardische Judentum auf der Iberischen Halbinsel weiterhin eine herausragende Rolle, allerdings nur bis zu den verheerenden, von Zwangstaufen begleiteten Verfolgungen in den beginnenden neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts. Die wachsende Bedeutung der Gebiete diesseits und jenseits der Alpen seit der Wende zum 14. Jahrhundert war wesentlich bedingt durch negative Vor28 Angela Möschter: Juden im venezianischen Treviso (1389–1509), Hannover 2008 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 19), S. 284. 29 Simonsohn 1996 (wie Anm. 7), S. 108 (mit guter Charakterisierung des Bürgerstatus); Toaff 2000 (wie Anm. 7).

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gänge vor allem im Westen Europas. Erinnert sei an die Vertreibungen der Juden am Ende der achtziger Jahre aus einigen Fürstentümern in Frankreich, 1290 aus England, dem einzigen Königreich mit jüdischer Präsenz nördlich der Nord- und Ostseeküsten. Die von König Philipp dem Schönen 1306 verfügte Expulsion aus den französischen Kronlanden zerstörte die Fundamente des bis ins frühe Mittelalter zurückgehenden Judentums im nördlichen Frankreich – weit vor dem von König Karl VI. verfügten Exodus von 1394, dem eine Reihe von Wiederzulassungen und erneuten Vertreibungen vorausgegangen war. Damit verloren die Juden des Regnum Alemannie, wo sie frühestens seit dem späten 9. Jahrhundert unter starker Mitwirkung ihrer Glaubensbrüder aus dem Süden Italiens und aus der französischen Romania heimisch geworden waren, ihren für sie in vielen Bezügen konstitutiven Rückhalt im Westen. Von den antijüdischen Aktionen um 1300 wurde aber auch die Judenschaft in Süditalien schwer und mit langfristiger Wirkung getroffen. Juden waren in dieser Kulturlandschaft, die von griechisch-byzantinischen Traditionssträngen und weit reichenden Verbindungen wie auch von lateinisch-westlichen Elementen bestimmt war, seit der Antike im umfassenden Sinne und auf hohem Niveau wirksam. Darauf beruhte die Rolle des süditalienischen Judentums – nach den Worten Yacov Guggenheims – als „Wiege des europäischen Judentums, realiter und in der historischen Erinnerung von Sefarad und von Aschkenas.“30 Zu Anfang der neunziger Jahre des 13. Jahrhunderts zwang der angiovinische König Karl II. unter dem großen Einfluss von Dominikanern und römisch-rechtlich argumentierenden Beratern Tausende von Juden zur Konversion. Viele von ihnen hingen weiterhin ihrem alten Glauben an oder wurden dessen verdächtigt, was immer wieder für antijüdische Stimmungen genutzt wurde. Zahlreiche Neugetaufte lebten in mehreren größeren Städten in eigenartigen universitates neofitorum, oft unter bischöflicher Herrschaft. Insgesamt schwächte das Vorgehen Karls II. das süditalienische Judentum nachhaltig, was jedoch durch die behutsamere Politik einiger seiner Nachfolger teilweise wieder aufgewogen wurde. Antijüdische Gewaltakte äußerten sich um 1300 auch nördlich der Alpen. Dort kam es 1298 zu den ersten großflächig wirksamen Pogromen – den „Rintfleisch“-Verfolgungen unter dem Vorwand des „Hostienfrevels“ – während des nassauisch-habsburgischen Thronstreits. Trotz des anschließend effektiven Vorgehens König Albrechts I. wurden davon die weitaus meisten jüdischen Niederlassungen in Franken und im nördlichen Schwaben schwer heimgesucht – und damit in königsnahen, vom Thronstreit also besonders

30 Yacov Guggenheim: Die jüdische Gemeinde und Landesorganisation im europäischen Mittelalter, in: Cluse 2004 (wie Anm. 5), S. 86–106, 103 (in der englischen Ausgabe S. 71– 91, 89 f.); vgl. Nicholas de Lange: Hebrew Scholarship in Byzantium, in: Ders. (Hg.): Hebrew Scholarship and the Medieval World, Cambridge 2001, S. 23–37.

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betroffenen, von Juden zudem am intensivsten besiedelten Gebieten des Reichs. Die Vorgänge um 1300 südlich und nördlich der Alpen relativieren zwar die Einschätzung der Gebiete beiderseits der Alpen als jüdische Zentrallandschaften, heben sie aber nicht auf. Dies gilt umso mehr, als seitdem das Judentum in Mittel- und in Norditalien eine breitere Basis erhielt und schließlich zum Fundament des „italienischen“ Judentums der Neuzeit wurde, an dem die Juden in Sizilien und in Süditalien durch die Vertreibungen von 1492 und 1541 keinen Anteil mehr hatten.

II. Für den Vergleich dieser Zentrallandschaften bietet sich südlich der Alpen eine Untergliederung an in 1. Sizilien, 2. Süditalien und 3. Nord- und Mittelitalien (mit der Brückenfunktion von Rom). Nördlich der Alpen sind – entsprechend auch dem Verlauf der Christianisierung – zu unterscheiden: 1. die Reichsgebiete westlich des Rheins und südlich der Donau; 2. jene östlich und nördlich der beiden Flüsse bis zu einer Linie, die von der Elbe über Saale und Böhmisch-Bayerischem Wald bis Traun (an der Donau) reicht; 3. die Gebiete östlich derselben Linie. In Sizilien waren Juden seit der Antike heimisch. An der Bezeichnung der Juden auf der Insel als servi camere regis änderten auch die Übergänge der Königsherrschaft an die Anjous und – nach der Sizilianischen Vesper von 1282 – an die aragonesische Krone nichts. Sie behielten zugleich den Status von cives. Dafür nur zwei Beispiele: Noch 1490 – zwei Jahre vor der Vertreibung der sizilischen Juden – bestätigte der sizilische Vizekönig einem als servus regie camere bezeichneten jüdischen Meister der Seidenweberei die civilitas von Messina. Dieser Bürgerstatus sollte alle Rechte und Freiheiten umfassen, wie sie die in der Stadt geborenen cives besaßen. Diese civilitas hatte das Führungsgremium der christlichen universitas Messina dem wegen seiner Fähigkeiten hochgeschätzten Juden und seiner Familie einige Jahre zuvor – ausdrücklich zur Vermehrung der Ehre (honor) Messinas – in einem Anwerbungsschreiben angeboten und inzwischen erteilt, und dies unter Erlass aller Abgaben und Dienste an die christliche wie auch an die jüdische Gemeinde. Für die Einhaltung der geltenden Stadtrechte leistete der Familienvater dem christlichen Führungsgremium einen Eid nach jüdischer Gewohnheit, der so dem Bürgereid von Christen als gleichwertig galt. Der Vizekönig befreite darüber hinaus den servus regie camere, seine Frau und seine Söhne vom Judenkennzeichen. Dieses Vorrecht war bei herausragenden Juden nicht nur in Sizilien, sondern auch auf der Halbinsel die Regel.31 31

Shlomo Simonsohn (Hg.): Jews in Sicily, Bd. VIII: 1490–1497, Leiden/Boston 2006 (Studia Post-Biblica 48,3), Nr. 5285, S. 4573 f., und Bd. VII: 1478–1489, 2005, Nr. 4976, S. 4317–4319.

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Noch steiler war in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Karriere des Moses da Bonavoglia, ebenfalls civis von Messina und fidelis (also „getreuer“) servus der königlichen camera.32 Empfohlen vom aragonesischen Königshof, studierte er Medizin an der Universität Padua. Er wurde – wie mehrere andere Juden Siziliens – in den engeren Kreis der königlichen familiares und 1419 in das consorcium der königlichen Ärzte aufgenommen, stieg als artium et medicine doctor zum phisicus des königlichen Hofes auf, wurde vom König zum Richter in allen Angelegenheiten zwischen den und über die Juden des Königreichs Sizilien erhoben, stieß dabei auf den Widerstand christlicher Stadt- und auch jüdischer Gemeinden – insbesondere derer in der „Hauptstadt“ Palermo wie auch in seiner Heimatstadt Messina.33 Er verlieh ebenfalls Geld im Interesse des Königs und betrieb in größerem Umfang Handel, unter anderem mit Wein, setzte sich aber auch beim König erfolgreich für die Juden im sizilischen Königreich ein, die – wie es in dem von ihm 1431 erwirkten Privileg heißt – allein unter der Macht des Königs atmen und seiner camera servi fideles et speciales sind. Insbesondere verbot der König die als scandalum gebrandmarkte Praxis, dass christliche Amtsträger Juden mit der Exekution von Strafen und Foltern an Christen einsetzten und sich diese deshalb den Hass von Christen zuzogen.34 Für die Stellung der sizilischen Juden als servi camere und als cives war ihr breites wirtschaftliches Tätigkeitsfeld ein wesentlicher Faktor. Es reichte von der Agrarwirtschaft über viele Sparten des Handwerks, dem Kleinhandel bis zum Fernhandel, in dem sizilische Juden auch noch im 15. Jahrhundert im nördlichen Afrika tätig blieben. Der Geldverleih spielte nur eine marginale Rolle, wobei oft Juden von Christen Geld liehen. Partnerschaftliche Geschäfte von Juden und Christen waren üblich. Die Spannweite zwischen Armut und Reichtum war unter den Angehörigen beider Religionen ähnlich.35 So 32 Shlomo Simonsohn (Hg.): Jews in Sicily, Bd. IV: 1415–1439, Leiden/Boston 2002 (Studia Post-Biblica 48,3), Nr. 2083, S. 1972 f. 33 Shlomo Simonsohn (Hg.): Jews in Sicily, Bd. III: 1392–1414, Leiden/Boston 2001 (Studia Post-Biblica 48,3), Nr. 1838, S. 1758 f. vom Mai 1413: (Befreiung Moses’ von der Steuer gemäß der Gewohnheit in der Stadt Messina für die „Iudei civitatis eiusdem medicine studium sequentes“); Ders.: Jewish Physicians in Sicily, in: Italia Judaica. Gli ebrei in Sicilia sino all’espulsione del 1492. Atti del V congresso internazionale Palermo, 15–19 giugno 1992 (Pubblicazzioni degli Archivi di Stato, saggi 12), Roma 1995, S. 347–354; Joseph Shatzmiller: Jews, Medicine, and Medieval Society, Berkeley/Los Angeles/London 1994, S. 26, 33, 71, 76 f. 34 Simonsohn 2002 (wie Anm. 32), Nr. 2311, S. 2180 f. 35 Henri Bresc: Arabes de langue, Juifs de religion. L’évolution du judaïsme sicilien dans l’environnement latin, XIIe–XVe siècles, Paris 2001, S. 205–271; Ders.: L’artisanat juif sicilien: culture et technique, in: Nicolò Bucaria (Hg.): Gli Ebrei in Sicilia dal Tardoantico al Medioevo. Studi in onore di Mons. Benedetto Rocco, Palermo 1998, S. 35–53, S. 65–87 mit Hinweisen auf Gegensätze zwischen armen und reichen Juden in Messina und zwischen „maggiorenti“ und Handwerkern in Catania um die Mitte des 15. Jahrhunderts (S. 87). Vgl. neuerdings David Abulafia: The Jews of Sicily and Southern Italy: Economic Activity, in: Michael Toch (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und

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und auch durch die nachbarschaftliche Wohnlage bestanden vielseitige soziale Kontakte zwischen Juden und Christen. Dem entsprach die Niederlassung der Juden in den größeren Städten nahe den politischen oder auch wirtschaftlichen Mittelpunkten.36 Die Beziehungen der Juden zum Königtum waren durch die relativ starke Position der sizilischen Herrscher bestimmt. Sie war wesentlich in der Insellage, mehrfachen Eroberungen und dem Nachwirken byzantinischer, muslimischer und normannischer Traditionen wie auch der Herrschaft Friedrichs II. begründet. Bis auf wenige Ausnahmen, zu denen die Rechte der Erzbischöfe und der Kathedralkirche von Palermo über die dortigen Juden zählten, unterstanden die universitates Iudeorum – wie die christlichen Stadtgemeinden – nur der direkten Herrschaft der Könige respektive Vizekönige. Diese wirkten auch auf die Besetzung der Führungspositionen in den jüdischen sowie in den christlichen Gemeinden ein und ebenfalls auf die darin oft ausbrechenden internen Konflikte. Der Einfluss der christlichen Gemeinden in den großen Städten, wie Palermo und Messina, war dennoch beträchtlich – insbesondere während der vielen Krisen der Königsherrschaft in den anderthalb Jahrhunderte dauernden angiovinisch-aragonesischen Auseinandersetzungen. Auch deshalb hatte der „Bürgerstatus“ für die Juden neben der „Kammerknechtschaft“ einen hohen Stellenwert, der sich auch darin äußerte, dass sie nur in ihrer Heimatstadt gerichtlich belangt werden konnten. Unter für sie günstigen Bedingungen setzten sich die aragonesischen Könige für die Juden selbst gegen die kirchliche Inquisition ein: So bestritt König Friedrich 1376 den Inquisitoren und anderen Geistlichen das Recht, in der „universitas Iudeorum“ von Syrakus, „camere nostre servorum fidelium“, gegen die Juden vorzugehen, die „servos Saracenos et Saracenas“ vom König gekauft hatten. Als Argument führte er an, dass diese muslimischen Sklaven und Sklavinnen „infideles“ und „Christifidelium inimicos“ seien. Davon wur-

Einschätzungen, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 71), S. 49–62, S. 249 f.; neuerdings Reinhold C. Mueller: The Status and Eonomic Activity of Jews in the Venetian Dominions during the Fifteenth Century, in: Michael Toch (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 71), S. 63–92, insbesondere S. 68–71. Für den Vergleich der wirtschaftlichen Tätigkeiten der Juden auf der Iberischen Halbinsel und insbesondere in Portugal vgl. Soyer 2007 (wie Anm. 6), S. 72–77. Über Armut unter Juden in Italien im späten Mittelalter vgl. die Beiträge insbesondere von Anna Esposito, Alessandra Veronese und Angela Möschter in: Philine Helas/Gerhard Wolf (Hg.): Armut und Armenfürsorge in der italienischen Stadtkultur zwischen 13. und 16. Jahrhundert. Bilder, Texte und soziale Praktiken, Frankfurt am Main 2006 (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 2). 36 Bresc 2001 (wie Anm. 35), S. 127–138; über jüdische Wohngebiete auch in kleineren Städten und Siedlungen vgl. Angela Scandaliato: Quartieri ebraici in Sicilia, in: Dies.: Judaica minora sicula. Indagini subli ebrei di Sicilia nel Medioevo e quattro studi in colloborazione con Maria Gerardi, Firenze 2006 (Associazone italiana per lo studio del Giudaismo, testi e studi 18), S. 25–30 und weitere Beiträge in demselben Band.

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den also die jüdischen „camere nostre servi fideles“ positiv unterschieden. Die Juden galten trotz ihrer Andersgläubigkeit als „Getreue“ und somit auch nicht als Feinde der Christgläubigen.37 Es ist insgesamt für die Relationen zwischen dem sizilischen Königtum und den jüdischen camere nostre servi symptomatisch, dass die antijüdischen Aktionen mit zahlreichen Zwangstaufen auf der Insel um 1390 während einer akuten, auch durch die Auswirkungen des Großen Abendländischen Schismas beeinflussten Krise der Königsherrschaft und gegen den Willen des neuen Königs Martin geschahen, und dies etwa gleichzeitig mit den gleichartigen Verfolgungen auf der Iberischen Halbinsel.38 Die Vertreibung der Juden im Jahre 1492 erfolgte ebenfalls gegen den Willen des sizilischen Vizekönigs, vielmehr auf Initiative des aragonesischen Königs Ferdinand des Katholischen im engen Zusammenhang mit den Vorgängen in Spanien. Letzterer begründete seine Gewaltakte damit, dass „alle Juden in unseren Reichen und Herrschaften uns gehören, worüber wir gemäß königlicher Macht und höchster Autorität nach unserem Willen bestimmen und walten können“.39 Einen derartig unbeschränkten Besitzanspruch über Leib und Gut der sizilischen Juden hatten die Könige und Vizekönige bis dahin nicht erhoben und noch weniger realisiert. Vielmehr blieb der Status der jüdischen servi camere des Königs auf der Insel trotz der Vorgänge in den neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts im wesentlichen im Sinne des Augsburger Privilegs bewahrt und im krassen Gegensatz zu jenem der Muslime nicht den Unfreien oder sogar Sklaven angeglichen. Insgesamt veränderte sich auch ihre Stellung als cives nicht negativ. Im süditalienischen Königreich war die Stellung der Könige seit normannischer Zeit insgesamt erheblich schwächer als in Sizilien. Dementsprechend unterstanden dort viele Juden den Herrschaften von Baronen und in mehreren Kathedralstädten – wenn auch oft von Königen streitig gemacht – den jeweiligen Bischöfen. Gegenüber dieser Realität machten die Könige nur vereinzelt ihren Anspruch auf die Juden als ihre servi camere geltend. Das süditalienische Judentum erhielt erst seit 1442, dem Beginn der aragonesischen Herrschaft, eine längerfristig wirksame Unterstützung vom Königtum. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts betrieb König Ferdinand (1459– 1494) konstant eine projüdische Politik. Diese wirkte sich durch die Stärkung seines politischen Einflusses auf die Städte und Stadtgemeinden auch positiv auf die Stellung der Juden als cives aus, was auch deren wirtschaftliche Situation in ihren traditionellen, überwiegend handwerklichen Tätigkeiten mit ei-

37 Shlomo Simonsohn (Hg.): Jews in Sicily, Bd. II: 1302–1391, Leiden/Boston/Köln 2000 (Studia Post-biblica 48,3), Nr. 1035, S. 1107 f. 38 Simonsohn 2001 (wie Anm. 33), insbes. Nr. 1341f, S. 1273–1275; Nr. 1350f, S. 1283 f. 39 Simonsohn 2006 (wie Anm. 31), Nr. 5439, S. 4679–4684, vom 31. März 1492 für sein aragonesisches Königreich, veröffentlicht am 18. Juni auf der Insel Sizilien in volkssprachlicher Fassung.

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nem Schwerpunkt auf dem Tuchgewerbe verbesserte. Weitaus wirksamer als unter den Anjous schützte er auch die jüdischen Bankiers, deren Niederlassung bereits seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert von den Anjous wegen der desolaten wirtschaftlichen Lage und vor allem zur Verbesserung der königlichen Finanzen gefördert worden war. König Ferdinand zeigte sich hingegen nicht nur an den jüdischen Bankiers interessiert, sondern auch an anderen Juden mit ihren breit gestreuten beruflichen Fähigkeiten. Daher vertrieb er – im scharfen Kontrast zu seinem Vetter Ferdinand den Katholischen – 1492 die Juden nicht.40 Vielmehr warb er unter den aus Spanien, Sizilien und Sardinien vertriebenen Juden insbesondere jene an, die ihm für seine wirtschaftspolitischen Ziele nützlich erschienen, und gewährte ihnen günstige Lebensbedingungen in seinem Königreich. Die Lage der Juden verschlechterte sich freilich bereits unmittelbar nach dem Tode Ferdinands, was schließlich in ihrer Vertreibung von 1541 gipfelte. War die Kammerknechtschaft der Juden also in Süditalien nach den Staufern von erheblich geringerer Bedeutung als in Sizilien, so ist für die dritte Kulturlandschaft südlich der Alpen – für Mittel- und Norditalien – festzustellen, dass dort die „Kammerknechtschaft“ bedeutungslos, hingegen der „Bürgerstatus“ für die Juden entscheidend war. Dieser Befund erklärt sich im Patrimonium Petri, das sich auf Kosten „Reichsitaliens“ bis in östliche Teile Norditaliens ausdehnte, weitgehend schon aus den Folgen des „Avignonesischen Exils“ und des Großen Abendländischen Schismas. In diesen weit über hundert Jahren waren im Patrimonium Petri Stadtkommunen, Adlige und Signori (also Alleinherrscher) die entscheidenden Mächte. Juden ließen sich erst seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert in den Städten nieder – und damit überwiegend während der langen Schwächeperiode der päpstlichen Herrschaft. Sie kamen zumeist aus der traditionsreichen, großen und wirkungsvollen jüdischen Gemeinde Roms, aus der im späteren 11. Jahrhundert beispielweise auch ein Leiter der bedeutenden Wormser Talmudschule stammte. Dies trug zu deren bis zum späteren 15. Jahrhundert dauernden Niedergang bei. In Reichsitalien, der am stärksten urban geprägten Landschaft Europas, lebten Juden bis um 1300 nur in wenigen Städten und dies zudem in kleinen Gemeinden, die nur sehr selten eine längere Kontinuität hatten. Die Expansion des Judentums erfolgte hier in größerem Maßstab erst seit dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts. Daran beteiligten sich mit unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten außer den römischen auch Juden aus Frankreich und aus Spanien und – verstärkt seit den letzten Dekaden desselben Jahrhun-

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David Abulafia: Le communità di Sicilia dagli arabi all’espulsione (1493), in: Vivanti 1996 (wie Anm. 5), S. 45–82, insbes. 66–81; Nicolò Bucaria/Paola Scibilia: Nuovi documenti sull’espulsione degli Ebrei dalla Sicilia, in: Italia. Studi e ricerche sulla storia, la cultura e la letteratura degli Ebrei d’Italia 17 (2006), S. 93–125.

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derts – Aschkenasim weit überwiegend aus dem Westen und Süden des „deutschen“ Reichs.41 Das Königtum war spätestens seit dem Tode Friedrichs II. nicht in der Lage, diese Vorgänge nachhaltig zu beeinflussen. Bereits in staufischer Zeit, also weit vor der Ausbreitung jüdischen Lebens, waren die Führungsgremien der ihr weiteres Umland beherrschenden Stadtkommunen entscheidend. Deren Position wurde seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert durch das Vordringen von „Alleinherrschern“ (Signori) geschwächt, die Stadtkommunen blieben jedoch in den meisten Fällen für die Juden mindestens ebenso wichtig wie die oft sehr labilen Signorien. Unter diesen Gegebenheiten war in Mittel- und Norditalien der Schutz der Juden in den von ihnen bewohnten civitates am ehesten durch ihren Status als cives gewährleistet. Die Verleihung des Bürgerrechts an jüdische Zuzügler geschah in erster Linie durch die jeweiligen Stadtkommunen. Darauf nahmen jedoch – je nach den Machtkonstellationen – auch Signori Einfluss. Ungewöhnlich weit ging der markgräfliche Signore in der seit jeher politisch schwachen civitas Ferrara. Er ließ 1427 in zwei Urkunden für zwei jüdische Bankiers und deren Söhne als ersten und offenkundig wichtigsten Punkt der weiteren Vertragsbedingungen festhalten, dass er sie zu „cives civitatis nostre“ Ferrara gemacht und erhoben hat (facimus et creamus), damit sie als veri et originarii cives wie die anderen Bürger alle Vorteile der Stadt genießen können. Zudem befreite er beide und ihre Söhne vom Tragen des Judenzeichens, zu dem er die anderen Juden in Ferrara verpflichtet hatte.42 In beiden Fällen wurde der 41

Ariel Toaff: Gli insediamenti ashkenaziti nell’Italia settentrionale, in: Vivanti 1996 (wie Anm. 5), S. 153–171; Michele Luzzati: Banchi e insediamenti ebraici nell’Italia centro settentrionale fra tardo Medioevo e inizi dell’Età moderna, in: ebd., S. 173–235; Alessandra Veronese: Migrazioni e presenza di ebrei „tedeschi“ in Italia settentrionale nel tardo Medioevo (con particolare riferimento ai casi di Trieste e Treviso), in: Gian Maria Varanini/Reinhold C. Mueller (Hg.), Ebrei nella Terraferma veneta del Quattrocento: atti del convegno di studi,Verona, 14 novembre 2003, Firenze 2005 (Reti Medievali. Quaderni di Rivista, 2), S. 59–69; Angela Möschter: Gli ebrei a Treviso durante la dominazione veneziana (1388– 1509), in: ebd., S. 71–84; Möschter 2008 (wie Anm. 28), bes. S. 48 f. Über die seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert kontinuierliche Einwanderung von Juden aus dem Norden in das Friaul vgl. die auch in dieser Hinsicht neuen Erkenntnisse von Gerd Mentgen: Netzwerkbeziehungen bedeutender Cividaler Juden in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Jörg R. Müller (Hg.): Beziehungsnetze aschkenasischer Juden während des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Hannover 2008 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 20), S. 197–246. 42 Adriano Franceschini: Presenza ebraica a Ferrara. Testimonianze archivistiche fino al 1492, hg. v. Paolo Ravenna, Firenze 2007, Nr. 368 f., S. 135 f. Der Vater Bonaventura (Nr. 369) wird auch noch 1459 (Nr. 675, S. 252) in Ferrara in einem Scheidungsfall erwähnt (auch sein gleichnamiger Sohn, der sich scheiden lässt). Der in Nr. 368 genannte Perseo ist noch 1452 als in Ferrara wohnhaft bezeugt (Nr. 549, S. 205). Ein ähnliches Vorgehen der Serenissima Venedig in der zur Terra ferma gehörigen civitas Vicenza zu Anfang des 15. Jahrhunderts stieß auf den schließlich erfolgreichen Widerstand der dortigen Stadtkommune, vgl. Möschter 2008 (wie Anm. 28), S. 249 f.; neuerdings Reinhold C. Mueller: The Status and Eonomic Activity of Jews in the Venetian Dominions during the Fifteenth Century, in: Michael Toch (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fra-

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Bürgerstatus ohne Befristung gewährt. Dies entsprach dem Typus der civilitas ad perpetuum. Die ad tempus, also befristete, Verleihung des Bürgerrechts ergab sich für die jüdischen Bankiers und Ärzte aus der vertraglich vereinbarten Laufzeit ihrer Geschäfte. Die unbefristete civilitas setzte zumeist Immobilienbesitz voraus.43 Die Funktion des Bürgerstatus für die Juden war umso größer, je geringer die Wirksamkeit ihrer Gemeinden war. Nur in einigen Städten existierten effektive jüdische Gemeinden.44 Unter den wenigen im Regnum Italiae hatten die mehrheitlich von aschkenasischen Juden bestimmten Gemeinden, die am stärksten im nordöstlichen Oberitalien verbreitet waren, einen hohen Anteil. Viele Aschkenasim verfügten über große Erfahrungen im traditionsreichen und weit verbreiteten jüdischen Gemeindeleben nördlich der Alpen. Sie brachten neben Kenntnissen des dafür grundlegenden Wormser-Augsburger Privilegs zahlreiche, von ihnen oft in ihrer neuen Heimat kopierte Texte mit. Darunter befanden sich hebräische Kompilationen von ursprünglich nordfranzösischen Rechtssatzungen, die die Schum-Gemeinden adaptiert und seit dem frühen 13. Jahrhundert gemeinsam erlassen hatten.45 In den größeren jüdischen Gemeinden führte die Dominanz der mit Verträgen (condotte) ausgestatteten Bankiers, die nicht selten auch Handel insbesondere mit Pretiosen betrieben, oft zu Konflikten – zumal wegen der Steuern – mit der aus Kleinhändlern oder auch Handwerkern bestehenden Mehrheit, wie dies beispielsweise für die in den Marken gelegene ältere Gemeinde Anconas 1401 und 1458 bezeugt ist.46 In den weitaus meisten der etwa 600 Orte Mittel-und Oberitaliens, in denen Juden in vielen Fällen nur für kurze Zeit nachgewiesen sind, lebten nur eine, manchmal zwei Bankiersfamilien, die oft ihren Standort wechselten, ohne dass an ihren jeweiligen Niederlassungsorten Ansätze zu einer gemeindlichen Organisationsform erkennbar sind. Die seit dem 15. Jahrhundert vereinzelt vorgenommenen Versuche von Stadtkommunen, die Häuser oder die Wohnungen der Juden in einem abgesonderten oder sogar abgelegenen Wohngebiet zu konzentrieren, blieben offenkundig erfolglos. Von der auch in Mittel- und Norditalien vor allem seit dem 15. Jahrhundert oft von christlichen Geistlichen und Obrigkeiten geforderten Kennzeichnungs-

gen und Einschätzungen, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 71). S. 63–92, insbesondere S. 68–71. 43 Toaff 2000 (wie Anm. 7), mit dem Dokument S. 34 f. (Nr. 11). 44 Vgl. den „offenen“ Definitionsvorschlag für jüdische „Gemeinde“ von Möschter 2008 (wie Anm. 28), S. 92–94. 45 Rainer Barzen: Takkanot Kehillot Schum. Die Rechtssatzungen der jüdischen Gemeinden von Mainz, Worms und Speyer im hohen und späteren Mittelalter, erscheint 2011/12 in der Reihe: „Monumenta Germaniae Historica. Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland“, Bd. 2. 46 Eliyahu Ashtor: Gli Ebrei di Ancona nel periodo della repubblica. Appunti di archivio, zuletzt in: Ders.: The Jews and the Mediterranean Economy, 10th–15th Centuries, London 1983, V (S. 331–368), S. 366 f.

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pflicht waren – wie in Sizilien und Süditalien – in der Praxis viele Juden nicht oder nur in abgemilderten Formen betroffen, wenn nicht ausgenommen. Seit dem 15. Jahrhundert schürten insbesondere franziskanische Buß- und Volksprediger, die südlich der Alpen viel aktiver waren als diesseits des Gebirges, in vielen Städten trotz des gelegentlich bezeugten Einschreitens von Signori und anderen Gewalthabern – so des Dogen von Venedig 1462 zugunsten der nur noch als Auswärtige/Fremde (forenses) im venezianischen Treviso ansässigen Juden47 – immer wieder antijüdische Stimmungen. Darauf reagierten mehrere Stadtkommunen mit erheblich verschlechterten Lebensbedingungen ihrer jüdischen cives. Daraus ergab sich in nicht wenigen Fällen eine längere Unterbrechung jüdischer Präsenz, ohne dass eine förmliche Vertreibung vorgenommen wurde. Gewalttätige Verfolgungen von Judengemeinden geschahen selten. Sie blieben im Unterschied zu Sizilien und Süditalien und vor allem zu den älteren Siedlungslandschaften der Juden nördlich der Alpen lokal begrenzt. Eine wohl auf der Tradition des kommunalen Bankwesens beruhende Eigentümlichkeit Nord- und Mittelitaliens waren die seit 1462 einsetzenden stadtkommunalen Pfandleiheanstalten der Monti di Pietà, die – vornehmlich von Observanten gefordert und gefördert – eine Alternative zur Geldleihe von Juden bilden sollten, diesem Zeck aber in der Regel nicht gerecht wurden. Nördlich der Alpen erfolgte die Ansiedlung der Juden – anders als im mediterranen Süden – im engen Zusammenhang mit dem Einsetzen der Urbanisierung, die mit regional unterschiedlichen Zeitabständen der Christianisierung folgte. Entsprechend wohnten sie – im Gegensatz zu den meisten Orten in Mittel- und Norditalien – nahe den kultischen und/oder wirtschaftlichen Zentren der Städte, was sich nur in wenigen Fällen nach den Pogromen zur Zeit des Schwarzen Todes änderte.48 Als Folge des süd-nördlichen Kulturgefälles hatten die Juden nördlich der Alpen vornehmlich in den ersten Jahrhunderten ihrer Niederlassung aufgrund ihrer durch Religion und Herkunft hoch entwickelten Schriftkultur und ihrer größeren Kenntnisse und Erfahrungen in wichtigen urbanen Bereichen – wie Handel, Geldwirtschaft oder auch Medizin – wesentliche Vorzüge gegenüber den weitaus meisten Christen. Dies galt für den Handel insbesondere mit hochwertigen Waren vorrangig aus dem Mittelmeerraum.49 Dadurch wurde auch die Ausbildung effizienter jüdischer Gemeinden begünstigt. 47

Möschter 2008 (wie Anm. 28) im Anhang Nr. 32, S. 399 von 1462. Alfred Haverkamp: The Jewish Quarters in German Towns during the Late Middle Ages, in: R. Po-Chia Hsia/Hartmut Lehmann (Hg.), In and Out of the Ghetto: Jewishgentile relations in late medieval and early modern Germany, Washington D. C./New York 1995, S. 13–28, deutsche Fassung: Die Judenviertel in deutschen Städten während des späten Mittelalters, in: Haverkamp 2002 (wie Anm. 7), S. 237–253. 49 Mit Korrekturen hinsichtlich der Rolle von Juden im Handel, insbesondere dem Handel mit Sklaven, vgl. Michael Toch: The Jews in Europe 500–1050, in: Paul Fouracre, (Hg.): The New Cambridge Medieval History, Bd. I: c. 500–c. 700, Cambridge 2005, S. 547– 570, 555–661; weiterhin Ders. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. 48

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Die frühesten und für viele Jahrhunderte größten Judengemeinden entstanden westlich des Rheins und südlich der Donau und – seit dem 12. Jahrhundert – ebenfalls östlich und nördlich der beiden Flüsse in Kathedralstädten. Sie waren erheblich kleiner als jene in Süditalien und auf Sizilien. Der Anteil der Juden an der städtischen Gesamtbevölkerung war hingegen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts nördlich der Alpen, wo die Bevölkerungszahlen erheblich geringer waren als im mediterranen Süden, insgesamt wesentlich höher als in Mittel- und Norditalien. Da die Könige sich im großflächigen Regnum gegen die Vormacht der Adligen insbesondere außerhalb ihrer mit den Dynastien wechselnden Stammlande vor allem auf die Bischöfe stützten und diesen umfangreiche Rechte, darunter in der Regel auch über die Juden, überließen, waren die Kathedralstädte – im krassen Kontrast zu Süditalien und noch mehr zu Sizilien – die in jeder Hinsicht hervorragenden Mittelpunkte der bischöflichen Herrschaften und über diese auch mit dem Königtum verbunden. Daraus ergab sich die intensive und komplexe, über das Ende des Mittelalters hinaus nachwirkende Verknüpfung der Juden mit den Bischöfen und mit den Königen, aber auch mit den Einwohnern und christlichen Gemeinden der Kathedralstädte. Die große Bedeutung der Bischöfe für die Juden äußerte sich auch darin, dass zumindest bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts in der Regel die kleineren jüdischen Niederlassungen im Geltungsbereich der Bistümer dem Kahal in der jeweiligen Kathedralstadt, manchmal auch in einem anderen urbanen Zentrum des Bistums untergeordnet waren. Dies lag hauptsächlich darin begründet, dass sich bei diesen herausragenden jüdischen Siedlungsorten auch die jüdischen Friedhöfe befanden.50 Vornehmlich für jene Juden, die sich seit dem 13. Jahrhundert außerhalb der Kathedralstädte in kleineren urbanen oder sogar dörflichen Siedlungen niederließen, waren Adlige die wichtigsten Herrschaften. Jenseits von Elbe und Saale sind Juden, die überwiegend aus dem Westen des Reichs stammten, von denen aber wohl auch einige westslawischen Ursprungs waren, von Anfang an zusammen mit den christlichen Zuwanderern aus den deutschsprachigen Gebieten und christianisierten Slawen an der Landeserschließung – insbesondere an der Urbanisierung – beteiligt gewesen. Daher blieben sie dort auch in einem breiteren wirtschaftlichen Spektrum tätig als im Westen. In diesen sogenannten „Neusiedelgebieten“, wo auch Königsrespektive Reichsstädte als Stütze königlicher Macht entfielen, übten die auch sonst maßgeblichen weltlichen Fürsten – teils unter Bezug auf die „Kammerknechtschaft“ – die Herrschaft über die Juden und jüdische Gemeinden aus. Fragen und Einschätzungen, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 71). 50 Rainer Barzen: Jüdische Regionalorganisation am Mittelrhein: Die Kehillot Schum um 1300, in: Cluse 2004 (wie Anm. 5), S. 248–258 (in der englischen Ausgabe S. 233–243); Guggenheim 2004 (wie Anm. 30); Ders.: A suis paribus et non aliis iudicentur. Jüdische Gerichtsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christliche Herrschaft und die obersten rabi gemeiner Judenschafft im heilgen Reich, in: Cluse u. a. 2003 (wie Anm. 7), S. 405–439.

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Juden ließen sich dort nach den Verfolgungen von 1348 bis 1350 in einer größeren Anzahl als zuvor nieder, als auch die östlich anschließenden polnischen Gebiete verstärkt von Juden besiedelt wurden. Seitdem wurde das Königtum, das gleichzeitig, seit den Luxemburgern, seine Schwerpunkte auf seine Erblande in den Osten verlagerte, im Westen noch mehr geschwächt. Größere direkte Einflussmöglichkeiten auf die Juden bestanden für das nachstaufische Königtum infolge der Nachwirkungen der salisch-staufischen Königsherrschaft nur in den als engere „Reichslande“ zu bezeichnenden Regionen am Mittelrhein, im Elsass, in Franken und Schwaben. Eben in diesen Gebieten wüteten die Armleder-Verfolgungen zwischen 1336 und 1338 mit noch größerer Reichweite als die „Rintfleischpogrome“, nämlich nicht nur erneut in Franken, sondern nun auch am Mittelrhein und im Elsass. Noch verheerender wirkten nur zwei Jahrzehnte später die Pogrome im Umfeld des Schwarzen Todes weit über die engeren „Reichslande“ hinaus vor allem westlich von Elbe und Saale.51 Danach kehrten Juden nur in etwa die Hälfte der bisherigen Niederlassungsorte zurück, und dies oft erst nach ein bis zwei Jahrzehnten und nur für kurze Zeit, da die Vertreibungen der Juden aus Städten und Landesherrschaften im Westen bereits seit den neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts einsetzten. Die Effizienz der jüdischen Gemeinden war seitdem viel geringer als vor den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts. Diese Faktoren führten zu einer noch größeren Abhängigkeit der Juden von den diversen Herrschaftsträgern einschließlich der christlichen Gemeinden. Mit den seit Ludwig dem Bayern stark zunehmenden Verpfändungen von Judensteuern, ganzen jüdischen Gemeinden wie auch Städten durch die stets hoch verschuldeten Könige wurden die bisherigen Sicherheitsnetze der Juden gefährdet, wenn nicht zerstört. Die Könige waren ihrerseits nur in äußerst beschränktem Umfang in der Lage, die Juden gegen verbreitete antijüdische Stimmungen zu schützen und Pogrome zu verhindern. Sie waren zugleich nicht fähig, Vertreibungen vorzunehmen. Daran waren sie angesichts ihrer äußerst desolaten Finanzen und geringen politischen Einflussmöglichkeiten auch nicht im Geringsten interessiert. Freilich akzeptierten sie im 15. Jahrhundert immer wieder Vertreibungen aus Königs- und Reichsstädten oder auch Territorien gegen finanzielle Gegenleistungen; nicht selten mussten sie diese sogar ohne dergleichen Einnahmen hinnehmen. Wegen der tatsächlich geringen Effizienz ihrer Herrschaft über die Juden steigerten die römisch-deutschen Könige – im Gegensatz zu den sizilischen und auch süditalienischen reges – vor allem seit den Armleder-Verfolgungen 51 Alfred Haverkamp: Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte (1981), zuletzt in: Ders.: Verfassung. Kultur, Lebensform. Beiträge zur italienischen, deutschen und jüdischen Geschichte im Mittelalter. Dem Autor zur Vollendung des 60. Lebensjahres, hg. v. Friedhelm Burgard/Alfred Heit/Michael Matheus, Trier 1997, S. 223–297; František Graus: Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987, 2. Auflage 1988 (Veröffentlichungen des Max-Planck- Instituts für Geschichte 86), S. 227–240.

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ihre Rechtsansprüche über die Juden extrem bis hin zu einer unbeschränkten Verfügbarkeit über Leib und Gut der Juden. Dabei stützten sie sich anscheinend auf Auffassungen über die ewige Knechtschaft der Juden, wie sie Thomas von Aquin vertreten hatte, vielleicht aber auch auf römisch-rechtliche Normen. Damit glichen sie den Status der servi camere jenem von extrem Unfreien an. Die bereits seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts oft praktizierte Tilgung der Schulden auf Kosten der jüdischen Gläubiger begründete „Kaiser“ Ludwig der Bayer für die von ihm 1343 verfügte derartige Enteignung von Juden vornehmlich aus Nürnberg, die er dennoch als „unsere liebe kamerknehte“ bezeichnete, zugunsten des Burggrafen von Nürnberg, seines engen Verbündeten: „wan ir [die Juden] uns und daz Riche mit leib und mit gut an gehört, und mugen da mit schaffen, tun und handeln, swaz wir wellen und wie uns gut dunchet“.52 Seit den Armlederverfolgungen machten auch die erzbischöflichen Kurfürsten von Trier über ihre Juden Rechte geltend, die ansonsten nur gegenüber Hörigen praktiziert wurden. Die Tilgung von Schulden auf Kosten der Juden durch König Wenzel im Zusammenwirken mit vielen davon profitierenden Stadtgemeinden und Fürsten hatte für die Juden vornehmlich in den „Reichslanden“ nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht sehr negative Auswirkungen, langfristig noch schlimmer waren die Folgen für ihre Stellung als „Kammerknechte“ und Bürger.53 Davon „profitierten“ um die Wende zum 15. Jahrhundert auch Königsstädte, die auf der Grundlage königlicher Privilegien die jüdischen „Kammerknechte“ finanziell gewalttätig auspressten und damit gegen deren Bürgerstatus handelten. Zudem erfanden die Könige immer neue Gründe zur Ausbeutung ihrer jüdischen servi. Symptomatisch ist, dass „Kaiser“ Ludwig der Bayer nur ein Jahr vor seiner Tilgungsaktion von 1343 von allen Juden des Reichs mit einem Vermögen über mehr als 20 Gulden einen Gulden forderte, um sie vorgeblich besser schützen zu können. Noch erfindungsreicher hinsichtlich neuer Vorwände für horrende Geldforderungen waren die Könige im 15. Jahrhundert. Mit der Perversion der Augsburger Selbstverpflichtung Kaiser Friedrichs II., die jüdischen servi camere nostre gottesfürchtig zu regieren und sie gerecht zu schützen, ging wohl Markgraf Albrecht Achilles 1464 am weitesten

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Rudolf v. Stillfried/Traugott Maercker (Hg.): Monumenta Zollerana. Urkundenbuch zur Geschichte des Hauses Hohenzollern, Bd. III, Berlin 1857, Nr. 110, S. 108 f.: Mandat vom 5. Februar 1343 an die betroffenen Juden. In der am gleichen Tag ausgestellten kaiserlichen Verfügung (ebd., Nr. 109, S. 105–108) lautet die Begründung: „Wann vns die obgenannt Juden, als ander Juden, mit ir lib und mit ir gut zugehórent, und vnser vnd des Rychs sind, Vnd mügen mit ir lib und gut tun, handeln und schaffen, was wir wellen und wie es vns gut dúncht.“ 53 Zur Orientierung vgl. zuletzt Karel Hruza: Anno domini 1385 do burden die iuden … gevangen. Die vorweggenommene Wirkung skandalöser Urkunden Wenzels (IV.), in: Ders./Paul Herold (Hg.): Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, Wien/Köln/Weimar 2005 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 24), S. 117–167.

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in der Begründung der Krönungssteuer, von deren Eintreibung er profitierte.54 Gegen derartige Erpressungen konnten die Juden fast ausnahmslos mit der Unterstützung von Fürsten, Adligen, aber auch christlichen Gemeinden deshalb sicher rechnen, weil diese „Christen“ die ohnehin fortschreitende Verarmung der weitaus meisten, nördlich der Alpen noch lebenden Juden zur Wahrung ihrer eigenen Profitaussichten nicht hinnahmen. Trotz dieser und weiterer Missbräuche sowie des Machtverfalls des Königtums im Reich bot den Juden ihre enge Bindung an den König, wie sie in der Kammerknechtschaft seit dem Augsburger Rechtsakt Ausdruck finden sollte, auch noch weiterhin Argumente gegen die Ansprüche regionaler Gewalten und auch der christlichen Gemeinden. So dürfte es auch im Interesse der Frankfurter Juden gelegen haben, dass König Karl IV. am 25. Juni 1349, als die grausamen Verfolgungen in den deutschen Landen fortdauerten, bei der von ihm gegen eine hohe Geldsumme vorgenommenen Verpfändung von „unsir juden gemeinlichen zu Frankenfůrt, unsir camerknechte“, den durch diesen Rechtsakt grundsätzlich nicht tangierten Status der „Kammerknechte“ betonte. Er bestand ganz in diesem Sinne auch darauf, dass dieselben Juden ungeachtet der Verpfändung bei einem Aufenthalt des Königs in der Königs-, Wahl- und Messestadt dem König dienen sollen mit Pergament für die königliche Kanzlei und „in unsirn hof mit betten, in unsern koechen mit kesselen, als gewonlich ist“.55 Bei dieser Gelegenheit sollten die Juden weiterhin, jedoch nur einmal jährlich, den sieben genannten königlichen „amptlewte“ – darunter der camermeister und der cuchinmeister – fünf Pfund Geldes zahlen, wie drei Tage später ergänzt wurde.56 Mit diesen auch für die Zukunft vorgesehenen Diensten der Frankfurter Juden wurde das Fortbestehen ihrer engen persönlichen Bindung an den König, seinen Hof und zugleich an das Reich öffentlich wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht. Dies war jedoch zugleich als Zeichen der „Knechtschaft“ der Juden, freilich gegenüber dem höchsten Repräsentanten der weltlichen Gewalt, zu verstehen. Die so fixierte Wahrung ihrer engen persönlichen Beziehung zum 54

Vgl. den Beitrag von Christian Jörg in diesem Bande. Isidor Kracauer: Urkundenbuch zur Geschichte der Juden in Frankfurt am Main von 1150–1400, 2 Bände, Bd. I, Frankfurt am Main 1914, Nr. 141, S. 50–53, hier S. 52; Margarete Kühn (Hg.): Constitutiones et acta publica imperatorum et regum Band 9, 1, Weimar 1974 (MGH, legum sectio IV/9.1), Nr. 361, S. 273 (Regest). Auch noch nach der Mitte des 14. Jahrhunderts stellten die Nürnberger Juden „bei Königsbesuchen in der Stadt […] das Heizmaterial, Küchengerät und Bettwäsche bereit“: Maimon u. a. 1995 (wie Anm. 3), S. 1010 mit Anm. 173. Vgl. auch die Pflicht der Erfurter Juden beim Aufenthalt des Mainzer Erzbischofs Pergament an dessen Notar zu liefern: Avneri 1968 (wie Anm. 3), Teilbd. 1, S. 216 mit Anm. 12. Zu jüdischen Ledergerbern und Pergamentherstellern vgl. die „Zunftordnung“ in einer Mitteilung an den Reutlinger Rat, (zuletzt) in: Bernd-Ulrich Hergemöller (Hg.): Quellen zur Verfassungsgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, Darmstadt 2000 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 34), S. 336– 343, Nr. 49, hier S. 338; vgl. unten Anm. 58. 56 Kühn 1974 (wie Anm. 55), Nr. 365, S. 275 vom 28. Juni 1349. 55

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Königtum verhinderte nicht die bereits nur einen Monat später erfolgte, planmäßig exekutierte Ermordung. Sie wurde vielmehr bereits bei der Verpfändung offen ins „geschäftliche“ Kalkül einbezogen, ohne dagegen die geringste Vorsorge zu treffen.57 Angesichts der unterschiedlichen Stellung der Könige im Herrschaftsgefüge Siziliens und Unteritaliens einerseits und im „deutschen“ Reich andererseits, ist umso auffälliger, dass dennoch hier wie dort die enge Bindung der „Kammerknechte“ an den König und seinen Hof durch ähnliche Leistungen Ausdruck fand. Die Juden von Neapel, Agrigent und Gravina beschwerten sich 1277/1278 darüber, dass die Boten und andere officiales des Königs bei ihren Aufenthalten von den als nostri fideles respektive servi nostri bezeichneten Juden „unrechtmäßige Abgaben zur Bestreitung ihres Unterhalts verlangten sowie in ihre Wohnungen eindrangen und Betten, Tücher und Hausrat, insbesondere Kupfergefäße (vasa erea), forttrugen“ und „davon später nichts“ zurückgaben. Aus einer wenige Jahre zuvor zugunsten der Juden von Trani ausgestellten Urkunde Karls I. ergibt sich, dass die officiales den offenbar schon lange realisierten Anspruch ihres Königs missbrauchten, bei seinem Aufenthalt und dem seines Hofes von den Juden „Betten und Ähnliches“ zu erhalten.58 Diese Gemeinsamkeiten in der Ausformung von Institutionen in den Beziehungen zwischen Königen und Juden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die Geschichte der Juden in den „italienischen“ und „deutschen“ Kulturlandschaften die tiefgreifenden Unterschiede im Herrschaftsgefüge und somit die Gesamtheit der politisch relevanten Faktoren entscheidend waren. Die evidente Schwäche des Königtums im römisch-deutschen Reich zwang die Juden weit mehr als in Sizilien und Süditalien zu Alternativen, un57

Vgl. Haverkamp 1997 (wie Anm. 51), S. 274–276. Hubert Houben: Neue Quellen zur Geschichte der Juden und Sarazenen im Königreich Sizilien (1275–1280), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 74 (1994), S. 335–359, 336–338 und die edierten vier Urkunden S. 346–349, auch Simonsohn 1997 (wie Anm. 24), Nr. 232, S. 467 f. (Agrigent).Vgl. ferner Simonsohn 2000 (wie Anm. 37), Nr. 348, S. 625 von 1321: Gemäß einer gegen den Willen der Stadtgemeinde von Palermo getroffenen Entscheidung König Friedrichs III. soll es den königlichen officiales einmal im Jahr erlaubt sein, „de roba et lectis per Iudeos“ zu erhalten, „sicut fit in aliis locis et terris Sicilie“; ebd. Nr. 395, S. 669 von 1329 betreffend die entsprechende Befreiung des jüdischen Arztes Gaudius, civis von Palermo, und dessen Erben in Palermo durch die christliche universitas von Palermo. Die Bereitstellung von Betten und Bettwäsche durch die Juden für den königlichen Hof ist auch auf der Iberischen Halbinsel bezeugt, so zum Jahre 1477: Fritz Baer: Die Juden im christlichen Spanien. Erster Teil: Urkunden und Regesten, II (Kastilien/Inquisitionsakten) Berlin 1929 (1936), 2, Nr. 332, S. 341–344. Für Verpflichtungen der Erfurter Juden beim Aufenthalt des Erzbischofs von Mainz in der Stadt zur Lieferung von Pergament an den erzbischöflichen Schreiber und zur Verköstigung des erzbischöflichen Hofs vgl. Reinhold Ruf: Juden im spätmittelalterlichen Erfurt. Bürger und Kammerknechte, in: Frank G. Hirschmann/Gerd Mentgen (Hg.): Campana pulsante convocati. Festschrift anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, Trier 2005, S. 486–518, hier S. 502 f., Anm. 63. Vgl. Anm. 55. 58

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Abb. 1: Das älteste Bürgerbuch 1288–1497 mit der Bürgeraufnahme des Juden Aaron (1297). © Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Selekt „Schätze“ Nr. 74 (Bürgerbuch I 1288–1497), aufgeschlagen fol. 5v-6r.

ter denen in den größeren Städten die Beziehungen zur christlichen Bevölkerung und insbesondere der Gemeinde vorrangig waren. Dafür bot ihnen der Bürgerstatus die beste, freilich die keineswegs sichere Basis. Dies sei mit wenigen Bemerkungen am naheliegenden Fall Augsburg für die Zeit um 1300 verdeutlicht. In der dem staufischen Kaisertum nahestehenden Kathedralstadt Augsburg bestand seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde. Sie war seit dem letzten Drittel desselben Jahrhunderts mit der christlichen Gemeinde, die sich gegen die bischöfliche Herrschaft auch mit Unterstützung des Königtums durchgesetzt hatte, eng verbunden. Die Juden galten aber aus königlicher Sicht weiterhin als „servi camere“, über die die Könige ihre Rechte in der Regel aber nur im Einvernehmen mit der christlichen Gemeinde nutzen konnten. Spätestens seit 1297 wurden Juden als Bürger in Augsburg aufgenommen. Zu diesem Jahr verzeichnet das Bürgerbuch, in dem die Bürgeraufnahmen von Christen und Juden in chronologischer Reihenfolge, also ohne Trennung von Juden und Christen, notiert wurden: „Aaron judeus factus est civis secundum ius et consuetudinem judeorum. Lemblinus judeus fideiussor.“ Die For-

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Alfred Haverkamp Abb. 2: Vertrag der Juden- mit der Stadtgemeinde über die Teilnahme der Juden an Mauerbau (28. 8. 1298). © Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Urkundensammlung.

mulierung macht deutlich, dass Aaron, übrigens der Bruder des als Bürge genannten herausragenden Augsburger Juden („Lemblinus“ = Lamb), gemäß den Rechtssatzungen und dem Gewohnheitsrecht der Juden als Bürger aufgenommen wurde.59 Dies geschah also auch im Einvernehmen mit der jüdischen Gemeinde, die hier selbst über die Aufnahme von Zuzüglern entschied oder doch daran beteiligt war. Daraus ergab sich auch der besondere Status des Juden als civis. Es ist aus der Funktion des Juden Lamb zu schließen, dass auch er jüdischer civis in Augsburg war. Es bleibt aber offen, ob alle in Augsburg wohnenden Juden zugleich cives waren. Jedenfalls reichte dieser Status nicht für die Sicherung von Leib und Gut der Gesamtheit der jüdischen Gemeinde unter allen Umständen aus. Dies ergibt sich aus dem Vertrag zwischen den 14 genannten Juden, darunter eine Jüdin, und der „gemain der Juden in der stat ze Augspurch“ einerseits und dem Rat und der „gemain der stat“ andererseits vom 23. August 1298 – also kurz nach dem Abklingen der „Rintfleisch“-Verfolgungen60, die bis nach Lauingen vorgedrungen waren und sogar südlich von Augsburg die

59

Bisher unediert: Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Schätze Nr. 74 (Bürgerbuch I 1228–1497), fol. 5v. Den Nachweis verdanke ich Herrn Gregor Maier, meinem Doktoranden und Mitwirkenden am Corpus-Projekt (vgl. Anm. 2). 60 Christian Meyer (Hg.): Urkundenbuch der Stadt Augsburg, Bd. I, Augsburg 1874, Nr. 147, S. 129 f.

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Abb. 3: Siegel der jüdischen Gemeinde Augsburg (1298) mit lateinischhebräischer Umschrift (S[igillum] IVDEORUM AVGVSTA(E) – (  )    ). Siegelabguss, © Fürstliche Domänenkanzlei HohenloheWaldenburg.

Juden in Landsberg am Lech heimgesucht hatten, und nur einen Tag vor der Krönung des Habsburgers Albrecht in Aachen. Der Vertrag wurde sowohl mit dem Siegel der christlichen Stadtgemeinde als auch mit dem S[igillum] Iuderorum Auguste, also der jüdischen Gemeinde, bekräftigt. Darin dankten die jüdischen Aussteller den städtischen Räten und der christlichen Gemeinde, dafür, dass diese ihnen selbst kein Leid zugefügt noch ein solches zugelassen hatten. Sie äußerten ihre Zuversicht, dass sie dies auch in Zukunft mit Hilfe König Albrechts tun würden, was die christliche Gemeinde abschließend ausdrücklich bekräftigte. Dafür verpflichteten sich die jüdischen Vertragspartner, in den nächsten vier Jahren ein längeres, nahe ihrem Friedhof einsetzendes Stück der Stadtmauer zu erbauen. Zur Absicherung dieser großen und kostspieligen Verpflichtung verpfändeten sie der christlichen Gemeinde ihre Synagoge und das gesamte übrige Eigentum ihrer Gemeinde innerhalb der Stadt. Es ist für die Grundsituation auch vieler anderer jüdischen Gemeinden bezeichnend, dass die jüdischen Vertragspartner die Vertreter der christlichen Stadtgemeinde ermächtigten, gegen jene Augsburger Juden und Mitglieder der jüdischen Gemeinde vorzugehen, die sich der Beteiligung an den hohen Kosten durch Abzug aus der Stadt entzogen. Der Zusammenhalt der jüdischen Gemeinde und damit auch deren Führung bedurften also der Unterstützung durch die christliche Gemeinde, die so zugleich auf die jüdische Gemeinde starken Einfluss ausüben konnte. Anfällig und unstabil war nicht nur die jüdische, sondern auch die christliche Gemeinde. Dies zeigt beispielhaft der fehlgeschlagene Versuch der Familie Stolzhirsch von 1303, in Augsburg eine Signorie nach italienischem Muster zu errichten.61 Entsprechend brüchig waren derartige Verträge und – darin 61

Vgl. auch für das Folgende den Beitrag von Gregor Maier in diesem Bande.

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eingeschlossen – der Bürgerstatus der Juden. So fielen auch die weitaus meisten jüdischen cives von Augsburg im November 1348 einem der bald weit um sich greifenden Pest-Pogrome zum Opfer. Auch die Augsburger Judenverfolgung geschah – wie in mehreren anderen Städten – im engen Zusammenhang mit einem Aufstand gegen den herrschenden Stadtrat. In den Jahren 1374, 1381 und 1384 setzte der städtische Rat alle Juden, die meisten von ihnen cives, gefangen, um von ihnen außerordentliche Steuern zu erpressen, und beteiligte sich auch an den Tilgungen der Schulden unter König Wenzel.62 Derart wirkte sich die extreme Ausweitung der „Kammerknechtschaft“, wie sie König Wenzel praktizierte, unmittelbar auch auf den Bürgerstatus der Juden aus. In Speyer, Heimstatt einer der drei Schum-Gemeinden, machte sich die christliche Stadtgemeinde die ja schon durch Ludwig den Bayern extrem ausgedehnte Verfügungsgewalt über die jüdischen „Kammerknechte“ zu Eigen. Dabei stützte sie sich auf das Privileg Karls IV. vom 29. März 134963 nur zwei Monate nach dem Speyerer Pogrom. Unter Berufung auf diese königliche Urkunde vertrat der Speyerer Stadtrat im Oktober 1352 seine Rechtsauffassung, dass alle Juden, die künftig in der Stadt wohnen, „unser eigen sin soellent mit libe und mit guete, von redelicher sache“. Er begründete damit seine Entscheidung, zu Nutz und zu Ehren von Stadt und Bürgern das Wohnen von Juden in ihrer Stadt wieder zuzulassen und sie zu schützen wie die anderen Bürger.64 Damit versuchte er zugleich, die Akzeptanz für diesen Beschluss in der christlichen Bevölkerung zu verbessern. Diesem Zweck diente noch deutlicher die anschließend veröffentlichte Befreiung aller Bürger und Einwohner Speyers von ihren bisherigen Schulden bei Juden, also jener Juden, die ermordet worden waren oder auch überlebt hatten. Zwei Jahre später ging der Stadtrat noch weiter: Er gestattete unter demselben Rechtsstandpunkt, „wanne dieselben Juden uns mit libe unt gute eigenlichen zu gehorent“, zwar den jüdischen Zuzüglern, in einem Teil des Gebietes um den Synagogenhof, wo die Juden vor dem Pogrom gelebt hatten, ihre Häuser zu errichten, jedoch 62

Maimon u. a. 1987 (wie Anm. 3), S. 42, 49. Kühn 1974 (wie Anm. 55) Nr. 197, S. 153 f. mit der abschließenden Bestimmung, dass der König die künftig in der Stadt erneut wohnenden Juden den Bürgern und der Stadt Speyer überlassen „eygenlichn zů irre stede nůtz fůr uns unde unsere nachkommen also, daz die selben Juden mit libe und mit gůte ir der selben burger und der stedte zů Spire eygen sint unde sin sollent“. Die am selben Tag für die Stadtgemeinde Worms (ebenfalls in Speyer) ausgestellte Urkunde Karls IV. ist ansonsten weithin gleichlautend, enthält aber einen vergleichbaren Passus nicht: ebd. Nr. 198, S. 154. Zu den Zusammenhängen vgl. Ernst Voltmer: Zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Speyer. Die Juden im Spannungsfeld zwischen König, Bischof und Stadt, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24), S. 94–121, bes. S. 104–108. 64 Ediert von Moritz Stern: Die Wiederaufnahme der Juden in Speyer nach dem schwarzen Tode, in: Zeitschrift der Geschichte der Juden in Deutschland 3 (1899), S. 245–248, 246 f. 63

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sollten diese Eigentum der Stadt sein.65 An dieser restriktiven Rechtsauffassung hielt der Stadtrat aus opportunistischen Gründen seit der Wiederaufnahme der Juden, die wiederum – wie bereits vor 1349 – als cives respektiv burgheren bezeichnet wurden, bis in die siebziger Jahre fest. Danach trat eine deutliche Verschlechterung der Lage der Speyerer Juden ein, die sich seit den achtziger Jahren nochmals zuspitzte.66

III. Vieles Wichtige konnte nur angedeutet, mehr noch nicht einmal genannt werden. Dennoch mögen die im weiten sachlichen, zeitlichen und räumlichen Horizont berührten Aspekte folgende These plausibel erscheinen lassen: Die in der vergleichenden Betrachtung über „Kammerknechtschaft“ und „Bürgerstatus“ der Juden erkennbar gewordenen Gemeinsamkeiten, Zusammenhänge wie auch die Unterschiede für die Lebensbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten der Juden zwischen den Kulturlandschaften jenseits und diesseits der Alpen waren weithin Auswirkungen des – trotz aller Veränderungen – anhaltenden Kulturgefälles zwischen dem kulturell ältesten Europa im mediterranen Umfeld einerseits und dem kontinentalen Mitteleuropa andererseits. In Sizilien und Süditalien verhinderten die dort unter königlicher Führung am weitaus stärksten, wenn auch auf der Insel intensiver als in Süditalien ausgeprägten „staatlichen“ Elemente eine wesentliche Verschlechterung der Lage der Juden im Konnex von „Kammerknechtschaft“ und Bürgerstatus. Zugleich aber dienten dieselben Elemente den Königen als Instrumente für die langfristig wirksamen Vertreibungen der Juden aus ihren Königreichen. In Mittel- und Norditalien war das Königtum schon vor der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert geschwächt und damit entfiel auch das Modell der „Kammerknechtschaft“. Hier bot die Vielzahl der großen, politisch und wirtschaftlich insgesamt sehr potenten Städte in der Verbindung von Stadtkommunen und stadtzentrierten Signorien letztlich günstige Konditionen auf vertraglich detailliert geregelter rechtlicher Basis, in der der Bürgerstatus eine entscheidende Funktion besaß. Im großflächigen, auch heterogenen Regnum Alemanniae konnte das Königtum – schon aufgrund des im Vergleich zur mediterranen Welt überaus geringen Niveaus der Schriftkultur, der auch aus diesem Grunde vergleichsweise sehr geringen Verrechtlichung und seines sehr kleinen Anteils an den ohnehin in diesem Regnum lange Zeit erheblich schwächeren wirtschaftlich-finanziellen Ressourcen – keine zentral orientierte Herrschaft durchsetzen. Vielmehr war das Königtum und das damit verknüpfte, räumlich noch wesentlich weiter 65 66

Ebd. S. 247 f. Maimon u. a. 2003 (wie Anm. 3), S. 1384–1401, bes. 1385 f.

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ausgerichtete Kaisertum in hohem Maße auf das stark konsensual geprägte Mitwirken von Geistlichkeit – in erster Linie der Bischöfe – angewiesen. Dadurch bestand im römisch-deutschen Regnum zugleich eine überaus große Diskrepanz zwischen königlich-kaiserlichem Anspruch und dessen Realisierungsmöglichkeiten insbesondere im Hinblick auf die jüdischen servi camere. Aus diesem Mangel an Kompetenzen und Ressourcen erwuchsen Impulse zur Verstärkung der servilen Komponenten in der Kammerknechtschaft. Dieses Unvermögen minderte den Bürgerstatus der Juden und schloss zunehmend eine Absicherung durch das Königtum aus. In derselben Situation begründet waren die großen Abhängigkeiten der Juden von den jeweiligen lokalen und regionalen Konstellationen. Eben darin bestanden einerseits günstige Konditionen für gemeindliches Leben unter den Christen und unter den Juden. Andererseits ergab sich daraus die vor allem seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert zunehmende akute Gefährdung jüdischen Lebens, wenn Pogrome durch Konfliktlagen in der christlichen Umwelt begünstigt wurden. Von wenigen, leider viel zu wenigen Verfolgungen blieben Juden verschont. Trotzdem sind in einigen Städten Gewaltakte gegen die Juden über lange Zeiträume nicht festzustellen, so beispielsweise in Regensburg zwischen 1096 und 1476, also über fast vier Jahrhunderte. Dieselbe Grundsituation verhinderte im Regnum Alemanniae die für das gesamte Königreich wirksamen Vertreibungen der Juden, wie sie 1492 aus Sizilien und 1541 aus Süditalien geschahen, und gewährleistete somit nördlich der Alpen in den jüdischen „Altsiedellanden“ westlich von Elbe und Saale ein, wenn auch schwaches und schütteres Überleben des aschkenasischen Judentums.

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HÄNDLER, ÄRZTE, BAUARBEITER Die wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder der Augsburger Juden 1276–1348 Von Gregor Maier

I. Mit Blick auf die Geschichte der Juden im mittelalterlichen Augsburg kann zweifellos von einer „langen ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ gesprochen werden. Vom März 1276 datiert das Privileg König Rudolfs, mit dem das zweite Stadtrecht und damit auch umfassende Verordnungen bezüglich der Juden in Kraft getreten sind1; das Jahr 1348 markiert das gewaltsame Ende der ersten jüdischen Gemeinde, das – wie an so vielen anderen Orten – durch die Verfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes herbeigeführt wurde.2 Die Zeit zwischen diesen beiden für die Geschichte der Stadt- und der Judengemeinde neuralgischen Punkten war geprägt von einem engen Beziehungsgeflecht zwischen christlicher und jüdischer Lebenswelt, die auf politisch-rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Ebene eng miteinander verwoben waren. In rechtlicher Hinsicht zeigt sich die enge Verbindung in der Aufnahme von Juden zu Bürgern der Stadt. Diese jüdischen cives, deren besonderer Status ihre Sicherheit an Leib und Gut gewährleistete, wurden im Bürgerbuch in chronologischer Reihenfolge direkt unter den Christen eingetragen.3 Auf 1 Christian Meyer (Hg.): Urkundenbuch der Stadt Augsburg, 2 Bde., Augsburg 1874/78, hier Bd. I, Nr. 51. Das Stadtrecht ist ediert bei Ders.: Das Stadtbuch von Augsburg, insbesondere das Stadtrecht vom Jahre 1276, nach der Originalhandschrift zum ersten Male herausgegeben und erläutert, Augsburg 1872. Die Anmerkungen in diesem Beitrag bleiben auf die wichtigste Sekundärliteratur und die verwendeten Quellen beschränkt. Für weiterführende Literatur sowie sachlich und räumlich weiter ausgreifende Zusammenhänge vgl. Gregor Maier: Juden in den Kathedralstädten Augsburg, Regensburg, Salzburg und Passau während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Diss. phil. Trier 2010. 2 Vgl. zu Augsburg ausführlich Sabine Mütschele: Juden in Augsburg 1212–1440. Diss. phil. Stuttgart 1996, S. 274–292 und Bernhard Schimmelpfennig: Christen und Juden im Augsburg des Mittelalters, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 23–38, hier S. 32 f. Vgl. allgemein zuletzt Jörg R. Müller: „Eretz geserah“ – „Land der Verfolgung“. Judenpogrome im „regnum Teutonicum“ in der Zeit von etwa 1280–1350, in: Christoph Cluse (Hg.): Europas Juden im Mittelalter. Internationales Symposium vom 20.–25. 10. 2002 in Speyer, Trier 2004, S. 259–273. 3 Als erster von insgesamt 43 Vermerken über jüdische Bürger ist 1297 derjenige Aarons überliefert (Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Schätze Nr. 74 [Bürgerbuch I 1288–1497], fol. 5v). Vgl. Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 184; Claudia Kalesse: Bürger in Augsburg. Studien über Bürgerrecht, Neubürger und Bürgen anhand des Augsburger Bürgerbuchs I

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politischer Ebene manifestierte sich der enge Zusammenhang zwischen städtischer und jüdischer Geschichte in den Ereignissen im Umfeld des Aufstandsversuches der Familie Stolzhirsch. Zwischen Januar 1302 und Frühling 1303 putschte Siboto Stolzhirsch d. J. mit Hilfe seines Bruders Leopold und Heinrichs des Zwainkirchners gegen den Rat und versuchte, eine Herrschaft im Sinne einer italienischen Signorie zu errichten.4 Die Niederwerfung des Aufstands und die Bestrafung der Schuldigen kamen mit Unterstützung des Bischofs und auf Betreiben König Albrechts von Habsburg zustande, der seit März 1304 den oberschwäbischen Land- und Augsburger Stadtvögten auftrug, den Bürgern bei der Ergreifung der nach Esslingen geflüchteten Stolzhirsche zu helfen.5 Auf die außerordentliche Gefährdung durch diese Vorgänge und den Tod König Albrechts im Mai 1308 reagierten Stadt- und Judengemeinde, indem sie den Schutzvertrag von 1298 im September 1308 in aller Form wiederholten – eine Übereinkunft, die angesichts der königlosen Zeit lebenswichtig für die Juden war.6 Im Vorfeld des Putsches der Familie Portner und der Judenverfolgung vom November 1348 blieb ein solcher Vertrag fatalerweise aus. Im Januar 1349 wurden Heinrich Portner d. Ä. und sein Sohn lebenslang der Stadt verwiesen, da ihnen unter anderem der Versuch eines Umsturzes vorgeworfen wurde, indem sie einen Anschlag auf die Stadttore verübt und die Landbevölkerung in die Stadt geholt haben sollen, wodurch das Pogrom zumindest begünstigt, wenn nicht sogar ausgelöst wurde.7 (1288–1497), Augsburg 2001 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 37), S. 381, Tab. V; Michael Cramer-Fürtig (Hg.): Aus 650 Jahren. Ausgewählte Dokumente des Stadtarchivs Augsburg zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg 1156–1806, Augsburg 2006 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg 3), S. 44; sowie Abschnitt II des Beitrags von Alfred Haverkamp im vorliegenden Band. 4 Vgl. Karl Bosl: Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Augsburger Bürgertums vom 10.–14. Jahrhundert, München 1969 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, Philosophisch-Historische Klasse 3), S. 29–31; Alfred Haverkamp: „Innerstädtische Auseinandersetzungen“ und überlokale Zusammenhänge in deutschen Städten während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Reinhard Elze/Gina Fasoli (Hg.): Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Spätmittelalters, Berlin 1991 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 2), S. 89–126, hier S. 105; und Wolfgang Zorn: Augsburg. Geschichte einer europäischen Stadt. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 4., überarb. und erg. Aufl., Augsburg 2001, S. 160. 5 Vgl. Meyer, Bd. I, 1874 (wie Anm. 1), Nr. 195. Kurz zuvor hatten sich Konrad, Albrecht und Heinrich Stolzhirsch, Johann und Siboto Schongauer sowie Leopold der Schröter als Unterstützer des jungen Siboto Stolzhirsch dem Rat unterworfen (ebd., Nr. 192). 6 Der Vertrag von 1298 ist ediert ebd., Nr. 147. Vgl. ausführlich den Beitrag von Alfred Haverkamp im vorliegenden Band. Im September 1308 erklärten sich die Juden Michel, Lamb, Jüdlin, Joseph von Mühlstetten, der Maier und Mans von Biberach im Namen der jüdischen Gemeinde dazu bereit, für das Schutzversprechen des Augsburger Rates 500 Pfund Augsburger Pfennige zu bezahlen (ediert bei Ders. 1872 [wie Anm. 1], S. 337 f.). Die Wahl von Albrechts Nachfolger Heinrich VII. erfolgte erst im November 1308. 7 Ders., Bd. II, 1878 (wie Anm. 1), Nr. 459. Vgl. das entsprechende Kapitel bei Maier (wie Anm. 1); zur Frage nach dem Auftreten der Pest in Augsburg zuletzt Raphael M. Krug:

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Durch ihre politisch-rechtliche Einbindung in das herrschaftliche Gefüge befanden sich die jüdischen Stadtbewohner im direkten Spannungsfeld der Interessensphären von Königtum, Bischof und Stadtgemeinde, was durch die ökonomischen Verbindungen zwischen den Juden und den Herrschaftsträgern verstärkt wurde. In erster Linie ist hierbei an die Geldleihe zu denken, die vielfältige Interaktionsmuster zwischen den Akteuren schuf. Die christliche Stadtgemeinde war die wohl wichtigste Geschäftspartnerin der Augsburger Juden. Dies lässt sich anhand der Baumeisterrechnungen nachweisen, in welche der Stadtschreiber bzw. dessen Gehilfen die Einnahmen und Ausgaben (z. B. Zölle oder Schuldentilgungen) der städtischen Baumeister eintrugen.8 Die Aufzeichnungen beinhalten unter anderem 77 Einträge zu einzelnen Juden bzw. zur jüdischen Gemeinde, die im Zusammenhang mit Steuerzahlungen, Geldleihaktivitäten und weiteren Geschäftskontakten stehen. Im Frühjahr 1320 wurden beispielsweise 1200 Pfund Heller verbucht, die der Jude Suter und seine Genossen an die Baumeister gezahlt hatten; dieses Geld diente dazu, die Ausstände der Stadtgemeinde bei den Juden Köpflin, Mosse, Sohn des Lamb, Bonifant und Sprinz, der Frau des Schulmeisters, zu begleichen.9 Allein die Zahlungen, die von Sprinz 1329 aus verschiedenen Gründen geleistet wurden, beliefen sich auf insgesamt 320 Pfund Augsburger Pfennige.10 Beachtet man, dass sich die Einkünfte der Baumeister in einem Jahr mit geringen Erträgen wie zwischen Mai 1321 und Mai 1322 auf lediglich ca. 900 Pfund beliefen, war der Anteil allein dieser einen Jüdin an den Gesamteinnahmen des Amtes sehr hoch. Durch ihre Aktivitäten in der Geldleihe kam Sprinz in den Besitz mehrerer Immobilien, wie aus einer Steuerliste von 1346 hervorgeht. Für fünf Häuser, von denen sie anscheinend eines selbst bewohnte, bezahlte sie insgesamt 274 Pfund Steuern; die übrigen vier hatten sich zuvor in christlicher Hand befunden und waren wohl als Pfandstücke an sie übergegangen. Da Sprinz für drei Häuser zusammen mit dem Juden Kratzer veranlagt wurde, unterhielten die beiden wahrscheinlich ein Konsortium.11 Pest in Augsburg 1348–1351? Eine Studie zur Frage eines Pestvorkommens zu Zeiten des Schwarzen Todes in Europa, in: Rolf Kießling (Hg.): Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens, Augsburg 2005 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte BayerischSchwabens 10), S. 285–321; sowie zur Verdichtung der Exklusionsvorgänge gegenüber den Juden im 15. Jahrhundert den Beitrag von Christian Jörg im vorliegenden Band. 8 Für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts sind die Jahrgänge 1320–1331 erhalten. Die Rechnungen sind ediert bei Richard Hoffmann: Die Augsburger Baumeisterrechnungen von 1320–1331, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 5 (1878), S. 1–229. 9 Ebd., S. 15 und S. 31 f. 10 Die Zahlungen wurden zwischen Juli und Oktober des Jahres verbucht und erfolgten in Beträgen von je zweimal 10 und 120 Pfund und einmal 60 Pfund (vgl. ebd., S. 153). 11 Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Steueramt, Rechnungen [Steuerbücher] 1346, fol. 17rb. Vgl. zu jüdischen Geschäftsfrauen zuletzt Martha Keil: Mobilität und Sittsamkeit: Jüdische Frauen im Wirtschaftsleben des spätmittelalterlichen Aschkenas, in: Michael Toch (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzun-

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Als regelmäßige Geldgeber betätigten sich zudem Isaak und Jakob, zwei weitere Söhne des Lamb.12 Auffällig ist, dass in der Zeit nach 1328 eine starke Kumulation der städtischen Anleihen bei den Juden erfolgte. Der erhöhte Bedarf der Stadtgemeinde an liquiden Mitteln erklärt sich zum einen aus der finanziellen Hilfe, welche sie während der bayerisch-österreichischen Thronkämpfe nach dem Tod Heinrichs VII. dem Wittelsbacher Ludwig dem Bayern zukommen ließ.13 Zum anderen belastete das städtische Engagement in regionalpolitischen Konflikten den kommunalen Haushalt, wofür der Rat auch auf Gelder der Juden zurückgriff.14 Die Häufung der Darlehen von den Juden zwischen 1328 und 1330 ist somit im Kontext der auswärtigen Politik der Stadt zu sehen. Das Kreditwesen war, wie hier nur angedeutet werden konnte, ein hervorragender Erwerbszweig der Augsburger Juden. Dieses Tätigkeitsfeld wird jedoch im vorliegenden Beitrag nur eine untergeordnete Rolle einnehmen, wofür mehrere Gründe sprechen. Erstens bedürfte eine weiterreichende Beschäftigung mit den Organisationsformen, Modalitäten und Ausprägungen des Geldhandels trotz der bislang geleisteten Vorarbeiten15 einer eigenen gen, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs 71), S. 153–180; zu den Gesamteinnahmen des Baumeisteramts von 1321/22 Hoffmann 1878 (wie Anm. 8), S. 35; sowie zu früheren Geschäften zwischen Sprinz und den Baumeistern ebd., S. 31 f., S. 62 und S. 111. 12 Die beiden Juden hatten der Stadtgemeinde einen Kredit gegeben, von dem sie im Januar 1329 insgesamt 70 Pfund „in capitali“ sowie 12 Pfund „pro usura“ zurückerhielten (ebd., S. 128). 13 Vgl. zusammenfassend Zorn 2001 (wie Anm. 4), S. 162 ff. 14 Etwa während des Konflikts um die am rechten Lechufer gelegene Burg Haldenberg bediente sich die Stadtgemeinde der Kredite von Juden. Laut Baumeisterrechnungen häuften sich zwischen 1328–1331 die Ausgaben für die Burg (Hoffmann 1878 [wie Anm. 8], S. 147–151), die den Augsburgern als Ausgleich für Schädigungen durch den Ritter Engelschalk von Haldenberg zugesprochen worden war (ebd., Nachtrag I, S. 191 f.). Obwohl die Übergabe der Burg ohne Belagerung erfolgt sein könnte, da weder Ausgaben für Maschinentransporte noch für größere Verluste belegt sind, war der Stadtrat offenbar bereit, für die Unternehmung große Geldmittel aufzuwenden. 15 Vgl. vor allem die Beiträge von Mütschele 1996 (wie Anm. 2), insbes. S. 65–91 und Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 2) sowie den Überblick bei Toni Oelsner: (Art.) Augsburg, in: Zvi Avneri (Hg.): Germania Judaica, Bd. II: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 1. Teilbd.: Ortsartikel Aachen–Luzern, Tübingen 1968 (künftig zitiert als: GJ II/1 und II/2), S. 30–41, hier S. 34. Aber auch in älteren Studien wurden bereits zahlreiche Facetten zur Geldleihe der Augsburger Juden aufgearbeitet; vgl. die entsprechenden Abschnitte bei Fritz Steinthal: Geschichte der Augsburger Juden im Mittelalter, Berlin 1911; Richard Grünfeld: Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg. FS zur Einweihung der neuen Synagoge in Augsburg am 4. 4. 1917, Augsburg 1917; sowie Raphael Straus: Regensburg and Augsburg, Philadelphia 1939 (Jewish Communities Series). Vgl. allgemein zur Augsburger Wirtschaft des späteren Mittelalters Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt, Augsburg 1971 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19), insbes. S. 181–202 und Ders.: Augsburgs Wirtschaft im 14. und 15. Jahrhundert, in: Gunther Gottlieb u. a. (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 171–181.

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Untersuchung. Hierbei ist etwa an Formen der Vergesellschaftung unter im Kreditwesen tätigen Juden bzw. zwischen Juden und Christen zu denken, die bislang nur unzureichend aufgearbeitet sind. Zweitens ist unstrittig, dass sich die Geldleiher in führenden Positionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft befanden und daher ungleich besser dokumentiert sind als andere Juden.16 Gerade diese große Gruppe der weniger prominent hervortretenden Juden verdient jedoch, anders als bisher oft geschehen, besondere Aufmerksamkeit.17 Und drittens erlaubt es die für Augsburg ausgezeichnete Quellenlage, den Schwerpunkt auf jene Tätigkeitsfelder zu legen, die zwar in einem engen Zusammenhang zur Geldleihe stehen konnten, die jedoch auch jenseits des Kreditwesens angesiedelt waren.18 Hinsichtlich der Überlieferungslage ist auffällig, dass in Augsburg wie andernorts Quellen jüdischer Provenienz für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts fehlen. Anders als noch gegen Ende des 13. Jahrhunderts – genauer: bis zum Tode Meirs von Rothenburg im Jahr 1293 – existieren beispielsweise keine Responsen, also Antworten rabbinischer Gelehrter auf schriftliche Anfragen zu rituellen oder rechtlichen Problemen. Diese sind jedoch für die Sozialund Wirtschaftsgeschichte der Juden von großer Bedeutung, da sie deren Betätigung im Warenhandel, im Handwerk sowie in Erwerbsfeldern zur Sicherung

16 Vgl. zuletzt Kay-Peter Jankrift: Henker, Huren, Handelsherren. Alltag in einer mittelalterlichen Stadt, Stuttgart 2008, S. 36; Alfred Haverkamp: Europas Juden im Mittelalter. Zur Einführung, in: Cluse 2004 (wie Anm. 2), S. 13–29, hier S. 24 f.; sowie grundlegend auch zu dieser Problematik Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und ÜberlieferungsZufall als methodisches Problem des Historikers, in: Ders.: Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994 (C. H. Beck Kulturwissenschaft), S. 39–69. 17 Vgl. Michael Toch: (Art.) Die wirtschaftliche Tätigkeit, in: Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim/Arye Maimon (s. A.) (Hg.): Germania Judaica III, 3. Teilbd.: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices, Tübingen 2003, S. 2139–2164, hier S. 2142, der die Überlieferung zu diesen Juden als die „Spitze des Eisbergs“ bezeichnet. Vgl. sehr ähnlich Ders.: Economic Activities of German Jews in the Middle Ages, in: Ders. 2008 (wie Anm. 11), S. 181–210, hier S. 205 und Gerd Mentgen: Studien zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Elsaß, Hannover 1995 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 2), S. 544. 18 Vor allem mit Blick auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts dominiert noch vielerorts das Bild vom jüdischen „Wucherer“, das zwar durch räumlich und zeitlich weit ausgreifende Studien von Toch (wie Anm. 17) und anderen teilweise korrigiert wurde, das aber auch in neueren Forschungen zur Geschichte der Juden noch immer breiten Raum einnimmt. Vgl. zu Augsburg bereits Steinthal 1911 (wie Anm. 15), S. 54: „Daher blieb diesen [den Juden, G. M.], von Handel und Handwerk ausgeschlossen, nichts übrig als das Geldgeschäft“; Straus 1939 (wie Anm. 15), S. 98 und S. 176: Die Bestimmungen des Stadtrechts zeigen demnach, dass die Wirtschaftstätigkeit der Juden „assumed the one-sided feature of money-lending“; und zuletzt Mütschele 1996 (wie Anm. 2), die auf Tätigkeitsfelder der Juden neben der Geldleihe vor 1350 nur am Rande eingeht. Vgl. jedoch bereits mit Hinweisen auf den Warenhandel Grünfeld 1917 (wie Anm. 15), S. 23 und den knappen Überblick in GJ II/1, S. 35.

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eines funktionierenden Gemeindelebens belegen.19 Gleichwohl finden sich in Augsburg auf christlicher Seite eine reiche Urkundenüberlieferung und eine große Zahl sogenannter serieller Quellen, d. h. in erster Linie Schriftgut, das der rechtlichen und wirtschaftlichen Dokumentation von Verwaltungsakten diente. Neben dem Stadtbuch, dessen Einträge bis in das 15. Jahrhundert reichen20, und dem bereits genannten Bürgerbuch ist hierbei an das Achtbuch21, mehrere Rechnungsbücher städtischer, bayerischer und Tiroler Provenienz22 sowie an das erste erhaltene Steuerbuch von 134623 zu denken. Auf der Grundlage dieser Quellen werden im Folgenden die wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder der Augsburger Juden zwischen 1276 und 1348 näher beleuchtet, wobei zunächst der familiär-gemeindliche und rituell-religiöse Bereich (II.) und im Anschluss daran das weite Feld der jüdisch-christlichen Interaktion (III.) untersucht wird, ehe ein kurzes Fazit (IV.) den Beitrag beschließt. Die jeweiligen stadtgeschichtlichen Implikationen sowie die be-

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In Responsen lassen sich vor allem Gemeindebedienstete, aber auch Handwerker und Händler nachweisen. Die Waren umfassten u. a. Fuchs- oder Schaffelle bzw. -wolle, Pferde, Ochsen und Blei (vgl. die Responsen bei Moses Hoffmann: Der Geldhandel der deutschen Juden bis zum Jahre 1350. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter, Leipzig 1911 (Staats- und Sozialwissenschaftliche Forschungen 152), Nr. 53, S. 161 f.; Nr. 57, S. 163; Nr. 108, S. 183; Nr. 131 und 133, S. 190; Nr. 142, S. 192 f.; sowie Nr. 152, S. 197). Vgl. zum Handwerk auch ebd., Nr. 64, S. 168 f. und ausführlich Toch 2008 (wie Anm. 17), S. 207. 20 Vgl. oben Anm. 1 sowie zuletzt Cramer-Fürtig 2006 (wie Anm. 3), S. 40. 21 Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Schätze Nr. 81 (Achtbuch). Das Achtbuch enthält Aufzeichnungen aus der Zeit zwischen 1302 und 1419 über Personen, die sich dem Gericht entzogen haben, nach einem Verfahren geächtet wurden oder deren Acht aufgehoben wurde. Vgl. Cramer-Fürtig 2006 (wie Anm. 3), S. 44 sowie Felicitas Schmid-Grotz: Das Augsburger Achtbuch. Ein Herrschaftsmedium der mittelalterlichen Stadt und sein kommunikativer Kontext. Diss. phil. Augsburg 2009. Juden tauchen vor allem nach den Verfolgungen während des Schwarzen Todes im Achtbuch auf. Vgl. für die Zeit nach 1350 zuletzt Jörg R. Müller: „Sex and Crime“ in Augsburg. Das Komplott gegen den Juden Joehlin im Jahre 1355, in: Frank G. Hirschmann/Gerd Mentgen (Hg.): „Campana pulsante convocati“. FS anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, Trier 2005, S. 395–419, der einen im Achtbuch dokumentierten Erpressungsversuch durch den Juden Lemmlin von Speyer und weitere Fälle von geächteten Juden behandelt. 22 Aus Augsburg selbst stammen die Baumeisterrechnungen (vgl. Anm. 8). Ein bayerisches Rechnungsbuch aus den 1290er Jahren ist ediert bei Edmund Freiherr von Oefele: Rechnungsbuch des oberen Vicedomamtes Herzog Ludwigs des Strengen 1291–1294, in: Oberbayerisches Archiv 26 (1865/66), S. 272–344. Zu den Tiroler Rechnungen vgl. Franz Bastian (Bearb.): Oberdeutsche Kaufleute in den älteren Tiroler Raitbüchern (1288–1370). Rechnungen und Rechnungsauszüge samt Einleitungen und Kaufmannsregister, ND d. Ausg. München 1931, Aalen 1973 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 10); Otto Stolz (Bearb.): Der geschichtliche Inhalt der Rechnungsbücher der Tiroler Landesfürsten von 1288–1350, Innsbruck 1957 (Schlern-Schriften 175); und Christoph Haidacher (Bearb.): Die älteren Tiroler Rechnungsbücher, 3 Bde., Innsbruck 1993/1998/2008 (Tiroler Geschichtsquellen 33/40/52). 23 Vgl. Anm. 11 und zuletzt Cramer-Fürtig 2006 (wie Anm. 3), S. 62.

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sonderen Charakteristika des jüdischen Gemeindelebens werden in den Ausführungen stets mitberücksichtigt.

II. Jede Judengemeinde benötigte Personen, die durch die Bereitstellung von Dienstleistungen ein intaktes Gemeindeleben gewährleisteten. Diese Funktionsträger dienten religiösen Interessen, wie der Vorsänger (auch chasan oder Vorbeter), dem die Leitung des Gottesdienstes in der Synagoge oblag. Des Weiteren mussten Aufgaben innerhalb der jüdischen Selbstverwaltung erfüllt werden. Diese nahm beispielsweise der Schulkopfer – auch schammasch oder Gemeindediener genannt – wahr, der öffentlich zum Gottesdienst und zu Feierlichkeiten rief, bei Bedarf die Gemeindeversammlung organisierte, als Ausrufer ritueller und allgemeiner Angelegenheiten fungierte oder bei der Erhebung der Steuern mitwirkte.24 Darüber hinaus wurden Personen benötigt, welche die Betreuung der gemeindlichen Institutionen (wie des Hospitals) und die Versorgung mit rituell einwandfreien Lebensmitteln sicherstellten. Letztere waren die Schächter oder shohatim, die für jede Judengemeinde unabdingbar waren, indem sie Fleisch entsprechend den Speisegesetzen verarbeiteten. Da diese nur jene Tiere als Nahrungsmittel erlauben, die eindeutig als rein (also tahor) klassifiziert sind, musste ein Schächter in der Lage sein, eine entsprechende Bewertung des Tieres auf Fehlbildungen hin vorzunehmen und es entweder als kascher, d. h. zum Verzehr geeignet, oder als trefah, d. h. als verbotene Speise, zu deklarieren.25 Das Schlachten selbst durfte dem Tier möglichst wenig Leid zufügen; gleichzeitig musste dessen rückstandsloses Ausbluten gewährleistet sein, was auf das biblische Verbot des Konsums von Blut zurückzuführen ist.26 Die angeführten Tätigkeiten bildeten eine Grundvoraussetzung jüdischen Lebens, so dass die Ansässigkeit von Personen, die diese Aufgaben ehrenamtlich oder vergütet ausüben konnten, „ein Anliegen der ganzen Gemeinde [war]“.27 Die Gemeinde kam zudem – wie im Fall des Vorsängers, Schulklopfers und zuweilen des Schächters – für die Vergütung 24 Vgl. Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim: (Art.) Die jüdische Gemeinde, Gesellschaft und Kultur, in: Breuer/Guggenheim/Maimon 2003 (wie Anm. 17), S. 2079–2138, hier S. 2086 f. und S. 2092 f. 25 Vgl. allgemein und mit weiterer Literatur Harry Rabinowicz (u. a.): (Art.) Shehitah, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 18: San–Sol, 2. Aufl. 2007, S. 434–437 und Rela Mintz Geffen/ Harry Rabinowicz (u. a.): (Art.) Dietary Laws, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 5: Coh–Doz, 2. Aufl. 2007, S. 650–659 sowie zur biblisch begründeten Unterscheidung eines reinen von einem unreinen (tame) Tier ebd., S. 650 und S. 652–655. 26 Vgl. Gen. 9,4; Lev. 7,26–27 und 17,10–14; sowie Deut. 12,23–25. 27 Michael Toch: Geldleiher und sonst nichts? Zur wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters, in: Shulamit Volkov/Thomas Zotz (Hg.): Zur Sozial- und Begriffsgeschichte des Mittelalters, Gerlingen 1993 (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 22), S. 117–126, hier S. 119.

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auf, falls sie über das hinausging, was die eigentlichen Abnehmer der Dienstleistungen bezahlten.28 Da jedoch neben mittellosen Juden die Vorsänger großer Gemeinden und oftmals Bedienstete, Lehrer und Schreiber von den Steuern befreit waren29, tauchen sie im überlieferten Schriftgut kaum auf. Für die Augsburger Judengemeinde, die um 1346 etwa 150 Mitglieder gehabt haben dürfte30, finden sich erste Hinweise auf derartige Beschäftigte im Stadtrechtsbuch von 1276.31 Darin wurde den Juden gestattet, jegliches Vieh zu schlachten, das sie benötigten, ganz gleich ob Rinder, Schafe oder Kälber. Was sie nicht behalten wollten, durften sie an einer eigenen Fleischbank veräußern, aber nur falls der Verkauf durch einen Juden erfolgte, der sich durch einen besonderen Hut als solcher kenntlich machte.32 Die ihnen aus religiösen Gründen nicht erlaubten und damit nicht benötigten Fleischteile durften die Juden demnach verkaufen. Diese Praxis findet sich auch in vielen anderen Orten, was in einigen Fällen zu einer Klage der christlichen Metzger vor dem jeweiligen Rat oder Landesherren führte, da sie sich durch die jüdische Konkurrenz benachteiligt fühlten.33 In Augsburg herrschten offenbar andere Verhältnisse. Hierauf deutet ein späterer Nachtrag zum genannten Stadtrechtsartikel hin, mit dem der Vogt und die Bürger der Stadt unter Rückgriff auf eine Bestimmung des Bischofs folgendes festlegten: Den Juden blieb es weiterhin erlaubt, ihr nicht benötigtes Fleisch zu verkaufen; es durfte jedoch nur von Personen erworben werden, die es an der jüdischen Fleischbank kauften und für ihren Eigenverbrauch benötigten. Der Weiterverkauf wurde für Fleischhändler oder Metzger unter Androhung einer Geldstrafe an den Burggrafen, den Vogt und die Stadtgemeinde untersagt. War der Betreffende kein Fleischhändler oder Metzger, der dem Burggrafenrecht unterstand, drohte ihm eine Geldstrafe an den Vogt und die Stadtgemeinde oder – im Falle einer Nichtbezahlung – ein einjähriger Stadtverweis.34 Anscheinend hatten einige Personen versucht, 28

Breuer/Guggenheim 2003 (wie Anm. 24), S. 2092. Ebd., S. 2096. 30 Die Schätzung nach Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 2), S. 32 auf der Grundlage der namentlich genannten Juden in der Steuerliste von 1346. 31 Vgl. allgemein zu den Bestimmungen bezüglich der Juden Mütschele 1996 (wie Anm. 2), insbes. S. 55–64 und Christine Magin: „Wie es umb der iuden recht stet“. Der Status der Juden in spätmittelalterlichen Rechtsbüchern, Göttingen 1999, S. 99–102. 32 „Swaz ein iude vleisches sleht, ez si rinderin, schaefin oder kelberin, daz sol er selbe toeten; unde swaz er sin niht enwil, da suln die iuden einen besundern banch zu haben, unde sol ein iude darobe sten unde daz verkaufen unde kein cristen, unde der selbe iude sol einen iudenhuot ufe haben“ (Meyer 1872 [wie Anm. 1], Art. 19, § 13, S. 57). Einzelne, namentlich bekannte Fleischer tauchen erst nach 1350 in den Steuerbüchern auf (vgl. mit Nachweisen Mütschele 1996 [wie Anm. 2], S. 98, Anm. 177). 33 Vgl. die Beispiele bei Magin 1999 (wie Anm. 31), S. 344 ff. sowie mit weiteren Fällen das entsprechende Kapitel bei Gregor Maier: Wirtschaftliche Tätigkeitsfelder von Juden im Reichsgebiet (ca. 1273 bis 1350) (Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden: Studien und Texte 1), Trier 2010. 34 „Swelch flaichs den iuden niht fueget daz si hin gebent, daz daz nieman kauffen sol, der ez anderstunt verkauffen welle; wil er ez selb ezzen in sinem hause, so mag er ez wol kauffen 29

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aus dem billigen Ein- und direkten Weiterverkauf des Fleisches Profit zu schlagen, was die christlichen Fleischer dazu veranlasste, eine entsprechende Verordnung durch die einflussreichsten Herrschaftsträger der Stadt zu erwirken. Abgesehen hiervon und von den umfangreichen Bestimmungen zur Geldleihe finden sich zwei weitere interessante Einträge im Stadtrechtsbuch, von denen der erste jüdische Badeeinrichtungen, der zweite den Weinschank betrifft. Wenngleich jüdische Kalt- oder Warmbäder in vielen Orten überliefert sind35, schweigen die Quellen über die dortigen Bediensteten fast ausnahmslos. Dabei steht außer Frage, dass in diesen Einrichtungen jüdisches Personal auf unentgeltlicher oder entgeltlicher Basis beschäftigt werden musste, wofür Augsburg einen der wenigen überlieferten Fälle für die Zeit um 1300 darstellt. Bereits im Stadtrecht von 1276 wird festgelegt, dass Juden und Christen keine gemeinsamen Bäder benutzen durften.36 Mehr als 14 Jahre später, im Dezember 1290, erlaubte der Stadtrat den Juden auf deren dringende Bitte hin, ein eigenes Warmbad zu bauen, das sich beim christlichen Spitalbad befinden sollte und in dem sowohl sie selbst als auch ihre jüdischen und christlichen Bediensteten („ir gesinde, die ir brot ezzent, iuden und christen“) sowie auswärtige Juden („iuden von fremden landen und fremden steten“) baden durften. Ein höchstwahrscheinlich jüdischer „wirt, der danne des badhouses phleger“ war, sollte dafür sorgen, dass außer den Bediensteten keine Christen dieses Bad benutzten, andernfalls er eine Geldstrafe an den Vogt und die Stadtgemeinde zu entrichten hatte.37 Zusammen mit einem „pader“ und einer „patmayt“, die in einer Liste Nürnberger Judenbürger vom September 1338 genannt werden38, ist dies einer der wenigen Belege in den Quellen christlicher Provenienz, der in dieser Zeit auf Beschäftigte jüdischer Badeeinrichtungen hindeutet. ane schaden, und solz auch von den iuden nindert kauffen wan auf ir flaichsbanch, als diu hantveste sait. Swer daz darueber braeche, mag man daz hintz dem bringen als reht ist, ist daz ain flaichsmanger, der ist dem burgraven siner kaltnusse schuldik und darzu dem vogte und der stat aines phundes phenninge. Ist ez ain ander man, der niht in daz burgravenreht hoeret, der ist dem vogte und der stat schuldik aines phundes. Mag aver er der galtnusse niht gehaben, so sol er ain iar ouz der stat sin“ (Meyer 1872 [wie Anm. 1], Art. 19, § 13, S. 57f.). 35 Sogenannte mikwaot und andere Badeeinrichtungen sind vor 1350 nachweisbar in Erfurt (GJ II/1, S. 218), Frankfurt a. M. (ebd., S. 244), Köln (ebd., S. 426), Mainz (ebd., II/2, S. 516), Nürnberg (ebd., S. 602), Regensburg (ebd., S. 686), Worms (ebd., S. 923) und vielen weiteren Orten. 36 Meyer 1872 (wie Anm. 1), Art. 19, § 14, S. 58. 37 Ebd. Da auch Christen dieses Bad benutzen durften, handelte es sich nicht um ein rituelles Bad. Vgl. Klaus Lohrmann: Begegnungen zwischen Christen und Juden, in: Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen 4 (1999/2000), S. 55–70, hier S. 60, der zu Recht darauf verweist, dass dieser Fall „die vom kanonischen Recht gesetzte Norm [durchbricht]“. Vgl. ferner, allerdings ohne Thematisierung des „wirtes“, Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 154 f. 38 Ediert bei Moritz Stern: Die israelitische Bevölkerung der deutschen Städte. Ein Beitrag zur deutschen Städtegeschichte. Mit Benutzung archivalischer Quellen, Bd. 3: Nürnberg im Mittelalter, Kiel 1894/96, S. 14–19, hier S. 19.

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Der zweite Stadtrechtseintrag befasst sich mit der Verwertung von Wein durch Juden. Sie erhielten die Erlaubnis, öffentlich Wein auszuschenken, wofür sie von jeder Wagenladung zwölf Pfennige und eine kleine Menge Wein an den Burggrafen entrichten sollten.39 Diese Bestimmung war für die Juden von essentieller Bedeutung, da sie Wein, der etwa durch Kreditgeschäfte mit Christen in ihren Besitz gelangt war, aus religiösen Gründen nicht konsumieren durften.40 Zudem wurden sie damit gegenüber den nicht professionell tätigen christlichen Weinschenken besser gestellt, da letztere eine Gebühr in gleicher Höhe bezahlen mussten, zusätzlich aber die Erlaubnis des Burggrafen einzuholen hatten.41 Auf der normativen Ebene, die durch die christlichen Herrschaftsträger festgesetzt, von den Juden aber gemäß ihren Bedürfnissen sicherlich mit geformt wurde, fand die Augsburger Judengemeinde daher während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts alle Rahmenbedingungen vor, um ein funktionierendes Gemeinde- und Wirtschaftsleben zu gewährleisten. Es stellt sich die Frage, wie sich dies auf der faktischen Ebene gestaltete, jenseits aller Rechtsetzungsansprüche, die im Stadtbuch zu finden sind. Hierüber geben ebenfalls vor allem die in Augsburg reichlich fließenden Quellen vom Typus des Verwaltungsschriftgutes Aufschluss. Im bayerisch-schwäbischen Raum ist wie in anderen Regionen mehrfach bezeugt, dass Juden Wein anstelle von Geld als Kapitalrückzahlung erhalten hatten, den sie anschließend weiterverkauften. Ein diesbezüglich interessantes Beispiel stammt aus dem etwa 60 km nordöstlich von Augsburg, in der Nähe von Pfaffenhofen an der Ilm gelegenen Kloster Scheyern. Wie aus den dortigen Rechnungsbüchern hervorgeht, wurde dieses Kloster um Ostern 1339 von Augsburg aus mit Wein versorgt, wofür ein gewisser Wölflin (wohl ein Christ) als Zahlungsempfänger ausgewiesen ist.42 Das Kloster stand zudem in Geschäftsbeziehungen zu einem namentlich nicht genannten Juden. Für eine relativ geringe Menge Wein wurde im Jahr 1339 die hohe Summe von 19 Pfund Veroneser Pfennigen bezahlt.43 Wenngleich Ablauf und Umfang dieser Transaktion nicht eindeutig rekonstruierbar sind44, so ist doch 39

Meyer 1872 (wie Anm. 1), Art. 135, § 2, S. 218. Vgl. Steinthal 1911 (wie Anm. 15), S. 61 und Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 91. 40 Der Wein für den jüdischen Konsum erforderte eine koschere Verarbeitung der Trauben. Vgl. zu diesem Themenkomplex Annegret Holtmann: Juden in der Grafschaft Burgund im Mittelalter, Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 12), S. 247 f. und Haym Soloveitchik: Halacha, Tabu und der Ursprung der jüdischen Geldleihe in Deutschland, in: Cluse 2004 (wie Anm. 2), S. 322–332 (jeweils mit weiterer Literatur). 41 Meyer 1872 (wie Anm. 1), Art. 142, S. 222. 42 Michael Toch (Hg.): Die ältesten Rechnungsbücher des Klosters Scheyern (1339–1363), München 2000 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte 36/3), Nr. 710, S. 44. 43 „Item emit iudeo IIII urnas et III pacidas pro XVIIII lb. Veronensium, quibus inclusis dedit iudeo III carradas vini et dimidiam urnam“ (ebd., Nr. 24, S. 2). 44 Sowohl die Rolle des Juden als auch die des Klosters in diesem Geschäft sind nicht genau nachvollziehbar. Ebenso unklar ist der Bezug des genannten Juden zu weiteren in

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Abb. 1: Vorderansicht des Ledereinbands des Achtbuches (1302–1419, mit Einträgen bis Ende des 15. Jh.), Messingbeschlag in der Mitte mit symbolischer Darstellung einer geächteten Person. © Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Schätze Nr. 81, Achtbuch.

klar, dass der Jude aktiv in den Weinhandel mit dem bayerischen Kloster involviert war. Augsburger Juden kamen durch ihre Kredit- und Handelsgeschäfte ebenfalls in den Besitz von Wein. Ein Heinrich Potzner hatte im Jahr 1312 im Auftrag der Tiroler Grafen 13 Fuhren Wein in die schwäbische Kathedralstadt schicken lassen. Die Lieferung wurde den dortigen, nicht weiter spezifizierten Juden im Namen eines gewissen Lechsberger übergeben. Dieser hatte bei den Juden für die Grafen um eine Schuld von 400 Mark Veroneser Währung gebürgt, so dass die Weinfuhre als Teilrückzahlung der Schuld bzw. Bürgschaft fungierte.45 der Rechnung auftauchenden Einträgen, die unter anderem im Zusammenhang mit seinen Gefäßen („vasis“), seinem Diener („servo“) und mit der Verköstigung seines Weines („pro gustacione vini iudei“) stehen. Vgl. die Rechnungsposten ebd., S. 3 sowie zur Frage nach der Rolle des Juden bzw. des Klosters Ders.: „Hauling Away in Late Medieval Bavaria“. The Economics of Inland Transport in an Agrarian Market, in: Agricultural History Review 41 (1993), S. 111–123, hier S. 118. 45 „Item Heinricus dictus Potzner […] duxit vini carradas XIII de Got de Enna et datum fuit iudeis de Augusta ex parte Lechspergerii“ (Bastian 1973 [wie Anm. 22], Nr. 28, S. 141). Vgl. Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 91.

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Darüber hinaus ist bezeugt, dass Augsburger Juden, wie im Stadtrecht vorgesehen, öffentlich Wein ausschenkten. Das Achtbuch enthält zum Juli 1347 einen Vermerk über den Juden Samuel. Der Stadtrat beschloss demnach, den Juden mitsamt seiner Familie wegen ihrer „boshait und missetat“, die nicht weiter aufgeführt sind, auf ewig der Stadt zu verweisen. Im Falle einer Übertretung dieses Verbots drohte der Rat den Juden mit einer Gefängnisstrafe, woraufhin über sie nach Ermessen des Rates und dem Recht der Juden („nach des rates rat und der iuden als reht ist“) gerichtet werden sollte. Samuel wird in diesem Eintrag als Weinschenk bezeichnet.46 Da der Jude vor 1350 lediglich dieses eine Mal in den Quellen auftaucht und im Gegensatz zu den vielen namentlich bekannten jüdischen Geldleihern in Augsburg nicht als solcher zu fassen ist, handelt es sich hierbei vielleicht um einen Weinschenken, dessen Zuständigkeit in der innergemeindlichen Versorgung mit koscherem Wein lag. Für eine solche Gemeindetätigkeit Samuels spricht zudem die Tatsache, dass er nicht in der Steuerliste auftaucht, die nur ein Jahr zuvor aufgezeichnet wurde, was darauf hindeutet, dass er anders als die übrigen Haushaltsvorstände nicht fiskalisch erfasst wurde.47 In diesen gemeindlichen Konnex gehört vermutlich auch ein Jude namens Joseph von Kaufbeuren, der in einer Urkunde aus dem Jahr 1361 erwähnt wird. Darin ist die Rede von einem Haus in Augsburg, das einst Joseph gehört hatte. Der Jude wird in dem Dokument als „Schermer“ bezeichnet, was vielleicht auf eine Tätigkeit Josephs als Augsburger Gemeindediener in der Zeit vor 1348 hindeutet.48 46

„[…] ham die ratgeben […] disiu stat ane alle gnad ewiclich verboten Sanvel dem winschencken, Truten siner wirtin, Judas sinem sun und der artzatin, siner wirtin, und Minnen, des vorgnannten Sanvels tohter, den iuden und iudin ze Augsburg […]“ (Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Schätze Nr. 81 [Achtbuch], fol. 59b). Vgl. Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 98. Üblicherweise oblag die Verhängung der Acht dem Vogt (vgl. Karin Schneider-Ferber: Das Achtbuch als Spiegel für städtische Konfliktsituationen? Kriminalität in Augsburg (ca. 1348–1378), in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 86 (1993), S. 45–114, hier S. 46 und S. 102). Da die Stadträte die Bestrafung aussprachen und zudem kein Kläger bzw. Geschädigter genannt wird, war der Rat in diesem Fall womöglich auf eigene Initiative tätig geworden. Christa Petschko: Galgen und Schlachtfelder. Der gewaltsame Tod in den Chroniken der Stadt Augsburg 1368–1468, in: Medium Aevum Quotidianum 42 (2000), S. 52–84, hier S. 66 sieht darin das gängige Vorgehen des Rates in Fällen ohne Kläger. Vgl. Müller 2005 (wie Anm. 21), S. 400, wonach dies beim Erpressungsversuch durch Lemmlin von Speyer 1355 vielleicht ebenfalls zutraf. 47 Der in der Liste genannte Salman von Kaufbeuren, der „ainen garten bi der Juden kirchof“ versteuerte (Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Steueramt, Rechnungen [Steuerbücher] 1346, fol. 17va), war wohl nicht identisch mit dem geächteten Samuel, da im Achtbuch nicht Kaufbeuren als Herkunftsort genannt wird. In der Steuerliste tauchen mehrere namentlich genannte Juden auf, darunter mit Kratzer, Sprinz, Lamb und seinen Söhnen, dem Maier, Köpflin und Ganser die wohlhabendsten der Stadt (vgl. Anm. 11 und Anm. 30). 48 Die Urkunde nennt eine Augsburger „hofsach, die ettwenn Joseps dez Schermers von Bueren des juden waz“ (Meyer, Bd. II, 1874 [wie Anm. 1], Nr. 557, S. 98 f., hier S. 98). „Schermer“ bedeutet Schützer oder Verteidiger und könnte im Zusammenhang mit der Tätigkeit eines Gemeindedieners stehen, wie GJ II/1, S. 392 annimmt.

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Ebenfalls Aufgabenbereiche innerhalb der jüdischen Gemeinde dürften jene Personen wahrgenommen haben, deren Tätigkeiten wie die des Badehausverwalters im medizinischen Bereich lagen. Das Steuerbuch von 1346 enthält eine Auflistung von ca. 2750 Bürgern und 91 Pfahlbürgern, also außerhalb der Stadt wohnenden, aber am Bürgerrecht teilhabenden Personen. Neben dem fiskalisch erfassten Gut des Klerus sind darin die Steuerleistungen der jüdischen Gemeinde und mehrerer einzelner Juden angegeben. Gleich im ersten Eintrag findet sich eine Apotheke, die von den Juden für 100 Pfund versteuert wurde.49 Damit könnte einerseits ein Laden zum Verkauf von Gewürzen und weiteren Gütern gemeint sein; andererseits wurden auch Orte für den Vertrieb von Arzneien bzw. Kräutern mit diesem Namen bezeichnet. Die Frage schließlich, ob es sich bei dieser Apotheke um eine Einrichtung im Besitz der Juden handelte, die sie vermieteten50, oder ob die Gemeinde selbst eine solche Einrichtung betrieb, ist unklar. Letzteres kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Wesentlich greifbarer sind diejenigen Belege, die auf die Existenz von jüdischen Ärzten in Augsburg bereits vor 1350 hinweisen. In dem oben erwähnten Eintrag in das Achtbuch, mit dem der Jude Samuel der Stadt verwiesen wurde, sind die Mitglieder seiner Familie namentlich aufgeführt. Neben Samuel selbst waren seine Frau Trude, ihre Tochter Minne sowie ihr Sohn Judas mitsamt dessen Frau von der Ausweisung betroffen. Wenngleich der Name von Samuels Schwiegertochter nicht genannt wird, so ist doch bekannt, welchem Berufszweig sie angehört haben dürfte: Sie wird explizit als „artzatin“ bzw. Ärztin bezeichnet.51 Ein weiterer jüdischer Arzt, der höchstwahrscheinlich aus Augsburg stammte, lässt sich in den Rechnungsbüchern der Tiroler Landesfürsten ermitteln. Diese Aufstellungen über Zahlungseingänge und Ausgaben enthalten vor allem Zölle, Amtsrechnungen und Schuldverschreibungen. In der Übersicht eines Kämmerers aus der Zeit zwischen 1300 und 1303 findet sich eine Reihe von Medizinern und Apothekern, die für die Behandlung der Grafen oder der Angehörigen des Hofes und die Lieferung von Arzneien entlohnt wurden. Neben mehreren christlichen Medizinern, die vorwiegend aus dem Südtiroler und oberitalienischen Raum sowie aus München und anderen Teilen Bayerns stammten, werden ein nicht weiter spezifizierter „Judeus medicus“ sowie ein „Judeus fisicus de Augusta“ erwähnt.52 Inwieweit die Berufsbezeichnungen synonym verwendet werden, kann auf der Grundlage der 49

Unter der Überschrift „Daz sint der Juden Guot“ lautet der Eintrag „Item des ersten verstiurent si die appoteck fuer C lb. dn.“ (Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Steueramt, Rechnungen [Steuerbücher] 1346, fol. 17rb). Ob „si“ die jüdische Gemeinde oder mehrere einzelne Juden bedeutet, ist unklar. 50 Dies vermutet Grünfeld 1917 (wie Anm. 15), S. 10. 51 Vgl. Anm. 46. Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 98 erwähnt zwar Samuel, nicht jedoch seine Schwiegertochter. 52 Stolz 1957 (wie Anm. 22), S. 62.

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beiden Einträge nicht entschieden werden. Womöglich kam hier jedoch die Unterscheidung in einen wissenschaftlich ausgebildeten („physicus“) und den eher volksheilkundlich tätigen Mediziner („medicus“) zum Tragen, die seit Ende des 12. Jahrhunderts geläufig ist.53 Sollte diese Unterscheidung zutreffen, hatte der aus Augsburg stammende Jude wahrscheinlich in Italien studiert, ehe er in Tirol tätig wurde. Nicht nur ihre Glaubensgenossen selbst zählten somit zu den Patienten jüdischer Ärzte, sondern auch Christen, die oftmals hohen gesellschaftlichen Kreisen entstammten. Dies war trotz diesbezüglicher Verbote weltlicher- und kirchlicherseits, die auf eine lange Tradition und unterschiedlichste Motive zurückgingen54, eine gängige Praxis. Die Beschäftigung jüdischer Ärzte durch christliche Herrschaftsträger lässt sich für die Zeit vor 1350 vor allem in seriellen Quellen belegen, wie sie in Tirol außerordentlich reich, aber auch in anderen Regionen wie Savoyen oder den Niederlanden55 überliefert sind.

III. Bislang wurden vor allem Erwerbsfelder thematisiert, die in einem engen Zusammenhang zum familiär-gemeindlichen und rituell-religiösen Leben stehen. Das letztgenannte Beispiel aus der Medizin deutet aber bereits darauf hin, dass Juden im Rahmen ihrer Tätigkeiten durchaus Christen zu ihrem Kundenkreis zählen konnten. Im Folgenden wird daher der Aspekt der jüdischchristlichen Interaktion beleuchtet, der gerade auf dem Feld der Ökonomie gut fassbar ist. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Inhalten des Stadtbuchs von 1276 finden sich dort erste Hinweise, die auf eine Handelstätigkeit der Augsburger 53

Vgl. Heinrich Schipperges: (Art.) Medizin, Westen (unter Einbeziehung der arabischen Medizin), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6: Lukasbilder–Plantagenet, München/Zürich 1993, Sp. 452–459, hier Sp. 454. 54 Vgl. den Überblick bei Magin 1999 (wie Anm. 31), insbes. S. 335–342. 55 In den Niederlanden hielten sich mindestens drei jüdische Ärzte in adligen Kreisen auf. Genannt werden der Jude Elijah von London zur Behandlung Graf Johanns (um 1280), ein gleichnamiger Meister Elijah sowie „meester Ystorc“, der wahrscheinlich ebenfalls Jude war und 1330/31 in den gräflichen Rechnungen als „arsater“ und Händler auftaucht (vgl. mit weiterer Literatur Christoph Cluse: Studien zur Geschichte der Juden in den mittelalterlichen Niederlanden, Hannover 2000 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 10), S. 113). In der Transitregion Savoyen bewegten sich, wie ebenfalls aus Rechnungsbüchern hervorgeht, zwischen 1271–1348 mindestens acht jüdische Ärzte im engsten Umfeld des Hofes und behandelten die Grafen bzw. deren Angehörige. Belegt sind ein jüdischer „surulgianum“, der 1271/72 für Pflegetätigkeiten bezahlt wird, ein „sirurgico“ (1304), die Ärzte Samson (1310), Helye (1317/18), Dieulesaint aus Paris (1339/40), Salomon und Isaac (1342) sowie Balavigny aus Thonon (1348). Vgl. mit Nachweisen Thomas Bardelle: Juden in einem Transit- und Brückenland. Studien zur Geschichte der Juden in Savoyen-Piemont bis zum Ende der Herrschaft Amadeus’ VIII., Hannover 1998 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 5), S. 205 f.

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Juden schließen lassen. Die Pfänder, die sie im Rahmen der Geldleihe ohne zusätzliche Bürgschaft erhalten hatten und die dem Wert des Darlehens entsprachen, sollten sie mindestens ein Jahr und einen Tag behalten. Schien ihnen der Wert des Pfandes zu gering, konnten sie vor dem Burggrafen die Bereitstellung zusätzlicher Sicherheiten einklagen oder aber das Pfand verkaufen.56 Einen Sonderfall stellen Pferde dar, die ebenfalls als Pfänder versetzt werden konnten.57 Ein auf diese Weise in den vorübergehenden Besitz des Juden gelangtes Tier war bei einem neutralen Fütterer unterzubringen und zusätzlich mit Bürgschaften abzusichern. Geschah dem Pferd etwas, das auf die Schuld des Juden zurückzuführen war, zeichnete dieser für den Schaden verantwortlich; andernfalls hafteten der Schuldner des Juden und dessen Bürgen.58 Im Einklang mit dieser wiederum normativen Ebene des Stadtrechts finden sich tatsächlich mehrere Belege für eine Verpfändung von Pferden bei Augsburger Juden. Aus den bayerisch-herzoglichen Rechnungsbüchern geht hervor, dass Ludwig II. von Oberbayern (1253–1294) Anfang der 1290er Jahre mehrfach Streitrösser bei den Juden versetzte. Um 1291 bezahlten vier Bürger aus dem niederbayerischen Rattenberg 40 Mark Veroneser Währung an den herzoglichen Hof. Diese Summe wurde direkt an einen der in Augsburg sehr einflussreichen Brüder Lang weitergeleitet, der sie den Juden zur Auslösung der bei ihnen versetzten Pferde aushändigen sollte.59 Auch der bedeutende Jüdlin von Augsburg, der in der Zeit nach 1300 zusammen mit dem Juden Lamb umfangreiche Finanztransaktionen tätigte und dadurch sogar zeitweise in den Besitz der Münchener Stadtsteuer kam60, erhielt für Kredite an das 56 „Ist ez ir [der geliehenen Pfennige, G. M.] niht waert, so mag er dem burggrafen wol clagen, daz man im mehr phandes gaebe oder daz er ez mit rehte verkaufe“ (Meyer 1872 [wie Anm. 1], Art. 19, § 3, S. 54). 57 Bei Pferden ist zu dieser Zeit zu unterscheiden in Reittiere, die vor allem in der Nachrichtenübermittlung und für Kriegsdienste Verwendung fanden, und in Nutztiere, die als Last- bzw. Saumtier und im Bereich der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Die als lebendige Pfänder versetzten Pferde waren wohl in der Mehrzahl Großpferde mit einem Stockmaß ab 148 cm und in vielen Fällen Streitrösser, wie auch in Augsburg nachzuweisen ist. Vgl. das Beispiel im Folgenden sowie allgemein den Überblick bei Dieter Hägermann: (Art.) Pferd, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, 1993 (wie Anm. 53), Sp. 2029 f. sowie Angela Waidmann: Das edelste und nützlichste Tier, in: Damals 32/4 (2000), S. 62–65. 58 „Lihet ein iude sine phenninge uf ein ros, das sol er zeim fueterer stellen unde sol burgen daruf naemen. Geschiht dem rosse iht von des iuden schulden, den schaden sol der iude haben. Geschiht aber dem rosse iht an des iuden schulde, den schaden sol der selpschol haben unde sine burgen“ (Meyer 1872 [wie Anm. 1], Art. 19, § 5, S. 55). 59 „[…] date sunt Longo, civi Augustensi, in absolucione dextrariorum ad iudeos obligatorum“ (Oefele 1865/66 [wie Anm. 22], S. 282). Vgl. GJ II/1, S. 34 und Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 84. Die „dextrarii“ waren Streit- bzw. Schlachtrösser mit einem in dieser Zeit üblichen Stockmaß von ca. 160 cm (Waidmann 2000 [wie Anm. 57], S. 63). 60 Um 1300 waren Jüdlin und Lamb wahrscheinlich die wohlhabendsten Augsburger Juden mit sehr weitreichenden Kontakten. Als die Grafen von Tirol den oberbayerischen Herzögen Rudolf und Ludwig die Tiroler Burg Rattenberg abkauften, gehörten die bei-

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bayerische Herzogshaus mindestens einmal ein Pferd als Pfand. Im Jahr 1293 bekam er unter anderem für ein Streitross – ob ihm dieses verpfändet worden war und er es nun zurückgab oder ob es bei ihm gekauft worden war, geht aus dem Eintrag nicht hervor – 122,5 Pfund.61 Die genannten Beispiele für die Verpfändung von Pferden deuten bereits darauf hin, dass sich die Augsburger Juden aktiv am Pferdehandel beteiligten. Dies geht wiederum aus einem Rechnungsbuch der Tiroler Landesherren hervor. Wie bereits ausgeführt, lieferte 1312 ein Heinrich Potzner im Auftrag der Tiroler Grafen 13 Fuhren Wein an die Juden, die eine Teilrückzahlung der Grafen um eine Schuld von 400 Mark Veroneser Währung darstellten. Dieser Betrag war, wie ein anderer Rechnungsposten belegt, die Kaufsumme für zwei Streitrösser, die Otto III. (bis 1310 Graf von Tirol und Herzog von Kärnten) bei den Augsburger Juden gekauft hatte. Da es sich nicht um ein Darlehen der Juden handelte, sondern um den Preis für die Pferde, sollte die Summe für einen gewissen Zeitraum zinsfrei bleiben.62 Sowohl über das Kreditwesen als auch durch Handelsgeschäfte kamen die Juden, wie im dargelegten Fall, in den Besitz fremder Münzen. Es erstaunt daher nicht, dass sie sich zudem als Geldwechsler betätigten. Für Anfang 1331 ist eine entsprechende Buchung in den städtischen Baumeisterrechnungen vermerkt. Darin heißt es, dass die Baumeister von den Juden in einem Wechden Juden zusammen mit drei Augsburger, zwei Ulmer und einem Esslinger Christen zu einem Konsortium, das den Tiroler Landesherren im Februar 1300 die hohe Summe von 1200 Mark Silber lieh (Bastian 1973 [wie Anm. 22], Nr. 14, S. 130 f.). Im Januar 1304 schuldeten die Herzöge Rudolf und Ludwig, der spätere Kaiser, Lamb und Jüdlin 4000 Pfund (Pius Dirr: Denkmäler des Münchner Stadtrechts, 2 Bde., München 1934/36 [Bayerische Rechtsquellen 1], hier Bd. I, Nr. 33). Nach einer partiellen Tilgung der Schuld, welche die Stadt München 1307 im Namen der Herzöge vorgenommen hatte (Monumenta Boica, Bd. 35/2: Monumenta civitatis monacensis, München 1894, Nr. 23), teilten die Herzöge die Schulden im Zuge der Landesteilung von 1310 auf (Hans Rall [Hg.]: Wittelsbacher Hausverträge des späten Mittelalters. Die haus- und staatsrechtlichen Urkunden der Wittelsbacher von 1310, 1329, 1392/93, 1410 und 1472, München 1987 [Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 71], S. 158–162). Im Mai 1314 hatte München mit 3600 Pfund einen großen Teil der Schuld bezahlt, ehe die Herzöge die Stadt im August des folgenden Jahres an die beiden Juden für die nächsten sechs Jahre versetzten (Dirr, Bd. I, 1934, Nr. 40 und Nr. 51). Vgl. hierzu Steinthal 1911 (wie Anm. 15), S. 57 f.; GJ II/1, S. 34; Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 2), S. 29; sowie Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 85 f. 61 „Item Juedlino iudeo […] pro dextrario dato Erringerio CXXII lb. dimidia“ (Oefele 1865/66 [wie Anm. 22], S. 313). Vgl. Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 85, Anm. 122. Andere in der Rechnung genannte Juden erhielten ebenfalls Geld für die Rückgabe von Pferden, darunter ein Benedikt, der vielleicht der gleichnamige, in dem Vertrag von 1298 genannte Sohn Jüdlins war (vgl. zu dieser Urkunde Anm. 6). 62 „Item iudeis in Augusta Veronensium marcas CD, pro quibus est fideiussor dominus Rupertus de Lechsperch, pro duobus dextrariis per quondam ducem O[ttonem] emptis. Et nota, quod hec pecunia stabit sine usura et sine dampno usque ad festum sancti Michahelis nunc futurum, et ultra illum terminum dampnum accrescet“ (Bastian 1973 [wie Anm. 22], Nr. 27, S. 138). Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 90 zitiert diesen Rechnungsposten ebenfalls, begreift ihn aber als reines Kreditgeschäft. Die Pferde bzw. deren Verkauf bleiben unerwähnt.

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selgeschäft („in cambio“) eine nicht genannte Menge von Gulden erhalten hatten, wofür sie ihnen sieben Pfund Augsburger Pfennige als Kommission bezahlen mussten.63 Neben diesen eng mit dem Kreditwesen bzw. dem Pfand- und Pferdehandel verbundenen Tätigkeiten findet sich eine Reihe von Beispielen, die eine Teilnahme der Juden am allgemeinen Handel belegen. Im schwäbisch-bayerischen Gebiet sind mehrfach jüdische Warenhändler bezeugt. Ein interessantes Beispiel stellt ein leider nicht weiter identifizierbarer Jude Jakob dar, der in den 1290er Jahren dem bayerischen Herzogshof Fische und andere notwendige Dinge verkaufte und dafür aus zuvor eingenommenen Steuern sieben Pfund Pfennige erhielt.64 Aus einer Abrechnung des landesfürstlichen Richters Rudolf aus dem Tirolerischen Prutz geht zudem hervor, dass ein namentlich nicht genannter Augsburger Jude in den Textilhandel involviert war. Für die Lieferung von Kleidern nach Tirol erhielt er im Januar 1313 eine Bezahlung von 24 Pfund.65 Besonderen Aufschluss über die Handelstätigkeiten der Augsburger Juden geben abermals die Baumeisterrechnungen. Im Juli 1328 verzeichneten die städtischen Beamten, dass sie von den Juden Köpflin und Ganser 33 Pfund Pfennige erhalten hatten. Einen Teil dieses Geldes reichten sie mitsamt den vorhergehenden Einnahmen weiter, indem sie einen Söldner aus Oettingen und einen gewissen Bonifant bezahlten. Bei letzterem handelte es sich zweifellos um einen Juden, der in anderen Posten explizit als solcher bezeichnet wird und der, wie sein Name suggeriert, vielleicht aus Frankreich zugewandert war.66 Aufschlussreich ist, dass er fünf Schilling für sogenannten „underkauf“ erhielt, also für den Kauf einer Ware und den sofortigen Wiederverkauf bzw. für die Vermittlung eines Handelsgeschäfts.67 Die wohl63 „Item in florenis, quos recepimus aput iudeos, perdidimus in cambio VII lb. dn.“ (Hoffmann 1878 [wie Anm. 8], S. 187). 64 „Item Jacobo iudeo VII lb., quas concesserat pro piscibus et aliis necessariis emptis ad curiam“ (Oefele 1865/66 [wie Anm. 22], Nr. 34, S. 297). Bei Jakob handelt es sich wahrscheinlich nicht um den gleichnamigen Sohn Lambs, der erst seit 1337 in den Quellen fassbar ist. 65 „Item iudeo de Augusta pro vestibus lb. XXIV“ (Bastian 1973 [wie Anm. 22], Nr. 153, S. 89). Vgl. GJ II/1, S. 35 und Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 97. Ob es sich hierbei wieder um Veroneser Pfennige oder eine andere Währung handelte, geht aus dem Eintrag nicht hervor. 66 Vgl. Hoffmann 1878 (wie Anm. 8), S. 23 („Boniffant iudeo“) sowie zur französischen Herkunft von Juden im Reichsgebiet Friedhelm Burgard: Zur Migration der Juden im westlichen Reichsgebiet im Spätmittelalter, in: Alfred Haverkamp/Franz-Josef Ziwes (Hg.): Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 13), S. 41–57, insbes. S. 50–53. 67 „Item recepimus aput Judeos XXXIII lb. videlicet Koephlinum et Gansarium, de illis dedimus illi de Oetingen C lb. et dicto Bonifant pro underkauf V sol. et superfluas II lb. et VI sol. recepimus nos bumaistri (Hoffmann 1878 [wie Anm. 8], S. 127). Vgl. GJ II/1, S. 35 und Mütschele 1996 (wie Anm. 2), S. 98. Allein der Söldner von Oettingen bekam demnach 100 Pfund, so dass diese Rechnung nicht aufgeht. Da es sich nicht um einen Lesefehler handelt (vgl. Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Baumeisterrechnungen [1320–1331], fol. 97b), sind wahrscheinlich zu den genannten 33 Pfund die übrigen Einnahmen vom selben Tag zu addieren.

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Abb. 2: Detailaufnahme der Nennung jüdischer Arbeiter in den ältesten Augsburger Baumeisterrechnungen. © Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Baumeisterrechnungen (1320–1331), fol. 69b.

habende Jüdin Sprinz, die Frau des Schulmeisters, die meist nur mit Darlehensgeschäften in Verbindung gebracht wird68, war höchstwahrscheinlich ebenfalls im Warenhandel aktiv. Hierauf deuten weitere Buchungen in den Baumeisterrechnungen hin. Unter der Rubrik „thelonium salis“ bzw. Salzzoll und „alia recepta“ bzw. weitere Einnahmen sind zwei Zahlungen in Höhe von jeweils 40 Pfund aufgeführt, die von Sprinz zwischen Mai 1322 und Juni 1323 geleistet wurden.69 Da sich unmittelbar vor und nach diesen Posten mehrere Abgaben von Christen finden, die allesamt „de thelonio mercatorum“ oder „pro emenda“ abzuführen waren, und sich die Abgaben der Jüdin im mittleren bis oberen Bereich dieser Gebühren bewegten70, kann davon ausgegangen werden, dass sich ihre Zahlungen auf Handelsgeschäfte – vielleicht mit Salz – bezogen. Ein abschließendes, für die Interaktion von Juden und Christen sehr interessantes Beispiel stammt aus dem Handwerk. Ebenfalls in den Baumeisterrechnungen wird zum Dezember 1325 eine Ausgabe vermerkt, die auf jüdische Handwerker oder Arbeiter in der Stadt hinweist. Darin heißt es, dass die

68 Vgl. vor allem Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 2), S. 30, der davon ausgeht, dass alle von Sprinz geleisteten Zahlungen in den Baumeisterrechnungen Kredite an die Stadt waren. Von den insgesamt 785 Pfund, die sie an die Stadt „verliehen“ habe, habe sie nur 30 zurückbekommen. Dabei wird vernachlässigt, dass die Zahlungen durchaus übliche individuelle Steuerleistungen oder – wie im vorliegenden Fall – Zölle oder dergleichen gewesen sein konnten. Vgl. bereits Josef Reinertshofer: Die Steuern und Abgaben der Juden in Augsburg. Diss. jur. Würzburg 1921, S. 26, der darauf verweist, dass der Charakter der Posten in den Baumeisterrechnungen in vielen Fällen nicht bestimmbar ist. 69 „Item recepimus de iudea dicta Sprinzzin XL lb.“ (zwischen 16. 5. 1322–8. 5. 1323) und „Item recepimus de iudea Sprinzin XL lb.“ (19. 6. 1323) (Hoffmann 1878 [wie Anm. 8], S. 49 und S. 62). GJ II/1, S. 35 geht ebenfalls davon aus, dass dies Warenzölle gewesen sein könnten. 70 Die Tarife für die christlichen Händler lagen zwischen zwei und 50 Pfund. Darunter sind Einträge zu einflussreichen Augsburger Patrizierfamilien wie den Ravensburgern oder den Bitschlin. Vgl. Hoffmann 1878 (wie Anm. 8), S. 49 und S. 62.

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Baumeister den Juden 31 Schilling Pfennige gewährten, die sie jedoch den jüdischen Arbeitern (den „conditoribus operantibus iudeis“) für Tätigkeiten an den Schranken gaben. Ausgenommen hiervon sollte ein vielleicht ebenfalls jüdischer Schmied sein, dem sie später sieben Schilling bezahlten.71 Während dieser Beleg in der bisherigen Forschung unbeachtet geblieben ist, geht der Herausgeber der Rechnungen, Richard Hoffmann, ohne Angabe von Gründen davon aus, dass hiermit keine jüdischen Handwerker gemeint sein können.72 Es ist jedoch durchaus von der Existenz dieser Juden auszugehen. Zum einen gibt es auch andernorts zwar nur vereinzelte, aber dennoch hinreichend dokumentierte Belege, die auf jüdische Handwerker in Diensten von Christen verweisen. Eine Rechnung aus dem Erzstift Trier von 1338/39 beinhaltet beispielsweise einen Juden, der für nicht weiter spezifizierte Arbeiten an einem Gebäude in Kaisersesch vier Pfund Heller erhielt.73 Zum anderen ist es nicht ungewöhnlich, dass Juden an der Befestigung der Stadt beteiligt waren, in der sie lebten. Dafür sei auf den Vertrag von 1298 hingewiesen, in dem die Augsburger Judenschaft mit der Stadtgemeinde vereinbarte, für den erwiesenen und zukünftigen Schutz einen Teil der Stadtmauer zu bauen.74 Die Buchung in den Baumeisterrechnungen kann somit durchaus als ein Beleg für bezahlte jüdische Handwerker gelten, die als Bewohner der Stadt zu deren Befestigung beitrugen. Dies ist umso wahrscheinlicher, als die Augsburger Handwerkerzünfte um 1325 noch nicht machtvoll genug waren, um die städtische Wirtschaft nach ihren Vorstellungen zu regulieren.75 Für die jüdischen Handwerker spricht schließlich die Tatsache, dass sich die Baumaßnahmen nach Ausweis der Rechnungen über mindestens ein halbes Jahr zurück-

71 „Item prestitimus iudeis XXXI sol., quos dedimus conditoribus operantibus iudeis in dictis Shranchbaumen, excepto fabro, cui dedimus postea VII sol.“ (ebd., S. 94). 72 Ebd., S. 94, Anm. 22: „Da es nicht wahrscheinlich ist, dass die Stadt jüdische Zimmerleute für Arbeiten an den Schranken bezahlte, so wird der Sinn dieses Satzes wohl der sein, dass die Baumeister den Juden das Geld, welches diese den Zimmerleuten bezahlt hatten, wieder ersetzten“. Über eine vorhergehende Zahlung der Juden oder eine vergleichbare Übereinkunft zwischen diesen und der Stadtgemeinde ist nichts bekannt. 73 „Cuidem iudeo laboranti in edificio Esch VI mr. valent IV lb. hl.“ (Karl Lamprecht [Bearb.]: Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes, Bd. III: Quellensammlung. ND d. Ausg. Leipzig 1885/86, Aalen 1960, Nr. 291, S. 419–435, hier S. 428). Vgl. Alfred Haverkamp: Erzbischof Balduin und die Juden, in: Franz-Josef Heyen (Hg.): Balduin von Luxemburg. Erzbischof von Trier, Kurfürst des Reiches (1285–1354). FS aus Anlass des 700. Geburtsjahres, Mainz 1985 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 53), S. 437–483, zuletzt in: Friedhelm Burgard/Lukas Clemens/Michael Matheus (Hg.): Gemeinden, Gemeinschaften und Kommunikationsformen im hohen und späten Mittelalter. FS zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Trier 2002, S. 39–88, hier S. 68 f., Anm. 122. 74 Vgl. Anm. 6. 75 Vgl. zu den seit den 1320er Jahren erwähnten Gilden und Zünften, von denen erstmals jene der Lederer 1324 genannt wird, Zorn 2001 (wie Anm. 4), S. 168.

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verfolgen lassen76 und sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1325 mindestens zwei größere Baustellen – eine am Perlach und eine am westlich gelegenen Göggingertor77 – in der Stadt befanden.

IV. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder der Augsburger Juden vor 1350 wesentlich differenzierter waren, als vielfach angenommen wird. Sie werden unter anderem als Schächter und Fleischhändler, Bedienstete, Verwalter des Badehauses, Ärzte, Warenhändler sowie Handwerker bzw. Arbeiter in den Quellen genannt. Neben dem Kreditwesen, das auch in Augsburg eines der wichtigsten wirtschaftlichen Erwerbsfelder der Juden war, findet sich somit eine erstaunlich große Vielfalt des Tätigkeitsspektrums. Wie nicht anders zu erwarten, stehen viele der genannten Beispiele in einer engen Beziehung zu den gemeindlich-familiären und rituell-religiösen Aspekten des jüdischen Lebens. Die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen ökonomischen Bereichen sind ebenfalls evident. Sowohl die Fleischverarbeitung bzw. der -handel als auch der Weinschank waren mit dem allgemeinen Handel verbunden, der wiederum – vor allem beim Vertrieb verfallener Pfänder – eng mit der Geldleihe verknüpft war. Da ein Großteil der Erwerbsfelder durch das Stadtrecht normiert wurde (Fleischhandel, Weinschank, Geldleihe, Verwaltung des Bades), bot sich der Stadtgemeinde die Möglichkeit, das Zusammenleben zwischen Juden und Christen auf ökonomischer Ebene zu regulieren. Hierbei bleibt zu beachten, dass die jüdische Gemeinde, wie im oben ausgeführten Fall des Nachtrags zur Verwaltung des Badehauses, einen gewissen Einfluss auf die Abfassung dieser Bestimmungen besessen haben dürfte, da nur sie die Bedürfnisse eines funktionierenden Gemeindelebens formulieren konnte. Die innerjüdische Gemeindeorganisation und die Regulierungsmaßnahmen seitens der Stadtgemeinde wirkten somit im Rahmen eines Kommunikationsprozesses aufeinander ein.

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Die Einträge zu den Bauarbeiten reichen mindestens bis Juni 1325. Vom gleichen Tag wie der Vermerk zu den Juden datieren Posten zu Arbeiten an der Palisade und ebenfalls an den Schranken (in „lico“ und bei den „Sranchbaeumen“). In den zwei Wochen vor dem Posten bezüglich der Juden wurden ebenfalls Ausgaben zur Reparatur der Palisaden, eines Brunnens („pro reparacione fontis“) und an anderen Orten („alibi“) verbucht. Vgl. Hoffmann 1878 (wie Anm. 8), S. 94. 77 Vgl. ebd., S. 90 und S. 93 („operariis in lico et in fossa ante Geggingertor“ und „operariis in pavimento Berlayici“). Weitere größere Baumaßnahmen dürften im Norden der Bischofsstadt erfolgt sein, da die seit ca. 1308 teilweise ummauerte sogenannte Frauenvorstadt, d.i. der Siedlungsbereich nördlich des Dombezirks, seit 1320 in den Mauerring einbezogen wurde (vgl. Detlev Schröder: Stadt Augsburg, München 1975 [Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 10], S. 163).

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Wirtschaftliche Tätigkeitsfelder der Augsburger Juden 1276–1348

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Tabelle 1: Tätigkeitsfelder der Augsburger Juden (ca. 1276–1348) Innerjüdische Sphäre

Jüdisch-christliche Interaktion Medizinwesen Handwerk Bedienstete Fleischhandel

Schächter

Handel

Weinschank

Kreditwesen

Badehausverwaltung

Geldwechsel

Hinsichtlich der Quellenüberlieferung ist auffällig, dass abgesehen von dem mutmaßlichen Gemeindediener alle Tätigkeitsfelder in seriellen Quellen überliefert sind. Hierbei sind insbesondere das Stadtrechtsbuch und die Rechnungsbücher hervorzuheben, die einen Großteil der Belegstellen ausmachen. Die Chance auf eine Ermittlung der oftmals kaum auffindbaren Tätigkeitsfelder erscheint daher umso höher, je besser die Überlieferungslage im Bereich des Verwaltungsschriftgutes ist. Dies gilt vor allem, wenn Quellen jüdischer Provenienz fehlen. Neben Augsburg wird diese These durch weitere Städte gestützt. Für Würzburg konnten durch die Auswertung von Rats-, Stand- und Lehnbüchern jüdische Weinbergbesitzer, Weinhändler, Geldprüfer („kyeser“), Kaufleute, Bäcker und ein Arzt nachgewiesen werden, die in urkundlichen Quellen nicht zu finden sind.78 In Nürnberg sind anhand einer einzigen Judenbürgerliste von 1338 unter anderem zwei Weinschenken, ein Färber, ein Steinmetz, zwei Fleischer und zwei Hebammen zu belegen.79 Insofern ist der Quellenbefund mit ähnlichen Phänomenen in bestimmten Mittelmeerregionen vergleichbar. Hier sind es vor allem Notariatsinstrumente, d. h. durch einen Notar angefertigte, nicht besiegelte Dokumente von öffentlicher Rechtskraft, die Aufschluss über jüdische Gewerbetreibende geben. Anhand des herausragend dokumentierten Beispiels Sizilien lassen sich allein auf der Grundlage dieser Quellen jüdische Händler, Ärzte und Handwerker nachweisen, die mancherorts sogar eine monopolartige Stellung erlangten.80 78 Vgl. mit entsprechenden Nachweisen Stuart Jenks: Judenverschuldung und Verfolgung von Juden im 14. Jahrhundert, Franken bis 1349, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 65 (1978), S. 309–356, hier S. 349. 79 Die genannten Personen sind Samuel der Weinschenk, Michel Weinschenker, Abraham Schönfärber, Joseph der Steinhauer, Prugel Carnifex, Anshelm Carnifex, vielleicht auch Strobein Fleischmann, Sussmann der Bader, Gutlein die Badmaid, Baruch der Lehrmeister, ein Mesner, Schonfrauen die Hebamme und Seklin die Hebamme (vgl. Stern 1894/96 [wie Anm. 38], S. 14–19). 80 Vgl. hierzu und zu den Unterschieden in Quantität und Qualität der Quellenüberlieferung nördlich und südlich der Alpen den Beitrag von Alfred Haverkamp im vorliegenden

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Interessant sind schließlich die Folgerungen, die sich aus dieser Feststellung ergeben. Im Umkehrschluss bedeutet die These, dass in Regionen, in denen sowohl Quellen jüdischer Provenienz als auch serielle Quellen nicht bzw. nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen, der Anteil der „versteckten jüdischen Bevölkerung“81 und damit die Unkenntnis über die Bandbreite der Erwerbsfelder ungleich größer ist als in besser dokumentierten Orten. Dies ist meines Erachtens in Regensburg der Fall. Obwohl diese Stadt für die Zeit zwischen 1300 und 1350 so reich an urkundlichen Quellen ist wie nur wenige andere, sind aus diesem Zeitraum keine Gemeindebediensteten und kein einziger Erwerbszweig außerhalb der Geldleihe sicher nachweisbar.82 Dabei war Regensburg während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zweifellos das stärkste ökonomische Zentrum Bayerns und beheimatete zugleich eine der bedeutendsten und größten Judengemeinden Deutschlands.83 Der Mangel an Wissen über eine breitere Differenzierung des wirtschaftlichen Tätigkeitsspektrums der Juden gründet somit auch auf dem Mangel an überliefertem Verwaltungsschriftgut, der in Regensburg besteht. Welche Chancen die Beschäftigung mit seriellen Quellen für die Wirtschaftsgeschichte der Juden birgt, konnte der vorliegende Beitrag somit hoffentlich aufzeigen.

Band sowie: Ders.: Ebrei in Italia e in Germania nel tardo medioevo. Spunti per un confronto, in: Uwe Israel/Robert Jütte/Reinhold C. Müller (Hg.): Interstizi. Culture ebraicocristiane a Venezia e nei suoi domini tra medioevo ed età moderna, Rom 2010, S. 47–100. 81 Toch 2003 (wie Anm. 17), S. 2142. 82 Vgl. Maier 2010 (wie Anm. 1). Erst 1350 ist beispielsweise die Fleischbank der Juden genannt (vgl. Christian Forneck: Die Regensburger Einwohnerschaft im 15. Jahrhundert. Studien zur Bevölkerungsstruktur und Sozialtopographie einer deutschen Großstadt des Spätmittelalters, Regensburg 2000 [Regensburger Studien 3], S. 451). 83 Zur Regensburger Judengemeinde vgl. zuletzt Andreas Angerstorfer: Regensburg als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit im Mittelalter, in: Michael Brenner/Renate Höpfinger (Hg.): Die Juden in der Oberpfalz, München 2009 (Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern 2), S. 9–26.

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ZWISCHEN BASLER KONZIL, KÖNIGTUM UND REICHSSTÄDTISCHEN INTERESSEN Kennzeichnung und Ausweisung der Augsburger Juden in europäischen Zusammenhängen Von Christian Jörg

I. Wohl noch im Frühjahr 1432 erreichte den auf seinem Romzug befindlichen König Sigismund ein Schreiben des Augsburger Rates.1 Letzterer übermittelte dem Luxemburger mit dem besagten Brief seine Glückwünsche zu dessen Krönung mit der als Herrschaftssymbol und Reliquie verehrten sogenannten „Eisernen Krone“ in Mailand, die bereits am 25. November 1431 erfolgt war.2 Dem auf den 22. April 1432 datierten Gratulationsschreiben war ein weiteres, von diesem inhaltlich unabhängiges Schreiben beigefügt, was ein für das städtische Botenwesen jener Zeit keineswegs ungewöhnliches Vorgehen darstellt.3 In diesem „zweiten“ Brief informierte das Führungsgremium der schwäbischen Reichs- und Kathedralstadt den König von der Absicht, die Augsburger Juden – die „judischhait in unser statt wonhafft“ – zum Tragen eines Zeichens zu verpflichten. Zur Begründung verwies der Rat auf deren angebliche Gewohnheit, sich mit solch „erbern claidern und priesterlichem gewannde [zu] zieren“, dass zahlreiche Personen und insbesondere Auswärtige sie nicht als Juden erkennen könnten. In der Folge würden diese die Juden gar mit Hut- und Kappenziehen ehrerbietig grüßen und ihnen Reverenz erweisen * Der Beitrag steht in Verbindung mit dem Habilitationsprojekt des Autors zu „Verbindungen und Ausgrenzungen zwischen Christen und Juden zur Zeit der Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts“, das innerhalb des DFG-Schwerpunktprogramms 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ angesiedelt ist. 1 StA Augsburg, Schätze 105. Missivbuch III (1429–1435), Nr. 764, fol. 175r. 2 Die Forschung zu Sigismund von Luxemburg hat seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zahlreiche neue Impulse erfahren. Vgl. etwa Jörg K. Hoensch: Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit 1368–1437, Warendorf 1996; Wilhelm Baum: Kaiser Sigismund. Hus, Konstanz und Türkenkriege, Graz/Wien/Köln 1993; Martin Kintzinger: Westbindungen im spätmittelalterlichen Europa. Auswärtige Politik zwischen dem Reich, Frankreich, Burgund und England in der Regierungszeit Kaiser Sigmunds, Stuttgart 2000 (Mittelalter-Forschungen 2). Vgl. zuletzt die Beiträge in Michel Pauly (Hg.): Sigismundus von Luxemburg. Ein Kaiser in Europa. Tagungsband des historischen und kunsthistorischen Kongresses in Luxemburg, 8.–10. Juni 2005, Mainz 2006. 3 Vgl. allgemein die Beiträge in Rainer Christoph Schwinges/Klaus Wriedt (Hg.): Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, Stuttgart 2003 (Vorträge und Forschungen 60).

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wollen, wie der Bericht detailreich fortfährt. Darüber sei vor dem Augsburger Rat bereits vielfach Klage geführt worden, so dass man dies nun abzustellen und die Juden – wie eigens hervorgehoben wird – „dem almechtigen gott ze lob und der hailigen christenhait ze eren“ zu dem Tragen einer Kennzeichnung auf ihrem Gewand zu verpflichten gedenke. Da solche Zeichen zudem in vielen Gebieten üblich seien, bat der Rat Sigismund abschließend um ein königliches Gebot, welches den Augsburgern ebenfalls die Einführung einer derartig gestalteten Kennzeichnung erlauben sollte. Dies dokumentiert, dass man – vermutlich mit Blick auf die Kammerknechtschaft der Juden – den königlichen Regelungsanspruch in diesem Bereich anerkannte.4 Vermutlich hatte man innerhalb der auch über die Vorgänge in Italien normalerweise gut informierten Augsburger Führungsgruppen bereits deutlich früher von dem maßgeblich auf der Allianz mit dem Mailänder Herzog Filippo Maria Visconti gründenden Erfolg Sigismunds in Mailand erfahren.5 Zunächst war angesichts dieses ersten schnellen Triumphes und der bis dahin zügigen Fortschritte des Königs nicht davon auszugehen, dass der Romzug des Luxemburgers bald merklich ins Stocken geraten würde, was allerdings aufgrund der komplexen politisch-militärischen Konflikte und Interessenkonstellationen in Oberitalien tatsächlich in der Folge rasch geschehen sollte.6 Den König dürfte die Botschaft aus Augsburg entweder in Parma oder aber erst in Lucca bzw. Siena erreicht haben, wo er jeweils für längere Zeit auszuharren gezwungen war.7 Dass ein Glückwunschschreiben gemeinsam mit einem vergleichsweise detaillierten Bericht über die beabsichtigte Kennzeich4 StA Augsburg, Schätze 105. Missivbuch III (1429–1435), Nr. 765, fol. 175v. Die Tatsache, dass es sich um eine an der Kleidung angebrachte Kennzeichnung handeln sollte, war dabei für die Augsburger Führung offensichtlich von höchster Relevanz. Wie der Eintrag in den Augsburger Missivbüchern dokumentiert, wurde der anfangs nicht vorhandene Hinweis auf die verpflichtende Anbringung der Zeichen auf dem Gewand eigens in dem Schreiben ergänzt. Vgl. Abb. 1. Vgl. zur Kammerknechtschaft den Beitrag von Alfred Haverkamp in dem vorliegenden Band. Vgl. allgemein zum Verhältnis von Rat und Geistlichkeit in Augsburg die bahnbrechende Studie: Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt, Augsburg 1971 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19). Vgl. zur Entwicklung des Augsburger Rates grundlegend Jörg Rogge: Für den gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter, Tübingen 1996. 5 Vgl. zu diesen Verbindungen zuletzt Francesco Somaini: Les relations complexes entre Sigismond de Luxembourg et les Visconti, ducs de Milan, in: Pauly 2006 (wie Anm. 2), S. 157–198. 6 Vgl. die Zusammenschau bei Hoensch 1996 (wie Anm. 2), S. 371–399. 7 In den genannten Städten hielt sich der König während der Intensivierung der Konflikte zwischen Papst und Konzil sowie zwischen Sigismund und Venedig bzw. Florenz länger auf. An den zweimonatigen Aufenthalt in Parma (25. 3.–25. 5. 1432) schlossen sich ein Monat in Lucca (31. 5.–4. 7. 1432) sowie schließlich gar über neun Monate in Siena an (12. 7. 1432–23. 4. 1433). Vgl. Jörg K. Hoensch (Hg.): Itinerar König und Kaiser Sigismunds von Luxemburg 1368–1437, Warendorf 1995 (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 6), S. 118.

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Abb. 1: Brief Augsburgs an den auf Romzug befindlichen König Sigismund vom 22. April 1432 mit der Bitte, die Kennzeichnung der Augsburger Juden zu gestatten. © StA Augsburg, Schätze 105. Missivbuch III (1429–1435), Nr. 765, fol. 175v.

nung der Augsburger Juden am 22. April – fast ein halbes Jahr nach der Krönung von Mailand – über die Alpen gesandt wurde, spricht dafür, dass der zweite Brief und die darin erbetene Unterstützung des Königs im Zentrum des Augsburger Interesses stand. Diese Vermutung wird auch durch die Tatsache gestützt, dass zeitgleich mit dem Schreiben an Sigismund in der besagten Angelegenheit ein Augsburger Brief an den königlichen Kanzler Kaspar Schlick erging, von dem man sich offensichtlich eine Einflussnahme zu Gunsten Augsburgs bei Sigismund erhoffte.8 Mit dem Verweis auf die mangelnde Unterscheidbarkeit der Juden und deren Ehrwürdigkeit implizierende, angeblich den Priestern ähnliche Bekleidung bediente sich der Augsburger Rat geläufiger Argumentationsmuster. Diese schon teilweise als Topos erscheinenden Schilderungen waren weit verbreitet und unterstellten insbesondere durch den Bezug auf das Priestergewand der angeblichen Kleidungspraxis der Juden eine besondere Schändlichkeit. Man ging vermutlich davon aus, dass auch dem König diese Argumente vertraut waren und dessen Entscheidung zu Gunsten des Augsburger Ansinnens beeinflussen würde. Das von Ratsseite erhoffte Gebot Sigismunds erfolgte allerdings zunächst nicht. Vielmehr ignorierte dieser die Bitte des 8

StA Augsburg, Schätze 105. Missivbuch III (1429–1435), Nr. 766, fol. 175v–176v.

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Augsburger Rates noch über seine schließlich erst im Mai 1433 erfolgte Kaiserkrönung hinaus. Erst nach weiteren Augsburger Bemühungen und ca. zweieinhalb Jahre nach den ersten Aktivitäten in dieser Angelegenheit erteilte Sigismund am 23. September 1434 die gewünschte kaiserliche Bestätigung.9 Den Hintergründen des Geschilderten wird im Folgenden noch genauer nachzugehen sein. Zunächst ist zu konstatieren: Die schließlich 1434 auf Initiative des Rates durch den Kaiser zugestandene Einführung einer Kennzeichnung der Augsburger Juden stand rückblickend am Beginn der sich in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts rasch intensivierenden ausgrenzenden Maßnahmen von Seiten der städtischen Obrigkeit in der Reichs- und Kathedralstadt. An sie schloss sich beispielsweise 1436 die Aufhebung des gemäß dem Stadtbuch von 1276 in der Synagoge tagenden und in Streitigkeiten zwischen Christen und Juden entscheidenden sogenannten Judengerichts an, das sich paritätisch aus je zwölf Christen und Juden zusammensetzte. Jenes wurde durch ein ausschließlich aus Christen bestehendes Gremium, das nun innerhalb des städtischen Rathauses tagte, abgelöst.10 Am 7. Juli 1438 erfolgte schließlich der Beschluss des Rates zur Ausweisung der Augsburger Juden, dessen Umsetzung auf zwei Jahre – also bis zum Sommer des Jahres 1440 – festgesetzt wurde.11 Mit dieser sich rasch verdichtenden Intensivierung scharf exkludierender Beschlüsse gegen die jüdische Gemeinde stellte Augsburg gerade innerhalb dieses Zeitraumes allerdings keinen Einzelfall dar. Vielmehr wiesen mehrere bedeutende urbane Zentren des Reiches – ebenso wie fürstliche Territorien – verstärkt seit den zwanziger Jahren bis zur Mitte des Jahrhunderts die Juden aus. Zu nennen wären hier neben Augsburg auch Köln, Wien, Mainz, Zürich, Heilbronn, Eger und Breslau.12 Hinzu traten auch andernorts schwe9

StA Augsburg, Urkundensammlung 1434, Nr. 32 (23. 9. 1434). Christian Meyer (Hg.): Das Stadtbuch von Augsburg, Augsburg 1872, S. 260 f. Vgl. zu den früheren, 1276 fixierten Regelungen zudem S. 52–58. Vgl. zu derartigen gemischten Gerichtsgremien am Beispiel Regensburgs auch Christoph Cluse: Stadt und Judengemeinde in Regensburg im späten Mittelalter: Das „Judengericht“ und sein Ende, in: Ders./Alfred Haverkamp/Israel Yuval (Hg.): Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung (5.–18. Jahrhundert). Internationale Konferenz an der Universität Trier 18.–22. Oktober 1999, Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 13), S. 366–388. 11 StA Augsburg, Ratsprotokolle (1438), fol. 226r. Einen Abdruck des Ausweisungsbeschlusses liefert: Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 5: Chroniken der schwäbischen Städte, Augsburg, Bd. 2, Leipzig 1866, S. 377 f. 12 Vgl. Franz-Josef Ziwes: Territoriale Judenvertreibungen im Südwesten und Süden Deutschlands im 14. und 15. Jahrhundert, in: Friedhelm Burgard/Alfred Haverkamp/Gerd Mentgen (Hg.): Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Hannover 1999 (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 9), S. 165–187, für eine Zusammenstellung der Ausweisungen im süddeutschen Raum. Vgl. für den Nordwesten und die spätere Schweiz zudem Rotraud Ries: „De joden to verwisen“ – Judenvertreibungen in Nordwestdeutschland im 15. und 16. Jahrhundert, in: Burgard/Haverkamp/Mentgen 1999 (s. o.), S. 189–224; Hans-Jörg Gilomen: Aufnahme und Vertreibung von Juden in Schweizer Städten im Spät10

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re Repressalien bis hin zur Ermordung von Juden, wie beispielsweise nach 1429, ausgehend von Ravensburg, im Rahmen einer dort gegen die Juden ins Felde geführten Ritualmord-Beschuldigung und entsprechender Prozesse im weiteren Bodenseeraum.13 Mit der Kennzeichnung und Ausweisung der Augsburger Juden hat sich die Forschung seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts innerhalb breiter angelegter Untersuchungen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde der schwäbischen Reichsstadt bereits mehrfach befasst, wobei an dieser Stelle auf die von Sabine Mütschele vorgelegte Dissertation „Juden in Augsburg, 1212–1440“ sowie auf die Beiträge von Bernhard Schimmelpfennig und Wolfram Baer aus dem Jahr 1995 verwiesen sei.14 Die folgenden Ausführungen haben daher weniger eine detaillierte Schilderung des Augsburger Falles zum Ziel, sondern wollen vielmehr anhand zentraler Aspekte die bereits angedeutete Verdichtung von Exklusionstendenzen während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts untersuchen und den Versuch einer Einordnung der Augsburger Vorgänge in die allgemeinen Rahmenbedingungen und den europäischen Kontext unternehmen. Innerhalb dieses Beitrages ist hierbei selbstverständlich lediglich ein Überblick über die vielschichtigen Zusammenhänge möglich, weshalb zudem eine Konzentration auf wesentliche Zentralaspekte und deren Einordnung erfolgen muss.

II. Die genannten Beschlüsse des Augsburger Rates waren also in ihrer Ausrichtung keineswegs singulär, sondern fanden in ähnlichen Formen auch in anderen Städten und Territorien des Reiches während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ihre Entsprechungen. Ein hierbei bedeutsamer Faktor wird mittelalter, in: Ders./Anne-Lise Head-König/Anne Radeff (Hg.): Migration in die Städte. Ausschluß – Assimilierung – Integration – Multikulturalität/Migrations vers le villes. Exclusion – Assimilation – Integration – Multiculturalité, Zürich 2000 (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 16), S. 93–118. 13 Vgl. zuletzt ausführlich Stephan Lang: Die Ravensburger Ritualmordbeschuldigung von 1429/30, ihre Vorläufer, Hintergründe und Folgen, in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Kunst, Geschichte und Kultur 55 (2007), S. 114–153. 14 Sabine Mütschele: Juden in Augsburg, 1212–1440, Stuttgart 1996; Bernhard Schimmelpfennig: Christen und Juden im Augsburg des Mittelalters, in: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 23–38; Wolfram Baer: Zwischen Vertreibung und Wiederansiedlung. Die Reichsstadt Augsburg und die Juden vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Kießling 1995 (s. o.), S. 110–127. Siehe zudem den kurzen Beitrag von Dean Phillip Bell: Anti-Judaism and Anticlericalism in late medieval Augsburg, in: Proceedings of the PMR Conference 19–20, 1994–1996, S. 117–124. Vgl. zudem die älteren Studien bei Fritz Leopold Steinthal: Geschichte der Augsburger Juden im Mittelalter, Berlin 1911; Richard Grünfeld: Ein Gang durch die Geschichte der Juden von Augsburg. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge von Augsburg am 4. April 1917, Augsburg 1917.

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zumeist mit dem finanziellen Niedergang der jüdischen Gemeinden nördlich der Alpen und dem vermuteten Funktionsverlust jüdischer Finanziers in der Geldleihe benannt15, jedoch wurden in diesem Zusammenhang noch weitere zentrale Elemente wirksam. Insgesamt dürfte es ein komplexes Zusammenspiel verschiedener und untereinander wiederum auf vielfache Weise verwobener wirtschaftlicher, politischer, sozialer, rechtlicher und nicht zuletzt „religiöser“ Faktoren gewesen sein, das sich hier als maßgeblich erwies.16 Die jeweilige Ausformung und Umsetzung von exkludierenden Maßnahmen gegen Juden oder aber auch der Verzicht auf derartige Repressionen wurden dabei wiederum durch lokale, regionale und überregionale Gegebenheiten in nachhaltiger Weise beeinflusst.17 Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in diesem komplexen Geflecht dürfte den Diskussionen um eine Reform von Kirche und Reich im Umfeld der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449) zugekommen sein.18 Die nicht allein auf den Konzilien selbst intensiv geführten Diskussionen um Glaubens- und Reformfragen besaßen auch für das Zusammenleben von Christen und Juden eine erhebliche Relevanz. In dieser Hinsicht ist allgemein zu betonen, dass in einer derartigen Phase auch der Wahrnehmung des Judentums für die Identitätszuschreibungen des Christentums und der entsprechenden Glaubensdiskussionen – zwischen möglichen Betonungen der Verbindungen und jenen der Abgrenzung – eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukam. Nach dem Konzil von Konstanz, welches die causa reformationis trotz gerade die Anfangszeit prägender äußerst ambitionierter Konzeptionen in der Folge schließlich weitgehend auf zukünftige Konzilien vertagt

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Vgl. Markus Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Wien/Köln/Graz 1981 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 14). Vgl. mit anderer Gewichtung Michael Toch: (Art.) Die wirtschaftliche Tätigkeit, in: Germania Judaica III,3, Tübingen 2003, S. 2139–2164. 16 Vgl. zuletzt den Forschungsüberblick bei Gerd Mentgen: Die Judenvertreibungen im mittelalterlichen Reich. Ein Forschungsbericht, in: Aschkenas 16, 2006, S. 367–403, sowie den grundlegenden Artikel von Michael Toch: (Art.) Die Verfolgungen des Spätmittelalters, in: Germania Judaica III,3, Tübingen 2003, S. 2298–2327. 17 Vgl. zu derartigen Verknüpfungen besonders Alfred Haverkamp: „Innerstädtische Auseinandersetzungen“ und überlokale Zusammenhänge in deutschen Städten während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Reinhard Elze/Gina Fasoli (Hg.): Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Spätmittelalters, Berlin 1991 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 2), S. 89–126. 18 Walter Brandmüller: Das Konzil von Konstanz 1414–1418, 2 Bände, Paderborn u. a. 1991/1997; Johannes Helmrath: Das Basler Konzil 1431–1449. Forschungsstand und Probleme, Köln/Wien 1987; Ivan Hlaváček/Alexander Patschovsky (Hg.): Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Konstanz-Prager Historisches Kolloquium (11.–17. Oktober 1993), Konstanz 1996, sowie zuletzt Jürgen Dendorfer/Claudia Märtl (Hg.): Nach dem Basler Konzil: die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450–1475), Berlin 2008 (Pluralisierung & Autorität 13).

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hatte, und nach einer Phase fast durchgehender Abwesenheit König Sigismunds vom engeren Reichsgebiet zwischen 1420 und 1430 erreichten diese Bestrebungen schließlich während der in dem vorliegenden Beitrag insbesondere interessierenden dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts im Umfeld des Basler Konzils einen erneuten Höhepunkt. Dies geschah zudem vor dem Hintergrund zahlreicher und von den Zeitgenossen vielfach beklagter Missstände und Krisen, die sich sowohl mit Blick auf die Amtskirche als auch auf die politischen Zustände im Reich fassen lassen. Neben den schweren Konflikten zwischen Papst und Konzil, die nach der in Konstanz erfolgten Überwindung des sogenannten Großen Schismas schließlich 1439 zu der erneuten Wahl eines Gegenpapstes durch das Basler Konzil führen sollten19, spielte hierbei auch das kollektive Bedrohungsgefühl eine Rolle, welches die militärischen Erfolge der böhmischen Hussiten sowie das Vordringen der Türken im Südosten Europas verursachten.20 Zusätzlich wurden das Reich und auch große Teile des weiteren Europas während der dreißiger Jahre von verheerenden Teuerungsphasen heimgesucht, die ihren Höhepunkt zwischen 1437 und 1440 in der schwersten Hungersnot des 15. Jahrhunderts erreichten, welche wiederum mit dem Ausbruch zahlreiche Opfer fordernder Epidemien einherging.21 Nicht alleine die 1439 im direkten Umfeld des Basler Konzils entstandene Reformatio Sigismundi verstand dabei das Hereinbrechen von Hungersnöten und Seuchen, das sich von der Iberischen Halbinsel bis in das Baltikum und von Irland bis Oberitalien nachweisen lässt, als Beginn eines durch menschliche Sündhaftigkeit verursachten göttlichen Strafgerichts.22 In dieser Hinsicht sind in dem umfangreichen Traktat bemerkenswerte Anleihen bei den sich nicht zufällig gerade zu jener Zeit intensivierenden und auch für die Beziehungen zwischen Christen und Juden schwerwiegende Folgen nach sich ziehenden zeitgenössischen Diskussionen um den Wucher nachzuweisen, wobei sich die Reformatio Sigismundi interes-

19 Interessanterweise war es gerade unter dem durch das Konzil zum Gegenpapst Felix V. gewählten ehemaligen Herzog Amadeus VIII. von Savoyen vor seiner Übergabe der Regierungsgeschäfte und dem Rückzug in eine elitäre Klostergemeinschaft am Genfersee in seinen Herrschaftsgebieten zu massiven antijüdischen Repressalien gekommen. Vgl. hierzu ausführlich Thomas Bardelle: Juden in einem Transit- und Brückenland. Studien zur Geschichte der Juden in Savoyen-Piemont bis zum Ende der Herrschaft Amadeus VIII., Hannover 1998 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 5), S. 265–307. 20 František Smăhel: Die hussitische Revolution, 3 Bände, Hannover 2001 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 43, 1–3); Sabine Wefers: Das politische System Kaiser Siegmunds, Stuttgart 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte 138. Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs 10). 21 Vgl. jetzt Christian Jörg: Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2008 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 55). 22 Vgl. etwa Heinrich Koller (Hg.): Reformation Kaiser Siegmunds, Stuttgart 1964 (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 6), S. 314.

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santerweise in scharfer Form und mit einem äußerst weit gefassten Wucherbegriff alleine auf die Tätigkeit christlicher Wucherer bezieht.23 Kennzeichnend ist der kontrovers geführte Wucherdiskurs allerdings auch für den langwierigen Streit um die Zulassung des Geldhandels von Juden, innerhalb dessen zunehmend kanonistische Regelungen bzw. Forderungen im Rahmen des ius commune geltend gemacht wurden. Dies führte im Zuge der „Verwissenschaftlichung“ des Rechtswesens zur verstärkten Produktion und Rezeption von Rechtsgutachten, die sich – zunächst insbesondere in Italien, dann maßgeblich von dort ausgehend bald auch im nordalpinen Regnum – mit dieser Frage auseinandersetzten.24 Gerade in den Reichsstädten griff man auf derartige Argumentationsmuster der juristisch fundierten Diskussionen um den Wucher zurück, um etwa die Ausweisung der Juden nachhaltig zu begründen, wobei sich jedoch auch Gegenbeispiele einer Nutzung juristischer Gutachten zu Gunsten der städtischen Judenschaft finden lassen.25 Gerade im Zusammenhang mit den genannten Vorgängen sind auch weitere Bereiche von Reformatio zu beachten, zu deren bedeutendsten Erscheinungsformen sicherlich die Observanzbewegung innerhalb des Franziskanerordens zu zählen ist. Die intensivierte Tätigkeit von dieser Bewegung nahestehenden Wanderpredigern brachte vor allem in Italien und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch nördlich der Alpen durch die publikumswirksame Verbreitung deutlich antijüdischer Inhalte für die jüdische Bevölkerung erhebliche Beeinträchtigungen mit sich.26 Die sich vor allem auf den Geld23

Vgl. hierzu ausführlich Jörg 2008 (wie Anm. 21), S. 162–173. Vgl. mit Blick auf Italien etwa Diego Quaglioni: Gli ebrei nei consilia del Quattrocento veneto, in: Ingrid Baumgärtner (Hg.): Consilia im späten Mittelalter. Zum historischen Aussagewert einer Quellengattung, Sigmaringen 1995 (Studi. Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig 13), S. 189–204. Vgl. zudem auch die Beiträge in: Diego Quaglioni/Giacomo Todeschini/Gian Maria Varanini (Hg.): Credito e usura fra teologia, diritto e amministrazione: linguaggi a confronto (sec. XII–XVI), Rom 2005. Vgl. für die Deutschen Lande jüngst die umfangreiche Studie von Eberhard Isenmann: Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen in Deutschland im 15. Jahrhundert, in: Franz-Josef Arlinghaus u. a. (Hg.): Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, Frankfurt am Main 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Bd. 23), S. 305–417. 25 Vgl. hierzu demnächst Christian Jörg: Wucherdiskussion, Diplomatie und Professionalisierung. Die Gesandtschaft des Frankfurter Ratsadvokaten Dr. Ludwig zum Paradies nach Italien und die Juden (1477/78) - eine Fallstudie, in: Ders. (Hg.): Aspekte der Professionalisierung in der Politik und Verwaltung urbaner Zentren während des späten Mittelalters, erscheint Wiesbaden 2012. Vgl. zur Rechtsposition und -wahrnehmung allgemein Christine Magin: „Wie es umb der iuden recht stet“. Der Status der Juden in spätmittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern, Göttingen 1999 (Göttinger Philosophische Dissertation/D 7); Dietmar Willoweit: (Art.) Die Rechtstellung der Juden, in: Germania Judaica III,3, Tübingen 2003, S. 2165–2207. 26 Vgl. zur Situation in Italien den Überblick bei Denys Hay: The church in Italy in the fifteenth century, Cambridge 1977, besonders S. 72–90. Vgl. zur Einordnung in breiterer räumlicher und zeitlicher Perspektive die Beiträge in Kaspar Elm (Hg.): Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, Berlin 1989 24

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handel beziehende Predigttätigkeit gegen den „Wucher der Juden“ blieb allerdings nicht auf die zumeist aus dem südalpinen Raum stammenden Wanderprediger beschränkt27, sondern fand in den Städten eine dauerhafte, ebenfalls häufig durch die Bettelorden getragene und höchst „öffentlichkeitswirksame“ Entsprechung. Dies klingt – ebenso wie die zuvor erwähnte Vielschichtigkeit der Faktoren – beispielsweise in der insgesamt bemerkenswert allgemein gehaltenen Begründung innerhalb des Augsburger Beschlusses aus dem Jahre 1438 an. Die Ausweisung der Juden, so wird dort festgehalten, habe vielerlei Ursachen. Genannt werden jedoch lediglich angebliche, nicht genauer spezifizierte Verstöße gegen städtische Satzungen, die sich möglicherweise auf die Kennzeichnung bezogen, vor allem aber die gegen die Juden gerichtete Predigttätigkeit. Von den Kanzeln sei nämlich öffentlich gegen sie gepredigt worden, „wievil übels darus komme, das man si in stetten und ouch anderschwa enthielte“.28

III. Wenden wir uns vor diesem Hintergrund zunächst nochmals den Vorgängen um die Einführung einer Kennzeichnung der Augsburger Juden zu Beginn der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts zu. Die Forderung eines solchen Zeichens ist keineswegs eine Neuerung jenes Jahrhunderts, sondern gehörte vielmehr schon lange zu den „Standards“ der Maßnahmenkataloge päpstli(Berliner Historische Studien 14/Ordensstudien 6). Vgl. mit Blick auf die Folgen für die Juden in den Städten Italiens etwa Diane Owen Hughes: Ear-Rings, Jews and Franciscan rhetoric in the Italian renaissance city, in: Past & Present 112 (1986), S. 3–59. 27 Besondere Relevanz besaßen in dieser Hinsicht die Predigtreise und Kreuzzugsaufrufe des Johannes Kapistran, dessen Heiligsprechung und zunächst positiv bewertete Predigttätigkeit zu der Charakterisierung als „Apostel Europas“ führten. Vgl. etwa Johannes Hofer: Johannes Kapistran. Ein Leben im Kampf um die Reform der Kirche, 2 Bände, Rom/Heidelberg 1964/65 (Biblioteca Franciscana 1–2). Vgl. zur Einordnung der Predigtreise allgemein Kaspar Elm: Johann Kapistrans Predigtreise diesseits der Alpen (1451–1456), in: Hartmut Boockmann (Hg.): Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie, Göttingen 1989, S. 500–519. Vgl. zu den Folgen der Predigttätigkeit Kapistrans für die Juden zuletzt Heidemarie Petersen: Die Predigttätigkeit des Giovanni di Capistrano in Breslau und Krakau 1453/54 und ihre Auswirkungen auf die dortigen Judengemeinden, in: Manfred Hettling/Andreas Reinke/ Norbert Conrads (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit, Hamburg 2003, S. 22–29. Vgl. zur Wirkung der Observanz in Böhmen auch Petr Hlaváček: Die Franziskaner-Observanten zwischen böhmischer und europäischer Reformation, in: Winfried Eberhard/Franz Machilek (Hg.): Kirchliche Reformimpulse des 14./15. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 295–326. 28 Chroniken der deutschen Städte, Bd. 5 1866 (wie Anm. 11), S. 377: „[…] und das von manigerlay ursach wegen und sunderlich umb des willen, das man an den cantzlen offennlich von in predigt, wievil übels darus komme, das man si in stetten und ouch anderschwa enthielte und ouch von ungehorsamkait wegen, die si wider der statt bott und gesatzte in vil wege getaun hätten.“

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cher oder konziliarer Beschlüsse, welche zum Ziel hatten, die Kontaktebenen zwischen Christen und Juden mit unterschiedlichen Begründungen zu begrenzen.29 Bereits während der frühmittelalterlichen Jahrhunderte im muslimischen Herrschaftsraum durch Vorgaben zur Kennzeichnung von Christen und Juden nachweisbar30, erlangte die Frage der äußerlichen Unterscheidung von Andersgläubigen in christlichen Herrschaftsgebieten erstmals auf dem IV. Laterankonzil von 1215 eine herausgehobene Bedeutung.31 Die dortigen Beschlüsse zur Kleidung bezogen sich hierbei auf Juden und auch auf die Muslime, wobei insbesondere an das Zusammenleben von Angehörigen der drei Religionen auf der Iberischen Halbinsel und im Königreich Sizilien zu denken ist. Eine Kennzeichnung wurde unter dem Hinweis auf die vermeintlichen Gefahren des ungeregelten und unkontrollierten Kontakts gefordert32, 29

Vgl. zum folgenden die vor dem Hintergrund der damaligen Entwicklungen entstandene, bahnbrechende Studie von Guido Kisch: The Yellow Badge in History, zuletzt in: Ders.: Forschungen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Juden, Sigmaringen 1979, S. 115–164 (eine erste Fassung erschien unter dem Eindruck der damals aktuellen Vorgänge im Dritten Reich bereits 1942 in: Historia Judaica 4.2. (1942), S. 95–127). Vgl. zuletzt zudem die Überlegungen von Klaus Schreiner: Das „gelbe zeychen“. Norm und Praxis einer den Juden aufgezwungenen Kennzeichnungspflicht, in: Andrea Bendlage/Andreas Priever/Peter Schuster (Hg.): Recht und Verhalten in vormodernen Gesellschaften. Festschrift für Neithard Bulst, Bielefeld 2008, S. 67–101. 30 Für das Jahr 850 begegnet ein Gebot des abbasidischen Kalifen al-Mutawakkil zur Kennzeichnung der „Ungläubigen“ sowie ihrer Sklaven durch gelbe bzw. honigfarbene Flicken und Gürtel oder Kapuzen, Turbane und Kopftücher. Vgl. Bernard Lewis: Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, München 1987, S. 50 f. Vgl. mit Hinweis auf die allgemeine Vorgabe der Unterscheidbarkeit von Muslimen und Nicht-Muslimen bezüglich ihrer Kleidung durch den Kalifen Omar im Jahre 634 auch Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.–13. Jahrhundert). Mit einer Ikonographie des Judenthemas bis zum 4. Laterankonzil, Frankfurt am Main 31997 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23 Theologie 497), S. 424. Vgl. mit Hinweis auf bis in vorchristliche Zeiten zurückreichende Vorbilder zudem Diethard Aschoff: Judenkennzeichnung und Judendiskriminierung in Westfalen bis zum Ende des Alten Reiches, in: Aschkenas 1 (1993), S. 15–47, hier S. 23. 31 Vgl. zuletzt in Hubert Jedin/Giuseppe Alberigo (Hg.): Dekrete der ökumenischen Konzilien – Conciliorum oecumenicorum decreta, Band 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), hg. von Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 2000, S. 266. Vgl. zur Einordnung der Konzilsbeschlüsse Schreckenberg 1997 (wie Anm. 30), S. 423–431. 32 Besondere Besorgnis verursachte hierbei die reale oder vermutete „Gefahr“ sexueller Kontakte zwischen Christen und Andersgläubigen. Vgl. Jedin/Alberigo 2000 (wie Anm. 31), S. 266: „Unde contingit interdum, quod per errorem christiani Iudaeorum seu Saracenorum et Iudaei seu Saraceni christianorum mulieribus commisceantur.“ Dies konnte selbstverständlich auch zur Instrumentalisierung entsprechender Verdächtigungen im städtischen Alltag führen. Vgl. für ein Augsburger Beispiel zuletzt Jörg R. Müller: „Sex and crime“ in Augsburg. Das Komplott gegen den Juden Joehlin im Jahre 1355, in: Frank G. Hirschmann/Gerd Mentgen (Hg.): „Campana pulsante convocati“. Festschrift anläßlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, Trier 2005, S. 395–419. Generell ist im Rahmen der Kennzeichnungsvorgänge zudem die Bedeutung der Zuschreibung von Fremdheit und der entsprechenden Diskurse zu bedenken. Vgl. hierzu jetzt Pe-

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die genaue Gestalt eines solchen Zeichens jedoch in dem Konzilsdekret keineswegs definiert. Ähnlich verfuhr man in der Regel während der folgenden Konzilien und Synoden, die sich mit diesen Fragen vom 13. bis in das 15. Jahrhundert beschäftigten. Im Gefolge dieser Vorgaben wurde in verschiedenen Herrschaftsgebieten die Einführung entsprechender Kleidungsvorschriften angewiesen, die sich aber bezüglich Gestalt und Farbe der Zeichen stark unterschieden und über deren tatsächliche Anwendung im Alltag nur wenig gesagt werden kann. Dies zumal, da sich die Juden beispielsweise durch finanzielle Leistungen von dem Tragen der als äußerst diskriminierend empfundenen Zeichen befreien konnten und diese somit häufig eher als einträgliche Mittel königlicher Finanzpolitik dienten.33 Gerade im Reichsgebiet konnte darüber hinaus auf die fehlende Notwendigkeit der Einführung derartiger Kleidungszeichen aufgrund der bereits existierenden Gebräuchlichkeit eigener Kleidungsgewohnheiten der Juden – wie insbesondere des sogenannten Judenhuts – verwiesen werden.34 Das Tragen des Judenhutes ist zunächst nicht in gleicher Weise als diskriminierende herrschaftliche oder obrigkeitliche Vorgabe zu charakterisieren, wie dies für farblich abgesetzte Zeichen auf der Kleidung zu konstatieren ist.35 Die auch in Augsburg bereits während des 13. Jahrhunderts begegnende Erwähnung der von Ratsseite postulierten Verpflichtung, einen Judenhut zu tragen, betraf durchaus nicht in allen Fällen die Gesamtheit der städtischen Juden, sondern häufig lediglich einzelne Personen und bezog sich auf eine Kennzeichnung derselben während bestimmter Tätigkeiten im christlichen Umfeld. So verpflichtete der bekannte Paragraph des Augsburger Stadtbuchs von 1276 keineswegs alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde zum Tragen des Judenhutes, sondern vielmehr nur den Verantwortlichen für den Verkauf des von jüdischer Seite produzierten Fleisches an der entsprechenden Fleischbank des Marktes.36 ter Bell: Lederstrumpf, gelber Fleck und Halbmond. Label des Fremden in Stadt und Bild des Quattrocento, in: Ders./Dirk Suckow/Gerhard Wolf (Hg.): Fremde in der Stadt. Ordnungen, Repräsentationen und soziale Praktiken (13.–15. Jahrhundert), Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 263–286. Für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in das Manuskript bin ich Peter Bell, M. A. (Trier) zu Dank verpflichtet. 33 Eberhard Isenmann: (Art.) Steuern und Abgaben, in: Germania Judaica III,3, Tübingen 2003, S. 2208–2281, hier S. 2258–2261. 34 Vgl. zur Forschungsdiskussion Raphael Straus: The „Jewish Hat“ as an aspect of social history, in: Jewish Social Studies 4 (1942), S. 59–72; Danièle Sansy: Chapeau juif ou chapeau pointu? Esquisse d’un signe d’infamie, in: Gertrud Blaschitz/Helmut Hundsbichler/ Gerhard Jaritz/Elisabeth Vavra (Hg.): Symbole des Alltags. Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, S. 349–375. 35 Dies gilt freilich nicht für solche Fälle, in denen der Judenhut von obrigkeitlicher Seite mit einer bestimmten Form und insbesondere Farbgebung als diskriminierendes Kleidungsstück vorgeschrieben wurde. Vgl. zu derartigen Fällen mit Blick auf Italien besonders Benjamin Ravid: From yellow to red. On the distinguishing Head-Covering of the Jews of Venice, in: Jewish History 6 (1992), S. 179–210. 36 Meyer 1872 (wie Anm. 10), S. 57.

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Diese Verhältnisse begannen sich aber offenbar gerade seit der Wende zum 15. Jahrhundert deutlich zu wandeln, wie gerade der Augsburger Fall dokumentiert. Auch hier wurden verschiedene Faktoren wirksam. Nördlich der Alpen scheint der Judenhut nicht mehr in der zuvor begegnenden Häufigkeit getragen worden zu sein, was wiederum selbst danach fragen lässt, inwiefern die Juden hiermit bereits auf wachsende Ausgrenzungsvorgänge in den Städten reagierten.37 Hinzu traten im Umfeld und direkten Gefolge der Konzilien von Konstanz und Basel erneut Dekrete, die in bisher nicht gekannter Detailliertheit und Schärfe eine weitgehende Trennung zwischen Christen und Juden im Alltag forderten. Dies geschah zunächst innerhalb einer Bulle des schismatischen avignonesischen Papstes Benedikt XIII. (1394–1417/22), der am 11. Mai 1415 in zeitlicher Parallelität zu den nicht zuletzt um seine Absetzung kreisenden Konzilsverhandlungen in Konstanz entsprechende Regelungen erließ.38 Der hochgelehrte und insbesondere in kirchenrechtlichen Fragen äußerst bewanderte Benedikt XIII. – vor der Erlangung der Kardinalswürde (1376) und seiner schließlich erfolgten Wahl zum Papst (1394) fungierte Pedro de Luna als Professor des kanonischen Rechts an der Universität Montpellier39 – hatte sich bereits zuvor mit der Frage der Beziehungen zwischen Christen und Juden eingehend beschäftigt. Auf seine maßgebliche Initiative hin waren so beispielsweise die für die Verabschiedung der genannten Bulle große Bedeutung besitzenden Glaubensdisputationen von Tortosa (1413/14) abgehalten worden.40 Bereits 1379 hatte der spätere Papst selbst eine Dispu37

Noch 1405 sollen allerdings reichsstädtische Ratsgremien auf das Bestreben König Ruprechts hin, die leeren königlichen Kassen mit einer Strafforderung gegen die Juden des Reiches wegen angeblich mangelnder Beachtung entsprechender Kleidungsvorschriften zu füllen, diesem zur Kenntnisnahme mittels Boten solche Judenhüte zugesandt haben. Vgl. zu den Aktivitäten des Frankfurter Rates in diesen Fragen demnächst Jörg 2012 (wie Anm. 25). 38 Vgl. zur Einordnung Shlomo Simonsohn: The apostolic see and the Jews. History, Toronto 1991 (Studies and Texts 109), S. 140 und S. 263 f. 39 Dieter Girgensohn: Ein Schisma ist nicht zu beenden ohne die Zustimmung der konkurrierenden Päpste. Die juristische Argumentation Benedikts XIII. (Pedro de Luna), in: Archivum Historiae Pontificiae (AHP) 27, 1989, S. 197–247; Jacques Verger: Pedro de Luna/Benoit XIII. et l‘université de Montpellier, in: Jean Louis Biget (Hg.): Le Midi et le grand schisme d’Occident, Toulouse 2004 (Cahiers de Fanjeaux 24), S. 271–289. 40 Der Charakter der auch zuvor nicht selten abgehaltenen Glaubensdisputationen zwischen Christen und Juden wandelte sich im Verlauf der spätmittelalterlichen Jahrhunderte zu Veranstaltungen, deren Ausgang ebenso wie deren anschließende Instrumentalisierung zu Ungunsten der Juden bereits im Vorfeld feststanden. Vgl. mit Blick auf die Disputationen von Paris (1240), Barcelona (1263) und Tortosa (1413/14) allgemein Hyam Maccoby (Hg.): Judaism on trial. Jewish-Christian disputations in the Middle Ages, London 1982. Vgl. zu den „Gesprächen“ von Tortosa zudem Ders.: The Tortosa Disputation, 1413–1414, and its effects, in: Luc Dequeker/Werner Verbeke (Hg.): The expulsion of the Jews and their emigration to the southern Low Countries (15th–16th century), Löwen 1998 (Lovaniensia 1/26), S. 23–34; Aaron W. Godfrey: The Tortosa disputation: a 15thcentury Christian-Jewish dialogue and its aftermath, in: Acta. Proceedings of the SUNY Regional Conferences in Medieval Studies 18 (1993), S. 143–152; Fritz Baer: Die Disputa-

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tation in Pamplona geführt und war in diesem Zusammenhang mit dem dominikanischem Buß- und Wanderprediger Vincenz Ferrer in Kontakt getreten, der einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die restriktive Judengesetzgebung im Königreich Aragón besaß.41 Vermutlich sollten die scharf reglementierenden Vorgaben Benedikts XIII. aus dem Jahre 1415, die unter anderem die Kennzeichnung der Juden und die Separierung der jüdischen Wohnbereiche innerhalb der Städte sowie Zwangspredigten und intensivierte Bekehrungsbemühungen vorschrieben, dem schismatischen Papst zunächst mit Blick auf seine insbesondere auf der Iberischen Halbinsel angesiedelte und zu jener Zeit noch nicht auf dem Konstanzer Konzil vertretene Obödienz Unterstützung sichern. 42 Es dürfte jedoch auch ein über diese hinausgehendes Echo seiner päpstlichen Bestimmungen intendiert gewesen sein. Auch wenn dies zunächst nicht gelang und Benedikt XIII. 1417 in Konstanz für abgesetzt erklärt wurde, hatten die durch ihn verabschiedeten Regelungen zum Verhältnis von Christen und Juden doch ein erstaunliches Gewicht für die Vorgänge der Folgezeit. So beschloss am 7. September 1434 das Konzil von Basel im Rahmen mehrerer Reformbeschlüsse auch ein Dekret, das sich mit den Juden und dem Umgang mit den zum Christentum Konvertierten befasste. Das Konzilsdekret „De Iudeis et Neophitis“ orientierte sich bezüglich der Inhalte und der Schärfe der Reglementierungen in deutlicher Weise an der Bulle Benedikts XIII. von 1415.43 Es forderte in offensichtlicher Anlehnung an diese Zwangspredigten zur Bekehrung der Juden sowie eine Minimierung des Kontakts zwischen Christen und Juden, wobei es ebenfalls insbesondere eine Unterscheidung bezüglich der Kleidung und eine hermetische Abtrennung der Wohnbereiche vorschrieb.44 Die Vorgaben kirchlicher Versammlungen und Amtsträger verschärften sich also zu jener Zeit, doch erklärt dies noch nicht, warum gerade in den Städten südlich und nördlich der Alpen diese Bestimmungen nun teilweise tatsächlich eine Umsetzung erfuhren und warum dabei – wie im Falle Augsburgs, aber keineswegs überall – die städtischen Führungsgremien selbst aktiv wurden. Offenbar trafen auch hier verschiedene Faktoren des Wandels gerade in den Städten zusammen. Bedeutung gewann hierbei etwa, dass die

tion von Tortosa, in: Spanische Forschungen I. Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens, Bd. 3, 1931, S. 307–336. 41 J. V. Niclòs Albarracin: La disputa religiosa de D. Pedro de Luna con el judío de Tudela D. Shem Tob Ibn Shaprut en Pamplona (1379): El contexto en la vida y la predicación de Vincente Ferrer, in: Revue des Études juives 160 (2001), S. 409– 433. 42 Vgl. zu den politischen Konstellationen und der „Spanischen Konzilsnation“ in Konstanz ausführlich Brandmüller 1997 (wie Anm. 18), S. 224–276. 43 Vgl. zuletzt Jedin/Alberigo 2000 (wie Anm. 31), S. 483–485. 44 Vgl. zur Position des Dekrets im Rahmen antijüdischer päpstlicher und konziliarer Beschlüsse Gerd Mentgen: Die Juden. Zwischen Koexistenz und Pogrom, in: Bernd-Ulrich Hergemöller (Hg.): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 3. Aufl., Warendorf 2001, S. 335–387, hier S. 340.

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Forderung der sichtbaren distinctio vor dem Hintergrund der geschilderten Beschlüsse bald zum festen Repertoire innerhalb einer ohnehin intensivierten Predigttätigkeit gehörte und somit dem Publikum regelmäßig ins Gedächtnis gerufen wurde.45 Hinzu trat die zunehmende Ausformung einer städtischen Obrigkeit in Gestalt des Ratsregiments. Der Rat beanspruchte in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch Regelungskompetenzen im kultischen Bereich für sich. Dies ging mit der teilweise ausdrücklich betonten Wahrnehmung der eigenen Stadt als „heilig“ einher, was etwa im Falle der Ausweisung der Kölner Juden im Jahre 1424 und der erst 1431 erfolgten Begründung durch den dortigen Rat vor Sigismund bedeutsam wurde.46 Angesichts dieser Tendenzen verwundert es nicht, dass sich während des hier interessierenden Zeitraums die Überlieferung genereller Reglementierungen der Kleidung (Kleiderordnungen) gerade in den Städten merklich verdichtet. Dies gilt insbesondere für jene Regelungen und Vorgaben, die sich auf bestimmte Gruppen oder Gemeinschaften in der Stadt bezogen und deren Umsetzungen Robert Jütte als sogenannte „Stigma-Symbole“ charakterisiert hat.47 Neben den Juden gerieten in diesem Zusammenhang auch andere Personenkreise insbesondere während des 15. Jahrhunderts in die Gefahr, durch Kennzeichnung stigmatisiert oder in der Folge ausgewiesen zu werden.48 Die Bewilligung der durch den Augsburger Rat geforderten Kennzeichnung der Juden durch Kaiser Sigismund erfolgte nach über zweijährigen Bemühungen des städtischen Führungsgremiums am 23. September 1434 und somit lediglich etwa zwei Wochen nach der Verabschiedung des entsprechenden Dekrets „De Iudeis et Neophitis“ vom 7. September jenes Jahres. Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Verabschiedung des Konzilsdekrets und der schließlich im Augsburger Sinne erfolgten Bestätigung des Kennzeichnungsbeschlusses durch den aus Italien zurückgekehrten Sigismund 45

Vgl. Anm. 27 und 28. Alfred Haverkamp: „Heilige Städte“ im hohen Mittelalter, in: František Graus (Hg.): Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen XXXV), S. 119–156. Vgl. zu dem Kölner Fall zudem Matthias Schmandt: Judei, cives et incole. Studien zur jüdischen Geschichte Kölns im Mittelalter, Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 11), S. 197–207. 47 Robert Jütte: Stigma-Symbole. Kleidung als identitätsstiftendes Merkmal bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Randgruppen (Juden, Dirnen, Aussätzige, Bettler), in: Saeculum 44 (1993), S. 65–89. 48 Im Falle Augsburgs haben sich etwa detaillierte Regelungen zu den Bettlern erhalten, deren Kennzeichnung durch den Rat die eigentlich inkludierende Erlaubnis zur Betteltätigkeit in der Stadt bedeutete. Dennoch konnte das sogenannte Bettelzeichen, wie auch Fälle aus anderen Städten belegen, als diffamierendes Symbol wahrgenommen werden, weshalb die Betroffenen teilweise nur unter obrigkeitlichem Druck zum Tragen des Zeichens gezwungen werden konnten. Von Ausweisungen waren dagegen gerade die fremden Bettler bedroht, denen man als angebliche Betrüger und sogenannte starke – also eigentlich arbeitsfähige – Bettler ein solches Zeichen und die Bettelberechtigung in der Stadt verweigerte. Vgl. hierzu am Augsburger Beispiel von 1459 und 1491 zuletzt Jörg 2008 (wie Anm. 21), S. 326–329. 46

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dürfte dabei kaum ein Zufall sein. Die kaiserliche Kanzlei lehnte sich mit dem Wortlaut des Gebotes eng an die bereits bekannte Argumentation der Augsburger an und beklagte die mangelnde Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Christen und Juden, der nun durch ein Zeichen an der Kleidung abzuhelfen sei, so dass die Juden nicht Ehrbezeugungen und Grußformen empfangen würden, derer sie als Schmäher Gottes und des christlichen Glaubens nicht wert seien. Vielmehr sollte mit dem Zeichen nun umso effektiver an die Leiden Christi erinnert werden, wie die kaiserliche Bestätigung in Anlehnung an die bekannte Formel des heiligen Augustinus zur Duldung der Juden unter den Christen weiter ausführt.49 Auch die in Augsburg gewählte Form der Kennzeichnung ist höchst bemerkenswert. Als Zeichen fand der sogenannte „Gelbe Ring“ Verwendung. In der schwäbischen Reichs- und Kathedralstadt handelt es sich um den ersten nachweisbaren Gebrauch dieser dann in der Folge bekanntlich weitreichenden Vorbildcharakter gewinnenden Kennzeichnungsform im nordalpinen Reichsgebiet.50 In Italien ist diese spezifische Form der diskriminierenden Kennzeichnung bereits zuvor belegt.51 Auch wenn schon während des 13. Jahrhunderts in Frankreich kreisförmige und in gelber Farbe gehaltene Zeichen für die Juden erwähnt werden, stellt die vermutlich in einer Vorgabe des Jahres 1394 aus Venedig erstmals nachweisbare Form- und Farbgebung des gelben Ringes in Kombination mit dem in Italien greifbaren symbolischen Eigengewicht des Zeichens wohl eine neue Qualität exkludierender Kennzeichnung dar.52 Im Augsburger Fall war das Zeichen – wie schon Sabine Mütschele festgestellt hat – mit 19 Zentimetern Außendurchmesser ungewöhnlich groß bemessen.53 In den Missivbüchern der Stadt ist eine zeitgenössische Zeichnung des Rings erhalten. Über Größe und Farbwahl informiert die beigestellte Erläuterung: „Daz ist der Juden zeichen an weytin und lengin an brait und sol gelbe sein.“54 Inwiefern der aufwendig dargestellte Judenhut innerhalb des Ringes tatsächlich auch bei den Stoffzeichen Anwendung fand oder hier nur durch den Zeichner eine zusätzliche Illustration des Bezugs auf die Juden beabsichtigt war, ist unklar. Da eine 1435 in Schaffhausen nachweisbare rotfarbige Kennzeichnung ebenfalls den Ring mit Judenhut zeigt55, 49

StA Augsburg, Urkundensammlung 1434, Nr. 32 (23. 9. 1434). Mütschele 1996 (wie Anm. 14), S. 306 f.; Schreiner 2008 (wie Anm. 29); Magin 1999 (wie Anm. 25), S. 157. 51 Ariel Toaff: The Jewish Badge in Italy during the 15th century, in: Alfred Ebenbauer/ Klaus Zatloukal (Hg.): Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, Wien/Köln/Weimar 1991, S. 275–280. 52 Vgl. zur Kennzeichnung in Venedig besonders Ravid 1992 (wie Anm. 35), S. 182. Vgl. zum Symbolgehalt jetzt Flora Cassen: The Jewish badge in early modern Italy: A social and political study of anti-Jewish discrimination, New York 2007 (Diss. masch.), S. 227–242. 53 Mütschele 1996 (wie Anm. 14), S. 161. 54 StA Augsburg, Missivbuch III (1429–1435), Nr. 1387, fol. 334r. Vgl. auch Abb. II. 55 (Art.) Schaffhausen, in: Germania Judaica III,2, Tübingen 1995, S. 1307–1315, hier S. 1309. Vgl. zu diesem Fall zuletzt Hans-Jörg Gilomen: Kooperation und Konfrontation. 50

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Christian Jörg Abb. 2: Zeichnung der für Augsburg vorgesehenen Kennzeichnung in den Missivbüchern des städtischen Rates (1434). © StA Augsburg, Missivbuch III (1429–1435), Nr. 1387, fol. 334r.

könnte allerdings tatsächlich auch in Augsburg ein in dieser Form gehaltenes Zeichen intendiert und somit ein Verweis auf den zuvor im Reichsgebiet als Unterscheidungsmerkmal üblichen Judenhut angedacht gewesen sein. Gelb ist zwar in der Wahrnehmung unserer Zeit nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts durchaus als Farbe für derartige „Judenkennzeichnungen“ markiert, doch waren die Zeichen während der mittelalterlichen Jahrhunderte keineswegs grundsätzlich gelb, auch wenn eine solche Engführung auf diese angeblich einheitliche Farbwahl (und eine somit bestehende Symbolisierung der Judenfeindschaft durch diese Farbgebung) auch in Arbeiten neueren Datums durchaus noch begegnet.56 Die Farbvorgaben während des hohen und späten Mittelalters – wie auch die Form der Zeichen selbst – variierten stark. Eine Vielzahl von Farben fand in diesem Zusammenhang Verwendung, und manche Statuten verzichteten – in Anlehnung an einschlägige Konzilserlasse – sogar völlig auf explizite Regelungen zur Farbgebung.57 Wie bereits erwähnt, findet sich eine deutliche Zunahme der Farbe Gelb und eine zusätzliche feste Formgebung der Zeichen als Ring an der Kleidung während des 15. Jahrhunderts und dies in größerer Dichte zunächst vor allem südlich der Juden und Christen in den spätmittelalterlichen Städten im Gebiet der heutigen Schweiz, in: Matthias Konrad/Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Juden in ihrer Umwelt. Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter, Basel 2009, S. 157–227, hier S. 173. 56 Vgl. etwa (Art.) Farbensymbolik, in: Gerd Heinz-Mohr (Hg.): Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, München 111992 (zuerst 1971), S. 100–102, hier S. 101. Vgl. auch die in dieser Hinsicht programmatische Titelwahl bei Elisabeth Endres: Die gelbe Farbe. Die Entwicklung der Judenfeindschaft aus dem Christentum, München u. a. 1989. 57 Zu diesem Themenfeld bereitet der Autor eine vertiefende Untersuchung vor.

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Alpen in den Statuten der Städte Ober- und Mittelitaliens.58 Im nordalpinen Reichsgebiet stand unter den nachweisbaren Fällen Augsburg am Beginn dieser Tendenz, während der gelbe Ring in den oberdeutschen Regionen ansonsten erst mit der Legationsreise des Nikolaus von Kues zur Mitte des Jahrhunderts überlokale Verbreitung fand.59 Selbstverständlich blieb die tatsächliche Anwendung der Kennzeichnung auch noch zu dieser Zeit von den Verhältnissen vor Ort und den überlokalen Konstellationen abhängig. Häufig unterschätzt werden hierbei allerdings die Möglichkeiten der Juden, durch diplomatische Aktivitäten und die Aufwendung finanzieller „Ausgleichszahlungen“ derartige Repressalien abzuwenden.60 Auch wenn im Falle der Augsburger Juden solche Bemühungen schließlich offensichtlich erfolglos blieben, bedeutet dies keineswegs, dass keine Ansprechpartner für derartige Bestrebungen zur Abwehr der Ratsansprüche zur Verfügung gestanden hätten. Vielmehr spricht bereits die lange Dauer von deutlich über zwei Jahren bis zur Bewilligung der Kennzeichnung von königlicher Seite dafür, dass auch die Juden bei diesem in der genannten Frage aktiv wurden, wofür – wie häufig in solchen Fällen – jedoch die Quellenlage genauere Auskünfte kaum erlaubt. In direktem Anschluss an das kaiserliche Privileg für den Augsburger Rat vom Herbst 1434 schaltete sich allerdings mit Reichserbmarschall Haupt von Pappenheim der Landvogt ein, dem von Sigismund seit 1429 die jährliche Augsburger Judensteuer verschrieben worden war.61 Offensichtlich war Haupt von Pappenheim nun von den Augsburger Juden auf die bevorstehende Einführung des Kennzeichens und deren mögliche Folgen hingewiesen worden. Umgehend bemühte sich der Reichserbmarschall, die Umsetzung durch seine Intervention beim Augsburger Rat zumindest aufschieben zu lassen, wobei der Wortlaut des Antwortschreibens Augsburgs auch auf den Versuch Haupt von Pappenheims hindeuten könnte, gegen eine entsprechende Zahlung von Seiten der jüdischen Gemeinde einen völligen Verzicht des Rates auf die Kennzeichnung zu erwirken.62 Der höchst-

58 Vgl. zu den Lebensbedingungen von Juden nördlich und südlich der Alpen den Beitrag von Alfred Haverkamp innerhalb des vorliegenden Bandes. Vgl. zur Anwendung des Gelben Ringes in Italien bereits Anm. 51 und Anm. 52. 59 Thomas Izbicki: Nicholas of Cusa and the Jews, in: Inigo Bocken (Hg.): Conflict and Reconciliation: Perspectives on Nicholas of Cusa, Leiden/Boston 2004 (Brill’s Studies in Intellectual History 126), S. 119–130, hier S. 125–128. 60 Vgl. für einen solchen Fall etwa Arye Maimon: Der Judenvertreibungsversuch Albrechts II. von Mainz und sein Mißerfolg, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 4 (1978), S. 191–220. Im Falle der Augsburger Juden könnte eine Kontaktaufnahme zu Sigismund möglicherweise über den auch innerhalb der dortigen Judengemeinde einflussreichen Feyvelmann erfolgt sein, der noch 1434 durch Sigismund einen weitreichenden individuellen Schutzbrief erhielt. Vgl. hierzu Reinhard Seitz u. a.: (Art.) Augsburg, in: Germania Judaica 3.1, Tübingen 1987, S. 39–65, hier S. 49. 61 Vgl. hierzu Mütschele 1996 (wie Anm. 14), S. 220. 62 StA Augsburg, Missivbuch III, Nr. 1416, fol. 342v. Der nachdrückliche Hinweis des Augsburger Rates, dass man das Statut zur Einführung des Zeichens weder ändern kön-

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wahrscheinlich auf Bitten der jüdischen Gemeinde erfolgten diplomatischen Initiative des Landvogts war jedoch – anders als im Falle ähnlicher Interventionen andernorts in früherer und späterer Zeit – kein Erfolg beschieden.

IV. Nach der Einführung der Kennzeichnung verdichteten sich – wie bereits eingangs erwähnt – die antijüdischen Maßnahmen der Augsburger Führung in enger Anlehnung an die Reformdiskussionen und Ausgrenzungsvorgaben des Basler Konzils. So argumentierte der Rat anlässlich der bereits erwähnten Auflösung des Augsburger Judengerichts im Jahre 1436, dass man sich bei gelehrten geistlichen Richtern erkundigt habe und diese bestätigt hätten, dass es sich um eine schwere Sünde handele, wenn sich Juden und Christen – wie bisher geschehen – gemeinsam in der Synagoge zusammenfänden, um in auch Christen betreffenden Angelegenheiten Recht zu sprechen.63 Inwiefern die seit 1434 in den Quellen Erwähnung findende Abgrenzung der Augsburger Judengasse durch eigens gespannte Seile mit der innerhalb des Konzilsdekrets „De Iudeis et Neophitis“ Erwähnung findenden Forderung einer strikten räumlichen Trennung von christlichen und jüdischen Wohnbezirken in Verbindung zu bringen ist, kann nicht eindeutig geklärt werden. Für die verstärkte Umsetzung räumlicher Separierungsbemühungen finden sich nördlich der Alpen aber seit den dreißiger Jahren erstmals deutliche Belege.64 Auch in Frankfurt, wo die Umsiedlung der dortigen Juden in einen eigens abgegrenzten Wohnbezirk schließlich 1462 erfolgte, sind bereits für den hier im Zentrum der Betrachtung befindlichen Zeitraum – nämlich für 1432/33 und 1439 – erstmalige Planungen in dieser Angelegenheit dokumentiert.65 Gerade im Augsburger Fall könnte es sich in diesem Zusammenhang um ein frühes Beispiel der von christlicher Seite erfolgten, deutlich ausgrenzenden Anlehnung an die durch die Juden mittels Seilen vorgenommene Markierung ihrer Wohnbezirke für den Schabbat handeln, was insbesondere durch die zeitliche Parallelität zu den weiteren exkludierenden Beschlüssen des Rates gestützt werden könnte. Allerdings waren entsprechende, keinesfalls zwangsläufig sozial ausgrenzende Markierungen und Sperrungen durch Seile in den Wohnbereichen spätmittelalterlicher Städte durchaus nicht unüblich, weshalb eine abschließende Bewertung der diesbezüglichen Augsburger Verhältnisse schwerfällt.66 ne, noch dies tun wolle, lässt vermuten, dass der Landvogt auf einen gänzlichen Verzicht gedrängt hatte. 63 Vgl. Anm. 10. 64 Vgl. so zuletzt auch Markus J. Wenninger: Grenzen in der Stadt? Zur Lage und Abgrenzung mittelalterlicher deutscher Judenviertel, in: Aschkenas 14 (2004), S. 9–29. 65 Ebd., S. 25 f. 66 Vgl. mit Blick auf exkludierende Maßnahmen dieser Art zuletzt Birgit E. Klein: Obrigkeitliche und innerjüdische Quellen: ein untrennbares Miteinander, in: Rolf Kießling/Pe-

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Ihren Höhepunkt erreichten die antijüdischen Vorgaben des Augsburger Rates schließlich mit dem Ausweisungsbeschluss von 1438. Innerhalb des bereits ausführlicher behandelten Geflechts religiöser, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rahmenbedingungen, das diese Vorgänge im Augsburger Fall begünstigte, sollen im Folgenden auch der wirtschaftliche Niedergang der jüdischen Gemeinden und dessen Folgen thematisiert werden. Erhebliche Bedeutung bei diesen langfristigen Vorgängen im Reichsgebiet kam sicherlich den fiskalischen Ansprüchen des Königtums und dabei insbesondere den mehrfach geforderten Sonderabgaben zu.67 Diese zielten während der spätmittelalterlichen Jahrhunderte vor allem auf eine Nutzbarmachung der bei den nominell der königlichen Kammer zugeordneten Juden befindlichen oder vermuteten Vermögenswerte zu Gunsten des zumeist hoch verschuldeten Königshofes ab. Bekannte und in besonders offensichtlicher Weise auf eine finanzielle Auspressung der Juden des nordalpinen Reichsgebiets ausgerichtete Maßnahmen stellen die sogenannten Judenschuldentilgungen dar. Gerade die unter König Wenzel in den Jahren 1385 und 1390 vorgenommenen Tilgungsmaßnahmen, für die sich bereits 1343 unter Ludwig dem Bayern Vorläufer nachweisen lassen, brachten dem König und den beteiligten städtischen Ratsgremien und Fürsten zwar kurzfristig bemerkenswerte finanzielle Gewinne ein, schwächten aber die Finanzkraft der jüdischen Gemeinden in nachhaltiger Weise und begünstigten zudem die wachsende Abwanderung bedeutender Finanziers nach Oberitalien.68 ter Rauscher/Stefan Rohrbacher/Barbara Staudinger (Hg.): Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007 (Colloquia Augustana 25), S. 253–283, hier S. 269–271. Vgl. für Gegenbeispiele besonders Alfred Haverkamp: Topographie und soziale Beziehungen in den deutschen Städten des Spätmittelalters, zuletzt in: Friedhelm Burgard/Lukas Clemens/Michael Matheus (Hg.): Gemeinden, Gemeinschaften und Kommunikationsformen im hohen und späten Mittelalter. Festgabe zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Trier 2002, S. 121–145. 67 Vgl. hierzu Wenninger 1981 (wie Anm. 15); Isenmann 2003 (wie Anm. 33), zu „König und Reich“ besonders S. 2216–2261; Peter Aufgebauer/Ernst Schubert: Königtum und Juden im deutschen Spätmittelalter, in: Susanna Burghartz/Hans-Jörg Gilomen/Guy Paul Marchal (Hg.): Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, Sigmaringen 1992, S. 273–314. Vgl. auch allgemein den grundlegenden Überblick bei Eberhard Isenmann: Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert, in: ZHF (Zeitschrift für historische Forschung) 7 (1980), S. 1–76 und S. 129–218. Vgl. mit Blick auf die frühe Neuzeit Peter Rauscher/Barbara Staudinger: Widerspenstige Kammerknechte. Die kaiserlichen Maßnahmen zur Erhebung von „Kronsteuer“ und „Goldenem Opferpfennig“ in der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas 14 (2004), S. 313–363. 68 Vgl. zuletzt Karel Hruza: „Anno domini 1385 do burden die iuden … gevangen“: Die vorweggenommene Wirkung skandalöser Urkunden König Wenzels (IV.), in: Ders./Paul Herold (Hg.): Wege zur Urkunde. Wege der Urkunde. Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, Köln 2005 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 24), S. 111–167. Vgl. auch die ältere Gesamtdarstellung von Arthur Süssmann: Die Judenschuldentilgungen unter König Wenzel, Berlin 1907 (Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums 2). Vgl. zur Ansiedlung von aus dem nordalpinen Regnum stam-

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Wie verheerend die Folgen jener königlichen Schuldentilgungen in den Städten letztlich auch für das Königtum selbst waren, zeigen die rückläufigen Einkünfte aus den regulären Steuern beispielsweise bereits unter König Ruprecht. Das Bemühen um eine Systematisierung und erneute Intensivierung der fiskalischen Ansprüche ist in der Folge während der Regierungszeit Sigismunds von Luxemburg (1410/11–1437) zu konstatieren. Im direkten Vorfeld des Konstanzer Konzils, an dessen Zustandekommen Sigismund maßgeblichen Anteil hatte und dessen Rahmen er für die Umsetzung weitreichender Reformvorhaben in Reich und Kirche zu nutzen gedachte, nahmen der König und sein Hof hierbei ein Vorhaben in Angriff, das sich in mancher Weise mit Blick auf das 15. Jahrhundert als prägend erweisen sollte. Die Rede ist von einer außerordentlichen Steuer, die von den Juden des Reiches erhoben werden sollte. Mit dem Erbkämmerer Konrad von Weinsberg, der allerdings erst am 16. Juni 1415 eine Generalvollmacht zu deren Einziehung erhielt, tritt auch jene Person erstmals in der Organisation entsprechender Zahlungen hervor, die über die Regierungszeit Sigismunds hinaus die finanziellen Beziehungen zwischen den Juden des Reiches und der königlichen Kammer dominieren sollte.69 Die Vorhaben Sigismunds und seines Beraterkreises mit Bezug auf das Reich zielten naturgemäß auf eine Stärkung der königlichen Position und damit der eigenen Handlungsspielräume ab. Sie waren vor diesem Hintergrund maßgeblich von dem Bestreben gekennzeichnet, der mangelnden territorialen Hausmacht Sigismunds im engeren Reichsgebiet und den finanziellen Engpässen durch einen verstärkten Zugriff auf die traditionell königsnahen Regionen und nicht zuletzt auf die Reichsstädte zu begegnen.70 Neben den Planungen des Luxemburgers bezüglich eines überregionalen Landfriedens, eines Städtebundes unter königlicher Führung oder einer Reform des Münzwesens ist hierbei auch bereits früh das Bemühen um eine Intensivierung des herrschaftlich-fiskalischen Zugriffs auf die Juden zu erkennen, bei welchem man sich an die älteren Konzeptionen der jüdischen Kammerknechtschaft und der königlichen Schutzfunktion anlehnen konnte.71 menden Juden in Oberitalien am Beispiel Trevisos jüngst Angela Möschter: Juden im venezianischen Treviso (1389–1509), Hannover 2008 (Forschungen zur Geschichte der Juden/A 19). 69 Karl Schumm: Konrad von Weinsberg und die Judensteuer unter Kaiser Sigismund, in: Württembergisch Franken 54 (1970), S. 20–58. Vgl. allgemein zu Person und Einfluss Konrads zudem Bernd Fuhrmann: Konrad von Weinsberg. Ein adliger Oikos zwischen Territorium und Reich, Stuttgart 2004 (VSWG Beihefte 171); Ders.: Adliges Wirtschaften im Spätmittelalter. Das Beispiel Konrad von Weinsberg, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 68 (2009), S. 73–102; Hartmut Welck: Konrad von Weinsberg als Protektor des Basler Konzils, Sigmaringen 1973 (Forschungen aus Württembergisch Franken 7); Dieter Karasek: Konrad von Weinsberg. Studien zur Reichspolitik im Zeitalter Sigismunds, Nürnberg 1967. 70 Wefers 1989 (wie Anm. 20), S. 44–56. 71 Vgl. zur Kammerknechtschaft der Juden den Beitrag von Alfred Haverkamp in dem vorliegenden Band.

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Für diesen letztgenannten und im Rahmen von Untersuchungen jener Initiativen des Luxemburgers im Reich zumeist nur am Rande beachteten Aspekt findet sich mit der erwähnten Forderung einer durch die Juden aufzubringenden außerordentlichen Steuer für das Jahr 1414 ein höchst bemerkenswerter Fall. Es handelt sich hierbei um die Leistung des sogenannten Dritten Pfennigs – einer Abgabe in Höhe eines Drittels des mobilen Besitzes der Juden. Diese als Sondersteuer einzuordnende Maßnahme sollte mit Blick auf den fiskalischen Zugriff von Seiten des Reiches auf die Juden für die Folgezeit eine herausragende und gleichsam „wegweisende“ Bedeutung erlangen. Neben den regulär anfallenden jährlichen Steuern sollten die Juden – so ließ der König seit dem Spätsommer 1414 den städtischen Räten bzw. in der Folge deren Gesandtschaften auf den Hoftagen von Nürnberg und Heilbronn mitteilen – eine Abgabe zahlen, mit deren Hilfe seine seit seiner Wahl entstandenen und weiter anfallenden Kosten in Reichsangelegenheiten ausgeglichen werden sollten.72 Bezug genommen werden konnte hierbei von königlicher Seite auf den Italienzug der Jahre 1413/14, die Bemühungen um das Zustandekommen des Konstanzer Konzils sowie die Organisation der zu dieser Zeit noch anstehenden Krönungsfeierlichkeiten, die am 8. November 1414 in Aachen stattfinden sollten.73 Den Nürnberger Hoftag beschickte auch die Augsburger Führung mit Gesandten und Boten, wie die Stadtrechnungen verzeichnen.74 Es trat bald zu Tage, dass in diesem Zusammenhang die Leistung des dritten Pfennigs von den jüdischen Kammerknechten erwartet wurde. Diese Forderung betraf selbstverständlich auch die reichsstädtischen Führungsgremien nicht zuletzt aufgrund der Vermögensverluste der Juden und der daraus zu erwartenden Minderung der städtischen Steuereinkünfte in erheblichem Maße. Zudem hatten die Reichsstädte im Umfeld der bereits erwähnten ersten sogenannten Judenschuldentilgung König Wenzels aus dem Jahre 1385 die Summe von 40 000 Gulden an den Letzteren abgeführt und sich dabei auch Rechte bezüglich der eigenständigen Besteuerung der Juden gesichert.75 Für die chronisch finanzschwache königliche Kammer waren die Steuerleistungen der Juden neben den Steuern der Reichsstädte die einzig regelmäßig eintreffenden und damit kalkulierbaren Einkünfte, was ihre essentielle Bedeutung für das

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Schumm 1970 (wie Anm. 69), S. 27–29. Vgl. zu den jeweiligen Hintergründen ausführlich Hoensch 1996 (wie Anm. 2), S. 162– 190. 74 Vgl. die Edition der entsprechenden Einträge in: Dietrich Kerler (Hg.): Deutsche Reichstagsakten, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Ältere Reihe (künftig RTA), Bd. VII: unter Kaiser Siegmund 1410–1420, Dietrich Kerler (Hg.), München 1878, Nr. 157, S. 222: „Item 4 1/2 guldin dem Plossen unserm herren dem kung gen Nurnberg […] Item 50 guldin haben wir geben dem von haideg und Bastian Ilsung gen Nurnberg, gen Rotenburg zu unserm herren dem kung mit 19 pfariten von 9 tagen.“ 75 Schumm 1970 (wie Anm. 69), S. 27. 73

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Reichsoberhaupt erklärt. Eben aus diesem Grunde begegnet in der königlichen Argumentation im Rahmen dieser eigentlich einer Konfiskation weiter Vermögensteile gleichkommenden Sondersteuer zu Lasten der Juden auch eine der klassischen Widersprüchlichkeiten, welche diese Beziehungsebene zwischen Verbindung und Ausgrenzung während des 15. Jahrhunderts insgesamt kennzeichnet: Der König beklagte anlässlich der Erhebung seiner Sondersteuer die Verluste, die dem Reich durch das Vorgehen Wenzels entstanden seien und kündigte an, die Juden als des Reiches Kammerknechte vor fremden Ansprüchen und Behelligungen unter besonderen königlichen Schutz und des Reiches Schirm zu stellen. Dies sollte aber selbstverständlich erst erfolgen, nachdem diese die exorbitant hohe Steuer an ihn geleistet hätten.76 Angesichts derartig weitgehender Eingriffe in ihre Belange bemühten sich die städtischen Räte und insbesondere ihre Gesandten bereits im Vorfeld des Konstanzer Konzils, genauere Informationen über die Steuerforderung und deren Umsetzung in Erfahrung zu bringen sowie die eigenen Juden in der Abwehr der hohen finanziellen Ansprüche zu unterstützen. Dabei verselbständigten sich rasch die Gerüchte über die von den Juden anderer Städte gezahlten Summen, welche wiederum als Orientierungswerte für die zu erwartenden Aufwendungen der eigenen Juden herangezogen werden konnten und mussten. Einen aufschlussreichen Bericht vom Hoftag zu Heilbronn übermittelten beispielsweise die Frankfurter Gesandten Jakob Brun und Johann von Ergirsheim am 15. Oktober 1414 an den heimischen Rat, innerhalb dessen von kursierenden Nachrichten über gewaltige Summen von 12 000 Gulden die Rede ist, welche die Kölner und Nürnberger Juden angeblich jeweils bezahlt hätten.77 Wenig später, am 22. Oktober 1414, wollte der Frankfurter Schreiber Heinrich in Mainz gar bereits von der ungeheueren Summe von 84 000 Gulden gehört haben, welche Beauftragte des Königs nun von den Kölner Juden gefordert hätten.78 Mit Gerüchten um derartig hohe Beträge wurden die Augsburger Juden im Herbst des Jahres 1414 bezeichnenderweise nicht in Verbindung gebracht. Gerade aufgrund der finanziellen Belastungen, welchen die Judengemeinde insbesondere während des letzten Viertels des 14. Jahrhunderts ausgesetzt war, konnten solche Aufwendungen auch kaum als realistisch eingeschätzt werden.79 Nachdem Karl IV. 1373/74 im Zuge des Erwerbs der Mark Brandenburg zu einer weitgehenden Weitergabe der Kosten an die Reichsstädte und auch die dortigen Juden geschritten war80, sahen sich der Augsburger 76

Ebd., S. 28. RTA, Bd. VII 1878 (wie Anm. 74), Nr. 160, S. 230–232. 78 Ebd., Nr. 161, S. 233. 79 Vgl. zu den im Folgenden genannten Forderungen und Leistungen ausführlich Mütschele 1996 (wie Anm. 14), S. 221–239 und S. 253 f., sowie Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 14), S. 35. 80 Gerd Heinrich: Kaiser Karl IV. und die Mark Brandenburg. Beiträge zu einer territorialen Querschnittsanalyse (1371–1378), in: BlldtLG (Blätter für deutsche Landesgeschich77

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Rat und die Augsburger Juden mit der Forderung konfrontiert, 36 000 Gulden bzw. 10 000 Gulden aufzubringen. Die Juden wurden durch den Rat gefangen gesetzt und die Zahlung der 10 000 Gulden auf diesem Wege erpresst. Im Zuge der „außenpolitischen“ Aktivitäten des Schwäbischen Städtebundes81 kam es insbesondere im Jahre 1384 zu finanziellen Forderungen des städtischen Rates an die Juden, der durch erneute Inhaftierungen eine Zahlung von 22 000 Gulden erzwingen konnte. Bereits 1381 waren die Juden allerdings in gleicher Weise zur Leistung von 5000 Gulden gezwungen worden. Durch die erwähnten Schuldentilgungsmaßnahmen unter König Wenzel wurde die verbliebene Finanzkraft weiter merklich geschwächt. Dies gilt umso mehr, als manche Juden Augsburg verließen, wobei sich insbesondere die bedeutenderen Finanziers nach Italien orientiert haben dürften. Waren im Jahre 1385 noch 65 jüdische Steuerzahler in Augsburg verzeichnet gewesen, so sank deren Zahl bis zum Jahre 1390 auf 17.82 Von den jüdischen Steuerzahlern wurden im Jahre 1380 noch 16,6 Prozent zu Zahlungen über 20 Gulden verpflichtet, während 1392 kein Augsburger Jude mehr diese Zahlungsstufe erreichte.83 Hatte sich auch offenbar zur Zeit des von Sigismund geforderten Dritten Pfennigs im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts die Lage etwas stabilisiert84, so blieben die finanziellen Veranschlagungen der Augsburger Juden dennoch deutlich hinter jenen der Kölner, Nürnberger oder auch schon der Frankfurter Juden, wobei die Letzteren 5000 Gulden zahlten, zurück.85 Die te) 114, 1978, S. 407–432; Hans Kurt Schulze: Karl IV. als Landesherr der Mark Brandenburg, in: JbGMOD (Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands) 27 (1978), S. 138–168. 81 Vgl. zu den Rahmenbedingungen einer spezifisch städtischen „Außenpolitik“ während des späten Mittelalters die Beiträge in Christian Jörg/Michael Jucker (Hg.): Spezialisierung und Professionalisierung. Träger und Foren städtischer Außenpolitik während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wiesbaden 2010 (Trierer Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 1). 82 Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 14), S. 35. 83 Vgl. zu den Zahlen Dean Phillip Bell: Sacred communities. Jewish and Christian identities in fifteenth-century Germany, Boston/Leiden 2001 (Studies in Central European Histories), S. 133. 84 Die Einnahmen des Augsburger Rates aus der jährlichen Judensteuer beliefen sich 1392 und 1393 lediglich auf 49 Gulden, 1405 gar nur noch auf 47 Gulden, während diese nach 1410 wieder Werte zwischen 80 bis 90 Gulden erreichten. Vgl. Grünfeld 1917 (wie Anm. 14), S. 39 f. 85 Vgl. zu Nürnberg und Köln bereits Anm. 77 und Anm. 78. Vgl. zur Frankfurter Summe zudem Isidor Kracauer: Geschichte der Juden in Frankfurt am Main (1150–1824), Bd. I, Frankfurt am Main 1925, S. 151. Vgl. zum finanziellen Aufstieg der Frankfurter Judengemeinde während des 15. Jahrhunderts besonders Michael Toch: Wirtschaft und Geldwesen der Juden Frankfurts im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Karl-Erich Grözinger (Hg.): Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein internationales Symposium der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main und des Franz Rosenzweig Research Center for German Jewish Literature and Cultural History, Wiesbaden 1997 (Jüdische Kultur 1), S. 25–46.

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schließlich ausgehandelte und nichtsdestotrotz immer noch erhebliche Summe von 2 800 Gulden, welche die Juden Augsburgs aufzubringen hatten, lag deutlich höher als etwa die im Falle Ulms nachweisbaren 933 Gulden oder auch als die von Worms und Mainz zunächst vorgeschlagenen, allerdings durch die Beauftragten des Königs abgelehnten Angebote von 1500 bzw. 2000 Gulden.86 Insgesamt erzielte die königliche Kammer mit dieser ersten die Juden betreffenden Sondersteuer unter Sigismund zwar hinter den Erwartungen zurückbleibende, aber dennoch nicht zu vernachlässigende Einnahmen. Die tatsächlich gezahlten Summen waren zumeist ein Ergebnis der Verhandlungen zwischen den städtischen Führungsgremien und jüdischen Gemeindevertretern auf der einen und Beauftragten des Königs auf der anderen Seite. Auch in Augsburg war der Rat hierbei offensichtlich bestrebt, in dieser die städtischen Interessen in elementarer Weise betreffenden Frage einer Sonderabgabe die eigene Position zu sichern, um so als Instanz zwischen dem König und den reichsstädtischen Augsburger Juden in die Verhandlungsvorgänge eingebunden zu bleiben.87 Angesichts des an den vergleichsweise hohen Einnahmen der königlichen Kammer gemessenen „Erfolgs“ der außerordentlichen Steuer kann es kaum überraschen, dass auch in den folgenden Jahren weitere gesonderte finanzielle Forderungen von Seiten der Reichsherrschaft an die Juden gerichtet wurden. Solche Ansprüche, die sich teilweise in erheblichen Größenordnungen bewegten, folgten unter der Federführung des Erbkämmerers insbesondere 1417/18, 1423, 1428, nach Sigismunds Kaiserkrönung im Jahre 1433 sowie während der kurzen Regierung Albrechts II. (1438/39).88 Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die außerordentliche Steuer von 1414 aufgrund ihrer zeitlichen Parallelität zu der Königskrönung Sigismunds teilweise bereits in den Gesandtschaftsberichten der Zeit eher mit der Krönung des Königs als mit dessen die eigentliche Begründung liefernden Mühen für das Reich und das Konzil in Verbindung gebracht wurden. Solche fließenden Übergänge in der Wahrnehmung der Steuer scheinen sich im Laufe der Zeit verfestigt zu haben. Obwohl es sich formal nämlich nicht um eine Krönungssteuer handelte, diente die Sonderabgabe von 1414 als Vorbild und Legitimation, um eine solche bereits anlässlich der vollzogenen Kaiserkrönung Sigismunds dann im November 1433 in Basel erstmals regulär einzufordern.89 Konrad von Weinsberg, der in der Organisation der Steuereintreibung auch Juden als Bevollmächtigte einsetzte90, gab seinen Beauftragten folgende Instruktion zur Begründung der 86

Vgl. zu den genannten Summen: Dietrich Kerler: Zur Geschichte der Besteuerung der Juden durch Kaiser Sigmund und König Albrecht II., in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 3 (1889), S. 1–13 und S. 107–129, hier S. 4 f. Siehe auch Mütschele 1996 (wie Anm. 14), S. 202. 87 Mütschele 1996 (wie Anm. 14), S. 202 f. 88 Isenmann 2003 (wie Anm. 33), S. 2231–2240 und S. 2245–2252. 89 Ebd., S. 2231 f.; Schumm 1970 (wie Anm. 69), S. 36 f. 90 Schumm 1970 (wie Anm. 69), S. 29.

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Steuer: „Ir solt sprechen zum ersten: Do mein herre der keiser konig ward, do gab man im den tritten pfennig, diweil er nu keiser worden ist, so ist seiner gnaden forderung daz halb tail.“91 Die Einziehung des Zweiten Pfennigs – also der Hälfte der mobilen jüdischen Vermögenswerte – konnte jedoch aus wirtschaftlichen Gründen nicht aufrecht erhalten werden, was den Organisatoren im Umfeld des Kaisers auch durchaus bewusst war. Aus diesem Grunde fährt die Instruktion in der Folge fort: „Item und darnach solt ir geen uf den dritten pfennig. Item ir habt aber macht uf den vierden pfennig.“92 Da die Beauftragten Konrads von Weinsberg jedoch zunächst kaum Erfolge vorweisen konnten, ging man schließlich dazu über, zusätzlich zu den städtischen Ratsgesandten auch Delegationen der jüdischen Gemeinden an den Konzilsort nach Basel zu laden, um dort die zu leistenden Summen auszuhandeln.93 Völlig durchgesetzt hatte sich die Wahrnehmung der Abgabe als althergebrachte Krönungssteuer aber offenbar noch nicht, da etwa der Frankfurter Rat bei den eigenen Gesandten vor Ort Erkundigungen einzog, ob Sigismund die Zahlung der Juden als Geschenk oder als Rechtsanspruch erwarte.94 Wie bereits Eberhard Isenmann festgestellt hat, erfolgte die Quittierung der geleisteten Zahlung zumeist in der Tat als „Ehrung“ oder „Schenkung“, was für die Juden und die städtischen Führungsgremien einen erheblichen rechtlichen Unterschied gegenüber einer durch einen allgemeinen Rechtsanspruch begründeten regelmäßigen Steuer darstellte.95 Dennoch darf der aus heutiger Perspektive positiv besetzte Begriff „Schenkung“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass von der mit diesem Terminus implizierten Freiwilligkeit der Zahlung in der Realität keine Rede sein kann. Auch der Augsburger Rat bemühte sich nicht zuletzt im eigenen Interesse, die finanzielle Belastung der Judengemeinde im Rahmen der 1433/34 erneut erfolgenden reichsherrschaftlichen Besteuerungsinitiative im Gefolge der Kaiserkrönung und Rückkehr Sigismunds zum Basler Konzil möglichst gering zu halten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, in welcher Weise sich hier unterschiedliche Handlungsstränge reichsstädtischer Politik berührten. Der Augsburger Rat beauftragte nämlich am 2. Dezember 1433 mit dem seit 1427 mehrmals auch als Bürgermeister fungierenden Stephan Hangenor einen seiner einflussreichsten und bedeutendsten Politiker als Gesandten damit, die Augsburger Juden – die „judischeit, die unser burger sind“ – im Rah91

RTA (wie Anm. 74), Gustav Beckmann (Hg.), Bd. XI, Gotha 1898, Nr. 168, S. 311. RTA, Bd. XI 1898 (wie Anm. 91) Nr. 168, S. 311. 93 Isenmann 2003 (wie Anm. 33), S. 2233 f.; Schumm 1970 (wie Anm. 58), S. 36 f. 94 RTA, Bd. XI 1898 (wie Anm. 91), S. 306. Vgl. zu diesem Fall Isenmann 2003 (wie Anm. 33), S. 2231. 95 Isenmann 2003 (wie Anm. 33), S. 2231–2333. Der Kaiser berief sich allerdings in einem entsprechenden Schreiben ausdrücklich bereits auf altes Herkommen der Steuer und sprach von einem verpflichtenden Charakter der „Ehrung“. Vgl. RTA, Bd. XI 1898 (wie Anm. 91), Nr. 163, S. 296 f. 92

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men der Verhandlungen in Basel zu unterstützen.96 Er sollte sich in dieser Angelegenheit auch an Haupt von Pappenheim wenden, um ihn in seiner Funktion als Landvogt und Inhaber der regulären Augsburger Judensteuer sowie als Vertrauten Sigismunds im Augsburger Sinne in die Verhandlungen einzubeziehen und somit eine erneute finanzielle Belastung der Juden zu verhindern. Zudem bat man Hangenor, die kaiserliche Bestätigung aller Privilegien der Augsburger Juden („all ir freyheit, gnad und brief“) zu erwirken. Gleichzeitig erinnerte das Schreiben den Gesandten aber auch daran, sich möglichst nachhaltig für die zu jener Zeit noch nicht durch den Kaiser bewilligte Kennzeichnung der Augsburger Juden einzusetzen.97 In der Frage der Steuerforderung wurde die zu leistende Summe noch im Dezember 1433 auf 1500 Gulden angesetzt, wobei die Augsburger Führungsgremien Haupt von Pappenheim eigens darauf hinwiesen, dass die Juden zu einer solchen Zahlung durch ihre Privilegien keineswegs verpflichtet seien.98 Wie auch die Juden anderer Städte leisteten jedoch auch jene Augsburgs dennoch diese Zahlung an die kaiserliche Kammer, wobei Nürnberg mit 4000 Gulden erneut am höchsten angesetzt wurde und sich die Augsburger mit 1500 Gulden ungefähr auf einer Ebene mit der Gemeinde Regensburgs (1400 Gulden) bewegten.99 Die in Anlehnung an den Dritten Pfennig aus dem zeitlichen Umfeld des Konstanzer Konzils erfolgte Verstetigung jüdischer Zahlungsverpflichtungen zu einer „Krönungssteuer“ war somit vollzogen. Als Albrecht II. nach dem Tode Sigismunds 1438 zum Römischen König gewählt wurde, aber aufgrund der schweren politischen und militärischen Krisen in Böhmen und Ungarn nicht zur Krönung im Reich erscheinen konnte, wurde bereits unter Verweis auf angebliches „altes Herkommen“ der Dritte Pfennig als Krönungssteuer – in diesem Falle dann also bestenfalls eine Wahlsteuer – verlangt.100 Ebenso forderten Friedrich III. nach seiner Krönung zum König 1442 und nach der Kaiserkrönung 1452 sowie Maximilian 1493 den Dritten Pfennig als Krönungssteuer. Die Einordnung der Sondersteuer als althergebrachte Krönungssteuer verselbständigte sich hierbei in zunehmender Weise, so dass Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach, der die noch ausstehenden Krönungsabgaben von Friedrich III. am 13. Juli 1461 übertragen erhalten hatte101, bekanntlich 1464 folgendermaßen argumentieren konnte: Es sei im Reich bekannt, dass, wenn ein König gewählt würde, dieser die Wahl hätte, 96

Vgl. die entsprechende Briefinstruktion an Stephan Hangenor in: StA Augsburg, Schätze 105. Missivbuch III (1429–1435), Nr. 1146, fol. 272r. Vgl. zum Bürgerstatus den Beitrag von Alfred Haverkamp in dem vorliegenden Band. 97 StA Augsburg, Schätze 105. Missivbuch III (1429–1435), Nr. 1146, fol. 272r. 98 Ebd., Nr. 1161, fol. 275r. 99 Mütschele 1996 (wie Anm. 14), S. 228. 100 Isenmann 2003 (wie Anm. 33), S. 2236–2241. 101 Vgl. zu der Übertragung und den Aktivitäten des Markgrafen zudem Markus J. Wenninger: Die Judensteuerliste des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg aus dem Jahre 1461, in: Aschkenas 13 (2003), S. 361–424.

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die Juden entweder nach altem Herkommen zu brennen oder ihnen die Gnade zu erweisen, ihm den Dritten Pfennig zu erstatten, um ihr Leben zu retten.102 Möglicherweise war es gerade die den anderslautenden Privilegien eindeutig widersprechende nochmalige Forderung einer außerordentlichen Steuer von Seiten der Reichsherrschaft, die den Entschluss des Augsburger Rates reifen ließ, die Juden aus der Stadt zu verweisen. Das auch im Zusammenhang mit der 1433/34 durch den Kaiser geforderten Krönungssteuer zu beobachtende massive Engagement des Rates zugunsten der eigenen Juden stand vor allem mit der Abwehr von Ansprüchen und Eingriffen in Verbindung, die von außerstädtischen Instanzen an diese gerichtet wurden und die damit auch in den von Ratsseite beanspruchten Zuständigkeitsbereich des zunehmend obrigkeitlich agierenden reichsstädtischen Führungsgremiums hinein wirkten. Das kostspielige Engagement zur Eindämmung derartiger Eingriffsmöglichkeiten der Reichsgewalt, von auswärtigen Fürsten, Herren und unterschiedlichsten Gerichten sowie die Vermeidung der zugehörigen Prozesse gehörte – über die gängigen Argumentationsmuster hinaus – im 15. Jahrhundert sicherlich ebenfalls zu den Faktoren, die manchen städtischen Magistrat schließlich bewogen, eine Ausweisung der Juden in den Blick zu nehmen. Den hohen Kosten und dem massiven organisatorischen Aufwand im Rahmen der städtischen Außenpolitik stand im Kalkül der städtischen Führungsgremien ein stetig sinkender Nutzen durch geminderte steuerliche Einnahmen des Rates oder durch die Tätigkeit in der Geldleihe gegenüber, wobei letztere selbst in das Zentrum der Agitation aus Kreisen des Klerus rückte.103 Der Augsburger Rat jedenfalls nutzte nach dem Tode Sigismunds im Dezember 1437 am 7. Juli des folgenden Jahres die auch reichspolitisch wohl günstig erscheinende Gelegenheit, die Juden aus den eigenen Stadtmauern zu weisen. Sigismunds Nachfolger und Schwiegersohn aus habsburgischem Hause, Albrecht II., blieb nach seiner Wahl – wie erwähnt – zunächst dem Reich fern und durch die Konflikte in Böhmen und Ungarn außerhalb des engeren Binnenreiches gebunden.104 Möglicherweise hofften die Augsburger zumindest im Vorfeld der Beschlussfassung von 1438 zudem, bei dem neu gewählten König Zustimmung für die Ausweisung zu finden105, da dieser selbst als Herzog von Österreich die Juden Wiens und weiterer niederösterreichischer 102 Karl Adolf Constantin Höfler (Hg.): Das kaiserliche Buch des Markgrafen Achilles. Vorkurfürstliche Periode 1440–1480, Bayreuth 1850 (Quellensammlung für fränkische Geschichte 2.1), Nr. 41, S. 108. Vgl. hierzu Isenmann 2003 (wie Anm. 33), S. 2233. 103 Vgl. zu dieser Frage und den anders ausgefallenen Beschlüssen des Frankfurter Rates demnächst Jörg 2012 (wie Anm. 25). 104 Günther Hödl: Albrecht II. Königtum, Reichsregierung und Reichsreform, Wien u. a. 1978. 105 Eine solche Verbindung der Augsburger Ausweisung zur Wahl Albrechts II. und dessen Vorgehen gegen die Juden in Wien und Niederösterreich 1420/21 vermutet Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 14), S. 36.

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Orte bereits in den von Furcht vor den Hussiten geprägten Jahren 1420/21 hatte ausplündern, vertreiben und teilweise hinrichten lassen.106 Albrecht II. war im Zuge königlicher Fiskalinteressen allerdings im Gegenteil sehr an der Präsenz und der weiter durch Konrad von Weinsberg organisierten Besteuerung der Juden im Reich gelegen, weshalb im direkten Gefolge der Wahl umgehend auch für den Habsburger eine weitere „Krönungssteuer“ eingefordert wurde.107 Die erhoffte königliche Bestätigung der Ausweisung jedenfalls gelang den Augsburger Gesandten in den Jahren 1438 und 1439 nicht108, was sich unter Albrechts Nachfolger für die Stadt als kostspieliges Versäumnis erweisen sollte. Neben den reichspolitischen Aspekten dürften die im Sommer 1438 auch in Schwaben ihren Höhepunkt erreichende schwere Hungersnot jener Jahre109, ein mit dieser in Verbindung stehender Epidemieausbruch sowie die hierdurch weiter verschärften Krisen der städtischen Wirtschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Vor einem derartigen Hintergrund wird sich insbesondere die gegen den Wucher gerichtete Predigttätigkeit – auf die auch der Ausweisungsbeschluss eigens verweist – nochmals intensiviert haben.110 Der Befehl der städtischen Führung setzte den Juden eine zweijährige Frist bis zum Sommer des Jahres 1440, um die Stadt zu verlassen. Ausdrücklich hebt das Dekret hervor, dass diese zeitliche Befristung den Juden lediglich mit Rücksicht auf die Interessen und Einkünfte des Landvogtes Haupt von Pappenheim zugebilligt worden war.111 Dies kann als Reaktion des Rates auf die Verwicklungen verstanden werden, mit denen man sich nach der Einfüh-

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Vgl. zu den Vorgängen im Umfeld der sogenannten Wiener Gesera, in welchen Juden auch angesichts von Verfolgung und Zwangstaufen den Freitod wählten, etwa Toch 2003 (wie Anm. 16), S. 2309 und 2318 f.; Kurt Schubert: Die Wiener Gesera und der Freitod von Wiener Juden zur „Heiligung Gottes“, in: Birgit E. Klein/Christiane E. Müller (Hg.): Wege jüdischen Erinnerns: Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, S. 541–551. Vgl. zur Verknüpfung von antijüdischen Maßnahmen und der Furcht vor den Hussiten auch Israel Yuval: Juden, Hussiten und Deutsche. Nach einer hebräischen Quelle, in: Alfred Haverkamp/Franz-Josef Ziwes (Hg.): Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992 (ZHF Beiheft 13), S. 59–101. 107 Vgl. Anm. 100. 108 Die bei Steinthal 1911 (wie Anm. 14), S. 49, erwähnte Bewilligung gegen eine Geldzahlung dürfte sich eher auf eine allgemeine Privilegienbestätigung Augsburgs beziehen. Vgl. so auch Reinhard Seitz u. a.: (Art.) Augsburg, in: Germania Judaica 3.1, Tübingen 1987, S. 39–65, hier S. 49. 109 Der Augsburger Rat sah sich 1437/38 zum Kauf von 2 000 Schaff (ca. 300 Tonnen) Roggen und Weizen in den weit entfernten österreichischen Gebieten gezwungen, die ihm Herzog Albrecht V., der spätere König Albrecht II., in den Wintermonaten gestattete. Aufgrund zahlreicher Ausfuhrverbote und Transitsperren für Korn verzögerte sich die Ankunft dieses Korns allerdings bis in den Sommer. Vgl. ausführlich Jörg 2008 (wie Anm. 21), S. 309–315. 110 Vgl. bereits Anm. 28 sowie Anm. 22 zur Einordnung von Hunger und Seuchen durch die Reformatio Sigismundi. 111 Chroniken der deutschen Städte, Bd. 5 1866 (wie Anm. 11), S. 377.

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rung des Gelben Rings von 1434 kurzfristig aufgrund der Intervention des Reichserbmarschalls konfrontiert sah. Dass die Hoffnung auf einen dem eigenen Vorhaben günstig gegenüberstehenden Albrecht II. bereits im Sommer 1438 nach der Bekanntgabe des erneuten Steuerprojekts in den Augsburger Führungsgremien geschwunden war, zeigt zudem die deutlich formulierte Drohung, die den Juden eine Appellation an den König in dieser Angelegenheit untersagte.112 Auch wenn die Augsburger Juden dennoch in der Folge an den König und an Konrad von Weinsberg herantraten, blieb der Ratsbeschluss in Kraft. Ein Engagement erschien gerade dem Reichserbkämmerer offenbar auch finanziell aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs der Augsburger Gemeinde kaum mehr als lohnend.113 Spätestens seit dem Jahr 1440 sind keine Juden mehr in Augsburg nachweisbar. Dennoch sollte die Ausweisung für den Rat im Zuge der königlichen Fiskalpolitik noch Folgen zeitigen: Kaiser Friedrich III. insistierte zwar im Jahre 1456 nicht auf eine Wiederaufnahme von Juden in Augsburg, konnte aber eine Zahlung der erheblichen Summe von 12 000 oder 13 000 Gulden von Seiten des städtischen Rates durchsetzen, da die Augsburger Führung ohne Legitimation der Reichsherrschaft die Juden aus der Stadt verwiesen hatte und sich somit fast zwanzig Jahre später eine entsprechende Privilegierung durch Friedrich III. mit diesem hohen finanziellen Aufwand erkaufen musste.114

V. Die Augsburger Ratspolitik gegenüber den Juden der schwäbischen Reichsund Kathedralstadt während der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts ist keineswegs als isolierter Vorgang zu betrachten. Vielmehr sind die Ereignisse in Augsburg vor dem Hintergrund des Zusammentreffens vielgestaltiger lokaler Gegebenheiten und überlokaler Faktoren einzuordnen, die wiederum jeweils untereinander in vielfacher Form verbunden und gleichsam unauflöslich verwoben waren. Dieses komplexe Zusammenspiel der im Rahmen des vorliegenden Beitrags nur überblicksartig zu schildernden Gegebenheiten und Wandlungsvorgänge auf religiösen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und rechtlichen Ebenen bot den Hintergrund der in Augsburg greifbaren antijüdischen Maßnahmen, die sich zwischen 1432 und 1438 stetig verdichteten. Kaum zufällig liegt dieser engere zeitliche Rahmen im Zentrum weitreichender und vielschichtiger Krisenerscheinungen und ebenso breit gefasster Reformkonzeptionen in Kirche und Reich, die nur in europäischen Zusammenhängen

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Ebd., S. 377 f. Seitz u. a. 1987 (wie Anm. 108), S. 49; Schimmelpfennig 1995 (wie Anm. 14), S. 37. 114 Es existieren in der städtischen Chronistik abweichende Berichte, welche die an den Kaiser geleistete Summe auf 12 000 Gulden bzw. auf 13 000 Gulden beziffern. Vgl. Chroniken der deutschen Städte, Bd. 5 1866 (wie Anm. 11), S. 380. 113

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einzuordnen sind und unter denen beispielsweise die Reformdiskussionen im Umfeld des Konstanzer und Basler Konzils oder die unter der Herrschaft Sigismunds greifbaren königlichen Bemühungen um eine Herrschaftsintensivierung im Reich für die Augsburger Vorgänge konkrete Bedeutung gewannen. In welcher Weise überlokale und überregionale Verbindungslinien hierbei wirksam wurden, zeigt auch die mit dem Augsburger Fall von 1434 erstmals im nordalpinen Reichsgebiet nachweisbare Kennzeichnung der Juden mit dem sogenannten Gelben Ring. Mit dieser von jüdischer Seite als in besonderer Weise diskriminierend empfundenen Form der Kennzeichnung orientierte man sich wohl an dem Beispiel der Städte Ober- und Mittelitaliens, wo der Ring mit einem über die früheren Zeichen ähnlicher Art hinausgehenden, eigenen Symbol- und Markierungscharakter seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert Verbreitung fand. Berufen konnte sich die Augsburger Führung bei ihrem Vorgehen bezeichnenderweise auf die sich im politischen Umfeld des Konstanzer Konzils und zunächst mit einem räumlichen Schwerpunkt auf der Iberischen Halbinsel wieder intensivierenden Diskussionen um die Beziehungen zwischen Christen und Juden, die schließlich mit dem scharf formulierten Dekret „De Iudeis et Neophitis“ im September 1434 auf dem Basler Konzil einen Höhepunkt erreichten. Offensichtlich lieferte erst die Verabschiedung dieses Dekrets auch den Anlass für Kaiser Sigismund, den zu dieser Zeit bereits seit zwei Jahren von Augsburger Gesandten an ihn herangetragenen Bemühungen um eine Kennzeichnung der Augsburger Juden nachzugeben. Die durch den Luxemburger seit seinem Regierungsantritt im Reich systematisch betriebenen fiskalischen Projekte, die in Anlehnung an die Politik seiner Vorgänger insbesondere auf Kosten jüdischer Vermögen eine Linderung der königlichen Finanzengpässe herbeizuführen gedachten, dürften wiederum eine maßgebliche Rolle bei den sich zwischen 1430 und 1440 massiv häufenden Ausweisungen von Juden aus den Städten des Reiches gespielt haben. Minderte zum einen der finanzielle Niedergang der jüdischen Gemeinden deren Attraktivität für die zunehmend obrigkeitlich agierenden städtischen Räte, so wurden offenbar die durch eine solche Präsenz vorhandenen Eingriffsmöglichkeiten des Reichsoberhauptes und weiterer Akteure in die Regelungskompetenz des Rates im innerstädtischen Bereich als Ärgernis wahrgenommen. Freilich mussten diese negativen Rahmenbedingungen nicht zwangsläufig zu der in Augsburg festzustellenden Verdichtung exkludierender Maßnahmen führen, die schließlich in dem Ausweisungsbeschluss vom Sommer des Jahres 1438 kulminierten. Auch wenn zeitlich parallel andere Reichsstädte ähnlich agierten, war dies in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts keineswegs in allen Städten des Reiches der Fall. Dies verweist erneut auf das Zusammenspiel lokaler, regionaler und überregionaler Gegebenheiten und Faktoren, die hierbei zusammentrafen bzw. wirksam wurden und die auch in dem vorliegenden Fall die fließenden Grenzen zwischen dem „Innen“ und „Außen“ reichsstädtischer Politik dokumentieren.

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DIE ULMER JUDEN UND IHR UMFELD IM 14. JAHRHUNDERT Von Christian Scholl

I. Dieser Beitrag liefert einen Überblick zur Geschichte der Ulmer Judengemeinde von ihren Anfängen bis zum Ende des 14. Jahrhunderts.1 Dazu werden zunächst die Ursprünge der mittelalterlichen Gemeinde einer kurzen Betrachtung unterzogen, bevor eine zeitliche Schwerpunktsetzung auf die Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgt. So wird neben der Verfolgung des Jahres 1349 insbesondere die Anfangszeit der Gemeinde nach der Wiederansiedelung näher analysiert, als es offenbar zu Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gekommen war. Daran anschließend wird auf die 1370er Jahre eingegangen, in denen die Ulmer Juden den Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen Macht erreicht hatten. Mit der Betrachtung der sogenannte „Judenschuldentilgungen“ unter König Wenzel, die Reichtum und Wohlstand der Ulmer Juden abrupt beendeten, schließt der Hauptteil dieses Aufsatzes. Ein Schlusswort fasst die Ergebnisse nochmals zusammen und gibt darüber hinaus einen kurzen Ausblick auf die weitere Geschichte der Ulmer Judengemeinde im 15. Jahrhundert. Der Umstand, dass die Anfänge der Ulmer Judengemeinde unbekannt sind, hat in den vergangenen Jahrhunderten die unterschiedlichsten Aussagen zum Ursprung der Gemeinde hervorgebracht. So berichtet der Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri in seiner um das Jahr 1490 angefertigten Beschreibung der Stadt Ulm, dem „Tractatus de civitate Ulmensi“2, man habe einige Jahre zuvor auf dem Friedhof der Ulmer Franziskaner einen Stein mit hebrä-

1 Der Aufsatz basiert auf meinem Dissertationsprojekt „Die Geschichte der Juden in der Reichsstadt Ulm während des späten Mittelalters“, das an der Universität Trier von Prof. Dr. Alfred Haverkamp betreut wird. Darin werden die vielschichtigen Beziehungen zwischen Ulmer Juden und Christen sowie den Juden untereinander analysiert und in einen größeren Kontext eingebettet. Zahlreiche Aspekte, die im Rahmen dieses kurzen Beitrags nur knapp angeschnitten werden können, werden in der Dissertation vertieft dargestellt. 2 Das lateinische Original des Textes wurde 1889 ediert, vgl. Gustav Veesenmeyer (Hg.): Fratris Felicis Fabri Tractatus de civitate Ulmensi, de eius origine, ordine, regimine, de civibus eius et statu, Tübingen 1889 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 186). Eine Übersetzung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts angefertigt, vgl. Konrad Diedrich Hassler: Bruder Felix Fabris Abhandlung von der Stadt Ulm, in: Ulm und Oberschwaben. Mitteilungen des Vereins für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben 13–15 (1908/1909), S. 1–141.

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ischen Buchstaben gefunden. Daraufhin habe ein Jude, der zur Entzifferung der Schrift herbeigeführt wurde, erklärt, es handele sich dabei um eine jüdische Grabinschrift, die noch aus der Zeit vor dem Tode Christi stamme.3 Wenngleich Fabri diese Ansicht teilt – und mit ihm einige Autoren, die sich in späteren Jahrhunderten mit der Geschichte der Juden in Ulm befassten4 –, so besteht doch kein Zweifel darüber, dass die Datierung falsch ist und dass es sich bei dem betreffenden Monument um einen mittelalterlichen und keinesfalls um einen antiken Grabstein handelte. Fehldatierungen wie diese waren im Übrigen keine Seltenheit5 und konnten natürlich das Resultat eines Lesefehlers sein. Daneben sollte jedoch zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass ein Jude einen Grabstein absichtlich falsch datierte. Schließlich konnte so „bewiesen“ werden, dass Juden schon vor dem Tode Christi am betreffenden Ort ansässig waren und dass die Mitglieder der Gemeinde bzw. deren direkte Vorfahren demzufolge keine Schuld an der Kreuzigung Jesu tragen konnten. Damit wiederum konnte auch der den Juden häufig gemachte Vorwurf des Ritualmordes entkräftet werden, denn – so die Implikation – wenn bereits die Vorfahren der des Ritualmordes angeklagten Juden nicht an der Kreuzigung Jesu beteiligt waren, würden auch deren Nachfahren Marterung und Hinrichtung Jesu nicht an einem christlichen Kind nachahmen.6 Konkrete Hinweise für die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Ulm liefern erst die 40er Jahre des 13. Jahrhunderts. Die erste urkundliche Erwähnung der Ulmer Juden im sogenannten Reichssteuerverzeichnis von 12417, in welchem die Ulmer Gemeinde mit der geringen Steuersumme von sechs Mark

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Veesenmeyer 1889 (wie Anm. 2), S. 17 f., und Hassler 1908/1909 (wie Anm. 2), S. 12. So hält beispielsweise Eugen Nübling „die Nachricht des Ulmer Chronisten Felix Fabri […] nicht für unwahrscheinlich, dass sich in Ulm schon längst vor der Geburt des Heilands eine blühende Judengemeinde befunden habe“, vgl. Eugen Nübling: Die Judengemeinden des Mittelalters, insbesondere die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm. Ein Beitrag zur deutschen Städte- und Wirtschaftsgeschichte, Ulm 1896, S. 1. 5 Weitere Fehldatierungen sind zum Beispiel aus Köln und Wien überliefert, vgl. Patrick Stoffels: Die Wiederverwendung jüdischer Grabsteine im Mittelalter. Staatsexamensarbeit masch. Trier 2008, S. 67. 6 Dafür, dass es sich im Falle des Ulmer Grabsteines um eine absichtliche Fehldatierung handelt, spricht die zeitliche Nähe zum Regensburger Judenprozess von 1476–1480. Darin verteidigten sich die des Ritualmordes angeklagten Regensburger Juden nämlich u. a. mit dem Argument, ihre Vorfahren hätten schon lange vor der Geburt Christi in Regensburg gelebt und seien dementsprechend unschuldig an dessen Kreuzigung gewesen. Vgl. an neuerer Literatur zum Ritualmordprozess in Regensburg, der wesentlich vom Trienter Judenprozess beeinflusst war, Wolfgang Treue: Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588), Hannover 1996 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 4), S. 393–403. Darin wird auf die grundlegenden älteren Darstellungen zum Regensburger Prozess von Moritz Stern und Raphael Straus verwiesen. 7 Jakob Schwalm (Hg.): Constitutiones et Acta Publica Imperatorum et Regum, Bd. 3, Hannover 1904–1906, ND Hannover 1980 (MGH Const. 3), S. 1–5. 4

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aufgeführt wird8, sowie der Grabstein für die Jüdin Bellet, Tochter des R. Salomo, aus dem Jahr 12439 zeugen davon, dass sich Juden spätestens in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Ulm niedergelassen hatten. In der modernen Forschungsliteratur umstritten ist die Frage, ob es sich bei dem Juden Josef bar Mose, der 1233 einen illuminierten Bibelkommentar Raschis und drei Jahre später eine illuminierte hebräische Riesenbibel in Auftrag gab, um einen Juden aus Ulm handelte.10 Grund für die Annahme, Josef bar Mose hätte ein Ulmer Jude sein können, gibt der Kolophon der hebräischen Bibel, der als Auftraggeber Josef bar Mose aus Ulmen oder Olmen (ʠʰʮʬʥʠʮ) nennt.11 Zwar ist es durchaus möglich, dass sich diese Namensform tatsächlich auf Ulm an der Donau bezieht, doch da keine andere hebräische Quelle die Stadt Ulm als „Ulmen“ oder „Olmen“ bezeichnet, ist wahrscheinlicher, dass der im Kolophon genannte Josef bar Mose nicht mit der Stadt Ulm an der Donau in Verbindung zu bringen ist, zumal es in der Eifel sowie in der Nähe von Straßburg und Mainz gleich mehrere kleinere Orte gibt, die urkundlich seit dem 10. Jahrhundert unter dem Namen Olmen, Ulmen, Ulmena oder Ulmene belegt sind.12 Da ein Josef bar Mose in der Mitte des 13. Jahrhunderts als Rabbiner und Teilnehmer einer Rabbinerkonferenz in Mainz nachgewiesen ist13, steht zu vermuten, dass der im Kolophon genannte Josef bar Mose ursprünglich aus einem dieser kleinen Orte stammte und später in der bedeutenden Schum-Gemeinde Mainz als Rabbiner wirkte – „Ulmen“ oder „Olmen“ wäre dementsprechend die Herkunftsbezeichnung Josefs und würde nicht den aktuellen Wohnort bezeichnen. Gegen die Identifizierung des Joseph bar Mose als Ulmer Juden spricht ferner, dass es nur einem überaus wohlhabenden Juden möglich sein konnte, illuminierte Handschriften in Auftrag zu geben. Die Anwesenheit eines der8 Dieser geringe Betrag lässt auf eine zahlenmäßig eher kleine und vermögensschwache Gemeinde schließen, bleibt er doch beispielsweise deutlich hinter der Summe von 30 Mark zurück, welche die Esslinger Juden zu zahlen hatten. Große, vermögende Gemeinden wie Worms und Straßburg wurden gar mit 130 bzw. 200 Mark veranschlagt. 9 Der Stein wurde im 19. Jahrhundert an der Südseite des Ulmer Münsters, in dem eine Vielzahl von ehemaligen jüdischen Grabsteinen verbaut worden war, aufgefunden, vgl. Markus Brann: Jüdische Grabsteine in Ulm, in: Württembergischer Rabbiner-Verein (Hg.): Festschrift zum 70. Geburtstage des Oberkirchenrats Dr. Kroner, Stuttgart/Breslau 1917, S. 162–188, hier S. 172 f. 10 Eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bietet Katrin Kogman-Appel: Christianity, Idolatry, and the Question of Jewish Figural Painting in the Middle Ages, in: Speculum 84 (2009), S. 73–107, hier S. 73, Anm. 3. 11 Ein Abdruck des Kolophons befindet sich in Ismar Elbogen/Aron Freiman/Haim Tykocinski: Germania Judaica, Bd. 1. Von den ältesten Zeiten bis 1238, Breslau 1917–1934, ND Tübingen 1963, S. 254. 12 Ebd., S. 253 f. 13 Ebd., S. 202, sowie darauf basierend Elisabeth Klemm: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Textband, Wiesbaden 1998 (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 4), S. 12.

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art vermögenden Juden mit seiner Familie im Ulm der späten 1230er Jahre lässt sich jedoch nur schwer mit der geringen Steuersumme der jüdischen Gemeinde von 1241 in Einklang bringen. In die zu jenem Zeitpunkt wesentlich bedeutendere Mainzer Gemeinde würde ein vermögender Kunstsammler sehr viel eher passen, zumal dort eine Person gleichen Namens bezeugt ist. War die Ulmer Judengemeinde um die Mitte des 13. Jahrhunderts noch eher klein und unbedeutend, so scheint sie in den folgenden Jahrzehnten sowohl an Mitgliedern als auch an Finanzkraft zugenommen zu haben. Dies kann daran ermessen werden, dass die Ulmer Judensteuer in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein beliebtes Pfandobjekt darstellte, das gleich mehrmals versetzt wurde14: Erstmals wurde diese im November 1324 zusammen mit der Nördlinger Judensteuer von König Ludwig dem Bayern an die Grafen von Oettingen übertragen15, was Ludwigs Konkurrent und Nachfolger Karl IV. im Dezember 1347 bestätigte.16 Bereits zwei Monate zuvor hatte Karl seinem Getreuen Albrecht von Rechberg neben anderen Einkünften auch die Ulmer Judensteuer versetzt.17 Diese doppelte Verpfändung lässt sich wohl am ehesten dadurch erklären, dass nicht die gesamte, sondern jeweils nur ein Teil der Steuer versetzt wurde. Ein ähnlicher Fall scheint zwei Jahre zuvor vorgelegen zu haben, als Ludwig der Bayer im Juni 1345 seinem Sohn, Herzog Stephan von Niederbayern, zusätzlich zur Ulmer Reichssteuer, die er ihm bereits zuvor verschrieben hatte, die Ulmer Judensteuer verpfändete18, obwohl sich diese seit knapp 20 Jahren im Pfandbesitz der Grafen von Oettingen befand. Im Hinblick auf das Steueraufkommen der Ulmer Juden ist zu erwähnen, dass diese bis zum Sommer des Jahres 1348 einen Steuerverbund mit den wenige Kilometer südöstlich von Ulm gelegenen Judensiedlungen von Ehingen und Schelklingen bildeten. Dies geht aus einer Urkunde Karls IV. vom 1. August 1348 hervor, in der der König den Ulmer Juden verbot, die Juden der habsburgischen Grafschaften Ehingen und Schelklingen weiterhin zu „schatzen“ und zu besteuern.19 Da nur verboten wird, was vorher gängige Praxis 14

Vgl. zu Verpfändungen von Judensteuern, die seit der Zeit Ludwigs des Bayern stark zugenommen hatten, auch den Beitrag von Alfred Haverkamp in diesem Band. 15 Jakob Schwalm (Hg.): Constitutiones et Acta Publica Imperatorum et Regum, Bd. 5, Hannover/Leipzig 1909–1913, ND Hannover 1981 (MGH Const. 5), S. 844, Nr. 1016. 16 Karl Zeumer/Richard Salomon (Hg.): Constitutiones et Acta Publica Imperatorum et Regum, Bd. 8, Hannover 1910–1926, ND Hannover 1982 (MGH Const. 8), S. 472 f., Nr. 430, und ebd., S. 475 f., Nr. 436. 17 Ebd., S. 327, Nr. 271. 18 Josef K. Knöpfler: Die Reichsstädtesteuer in Schwaben, Elsaß und am Oberrhein zur Zeit Kaiser Ludwig des Bayern. Mit einem Anhange ungedruckter Urkunden zur Geschichte der schwäbischen Städte zur Zeit Ludwig des Bayern, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte. Neue Folge 11 (1902), S. 287–351, hier S. 349, Nr. 28. 19 Zeumer/Salomon 1910–1926 (wie Anm. 16), S. 642, Nr. 633. Darin gebietet Karl „der Judeschaft gemain di do wonent und sitzent in unserr und des reichs stat ze Ulme […], daz ir nichtes furbaz mer ze schaffen haben sullent wen lieb und gut mit den Juden, di do

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war, kann davon ausgegangen werden, dass die Ulmer Juden bis zu diesem königlichen Mandat ihre Glaubensgenossen in Ehingen und Schelklingen besteuerten. Jene Urkunde ist somit eine der wenigen Quellen christlicher Provenienz, die deutlich macht, dass eine jüdische Gemeinde im Mittelalter nicht rein lokal auf eine Niederlassung konzentriert war, sondern dass einem Ort mit Zentralfunktion wie Ulm (der Kehilla) mehrere kleinere Tochtersiedlungen (Jeschuwim) im regionalen Umfeld zugeordnet waren.20 Bestätigt wird dieser Befund durch die Memorbücher von Nürnberg und Deutz, die in zum Teil hierarchisch gegliederten Listen die Orte nennen, deren Bewohner den Pestverfolgungen zum Opfer fielen. So wissen wir beispielsweise durch diese hebräischen Quellen, dass dem Zentrum Ulm neben Ehingen und Schelklingen weitere kleinere Niederlassungen wie Bopfingen, Graisbach, Memmingen, Harburg, Gundelfingen, Aislingen und Rain zugeordnet waren.21 Die praktischen Auswirkungen dieser jüdischen Regionalorganisation zeigten sich darin, dass die kleineren Siedlungen in der Regel der Gerichtshoheit des Zentralortes unterstanden und dass sie dessen Gemeindeinstitutionen, besonders den Friedhof, in Anspruch nahmen.22 Ferner entrichteten die in einem Gemeindeverbund zusammengeschlossenen Ortschaften gemeinsam ihre Steuern. Darin liegt auch eine mögliche Erklärung dafür, warum Karl IV. den Ulmer Juden die Besteuerung der Ehinger und Schelklinger Juden untersagte: Die Steuern der Ulmer Juden standen nämlich dem König bzw. den Grafen von Oettingen und Albrecht von Rechberg zu, an die Karl sie verpfändet hatte, während die Ehinger und Schelklinger Juden „hindersezzen […] des hochgeborn Albrechten hertzogen ze Osterrich“23 waren, wie die Quelle explizit bemerkt. Damit standen wohl auch die Steuern der Ehinger und Schelklinger Juden den Habsburgern zu. Insofern ist es möglich, dass das Verbot Karls IV. auf Initiative der Habsburger zurückging, die gegen die Besteuerung „ihrer“ Ehinger und Schelklinger Juden durch die Ulmer Juden protestierten, da ihnen dadurch Einnahmeausfälle erwuchsen. Karl IV. wiederum konnte es sich in Anbetracht der prekären Lage, in der sich sein Königtum in der Anfangszeit befand, nicht erlauben, die Dynastie der Habsburger unter Herzog Alb-

hindersezzen sind des hochgeborn Albrechts hertzogen ze Osterrich […] in der grafschaft ze Schelchlingen und ze Ehingen und dieselben nicht mer beschatzen noch bestewren in dhainen weis“. 20 Vgl. zu dieser Thematik Rainer Barzen: Regionalorganisation jüdischer Gemeinden im Reich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Eine vergleichende Untersuchung auf der Grundlage der Ortslisten des Deutzer und Nürnberger Memorbuches zur Pestverfolgung, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen, Teil 1: Kommentarband, Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 14, 1), S. 293–366. 21 Ebd., S. 326 f. 22 Ebd., S. 302 f. 23 Zeumer/Salomon 1910–1926 (wie Anm. 16), S. 642, Nr. 633.

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recht II., der ihm erst im Juni 1348 als König gehuldigt hatte, gegen sich aufzubringen.24

II. Der Pogrom um die Mitte des 14. Jahrhunderts stellt die erste und einzige Verfolgung dar, der die Ulmer Judengemeinde bis zu ihrer Vertreibung 1499 zum Opfer fiel. Von sämtlichen vorherigen und nachfolgenden Verfolgungsaktionen im Reich wie den „Rintfleischpogromen“ 1298 oder den Verfolgungen, die sich 1384 in mehreren Städten in der Umgebung Ulms wie Nördlingen, Windsheim und Weißenburg ereignet hatten, blieben die Ulmer Juden verschont. Im Rahmen der Verfolgungen des Jahres 1384 zeigte sich auch, dass ein wirksamer Judenschutz durch das städtische Führungsgremium möglich war und öfter hätte realisiert werden können: So verhinderte der Ulmer Stadtrat nicht nur ein Übergreifen der Pogrome auf Ulm, er war auch maßgeblich an der Verurteilung der für den Judenmord in Nördlingen Verantwortlichen sowie am Ausschluss Nördlingens aus dem Schwäbischen Städtebund, dem die Stadt Ulm als Führungsmacht vorstand, beteiligt.25 Zwar sollte nicht übersehen werden, dass in diesem Fall Eigeninteressen eine gewichtige Rolle beim Judenschutz spielten, schließlich waren die Judenpogrome in Nördlingen, Winsheim und Weißenburg mit aufrührerischen Tendenzen gegen die jeweiligen Stadträte verbunden, doch blieb das Resultat in der Form eines effektiven Judenschutzes davon unberührt. Es ist möglich, dass ein undatiertes Statut aus dem Roten Buch der Stadt Ulm26, dem zufolge „man ain ieglich unzucht, die man an juden tet, zwivalt bessren sol“27, also dass an Juden begangene Gewalttaten doppelt geahndet werden sollten, auf das Jahr 1384 zurückgeht. Für die Datierung auf 1384 spricht die oben genannte Tat-

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Karls Legitimation war anfänglich sehr umstritten, da er 1346 noch zu Lebzeiten Ludwigs des Bayern als Gegenkönig gewählt worden war. Auch nachdem Ludwig im Oktober 1347 starb, wurde Karl nicht sofort überall im Reich als König anerkannt. Dies lag primär daran, dass die Wittelsbacher weiterhin ihren Anspruch auf die Krone geltend machten. Erst als Günther von Schwarzburg, den die Wittelsbacher im Januar 1349 gegen Karl auf den Thron gehoben hatten, im Mai desselben Jahres wieder abdankte und kurz darauf starb, festigte sich die Position Karls IV. 25 Wilhelm Vischer: Geschichte des Schwäbischen Städtebundes der Jahre 1376–1389, Göttingen 1862 (Forschungen zur deutschen Geschichte 2), S. 57, und Barbara Dohm: Juden in der spätmittelalterlichen Reichsstadt Nördlingen. Studien und Quellen. Diss. masch., Trier 2006, S. 58 f. 26 Das 1376 begonnene und bis ins 15. Jahrhundert reichende Rote Buch der Stadt Ulm besteht aus Beschlüssen und Verordnungen des Ulmer Stadtrates und verdankt seinen Namen dem Umstand, dass die Anfangsbuchstaben einiger Einträge mit roter Farbe geschrieben wurden. Es wurde 1905 ediert, vgl. Carl Mollwo (Hg.): Das Rote Buch der Stadt Ulm, Stuttgart 1905 (Württembergische Geschichtsquellen 8). 27 Ebd., S. 75, Nr. 134.

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sache, dass in jenem Jahr die Ratsherrschaften im Zuge der antijüdischen Pogrome in gleich mehreren Nachbarstädten Ulms bedroht waren. Insofern ist es möglich, dass der Ulmer Rat diese Verordnung zum Schutz der Juden erließ, um neben den Juden sein eigenes politisches Überleben zu retten. Die Pogromwelle zur Zeit des Schwarzen Todes griff gegen Ende des Jahres 1348 auf das Reichsgebiet über und sollte bis 1351 nahezu sämtliche Judengemeinden des nordalpinen regnums zerstört haben.28 Die Judengemeinden in Schwaben gehörten dabei zu den ersten Opfern der Verfolgungen im Reich und wurden größtenteils im Winter 1348/1349 vernichtet.29 Über den Hergang des Pogroms in Ulm geben die Quellen keine genauen Auskünfte, wie bereits Haverkamp und Graus konstatierten.30 Lediglich anhand einiger Urkunden vom Dezember 1348 lassen sich Vermutungen über die Judenverfolgung in Ulm, die sich am 30. Januar 1349 ereignete31, anstellen. Bei der ersten dieser Quellen handelt es sich um eine Urkunde vom 3. Dezember 1348, die die damaligen Landvögte in Oberschwaben, die Grafen von Helfenstein, dem Bürgermeister, dem Rat und der Bürgergemeinde von Ulm ausstellten.32 Aus dieser geht hervor, dass dem Ulmer Führungsgremium zunächst wenig an einem wirksamen Judenschutz gelegen war, sondern dass dieses erst auf Initiative der Landvögte hin ein Schutzversprechen für die Judengemeinde abgab. So heißt es in der Urkunde, dass die Grafen von Helfenstein der christlichen Stadtgemeinde Ulms „geholffen und geraten haben, und wisung und weg in haben geben, daz sie uenserm herrn dem kuenge und dem riche die Juden ze Ulme gefristet und geschirmet hant, daran sie sperrig waren, untz (= bis) wir uenser heizzen, hilff und rat dazue taten“. Insbesondere die Formulierung „daran sie sperrig waren“ macht das ursprüngliche Desinte28 Aus der Fülle der Publikationen zu den sog. Pestpogromen sollen an dieser Stelle lediglich zwei nach wie vor grundlegende Darstellungen genannt werden: Alfred Haverkamp: Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: Ders. (Hg.): Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24), S. 27–93, zuletzt erschienen in: Friedhelm Burgard/Alfred Heit/Michael Matheus (Hg.): Alfred Haverkamp. Verfassung. Kultur, Lebensform. Beiträge zur italienischen, deutschen und jüdischen Geschichte im Mittelalter. Dem Autor zur Vollendung des 60. Lebensjahres, Trier 1997, S. 223–297, sowie ferner: František Graus: Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen, 3. Auflage 1994 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86). 29 Christoph Cluse: Zur Chronologie der Verfolgungen zur Zeit des „Schwarzen Todes“, in: Haverkamp 2002 (wie Anm. 20), S. 223–242, hier S. 230 f. 30 Haverkamp 1981 (wie Anm. 28), S. 58, und Graus 1994 (wie Anm. 28), S. 224. 31 Über das genaue Datum der Verfolgung in Ulm informiert uns der Chronist Heinrich von Diessenhofen, vgl. Alfons Huber (Hg.): Heinricus de Diessenhofen und andere Geschichtsquellen Deutschlands im späteren Mittelalter. Herausgegeben aus dem Nachlasse Johann Friedrich Böhmers, Stuttgart 1868, ND Aalen 1969 (Fontes Rerum Germanicarum 4), S. 70. 32 Gustav Veesenmeyer/Hugo Bazing: Ulmisches Urkundenbuch, Bd. 2: Die Reichsstadt. Von 1315 bis 1378, 2 Teilbde., Ulm 1898–1900, S. 326 f., Nr. 326. Das Ulmische Urkundenbuch wird im Folgenden mit UUB 2,1 und UUB 2,2 abgekürzt.

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resse der Ulmer Führung am Schutz ihrer Juden deutlich. Des Weiteren setzt uns die Quelle darüber in Kenntnis, dass die Grafen von Helfenstein der Ulmer Stadtgemeinde versprachen, sie beim Schutz der Juden nach Kräften zu unterstützen.33 Ferner mussten die Juden der christlichen Stadtgemeinde ein Schutzgeld versprechen, damit diese ihnen beistand. Die Grafen von Helfenstein wiederum versicherten dem städtischen Rat, sich bei König Karl IV. dafür einzusetzen, dass dieser das Schutzgeld der Juden zum Ausbau der Stadt verwenden dürfte und dass der König das Abkommen zwischen der christlichen Stadtgemeinde und den Juden bestätigen würde.34 Die Juden zahlten das Schutzgeld in der Folge tatsächlich und die Ulmer Bürgerschaft erhielt auch die Erlaubnis Karls IV., das Geld für den gewünschten Zweck aufzuwenden. Beides wird aus einer Urkunde des Königs vom 30. Dezember 1348 ersichtlich35. Der Umstand, dass Karl IV. dem Bürgermeister, dem Rat und der Bürgergemeinde in derselben Quelle dafür dankt, dass sie sich „an der schirmung der iuden zu Ulme unser camerknechte […] so fleizzikleich beweist [haben]“, deutet darüber hinaus darauf hin, dass es bereits vor dem Pogrom vom 30. Januar 1349 zum Versuch einer Judenverfolgung gekommen war, der jedoch vereitelt werden konnte.36 Für diese Vermutung spricht ebenfalls die Urkunde vom 3. Dezember 1348, in welcher die Grafen von Helfenstein konstatieren, dass sie Bürgermeister, Rat und Bürgern von Ulm „geholffen und geraten haben, […] daz sie uenserm herrn dem kuenge und dem riche die Juden ze Ulme gefristet und geschirmet hant“.37 Der Gebrauch der Vergangenheitsformen in beiden Urkunden lässt vermuten, dass die Ulmer Führung bereits aktiv für den Schutz der Juden eintreten musste, was auf einen ersten Pogromversuch schließen lässt.38 33

Ebd.: „und darumbe han wir (= die Grafen von Helfenstein) dem burgermeister, dem rat und den burgern gemeinlichen zu Ulme versprochen und verheizzen in disem brief, daz wir in mit aller uensrer meht hilfflich sueln und wellen sin, die Juden ze Ulme ze schirmen“. 34 Ebd.: „und [wir] sueln ouch fuegen und schaffen, so wir erst konnen und muegen ungevarlich, daz uenser herre kuench Karl lediclichen ergit an ir stat buwe, waz in die Juden von dez selben schirms wegen versprochen und verheizzent hant ze geben, und daz er in ouch diu selb têding, als si mit den Juden ueber ein sint komen, mit sinen kuenchlichen brieffen vest in und bestête“. 35 UUB 2,1, S. 329 f., Nr. 330. Darin heißt es: „was di iuden ewer geben haben dar umb ir si beschirmet habt daz geben wir ew von besundern unsern kunigleichen gnaden, und wellen, daz ir da mit den bauwe ewrer stat volbringen sullet so ir da mit erleist müget“. 36 Gerade dieser Quellenauszug hat im Übrigen dazu geführt, dass mehrere Autoren, die sich in der Vergangenheit mit der Geschichte der Ulmer Juden befassten, die Auffassung vertraten, in Ulm habe sich keine Judenverfolgung ereignet, vgl. etwa Nübling 1896 (wie Anm. 4), S. 321. Diese Auffassung wurde zwar bereits von Herrmann Dicker widerlegt, vgl. Ders.: Die Geschichte der Juden in Ulm. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, Rottweil 1937, S. 83, Anm. 1, dennoch findet sich diese Nachricht gelegentlich auch noch in modernen Abhandlungen. 37 UUB 2,1, S. 326 f., Nr. 326. 38 Dass es in Ulm mehrere Pogromversuche gab, wurde bereits in der Vergangenheit vermutet, vgl. Dicker 1937 (wie Anm. 36), S. 15 f.

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Dennoch scheinen nach wie vor Zweifel daran bestanden zu haben, wie ernst das Ulmer Führungsgremium tatsächlich am Schutz der Juden interessiert war. Schließlich sah sich Karl IV. in der Urkunde vom 30. Dezember dazu veranlasst, Bürgermeister, Rat und Bürgergemeinde von Ulm ernsthaft zu ermahnen, dafür Sorge zu tragen, dass die Schutzversprechen der Grafen von Helfenstein für die Ulmer Juden auch eingehalten würden.39 Offensichtlich hatten die Helfensteiner der Ulmer Judengemeinde zugesichert, dass sich der Stadtrat als Gegenleistung für das Schutzgeld für die Juden einsetzen würde. Hätte kein Zweifel an der Bereitschaft des Rates zum Judenschutz bestanden, wäre eine derartige Ermahnung nicht nötig gewesen. Komplizierter wird das Bild dadurch, dass Karl IV. am 30. Dezember 1348 eine weitere Urkunde ausstellte, in welcher er die „verbundenuzze ainung und gelubde“, also eine Übereinkunft bzw. ein Bündnis, zwischen den Grafen von Helfenstein und dem Ulmer Stadtrat bestätigte.40 Zwar werden die Juden in der Urkunde mit keinem Wort erwähnt; darin heißt es lediglich, dass die Vertragspartner sich „verbunden haben, aller redlicher guter sache, die uns und dem rich nutze und erleich ist“41, doch wozu hätten sich die Helfensteiner und der Ulmer Rat in der gegenwärtigen Lage und nach Auskunft der weiteren Urkunden sonst verbünden sollen, wenn nicht zum Schutz der Juden? Im Übrigen zeigen die Bestätigung dieses Bündnisses durch den König sowie dessen Ermahnung an den Ulmer Stadtrat, die Schutzversprechen den Juden gegenüber einzuhalten ebenso wie die Bemühungen der königlichen Landvögte, dass Karl IV. durchaus willens war, seine jüdischen Kammerknechte zu schützen. Jedoch fehlten ihm die nötigen Machtmittel, um seinem Willen außerhalb der luxemburgischen Kernlande Geltung zu verschaffen.42 Fasst man die Erkenntnisse aus den Urkunden vom Dezember 1348 zusammen, so ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Einerseits war die Ulmer Führungsriege zunächst offenkundig wenig am Schutz ihrer Juden interessiert („sperrig“). Darüber hinaus verlangte sie ein Schutzgeld von den Juden und musste zur Einhaltung des Schutzversprechens nochmals ernsthaft ermahnt werden. Andererseits deuten Formulierungen in beiden Urkunden darauf hin, dass 39 UUB 2,1, S. 330, Nr. 330: „und uber daz gebiten wir (= Karl IV.) ew (= Bürgermeister, Rat und Bürgergemeinde) erenstleich und vestikleich bey unsern hulden und begeren des daz ir alle iuden di itzund bey ew sein oder noch zu ew kumen werden alle die gelubde stet und unverrüket haben und halden sullet di in von den edeln Ulrichen und Ulrichen graven zu Helffenstain landvogten in Obern Swawen unsern lieben getrewen geschehen sein“. 40 UUB 2,1, S. 328 f., Nr. 329. 41 Ebd. 42 Vgl. Haverkamp 1981 (wie Anm. 28), S. 89. Darin heißt es, dass „das Königtum Karls IV. bis zur Unterwerfung Günthers von Schwarzburg Ende Mai 1349 kaum über die Rolle eines Territorialherren hinausgewachsen [ist], der seine eigenen Machtpositionen an der äußersten Peripherie des Reiches besaß“, wobei Karl keine reelle Chance besaß, „dem politischen, finanziellen und auch physischen Zugriff der verschiedenen Gewalten und Gruppen auf die Juden wirksam entgegenzutreten.“

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der Stadtrat bereits vor dem Pogrom vom 30. Januar 1349 zum Schutz der Juden hatte eingreifen müssen. Daneben gab es allem Anschein nach einen Vertrag zwischen der christlichen Stadtgemeinde Ulms und den Grafen von Helfenstein zum Schutz der Juden. Diese Widersprüche deuten auf Spannungen innerhalb der Ulmer Führung hin, wie in Bezug auf die Juden zu verfahren sei. Dies wäre im Übrigen kein Einzelfall, wie Beispiele etwa aus Augsburg und Straßburg zeigen.43 Zu einer Änderung der Verhältnisse im Rat kam es in jener Zeit jedoch nicht. Die Vermutung, dass ein Teil der Ulmer Führungsschicht ihre „sperrige“ Haltung nicht aufgab und die Judenverfolgung sogar forcierte, ergibt sich daraus, dass im ersten Jahrzehnt nach dem Pogrom gleich mehrere Angehörige wohlhabender und politisch einflussreicher Familien als Immobilienbesitzer im Judenviertel urkundlich in Erscheinung treten, was zuvor nicht der Fall war. So waren es die Ulmer Bürger Konrad der Seffler und Krafft, Sohn des verstorbenen Lutz Krafft, sowie Bürgermeister Ulrich Rot und Walther Bitterlin, die den Juden nach ihrer Wiederansiedelung in Ulm 1354 und 1356 Synagoge und Friedhof gegen eine jährliche Gebühr verpachteten.44 Daneben verfügte gerade die Patrizierfamilie Krafft, die im 14. Jahrhundert zahlreiche Bürgermeister stellte, über weiteren Immobilienbesitz im Judenviertel. Neben dem bereits genannten Krafft, Sohn des verstorbenen Lutz Krafft, der Anteile an der Synagoge besaß, war mit seinem Bruder „Krafft am Kornmarkt“ ein weiteres Familienmitglied wenigstens im Besitz von zwei Häusern und einer Hofstätte in der Judengasse, wie aus mehreren Immobiliengeschäften zwischen 1358 und 1360 hervorgeht.45 Zwar lässt es sich nicht endgültig belegen, dass die genannten christlichen Bürger erst nach 1349 in den Besitz dieser Immobilien kamen und dass es sich bei den betreffenden Häusern in der Tat um ehemalige Wohnhäuser ermordeter oder geflohener Juden handelte, doch ist dies aufgrund der Fülle von Belegen für christlichen Immobilienbesitz im Judenviertel im ersten Jahrzehnt nach dem Pogrom anzunehmen. Neben dem Erwerb von Immobilien hofften einige Ulmer Bürger wahrscheinlich auf die Tilgung ihrer Schulden, auch wenn sich dies nicht quellenmäßig belegen lässt.

43 Ebd., S. 57 und S. 62–65. Weitere Beispiele für innerstädtische Auseinandersetzungen im Kontext der Judenverfolgungen von 1348–1351 in Alfred Haverkamp: „Innerstädtische Auseinandersetzungen“ und überlokale Zusammenhänge in deutschen Städten während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Reinhard Elze/Gina Fasoli (Hg.): Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Mittelalters, Berlin 1991 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 2), S. 89–126, hier S. 115–121, zuletzt erschienen in: Friedhelm Burgard/Lukas Clemens/Michael Matheus (Hg.): Alfred Haverkamp. Gemeinden, Gemeinschaften und Kommunikationsformen im hohen und späten Mittelalter. Festgabe zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Trier 2002, S. 147–182, hier S. 172–177. 44 UUB 2,1, S. 404–407, Nr. 431, und UUB 2,2, S. 455 f., Nr. 487. 45 Vgl. dazu die Belegstellen in UUB 2,2, S. 486, Nr. 520; S. 487, Nr. 523 und S. 526, Nr. 574.

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Erhärtet wird dieser Verdacht durch einen Vergleich mit den Vorgängen in Ulms Nachbarstadt Nördlingen, wo die Juden Ende November oder Anfang Dezember 1348 und damit ca. zwei Monate vor dem Pogrom in Ulm Opfer einer Verfolgung geworden waren.46 Der dortige Rat ließ nämlich nach der Verfolgung die Schuldscheine der Juden einziehen und befreite die christliche Stadtgemeinde somit von einer Schuld in Höhe von 2000 Pfund Haller.47 Darüber hinaus profitierten die christlichen Bürger Nördlingens von einem Vertrag, der am 24. Dezember 1348 zwischen dem Nördlinger Rat und den Grafen von Oettingen, die auch Pfandinhaber der Nördlinger Judensteuern waren, geschlossen worden war. In diesem Vertrag verpflichteten sich die Grafen von Oettingen dazu, die Immobilien der Nördlinger Juden, die sie unmittelbar nach dem Pogrom in Besitz genommen hatten, innerhalb von drei Jahren an Nördlinger Bürger zu verkaufen.48 Mit Sicherheit ist anzunehmen, dass die politische Führung der Stadt Ulm Kenntnis von diesen Vorgängen in Nördlingen hatte und dass sich zumindest einige ihrer Mitglieder ähnliche Vergünstigungen von einer Judenverfolgung erhofften. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die überlieferten Quellen es nicht erlauben, ein einheitliches Bild von der Judenverfolgung in Ulm zu zeichnen. So kann lediglich festgehalten werden, dass das Ulmer Führungsgremium zunächst sein klares Desinteresse am Judenschutz ausdrückte und dass einige vermögende Ulmer Familien von der Judenverfolgung profitierten, während es andererseits offensichtlich Bestrebungen gab, die Juden zu schützen. Zumindest jedoch kann nach diesen Ausführungen die für die ältere Forschung typische These Friedrich Pressels, der Pogrom in Ulm sei wie andernorts „überwiegend von den unteren Schichten“ ausgegangen, als widerlegt gelten49, da der Immobilienbesitz im Judenviertel genau wie die Vorgänge in Nördlingen zeigen, dass die vermögenden Schichten von der Verfolgung der Juden in wesentlich höherem Maße profitiert hatten als die niederen.

III. Nach dem Pestpogrom sind Juden wieder ab Mai 1354 in Ulm nachweisbar. Damit gehört die Stadt neben Nürnberg, Speyer, Rothenburg ob der Tauber, Augsburg und Nördlingen zu den Städten, in welchen eine frühe Wiederansiedelung erfolgte.50 Die erste urkundliche Nachricht für die Wiederansiede46

Dohm 2006 (wie Anm. 25), S. 52. Haverkamp 1981 (wie Anm. 28), S. 80 f. 48 Ebd., S. 53. 49 Friedrich Pressel: Geschichte der Juden in Ulm. Festschrift zur Einweihung der Synagoge. Ulm 1873, S. 8. 50 Rosemarie Kosche: Erste Siedlungsbelege nach 1350 – Siedlungsnetz und „jüdische“ Raumperzeption, in: Haverkamp 2002 (wie Anm. 20), S. 243–247, hier S. 245. 47

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lung einer jüdischen Gemeinde in Ulm ist die bereits genannte Urkunde vom 5. Mai 1354, in der die beiden Ulmer Bürger Konrad der Seffler und Krafft, Sohn des verstorbenen Lutz Krafft, der jüdischen Gemeinde auf Geheiß der Ulmer Bürgerschaft die Synagoge und den dazugehörigen Hof gegen eine jährliche Miete verleihen.51 Zwei Jahre später pachteten die Juden auch ihren Friedhof wieder, womit die Gemeinde erneut mit den beiden bedeutendsten zentralörtlichen Gemeindeinstitutionen ausgestattet war.52 Da jedoch ein Grabstein vom Ulmer Judenfriedhof auf den 10. August 1355 datiert ist53, kann davon ausgegangen werden, dass die Juden ihren Friedhof bereits verwendeten, bevor ihnen die Nekropole im Jahr 1356 offiziell verpachtet wurde. An weiteren Gemeindeeinrichtungen verfügten die Ulmer Juden nach der Wiederansiedelung über eine Mikwe, einen Gemeindebackofen, ein neues Tanzhaus sowie ein Hospital. Hospital und Mikwe finden erst im Zusammenhang mit der Vertreibung im Jahre 1499 urkundliche Erwähnung54, doch muss zumindest die Mikwe schon lange vorher existiert haben, da eine bedeutende Gemeinde wie Ulm sicherlich nicht auf diese Institution verzichtet hätte. Ein erstes Tanzhaus wurde vermutlich 1349 im Zuge des Pogroms zerstört55; das neue ist erstmals 1384 urkundlich belegt.56 Den Nachweis des Gemeindebackofens erbringt schließlich ein hebräischer Rückvermerk auf einer Urkunde aus dem Jahr 1400.57 Neben den gemeindlichen Einrichtungen verfügten die Ulmer Juden zudem über elf Wohnhäuser, was sich im heutigen Ulm noch 51

UUB 2,1, S. 404–407, Nr. 431. UUB 2,2, S. 455 f., Nr. 487, und S. 457 f., Nr. 488. Der genaue Tag, an dem die Verpachtung des Friedhofs erfolgte, wird in den beiden Urkunden nicht genannt. 53 Brann 1917 (wie Anm. 9), S. 179. 54 In einer Urkunde vom 5. 9. 1499 werden Mikwe und Hospital zusammen mit den weiteren Immobilien der Juden aufgezählt, welche Vogt Wolf von Asch im Auftrag König Maximilians I. von den Juden konfiszierte und für 5000 Gulden an die christliche Stadtgemeinde verkaufte. Die Urkunde ist abgedruckt in Moritz Stern: Die israelitische Bevölkerung der deutschen Städte. Ein Beitrag zur deutschen Städtegeschichte. Mit Benutzung archivalischer Quellen, Bd. 6: Varia. Erstes Heft: Aus Württemberg, Hall, Ulm, Reutlingen, Berlin 1936, S. 30 f. Die weiteren Urkunden, die die Vertreibung der Juden aus Ulm betreffen, befinden sich ebd., S. 19–32. 55 Die Vermutung, dass das erste Tanzhaus der Juden entweder während der Verfolgung zerstört oder kurz darauf abgebrochen wurde, basiert auf der Urkunde über die Verleihung der Synagoge vom 5. 5. 1354, auf die bereits mehrfach eingegangen wurde. In dieser Urkunde ist nämlich von einer Mauer die Rede, „daran der Juden tantzhus wilunt (= einst) stund“. Dasselbe Schicksal wie dem Tanzhaus widerfuhr vermutlich auch der Frauensynagoge, da eine Urkunde vom 5. 3. 1353 einen Platz erwähnt, der sich früher an der Frauensynagoge befand, vgl. UUB 2,1, S. 398, Nr. 419. Darin verpachtet Krafft am Kornmarkt einem Ulmer Bürger die Hofstätte und den Platz („flekken“), „der etwenne hie ze Ulme an der Juden sinagog der frowen Juden schul watz“. Im Gegensatz zum Tanzhaus wurde die Frauensynagoge in Ulm offenbar nicht wieder neu errichtet; zumindest wird diese in keiner Quelle nach 1350 erwähnt. 56 Stadtarchiv Ulm, A Urkunden 1384 März 10. 57 Stadtarchiv Ulm, A Urkunden 1400 Februar 5. Die Übersetzung des Rückvermerks lautet: „Ein Schriftstück vom kleinen Haus, welches bei dem Ofen (ist)“. Für die Übersetzung danke ich meinem Trierer Kollegen Dr. Rainer Barzen recht herzlich. 52

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Abb. 1: Darstellung des „Judenhofes“ auf dem ältesten Stadtplan von Ulm. Das Judenviertel lag im Mittelalter in zentraler Lage gegenüber dem Münster. Das Haus im Süden des Hofes wurde im 18. Jahrhundert abgerissen. Unbekannter Künstler, Ulm aus der Vogelschau (Ausschnitt Judenhof), um 1597, kol. Federzeichnung, 65 x 130 cm, Inv. Nr. 1765, Aufnahme Stadtarchiv Ulm, Ulm, Wolfgang Adler, © Ulmer Museum, Ulm.

darin niederschlägt, dass es im dortigen Judenhof, wo sich das mittelalterliche Judenviertel befand, genau elf Hausnummern gibt. In den ersten Jahren nach der Wiederansiedelung scheint es zu internen Auseinandersetzungen innerhalb der Ulmer Judengemeinde gekommen zu sein, die offenbar dazu geführt haben, dass die Autorität der Gemeindevorsteher angefochten und in Frage gestellt wurde. Diese Vermutung ergibt sich aus einer städtischen Verordnung aus dem Jahr 1498, der „Neye[n] Aynung und Ordnung Unzucht und Frevel wegen“, die wiederum die Abschrift einer auf das Jahr 1361 zurückgehenden „Ordnung zur Bestrafung von Freveln der Juden untereinander“ enthält.58 Darin setzt der Ulmer Stadtrat das Strafmaß für einige Vergehen der Juden untereinander fest.59 Bei den Straftatbeständen, die in der Quelle aufgezählt werden, handelt es sich vorwiegend um Beleidigungen bzw. falsche Anschuldigungen und verschiedene Arten der leichten Körperverletzung.60 58 Stadtarchiv Ulm, Bestand A 3946. Eine vollständige Transkription der Quelle wird zukünftig in meiner Dissertation zu finden sein. 59 Ebd.: „wenn die Juden und Jůdin an ain annder fráfeln“. 60 Die leichte Körperverletzung war im Mittelalter durch das Fehlen einer scharfen Waffe sowie daraus resultierend dem Fehlen von Blutverlust gekennzeichnet, vgl. Rudolf His: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 2: Die einzelnen Verbrechen, Weimar 1935, S. 96.

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Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Beleidigung im späten Mittelalter als ein die Ehre verletzendes Vergehen galt und daher als gravierender einzustufen ist als heute61, stellen die in der Strafordnung von 1361 aufgelisteten Straftatbestände eher Bagatelldelikte von geringerer Bedeutung dar. Umso auffälliger sind daher die horrend hohen Geldbußen, die die Strafordnung für diese Vergehen ausspricht: So wird die einfache Beleidigung mit einer Strafe von zehn Pfund Haller geahndet62 – Frauen müssen lediglich die Hälfte zahlen63 –, während auf die verschiedenen Arten der Körperverletzung gar 50 Pfund Haller stehen.64 Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass die Einungsordnung von 1498 für Christen lediglich eine Strafe von zwei Pfund Haller für die leichte Körperverletzung vorsieht.65 Der Umstand, dass die jüdische Gemeinde selbst geringfügige Vergehen wie die oben genannten nicht intern zu klären vermochte, sondern dass zu diesem Zweck der Ulmer Stadtrat eingreifen und drakonische Strafen androhen musste, lässt kaum einen anderen Schluss zu, als dass die Vorsteher der Gemeinde in der Folge von internen Streitigkeiten nicht die nötige Autorität besaßen, um die Disziplin innerhalb der Gemeinde ohne auswärtige Hilfe in den Griff zu bekommen.66 61

Vgl. zu den verschiedenen Arten der Ehrverletzung wie Beleidigung und falsche Anschuldigung im Mittelalter ebd., S. 104–140. 62 Stadtarchiv Ulm, Bestand A 3946 (wie Anm. 58): „Wenn es darzů keme, das ain Jud den anndern hie zů Ulme mit red misshanndelte, […] so soll und muss derselb der gefráfelt hatt 10 Pfund Haller geben“. 63 Ebd.: „Were auch, das ain Judin die anndern oder ain Judin ain Juden hie zů Ulme mit red beschúldt oder misshanndelte, […] so soll und mûss dieselb Judin, die das gethan hett, 5 Pfund Haller geben“. Hier wird im Übrigen der Straftatbestand der falschen Anschuldigung mit aufgezählt, während in obiger Bestimmung lediglich die einfache Beleidigung erwähnt wird. 64 Ebd.: „Were auch, das ain Jud hie zů Ulme den anndern frâfenlich raffte, schlug oder stiess oder in das kât wúrffe, so soll und muss der schûldig funffzig pfund haller geben“. Das Wort Kât bedeutet „Schmutz der Erde“, vgl. Hermann Fischer (Bearb.): Schwäbisches Wörterbuch, bearbeitet unter Mitwirkung von Wilhelm Pfleiderer, Bd. 4, Tübingen 1914. Das Vergehen „auf die Erde werfen“ wurde in einigen, speziell westdeutschen Stadtrechten auch als „Niederfall“ oder „Erdfall“ bezeichnet, vgl. dazu Rudolf His: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 1: Die Verbrechen und ihre Folgen im allgemeinen, Weimar 1920, ND Aalen 1964, S. 184 f. In Ulm taucht dieser Terminus nicht auf, jedoch erwähnen mehrere Quellen – darunter das bereits genannte Rote Buch – Vergehen, bei denen der Täter sein Opfer zu Boden wirft. Geahndet wurden diese wie die leichte Körperverletzung, vgl. Hans Erich Göggelmann: Das Strafrecht der Reichsstadt Ulm bis zur Carolina; Ulm 1984, S. 89 f. 65 Ebd., S. 90. 66 Ein ähnlicher Fall ist aus dem Zürich der 1380er Jahre überliefert. Auch dort funktionierten innerjüdische Konfliktregelung und Disziplinierung nicht, weswegen der städtische Rat eingreifen und wie zuvor in Ulm hohe Bußgeldandrohungen gegen jene jüdischen Gemeindemitglieder verhängen musste, die gegen die gemeindlichen Bestimmungen verstießen. Vgl. zu diesem Fall Susanna Burghartz: Juden – eine Minderheit vor Gericht. Zürich 1378–1436, in: Dies. u. a. (Hg.): Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, Sigmaringen 1992, S. 229–244, hier S. 236–239.

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Einen weiteren Hinweis darauf, dass die innergemeindliche Solidarität in der Anfangszeit der zweiten Gemeinde gestört war, liefert eine andere Passage aus der Verordnung von 1361. Darin setzt der Stadtrat fest, dass ein Mitglied der Ulmer Judengemeinde, das von einem auswärtigen Juden67 „mit red oder mit wercken“68 misshandelt werde, sofort alle Ulmer Juden, „die das hôren oder sehen“69, um Hilfe rufen soll. Der so Angerufene „soll unverzogenlich sein besstes darzů thůn und die unzûcht wennden und wyderlegen so er besst kan und mag“70. Wer dies nicht tue, soll nach Ermessen des Stadtrates bestraft werden.71 Wäre es selbstverständlich gewesen, einem von außen bedrohten Gemeindemitglied Hilfe zu leisten, wäre eine solche Verordnung zweifelsohne überflüssig gewesen. Da in jener Zeit offensichtlich jedoch noch nicht einmal dieses Mindestmaß an Solidarität innerhalb der Gemeinde gegeben war, ist es nicht überraschend, dass die Vorsteher der jüdischen Gemeinde nicht dazu in der Lage waren, die internen Probleme zu lösen und die Disziplin innerhalb der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Schließlich konnten die jüdischen Vorsteher Frieden und Disziplin innerhalb ihrer Gemeinden nur so lange gewährleisten, „wie der einzelne in der lokalen jüdischen Gruppe verharrte“, da die interne Disziplinierung weitaus mehr „auf der freiwilligen Identifizierung mit der Gemeinschaft als auf deren Machtmittel [beruhte].“72 Identifizierten sich einige Mitglieder der Gemeinde nicht mit ihrer Gemeinschaft und scherten aus dieser aus, hatten die Führer der Gemeinde de facto keine Handhabung gegen sie. Aufgrund des Ausmaßes der internen Schwierigkeiten liegt die Vermutung nahe, dass Vertreter der jüdischen Gemeinde mit der Bitte an den Ulmer Stadtrat herantraten, als externer Machtfaktor disziplinierend in die innerjüdischen Auseinandersetzungen einzugreifen. Zwar war „der Gang zu nichtjüdischen Gerichten in innerjüdischen Streitfällen streng verpönt“73, doch scheute man „im Extremfall“74 nicht vor der Anrufung des christlichen Führungsgremiums zurück. Ein solcher Extremfall scheint zu Beginn der 1360er Jahre in Ulm vorgelegen zu haben. Für diese Vermutung spricht nicht nur eine Formulierung eingangs der Strafordnung, der zufolge „der burgermeister, der rat und alle burger gemeinlich der statt zů Ulme […] der Judischait

67 Stadtarchiv Ulm, Bestand A 3946 (wie Anm. 58): „ain kast oder ain schalannd Jud oder annder ůppig Jude“. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd.: „Wêlicher aber seûmig daran were und das nit tâtte, den sôllen und mugen wir (= der Ulmer Rat) bessern als der ráte oder der meren taile des rats sich erkennt“. 72 Michael Toch: Macht und Machtausübung in der jüdischen Gemeinde des Mittelalters, in: Matthias Konradt/Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Juden in ihrer Umwelt. Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter, Basel 2009, S. 137–155, hier S. 142. 73 Ebd. 74 Ebd.

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gemainlich der Juden hie zů Ulme […] ditz nachgeschriben gesezt kekônnett und erlaůbt haben“75, sondern auch der auf diese einleitende Passage folgende Satz: „Beý dem ersten so hännd sy (= die Ulmer Juden) gesetzt“.76 Auf diesen Satz folgen wiederum die einzelnen Bestimmungen bezüglich der Vergehen und der dafür fälligen Geldstrafen. Demnach waren es also in der Tat Ulmer Juden und keine Vertreter des Stadtrates, die die Liste der Vergehen und Geldbußen zusammengestellt hatten. Vermutlich hatten Mitglieder der Judengemeinde aufgrund der internen Zwistigkeiten in der Gemeinde eine solche Liste angefertigt und waren mit dieser an den städtischen Rat herangetreten. Sein Eingreifen zugunsten der Judengemeinde ließ sich der Rat damit bezahlen, dass drei Viertel der fälligen Geldstrafen auf die christliche Stadtgemeinde entfielen, während der jüdischen Gemeinde nur das restliche Viertel blieb.77 Ob darüber hinaus auch direkte Geldzahlungen an das christliche Führungsgremium nötig waren, geht weder aus der Strafordnung noch aus anderen Quellen hervor. Genauso wenig machen die Quellen Angaben zu den Ursachen für die internen Auseinandersetzungen zwischen den Ulmer Juden. In Anbetracht der zeitlichen Nähe zur Wiederansiedelung kann lediglich vermutet werden, dass die Gemeinde nach ihrer Neugründung sehr heterogen zusammengesetzt war und dass die Juden, die sich in der neuen Gemeinde zusammengefundenen hatten, um die Leitung derselben konkurrierten. Möglicherweise reklamierten mehrere Familien die Führung der Gemeinde für sich und waren nicht bereit, den Anspruch einer anderen Familie anzuerkennen. Angesichts der fehlenden Quellen muss dies jedoch Spekulation bleiben. Indem der Rat im April 1361 besagte Ordnung erließ, handelte er im Einvernehmen mit denjenigen Ulmer Juden, die Friede und Eintracht innerhalb der jüdischen Gemeinde wieder herstellen wollten. Die christliche Führung griff also in innerjüdische Belange ein, um Ordnung und Gemeinschaftsdisziplin, ohne die keine Judengemeinde funktionieren konnte, zu stützen bzw. wiederherzustellen. Diesem Zweck diente auch eine Bestimmung, die es verbot, dass jüdische Gemeindemitglieder, die gemäß der Ordnung von 1361 verurteilt worden waren, mit einem innerjüdischen Gericht oder Bann gegen diejenigen vorgingen, auf deren Initiative die Verurteilung zurückging.78

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Stadtarchiv Ulm, Bestand A 3946 (wie Anm. 58). Ebd. 77 Ebd.: „Und was also an kellts von den sachen gefällt oder gefallen mag dasselb gelt soll den burgern zu Ulm die drew taile werden und gefallen und den Juden gemainlich an der sinagog das vier taile des mertaile“. 78 Ebd.: „Wére áuch, das ain Jud oder Judin, wêr die wern, von disen sachen oder gesatzten gebessert wûrden und die denn den oder die von den gebessert were mit iren kerichten und bann anraichen wôllen und umbtreýben, so sollen die Jûden gemainlich hie zů Ulme dhains bann úber sy hallten noch haben noch sich daran nichtzit keren noch darûmb annemen“. 76

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Das Eintreten des Stadtrates für die innere Ordnung und Stabilität der Judengemeinde zeigt deutlich, dass dieser nach der Verfolgung von 1349 wieder stark an einer funktionierenden und prosperierenden jüdischen Gemeinde interessiert war. Grund hierfür war, dass zur Deckung des städtischen Geld- und Kreditbedarfes eine wohlhabende Judengemeinde unentbehrlich war – und nie zuvor in der Geschichte der Stadt Ulm hatte ein höherer Geldbedarf bestanden als in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, als die Reichsstadt in zahlreichen Städtebünden militärisch aktiv war und zudem den Ausbau ihres Territoriums betrieb. Nicht vergessen werden dürfen an dieser Stelle städtische Bauvorhaben wie die Errichtung des Münsters, mit der im Jahr 1377 begonnen wurde. In Anbetracht dessen wird verständlich, weshalb der Stadtrat zugunsten der jüdischen Gemeinde aktiv wurde. Insofern ist es kaum als ein Zufall zu werten, dass sich die Ulmer Judengemeinde ausgerechnet in dem Moment zu einer der kapitalkräftigsten Gemeinden des gesamten nordalpinen Reiches entwickelte, als der reichsstädtische Kapitalbedarf am höchsten war. Vermutlich unternahm der Ulmer Rat zu jener Zeit alles in seiner Macht stehende, um die Ansiedelung von Juden in Ulm sowie deren Gemeindebildung und -festigung nach Kräften zu fördern. Diesen Schluss legt zumindest eine Maßnahme wie die Verabschiedung der Strafordnung von 1361 nahe. Die enorme Kapitalkraft der Ulmer Judengemeinde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist unweigerlich mit dem Namen Jakob bar Juda, genannt Jäcklin, verbunden, der erstmals 1368 als Bürger in Ulm nachgewiesen ist.79 Von diesem Jahr an treten er und seine Familienangehörigen immer wieder als Geldhändler im gesamten oberdeutschen Raum in Erscheinung. Neben Ulm sind Jäcklin und seine Angehörigen bisher in Konstanz, Nördlingen, Nürnberg, Rothenburg ob der Tauber, Zürich sowie in Straßburg als Kreditgeber nachweisbar.80 Gerade in den 1370er Jahren, als die Stadt Ulm im Zuge ihrer städtebündischen Aktivitäten in mehrere kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war81, war ein vermögender Finanzier wie Jäcklin für die Stadt unentbehrlich. Dies kann nicht nur an den Anleihen ermessen werden, die dieser dem Ulmer Rat in jener Zeit zukommen ließ82, sondern insbesondere auch daran, dass der Stadtrat Jäcklin weiterhin innerhalb der Mauern

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Peter-Johannes Schuler: Regesten zur Herrschaft der Grafen von Württemberg 1325– 1378, Paderborn u. a. 1998 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. Neue Folge 8), S. 348, Nr. 1172. 80 Vgl. besonders zur Straßburger Niederlassung des Jäcklinschen Familienunternehmens Gerd Mentgen: Studien zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Elsaß, Hannover 1995 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 2), S. 476–481. 81 So erlitt ein Heer der schwäbischen Reichsstädte, das von dem Ulmer Patrizier Heinrich Besserer angeführt wurde, 1372 bei Altheim eine vernichtende Niederlage gegen den württembergischen Grafen Eberhard II. 1377 dagegen konnten Ulm und seine Verbündeten bei Reutlingen einen Sieg gegen das Württembergische Heer erringen. 82 Überliefert ist beispielsweise ein Kredit Jäcklins aus dem Jahr 1375 über 2500 Gulden, vgl. Stadtarchiv Ulm, Repertorium 2, Folio 473.

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Ulms duldete, obwohl Kaiser Karl IV. im September 1376 die Reichsacht über ihn und seine Familie verhängt hatte.83 Der genaue Grund für die Verhängung der Acht ist nicht bekannt. Zwar spricht die Achturkunde von einer vermeintlichen Schuld des Juden bei Graf Eberhard von Württemberg, doch ist dies kaum glaubhaft. Wahrscheinlicher ist, dass der Kaiser, der im September 1376 die Stadt Ulm als Führungsmacht des Schwäbischen Städtebundes belagerte84, die vermeintliche Schuld Jäcklins lediglich als Vorwand benutzte, um den Finanzier einer seiner Feinde zu strafen und damit seinen Kriegsgegner zu schwächen. Ein weiteres Mal unternahm Karl IV. den Versuch, die Finanzkraft Jäcklins und seiner Ulmer Geschäftspartner zu schwächen, als er am 6. Oktober 1376 einen seiner Verbündeten, den Grafen Heinrich von Werdenberg, von allen Schulden befreite, die dieser zuvor bei Juden aus Ulm aufgenommen hatte.85 Bezeichnend für die damalige Interpretation der Kammerknechtschaft bzw. des kaiserlichen Herrschaftsverständnisses über die Juden ist die Rechtfertigung, die Karl IV. für diese willkürliche Form der Enteignung anführt. So heißt es in der Urkunde, dass die Juden „uns als einen Romischen keiser angehoren und wir mit yn zu tun und zu lassen volkomene macht und gewalt haben“86 – der Kaiser sieht es also als selbstverständlich an, uneingeschränkt über Leib und Gut der Juden verfügen zu dürfen.87 Erfolg war den kaiserlichen Maßnahmen jedoch nicht beschieden: Die Belagerung Ulms musste nach wenigen Wochen abgebrochen werden und im Mai 1377 wurde auch die Reichsacht über Jäcklin sowie die Stadt Ulm wieder aufgehoben.88 In der Folgezeit kam Jäcklin eine bedeutende Rolle bei der territorialen Expansion der Stadt Ulm zu. Dies lag primär daran, dass neben dem Ulmer Stadtrat und einzelnen Ulmer Bürgern auch mehrere Adelige, die über Besitzungen und Herrschaftsrechte im Umfeld der Stadt verfügten, Anleihen bei Jäcklin und seinen Partnern aufgenommen hatten. Zu diesen Adeligen gehörten die bereits genannten Grafen von Werdenberg. Als diese ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten – ob der kaiserliche Schuldenerlass in der Zwischenzeit zurückgenommen worden war oder ob er wirkungslos verpuffte, lässt sich nicht sagen –, verkauften sie am 31. August 1377 ihre beiden Ortschaften 83

Die Achturkunde ist abgedruckt in Pressel 1873 (wie Anm. 49), S. 31 f. Der Schwäbische Städtebund war am 4. 7. 1376 auf Initiative Ulms von 14 Reichsstädten in Schwaben gegründet worden und richtete sich vornehmlich gegen die Politik Karls IV., zur Aufbesserung seiner Finanzlage Reichsstädte an Territorialherren zu verpfänden. Die Gründungsurkunde ist abgedruckt in Konrad Ruser (Bearb.): Die Urkunden und Akten der oberdeutschen Städtebünde, Bd. 2: Städte- und Landfriedensbündnisse von 1347 bis 1380, Göttingen 1988, S. 601–605, Nr. 596. 85 UUB 2,2, S. 823 f., Nr. 1010. Neben Jäcklin nennt die Urkunde den Juden Meyer sowie die Jüdin Kellin. 86 Ebd. 87 Vgl. zu diesem Aspekt auch den Beitrag von Alfred Haverkamp in diesem Band. 88 Julius Weizsäcker (Hg.): Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel. Erste Abteilung: 1376–1387, München 1867, ND Göttingen 1956 (Ältere Reihe 1), S. 189, Nr. 104. 84

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Ober- und Unterlangenau sowie alle ihre dortigen Besitzungen, die sie zuvor an Jäcklin und Meyer verpfändet hatten, für etwas über 10 000 Gulden an den Ulmer Stadtrat.89 Da die Stadt Ulm im folgenden Jahr mehrfach als Schuldnerin Jäcklins in Erscheinung tritt90, liegt die Vermutung nahe, dass diese im Zuge des Verkaufs von Langenau die Schulden der Grafen von Werdenberg bei Jäcklin und Meyer übernommen hatte. Zur Begleichung dieser Schulden hatte die christliche Führung u. a. die Torzölle an Jäcklin verpfändet.91 Die Dienste, die Jäcklin dem Ulmer Stadtrat als Finanzier geleistet hatte, dankte dieser ihm jedoch schlecht: Er weigerte sich nämlich, Jäcklins Aufenthaltsrecht, das bis Dezember 1379 befristet war92, zu verlängern. Folglich war er Ende 1379/Anfang 1380 zur Übersiedlung nach Konstanz gezwungen, wo er bereits zuvor das Bürgerrecht erworben hatte.93 Zwar konnte Jäcklin 1382 nochmals für kurze Zeit nach Ulm zurückkehren, doch zwangen ihn erneute Auseinandersetzungen mit dem Ulmer Rat wenig später zum endgültigen Verlassen der Stadt.94 So zog er über Nördlingen schließlich nach Nürnberg, wo er 1385 Opfer der sogenannten „Judenschuldentilgungen“ unter König Wenzel wurde. Im Zuge dieser willkürlichen Beraubungsaktion verloren er und seine ebenfalls in Nürnberg ansässigen Söhne Feifelein und Isaak 15 000 Gulden.95 Diese Summe stellt den höchsten Verlust aller von den Enteignungen betroffenen Juden dar und ist demzufolge nochmals ein eindringlicher Beleg für die finanzielle Stärke, über die Jäcklin und seine Familie einst verfügten. Wie ihre Nürnberger Glaubensgenossen fielen auch die Ulmer Juden den beiden Schuldentilgungen von 1385 und 1390 zum Opfer. Im Zuge der ersten Schuldentilgung, bei der es sich um eine gemeinsame Aktion König Wenzels einerseits und der schwäbischen und fränkischen Reichsstädte andererseits handelte, wurden die Juden aller beteiligter Reichsstädte am 16. Juni 1385 gefangen gesetzt.96 Aus der Haft wurden sie erst wieder entlassen, nachdem sie 89 Die Verkaufsurkunde ist kopial überliefert im Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand B 207 M, IV Bü. 5. 90 UUB 2,2, S. 872 f., Nr. 1082, und UUB 2,2, S. 879–882, Nr. 1087. 91 UUB 2,2, S. 879–882, Nr. 1087. 92 Aus der letztgenannten Urkunde, die am 13. 11. 1378 ausgestellt wurde, geht hervor, dass Jäcklin noch „bis uff sant Nicolaus tag der nechst kumpt und dannan ain jar daz nechst“, also bis zum Nikolaustag 1379, in Ulm bleiben durfte, vgl. ebd. 93 Dicker 1937 (wie Anm. 36), S. 28 f. Jäcklin wollte sein Aufenthaltsrecht in Ulm verlängern, doch gelang ihm dies nicht. Vgl. ebd., S. 29. 94 Ebd., S. 30. 95 Moritz Stern: Die israelitische Bevölkerung der deutschen Städte. Ein Beitrag zur deutschen Städtegeschichte. Mit Benutzung archivalischer Quellen, Bd. 3: Nürnberg im Mittelalter. Quellen: Erste und zweite Abteilung, Kiel 1894–1896, S. 253. 96 Am 10. 6. 1385 hatten sich die Vertreter der Städte darauf verständigt, ihre Juden „uf einen genanten tag [zu] haimen“, also an einem bestimmten Tag zu inhaftieren, vgl. Weizsäcker 1867 (wie Anm. 88), S. 492, Nr. 267. Einer Nürnberger Stadtrechnung vom 9. 1. 1386 verdanken wir die Information, dass es sich bei diesem Tag um den 16. 6. 1385 handelte, vgl. Stern 1894–1896 (wie Anm. 95), S. 253.

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ihre Schuldscheine an die jeweiligen Stadträte ausgeliefert hatten. Die Schuldner, denen ein Teil ihrer Verpflichtungen erlassen wurde97, mussten daraufhin ihre Verbindlichkeiten statt an die Juden an deren christliche Stadtgemeinden zurückzahlen – die Juden wurden folglich um nahezu ihre gesamten Außenstände gebracht. Lediglich ein kleiner Teil davon wurde ihnen weiter zugestanden. König Wenzel erhielt für seine Zustimmung zu dieser Vereinbarung die Summe von 40 000 Gulden98, die jedoch eher bescheiden anmutet, wenn man bedenkt, dass alleine den Nürnberger Juden fast 81 000 Gulden geraubt wurden99 – darunter wie gesehen 15 000 Gulden von Jäcklin und seinen Söhnen. In Ulm übergaben drei Gläubiger bzw. Gläubigerfamilien, darunter der Schwager und die Schwiegermutter Jäcklins, Schuldbriefe im Wert von ca. 17 300 Gulden an den städtischen Rat.100 Als König Wenzel fünf Jahre später eine erneute Schuldentilgung verkündete, die dieses Mal nicht auf die Reichsstädte in Schwaben und Franken beschränkt blieb, sondern alle Juden des Reiches betraf, wurden die Ulmer Juden nicht nur wiederum um ihre Außenstände gebracht, sondern mussten zusätzlich dazu weitere 2500 Gulden zahlen.101 Von den finanziellen Verlusten im Zuge der beiden Schuldentilgungen unter König Wenzel, in deren Folge zahlreiche Juden primär nach Norditalien emigrierten102, sollten sich die Ulmer Juden nicht mehr erholen. Folglich konnte die dortige Gemeinde bis zu ihrem Ende im Jahr 1499 nicht mehr an die wirtschaftliche Macht anknüpfen, über die sie von etwa 1370 bis 1385 verfügt hatte.

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Bei Krediten, die zwölf Monate vor der Vereinbarung vom 10. 6. 1385 aufgenommen worden waren, wurden die Zinsen erlassen, bei älteren Schulden wurden Kapital und Zinsen zu einer neuen Summe zusammengerechnet, von der den Schuldnern 25% erlassen wurde, vgl. Weizsäcker 1867 (wie Anm. 88), S. 497–500, Nr. 272. 98 Ebd. 99 Stern 1894–1896 (wie Anm. 95), S. 254. Bis auf 15 000 Gulden, die die Stadt Nürnberg an den 40 000 Gulden für König Wenzel zu tragen hatte sowie einigen weiteren Ausgaben kleinerer Art, fielen die 81 000 Gulden gänzlich der christlichen Stadtgemeinde Nürnbergs zu, vgl. ebd., S. 255. Deren Gewinn betrug folglich weit mehr als 60 000 Gulden. 100 Ulmer Juden übergaben am 7. 7. sowie am 13. und 21. 8. Schuldscheine im Wert von 17 302 Gulden an den Stadtrat. Wir wissen dies aufgrund einer im sogenannten Repertorium 2 im Ulmer Stadtarchiv überlieferten Zusammenstellung, die die Namen der christlichen Schuldner, der jüdischen Gläubiger sowie die Höhe ihrer Außenstände verzeichnet. Diese ist abgedruckt in Pressel 1873 (wie Anm. 49), S. 33–38. 101 Julius Weizsäcker (Hg.): Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel. Zweite Abteilung: 1388–1397, München 1874, ND Göttingen 1956 (Ältere Reihe 2), S. 318, Nr. 179. 102 Vgl. dazu etwa das Beispiel der Nürnberger Familie Rapp in Angela Möschter: Juden im venezianischen Treviso (1389–1509), Hannover 2008 (Forschungen zur Geschichte der Juden A 19), S. 74–83. Dieselbe Arbeit gibt auch Aufschluss darüber, dass viele ehemalige Ulmer Juden den Weg nach Norditalien fanden.

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IV. Wie aus dem vorliegenden Beitrag hervorgeht, hatte die Ulmer Judengemeinde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts den Zenit ihrer wirtschaftlichen Stärke erreicht, bis sie unter König Wenzel nahezu ihres gesamten Vermögens beraubt wurde. Voraussetzung für die finanzielle Prosperität waren Eintracht und Disziplin innerhalb der Gemeinde, die in Ulm nach der Wiederansiedelung von Juden offensichtlich stark gestört waren, mit Hilfe des städtischen Rates jedoch wiederhergestellt werden konnten. Über die Zeit vor 1350 sind aufgrund der dünnen Quellenlage dagegen kaum konkrete Aussagen über die Judengemeinde möglich. Gleichwohl konnte aufgezeigt werden, dass der Handschriftensammler Josef bar Mose entgegen der häufig vertretenen Meinung mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Ulmer Jude war. Hinsichtlich der Verfolgung des Jahres 1349, die mit Sicherheit das traumatischste Erlebnis für die mittelalterliche Ulmer Judengemeinde darstellte, mussten – wiederum bedingt durch die fehlenden Quellen – mehrere Fragen offen bleiben. Zumindest konnte jedoch auch hier das Bild der älteren Forschung widerlegt werden, indem sich Indizien aufzeigen ließen, die auf ein Interesse wenigstens eines Teils der christlichen Führung am Judenmord hindeuten. Im 15. Jahrhundert blieb die wirtschaftliche Stärke der Ulmer Judengemeinde weit hinter derjenigen der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zurück. Zwar wirkte mit dem Gelehrten Seligmann, der auch im Kreditwesen tätig war, von 1431 bis zur Mitte der 1450er Jahre erneut ein bedeutender jüdischer Geldhändler in Ulm, doch kam dieser bei Weitem nicht an den Reichtum Jäcklins heran. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts verschlechterte sich neben der finanziellen auch die rechtliche Lage der Ulmer Juden zusehends und nachdem zu Beginn der 1490er Jahre ein erster Vertreibungsversuch des Stadtrates gescheitert war, überrascht es nicht, dass die Juden im Jahr 1499 schließlich aus Ulm vertrieben wurden.

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ZWISCHEN REICH UND TERRITORIEN Innen- und Außenperspektiven jüdischen Lebens im „Land zu Schwaben“ in der Frühen Neuzeit Von Stefan Lang

I. Will man sich der jüdischen Landkarte Schwabens während der Frühen Neuzeit1 und den Ursachen zuwenden, wo sich jüdisches Leben entwickeln konnte und wo nicht, ist dazu zunächst eine kurze geographische Standortbestimmung notwendig; denn wenn man heute von „Schwaben“ spricht, ist damit ein anderer Raum gemeint als das Schwaben des Mittelalters und der Frühen Neuzeit?2 Die Wurzeln finden sich im mittelalterlichen Herzogtum Schwaben, insbesondere der Stauferzeit. Doch im Spätmittelalter kam es zu einem tiefgreifenden Wandel der Herrschaftsverhältnisse: Der mit dem Aussterben der Staufer 1268 einsetzende Zerfall des Herzogtums Schwabens konnte trotz vielfacher Versuche nicht aufgehalten werden – eine von den Habsburgern angestrebte Erneuerung ließ sich aufgrund der veränderten Machtkonstellationen nicht mehr durchsetzen. Profiteure dieses Zerfalls waren im Gegenzug die regionalen Adelsherrschaften. Einigen gelang es, in einem langwierigen Ausleseprozess zum Ausbau einer Landesherrschaft zu kommen. Das größte weitgehend geschlossene Territorium konnten dabei die Grafen von Württemberg errichten, 1495 wurde ihnen die Herzogswürde verliehen. Die hohe Anzahl von Reichsstädten in Schwaben – gut ein Drittel aller im Reich – lässt sich gleichfalls größtenteils auf den Untergang der Staufer zurückführen, 1 Dieser Beitrag beruht überwiegend auf den Ergebnissen der Dissertation des Verfassers: Stefan Lang: Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492–1650), Ostfildern 2008 (Schriften zur Südwestdeutschen Landeskunde 63). Weiter zum Thema (Auswahl): Rolf Kießling: Zwischen Schutzherrschaft und Reichsbürgerschaft: Die schwäbischen Juden und das Reich, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hg.): Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Konstanz 2005, S. 99–122; Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650–1750, Göttingen 1999; Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995; Ders./Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999; Stefan Rohrbacher: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit: in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 80–109. 2 Dietmar Schiersner: Das Land der Schwaben auf der Karte suchend. Historische Zugänge zu einer Region, Ulm und Oberschwaben 55 (2007), S. 11–26.

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denn in ihrer Herrschaftsperiode hatten sich Reichsgut und staufischer Eigenbesitz häufig vermischt. Zwar hatten sich die Kommunen später oftmals gegen den Zugriff der Fürsten zu behaupten, entwickelten sich aber besonders seit dem 14. Jahrhundert zu wirtschaftlichen Zentren und konnten, wie beispielsweise Ulm, Schwäbisch Hall oder Rottweil, zum Teil beträchtlichen Landbesitz erwerben.3 Das „Land zu Schwaben“ bildete jedoch für Christen wie Juden auch in der Frühen Neuzeit weiterhin einen Bezugsraum, der sich vom Schwarzwald bis zum Lech und etwa von Heilbronn bis zum Bodensee erstreckte. Die erste brauchbare kartographische Darstellung Schwabens durch den Ulmer David Seltzlin von 1572/73 ist dem Namen nach zwar eine Abbildung des Schwäbischen Reichskreises, doch wurden die Gebiete der Reichsritterschaft und Schwäbisch-Österreichs wie selbstverständlich mit einbezogen und somit entsteht im Grunde ein Bild des ganzen „Landes zu Schwaben“.4 Dieser Raum umfasste in etwa die heutigen baden-württembergischen „Regionen“ Altwürttemberg, Ostwürttemberg, Hohenzollern und Oberschwaben sowie den bayerischen Regierungsbezirk Schwaben. In diesem Raum existierte im Alten Reich eine Vielzahl von Territorien unterschiedlichster Größe: Landesherrschaften wie Württemberg, Baden oder die vorderösterreichischen Gebiete der Habsburger, Grafschaften, Reichsstädte, Klöster sowie die Kleinstherrschaften der Reichsritter. Dazu war das Kaisertum nach wie vor in Schwaben sehr stark vertreten, seit 1500 bezeichneten sich die Habsburger in ihrer Titulatur nachdrücklich als „Fürsten von Schwaben“. Südwestdeutschland als traditionelle Königslandschaft war vor allem seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert die Region des Reiches, in welcher sich die Zentralgewalt am deutlichsten zu profilieren vermochte. Nur in ihren Erblanden hatten die habsburgischen Reichsoberhäupter eine noch größere Präsenz. Durch seine vorderösterreichischen Herrschaften sollte Habsburg stets eine Doppelrolle in Schwaben einnehmen: Reichsoberhaupt und Landesherr.5

II. Eine Zusammenfassung jüdischer Gemeinden in Südwestdeutschland zu überkommunalen und überterritorialen Einheiten erfolgte schon im Spätmittelalter aus fiskalischen Absichten der Reichsoberhäupter. Diese sind allerdings von innerjüdischen Einteilungen zu unterscheiden. Aufschlussreich sind die Reichssteuerlisten, speziell die Erfassungsversuche der Judengemeinden beim 3

Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 15–23. Wolfgang Pfeifer: Seltzlins Schwäbischer Kreis von 1572 und seine möglichen Quellen, Ulm und Oberschwaben 53/54 (2007), S. 149–171. 5 Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 20–24. 4

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Regierungsantritt eines neuen Herrschers. Bereits die Judenschuldentilgungen König Wenzels im späten 14. Jahrhundert definierten jeweils die Juden der schwäbischen Reichsstädte oder des schwäbischen Adels als spezifische Gruppen. Der von 1376 bis 1389 existierende Schwäbische Städtebund, dem unter Ulmer Führung zeitweilig 18 Reichsstädte angehörten, mag dabei Vorschub geleistet haben. Im Juni 1390 hob Wenzel alle Judenschulden im „Land Schwaben“ auf, dafür sollten die ehemaligen Schuldner ihm Dienste leisten – ein verheerender wirtschaftlicher Schlag für die Juden. Auch später schrieb man die ober- und niederschwäbischen Reichsstädte im Hinblick auf Judensteuern zusammen an. Dagegen wurden die Judengemeinden am Bodensee bei Reichsteuererhebungen mit denen der Eidgenossenschaft als Einheit erfasst. Diese Auflistungen zeigen, dass die Juden in Schwaben im frühen 15. Jahrhundert vor allem in den Reichsstädten lebten, dazu in den Herrschaften der Habsburger sowie bei den Grafen von Württemberg, den Markgrafen von Baden, den Grafen von Oettingen und in den Gebieten des Deutschen Ordens. Auch hier sind die Juden meist in den herrschaftlichen Städten zu finden, in Württemberg beispielsweise vor allem in Stuttgart und Tübingen, vereinzelt auch in Göppingen, Kirchheim, Cannstatt, Wildberg oder Blaubeuren. Die bedeutendsten Judengemeinden Schwabens waren damals wohl mit Abstand Augsburg, Konstanz und Ulm, gefolgt von Heilbronn und Nördlingen.6 1429/30 brachte die Ravensburger Ritualmordbeschuldigung, bei der sich besonders deutlich die skrupellose Politik der meisten Obrigkeiten gegenüber den Juden zeigte, das Ende mehrerer reichsstädtischer Gemeinden in Oberschwaben und am Bodensee, vor allem Ravensburg, Lindau und Überlingen, wo die Juden nach einem selbst für damalige Rechtsverhältnisse skandalösen Verfahren verbrannt wurden.7 Mit diesem furchtbaren Ereignis begann die Verdrängung der Juden aus vielen Städten und Herrschaften Schwabens: In den Folgejahrzehnten wiesen unter anderem auch Augsburg, Heilbronn, Konstanz und Tübingen, dort 1477 im Kontext der Universitätsgründung, ihre jüdischen Bewohner aus. Eine letzte schwere Zäsur bildeten die Jahre um 1500. Ulm, die damals sicher größte Judengemeinde Schwabens mit elf Wohnhäusern und Gemeindegebäuden, Nördlingen, Reutlingen, Schwäbisch Gmünd, Giengen und zuletzt 1517 Donauwörth vertrieben ihre Juden. Im Herzogtum Württemberg bestimmte Eberhard im Bart 1492, dass seine Nachfolger keine Juden mehr dulden sollten.8 Diese Bestimmung sollte, von weni6

Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 29–35. Stefan Lang: Die Ravensburger Ritualmordbeschuldigung von 1429/30, ihre Vorläufer, Hintergründe und Folgen, in: Ulm und Oberschwaben 55 (2007), S. 114–153. 8 Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 40–53; Ders.: Die Ausweisung der Juden aus Tübingen und Württemberg 1477 bis 1498, in: Sönke Lorenz u. a. (Hg.): Tubingensia: Impulse zur Stadtund Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag, Ostfildern 2008, S. 111–132; vgl. auch: Markus J. Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Wien/Köln/Graz 1981, S. 147 ff. 7

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gen Ausnahmen abgesehen, über 300 Jahre Bestand haben. Angesichts dieser Entwicklung schrieb der berühmte Rechtsgelehrte und Hebraist Johannes Reuchlin im Jahr 1518, dass er sich viele seiner Hebräischkenntnisse durch selbständiges Studium habe aneignen müssen, weil in seiner schwäbischen Heimat die Juden vertrieben seien.9 Die anschließende besondere Entwicklung der jüdischen Besiedlung Schwabens in der Frühen Neuzeit führte zu einem Erscheinungsbild, das sich 1714 in Johann Jacob Schudts zu Frankfurt erschienenen „Jüdischen Merckwürdigkeiten“ widerspiegelt: „In Schwaben werden nicht in den Städten, aber wohl hin und wieder auf dem Land Juden gefunden.“10 Doch wie kam es dazu? Nach der Zerstörung der bisherigen Siedlungsstrukturen, konzentrierten sich die Reste des jüdischen Lebens in Schwaben Anfang des 16. Jahrhunderts vornehmlich auf vorderösterreichische Gebiete. Als Städte sind hier Günzburg, Burgau und Aach im Hegau zu nennen, weiter tauchten Juden erstmals in Dörfern der Herrschaft Hohenberg um Rottenburg und Horb auf. Hinzu kamen die Territorien der Grafen von Hohenzollern mit Hechingen und Haigerloch, die Grafschaft Oettingen sowie die Ulmer Landstadt Leipheim. Ab etwa 1520 kam es allerdings zu einer regelrechten Wiederbelebung in Schwaben. Die Juden fanden zumeist in kleineren reichsunmittelbaren Adelsterritorien, von denen es in Südwestdeutschland eine sehr große Anzahl gab, neue Möglichkeiten zur Ansiedlung.11 Hier brachten sie ihren Schutzherren, Reichsrittern und Freiherren noch einen gewissen finanziellen und wirtschaftlichen Nutzen, der ihre Aufnahme für diese lohnenswert machte. Ein klares System von Siedlungsbewegungen ist dabei nicht zu erkennen, vielmehr dürften individuelle wirtschaftliche und familiäre Beweggründe eine Rolle für Ortswechsel gespielt haben. Zahlreiche Ansiedlungen, die oft nur ein oder zwei Familien umfassten, hatten vielfach nur wenige Jahre Bestand. Letztlich ist eine hohe Mobilität innerhalb Schwabens zu beobachten, aber auch allgemein ein überaus reger Austausch zwischen dem schwäbischen, pfälzischen und fränkischen Raum, seltener gab es Übersiedlungen in die oder von den verbliebenen reichsstädtischen Gemeinden wie Frankfurt und Worms oder nach Italien. Spätestens in den 1540er Jahren wird dagegen die bereits erstmals um 1525 durchscheinende fiskalisch-organisatorische Funktion eines schwäbischen Landesrabbiners bei der Erhebung von Reichsabgaben sichtbar: Dass dabei auch die Esslinger Gemeinde und die Juden ihrer Umgebung aus königlicher

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Joseph Perles: Beiträge zur Geschichte der hebräischen und aramäischen Studien, München 1884, S. 30. 10 Johann Jacob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten: vorstellende, was sich Curieuses […] in den neuern Zeiten (…) mit denen in alle IV Theile der Welt, sonderlich durch Teutschland zerstreuten Juden zugetragen […], Bd. I, Frankfurt/Leipzig 1714, S. 336. 11 Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 191 ff., 233 ff.

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Sicht zum „Land zu Schwaben“ gezählt wurden, belegt ein Schreiben Damian Giengers, Ulmer Amtmann, an den Esslinger Rat vom 9. April 1543: Er habe einen königlichen Befehl erhalten, den er „allen juden im lannd zu Schwaben sesshafft verkunden“ solle. Daher habe er „ettlich juden des gezyrcks umb euer freundlichen statt gesessen gen Geislingen beschaiden“ und bat die Esslinger, ihren Juden zu gebieten, dass sie dort erscheinen oder einen Bevollmächtigten schicken sollten.12 Der Hintergrund des Befehls ist zwar nicht überliefert, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass hier eine fiskalische Angelegenheit betroffen war, wenn der überterritoriale Landesbegriff benutzt wurde.13 Aus späteren Quellen wird weiter erkennbar, dass der zu Günzburg residierende schwäbische Landesrabbiner zudem in Personalunion der leitende Rabbiner der Markgrafschaft Burgau war. Während die Markgrafschaft Burgau trotz ihrer spezifischen Form als „territorium non clausum“ ein einigermaßen klar umrissenes Gebiet darstellte und der „Markgraf von Burgau“ zudem ein eigenständiger Herrschaftstitel in der kaiserlichen Titulatur war, ist „Schwaben“ ein weitläufigerer, einen regionalen Großraum beschreibender Begriff. Im allgemeinen Sprachgebrauch wurden Orte aus der Markgrafschaft jedoch nicht selten nach „Schwaben“ benannt, beispielsweise „Günzburg in Schwaben“. Wie könnte nun aber das „Land zu Schwaben“ aus der Perspektive einer jüdischen Besiedlung zu dieser Zeit ausgesehen haben? Im westlichen Teil Schwabens findet man städtische jüdische Gemeinden Anfang der 1540er Jahre mit der Reichsstadt Esslingen, die 1529 wieder etwa zehn jüdische Familien aufgenommen hatte, und Hechingen, daneben eine weitere Ansiedlung in der kleineren zollerischen Residenzstadt Haigerloch und im habsburgisch-hohenbergischen Städtchen Obernau. Größere dörfliche Ansiedlungen durch niederadelige Ortsherren existierten mit Großeislingen, Beihingen, Stetten im Remstal oder Orsenhausen, abgesehen von zahlreichen Orten mit ein oder zwei jüdischen Familien. Dazu gab es mit Aach im Hegau eine kontinuierliche Gemeinde, die 1544 auf sieben Haushalte beziffert wird, sowie Ansiedlungen in Langenargen und Meersburg. Im östlichen Teil Schwabens lagen zu dieser Zeit die städtischen Gemeinden Günzburg, Leipheim und Burgau sowie mit Ichenhausen, Thannhausen, Herrlingen, Bühl und Bach bei Ulm langjährige und mindestens seit den 1520er Jahren bestehende dörfliche Gemeinden.14 Dagegen versuchten das Herzogtum Württemberg und auch einige Reichsstädte zunächst durch Verbote, Judenordnungen und kaiserliche Privilegien, wirtschaftliche Kontakte ihrer Untertanen zu den Juden der Nachbargebiete zu minimieren oder ganz zu unterbinden. Dabei gelang es auch der Landes-

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Stadtarchiv Esslingen, Fasz. 35, S. 115. Schreiben vom 9. April 1543. Peter Rauscher/Barbara Staudinger: Widerspenstige Kammerknechte. Die kaiserlichen Maßnahmen zur Erhebung von „Kronsteuer“ und „Goldenem Opferpfennig“ in der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas 14 (2004), S. 313–363, hier S. 327. 14 Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 233 ff. 13

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herrschaft in den territorialen „Flächenstaaten“ oft nur schwer, auf die niederadelige Judenpolitik Einfluss zu nehmen. Dennoch bestimmte nicht zuletzt die Judenpolitik der großen Landesherrschaften über Erfolg und Misserfolg sowie Kontinuität jüdischer Existenz mit. Württemberg setzte ab 1534 gezielt Nachbarherrschaften, die Juden duldeten, unter Druck. Nachdem zuerst Esslingen 1544 zur Ausweisung seiner Juden genötigt wurde, folgten bis in die 1550er Jahre die benachbarten Adeligen nach. Dazu hatten Herzog Ulrich und seine Räte 1544 sogar durch ihre Amtleute eine Erhebung vornehmen lassen, wo Juden in Nachbarschaft zu den württembergischen Ämtern lebten. Neben größeren Ansiedlungen wie Beihingen unter den Herren von Freyberg, Stetten im Remstal und Aichelberg unter den Herren von Thumb zu Neuburg oder der Herrschaft Hohenrechberg gab es sicherlich eine Anzahl weiterer Orte, in denen die niederadeligen Herren ihren Juden den Schutz aufkündigen mussten. Eine Verschiebung der jüdischen Siedlungsintensität weg vom württembergischen Einflussbereich, insbesondere in die ostschwäbischen Gebiete, war die Konsequenz.15 In Württemberg bildete seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Rezeption und Weiterführung des lutherischen Judenbildes neben der traditionell landständischen Ablehnung das zweite Standbein eines fest im allgemeinen Bewusstsein verankerten Antijudaismus mit einflussreichen theologischen Exponenten wie Jakob Andreae und Lukas Osiander d. Ä., der sich besonders drastisch gegen die Juden äußerte.16 Dies erwies sich eindrücklich am Beispiel des erfolglosen Versuchs Herzog Friedrichs I., im Jahr 1598 gegen den massiven Widerstand von Landschaft, Kirche und Räten eine jüdische Handelskompanie im Land zu installieren. Selten kann man strukturelle Hintergründe und Motivationen des Antijudaismus eindrücklicher und umfassender rekonstruieren als in dieser turbulenten Episode. Deren konfessionelle Note zeigte sich darin, dass man die Ausgrenzung der Juden jenseits der Tradition als Teil der religiösen Selbstdefinition interpretierte und befürchtete, sich durch die Aufnahme von Juden bei anderen Territorien augsburgischer Konfession zu kompromittieren. Auch in den folgenden Jahrhunderten blieb Württemberg, abgesehen von wenigen Ausnahmen, bei dieser Haltung. Das Ende dieser Politik und des Ausschlusses der Juden aus dem Großteil Württembergs und den meisten schwäbischen Reichsstädten erfolgte erst mit dem Ende des Alten Reiches 1806 und der Entstehung des Königreichs Württemberg.17 Diese vom Herzogtum in seinem Sinne erfolgreich praktizierte Einwirkung auf den Niederadel gelang Habsburg z. B. in der Herrschaft Hohenberg oder der Markgrafschaft Burgau mit ihren längeren Verwaltungswegen dagegen

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Ebd., S. 65–95. Ebd., S. 102–107, 111–130. Vgl. auch: Stefan Lang: Bauernpredigt, Judenfeindschaft und Fürstenkritik – Lukas Osiander der Ältere als Abt von Adelberg (1596–1598), Hohenstaufen/Helfenstein, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 16 (2006), S. 113–136. 17 Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 137–145. 16

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nicht. Zwar wurden die Juden nach und nach aus den unmittelbar habsburgischen Orten ausgewiesen, besonders nachdem die Habsburger 1564 eine Linienteilung vorgenommen hatten, doch nahm der benachbarte Adel sie umgehend wieder auf. Damit entstand eine Vielzahl von dauerhaften „Judendörfern“ in Schwaben bei der habsburgischen Adelsklientel, wie Mühringen, Rexingen, Baisingen und Nordstetten oder in Ostschwaben Osterberg und Orsenhausen, ferner Ichenhausen sowie weitere Adelsdörfer in der Markgrafschaft Burgau, wo sich seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts der Schwerpunkt des jüdischen Lebens in Schwaben bildete.18 1572 wurden außerdem in der kleinen Reichsstadt Buchau am Federsee vier Juden mit ihren Familien aufgenommen – der Beginn einer kontinuierlichen und bedeutenden südwestdeutschen Gemeinde.19 Neben den Obrigkeiten spielten aber auch die Juden selbst eine aktive Rolle bei der Genese einer Siedlungslandschaft. Die Aufnahme mit einem Schutzbrief war immer an einen Konsens zwischen Schutzherr und Schutzjude gebunden. Die Attraktivität eines Siedlungsorts – zuvorderst bedingt durch eine günstige infrastrukturelle und wirtschaftliche Ausgangsposition – war dabei entscheidend. Gerade wohlhabende Juden „mussten“ nicht zwangsläufig in einem Territorium verbleiben, wenn sie woanders bessere Chancen für sich sahen. Ein Schutzvertrag war auch für die jüdische Seite kündbar, wenngleich dabei meist die finanzielle Einbuße eines Jahresschutzgelds hingenommen werden musste. Besonders infrastrukturell günstig gelegene Niederadelsdörfer mit großen wirtschaftlichen Freiheiten schienen sichtlich begehrt. Der Dreißigjährige Krieg führte zwar zu einer temporären Rückkehr von Juden in zahlreiche Städte, darunter Stuttgart und Horb am Neckar, doch zeigte sich nach 1648 vorerst keine wesentliche Änderung des Siedlungsschemas in Schwaben. Vielmehr wurde an vorherige Entwicklungen angeknüpft, wie die weitgehende Verdrängung aus dem württembergischen Umfeld oder die Ansiedlungen unter dem schwäbisch-österreichischen Lehenadel. Weitere bedeutende Gemeinden wie Laupheim, Freudental, Jebenhausen, Buttenhausen oder Wankheim entstanden erst wesentlich später im 18. Jahrhundert. Gleiches gilt für die Aufnahme von Juden an den entstehenden absolutistischen Höfen, auch in Württemberg mit Stuttgart und Ludwigsburg. Somit lässt sich feststellen, dass sich im Verlauf des 16. und frühen 17. Jahrhunderts Siedlungsschwerpunkte gebildet hatten, die oft bis zum Ende des Alten Reiches Bestand hatten.

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Ebd., S. 172–186. Hauptstaatsarchiv Stuttgart C 3 474 Q 7/8. Zu Buchau: Charlotte Mayenberger: Juden in Buchau, Bad Buchau 2008. 19

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III. Während weiter Teile des 16. Jahrhunderts war die Günzburger Gemeinde die dominierende in Schwaben.20 Der Aufstieg Günzburgs vor allem ab etwa 1540 muss zwangsläufig mit der Person und Familie des Simon Günzburg verbunden werden, er stellte die prägende Persönlichkeit der Juden im „Land zu Schwaben“ während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dar. Bereits die Vita seines mutmaßlichen Vaters Lazarus und dessen Stationen auf dem Weg nach Günzburg sind gleichsam ein Spiegel der jüdischen Geschichte Schwabens ab etwa 1500.21 Lazarus stammte laut Auskunft des ehemaligen Bürgermeisters Bernhard Besserer von 1536 ursprünglich aus Ulm, wo er unter anderem als angesehener Arzt wirkte. Spätestens 1525 nannte er sich nach Burgau und war der Vertreter der dortigen Juden, der im Bauernkrieg einen Schutzbrief des Schwäbischen Bundes ausgehändigt bekam. 1529 siedelte er nach längeren Verhandlungen mit seiner Familie, seinem Schwager Simon von Schwabach und weiteren Juden nach Esslingen über. Nach der dortigen Ausweisung 1544 zog er nach Günzburg, was durch zwei Reichskammergerichtsprozesse gegen den jeweils selben Kontrahenten belegt werden kann, in denen er sich zunächst nach Esslingen und dann nach Günzburg nannte. Darüber hinaus verfügte Lazarus über Schutzbriefe Karls V. (1543), König Ferdinands (1529/44) sowie weiterer Fürsten und Städte. In Esslingen war er stets Vorsteher und Vertreter der Juden gegenüber der Obrigkeit, auch recht wohlhabend, jedoch noch nicht in dem Umfang, den Simon Günzburg später erreichte. Seine Übersiedlung nach Günzburg bedeutete mit Sicherheit eine Stärkung der dortigen Gemeinde.22 Durch Stefan Rohrbachers einschlägige Forschungen zum jahrelangen Streit zwischen den schwäbischen und den Frankfurter Rabbinern seit 1564 – Hintergrund war eine Auseinandersetzung Simon Günzburgs mit seinem Geschäftspartner Nathan Schotten – haben wir tiefe Einblicke in das innerjüdische Rechtsleben der Zeit und die durchaus vorhandenen Spannungen erhalten.23 In diesem Zusammenhang tritt ferner erstmals eine „gemeine Judenschaft“ des Landes Schwaben auf: In einer Supplik vom Mai 1566 erläuterte diese „gemeine judenschafft im landt zu Swaben“, dass sie länger als sich das menschliche Gedächtnis erstrecken könne, einen obersten Rabbiner besessen 20

Doris Pfister: Dokumentation zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, in: Peter Fassl (Hg.): Archivführer, Augsburg 1993, S. 630; Arye Maimon u. a. (Hg.): Germania Judaica. Bd. III: 1350–1519, Teilbd. 1: Ortsartikel, Tübingen 1987, S. 480 f. 21 Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 243–247. 22 Ebd.. Vgl. auch: Sabine Hödl: Eine Suche nach jüdischen Zeugnissen in einer Zeit ohne Juden. Zu Geschichte der Juden in Niederösterreich von 1420 bis 1555, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 45 (1997), S. 271–296, hier S. 293 ff. 23 Stefan Rohrbacher: Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten, Berlin 1999, S. 192–219.

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habe, der über sie die innerjüdische Banngewalt besitze. Dem aktuellen Amtsinhaber Isaak Segal, der diese Funktion seit rund 30 Jahren bekleide, hätten nun einige aus Leichtfertigkeit den Gehorsam verweigert. Ohne Zweifel ist hiermit der Konflikt Simons mit Nathan Schotten angesprochen. Da die schwäbischen Juden allein den Kaiser als Schutzherren und Strafberechtigten ansahen, baten sie zur Abstellung der Leichtfertigkeit, dass Rabbi Isaak zu Günzburg und seine Nachfolger im Amt bestätigt würden. Dem schwäbischen Landesrabbiner seien folglich „auch alle juden, so ime landt zu Swaben sesshaft gewesen und noch seyen“ den Gehorsam schuldig.24 Am 25. Dezember 1566 wurden die schwäbischen Juden in Wien mit Ausstellung der geforderten Bestätigung bedacht. Außer Rabbi Isaak habe kein Rabbi die Juden in Schwaben „zu citieren oder inn ander weg wider sy zuschreyben, noch zuthuen macht oder fug haben“. Mit einer Ausnahme: „Doch dem raby zu Worms an seinem raby ampt uber gemaine jüdischayt daselbst zu Wormbs unvergriffen“. Diese Exemtion des Wormser Rabbinats zeigt, wie weit hier die Grenzen des „Lands zu Schwaben“ theoretisch nach Westen gelegt wurden – also bis fast an den Rhein, und damit sogar über die geographischen „Grenzen“ des „Lands Schwaben“, hinaus. Eindeutig wurden damit auf Betreiben der „gemeinen Jüdischheit zu Schwaben“ die Eingriffsrechte des Wormser Reichsrabbiners in Schwaben zurückgewiesen und seine Kompetenz in fast als dreist zu bezeichnender Form nur für die Wormser Gemeinde definiert. War es 1565/66 aber das erste Mal, dass schwäbische Juden selbst als „gemeine Jüdischheit in Schwaben“, als eigenständige jüdische Interessengemeinschaft einer Region, in Aktion traten? Es ist mit relativ großer Sicherheit der Fall, dass es zuvor keine derartige kaiserliche Bestätigung gegeben hat, sonst hätte man zweifellos auf diese verwiesen. Stattdessen argumentierten die jüdischen Gesandten mit dem Argument einer seit „Menschengedenken“ bestehenden Tradition, vergleichbar mit dem Recht des „alten Herkommens“. Wer aber diese Rabbiner „verordnet“ hatte, wird nicht genannt, vermutlich wurden sie schlicht von den Juden selbst gewählt und von der christlichen Umwelt ohne obrigkeitliche Bestätigung akzeptiert. Die Unkenntnis dieser Tradition durch die zuständige Obrigkeit lässt nämlich darauf schließen, dass sie zuvor eben nicht schriftlich fixiert worden war: Am 21. Juni 1568 schrieb die Regierung in Innsbruck an die Amtleute in Burgau, dass die oben genannte Freiheit für den schwäbischen Landesrabbiners zu befolgen sei. Man wusste in Innsbruck jedoch nicht, wie es zu Zeiten Kaiser Ferdinands I. „mit dem vorwesten rabbin gehalten worden“. Deshalb wurde ein Bericht hierüber angefordert – der, falls er jemals verfasst wurde, leider nicht überliefert ist.25 Der streitbare

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Gerson Wolf: Zur Geschichte der Juden in Deutschland, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 3 (1889), S. 159–184., hier S. 162 f. 25 Daniel J. Cohen (Hg.), Die Landjudenschaft in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Eine Quellensammlung, Bd. 3, Jerusalem 2001, S. 1455 ff.; Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 247 ff.

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Rabbi Isaak zu Günzburg war dann aber bereits Anfang 1568 nach über 30jähriger Amtszeit verstorben. Sein Nachfolger wurde Rabbi Jakob Reiner aus Mantua, diesmal hatten sich die schwäbischen Juden umgehend um eine kaiserliche Bestätigungsurkunde bemüht. In diesem Dokument vom 25. August 1568 heißt es nun, dass [die gemeine Jüdischheit des Lands zu Schwaben] „einen andern juden, Jacob Rainer genandt, zum rabi erküst und erwehlt“ und den Kaiser um dessen Bestätigung gebeten hätte. Den Kaiser, den „Fürsten zu Schwaben“, und nicht den amtierenden Landesherren der Markgrafschaft Burgau und der Landvogtei Schwaben, Erzherzog Ferdinand II., der seit 1564 Schwäbisch-Österreich regierte. Deshalb bestätigte Maximilian II „gemelter judischeit im land zu Schwaben vorgenannten Jacoben Reiner von neuem zu einem rabi […] und wollen, dass ihme rabi Jacoben Reiner, alle juden und jüdinen, so im land zu Schwaben zuvor wohnhafft gewesen und noch seyn, gehorsamb zu leisten schuldig seyn“. Auch habe allein Jakob die Machtbefugnis, sie vorzuladen oder im Fall des Ungehorsams in den Bann zu stellen, mit Ausnahme der schon 1566 genannten Wormser Gemeinde.26 1568 traten die Juden in Schwaben mindestens ein weiteres Mal als Gemeinschaft auf: Ein Ulmer Ratsdekret vom Mai des Jahres beantwortete eine „gemeiner juden in Schwaben supplication“ betreffs des Geleits insofern, dass diese auch Nebenwege benutzen und die Landstraße meiden durften – vermutlich wegen der Gefahr von Überfällen.27 Hier wird sichtbar, dass sich das „gemeine“ Auftreten nicht allein auf innerjüdische Rechtsstrukturen und deren Autorisierung bezog, sondern gleichzeitig auf den Dialog mit christlichen Obrigkeiten und pragmatische Angelegenheiten wie Geleitrechte. Gleiches gilt für die Intervention der „gemeinen Jüdischheit in Schwaben“ gegen Anton Fugger im Jahr 1583, als dieser einige Juden aus Orsenhausen und Osterberg wegen Ritualmordverdachts verhaften ließ. Die schwäbischen Juden wandten sich an den Kaiser und klagten über die Verletzung ihrer Privilegien. Man berichtete, dass zu Lebzeiten Kaiser Sigismunds eine Ritualmordklage gegen die Juden erhoben worden war, die sich im Nachhinein aber als haltlos herausstellte und von nachfolgenden Regenten verurteilt wurde. Eine Ritualmordbeschuldigung zu Lebzeiten König Sigismunds im Land zu Schwaben – unzweifelhaft war damit die bereits erwähnte Ravensburger Judenverfolgung von 1429/30 gemeint. Dies ist beachtenswert, weil damit konkret Bezug auf den schwäbischen Raum genommen wird. Wenn sich die „gemeine Jüdischheit in Schwaben“ 150 Jahre später auf diesen Fall bezog und die vielfach erwiesene Haltlosigkeit der Blutbeschuldigung bekräftigte, deutet das möglicherweise auf ein kollektives regionales Gedächtnis der Juden in Schwaben hin. Der Kaiser als von Gott eingesetzter „hochloblichister geord-

26 27

Cohen 2001 (wie Anm. 25), S. 1457 ff. Stadtarchiv Ulm A 3902 Q 6.

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neter schutzer und schirmber unnßer der armen judenschafft“ sollte nun gegen die Fugger einschreiten, was er letztlich auch tat.28 Zu Beginn der 1580er Jahre erfuhr das schwäbische Landesrabbinat im Kontext der „gemeinen Jüdischheit“ im Reich eine gewisse Anerkennung. Auf Anordnung einer 1582 zu Frankfurt tagenden Rabbinerversammlung bestimmte man den Günzburger Rabbi neben anderen als Schiedsrichter in strittigen innerjüdischen Fällen.29 Im Herbst 1603 fand in Frankfurt eine Versammlung jüdischer Gemeindevertreter statt, die als sogenannte „Frankfurter Rabbinerverschwörung“ Bekanntheit erlangte. Verhandelt wurde insbesondere das innerjüdische Rechtswesen. Dabei sollte festgelegt werden, dass Konflikte zwischen Juden künftig ausschließlich vor jüdischen Gerichten ausgetragen werden sollten.30 Als Gerichtsorte sah man neben Frankfurt und Worms das hessische Friedberg sowie Fulda und Günzburg vor. Letztere Orte sind mit Sicherheit als die zentralen Orte für die Länder „Franken“ und „Schwaben“ zu sehen, beide waren Sitz des jeweiligen Landesrabbiners. Als Bezeichnung wurden für diese Zuständigkeitsgebiete hier die Begriffe „Land“, „Kreis“ oder „Versammlung“ verwendet.31 Zur Vermeidung von Differenzen mit der christlichen Umwelt sollten im Geschäftsleben die Rechtsnormen des Reiches und der Territorien eingehalten werden. Darüber hinaus plante man, die Steuerabgaben der Juden in einer gemeinsamen Kassenführung zu organisieren. Dazu wurden so genannte „Legstätten“ bestimmt: Frankfurt, Worms, Mainz, Bingen, Friedberg, Schnaittach, Wallerstein und Günzburg.32 Hier werden nun Schnaittach, Wallerstein und Günzburg ausdrücklich als Sammelorte für Franken, das Ries und Schwaben genannt. Die anderen Orte bezogen sich jeweils nur auf die Städte selbst – wie Frankfurt und Worms – oder auf das Umfeld der genannten Stadt.33 Vom Aufbau und ihren Aufgabenfeldern ähnelt diese Organisationsstruktur durchaus den christlichen Reichskreisen sowie den Reichsritterschaften mit ihren Unterkantonen und führte Entwicklungen weiter, die sich während des 16. Jahrhunderts vollzogen hatten.34 Obwohl diese Beschlüsse aus der Perspektive des Kaisers eigentlich hätten begrüßenswert sein müssen, scheiterten sie, auch am Widerstand der Reichs28

Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 254 f. Eric Zimmer: Jewish Synods in Germany during the Late Middle Ages (1286–1603), New York 1978, S. 77–88. 30 Birgit Klein: Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich, Hildesheim/Zürich/New York 2003, S. 204–209. Hier auch ausführlich zur Vorgeschichte der Verordnungen. 31 Zimmer 1978 (wie Anm. 29), S. 163 f. 32 Volker Press: Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluss der deutschen Judenheit, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Zur Geschichte der Juden in Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 243–293, hier S. 248 f. 33 Zimmer 1978 (wie Anm. 29), S. 157 f. 34 Ebd., S. 187–190. Unter anderem Vertreter aus Frankfurt, dem Frankfurter Hinterland, Worms, Minden, Marburg, Köln, Tauber, Westfalen, Hanau, Bingen, Paderborn, Schnaittach. 29

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hofräte. Diese sprachen den Juden eine unabhängige Strafgewalt ab und benutzten für die vorgesehenen Organisationsformen sogar den Begriff „creisrabbiner“ – ein klarer Hinweis darauf, dass man sich der Analogien zu den Reichskreisen bewusst war.35 Dass man hiermit aber gewachsene Traditionen und territorienübergreifende Strukturen, die über weite Teile des 16. Jahrhunderts bestanden und insbesondere zu fiskalischen Zwecken des Reichs gedient hatten, quasi kriminalisierte, wurde am kaiserlichen Hof zu Prag kaum registriert. Aufgrund des langwierigen Verfahrens gegen die Teilnehmer, das hier nicht ausgeführt werden muss, sollte die Versammlung von 1603 bis ins 19. Jahrhundert die letzte dieser Form sein.36 Rudolf II. lag offenbar nichts an einer reichsweiten Organisationsform für die Juden, einer Mischform aus Judenschaften von einzelnen Territorien und „Ländern“ wie Schwaben oder Franken.37 Nach dem Dreißigjährigen Krieg, der die innerjüdischen Strukturen nachhaltig schädigte und veränderte, lässt sich denn auch keine kaiserliche Privilegierung für einen schwäbischen Landesrabbiner mehr belegen.

IV. Wenn man die wirtschaftlichen Möglichkeiten der frühneuzeitlichen Juden nicht nur in Schwaben analysieren will, muss man zunächst die Gliederung der jüdischen Gesellschaft beachten. Grundvoraussetzung ist auch hier, dass die Juden in der Stadt wie auf dem Land keine homogene wirtschaftliche Gruppe darstellten. Dies zeigt sich nicht nur durch unterschiedliche Vermögensspannweiten. Kaiserliche Schutzbriefe und Empfehlungen anderer Reichsfürsten können dabei als Hinweise auf Angehörige der jüdischen Elite dienen. Jedoch nahm die Zahl der auf diese Weise privilegierten Juden im Verlauf der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Schwaben ab, die herausragende Familie Ulma-Günzburg stellte eine der wenigen Ausnahmen dar. Kennzeichnend war für diese Gruppe die oftmalige Inanspruchnahme der kaiserlichen Gerichte bis hin zum Reichshofrat in Wien und ihre dominante Stellung innerhalb der „Gemeinen Jüdischheit“ eines „Landes“ wie Schwaben oder eines Territoriums wie der Markgrafschaft Burgau oder der Herrschaft Hohenberg. Eine wichtige Rolle nahmen sie auch beim AnsiedlungsModell der „Gesellen“ ein: Ein oder – wie im Fall Esslingens 1529 – mehrere besonders angesehene und wohlhabende Juden verhandelten mit der christ-

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Press 1981 (wie Anm. 32), S. 257. Rotraut Ries: Alte Herausforderungen unter neuen Bedingungen? Zur politischen Rolle der Elite in der Judenschaft des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts, in: Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hg.): Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin/Wien 2004, S. 91–141, hier S. 104f. 37 Rohrbacher 1995 (wie Anm. 1), S. 104f. 36

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lichen Obrigkeit und bildeten danach eine Gemeinschaft mit weiteren Juden, die sie auswählten oder anwarben – naturgemäß Verwandte oder gute Bekannte. Diese konnten allerdings durch den Willen der Führungspersönlichkeiten ihr Aufenthaltsrecht wieder verlieren.38 Unterhalb dieser Elite gab es eine Schicht, die oft die zentralen Figuren kleinerer ländlicher Ansiedlungen stellte, auch hier bietet sich wiederum die Annahme des „Gesellen-Modells“, häufig mit familiärer Prägung, an. Diese Juden verfügten zumeist über ein Kapital von wenigstens einigen hundert Gulden und konnten durchaus Summen über 50, 100 oder gar 200 fl. vergeben und Schutzgelder von 25 bis 51 fl. jährlich bezahlen. Angehörige dieser Gruppe tauchen gleichfalls zahlreich in Prozessen vor dem Hofgericht Rottweil und dem Reichskammergericht auf, weil sie eben Kredite vergeben konnten, bei denen sich überhaupt die Eröffnung eines Prozesses lohnte und weil sie in der Lage waren, sich die Verfahren zu leisten. Die Juden unterhalb dieser Schicht sind weitaus schwieriger zu belegen, da sie häufig nur zufällig Erwähnung finden. Doch beispielsweise anhand Hechinger Lagerbücher oder Orsenhausener Steuerlisten sowie in manchen Reichskammergerichtsakten zeigt sich, dass sich in den Siedlungen auch Juden mit teilweise äußerst geringem Eigenkapital aufhielten. Ihre wirtschaftliche Tätigkeit wird sich in einem recht schmalen Rahmen bewegt haben, der von Kleinhandel und Kleinkrediten geprägt war. Die Ausübung handwerklicher Berufe war den Juden im Reich bereits seit dem Mittelalter weitgehend verboten, da sie nicht in die Zünfte aufgenommen wurden. Dies führte zu einer Spezialisierung der Juden des Hoch- und Spätmittelalters auf das Kreditgeschäft. Eine Reduzierung der Juden auf Kredit- und Pfandgeschäfte trifft nur teilweise zu, vielmehr ist eine wirtschaftliche „Multifunktionalität“ mit individuell-unterschiedlicher Ausprägung festzuhalten. Vor allem der Handel darf nicht unterschätzt werden: Schon früh ist der Pferdehandel greifbar, dazu der Verkauf von Agrarprodukten wie Wein und Korn. Handel mit Tuch und Kleidung wird in einem Raum wie Schwaben, in dem Textilproduktion und Textilhandel eminent wichtige Rollen einnahmen, sicher nicht die Ausnahme gewesen sein. Immer wieder – als Handelsgut oder Pfand – taucht Silbergeschirr auf, das nicht nur in ländlichen Gebieten Wertanlage und Prestigegegenstand zugleich war. Integraler Bestandteil des jüdischen Warenhandels war der Besuch der Handelsmessen, wobei besonders Frankfurt und Nördlingen hervorzuheben sind. Dies geschah auch im Auftrag von Adeligen, die auf diese Weise von dort Luxusartikel wie Schmuck, wertvolle Stoffe oder Waffen bezogen. Somit wurden bereits im 16. Jahrhundert die Aufgaben der späteren Hofjuden, gerade für kleinere Herrschaften, wahrgenommen. Schon in Hechingen hatten die Juden des 16. Jahrhunderts quasi ein Handelsmonopol, in Niederadelsherrschaften wird diese Konstellation noch eindeutiger gewesen sein. Gerade im 38

Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 362 ff.

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Handelswesen dürfte damit die wohl größte Konkurrenz gegenüber den Christen bestanden haben. Für das Kredit- und Pfandwesen gestalteten sich die Voraussetzungen recht unterschiedlich, hier zeigt sich eine große Bandbreite. Die einzige Konstante bestand zumeist in einer Normsetzung gegenüber der eigenen Untertanenschaft, wogegen die Leihe an „Ausländer“ oft keinen Beschränkungen unterlag. Die internen Zinssätze variierten gleichwohl beachtlich: In Esslingen zwischen fünf bis zehn, in Hechingen zwischen fünf bis 15, im hohenrechbergischen Territorium gar bis 30 Prozent. Die Pfandleihe scheint speziell auf dem Land von großer Bedeutung gewesen zu sein, jedoch wurde sie auch häufig als Ursache für eine Kriminalisierung der Bevölkerung angeführt, weshalb Pfänder zweifelhafter Herkunft meistens von vornherein ausgeschlossen waren. Bei der Zusammensetzung der Kredite überwiegen bei weitem die für eine ländliche Klientel typischen Klein- und Mittelkredite zur Überbrückung von landwirtschaftlichen Krisen, üblicherweise im Rahmen von nur wenigen Gulden. Manchmal wurden auch größere Kredite vergeben, hier waren meist Stadtbürger und Adelige die Kunden. Die Aufsplitterung des zu verleihenden Kapitals verlangte einerseits eine präzise Organisation, verringerte aber zugleich das Risiko bei nicht erfolgter Rückzahlung. Naturgemäß eng verbunden mit den ökonomischen Voraussetzungen waren die rechtlichen Möglichkeiten der Juden: Die traditionelle Kammerknechtschaft, die noch unter Maximilian I. als Begriff belegbar ist, wandelte sich ab den 1520er Jahren allmählich in die von Reuchlin formulierte und von den zeitgenössischen Juristen zunehmend rezipierte „Reichsbürgerschaft“ der Juden als cives romani. Die entscheidenden Etappen waren dabei der Reichstag von 1530 und das durch Josel von Rosheim erreichte große Speyrer Privileg Kaiser Karls V. für die Juden des Reichs von 1544, das in seiner Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.39 Am Reichskammergericht, am Hofgericht Rottweil und von der vorderösterreichischen Regierung in Innsbruck wurde dieser verfahrensrechtlichen Gleichstellung expressis verbis Ausdruck verliehen. Das Reichs- und Rechtsbewusstsein der Juden zeigte sich vielfach bei Vertreibungen, Übergriffen, Verhaftungen, Bedrohungen, Beleidigungen oder Geleitsfragen. Dabei beriefen sie sich auf das „gemeine“ Recht und weiter explizit auf die den Juden des Reichs erteilten Privilegien, vorrangig auf das Speyrer von 1544. Eine wachsende Betonung der Reichsnormen findet sich ferner in territorialen Schutzbriefen und Judenordnungen, z. B. in Hechingen, Aach, Stetten, und Buchau. Das territoriale Judenrecht ist dabei als Zusatz zum „gemeinen“ Recht zu sehen, welches die schwäbischen Juden ausdrücklich und selbstverständlich für sich in Anspruch nahmen.40 Im Verlauf des 16. Jahrhunderts stellten die Juden daher mehrfach ein Verhandlungsthema auf der Ebene des gut organisierten Schwäbischen Reichs39 40

Ebd., S. 201. Ebd., S. 356 ff.

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kreises dar. Kernpunkte waren dabei vor allem die jüdischen Prozesse am kaiserlichen Hofgericht Rottweil und am Landgericht Schwaben sowie eine grundsätzliche Judenfeindschaft aufgrund klassischer Stereotype wie den Gotteslästerungs- oder Wuchervorwürfen. Eine überterritoriale Judenpolitik in Schwaben hatte im 15. Jahrhundert bereits von Seiten des Reichs im Sinne einer gewissen fiskalischen Organisation existiert. Die Reichsstädte, die ohnehin einen engen informellen Kontakt untereinander besaßen, sprachen sich ferner in Fragen der Judenpolitik zweifellos ab, beispielsweise bei den gehäuften Ausweisungen am Ende des 15. Jahrhunderts, wo die betreffenden Urkundentexte von Stadt zu Stadt weitergegeben wurden. Während von Seiten des von 1488 bis 1534 bestehenden Schwäbischen Bundes kaum judenpolitische Zeugnisse überliefert sind, trat die Mehrzahl der schwäbischen Reichsstädte ab etwa 1528 korporativ im Sinne einer restriktiven Judenpolitik auf. Höhepunkte bildeten die Ausweisungsforderung durch zahlreiche schwäbischen Reichsstädte auf dem Reichstag 1530 und die kontinuierliche Entwicklung von Privilegien gegen die jüdische Wirtschaftstätigkeit.41 Insbesondere der Widerstand gegen die Urteile des Rottweiler Hofgerichts war hierbei eine zentrale Motivation. Dieses alte Reichsgericht wurde von den schwäbischen Juden spätestens seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zunehmend in Anspruch genommen und besaß für sie nicht allein wegen seiner schnellen Erreichbarkeit und des verhältnismäßig kurzen Verfahrenswegs große Bedeutung als überterritoriale Instanz der Rechtssicherheit. Der Zug nach Rottweil war bei Schuldnerprozessen oft wegen mangelnder Kooperation der Obrigkeiten nötig, die sich jüdischen Rechtsansprüchen gegenüber abweisend zeigten. Diese waren an den Gerichten der eigenen Obrigkeit und besonders vor fremden Instanzen häufig schwer durchsetzbar – aufgrund lokaler Parteinahme oder obrigkeitlichem Druck. Das Hofgericht bildete somit einen wichtigen Rückhalt für die Geschäftstätigkeit der Juden. Das System der rottweilischen Acht und Anleite (Einsetzung in die Güter des Schuldners) funktionierte fraglos und war keine leere Drohkulisse. Jüdische Prozesse stellten durch ihre Gebühren einen wichtigen Bestandteil des Hofgerichtshaushalts dar. Die „heiße“ Phase der rottweilischen Prozesse in Schwaben von etwa 1512 bis 1572 mit den Höhepunkten der Gegenbewegung auf den Reichstagen 1530, 1551, 1566 und 1570 spiegelt sich in zahlreichen Appellationen am Reichskammergericht wider. Dieses wurde von den Juden selbst ebenfalls bei Bedrohungen, Beleidigungen und sogar bei innerjüdischen Konflikten intensiv herangezogen.42 Ein auf das schwäbische „Oberland“ konzentrierter Vertreibungswunsch der dortigen Städte, Prälaten und Adeligen stellte 1551 eine regional orientierte Fortsetzung restriktiver Judenpolitik in Schwaben dar. Konsequenterweise waren bei derartigen Aktionen immer die Stände federführend, die sich 41 42

Ebd., S. 193 ff. Ebd., S. 189 f., S. 221–229.

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am stärksten durch angrenzende Judensiedlungen und deren Geschäftsbeziehungen zur eigenen Untertanenschaft belastet sahen – wie Württemberg, Ulm, Augsburg, Memmingen oder Weingarten. Unter der Führung Württembergs und insbesondere angetrieben von Ulm wurde von 1556 bis 1567 auf der Ebene des Schwäbischen Reichskreises mit überkonfessionellem Konsens versucht, eine Ausweisung der Juden aus den Kreisgebieten, aber genauso aus den habsburgischen und ritterschaftlichen Territorien zu erreichen. 1563 hatte man einen einstimmigen Beschluss in dieser Hinsicht gefasst, 1566/67 gipfelte dies sogar in Austreibungsforderungen für das gesamte Reich – eine durch Herzog Christoph von Württemberg zuvor wiederholt auf Reichsebene vorgebrachte, doch letztlich unrealistische Aktion.43 Als diese Politik nicht die erhoffte Wirkung zeigte und keine kaiserliche Unterstützung fand, wandte man sich dem Hofgericht Rottweil zu, das ab etwa 1570 durch Boykotte und Reformen für die Juden und auch in seiner allgemeinen Rechtsautorität einen erkennbaren Bedeutungsverlust erlitt. Im Dreieckskonflikt mit den kaiserlichen Gerichten und den Juden findet sich trotz gelegentlicher Verbrämung mit anderen Motiven der Hauptbeweggrund für die stände- und konfessionsübergreifende Judenpolitik in Schwaben, die nach 1600 in dieser Form nicht mehr belegbar ist. Das Landgericht Schwaben wurde von den Juden weiterhin frequentiert, doch besaß es nicht den weiten Einzugsraum des Rottweiler Hofgerichts, daher lassen sich dort überwiegend Juden aus der unmittelbaren Umgebung als Prozessparteien finden.44

V. Die „Juden im Land zu Schwaben“ des 16. Jahrhunderts waren zunächst ein vager regionaler Überbegriff, der aber von Christen und Juden gleichsam interaktiv verwendet wurde. Aus der fiskalischen Perspektive des Reichs waren darin in etwa die Juden im Schwäbischen Reichskreis, in Schwäbisch-Österreich und in den Gebieten der Schwäbischen Reichsritterschaft umschlossen. Inwiefern dabei Organisationsformen aus dem 15. Jahrhundert aufgegriffen wurden, wäre weiter zu vertiefen, ebenso ein Zusammenhang mit der aus überwiegend fiskalischen Gründen erfolgten Restauration des Reichsrabbinats für den Wormser Rabbiner 1521. Wurde Günzburg in den 1520er Jahren Sitz eines Landesrabbiners, weil es damals die größte verbliebene Gemeinde

43 Ebd., S. 206–220; Sabine Ullmann: Zwischen Pragmatismus und Ideologie – Entwicklungslinien der Judenpolitik des Schwäbischen Reichskreises, in: Wolfgang Wüst (Hg.): Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, Stuttgart 2000, S. 211–231. 44 Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 217 ff.

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in Schwaben darstellte und dort die Abgaben an das Reich gesammelt werden sollten? Erst 1565/66 scheinen die schwäbischen Juden eine nach außen klar sichtbare, selbständig und aktiv auftretende Organisationsform entwickelt zu haben. Diese ist auf engste mit dem Familienverband der Ulma-Günzburg und dessen Aufstieg verbunden. Als Hintergründe sind vermutlich langjährig vorhandene Kompetenzstreitigkeiten mit den Rabbinern in Frankfurt und Worms zu sehen, die im Prozess Simon Günzburgs gegen Nathan Schotten eskalierten. Durch bewusste Verwendung des auf den Kaiser als „Fürsten von Schwaben“ ausgerichteten „Schwaben“-Begriffs konnte man für den schwäbischen Landesrabbiner weit reichende Kompetenzen anmelden, einen Gerichtsbezirk definieren und übergeordnete wie konkurrierende Ansprüche zurückdrängen. Zusätzlich diente die Institution der „gemeinen Judenschaft“ als Interessensvertretung gegenüber dem Kaiser und anderen Obrigkeiten sowie zur Organisation von Abgaben an das Reich. Dass sich diese Vertretung ausgangs des 16. Jahrhunderts zunehmend auf die Markgrafschaft Burgau und ihre Umgebung bezog, ist schlicht damit zu erklären, dass dort die größten und wirtschaftlich potentesten Judengemeinden in Schwaben verblieben waren, deren Elite weiterhin durch die Familie Ulma-Günzburg und deren Verbindungen zum Kaiserhaus geprägt sein sollte.45 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, besonders anfangs der 1540er Jahre, war innerhalb des „Lands zu Schwaben“ eine weitaus breitere Verteilung von Siedlungen vorhanden gewesen, die allerdings durch die württembergische Judenpolitik wieder reduziert wurde. Auch dadurch, dass in Schwäbisch-Österreich mit einer habsburgischen Linienteilung ab 1564 bis 1665 eine vom Kaiser unabhängigere Landespolitik betrieben wurde, war der „Schwaben“-Begriff umso wichtiger, denn durch ihn konnte man sich weiterhin direkt an den Kaiser und seinen Schutz binden. Die Günzburger Gemeinde um die Ulma-Günzburg war dabei die treibende Kraft, ihr Handeln Ausdruck ihres Selbstbewusstseins sowie ihrer während des 16. Jahrhunderts gewachsenen ökonomischen und kulturellen Stellung. Der Reichsbezug der schwäbischen Judenschaft wird auch durch ihre teilweise Bereitschaft zur Leistung von Reichssteuern noch im 17. und 18. Jahrhundert unterstrichen, wobei die kaiserlichen Finanzkommissare – allerdings mit überschaubarem Erfolg – auf die Organisationsebenen des Schwäbischen Reichskreises und der Schwäbischen Reichsritterschaft zurückgriffen – Strukturen, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch nicht in dieser Form und Instrumentalisierbarkeit ausgeprägt waren.46

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Kießling 2005 (wie Anm. 1), S. 106 ff. Lang 2008 (wie Anm. 1), S. 255 ff.

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„DASS WÜR EBENFAHLSS EUR HOCHGRÄFFLICHE EXCELLENZ GEHORSAME UNTERTHANEN SEINT.“ Partizipation von Juden an der Legislationspraxis des frühmodernen Staates am Beispiel der Grafschaft Oettingen 1637–18061 Von Johannes Mordstein

Graf Franz Albrecht von Oettingen-Spielberg kannte keine Gnade. Nachdem seine finanziellen Forderungen nicht erfüllt worden waren, kündigte er 1728 kurzerhand den Judenschutz auf, ließ die Synagoge der Residenzstadt Oettingen sperren und die Vorsteher der jüdischen Gemeinde verhaften. Erst als die Juden sich bereit erklärten, auf „alles ein[zu]gehen […], was g[nä]d[i]ge Herrsch[aft] von Ihnen verlangen thäte“, erneuerte er den Schutz und ordnete die Wiedereröffnung des Gebetshauses sowie die Freilassung der Gefangenen an.2 Die Rigorosität „absolutistischer“ Landesherren scheint für die Judenpolitik des frühmodernen Staates in der Phase zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 und der Mediatisierung 1806 symptomatisch zu sein. Die historische Forschung hat das qualitative Beziehungsgefüge zwischen Obrigkeit und Juden in dieser Epoche mit den folgenden Schlagworten auf den Punkt gebracht: Fiskalisierung, ökonomischer Utilitarismus, Kontrolle aller Lebensbereiche durch den aufstrebenden Obrigkeitsstaat, Beibehaltung der als gottgegeben betrachteten ständischen Grundordnung (einschließlich des damit verbundenen rechtlichen und sozialen Minderstatus der jüdischen Minorität), Virulenz antijüdischer Stereotype. Die Juden konnten nur dann mit einer längerfristigen Duldung rechnen, wenn der Judenschutz für die Herrschaft von fiskalischem und wirtschaftlichem Nutzen war. Neben diesem primären obrigkeitszentrierten Motivkomplex durfte die Existenz jüdischer Gemeinden zudem nicht der christlichen Untertanenschaft zu Nachteil und 1 Der nachfolgende Beitrag ist die gekürzte und leicht abgeänderte Version eines Aufsatzes, der unter gleichem Titel im folgenden Sammelband publiziert wurde: Rolf Kießling u. a. (Hg.): Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007 (Colloquia Augustana 25), S. 70–106. Er stellt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Thesen meiner Dissertation dar. Vgl. Johannes Mordstein: Selbstbewußte Untertänigkeit. Obrigkeit, christliche Untertanenschaft und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637–1806, Epfendorf 2005 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte 2). 2 Fürstlich Oettingen-Spielbergisches Archiv Harburg (FÖSAH), RegReg K 62, Protokolle der Regierung Oettingen-Spielberg vom 8. 11. 1728, 12. 11. 1728 (Zitat) und 15. 11. 1728.

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Schaden gereichen. Auf diese Weise sollte der zentrale Staatszweck, der auf die Einrichtung und Erhaltung einer umfassenden guten Policey ausgerichtet war, realisiert werden. Die normativen Konsequenzen dieser Grundgegebenheiten lassen sich an den Judenordnungen und Schutzbriefen der Epoche ablesen: Die Tolerierung musste von den Juden durch hohe Abgabenleistungen regelrecht „erkauft“ werden, die jüdische Wirtschaftstätigkeit wurde angesichts des auch von der Obrigkeit allgemein akzeptierten pauschalen Betrugs- und Wuchervorwurfs und virulenter Konkurrenzängste christlicher Handels- und Gewerbetreibender durch eine Vielzahl von Restriktionen eingeschränkt. Konnten die Juden die an sie gestellten fiskalischen Erwartungen nicht erfüllen oder glaubten herrschaftliche Entscheidungsträger, auf deren ökonomische Funktion verzichten zu können, hatte dies nicht selten finanzielle „Erpressungsversuche“, weitere wirtschaftliche Auflagen und im ungünstigsten Fall Ausweisungsvorhaben zur Folge. Der obrigkeitlich bewilligte Schutz zählte somit für die Juden in rechtlicher Hinsicht zur zentralen Lebensgrundlage. Jüdische Existenz war ohne herrschaftliche Tolerierung nicht denkbar, der „absolutistische“ Staat war einer der wesentlichen Angelpunkte jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit.3 Das oettingen-spielbergische Eingangsbeispiel von 1728 sowie die folgenden Ausführungen belegen, dass dieses Kräftefeld auch in der Grafschaft Oettingen gültig war, die sich somit in das Gesamtbild einfügt, das die Forschung bislang vom Beziehungsgefüge zwischen Obrigkeit und Juden im 17. und 18. Jahrhundert gezeichnet hat. Die meisten Darstellungen nehmen hierbei eine dezidiert obrigkeitliche Sichtweise ein. Bedingt durch die Überlieferungssituation kommen in den Quellen fast ausschließlich obrigkeitliche Verfahrensbeteiligte zu Wort. Aufgrund ihres Minderstatus scheinen die Juden bei der Ausgestaltung ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen eine marginale Rolle gespielt zu haben, die angesichts der „Allmacht“ des frühmodernen Staates vernachlässigt werden konnte.4 3

J. Friedrich Battenberg: Zur Rechtsstellung der Juden am Mittelrhein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 6 (1979), S. 129–183; Ders.: Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 545–599; Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Ders./Michael Graetz (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780, München 1996, S. 85–277, hier S. 132–140; Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 114–126. 4 Um nur einige willkürlich ausgewählte Beispiele jüngerer Publikationen zu nennen, in denen eine eher obrigkeitliche Sichtweise eingenommen wird und die Aktionsspielräume der jüdischen Normadressaten nicht systematisch analysiert werden: Cilli Kasper-Holtkotte: Juden im Aufbruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im Saar-Mosel-Raum um 1800, Hannover 1996 (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abteilung A: Abhandlungen 3); Rochus Scholl: Juden und Judenrecht im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte eines deutschen Kleinstaates am Ende des alten Reiches,

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Die nachfolgenden Überlegungen versuchen an dieser Stelle einzuhaken. Hatten die Juden gegenüber ihrer Schutzherrschaft nicht doch einen politischen Aktionsspielraum? Wurden Judenordnungen und Schutzbriefe obrigkeitlich oktroyiert oder konnten die Juden zumindest gewisse Partizipationsmöglichkeiten ausnutzen und ihre eigenen Interessen artikulieren? Diesen Fragen wird im Folgenden in drei Schritten nachgegangen. In einem einführenden Abschnitt werden zunächst das Untersuchungsgebiet – die Grafschaft Oettingen – vorgestellt, die wichtigsten Strukturelemente der jüdischen Geschichte in diesem schwäbischen Kleinterritorium beleuchtet sowie die verschiedenen Phasen der Judenpolitik veranschaulicht (I). In einem zweiten Schritt werden anhand einiger Beispielfälle Kommunikationsmöglichkeiten und Handlungsstrategien der oettingischen Judengemeinden einer Analyse unterzogen, wobei das normative Leitmedium der Judenschutzbriefe im Mittelpunkt steht (II). Basierend auf den wichtigsten Ergebnissen dieser Ausführungen werden abschließend weiterführende Thesen zum grundlegenden Verhältnis zwischen Obrigkeit und Juden angedacht (III).

I. Die Grafschaft Oettingen5 zählte bislang zu den weißen Flecken auf der jüdischen Landkarte der Frühen Neuzeit.6 Sie umfasste in etwa das Gebiet des Nördlinger Rieses, ca. 60 Kilometer nördlich von Augsburg im nördlichen Teil des heutigen Regierungsbezirks Bayerisch-Schwaben gelegen. Die statis-

Frankfurt a. M. 1996 (Rechtshistorische Reihe 139); Imke König: Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.–18. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1999 (Studien zu Policey und Policeywissenschaft); Bernd-Wilhelm Linnemeier: Jüdisches Leben im Alten Reich. Stadt und Fürstentum Minden in der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2002 (Studien zur Regionalgeschichte 15). 5 Vgl. zur Herrschaftsstruktur der Grafschaft Oettingen: Dieter Kudorfer: Die Grafschaft Oettingen. Territorialer Bestand und innerer Aufbau, München 1984 (Historischer Atlas von Bayern. Teil Schwaben II/3). 6 Einen ersten Ansatz zur Darstellung der jüdischen Geschichte im Ries und in der Grafschaft Oettingen bietet die Arbeit von Ludwig Müller: Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Riess [!]. 2 Teile, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg (ZHVS) 25 (1898), S. 1–124; ZHVS 26 (1899), S. 81–182. Lediglich die Gemeinde Harburg hat durch die Arbeiten Reinhard Jakobs wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Vgl. Reinhard Jakob: Die jüdische Gemeinde von Harburg (1671–1871), Nördlingen 1988; Ders.: Frühneuzeitliche Erwerbs- und Sozialstrukturen der schwäbischen Judenschaft. Dargestellt vornehmlich am Beispiel der oettingischen Stadt Harburg an der Wörnitz, in: Aschkenas 3 (1993), S. 65–84; Ders.: Konflikt und Stereotyp. Die Beschwerden von Rat und Bürgerschaft in Harburg und Monheim über die jüdischen Mitbewohner (1671–1741), in: André Holenstein/Sabine Ullmann (Hg.): Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit, Epfendorf 2004 (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 12), S. 325–356.

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tischen Daten – Größe: 850 km2; Einwohner: 60 000 – deuten bereits ein erstes Strukturmerkmal an: die geringe Ausdehnung des Untersuchungsgebiets, das ein typisches Kleinterritorium im herrschaftlich zersplitterten Schwaben war. Dieser Faktor wurde durch die dynastische Teilung des Grafenhauses in vier Linien verstärkt: Die in der Stadt Oettingen residierende protestantische Linie Oettingen-Oettingen hatte in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg die stärkste Machtposition inne. Nach dem Aussterben dieser Teildynastie 1731 wurde die Erbschaft 1740/41 unter den beiden katholischen Linien Oettingen-Wallerstein (Residenz: Wallerstein) und Oettingen-Spielberg (Residenz: Oettingen) aufgeteilt, so dass ab diesem Zeitpunkt diese beiden Familienzweige zu den tonangebenden Herrschaftsträgern im Ries aufstiegen. Die vierte Linie Oettingen-Baldern (katholisch; Residenz: Baldern) nahm demgegenüber eine untergeordnete Stellung ein; ihr Territorium entsprach in seiner Größe eher einer Reichsritterschaft. Nach dem Tod des letzten Balderer Grafen 1798 trat Oettingen-Wallerstein die Nachfolge an. Die vier oettingischen Teillinien standen in ständiger herrschaftspolitischer Konkurrenz zueinander. Innerdynastische Streitigkeiten über Hoheitsrechte und Erbschaftsansprüche prägten das Verhältnis der Familienzweige während des gesamten Untersuchungszeitraums. Konflikte waren jedoch nicht nur innerhalb der Dynastie an der Tagesordnung, sondern gehörten auch im Beziehungsgefüge zu mediaten und immediaten Nachbarn und Einliegern zum herrschaftlichen Alltag. Unklare Grenzdefinitionen sowie vermischte, geteilte und gemeinsam ausgeübte Herrschaftsrechte boten Anlass zu jahrzehntelangen Auseinandersetzungen. Die Grafschaft Oettingen gehörte somit zu den territoria non clausa, die für den Südwesten des Alten Reiches charakteristisch waren. Diese Strukturmerkmale hatten direkte Auswirkungen auf die in der Grafschaft Oettingen von allen vier Linien geduldeten Juden. Nur die Gemeinden Oettingen (Oettingen-Spielberg), Pflaumloch und Wallerstein unterstanden während des gesamten Untersuchungszeitraums ohne Änderungen ein und derselben Schutzherrschaft, alle anderen Judenschaften machten einen oder gar mehrere Herrschaftswechsel mit. Besonders charakteristisch war die herrschaftliche Teilung einiger Gemeinden. Den berühmtesten, in einschlägigenHandbüchern7 erwähnten Fall stellt die Residenzstadt Oettingen dar, die seit dem Spätmittelalter zwischen den Linien Oettingen-Oettingen und Oettingen-Spielberg aufgeteilt war. Dies führte im Endergebnis zu einer Doppelung zahlreicher obrigkeitlicher und kommunaler Institutionen wie Regierung, Rentkammer, Schloss, Zünfte etc. Die Oettinger Judenschaft machte hierbei keine Ausnahme, denn es existierten nebeneinander zwei getrennte Judengemeinden mit je eigenem Rabbiner, gesonderten kommunalen Strukturen und Synagoge. Der Einfachheit halber setzte sich im Sprachgebrauch entsprechend der konfessionellen Ausrichtung der lokalen Schutzherrschaften die 7

Breuer 1996 (wie Anm. 3), S. 101.

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Bezeichnung „evangelische“ und „katholische Juden“ durch. Erst die Fusion beider Gemeinden infolge des erbweisen Anfalls der oettingen-oettingischen Stadthälfte an Oettingen-Spielberg brachte 1743 eine herrschaftliche Bereinigung. Konkurrierende Schutzherrschaften waren auch für die beiden Judenschaften Kleinerdlingen und Schopfloch charakteristisch. In Kleinerdlingen übte die mediate Johanniterkommende Kleinerdlingen neben Oettingen-Spielberg Schutzrechte über die von ihr aufgenommenen Juden aus. Die strittige Definition und Abgrenzung der jeweiligen Herrschaftsbefugnisse hatte jahrzehntelange Konflikte zwischen dem Ritterorden und Oettingen-Spielberg zur Folge. Angesichts der schwachen Machtposition der Johanniter im Ries konnte die regionale Vormacht Oettingen ein deutliches Übergewicht gewinnen. Mit anderen Vorzeichen wiederholte sich diese Konstellation in Schopfloch. In dieser aus oettingischer Sicht abgelegenen Exklave musste sich OettingenSpielberg gegenüber dem für regionale Verhältnisse mächtigen und dominanten Gegenspieler Brandenburg-Ansbach mit der Rolle des „Juniorpartners“ zufriedengeben. Ein weiteres wesentliches Charakteristikum der jüdischen Geschichte in der Grafschaft Oettingen besteht in einer Siedlungsstruktur, die zur Bildung relativ großer und stattlicher Gemeinden führte. Um 1800 lebten in den kleinsten „Judendörfern“ Mönchsroth und Aufhausen 31 bzw. 36 jüdische Familien und damit wesentlich mehr als z. B. in den jüdischen Kleinsiedlungen Hessens.8 Sämtliche oettingische Judengemeinden verfügten über eine eigenständige kommunale Struktur mit Vorstehern (Parnassim), Finanzverwaltung, Armenpflege und eigenen Synagogen. Die innerjüdischen Strukturen des „Medinats Ries“ wurden eindeutig obrigkeitlich dominiert. Der Landesherrschaft gelang es in allen oettingischen Teilgrafschaften (Ausnahme: Oettingen-Baldern), die Landesrabbinate mit dem jeweiligen Territorium in Deckung zu bringen. Diese Entwicklung hatte etwa 1743 zur Folge, dass mit der Vereinigung der beiden Oettinger Judenschaften zu einer Einheitsgemeinde auch eines der bis dahin existierenden Landesrabbinate aufgelöst wurde. Zu diesem Befund passt auch die Feststellung, dass während des gesamten Untersuchungszeitraums überregionale Verbindungen zu den zentralen auswärtigen jüdischen Autoritäten und Institutionen (Fürth, Worms, Frankfurt, Prag u. a.) nur in Einzelfällen ausgemacht werden können. In ähnlicher Weise trat die in anderen Territorien immer wieder aktivierte oberste kaiserliche Schutzhoheit über die Judenschaft gegen8 Zur jüdischen Siedlungsgeographie in der Frühen Neuzeit vgl. allgemein Herzig 1997 (wie Anm. 3), S. 97–102; J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), S. 10–13, 32–36; zu Hessen: Wolfgang Treue: Eine kleine Welt. Juden und Christen im ländlichen Hessen zu Beginn der Frühen Neuzeit, in: Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hg.): Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin/Wien 2004, S. 251–269.

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über der Landesherrschaft in den Hintergrund. Der kaiserliche Judenschutz spielte in Rechtspraxis und Judenpolitik der Grafschaft Oettingen nur eine marginale Rolle.9 Nach der Vorstellung der wichtigsten Strukturmerkmale der Judengemeinden in der Grafschaft Oettingen soll im Folgenden in knapper Form der Versuch unternommen werden, die wichtigsten Phasen der oettingischen Judenpolitik zu beschreiben. Als Quellengrundlage dienen hierfür die für alle Gemeinden erteilten Judenschutzbriefe, die – vergleichbar mit den Judenordnungen anderer Territorien – das zentrale Leitmedium zur Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen der in der Grafschaft Oettingen lebenden Juden darstellten. Thematisch umfassten sie nahezu alle Lebensbereiche: obrigkeitlichen Judenschutz, Abgabenbelastung, Erwerbstätigkeit, jüdische Autonomierechte, gute Policey.10 Die oettingischen Judenschutzbriefe werden von einem Spezifikum geprägt, das ihre inhaltliche Auswertung besonders lohnend macht: Sie wurden befristet für eine Laufzeit von drei bis 18 Jahren ausgestellt. Am Laufzeitende musste ein neuer Schutzbrief erlassen werden. In allen vier oettingischen Teilgrafschaften entstanden auf diese Weise regelrechte Serien von Judenschutzbriefen mit insgesamt 93 Exemplaren aus dem Zeitraum von 1637 bis 1806. Diese Quellengrundlage erlaubt es somit, über mehr als 150 Jahre Entwicklungstendenzen und qualitative Veränderungen nachzuvollziehen. Aufgrund der reichhaltig überlieferten Akten zum Ausstellungsverfahren dieser zentralen normativen Quellen, den sogenannten Schutzlosungsakten, ist es zudem möglich, einen Blick hinter die „Kulisse“ des bloßen Normtextes zu werfen. Die Schutzlosungsakten enthalten eine Vielzahl unterschiedlicher Dokumente: Resolutionen des Landesherrn; Gutachten der mit der Schutzbriefausstellung beauftragten Regierungsmitglieder und Oberamtmänner; Statistiken zur sozialen, finanziellen und wirtschaftlichen Situation der Judengemeinden; Supplikationen nichtjüdischer Interessengruppen; Bittgesuche der Judengemeinden. Durch die Einbeziehung dieser Quellengruppe können die politischen, gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnisse des Untersuchungsgebiets Berücksichtigung finden. Insgesamt lassen sich drei Phasen der Judenpolitik in der Grafschaft Oettingen ausmachen.11 In den drei bis vier Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg stand das Motiv der „Peuplierung“ des kriegsverwüsteten Landes im Mittelpunkt. Die Neugründung jüdischer Gemeinden (z. B. 1671 Harburg, 1684 Mönchsdeggingen) und die Neuansiedlung von Juden in bereits existie-

9

Vgl. Rolf Kießling: Zwischen Schutzherrschaft und Reichsbürgerschaft: Die schwäbischen Juden und das Reich, in: Ders./Sabine Ullmann (Hg.): Das Reich und die Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Konstanz 2005 (Forum Suevicum 6), S. 99–122. 10 Vgl. hierzu ausführlich Mordstein 2005 (wie Anm. 1), S. 43–120. 11 Vgl. zum folgenden: ebd., S. 180–203.

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renden Niederlassungen dienten in erster Linie der fiskalischen Prämisse der Landesherrschaft. Die auch in dieser Phase vorhandenen antijüdischen Stereotype nahmen gegenüber diesem dominierenden Motiv nur eine untergeordnete Stellung ein. Dies sollte sich in der zweiten Periode von 1680/90 bis ca. 1750 ändern: Die ökonomische Erholung des Landes war abgeschlossen, ein andauernder demographischer Wachstumsprozess der christlichen und jüdischen Bevölkerung ließ den wirtschaftlichen Konkurrenzdruck anwachsen. Der Schädlichkeitstopos trat nun in den Vordergrund. Der Betrugs- und Wuchervorwurf motivierte Judenvertreibungsvorhaben. Die Folge davon war eine äußerst labile Situation (vgl. das Eingangsbeispiel von 1728): Je nachdem, ob antijüdische Stereotype oder finanzpolitische Erwägungen das Übergewicht bei den obrigkeitlichen Entscheidungsträgern erlangten, wechselten sich Ausweisungsprojekte und Schutzverlängerungen ab. Meist wurde versucht, einen Mittelweg zu beschreiten: Die Juden wurden gegen hohe Abgabenzahlungen weiterhin im Land geduldet, durch Handelsverbote und -beschränkungen sowie amtliche Aufsicht sollten die vermeintlichen Risiken des jüdischen Handels für die christliche Einwohnerschaft minimiert werden. In der dritten Phase von ca. 1750 bis 1806 traten die bislang entscheidungsrelevanten antijüdischen Stereotype zurück und machten einer eher pragmatischen Sichtweise Platz. Die Erwerbstätigkeit der Juden wurde nun als ökonomisch nutzbringend oder zumindest nicht mehr als verderblich angesehen. Ohne ein gewisses Misstrauen gegenüber dem jüdischen Handel völlig aufzugeben und auf das Instrument der obrigkeitlichen Kontrolle zu verzichten, wurden nun vielfältige Handelserleichterungen in die Tat umgesetzt. Da auch die fiskalische Prämisse weiterhin nichts von ihrem Gewicht eingebüßt hatte, wurden den Juden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wesentlich sicherere Existenzbedingungen gewährt. Ausweisungsvorhaben wurden nun nicht mehr projektiert.

II. Wie bereits in der Einleitung knapp umrissen wurde, fügen sich die Phasen der oettingischen Judenpolitik nahtlos in die Ergebnisse der historischen Forschung ein. Ohne sicherlich erforderliche regionale und lokale Differenzierungen vernachlässigen zu wollen, lässt sich ein vergleichbarer Befund in einer Vielzahl anderer Territorien ausmachen. Die maßgeblichen Maximen der Judenpolitik wurden von der Obrigkeit definiert. Die rechtlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Juden waren fremdbestimmt.12

12

Vgl. die in Anm. 3 angeführte Literatur.

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Ein erstes Fragezeichen hinter diese vermeintliche Grundvoraussetzung jüdischer Existenz in der Periode zwischen dem Dreißigjährigem Krieg und dem Ende des Alten Reiches setzt das Eingangsbeispiel von 1728, das im folgenden etwas ausführlicher geschildert werden soll. Die der Omnipotenz eines „absolutistischen“ Landesherrn würdigen rigorosen Maßnahmen (Schutzaufkündigung, Sperrung der Synagoge, Verhaftung der Parnassim) waren nämlich eine Reaktion auf die „purr auffzüglichkeiten und gebrauchten Chiccanen“,13 mit denen die jüdischen Gemeindevorsteher die Regierung im Laufe des Schutzlosungsverfahrens von 1728 provoziert hatten. Im Rahmen der Neuausstellung des Schutzbriefes kam es der Herrschaft in erster Linie auf eine Abgabenoptimierung an: Zahlungssäumige Juden sollten aus dem Land gewiesen, das Konsensgeld (finanzielle Gegenleistung der Juden für die Schutzerneuerung) auf extrem hohe 1500 fl.14 festgesetzt und eine bislang nicht praktizierte Besteuerung von in auswärtige Territorien transferierten Heiratsgütern (Nachsteuer) eingeführt werden.15 Zur Bekanntgabe des obrigkeitlichen Ansinnens wurden die Vorsteher der jüdischen Gemeinde Oettingen am 29. Oktober 1728 zur Regierungskanzlei vorgeladen und von ihnen ihre „endtliche erclärung auf die ra[ti]o[n]e des künfftigen Schuzes ihnen gesezte Conditiones verlanget.“ Die Parnassim erläuterten jedoch ihr Unvermögen, auf diese Bedingungen eingehen zu können. Daraufhin versuchte die Regierung, die Juden unter Druck zu setzen: Den Vorstehern wurde eine viertelstündige Bedenkzeit unter der Voraussetzung eingeräumt, dass „es bey denen gesezten conditionen absolute bewendten müeste.“ Trotz dieses Ultimatums beharrten die Juden auf der Unmöglichkeit, die an sie herangetragenen finanziellen Forderungen erfüllen zu können.16 Daraufhin wurde dieser Termin ergebnislos abgebrochen. Einige Tage später, am 4. November 1728, verschärften die herrschaftlichen Verfahrensbeteiligten die Tonlage: Falls die Juden nicht bereit seien, die fiskalischen Bedürfnisse der Schutzherrschaft zu befriedigen, werde die Synagoge gesperrt.17 Jedoch fruchtete auch diese Drohung nicht, denn am 8. November 1728 lag immer noch keine Einverständniserklärung der Judenschaft vor. Immerhin war die Herrschaft nun zu einem Kompromiss bereit: Während an der Konsensgeldforderung von 1500 fl. nicht gerüttelt wurde, wollte Graf Franz Albrecht von Oettingen-Spielberg sich bei der Nachsteuer auf Heiratsgüter „leidentl[ich] […] abspeissen lassen“, denn diese Abgabe sollte gestaffelt nach 13

FÖSAH, RegReg K 62, Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 12. 11. 1728. 14 Zum Vergleich: Im oettingen-spielbergischen Judenschutzbrief von 1714 (FÖSAH, RegReg K 62) wurde ein Konsensgeld von 1060 fl. festgesetzt. 15 FÖSAH, RegReg K 62, Dekret des Grafen vom 2. 8. 1728; Gutachten zu Judenschutzbrief (undatiert; ca. August/September 1728); Protokolle der Regierung Oettingen-Spielberg vom 4. 11. 1728, 8. 11. 1728 und 12. 11. 1728. 16 FÖSAH, RegReg K 62, Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 29. 10. 1728. 17 FÖSAH, RegReg K 62, Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 4. 11. 1728.

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dem Vermögen der Juden eingezogen werden. Dies sei jedoch das letzte Wort in dieser Sache: Dagegen solle von „niemanden die geringste Widerred gemachet werden, wo ansonsten derselbe des schuzes ipso facto verlurstiget und nimmermehr fähig sein solle, darin widerumb recipieret zu werden.“18 Diese Mischung aus angedrohten Zwangsmaßnahmen und Entgegenkommen zeigte nicht den gewünschten Erfolg: Vier Tage später erschienen sämtliche spielbergischen Juden in der Kanzlei und erklärten, dass sie trotz des Angebots des Grafen mit der Besteuerung der Heiratsgüter nicht einverstanden seien. Diese erneute Weigerung wertete die Regierung als die zitierten „purr auffzüglichkeiten“ und „gebrauchten Chiccanen“. Nach Rücksprache mit dem Landesherrn erfolgten nun die bereits bekannten rigorosen Anordnungen.19 Wendet man den Blick von den bloßen Ergebnissen dieser Schutzerneuerung ab und rückt das Verfahren selbst in den Mittelpunkt, ergeben sich interessante Einblicke. Das gesamte Schutzlosungsverfahren war auf Kommunikation angelegt. Trotz der rigiden Vorgehensweise der Obrigkeit oktroyierte die Herrschaft nicht ihre Normvorstellungen, denn dazu hätte eine Publikation der einseitig beschlossenen Dekrete über das Konsensgeld und die Nachsteuerpflicht ausgereicht. Stattdessen versuchte die Obrigkeit, die Juden zur Zustimmung zu bewegen. Zu diesem Zweck wurden zwar Drohungen und Zwangsmittel eingesetzt, aber ebenso ein Kompromissangebot, das den Bedenken der jüdischen Zahlungspflichtigen zumindest zum Teil entgegenkam. Die Intention der federführenden Regierungsräte bestand also in einem Konsens der Juden zu den anvisierten Maßnahmen. Erst die hartnäckige und offenbar unerwartete Widersetzlichkeit der Parnassim setzte die unerbittliche obrigkeitliche Zwangsmaschinerie in Gang, der sich die Juden schließlich beugen mussten. Von dieser Entwicklung waren offensichtlich auch die Juden überrascht. Ihr gesamtes Verhalten – in erster Linie das wiederholte Nichteingehen auf die finanziellen Forderungen der Schutzherrschaft – verweist in aller Deutlichkeit darauf, dass die jüdischen Gemeindevorsteher auf Verhandlungen und Kompromisse zur Abgleichung der divergierenden Vorstellungen setzten. Sie gingen offenbar von der Möglichkeit eines weiteren Nachgebens der Regierung und des Grafen aus und rechneten nicht mit dem tatsächlichen Einsatz der Zwangsmittel des frühmodernen Staates. Sie hatten die Entschlossenheit der Obrigkeit und die inzwischen dominierenden antijüdischen Momente der Judenpolitik falsch eingeschätzt. Statt der erwarteten Kommunikation erfolgte eine von oben dekretierte Oktroyierung. Trotz dieses gescheiterten Verhandlungsversuchs sind die sich dabei herauskristallisierenden Verfahrensgrundsätze bemerkenswert: Beide Seiten – sowohl Obrigkeit als auch Oettinger Judengemeinde – gingen vom Axiom ei18 19

FÖSAH, RegReg K 62, Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 8. 11. 1728. FÖSAH, RegReg K 62, Protokoll der Regierung Oettingen-Spielberg vom 12. 11. 1728.

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ner kommunikativen Problemlösung aus. Diese misslang zwar im vorliegenden Fall, dennoch lassen sich Spuren eines Aushandelns normativer Vorgaben auch 1728 deutlich erkennen. Das Angebot des Grafen auf eine Vermögensstaffelung bei der Besteuerung von Heiratsgütern wurde nicht etwa angesichts der erfolgreichen Omnipotenz der Landeshoheit zurückgenommen, sondern in den Judenschutzbrief von 1728 einverleibt.20 Der jüdische Widerstand und das Beharren auf Kommunikation hatten zumindest in diesem Punkt deutlich feststellbare Auswirkungen. Noch deutlicher wird die auf Kommunikation angelegte Herrschaftspraxis, wenn man die Intention der Schutzherrschaft betrachtet, vermögenslosen und zahlungssäumigen Juden die Erneuerung des Schutzes zu verweigern – eine der Hauptprämissen des Verfahrens von 1728.21 Entsprechend dieser Maximen wurde der Schutz nur für 23 Oettinger Judenfamilien verlängert, während neun Schutzjuden „hinweggeschafft“ werden sollten.22 Die gegen dieses Vorgehen gerichteten Supplikationen der Juden hatten schließlich Erfolg: Wegen des „beständigen anlauffen[s] und [der] villen so schrüfft- als mündtlichen beschechenen lamentablen Vorstellungen und Suppliciren“ beschloss der Graf am 28. April 1729, die Schutzaufkündigung wieder zurückzunehmen. Voraussetzung für diese „Gnade“ war die sofortige Begleichung der Abgabenrückstände sowie eine zusätzliche Zahlung von einmalig 20 fl.23 Zwar bricht die Überlieferung zu diesem Schutzlosungsverfahren kurz danach ab, aber mit guten Gründen kann man annehmen, dass die anvisierte Teilausweisung nicht in die Tat umgesetzt wurde. Zumindest ergibt sich bei der Analyse der jüdischen Bevölkerungsentwicklung in der Residenzstadt Oettingen für dieses Jahr kein erheblicher Rückgang.24 Auch die lange Verfahrensdauer – die Schutzaufkündigung erfolgte am 24. November 1728; die ausgewiesenen Juden befanden sich im Juni 1729 noch immer im Land25 – deutet darauf hin, dass die jüdischen Bittgesuche in dieser Sache ein rigoroses Durchgreifen der Herrschaft verhinderten. Das beispielgebende Schutzbriefverfahren von 1728 stellt ein Muster dar, das typische und untypische Elemente enthält. Das rigide Vorgehen der Obrigkeit unter Einsatz der zur Verfügung stehenden herrschaftlichen Zwangs-

20

FÖSAH, RegReg K 62, JSB (Judenschutzbrief) 1728 Oettingen-Spielberg (Grafschaft) Art. 11. 21 FÖSAH, RegReg K 62, Dekret des Grafen vom 2. 8. 1728; Schreiben der Regierung Oettingen-Spielberg an die Regierung Oettingen-Oettingen vom 16. 11. 1728; Dekrete an das Oberamt Oettingen vom 24. 11. 1728 und 8. 4. 1729. 22 FÖSAH, RegReg K 62, Dekret an das Oberamt Oettingen vom 24. 11. 1728; Spezifikation der Juden in Oettingen und Hainsfarth, deren Schutz verlängert werden soll (undatiert; vermutlich 28. 11. 1728). 23 FÖSAH, RegReg K 62, Dekret an das Oberamt Oettingen vom 28. 4. 1729 und 5. 5. 1729. 24 Mordstein 2005 (wie Anm. 1), S. 179–180. 25 FÖSAH, RegReg K 62, Dekret an das Oberamt Oettingen vom 4. 6. 1729.

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mittel wiederholte sich bei keiner anderen Schutzerneuerung. Die Ereignisse von 1728 sind diesbezüglich nicht repräsentativ. Durchaus vergleichbar mit anderen Schutzlosungen ist jedoch die Vorgehensweise der federführenden Regierungsräte: Während des gesamten Untersuchungszeitraums wurden jüdische Supplikationen als integraler Verfahrensbestandteil behandelt. Es lässt sich kein einziger Fall benennen, in dem das Bittgesuch einer jüdischen Gemeinde mit dem Hinweis auf die „potestas legislatoria“ der Landesherrschaft abgewiesen wurde. Jüdische Interessenartikulationen wurden nicht als unstatthafter Eingriff in die Normsetzungsgewalt der Obrigkeit gewertet, sondern als legitimer Versuch, im Rahmen von kommunikativen Aushandlungsprozessen die eigenen Belange geltend zu machen. Jüdische Supplikationen wurden in allen Fällen in den weiteren Verfahrensfortgang eingebunden und lösten in der Regel langwierige intern-obrigkeitliche Diskussionen aus, in denen die Anträge der Judenschaft nicht von vornherein als obsolet und unmaßgeblich behandelt, sondern einer ernsthaften Prüfung unterzogen wurden. Falls – was jedoch nur sehr selten vorkam – jüdische Bittgesuche in einem Verfahren nicht eingereicht wurden, holten die federführenden Beamten die Stellungnahme der jüdischen Gemeindevorsteher von Amts wegen ein: Diese wurden zum Zweck der Anhörung vorgeladen und über ihr Anliegen ein Protokoll verfasst.26 Die Juden partizipierten mit großer Intensität an den zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten. Die von ihnen verfolgten Handlungsstrategien sollen im Folgenden anhand zweier Beispiele illustriert werden. 1655 plante die aufgrund dynastieinterner Streitigkeiten in der Teilgrafschaft Oettingen-Wallerstein eingesetzte kaiserliche Sequestrationsregierung die Einführung einer Protokollierungspflicht auf alle von Juden abgeschlossenen Darlehensverträge und verzinsliche Ratenkäufe. Auf diese Weise sollten die geschäftsunerfahrenen christlichen Einwohner vor dem vermeintlichen jüdischen Wucher und Betrug geschützt werden.27 Die oettingen-wallersteinische Judenschaft leistete gegen diese Neuerung heftigen Widerstand. Als die jüdischen Einwohner des Residenzorts Wallerstein am 5./6. Dezember 1655 zur Annahme des neuen Schutzbriefs aufgefordert wurden, erhielt der Oberamtmann unisono die gleiche Antwort: Moisele erklärte, er „khönne disen wegen gewisser puncten nicht eingehen“, wobei er in erster Linie auf die nach seiner Ansicht inakzeptable Protokollierungspflicht anspielte. Noch deutlicher wurde Henle, der seine Zustimmung zum Schutzbriefentwurf mit der Begründung versagte, dass „Er dergleichen zum

26

Vgl. hierzu ausführlich Mordstein 2005 (wie Anm. 1), S. 153–176. Fürstlich Oettingen-Wallersteinisches Archiv Harburg (FÖWAH), III.18.5a–1, JSB 1655 ÖW(Oettingen-Wallerstein (Grafschaft)) Art. 7. Der Vorgängerbrief von 1652 (FÖWAH, III.18.5a–1) kannte dagegen keine amtliche Protokollierung von jüdischen Handelsgeschäften. 27

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prothocollieren nicht vermögen khann“, da er ansonsten seine Familie nicht ernähren könne.28 Die Juden beschränkten sich jedoch nicht auf eine direkte Kommunikation mit ihrer Landesherrschaft. In einer Reihe von Suppliken ersuchten sie Herzog Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg, Graf Ernst II. von Oettingen-Wallerstein, Gräfin Isabella Eleonore von Oettingen-Baldern und Graf Johann Franz von Oettingen-Spielberg um Interzession zu ihren Gunsten.29 Sie wandten sich damit genau an diejenigen einflussreichen Herrschaftsinhaber, von denen am ehesten eine effektive Hilfe zu erwarten war. Der Pfalz-Neuburger Herzog fungierte als Prinzipalkommissar der kaiserlichen Interimsregierung, ihm waren die Sequestrationsräte vor Ort in Wallerstein unterstellt, so dass ein Machtwort von ihm zugunsten der Juden entscheidungsrelevant gewesen wäre. Die drei Oettinger Grafen waren Konfliktparteien in den dynastieinternen Auseinandersetzungen. Sie intervenierten im vorliegenden Fall zugunsten der Juden, um ihre umstrittenen Herrschaftsansprüche über die Judenschaft gegenüber den Konkurrenten zu demonstrieren. Die Intervention des Markgrafen Wilhelm von Baden-Hochberg30 sowie ein – wenn auch nur über Indizien greifbares – Bittgesuch an den Kaiser31 verweisen zudem darauf, dass die oettingen-wallersteinische Judenschaft bei der Aktivierung eines potenten Unterstützerkreises regionale und überregionale Verbindungen ausnutzte und auch den Gang zum Kaiserhof nach Wien nicht scheute. Letztlich hatte das von Selbstbewusstsein und Kenntnis der lokalen Machtstrukturen geprägte Vorgehen der Juden Erfolg: Herzog Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg wies die ihm nachgeordnete Sequestrationsregierung in Wallerstein an, die Juden in der Teilgrafschaft Oettingen-Wallerstein „bey ihrem vorigen schutzbrief [zu] manuteniren und darwider nit [zu] beschwehren“.32 Die im Konzept-Schutzbrief anvisierte Protokollierung von jüdischen Darlehensverträgen erlangte somit keine Rechtskraft, es verblieb bei der Möglichkeit, derartige Kontrakte ohne obrigkeitliche Kontrolle abzuschließen. 28

FÖWAH, III.18.5b–1, Consignation der Judengemeinde Wallerstein vom 5./6. 12. 1655. FÖWAH III.18.5a–1, Schreiben der Judenschaft an Herzog Philipp Wilhelm von PfalzNeuburg vom 10. 12. 1655 und 27. 1. 1656; FÖWAH, III.18.5a–2. Schreiben der Judenschaft an Graf Ernst II. von Oettingen-Wallerstein vom 10. 12. 1655; FÖWAH, III.18.5b–1, Schreiben der Gräfin Isabella Eleonore von Oettingen-Baldern an die Sequestrationsregierung vom 30. 12. 1655; Schreiben des Grafen Johann Franz von Oettingen-Spielberg an die Sequestrationsregierung vom 3. 1. 1656; Schreiben der Judenschaft an Gräfin Isabella Eleonore von Oettingen-Baldern (undatiert, ca. 1655/56). 30 FÖWAH, III.18.5b–1, Schreiben der Judenschaft an Gräfin Isabella Eleonore von Oettingen-Baldern (undatiert, ca. 1655/56). 31 Vgl. FÖWAH, III.18.5b–1, Protokoll des Oberamts Wallerstein vom 5./6. 12. 1655, in dem das Gesuch eines Wallersteiner Juden um eine „Kay[serliche] Resolution“ erwähnt wird. 32 FÖWAH, III.18.5a–1, Schreiben des Herzogs Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg an die Sequestrationsregierung vom 11. 12. 1655. 29

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Der nächste Beispielsfall datiert aus den Jahren 1739/40.33 Er betrifft die Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen, die bis 1731 der Schutzherrschaft der Fürsten von Oettingen-Oettingen unterstanden. Nach deren Aussterben entbrannte zwischen den beiden Prätendenten Oettingen-Wallerstein und Oettingen-Spielberg ein erbitterter Erbschaftskonflikt, der erst 1740/41 auf dem Kompromissweg bereinigt werden konnte. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand u. a. die ehemalige oettingen-oettingische Judenschaft, für die der das Haupterbe beanspruchende Graf Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein am 8. September 1740 einen Schutzbrief erließ, der ohne gravierende Änderungen die Bestimmungen seines Vorgängers von 1733 im wesentlichen wiederholte.34 Hinter diesem scheinbar einfachen und unspektakulären Konfirmationsvorgang verbirgt sich jedoch ein komplexes und langwieriges Ausstellungsverfahren, dessen wichtigste Stationen im Folgenden geschildert werden sollen. Mit dem Konzept-Schutzbrief vom 22. März 1740 wurden erste Weichenstellungen getroffen, die entsprechend der von antijüdischen Stereotypen geprägten Judenpolitik dieser zweiten Phase aus einer Vielzahl von Rechtsminderungen bestanden: Die Anzahl der Schutzjuden sollte von 176 auf 100 herabgesetzt werden, den „überzähligen“ Familien drohte die „Ausschaffung“, das Schutzgeld wurde drastisch erhöht, der Harburger Judengemeinde wurde die weitere Partizipation an den Holznutzungsrechten im Gemeindewald verwehrt.35 Maßgeblich für diese restriktiven Maßnahmen war zum einen die individuell judenfeindliche Einstellung des Landesherrn Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein, der nach eigener Aussage nicht länger dulden wollte, „unsere lande von einer so großen anzahl unsere ehrlichen u[nd] lieben bürger u[nd] unterthanen biß auff das bluth durch allerhand Räncke und betrügereyen außsaugenden meist bettel: undt schnur-Juden beschwert zu sehen“. Fiskalisches Nutzdenken wies er weit von sich. Er wolle nicht „mit denen seüffzern unserer unterthanen unsere einkünffte […] vergrößern“.36 Zum anderen folgte der Konzept-Schutzbrief in weiten Teilen der Argumentation antijüdischer Supplikationen, die von christlichen Interessengruppen unter Ausnutzung der gesamten Bandbreite religiös und ökonomisch motivierter judenfeindlicher Einstellungen eingereicht worden

33

Vgl. hierzu ausführlich Johannes Mordstein: Ein Jahr Streit um drei Klafter Holz. Der Konflikt zwischen Bürgerschaft und Judengemeinde im schwäbischen Harburg um die Teilhabe der Juden an den Gemeinderechten 1739/40, in: Holenstein/Ullmann 2004 (wie Anm. 6), S. 301–324; Ders. 2005 (wie Anm. 1), S. 278–297. 34 FÖWAH, III.18.6a–1, JSB 1733 ÖÖ (Oettingen-Oettingen (Grafschaft)); FÖWAH, III.18.5a–1, JSB 1740 ÖÖ. 35 FÖWAH, III.18.6a–1, Konzept-JSB für die ehemalige oettingen-oettingische Judenschaft vom 22. 3. 1740; zum Konflikt um den Harburger Gemeindewald vgl. Mordstein 2004 (wie Anm. 33). 36 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben des Grafen Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 23. 3. 1740.

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waren37 – oftmals glichen sich sogar Formulierung von Supplik und Schutzbriefentwurf. Der folgende Verfahrensabschnitt wurde durch eine Vielzahl jüdischer Bittgesuche geprägt,38 in denen die oettingischen Judengemeinden erklärten, „daß Wir die in publicirten Schutzbrief [vom 22. März 1740] enthaltene conditiones ohne unseren besorgenden völligen ruin ohnmögl[ich] beobachten und darnach leben können“.39 Das Ziel bestand darin, „den Schutzbrief nach denen vorigen einrichten“ zu lassen,40 d. h. die Juden gingen in breiter Front gegen sämtliche von Graf und Regierung anvisierten Rechtsminderungen vor. Diese regelrechte „Supplikationsoffensive“ konnte auch durch die markigen Worte des Grafen Johann Friedrich nicht unterbunden werden, der bereits im Vorfeld angekündigt hatte, im Falle des Widerstands gegen die neue Rechtsgrundlage nicht gewillt zu sein, mit den Juden „überhaubt unß lang auffzuhalten oder eine besondere Capitulation anzugehen, sondern einem jeden nach verfließung 4. Wochen cet[e]ris paribus das emigrations-recht mit vergnügen angedeyen zu lassen“.41 Diese demonstrativ manifestierte „absolutistische“ Herrschaftsauffassung stand jedoch im krassen Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten des Landesherrn und seiner nachgeordneten Regierungsräte. Die jüdischen Supplikationen wurden in den weiteren Verfahrensfortgang eingebunden, veranlassten neuerliche Gutachten und Überlegungen – und führten schließlich sogar durch das „erläuterungs undt modifications-Rescript“ des Grafen vom 18. Juni 1740 zu einer Teilrücknahme der geplanten Restriktionen, nämlich die Herabsetzung des erhöhten Schutzgelds auf den alten Stand und die Wiederzulassung der Harburger Juden zum kommunalen Holznutzungsrecht.42 37 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben des Rats und der Bürgerschaft Harburg an den Grafen vom 24. 9. 1739; Schreiben des Superintendenten Haas an den Grafen vom 25. 9. 1739; Schreiben der Dorfgemeinde Mönchsdeggingen an den Grafen vom 29. 9. 1739; Übersendung dieses Gesuchs an die Regierung Oettingen-Oettingen am 14. 10. 1739; Schreiben des Oberamts Harburg an den Grafen vom 14. 10. 1739. Vgl. hierzu auch Jakob 1988 (wie Anm. 6). 38 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 11. 4. 1740; Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 27. 4. 1740; Schreiben der Judengemeinde Harburg an den Grafen vom 28. 4. 1740; Schreiben der hausbesitzenden Juden von Harburg an den Grafen vom 13. 6. 1740. 39 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 11. 4. 1740. 40 Ebd. 41 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben des Grafen Johann Friedrich von Oettingen-Wallerstein an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 23. 3. 1740. 42 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 16. 4. 1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an die Judenschaft vom 16. 4. 1740; Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 23. 4. 1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 30. 4. 1740; Notamina der Regierung Oettingen-Oettingen vom 30. 4. 1740; Schreiben der

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Dieser Teilerfolg bedeutete jedoch noch nicht das Ende der Schutzlosung von 1739/40. Vielmehr schloss sich eine zweite Runde an, die deutliche Parallelen zur ersten aufwies: Wieder gebärdete sich der Landesherr „absolutistisch“, denn er wolle sich „auff keine andere conditionen, alß welche in […] diesen erläuterungs undt modifications-Rescript enthalten sindt […] einlassen“.43 Erneut zeigten sich die Juden davon unbeeindruckt und beharrten auf ihrem bisherigen Standpunkt.44 Von den jüdischen Supplikationen dieser Phase ist insbesondere das separate Bittgesuch des vermögenden Oettinger Juden Jacob Meyerle45 hervorzuheben, in dem dieser nicht nur seine eigenen Interessen vertrat, sondern als eine Art „Fürsprecher“ für die gesamte Judenschaft fungierte. Meyerle wies zunächst auf seine für die gesamte Grafschaft bedeutende ökonomische Potenz hin: Durch seine intensive Handelstätigkeit habe er der Herrschaft durch Zoll und Abgaben „nicht ein geringes eingetragen“. Zudem habe er den Untertanen stets „alles Liebes und Gutes erwiesen“ und 200 bis 300 Personen „ehrl[ich] ausgeholffen“. Durch den restriktiven Konzept-Schutzbrief vom 22. März 1740 sehe er sich jedoch veranlasst, seine Kinder außerhalb des Landes in auswärtige Territorien zu verheiraten, was unweigerlich zu einer erheblichen Vermögensabwanderung aus der Grafschaft Oettingen-Wallerstein führen werde.46 Zwischen den Zeilen enthält dieses Bittgesuch die Androhung einer Emigration zum Schaden der derzeitigen Schutzherrschaft. Im vorliegenden Fall ist „Emigration“ jedoch nicht unbedingt als faktischer Vorgang einer geographischen Mobilität zu verstehen, sondern hätte unter Beibehaltung des bisherigen Wohnorts Oettingen durch eine Schutzaufnahme beim Herrschaftskonkurrenten Oettingen-Spielberg bewerkstelligt werden können. Ein vermögenRegierung Oettingen-Oettingen an das Oberamt Harburg vom 13. 6. 1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an das Oberamt Harburg vom 16. 6. 1740; Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 18. 6. 1740; Protokoll des Oberamts Harburg vom 20. 6. 1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an das Oberamt Harburg vom 27. 6. 1740; Protokoll der Regierung Oettingen-Oettingen vom 30. 6. 1740; Protokoll der Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 12. 7. 1740; Schreiben von Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 15. 7. 1740. 43 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 18. 6. 1740. 44 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth, Harburg und Mönchsdeggingen an den Grafen vom 7. 7. 1740; Schreiben des Oettinger Schutzjuden Jacob Meyerle an den Grafen vom 7. 7. 1740; Protokoll der Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 12. 7. 1740. 45 Bei Jacob Meyerle handelte es sich um den mit Abstand reichsten Juden unter oettingischer Schutzherrschaft. Sein Vermögen betrug allein 25 400 fl. Damit verfügte er über ca. ein Drittel des Gesamtvermögens aller 47 „evangelischen“ Juden in Oettingen. Vgl. FÖWAH, III.18.6a–1, Spezifikation über Anzahl, Hausbesitz und Vermögen der Juden in Oettingen und Hainsfarth vom 9. 10. 1739. 46 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben des Oettinger Schutzjuden Jacob Meyerle an den Grafen vom 7. 7. 1740.

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der Jude wie Jacob Meyerle wäre Spielberg aus fiskalischen Motiven sicherlich willkommen gewesen. Dies gilt umso mehr, da angesichts des Höhepunkts der Auseinandersetzungen zwischen Wallerstein und Spielberg um die oettingenoettingische Erbschaft in den Jahren 1739/40 der Herrschaftswechsel des angesehensten Mitglieds der jüdischen Gemeinde eine einmalige Gelegenheit für Spielberg gewesen wäre, das Judenregal über die „streitbefangenen“ Judengemeinden auszuüben und sich als tatsächlicher Herrschaftsinhaber zu gerieren.47 Meyerles Andeutungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie trafen gezielt einen wunden Punkt der labilen Herrschaftskonstellation des Rieses und beweisen, wie gut die Juden über die politische Situation der territorial kleingekammerten Struktur des nördlichen Schwabens unterrichtet waren. Als Reaktion auf Meyerles Supplik führten Regierung und Rentkammer am 15. Juli 1740 ihrem Landesherrn die negativen fiskalischen und politischen Folgen einer Abwanderung der vermögenden Juden vor Augen.48 Noch bevor Graf Johann Friedrich, der sich zur fraglichen Zeit am Kaiserhof in Wien aufhielt, über die Stellungnahme seiner Zentralbehörden entscheiden konnte, war das Schutzbriefverfahren in eine neue Phase eingetreten. Die oettingen-oettingische Judenschaft begnügte sich nämlich nicht damit, schriftliche Bittgesuche an den Landesherrn zu verfassen, sondern fuhr zweigleisig. Gleichzeitig wurden Wiener Glaubensgenossen beauftragt, mit dem Grafen direkt über die oettingische Schutzbriefangelegenheit zu verhandeln. Am 21. Juli 1740 schloss der oettingische Kanzler Sahler mit dem privilegierten Wiener Juden Herz Löw Manasses49 „nahmens berührter Oettingischer Judenschafft eine endliche abrede undt Vergleichung“ ab. In dieser Vereinbarung gelang es den Juden, eine ihrer wichtigsten Forderungen zu erfüllen: Die Landesherrschaft verzichtete auf die anvisierte Reduzierung der Anzahl 47

Dies war auch der Grund, warum Oettingen-Spielberg versuchte, die ehemaligen oettingen-oettingischen Juden davon abzubringen, bei Oettingen-Wallerstein den Schutz zu lösen. Vgl. FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben der Regierung Oettingen-Spielberg an die ehemalige oettingen-oettingische Judenschaft vom 5. 7. 1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Spielberg an den Oettinger Schutzjuden Jacob Meyerle vom 7. 7. 1740. 48 FÖWAH, III.18.6a–1, Protokoll der Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 12. 7. 1740; Schreiben von Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 15. 7. 1740. 49 Herz Löw Manasses war als privilegierter Jude Mitglied der Wiener Judengemeinde und verschwägert mit der Hofjudenfamilie Oppenheimer. Vgl. A. F. Pribram: Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien. 1. Abteilung, allgemeiner Teil: 1526–1847 (1849), Wien/Leipzig 1918 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 8/1-2), Bd. I, S. 300–301, 331, 339–340; Bd. II, S. 585. Über seine Beziehungen zur Grafschaft Oettingen können bislang keine Aussagen getroffen werden. Er scheint jedoch in den 1750er Jahren in Kreditbeziehungen zur oettingen-wallersteinischen Herrschaft Seifriedsberg in Mittelschwaben gestanden zu haben. Vgl. Martina Haggenmüller/Peter Steuer (Bearb.): Vorderösterreichische Regierung und Kammer 1753–1805. Oberämter Günzburg und Rothenfels, München 2004 (Bayerische Archivinventare 52), Nr. 305.

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der Schutzjuden, die bisherige Familienzahl wurde unverändert beibehalten.50 Nachdem sich Graf Johann Friedrich von den am 15. Juli 1740 geäußerten Bedenken seiner Regierungs- und Kammerräte hatte überzeugen lassen, schien sich die konfliktträchtige Schutzlosungsangelegenheit in Wohlgefallen aufzulösen. Der Graf ordnete an, den neuen Schutzbrief entsprechend diesem Gutachten und dem Vergleichsinhalt auszuformulieren.51 Wider Erwarten wurde der jüdische Widerstand durch dieses Entgegenkommen nicht beendet. Als die landesherrlichen Entschließungen in Oettingen bekannt gegeben wurden, verweigerten die Sprecher der jüdischen Gemeinden weiterhin ihre Zustimmung. Der von Manasses getroffene Vergleich gehe weit über dessen Vollmachten hinaus und könne daher nicht akzeptiert werden. Die oettingischen Juden bestanden auf der unveränderten Konfirmation des bisherigen Schutzbriefs, die Kompromissvorschläge reichten ihnen nicht aus. Immerhin boten sie an, bei Erfüllung ihrer Forderungen eine einmalige Sonderzahlung von 400 fl. zu entrichten.52 Graf und Regierung gaben schließlich endgültig nach: Der am 8. September 1740 erlassene Schutzbrief gleicht seinem Vorgänger bis auf wenige Ausnahmen. Zwar konnte die Obrigkeit die Erhöhung des von den Juden angebotenen „freywillige[n] geschenkh[s]“ auf 500 fl. erreichen, dies war jedoch angesichts der herrschaftlichen Zugeständnisse nur eine Marginalie.53 Gerade der Beispielsfall von 1739/40 belegt auf eindringliche Weise das selbstbewusste Agieren der oettingischen Judengemeinden, das im folgenden durch eine zusammenfassende Analyse der jüdischen Handlungsstrategien verallgemeinert werden soll.54 Die Juden waren zunächst bestrebt, einen internen Konsens über ihr Vorgehen unter Abgleichung divergierender Interessen zu erzielen. Innerjüdische Konflikte, innergemeindliche Brüche und Probleme im Verhältnis der Gemeinden untereinander tauchen daher in den Schutzlosungsakten so gut wie nie auf.55 Auch die jüdische Elite trug die gemeinschaftlichen Initiativen mit. Vornehme und vermögende Gemeindemitglieder, die häufig als Parnassim eine gesellschaftlich hervorgehobene Position 50

FÖWAH, III.18.6a–1, Vereinbarung zwischen Kanzler Sahler und Herz Löw Manasses vom 21. 7. 1740; Approbation des Grafen vom 26. 7. 1740. 51 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben des Grafen an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Oettingen vom 26. 7. 1740. 52 FÖWAH, III.18.6a–1, Protokoll der Regierung Oettingen-Oettingen vom 8. 8. 1740; Schreiben der Regierung Oettingen-Oettingen an den Grafen vom 9. 8. 1740. 53 FÖWAH, III.18.5a–1, JSB 1740 ÖÖ. 54 Vgl. zum folgenden ausführlich Mordstein 2005 (wie Anm. 1), S. 153–177. 55 Während des gesamten über 150jährigen Untersuchungszeitraums wurden innerjüdische Konflikte nur ein einziges Mal im Rahmen von Schutzlosungsverfahren an die Obrigkeit getragen. 1794 sprach sich die „Oberschicht“ der Judengemeinde Harburg gegen einen pauschalen Schutzgeldansatz ohne Berücksichtigung des Vermögens aus, während ihre weniger vermögenden Glaubensgenossen dies befürworteten. Vgl. FÖWAH, III.18.18a–2, Protokoll des Oberamts Harburg vom 26. 3. 1794.

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innehatten, fungierten zwar oft als Wortführer, handelten jedoch stets im Einvernehmen mit der Gesamtgemeinde (vgl. das Bittgesuch Jacob Meyerles 1740). Die „selbstbewusste Untertänigkeit“ der Juden war keine Angelegenheit einiger weniger Glaubensgenossen der Elite, sondern basierte auf einer von allen Familien unterstützten genossenschaftlichen Aktion.56 Die auf diese Weise zustande gekommene gemeinsame Haltung aller betroffenen Judengemeinden wurde schließlich in einer Supplik an den Landesherrn ausformuliert. In der Regel wurde dabei ein juristisch geschulter Advokat beauftragt, der die jüdischen Argumente in die verfahrensrechtlich korrekte Form brachte. Inhaltlich betrafen die Bittgesuche alle in den Judenschutzbriefen normierten Regelungsbereiche. Die grundlegende Bitte um Schutzverlängerung war ebenso ein Thema wie die Herabsetzung der Abgabenbelastung, die Vorschriften zum jüdischen Erwerbsleben (z. B. Protokollierung von Handelsverträgen, Verkauf von geschächtetem Fleisch), die Partizipation an den Gemeindegerechtigkeiten und die Verordnungen zur guten Policey sowie zu innerjüdischen Autonomierechten. Die Juden reagierten nicht nur auf obrigkeitliche Anordnungen und Dekrete, sondern ergriffen in einigen Fällen selbst die Initiative. So schlugen sie etwa 1755 vor, im aufgelassenen Kloster Zimmern die Ansiedlung von Juden zu erlauben, um auf diese Weise eine Art frühneuzeitliches „Gewerbegebiet“ einzurichten, das der Wirtschaftskraft der gesamten Grafschaft nützlich gewesen wäre.57 Dreißig Jahre später übergaben die oettingen-wallersteinischen Judengemeinden eine Supplik, in der sie detailliert das von ihnen entworfene „Project“ über eine „ewige Schutzloßung“ erläuterten: Ohne Nachteil für den Fiskus sollte der landesherrliche Schutz fortan unbefristet gewährt werden, wobei das bisherige bei jeder Schutzbriefausstellung fällige Konsensgeld durch regelmäßige Zahlungen abgegolten werden sollte.58 Die Argumentation der jüdischen Supplikationen verweist darauf, dass die Juden mit den herrschaftspolitischen Gegebenheiten ihres Heimatterritoriums bestens vertraut waren. Sie kannten die „wunden Punkte“ ihrer Schutzherrschaft und zielten mit ihren Beschwerden und Angeboten genau auf diese Schwachstellen. Wie ein Großteil der frühneuzeitlichen Herrscher waren auch die Grafen und Fürsten von Oettingen meist hoch verschuldet – jüdischen Offerten für finanzielle Sonderleistungen konnten sie daher nur selten widerstehen. Trotz der von christlicher Seite allgemein geteilten antijüdischen 56

Zu den Suppliken der jüdischen Elite in Verfahren vor dem Reichshofrat vgl. Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten“. Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hödl/Rauscher/Staudinger 2004 (wie Anm. 8), S. 143–183. 57 FÖWAH, III.18.6a–1, Schreiben des Grafen Philipp Karl von Oettingen-Wallerstein an die Regierung und Rentkammer Oettingen-Wallerstein vom 16. 8. 1755; Gutachten der Regierung und Rentkammer Oettingen-Wallerstein vom 21. 8. 1755. 58 FÖWAH, III.18.18a–1, Schreiben der Judengemeinden Harburg, Mönchsdeggingen, Wallerstein und Pflaumloch an den Fürsten vom 22. 1. 1787.

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Stereotype verfehlte auch der Hinweis auf die ökonomische Bedeutung des jüdischen Handels und Wandels nicht seine Wirkung, wie sich aus der bereits zitierten Aussage Jacob Meyerles ergibt, 200 bis 300 Personen „ehrl[ich] ausgeholffen“ zu haben. Insbesondere nutzten die Juden geschickt die machtpolitischen Schwächen des territorium non clausum der Grafschaft Oettingen aus. Angesichts ständiger Konflikte der regionalen Herrschaftsträger sowie komplexer Konkurrenzsituationen konnten vor allem vermögende Juden durch gezielt platzierte Emigrationsdrohungen die verschiedenen Territorialherren gegeneinander ausspielen. Dies gilt umso mehr, als eine „Auswanderung“ – wie bereits ausgeführt – de facto durch einen bloßen Herrschaftswechsel ohne tatsächliche Ortsveränderung auf denkbar einfache Weise zu bewerkstelligen war. Da dadurch in den machtpolitischen Streitigkeiten Vorteile zu erwarten waren, ließ sich eine neue Schutzherrschaft angesichts der zahlreichen Auseinandersetzungen auf obrigkeitlicher Ebene mühelos finden. Von Seiten der Herrschaft angekündigte Ausweisungen verliefen aus dem gleichen Grund oft im Sand: Angesichts der Kleinräumigkeit und Offenheit der politischen Landschaft hätten die „ausgeschafften“ Juden ohne Probleme in der unmittelbaren Nachbarschaft eine neue Bleibe gefunden. Da die betroffenen Juden ihre Handelsgeschäfte ungehindert in ihrem ehemaligen Heimatterritorium hätten fortführen können, wären die erhofften „Vorteile“ der Vertreibung somit unweigerlich ausgeblieben.59 Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die jüdischen Bittgesuche nicht selten der eigentliche Anlass waren, geplante Rechtsminderungen zurückzunehmen und Kompromisse einzugehen. Ausweisungen gesamter Gemeinden kamen im Untersuchungszeitraum nur einmal vor (1658/59 Baldern und Neresheim), „Teilausschaffungen“ einzelner (in der Regel vermögensloser und zahlungssäumiger) Gemeindemitglieder lassen sich nur zweimal belegen. Stattdessen weist die demographische Kurve der oettingischen Judenschaft stets nach oben, bereits beschlossene Ausweisungsvorhaben mussten nicht selten aufgrund des jüdischen Widerstands zurückgenommen werden (vgl. den Beispielfall von 1739/40).60 Auf der gleichen Ebene bewegt sich der fiskalische Befund:61 Trotz der ständigen Geldnot der Landesherrschaft und der nicht zu unterschätzenden

59 An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert regte die oettingen-wallersteinische Regierung ein Projekt aller regionaler Machthaber an, die Juden gemeinschaftlich aus allen Herrschaftsgebieten des Rieses und des Umlandes auszuweisen. Dieses Vorhaben blieb jedoch auf der Ebene der Vorüberlegungen stecken und konnte angesichts der konkurrierenden Interessen der einzelnen Territorien nicht verwirklicht werden. Vgl. FÖWAH, III.18.5a–2, Schreiben der Regierung Oettingen-Wallerstein an den Grafen vom 24. 7. 1692; Gutachten des Hofrats Weibel vom 16. 3. 1703; Schreiben der Regierung Oettingen-Wallerstein an den Grafen von Oettingen-Spielberg vom 26. 8. 1707; FÖWAH, III.18.5a–1, Gutachten (unbekannter Autor, vermutlich Hofrat Kirsinger) vom 20. 10. 1707 und 9. 1. 1708. 60 Vgl. hierzu ausführlich Mordstein 2005 (wie Anm. 1), S. 180–190. 61 Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 203–226, insbes. S. 366–368 (Tab. 19).

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Bedeutung der jüdischen Abgaben dominierte auch auf diesem Gebiet keine obrigkeitliche Oktroyierung, sondern ein gegenseitiges Nachgeben. Die zurückgenommene Schutzgelderhöhung 1739/40 ist hierfür ein Beispiel. Noch deutlicher wird diese Beobachtung, wenn man sich die Modalitäten der Konsensgeldfestsetzung betrachtet. Dieser fiskalisch wichtige Einnahmeposten war meist das Ergebnis langwieriger Verhandlungen zwischen Obrigkeit und Judengemeinden. 1714 wurde das „Schutzlosungsquantum“ für die Judengemeinden Oettingen und Hainsfarth von 1500 fl. auf 1060 fl. ermäßigt; 1719 erreichte die Oberdorfer Judenschaft eine Halbierung des Ansatzes von 400 fl. auf 200 fl.; 1757 forderte Oettingen-Spielberg von den mediaten Juden der Johanniterkommende Kleinerdlingen einen Betrag von 1409 fl., konnte aber nach langwierigen Gesprächen nur 730 fl. realisieren; 1785/86 beabsichtigte die oettingen-spielbergische Regierung die Gebühr für die Schutzbriefausstellung auf 39 286 fl. festzuschreiben, nach Suppliken der Judengemeinden Oettingen, Hainsfarth und Mönchsroth wurde die Summe schließlich auf weniger als die Hälfte reduziert (16 800 fl.). Gegenüber den immediaten Kleinerdlinger Juden wurde in diesem Verfahren eine raffinierte Taktik angewendet, die ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Charakter der Konsensgeldfestsetzung wirft. Die Regierungsräte gingen nämlich mit weit überzogenen Vorstellungen (350 fl.) in die Verhandlungen mit den Juden. In der sicheren Erwartung, für einen derart hohen Betrag niemals das Einverständnis der Juden zu erhalten, sollte durch diesen Schachzug Spielraum für Zugeständnisse geschaffen werden, um auf diese Weise wenigstens das Minimalziel von 300 fl. in die Tat umsetzen zu können. Diese Rechnung ging auf: „Auf lang und viel Anhalten“ erteilten die Juden der Summe von 300 fl. ihre Zustimmung.62 Das Konsensgeld bedurfte demnach des „Konsenses“ der Juden, es wurde nicht dekretiert, sondern ausgehandelt. Die in der Regel mehrfach und hartnäckig vorgetragenen jüdischen Suppliken waren ein fester Bestandteil dieses Systems und veranlassten die Schutzherrschaft in vielen Fällen zur Rücknahme überhöhter Geldforderungen. Ähnlicher Erfolg war den jüdischen Bittgesuchen zu den anderen Regelungskomplexen der Schutzbriefe beschieden. Geplante Protokollierungspflichten von Handelsverträgen konnten die Juden mit dem Hinweis abwehren, dass diese Beschränkung Handel und Wandel zum Erliegen brächte und keineswegs dem Schutz des christlichen Geschäftspartners diente. Die Bauern und Handwerker würden nämlich aus Zeit- und Kostengründen den Gang zum Amt scheuen und ihre Käufe und Verkäufe lieber bei auswärtigen Handelsleuten und Juden tätigen, so dass eine obrigkeitliche Kontrolle durch oettingische Beamte nicht mehr möglich sein werde.63 Die Vorschriften zum Fleischverkauf unterlagen während des Untersuchungszeitraums zahlreichen Veränderungen. Den Juden wurde der Handel 62 63

FÖSAH, RegReg K 64, Protokoll der Schutzlosungsdeputation vom 19. 1. 1786. Vgl. hierzu ausführlich Mordstein 2005 (wie Anm. 1), S. 229–239.

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Partizipation von Juden an der Legislationspraxis des frühmodernen Staates

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mit dem Fleisch geschächteter Tiere verboten, einige Jahre später ohne Einschränkungen erlaubt, anschließend durch Auflagen (Mengenbegrenzung, Fixpreis) wieder eingeengt, nur kurze Zeit später folgten weitere Neuerungen in dieser Sache. Meist wurden diese Verordnungen von Bittgesuchen der Metzgerzünfte und der jüdischen Fleischhändler initiiert. In diesem Interessenkonflikt war die Obrigkeit stets bestrebt, Lösungen zu finden, durch die der Fleischbedarf der Bevölkerung sichergestellt wurde. Der jüdische Fleischhandel fungierte dabei als Regulierungsinstrument. Die Bittgesuche der Juden waren ein integraler Bestandteil des Versuchs, die verschiedenen Interessen auszutarieren.64 Gleiches gilt für die Partizipation der Juden an den Gemeindegerechtigkeiten. Immer wieder versuchten christliche Ortsgemeinden, die Juden vom genossenschaftlichen Genuss von Weide, Wasser und Wald abzuhalten – in der Regel jedoch ohne Erfolg. Die Juden beharrten in ihren Supplikationen auf der Teilhabe an den kommunalen Nutzungen vor allem mit dem Argument, dass die Gemeinderechte ein Konnex des Hausbesitzes seien und damit unabhängig von Glauben und Konfession garantiert werden müssten. Diese rechtliche Beweisführung wurde von der Obrigkeit geteilt, die den Juden in allen oettingischen Gemeinden die Partizipation an den Gemeindegerechtigkeiten ohne Einschränkungen gestattete. Die Beschwerden der christlichen Stadt-, Marktund Dorfbewohner, eine ideologische Beurteilung des Problems durchzuführen – d. h. die Interessen der Christen grundsätzlich vor die der Juden zu stellen – scheiterten in allen Fällen am Vorrang dieses juristischen Standpunkts.65

III. Das in allen Aktionsfeldern des „Judenrechts“ deutlich gewordene selbstbewusste Agieren der Juden als Kommunikationsteilnehmer am Legislationsverfahren ist vor dem Hintergrund der historischen Supplikationsforschung und neuerer Arbeiten zum Alltag der Herrschaftsausübung des frühmodernen Staates keine Überraschung. So kommen etwa Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas Würgler in ihrer Untersuchung über „Supplizierende Gemeinden“ zu folgendem Fazit: „Suppliken waren […] ein Mittel, mit dem die Gemeinden und Untertanen direkt auf die Gesetzgebung einwirken konnten, indem sie die Ausformulierung von Edikten und Verordnungen überhaupt anregten und inhaltlich oft deutlich mitprägten.“66 Bittgesuche und Beschwer64

Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 239–256. Vgl. hierzu ausführlich Mordstein 2004 (wie Anm. 33); Ders. 2005 (wie Anm. 1), S. 278– 297. 66 Rosi Fuhrmann/Beat Kümin/Andreas Würgler: Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Peter Blickle (Hg.): Gemeinde und Staat im Alten Europa. München 1998 (Historische Zeitschrift. Beihefte NF 25), S. 267–323, hier S. 320. 65

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deschreiben waren nach André Holenstein ein „integraler Bestandteil der Gesetzgebungs- und Gesetzespraxis“.67 Lothar Schilling bringt diese Zusammenhänge bereits im Titel seines programmatischen Aufsatzes „Gesetzgebung als Kommunikation“ zum Ausdruck.68 Nach dem eindeutigen Befund der oettingischen Quellen partizipierte die jüdische Minorität trotz des niemals bestrittenen rechtlichen Minderstatus an dieser auf Supplikationen basierenden frühneuzeitlichen Herrschaftspraxis. Trotz der spezifischen lokalen und regionalen Herrschafts- und Siedlungsstrukturen der Grafschaft Oettingen stellt die intensive Partizipation der Schutzjuden an der Ausgestaltung des „Judenrechts“ keinen singulären Fall dar, sondern war – wie zahlreiche vergleichbare Fälle aus Territorien im gesamten Reichsgebiet belegen69 – repräsentativ für das qualitative Verhältnis zwischen Obrigkeit und Judengemeinden während der Frühen Neuzeit. Juden waren demnach nicht die wehrlosen und ohnmächtigen Opfer der Willkürpolitik ihrer Schutzherren, sondern politische Akteure mit beträchtlicher Durchschlagskraft.

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André Holenstein: Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey“ in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), in: Blickle 1998 (wie Anm. 66), S. 325–357, hier S. 350. 68 Lothar Schilling: Gesetzgebung als Kommunikation. Zu symbolischen und expressiven Aspekten französischer „ordonances de réformation“ des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch, Berlin 2002 (Historische Forschungen 73), S. 133–165. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Achim Landwehr: „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: ZfG 48 (2000), S. 146–162. 69 Vgl. hierzu ausführlich Mordstein 2005 (wie Anm. 1), S. 171–176.

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JÜDISCHES LEBEN AUF DEM LAND IM WANDEL Zu den Auswirkungen des bayerischen Judenedikts von 1813 auf schwäbische Landjudengemeinden Von Claudia Ried

Der Erlass des bayerischen Judenedikts am 10. Juni 18131 markierte den vorläufigen Schlusspunkt einer mehrere Jahre andauernden Diskussion über die rechtliche Stellung der Juden im Königreich Bayern.2 Im Vergleich mit der Gesetzgebung anderer deutscher Staaten brachte das bayerische Judenedikt für die jüdische Bevölkerung nicht die erhoffte rechtliche Gleichstellung mit den christlichen Untertanen. Ausgehend von der Annahme einer grundsätzlichen Schädlichkeit der Juden gegenüber dem Staat wurde das Edikt von der Regierung als Erziehungsmaßnahme verstanden, deren erklärtes Ziel es war, aus Juden „nützliche“ Staatsbürger des Königreichs Bayern zu machen. Neben der vollständigen Assimilation der Juden, von der man sich langfristig ein Aufgehen in der christlichen Mehrheitsgesellschaft erhoffte, strebte das Judenedikt eine Verringerung des jüdischen Bevölkerungsanteils sowie die Veränderung der jüdischen Berufsstruktur an. Darüber hinaus wurde durch Ausbildungs- und Anstellungsvorschriften für Rabbiner und jüdische Religionslehrer auch verstärkt Einfluss auf religiöse Belange genommen. In vielen Beziehungen erinnert das bayerische Judenedikt daher mehr an frühneuzeitliche Judenordnungen als an ein modernes Toleranzedikt.3

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Der Wortlaut des Edikts u. a. bei: Georg Ferdinand Döllinger: Sammlung der im Gebiete der innern Staatsverwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen aus amtlichen Quellen geschöpft und systematisch geordnet Bd. 6: Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen, München 1838, S. 1–7. 2 Noch heute das Standardwerk zur Geschichte des bayerischen Judenedikts: Stefan Schwarz: Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten, München 1980 (2. Aufl.); zu den Kammerverhandlungen erst kürzlich: Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags, Berlin 2007 (Juristische Zeitgeschichte Abteilung 8: Judaica – Jüdisches Recht, Judenrecht, Recht und Antisemitismus 3). 3 Schwarz 1980 (wie Anm. 2), S. 89, 91–92, 95, 118, 154, 168; Manfred Treml: Von der „Judenmission“ zur „Bürgerlichen Verbesserung“. Zur Vorgeschichte und Frühphase der Judenemanzipation in Bayern, in: Manfred Treml/Josef Kirmeier: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17/88), S. 247–265, hier S. 252–257; Rolf Kießling: Die jüdischen Gemeinden, in: Alois Schmid (Hg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte. Bd. 4,2: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Die innere und kulturelle Entwicklung, München 2007, S. 356–384, hier S. 358–361. Vgl. dazu auch die Beiträge von Johannes Mordstein und Rolf Kießling in diesem Band.

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Umfassende Literatur zu den schwäbischen Landjudengemeinden des 19. Jahrhunderts gibt es bislang kaum, da sich ein breiteres wissenschaftliches Interesse am Thema Landjudentum in Deutschland erst vergleichsweise spät ab den 1990er Jahren entwickelte und sich dann vor allem auf die Frühe Neuzeit konzentrierte.4 Dementsprechend finden sich zu den konkreten Folgen des bayerischen Judenedikts für die schwäbischen Landjudengemeinden, abgesehen von wenigen wissenschaftlichen Aufsätzen, vor allem Beiträge in diversen Ortsgeschichten, die dieses Thema aber meist nur am Rande behandeln.5 Daher lassen sich für Schwaben nur in wenigen Fällen Aussagen darüber treffen, welche tatsächlichen Konsequenzen das bayerische Judenedikt in den jüdischen Kultusgemeinden nach sich zog.6 Besonders zum Tragen kommt diese Frage, die im Folgenden anhand ausgewählter, ausnehmend ländlich geprägter jüdischer Kultusgemeinden beantwortet werden soll, im Hinblick auf die demographische Entwicklung der jüdischen Bevölkerung (I), die im Edikt angestrebte Veränderung der jüdischen Berufsstruktur (II) sowie die Auswirkungen des Judenedikts auf das religiöse und innergemeindliche Leben der jüdischen Kultusgemeinden (III), denn gerade im Zusammenhang mit den innerjüdischen Reformdiskussionen gewannen die zum Teil einschneidenden Interventionen des Staates zunehmend an Brisanz.

I. Die wahrscheinlich bekannteste Bestimmung des bayerischen Judenedikts war der so genannte Matrikelparagraph. Dieser Artikel verwehrte der jüdischen Bevölkerung fast fünf Jahrzehnte lang die freie und ungehinderte Niederlassung in Bayern und beschränkte mit Hilfe von Matrikelstellen die Zahl der in den einzelnen Orten ansässigen Juden, um langfristig einen Rückgang des jüdischen Bevölkerungsanteils im Königreich zu bewirken. Überraschenderweise zeigt ein Blick auf die demographische Entwicklung mehrerer schwäbischer Judengemeinden jedoch, dass die Zahl der jüdischen Bewohner auch nach dem Erlass des Judenedikts zunächst in zum Teil nicht 4

Monika Richarz: Ländliches Judentum als Problem der Forschung, in: Dies. u. a. (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 56), S. 1–8, passim. 5 Verwiesen sei hier in Auswahl vor allem auf die Beiträge in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, 3 Bde., Sigmaringen u. a. 1994–2008 sowie auf Karl Filser: „… weil es gefährlich wäre, die Kette des groß gewachsenen Sklaven zu lösen.“ Lokalstudie zur Effektivität bayerischer Judenpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 249–281. 6 Erste Ergebnisse zur jüdischen Kultusgemeinde Fellheim: Claudia Ried: Die Auswirkungen des bayerischen Judenedikts von 1813 auf die schwäbische Landjudengemeinde Fellheim, unveröffentlichte Magisterarbeit Augsburg 2005.

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unerheblichem Ausmaß ansteigen konnte.7 In Binswangen beispielsweise lebten 1812 327 Juden, 1826 war die Zahl auf 350 angewachsen und erreichte schließlich mit 415 im Jahr 1848 ihren Höhepunkt.8 Noch deutlicher offenbart sich die Zunahme der jüdischen Bevölkerung in Fellheim, wo die jüdische Kultusgemeinde 1807 360 Mitglieder zählte und 1840 auf 539 Seelen angewachsen war.9 Eine besonders signifikante Vergrößerung des jüdischen Bevölkerungsanteils lässt sich zudem in Hürben feststellen, wo 1811 421 und 1840 699 Juden belegt werden können.10 Erst im Verlauf der 1840er Jahre stagnierte die Bevölkerungszahl dieser Landjudengemeinden oder begann bereits zu sinken. Fast drei Jahrzehnte nach dem Erlass des Judenedikts setzte somit der von der Staatsregierung ursprünglich viel früher intendierte jüdische Bevölkerungsrückgang ein. Aufgrund der in jedem Ort nur begrenzt vorhandenen Matrikelstellen verursachte die zunächst zu beobachtende Zunahme der jüdischen Bevölkerung nicht selten soziale Probleme, welche die jüdischen Kultusgemeinden kaum auffangen konnten. Die in den Familien vorhandenen Matrikelstellen gaben die Familienoberhäupter nämlich in der Regel an ihren ältesten Sohn weiter, so dass sich die nachgeborenen Söhne nur in Ausnahmefällen in ihren Heimatgemeinden niederlassen konnten. Noch im Erwachsenenalter lebten sie daher in den elterlichen Haushalten, verfügten sie doch über keine Möglichkeit der Familiengründung und auch die Ausübung eines offiziellen Gewerbes blieb ihnen verwehrt. Der insgesamt äußerst restriktive Charakter des bayerischen Judenedikts war der bayerischen Staatsregierung durchaus bewusst, und während der über 50jährigen Geltungsdauer des Gesetzes wurden mehrmals Korrekturen bzw. Anpassungen erwogen. Im Vorfeld solcher Überlegungen wurden die jüdischen Kultusgemeinden von den Behörden mehrfach über ihre Lebensumstände befragt, um den vermeintlichen Erfolg des Erziehungskonzeptes zu eruieren. Diese Befragungen spiegeln die Situation in den jüdischen Kultusgemeinden wider. So berichteten im Rahmen des Revisionsversuches von 7 Die im Folgenden angegebenen Bevölkerungszahlen basieren zwar auf unterschiedlichen Erhebungskriterien verschiedener Urheber und sind daher nicht immer als exakt anzusehen, dennoch dokumentieren sie die aufzuzeigenden Entwicklungslinien. 8 Ludwig Reissler: Geschichte und Schicksal der Juden in Binswangen, einem Dorf in der ehemals österreichischen Markgrafschaft Burgau im heutigen Bayerisch-Schwaben. Ein Beitrag zum Problem ethnisch-religiöser Minderheiten, Zulassungsarbeit Masch. München 1982, S. 98. 9 Staatsarchiv Augsburg (StAA) Regierung, Kammer des Innern 3901, Übersicht der in Fellheim befindlichen Judenfamilien vom 7. 2. 1807; Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, Kataster 1840 der Ortschaften, Bevölkerung und Gebäude Bd. 16: Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg; Landgerichte Augsburg bis Lauingen. 10 StAA Regierung, Kammer des Innern 1193/2, Schreiben des Landgerichts Ursberg an das Generalkommissariat des Illerkreises vom 23. 8. 1811; Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, Kataster 1840 der Ortschaften, Bevölkerung und Gebäude Bd. 16: Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg; Landgerichte Augsburg bis Lauingen.

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1832 die beiden Fellheimer Kultusvorsteher Liebermann Heilbronner und Joseph Bacharach sehr plastisch von den negativen Auswirkungen des Matrikelparagraphen auf die jüdischen Bewohner des Ortes: Gewährt man der sofort vermehrten Anzahl von Menschen keine Aufnahme, so ist damit für den Staat nichts gewonnen, weil die Menschen denn doch da sind, so daß am Ende der Nachteil entsteht, daß viele Juden in dem unbedeutenden Fellheim in elende Wohnungen zusammen gedrängt leben, und ohne einen genügenden Erwerbszweig zu haben noch zu loben sind, wenn sie nicht gänzlich demoralisiert werden. Durch dieses Zusammendrängen an einem Ort – durch die Unmöglichkeit ohne Erledigung einer Matrikelnummer irgendwo unterzukommen sind die Juden gezwungen alle Bedingungen einzugehen, die man ihnen hinsichtlich ihrer Wohnung vorschreibt.11

Neben der Aufhebung des Matrikelparagraphen forderten die Kultusvorsteher deshalb für Juden die gleichen, seit 1825 für die christliche Bevölkerung geltenden Ansässigmachungs- und Verehelichungsbestimmungen, doch mit dem Scheitern des Revisionsversuches blieb auch die Eingabe der Fellheimer Juden ergebnislos.12 Seitens der Behörden wurde die natürliche Zunahme der jüdischen Bevölkerung zwar geduldet, die damit teilweise einhergehenden, mitunter äußerst drückenden sozialen Bedingungen und die Perspektivlosigkeit der nachwachsenden Generation wurden jedoch durch die meisten Unter- und Mittelbehörden weitgehend ignoriert. Allein das Landgericht Krumbach wies in seinem Bericht vom 24. Februar 1848 darauf hin, dass die im Judenedikt angestrebte Verminderung der Juden an einem Ort faktisch nicht umgesetzt worden war, sondern sich im Gegenteil die Anzahl der jüdischen Bevölkerung so sehr vergrößert hatte, dass die Aufnahme der über der Normalzahl ansässigen Juden in die ordentliche Matrikel sowie die Verringerung der Familien auf die am 10. Juni 1813 bestehende Matrikel „ohne förmliche gewaltsame Vertreibung der Juden nicht mehr als möglich erscheint“. Nach Einschätzung des Landgerichts wäre außerdem auch zukünftig die Begrenzung der jüdischen Familien „nur mit unverdienter Härte zu bewerkstelligen […], weil sich die Juden, bei ihrer bekannten Fruchtbarkeit, noch in stärkerem Maaßstabe vermehren, als die christlichen Bewohner des Reiches, und sich sohin der größere Theil der nachwachsenden Judenschaft für immer zum ledigen Stande oder zur Auswanderung gezwungen sehen würde“.13 Nicht zuletzt als Reaktion auf die Untätigkeit der Behörden sowie auf die immer wieder enttäuschten Hoffnungen im Hinblick auf eine Revision des Judenedikts und den zunehmenden Bevölkerungsdruck lassen sich etwa seit Ende der 1830er Jahre in mehreren Landgerichten tatsächlich erstmals Aus11

StAA Schloßarchiv Fellheim 40, Protokoll des Patrimonialgerichts Fellheim vom 4. 12. 1832. 12 Zum Revisionsversuch von 1831/32 vgl.: Schwarz 1980 (wie Anm. 2), S. 222–226 sowie Ludyga 2007 (wie Anm. 2), S. 141–166. 13 StAA Bezirksamt (BA) Krumbach 505, Bericht des Landgerichts Krumbach an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 24. 2. 1848.

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wanderungsgesuche schwäbischer Juden feststellen. So entschied sich 1839 beispielsweise die 35jährige Karolina Horn aus Buttenwiesen, nach Nordamerika auszuwandern, nachdem sie „bei den vielen Schwierigkeiten mit welchen die Ansässigmachung der Israeliten verbunden ist, wohl ein[sah], daß ich in meinem Vaterlande wenig oder gar keine Hoffnung auf Begründung eines eigenen Herds habe“.14 Karolina Horn steht hier stellvertretend für zahlreiche schwäbische Auswanderungswillige ihrer Zeit, die, meist ledig und nicht zwangsläufig unvermögend,15 in Bayern keinerlei Aussicht auf Niederlassung und Heirat sahen und stattdessen den beschwerlichen und weiten Weg nach Nordamerika auf sich nahmen. Obgleich in der Forschung die Gewichtung des bayerischen Judenedikts als Auswanderungsgrund diskutiert wird, offenbaren besonders die Auswanderungsgesuche Buttenwiesener Antragssteller durchaus einen Zusammenhang.16 Zweifellos als push-Faktor für die Emigration aus schwäbischen Landjudengemeinden wie Altenstadt,17 Harburg,18 Ichenhausen19 oder Fellheim20 sind zudem die teilweise hohen Schutzgelder zu bewerten, die in den genannten Orten trotz des Judenedikts bis 1848 weiterhin an die ehemaligen Schutzherren gezahlt werden mussten. Diese nicht unerheblichen Sonderabgaben waren der Staatsregierung bekannt. Obwohl ein Gutachten 1815 die Abschaffung bzw. Senkung derselben empfohlen hatte,21 konnten die Patrimonialherren die Schutzgeldzahlungen bis 1848 einziehen. Ungeachtet zahlreicher Beschwerden, Eingaben und juristischer Schritte der jüdischen Bevölkerung blieben die Schutzgelder entgegen den Bestimmungen des bayerischen Judenedikts eine äußerst attraktive finanzielle Einnahmequelle für die ehemaligen Schutzherren, für deren Fortbestand sich beispielsweise

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StAA BA Wertingen 2659, Protokoll des Landgerichts Wertingen vom 14. 10. 1839. Vgl. dazu die einzelnen Auswanderungsakten im StAA. Auch Michael Piller: Die Juden in Fischach (3. Teil), in: Jahresbericht des Heimatvereins für den Landkreis Augsburg e. V. 16 (1978/79), S. 256–317, hier S. 269, verweist darauf, dass Mitte des 19. Jahrhunderts vornehmlich wohlhabendere Juden aus Fischach emigrierten. 16 Tobias Brinkmann: Von der Gemeinde zur „Community“. Jüdische Einwanderer in Chicago 1840–1900, Osnabrück 2002 (Studien zur Historischen Migrationsforschung 10), S. 45–60, besonders S. 59. 17 Hermann Rose: Geschichtliches der Israelitischen Kultusgemeinde Altenstadt, Altenstadt 1931, S. 17. 18 Reinhard Jakob: Die jüdische Gemeinde von Harburg (1671–1871), Nördlingen 1988, S. 43. 19 Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): Juden auf dem Lande, Beispiel Ichenhausen. Katalog zur Ausstellung in der ehemaligen Synagoge Ichenhausen, München 1991 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 22), S. 78 sowie Silvester Lechner: Juden auf dem Lande – die Geschichte der Ichenhausener Juden, in: ebd., S. 21. 20 Ried 2005 (wie Anm. 6), S. 28–30. 21 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) Ministerium der Finanzen 2857, Antrag der Minist.-Sektion vom 10. 6. 1815. 15

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Freiherr Marquard von Stein aus Ichenhausen vehement bei der Regierung einsetzte.22 Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich die zunehmende Auswanderung innerhalb einiger jüdischer Kultusgemeinden Schwabens deutlich bemerkbar. Neben dem Rückgang der Mitgliederstärke waren mit der Emigration sinkende Schülerzahlen in den jüdischen Religions- und Elementarschulen sowie – je nach Ausgangssituation der Kultusgemeinde – finanzielle Schwierigkeiten verbunden. Besonders drastisch wirkte sich diese Entwicklung in Fellheim aus. Nachdem über 160 jüdische Gemeindemitglieder den Ort verlassen hatten, sah sich die jüdische Kultusgemeinde 1856 nicht mehr im Stande, für die dringend notwendigen Reparaturen an der baufälligen und bereits einsturzgefährdeten Synagoge durch Umlagen unter den verbliebenen Gemeindemitgliedern 2000 fl. aufzubringen und bat deshalb um Erlaubnis für eine Kollekte unter den jüdischen Glaubensgenossen in Bayern.23 Problematisch gestaltete sich durch den Mitgliederrückgang mancherorts außerdem die Bestreitung der Kultusbedürfnisse, zu denen neben dem Unterhalt der Synagoge auch die Besoldung der Rabbiner und Lehrer zählte, zumal die jüdischen Kultusgemeinden mit dem bayerischen Judenedikt zu Privatkirchengesellschaften deklariert worden waren und daher für die Aufrechterhaltung ihrer Elementarschulen auf keine nennenswerten staatlichen Finanzhilfen hoffen konnten. Mit dem Weggang zahlreicher Gemeindemitglieder erhöhte sich die Umlagenlast für die Zurückgebliebenen und somit die finanzielle Belastung pro Haushalt.24 Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Matrikelparagraph in BayerischSchwaben nach 1813 das Ansteigen des jüdischen Bevölkerungsanteils entgegen des ausdrücklichen Willens der bayerischen Staatsregierung zunächst nicht verhinderte. Die Umsetzung der damit verbundenen Ziele erwies sich nicht sofort als realisierbar und konsequent durchsetzbar. Erst als sich die Schwierigkeiten der Niederlassung der noch nicht immatrikulierten heranwachsenden jüdischen Bevölkerung in vollem Ausmaß offenbarten und die mehrmals gescheiterten Revisionsversuche die Hoffnung auf eine Rücknahme des Matrikelparagraphen sukzessive zunichte machten, entschlossen sich immer mehr Juden, ihrem Heimatland den Rücken zu kehren. Obgleich die Emigration aus Schwaben im bayernweiten Vergleich eher moderat ausfiel, zog die Auswanderung vieler Mitglieder der jüdischen Landgemeinden vor22

StAA Regierung, Kammer der Finanzen 10119, Antrag des Freiherrn Marquard von Stein vom 16. 8. 1831. 23 StAA Landgericht älterer Ordnung (LgäO) Babenhausen 431, Bericht des Landgerichts Babenhausen an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 28. 9. 1856; auch in Altenstadt verließen bis Mitte der 1850er Jahre etwa 150 Juden den Ort: Karin Sommer: Die Juden von Altenstadt. Zum Alltagsleben in einem Judendorf von ca. 1900 bis 1942, unveröffentlichte Magisterarbeit, München 1982, S. 9; Rose 1931 (wie Anm. 17), S. 21–22. 24 Vgl. dazu u. a.: StAA BA Krumbach 3083, Protokoll der jüdischen Kultusgemeinde Hürben vom 24. 10. 1852.

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nehmlich nach Nordamerika spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts spürbare Konsequenzen nach sich, die sich nicht nur nachhaltig auf die finanzielle Leistungsfähigkeit mehrerer jüdischer Kultusgemeinden auswirkten, sondern teilweise auch ernsthaft den Fortbestand jüdischer Elementarschulen und Kultuseinrichtungen gefährdeten.

II. Als besonders gemeinschädlich erachteten die bayerischen Behörden seit jeher den jüdischen Hausierhandel. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte in weiten Teilen der Administration Konsens darüber, dass Juden erst dann als gleichberechtigte Mitglieder in den bayerischen Untertanenverband aufgenommen werden sollten, wenn sie dem Hausierhandel abschwören und stattdessen ein so genanntes „produktiveres Gewerbe“ ergreifen wollten. Diese erzieherische Maßnahme, die als ein wesentlicher Bestandteil im Judenedikt verankert war, sollte auf zwei unterschiedlichen Wegen umgesetzt werden. Zum einen verhinderte das Judenedikt ausdrücklich die Ansässigmachung von Hausierhändlern und belegte jeden nach 1813 als Hausierhändler tätigen Juden mit rechtlichen Sanktionen zum Beispiel beim Wahlrecht, zum anderen eröffnete das Erlernen bzw. Ausüben eines Handwerks, der Landwirtschaft sowie die Gründung einer Fabrik, freilich unter zunehmend strengen Auflagen die Möglichkeit, die in einem Ort vorhandenen Matrikelstellen über die Normalzahl anzuheben.25 Für den Einzelnen konnte dies bedeuten, die lang ersehnte Niederlassungserlaubnis doch noch zu erhalten, auch wenn die eigentliche Anzahl der zur Verfügung stehenden Matrikelstellen bereits vergeben war.26 Welche konkreten Auswirkungen hatten diese Bestimmungen des Judenedikts auf die bayerisch-schwäbischen Landjudengemeinden? Im Zuge der Judenkonskription von 1807/08 berichtete das Königliche Generalkommissariat Schwaben am 2. August 1808, dass die in der dortigen Provinz lebenden Juden alle „Handelsjuden“ seien und nur insofern Professionen trieben, „als ihnen ihre Disciplinargesetze gebiethen, gewisse Lebensmittel durch ihre Glaubensgenossen zubereiten zu lassen, wie das Schlachten, Backen, Kochen und den koschern Weinschenk.“27 Ein Blick auf die Berufs25 Zur Willkür bei der Matrikelvergabe über die Normalzahl vgl. u. a.: Meinrad Brachs: Das bayerische Judenedikt vom 10. Juni 1813 und die Wiederverleihung erledigter Matrikelstellen an Bamberger Juden, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 121 (1985), S. 153–179. 26 Monika Richarz: Die soziale Stellung der jüdischen Händler auf dem Lande am Beispiel Südwestdeutschlands, in: Werner E. Mosse/Hans Pohl (Hg.): Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992 (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Beiheft 64), S. 271–283, hier S. 274. 27 StAA Regierung, Kammer des Innern 3901, Bericht des Generalkommissariats Schwaben an das Ministerium des Innern vom 2. 8. 1808.

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struktur in den einzelnen jüdischen Kultusgemeinden bestätigt diese Feststellung weitgehend: In Fellheim beispielsweise lebten Anfang Februar 1807 ein Rabbiner, ein Vorsänger, ein Gemeindediener, zwei Lehrer und ein Bote. Die für den Kultus notwendigen Handwerke besorgten vier Metzger und ein Nebenerwerbsbäcker, während das Gros der ansässigen Juden – immerhin über 80% – seinen Lebensunterhalt tatsächlich als Hausierhändler verdiente.28 Diese Struktur findet sich in allen Landjudengemeinden Bayerisch-Schwabens zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder – in Buttenwiesen z. B. bestritten 1811 von 81 Familien 61 ihren Lebensunterhalt durch Handel.29 Während der Woche zogen die jüdischen Hausierhändler von Haus zu Haus, boten ihren meist christlichen Kunden verschiedene Waren wie Textilien, Leder, bäuerliche Agrarprodukte oder Pferde an und kehrten – soweit überhaupt möglich – nur am Ende der Woche zu ihren Familien zurück, um dort den Sabbat zu feiern. Obwohl die Händler zum Teil sehr weite Wegstrecken zurücklegten, gewährleistete der Hausierhandel besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts meist nur einen kargen Lebensunterhalt.30 Daher sah sich das Landgericht Wertingen 1808 veranlasst, die in Binswangen und Buttenwiesen ansässigen Hausierhändler zum größten Teil „unter die ärmere Menschenklasse“ zu zählen,31 und auch das Landgericht Zusmarshausen bezeichnete das Einkommen der meisten Fischacher Hausierhändler als „kümmerlich“.32 Die schlechte wirtschaftliche Ausgangslage vieler jüdischer Hausierer- und Händlerfamilien scheint im ersten Moment dafür zu sprechen, dass das Judenedikt mit der Öffnung neuer Erwerbszweige für Juden deren Berufsstruktur nachhaltig verändern und eine soziale Verbesserung hätte bewirken können. Allerdings ist feststellbar, dass der Hausierhandel trotz des deutlichen Missfallens der Behörden in vielen Fällen auch nach 1813 weiterhin ausgeübt wurde. Die jüdische Kultusgemeinde Altenstadt zählte 1832 unter ihren 57 Familienoberhäuptern 20 Hausierhändler,33 in Fellheim verdingten sich 1836 von 78 jüdischen Gemeindemitgliedern offiziell 23 weiterhin als

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StAA Regierung, Kammer des Innern 3901, Übersicht der in Fellheim befindlichen Judenfamilien vom 7. 2. 1807. 29 Franz Neuner: Die Juden in Buttenwiesen, in: Nordschwaben 9 (1981), S. 128–132, hier S. 131; eine ähnliche Situation auch in Binswangen: Reinhard H. Seitz: Zwischen Duldung und Vertreibung. Zur Geschichte der Juden in Binswangen, in: Landkreis Dillingen (Hg.): Alte Synagoge Binswangen. Eine Gedenkschrift, Dillingen 1996, S. 8–20, hier S. 15 sowie in Fischach: StAA BA Zusmarshausen 306, Bericht des Landgerichts Zusmarshausen an das Generalkommissariat vom 27. 6. 1808. 30 Monika Richarz: Landjuden – ein bürgerliches Element im Dorf?, in: Wolfgang Jacobeit u. a. (Hg.): Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich, Berlin 1990, S. 181–190, hier S. 183–185. 31 StAA Regierung, Kammer des Innern 3901, Bericht des Landgerichts Wertingen an das Bayerische Landeskommissariat vom 9. 7. 1808. 32 StAA BA Zusmarshausen 306, Bericht des Landgerichts Zusmarshausen an das Generalkommissariat vom 27. 6. 1808. 33 Rose 1931 (wie Anm. 17), S. 14, und Sommer 1982 (wie Anm. 23), S. 8.

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Hausierhändler34 und in Buttenwiesen waren es 1851 von den 90 jüdischen Gemeindemitgliedern 40.35 Tatsächlich dürften diese Zahlen in nicht wenigen schwäbischen Landjudengemeinden jedoch höher gelegen haben, denn 1845 erlangte das Ministerium des Innern Kenntnis darüber, dass mehrere auf Handel und Gewerbe niedergelassene Juden aus Fischach ihren Ansässigkeitstitel verlassen hatten und stattdessen wieder unerlaubt Viehhandel betrieben. Auch in anderen Orten machte das Ministerium „mehrfach [die] Wahrnehmung, daß Israeliten […] mit Verlassung ihrer AnsäßigkeitsTitel zu andern Erwerbszweigen ohne polizeyliche Bewilligung oder selbst gegen gesetzliches Verbot übertreten.“36 Dass es sich bei den Beobachtungen des Ministeriums keineswegs um Einzelfälle handelte, bestätigen im Zusammenhang mit den einzelnen Revisionsversuchen des Judenedikts die Berichte der Landgerichte Zusmarshausen,37 Wertingen38 und Krumbach.39 Von zum Teil deutlich antijüdischen Ressentiments durchdrungen, lehnten alle Landrichter in ihren Ausführungen eine völlige Aufhebung des bayerischen Judenedikts ab, da die jüdischen Glaubensgenossen „noch keineswegs reif sind, um vollkommen emancipirt, und andern christlichen Staatsbürgern in jeder Beziehung gleichgestellt zu werden“.40 Ein von den Richtern immer wieder vorgebrachtes Argument gegen die Judenemanzipation zielte auf die bestehende Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung ab, zumal „das Judenedikt vom Jahr 1813 bezweckte die Juden zu andern Erwerbsarten zu gewöhnen, allein vergebens; mit Zwang nur ergreift der Jude ein Gewerbe, schlecht und nur momentan treibt er Ackerbau; die Wiederergreifung des Handels bey nächster Gelegenheit ist seine höchste Tendenz“.41 Der Wertinger Landrichter Aretin konstatierte 1848 ebenfalls, dass sich durch die Übernahme landwirtschaftlicher Güter oder durch die Erlangung von Gewerbekonzessionen Juden in seinem Landgerichtsbezirk durchaus über die normale Matrikelzahl ansässig gemacht hatten, allerdings sah er von deren Seite häufig keine Bestrebungen, die Landwirtschaft bzw. das neue Gewerbe auch tatsächlich ohne Nebenerwerb ausüben 34

Intelligenz-Blatt des Oberdonaukreises Nr. 24 vom 13. 6. 1836, Sp. 751, 754, 757–760, 763 f. 35 StAA BA Wertingen 2428, Aufstellung des Landgerichts Wertingen über die bürgerlichen Verhältnisse der Israeliten in Buttenwiesen vom 19. 2. 1851. 36 BayHStA Ministerium der Finanzen 71645, Schreiben des Ministeriums des Innern an das Ministerium der Finanzen vom 15. 9. 1845. 37 StAA BA Zusmarshausen 306, Bericht des Landgerichts Zusmarshausen an das Königliche Appellationsgericht vom 7. 10. 1834. 38 StAA BA Wertingen 2428, Bericht des Landgerichts Wertingen an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 12. 2. 1848. 39 StAA BA Krumbach 505, Bericht des Landgerichts Krumbach an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 24. 2. 1848. 40 Ebd. 41 StAA BA Zusmarshausen 306, Bericht des Landgerichts Zusmarshausen an das Königliche Appellationsgericht vom 7. 10. 1834.

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zu wollen, „denn alle solche Ansiedler soweit sie dem Amte bekannt sind haben den Betrieb der Oekonomie oder ihres Gewerbes ganz oder doch größtentheils und zwar in wenig Jahren aufgegeben u. zu ihrem Hauptgeschäft Viehhandel, Geldgeschäfte oder andern Handel mit Artikeln aller Art gewählt“.42 Von ähnlichen Beobachtungen berichtete 1848 auch der Krumbacher Landrichter: Seinen Angaben zufolge übten sogar viele Juden in Hürben nach ihrer Ansässigmachung ihr neues Gewerbe gar nicht erst aus, sondern wandten sich direkt danach sowohl legalen als auch illegalen Handelsberufen wie dem Hausierhandel zu.43 Die von den Landrichtern mehrmals monierte Rückkehr der Juden zum Handel lag aus jüdischer Sicht durchaus nahe, da die jüdischen Familienoberhäupter im Handelssektor über langjährige Erfahrungen sowie weit verzweigte Handelskontakte verfügten. Zudem bot z. B. gerade der Hausierhandel vor allem älteren Juden eine vertraute und traditionelle Erwerbsart, mittels derer sie mit vergleichsweise geringem Kapitaleinsatz ihre Existenz einigermaßen sichern konnten. Häufig verbanden die Hausierer ihre Tätigkeit mit der Vergabe von Kleinkrediten, um sich ein zweites wirtschaftliches Standbein zu sichern. Im Gegensatz dazu gewährleisteten die behördlicherseits bewilligten Gewerbe mitunter nicht nur keinen ausreichenden Lebensunterhalt, sondern auf jüdischer Seite bestanden zudem in vielen Bereichen und ganz besonders in der Landwirtschaft auch keinerlei tradierte Kenntnisse und Netzwerke. Neben der Landwirtschaft galt das Handwerk als „produktives Gewerbe“ im Sinne des bayerischen Judenedikts. Trotz des Ausschlusses aus den christlichen Zünften existierte in vielen jüdischen Kultusgemeinden in einigen Berufen bereits eine lange Handwerkstradition, da die durch die jüdischen Religionsgesetze bedingten rituellen Bedürfnisse durch jüdische Handwerker abgedeckt wurden. Zu den für die Aufrechterhaltung einer jüdischen Kultusgemeinde relevanten Handwerksberufen zählten neben Metzgern, Bäckern und Winzern auch Seifenmacher, Barbiere, Sticker, Schneider, Tallith- und Zizit-Weber, Pergamentmacher, Schreiber, Buchbinder, Drucker, manchmal Graveure sowie Gold- und Silberschmiede.44 Anknüpfend an die vorhandenen Strukturen stieg in vielen schwäbischen Landjudengemeinden die offizielle Zahl der jüdischen Handwerker nach Inkrafttreten des Edikts deutlich an. Neben den eng mit der Aufrechterhaltung des religiösen Lebens verbundenen Handwerksberufen finden sich mehrmals nun auch Handwerke, zu denen Juden während der Frühen Neuzeit der Zugang verwehrt worden war. Auffallend ist jedoch, dass sich ein signifikanter 42

StAA BA Wertingen 2428, Bericht des Landgerichts Wertingen an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 12. 2. 1848. 43 StAA BA Krumbach 505, Bericht des Landgerichts Krumbach an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 24. 2. 1848. 44 Werner J. Cahnman: Rolle und Bedeutung der jüdischen Handwerkerklasse, in: Judith Marcus/Zoltán Tarr (Hg.): Werner J. Cahnman. Deutsche Juden. Ihre Geschichte und Soziologie, Münster 2005, S. 190–203, hier S. 197.

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Anstieg der als Handwerker immatrikulierten Juden überwiegend in der Zeit nachweisen lässt, als sich die oben beschriebenen Probleme der Ansässigmachung bemerkbar machten. Besonders anschaulich kann diese Entwicklung in der jüdischen Kultusgemeinde Buttenwiesen nachvollzogen werden, wo 1832 lediglich sieben jüdische Handwerker ansässig waren,45 während 1848 immerhin bereits 19 jüdische Familienoberhäupter offiziell ihren Unterhalt mit einem Handwerk verdienten.46 Im Rahmen der zunehmenden Auswanderung von Juden aus Buttenwiesen verringerte sich bereits in den 1850er Jahren die Zahl der jüdischen Handwerker wieder merklich. Ein Blick auf die Buttenwiesener Familienstandsbögen von 1875 veranschaulicht zudem, dass nach der Aufhebung des bayerischen Judenedikts, als einer freien Berufswahl keine Hindernisse mehr im Weg standen, dort lediglich noch jüdische Metzger ihr Handwerk ausübten.47 Eine nachhaltige Handwerkstradition, wie sie das bayerische Judenedikt intendierte, hatte sich unter den Juden Buttenwiesens ebenso wenig wie in Fellheim etabliert. Auch in Memmingen, wo sich viele der ehemals in Fellheim ansässigen Juden nach dem Wegfall des Matrikelparagraphen niedergelassen hatten, finden sich 1877 und 1896 außer Metzgern keine Handwerker mehr unter den Mitgliedern der jüdischen Kultusgemeinde.48 Die Gründe für die fehlende Bildung einer eigenen Handwerkstradition in den jüdischen Kultusgemeinden waren vielfältig, zumal einer Tätigkeit im Handwerk von vornherein zahlreiche Hürden entgegenstanden. Aufgrund der jüdischen Speisegesetze und den divergierenden christlichen und jüdischen Feiertagen gestaltete sich die Suche nach einem in der Regel christlichen Handwerksmeister für die Ausbildung oft als sehr schwierig. Auch bedeutete eine meist unter großem finanziellen Aufwand absolvierte Ausbildung aufgrund der mitunter strenger werdenden Auflagen der Ansässigmachung über die Normalzahl hinaus noch keine Garantie für die Niederlassung. In den meisten Gemeinden verhinderte zusätzlich die Übersetzung des Handwerks eine Ansässigmachung, da die beginnende Industrialisierung und die damit verbundene Freisetzung von Arbeitskräften den Konkurrenzdruck innerhalb der Handwerke erhöhten und auch viele christliche Handwerker zur Auswanderung nach Übersee bewog. Aufgrund geringer Verdienstmöglichkeiten und schlechter Zukunftsperspektiven sahen sich im 45 StAA BA Wertingen 2428, Schreiben der jüdischen Kultusgemeinde Buttenwiesen an das Landgericht Wertingen vom 5. 12. 1832. 46 StAA BA Wertingen 2428, Übersicht über die bürgerlichen Verhältnisse der jüdischen Kultusgemeinde Buttenwiesen vom 4. 1. 1848. 47 Gemeindearchiv Buttenwiesen B 169/1 BUW, Familienstandsbögen der Gemeinde Buttenwiesen aus dem Jahr 1875. 48 Ried 2005 (wie Anm. 6), S. 54–56 sowie Stadtarchiv Memmingen (StadtA MM) APL 1827 D4, Mitgliederverzeichnis der jüdischen Kultusgemeinde Memmingen aus dem Jahr 1877; StadtA MM APL 1827 D 4, Mitgliederverzeichnis der jüdischen Kultusgemeinde Memmingen vom 22. 3. 1896.

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Handwerk und in der Landwirtschaft ansässige Juden zur Aufgabe ihres Erwerbszweiges genötigt oder sie bestritten ihren Lebensunterhalt, indem sie, wie von mehreren Landrichtern beklagt, das jeweilige Handwerk oder den landwirtschaftlichen Betrieb zur Subsistenzsicherung mit Wanderhandel verbanden. Obwohl die Zahl der offiziell als Handwerker und Landwirte ansässigen Juden nach 1813 vielfach anstieg, bewirkte somit das Edikt dennoch keine nachhaltige Veränderung der jüdischen Berufsstruktur. Weder während der Geltungsdauer des Edikts noch danach entwickelte sich in den meisten Landjudengemeinden Schwabens eine handwerkliche oder landwirtschaftliche Kontinuität, da das Gros der Juden im Rahmen der freien Berufswahl andere Tätigkeiten bevorzugte.49 Das Erlernen eines Handwerkes oder die Ausübung der Landwirtschaft erschienen zwischen 1813 und 1861 aufgrund der drückenden Bestimmungen des Matrikelparagraphen lediglich als letzter Ausweg, doch noch eine dringend benötigte Matrikelstelle zu erlangen, auch wenn die damit erwirtschafteten Erträge den Lebensunterhalt allein nicht sicherten und zumindest nebenbei weiterhin Handelstätigkeiten ausgeübt werden mussten.50

III. Im Vergleich zu der von obrigkeitlichen Eingriffen kaum gestörten Religionsausübung während der Frühen Neuzeit bedeutete das Edikt von 1813 für die jüdischen Kultusgemeinden Schwabens einen tiefen Einschnitt. Mit der Eingliederung in die politischen Gemeinden, der Abschaffung der rabbinischen Gerichtsbarkeit, der staatlichen Ernennung der Rabbiner und jüdischen Religionslehrer sowie der Vorsorge für deren Qualifikation, Loyalität und staatspolitische Zuverlässigkeit lassen sich die Verstaatlichungs- und Assimilationsabsichten des bayerischen Staates gegenüber der jüdischen Bevölkerung deutlich ablesen, zumal in den Augen der Regierung der als schädlich eingestufte jüdische Ritus – ebenso wie der jüdische Hausierhandel – einer bürgerlichen Integration entgegenstand. Bei der Umsetzung der religionspolitischen Bestimmungen des Judenedikts können, genau wie beim Matrikelparagraphen, in Schwaben in einigen Teilbereichen gewisse zeitliche Verzögerungen beobachtet werden. Während die 49

In Ichenhausen: Lechner 1991 (wie Anm. 19), S. 23; in Altenstadt: Sommer 1982 (wie Anm. 23), S. 8; in Osterberg: Ute Ecker-Offenhäusser: Jüdisches Leben in Osterberg – die Entwicklung der israelitischen Kultusgemeinde, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II. Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte, Stuttgart 2000 (Irseer Schriften 5), S. 175–188, hier S. 181–183; in Harburg: Jakob 1988 (wie Anm. 18), S. 150. 50 Dieses Ergebnis deckt sich mit den Befunden bei Richarz 1992 (wie Anm. 26), S. 274– 275.

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Abschaffung der rabbinischen Jurisdiktion von Anfang an konsequent durchgesetzt wurde51 und die Angliederung der jüdischen Gemeinden an die christlichen zeitnah erfolgte,52 mussten sich keineswegs alle bereits amtierenden Rabbiner nachträglichen Prüfungen unterziehen, anhand derer sie ihre Eignung und Qualifikation für ihre Tätigkeit im Sinne des Edikts nachzuweisen hatten. So konnte beispielsweise der unter anderem in Oettingen und Hainsfarth tätige Rabbiner Pinkas Jakob Katzenellenbogen trotz mangelnder Deutschkenntnisse sein Amt bis 1841 weiter bekleiden, da die Ansbacher Regierung auf eine Nachprüfung verzichtet hatte.53 Neben zeitlichen Verzögerungen, die den jüdischen Kultusgemeinden unter Umständen noch zugute kommen konnten, wirkten sich mehrere Bestimmungen des Judenedikts dagegen sehr einschneidend auf das jüdische Gemeindeleben aus. Nach 1813 verfügten die jüdischen Kultusgemeinden im Hinblick auf die Wahl ihrer Rabbiner lediglich noch über ein Vorschlagsrecht, während die eigentliche Entscheidung über die Besetzung der Rabbinerstellen nun den bayerischen Behörden oblag. So hatte sich z. B. die jüdische Kultusgemeinde Buttenwiesen, die seit 1822 über keinen eigenen Rabbiner mehr verfügte und ihre religiösen Angelegenheiten von Rabbiner Isaak Hirsch Gunzenhauser aus Binswangen besorgen ließ, vergleichsweise schnell auf den in Buttenwiesen geborenen Jonas Sänger als neuen Rabbiner geeinigt.54 Allerdings blieb seitens der Regierung des Oberdonaukreises die für Jonas Sänger erforderliche Bestätigung als Rabbiner aus, da er trotz der „Resultate der von [ihm] abgelegten Rabbinatsprüfung, wonach derselbe zwar die Hauptnote der hinlänglichen Befähigung erlangt, und sich über guten Leumund und Freysein von aller Makel des Wuchers ausgewiesen, jedoch noch nicht einen solchen Grad der wissenschaftlichen Bildung an den Tag gelegt hat, daß derselbe als wirklicher Rabbiner sogleich definitiv bestätigt werden kann.“55 Aufgrund dieser Entscheidung wurde Jonas Sänger zunächst lediglich für ein Jahr die Verwesung des Rabbinats Buttenwiesen übertragen, wodurch ihm zugleich die Niederlassung sowie die beantragte Heiratserlaubnis verweigert wurden. Obwohl die Regierung des Oberdonaukreises Jonas Sänger explizit unterstellt hatte, noch nicht über eine gemäß § 27 des Judenedikts erforderliche ausreichende „wissenschaftliche Bildung“ zu verfügen, zeigt sich, 51 Vgl. u. a.: StAA Regierung, Kammer des Innern 20063, Bericht des Herrschaftsgerichts Illereichen an die Regierung des Oberdonaukreises vom 5. 7. 1821. 52 Vgl. u. a.: StAA Herrschaft Fellheim 26, Protokoll des Patrimonialgerichts Fellheim vom 15. 11. 1813. 53 Herbert Immenkötter: Die israelitische Kultusgemeinde in Hainsfarth (Landkreis Donau-Ries) im 19. und 20. Jahrhundert, Augsburg 2002 (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 30), S. 9, 18. 54 StAA BA Wertingen 420, Protokoll des Landgerichts Wertingen vom 16. 11. 1829. 55 StAA BA Wertingen 420, Weisung der Regierung des Oberdonaukreises an das Landgericht Wertingen vom 7. 8. 1831.

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dass die entscheidende Behörde im Hinblick auf die im Edikt geforderte „wissenschaftliche Bildung“ selbst nur äußerst ungenaue Vorstellungen besaß, „da hinsichtl. der für Rabbiners Stellen erforderlichen Vorbildung […] in den verschiedenen Kreisen ganz verschiedene Observanzen bestehen, u. daher eine bestimmte allerh. festgesetzte Norm höchst wünschenswerth ist, indem die in dem Juden Edikte v. J. 1813 § 27 ausgesprochene Bestimmung […] eine sehr vage Auslegung der wissenschaftlichen Bildung im engern oder weitern Sinne zuläßt.“56 Das von der Regierung des Oberdonaukreises um Hilfe gebetene Staatsministerium des Innern leistete in der Beurteilung des Falls von Jonas Sänger keine Unterstützung. Es überließ vielmehr die Entscheidung, ob Sänger trotz fehlender lateinischer und griechischer Sprachkenntnisse sowie mangelnder gymnasialer und universitärer Bildung endgültig als Rabbiner für Buttenwiesen anzustellen sei oder nicht, vollständig dem Ermessensspielraum der Regierung des Oberdonaukreises, die daraufhin zu dem oben skizzierten Ergebnis gelangte.57 Dieses erstaunt umso mehr, als sich die Regierung des Oberdonaukreises erst kurz vor der von Sänger abgelegten Rabbinerprüfung im Jahr 1830 entschlossen hatte, Latein und Griechisch mit in den Prüfungskanon aufzunehmen und Jonas Sänger nachträglich Dispens von der Prüfung erteilt hatte, da er während seiner Ausbildung keinen Unterricht in diesen Sprachen genossen hatte.58 Dass die Regierung des Oberdonaukreises die fehlenden Latein- und Griechischkenntnisse schließlich als ein ausschlaggebendes Argument gegen eine feste Anstellung Sängers gebrauchte, verwundert außerdem, weil nach Aussage des ebenfalls 1830 in Augsburg geprüften Gabriel Leo Neuburger die Kandidaten über die Erweiterung des Prüfungskanons im Vorfeld nicht rechtzeitig informiert worden waren.59 Die gleichfalls von der Regierung des Oberdonaukreises gegen eine zeitnahe Anstellung als Rabbiner angeführte mangelnde schulische und universitäre Bildung von Jonas Sänger hätte ebenfalls keine besondere Ausnahme von der bisherigen Bewilligungspraxis bedeutet, denn nach 1813 wurden im Oberdonaukreis immer wieder Rabbinerkandidaten ohne gymnasiale und universitäre Ausbildung direkt nach der Prüfung als definitive Rabbiner zugelassen.60 Die zunehmende staatliche Durchdringung innergemeindlicher Belange der jüdischen Kultusgemeinden und der damit prinzipiell mögliche Ermes56

StAA Regierung, Kammer des Innern 11870, Bericht der Regierung des Oberdonaukreises an das Staatsministerium des Innern vom 3. 1. 1831. 57 StAA Regierung, Kammer des Innern 11870, Regierungsentschließung vom 20. 2. 1831. 58 StAA Regierung, Kammer des Innern 11827, Antrag des Jonas Sänger an die Regierung des Oberdonaukreises vom 29. 12. 1830. 59 StAA Regierung, Kammer des Innern 11827, Beschwerde des Gabriel Leo Neuburger an den König von Bayern vom 24. 1. 1831. 60 Zuletzt 1828 den Rabbiner Isaak Hochheimer in Ichenhausen. Vgl. dazu: Michael Brocke/Julius Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781– 1871, Bd. 1: AACH bis Juspa, München 2004, S. 451–452.

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sensspielraum in der Entscheidungsfindung werden anhand des geschilderten Verfahrens deutlich greifbar. Die jüdische Kultusgemeinde Buttenwiesen hatte sich aus mehreren Gründen einstimmig für Jonas Sänger als Rabbiner ausgesprochen: Zum einen hielten ihn die Gemeindemitglieder für geeignet, dieses Amt zu bekleiden, sie vertrauten dem in Buttenwiesen geborenen Kandidaten und seinen Kenntnissen und zum anderen wäre durch seine Heirat mit einer noch ledigen Tochter des letzten amtierenden Rabbiners „auch für diese Familie ohne fernere Belästigung der Gemeinde gesorgt“61 gewesen. Obwohl sich die Auslegung der Definition der im bayerischen Judenedikt verlangten „wissenschaftlichen Bildung“ für Rabbiner als äußerst dehnbar erwiesen hatte und die Regierung des Oberdonaukreises den entsprechenden Ermessensspielraum offiziell zugestanden bekommen hatte, entschied sie sich zunächst dennoch gegen eine endgültige Anstellung von Jonas Sänger. Sie führte eine einjährige Probezeit ein, während der sich Sänger als Rabbiner im Sinne des Edikts bewähren musste. Angesichts der geschilderten Rechtslage wäre es durchaus möglich gewesen, dass andere Beamte Jonas Sänger sofort als definitiven Rabbiner bestätigt hätten. Für die Rabbinerkandidaten, die zu dieser Zeit ihre Prüfungen ablegten, zog diese Praxis der Regierung des Oberdonaukreises schwerwiegende soziale Probleme nach sich, da sie aufgrund provisorischer oder ganz ausbleibender Anstellungen nicht in der Lage waren, sich niederzulassen und sich ohne die Unterstützung von Verwandten selbst zu ernähren. Hinzu kommt, dass die jüdischen Kultusgemeinden wegen ihres Status als Privatkirchengesellschaften im Gegensatz zu den christlichen Kirchen auf beinahe keinerlei staatliche Zuschüsse oder Beihilfen hoffen konnten. Ihre Rabbiner besoldeten sie ausschließlich aus eigenen finanziellen Mitteln. Dennoch nahm der bayerische Staat mit Hilfe des Judenedikts Einfluss auf so grundsätzliche Entscheidungen wie die Einsetzung der Rabbiner und überließ den jüdischen Kultusgemeinden lediglich ein Vorschlagsrecht.62 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie sich die im bayerischen Judenedikt verankerten Verordnungen hinsichtlich der Ausbildung sowie der Einsetzung der Rabbiner in der Praxis bemerkbar machten. Im Oberdonaukreis wurden zwischen 1820 und 1831 von den insgesamt acht Rabbinaten mit Ausnahme von Altenstadt sieben neu besetzt.63 Damit war die Riege der Rabbiner beinahe verschwunden, die vor 1813 noch juristi61 StAA BA Wertingen 420, Beschwerden der jüdischen Kultusgemeinde Buttenwiesen vom 30. 12. 1830 und 21. 12. 1831. 62 Vgl. dazu auch: Falk Wiesemann: Rabbiner und jüdische Lehrer in Bayern während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Staat – Reform – Orthodoxie, in: Manfred Treml u. a. (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17), S. 277–286, bes. S. 277. 63 Kriegshaber (1820), Binswangen (1824), Fischach (1826), Hürben (1828), Ichenhausen (1828), Fellheim (1830), Buttenwiesen (1831). Alle Daten nach: Brocke/Carlebach 2004 (wie Anm. 60), S. 392, 399, 565, 776, 801, 808.

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sche Kompetenzen besessen hatten, denn das bayerische Judenedikt beschränkte, wie bereits erwähnt, die Befugnisse der Rabbiner ausschließlich auf religiöse Verrichtungen. Die nunmehr neue Generation von Rabbinern war im Zuge der Modernisierungsbestrebungen des bayerischen Staates auf ihre Loyalität hin überprüft und auf die Gesetze des Königreichs Bayern vereidigt worden. Sie und nicht die Kultusvorsteher fungierten gegenüber den Behörden in den meisten Belangen als offizielle Repräsentanten und Ansprechpartner. Mittels zahlreicher Anfragen und Aufforderungen zur Abgabe von Gutachten wurden die Rabbiner von Seiten des Staates immer wieder in die Pflicht genommen. Im Gegenzug lässt sich nach der Amtseinführung mancher Rabbiner beobachten, dass diese – nicht zuletzt wegen der im Edikt verfügten Vorgaben – zum Teil bereits kurz nach ihrer Bestätigung die Behörden in die Entscheidungsfindung innergemeindlicher Belange miteinbezogen. Besonders in Konfliktfällen zwischen den Rabbinern und den Gemeindemitgliedern und/oder den Kultusvorstehern wandten sich mehrere Rabbiner und zunehmend auch Kultusvorsteher an die entsprechenden Dienststellen. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Unstimmigkeiten die Sitzordnung in der Synagoge,64 private Hausandachten65 oder bauliche Veränderungen in der Synagoge betrafen.66 Waren die entsprechenden Behörden erst einmal involviert, dann lag auch die endgültige Entscheidungsgewalt in derartigen Fragen bei ihnen und den jüdischen Kultusgemeinden blieb kaum eine andere Wahl, als sich den Bestimmungen zu fügen. Besonders nachhaltig zum Tragen kam diese Konstellation im Oberdonaukreis im Zusammenhang mit der auch innerhalb des Judentums geführten Reformdiskussion um die Gestaltung des jüdischen Gottesdienstes. Zwar sind aufgrund fehlender Quellen, wie Falk Wiesemann bereits 1992 feststellte, die religiöse Praxis sowie die innerhalb der jüdischen Kultusgemeinden geführten Auseinandersetzungen um religiöse Neuerungen auf dem Land nur sehr schwer fassbar,67 dennoch erhält man aufgrund der von zwei Rabbinern aus dem Oberdonaukreis zu Beginn der 1830er Jahre ausgelösten Debatte um die Versteigerung der Synagogenehren während des Gottesdienstes ein aufschlussreiches Schlaglicht auf die Situation dieser Zeit.

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StAA Regierung, Kammer des Innern 11925a, Beschwerde des Jonas Sänger an die Regierung von Schwaben und Neuburg vom 15. 9. 1857. 65 Vgl. StAA Regierung, Kammer des Innern 11852, sowie StAA BA Krumbach 146, passim. 66 Unter anderem: StAA LGäO Illertissen 1542, Antrag des Fellheimer Rabbiners Seligsberg an die Regierung des Oberdonaukreises vom 1. 6. 1837; StAA Regierung 11914, Beschwerde der Fellheimer Kultusvorsteher J. und M. Bacharach an den bayerischen König vom 22. 2. 1839. 67 Falk Wiesemann: Zum Religionswesen der Landjuden in Bayern im 19. Jahrhundert, in: Landesarchiv Vorarlberg (Hg.): Landjudentum im Süddeutschen- und Bodenseeraum, Dornbirn 1992 (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs 11), S. 114–123, hier S. 114.

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Der traditionelle aschkenasische Gottesdienst war noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts häufig von lautem Rufen, Umhergehen in der Synagoge, von Unterhaltungen und Streitereien zwischen den Gottesdienstbesuchern sowie der Durchführung profaner Angelegenheiten geprägt. In weiten Kreisen des Judentums wurde diese Form des Gottesdienstes zunehmend als reformbedürftig empfunden und zahlreiche jüdische Kultusgemeinden führten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Synagogenordnungen ein, um dem Gottesdienst mehr Würde und Feierlichkeit zu verleihen.68 Auch im Oberdonaukreis ist diese allgemeine Entwicklung greifbar und zu Beginn der 1830er Jahre können in allen acht jüdischen Kultusgemeinden, die von einem Rabbiner betreut wurden, selbständige Synagogenordnungen nachgewiesen werden. Im Rahmen dieser Synagogenordnungen wurde innerhalb jeder jüdischen Kultusgemeinde auch die von zahlreichen jüdischen Zeitgenossen als besonders rückständig erachtete Versteigerung der Synagogenehren geregelt, die traditionell während des Gottesdienstes vonstatten ging und oftmals für besondere Unruhe sorgte. Während die Synagogenordnung von Fellheim die Versteigerung der Synagogenehren in der Synagoge gänzlich verbot,69 untersagte die Buttenwiesener Synagogenordnung in der Synagoge dagegen lediglich „das Geldeinfordern von denen die eine Mizva gekauft […] haben“.70 Nachdem der Rabbiner Aron Guggenheimer aus Kriegshaber gegen den Willen seiner Kultusvorstände 1832 bei der Regierung des Oberdonaukreises ein Verbot der Versteigerung der Synagogenehren während des Gottesdienstes erwirkt hatte, folgte 1835 das gleiche Gesuch des Fellheimer Rabbiners Dr. Marx Hayum Seligsberg.71 Vermutlich versuchte Seligsberg damit seinem bereits 1831 in der Synagogenordnung ausgesprochenen Verbot mittels der Autorität der Behörden besonderen Nachdruck zu verleihen. Seligsberg hatte sich nämlich immer wieder für Reformen des jüdischen Gottesdienstes im Oberdonaukreis eingesetzt, der, wie er sich ausdrückte, noch von „viele[n] Mängel[n] und Gebreche[n]“72 gekennzeichnet sei, denen er mit Hilfe der Behörden begegnen wollte, „damit auch die Israeliten mit dem Zeitgeiste fortschreiten und durch treffliche, von einer königl. Regierung unterstütze Anordnungen der Rabbiner dem erwünschten Ziele immer näher gelangen“.73 68 Michael A. Meyer: Jüdische Gemeinden im Übergang, in: Ders. u. a. (Hg.): Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 2000, S. 96–134, hier S. 127. 69 StAA Regierung, Kammer des Innern 20064, Synagogenordnung der jüdischen Kultusgemeinde Fellheim aus dem Jahr 1831. 70 StAA Regierung, Kammer des Innern 20064, Synagogenordnung der jüdischen Kultusgemeinde Buttenwiesen aus dem Jahr 1832. 71 StAA BA Krumbach 1338, Weisung der Regierung des Oberdonaukreises an das Landgericht Göggingen vom 15. 4. 1835. 72 StAA Regierung, Kammer des Innern 11925, Antrag des Fellheimer Rabbiners Seligsberg an die Regierung des Oberdonaukreises vom 4. 11. 1835. 73 StAA Regierung, Kammer des Innern 11925, Antrag des Fellheimer Rabbiners Seligsberg an die Regierung des Oberdonaukreises vom 2. 4. 1832.

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Gemäß seinem Antrag entschied die Regierung des Oberdonaukreises am 15. April 183574 „in Anerkennung der vielfachen Schädlichkeit dieses Unfugs [gemeint ist die Versteigerung]“ ein Verbot der Versteigerung der Synagogenehren während des Gottesdienstes, da „sie eine unwesentliche, dem GottesDienste ganz fremdartige, u. dabei höchst anstößige Handlung“ darstellte, deren Abschaffung nach Ermessen der Behörde „im Interesse der fortschreitenden Verbesserung des isr. Kultus“ lag.75 Anfang Juni 1835 wurde dieses Verbot von der Regierung des Oberdonaukreises auf alle jüdischen Kultusgemeinden ausgedehnt.76 Das Versteigerungsverbot, dessen Umsetzung die Rabbiner vor Ort gewährleisteten, rief bei vielen Mitgliedern mehrerer jüdischer Kultusgemeinden des Oberdonaukreises deutlichen Widerstand hervor, die Hürbener Kultusvorsteher argumentierten, sie glaubten nicht, „daß es […] der weltlichen Macht gestattet sey, in das Innere unserer Kirche einzudringen und hier Anordnungen zu treffen, namentlich wenn solche dahin zielen, einen Theil unseres Kultus, der schon über 2000 Jahre zählt, zu unterdrücken“.77 Neben dem Verlust der Tradition der Vorväter fürchteten die jüdischen Kultusgemeinden durch die Entscheidung der Regierung des Oberdonaukreises außerdem den Wegfall der Einnahmen, welche die Versteigerung der Synagogenehren meist zugunsten der örtlichen jüdischen Armenkassen einbrachte.78 Die nachhaltigen Proteste der Kultusgemeindemitglieder zeigten schließlich Wirkung und die Regierung des Oberdonaukreises regelte die Modalitäten der Versteigerung der Synagogenehren neu. Abgesehen von der nie in Frage stehenden Versteigerung außerhalb der Synagoge erlaubte die Regierung zusätzlich wieder die Durchführung vor Beginn des Gottesdienstes. Die Verrichtung während des Gottesdienstes blieb jedoch weiterhin verboten.79 Demnach vollzog sich eine Reform nicht aufgrund einer innerhalb des Judentums geführten Diskussion um die Reformbedürftigkeit dieser Institution, vielmehr stießen zwei von der Regierung des Oberdonaukreises eingesetzte und geprüfte Rabbiner gegen den Willen zahlreicher Mitglieder ihrer eigenen Kultusgemeinden eine entsprechende Reform an, die auch den Vorstellungen der bayerischen Behörden von einem verbesserten jüdischen Ritus entsprach. Umgesetzt werden konnten diese Vorschläge aber nur mit Hilfe der Re74

StAA BA Krumbach 1338, Verordnung der Regierung des Oberdonaukreises vom 15. 4. 1835. 75 StAA Kammer des Innern 11925, Bericht der Regierung des Oberdonaukreises an das Staatsministerium des Innern vom 16. 3. 1836. 76 StAA BA Krumbach 1338, Verordnung der Regierung des Oberdonaukreises vom 9. 6. 1835. 77 StAA BA Krumbach 1338, Beschwerde der jüdischen Kultusgemeinde Hürben vom 8. 10. 1835. 78 StAA Regierung, Kammer des Innern 11925, Gemeinsame Beschwerde der jüdischen Kultusgemeinden Binswangen und Buttenwiesen vom 31. 7. 1835. 79 StAA Kammer des Innern 11925, Bericht der Regierung des Oberdonaukreises an das Staatsministerium des Innern vom 16. 3. 1836.

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gierung des Oberdonaukreises, die die neue Praxis der Versteigerung der Synagogenehren sämtlichen jüdischen Kultusgemeinden im Oberdonaukreis aufoktroyierte. Die Einwände seitens der jüdischen Kultusvorsteher, wonach die Behörden keine Kompetenzen für derart einschneidende Einmischungen in den jüdischen Ritus innehätten, wurden zunächst ignoriert, und erst vehemente Proteste der Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinden führten zu einer teilweisen Modifikation. Dass sich die Auseinandersetzungen um die Versteigerung der Synagogenehren in einigen Fällen auch auf das Klima zwischen den Kultusvorstehern und ihren Rabbinern niedergeschlagen hatte, lässt die 1836 einberufene Kreisversammlung vermuten. An den im ganzen Königreich stattfindenden Beratungen über die jüdischen Kultusverhältnisse nahmen in Augsburg unter Leitung der Regierung des Oberdonaukreises alle acht Rabbiner, sämtliche elf Religionslehrer, drei deutsche Lehrer sowie elf Gemeindevertreter teil. Wie die Regierungsassessoren später bedauerten, sei besonders unter den „aufgeklärteren Teilnehmern“ der Versammlung eine „gewiße Zurückhaltung nicht zu mißkennen [gewesen], welche sie öfter abhielt, ihre Meinung frei und unumwunden auszusprechen [und] daß sie aber größtentheils aus Scheu vor den weltlichen Vertretern und aus Furcht vor den Gemeinden in ihren Bezügen verkürzt zu werden, ihre Ansichten unumwunden auszusprechen sich nicht getrauten“.80 Die während der Kreisversammlung beschlossene und 1837 von der Regierung für den gesamten Oberdonaukreis genehmigte einheitliche Synagogenordnung, für deren Einhaltung die Rabbiner Sorge zu tragen hatten, führte in der Folgezeit in mehreren jüdischen Kultusgemeinden zu massiven Auseinandersetzungen. So boykottierten beispielsweise zahlreiche Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinden in Fischach und Fellheim den in der Synagogenordnung intendierten ruhigen und würdevollen Gottesdienst, indem sie weiterhin alle Gebete laut mitbeteten, absichtlich lautstark husteten, in der Synagoge umherliefen oder während der Predigten die Synagoge ganz verließen. Allein in der Zeit zwischen 1838 und 1840 führte der Fellheimer Rabbiner Seligsberg gegen elf Gemeindemitglieder – darunter auch die Kultusvorsteher – vor dem Patrimonialgericht Fellheim Beschwerden wegen Nichtbeachtung der Synagogenordnung.81 Auch in Fischach scheiterte Rabbiner Landauer, auf Grundlage der Synagogenordnung den Gottesdienst zu reformieren, so dass ihn die ständigen Auseinandersetzungen schließlich 1849 veranlassten, der Kultusgemeinde den Rücken zu kehren.82 80 StAA Regierung, Kammer des Innern 20064, Kommissionsbericht der Regierungsassessoren Ahorner und Haenlein an die Regierung des Oberdonaukreises vom 4. 4. 1836. 81 StAA LgäO Illertissen 1544, Beschluss des Patrimonialgerichts Fellheim vom 24. 1. 1840. 82 Rolf Kießling: Religiöses Leben in den Judengemeinden, in: Walter Pötzl (Hg.): Kirchengeschichte und Volksfrömmigkeit, Augsburg 1994 (Der Landkreis Augsburg 5), S. 327–343, hier S. 339.

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Zweifellos verursachte also die von der bayerischen Staats- und Kreisregierung verfolgte Politik zur Verbesserung des jüdischen Ritus im Oberdonaukreis spätestens seit dem Jahr 1835 innerhalb mehrerer jüdischer Kultusgemeinden Spannungen und Konflikte. Die von mehreren geprüften Rabbinern unterstützten Reformbestrebungen des bayerischen Staates spiegelten in den meisten jüdischen Kultusgemeinden nicht den Willen der Mehrheit der Gemeindemitglieder wider, weil sie, wie im Fall der Versteigerung der Synagogenehren, ein Festhalten an den Traditionen ihrer Vorväter bevorzugten. Bei der Durchsetzung ihrer Ziele fungierten Rabbiner wie Seligsberg daher nicht nur als eine von zwei jüdischen Streitparteien, sondern traten innerhalb ihrer jüdischen Kultusgemeinden gewissermaßen auch als Vertreter des bayerischen Staates bzw. dessen Reformvorstellungen auf.

IV. Die Wirkungen der verschiedenen Paragraphen des bayerischen Judenedikts auf die Landjudengemeinden in Schwaben lassen ein durchaus differenziertes Bild entstehen. Die von der bayerischen Staatsregierung mit dem Matrikelparagraphen angestrebte Stabilisierung bzw. Reduzierung der Zahl jüdischer Bewohner stellte sich in den Landjudengemeinden letztlich erst – dann allerdings umso nachhaltiger – durch die zunehmende Auswanderung ein. Das Judenedikt hat diese Entwicklung jedoch sicher nicht gehemmt, sondern, wie beispielhaft gezeigt werden konnte, eher befördert. Im Hinblick auf die jüdische Berufsstruktur konnten hingegen während der Geltungsphase des Edikts sowie danach kaum nachhaltige Veränderungen festgestellt werden. In vielen Fällen dienten sowohl das Betreiben der Landwirtschaft als auch das Ausüben eines Handwerks als letzte Möglichkeit, eine für die Niederlassung in Bayern unabdingbare Matrikelstelle zu erlangen. Nach der erfolgten Ansässigmachung wurden die neuen Berufszweige zum Teil jedoch gar nicht mehr ausgeübt bzw. mit Handelstätigkeiten verbunden. Die obrigkeitlichen Eingriffe in die innergemeindlichen Belange der jüdischen Kultusgemeinden lassen sich wiederum, beispielsweise in Bezug auf den jüdischen Ritus, erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung nachweisen, führten in mehreren Fällen jedoch nicht nur mit den Behörden, sondern auch innerhalb einiger jüdischer Kultusgemeinden zu Spannungen und Konflikten.

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GAB ES EINEN PRAGMATISCHEN WEG ZUR EMANZIPATION? Die jüdischen Gemeinden in Schwaben an der Schwelle zur Moderne Von Rolf Kießling

Als am 10. Juni 1813 das „Edikt, die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern betreffend“ veröffentlicht wurde,1 schien der lange diskutierte Wunsch nach „Emanzipation“ auch in Bayern erfolgreich: Das neue Verfassungsgesetz löste die alten, vielfältigen Rechtsverhältnisse ab, die jüdische Gemeinden wurden in das neue Königreich eingegliedert. Das jahrelange Ringen hatte ein Ende, die Forderung, den Juden „das volle Bürgerrecht und die gänzliche Gleichstellung mit den Christen“ zu gewähren, wie sie etwa der Würzburger Theologieprofessor Franz Oberthür im Namen der Vorsteher sämtlicher Judenschaften in Franken in einer Bittschrift an den Kürfürsten formuliert hatte,2 schien erfüllt. Das moderne Bayern Montgelas’ war auf die Linie eingeschwenkt, die Württemberg schon 1808, Baden 1809 und Preußen 1812 eingeschlagen hatten.3 Demgemäß war die Beurteilung des Edikts lange Zeit von positiven Tönen bestimmt. Stefan Schwarz betonte in seiner Monographie zum 150jährigen Gedenken an das Edikt: Dieses Gesetz war die erste Errungenschaft im Kampf um die Emanzipation der Juden in Bayern, zwar noch unvollkommen und durchdrungen von mittelalterlichem Geist, doch führte es die Juden aus der Erniedrigung früherer Zeiten und erhob sie zu Staatsbürgern. Eine Tatsache von außerordentlicher kulturpolitischer Bedeutung in der bayerischen und jüdischen Geschichte.4

Eberhard Weis formulierte in der 1. Auflage des „Handbuch[es] der bayerischen Geschichte“ 1974: „Den Israeliten verlieh das Judenedikt von 1813 Glaubensfreiheit und durch Erteilung des Indigenats wenigstens eine Verbes1 Der ursprüngliche Druckort: Königlich Bayerisches Regierungsblatt 1813, Stück 39, S. 921 ff.; Abdruck zusammen mit den verschiedenen Vorfassungen des Jahres 1813 bei Stefan Schwarz: Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten, München/Wien 1963, S. 341–348. 2 Manfred Treml: Von der „Judenmission“ zur „Bürgerlichen Verbesserung“. Zur Vorgeschichte und Frühphase der Judenemanzipation in Bayern, in: Ders./Josef Kirmeier (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17/88), S. 247–265, hier S. 253. 3 Überblick über die Gesetzgebung der deutschen Staaten bei Shulamit Volkow: Die Juden in Deutschland 1780–1918, München 1994 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 16), S. 17–20. 4 Schwarz 1963 (wie Anm. 1), S. 13.

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serung ihrer Rechtsstellung“5. Im Zweiten Band seiner großen Biographie Montgelas’ von 2005 liest es sich schon wesentlich differenzierter: Das Edikt „nahm mehrere der positiven und für die Juden günstigen Bestimmungen des Gutachtens der Polizeisektion nicht auf […]. Auf der anderen Seite enthielt das Edikt zweifellos auch Fortschritte […]“.6 Manfred Treml hatte demgegenüber schon vorher die im Vergleich mit den anderen deutschen Staaten starken Einschränkungen betont; sein Resümee von 1988 lautet: „Das bayerische Edikt […] war – vor allem durch den anstößigen Matrikelzwang – in einem Maße restriktiv, daß es dem Geist des Absolutismus näher stand als dem des Konstitutionalismus und etatistischem Nützlichkeitsdenken stärker verpflichtet war als dem Toleranzgedanken“.7 Doch selbst darin schwingt noch die Grundthese mit, dass mit dem Edikt ein Neuanfang gemacht wurde – eingepasst in die große Neuordnung des Staates. Der Mischungsgrad der Bewertungen resultiert zu einem hohen Maße aus den unterschiedlichen Ansätzen der Argumentation: Auf der einen Seite standen offensichtlich die Vorstellungen aufgeklärter Intellektueller, auf der anderen die restriktiven Abwehrbemühungen und die damit verbundenen antijüdischen Vorurteile. Das Ringen um die Endfassung in den Jahren zwischen 1799 und 1813 ist in der Forschung einigermaßen aufgearbeitet,8 kaum jedoch die Frage, ob und welche Rolle dabei die jeweiligen Regionen jüdischer Existenz im neuen Bayern spielten: War es nur ein bürokratischer Vorgang an der Spitze des Systems Montgelas in München, bei dem lediglich die Verhältnisse in der Residenzstadt selbst Einfluss gewinnen konnten? Bekanntlich war Bayern spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ein „Staat ohne Juden“, und erst im Laufe des 18. Jahrhunderts waren wieder Familien in München ansässig geworden.9 Inwiefern war die Gesetzgebung der Zeit nach 1800 auch an die Bedingungen vor Ort gebunden, in denen tatsächlich Juden lebten? Diesem Zusammenhang ist am Beispiel Schwabens etwas genauer nachzugehen. Am Anfang steht (I.) eine knappe Skizzierung des Entscheidungsprozesses für das Edikt, der die grundlegenden Mechanismen festhalten soll, dann werden (II.) die Entwicklungstendenzen in den schwäbischen Territorien umrissen, um (III.) ein Erklärungsmodell vorzuschlagen, das das Ergebnis in einem

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Eberhard Weis: Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799–1825), in: Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV, 1: Das neue Bayern, München 1974, S. 51. 6 Eberhard Weis: Montgelas. Zweiter Band: Der Architekt des modernen Staates 1799– 1838, München 2005, S. 598–608, hier S. 603 f. 7 Treml 1988 (wie Anm. 2), S. 255 f. 8 Schwarz 1963 (wie Anm. 1), S. 93–180. 9 Dazu im Überblick Josef Kirmaier: Aufnahme, Verfolgung und Vertreibung. Zur Judenpolitik bayerischer Herzöge im Mittelalter, in: Treml 1988 (wie Anm. 2), S. 95–104; Manfred Peter Heimers, Aufenthaltsverbot und eingeschränkte Zulassung (1442–1799), in: Richard Bauer/Michael Brenner (Hg.): Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2006, S. 39–57.

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größeren Zusammenhang stellt, ehe abschließend (IV.) anhand zweier Perspektiven Chancen für eine Weiterentwicklung angedeutet werden.

I. Die Grundpositionen in der Reformära Bayerns, die seit 1799 mit dem Regierungsantritt Max IV. Joseph und seines leitenden Ministers Graf Montgelas begann, lassen sich zunächst in den beiden tragenden Figuren fassen: Schon das erste Reskript Max’ IV. vom 26. Januar 1801 basiert auf der „Überzeugung“ des Kurfürsten, „daß die Juden nach ihrer dermaligen Verfassung dem Staate offenbar schädlich seien“. Sodann heißt es: Es ist derhalben bei Sr. Churfürstl. Durchlaucht der landesväterliche Wunsch rege geworden, daß dieser unglücklichen Menschenklasse, welche in beträchtlicher Anzahl in den Churfürstlichen Erbstaaten vorhanden sind, und ohne ungerecht und grausam zu sein, aus demselben nicht mehr verbannt werden kann, mehrere Nahrungsquellen ohne Nachteil der Churfürstlichen christlichen Unterthanen eröffnet, und überhaupt eine solche Einrichtung getroffen werden möchte, durch welche sie allmählich zu nützlichen Staatsbürgern erzogen würden und die Würdigkeit dazu erlangen könnten.10

Noch ist damals konkret neben der Hauptstadt nur von den wenigen älteren Gemeinden in den Landesteilen Neuburg-Sulzbach und der Oberpfalz die Rede, deren „Erbe“ neu zu bewerten sei. Eine sehr ähnliche Haltung spiegelt sich in dem ersten Gutachten, das der Generallandesdirektion – der Zentralinstanz, die über den Provinzen amtierte – vorgelegt wurde; verfasst wurde sie von Johann Christoph Frh. von Aretin, dem bekannten aufgeklärten Spitzenbeamten, Generallandesdirektionsrat und späteren Direktor der Hofbibliothek. Auch bei ihm dominierte die Polarität von „schädlich“ und „nützlich“, wobei er freilich eine historische Entwicklung in das Erklärungsmodell einbrachte: „Die Judengesetzgebung trage die Hauptschuld, wenn die Israeliten die Christen […] als ihre Unterdrücker verabscheuten. Sie könnten einem Staat, der immer nur Rechte gegen sie üben will und die Erfüllung von Pflichten von ihnen verlange, keine Anhänglichkeit zeigen. […] Die Quellen der Schädlichkeit der gegenwärtigen Judenverfassung erblickte Aretin einmal in den bisherigen mangelhaften Gesetzen, dann in dem starren Isolationismus und in den staatszweckwidrigen Sitten und Gebräuchen der Israeliten“ − sie sollten folglich beseitigt werden, angefangen vom Festtagszyklus bis zu den Zeremonialgesetzen.11 10

Abgedruckt bei Schwarz 1963 (wie Anm. 1), S. 98 f. Schwarz 1963 (wie Anm. 1), S. 102–107, Zitat S. 103 f. – In diesem Zusammenhang entstand auch Aretins „Geschichte der Juden in Baiern“, Landshut 1803: „Bey Erstattung meines Gutachtens an die Churf. General-Landesdirektion, über die bürgerliche Verbesserung der Juden in den obern Churfürstlichen Staaten, äusserten mehrere achtungswürdige Männer den Wunsch: daß ich die in jenem Vortrag enthaltene Geschichte der Juden in Baiern durch den Druck bekannt machen möchte“, heißt es in der Vorrede. 11

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Montgelas selbst hatte in den 1780er Jahren „viel Sympathie für die Israeliten und Mitleid mit ihnen wegen ihrer Geschichte voller Verfolgungen und Tragik“ gehegt; die Verfolgungen, so seine Einschätzung, basierten auf Vorurteilen und Neid gegenüber den Juden, ihre Instrumentalisierung als Händler und Geldverleiher sei für die Fürsten unverzichtbar gewesen, um die Defizite ihrer eigenen Infrastrukturpolitik zu kompensieren. „Bei Regierungsantritt des Kurfürsten habe sich der Geist der Toleranz der neuen Regierung auch auf dieses unglückliche Volk ausgedehnt, dem die Erniedrigung und Unterdrückung einen Charakter verliehen hätten, der mit dem öffentlichen Wohl unvereinbar sei und der um so schwerer zu korrigieren sei, ‚als die einzigen beruflichen Tätigkeiten, die dem Volk durch den Staat erlaubt waren, seinen Charakter nachteilig veränderten‘“, schrieb Montgelas drei Jahrzehnte später in einem Bericht an den König.12 Alle drei Akteure standen somit in der Tradition des Aufklärungsdiskurses. Einige Stichworte mögen für den damaligen Änderungswillen stehen: die literarische Ausformung eines Gotthold Ephraim Lessing mit dem „Nathan“ (1779), die politische mit der Schrift des preußischen Staatsrats Christian Wilhelm Dohm „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781) und die praktische Umsetzung mit den Toleranzpatenten Josephs II. von 1781/82, auch wenn deren Wirkungen sehr unterschiedlich einzuschätzen sein mögen. Aus innerjüdischer Sicht wird nach wie vor die „Haskala“ unter Führung Moses Mendelssohns als entscheidender Anstoß gesehen.13 Der staatliche Blickwinkel war allerdings durch das Bestreben bestimmt, den Schritt zur Emanzipation über eine Gesetzgebung zu vollziehen, die ihre Berechtigung aus der Überwindung der Vorurteile gegenüber den Juden ableitete. Die Rezeptionswege des Aufklärungskonzeptes nach Bayern scheinen relativ klar zu sein. Die beiden politischen Führungsfiguren in der neuen Regierung Bayerns konnten die Vorreiterrolle des revolutionären Frankreich bzw. der napoleonischen Ära im nahen Elsaß studieren,14 zudem konnte Max IV. auf Erfahrungen mit den Judengemeinden im eigenen Territorium Pfalz-Zweibrücken zurückgreifen.15 Für Bayern selbst sind die Wege beschrieben worden: Schon früh formulierte der Regensburger Rabbiner Isaak Alexander den Reformwillen in seiner Schrift „Von dem Dasein Gottes, die selbstredende Vernunft“ (1775) oder seinen Lobpreis Josephs II., den er mit Salomon verglich (1782); er zog 1791 mit dem Titel „Auch etwas über der Juden Fähigkeit 12

Weis 2005 (wie Anm. 6), S. 599. Vgl. zusammenfassend Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996. 14 Vgl. dazu den Überblick von Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Welt Europas, Bd. II: Von 1650 bis 1945, Darmstadt 1990, S. 85–109. 15 Vgl. dazu Rochus Scholl: Juden und Judenrecht im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken, Frankfurt am Main u. a. 1996 (Rechtshistorische Reihe 139). 13

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einer bürgerlichen Verbesserung“ gegen die antijüdischen Stereotypen zu Felde − ohne dass er als „Regensburger Mendelssohn“ freilich größere Beachtung gefunden hätte.16 Bekannt ist zudem die Rolle des schon zitierten Würzburger Theologen Franz Oberthür, eines Vertreters der „katholischen Aufklärung“, mit seiner Unterstützung der fränkischen Judenschaft von 1803 – deren Forderungen er freilich „zum Ärger seiner Auftraggeber“ glaubte abschwächen zu müssen.17 Auf jüdischer Seite war es dann der Fürther Gemeindevorsteher Elkan Henle, der sich im gleichen Jahr 1803 im Gefolge Dohms mit Thesen „Über die Verbesserung des Judenthums“ zu Wort meldete.18 Beide schrieben in dem Jahre, in dem über die Säkularisation und Mediatisierung eine grundlegend neue Situation entstanden war: der staatsrechtliche Übergang vieler Herrschaften, in denen erst die Vielzahl der jüdischen Gemeinden an Bayern kam. Was sich allerdings in den Folgejahren abspielte, war eine deutliche Zurücknahme der anfänglich weiter reichenden Impulse. Die Grundsätze, mit denen Johann Nepomuk Graf von Welsberg in seinem Entwurf zum bayerischen Judenedikt die Richtung wies, waren eindeutig restriktiv: Die Juden sind im Hinblick auf ihre derzeitigen Verhältnisse dem Staate schädlich. Es ist also nicht wünschenswert, sehr viele Juden im Staate zu haben. Ihre Zahl darf also nicht vermehrt werden. […] Es klagen die Juden, es klagen die Christen. Beiden soll geholfen werden. Das einzige Mittel aber dazu ist die Verbesserung der Juden. […] Seine Majestät will eine Verbesserung der Juden in der Weise, daß sie allmählich zu nützlichen Staatsbürgern erzogen werden.19

Der Südtiroler Welsperg war erst 1806 mit dem Gewinn Tirols in bayerische Dienste getreten, wurde Generalkommissär in Trient und gehörte seit 1808 dem Geheimen Rat des Königs an – allerdings nur bis 1814, dann wurde er „wegbefördert“.20 Er hatte das Referat zur Vorbereitung dieses Ediktes, auch wenn er keine konkreten Erfahrungen mit jüdischen Gemeinden vorweisen konnte − Montgelas hatte das zuständige Ministerium des Innern umgangen und direkt den Geheimen Rat eingeschaltet. Im Laufe des Jahres 1812 entwickelte Welsperg sein umfangreiches Gutachten, auf dessen Grundlage dann im Laufe des folgenden Jahres die Beschlussfassung des Ediktes erfolgte.21 Aus einem Aktenverzeichnis Welsbergs ergibt sich, dass er zur Vorbereitung bis in die ersten Anfänge der Reformära Bayerns seit 1799 zurückgriff. Genau besehen hatte schon Aretin in seiner Konzeption erhebliche Einschränkungen anvisiert, denn er unterschied zwischen „aufgeklärten“ Juden,

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Treml 1988 (wie Anm. 2), S. 250 f. Ebd., S. 251. 18 Ebd. 19 Schwarz 1963 (wie Anm. 1), S. 163. 20 Zu seiner Person vgl. Weis 2005 (wie Anm. 6), S. 571; als neu ernannter Generalsekretär des Innkreises hatte er keine Zukunft, denn kurz darauf fiel Tirol an Österreich, das ihn nicht übernahm. 21 Zum Vorgang ausführlich Schwarz 1963 (wie Anm. 1), S. 160–180; zur Bewertung vgl. Weis 2005 (wie Anm. 6), S. 604. 17

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die alle bürgerlichen Rechte erhalten sollten, und den übrigen, bei denen die „Erziehung“ zum bürgerlichen Leben führen sollte; „es bliebe der Gesetzgebung überlassen, sie allmählich zur Bürgerrechtsfähigkeit auszubilden“.22 Und so sah er für letztere in seinem Entwurf für ein Reglement von 1802 die Beschränkung der Familien in den bisher bestehenden Judenorten vor, den Zuzug auswärtiger wollte er ganz ausschließen – außer sie waren vermögend oder wollten Fabriken gründen; die wirtschaftlichen Möglichkeiten waren vom Verbot des Hausierhandels und des Güterhandels bestimmt, demgegenüber sollten ihnen Landwirtschaft und nicht zünftige Gewerbe erlaubt werden. Die Führung von Judenmatrikeln sollte eine exakte Überwachung ermöglichen. Lediglich die innere Organisation konnte nach seiner Vorstellung unberührt bleiben. Für die Jugend aber sah er die Teilnahme an den christlichen Schulen vor, und er wollte ihr den Weg in die weiterführenden Schulen und die Universitäten öffnen. Das „Erziehungskonzept“ wurde zum Einfallstor für die Relativierung einer weitreichenden Lösung, und sie drang im Folgenden tatsächlich über verschiedene Kanäle ein. Einer davon war der Rückgriff auf die Verhältnisse in der Residenzstadt – die freilich insofern eine Sonderstellung innehatte, als hier die jüdischen Hoffaktoren dominierten. Ein anderer waren die von der Zentrale angeforderten Auskünfte der Unter- und Mittelbehörden in den Provinzen über den status quo; die daraus abgeleiteten Stellungnahmen liefen im Sommer 1808 ein und gingen vielfach in die gleiche Richtung: „Alle diese Berichte fußen auf der Anschauung, die Juden seien dem Staate schädlich und müssten vor ihrer Gleichstellung mit den übrigen Untertanen des Staates erst entsprechend ‚gebessert‘ werden“.23 Im Fall Schwaben lässt sich das genauer verfolgen: Die Basis bildeten Berichte der Land- und Patrimonialgerichte: die Fuggerherrschaften, die Landgerichte mit ehemals geistlichen Herrschaften wie Dillingen, Roggenburg, Elchingen und Söflingen, die Stadt Ulm und sein ehemaliges Territorium im Landgericht Albeck und Geislingen gaben Fehlanzeigen ab; in ihnen spiegelt sich die Verweigerung der Ansässigmachung während der Frühen Neuzeit.24 Günzburg verwies ohne weitere Angaben auf Ichenhausen, Illertissen reichte 22

Schwarz 1963 (wie Anm. 1), S. 102–107, Zitat S. 104. Ebd., S. 128. 24 Dazu Rolf Kießling: Zwischen Vertreibung und Emanzipation – Judendörfer in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 154–180; Wolfgang Wüst: Die Judenpolitik der geistlichen Territorien Schwabens während der Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 128–153. Für das Gebiet um Ulm wirkte sich seit 1498 die Politik des Herzogtums Württemberg aus: Stefan Lang: Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492–1650), Ostfildern 2008 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 63), passim; Ders.: Judenpolitik des Herzogtums Württemberg in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling/Peter Rauscher/Stefan Rohrbacher/Barbara Staudinger (Hg.): Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007 (Colloquia Augustana 25), S. 121–144. 23

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etwas später lediglich ein Verzeichnis für Fellheim nach; nur Wertingen gab mit einem genaueren Bericht über Buttenwiesen und Binswangen eine wirkliche Stellungnahme ab.25 Sie war im Tenor ganz anders als die zentralen Gutachten: Der Landrichter schilderte detailliert die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage der 362 Juden in Buttenwiesen und der 309 in Binswangen, um gleich zu ergänzen: „so wir überhaupts der Judenschaft das Zeugniß geben können, daß sie ihren Armen nicht unbedeutende Unterstützung leisten“ und zudem „bei den gemeinschaftlichen Abgaben […] die ärmeren wo nicht ganz doch größtentheils erleichert werden“. Die Orientierung auf den Handel ergebe sich aus der traditionellen Lebensweise, die nichts anderes zulasse. Deutlich zielt der Landrichter auf die Zukunft, wenn er sich eine Verbesserung der Lage durch die Aufhebung von Beschränkungen erhofft: In der hieher gehörigen Gemeinde Buttenwießen sind mehrere Beyspiehle aufzuführen, daß Kristenhäußer von Juden und Judenhäußer von Kristen unbeschränkt erkauft wurden. Von bürgerlichen Gewerben zu Buttenwießen weis man zwar keine besondere Beyspiehle aufzuführen; selbe sind aber ohnehin von Kristen übersetzt; und die Juden haben überhaupts von jeher zur Handelschafft eine Vorliebe gehabt, die sich aber nach und nach verliehren dürfte, wenn sie Hoffnung haben, auf bürgerliche Gewerbe sich in andere Ortschaften ansässig machen zu dürfen. Gleiche Beschaffenheit hat es mit dem Feldbaue, den die Juden ehehin in ihren Wohnorte haben kaufen können, und blos theils aus Mangel hinreichender Kenntnisse in Bebauung des Feldes, theils aus der Ursache unterlassen haben, weil sie überhaupts eine größere Neigung jederzeit zur Handlung hatten.[…] Bey dießem vorliegenden Beyspiehlen sehe ich nicht, daß den Judensöhnen die Ansässigmachungen auf Feldbau oder bürgerl. Gewerbe u. im Falle sie hinreichendes Vermögen und Mannsnahrung auszeigen könnten, beschränkt werden sollten. Manche dürften sich vielleicht auch der Medizin u. andere Wissenschaften widmen.26

Das Gesamtgutachten, das Nepomuk von Raiser, Kanzleidirektor im bayerischen Generalkommissariat des Oberdonaukreises, verfasste, war demgegenüber von einem ganz anderen Tenor bestimmt. Seine Positionen hat schon vor geraumer Zeit Karl Filser unter einem zentralen Zitat zusammengefasst: „… weil es gefährlich wäre, die Kette des groß gewachsenen Sklaven zu lösen“.27 Auch Raiser kam aus der vorderösterreichischen Verwaltung und war nach dem Übergang an Bayern 1806 in staatliche Dienste getreten,28 mußte also die Verhältnisse kennen; und er hatte immerhin statistische Werte vorliegen, auf die er sich stützen konnte: In „15 Orten der königl[ichen] Provinz Schwa25

Staatsarchiv Augsburg, Regierung Akten 3901, fol. 1–42. Staatsarchiv Augsburg, Regierung Akten 3901, fol. 39–42, hier S. 40 f. 27 Karl Filser: „…weil es gefährlich wäre, die Kette des groß gewachsenen Sklaven zu lösen“. Lokalstudie zur Effektivität bayerischer Judenpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Kießling 1995 (wie Anm. 24), S. 249–281, hier S. 249–253. 28 Zu seiner Person Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 27, Leipzig 1888, S. 188–190; Walter Grabert: Johann Nepomuk von Raiser und die Vorgeschichte des Historischen Vereins für Schwaben, in: Pankraz Fried (Hg.): Miscellanea Suevica Augustana, Sigmaringen 1985 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 3), S. 175– 190. 26

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ben“ lebten insgesamt „827 Stammjuden, oder Familienväter, welche den landesherrlichen Schutz genießen, und 3256 Kinder, Ehefrauen, Knechte, Mägde und bey den Familienvätern wohnende Anverwandte. Die ganze Seelenzahl beträgt demnach 4083 Köpfe. […] Sie bilden 13 Communen, welche eigene Parnossen und Vorsteher, die größern aber Sinagogen und Rabiner haben.“29 Doch die Rigorosität seiner Position war unübersehbar: Bei der Bestandsaufnahme der bisherigen Verhältnisse in der Markgrafschaft Burgau und den übrigen Herrschaften, registrierte er auf der einen Seite zwar die bedrückende Existenz der Juden, eine permanente Ausbeutung unter den ehemaligen Herrschaftsträgern und eine religiös bedingte Verachtung und Ablehnung, meinte aber auf der anderen Seite: Aber auch ihre eigene bisherige Verfassung machte sie zur Last des Staats. Herangewachsen ohne den erforderlichen Schulunterricht, ohne phisische, und moralische Bildung, von den Vätern nur in der Kunst des Übervortheilens, und im Wucher unterrichtet, stellten sie sich durch die ängstlich beobachteten Sonderbarkeiten ihres Religionssystems als unbrauchbahre Auswüchse der menschlichen Gesellschaft dar. Unfähig das wesentliche der mosaischen Religion von zufälligen Disciplinarverordnungen, u. von den für die einstigen Bewohner des hebräischen Staats unter ganz andern Verhältnissen des Orients gegebenen Polizeigesetzen zu unterscheiden, irregeleitet durch die von ununterrichteten Religionsdienern vorgetragenen Religionslehren, und durch die talmudische Interpretation derselben, schloßen sie sich von jeder Annäherung mit christlichen Mitbürgern aus, betrachteten sich selbst als Fremdlinge, die als das auserwählte Volk Gottes einst wieder in das gelobte Land zurückgeführt werden würden, u. nur in zeitlicher Sclaverey schmachteten, u. die als bloße tolerierte Fremdlinge keine Pflicht, und keinen Beruf hätten, ihre zeitlichen Wohnorte als Bestandtheile eines Staats, dem sie als Mitbürger angehörten, zu betrachten. Sie kannten daher auch keine Bürgerpflicht, und scheinen oft selbst bestimmt dahin belehrt zu seyn, daß es nicht Unrecht wäre, sich gegen die Bedrückungen der Gojim durch List, Verstellung, und Betrug zu rächen. Ihr ängstlicher Religionswahn, ihre buchstäbliche Gesetzesbeobachtung, und Isolierung qualifizierte sie weder zum Bauren, noch zum Tag- und Handwerker, noch zum Soldaten.30

In 23 Punkten listete er seine Empfehlungen auf, die offensichtlich von restriktiven Vorgaben bestimmt waren. Darunter waren einerseits Aspekte der rechtlichen Gleichstellung: Er forderte, dass alle spezifischen Judenabgaben – mit Ausnahme der grundherrlichen Lasten und der Gewerbegebühren – aufgehoben werden und die Juden der normalen landesherrlichen Besteuerung unterliegen sollten. Die Öffnung der Bildungsinstitutionen und der gewerblichen Berufe fiel unter das Bestreben des Erziehungskonzepts, aber auch das Hausierverbot, die Kontrolle der Handelsverträge und der Zinsnahme. Andererseits mahnte er eine entscheidende Veränderung für die bisher weitgehend unangetastete Autonomie der Gemeinden an und trat für eine Beseitigung der Rabbinatsgerichtsbarkeit ein. Auch hier zeigte sich seine Grundeinstellung sehr deutlich, sah er doch die bisherige Praxis in der Markgrafschaft als Rechtsanmaßung:

29 30

Staatsarchiv Augsburg, Regierung 3901, fol. 43. Staatsarchiv Augsburg, Regierung 3901, fol. 46r–47v.

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Man nahm das Rabbinat gegen die Insassen in Schutz, wenn dieselben unter dem Titel der Ceremonialia eine Art von Schiedsrichterlichen Erkenntniß in Streitgegenständen eines Juden gegen den Juden sich anmaßten, oder Gegenstände der Ehe, und der Scheidung vor das geistliche Forum zogen. Der immer um sich greifende Jude wußte aus diesen Befugnissen bald eine Art von Gerichtsbarkeit zu begründen, er setzte Strafen auf die Appellationsfälle, und behandelte als protegierter Schiedsrichter oft alle Fälle des adelichen Gerichtsamts.31

Demgegenüber plädierte er dafür: Keinem Rabiner steht ferner in Sachen eines Juden gegen einen Juden die geringste Juristiction, auch nicht unter dem Titel als Schiedsrichter zu. Unter Absetzungsstrafe darf er ohne Bewilligung der Centralbehörde keine Bann- oder Schulstrafe aussprechen.32

Schließlich stand auch sein Reformkonzept für den Gottesdienst ganz unter dem Vorzeichen der antireligiösen Aufklärung, denn er sah unter anderem vor: Für die Synagogen wäre mit Abschaffung des unförmlichen Geheuls eine gesittetere Gottesdienstordnung nach Einvernehmung des Gutachtens der Oberrabbinate, und der Centralbehörden einzuführen, die Gebethe u. Gesänge in deutscher Sprache anzuordnen, und insbesondere auch für S[eine] königl[iche] Majestät u. die könig[liche] Familie zu betten. Die Schulsänger, Schulklöpper, Schächter u. alle Kirchen- und Gemeindediener müßen in den königl[ich] baieri[schen] Staaten gebohren seyen, gut deutsch schreiben, und rechnen können, und wenn sie sich mit dem Schulunterricht der Jugend zu befassen haben, selbst an einer deutschen Haupt-Schule den Unterricht erhalten haben, und als fähig befunden worden seyn.33

Organisatorisch plädierte er für eine hierarchische Struktur nach französischem Vorbild: eine Zentralinstruktionsbehörde als oberste Instanz, getragen von den „gelehrtesten und anerkannt rechtschaffensten Rabbinern des Königreichs mit Zugebung anderer aufgeklärter und vermöglicher Juden als Assesoren“, darunter Kreiskonsistorien mit Oberrabbinern als Mittelinstanz und Ortsrabbinern für Gemeinden über 300 jüdischen Einwohnern. Die Rabbiner ihrerseits sollten „wissenschaftlich gebildet“ sein, d. h. in Bayern Philosophie und orientalische Sprachen studiert haben.34 Raisers Stellungnahme lag in ihren Grundsätzen zweifellos auf der gleichen Linie wie das letztlich erlassene Edikt – in manchen Punkten ging es sogar noch weiter –, obwohl ihm aus der untersten Verwaltungsebene zumindest eine ganz andersartige Einschätzung vorlag. Die grundlegenden Intentionen des Ediktes selbst: die Gewährung des Indigenats, aber auch die Festschreibung des status quo in der Matrikelvergabe und der Zwang zur Assimilation, die Aufhebung der korporativen Rechte, die Angleichung der Kultusverhältnisse und die umfassende Kontrolle des Staates über die „Privatkirchengesellschaft“, waren also letztlich Ausfluss ei-

31 32 33 34

Ebd., fol. 44r–45v. Ebd., fol. 54v. Ebd., fol. 54r–55v. Ebd., fol. 53r–54v.

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ner rigiden Politik der Mehrheitsgesellschaft unter der Dominanz der staatlichen Belange – freilich auch geleitet von der damals aktuellen Notwendigkeit einer Vereinheitlichung nach der territorialen Neuordnung. Vieles war allerdings nicht neu, sondern ein Rückgriff auf die in den neu dazu gewonnenen Herrschaften bislang üblichen Normen. Schon Stefan Schwarz kam zu der Einschätzung: „Aretin hat im Grunde die Bestimmungen der alten Judenordnungen in moderne Form gegossen“.35 Zugespitzt ergibt sich daraus die These: Die „Emanzipation“ der Juden, wie sie sich in den bayerischen Reformgesetzen niederschlug, war trotz der Formulierungen, die darauf zurückgriffen, nicht primär ein Produkt des Aufklärungsdiskurses, sondern Endpunkt einer langfristigen Entwicklung staatlicher Verdichtung. Dies wird deutlich, wenn man die vorausgehende Phase genauer analysiert.

II. Die Entwicklungstendenzen in der Phase vor der Emanzipation lassen sich nicht zuletzt in Schwaben anhand der inzwischen aufgearbeiteten Ordnungskonzepte in den verschiedenen Herrschaften recht präzis bestimmen. Generell wurde in diesem Zusammenhang die alte Vorstellung von der völligen Rechtlosigkeit der Juden in der Vormoderne36 schon seit längerem von einer differenzierteren Darstellung abgelöst. So ist davon auszugehen, „daß die jüdischen Lebenswelten im Römisch-deutschen Reich nur vor dem Hintergrund der strukturell vielschichtigen Herrschafts-, Rechts- und Gesellschaftsordnung dieses Gemeinwesens sowie des Neben-, Gegen- und Miteinanders von jüdischer und nicht-jüdischer beziehungsweise christlicher Welt zu verstehen ist“37. Anders formuliert: Reich, Territorien und Ortsherrschaften waren daran ebenso beteiligt, wie eine Überschneidung von jüdischem und nichtjüdischem Recht zu berücksichtigen ist. Und dabei ist gleichermaßen „die aktive Teilnahme der Juden an der Gestaltung dieses rechtlichen Rahmens und sogar ihr […]Anteil am Rechtsverkehr“ zu berücksichtigen, etwa „die Häufigkeit und Regelmäßigkeit, mit der sie die Gerichte anriefen bzw. anrufen muss35

Schwarz 1963 (Anm. 1), S. 106. Vgl. etwa eine erst jüngst vorgelegte rechtshistorische Studie zum modernen Bayern: Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags, Berlin 2007 (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 8: Judaica – jüdisches Recht, Judenrecht, Recht und Antisemitismus 3), in der er die Voraussetzungen für die rechtliche Integration des 19. Jahrhunderts folgendermaßen zusammenfasst: „Die Juden lebten wegen dieser von der nichtjüdischen Obrigkeit erlassenen Gesetze [gemeint sind die Judenordnungen, R. K.] außerhalb der allgemeinen Rechtsordnung. Den Juden gelang es in den seltensten Fällen, auf die Entstehung und Gestaltung des Judenrechts Einfluß zu nehmen.“ (S. 2). 37 Andreas Gotzmann (Hg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 39), S. 1. 36

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ten, um ihre Interessen durchzusetzen“38. Vor diesem Hintergrund sind auch die folgenden Beobachtungen zu verstehen, die anhand einiger wichtiger Aspekte aus der Vielfältigkeit des Problemfeldes die Dynamik der Entwicklung markieren können. 1. Ein erster Zugang betrifft die Ausgestaltung der Judenordnungen. Allerdings lässt sich das nur bedingt an den Judendörfern der Markgrafschaft Burgau zeigen, denn hier war zwar 1534 eine frühe Judenordnung erlassen worden,39 aber sie wurde nicht wesentlich fortgeschrieben, weil die jeweiligen Ortsherrschaften die Normensetzung für sich in Anspruch nahmen und sehr unterschiedlich damit umgingen.40 Ergiebiger sind dafür die Gemeinden in der Grafschaft Oettingen. Johannes Mordstein hat mit seiner quellengesättigten Studie für die Judenschutzbriefe dieses Territoriums sehr klare Entwicklungslinien herausgearbeitet.41 Dass die Schutzbriefe für die verschiedenen Oettingischen Teilterritorien im Laufe der Zeit bis zum Ende des Alten Reiches immer umfangreicher wurden, die Bestimmungen immer mehr ins Detail gingen, mag nicht überraschen, denn das ist ein Befund, den diese Textgattung mit den ihnen verwandten Policey-Ordnungen u. a. teilt. Für unseren Zusammenhang sind weitere Ergebnisse seiner Untersuchungen von Bedeutung: Mordstein konstatiert zum einen eine „in vielen Fällen geglückte, pünktliche und reibungslose Ausstellung neuer Judenschutzbriefe“ und ordnet dies der „Effizienzsteigerung in der Bewältigung der öffentlichen Aufgaben“ zu, die in den Kontext der frühneuzeitlichen Administration gehört.42 Zum anderen sieht er eine Tendenz zur Vereinheitlichung: Hatte beispielsweise die Schutzerneuerung von 1727/28 noch das Nebeneinander der Schutzbriefe für die Judenschaften von Wallerstein und Pflaumloch bzw. Oberdorf vorgesehen, weil beide unterschiedlichen Linien des gräflichen Hauses zugeordnet waren, so änderte sich das Bild nach der Zusammenführung unter der Regierung von Oettingen-Wallerstein unter Graf Anton Karl 1728 und gleichfalls nach dem Aussterben der Linie Oettingen-Oettingen 1731. Schon 1733 entstand eine neue Konzeption, 1742/62 wurde eine inhaltliche Angleichung vollzogen und 1794 schließlich ein einheitli38

Ebd., S. 3. Rosemarie Mix: Die Judenordnung der Markgrafschaft Burgau von 1534, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999 (Colloquia Augustana 10), S. 23–57. 40 Dazu Kießling 1995 (wie Anm. 24), S. 154–180; detailliert Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151), S. 66–151. 41 Johannes Mordstein: Selbstbewusste Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637–1806, Epfendorf 2005 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 2); vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band. 42 Mordstein 2005 (wie Anm. 41), S. 89. 39

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cher Schutzbrief für sämtliche Judengemeinden entworfen.43 Hier findet sich, was auch sonst in der Frühneuzeit zu beobachten ist: „Die Tendenz des frühmodernen Staates, alle Untertanen einheitlich seinem Normbefehl zu unterwerfen“, auch wenn das in der Praxis nicht immer voll realisiert wurde.44 An diesem Beispiel wird noch etwas anderes greifbar: Die Praxis der Ausstellung von Judenschutzbriefen löste sich nach und nach von der Herrschaftsausübung der einzelnen Grafen, ein Zeichen dafür, dass sich ein „transpersonales Herrschaftsverständnis“ einstellte45. Weil verschiedentlich diese Ausstellung auf die Initiative der Judenschaften selbst zurückging, hatten sie gemäß ihrem Verständnis jedes Mal beim Regierungswechsel auf eine Bestätigung durch den neuen Grafen gedrängt, waren also eher personal orientiert, wie das in der alten Tradition der Privilegien üblich war. Die Obrigkeit dagegen hielt sich zunehmend an die gemachten Zusagen, d. h. neu amtierende Grafen übernahmen die Schutzbriefe ihrer Vorgänger, und es entstand damit eine „Verrechtlichung und Abstraktion von Herrschaft“.46 Es ist von eminenter Bedeutung, diesen Prozess der Rationalisierung von Herrschaft im Umgang mit den Juden zu beachten, denn er reduzierte die Willkür, schuf ein gewisses Maß an Rechtssicherheit. 2. Die Nutzung der Reichsgerichte, des Reichskammergerichts wie des Reichshofrats, durch Juden, um ihre Interessen durchzusetzen, ist seit längerem geläufig; ebenso die grundlegende Feststellung, dass vor Gericht kein Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden gemacht wurde.47 Stefan Lang hat diesen Sachverhalt auch schon für das kaiserliche Hofgericht Rottweil im 16. Jahrhundert vielfältig nachgewiesen und gleichzeitig gezeigt, wie die Territorien diese Rechtsfindung zu unterbinden suchten.48 Auch das ist ein Sachverhalt, der mit den Privilegien de non appellando in gleichem Maße für die christlichen Untertanen angestrebt wurde, um Klagen nach auswärts abzu43

Ebd., S. 96–105. Michael Stolleis: Was bedeutet „Normendurchsetzung“ bei Policeyordnungen der frühen Neuzeit?, in: Richard H. Helmholz u. a. (Hg.): Grundlagen des Rechts. FS für Peter Landau zum 65. Geburtstag, Paderborn u. a. 2000 (Rechts- und Sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft NF 91), S. 739–757, hier S. 746. 45 Mordstein 2005 (wie Anm. 41), S. 106. 46 Ebd., S. 109. 47 Vgl. dazu etwa Margit Ksoll/Manfred Hörner: Fränkische und schwäbische Juden vor dem Reichskammergericht, in: Treml 1988 (wie Anm. 2), S. 183–197; Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigstes Bitten“. Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, in: Sabine Hödl/ Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hg.): Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin/Wien 2004, S. 143–183; Dies.: Ritualmord und Schuldklage. Prozesse fränkischer Juden vor dem Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, in: Gerhard Taddey (Hg.): …geschützt, geduldet, gleichberechtigt… Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreichs (1918), Ostfildern 2005 (Forschungen aus Württembergisch Franken 52), S. 47–59. 48 Lang 2008 (wie Anm. 24), S. 188–232. 44

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schneiden.49 Für unseren Zusammenhang noch interessanter ist die Praxis, die sich in den herrschaftlichen Gerichten vor Ort einspielte; hier haben die Studien von Sabine Ullmann zur Markgrafschaft Burgau neue Einsichten über das Bestreben der Herrschaftsträger, die Rabbinatsgerichte zurückzudrängen, eröffnet.50 Die Schlichtung der innerjüdischen Streitigkeiten durch die Rabbiner war hier lange Zeit – wie auch anderswo – akzeptiert worden, ohne dass die jeweiligen Herrschaftsträger eingegriffen hätten. Im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert lassen sich jedoch neue Zuordnungen erkennen: Die dörflichen Gerichte beschäftigten sich zunehmend mit Fällen, die nicht nur die Beziehungen zwischen Juden und Christen, sondern auch innerjüdische Angelegenheiten betrafen – und dabei ging die Initiative nicht selten von den Juden selbst aus, die ihre Belange hier besser aufgehoben sahen. Vielfach handelte sich um Ehr- und Raufhändel zwischen Juden: In Binswangen klagte etwa der Jude Mauschi einen gewissen Abraham an, weil dieser ihn „nach vielfältig Zanken gestossen“, und 1739 kam es im gleichen Ort zu einer Schlägerei zwischen den Juden Gompeter und Heyum. Häufig wurden auch Schuldsachen vor dem christlichen Gericht verhandelt. Für Binswangen lassen sich von 1738 bis 1742 insgesamt 26 derartige Verfahren vor dem Dorfvogt festmachen, während es 1673 bis 1679 nur neun waren − also eine steigende Tendenz. In Pfersee bezogen sich 1636 bis 1740 insgesamt 61 Protokolleinträge der Vögte auf Zivilsachen zwischen Juden, in Buttenwiesen wurden 1730 bis 1743 insgesamt 35 innerjüdische Belange vor das burgauische Vogtamt gebracht, das hier die Herrschaftsgewalt im Ort innehatte.51 Trotz der schwachen Landesherrschaft Vorderösterreichs war die Wirkung offensichtlich: Die herrschaftlichen Gerichte hatten sich auch gegenüber der Judenschaft durchgesetzt. 3. Besonders bedeutsam erscheinen die Vorgänge, bei denen Angelegenheiten aus dem gemeindlichen Alltag in die herrschaftliche Ordnungsregelung eingeführt wurden. Gerade diese Materie hatten die Judenordnungen in den Territorien als innere Angelegenheiten der jüdischen Gemeinden ausgespart.52 Doch im 17./18. Jahrhundert verschoben sich auch hier die Gewichte

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Vgl. dazu Ulrich Eisenhardt: Die kaiserlichen privilegia de non appellando, Köln/Wien 1980 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 7); zu Schwaben Stefan Breit: Die Nutzung des Reichskammergerichts durch die ostschwäbische Region, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hg.): Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Konstanz 2005 (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 6), S. 125–159. 50 Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 187–194. 51 Ebd., S. 189 f. 52 Vgl. dazu grundlegend J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), S. 79–82.

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auffällig. Zwei Beispiele mögen diesen sensiblen Problemzusammenhang sichtbar machen: Als die Judenschaft in Pfersee 1674 eine Ordnung erstellte, „wie es in ihrer schuell der Ceremonien halben, auch mit außtheilung der politen krankhen und frembden gehalten werden solle“, übergaben die Vorsteher das Dokument „in teutscher Sprach“ auch dem Gerichtsvogt.53 Sie ermöglichten ihm somit nicht nur einen weitgehenden Einblick, sondern auch zugleich eine Kontrollmöglichkeit über ihre gemeindlichen Belange, etwa hinsichtlich der Wahlverfahren oder des Armenwesens. Dies hieß nichts anderes als eine Einflussnahme auf die Gemeindeführung und ihre normativen Regelungswerke. Daneben zielte die Obrigkeit offensichtlich auf eine Beschneidung der traditionellen jüdischen Gerichtsbarkeit der Rabbiner: Sie sollten auf Angelegenheiten des religiösen Kultus beschränkt werden. In Binswangen warfen die Freiherren von Knöringen – die Ortsherren – der Judengemeinde vor, „ihre jüdische ceremonien all zue weit [zu] extendieren mit hin der gerichts herrschafft in jurisdictionaliby einzugreifen“. Und Paragraph 5 eines Rezesses von 1694 legte fest, dass „die jüdischen ceremonien alleinig auf dero gottsdienst, und wessen die juden sonsten vermög allgemeiner burgau[ischer] landts observandt befuegt seyn verstanden, aber keineswegs auf andere civil sachen, händel und strittigkeiten extendieret werden sollen“.54 Die Verzahnung der beiden Rechtssphären wurde in beiden Konfliktfällen zum Gegenstand der Normensetzung: Es ging einerseits in Pfersee um die jüdischen Gemeindesatzungen, die „Takkanot“, in denen wie in diesem Fall sowohl die Gottesdienste in der Synagoge als auch die soziale Fürsorge der Gemeinde geregelt wurden; ein weiteres Element, das dazu gehörte, war die Wahl der „Parnossim“, der Gemeindevorsteher, deren Kontrolle durch die Ortsherrschaft angemahnt wurde, was die jüdische Gemeinde auch akzeptierte, denn das Dokument wurde an den Vogt übergeben. Im Falle Binswangen stand andererseits die Gerichtsinstanz bei innerjüdischen Streitigkeiten zur Debatte, und die Intention der Herrschaft zielte eindeutig darauf, dass sich die Gemeindeinstanzen auf den Bereich des Kultus im engeren Sinne beschränken sollten, demgegenüber alle Rechtsfragen – zivilrechtliche Auseinandersetzungen wie die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten – zu den Angelegenheiten der Obrigkeit gehörten. Die Grenzen im Spannungsfeld zwischen jüdischem Recht und Judenrecht sollten also neu definiert werden. Auf der Ebene der Landesherrschaft ging die Bestellung der Landesrabbiner55 ebenfalls Hand in Hand mit dieser Beschneidung ihrer Kompetenzen: Mandate Vorderösterreichs von 1696 und 1708 verordneten, dass den „Rabi-

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Der Fall bei Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 188. Ebd., S. 188 f. 55 Zu ihnen vgl. Stefan Rohrbacher: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit, in: Kießling 1995 (wie Anm. 24), S. 80–109, hier S. 95–108. 54

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nern die erste Instanz keines weegs indifferenter und generaliter zugestanden werden könne, sondern alleinig auf die bey ihren Jüdischen Ceremonien und Ehesachen halben […] fürfallende Casus“ zu beschränken sei, da die Juden „ansonsten allerhand strafbare Contractus […] nit weniger die rauf und schlaghändel item die injuri Sachen zu schaden der herrschaft zustehenden strafen gar leichtlich vertuschen könnten.“56 Darin lag ein dynamisches Element: Die „frühmoderne Staatlichkeit“ mit ihrer Tendenz zur Verdichtung der Herrschaftsfaktoren machte auch vor der ursprünglich „fremden“ und damit akzeptierten eigenen Rechtssphäre der jüdischen Gemeinden nicht halt, sondern war bestrebt, sie der eigenen ein- und unterzuordnen. 4. Die Konsequenz der organisatorischen Verschiebung hin zu einer „Territorialisierung“ jüdischer Existenz betraf noch eine weitere Dimension des Problemfeldes, das sich zumindest tendenziell auch an schwäbischen Fällen festmachen lässt. Zum einen ging es um die Einrichtung der Landesrabbinate selbst, und zwar um die Frage, wie weit der Einfluss der Rabbiner gehen sollte. Die Reichweite rabbinischer Autorität war im Medinat Schwaben ursprünglich sehr ausgedehnt. Bernhard Purin hat darauf hingewiesen, dass auch die Juden aus den vorarlbergischen Gemeinden Hohenems und Sulz den Pferseer Landesrabbiner anerkannten.57 Stefan Lang hat seinerseits die Wirksamkeiten im 16. Jahrhundert über das „Land zu Schwaben“ differenziert strukturiert: Neben Günzburg und Thannhausen war auch Hechingen Sitz von wichtigen Rabbinern; sie suchten im Konflikt mit dem Zentrum Frankfurt ihre Stellung zu behaupten, und die kaiserlichen Bestätigungen seit 1566 verteidigten sie auch gegen den einflussreichen Reichsrabbiner in Worms.58 Seit der Mitte des 18. Jahrhundert aber tendierte die vorderösterreichische Regierung dazu, die Bestätigung des Landesrabbiners selbst vorzunehmen und das Landesrabbinat in Pfersee immer stärker auf die Markgrafschaft Burgau zuzuschneiden; die nach außen weisenden Klammern wurden gelockert und schließlich abgelöst.59 Ganz ähnlich scheint die Entwicklung im Ries verlaufen zu sein. Dort entwickelte sich das Landesrabbinat zunächst konsequenterweise auf der Basis der verschiedenen herrschaftlichen Linien; im 18. Jahrhundert saßen die In56

Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 194–206, hier S. 198. Bernhard Purin: Landjudentum im süddeutschen Raum. Die jüdische „Landschaft“ im 17. und 18. Jahrhundert, in: Eva Grabherr (Hg.): „…eine ganz kleine jüdische Gemeinde, die nur von den Erinnerungen lebt!“. Juden in Hohenems. Katalog des Jüdischen Museums Hohenems, Hohenems 1996, S. 23–28. 58 Stefan Rohrbacher: Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit, in: Kießling/Ullmann 1999 (wie Anm. 39), S. 192–219; Lang 2008 (wie Anm. 24), S. 240f, 247–253. 59 Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 194–207. 57

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haber in Oettingen und Wallerstein. Schon um 1610 war jedoch die Regierung in Wallerstein gegen Versuche vorgegangen, die Oettinger Schutzjuden vor auswärtige Rabbiner zu laden. Sie führte Klage gegen die Praxis der Juden, „sich untereinander durch Boten zu verständigen, von außerhalb lasse man auch an jüdische Untertanen […] starke bedrohungen und citationes ausgehen“. Ein Verhör ergab, dass Prager Juden die oettingischen Schutzjuden Abraham Franklin und Cöppel von Neresheim vorgeladen hätten; dies führte zur Bestrafung Cöppels unter Berufung auf die territorialen Rechte; die Beamten billigten ihnen jedoch ausdrücklich zu, vor den territorialen Rabbinern ihr Recht zu suchen.60 5. Trotz der komplexen Herrschaftsverhältnisse in der Markgrafschaft Burgau konstituierte sich in der gleichen Zeit wie in anderen Territorien auch eine „Landjudenschaft“ im Sinne einer Korporation.61 Sie war ein Bindeglied, in dem sich die Interessen beider Seiten, der Herrschaft wie der Judenschaften, durchaus verknüpfen ließen. Die Verantwortlichkeit für die fiskalischen Belange (Schutzgelder, Steuern) und Zuständigkeitsbereiche, die mit dem Territorium identisch waren, unterwarfen die Juden damit als spezielle Gruppe von „Untertanen“ der Obrigkeit. Eine oligarchische Führungsgruppe leitete sie (wie anderswo), berief die Landjudentage ein und beriet dort die Umlage der landesherrlichen Steuerforderungen und die Regelung innergemeindlicher Belange (z. B. die Armenfürsorge). Die Landjudenschaft übernahm zudem „eine wichtige politische Fürsprecherfunktion gegenüber der christlichen Obrigkeit“ bei Beschränkungen der Judengemeinden, wie sie die schwäbischen Adelsherrschaften nicht selten initiierten.62 Aufschlussreich dafür ist ein Rezess von 1708, der die Abgrenzung zwischen der Regierung in Innsbruck und den Landesdeputierten der Judenschaft auf einem Judenlandtag definierte: Hauptgegenstand war die Neuverteilung des sogenannten jährlichen Jägergeldes, einer Abgabe zugunsten der Landesherrschaft, aber die Einzelbestimmungen betrafen nicht nur die Verfahrensformen der Rechnungslegung und der Umlage, sondern der Rezess griff auch massiv − aber offenbar in Übereinstimmung der Verhandlungspartner − in die innerjüdischen Angelegenheiten der Armenfürsorge und der

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Vgl. Volker Press: Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 24), S. 243–294, hier S. 280. 61 Allgemein dazu Daniel J. Cohen: Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt bis zur Emanzipation als Organe der jüdischen Selbstverwaltung, in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1983 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 6), S. 151–214; zum Forschungsstand, Battenberg 2001 (wie Anm. 52), S. 39–41, 105–107. 62 Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 207–224, Zitat S. 223.

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Kompetenzen des Landesrabbiners ein, was den rechtsgültigen Abschluss von Heiratsverträgen etc. betraf.63 Ziehen wir ein Fazit: Alle diese Beobachtungen liefen darauf zu, die Sonderstellung der Judenschaften zu reduzieren und sie in die allgemeine Untertanenschaft einzugliedern. Die rechtliche Gleichstellung als herrschaftlich intendierter Vorgang zielte auf eine Beseitigung der eigenständigen Tradition der jüdischen Gemeindeautonomie, des jüdischen Rechts, oder anders formuliert: auf die partielle Assimilation. Die Konsequenz lag in einer doppelten Richtung, denn sie betraf einerseits die Engführung des Jüdischen Rechts, was seinen materiellen Inhalt betraf, andererseits eine organisatorische „Territorialisierung“ jüdischer Existenz.

III. Vor diesem Hintergrund erscheint das bayerische Emanzipationsgesetz von 1813 in einem neuen Licht. Bekanntermaßen lag der äußere Anlass dafür in der Notwendigkeit, eine Vereinheitlichung der verschiedenartigen Rechtstraditionen in den Territorien zu vollziehen, die in der napoleonischen Ära an Bayern gefallen waren – eine Notwendigkeit, die freilich erst dann zwingend wurde, als die Masse der Judensiedlungen in Franken und Schwaben davon betroffen war. Langfristig gesehen erscheint sie demgegenüber eher als der Fluchtpunkt der Entwicklungen während der Frühen Neuzeit, weil das tradierte Judentum der Entwicklung zur modernen Staatlichkeit entgegenstand. Dies entsprach dem generellen Modernisierungsschub der bürokratischen Zentralisierung und der Beseitigung der alten ständischen und teilautonomen Strukturen, die Maximilian Frh. von Montgelas als Grundsätze des neuen Staatsgebäudes verwirklicht wissen wollte. Es sollte dabei nicht übersehen werden, dass er damit seinerseits in der Tradition der langfristigen Verdichtung von Staatlichkeit stand, wie sie sich über die Jahrhunderte der Frühen Neuzeit verfolgen lassen. Die Intentionen Montgelas’ sind hier nicht im Einzelnen zu schildern, vielmehr nur darauf zu verweisen, dass der „Staatsabsolutismus“64 mit seinem monistischen, auf den König als Souverän orientierten Staatsmodell65 auf der Nivellierung der bislang ständisch strukturierten Gesellschaftsordnung basierte. Die einheitliche Untertanenschaft im Indigenat − aus der erst noch „Staatsbürger“ werden mussten − vertrug keine Sonderrechte mehr. Man denke nur an die rigorose Beseitigung der städtischen Privi63

Ebd., S. 210 f. Walter Demel: Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08–1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs, München 1983 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 76). 65 Karl Möckl: Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepochen, München 1979 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Abt. III, Bd. 1). 64

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legien, so dass von den mehr oder weniger autonomen Kommunen nur mehr staatliche Verwaltungseinheiten übrig blieben – und das galt nicht nur für die ehemaligen Reichsstädte, sondern auch für die altbayerischen Städte.66 Gleichermaßen erinnert sei an das nach der Säkularisation im engeren Sinne anschließende Ringen um die „Einstaatung“ der beiden christlichen Kirchen, die sich in den staatlichen Aufsichtsrechten niederschlug.67 In diesem Kontext war jegliche Sonderstellung obsolet, also auch ein spezifisches „Judenrecht“. Die logische Konsequenz war aber auch die Beseitigung des eigenständigen „jüdischen Rechts“ innerhalb der Gemeinden, und das hieß nichts weniger als das Ende der Phase von weitgehend autonomen jüdischen Gemeinden. „Nicht ein humanitäres Toleranzideal, sondern das praktische Bedürfnis nach stärkerer staatlicher Integration aller Bevölkerungsteile“ lag der „gesamten Religionspolitik“, und damit auch der „Behandlung religiöser Minderheiten wie der Juden“ zugrunde, konstatiert auch Walter Demel.68 Die Eingaben von außen – sei es von den jüdischen Gemeinden selbst, sei es von einer aufgeklärten christlichen Umwelt – konnten diesen Prozess nur am Rande beeinflussen. Im System des „bürokratischen Absolutismus“ waren die Berichte der Landesdirektionen gewichtiger − und die betonten in der Regel die Interessenlage der Staatlichkeit und kamen damit aus einer für die Juden vorwiegend negativen Perspektive. Die Unterstellung der bisher autonomen jüdischen Gemeinden unter die Kontrolle des Staates war somit die eine Seite der Zielvorstellungen, der Anpassungsdruck der Majoritätsgesellschaft auf die Minderheit die andere. Sehr deutlich zeichnen sich deshalb die Bestimmungen des späteren Ediktes ab: die restriktiven Bedingungen für die Niederlassung in einer Zementierung des Status quo, verbunden mit den „Erziehungsbestimmungen“ zur Überleitung in die erwünschten „bürgerlichen Professionen“ bei gleichzeitiger strikter Abwehr des „Not- und Schacherhandels“. Ganz entscheidend aber war die Auflösung der eigenständigen Strukturen: Die jüdischen Gemeinden wurden in die Ortsgemeinden einbezogen, die Rabbiner zu staatlich kontrollierten Amtsträgern und ihr Wirkungskreis wurde ebenso wie der der Gemeindevorsteher auf die „kirchlichen“ Verrichtungen in einer „Privatkirchengesellschaft“ eingeschränkt.

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Vgl. dazu Rolf Kießling: Von der autonomen Gemeinde zum zentralen Ort: Die „Munizipalisierung“ der Reichsstädte, in: Peter Blickle/Rudolf Schlögl (Hg.): Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung, Epfendorf 2005 (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 13), S. 373–396. 67 Dazu die entsprechenden Passagen über das Verhältnis von Staat und Kirche in Max Spindler/Alois Schmid (Hg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV, 1, 2. Aufl. München 2003, S. 53–55, 164–174; Walter Brandmüller (Hg.: Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. III, St. Ottilien 1991, S. 109–129, Gerhard Müller/Horst Weigelt/Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirchen in Bayern, Bd. II, St. Ottilien 2000, S. 1–29. 68 Demel 1983 (wie Anm. 64), S. 564.

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So gesehen setzte der moderne bayerische Staat jene Tendenzen fort, die in den kleineren und größeren Territorien der Vormoderne bereits aufscheinen, lediglich mit dem Unterschied, dass das Montgelas-Bayern rigoroser damit umging. Man kann das sehr genau in dem schon zitierten Gutachten von Nepomuk von Raiser nachvollziehen, wenn er vorschlägt, alle Geschäftsverträge obrigkeitlich protokollieren zu lassen, bei Darlehensvergaben keine Zinsen höher als landesüblich zuzulassen, die Rückgabe verdächtiger oder gestohlener Waren zu verfügen – das waren Bestimmungen, wie sie seit langem in den Judenordnungen üblich waren.69 Auch die hohen Hürden für die Eheschließung gehören dazu, selbst wenn er andererseits auf einen Matrikelparagraphen verzichten wollte.70 Damit stellt sich die Frage noch einmal, wo dann der Prozess der Emanzipation sich eigentlich vollzog. Ein zweiter Anlauf erscheint nötig – und der lässt sich erneut sehr gut bei den schwäbischen Dorfgemeinden ansetzen.

IV. Neben diesen Entwicklungen auf der Ebene des Gesamtstaates zeichnet sich nämlich ein „pragmatischer Weg“ ab, der Ausdruck eines komplexen Interessenausgleichs zwischen der sich verdichtenden Staatlichkeit und ihren Untertanenschaften war. Ausgangspunkt dafür sind die Beobachtungen über die Teilhabe jüdischer Haushalte an der Gemeinde als gleichberechtigte Mitglieder, denn darin liegt ein Schlüssel für das langfristige Entwicklungspotential für die jüdische Existenz.71 1. In Schwaben – aber nicht nur hier72 – war es eine fast generelle Übung, die Ansiedlungserlaubnis von Juden mit dem Hausbesitz zu verbinden, und das

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Vgl. dazu die Detailstudien von Kießling 1995 (wie Anm. 24), S. 169–173; Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 230–254; Mordstein 2005 (wie Anm. 41), S. 226–238; jüngst auch Till Strobel: Jüdisches Leben unter dem Schutz der Reichserbmarschälle von Pappenheim 1650– 1806, Epfendorf 2009 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 3), S. 167–175. 70 Staatsarchiv Augsburg, Regierung 3901, fol. 43–58; vgl. oben zu Anm. 29–34. 71 Vgl. dazu Rolf Kießling/Sabine Ullmann: Christlich-jüdische „Doppelgemeinden“ in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17./18. Jahrhunderts, in: Christoph Cluse/Alfred Haverkamp/Israel J. Yuval (Hg.): Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden 13), S. 513–534; zur forschungsgeschichtlichen Einschätzung Battenberg 2001 (wie Anm. 52), S. 99. 72 Eine (vorläufige) Zusammenstellung für die deutschen Territorien bietet Johannes Mordstein: Ein Jahr Streit um drei Klafter Holz. Der Konflikt zwischen Bürgerschaft und Judengemeinde im schwäbischen Harburg um die Teilhabe der Juden an den Gemeinderechten 1739/40, in: André Holenstein/Sabine Ullmann (Hg.): Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches

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hatte weitreichende Konsequenzen. Schon länger ist bekannt, dass damit in der Regel die Nutzung der Allmende verbunden war. In Fischach war das zum Aufhänger für die gesamte Regelung der Rechtsverhältnisse geworden, nachdem schon 1586 der erste Weidevertrag geschlossen worden war. In der Markgrafschaft Burgau waren daraus förmliche „Doppelgemeinden“ entstanden: Parallel aufgebaut, beruhten sie auf der gemeinsamen Nutzungsgenossenschaft der Hausbesitzer, von Juden und Christen.73 Aus der Teilhabe beider Gruppen an den Gemeindeversammlungen resultierte die parallele Bestimmung der Repräsentationsorgane durch die Gemeinde, der christlichen Vierer und der jüdischen Parnossim – deshalb vielfach „Judenvierer“ genannt. Ein sehr bezeichnender Fall spielte sich 1703 in Pfersee bei Augsburg ab: Dort erschien am 1. Mai „die sambendtliche Pferßhaimb[ische] gemain samt der Judenschafft“ vor dem Ortsherrn, „um gewohnheit gemäss die Waahl der Fierer fürzunehmen“. Zuerst schlug die Christengemeinde ihre Vorstände vor, anschließend „wurde der Juden Vorschlag vernomen“. Nach der Verlesung der herrschaftlichen Dorfordnung durch den Vogt vor beiden Gruppen, Juden und Christen, wurden die beiden Vorstehergremien durch den Ortsherrn in ihr Amt eingesetzt.74 Die bekannte Formel, dass diese Hausbesitzer mit der Gemeinde „heben und legen“ sollten, galt für beide Teile gleichermaßen, d. h. das Recht der gemeindlichen Nutzungen – der Allmende, der Ehaftgewerbe der Bäcker, Schmiede etc. – wie die Lasten zu tragen – Gemeindearbeiten und Einquartierungen von Soldaten etc. Es gab dabei vielfältigen Streit um die Einzelausgestaltung, etwa den Ersatz für die in der Regel am Samstag durchgeführten Gemeindearbeiten oder über die Festlegung der jeweiligen Anteile bei steigender Bevölkerung des jüdischen Teils.75 Entscheidend erscheint, dass daraus ein Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden resultierte, das darauf zielte, normale Untertanen wie die Christen im Dorf zu sein. Dies wurde auch gelegentlich so formuliert: In Harburg – um wieder ein Beispiel aus der Grafschaft Oettingen zu nehmen – forderten die Juden eine Gleichbehandlung ein, die ihnen die christliche Gemeinde freilich verweigern wollte, „zu mahlen die Juden nicht als Bürger angesehen, auch an andern orthen, wo sich dergleichen aufhalten, nicht davor, sondern als Juden consideriret werden“. Graf Albrecht Ernst I. gestand ihnen aber zu, „gleich andern unsern bürgern und underthanen wasser und waydt“ zu nutzen, und der Schutzbrief von 1671 sah vor: „im übrigen sollen sie alle auf Ihren Häußern habende onera und andere servitutes, was nahmen selbige seyn möchten […] gleich anderer Unsern Unterthanen und Schutzverwandten

während der Frühen Neuzeit, Epfendorf 2004 (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 12), S. 301–324, hier S. 303–308. 73 Zum folgenden Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 382–410. 74 Kießling/Ullmann 2003 (wie Anm. 71), S. 520. 75 Ebd. S. 521–531 mit Einzelbelegen.

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tragen“.76 Die hier verwendete Terminologie des „Bürgers“ erinnert an die schon im 16. Jahrhundert von den Juristen verwendete Rechtsfigur des römischen Bürgerrechts, das im juristischen Verfahren auch den Juden zugestanden wurde.77 Das Modell der schwäbischen „Doppelgemeinden“ lässt die offenen Strukturen des Alten Reiches unter einem etwas anderen Licht erscheinen, als der traditionell abwertende Blick auf den voremanzipatorischen Zustand es nahe legt. Sie sicherten insgesamt die jüdische Existenz als faktisch eigenständige, im Dorf sogar in vieler Hinsicht gleichberechtigte Gruppierung im Nebeneinander mit den Christen ab; die Juden partizipierten an der politischen Gemeinde, und man kooperierte auf wirtschaftlicher und selbst, wenn auch sehr viel eingeschränkter, auf gesellschaftlicher Ebene miteinander. Selbstverständlich war dieser Prozess begleitet von zahlreichen Konflikten, die nach ganz typischen Mustern abliefen. Sie entzündeten sich an den Reibungen bei der Religionsausübung, konkret an den Anforderungen zur Sabbat- bzw. Sonntagsheiligung, an den Verhaltensformen in der Öffentlichkeit wegen der Praktizierung des Eruw oder der Eheschließungen, wegen der Beschäftigung christlicher Mägde.78 Aber auch hier ist zu beachten, dass der Umgang der christlichen Konfessionen miteinander bis weit ins 18. Jahrhundert eine Reihe von Ähnlichkeiten aufwies, man denke nur an die Kontroverspredigten, an die Behauptung der Öffentlichkeit durch die dominante Konfession in bikonfessionellen Gemeinden.79 Gleichermaßen andauernd waren die Auseinandersetzungen um die Nischen wirtschaftlicher Aktivitäten. Die Beschränkungen jüdischen Wirtschaftens auf die bekannten Ökonomiefelder des Landwarenhandels und der Geldleihe war das eine, die Konflikte 76

Mordstein 2004 (wie Anm. 72), S. 313, 315, 320. Vgl. dazu Wilhelm Güde: Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1981; zu Schwaben Rolf Kießling: Zwischen Schutzherrschaft und Reichsbürgerschaft. Die schwäbischen Juden und das Reich, in: Kießling/Ullmann 2005 (wie Anm. 49), S. 99–122, hier S. 118–121; einschränkend dazu J. Friedrich Battenberg: Von der Kammerknechtschaft zum Judenregal. Reflexionen zur Rechtsstellung der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich am Beispiel Johannes Reuchlins, in: Hödl/Rauscher/Staudinger 2004 (wie Anm. 47), S. 65–90. 78 Dazu mit entsprechenden Detailbelegen Rolf Kießling: „Fremde” in einer christlichen Umwelt − die schwäbischen Judengemeinden vor der Emanzipation, in: Ein fast normales Leben. Erinnerungen an die jüdischen Gemeinden Schwabens. Ausstellung der Stiftung Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben nach einem Konzept von Gernot Römer. Katalog, Augsburg 1995, S. 21–30; Sabine Ullmann: Sabbatmägde und Fronleichnam. Zu den religiösen Konflikten zwischen Christen und Juden in den schwäbischen Landgemeinden, in: Hartmut Lehmann/Anne-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 243–264. 79 Dazu grundlegend Etienne Francois: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806, Sigmaringen 1991 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33); zu den Vorstufen dazu: Rolf Kießling: Vom Ausnahmefall zur Alternative – Bikonfessionalität in Oberdeutschland, in: Carl A. Hoffmann u. a. (Hg.): Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Regensburg 2005, S. 119–130. 77

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um deren Definition bzw. Abgrenzung das andere. Auch hier ist jedoch daran zu erinnern, dass diese Streitigkeiten vielfach nach dem Muster der Verdrängung unliebsamer Konkurrenz verliefen, wie sie auch gegenüber anderen Gruppen wie etwa den Savoyarden oder Mennoniten durchgängig abliefen.80 Weit wichtiger erscheint, dass das Zusammenleben von Juden und Christen in den Gemeinden insgesamt immerhin soweit funktionierte, als es der schwäbischen Judenschaft ein nicht geringes Maß an Entfaltungsmöglichkeiten bot: Das lässt sich beispielsweise an den repräsentativen Synagogen des 18. Jahrhunderts ablesen81, das ließ selbst die Vorstellung von einer „Ehre“ der Juden zu, was in der Frühen Neuzeit bekanntlich sehr hoch einzustufen ist82, und das gewährte mitunter eine hohe Anerkennung für den Rabbiner im Dorf, wie das etwa in Binswangen während der Revolution von 1848 verbürgt ist.83 Vielleicht war es kein Zufall, dass der Landrichter von Wertingen in seinem – schon zitierten – Bericht über die Verhältnisse der Juden 1808 etwas andere Töne anschlug als die sonst dominanten.84 Es erscheint jedenfalls nicht als Zufall, dass in diesen schwäbischen Dörfern die Partizipation der Juden am politischen Leben nach der begrenzten Selbstverwaltung in der Verfassung von 1818 sich über die Gemeindebevollmächtigten zumindest punktuell recht früh einstellte: so etwa in Ichenhausen schon 1818/19, nachdem dort im Munzipalrat von 1808 jüdische Beteiligung zu registrieren war,85 ebenso in Krumbach-Hürben seit 1822,86 wenn auch zahlreiche andere Dörfer diesen Schritt erst später vollzogen. 2. Selbstverständlich müsste man als wesentlichen zweiten Faktor den Wandel der Lebensgewohnheiten selbst ins Auge fassen, die Probleme der Akkulturation; das kann hier nicht im Detail berücksichtigt, sondern nur noch kurz

80

Vgl. dazu mit konkreten Beispielen die Beiträge in Holenstein/Ullmann 2004 (wie Anm. 72). 81 Vgl. Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780–1933), 2 Bde., Hamburg 1981, hier Bd. I, S. 24–28. 82 Sabine Ullmann: Kontakte und Konflikte zwischen Landjuden und Christen in Schwaben während des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts, in: Sybille Backmann/Hans-Jörg Künast/B. Ann Tlusty/Sabine Ullmann (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998 (Colloquia Augustana 6), S. 288–315. 83 Monika Richarz (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780–1871, Stuttgart 1976, S. 360–366: die Erinnerung des Hirsch Fürth an die Situation in Binswangen. 84 Vgl. Anm. 26. 85 Gerhard Hetzer: Die Beteiligung von Juden an der politischen Willensbildung in Schwaben 1818–1871. Erfolge und Fehlschläge eines Integrationsprozesses, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Sigmaringen 1994 (Irseer Schriften 2), S. 73–91, hier S. 77. 86 Herbert Auer: Die Einbindung der Juden in das öffentliche Leben und das Vereinswesen in der Gemeinde Hürben/Krumbach, in: Fassl 1994 (wie Anm. 85), S. 117–128, hier S. 117.

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angedeutet werden.87 Es besteht weitgehend Konsens in der Forschung, dass die Landjuden der Frühen Neuzeit stark traditionsgebunden lebten, sei es in der „traditionellen Orthodoxie“ der Lebensführung unter den Vorgaben der Halacha, einschließlich der Weitergabe der Bildung, sei es in den endogamen Beziehungsnetzen der Familien.88 Eine Öffnung gegenüber der Majoritätsgesellschaft war somit nur begrenzt möglich; sie findet sich deshalb vor allem bei den Hoffaktoren im Umkreis der Städte. Ihr Anteil am Prozess der Emanzipation und Akkulturation ist sicher nicht als einziger Weg zu sehen, zu vielfältig sind die Erscheinungsformen, dennoch kann ihre Führungsrolle in der Vermittlung zwischen jüdischer Gemeinde und Umwelt auch nicht übersehen werden.89 Zwar gibt es zurzeit noch keine detaillierte Untersuchung zu den schwäbischen Verhältnissen, aber erste Anzeichen lassen sich am Beispiel der Familie Ullmann aus Pfersee bei Augsburg erkennen.90 Die Familie leitete sich von den Ulmo-Günzburg des 16. Jahrhunderts her, einem der weitverzweigten und vielschichtigsten Familienverbände im Schwaben der Frühen Neuzeit.91 Ihre Mitglieder waren im 18. Jahrhundert nicht nur über vier Generationen als Hoffaktoren tätig, sondern hatten gleichzeitig Führungspositionen in der Augsburger Vorortgemeinde Pfersee inne: Die Agententätigkeit für die Wiener Handelskompagnie Samuel Oppenheimer während des Spanischen Erbfolgekrieges zur Versorgung der kaiserlichen Truppen und des Reichsheeres der „Vorderen Reichskreise“ bildete den Auftakt, und diese Schiene blieb auch weiterhin eine entscheidende, doch lassen sich anschließend auch Verbindungen zu Fürsten, weltlichen und geistlichen Standesherren nachweisen. In der Gemeinde waren sie schon in der Sitzordnung der Synagoge an vorderster Position platziert und hatten die Stellen als Parnossim inne; von dieser Position aus unterstützten sie das Landesrabbinat – das in Pfersee seinen Sitz hatte – und agierten in und für die schwäbische Landjudenschaft. In derartigen Familienverbänden mit weit reichenden Beziehungsnetzen lässt sich am ehesten ein Wandel der gesellschaftlichen Stellung der Juden verfolgen. Nicht direkt in Augsburg selbst, wohl aber in der Vorarlberger Ge87 Vgl. dazu beispielhaft Shulamit Volkov (Hg.): Deutsche Juden und die Moderne, München 1994 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 25). 88 Vgl. dazu Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt a. M. 1986, S. 41–60; zu Schwaben besonders Reinhard Jakob: Judenschul und jüdische Schule. Zur Bildungsgeschichte der Juden in Schwaben vor Moses Mendelssohn, in: Fassl 1994 (wie Anm. 85), S. 45–61. 89 Vgl. dazu Rotraut Ries/J. Friedrich Battenberg (Hg.): Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 25). 90 Sabine Ullmann: Zwischen Fürstenhöfen und Gemeinde. Die jüdische Hoffaktorenfamilie Ulman in Pfersee während des 18 Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 90 (1998), S. 159–187. 91 Vgl. zur Pferseer Familie: Ullmann 1999 (wie Anm. 40), S. 136–138, 230 f.; Kießling 2005 (wie Anm. 77), S. 106–109.

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meinde Hohenems – die in langer Tradition mit dem Medinat Schwaben verbunden war92 – wird einer der subtilen Schritte erkennbar: Anhand eines Bündels von 30 Originalbriefen der dort ansässigen Hofjudenfamilie Levi, von denen auch einige an die verwandte Pferseer Familie Ephraim Ullmann gingen –, konnte Eva Grabherr zeigen, dass sich um 1800 die Lebensformen der Mitglieder zu wandeln begannen.93 Aufklärerische Ideen wurden über den Bücherbesitz rezipiert, denn immerhin 46 Titel, die zwischen 1762 und 1820 erschienen, beinhalteten neben zeitgenössischer Belletristik, Reisebeschreibungen und Ratgebern auch einige philosophische Titel – dabei nur zwei mit eindeutig jüdischem Bezug, nämlich Moses Mendelssohns „Ritualgesetze der Juden“ und ein „taitsch-jitisch Gebetbuch“. Letzteres repräsentiert als einziges die Zugehörigkeit zur alten innerjüdischen Sprache des Jiddischen. Die Briefe selbst spiegeln den allmählichen Sprachwandel und damit auch die Öffnung in die bürgerliche Gesellschaft, so wie einzelne Nachweise vom Wirken der „Maskilim“ über die Tätigkeit als Hauslehrer zeugen. Dieses Beispiel in einer eher abgelegenen, noch „schwäbischen“ Landgemeinde dürfte auf die Augsburger Vorortgemeinden und ihre Führungsfamilien zumindest prinzipiell übertragbar sein. Derartige Familien bildeten auch den Kern der neuen Augsburger Gemeinde: Bekannt sind die drei Bankhäuser Westheimer/Straßburger, Jakob Obermayer und Henle Ephraim Ullmann, die 1803 aufgenommen wurden.94 Doch gehörten dazu auch einzelne Familien, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert permanent in der Stadt aufhielten wie etwa Simon Jacob Levi, der 1798 ein Gesuch für eine Garküche stellte und die Erlaubnis 1798 auch erhielt; er hielt sich also noch an die Vorschriften der Halacha. Dennoch stellten auch Bankiers wie Jakob Obermayer über die Bildungsvermittlung durch nichtjüdische Hauslehrer, andere Familien über den Besuch der städtischen Gymnasien, ganz bewusst die Weichen für die kulturelle Angleichung der nächsten Generation.95 Auch hier wurde also ein neuer Weg eingeschlagen, der nach und nach begehbar zu sein schien, ganz ohne staatlichen Zwang. So werden in diesen beiden Aspekten der „Doppelgemeinden“ und der „Hofjuden“ für Schwaben zwei Faktoren für den Wandel jüdischer Existenz deutlich: die langfristige Koexistenz in den Landgemeinden, die zu einer wachsenden Akzeptanz führte, und die exponierte Stellung ihrer Spitzenfami92

Vgl. dazu oben zu Anm. 55. Eva Grabherr: Hofjuden auf dem Lande und das Projekt der Moderne, in: Ries/Battenberg 2002 (wie Anm. 89), S. 209–229. 94 Vgl. Volker Dotterweich/Beate Reißner: Finanznot und Domizilrecht. Zur Aufnahme jüdischer Wechselhäuser in Augsburg 1803, in: Kießling 1995 (wie Anm. 24), S. 282–305. 95 Hans K. Hirsch: Zur Situation der Juden in Augsburg während der Emanzipationszeit, in: Kießling 1995 (wie Anm. 24), S. 306–323; jetzt auch Anke Joisten-Pruschke: Die Geschichte der Juden in Augsburg während der Emanzipationszeit 1750–1871, in: Rolf Kießling (Hg.): Neue Forschungen zur Geschichte der Stadt Augsburg (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 12), Augsburg 2011, S. 279–349. 93

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lien, über die sich die ersten Akkulturationsphänomene der innerjüdischen Aufklärung fassen lassen, die dann die neuen städtischen Gemeinden weitgehend bestimmten. Beide sind nicht der staatlichen Emanzipationsgesetzgebung zuzuordnen, aber beide prägten offenbar die Wandlungsprozesse auf längere Dauer. Die Probleme des weiteren mühsamen, von kleineren Fortschritten und immer wieder neuen Rückschlägen bestimmten Weges zur vollen Gleichberechtigung, der sich über das ganze 19. Jahrhundert hinzog, standen freilich unter komplexen eigenständigen Zusammenhängen, die hier nicht zur Debatte standen.96 Schon die Umsetzung des Judenedikts von 1813 scheiterte vielfach an den lokalen wie regionalen bürokratischen Widerständen,97 die sich nicht selten mit den seit den Hep-Hep-Unruhen wieder virulent gewordenen antijüdischen Stereotypen verbanden. Doch auch die pragmatische Linie des Zusammenlebens gegen Widerstände setzte sich fort – die Ereignisse um die weitere Geschichte der Emanzipation hatten viele Gesichter. Ohne die Verhältnisse der Voremanzipationszeit in irgendeiner Form idyllisieren zu wollen, denn sie waren auch hier immer noch labil und von antijüdischen Vorurteilen belastet: Die offene Struktur der Markgrafschaft Burgau und ganz ähnlich der Grafschaft Oettingen bzw. der übrigen Kleinherrschaften des Alten Reiches beinhaltete trotz der Einschränkungen, die auch hier immer wieder zu beobachten sind, immerhin eine gewisse Existenzsicherheit im eigenen Traditionsbereich. Ob die Entwicklungstendenzen, die ihnen innewohnten, längerfristig erfolgreich verlaufen wären, muss offen bleiben, da sie abgeschnitten wurden; die Indizien, die sich aus der Entwicklung des Judenrechts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als dem „pragmatischen Weg“ ableiten lassen, waren jedenfalls keineswegs nur negativer Art. Recht klar zeichnet sich jedoch ab, dass der „moderne Staat“ mit seinem Erziehungskonzept eine derartige Existenzgarantie zunächst gerade nicht gewähren wollte.

96 Dazu allgemein Rolf Kießling: Die jüdischen Gemeinden, in: Max Spindler/Alois Schmid: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV,2, 2. Aufl. München 2007, S. 357– 384, hier S. 357–370; zu schwäbischen Gemeinden vgl. den Beitrag von Claudia Ried in diesem Band. 97 Paradigmatisch Filser 1995 (wie Anm. 27), S. 254–278 für die Gemeinde Fellheim a. d. Iller; vgl. dazu auch den Beitrag von Claudia Ried in diesem Band.

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JÜDISCHE GESCHICHTE UND BÜRGERLICHE REGIONALHISTORIOGRAPHIE IM BAYERISCHEN SCHWABEN ZWISCHEN KAISERREICH UND NS-REGIME Von Martina Steber

„Von wesentlicher Bedeutung für Buttenwiesen war die Ansiedlung von Juden.“ Ein Satz genügte Louis Lamm, um im Jahr 1902 in der „Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg“ auf die Bedeutung der jüdischen Geschichte für die bayerisch-schwäbische Regionalgeschichtsschreibung hinzuweisen.1 Wollte man die Geschichte des bayerischen Schwaben verstehen, konnte die seiner Juden nicht ausgeklammert werden, lautete die Botschaft, und dies galt zumal für die Ortsgeschichte jener Städte, Märkte und Dörfer, in denen jüdische Gemeinden bestanden bzw. bestanden hatten. Lamm war indes nicht der erste, der die jüdische Geschichte der Region an solch prominenter Stelle zu platzieren vermocht hatte. In den Jahren 1898 und 1899 waren die Leser der führenden historischen Zeitschrift der Region mit einer langen Abhandlung konfrontiert worden, in welcher der ehemalige Stadtarchivar und -bibliothekar Nördlingens, Ludwig Müller, die Geschichte der Juden im Ries bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts mit wissenschaftlicher Akribie erzählte.2 Die geschichtswissenschaftliche Latte war mit Müllers Aufsatz hoch angelegt. Jüdische Geschichte mochte zukünftig ein selbständiger Teil der Regionalgeschichtsschreibung sein. Mit Julius Miedels ausführlicher Geschichte der Juden in Memmingen, die der umtriebige Laienhistoriker 1909 zur Einweihung der Synagoge verfasste, erschien wenige Jahre später ein weiterer Meilenstein der Forschung.3 Auch in der institutionalisierten Geschichtskultur der Region nahm mit Distriktsrabbiner Heinrich Groß an der Jahrhundertwende ein Jude eine exponierte Stelle ein: Er gehörte dem Vereinsausschuss des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg an und trat bei Versammlungen mehrmals als Referent zu regionalhistorischen Themen auf. Sogar der Festvortrag zum 600jährigen Albertus Magnus-Jubiläum war ihm überantwortet worden.4 1 Vgl. Louis Lamm: Ortsgeschichte von Buttenwiesen, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 15 (1902), S. 1–21, hier S. 8. 2 Ludwig Müller: Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Riess, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 25 (1898), S. 1–123; 26 (1899), S. 81–182. 3 Vgl. Julius Miedel: Die Juden in Memmingen. Aus Anlass der Einweihung der Memminger Synagoge, Memmingen 1909. 4 Vgl. Jahresbericht des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg für die Jahre 1897, 1898 und 1899, hg. v. Verwaltungs-Ausschuss, Augsburg 1900; Hans Hirsch: Heinrich

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Die jüdische Geschichte war an der Jahrhundertwende in der Regionalhistoriographie des bayerischen Schwaben fest verankert und das jüdische Bürgertum in die bürgerlichen Kreise der regionalen Geschichtsdeuter integriert – diesen Eindruck könnte man aus diesen Beobachtungen gewinnen. Doch trifft er tatsächlich die historische Situation? Wie wurde die jüdische Geschichte erzählt, wer deutete sie und wie wurde sie rezipiert? Wie integrierte sie sich in die allgemein verbreitete historische Erzählung über die Region? Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte vom Wilhelminischen Kaiserreich bis zum NS-Regime fand im bayerischen Schwaben im doppelten Kontext der Suche nach einer jüdischen Identität im deutschen Nationalstaat einerseits sowie der mentalen Konstruktion der Region im Verhältnis zu Bayern und dem Reich andererseits statt. Nach der „Krise der Assimilation“5 in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das deutsche Judentum von einer Bewegung erfasst, die eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Jüdischen anmahnte und zur selbstbewussten Bestimmung von jüdischer Identität aufforderte. Im Zuge der Nationalstaatsgründung verschärfte sich diese Herausforderung noch einmal. Nun rückte die Frage nach der Position der Juden innerhalb der „deutschen Nation“ ins Zentrum der Auseinandersetzungen.6 Im Jahrhundert des Historismus kam der Geschichte dabei besonderes Gewicht zu, sowohl in den innerjüdischen Diskussionen als auch in der intellektuellen Öffentlichkeit.7 Jede historische Erzählung,

Gross, in: Günther Grünsteudel u. a. (Hg.): Augsburger Stadtlexikon., Augsburg 21998; Rede gehalten an der Bahre des Herrn Distriktsrabbiners Dr. Heinrich Groß in Augsburg am 2. Februar 1910 von Rabbiner Dr. Werner in München, München [1910], S. 12; Peter Fassl: Die wirtschaftliche und soziale Stellung der Juden in Augsburg im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee, Sigmaringen 1994 (Irseer Schriften 2), S. 129–155, hier S. 143. Im Gegensatz dazu blieb den Juden der Steiermark der Zugang zum führenden Historischen Verein der Region und seiner Zeitschrift lange Zeit verwehrt, vgl. Gerald Lamprecht: Geschichtsschreibung als konstitutives Element jüdischer Identität, in: Klaus Hödl (Hg.): Historisches Bewusstsein im jüdischen Kontext. Strategien – Aspekte – Diskurse, Innsbruck 2004 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 6), S. 133–149, hier S. 141–142. 5 Christian Wiese: Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie in Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, Tübingen 1999 (Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 61), S. 42. 6 Vgl. im Überblick Steven M. Lowenstein: Ideologie und Identität, in: Ders./Paul Mendes-Flohr/Peter Pulzer/Monika Richarz (Hg.): Deutsch-Jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. III: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 278–301. 7 Vgl. Michael Brenner: Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, explizit S. 77; Nils Roemer: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith, Madison/Wisconsin/London 2005; zum Historismus grundlegend: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus, München 1992.

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welche die Geschichte der deutschen Juden thematisierte, schrieb sich in diesen Diskurs ein.8 Vor der Herausforderung, eine von der protestantisch-preußischen Meistererzählung abweichende Geschichte mit der Nationalgeschichte zu versöhnen, standen die lokalen und regionalen Geschichtsschreiber des bayerischen Schwaben gleichermaßen, ganz egal, ob sie Juden oder Christen waren. Auch sie mussten ein Modell finden, über das sich Partikularität in das Gesamte einbinden ließ, ohne das Eigene zu verleugnen. Dazu kam, dass die Region Bayerisch-Schwaben als solche kaum eine Geschichte hatte, auf die man sich beziehen konnte. In ihrer territorialen Gestalt wie politischen Struktur ein Kind bayerischer Staatlichkeit des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts hatte sich die Vorstellung von der einen, charakteristischen Region erst langsam seit der Mitte des Jahrhunderts entwickelt. Die Eliten der Region beteiligten sich rege am mentalen Bau des bayerischen Schwaben, wobei die Jahrhundertwende einen Höhepunkt dieser Bemühungen erlebte. Genauso wie die mentale Verortung im Partikularstaat bestimmte jene im Nationalstaat das bayerischschwäbische Konstruktionswerk.9 Der Weg in die Nation führte – wie in anderen Teilen des Reiches – im bayerischen Schwaben über die Region.10 Die Auseinandersetzung mit der Geschichte spielte dabei eine zentrale Rolle. In diesen doppelten Kontext war die Geschichtsschreibung über die Juden im bayerischen Schwaben an der Jahrhundertwende – während einer der fruchtbarsten Epochen der Regionalhistoriographie – eingebettet. Indes: Die Exklusion und letztendliche Vernichtung jüdischen Lebens im NS-Regime fand in der regionalen Geschichtsschreibung ihre monströse Entsprechung in der antisemitischen Stereotypisierung der Geschichte der bayerisch-schwäbischen Juden. Den Zusammenhängen von liberaler Integration an der Jahrhundertwende und schließlicher Exklusion mit exterminatorischer Konsequenz dreißig Jahre später in einer der bedeutendsten Regionen landjüdischen 8 Das bestätigen auch die wenigen Studien zur regionalen jüdischen Geschichtskultur: Nils Roemer: Provincializing the Past. The Production of Worms as a Destination in Modern Jewish History, in: Jewish Studies Quarterly 12 (2005), S. 80–100; Ders.: German City. Jewish Memory. The Story of Worms, Hanover NH 2010; Lamprecht 2004 (wie Anm. 4); Jens Hoppe: Jüdische Geschichte und jüdische Kultur in einem nichtjüdischen Museum. Das Vaterländische Museum Braunschweig, in: Hödl 2004 (wie Anm. 4), S. 153–168; Katharina Rauschenberger: Jüdische Tradition im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Geschichte des jüdischen Museumswesens in Deutschland, Hannover 2002. 9 Vgl. Martina Steber: Die Kraft des „großen Ganzen“. Bayern auf der bayerisch-schwäbischen „Mental Map“ der Prinzregentenzeit, in: Carl A. Hoffmann/Rolf Kießling (Hg.): Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert, Konstanz 2007 (Forum Suevicum 7), S. 333–354; Dies.: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime (Bürgertum Neue Folge 9), Göttingen 2010. 10 Zur Bedeutung des Regionalen für die deutsche Nationsbildung vgl. v. a. Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990; Alon Confino: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory. 1871–1918, Chapel Hill/London 1997.

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Lebens in Deutschland gilt es im Folgenden nachzugehen.11 Die Forschung wendet sich der Bedeutung des Regionalen für das deutsche Judentum im 19. und 20. Jahrhundert erst seit Kurzem zu,12 so dass der vorliegende Beitrag nur einen kleinen Baustein liefern kann zum Verständnis eines für die Lebenswelt jüdischer Deutscher bedeutenden Phänomens. Zunächst werden die Geschichtsschreiber und die historiographischen Strukturen, in die sie eingebunden waren, im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Ihre Themen, Ansätze und Interpretationen werden daraufhin beleuchtet, um abschließend fragen zu können, wie sich das entwickelte Bild jüdischer Geschichte in die gängige Interpretation bayerisch-schwäbischer Regionalgeschichte einpasste.

I. Die jüdische Geschichte des bayerischen Schwaben schrieben Christen und Juden.13 Sie gehörten den bürgerlichen Eliten der regionalen Gesellschaft an und prägten damit der regionalen jüdischen Geschichte bürgerliche Deutungsmuster ein. Die „Verbürgerlichung der jüdischen Vergangenheit“, die im frühen 19. Jahrhundert eingesetzt hatte,14 erreichte an der Wende zum 20. Jahrhundert die kleinen Städte und Gemeinden. Viele der bayerischschwäbischen Historiker, die sich für die jüdische Geschichte interessierten, stammten aus dem Bildungsbürgertum der Städte, wie der erwähnte Ludwig Müller, der als Studienlehrer an der Nördlinger Lateinschule begann, sich ehrenamtlich um Archiv und Bibliothek kümmerte, schließlich die Leidenschaft 11

Zum Landjudentum im 19. und 20. Jahrhundert vgl. u. a. Ulrich Baumann: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940, Hamburg 2000 (Studien zur jüdischen Geschichte 7); außerdem die einschlägigen Aufsätze in: Monika Richarz/Reinhard Rürup (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997 (Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts 56). 12 Vgl. Roemer 2010 (wie Anm. 8); Lamprecht 2004 (wie Anm. 4); nun für das bayerische Schwaben auch: Rolf Kießling: Synagogen und Judendörfer – schwäbische Juden als ‚Fremde‘ in der Region, in: Ders./Dietmar Schiersner (Hg.): Erinnerungsorte in Oberschwaben. Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis (Forum Suevicum 8), Konstanz 2009, S. 249–286; Mathias Seiter: Jewish Identities between Region and Nation: Jews in the Borderlands of Alsace-Lorraine and Posen during the German Empire, 1871–1914, PhD. Thesis, University of Southampton 2010. Ich danke Mathias Seiter für die Einsichtnahme in ein Kapitel des Manuskripts. Nun auch: Mathias Seiter: Entre les nation. L’Historiographie juive en Alsace-Lorraine, in: Heidi Knörzer (Hg.): Expériences croisées. Les Juifs en France et en Allemagne aux XIXe et XXe, Paris 2010, S. 161-177. 13 In der Steiermark dagegen wurde jüdische Geschichte ausschließlich von Juden geschrieben, vgl. Lamprecht 2004 (wie Anm. 4). 14 Vgl. Christhard Hoffmann: Die Verbürgerlichung der jüdischen Vergangenheit: Formen, Inhalte, Kritik, in: Ulrich Wyrwa (Hg.): Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt/New York 2003, S. 149–171.

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zum Beruf machte und als Archivar nach Straßburg wechselte.15 Sein Memminger Pendant hatte er in Julius Miedel, ebenfalls Studienlehrer an der Lateinschule und engagierter wie geschätzter Fachmann der lokalen und regionalen Geschichtskultur.16 Die jüdische Geschichte behandelten die beiden Protestanten als selbstverständlichen Teil der Geschichte der Region, der ihr eigentliches Interesse galt. Das traf auch für Richard Ledermann zu, Gymnasiallehrer und ehrenamtlicher Stadthistoriograph Kaufbeurens,17 ebenso wie für Heinrich Sinz, der die Ortsgeschichte Krumbach-Hürbens und Ichenhausens aufarbeitete und sich in diesem Rahmen mit der Geschichte ihrer jüdischen Bevölkerung beschäftigte.18 Sinz war katholischer Geistlicher, in Hürben geboren und als Pfarrer in Binswangen und Ichenhausen eingesetzt. Seine Sensibilität für die alltäglichen Probleme des jüdisch-christlichen Zusammenlebens und sein stetes Werben für Toleranz und Verständnis spiegelten sich in seinen ortsgeschichtlichen Darstellungen, die um Objektivität bemüht waren.19 Die Geistlichen bildeten mit den Volksschullehrern die Bildungselite der kleinen Landgemeinden,20 deren Geschichte sie sich seit der Jahrhundertwende mit vermehrter Begeisterung annahmen. Seit den Weimarer Jahren wurden die Lehrer an den Volksschulen zu ihrer Erforschung vom bayerischen Staat geradezu verpflichtet.21 Die Lehrer in den jüdischen Landgemeinden stellten keine Ausnahme dar. So nimmt es nicht wunder, dass gerade in den 1920er Jahren die jüdischen Lehrer Moses Sonn für Buttenwiesen, Isidor Kahn für Thannhausen und Hermann Rose für Altenstadt ortsgeschichtlich arbeiteten.22 Doch auch andere jüdische Bürger fühlten sich der Lokal- und

15 Vgl. Dietmar H. Voges: Ludwig Müller, in: Albert Schlagbauer/Wulf-Dietrich Kavasch (Hg.): Rieser Biographien, [Nördlingen] 1993, S. 268–269. 16 Vgl. Walter Braun: Dr. Julius Miedel (1863–1940), in: Memminger Geschichtsblätter (1963), S. 5–16; Memminger Geschichtsblätter 19/3 (1933) = Festnummer zu Dr. Julius Miedels 70. Geburtstag, S. 17–19. 17 Vgl. Richard Ledermann: Geschichte der Juden in der Reichsstadt Kaufbeuren. Nach lokalen Quellen bearbeitet, o. O. [1904]. 18 Vgl. Heinrich Sinz: Geschichtliches vom ehemaligen Markte und der nunmehrigen Stadt Ichenhausen. Mit Streiflichtern auf die Umgebung, Ichenhausen 1926; Ders.: Ergänzungen zur Ortsgeschichte von Ichenhausen, Ichenhausen 1928; Ders.: Beiträge zur Geschichte des Marktes und Landkapitels Ichenhausen im 16. und 17. Jahrhundert, Ichenhausen 1930. 19 Vgl. Manfred Gromer: Erinnerungen an Stadtpfarrer und Dekan Heinrich Sinz, Ichenhausen 1996. 20 Zum Hintergrund vgl. Richard Mehler: Die Entstehung eines Bürgertums unter den Landjuden in der bayerischen Rhön vor dem Ersten Weltkrieg, in: Andreas Gotzmann/ Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz. 1800–1933, Tübingen 2001 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 63), S. 193–216. 21 Vgl. Steber 2010 (wie Anm. 9), S. 83–107 und 233–235. 22 Vgl. Moses Sonn: Schulgeschichtliche Aufzeichnungen über die israelitische Volksschule Buttenwiesen, in: Mitteilungen des Israelitischen Lehrervereins für Bayern, Nr. 1,

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Abb. 3: Israel Lammfromm. © Sammlung Franz Xaver Neuner, Buttenwiesen.

Abb. 1: Hermann Rose bei einem Kuraufenthalt in Bad Mergentheim, 1930? © Sammlung Johann Schmid, Altenstadt.

Abb. 2: Richard Grünfeld, um 1910. © Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben. Altbestand Rabbiner Dr. Richard Grünfeld, Fotograf: Gebr. Martin, Inh. Konrad Ressler.

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Abb. 4: Heinrich Sinz, 1895.

Abb. 5: Julius Miedel.

© ABA Fotosammlung.

© Stadtarchiv Memmingen, E Bildarchiv.

Regionalgeschichte verpflichtet. Im Jahr 1911 hatte sich in Buttenwiesen bereits Israel Lammfromm, der aus einer angesehenen jüdischen Familie stammte, daran gemacht, eine Gesamtgeschichte der Marktgemeinde zu schreiben. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde erzählte er im ortsgeschichtlichen Rahmen.23 Louis Lamm dagegen ging es tatsächlich um die Geschichte der

Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 1 vom 15. 1. 1928; ebd., Nr. 2, Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 3 vom 15. 3. 1928; ebd., Nr. 4, Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 7 vom 15. 4. 1928; ebd., Nr. 6, Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 11 vom 15. 6. 1928; Isidor Kahn: Die Juden in Thannhausen, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 6 vom 8. 6. 1926; Ders.: Geschichtliches von Hürben-Krumbach, in: ebd., Nr. 5 vom 7. 5. 1926; zu Kahn vgl. Todesanzeige: Hauptlehrer Kahn [Krumbach], in: Mitteilungen des Jüdischen Lehrervereins für Bayern, Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 1 vom 1. 1. 1931; Hermann Rose: Vorgeschichte der israelitischen Volksschule Altenstadt, bearbeitet nach den Akten des Staatsarchivs in Neuburg a. D., in: Mitteilungen des Israelitischen Lehrervereins für Bayern, Nr. 2, Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 4 vom 15. 2. 1929; ebd., Nr. 4, Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 8 vom 15. 4. 1929; ebd., Nr. 5, Beilage zu: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 10 vom 15. 5. 1929. 23 Israel Lammfromm: Chronik der Markt-Gemeinde Buttenwiesen, Buttenwiesen 1911. Zu Lammfromm vgl. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 23 vom 1. 12. 1930, S. 365.

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Region: Er wollte die jüdische Geschichte des bayerischen Schwaben erzählen.24 Dass er sich aus den örtlichen Zusammenhängen gelöst hatte und von Berlin aus Regionalgeschichte schrieb, trug sicherlich entscheidend zu diesem Perspektivwechsel bei. Lamm gehörte zu den bedeutendsten jüdischen Verlegern der Reichshauptstadt. Sein 1903 gegründetes Antiquariat bildete einen „Kristallisationspunkt für die Neuformierung von jüdischer Literatur bzw. Wissenschaft“ und trug „damit erheblich zur jüdischen Identitätsbildung bei“.25 Lamms Blick auf die Geschichte der bayerisch-schwäbischen Judengemeinden war von dieser jüdischen Selbstbesinnung geleitet.26 So wie sich in den christlichen Kirchen die Geistlichen der Regionalgeschichtsschreibung annahmen und damit deren Interpretation eine bestimmte Richtung gaben, so betätigten sich auch die jüdischen Rabbiner regionalhistoriographisch.27 Anlässlich der Einweihung der Augsburger Synagoge erarbeitete Distriktsrabbiner Richard Grünfeld die Geschichte der Juden in der Kreishauptstadt. Er erzählte jüdische Geschichte für seine jüdische Gemeinde.28 Die Motivation für die Abfassung seines „Ganges durch die Geschichte 24

Vgl. Louis Lamms Reihe: „Zur Geschichte der Juden im bayerischen Schwaben“, die es allerdings auf nur zwei Reihentitel brachte: Louis Lamm: Die jüdischen Friedhöfe in Kriegshaber, Buttenwiesen und Binswangen. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in der ehemaligen Markgrafschaft Burgau, Berlin 1912 (Zur Geschichte der Juden im bayerischen Schwaben 1); Ders.: Zur Geschichte der Juden in Lauingen und in anderen pfalzneuburgischen Orten, 2. verm. Aufl. Berlin 1915 (Zur Geschichte der Juden im bayerischen Schwaben 2). 25 Gangolf Hübinger/Helen Müller: Ideenzirkulation und Buchmarkt. Am Beispiel der konfessionellen und politischen Sortimentsbuchhandlungen im Kaiserreich, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006 (Ordnungssysteme 20), S. 289–312, hier S. 308. 26 Vgl. Lamm 1912 (wie Anm. 24); Ders. 1915 (wie Anm. 24); Ders.: Das Memorbuch in Buttenwiesen, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 45/5 (1901), S. 540–549; Ders.: Notizen zur Geschichte der Juden in Neuburg, in: Blätter für jüdische Geschichte und Litteratur 3 (1902), S. 166–169; Ders.: Aufgelöste jüdische Gemeinden in Deutschland. Bayern. Schwaben und Neuburg, in: ebd. 4 (1903), S. 47 f.; Ders.: Die Vertriebenen aus Salzburg und die Juden, in: ebd., S. 97–102; Ders.: Urkunden zur Geschichte der Juden in Bayern, III: Augsburger Accordjuden, in: ebd. 5 (1904), S. 26–29; Ders.: Convertiten in Schwaben, in: ebd., S. 49–54; Ders.: Das Memorbuch von Oettingen, in: Jahrbuch der jüdisch-literarischen Gesellschaft 22 (1931/32), S. 147–159. 27 Zu Bayern vgl. Falk Wiesemann: Deutsche Nation und bayerische Heimat. Zum Geschichtsbewusstsein der Juden in Bayern, in: Manfred Treml/Josef Kirmeier unter Mitarbeit v. Evamaria Brockhoff (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 17/88), S. 327–337, hier S. 329–330, der als jüdische Lokal- und Regionalgeschichtsschreiber allerdings ausschließlich Rabbiner ausmacht; Aubrey Pomerance: Rabbiner Magnus Weinberg. Chronist jüdischen Lebens in der Oberpfalz, in: Michael Brenner/Renate Höpfinger (Hg.): Die Juden in der Oberpfalz, München 2009, S. 139–157. 28 Vgl. Richard Grünfeld: Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Augsburg am 4. April 1917, Augsburg 1917.

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der Juden in Augsburg“ entstammte mithin dem innerjüdischen Kontext: Einerseits sollte die im 19. Jahrhundert gegründete Gemeinde eine lokalhistorische Tiefendimension erhalten – und damit auch die derzeitige jüdische Gemeinde ihren Platz in der Stadtgeschichte. Andererseits verortete Grünfeld gleichsam die von bürgerlicher Fortschrittsgläubigkeit durchdrungene Erzählung jüdischer Emanzipation in der Lokalgeschichte, als deren vorläufige Klimax der prächtige Augsburger Synagogenbau erschien.29 Wie sehr die Vergegenwärtigung der Lokal- und Regionalgeschichte ein bürgerliches Projekt war und der jüdischen Integration in die stadtbürgerliche Gesellschaft diente, wird an Grünfelds Bemühungen besonders deutlich. In anderen Fällen diente die Geschichtsschreibung dazu, jüdische Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren. Besonders virulent war dies in den ehemals blühenden jüdischen Landgemeinden, die seit der Gewährung der Freizügigkeit mit ständiger Abwanderung zu kämpfen hatten.30 Die Schulgeschichten Hermann Roses und Moses Sonns entstanden nicht von ungefähr nach der Auflösung der Schulen, an denen sie lehrten.31 Dagegen war das Interesse der nichtjüdischen Geschichtsschreiber an der jüdischen Geschichte historiographisch motiviert: Sie schrieben bayerisch-schwäbische Geschichte oder Ortsgeschichte und stießen in diesem Zusammenhang auf die jüdische Geschichte. Geleitet wurden sie dabei jedoch von einer grundsätzlichen Sympathie für die jüdische Gemeinschaft: Ludwig Müller wollte „zum Ausbau der Geschichte der deutschen Judenschaft ein bis jetzt ungenütztes Material ans Licht […] stellen“,32 Julius Miedel den „jetztigen israelitischen Kultusgenossen in Memmingen ihre eigene Geschichte und die Beziehungen ihrer Vorfahren zu Memmingen“ nahebringen,33 die Memminger Juden mithin in die städtische Erinnerungsgemeinschaft integrieren. Der doppelte Kontext, in dem sich die jüdische Geschichtsschreibung des bayerischen Schwaben bewegte, spiegelte sich nicht nur in den Motivationslagen der Geschichtsschreiber, sondern auch in der strukturellen Einbindung der jüdischen Regionalhistoriographie. Einerseits war sie Teil des bürgerlichen regionalgeschichtlichen Establishments: Etablierte Geschichtsschreiber der Region beschäftigten sich mit der jüdischen Geschichte, wichtige Beiträge

29 Vgl. ebd., Vorwort und S. 88. Zum „liberal myth of emancipation” siehe Christhard Hoffmann: Historicizing Emancipaction: Jewish Historical Culture and „Wissenschaft“ in Germany, 1912–1938, in: Andreas Gotzmann/Christian Wiese (Hg.): Modern Judaism and Historical Consciousness. Identities, Encounters, Perspectives, Leiden/Boston 2007, S. 329–355, hier S. 331–336. 30 Zur Geschichte der bayerisch-schwäbischen Landjudengemeinden im 19. und 20. Jahrhundert vgl. die Beiträge in Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden Schwaben, 3 Bd., Sigmaringen 1994, Stuttgart 2000 und Augsburg 2007, und außerdem den Beitrag von Claudia Ried in diesem Band. 31 Vgl. Sonn 1928 (wie Anm. 22); Rose 1929 (wie Anm. 22). 32 Müller 1898 (wie Anm. 2), S. 2. 33 Miedel 1909 (wie Anm. 3), Vorwort.

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wurden in der „Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg“ veröffentlicht. Zwar wurde Ende der 1890er Jahre wie in vielen Städten des Reichs auch in Augsburg ein Verein für jüdische Geschichte und Literatur gegründet, der ein reges Vereinsleben entfaltete,34 doch beschränkte sich dieses auf Vortragsveranstaltungen zu allgemeinen Themen der jüdischen Geschichte und Kultur. Lokal- oder regionalgeschichtliche Fragen wurden nicht behandelt, und der Verein strengte auch keine eigenen Forschungen an.35 Obwohl also die Möglichkeit bestanden hätte, wurde keine jüdische Alternative zur geschichtskulturellen Struktur der Region aufgebaut. Die Arbeiten zur jüdischen Geschichte der Region wurden im etablierten Rahmen rezipiert, sie nahmen aufeinander Bezug, egal ob das Werk von einem Christen oder Juden verfasst worden war.36 Gleichzeitig aber wies die Geschichtsschreibung zum jüdischen Bayerisch-Schwaben strukturell über die Region hinaus. Denn sie war zusätzlich in die nationalen Strukturen jüdischer Geschichtsschreibung eingebunden. Wichtige Arbeiten wurden nicht in den regionalhistorischen Periodika, sondern in den bedeutenden jüdischen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht.37 Der Referenzrah34

Es ist nicht exakt festzustellen, wann der Augsburger „Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ gegründet wurde. 1891 wurde eine Reihe von „Vorlesungen zur Förderung der Kenntniß jüdischer Geschichte und Litteratur“ eingerichtet, die von Distriktsrabbiner Heinrich Groß gehalten wurden. (Vgl. Allgemeine Zeitung des Judentums, 55. Jg., Nr. 10 vom 6. 3. 1891, Gemeindebote, S. 2) Im Jahr 1899 wird ein „Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ als Mitglied des „Verbands für jüdische Geschichte und Literatur“ erstmals erwähnt (Verzeichniß sämmtlicher Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland, deren Mitgliederzahl und Vorstände, in: Mitteilungen aus dem Verbande für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland 7 (1899), S. 285–294, hier S. 285); über die Vortragsveranstaltungen des Vereins geben die jährlichen Tätigkeitsberichte in den „Mitteilungen aus dem Verbande für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland“ Auskunft; vgl. z. B. ebd. 7 (1899), S. 295; 8 (1900), S. 17; 10 (1902), S. 18. Zu dem Verband und seinen Vereinen vgl. Jacob Borut: Vereine für jüdische Geschichte und Literatur at the End of the Nineteenth Century, in: Leo Baeck Institute Yearbook 41 (1996), S. 89–114. 35 Vgl. die jeweiligen Jahresberichte in „Mitteilungen aus dem Verbande für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland“. 36 Vgl. z. B. [Lehrer] Strauß: Vom Schicksal kleinerer jüdischer Gemeinden in Bayern: Harburg und Nördlingen, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 13. Jg., Nr. 2 vom 15. 1. 1937; Rose 1929 (wie Anm. 22); Hermann Rose: Geschichtliches der Israelitischen Kultusgemeinde Altenstadt, Altenstadt 1931; Lamm 1915 (wie Anm. 24); Sinz 1926 (wie Anm. 18). 37 Vgl. bes. die Veröffentlichungen Louis Lamms (wie Anm. 24 und 26); außerdem Aaron Friedmann: Die Geschichte der Juden in Monheim, in: Blätter für jüdische Geschichte und Litteratur 3 (1902), S. 1–4, 33–38, 49–53; Leopold Löwenstein: Günzburg und die schwäbischen Gemeinden, in: Blätter für jüdische Geschichte und Litteratur 1 (1900), S. 25 ff., 41 ff., 57 ff.; 2 (1901), S. 26 f., 33 ff., 41–44; 49 ff., 57 ff.; 3 (1902), S. 4–8, 56 ff.; Moritz Stern: Actenstücke zur Vertreibung der Juden aus Nördlingen, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. Alte Folge 4/1 (1890), S. 87–91; Ders.: Zur Geschichte der Juden in den schwäbischen Reichsstädten, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 7/4 (1937) S. 243–248; zur jüdischen Geschichtslandschaft vgl. Roemer 2005 (wie Anm. 7); Brenner 2006 (wie Anm. 7).

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men, welcher der Geschichte der bayerisch-schwäbischen Juden zugeschrieben wurde, war so ein nationaler, ja internationaler. Es ging um die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte als solcher. Allein aus diesem Interesse wandte sich der Berliner Bibliothekar und Historiker Moritz Stern der bayerischschwäbischen Geschichte zu.38 Genauso ordnete der Rabbiner Fritz Leopold Steinthal seine Untersuchung der jüdischen Geschichte Augsburgs im Mittelalter in die stadtgeschichtliche Forschung zum deutschen Judentum ein.39 Dass dieser Kontext ausschließlich von Juden bedient wurde, nimmt kaum wunder. Noch in einen zweiten innerjüdischen Referenzrahmen wurde die jüdische regionale Geschichtsschreibung eingeordnet: in den des bayerischen Judentums. Besonders in den 1920er Jahren konnten sich die Leser der „Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung“ über die Geschichte einzelner bayerisch-schwäbischer Judengemeinden informieren.40 Der Referenzrahmen jüdischer Regionalgeschichtsschreibung war mithin ein dreifacher: Erstens wurde Lokal- und Regionalgeschichte aus eigenem Recht geschrieben. Zweitens vergegenwärtigten sich die jüdischen Gemeinden ihre eigene Geschichte. Drittens verstand sich die jüdische Regionalgeschichte als Beitrag zur allgemeinen Geschichte des Judentums in Deutschland und in der Welt.41

II. Was aber wurde nun genau erzählt? Welches Bild entwarfen die lokalen und regionalen Geschichtsdeuter von der Geschichte der bayerisch-schwäbischen 38 Vgl. Stern 1890 (wie Anm. 37); Ders. 1937 (wie Anm. 37); Ders.: Beiträge zur Geschichte der Juden am Bodensee und in seiner Umgebung, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. Alte Folge 1 (1887), S. 216–229 und 297–308. Zu Stern vgl. Joseph Stern: Moritz Stern. 1864–1939. Bibliographie seiner Schriften und Aufsätze, Jerusalem 1939. 39 Vgl. Fritz Leopold Steinthal: Geschichte der Augsburger Juden im Mittelalter, Berlin 1911; zu Steinthal vgl. die Kurzbiographie in Hans Chanoch Meyer (Hg.): Aus Geschichte und Leben der Juden in Westfalen. Eine Sammelschrift, Frankfurt am Main 1962, S. 272. 40 Vgl. z. B.: Zur Geschichte der Juden in Augsburg, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Heft 2, 1926, vom 8. 2. 1926; Kahn: Geschichtliches 1926 (wie Anm. 22); Ders.: Thannhausen 1926 (wie Anm. 22); Sonn 1928 (wie Anm. 22); Rose 1929 (wie Anm. 22); Geschichtliches vom ehemaligen Markt und der nunmehrigen Stadt Ichenhausen, in: ebd., Nr. 6 vom 1. 4. 1928; Altenstadt in Schwaben, in: ebd., Nr. 24 vom 15. 12. 1928; Jakob Blum: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde Ichenhausen, aktenmäßig erzählt, in: ebd., Nr. 13 vom 1. 7. 1935; Strauß 1937 (wie Anm. 36). 41 Zur (in den überwiegenden Fällen vorausgesetzten) globalen Perspektive in der jüdischen Geschichtsschreibung vgl. Brenner 2006 (wie Anm. 7), bes. S. 32; Nils Roemer: Outside and Inside the Nations: Changing Borders in the Study of the Jewish Past During the Nineteenth Century, in: Gotzmann/Wiese 2007 (wie Anm. 29), S. 28–53; Ulrich Wyrwa: Die europäischen Dimensionen im Werk von Isaak Markus Jost, Heinrich Graetz und Martin Philippson, in: Hödl 2004 (wie Anm. 4), S. 99–108.

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Juden?42 Die Darstellungen zur Geschichte der Juden in Nördlingen, Augsburg, Memmingen, Buttenwiesen, Thannhausen, Lauingen, Altenstadt oder Ichenhausen lesen sich nahezu austauschbar: Es wurde eine Geschichte der Ansiedlung, Unterdrückung, Vertreibung, Neuansiedlung, eine Geschichte der unsicheren Rechtsverhältnisse, aber auch des großen wirtschaftlichen und unternehmerischen Erfolgs, der Auseinandersetzungen mit der christlichen Gemeinde, der Ausübung jüdischer Riten und Glaubenspraxen, der Gemeinden und ihrer Vorsteher erzählt – eine Leidensgeschichte des wandernden Volkes Israel mithin, die Geschichte einer Sondergruppe, der die Integration verwehrt blieb. Die „in allem Wechsel und Wandel der Zeiten sich gleichbleibenden Geschicke der jüdischen Glaubensgemeinschaft, und die Erfahrung, dass sich auch in ihrem kleinsten Teilchen noch die charakteristischen Schicksale des Ganzen widerspiegeln“43 glaubte Richard Grünfeld in der Geschichte der Augsburger Juden zu finden, ein „Stück finsterer Tragik, nur selten durch einen Strahl von Menschlichkeit gemildert und erhellt“ und doch von starkem Glauben, von „Widerstandskraft“ und tiefem Gottvertrauen zeugend.44 Nicht nur jüdische Geschichtsschreiber, sondern auch Ludwig Müller, Julius Miedel, Richard Ledermann und Heinrich Sinz erzählten eine Geschichte von Ausgrenzung und Gewalt, die erst mit der Emanzipationsbewegung seit dem 18. Jahrhundert ihr langsames Ende fand. Allerdings war der Leidenserzählung besonders bei jüdischen Autoren die Geschichte lebendiger Glaubenspraxis, rabbinischer Gelehrsamkeit und individuellen Erfolgs an die Seite gestellt. Die bayerisch-schwäbische Erzählung passte sich mithin in die dominierende jüdische Meistererzählung des 19. Jahrhunderts, der Leidens- und Gelehrtengeschichte, ein.45 Gleichermaßen aber zeugte sie von der Fortschrittsüberzeugung und Integrationsgewissheit des jüdischen Bürgertums. Es war kein Zufall, dass Israel Lammfromm und Richard Grünfeld, die beide an erster Stelle für ihre Gemeinden schrieben, dieser am markantesten Ausdruck verliehen.46 Die jüdische Geschichte des bayerischen Schwaben erschien zudem als Geschichte von Individuen. Lange Namenslisten, oft um zusätzliche Informationen ergänzt, gaben der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Ge42

Zur regionalen Geschichtsschreibung des langen 19. Jahrhunderts vgl. v. a. Georg Kunz: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewusstsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138). 43 Grünfeld 1917 (wie Anm. 28), S. 7. 44 Ebd., S. 37. 45 Vgl. Brenner 2006 (wie Anm. 7), v. a. S. 87–93; Johannes Heil: „… durch Fluten und Scheiterhaufen“: Persecution as a Topic in Jewish Historiography on the Way to Modernity, in: Rainer Liedtke/David Rechter (Hg.): Towards Normality? Acculturation and Modern German Jewry, Tübingen 2003 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 68), S. 53–76. 46 Vgl. Lammfromm 1911 (wie Anm. 23); Grünfeld 1917 (wie Anm. 28); zu Augsburg vgl. Fassl 1994 (wie Anm. 4).

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meinde ein individuelles Gepräge.47 Darüber hinaus versuchte man penibel, Familienbeziehungen nachzuverfolgen.48 Es entstand auf diese Weise eine personal vernetzte Geschichte der bayerisch-schwäbischen Judengemeinden, mehr noch: Das bayerisch-schwäbische Judentum zeigte sich als weiträumig vernetzte Größe, durch vielfältige personale Fäden mit dem Judentum in der Welt verwoben. Des Weiteren wurden traditionelle jüdische Erinnerungsorte zum Gegenstand der Geschichtsschreibung und damit das überlieferte historische Gedächtnis der Gemeinden selbst zum Teil jüdischer Erinnerungskultur. Die Memorbücher der Gemeinden wie ihre Friedhöfe waren beliebte Objekte historischen Forschens.49 Beide repräsentierten die individualisierte Form des jüdischen Geschichtsverständnisses, sie wiesen aber auch die Kontinuität jüdischer Siedlung nach. Für Isidor Kahn war der Hürbener Friedhof „der Kronzeuge“, der „so alt wie die Gemeinde“ war und die jahrhundertealte jüdische Geschichte des Ortes bezeugte.50 Und nicht nur diese: Denn je stärker sich das deutsche Judentum über eine Geschichte des Leidens und der Entbehrung definierte, desto größere Bedeutung kam den kleinen Gemeinden als Bewahrern und Sachwaltern jüdischen Erbes und als Erinnerungsorten jüdischer Identität zu.51 Die regionale Erzählung jüdischer Geschichte schuf überdies Räume. Zum einen konstruierten die Lokal- und Regionalhistoriker ganz selbstverständlich die jüdische Landschaft Bayerisch-Schwaben. Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verbindungen der Landjudengemeinden untereinander stützten die Annahme eines seit je existierenden Raumes.52 Louis Lamms nur teilweise verwirklichtes Projekt einer „Geschichte der Juden im bayerischen Schwaben“ war beredter Ausdruck davon. Das jüdische Schwaben fügte sich als eine Variante in die bayerisch-schwäbische Mental Map – die kollektive „Landkarte im Kopf“ – ein.53 Zum anderen aber wurde die jüdische Landschaft Bayerisch-Schwaben im Land Bayern wie im Reich verankert und stützte damit die plurale deutungskulturelle Struktur der Region.54 47 Vgl. z. B. Lamm 1915 (wie Anm. 24); Friedmann 1902 (wie Anm. 37); Löwenstein 1900/01/02 (wie Anm. 37); Lamm: Accordjuden 1904 (wie Anm. 26); Steinthal 1911 (wie Anm. 39), S. 83–91; Müller 1899 (wie Anm. 2), S. 161–182. 48 Vgl. z. B. Löwenstein 1900/01/02 (wie Anm. 37); Lamm 1931/32 (wie Anm. 26); Zur Personenbezogenheit in der jüdischen Geschichtskultur vgl. Roemer 2005 (wie Anm. 7), S. 129–131. 49 Vgl. z. B. Lamm 1901 (wie Anm. 26); Ders. 1931/32 (wie Anm. 26); Ders. 1912 (wie Anm. 24). 50 Kahn: Geschichtliches 1926 (wie Anm. 22). 51 Vgl. Roemer 2005 (wie Anm. 8), S. 84. 52 Vgl. z. B. Rose 1931 (wie Anm. 35), S. 2–5; Lamm 1915 (wie Anm. 24); Sinz 1926 (wie Anm. 18), S. 240–253; Miedel 1909 (wie Anm. 3). 53 Vgl. Frithjof Benjamin Schenk: Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493– 514; Roger M. Downs/David Stea: Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York 1982. 54 Vgl. Steber 2010 (wie Anm. 9), bes. S. 33–70.

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Die Geschichtsschreiber waren um Objektivität und Wissenschaftlichkeit bemüht, was viele dazu verleitete, Archivquellen vollständig zu zitieren.55 Es sollte wohl tatsächlich dem letzten Zweifler gezeigt werden, dass das Erzählte nicht erfunden war. Die jüdische Regionalhistoriographie basierte, was im Jahrhundert des Historismus kaum verwundert, auf der historisch-kritischen Methode. Das verwendete Methodenrepertoire war vielfältig, war es dem Gegenstand doch keineswegs angemessen, sich ihm ausschließlich politikhistorisch anzunähern. Vielmehr wurden rechts-, wirtschafts- und sozialhistorische Blickwinkel gewählt, um das Leben der jüdischen Gemeinden adäquat zu beschreiben.56 Dabei wurde mitunter auch auf kulturhistorische Methoden zurückgegriffen, wenn etwa Julius Miedel die jüdische Namensgeschichte des bayerischen Schwaben untersuchte.57 Allerdings blieb die bayerisch-schwäbische jüdische Geschichte frei von der seit der Jahrhundertwende zunehmend populärer werdenden volkskundlichen Bewegung, die in der Region mit dem Verein „Heimat“ in Kaufbeuren ein einflussreiches Zentrum hatte58 und zunehmend auch in der allgemeinen Geschichte des Judentums ihre Spuren hinterließ.59

III Die Geschichtsschreibung zum jüdischen bayerischen Schwaben entwickelte sich mithin sowohl aus der allgemeinen regionalen Geschichtsbewegung heraus, sowie sie spezifisch jüdische Wurzeln hatte. In welchem Verhältnis stand aber nun die Deutung jüdischer Regionalgeschichte zur Interpretation der allgemeinen Geschichte der Region? Auf drei Ebenen passte sie sich in diese ein: Zum ersten konnte sie nur vor der Folie bayerisch-schwäbischer Herrschaftsgeschichte erzählt werden, mehr noch: Sie war mit ihr elementar verknüpft. Erst vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Kleinkammerung, aus der die politische Pluralität der Region bis ins 20. Jahrhundert hinein rührte und die zum bestimmenden Merkmal der regionalen Selbstzuschreibung geworden war, hatte sich die jüdische Geschichte entfalten können. Sie selbst wurde Teil dieser Pluralität – und die 55

Vgl. Lamm: Die Vertriebenen 1903 (wie Anm. 26); Ders. 1902 (wie Anm. 26); Ders. 1915 (wie Anm. 24); Friedmann 1902 (wie Anm. 37); Rose 1931 (wie Anm. 36), S. 100–108; Sinz 1926 (wie Anm. 18), z. B. S. 246 f. 56 Dieselbe Entwicklung ist in der allgemeinen jüdischen Geschichtsschreibung zu konstatieren: vgl. Roemer 2007 (wie Anm. 41), S. 37. 57 Vgl. Miedel 1909 (wie Anm. 3), S. 104–114. 58 Zum Verein „Heimat“ und dessen Gründer, Spiritus Rector und jahrzehntelangem Leiter Christian Frank vgl. Steber 2010 (wie Anm. 9), S. 133–162. 59 Vgl. Roemer 2005 (wie Anm. 7), S. 117 f.; in Bezug auf den Diasporanationalismus: Brenner 2006 (wie Anm. 7), S. 129–146; mit Bezug auf zionistische Geschichtskonzeptionen: Moshe Zimmermann: Volk und Land – Volksgeschichte im deutschen Zionismus, in: Manfred Hettling (Hg.): Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 96–119.

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Darstellungen Miedels, Ledermanns oder Müllers zeigen, dass nicht nur katholische, protestantische, reichsstädtische oder Allgäuerische Varianten im Konstrukt Bayerisch-Schwaben ihren Platz finden konnten, sondern auch die jüdische Geschichte.60 Darüber hinaus konnte sich die Geschichte jüdischen Handels und jüdischer Finanz in die bayerisch-schwäbische ökonomische Erfolgsgeschichte einschreiben.61 Dies galt zumal für die Geschichte der Städte im 19. Jahrhundert, in die nach der Gewährung der Freizügigkeit viele Juden der kleinen Landgemeinden übersiedelten. „Handel und Wandel“ konnten, so interpretierte Miedel die lokale Judenpolitik der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, „durch Zuzug unternehmender und tätiger Geschäftsleute nur gewinnen“.62 Allerdings überlagerten die stereotype Zuschreibung eines angeblich angeborenen jüdischen „Erwerbstriebes“ und der durchgängige Wucherverdacht Richard Ledermanns Darstellung der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte Kaufbeurens und gaben ihr eine antijüdische Schlagseite, die sie von den übrigen regionalhistorischen Arbeiten der Jahrhundertwende im bayerischen Schwaben unterschied.63 Vorbilder dafür gab es jedoch auch in nicht allzu weiter Entfernung: Eugen Nüblings „Die Judengemeinden des Mittelalters, insbesondere die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm a. D.“, die 1896 in Ulm erschienen war, war nicht mehr und nicht weniger als ein antisemitisches Pamphlet.64 Umso bemerkenswerter erscheint der liberale Grundton der bayerisch-schwäbischen Beiträge, trotz aller grundsätzlichen Ambivalenzen, auf die unten noch näher einzugehen sein wird. Zum zweiten vollzog die jüdische Geschichte, wie gezeigt, den räumlichdeutungskulturellen Vierklang der bayerisch-schwäbischen Mental Map mit. Lokale, regionale, bayerische und nationale Deutungsebenen schlossen einander nicht aus, sondern gingen ineinander auf. Es fällt auf, dass besonders die Arbeiten zum 19. Jahrhundert die jüdische Orts- und Regionalgeschichte als Teil der deutschen Geschichte darzustellen bestrebt sind. Hermann Rose etwa zeichnete die Bewohner Altenstadts als deutsche Patrioten, die 1870/71 von der „große[n], alle deutschen Gaue durchziehenden Welle des glühenden Patriotismus und der höchsten Opferbereitschaft“ fortgerissen wurden.65 „Denn“, so Rose weiter, „wenn auch im Glauben getrennt, war man noch in der Liebe und Hingebung für das gemeinsame, aber gefährdete Vaterland geeint.“66 Die jüdische Anverwandlung des Nationalstaats konnte auch über die Region führen. 60

Vgl. Steber 2010 (wie Anm. 9), bes. S. 33–70. Ebd., S. 339–340. 62 Vgl. Miedel 1909 (wie Anm. 3), S. 92. 63 Vgl. Ledermann 1904 (wie Anm. 17). 64 Eugen Nübling: Die Judengemeinden des Mittelalters, insbesondere die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm a. D. Ein Beitrag zur deutschen Städte- und Wirtschaftsgeschichte, Ulm 1896. 65 Rose 1931 (wie Anm. 36), S. 26. 66 Ebd., S. 31. 61

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Zum dritten teilte die jüdische Geschichte die Periodisierung mit der regionalen Geschichtserzählung. Der große Bruch wurde hier wie dort mit dem Übergang an Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen. Dabei setzte man den Durchbruch zur jüdischen Emanzipation mit der „Einverleibung“ und der Neugründung des Königreichs gleich. „Als durch den Preßburger Frieden die Markgrafschaft samt Ichenhausen an die Krone Bayern kam, erhielten die Juden große Erleichterung“, konstatierte Heinrich Sinz.67 Allerdings gilt das nur mit einer wichtigen Einschränkung: Denn es wurde durchaus betont, dass die völlige bürgerliche Gleichstellung erst 1869 erreicht wurde – und nicht zuvor. Daher mischten sich in die positiven Bewertungen des Übergangs kritische Stimmen, die in erster Linie auf das bayerische Judenedikt von 1813 zielten. Mit der „erlangten bayerischen Untertanenschaft waren noch lange nicht alle Ketten der Einschränkung und Zurücksetzung gesprengt“, machte Hermann Rose klar, und Israel Lammfromm wies auf die „große[n] Härten“ des Edikts hin.68 Während in der bayerisch-schwäbischen Geschichtserzählung mit Bayern der Fortschritt in der Region Einzug hielt, war dieser in der jüdischen Variante der Regionalgeschichte zwar seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bemerkbar, kam aber eher auf leisen Sohlen daher. Dennoch: Ganz prinzipiell kongruierte die jüdische Emanzipations- mit der bayerisch-schwäbischen Fortschrittserzählung. Das bislang Gesagte deutet auf eine Integration der jüdischen Geschichte und Geschichtsschreibung in die allgemeine bayerisch-schwäbische Geschichte hin. Indes: Das Bild stellt sich bei genauerem Hinsehen um einiges differenzierter dar. An zwei Punkten soll im Folgenden das schwierige Verhältnis von allgemeiner Regionalhistoriographie und jüdischer Geschichte kurz beleuchtet werden. Die oben angeführten Beispiele zeugen – erstens – von der Integrationskraft des Regionalen an der Jahrhundertwende und ganz besonders der Stärke des liberalen Erbes in der Region.69 Es mag kaum verwundern, dass die beiden wortgewaltigen und fundiertesten Arbeiten zur jüdischen Geschichte von Vertretern des liberalen protestantischen Bürgertums der ehemaligen Reichsstädte stammen: von Ludwig Müller aus Nördlingen und Julius Miedel aus Memmingen.70 Doch besonders bei Miedel wird trotz aller Offenheit die

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Sinz 1926 (wie Anm. 18), S. 255. Vgl. Lammfromm 1911 (wie Anm. 23), S. 32. Zum bayerischen Judenedikt von 1813 vgl. den Beitrag von Rolf Kießling in diesem Band. 69 Die Inklusivität regionaler Bemühungen um die Bewahrung des historischen Erbes beobachtet Nils Roemer genauso am Wormser Beispiel, vgl. Roemer 2005 (wie Anm. 8), S. 87. 70 Zur Entwicklung des bayerisch-schwäbischen Liberalismus seit 1848/49 vgl. Dietmar Nickel: Die Revolution 1848/49 in Augsburg und Bayerisch-Schwaben, Augsburg 1965 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 8); Die Revolution von 1848/49 in Bayerisch-Schwaben. Dokumentation der Wanderausstellung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben, konzipiert von Peter Fassl, Augsburg 1998; Karl Bachmann: Die 68

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inhärente Ambivalenz des liberalen Integrationsversuchs deutlich. Die bayerisch-schwäbische Selbstbeschreibung basierte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Vorstellung von der ethnischen Einheitlichkeit der Bewohner der Region, die in tribalistischen Kategorien als Schwaben identifiziert wurden. Die Regionalhistoriographie adaptierte dieses Konzept seit der Jahrhundertwende und war eifrig bestrebt, es historisch zu unterfüttern – und Miedel gehörte zu den Exponenten dieser Bewegung.71 Während er also einerseits die ethnischen Gewissheiten zementierte,72 suchte er die jüdische Geschichte in die Regionalgeschichte zu integrieren – dass die Juden die tribalistischen Voraussetzungen nicht erfüllten, dass sie „Fremde“, „Nichtdeutsche“ waren, eine eigene „Nation“ bildeten,73 las man selbst in seinem Beitrag zur Synagogeneinweihung. Trotz aller liberalen Offenheit, trotz ihrer Kennzeichnung als „schwäbische Juden“ bekamen sie eine Sonderrolle in der bayerisch-schwäbischen Geschichte zugewiesen. Dabei blieb allerdings unentschieden, ob diese Differenz biologisch oder kulturell begründet war. Auch bei Ludwig Müller, der die Intoleranz und Unterdrückung der Juden geißelte, blieben die Juden ein eigenes „Volk“.74 Die jüdischen Autoren dagegen, soweit dies aus den wenigen Texten nachvollziehbar ist, definierten die Juden als „Religionsgemeinschaft“,75 als „Confession“.76 Sie schrieben jüdische Geschichte als Geschichte ihrer Gemeinden in der christlichen Umwelt. Die tribalistisch schwäbische Perspektive war ihnen und musste ihnen völlig fremd sein. Allerdings entwickelten sie keine eigene jüdische Stammesvorstellung, wie es vielleicht in Reaktion auf die fortschreitende Ethnisierung des Schwäbischen zu erwarten gewesen wäre – zumindest die historiographischen Quellen schweigen in dieser Beziehung. Im allgemeinen jüdischen Diskurs der Jahrhundertwende war diese Vorstellung dagegen als Konzept der Versöhnung des Partikularen und Nationalen

Volksbewegung 1848/49 im Allgäu und ihre Vorläufer, Erlangen 1954 (Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte. N. F. 6); Dietmar H. Voges (Hg.): Nördlingen seit der Reformation. Aus dem Leben einer Stadt, München 1998, S. 330–381; Ulrich Klinkert: Revolution in der Provinz. Kaufbeuren in den Jahren 1848 und 1849, Thalhofen 2004 (Kaufbeurer Schriftenreihe 5). Zu den politischen Haltungen im bayerischschwäbischen Judentum vornehmlich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Gerhard Hetzer: Die Beteiligung von Juden an der politischen Willensbildung in Schwaben 1818– 1871. Erfolge und Fehlschläge eines Integrationsprozesses, in: Fassl 1994 (wie Anm. 4), S. 73–91. 71 Vgl. Steber 2010 (wie Anm. 9), S. 71–132. 72 Vgl. z. B. Julius Miedel: Besiedelungsgeschichte des Amtsbezirks Schwabmünchen. Auf Grund der Ortsnamen untersucht, in: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 1 (1909–1911), S. 1–22. 73 Miedel 1909 (wie Anm. 3), S. 6, 12. 74 Vgl. Müller 1898 (wie Anm. 2), S. 3. 75 Rose 1931 (wie Anm. 36), Vorwort. 76 Lammfromm 1930 (wie Anm. 23), S. 46.

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gerade nach dem Vorbild der regionalen Integrationsmuster durchaus gängig, verlor allerdings zunehmend an Überzeugungskraft.77 Je stärker allerdings in der bayerisch-schwäbischen Selbstzuschreibung die beiden Komponenten „Volk“ – in seiner tribalistisch schwäbischen Gestalt – und „Raum“ verschmolzen und zudem die ethnischen Gewissheiten immer deutlicher biologistisch fundiert wurden, desto schwieriger musste es werden, die jüdische Geschichte als Teil bayerisch-schwäbischer Geschichte zu verstehen. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich genau jene Vorstellung durchgesetzt und hatten die alten liberalen Konzepte an Boden verloren.78 Das dynamische Konzept eines „Volkes“, das die Räume wechselte, wurde zum definitorischen Gegenpol in einem Klima der Hochschätzung des biologisch, räumlich und ethnisch Statischen der immer gleichen Schwaben im immer gleichen Raum. Sicherlich gab es weiterhin andere Stimmen – und die Arbeiten Heinrich Sinz’ seien hier noch einmal hervorgehoben. Für das geschichtskulturelle Establishment der Weimarer Republik, das ob seiner engen Verbindung zur regionalen Politik so mächtig wie nie war, gehörte die jüdische Geschichte dagegen nicht zum Kanon der bayerisch-schwäbischen Geschichte.79 Zwar konnte im Jahrgang 1933 der „Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg“ Louis Dürrwanger noch eine Miszelle zur jüdischen Geschichte Kriegshabers veröffentlichen,80 doch war dies eine rare Ausnahme und zudem ein letzter Abgesang auf die kaiserzeitliche Tradition, an die erst in den 1980er Jahren wieder angeknüpft werden sollte.81 Stattdessen deutete sich bereits die Richtung an, die die Regionalhistoriographie nehmen sollte. Seiner 1922 in Erlangen angenommenen Dissertation zur jüdischen Geschichte Augsburgs im 18. Jahrhundert legte Richard Hipper 77

Vgl. Till van Rahden: „Germans of the Jewish Stamm“. Visions of Community between Nationalism and Particularism, 1850 to 1933, in: Neil Gregor/Nils Roemer/Mark Roseman (Hg.): German History from the Margins, Bloomington/Indianapolis 2006, S. 27–48; Michael Brenner: Religion, Nation oder Stamm: zum Wandel der Selbstdefinition unter deutschen Juden, in: Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt a. M./New York 2001, S. 587–601; Silvia Cresti: German and Austrian Jews’ Concept of Culture, Nation and Volk, in: Liedtke/Rechter 2003 (wie Anm. 45), S. 271–289, bes. S. 277–280. 78 Zu diesem Prozess vgl. Steber 2010 (wie Anm. 9). 79 Vgl. ebd., bes. S. 257–275. Außerdem: Dies.: Politik für eine „andere Moderne“. Kempten, Otto Merkt und „Heimatpflege in der Stadt“, in: Detlef Schmiechen-Ackermann/ Steffi Kaltenborn (Hg.): Stadtgeschichte in der NS-Zeit. Fallstudien aus Sachsen-Anhalt und vergleichende Perspektiven, Münster 2005, S. 92–108. 80 Vgl. Louis Dürrwanger: Der kurbayerische Hoffaktor Abraham Mendle aus Kriegshaber, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 49 (1933), S. 163– 167. 81 Vgl. v. a. Michael Piller: Fischach. Geschichte einer mittelschwäbischen Marktgemeinde, Weißenhorn 1981; Fassl 1994 (wie Anm. 4); Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), und außerdem die zahlreichen Arbeiten Gernot Römers zur nationalsozialistischen Verfolgung der Juden im bayerischen Schwaben.

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eine rassentheoretisch fundierte Definition des Jüdischen zu Grunde.82 Die Augsburger Geschichte sah er durchzogen von einem Kampf zwischen „fremdrassigen“, orientalischen Juden mit „grausamen merkantilen Eigenschaften“83 und einheimischen, abendländischen Bürgern, die letztlich mit der jüdischen Emanzipation des 19. Jahrhunderts unterlagen. Eine Zusammenfassung seiner von antisemitischen Stereotypen strotzenden Arbeit konnte Hipper 1926 in „Das Bayerland“, der staatsfinanzierten Kulturzeitschrift, veröffentlichen.84 Aus der jüdischen Geschichte des bayerischen Schwaben war die Geschichte der „Judenfrage“ im bayerischen Schwaben geworden.85 Dass die Nationalsozialisten diese Muster begierig aufsogen, braucht kaum erwähnt zu werden. Eduard Gebeles antisemitisches Pamphlet „Die Juden in Schwaben“, in „Schwabenland“ (der nationalsozialistischen Kulturzeitschrift des Gaues) prominent platziert und als Sonderdruck weit verbreitet, war schließlich der traurige Höhepunkt dieser Entwicklung.86 Es stand aber beileibe nicht allein. Vielmehr fand sich die antisemitische Erzählung der bayerisch-schwäbischen Geschichte im letzten Band der renommierten Geschichte des Allgäus, für den Josef Rottenkolber verantwortlich zeichnete,87 genauso wie in einer großen Anzahl von historischen Artikeln zur „Judenfrage in Schwaben“, die in den Tageszeitungen des Gaues erschienen.88 Die jüdische Regionalgeschichtsschreibung dagegen war im bayerischen Schwaben wie anderswo ins „kulturelle Ghetto“ abgedrängt worden.89 Selbst 82 Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 4° Aug. 629, Richard Hipper: Die Reichsstadt Augsburg und die Judenschaft vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Aufhebung der reichsstädtischen Verfassung. MS, Diss. Univ. Erlangen 1922. 83 Ebd., S. 2. 84 Vgl. Richard Hipper: Die Juden von Augsburg. Ein Kulturbild aus der Judengeschichte der Reichsstädte, in: Das Bayerland 37/20 (1926), S. 607–613. Zum „Bayerland“ vgl. Ulla-Britta Vollhardt: „Das Bayerland“ und der Nationalsozialismus. Zum Wirken einer Heimatzeitschrift in Demokratie und Diktatur, St. Ottilien 1998. 85 Hipper 1922 (wie Anm. 82), S. 607. 86 Vgl. Eduard Gebele: Die Juden in Schwaben, in: Schwabenland 5/2–3 (1938), S. 45–116. 87 Vgl. Josef Rottenkolber: Geschichte des Allgäus, Bd. 4: Das 19. Jahrhundert (= Allgäuer Geschichtsfreund Neue Folge. 43), Kempten 1938 [Neudruck Aalen 1973], S. 262. 88 Vgl. die in der „Schwabenkartei“ (Bezirksheimatpflege Schwaben, SK/VII/N/4n) gesammelten Zeitungsartikel: Günzburger National-Zeitung, 14. 2. 1936, Die Günzburger Stockhiebe; Augsburger National-Zeitung vom 30. 11. 1938, Wie Thannhausen seine Judenfrage löste; ebd. vom 3. 12. 1938, Augsburgs Juden – schon seit Römerzeiten verhasst; Neue Augsburger Zeitung vom 17. 12. 1938, Ein jahrhundertelanger Kampf steht vor dem Abschluss: Den Juden ist das Handwerk gelegt; Der Schwäbische Postbote vom 2. 1. 1939, Von den Juden in Nördlingen; Neue Augsburger Zeitung vom 28. 1. 1939, Ein Schwabe gegen die Juden – vor 400 Jahren; ebd. vom 7. 2. 1939, Woher haben die Juden ihr Geld?; Völkischer Beobachter vom 20. 2. 1939, Die „armen“ Laupheimer Juden!; Neue Augsburger Zeitung vom 14. 3. 1939, Jüdischer Unfug an Schwabens Grenzen; ebd. vom 31. 5. 1939, Juden im Augsburger Biedermeier. Außerdem: Das Schöne Allgäu 7/24 (1939), S. 351, Gedicht: Juden. 89 Michael Brenner: Historiography in a Cultural Ghetto: Jewish Historians in Nazi Germany, in: Gotzmann/Wiese 2007 (wie Anm. 29), S. 356–367.

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dort aber war sie zu einem kaum verfolgten Randthema geworden.90 Umso bemerkenswerter ist es, dass im Jahr 1940 Heinrich Sinz in seiner Ortsgeschichte von Krumbach die Geschichte der jüdischen Gemeinde Hürbens gewohnt objektiv darstellte,91 wenn er auch genau darauf achtete, dass christliche und jüdische Geschichte exakt getrennt wurden und einige wenige Überschriften antijüdische Stereotype bedienten („Jüdische Druckerei. Verbotener Handel“; „Klagen wegen der Juden“; „Weitere Vermehrung der Judenschaft“)92; dass diese Ortsgeschichte, die sich von der nationalsozialistischen antisemitisch-hetzerischen Geschichtsdarstellung wohltuend abhob, im NSRegime überhaupt erscheinen konnte, ist hervorzuheben.93 Die Ausgrenzung, Verfolgung und schließliche Deportation der Ichenhausener jüdischen Gemeinde dokumentierte der katholische Geistliche im Übrigen detailliert, wohl um als Chronist den Nachgeborenen Zeugnis abzulegen. Als Sinz’ Schriften 1955 posthum veröffentlicht wurden, schreckten die Herausgeber allerdings vor der Publikation seiner Chronik zurück. Erst 1996 wurden die Aufzeich-

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Veröffentlicht wurden nur noch: Strauß 1937 (wie Anm. 36); Ludwig Mayer: Juden in Augsburg in alter und neuer Zeit, in: Jüdisches Gemeindeblatt für den Verband der Kultusgemeinden in Bayern, Nr. 16 vom 15. 8. 1937, S. 292–294; Blum 1935 (wie Anm. 40); Stern 1937 (wie Anm. 37), S. 243–248. 91 Vgl. Heinrich Sinz: Beiträge zur Geschichte des ehemaligen Marktes und der nunmehrigen Stadt Krumbach (Schwaben), Krumbach 1940. Die jüdische Geschichte wird dargestellt in Kap. V: Geschichtliches über Sitz und Dorf Hürben, S. 231–269, hier die Kapitel: Die Juden in Hürben im 15. und 16. Jahrhundert, S. 251–258; Die Judenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, S. 259–269. 92 Ebd., S. 256 f., 262 f., 264 f. 93 Im Vorwort bedankt sich Heinrich Sinz ausdrücklich bei Regierungsrat Christian Wallenreiter (1900–1980), stellvertretender Landrat des Landkreises Krumbach, für „fortlaufende Unterstützung“; Wallenreiter war bekennender Katholik und stand dem Nationalsozialismus vor 1933 kritisch gegenüber; 1937 trat er wohl auf Druck hin in die NSDAP ein; auf der einen Seite stützte er die NS-Herrschaft durch seine herausgehobene Tätigkeit in der Staatsverwaltung, auf der anderen Seite scheint er seine Position genutzt zu haben, um insbesondere gefährdeten katholischen Geistlichen beizuspringen (vgl. Staatsarchiv Augsburg (StAA), Spruchkammerakten, Spk Augsburg II u. IV, W-141). Seine Tätigkeit im NS-Regime ist noch nicht aufgearbeitet. Wallenreiter, der in den 1950er Jahren in leitende Positionen im bayerischen Kultusministerium gelangte, agierte von 1960 bis 1972 als Intendant des Bayerischen Rundfunks, 1967–1969 als Intendant der ARD. Zu Christian Wallenreiter v. a. Ulla-Britta Vollhardt: Staatliche Heimatpolitik und Heimatdiskurse in Bayern 1945–1970. Identitätsstiftung zwischen Tradition und Modernisierung, München 2008 (Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft 3), S. 290–292 et.al.; unkritisch: Georg Simnacher/Albert Scharf: Christian Wallenreiter 1900–1980. Förderer schwäbischer Kultur und Heimatpflege, in: Wolfgang Haberl (Hg.): Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Weißenhorn/Schwaben 1997 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte, Veröffentlichungen Reihe 3, 15), S. 327–335; Albert Scharf: Christian Wallenreiter. Der Intendant des Bayerischen Rundfunks, in: Georg Simnacher: Schwaben – Tradition und Fortschritt. Historische Analysen, Reflexionen, Portraits zur Kulturgeschichte einer europäischen Region. Festgabe zum 65. Geburtstag des Verfassers, Weißenhorn 1997 (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 23), S. 260–267.

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nungen, die akribisch Verfolgte, Verfolger und Profiteure benannten, der lokalen Öffentlichkeit zugemutet.94 Ein zweiter Punkt sei hervorgehoben, um das schwierige Verhältnis von Regionalhistoriographie und jüdischer Geschichte zwischen Kaiserreich und NS-Regime auszuloten. Hermann Rose wollte mit seiner Geschichte Altenstadts im Jahre 1931 seinen Lesern das „Bild der lieben Heimat vor die Seele stellen“, davon überzeugt, dass „Heimatliebe […] eine der zartesten Regungen auf den Gefühlssaiten des menschlichen Herzens“ sei.95 Ebenso verortete Isidor Kahn 1926 seine Geschichte der Juden in Thannhausen im Kontext der „Heimat“-Welle, die die Weimarer Republik durchflutete.96 „Überall“, so der jüdische Hauptlehrer, „zeigt sich ein reges Streben, das Heimatleben in Gegenwart und Vergangenheit zu beleuchten und verstehen zu lernen, die Wechselbeziehungen zwischen Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen der Menschen zueinander zu erforschen, um daraus Schlüsse und Folgerungen für die Zukunft zu ziehen. Dieses Suchen und Forschen förderte auch die Geschichte der Juden in Thannhausen […] zutage.“97 Auch Heinrich Sinz zeigte sich als überzeugter Vertreter des Heimatgedankens. Mit seinen Büchern wollte er beitragen zur „Weckung und Erhaltung des Heimatsinnes und der Vaterlandsliebe“.98 Allein über die Besinnung auf die Werte der „Heimat“ sei eine Regeneration des „Vaterlandes“ möglich, lautete die ständig wiederholte Formel. Die Polyvalenz des Heimatbegriffs bot dabei allen Lagern der fragmentierten Weimarer politischen Kultur eine Anschlussmöglichkeit, was seine Attraktivität als Formel der erhofften „Einheit“ noch steigerte.99 Die allenthalben – und so auch im „Bayerischen Israelitischen Gemeindeblatt“ – publizierten kurzen ortsgeschichtlichen Abhandlungen zeugten von der Ubiquität dieses Denkens. Die regionale Selbstbeschreibung hatte sich im bayerischen Schwaben am Ende des Ersten Weltkriegs endgültig mit dem Heimatbegriff verbunden, der 94

Vgl. Heinrich Sinz: Die letzten vierzig Jahre der Judenschaft in Ichenhausen (1906– 1946), in: Gromer 1996 (wie Anm. 19), S. 45–84. 95 Rose 1931 (wie Anm. 36), Vorwort. 96 Vgl. u. a. Willi Oberkrome: „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen. 1900–1960, Paderborn u. a. 2004 (Forschungen zur Regionalgeschichte 47); Applegate 1990 (wie Anm. 10), S. 120–196; Thomas Rohkrämer: Bewahrung, Neugestaltung, Restauration? Konservative Raum- und Heimatvorstellungen in Deutschland 1900– 1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007 (Ordnungssysteme 22), S. 49–68; Thomas Hertfelder: Die Heimat des Historikers. Zum Heimatbegriff im historisch-politischen Denken Franz Schnabels, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998), S. 427– 453. 97 Kahn: Thannhausen 1926 (wie Anm. 22). 98 Vgl. Sinz 1926 (wie Anm. 18), S. 3, außerdem S. 303. 99 Zur Sehnsucht nach „Einheit“ in der Weimarer Republik vgl. Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 159–187.

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die Regionalkultur durchdrang. Kahns und Roses jüdische Heimatgeschichten schrieben sich denn auch in diesen Kontext ein. Allerdings nahm „Heimat“ gleichzeitig eine immer deutlicher völkische Färbung an, die nicht zu einem kleinen Teil dem Einfluss Christian Franks und seines 1899 gegründeten Vereins „Heimat“ in Kaufbeuren zuzuschreiben war.100 Dass in dessen weit verbreiteter und anerkannter Zeitschrift „Deutsche Gaue“ die jüdische Geschichte seit 1899 nur durch zwei Zuschriften aus dem Leserkreis erwähnt wurde, ansonsten aber ausgespart blieb und im Jahrgang 1917 Judenwitze des „Volksmunds“ zu lesen waren, mag ob ihrer neurechten Ausrichtung kaum verwundern.101 Die jüdische Ausgrenzung im Namen der „Heimat“, die im NS-Regime zum kulturellen Alltag gehörte, hatte ihre Wurzeln im Kaiserreich.

IV. Die Geschichte der jüdischen Regionalhistoriographie im bayerischen Schwaben durchzogen dieselben Fäden wie die der Geschichte der deutschen Juden zwischen Kaiserreich und NS-Regime im Allgemeinen: der schmale Grat zwischen Integrationsverheißung und Exklusion, das jüdische Ringen um eine eigene Identität im Gesamt der Nation und die bittere Zerstörung der Hoffnung auf Toleranz und Akzeptanz. Zugleich legt die Geschichte der jüdischen Regionalhistoriographie im bayerischen Schwaben die lokalen und regionalen Wurzeln der Ausgrenzung im Zeichen des ethnisch-biologistischen Nationalismus frei, zeigt aber auch, dass sich jüdische Geschichtsschreibung nicht allein als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus seit den 1880er Jahren und die Herausforderung der Nationsbildung formierte. Sie bezog ihre Impulse genauso aus dem historischen Interesse der jüdischen Landgemeinden, die nicht zuletzt ihren Platz in der jüdischen Erinnerungsgemeinschaft beanspruchten,102 sowie aus dem kulturellen Partizipationsanspruch des jüdischen Bürgertums. Doch trotz aller Anerkennung an der Jahrhundertwende blieb sie ein Exot im großen regionalgeschichtlichen Becken. In den Publikationen vieler Geschichtsvereine kam sie nicht vor und daran änderten auch nichts die beiläufigen Erwähnungen jüdischer Existenz bzw. Vertreibung in den gängigen Überblicksdarstellungen.103 Und ein weiteres zeigte die Ausein100

Vgl. Steber 2010 (wie Anm. 9). Vgl. Pf. Burger: Judenfriedhöfe, in: Deutsche Gaue 27 (1926), S. 101; Alex Wetzlar: Judenfriedhöfe, in: ebd. 28 (1927), S. 66 f.; Schnitz: Von den Juden, in: ebd. 18 (1917), S. 17. 102 Vgl. Lamm 1901 (wie Anm. 26), S. 540. 103 Vgl. Franz Joetze: Die Entwicklung der Stadt bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Karl Wolfart unter Mitwirkung von Franz Joetze u. a. (Hg.): Geschichte der Stadt Lindau im Bodensee, Bd. I/1, II. Buch, Lindau 1909, S. 41–89, hier S. 49; Ders.: Lindaus Blütezeit (1300–1519), in: ebd., III. Buch, S. 91–247, hier S. 102 f., 142–147; Pius Dirr: Augsburg, 101

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andersetzung mit der jüdischen Regionalhistoriographie im bayerischen Schwaben: Im Gegensatz zur allgemeinen Regionalgeschichte war in ihr die welthistorische Perspektive stets gegenwärtig. Die jüdische Heimatgeschichte, die Hermann Rose entwarf, wollte denn auch die „Heimat“ Altenstadt als erinnerungskulturellen Knotenpunkt des über die Welt zerstreuten Judentums verstanden wissen und seine historische Erzählung als „Band der Vereinigung […] zwischen der altehrwürdigen Jr woem b’Jisroel – Stadt und Mutter in Israel – und ihren einheimischen und auswärtigen Kindern“.104 Die jüdische „Heimat“ im bayerischen Schwaben, der sich die bayerischschwäbischen Juden seit der rechtlichen Gleichstellung glaubten endlich sicher sein zu können, wurde indes wenige Jahre später vollends zerstört – und damit selbst zur unwiederbringlich verlorenen Geschichte.

Leipzig 1909, S. 63 f., 127; Franz Ludwig Baumann: Geschichte des Allgäus, Bd. 2: Das späte Mittelalter (1268–1517), Kempten 1890, S. 20, 296, 403, 657–658; Ebd. Bd. 3: Die neuere Zeit (1517–1802), Kempten 1895, S. 512, 541 ff. 104 Rose 1931 (wie Anm. 36), Vorwort. Zu den vielfachen Verbindungen von in den Städten lebenden Juden zu den ehemaligen ländlichen Wohnorten ihrer Familien vgl. Marion Kaplan: Redefining Judaism in Imperial Germany: Practices, Mentalities, and Community, in: Jewish Social Studies 9 (2002), S. 1–33, hier S. 9 ff.

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DIE ZWEITE JÜDISCHE GEMEINDE VON AUGSBURG 1861–1943 Von Benigna Schönhagen

Die zweite jüdische Gemeinde von Augsburg hat eine lange, nahezu ein halbes Jahrhundert währende Vorgeschichte, in der sich die Mühen der Emanzipation ebenso spiegeln wie die Chancen des Neubeginns. Als die Nationalsozialisten ihr gewaltsam ein Ende setzten, hatte die Gemeinde nicht einmal hundert Jahre existiert. In den zwischen Gründung und Zerstörung liegenden acht Jahrzehnten entfaltete sich jüdisches Leben in Augsburg im Spannungsfeld von Tradition und Moderne, von Integration und Ausschluss wie überall in Deutschland. Die überwiegend konservative Einstellung der aus dem schwäbischen Umland zugewanderten Landjuden und die Orthodoxie der Pogromflüchtlinge aus Osteuropa verbanden sich in Augsburg mit der liberalen Haltung der städtischen Juden zu einem akkulturierten, gemäßigten Reformjudentum. Die wachsende Bedrohung durch den nach 1933 zur Staatsideologie erhobenen Antisemitismus nahm die Mehrheit der weithin integrierten Augsburger Juden nur langsam wahr. Einige reagierten darauf mit Emigration, viele mit einer Intensivierung jüdischen Lebens und einer Rückbesinnung auf ihre Tradition.

I. Nachdem die mittelalterliche jüdische Gemeinde 1438 ausgewiesen worden war, durften Juden erst wieder eine Gemeinde in Augsburg gründen, als die Ideen der Aufklärung und eine fortschrittliche Verwaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Königreich Bayern die Repressionen der überkommenen Judengesetzgebung gelockert und eine schrittweise Durchsetzung der bürgerlichen Gleichstellung für Juden bewirkt hatten. Zwar war bereits 1803 drei jüdischen Bankiers, gegen den erbitterten Widerstand der ansässigen Kaufleute, eine dauerhafte Niederlassung mit ihren Familien und Angestellten in der Stadt zugestanden worden, doch war das eine Ausnahmegenehmigung, die mit günstigen Darlehen erkauft werden musste.1 Auch das 1813 erlassene 1 1803 gestattete die bayerische Regierung den Wechselhäusern Westheimer & Straßburger, Henle Ephraim Ullmann und Jakob Obermayer die Niederlassung gegen Zahlung von 1350 Gulden, ein Darlehen von 200 000 Gulden sowie weiteren 300 000 Gulden (Hans K. Hirsch: Juden in Augsburg, in: Günther Grünsteudel u. a. (Hg.): Augsburger Stadtlexikon, 2. Aufl., Augsburg 1998, S. 135–145, hier S. 138; Peter Fassl: Die wirtschaftliche und soziale Stellung der Juden in Augsburg im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. Wiss. Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee, Sigmaringen 1994 (Irseer Schriften Bd. 2), S. 129–146).

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„Judenedikt“ gewährte noch keine vollkommene Gleichstellung. Es eröffnete zwar neue wirtschaftliche Möglichkeiten, strebte aber gleichzeitig die Reduzierung aller Juden in Bayern an. Der sogenannte Matrikelparagraph legte die Zahl der in Augsburg dauerhaft zugelassenen jüdischen Familien auf 13 fest, 1813 waren das insgesamt 126 Personen. 1818 wurde eine weitere Familie zugelassen.2 Ansiedlungsgesuche, die über die festgeschriebene Matrikelzahl hinausgingen, scheiterten bis zur Jahrhundertmitte am heftigen Widerstand der konservativen katholischen Mehrheit im Magistrat, die die Konkurrenz der jüdischen Geschäftsleute fürchtete. Widerstand gegen weitere Niederlassungen übten auch die ersten jüdischen Ansiedler selbst, weil sie ihre privilegierte Situation nicht durch weiteren Zuzug gefährden wollten.3 Erst als sich die Liberalen bei den Kommunalwahlen 1857 durchsetzten, nahm die Ansiedlung von Juden merklich zu, was durch die Auflösung des Matrikelparagraphen 1861 noch verstärkt wurde. Die neue jüdische Gemeinschaft organisierte sich rasch, wie die für 1851 erwähnten, aber nicht mehr vorhandenen Protokolle einer jüdischen Gemeindeversammlung zeigen. Doch erst 1861 erhielten die mittlerweile 65 in der Stadt lebenden jüdischen Familien die staatliche Genehmigung zur Bildung einer Kultusgemeinde. Das war der offizielle Beginn der zweiten jüdischen Gemeinde von Augsburg. Bis dahin gehörten die in Augsburg lebenden Juden zum Distriktsrabbinat Kriegshaber. Viele der nach Augsburg zugezogenen Familien stammten aus dieser traditionsreichen Vorortgemeinde, die im 16. Jahrhundert entstanden war. Auf dem dort im 17. Jahrhundert eröffneten Friedhof begruben die Augsburger Juden vorerst auch weiterhin ihre Toten.4 1867 legte die rasch wachsende Gemeinde aber einen eigenen Friedhof am südlichen Rand der Stadt, in der Haunstetter Straße an. Als Versammlungs- und Kultraum nutzte sie anfangs eine „Betstube“ im Privathaus des wohlhabenden Bankiers Jakob Obermayer (1755–1828) am Obstmarkt, seit 1858 ein zur Synagoge umgebautes Privatgebäude in der Wintergasse A 13 (heute 11). Nach einer bereits 1863 2

Das waren Arnold Seligmann aus München, Jakob Obermayer aus Kriegshaber, Götsch und Simon Weiler aus Straßburg, Joseph Henle Ullmann aus Kriegshaber, Simon Wallersteiner aus Kriegshaber, Amson Heymann aus Gunzenhausen, Isidor Obermayer, Samson Binswanger, Hirsch Wolf Levi und Blümle Veit Kaula aus Kriegshaber sowie Simon Levi und Wolf Regensburger aus Steppach (Hirsch 1998 (wie Anm. 1), S. 139). 3 Hans K. Hirsch: Zur Situation der Juden in Augsburg während der Emanzipationszeit, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reichs, Berlin 1995 (Colloquia Augustana Bd. 2), S. 306–323. 4 Richard Grünfeld: Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Augsburg am 4. April 1917, Augsburg 1917, Nachdruck in: Stiftung Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben (Hg.): Zehn Jahre Wiedererrichtung der Synagoge Augsburg. Zehn Jahre Gründung des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben, Augsburg 2001, S. 56 f.; Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 133. Dort auch die weiteren Belege.

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erfolgten Erweiterung musste sie noch mehrmals ausgebaut und vergrößert werden, um die ständig wachsende Zahl der Gemeindemitglieder zu fassen. Noch im Gründungsjahr 1861 stellte die Augsburger Kultusgemeinde gemeinsam mit den drei Vorortgemeinden Kriegshaber, Pfersee und Steppach Dr. Jakob Heinrich Hirschfeld (1819–1902) aus dem ungarischen Fünfkirchen als Rabbiner ein.5 Neben ihm beschäftigte sie drei weitere Personen: als Vorbeter und Religionslehrer Leopold Kohn, als Schächter Ignaz Kohn und als Synagogendiener Traiteur Schwarz.6 Die relativ hohe Zahl von Gemeindebeamten zeigt, welchen Wert die aufstrebende Gemeinde auf eine umfassende Infrastruktur legte, zugleich lässt sie die finanziellen Möglichkeiten der großstädtischen Gemeinde erkennen, die nicht wenige Bankiers und Fabrikanten zu ihren Mitgliedern zählte. Die Stadt, in der sich die Gemeinde entfaltete, stieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum führenden Industriestandort in Süddeutschland auf. Das expandierende Augsburg übte große Anziehungskraft auf das Umland aus. Viele jüdische Gewerbetreibende aus den schwäbischen Landjudengemeinden und den angrenzenden fränkischen und württembergischen „Judendörfern“ nutzten die seit 1861 im Königreich Bayern geltende Niederlassungsfreiheit, um an Wertach und Lech ein eigenes Unternehmen zu gründen. Der Zuzug ließ die Zahl der Augsburger Gemeindemitglieder stark ansteigen. Waren es 1861 noch 283, so war die Zahl bereits 1867 auf 449 angewachsen, 1875 hatte sie sich noch einmal auf 889 verdoppelt und erreichte 1895 mit 1156 Mitgliedern einen vorläufigen, 1910 mit 1212 ihren absoluten Höhepunkt.7 Gleichzeitig schrumpften die Landgemeinden infolge dieser innerbayerischen Migration in die Städte. Bereits die 13 ersten jüdischen Familien, die 1813 in Augsburg zugelassen wurden, waren größtenteils aus den unmittelbar vor der Stadt gelegenen Gemeinden Kriegshaber, Pfersee, Steppach und Schlipsheim zugezogen, von wo aus sie schon vorher enge wirtschaftliche Verbindungen nach Augsburg unterhalten hatten. Das Abwandern aus den Vorortgemeinden führte dazu, dass 1862 das Distriktsrabbinat von der traditionsreichen Gemeinde Kriegshaber auf Augsburg überging.8 1873 gliederten sich die Kultusgemeinden von Pfersee und Steppach, wo 1861 Juden 17,7% bzw. 28% der Einwohnerschaft ausmachten, der Augsburger Kultusgemeinde (0,3%) an.9 1878 gingen auch die bis dahin selbstständigen Rabbinate von Altenstadt (1861 mit 59,7% jüdischen Einwohnern) und Fellheim (61,7%) auf Augsburg über. Schließlich fu5 Salomon Wininger: Große Jüdische National-Biographie. Ein Nachschlagewerk für das jüdische Volk und dessen Freunde, Bd. 3, Cernauti 1928, S. 131. 6 Grünfeld 1917 (wie Anm. 4), S. 97. 7 Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 134. 8 Allgemeine Zeitung des Judentums Nr. 27, 1. 7. 1862. 9 Gerhard Hetzer: Die Beteiligung von Juden an der politischen Willensbildung in Schwaben 1818–1871. Erfolge und Fehlschläge eines Integrationsprozesses, in: Fassl (Hg.) 1994 (wie Anm. 1), S. 73–91, hier S. 73 f.

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sionierte 1916 die jüdische Gemeinde von Kriegshaber – wo 1861 noch 21,2% der Bevölkerung Juden waren, 1910 dagegen nur noch 1% – mit der Augsburger Gemeinde, nachdem der Ort selbst 1911 nach Augsburg eingemeindet worden war.10 Zu diesem Zeitpunkt stellte die jüdische Gemeinde Augsburg mitsamt den im Jahre 1862 eingemeindeten Vororten mit 1212 Mitgliedern weniger als 1% der gesamten Einwohnerschaft.11

II. Die zweite Augsburger Gemeinde entwickelte rasch ein reges Vereinsleben. Es entsprach jüdischer Tradition, dass die Vereine anfangs vor allem kultische und soziale Aufgaben wahrnahmen. Neben der traditionellen Beerdigungsbruderschaft (Chewra Kaddischa) entstanden 1861 der Israelitische Frauenverein, 1873 der Israelitische Männerverein, 1875 der Unterstützungsverein für Israelitische Arme in Augsburg und 1881 der Israelitische Speiseverein. Als für die wachsende Gemeinde der Raum in der Synagoge immer weniger ausreichte, formierte sich 1896 auch ein Synagogenbauverein, der anfangs Gelder für einen weiteren Umbau, seit 1900 für einen Neubau sammelte.12 Außerdem gab es eine Loge des unabhängigen Ordens B’nai B’rith. Um die Jahrhundertwende führten die allgemeinen Bemühungen um eine Neubelebung jüdischen Lebens im wilhelminischen Deutschland auch in Augsburg zu weiteren, nun wissenschaftlich ausgerichteten Zusammenschlüssen: 1899 entstand der Verein für jüdische Geschichte und Kultur und 1900 ein Ableger des Vereins für die liberalen Interessen des Judentums, der bis 1932 unter dem Vorsitz von Albert Dann aktiv war. Die Augsburger Juden waren aber auch in konfessionell nicht gebundenen, paritätischen Kultur- und Sportvereinen aktiv und stellten damit ihren Willen zur Integration unter Beweis.13 So engagierte sich etwa Rabbiner Heinrich Groß (1835–1910) als Mitglied und begehrter Redner im angesehenen Historischen Verein für Schwaben.14 Viele Augsburger Juden betätigten sich auch im diakonischen Johannisverein, im renommierten Oratorienchor, im Deutschen Alpenverein, beim Roten Kreuz und bei der Freiwilligen Feuerwehr Kriegshaber, und in der Honoratiorengesellschaft „Frohsinn“ traf sich das

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Ebd., S. 74; (Art.) Kriegshaber, in: Grünsteudel u. a. 1998 (wie Anm. 1), S. 583. Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 134 f. 12 Stadtarchiv Augsburg (StadtAA), VI 1-444 Nr. 310 und VI 450-749 Nr. 661: Verzeichnis der nichtpolitischen Vereine in der Stadt Augsburg. 13 StadtAA, 10 – 727: Vereinsakten, Laufzeit nur bis 1927; Augsburger Israelitischer Kalender, hg. v. der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg, 1926–1935. Für die freundliche Überlassung der Kopien des Kalenders danke ich Dr. V. Razoumnyi; Grünfeld 1917 (wie Anm. 4), S. 64. 14 (Art.) Gross, Heinrich, in: Grünsteudel u. a. 1998 (wie Anm. 1), S. 455. 11

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führende Wirtschaftsbürgertum, gleich ob christlicher oder jüdischer Herkunft.15 Zur gesellschaftlichen Anerkennung und wachsenden Integration der Gemeinde hat zweifelsohne Carl von Obermayer (1811–1889) wesentlich beigetragen. Aus einer der drei bereits 1803 in Augsburg zugelassenen Familien stammend, war der Gründer und zeitweilige Vorstand der zweiten Augsburger Gemeinde (1853/61–1867) in mehreren Kreisen der Stadt verankert. Der angesehene Bankier übte nicht nur das Amt eines Konsuls der Vereinigten Staaten von Nordamerika aus, sondern kommandierte als Oberst der bayerischen Landwehr auch das populäre Augsburger Regiment.16 Auch im politischen Leben gab es viele Anzeichen einer gelungenen Integration. Seit die Gemeindeordnung 1818/19 und 1869 Juden Mitwirkungsmöglichkeiten in den kommunalen Vertretungskörperschaften gebracht hatte17, gab es immer jüdische Augsburger, die Verantwortung in der Kommunalpolitik übernahmen. Meist taten sie das auf Seiten der liberalen bürgerlichen Parteien, die sich in Augsburg vor allem aus Protestanten rekrutierten. 1843 wählten die stimmberechtigten Augsburger Wähler erstmals einen jüdischen Kandidaten zum ehrenamtlichen Gemeindebevollmächtigten. 1869 waren es mit Isaak Bachmann und dem Großhändler Salomon Rosenbusch schon zwei. Rosenbusch war gleichzeitig auch Vorsitzender der Kultusgemeinde. Das bürgerliche Ehrenamt des Gemeindebevollmächtigten übte er bis 1878 aus. 1893 folgte ihm Kommerzienrat Heinrich Landauer (1838–1917) im Amt, in das er 1902 erneut für neun Jahre gewählt wurde.18 Auch der renommierte Textilfabrikant verband das kommunalpolitische Engagement mit der Funktion als Synagogenvorstand, die er vier Jahrzehnte lang inne hatte. 1909 verlieh die Stadt dem hochangesehenen Bürger für seine Verdienste um die bürgerliche Gemeinde die Goldene Verdienstmedaille.19 Nach ihm waren mit dem Anwalt Dr. Julius Binswanger (1858–1910) und dem Kaufmann und Kommerzienrat Hugo Steinfeld (1864–1941) wiederum zwei Juden Gemeindebevollmächtigte.20 Letzterer vertrat von 1919 bis 1923 die Deutsche Demokratische Partei (DDP) im Stadtrat, für die Benno Arnold (1876–1944) 1931 ebenfalls in das kommunale Parlament gewählt wurde.21 15 Viele Beispiele für Mitgliedschaften in paritätischen Vereinen erwähnt Gernot Römer: „Wir haben uns gewehrt.“ Wie Juden aus Schwaben gegen Hitler kämpften und wie Christen Juden halfen, Augsburg 1995; siehe auch Monika Müller: „Das Trauma der Verbannung ist nicht auslöschbar.“ Der Weg der Familie Aub aus Augsburg, Augsburg 2009 (LEBENSLINIEN. Deutsch-jüdische Familiengeschichten Bd. 2), S. 12. 16 Franz Josef Merkl: Der Augsburger jüdische Bankier Carl von Obermayer (1811–1889) als Militärreformer, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben III. Zwischen Nähe, Distanz und Fremdheit, Augsburg 2007, S. 147–199. 17 Hetzer 1994 (wie Anm. 9), S. 79. 18 StadtAA, Familienbogen Salomon Rosenbusch und Heinrich Landauer. 19 Sammlung Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben, Inv.-Nr. 2004-64. 20 StadtAA, Familienbogen Julius Binswanger und Hugo Steinfeld. 21 Amtsblatt der Stadt Augsburg Nr. 57, 30. 6. 1919, S. 376 und Nr. 51, 21. 12. 1929.

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Besonders stark prägten Juden das Wirtschaftsleben an Lech und Wertach. Nicht wenige jüdische Unternehmer haben zum Erfolg der Augsburger Textilindustrie, insbesondere der Textilkonfektion beigetragen.22 Beispielhaft dafür steht der in Hürben geborene Moses Samuel Landauer (1808–1893), der vom Webergesellen zum Begründer eines der bedeutendsten Textilunternehmen der Stadt, der „M. S. Landauer Baumwollweberei“ aufstieg. Nur die 1869, ebenfalls von jüdischen Unternehmern gegründete „Spinnerei und Weberei Kahn und Arnold“ hatte mehr Beschäftigte; 1937 waren es über 900.23 Der wichtigste Erwerbszweig der Augsburger Juden aber war der Handel und das Bankgeschäft, was der Berufsgliederung der Juden in Bayern wie im Reichsgebiet entsprach. Nahezu die Hälfte aller Banken in der Stadt war um 1870 im Besitz von Juden und 160 jüdische Kaufleute betrieben 75% des Textil-, Kolonial- und Manufakturwaren-, Leder-, Vieh- und Hopfenhandels.24 Trotz dieser Erfolge hatten nur wenige jüdische Familien, wie etwa die Obermayers, Zugang zur Augsburger Oberschicht. Auch gehörten längst nicht alle Gemeindemitglieder zum gut situierten Mittelstand, im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung gab es aber fast keine jüdischen Industriearbeiter. Manche der seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa eingewanderten Juden lebten am Rande des Existenzminimums. Da sie sich keine Ausbildung für ihre Kinder leisten konnten, richtete 1906 die Bankiersfrau Sabine Bühler (1857–1930) eine Wohltätigkeitsstiftung „für arme israelitische Lehrlinge“ ein.25 Andere Juden unterstützten, dem religiösen Gebot der Wohltätigkeit folgend, ihre bedürftigen Glaubensbrüder ebenfalls mit Stiftungen, auch wenn viele zu den osteuropäischen Juden Abstand wahrten, weil sie ihren eigenen Status durch die armen, in Habitus, Kleidung und Sprache so unterschiedlichen Zuwanderer bedroht sahen.26

III. Die junge Gemeinde musste ihre 1858 eingeweihte Synagoge in der Wintergasse 1865 bereits zum zweiten Mal vergrößern. Bei dieser Gelegenheit ließ sie eine Orgel einbauen. Es war die erste Orgel in einer Synagoge in Bayern. Da traditionelle Juden das Orgelspiel in der Synagoge aus religiösen Gründen 22

Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 137. (Art.) M.S. Landauer Baumwollweberei, in: Grünsteudel u. a. 1998 (wie Anm. 1), S. 594; Hundert Jahre Industrie in Schwaben, Augsburg 1936, StadtAA, Bestand 3, Nr. 28. 24 Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 137. 25 Ebd., S. 136. 26 Ludger Heid: Achtzehntes Bild: Der Ostjude, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus – Vorurteile und Mythen, Augsburg 1999, S. 241–251. Die Zahl der Ostjuden in Augsburg ist nicht bekannt, für München wird sie auf 2000–3000 Personen geschätzt, www.historisches-lexikon-bayern.Literatur/artikel/ artikel_44560 (abgerufen am 28. 5. 2010). 23

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ablehnen, belegt diese viel beachtete Entscheidung die religiös liberale Haltung der Gemeinde.27 Nicht alle Gemeindemitglieder teilten diese, doch haben, wie der langjährige Rabbiner und Gemeindechronist Richard Grünfeld 1917 schrieb, „die konservativen, zum Teil auch rituskundigen Elemente in der Gemeinde sich, wenn auch nicht wortlos, so doch friedlich in die neue Ordnung“ gefügt.28 Deshalb kam es in Augsburg, anders als in München und Nürnberg, über den Einbau der Orgel nicht zur Bildung einer eigenen orthodoxen Gemeinde. Das klare Bekenntnis zum Reformjudentum wird auch der Grund dafür gewesen sein, dass Augsburg nach einer kriegsbedingten Verzögerung zum Tagungsort der zweiten Israelitischen Synode wurde, die 1871 unter dem Vorsitz von Moritz Lazarus (1824–1903), einem der bedeutendsten Vertreter des liberalen Judentums, im Goldenen Saal des Rathauses tagte. Die Kultusgemeinde sah darin „eine Anerkennung für ihr von Anfang an bekundetes Streben […], den guten alten Geist des Judentums in neuen, zeitgemäßen Formen auszuprägen“.29 Mehr als fünfzig liberale Rabbiner und Gemeindevorsteher aus Mitteleuropa diskutierten und beschlossen auf dieser Zusammenkunft Fragen der Gottesdienstreform.30 Die Tagungsteilnehmer fanden ein vakantes Rabbinat vor, da die Gemeinde kurz zuvor ihren Rabbiner entlassen hatte. Über die Gründe für diese Entlassung ist wiederholt spekuliert worden.31 Wie Grünfeld andeutet, waren dafür aber wohl vor allem persönliche Differenzen ausschlaggebend und nicht grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über den Reformkurs der Gemeinde. Rabbiner Hirschfeld, der seinen Sohn auf der berühmten Reformschule in Seesen erziehen ließ, hatte seine liberale Einstellung mehrfach unter Beweis gestellt, zuletzt bei der Einweihung der Synagoge 1865. Und nach seinem Wegzug nach Wien bewegte er sich auch dort in liberalen Kreisen.32 Nach der Entlassung Hirschfelds dauerte es fast fünf Jahre, bis die Gemeinde mit Dr. Heinrich Groß einen neuen Rabbiner einstellte.33 Groß, der seine Ausbildung am Rabbinerseminar in Breslau und an der Universität Halle erhalten und mit der „Gallia Judaica“ ein wissenschaftliches Standardwerk vorgelegt hatte, vertrat ebenfalls gemäßigte Reformen. Er publizierte in Augsburg zahlreiche wissenschaftliche Artikel sowie ein „Lehrbuch der israeliti-

27 Benigna Schönhagen: Die Augsburger Synagogenorgel – eine verstummte Tradition, in: Dies. (Hg.): Die Augsburger Synagoge – ein Bauwerk und seine Geschichte, Augsburg 2010, S. 49–54. 28 Grünfeld 1917 (wie Anm. 4), S. 58. 29 Ebd., S. 59. 30 Allgemeine Zeitung des Judentums Nr. 29 vom 18. 7. 1871. 31 Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 135 und Merkl 2007 (wie Anm. 16), S. 164. 32 Grünfeld 1917 (wie Anm. 4), S. 58 f.; Allgemeine Zeitung des Judentums Nr. 18 vom 2. 5. 1865. Für den Hinweis auf Hirschfelds Tätigkeit in Wien danke ich Barbara Deschner, Wien. 33 (Art.) Gross, Heinrich, in: Grünsteudel u. a. 1998 (wie Anm. 1), S. 455.

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schen Religion für die oberen Klassen der Mittelschule“. Seine Amtszeit war vom Ausbau des Erreichten geprägt: Die Leichenhalle auf dem Friedhof in der Haunstetter Straße wurde erweitert und der Friedhof ummauert. Im Juni 1900 rang sich die Gemeinde nach jahrelanger Beratung zum Neubau einer Synagoge durch.34 Planung und Realisierung dieses Großprojekts fielen dem seit 1910 amtierenden Rabbiner Dr. Richard Grünfeld (1863–1931) zu. Der Bau war in mehrfacher Weise spektakulär. Sowohl der Bauplatz in einem prominenten Neubauviertel am Bahnhof als auch die Architektur und Innenausstattung des von Dr. Heinrich Lömpel (1877–1951) und Fritz Landauer (1883– 1968) zwischen 1912 und 1914 entworfenen modernen Gemeindezentrums bringen das Selbstbewusstsein der Augsburger Juden zum Ausdruck, die zu diesem Zeitpunkt seit zwei Generationen gleichberechtigt in der Stadt lebten. Über die Grenzen der Stadt hinaus wurde der Bau, der wegen des Krieges erst 1917 eingeweiht werden konnte, als „moderne Synagoge“ und „deutsche Glanzleistung im Weltkriege“ gefeiert.35 Im Innern des Kultraums war der Tisch für die Tora-Lesung nach Osten gerückt und auf der Ostempore eine Orgel zur Begleitung des Gemeindegesangs eingebaut.36 Anlage und Ausstattung verkörpern den Geist des Reformjudentums. Die Architektur des prachtvollen Kuppelbaus, die im Innern durch Farben und indirektes Licht erzeugte mystische Stimmung sowie das eigenständige ikonographische Programm geben zugleich eine zu Anfang des Jahrhunderts einsetzende Rückbesinnung auf die Wurzeln des Judentums zu erkennen, für die Martin Buber den Begriff der „Jüdischen Renaissance“ prägte.37 Die wenigen Augsburger Juden, die dem traditionellen Ritus weiter-

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Grünfeld 1917 (wie Anm. 4), S. 44 f. L. Fränkel, in: Allgemeine Zeitung des Judentums Nr. 20 vom 18. 5. 1917; Reden bei der Einweihung der neuen Synagoge zu Augsburg am 4. April 1917, Nachdruck in: Zehn Jahre 2001 (wie Anm. 4). Zur Synagoge siehe Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780–1933), 2 Bde., Hamburg 1981 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden Bd. 8), S. 497 ff.; Hannelore Künzl: Die Synagoge in Augsburg. Architektur und Symbolik, in: Kurt E. Grözinger (Hg.): Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt am Main 1991, S. 382–405; Sabine Klotz: Fritz Landauer – Leben und Werk eines jüdischen Architekten, Berlin 2001; Benigna Schönhagen: Augsburg. Die Synagoge. Einladung zu einem Rundgang, hg. v. Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben, Haigerloch 2006 (Orte jüdischer Kultur); Cornelia Berger-Dittscheid: Augsburg, in: Wolfgang Kraus/Berndt Hamm/Meier Schwarz (Hg.): Mehr als Steine… Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 1: Oberfranken, Oberpfalz, Niederbayern, Oberbayern, Schwaben, bearb. v. Barbara Eberhardt und Angela Hager, Lindenberg 2007, S. 397–413; Schönhagen (Hg.) 2010 (wie Anm. 27). 36 Zur Einweihung gab die Gemeinde ein neues Gebetbuch heraus: Leopold Stein (Hg.): Gebetbuch für israelitische Gemeinden, 2. Aufl. bearb. v. Richard Grünfeld, Erster Band. Für Werk-, Sabbat- und Festtage, Augsburg 1917. 37 Martin Buber: Jüdische Renaissance, in: Ost und West 1 (1901), Sp. 7–10; vgl. auch Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. 35

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Abb. 1: Die Augsburger Synagoge in der Halderstraße. Blick nach Osten mit Tora-Schrein und Orgel, um 1920. © Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben.

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hin verbunden blieben, nutzten die Synagoge der aufgelösten Kultusgemeinde in Kriegshaber für einen Gottesdienst nach altem Ritus.38 Die bei der Einweihung anwesenden Honoratioren aus Stadt und Bezirk zeigen, wie sich in dem halben Jahrhundert seit der Gründung der Gemeinde deren Position innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft merklich verändert hatte: Ein neues Selbstverständnis als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ hatte die traditionelle Diaspora-Identität abgelöst. Der 1893 gegründete „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ fand unter den arrivierten und integrierten Juden Augsburgs viele Anhänger, während der Zionismus bis in die NS-Zeit hinein nur wenige ansprach.39 Die Augsburger Juden sahen zwischen Lech und Wertach ihre Heimat. Für diese setzten viele im Ersten Weltkrieg ihr Leben ein. Mehr als 200 jüdische Augsburger nahmen am Krieg teil, 29 davon meldeten sich freiwillig, 24 von ihnen sind zwischen 1914 und 1918 gefallen.40 „Sie starben auch für uns“ ließ die Gemeinde 1921 auf den zwei Gedenktafeln einmeißeln, die sie für die Gefallenen im Foyer der Synagoge anbrachte.41 Auch an der „Heimatfront“ bewiesen die Augsburger Juden ihren Patriotismus.42 Doch die Hoffnung auf gesellschaftliche Anerkennung, die die meisten Juden mit ihrem Kriegseinsatz verbanden, sollte bald bitter enttäuscht werden.

IV. Widersprüchliche Phänomene bestimmten die Entwicklung der Gemeinde während der Weimarer Zeit. Einerseits beseitigte die Weimarer Verfassung die letzten rechtlichen Einschränkungen für Juden und sorgte für eine selbstverständliche Akzeptanz im alltäglichen Umgang, andererseits kam es zunehmend zu antisemitischen Übergriffen. In der katholisch geprägten Stadt funktionierte das Zusammenleben vor allem zwischen Juden und Protestanten. 38

Grünfeld 1917 (wie Anm. 4), S. 58; Albert Dann: Erinnerungen an die Augsburger Jüdische Gemeinde, Leo Baeck Institut Berlin MM 16, S. 4, in Auszügen zitiert bei Gernot Römer: Der Leidensweg der Juden in Schwaben, Augsburg 1983, S. 27–41; vgl. auch die kritische Einordnung der angeblichen Symbiose bei Friedrich G. Friedmann: Heimkehr ins Exil. Jüdische Existenz in der Begegnung mit dem Christentum, hg. v. Christian Wiese, München 2001, S. 23–25. 39 Der Augsburger Abteilung des Centralvereins stand zwischen 1923 und 1932 Sanitätsrat Dr. Julius Fabian vor. Zum Centralverein allgemein siehe Steven M. Lowenstein: Ideologie und Identität, in: Ders./Paul Mendes-Flohr/Peter Pulzer/Monika Richarz: DeutschJüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 278–301 und Avraham Barkai: „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.), 1893–1938, München 2002. 40 Adolf Eckstein: Haben die Juden in Bayern ein Heimatrecht? 2. verbesserte Aufl., Berlin 1929, S. 62. Dort werden anders als auf dem Gefallenendenkmal der Gemeinde nur 18 Gefallene genannt. 41 Der Israelit Nr. 46 vom 17. 11. 1921. 42 (Art.) Dann, Albert, in: Grünsteudel u. a. 1998 (wie Anm. 1), S. 340 f.

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Jüdische Familien schickten ihre Kinder in die protestantischen Volksschulen und bevorzugten für die weiterführenden Schulen evangelische Einrichtungen wie das Stettensche Institut. Eine Ausnahme von dieser Regel bildete das von Benediktinern geleitete humanistische Gymnasium St. Stephan, das vergleichsweise viele jüdische Schüler besuchten. Für sie sollte die Schule nach 1933 zu „einem Hort der Geborgenheit“ werden.43 Die wachsende Zahl von „Mischehen“ in der Weimarer Zeit spricht für einen selbstverständlichen Umgang zwischen Juden und Nichtjuden und lässt sich gleichzeitig als Indikator für eine weitreichende Akkulturation deuten.44 Diese ging mit einer zunehmenden Säkularisierung und Distanz zu den religiösen Grundlagen der eigenen Kultur einher. So berichteten viele Zeitzeugen, dass sie nur noch an den Hohen Feiertagen die Synagoge besuchten. Die Aktivitäten jüdischer Vereine, allen voran die Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten und die Gründung eines jüdischen Jugendvereins lassen gleichzeitig aber auch das Bemühen um den Auf- und Ausbau jüdischer Interessensgruppen erkennen. Für die nichtverarbeitete Niederlage im Ersten Weltkrieg suchte man nach 1918 überall in Deutschland einen Sündenbock und fand ihn schnell in den Juden. In Augsburg, wo es schon 1893 zur Gründung einer Ortsgruppe der Antisemitischen Volkspartei gekommen war, fand der Antisemitismus vor allem im katholischen Milieu Anhänger. Die Augsburger Postzeitung, das führende katholische Presseorgan Süddeutschlands, trug mit ihrem Redakteur Hans Rost (1877–1970) wesentlich zur Verbreitung judenfeindlicher Ressentiments bei.45 Diese führten schon vor der Etablierung des NS-Regimes zu Handgreiflichkeiten und Gewalt gegen Juden. Mehrmals wurden in den 1920er Jahren Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof umgeworfen und beschädigt. Zentral gelegene Geschäfte wie das Schuhhaus von Emanuel Polatschek (1874–1959) in der Maximilianstraße wurden beschmiert, ihre Inhaber 43 Erhard Bernheim: „Halbjude“ im Dritten Reich. Die Erinnerungen des Augsburger Fabrikanten Erhard Bernheim, hg. v. Gernot Römer, Augsburg 2000 (Lebenserinnerungen von Juden aus Schwaben Bd. 3), S. 17. Bei Schuljahresbeginn 1932/33 betrug der Anteil jüdischer Schülerinnen am Maria-Theresia-Gymnasium 9% (das entsprach 25 bzw. bis zum Abitur 33 Schülerinnen), das A. B. von Stetten’sche Institut besuchten zum gleichen Zeitpunkt 9, das städtische Mädchenrealgymnasium 6 jüdische Schülerinnen, siehe die Homepage des Spurensucheprojekts der Maria-Theresia-Schule http//www.spurensuche.hdbg.de (abgerufen am15. 7. 2010). Zur Sozialstruktur siehe Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 129–146. 44 In den 612 Kurzbiographien Augsburger Juden, die den Band mit den Rundbriefen von Ernst Jacob ergänzen, sind 35 „Mischehen“ aufgeführt, siehe Gernot Römer (Hg.): „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“. Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949, Augsburg 2007 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben Bd. 29), S. 175–386. Fassl erwähnt für den Zeitraum zwischen 1897 und 1912 nur zehn „Mischehen“ in Augsburg, Fassl 1994 (wie Anm. 1), S. 138; Erinnerungen an die 20er und 30er Jahre in Augsburg von Paul Rosenau und Henry Landman, in: Fassl 2007 (wie Anm. 16), S. 319–337. 45 Gerhard Hetzer: Stellungnahmen zum Judentum im Werk des katholischen Publizisten Hans Rost, in: Fassl 2007 (wie Anm. 16), S. 111–132.

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bedroht. Als die örtliche NSDAP 1931 in ihrem Parteiblatt zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief – „Parteigenossen und Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung, kauft nicht bei Juden!“ – wehrten sich die bedrohten Geschäftsleute vor Gericht und erwirkten eine einstweilige Verfügung.46 Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Zeitung gegen das Urteil mit bemerkenswerter Klarheit unter Hinweis auf die Gleichheit aller deutschen Staatsbürger zurück. Auch der Intendant des Stadttheaters, Karl Lustig-Prean (1892–1970), der wegen seiner jüdischen Frau in der Presse verunglimpft wurde, bestand mit Erfolg darauf, dass die antisemitische Beleidigung zurückgenommen wurde.47 Doch der Einsatz rechtsstaatlicher Mittel, den der Centralverein zur Abwehr des um sich greifenden Antisemitismus empfahl, hatte ambivalente Folgen. Seine Wirksamkeit trug dazu bei, dass solche Vorfälle als Einzelaktionen missdeutet wurden und das unter den Augsburger Juden verbreitete Gefühl gelungener Integration nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde. Als der einstige Synagogenvorstand Albert Dann 1944 im Exil in Palästina seine Erinnerungen an die verlorene Heimat aufschrieb, meinte er: „Man kann sich kaum mehr vorstellen, welch behagliches Leben die Juden in Augsburg geführt haben.“ Aber er erwähnte auch „Ungerechtigkeiten und Widerwärtigkeiten […], die von außen her an Glaubensgenossen oder deren Kinder herangetragen“ 48 wurden.

V. Beim Machtantritt der Nationalsozialisten lebten 1033 Juden in Augsburg. Unter den rund 176 000 Einwohnern der Stadt machten sie wenig mehr als ein halbes Prozent (0,6%) aus. Jüdische Geschäfte prägten aber weiterhin das Straßenbild. Allen voran Warenhäuser wie „der Landauer“, das „größte und modernste Kaufhaus Schwabens“ oder die Filiale des Kaufhauskonzerns Schocken. Weiterhin gehörten auch jüdische Unternehmer zu den größten Arbeitgebern in der Stadt. Wohlhabende und geschätzte Geschäftsleute leiteten die Kultusgemeinde. 1933 waren das der Großhändler und Kommerzienrat Albert Dann, der Bankier Max Schloss (1865–1942) und der Kaufmann und Fabrikant Ludwig Friedmann (1880–1943). Den Vorsitz hatte Justizrat Dr. Eugen Strauß (1879– 1965) inne. Als Bezirksrabbinat war die Gemeinde mittlerweile auch für die Gemeinden von Altenstadt, Binswangen, Fellheim, Kempten und Memmingen zuständig. Die lokale Machtübernahme der Nationalsozialisten am 9. März löste in der Stadt, in der SPD und Bayerische Volkspartei (BVP) zusammen noch bei 46 47 48

Bayerische Israelitische Gemeindezeitung Nr. 3 vom 1. 2. 1932, S. 39. Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 301 f. Dann (wie Anm. 38), S. 3.

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Abb. 2: Aprilboykott 1933. Boykottposten vor dem Schuhhaus Polatschek in der Maximilianstraße am 1. April 1933. © Sammlung Gernot Römer, Stadtbergen.

der Märzwahl 1933 eine knappe Mehrheit erhalten hatten, massiven Terror gegen politische Gegner und Oppositionelle sowie gegen Juden aus.49 Die am 28. Februar erlassene Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ hatte mit der Aufhebung von Grundrechten den Weg dafür freigemacht. An die 600 Menschen wurden daraufhin in der Stadt verhaftet.50 Juden waren, wenn sie als Sozialdemokraten oder Kommunisten gleich mehrfach dem Feindbild der Nationalsozialisten entsprachen, besonders gefährdet. Die anschließend einsetzenden „Säuberungen“ betrafen aber alle Juden: Unabhängig von ihrer politischen Einstellung wurden sie aus Vereinen, Verbänden und dem gesamten öffentlichen Leben ausgeschlossen.51 49 Bernhard Gotto: Machtergreifung und Gleichschaltung, in: Michael Cramer-Fürtig/ Bernhard Gotto (Hg.): „Machtergreifung“ in Augsburg. Anfänge der NS-Diktatur 1933– 1937, Augsburg 2008 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg Bd. 4), S. 17–27, hier S. 18. 50 Neue National-Zeitung (NNZ) Nr. 36 vom 11. 3. 1933 („Roter Parteitag im Katzenstadel“); Karl Filser: Augsburgs Weg in das „Dritte Reich“, in: Josef Becker (Hg.): 1933. Fünfzig Jahre danach. Die nationalsozialistische Machtergreifung in historischer Perspektive, München 1983, S. 195–215. 51 Vgl. NNZ Nr. 36 vom 11. 3. 1933 („Nach der Machtübernahme“); siehe auch NNZ Nr. 28 vom 1. 3. 1933 („Bayern – das Eldorado der Juden“). Einige der Artikel sind abgedruckt bei Karl Filser/Hans Thieme (Hg.): Hakenkreuz und Zirbelnuss. Augsburg im Dritten Reich. Quellen zur Geschichte Bayerisch-Schwabens für den historisch-politischen Unterricht, Augsburg 1983.

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Früh begann auch die massive Verdrängung von Juden aus der Wirtschaft. Der jahrelang geschürte Konkurrenzneid des gewerblichen Mittelstandes entlud sich in wilden Aktionen gegen jüdische Geschäftsleute. Für die reichsweit zum 1. April ausgerufene Aktion zur „Abwehr gegen die Greuelpropaganda im Ausland“ listete der nationalsozialistische Augsburger Lokalanzeiger 42 jüdische Firmen zum Boykott auf.52 Bewaffnete SA-Posten hinderten Kunden am Betreten der Geschäfte und Rechtsanwalts- oder Arztpraxen.53 Auch nach Beendigung der Aktion wirkte die Parole „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ weiter, und zwar so effektiv, dass sich einige nichtjüdische Firmeninhaber beeilten, ihre „christliche“ Herkunft in Anzeigen hervorzuheben, um nicht ebenfalls geschädigt zu werden.54 Hetzartikel und Diffamierungen schürten den schleichenden Boykott, bis einigen jüdischen Geschäftsleuten keine andere Möglichkeit mehr blieb, als ihr Geschäft zu verkaufen. Das beliebte Kaufhaus „Gebrüder Landauer AG“ erlebte auf diese Weise bereits 1933 einen derartigen Umsatzeinbruch, dass zu Anfang des folgenden Jahres 114 Angestellte entlassen werden mussten. Als einer der ersten jüdischen Geschäftsleute zog der Geschäftsführer Julius Landauer daraufhin die Konsequenz und verkaufte das Unternehmen Mitte 1934.55 Häufig streuten Nationalsozialisten haltlose Gerüchte über angebliche Unterschlagungen oder Steuervergehen, um ihre jüdischen Konkurrenten zu schädigen. Das erlebte auch Simon Herz (1895–1939), der zusammen mit seinem Bruder Leo in Augsburg eine Großhandlung für Industriefette führte. Am 25. März nahm die SS die Brüder wegen vorgeblicher Steuerhinterziehung fest und verbrachte sie in „Schutzhaft“ nach Dachau.56 Unmittelbar

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NNZ Nr. 74 vom 28. 3. 1933 und Nr. 77 vom 31. 3. 1933. Zum Aprilboykott und seinen Folgen siehe Maren Janetzko: Die „Arisierung“ von Textileinzelhandelsgeschäften in Augsburg am Beispiel der Firmen Heinrich Kuhn und Leeser Damenbekleidung GmbH, in: Andreas Wirsching (Hg.): Nationalsozialismus in Bayerisch-Schwaben. Herrschaft – Verwaltung – Kultur, Ostfildern 2004 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens Bd. 9. Reihe 7 der Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsstelle Augsburg der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), S. 153–183. 53 So die Erinnerungen von Ernst Cramer, der 1933 bei Landauer arbeitete, in der Augsburger Zeitung vom 5. 4. 2008; Völkischer Beobachter Nr. XX vom 3. 4. 1933, zitiert nach Martin Broszat/Elke Fröhlich/Falk Wiesemann (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd. 1: Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, München 1977, S. 43 f. 54 Vgl. NNZ Nr. 80 vom 5. 4. 1933, und Nr. 82 vom 7. 4. 1933. Vgl. auch Staatsarchiv Augsburg (StAA) Regierung von Schwaben N3. 10013 betr. Schließung des Ladens der Firma Jablonsky. 55 NNZ Nr. 70 vom 23. 3. 1933; Karl Filser/Peter Sobzcyk: Augsburg im Dritten Reich, in: Gunther Gottlieb (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 614–637, hier S. 629; Bernheim 2000 (wie Anm. 43), S. 7. 56 NNZ Nr. 73 vom 27. 3. 1933.

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nach ihrer Entlassung verließen sie Deutschland und ließen sich 1934 mit ihren Familien in Frankreich nieder.57 Auch jüdische Rechtsanwälte, Apotheker und Ärzte waren in den ersten Wochen nach der Machtübernahme zielgerichtetem Hass und Terror ausgesetzt. Die Rechtsanwälte Dr. Ludwig Dreifuß, Dr. Robert Neumark, Stefan Oberbrunner und Dr. Paul Rosenberg kamen in „Schutzhaft“, nur weil sie sozialdemokratische Mandanten vertraten, und Dr. Julius Nördlinger wurde verhaftet, weil er als Arzt für das sozialdemokratische Reichsbanner tätig war.58 Dr. Julius Fabian (1880–1935), Vizepräsident der Bayerischen Zahnärztekammer und Vorsitzender des zahnärztlichen Kreisvereins Schwaben-Neuburg, bezichtigten Kollegen unsauberer Kassenabrechnungen. Daraufhin wurden dem Sanitätsrat sämtliche Ehrenämter entzogen, er verlor seine Kassenzulassung und wurde schließlich vier Wochen in Dachau in „Schutzhaft“ gehalten.59 Was ihm dort angetan wurde, muss derart furchtbar gewesen sein, dass sich der beliebte Arzt erschoss, als zwei Jahre später die Gestapo erneut vor der Tür stand. Julius Fabian war 1918 Mitglied bei der Bürgerwehr gewesen, hatte das König-Ludwigs-Kreuz erhalten und seit Mitte der 20er Jahre die Augsburger Sektion des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens geleitet.60 Aus dem öffentlichen Dienst wurden Juden und politische Gegner ebenfalls schon in den ersten Wochen nach der Machtübernahme entfernt. Das bereits im April 1933 verabschiedete Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ schuf die Grundlage dafür.61 Schon ein jüdischer Großelternteil genügte zur Entlassung, wie der katholische Rechts- und Staats-

57 Ebd; Gernot Römer: Wir haben uns gewehrt. Wie Juden aus Schwaben gegen Hitler kämpften und wie Christen Juden halfen, Augsburg 1995, S. 47–62. 58 Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933, hg. v. Bayerisches Staatsministerium der Justiz, München 2006; Hans K. Hirsch: Die wirtschaftliche Verdrängung der Juden in Augsburg, in: Fassl (Hg.) 1994 (wie Anm. 1) S. 147– 155, hier S. 150. 59 Siehe NNZ Nr. 73, 27. 3. 1933 und StAA: Akten der Spruchkammer I u. III. Reichsweit wurde der Ausschluss von Zahnärzten und Dentisten erst am 2. 6. 1933 beschlossen, siehe Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2001, S. 43–46, hier S. 44. 60 Gernot Römer: Schwäbische Juden. Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten in Selbstzeugnissen, Berichten und Bildern, Augsburg 1990, S. 238 f.; vgl. auch die Kurzbiographie in Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 218 f. sowie den Bericht seiner Enkelin, Hannah Gaywood, in: Ein gewisses jüdisches Etwas. Eine Ausstellung zum Selbermachen im Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben vom 21. Juni bis 30. August 2009. Dokumentation der Ausstellung, Augsburg 2009, S. 34 f. 61 Reichsgesetzblatt (RGBl.) I, 1933, S. 175–177; Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972 (Tübinger Schriften zur Sozial- und Zeitgeschichte Bd. 1), S. 51–64; Gesetz über Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, RGBl. I, 1933, S. 188; Weber 2006 (wie Anm. 59), S. 58–74.

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wissenschaftler Dr. Heinz Hohner (1907–1967) erleben musste.62 Auch der angesehene Direktor der Inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses, Professor Dr. Friedrich Port (1880–1949) war getauft und durch seine Verbeamtung vor 1914 eigentlich vor einer Entlassung geschützt. Doch die Denunziation einer verärgerten nationalsozialistischen Patientin beim NS-Ärztebund setzte einen Prozess von Opportunismus und vorauseilendem Gehorsam in Gang, an dessen Ende die Stadt Augsburg den verdienten Klinikdirektor erst zwangsbeurlaubte und schließlich aufgrund § 6 des „Berufsbeamtengesetzes“ (Vereinfachung der Verwaltung) am 25. September 1934 in den Ruhestand versetzte. Der Stadtrat befürchtete, nachdem die Reichsversicherungsanstalt in Berlin sich eingeschaltet und eine weitere Gutachtertätigkeit von nichtarischen Ärzten abgelehnt hatte, eine Schädigung der städtischen Klinik und zahlte lieber die Pension für den Arzt, dessen Tätigkeit sie gleichwohl für untadelig hielt.63 Da die Stadt offensichtlich schon vor 1933 keine Juden mehr eingestellt hatte, waren die Entlassungen aufgrund des Paragraphen 3 des Berufsbeamtengesetzes (jüdische Abstammung) bei der Stadtverwaltung allerdings bemerkenswert niedrig.64 Aber die vom Augsburger Hauspflegeverein getragene städtische Mütterschule entließ ihre jüdische Fürsorgerin und Mitgründerin Sophie Dann (1900–1993) im Juli 1933.65 Über jüdische Lehrer steht lokale Forschung noch aus.66 In der allgemeinen Verdrängungs- und Diskriminierungskampagne gab es auch Ausnahmen – solche, die gesetzlich vorgeschrieben waren, und solche, die sich Zivilcourage und menschlichem Anstand verdankten. Letztlich wirkten sie aber beide verhängnisvoll, da sie die Illusion bestärkten, dass alle Repressionen nur vorübergehend seien und sich die Situation wieder beruhigen werde. Zu den gesetzlich vorgeschriebenen Ausnahmen gehörte das „Frontkämpferprivileg“, das Soldaten des Ersten Weltkriegs bzw. den Kindern von Kriegsgefallenen und denjenigen, die schon vor 1914 ihre Berufszulassung er-

62 Römer (Hg.) 2007 (wie Anm. 44), S. 260 f.; StadtAA, Bestand P 13, Personalakte Heinz Hohner. Nach Kriegsende war Dr. Hohner von August 1946 bis zu seinem Rücktritt im Oktober 1947 Oberbürgermeister von Augsburg. 63 StadtAA Bestand P 13, Personalakte Friedrich Port. 64 Siehe Bernhard Gotto: Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München 2006 (Studien zur Zeitgeschichte Bd. 71), S. 112–118. Hetzer nennt neben Professor Port nur zwei Entlassungen, siehe Gerhard Hetzer: Die Industriestadt Augsburg. Eine Sozialgeschichte der Arbeiteropposition, in Martin Broszat/ Elke Föhlich/ Anton Grossmann (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd. 3: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, München/Wien 1981, S. 1–234, hier S. 85. 65 Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben (JKM) NL Lotte Dann-Treves 20 D: Kündigungsschreiben vom 3. 7. 1933. 66 Peter Wolf (Hg.): „Spuren“. Die jüdischen Schülerinnen und die Zeit des Nationalsozialismus an der Maria-Theresia-Schule Augsburg. Ein Bericht der Projektgruppe „Spurensuche“ des Maria-Theresia-Gymnasiums, Augsburg 2005, S. 83.

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worben hatten, bis 1938 einen Schonraum verschaffte. Der aber war trügerisch, denn 1938 verschlechterten sich nach dem Novemberpogrom die Bedingungen schlagartig. Das erfuhr Rechtsanwalt Leopold Rieser (1880–1938 Dachau), ein bis 1933 weit über Augsburg hinaus gefragter Strafverteidiger, der sich trotz einer infamen Hetze des „Stürmers“ und zunehmender Einschüchterungsversuche als Kriegsveteran und seit 1908 zugelassener Anwalt sicher geglaubt und deshalb mehrere Auswanderungsmöglichkeiten ausgeschlagen hatte. Während des Novemberpogroms 1938 wurde er verhaftet und nach Dachau gebracht. Leopold Rieser starb an den Misshandlungen, die er während des Transports und beim Eintreffen in das Konzentrationslager erlitt.67 Gleich ob Presse, Schule, Theater- und Kulturleben – kein gesellschaftlicher Bereich war von der nationalsozialistischen Gleichschaltung ausgenommen, die keineswegs immer mit Gewalt verbunden war, sondern öfter freiwillig und aus Überzeugung vollzogen wurde. Welche einschneidenden Folgen die „Machtergreifung“ an den Schulen hatte, zeichnete 2005 eine Projektgruppe für die Maria-Theresia-Schule nach.68 Zwar kam das Gesetz „gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“69 vom 25. April 1933 an dieser Schule ebenso wenig wie an den anderen Schulen der Stadt zur Anwendung, weil überall weniger als 5% der Schüler und Schülerinnen jüdisch waren. Aber diese erlebten dennoch Tag für Tag den demütigenden Ausschluss aus der in Feiern und Unterricht zelebrierten „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“. 1934 verließ die erste jüdische Schülerin die Maria-Theresia-Schule ohne den angestrebten Abschluss, bis Anfang 1938 folgten zehn weitere.70

VI. Die im September 1935 verkündeten „Nürnberger Gesetze“ brachten eine neue Stufe der Gewalt. Im Vorfeld wurden in Augsburg Schaufenster beschmiert, Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof umgeworfen und Schilder jüdischer Rechtsanwälte entfernt. Im Juli verbot die Stadt dann allen Juden den Besuch der öffentlichen Bäder.71 Mehrmals durchsuchte die Gestapo die Amtsräume der Kultusgemeinde und die Wohnung des Rabbiners in der 67 Weber 2006 (wie Anm. 58), S. 122; Der Stürmer 12 (1934), Nr. 43; Gernot Römer: Ein Mann, der zu sehr an Deutschland hing. Vom Tod des jüdischen Rechtsanwaltes Rieser in Dachau, in: Augsburger Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 5. 11. 1988. 68 Wolf 2005 (wie Anm. 66). 69 RGBl. I, S. 225. 70 Wolf 2005 (wie Anm. 66), S. 66–87, siehe auch Irmgard Hirsch-Erlund: Irmgard. Eine jüdische Kindheit in Bayern und eine Vertreibung, hg. v. Gernot Römer, Augsburg 1999 (Lebenserinnerungen von Juden aus Schwaben Bd. 2), S. 99 f. 71 NNZ vom 20. 7. 1935.

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Synagoge; Angehörigen der Wehrmacht wurde der Einkauf in Geschäften von Juden verboten. Der Bericht der Polizeidirektion resümierte: „Tatsächlich verschlechtert sich die Lage der Juden trotz ihrer zähen Bemühungen, ihre Geschäfte weiter zu führen.“72 Erstmals wurde nun in den Ausführungsverordnungen zu den „Nürnberger Gesetzen“ festgelegt, wer als Jude zu gelten habe.73 Die damit verbundene Definition von „Halb- und Vierteljuden“ machte Hunderte von Deutschen, die zwei oder nur einen jüdischen Großelternteil hatten und oft seit langem Mitglied einer christlichen Kirche waren, über Nacht zu Juden.74 Gleichzeitig wurden alle Beamten, die mehr als einen „volljüdischen“ Großelternteil hatten oder in „Mischehe“ lebten, wie der Leiter des städtischen Konservatoriums Joseph Bach, im September 1937 von ihren Posten entfernt.75 Wohl um ihrem nichtjüdischen Mann, der Lehrer an der Maria-Theresia-Schule war, dieses Schicksal zu ersparen, setzte Kläre Zöllner, geb. Rosenthal, schon im Oktober 1934 ihrem Leben ein Ende.76 Der Orgelvirtuose und Leiter des Oratorienvereins Arthur Piechler (1896–1974) konnte dagegen trotz seines Status als „Mischling zweiten Grades“ seine Stellung beim städtischen Konservatorium bis 1943 halten.77 Da die „Nürnberger Gesetze“ keine Ausnahmen mehr für Frontkämpfer einräumten, verloren jetzt auch die letzten jüdischen Richter ihr Amt. Die „Nürnberger Gesetze“ machten den mühevollen, über ein Jahrhundert dauernden Prozess der Emanzipation rückgängig und Deutschland wieder zu einem Ghetto für Juden. Höchst eingeschränkt waren ihre Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Juristische Wege waren nach 1935 praktisch nicht mehr existent. So blieb am Ende nur noch die Flucht aus der fremd und feindlich gewordenen Heimat. Meist dauerte es lange, bis sie sich zu dieser Entscheidung durchrangen. Am frühesten verließen diejenigen Deutschland, die bereits während der „Machtergreifung“ Terror und Willkür der Nationalsozialisten erfahren hatten. So kehrte der Brauereibesitzer Gustav Einstein (1882–1960) schon 1933 von einer Reise in die Schweiz nicht mehr nach Augsburg zurück, nachdem er erfahren hatte, dass der noch amtierende Oberbürgermeister Bohl seine Privatwohnung für die SS beschlagnahmt hatte.78 Die Brüder Herz und der damalige Medizinstudent Fritz Friedmann (1912–2008) 72

Dann (wie Anm. 38), S. 6; Lagebericht des Regierungspräsidenten von Schwaben vom 7. 6., 1. 8. und 1. 10. 1935, in: Broszat/Fröhlich/Wiesemann 1977 (wie Anm. 53), S. 447–449, S. 454 f. und S. 457 sowie StAA, NSDAP-Kreisleitung Memmingen-Land 1/196. 73 Joseph Walk (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, 2. Aufl., Heidelberg 1996, S. 139 f. 74 Die Folgen für schwäbische Juden schildert Gernot Römer: „Jüdisch versippt“. Schicksale von „Mischlingen“ und nichtarischen Christen in Schwaben, Augsburg 1996. Siehe auch Bernheim 2000 (wie Anm. 43). 75 Gotto 2006 (wie Anm. 64), S. 129 f. 76 http://www.spurensuche.hdbg.de (abgerufen am 15. 7. 2010). 77 NNZ Nr. XX vom 26. 4. 1933; Gotto 2006 (wie Anm. 64), S. 129–132. 78 Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 209.

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verließen Deutschland ein Jahr später, jeweils nachdem sie verhaftet worden waren.79 Vor allem junge Leute, denen die Berufsverbote die Zukunft verstellten, kehrten Deutschland früh den Rücken. So gingen Lotte Dann (geb. 1912) und Erna Weil (1907–1960) zum Studium ins Ausland, nachdem das Gesetz „gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ und weitere Berufsbeschränkungen eine Fortführung ihres Medizinstudiums in Deutschland sinnlos gemacht hatten.80 Da die Polizei erst seit Sommer 1935 die Auswanderungen differenziert erfasste, fehlen exakte Zahlen bis zu diesem Zeitpunkt.81 Dr. Ernst Jacob (1899–1944), der letzte Vorkriegsrabbiner, berichtete 1937 von insgesamt 200 Gemeindemitgliedern, die Deutschland verlassen hätten, sein Sohn schätzt, dass es bis 1936 150 Emigranten waren.82 Da gleichzeitig Juden aus anderen Orten, insbesondere aus den umliegenden Landgemeinden zuzogen bzw. nach Augsburg zwangseingewiesen wurden, einige vorübergehend sogar aus dem Ausland zurückkehrten, blieb die absolute Zahl der jüdischen Bevölkerung Augsburgs bis Ende 1937 nahezu konstant. Noch im Oktober 1937 waren 1000 Juden polizeilich in Augsburg gemeldet.83 Die definitorische Arithmetik der „Nürnberger Gesetze“ erhöhte ihre Zahl zwischenzeitlich sogar, etwa im Jahr 1937 um 93.84 Zu den erstaunlichen Phänomenen jüdischer Existenz in der NS-Zeit gehört die Stärkung jüdischen Lebens mitten im Untergang.85 Auch in Augsburg hatte die Kultusgemeinde enorme soziale Aufgaben zu lösen. Ende 1935 richtete sie zusammen mit dem deutschen Landesverband der zionistischen Hechaluz-Vereinigung ein Bet Chaluz (Haus der Pioniere) zur Vorbereitung auf ein zukünftiges Leben in Palästina ein. Es war das größte Bet Chaluz in Bayern. Anfangs lebten 30 bis 40 junge Leute aus ganz Deutschland in einer Wohnung in der Friedberger Straße, seit 1937 in der Armenhausgasse. Sie lernten Hebräisch, setzten sich mit jüdischer Kultur auseinander und wurden bei Augsburger Gärtnern und Handwerkern angelernt. Zwei Hachschara

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Siehe Friedrich G. Friedmann: Augsburger Humanismus in der Fremde. Briefe und Dokumente aus dem Archiv Friedmann. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Augsburg 1993, S. 14. 80 Lotte Treves: Mit tiefer Dankbarkeit blicke ich zurück, in: Gernot Römer (Hg.): Vier Schwestern. Die Lebenserinnerungen von Elisabeth, Lotte, Sophie und Gertrud Dann aus Augsburg, Augsburg 1998 (Lebenserinnerungen von Juden aus Schwaben Bd. 1), S. 135– 228. 81 Eine Auswertung der Lebensläufe, die in den Rundbriefen von Rabbiner Jacob erwähnt werden, ergibt 23 Emigrationen für 1933, 24 für 1934 und nur 8 für 1935. 82 Ernst Jacob: Pessachgruß 1937, teilweise abgedruckt in: Zehn Jahre 2001 (wie Anm. 4), S. 56 f. 83 StAA, Regierung von Schwaben, K.d.I., Nr. 11440. 84 Ebd. 85 Siehe Schalom Adler-Rudel: Jüdische Selbsthilfe unter dem Nazi-Regime 1933–1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974.

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(landwirtschaftliche Ausbildungs-)-Lager im Augsburger Umkreis (Gut Bannacker in Bergheim und Fischach) dienten demselben Zweck.86 Wer in Augsburg etabliert war, versuchte zunächst, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren, bevor er alles aufgab, um in einem fremden Land völlig neu anzufangen. Eva Labby (geb. 1929), deren Großvater Bernhard Lamfromm (1848–1932) zu den Mitbegründern der renommierten Wäschefabrik Lamfromm & Biedermann gehörte, berichtete, dass sich ihre Familie erst 1936, nach einem Besuch in Amerika, von der Gefahr überzeugen ließ und zur Emigration entschloss.87 Für die in Augsburg Verbliebenen spielte die Kultusgemeinde eine besonders wichtige Rolle. Sie versuchte Ersatz zu schaffen für alles das, was der NS-Staat Juden an gesellschaftlichem Leben, kulturellem Angebot und sozialer Fürsorge vorenthielt. Dabei wurde die Synagoge in einem Maß zum geistigen Mittelpunkt der Gemeinde, wie sie es vorher nie gewesen war. Dank der in den 1920er Jahren gut ausgebauten Vereinsstruktur gelang der Kultusgemeinde eine erstaunliche Intensivierung jüdischen Lebens. Als Rabbiner Jacob 1934 den Emigranten einen „Gruß aus der Heimat“ und 1937 einen „Pessachgruß“ schickte und „aus dem Leben der Gemeinde“ berichtete, betonte er die neue Bedeutung der Synagoge, die nicht mehr nur Stätte des Gottesdienstes war: „Nein, Halderstaße 6-8 wurde in dieser Zeit immer mehr der Schauplatz des gesamten Gemeindelebens. Sämtliche kulturellen Veranstaltungen finden in der Synagoge oder im Trausaal statt, die Konzerte so gut wie die Vorträge und Arbeitsgemeinschaften. Unsere Jugend lernt hier und spielt sogar hier. Hier wird Rat für Auswanderung, Hilfe und Aufbau erteilt und Hilfe in allen Notfällen.“88 Schon 1933 hatte der Gemeindevorstand für die aus den paritätischen Sportvereinen ausgeschlossenen Sportler die „Private Tennisgesellschaft Augsburg“ (PTGA) gegründet und gezielt ausgebaut. Die Spielstätte am Alten Heuweg wurde unter erheblichem Aufwand mit neuen Umkleideräumen und einer Gaststätte ausgestattet. Dieser jüdische Sportverein bot bis zu seinem erzwungenen Ende im November 1938 nicht nur Möglichkeiten zu regulärem sportlichem Wettkampf, sondern Jung und Alt auch Raum für entspannte Treffen, bei denen sie zumindest vorübergehend ihre Isolation im NS-Staat vergessen konnten. Für viele war die PTGA deshalb „wie eine Insel im braunen Meer“.89 Zu den sozialen Aufgaben der jüdischen Gemeinde gehörte der Aufbau eines jüdischen Schulwesens. Als 1936 der jüdische Religionsunterricht an

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Gernot Römer: Die Austreibung der Juden aus Schwaben, Augsburg 1987, S. 200–218. Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 277. 88 Jacob 1937 (wie Anm. 82). 89 So der Titel einer Wechselausstellung des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben vom 30. 4.–22. 6. 2008, http://www.jkmas.de/Ausstellungen/Archiv (abgerufen am 15. 7. 2010); JKM 2005-22.1: PTGA-Klub-Nachrichten Nr. 6, 25. 8. 1937. 87

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den Schulen abgeschafft wurde und bald darauf der Verdrängungsprozess an den Augsburger Schulen massiv einsetzte, richtete die Gemeinde in der Halderstraße 8 eine Schule ein. Fritz Levy (geb. 1911) unterrichtete die aus den staatlichen Volksschulen ausgeschlossenen Schüler, alle Fächer und alle Jahrgänge in einer Sammelklasse.90 Ebenfalls in der Synagoge war seit 1934 auch der private, ehemals überkonfessionelle Kindergarten von Gertrud Dann untergebracht, nachdem ihr die Nationalsozialisten verboten hatten, weiterhin nichtjüdische Kinder zusammen mit jüdischen in ihrem Elternhaus zu betreuen. Auch der Sohn des Rabbiners, Walter Jacob, besuchte diesen Kindergarten.91 Wie er später berichtete, gelang es seinen Eltern, die Schrecken jener Zeit von den Kindern fernzuhalten. „Unser Leben blieb normal. Natürlich hatten wir nur jüdische Freunde.“92 Zum wichtigsten Anliegen der Gemeindeleitung aber wurde es, den zunehmend isolierten und verunsicherten Gemeindemitgliedern einen geistigen Rückhalt zu geben. Mit Hilfe des Jüdischen Kulturbunds93 organisierte sie Konzerte und Vorträge zur jüdischen Geschichte: „Wir müssen auf jede Weise bemüht bleiben, eine geistige Lebendigkeit in unserer Mitte zu erhalten“, mahnte Rabbiner Jacob 1937. Ihm kam dabei zugute, dass es schon vor 1933 ein anspruchsvolles Veranstaltungsangebot in der Synagoge gegeben hatte und dass seit einem Besuch Martin Bubers im Jahr 1930 Pläne für ein jüdisches Lehrhaus existierten.94 Besondere Schabbatstunden (Oneg Schabbat) sollten den Kindern „jüdisches Selbstbewusstsein und Lebensfreude“ vermitteln und ein „Gegengewicht […] gegenüber den mannigfachen Zurücksetzungen, die sie im Alltag und in der Schule hinnehmen müssen“, schaffen.95 Selbstverständlich galt es auch praktische Hilfe zu leisten: Die Jüdische Winterhilfe unterstützte die aus der öffentlichen Wohlfahrtshilfe ausgeschlossenen Juden mit Kleider- und Lebensmittelspenden, die in der Synagoge organisiert und verteilt wurden. Erstaunlich klangen die damaligen Pläne der Kultusgemeinde. Noch 1937 plante sie die Errichtung einer Turnhalle, die Eröffnung einer Gaststätte und die Einrichtung eines Altersheims. Die Gaststätte wurde nie genehmigt, doch dank der Erbschaft von Otto Heymann, einem Gemeindemitglied, konnte Ende 1937 das Altersheim tatsächlich eingerichtet werden, allerdings nicht an der zentralen Maximilianstraße, weil diese Haupt-

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Jacob 1937 (wie Anm. 82). Ebd.; siehe auch die Erinnerungen von Gertrud Dann: Ich war die rote Prinzessin, in: Römer 1998 (wie Anm. 80), S. 105–134, hier S. 110. 92 Walter Jacob: Ein Rabbinat in dunklen Stunden. Ernest I. Jacob 1899–1974, in: Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 5–22, hier S. 12. 93 Ebd. 94 Bayerische Israelitische Gemeindezeitung Nr. 11 vom 1. 6. 1930. 95 Ernst Jacob, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung Nr. 24, 15. 12. 1934. Viele Beispiele von Demütigungen und Herabsetzungen sind auf der Webseite des Spurensuche-Projekts des Maria-Theresia-Gymnasiums aufgeführt: http://www.spurensuche.hdbg. de (abgerufen am 15. 7. 2010). 91

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aufmarschstraße der Nationalsozialisten war und Juden das Hissen der Hakenkreuzflagge verboten war, sondern nach einem Grundstücktausch in der Frohsinnstraße, einer stillen Seitenstraße. 32 betagte Juden fanden dort Aufnahme, allerdings nur für kurze Zeit.96

VII. Mit einem Bündel von neuen Gesetzen entzog der NS-Staat 1938 Juden endgültig die wirtschaftliche Existenz und schränkte ihre Rechte auf ein Minimum ein.97 Die Kennzeichnung der Pässe und die im Oktober verordneten Zwangsnamen Sara und Israel stellten eine weitere Stufe der Eskalation dar. Bei der sogenannten Polenaktion wurden am 28. und 29. Oktober auch einige Augsburger Juden, die eine polnische Staatsangehörigkeit hatten, an die Grenze nach Polen transportiert. Da Polen ihnen aber die Einreise verweigerte, wurden sie nach Augsburg zurückgeschickt.98 In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brachen SA- und SS-Männer überall im Reich die jüdischen Gotteshäuser auf, raubten sie aus und versuchten sie niederzubrennen. Auch die Augsburger Synagoge wurde aufgebrochen und in Brand gesetzt. Doch die Gefährdung der umliegenden Gebäude in nichtjüdischem Besitz durch ein der Synagoge gegenüberliegendes Tanklager führte dazu, dass der Brand gelöscht wurde. So blieb der monumentale Gebäudekomplex erhalten – entweiht, geplündert und im Innern verwüstet.99 Hanna Bernheim, geb. Bach, (1895–1990) berichtete: „Uns wurde erzählt, dass die verhafteten Juden in meiner Geburtsstadt auf einem Lastwagen alle heiligen Gegenstände aus der Synagoge bringen mussten; dabei hatten sie die Kappen des Rabbi und des Vorsängers und die im Garderobenschrank gefundenen Hüte zu tragen. Sie wurden mit den Gegenständen auf dem offenen Lastwagen durch die Stadt gefahren und hatten sie an einem Patrizierhaus in der Stadtmitte abzuladen. Ich war zufällig gerade im Postamt und wunderte mich über die Angestellten, die im Wechsel aus dem Gebäude herausliefen. (In früheren Zeiten waren deutsche Beamte Beispiele an Kor-

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StadtAA, Häuserbogen Frohsinnstraße 21; Jacob 2007 (wie Anm. 92) , S. 11. Mehr als 180 Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen, die Juden betrafen, ergingen zwischen Januar und Anfang November 1938, siehe Walk 1996 (wie Anm. 73) S. 209–248, siehe auch Adam 1972 (wie Anm. 61) S. 172–203. 98 Zu ihnen gehörten Simon Kupfer (1899–1954) und Josef Faktorschik (1886–1940 Buchenwald), siehe Römer (Hg.) 2007 (wie Anm. 44), S. 219, 274. 99 Die Ereignisse sind überliefert durch die Tagebuchnotizen von Sophie Dann, die ihr Vater in seinen Erinnerungen weitergegeben hat, siehe Dann (wie Anm. 38), S. 8 f. Eine juristische Aufarbeitung der Brandstiftung hat es nie gegeben, siehe Herbert Immenkötter: Zur sog. Reichskristallnacht in Augsburg, in: Johannes Burkhardt u. a. (Hg.): Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 13–21. 97

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rektheit.) Mir wurde gesagt, dass die einen Blick auf die Juden werfen wollten.“100 Auch in Augsburg wurden während des Pogroms die Geschäfte von Juden beschädigt, wurden Juden drangsaliert und gequält. Die meisten jüdischen Männer wurden nach Dachau gebracht.101 Die Gestapo beschlagnahmte das Altersheim und ließ es innerhalb weniger Stunden räumen.102 Dieser Ausbruch hemmungsloser, vom Staat geduldeter Gewalt war ein tiefer Einschnitt. Er zielte nicht mehr nur auf die wirtschaftliche Verdrängung der Juden, sondern auf eine „Endlösung der Judenfrage“, die anfangs noch in der Vertreibung gesehen wurde, die aber bald im staatlich organisierten Völkermord endete. Für die deutschen Juden wurde der Pogrom zum Fanal. Allein innerhalb der nächsten drei Monate verließen 89 Augsburger Juden die Stadt, 26 davon mit dem Ziel USA, drei nach Palästina.103 Bis der NS-Staat im Oktober 1941 Juden die Auswanderung komplett verbot, hatten sich insgesamt etwa 600 Augsburger Juden ins zumeist rettende Ausland flüchten können. Unter ihnen war auch Rabbiner Jacob. Seit 1941 verschickte er zwei Mal im Jahr an die ihm bekannten Adressen Augsburger Emigranten Rundbriefe „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“. Mit dieser einmaligen Aktion blieb er auch im amerikanischen Exil der Rabbiner der Augsburger Kultusgemeinde.104 Die etwa 400 in Augsburg verbliebenen Juden quartierten die NS-Behörden der Stadt nach Aufhebung des Mieterschutzes im Frühjahr 1939 in sogenannte Judenhäuser oder in ein Barackenlager in der Geisbergstraße 14 ein.105 Seit dem Winter 1939 mussten sie Zwangsarbeit leisten, etwa in der Augsburger Ballonfabrik, beim Schneeschippen und in Baufirmen.106 In das Gemeindehaus Halderstraße 6 im Synagogenkomplex wurden ebenfalls jüdische Familien, zum Teil aus dem Umland, zwangseingewiesen. In der Bahnhofstraße 18 1/5, dem Wohn- und Geschäftshaus der renommierten Textilhan-

100 Hanna Bernheim: Erinnerungen, unveröffentlichtes Typoskript im Besitz des Kulturamtes der Stadt Tübingen; siehe auch http://www.datenmatrix.de/projekte/hdbg/spuren suche/content/pop-up-biografien-bach_marie.htm (abgerufen am 15. 7. 2010). 101 Siehe den Bericht über Heinz Landmann/Henry Landman in Dachau: http://infotrue. com/veronika.html (abgerufen am 1. 10. 2010). 102 Sophie Dann, die als Fürsorgeschwester der Gemeinde den Pogrom miterlebt hat, hat auch darüber berichtet, abgedruckt bei Dann (wie Anm. 38), S. 8 f. 103 StAA, Regierung von Schwaben 11440. Weitere Emigrationsziele waren Westafrika (1), Argentinien (1), Kuba (2), Kapstadt (2), Schweden (2), Prag (1). 104 Römer (Hg.) 2007 (wie Anm. 44); siehe auch Walter Jacob: Rabbi Dr. Ernest I. Jacob – Leitfigur der Augsburger Juden in zwei Welten, in: Schönhagen (Hg.) 2010 (wie Anm. 27), S. 69–75. 105 Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden vom 30. 4. 1939, RGBl. I, S. 864 f. und Runderlass des Reichsarbeitsministeriums und des Reichsministeriums des Inneren zur Durchführung des Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden vom 4. 5. 1939, in: Walk 1996 (wie Anm. 73), S. 293. 106 Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 37 f.

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Benigna Schönhagen Abb. 3: Dr. Ernst Jacob, der letzte Rabbiner der zweiten jüdischen Gemeinde von 1929– 1938, mit seiner Frau Anette, geb. Löwenberg, um 1950. Aus: Gernot Römer: Die Austreibung der Juden aus Schwaben. Schicksale nach 1933 in Berichten, Dokumenten, Zahlen und Bildern, Augsburg 1987, S. 26.

delsfirma Wimpfheimer & Co. mussten sich seit Mitte 1941 drei Ehepaare eine Wohnung teilen. Als sie im März 1943 den Befehl zur Deportation nach Auschwitz erhielten, wussten sie, was sie erwartete. Deshalb gingen Julius und Anna Guggenheimer, Ludwig und Selma Friedmann sowie Paul und Hedwig Englaender am 7. März 1943 gemeinsam in den Tod.107 Für diesen selbstbestimmten Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage entschieden sich seit dem Beginn der Deportationen insgesamt 14 Augsburger Juden. Unter ihnen waren die Schwestern Heymann: Clementine und Ida Heymann sowie Bertha Dessauer, geb. Heymann beendeten im August 1942 ihr Leben.108 Der letzte, der diesen Weg suchte, war Dr. Alfred Rosenbusch (geb. 1887), einst Direktor der Dresdner Bank und lange Zeit durch eine „Mischehe“ geschützt. Als er im Februar 1945 den Deportationsbefehl nach Theresienstadt erhielt, setzte er seinem Leben ein Ende.109

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Ebd. S. 216, S. 232 und S. 241; Souzana Hazan: „…dieser schönen Welt Lebewohl sagen.“ Der Weg der Familie Sturm aus Augsburg, Augsburg 2010 (LEBENSLINIEN. Deutsch-jüdische Familiengeschichten Bd. 3). 108 Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 254. 109 Ebd. S. 336.

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Nachdem dem Gemeindevorsitzenden Dr. Eugen Strauß im Sommer 1939 die Emigration nach Großbritannien gelungen war, leitete Benno Arnold (1876–1944), langjähriger 2. Vorsitzender, zusammen mit Ludwig Friedmann die Gemeinde, die bereits 1938 durch Eingliederung in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland ihre Selbständigkeit verloren hatte.110 Es war eine Gemeinde im Untergang. Es fehlte ihr an allem, vor allem aber an finanziellen Mitteln, um die Not der mittellosen Mitglieder zu lindern. Da die Gestapo verbot, in der Synagoge Gottesdienst zu halten, die Gemeinde aber weiterhin hohe Grundsteuern für das Gebäude zahlen musste, versuchte Arnold im Frühjahr 1940 die Synagoge zum Kauf anzubieten. Doch niemand war daran interessiert, weil die Pläne zum Ausbau Augsburgs zur Gauhauptstadt seit Frühjahr 1939 einen Abriss der Synagoge vorsahen.111 Lediglich die Orgel konnte, für ein Zehntel ihres ursprünglichen Preises, im Dezember 1940 an die katholische Pfarrgemeinde in Weßling am Ammersee verkauft werden.112 In dem demolierten Kultraum richtete die Stadt Augsburg ein Kulissenlager für das Stadttheater ein. Gottesdienst fand dennoch statt. Er wurde von dem Memminger Religionslehrer Emil Liffgens (1897–1943) in der ehemaligen Synagoge Kriegshaber gehalten, bis Liffgens am 9. März 1943 nach Auschwitz deportiert wurde.113 Mit diesem Transport endete die zweite Augsburger Gemeinde. Etwa 400 Juden wurden zwischen 1941 und 1943 deportiert und in den Vernichtungslagern im Osten ermordet.114 Welchen geistigen Widerstand Augsburger Juden diesem unfassbaren Zusammenbruch von Recht, Menschlichkeit und Anstand selbst im Niedergang der Gemeinde gegenüberstellten, zeigen die Erinnerungen des letzten Vorkriegsvorsitzenden der Gemeinde, Dr. Eugen Strauß. 1956 schrieb er im amerikanischen Exil im Rückblick auf den Novemberpogrom: „Jetzt hatte ich mich, und hatten wir alle uns nicht mehr zu fragen: Wir gehoerten nicht mehr dazu. Aber wir gehoerten auch nicht zu all dem Infamen und Niederen, das heraufkam. Wir gehoerten zu dem, was in Deutschland verschuettet wurde, was wir, die vertriebenen Juden aber in uns mitnehmen konnten: Die klassische, humanistische Bildung, mit der wir in Deutschland aufgewachsen waren.“115 110 Gesetz „über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“, RGBl. I, 1938, S. 338; zu Benno Arnold, siehe Gernot Römer: Bewährt im Untergang – Benno Arnold und das Ende der jüdischen Gemeinde, in: Schönhagen (Hg.) 2010 (wie Anm. 27), S. 77–81. 111 StadtAA, Bestand 39, Nr. 684. 112 Schönhagen 2010 (wie Anm. 27). 113 Römer 2007 (wie Anm. 44), S. 296. 114 Die Zahl differiert je nachdem, ob man von in Augsburg geborenen oder dort gelebten Juden ausgeht. Siehe Gernot Römer: Liste der Augsburger Holocaust-Opfer, Bildschirmpräsentation im Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben; Michael CramerFürtig (Hg.): Bewahrt Eure Stadt… Kriegsende und Neuanfang in Augsburg 1945–1950, Augsburg 2005, S. 49 f. 115 Eugen Strauss: Erinnerungen und Geschichte, Leo Baeck Institut New York ME 633, S. 4.

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JÜDISCHE FRIEDHÖFE IN SCHWABEN 1933–1945 Von Andreas Wirsching

I. Bedenkt man den Hass und die schiere Vernichtungswut der Nationalsozialisten gegen die Juden und ihr kulturelles Erbe, so ist es im Grunde überraschend, dass die Mehrzahl der jüdischen Friedhöfe in Deutschland das NSRegime und den Krieg überdauert hat. Zwar waren sie meist stark beschädigt und verwahrlost, in der Regel aber nicht völlig zerstört, so dass nach dem Krieg Instandsetzungs- und Konservierungsmaßnahmen ergriffen werden konnten. 1952 zählte die Kommission für Friedhofsangelegenheiten des Zentralrats der Juden in Deutschland ca. 1700 jüdische Friedhöfe, die auf dem damaligen Territorium der Bundesrepublik fortbestanden; heute sind es – nach der Wiedervereinigung – rund 2000.1 Tatsächlich bilden die jüdischen Friedhöfe mit ihren landschaftlichen Anlagen und ihren Grabsteinen heute den ältesten und geschlossensten Bestand jüdischer Kulturdenkmäler auf deutschem Boden. In Bayerisch-Schwaben ist dies nicht anders. Im Mai 1948 ordnete die Bayerische Staatsregierung eine umfassende Inventarisierung der jüdischen Friedhöfe in Bayern an.2 Den traurigen Anlass hierzu bildete eine Serie von Schändungen jüdischer Friedhöfe – häufig durch Jugendliche, deren Motive im Unklaren blieben. Solche Vorfälle, die sich auch in den kommenden Jahren wiederholten, brachten die Staatsregierung gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht in eine unangenehme Lage. Die weitere Schändung von israelitischen Friedhöfen muß unter allen Umständen und mit allen Mitteln verhindert werden. In der Verurteilung dieser Verbrechen sind sich alle anständigen Menschen einig. Das Ansehen des deutschen Volkes in der Welt wird durch sie neuerdings gefährdet. Falls die deutschen Dienststellen bei ihrer Abwehr versagten, wäre mit schwerwiegenden politischen Auswirkungen zu rechnen.3 1 Bundesarchiv Koblenz (BAK), Bestand Bundesministerium des Innern B 106/1024, Zentralrat der Juden in Deutschland. Kommission für Friedhofsangelegenheiten: Die jüdischen Friedhöfe im Bundesgebiet (nach Zonen und Ländern), zusammengestellt Anfang 1952. Vgl. auch die in Einzelheiten abweichende Dokumentation von Adolf Diamant: Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt 1982, in der auch Friedhöfe auf dem Gebiet der DDR und der früheren deutschen Ostgebiete verzeichnet sind. 2 Staatsarchiv Augsburg (StAA), BA Illertissen, Nr. 3720, Rundschreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern an die Bezirksregierungen, 25. 5. 1948, wegen Aufnahme des Zustandes der israelitischen Friedhöfe. 3 Ebd., Bayerisches Staatsministerium des Innern an die Regierung von Schwaben, Abdruck [Mai 1948]. Das Thema Schändungen jüdischer Friedhöfe blieb auch in den folgen-

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Entsprechend nachhaltig nahm sich die Staatsregierung des Themas an und bestand gegenüber den Bezirksregierungen auf der Ablieferung genauer Berichte. Diese Bestandsaufnahme jüdischer Friedhöfe in Bayern ergab für Schwaben die Existenz von 16 jüdischen Friedhöfen. Im einzelnen handelte es sich um die Ortschaften Altenstadt, Augsburg, Augsburg-Kriegshaber, Binswangen, Buttenwiesen, Fellheim, Fischach, Harburg, Ichenhausen, Kempten, Krumbach, Memmingen, Mönchsdeggingen, Nördlingen, Oettingen, Wallerstein. Hinzu kamen die KZ-Friedhöfe Mauerstetten-Steinholz, Türkheim, Durach bei Kempten, Asbach-Bäumenheim, Lauingen, Kaufbeuren, Seestall und bei Augsburg-Messerschmidt, die im Folgenden nicht weiter behandelt werden.4 Vier weitere jüdische Friedhöfe, Osterberg, Hainsfarth, HainsfarthSteinhart und Neu-Ulm (Begräbnisplatz innerhalb eines christlichen Friedhofs), sowie die KZ-Friedhöfe in Bad Wörishofen und Lindau lassen sich noch hinzuzählen.5 Insgesamt gab es also im Regierungsbezirk Schwaben 20 erhaltene jüdische Friedhöfe. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie durchweg in schlechtem Zustand, was sich im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückführen ließ: Zum einen hatte es immer wieder Schändungen und Übergriffe von nationalsozialistischen Parteigruppierungen gegeben. Grabsteine waren umgeworfen, zerstört oder abtransportiert worden. Zum anderen konnten die jüdischen Gemeinden angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung je länger desto weniger die erforderliche Pflege aufbringen. Die jüdischen Gemeinden wurden kleiner und kleiner; und den verbliebenen Juden entzog das Regime zunehmend die Mittel und auch die Bewegungsfreiheit, um sich der Friedhöfe anzunehmen. Zu Beginn der 1940er Jahre begannen dann die Deportationen, die das definitive Ende der gerade in Schwaben zahlreichen jüdischen Landgemeinden einläuteten. Die Folge war eine fortschreitende Verwahrlosung der Friedhöfe. Die Friedhöfe verwaisten, blieben sich selbst überlassen und meist dem Verfall preisgegeben, bevor dann seit Mitte der vierziger Jahre Instandhaltungsmaßnahmen in Gang gesetzt werden konnten.

den Jahren aktuell. Siehe Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), Bestand Staatskanzlei (StK) 13665, Schreiben des Bayerischen Landesamtes für Wiedergutmachung, Generalanwalt Philipp Auerbach, an den Staatsminister der Justiz, Josef Müller, 30. 8. 1949; Bayerisches Landesentschädigungsamt, Aktennotiz, 9. 5. 1950. Verhandlungen des Bayerischen Landtags, Stenographische Berichte Nr. 149–192, 165. Sitzung vom 13. 6. 1950, Bd.VI, S. 511 f. 4 StAA, BA Illertissen, Nr. 3720, Aufstellung der in Bayern befindlichen K.-Z. und Israelitischen Friedhöfe: Schwaben. 5 Vgl. die informative Seite: http://www.alemannia-judaica.de/bayern_friedhoefe. htm#Bayrisch%20Schwaben (letzter Abruf 6. 8. 2009); sowie die Angaben bei Gernot Römer: Wo Steine sprechen. Die jüdischen Friedhöfe in Schwaben, Augsburg o. J.

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II. Das ist gleichsam die Kurzfassung der Geschichte der jüdischen Friedhöfe im NS-Regime. Sie ist für die schwäbischen Friedhöfe im Prinzip gleichlautend wie für andere Städte und Regionen im nationalsozialistischen Deutschland. Diese Kurzfassung verbirgt aber eine andere, weitaus dramatischere Geschichte, die uns in das Zentrum des NS-Regimes führt und die für das Schicksal der jüdischen Friedhöfe in Deutschland von entscheidender Bedeutung war. Die Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Schwaben zu begreifen erfordert also zunächst einen Ausflug in das Zentrum der NS-Geschichte.6 Man muss dies betonen, denn nach wie vor wird die lokale Geschichte eines beliebigen jüdischen Friedhofs isoliert und überwiegend unter heimatgeschichtlichen Aspekten betrachtet, ohne dass der entscheidende reichsgeschichtliche und reichsrechtliche Kontext beachtet würde. Es war nämlich keineswegs selbstverständlich, dass die Friedhöfe das NSRegime überdauerten. Warum waren die jüdischen Friedhöfe nicht geschlossen und enteignet, entwidmet und aufgelassen worden, wie man es angesichts der antijüdischen „Maßnahmen“ des NS-Regimes eigentlich hätte erwarten können? Keineswegs mangelte es während des Regimes an Stimmen, die eben dies für geboten hielten, sich über den Fortbestand des örtlichen jüdischen Friedhofes empörten und forderten, er müsse „als Schandmahl [sic!] der Kultur unbedingt beseitigt werden“.7 In erster Linie waren es die politischen Gemeinden bzw. Kommunalverwaltungen, die ihre jüdischen Friedhöfe als unzeitgemäßes Hindernis, ja als Ärgernis betrachteten. Immer weniger passten die Friedhöfe in die antisemitisch durchtränkte politisch-kulturelle „Landschaft“ des NS-Regimes. Bürgermeistern und Amtsleitern war die häufig zentrale Lage eines jüdischen Friedhofs zunehmend ein Dorn im Auge. Sie bezeichneten es als Gemeindeinteresse, die Friedhöfe zu beseitigen. Ideologische und interessenpolitische Motivationen − etwa mit Blick auf die Arrondierung gemeindeeigenen Immobilienbesitzes − griffen hierbei ineinander. Seit 1935 häuften sich daher in der Berliner Zentrale des Deutschen Gemeindetages die Anfragen, wie eine Schließung und anschließende Enteignung bzw. ein Verkauf der lokalen jüdischen Friedhöfe rechtlich möglich sei. „Mit Recht verlangt die Bevölkerung die Beseitigung dieses Schandflecks“, so berichtete 1935 der Bürgermeister einer pommerschen Kleinstadt. „Es muss daher erreicht werden, den Friedhof in städtischen Besitz zu bekommen, damit die Gräber eingeebnet und das Gelände in die Parkanlage einbe-

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Vgl. hierzu ausführlicher Andreas Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland 1933– 1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 50 (2002), S. 1–40. 7 Bundesarchiv, Abteilungen Berlin (BArch), R 36/2101, Bl. 108, Der Bürgermeister der Stadt Haltern an den Deutschen Gemeindetag, 5. 11. 1935.

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zogen werden kann.“8 Und 1938, wenige Tage nach der „Reichskristallnacht“ resümierte der Oberbürgermeister von Erfurt, was er mit einer Vielzahl von Amtskollegen für ein vordringliches Anliegen hielt: Dem Streben, den Juden im öffentlichen Leben nicht mehr in Erscheinung treten zu lassen, ist auf einem Gebiet noch nicht Rechnung getragen: dem Friedhofswesen. Wohl in fast allen größeren und mittleren Städten haben die jüdischen Kultusgemeinden eigene Friedhöfe. Diese liegen z. T. an hervorragenden Stellen des Stadtgebietes oder doch an wichtigen öffentlichen Wegen, so daß sie von Vorübergehenden eingesehen werden können. […] Dieser Zustand, der für viele andere Städte ähnlich sein wird, ist nicht mehr länger zu ertragen. Der Einzelne muß es als eine Belästigung empfinden, an dem Friedhof vorbeizugehen und während einer nationalsozialistischen Feierstunde auf jüdische Gräber und vielleicht sogar Trauerfeiern blicken zu müssen. Die bisherigen Bestrebungen, diesem offensichtlich unerträglichen Mißstand durch eine Verlegung des Friedhofs zu begegnen, mußten an der Unzulänglichkeit der derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen scheitern. Ich halte nunmehr den geeigneten Zeitpunkt für eine den heutigen Anschauungen angepaßte gesetzliche Regelung für gekommen und bitte, darauf hinzuwirken, daß die erforderlichen Maßnahmen schon jetzt – wenn nötig im Verordnungswege – getroffen werden.9

Dieses Schreiben legte den Finger bereits auf den wunden Punkt. Zum großen Ärgernis der nationalsozialistischen Kommunalpolitiker gab es nämlich während des NS-Regimes im Friedhofs- und Bestattungswesen keinerlei antijüdisches Sonderrecht. Das ist bemerkenswert angesichts dessen, dass ein solches Sonderrecht praktisch für jeden anderen Lebensbereich existierte.10 Formalrechtlich bedeutete dies, dass spezifisch jüdische Friedhöfe auch im NS-Regime nicht existierten. Es gab lediglich kommunale Friedhöfe und solche Friedhöfe, die den Religionsgemeinschaften gehörten und von ihnen verwaltet wurden, darunter auch die jüdischen. Betrachtet man daher das Schicksal der jüdischen Friedhöfe im NS-Regime näher, so trifft man auf den erstaunlichen Befund, dass das zugrunde liegende Bestattungsrecht und seine Verwaltungsrichtlinien einen „normenstaatlichen“ Überhang aus der Zeit vor 1933 bildeten.11 Das Bestattungsrecht war grundsätzlich Landesrecht; es lag im Schnittpunkt gesundheitspolizeilicher, kommunaler und kultischer Interessen, Traditionen und Gebräuche. Unterschiedliche Stränge der deutschen Rechtsgeschichte wie das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, das gemeine Recht oder auch das (linksrheinische)

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BArch R 36/2101, Bl. 106, Der Bürgermeister der Stadt Lauenburg in Pommern an den Deutschen Gemeindetag, 6. September 1935. 9 BArch R 36/2101, Bl. 133, Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Erfurt, Kießling, an den Regierungspräsidenten in Erfurt, 15. November 1938. 10 Siehe hierzu: Joseph Walk (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, 2. Aufl. Heidelberg 1996. 11 Vgl. hierzu allgemein Ernst Fraenkels Unterscheidung von „Normenstaat“ und „Maßnahmenstaat“ in: Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt a. M. 1984 (zuerst engl. 1941).

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französische Recht standen noch in der Weimarer Republik nebeneinander.12 Auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung änderte sich hieran nichts. Unzählige Male musste daher die Geschäftsstelle des Deutschen Gemeindetages die ratsuchenden Bürgermeister darüber informieren, dass es keine rechtliche Möglichkeit gab, die jüdischen Friedhöfe contra legem zu schließen. Auch die Auflassung bereits geschlossener Friedhöfe scheiterte zumeist an der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhefrist. In Bayern betrug die Ruhefrist zwar nur 15 Jahre (in Preußen dagegen 40); allerdings war dies eine Frist, die auch unter nationalsozialistischem Vorzeichen einzuhalten war. Interessant ist nun, dass das Regime in den dreißiger Jahren eine neue gesetzliche Grundlage plante. Bereits im Februar 1939 lag ein neues „Reichsfriedhofsgesetz“ im Entwurf vor.13 Ganz im Stile anderer nationalsozialistischer Maßnahmegesetze ordnete dieser Entwurf das Bestattungswesen den Zweckmäßigkeitserwägungen und ideologischen Zielvorgaben des Regimes radikal unter. An die Stelle des bisher geltenden Landesrechtes sollten kommunale und behördliche Willkür treten. So statuierte der Entwurf in dürren Paragraphen, dass die Gemeinden künftig „berechtigt und auf Anordnung der höheren Verwaltungsbehörden verpflichtet“ sein sollten, „die Übertragung des Eigentums der in ihrem Gebiet gelegenen, im Eigentum von Religionsgemeinschaften stehenden Friedhöfen einschließlich der auf ihnen befindlichen, zu Bestattungszwecken bestimmten Gebäuden zu verlangen.“ (§ 5) Sollte sich die betreffende Religionsgemeinschaft mit der Gemeinde nicht einigen, „so spricht die höhere Verwaltungsbehörde den Übergang des Eigentums auf die Gemeinde aus und setzt die für die Aufwendungen zu gewährende Entschädigung fest.“ (§ 7) Des Weiteren sollte die höhere Verwaltungsbehörde auch die Schließung von Friedhöfen anordnen oder ihre Zweckbestimmung aufheben können, wenn dies „im Interesse der Volksgesundheit oder aus anderen Gründen des gemeinen Wohls geboten ist.“ (§§ 9 u. 13)14 Das Inkrafttreten dieses Gesetzentwurfes hätte die Handlungsspielräume der Gemeinden gegenüber den jüdischen Friedhöfen in der gewünschten Weise erweitert. Seine Stoßrichtung zielte aber weniger auf die jüdischen als auf die christlichen Gemeinden. „Das Wesentliche an dem Gesetzentwurf ist“, so resümierte Bormann, der in die Verhandlungen involviert war, „dass den Gemeinden die Möglichkeit gegeben wird, die konfessionellen Friedhöfe in ihre Verfü-

12 Das 1933 geltende, im Einzelnen vielgestaltige und nach Ländern differenzierte Bestattungsrecht ist zusammengestellt in: Wilhelm Brunner: Das Friedhofs- und Bestattungsrecht. Ein Handbuch, Berlin 1927; Max Berner: Das Bestattungswesen in Preußen. Eine Darstellung unter Würdigung von Theorie und Praxis, Berlin 1932. 13 BArch R 36/2103, Schreiben des Stabes des Stellvertreters des Führers an den persönlichen Referenten des Präsidenten des Deutschen Gemeindetages, Umhau, vom 6. Februar 1939. Diesem Schreiben liegt der Entwurf des Gesetzes bei. 14 Ebd.

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gungsgewalt zu bekommen.“15 Welche Rückwirkungen ein solches Gesetz auf die Stimmung in den christlichen Gemeinden möglicherweise haben würde, war allerdings schwer kalkulierbar. Angesichts der Kriegssituation schätzte die NS-Führung das Risiko jedenfalls als zu hoch ein und nahm von dem Erlass des Gesetzes bis auf weiteres Abstand.16 Weiterhin mit den Anfragen der Kommunalverwaltungen wegen der jüdischen Friedhöfe konfrontiert, musste die Geschäftsstelle des Deutschen Gemeindetages daher wie zuvor auf das Fehlen einer reichsrechtlichen Regelung verweisen. Zwar seien die Vorarbeiten zu dem Reichsfriedhofsgesetz abgeschlossen, vor Kriegsende aber könne mit seinem Inkrafttreten nicht gerechnet werden. Der Weg zu einem antijüdischen Sonderrecht in Sachen Friedhofs- und Bestattungswesen war damit blockiert. Zugleich freilich bot sich seit Ende der 1930er Jahre den Gemeinden eine andere Möglichkeit, in den Besitz der Friedhöfe zu gelangen, nämlich durch „Arisierung“, das heißt durch den Ankauf oder auch nur Scheinankauf der Friedhofsimmobilie. Die entscheidende Grundlage hierfür bildete die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938“, die den Zwangsverkauf jüdischer Immobilien ermöglichte.17 Bis 1941 wurde auf Weisung der nationalsozialistischen Behörden die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ Eigentümer der jüdischen Friedhöfe. Die Reichsvereinigung war ein Verband, in den alle Juden und jüdischen Einrichtungen mit ihrem verbliebenen Vermögen etappenweise zwangsintegriert und der Aufsicht des Staates unterstellt wurden. Die Aufsichtsbehörde der Reichsvereinigung war das Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Dies bedeutete: Der gesamte Immobilienbesitz der jüdischen Gemeinden geriet um 1940 in die Reichweite der Aufsichtsbehörden. Seit Anfang der 1940er Jahre wies das RSHA die Reichsvereinigung an, ihre jüdischen Friedhöfe an die Kommunen zu verkaufen. Und Anfang Juli 1943, zu einem Zeitpunkt also, als die meisten Juden aus dem „Altreich“ deportiert worden waren, konnte das Bayerische Staatsministerium des Innern den Regierungspräsidenten mitteilen: „Die Reichsvereinigung der Juden Deutschlands wird 15

BArch R 36/ 2103, Schreiben des Stellvertreters des Führers, i.V. Bormann, an Fiehler, 23. Mai 1939. 16 Dies lag auf der allgemeinen Linie der nationalsozialistischen Kirchenpolitik im Weltkrieg. So kündigte Bormann in einem geheimen Rundschreiben an die Gauleiter vom Juni 1941 die „restlose“ Beseitigung des kirchlichen Einflusses an, die lediglich aus taktischen Gründen auf die Zeit nach dem Kriege verschoben werde. Siehe Ulrich von Hehl: Die Kirchen in der NS-Diktatur. Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Deutschland 1933– 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2. Aufl. Bonn 1993, S. 153–181. 17 Reichsgesetzblatt 1938 I, S. 1709. § 6 der Verordnung lautete: „Einem Juden [(…)] kann aufgegeben werden, seinen land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb, sein anderes land- oder forstwirtschaftliches Vermögen, sein sonstiges Grundeigentum oder andere Vermögensteile ganz oder teilweise binnen einer bestimmten Frist zu veräußern.“ Eine ausführliche rechtliche Würdigung dieser Verordnung findet sich bei Martin Tarrab-Maslaton: Rechtliche Strukturen zur Diskriminierung der Juden im Dritten Reich, Berlin 1993, S. 180 ff.

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jüdische Friedhöfe, die nicht mehr für die Bestattung von Juden benötigt werden, veräußern und in erster Linie den Gemeinden zum Kauf anbieten. Die Erwerber brauchen gegenüber der Veräußerin keine Verpflichtungen wegen der künftigen Verwendung des Friedhofgeländes einzugehen.“18 Dies war aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite bestand darin, dass sich das RSHA und die anderen betroffenen Reichsbehörden für eine realistische Preisbildung interessierten. In dem Maße, in dem der Kaufpreis ja letztendlich den Reichsfinanzen zugute kommen würde, erschwerten und verzögerten sich die „Verhandlungen“ mit den Kommunen. Diese Situation verkomplizierte sich noch weiter dadurch, dass das Vermögen der „Reichsvereinigung“ am 3. August 1943 beschlagnahmt und unter die Verwaltung des Reichsfinanzministeriums gestellt wurde. Wie in dem Prozess der „Arisierung“ allgemein zu beobachten ist, spielte fortan die Reichsfinanzverwaltung eine Schlüsselrolle für das Schicksal der jüdischen Friedhöfe. Tatsächlich war dieser letzte Akt in der Geschichte der jüdischen Friedhöfe unter dem NS-Regime gekennzeichnet von einer geradezu atemberaubenden Mischung aus bürokratischer Heuchelei, Zynismus und Skurrilität – die für das Regime ja keineswegs untypisch ist. Tatsache ist freilich, dass dieser Prozess so kompliziert wurde, dass er den kaufwilligen politischen Gemeinden so viele Steine in den Weg legte, dass für die komplette „Arisierung“ der jüdischen Friedhöfe am Ende schlicht die Zeit fehlte. Insbesondere kam Anfang 1944 ein neues Element ins Spiel, das viele Bürgermeister zutiefst empörte und die Verkaufsverhandlungen mit der Reichsfinanzverwaltung weiter verzögerte. Am 8. Januar 1944 ordnete nämlich das Reichsfinanzministerium an, die jüdischen Friedhöfe seien den Gemeinden erneut zum Verkauf anzubieten; aber zusammen mit dem Grundstück sollten die Gemeinden nun auch die Grabsteine erwerben. Zugleich sollten die Kaufverträge eine Klausel enthalten, die das Reich von jeglicher künftigen Haftung ausnahm. Entsprechend formulierte das vom Ministerium standardisierte Schreiben, mit dem die örtlichen Finanzämter den Gemeinden den Kauf anboten: „Die auf dem Begräbnisplatz vorhandenen Grabdenkmäler werden mitverkauft, obwohl sie noch den Juden gehören, wenn deren Vermögen nicht eingezogen oder verfallen ist. Nach den bisherigen Erfahrungen ist mit Ansprüchen der Eigentümer nicht zu rechnen. Es soll aber vorsorglich in den Kaufvertrag die Bestimmung aufgenommen werden, dass Sie [i. e. die Gemeinde] sich verpflichten, das Reich von etwaigen Ansprüchen der Eigentümer freizuhalten.“19 Auch hierfür gab die rechtliche Fiktion, wonach das jüdische Eigentum nur „beschlagnahmt“ sei, den Ausschlag. Kon18

StAA, BA Illertissen, Nr. 3723, Bayerisches Staatsministerium des Innern an den Reichstatthalter in der Westmark und die Regierungspräsidenten, 6. 7. 1943. 19 BArch R 36/2102, Bl. 56, Schreiben der Provinzialdienststelle Rheinland und Hohenzollern des Deutschen Gemeindetages an die Zentrale des Deutschen Gemeindetages, 13. März 1944; ebd., Bl. 47, Schreiben des Deutschen Gemeindetags an den Reichsfinanzminister, 19. Juli 1944. Hervorhebung von mir.

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kret hieß das: Sofern sie das Friedhofsgrundstück erwarben, wurden die Gemeinden nicht Eigentümer der Grabsteine; die Grabsteine blieben vielmehr im Eigentum der Grabstelleninhaber bzw. ihrer Angehörigen, die rechtlich betrachtet auch jederzeit die Herausgabe der Denkmäler verlangen konnten. Man beachte: Dies alles spielt sich im Jahre 1944 ab! Und dass es sich um einen reichlich gespenstischen Vorgang handelte, war den Beteiligten natürlich bewusst. Nach Auskunft des Deutschen Gemeindetages hatte das Ganze „nur theoretischen Charakter, da kaum damit zu rechnen ist, dass die Juden ihre Eigentumsrechte an den Grabmälern geltend machen werden.“20 „Unter den obwaltenden Verhältnissen“ sei damit nicht zu rechnen;21 dies setze „politische Tatsachen voraus, mit deren Eintritt nicht zu rechnen ist“.22 Offensichtlich versuchte das Reich hier also, den Gemeinden eine juristische Verantwortung zuzuspielen, die den Blick auf den Abgrund von Deportation und Massenmord freilegte. Am deutlichsten sprach dies der Bürgermeister der Stadt Bückeburg aus, der sich direkt an das Reichssicherheitshauptamt wandte und im Juli 1944 schrieb: Die Juden, die an dem hiesigen jüdischen Friedhof interessiert waren, sind schon vor Jahren samt und sonders abtransportiert worden und zum größten Teil wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Ansprüche der Eigentümer gegen das Reich oder die Gemeinde könnten nur gestellt werden, wenn einer dieser Juden nach hier zurückkehrte. Da die Juden Reichsfeinde sind, setzte eine Rückkehr voraus, daß ein nationalsozialistischer Staat nicht mehr besteht. Zuvor würde man zweifellos uns allen das Genick umdrehen.23

Es bedurfte mehrerer Gutachten und Interventionen, um das Reichsfinanzministerium dazu zu bewegen, die umstrittene Klausel zurückzunehmen. Dies geschah in einem neuen Erlass vom 6. Januar 1945. Für die Gemeinden war damit nun endgültig der Weg frei, die jüdischen Friedhöfe zu erwerben, die Grabsteine abzuräumen und die Grundstücke anderweitig zu verwenden. Im Januar 1945 war es dafür freilich zu spät. Wenn der Krieg allerdings ein Jahr länger gedauert hätte, gäbe es heute in Deutschland auch keine jüdischen Friedhöfe mehr.

III. Erst vor diesem reichsrechtlichen und reichspolitischen Hintergrund lässt sich die Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Schwaben richtig einordnen. Viele 20

BArch R 36/2102, Bl. 57, Schreiben des Deutschen Gemeindetages an die Povinzialdienststelle Rheinland und Hohenzollern des Deutschen Gemeindetages, 27. März 1944. 21 Ebd., Bl. 60, Schreiben des Deutschen Gemeindetages an den Bürgermeister von Warstein (Sauerland), 25. Juli 1944. 22 Ebd., Bl. 47, Schreiben des Deutschen Gemeindetages an den Reichsfinanzminister, 19. Juli 1944. 23 Ebd., Bl. 62, Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bückeburg, Friehe, an das Reichssicherheitshauptamt Berlin, 6. Juli 1944.

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lokale Vorkommnisse werden erst in diesem Kontext richtig verständlich. Zwar ist die Quellenlage zur Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Schwaben im Allgemeinen relativ schlecht. Aber wir verstehen jetzt zum Beispiel weitaus besser, unter welchen Umständen Johann Friedrich Wiedemann der jüdischen Gemeinde in Deggingen im Jahre 1939 ihren Friedhof abkaufte.24 Hintergrund war eben jene „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938“, die den Verkauf jüdischer Immobilien forcierte. Ebenso verstehen wir weitaus besser, warum zum Beispiel von den Friedhöfen in Altenstadt und Osterberg keine absichtlichen Zerstörungen während der NS-Zeit bekannt sind.25 Auch in Augsburg haben die beiden großen jüdischen Friedhöfe das NS-Regime weitgehend ohne systematische Zerstörungen überdauert. Über den Friedhof in der Haunstetter Straße war unmittelbar nach Kriegsende „über absichtliche Zerstörungen […] während des Dritten Reiches […] nichts bekannt“.26 Beträchtliche Schäden waren allerdings durch einen Bombenangriff im Februar 1944 verursacht worden. Über den Friedhof in Kriegshaber berichtete die Verwaltung 1948, dass 1942 „von Truppen der Wehrmacht auf Befehl ihres Vorgesetzten“ alle Grabsteine des neueren Teils umgestürzt worden waren. Im Mai 1946 waren sie von der Friedhofsverwaltung wieder aufgestellt worden, so dass auch hier der größte Bestand der „kulturgeschichtlich äußerst wertvolle[n] Grabdenkmäler“, wie die Verwaltung festhielt, überdauern konnte.27 Vandalismus wie in Kriegshaber kam häufig vor. In den meisten jüdischen Friedhöfen der Region wurden während des NS-Regimes Grabsteine umgeworfen, zerstört oder auch abtransportiert. Entscheidend aber ist, dass das Regime, anders als in praktisch allen anderen Bereichen, dem antisemitischen Mob in der Partei keine rechtliche Handhabe gab. Die Schändung jüdischer Friedhöfe blieb auch nach den Normen des NS-Regimes illegal und – im Prinzip jedenfalls – strafbar: Für die Friedhöfe blieb dies ein entscheidender Schutz. Illegal war auch, was in Buttenwiesen geschah. Hier wurden nach einer Schändung durch die HJ im Jahre 1938 die Grabsteine an einen Steinmetzmeister aus Mertingen verkauft und größtenteils abgefahren. Wenn wir uns die Rechtslage vergegenwärtigen, wird dieser etwas merkwürdige Vorgang deutlich klarer. Erstens blieb die jüdische Gemeinde von Buttenwiesen – obschon es sie gar nicht mehr gab – trotzdem bis 1945 ins Grundbuch eingetragener Besitzer des Friedhofs; es gab bis zum 8. Mai 1945 keine grundbuch24 Siehe http://www.alemannia-judaica.de/moenchsdeggingen_friedhof.htm (6. 8. 2009). Vgl. auch Römer o. J. (wie Anm. 5). 25 StAA, BA Illertissen, Nr. 3720, Schreiben des Landrats von Illertissen an die Bezirksregierung Schwaben, 1. 7. 1948. 26 Stadtarchiv Augsburg, Bestand 49/Nr. 481, Städtisches Friedhof- und Bestattungsamt Augsburg, Aufnahme des Zustandes der israelitischen Friedhöfe, hier 2. Bericht, 15. 7. 1948. 27 Ebd.

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rechtliche Eigentumsübertragung.28 Zweitens verfügte der Erlass des Reichsfinanzministeriums vom Januar 1944, dass das Eigentum der Juden an den Grabsteinen ungeschmälert erhalten bleibe. Es ist leicht einzusehen, dass beides zusammen Grund genug war, die Grabsteine eher pfleglich zu behandeln, um illegales Verhalten zumindest rückgängig machen zu können. Daher verwundert es auch nicht, dass derselbe Steinmetzmeister nach Kriegsende fast alle Grabsteine zurückbrachte. Sie wurden auf dem Friedhof wieder aufgestellt.29 Wie die verschiedenen Erlasse und Verordnungen des NS-Regimes zusammenliefen, wird deutlich an dem Schicksal des jüdischen Friedhofs in Memmingen. Abschließend sei daher dieser besonders gut dokumentierte Fall kurz skizziert: Seit Beginn der vierziger Jahre besaß die Stadt Memmingen ein starkes Interesse daran, die örtlichen jüdischen Immobilien, darunter den jüdischen Friedhof, zu erwerben. Zunächst aber zogen sich die Verhandlungen mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland – bzw. dem RSHA als deren Aufsichtsbehörde – in die Länge, da man sich über den Kaufpreis nicht einigen konnte. Erst nach längerem Hin und Her wurde der Preis für das Friedhofsgrundstück soweit gedrückt, dass die Stadt dem Kauf zustimmte. Am 27. Mai 1943 wurde dementsprechend ein notarieller Kaufvertrag abgeschlossen. Für die Reichsvereinigung hatte das Reichssicherheitshauptamt als Aufsichtsbehörde dem Verkauf am 9. März 1943 zugestimmt.30 Vor der Umschreibung im Grundbuch war allerdings gemäß § 8 der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ noch die Zustimmung der kommunalen Aufsichtsbehörde erforderlich, in diesem Fall des Memminger Landrates.31 Noch ehe letzterer seine Zustimmung gab, erfolgte die Intervention des Oberfinanzpräsidiums München. Der Oberfinanzpräsident forderte nun von der Stadt Memmingen eine Begründung, weshalb der Ankauf des jüdischen Friedhofs als besonders dringlich erachtet werde; ein entsprechender Antrag sei zu stellen und die Genehmigung des Reichsfinanzministeriums einzu-

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Stadtarchiv Wertingen, Amtsgericht Wertingen, 1. 7. 1949. Skurrilerweise scheiterte daran ein Rückerstattungsgesuch der Jewish Restitution Successor Organziation (IRSO), das von der Wiedergutmachungsbehörde Schwaben vorgetragen wurde: Da eine Eigentumsübertragung, etwa auf die Reichsvereinigung oder das Reichsfinanzministerium, nicht stattgefunden hatte, war auch keine Rückübertragung möglich. Ich danke Herrn Stadtarchivar Jürgen Fiedler, Wertingen, für seine Hinweise und die Überlassung von Archivkopien. 29 Stadtarchiv Wertingen, Schreiben des Landratsamts Wertingen an die Regierung von Schwaben, 13. 7. 1948, betr. Aufnahme des Zustandes der israelitischen Friedhöfe. 30 StAA, BA Memmingen, Nr. 4175, Bl. 29, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten München an den Bürgermeister der Stadt Memmingen, 28. Oktober 1943. 31 Ebd., Bl. 32, Schreiben des Bürgermeisters von Memmingen, Berndl, an das Finanzamt Memmingen, 26. November 1943.

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holen.32 Dieser Aufforderung kam der Memminger Oberbürgermeister am 24. Februar 1944 nach, indem er den dringenden Bedarf des Friedhofsgrundstücks mit einem Straßenbauvorhaben begründete. Zugleich bat er um beschleunigte Zustimmung, zumal der Kaufvertrag ja bereits im Mai des Vorjahres abgeschlossen worden sei.33 Inzwischen war aber der neuerliche Erlass des Reichsfinanzministeriums vom 8. Januar 1944 wegen der Grabsteine ergangen. Dementsprechend fragte das Finanzamt Memmingen am 25. Juli 1944 bei der Stadt an, ob sie Interesse an den Grabsteinen hätte.34 Als der Bürgermeister Berndl dies verneinte, blockierte das Oberfinanzpräsidium München den Verkauf. Unter Verweis auf den Erlass des Reichsfinanzministers regte er zwar eine Kaufpreissenkung für die Grabsteine an, ließ zugleich aber über das Finanzamt Memmingen mitteilen: „Sollte sich […] der Bürgermeister nicht entschliessen können, die Grabdenkmäler zu dem allenfalls niedriger geschätzten Verkaufswert zu übernehmen […], müsste ich die Genehmigung der Verkaufsurkunde […] bis nach Kriegsende zurückstellen.“35 Am 23. Januar 1945 willigte der Memminger Bürgermeister schließlich ein, die Grabdenkmäler für „vielleicht 500 RM“ zu kaufen36 – zu spät, als dass der Vorgang vor dem Ende des Regimes noch hätte weiterbetrieben werden können. Das Friedhofsgelände selbst hatte die Stadt inzwischen an einen Bäcker verpachtet, der es als Hühnerhof zur Aufzucht von Junghühnern nutzte. Warum der Pächter angewiesen wurde, die Grabsteine „zu belassen, wie sie jetzt stehen oder liegen“ und sie nicht zu beschädigen, wird vor dem genannten Hintergrund klar.37 Kurz nach Kriegsende, am 23. Juni 1945, widerrief die Gemeinde Memmingen den Pachtvertrag mit der Begründung, dass „mit Rücksicht auf die Änderung der Verhältnisse durch die militärische Besetzung Deutschlands und der Ungültigkeitserklärung der Maßnahmen gegen Juden die Absicht und Möglichkeit entfällt, Kaufhandlungen zum Abschluß zu bringen“.38 Am 14. Juli 1945 schließlich übergab der Bürgermeister der Stadt Memmingen den Schlüssel des jüdischen Friedhofs an das Finanzamt Memmingen als dem örtlichen Verwalter des Vermögens der Reichsvereinigung 32 Ebd., Bl. 29, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten München an den Bürgermeister der Stadt Memmingen, 28. Oktober 1943. 33 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Memmingen, Berndl, an den Oberfinanzpräsidenten München, 24. Februar 1944. 34 Ebd., Bl. 41, Schreiben des Finanzamts Memmingen an die Stadt Memmingen, 25. Juli 1944. Das Finanzamt schlug einen Kaufpreis für die Grabmäler von RM 4375.- vor. 35 Ebd., Bl. 53, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten München an das Finanzamt Memmingen, 21. November 1944. 36 Ebd., Bl. 54 f., Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Memmingen, Berndl, an das Finanzamt Memmingen, 23. Januar 1945. 37 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Memmingen an den Bäcker Hans S., 30. Juni 1943; Schreiben des Bäckers Hans S. an den Bürgermeister der Stadt Memmingen, 6. Juli 1943. 38 Ebd., Bl. 56.

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der Juden in Deutschland.39 Damit war der Friedhof gerettet, und es begann eine neue Ära, in der alsbald Maßnahmen ergriffen wurden, um die jüdischen Friedhöfe in Deutschland instandzusetzen und auch auf Dauer instandzuhalten.40

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Ebd., Bl. 57. Hierzu ausführlich: Wirsching 2002 (wie Anm. 6).

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„VERNICHTUNG DURCH ARBEIT“ UND „JIDISZES CENTR“ Juden in Landsberg am Lech 1944 bis 1950. Geschichte und Erinnerung Von Barbara Hutzelmann

Landsberg am Lech, im „Dritten Reich“ zur „Stadt der Jugend“ erklärt, hatte den Zweiten Weltkrieg fast ohne Zerstörungen überstanden, als sich mit dem Einzug der US-amerikanischen Armee am 27. April 1945 das kleinstädtische Leben schlagartig änderte: Die amerikanischen Truppen befreiten in den umliegenden Konzentrationslagern die wenigen überlebenden, überwiegend jüdischen Häftlinge. In der Stadt richteten die Sieger sodann ein Displaced Persons-Lager (DP-Lager) zunächst für alle in der Region befreiten KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter ein, das aber ab August 1945 nur mehr jüdische Displaced Persons (DPs) beherbergte. Hier entstand für wenige Jahre ein blühendes jüdisches Leben – ein tragisch anmutendes Phänomen: Denn die jüdischen Displaced Persons waren größtenteils Überlebende der Shoa, die sich nach ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern nun „auf der blutgetränkten Erde“ Deutschlands wieder fanden. Keiner der jüdischen DPs wollte dauerhaft in Deutschland bleiben, sie alle strebten die möglichst schnelle Auswanderung an.1 Das örtliche Gefängnis, in dem Adolf Hitler 1924 sechs Monate Haft wegen seines Putschversuches vom 9. November 1923 zugebracht und den ersten Teil von „Mein Kampf“ verfasst hatte, nutzte die amerikanische Besatzungsmacht seit dem 1. Januar 1946 als War Criminal Prison Nr. 1 (WCP). Insgesamt saßen dort seit Dezember 1945 1600 Kriegsverbrecher der Dachauer Prozesse ein. An mehr als 250 von ihnen wurde bis 1951 die Todesstrafe vollstreckt.2 1 Michael Brenner: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, München 1995, S. 26; Die meisten jüdischen DPs lebten in der amerikanisch besetzten Zone, die die besten Bedingungen für die Auswanderung nach Palästina, in die USA und andere Staaten bot. Hier waren Ende 1946 ca. 145 000 Juden. Bis 1948 stieg diese Zahl auf 250 000 an. So existierten in Bayern weitere große jüdische DP-Lager wie z. B. in Feldafing, Föhrenwald, München, Pocking und Leipheim, siehe: Angelika Königseder/Juliane Wetzel: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt 2004, Lageraufstellung (Amerikanische Zone), S. 247–265. 2 Edith Raim: Eine kleine Stadt erlebt die große Geschichte. Landsberg am Lech 1923– 1958. Eine Chronik von Ereignissen, in: Dies./Paulus Martin/Gerhard Zelger: Ein Ort wie jeder andere. Bilder aus einer deutschen Kleinstadt. Landsberg 1923–1958, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 12–32, hier S. 13 ff.; Angelika Eder: Flüchtige Heimat. Jüdische Displaced Persons in Landsberg am Lech 1945–1950, München 1998, S. 80 ff. Zu den Dachauer Prozessen: Robert Sigel: Im Namen der Gerechtigkeit, Frankfurt 1992.

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In Deutschland waren diese Jahre vom Widerstand gegen die politischen Säuberungen der Alliierten, deren sukzessive Rücknahme ab 1949, von Schuldabwehr gegen die begangenen Verbrechen und deren Beschweigen sowie einer damit einhergehenden Selbstviktimisierung gekennzeichnet.3 Das wirkte sich auch auf das Zusammentreffen der jüdischen Überlebenden im DP-Lager mit der deutschen Bevölkerung von Landsberg aus. Ein Zentrum jüdischen Lebens war Landsberg am Lech im Gegensatz zu vielen Orten Schwabens nie gewesen, eine jüdische Gemeinde und eine Synagoge gab es hier nicht. Für die nur etwa 20 Landsberger Juden begannen wie überall im „Dritten Reich“ mit der so genannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten Ausgrenzung, Verfolgung, Diffamierung, Beraubung und schließlich die Vertreibung aus ihrer Heimatstadt und aus Deutschland.4 Für jüdische KZ-Häftlinge wurden die Stadt und die umliegenden Orte vom Sommer 1944 bis Ende April 1945 zum „Ort des Sterbens“.5 Erst das DP-Lager, das „jidisze Centr“, machte Landsberg zum ersten und einzigen Mal in seiner Geschichte von 1945 bis 1950 zum Ort jüdischen Lebens; beides wird im ersten Teil dieses Aufsatzes beschrieben. Darauf folgend wird auf die Wahrnehmung der jüdischen DPs durch die Landsberger Bevölkerung eingegangen, die auch durch die Auseinandersetzung mit den Landsberg-Kauferinger KZ und deren Opfern bestimmt war. Abschließend wird am Beispiel eines neu geschaffenen Mahnmals für die Opfer der umliegenden KZ in Kaufering der Umgang mit Geschichte und Erinnerung heute skizziert. Ab dem Sommer 1944 wurden Landsberg, Kaufering und die umliegenden Ortschaften zum Schreckensort und Massengrab für tausende Juden aus ganz Europa: Am 18. Juni 1944 erreichte ein Güterzug aus Auschwitz mit 1000 jüdischen Männern Kaufering. Sie waren die ersten der dort zur „Vernichtung durch Arbeit“ bestimmten etwa 30 000 zumeist jüdischer Männer, Frauen und Kinder. Bis Kriegsende mussten sie im Rahmen der Pläne des so genannten „Jägerstabes“ unterirdische Betonbunker unter dem Tarnname „Ringeltaube“ für die Produktion des Düsenflugzeugs „Messerschmidt 262“ bauen. Die Stadt Landsberg war vorab über die Errichtung der Lager informiert worden, da man auf ihre Unterstützung zur Klärung infrastruktureller Problem angewiesen war. Juden aus Ungarn, Litauen, Polen, aber auch aus vielen anderen europäischen Ländern wurden in die elf Außenlager des Konzentrationslagers Dachau bei Landsberg/Kaufering deportiert.6 In diesen Lagern, die von 3

Norbert Frei: Deutsche Lernprozesse, in: Ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 27. 4 Raim 1995 (wie Anm. 2), S. 15 ff. 5 Michael Brenner: Impressionen jüdischen Lebens in der Oberpfalz nach 1945, in: Michael Brenner/Renate Höpfinger: Die Juden in der Oberpfalz, München 2009, S. 231–248, hier S. 231. 6 Edith Raim: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/1945, Landsberg am Lech 1992, S. 165 ff. Hitler selbst stimmte dem „Arbeitseinsatz“ der noch lebenden Juden ausdrück-

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der Organisation Todt (OT) in Zusammenarbeit mit der SS betrieben wurden, herrschten unvorstellbare Bedingungen, so dass die Häftlinge aufgrund der extrem schlechten Ernährung, der furchtbaren Arbeitsbedingungen und der grausamen Behandlung durch OT- und SS-Männer, der völlig ungenügenden Unterbringung in Erdhütten sowie an Seuchen in kürzester Zeit starben.7 Auf Beschwerden der OT, die Häftlinge seien wegen ihrer Schwäche nicht arbeitsfähig, reagierte die SS im Oktober 1944 mit der Deportation von 1322 Menschen nach Auschwitz, wo viele von ihnen in den Gaskammern ermordet wurden. Schon am 15. Juli 1944 hatte die SS 131 Kinder, die sich unter den Häftlingen befanden, zunächst in das Stammlager Dachau und dann am 26. Juli in das KZ Auschwitz transportiert, wo die meisten von ihnen vergast wurden. Nur wenige Kinder konnten überleben. Zudem wurden 2235 Männer und Frauen nach Bergen-Belsen und in das Flossenbürger Außenlager Leitmeritz deportiert.8 Angesichts der lebensfeindlichen Zustände an diesem Ort bedeutet das Erscheinen von sieben Nummern der zionistischen Zeitung „Nitzoz“ einen überaus mutigen Akt der Selbstbehauptung, des Bezeugens des an den Juden begangenen Genozids und des Glaubens an ein zukünftiges freies Leben.9 Sowohl die lebenden als auch die toten jüdischen Häftlinge blieben für die deutsche Bevölkerung nicht unsichtbar: Häftlingskolonnen wurden zur Arlich zu, da sie die letzte noch verfügbare Arbeitskraftreserve bildeten, Protokoll der Besprechung Dorschs mit Hitler am 6./7. 4. 1944, zitiert nach Albert Speer: Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzungen mit der SS, Stuttgart 1981, S. 400 ff.; Sabine Schalm: Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933–1945, Berlin 2009. 7 Die Lager befanden sich: Kaufering. I, II, XI direkt bei Landsberg; Kaufering III bei Kaufering; Lager IV bei Hurlach; Lager VI bei Türkheim; Kaufering VII bei Erpfting nahe Landsberg; Lager X bei Utting/Ammersee; Lager V in Utting; Lager VIII in Seestall und Lager IX bei Obermeitingen. Dazu ab Februar 1945 ein Kommando bei Landsberg DAG mit 100 jüdischen Frauen. Die Lager I–VII, IX und XI waren wohl Männer- und Frauenlager, vgl. Raim 1992 (wie Anm. 6), S. 361. Zu Frauen und Kindern: Schalm 2009 (wie Anm. 6), S. 187–202. Zu den Lebensbedingungen auch: Solly Ganor: Das andere Leben. Eine Kindheit im Holocaust, Frankfurt am Main, 1998, S 174 ff.; Zvi Katz: Von den Ufern der Memel ins Ungewisse. Eine Jugend im Schatten des Holocaust, Zürich 2002, S. 117 ff. 8 Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Hamburg 1989, hier S. 836, 882, 892. Der 12-jährige Daniel Ch. wurde am 4. 5. 1945 in Gunskirchen in Österreich befreit. Archiv KZ-Gedenkstätte Dachau (DaA), Jüdische Häftlinge; ebd., Datenbankrecherche (Dokumente des International Tracing Service ITS, Arolsen). 9 Edith Raim: Nitzotz. Die Zukunft beschreiben, in: Dies. (Hg.): Überlebende von Kaufering. Biographische Skizzen jüdischer ehemaliger Häftlinge. Materialien zum KZ-Außenlagerkomplex Kaufering, Berlin 2008, S. 129–134. Veröffentlicht sind drei Artikel aus Nitzotz von Schoschan (Dr. Chaim Rosen) und Schlomo Frenkel (Dr. Shlomo Shafir). Nitzotz wurde als hebräische zionistische Zeitschrift 1940 in Kovno nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Litauen gegründet. Im Ghetto erschien sie von 1941 bis Juli 1944 im Untergrund. Von den sieben in den Kauferinger Lagern geschriebenen Nummern sind fünf erhalten.

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beit in die Stadt getrieben, außerdem „liehen“ sich Landsberger Bürger Häftlinge aus, als Erntehelfer, für Aufräumkommandos und ähnliches. Kontakte zur deutschen Bevölkerung zu knüpfen war für diese sehr schwer; zumeist stießen die Häftlinge auf Ablehnung und Gleichgültigkeit, von wenigen Hilfeleistungen abgesehen.10 Da die Lager sich teilweise nahe bei Bauernhöfen befanden und von der Straße aus zu sehen waren, konnten auch die vielen Toten, die in Massengräbern verscharrt wurden, nicht verborgen bleiben. Die Stadt, Gewerbebetriebe und die umliegenden Gemeinden befürchteten davon ausgehende Seuchen und verschmutztes Trinkwasser, wie entsprechende Schreiben belegen.11 Die Bevölkerung konnte den Leichentransport und die Beerdigung teilweise genau beobachten: „Nach Aussage von glaubwürdigen Gemeindeangehörigen werden bis zu 15 Leichen auf einmal in Gruben von 1,30 x 1,50 m in ungenügender Tiefe verscharrt.“12 Der für die Lager zuständige SS-Arzt Dr. Max Blanke ließ auf Druck des Landrats die Gräber durch jüdische KZ-Häftlinge in Anwesenheit von zwei Gemeindeangehörigen öffnen und stellte zynisch fest, „dass seitens der SS in diesem Punkte alles ordnungsgemäß geschehen ist.“13 Anfang 1945 wandte sich der Landrat erneut an den Kommandeur der SS-Wachmannschaften und drang auf den Bau eines Krematoriums, wozu es jedoch nicht mehr kam.14 Der Gedanke, eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Häftlinge zu fordern und damit ihr Sterben zu beenden, wurde allerdings nicht geäußert. Die entkräfteten Häftlinge setzten all ihre Hoffnungen auf die Befreiung durch die näher rückende US-amerikanische Armee, befürchteten gleichwohl, dass die SS noch in letzter Minute versuchen würde sie zu töten. In der Tat hatte der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Ernst Kaltenbrunner, Mitte April angeordnet, die Kauferinger Lager zu bombardieren und auf diese Weise die Häftlinge zu ermorden. Da schlechtes Wetter diesen Plan vereitelte, wurden die meisten Häftlinge in Todesmärschen durch die 10

Raim 1995 (wie Anm. 2), S. 21. Staatsarchiv München (StAM), LRA 195935, Judenfriedhöfe (KZ-Friedhof ) 8. 5. 1944– 1946, Brief des Gärtnermeisters J. St. an Landrat Dr. Moos vom 15. 12. 1944: „Seit kürzerer Zeit werden aus dem JudenLager II die täglich anfallenden Leichen in der Kiesgrube Pl. Nr. 3353 in primitivster Art an verschiedenen Stellen beerdigt […]. Ich wurde von Sachverständigen darauf aufmerksam gemacht, dass die immer größere Beerdigungsfläche zweifellos eine Bazillengefährdung für das Untergrundwasser bedeutet, auf das ich in meinem Gärtnereibetrieb voll angewiesen bin […].“ Ebd., Brief von Landrat Dr. Moos an SS-Sturmbannführer Aumeier [Kommandant aller Kauferinger Lager, d. V.] vom 11. 11. 1944, Beerdigung von Juden: „So ist es z. B. unter keinen Umständen angängig, Tote an einem Ort zu beerdigen, durch den Wasserläufe gehen […]. Die sofortige Schaffung eines Judenbegräbnisplatzes ist deshalb höchst vordringlich, kann auch in der einfachsten Form ausgeführt werden […].“ 12 Ebd., Brief des Bürgermeisters der Gemeinde Erpfting an den Landrat Landsberg a/L, Beerdigung der Judenleichen im Lager VII. 13 Ebd., SS-Lagerarzt Blanke (über den Dienststellenleiter) an den Landrat Dr. Moos vom 30. 12. 1944, Beerdigung der Judenleichen im Lager VII. 14 Ebd., Brief Landrat an Kommandeur der SS-Wachmannschaften 16. 2. 1945. 11

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Stadt und die Dörfer der Umgebung in das Stammlager nach Dachau und/ oder durch das Würmtal getrieben, wobei viele der völlig erschöpften Menschen starben, einigen aber die Flucht gelang. Ein Evakuierungszug wurde bei Schwabhausen versehentlich von amerikanischen Tieffliegern bombardiert, wobei sehr viele Häftlinge ihr Leben verloren. Das Lager Kaufering IV mit gehunfähigen Häftlingen wurde auf Befehl von Lagerarzt Dr. Blanke in Brand gesteckt.15 Nur wenige Überlebende der Lager wurden am 27./28. April 1945 von amerikanischen Truppen befreit, deren erstes Bild von Landsberg und seiner Umgebung die vielen toten KZ-Häftlinge, Massengräber, die entsetzlichen Zustände in den Lagern und verhungernde, dem Tode nahe Menschen waren. Die Anzahl der ermordeten Häftlinge ist aufgrund der sehr schlechten Quellenlage kaum mehr exakt zu eruieren. Bisher wurde von etwa 14 500 Toten ausgegangen; wie man diese Zahl ermittelte, wird im Folgenden näher beschrieben. Der KZ-Gedenkstätte Dachau liegen momentan die Namen von 6091 Opfern vor, worin aber die Zahl der auf den Todesmärschen umgekommenen und nach der Befreiung noch verstorbenen Menschen nicht enthalten ist. Sie sind fraglos den Opfern der Landsberg/Kauferinger Lager zuzurechnen, aber ihre Zahl ist heute nicht mehr feststellbar. Diejenigen, die in andere Lager deportiert wurden, sind gleichfalls nicht in dieser Zahl erfasst, sondern in den dortigen Statistiken und Totenbüchern, soweit ihre Namen recherchiert werden konnten.16 Für die überlebenden KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter richteten die amerikanischen Truppen sofort ein Lager für Displaced Persons in der Landsberger Sarburg-Kaserne ein. Wahrscheinlich wurden in den ersten Wochen etwa 7000 Menschen aus West- und Osteuropa hier interniert und versorgt. Verantwortlich für das Lager war das „Hauptquartier der Amerikanischen Streitkräfte in Europa in Frankfurt/Main“, zudem arbeitete auch die UNRRA seit Juni im Lager. Im November 1946 ging die Verantwortung für das Lager auf die UNRRA, ab 1947 zur IRO über.17 15

Raim 1992 (wie Anm. 6), S. 273 ff.; Israel Kaplan (Übersetzung aus dem Jiddischen von Evita Wiecki): Marsch aus den Kauferinger Lagern, aus: Fun letstn Churbn, Nr. 5, 1947, S. 7–28, in: Raim 2008 (wie Anm. 9), S. 19–36; Lazar Goldstein, (Übersetzung aus dem Jiddischen von Evita Wiecki): Von Schwabhausen nach Dachau, aus: Fun letstn Churbn, Nr. 5, 1947, S. 29–33, in: Raim 2008 (wie Anm. 9), S. 37–40. 16 Eine Ausnahme bilden diejenigen 109 Menschen, die nach der Befreiung im Hospital des Klosters St. Ottilien starben und auf dem dortigen jüdischen Friedhof begraben wurden, siehe: Eva Matthe: Der jüdische Friedhof in St. Ottilien, St. Ottilien 2003. Von den nach Bergen-Belsen Deportierten überlebten 120 Menschen, etwa 80 bis 90 waren weiter nach Buchenwald-Ranguhn und Flossenbürg-Venusberg deportiert worden. Wahrscheinlich haben 191 Männer des Transports nach Flossenbürg-Leitmeritz überlebt; Nachweislich 469 Männer starben, 100 wurden nach Bergen-Belsen gebracht. Wie viele der nach Auschwitz Verschleppten überlebten, kann nicht beziffert werden, DaA, Datenbankrecherche. 17 Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 94 ff., zur UNRAA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) und IRO (International Refugee Organization) S. 121–131.

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Erst allmählich respektierten die westlichen Alliierten die Forderung der Juden als eigene Nation wahrgenommen zu werden und verfügten die Einrichtung jüdischer DP-Lager, wozu auch das Lager Landsberg ab August 1945 erklärt wurde. Etliche jüdische DPs lebten jedoch außerhalb des Lagers, in kleinen Orten der Umgebung, in Kibbuzim, wurden im Krankenhaus St. Ottilien medizinisch betreut oder richteten sich in für sie requirierten Wohnungen der Stadt ein. Die DPs empfanden ihr erneutes, heimatloses Leben in einem bewachten Lager mit Stacheldrahtzaun, das sie nur mit Passierschein verlassen durften, als besonders demütigend. „Sie sind befreit, aber nicht frei“, ist das Resümee eines amerikanischen Situationsberichtes, und der Schreiber sieht die jüdischen DPs „noch immer ihrer Freiheit beraubt. […]. Niemand kümmert sich um ihre Individualität und niemand gibt ihnen ihre Selbstachtung zurück.“18 Nach ihrer Befreiung hatten sie gehofft, dass die Welt ihrem Schicksal die größte Aufmerksamkeit schenken würde. Sie mussten stattdessen mit ansehen, wie die Deutschen, die ihre Katastrophe verursacht hatten, im Kreise ihrer Familien ein normales Leben führten, in ihren Häusern wohnten und ihrem Alltagsleben nachgingen. Erst die Besichtigung verschiedener DP-Lager durch Earl G. Harrison, der im Auftrage Präsident Trumans über die Lage der DPs berichtete, und dessen fundamentale Kritik am Umgang der amerikanischen Militärregierung mit den jüdischen Überlebenden, bewirkte eine Änderung der Zustände.19 Mit dem Harrison–Report änderte sich auch das Leben der Juden in Landsberg: Der Stacheldraht wurde abmontiert, und nur noch eine Wache sicherte das Haupttor, um Deutsche am unerlaubten Betreten des Geländes zu hindern. Nachdem Major Irving Heymont die Kommandantur des Lagers am 19. September 1945 übernommen hatte, setzte er sich engagiert für die Beseitigung der unhaltbaren sanitären Zustände und die Einrichtung einer jüdischen Selbstverwaltung ein, die im Oktober 1945 gewählt wurde. Er erkannte, wie dringend notwendig es für die traumatisierten und zumeist kranken Menschen war, sie wieder zur aktiven Gestaltung des momentanen Lageralltages zu motivieren. Die berührenden Briefe, die er während dieser Zeit an seine Frau schrieb, zeigen sein tiefes Mitgefühl und 18

Report on the Situation of the Jews in Germany, October/December 1945 (o. O o. J.), S. 33, in: Brenner 1995 (wie Anm. 1), S. 18, Fußnote 14. 19 Earl G. Harrison: The Plight of the Displaced Jews in Europe. Report to President Truman, Washington 1945, zitiert nach: Frank Stern: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991, S. 90: „Generally speaking, three months after V-E-Day, and even longer after the liberation of individual groups, many Jewish displaced persons […] are living under guard behind barbedwire fences in camps of several description, […] with no opportunity […] to communicate with outside world […]. The situation is considerably accentuated where, […] they are able to look from their crowded and bare quarters and see the German civilian population, […] to all appearances living normal lives in their own homes“. Vgl. auch Leonard Dinnerstein: The U.S. Army and the Jews. Policies toward the Displaced Persons after World War II, in: American Jewish History 68 (1979), S. 356 ff. Dazu auch: Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 109 ff.

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seinen Respekt gegenüber den ihm anvertrauten Menschen, die, physisch und psychisch von den schrecklichen Jahren des Leidens gezeichnet, dennoch begannen ihre zerbrochenen Leben zu gestalten.20 Die jüdischen Überlebenden nannten sich selbst She’erit Hapletah, den „Rest der Geretteten“.21 Ihre Lage unterschied sich ungeachtet der Gräuel, die jeder KZ-Häftling durchlebt hatte, grundlegend von diesen allen: Zumeist waren sie die einzigen Überlebenden einer ganzen Familie, ja mehr noch, ihr eigenes Überleben hatten sie oft genug nur einem Zufall und der gerade noch rechtzeitigen Befreiung zu verdanken. Auch ihre jüdischen Freunde und Nachbarn waren ermordet worden, ihr Eigentum geraubt, die jüdischen Gemeinden vernichtet. Das betraf in besonderer Weise Juden aus Osteuropa, wo vor dem Krieg die größten jüdischen Gemeinden Europas existiert hatten: In welche Heimat konnten, wollten sie repatriiert werden? Die Begriffe She’erit Hapletah oder Displaced Persons erwecken den Anschein, als handelte es sich um eine in sich geschlossene Gruppe mit gleichen Zielen und Ansichten: Zwar gab es natürlich eine Reihe von Gemeinsamkeiten, wie den Hass gegen alles Deutsche und den Willen, so schnell wie möglich auszuwandern, doch auch eine Reihe von Unterschieden, bedingt durch ihre differierenden Sozialisationen vor Beginn und durch ihre Erfahrungen während der Verfolgung, ihre Sprachen, ihre politischen und religiösen Einstellungen.22 Polnische Juden bildeten die größte Gruppe in Landsberg, gefolgt von Juden aus südosteuropäischen Ländern und Griechenland. Die litauischen Juden stellten nur eine sehr kleine Minderheit dar.23 Die ersten DPs in Landsberg waren Juden aus den umliegenden Konzentrationslagern bei Landsberg/Kaufering und Allach. Ab Juni/Juli 1945 strömten Juden aus dem bisher unter Quarantäne stehenden KZ Dachau und anderen Konzentrationslagern nach Landsberg, da es sich herumgesprochen hatten, dass sich hier in wenigen Wochen eine jüdische Gemeinschaft etabliert hatte. Im Herbst 1945 begann der Zustrom osteuropäischer, meist polnischer Juden, der „infiltrees“, die in Verstecken und/oder durch die Hilfe von Nichtjuden überlebt hatten. So mancher war nach der Befreiung zunächst in die Heimat zurückgekehrt, doch durch antisemitische Pogrome aus ihren einstigen Heimatländern erneut vertrieben

20 Irving Heymont: Among the Survivors of the Holocaust – 1945 The Landsberg DPCamp Letters of Major Irving Heymont, United States Army, Cincinnati 1982. 21 Genesis 32,8. 22 Tamar Lewinsky: Displaced Poets. Jüdische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, 1945–1951, Göttingen 2008, S. 147 ff. 23 Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 148 ff. Oktober 1945: 75,2% der DPs waren polnischer Herkunft, 2,1% litauischer. Juliane Wetzel: Jüdisches Leben in München 1945–1951. Durchgangsstation oder Wiederaufbau?, München 1987, S. 70–76; Andreas R. Hofmann: Die polnischen Holocaust-Überlebenden. Zwischen Assimilation und Emigration, in: Fritz Bauer Institut 1997 (wie Anm. 21), S. 51–69; Vgl. Yehuda Bauer: The Brichah, in: Yisrael Gutman/Avital Saf l (Hg.): She’erit Hapletah 1944–1948. Rehabilitation and Political Struggle, Jerusalem 1990, S. 51–59.

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worden. In Polen z. B. wurden zwischen 1945 und 1947 bei derartigen Pogromen etwa 1000 Juden getötet. Zudem schienen die sich etablierenden kommunistischen Systeme in den osteuropäischen Ländern ihnen keine Aussichten auf eine glücklichere Zukunft zu bieten. Mittels der zionistischen Untergrundfluchthilfebewegung „Brichah“ gelangten sie nun in die DP-Lager der amerikanischen Besatzungszone. Diesen „infiltrees“ zuzurechnen sind ebenfalls die ab 1939 in die Sowjetunion geflohenen polnischen Juden, die gemäß dem polnisch-sowjetischen Verfahrensabkommen zum Bevölkerungsaustausch seit dem Sommer 1946 die DP-Lager der amerikanischen Besatzungszone erreichten. Letztere konnten häufig als intakte Familien überleben und veränderten dadurch die DP-Gesellschaft der ersten Monate. Das Ausmaß der Katastrophe der europäischen Juden tritt mit bestürzender Deutlichkeit hervor, betrachtet man die Altersstruktur der befreiten jüdischen KZ-Häftlinge im Landsberger DP-Lager: Am 31. August 1945 waren hier von 5075 Juden lediglich 30 unter 14 Jahren und niemand über 45 Jahre alt, ältere Menschen und Kinder hatten kaum überlebt. Das Gros der Überlebenden bildeten junge Männer zwischen 14 und 25 Jahren.24 Nicht zuletzt zeigen Hochzeitsfotos junger Paare, auf denen keine Eltern, Großeltern oder gar Kinder zu sehen sind, die Vernichtung ganzer Generationen und die Tragik des „Rests der Geretteten“. Junge Leute gingen sehr schnell Ehen ein, um der Verlassenheit des Übriggebliebenseins zu entfliehen. So war denn auch die Geburtenrate in allen Lagern der She’erit Hapletah in jenen Jahren die weltweit am höchste. In den neugeborenen Kindern spiegelt sich in besonderer Weise der Wille jüdisches Leben wieder aufzubauen. Nicht zuletzt verdeutlichen die Babys aber auch, wie überlebenswichtig es für diese Frauen und Männer war, Hoffnung, Lebenssinn und Zukunft zu finden, „to seek some link on earth“.25 Mit dem Eintreffen der „infiltrees“ begann eine Phase auch der extremen Überbelegung des Lagers in Landsberg. Im Jahre 1946 war ein Höchststand erreicht, erst ab Oktober 1946 begann eine stetige Verringerung der Belegung durch Auswanderung, vor allem nach Palästina bzw. Israel. Insgesamt wurde Landsberg zwischen 1945 und 1948 für ca. 23 000 Juden zu einer vorläufigen Bleibe.26 Buchstäblich mit dem Tag ihrer Befreiung begannen die jüdischen Überlebenden fieberhaft, nach Angehörigen zu suchen. Der junge amerikanische Militärrabbiner Abraham Klausner, der Anfang Mai 1945 zu den Befreiern des KZ Dachau gehörte, erkannte eher zufällig die enorme Bedeutung eines Suchdienstes für die psychische und physische Rekonvaleszenz dieser Menschen. Er reiste in alle DP-Lager in und um München und stellte Namenslisten der Überlebenden auf. Nach Dachau zurückgekehrt, schrieb er eine 24

Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 150 ff. Atina Grossmann: Jews, Germans, and Allies. Close Encounters in Occupied Germany, Princeton/New Jersey 2007, S. 184 ff. 26 Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 140 ff. 25

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Zusammenfassung aller dieser Listen, die am 26. Juni 1945 mit dem Titel „She’erit Hapletah“ veröffentlicht wurden.27 Die in den DP-Lagern gegründeten jüdischen Zeitungen publizierten in den folgenden Jahren ebenfalls Suchlisten und -nachrichten von Angehörigen. Die Gründung von „Historischen Kommissionen“ in den DP-Lagern – in Landsberg im März 1946 – stellten in der Auseinandersetzung mit der Vernichtung des jüdischen Volkes nicht nur einen nächsten Schritt der Suche nach Verwandten, sondern eine besondere Form der Geschichtsschreibung dar: Es wurden Schriftstücke aller Art, Bilder und Zeugenaussagen gesammelt, um das Verbrechen für die erwartete juristische Verfolgung zu dokumentieren, Zeugnis abzulegen und die Erinnerung an die Opfer zu bewahren. Diese wurden auch in den DP-Zeitungen oder als Bücher veröffentlicht.28 Fotos bedeuteten nach der Katastrophe eine ganz besondere, schmerzliche Verbindung zur Vergangenheit, besaßen doch die wenigsten Überlebenden überhaupt Bilder von ihren toten Angehörigen. So reiste z. B. der jüdische Lehrer und heimliche Fotograph des Ghettos von Kovno (Kaunas), George (Zvi) Kadish, nach Kriegsende u. a. in das DP-Lager Landsberg und zeigte in Ausstellungen seine geretteten Ghettofotos. Unter denen, die die Fotowände umlagerten, befand sich auch der ebenfalls aus Kovno stammende Shraga Wainer. Er erkannte auf einem der Bilder seine ermordeten zwei und fünf Jahre alten Neffen Emanuel und Avram Rosenthal.29 Im Lager Landsberg entfaltete sich für wenige Jahre trotz aller Schwierigkeiten ein vielfältiges jüdisches kulturelles, religiöses und politisches Leben; es ist im Rahmen dieser Veröffentlichung nicht möglich, ausführlich auf das gesamte Spektrum einzugehen. Das erste kulturelle Ereignis überhaupt war ein Konzert der Überlebenden des Ghetto-Orchesters von Kovno im DPKrankenhaus St. Ottilien am 27. Mai 1945. Etwa 800 befreite Juden, Vertreter der Militärregierung und der UNRAA nahmen an dieser ergreifenden Veranstaltung teil und hörten die bewegenden Rede des Kovnoer Arztes Dr. Salman Grinberg.30 Das Konzert bildete den Auftakt für eine Vielzahl weiterer Aktivitäten und die Bildung eines Netzwerkes zum Austausch unter den DPs. Schon im Frühsommer 1945 fanden sich einige litauische jüdische Überlebende zusammen, um ein Lagerkomitee zu gründen. Der ebenfalls aus Kovno stam-

27 Königseder/Wetzel 2004 (wie Anm. 1), S. 23. Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 106. Das erste Mal ist hier der Begriff She’erit Hapletah für die Überlebenden der Shoa überliefert. Bauer 1990 (wie Anm. 23), S. 51–59. 28 Z. B. Mozes Feigenberg /Mosze Wajsberg (Hg.): Wilne unterm Nacy-Joch, Landsberg 1946 (Historische Kommission); Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 216 ff.; Lewinsky 2008 (wie Anm. 22), S. 110 ff. 29 http://inquery.ushmm.org, Photo-Archiv, Bild # 06546. Sie waren bei der erbarmungslosen „Kinderaktion“ am 27. März 1944 aus dem Ghetto verschleppt und vermutlich in Auschwitz ermordet worden. 30 Zeev Mankowitz: Life between Memory and Hope. The Survivors of Holocaust in Occupied Germany, Cambridge 2002, S. 30 ff.; Eder 1998 (wie Anm. 2),S. 103 ff.

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Abb. 1 Jüdische Displaced Persons in der Autowerkstatt der ORT-Schule des DP-Lagers Landsberg am Lech, 1945–1947. © United States Holocaust Memorial Museum Washington, courtesy of George Kadish (Zvi Kadushin). Fotograf: George Kadish (Zvi Kadushin).

mende Samuel Gringauz fungierte als Lagerpräsident und füllte diese Aufgabe bis zu seiner Auswanderung in die USA 1947 aus. Gringauz arbeitete bereits in dem am 1. Juli 1945 gegründeten Zentralkomitee der befreiten Juden in Bayern mit, als dessen Vorsitzender Dr. Grinberg wirkte. Bei den von Major Irving Heymont initiierten Wahlen vom 21. Oktober 1945 wurde dieses erste Komitee unter der Leitung von Gringauz bestätigt. Einen Höhepunkt von besonderer Symbolik gerade an diesem Tag bedeutete der Besuch von David Ben-Gurion.31 In den folgenden Jahren nahm die Lagerselbstverwaltung eine Vielzahl von Aufgaben war; so gab es ein Krankenhaus, ein Sanitärund Gesundheits-, Religions-, Wohnungs-, Verpflegungs- und Kulturamt, Wirtschaftsabteilungen, eine eigene Lagerpolizei und ein Gericht. Im DP-Lager Landsberg entwickelte sich ein differenziertes politisches Leben, und es formierten sich politische Parteien überwiegend zionistischer und sozialistischer Prägung. Der Zionismus verkörperte nach der Shoa für die DPs, ob sie nun überzeugte Zionisten waren oder eher einen „therapeutischen Zionismus“ vertraten, sowohl tiefe Hoffnung für ihre individuelle Zukunft und die der ganzen Gemeinschaft als auch ein gemeinsames Band des 31

Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 161–229; Heymont 1982 (wie Anm. 20), Brief 22. 10. 1945; Mankowitz 2002 (wie Anm. 30), S. 30 ff.

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Abb. 2: Jugendchor der zionistischen Dror-Bewegung gestaltet eine Chanukka-Feier im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946–1948. © United States Holocaust Memorial Museum Washington, courtesy of Rivka and Schlomo Baran. Fotograf: George Kadish (Zvi Kadushin).

Zusammenhaltes. Nur ein eigener, jüdischer Staat würde eine weitere Katastrophe für immer verhindern können.32 Eines der wichtigsten Anliegen der She’erit Hapletah war die Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen, die in den Jahren der Verfolgung keinen oder kaum schulischen Unterricht oder eine Berufsausbildung erhalten konnten. Der erste Leiter des Kulturamtes, Jakob Olejski, engagierte sich daher auch unmittelbar nach seiner Befreiung für die Schaffung von Fachschulen. Neben normalen Schulen und Kindergärten entstanden so etliche Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, wie z. B. eine ORT-Schule zur Berufsausbildung oder Umschulung entsprechend den Gegebenheiten und Anforderungen in Palästina oder anderen potentiellen Einwanderungsländern.33 Die neu entstehende Presse spielte im Leben der She’erit Hapletah eine große Rolle, waren DPs doch jahrelang von allen Informationen ausgeschlossen worden. Eine der ersten DP-Zeitungen war die „Landsberger Lagercaj32

Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 172. Ebd., S. 137 ff.; Brenner 1995 (wie Anm. 1), S. 36. ORT (Obschtschestwo Rasprostatranenja Truda, Gesellschaft zur Förderung des Handwerks) bestand schon vor dem ZweitenWeltkrieg. Olejski war einer der Direktoren dieser Schulen in Litauen. 33

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tung“, die ab Anfang Oktober 1945 erschien und seit dem 25. Oktober 1946 den Namen „Jidisze cajtung“ trug und zu einem überregionalen Organ der DPs wurde. Da es in Deutschland aufgrund der Vernichtungspolitik des Dritten Reiches keinen hebräischen Schriftsatz mehr gab, publizierte man zunächst zwar in jiddischer Sprache, aber mit lateinischen Lettern. Die Zeitung widmete sich vorrangig Themen von jüdischem Interesse – neben den schon erwähnten Suchanzeigen und Trauermeldungen waren das solche zur jüngsten Geschichte, zur Situation in Palästina, zur Auswanderung, Lagerereignisse, Kunst und Kultur. Auch die Zeitschrift „Nitzotz“ wurde nun legal veröffentlicht, allerdings in München. Da sie in Hebräisch erschien, verfügte das Blatt nur über einen kleinen Leserkreis. Ausstellungen, ein eigenes Kino, Theateraufführungen, Konzerte, Musik- und Tanzveranstaltungen, die „Chaim-Bialik-Bibliothek“ und anderes mehr boten nicht nur Unterhaltung, sondern widerspiegelten sowohl die Sehnsucht nach der jahrelang entbehrten Teilnahme am kulturellen, gesellschaftlichen und intellektuellen Leben als auch, z. B. in der Thematik von Theaterstücken, die schrecklichen Erlebnisse in den Ghettos und Konzentrationslagern.34 Zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen gehörte ganz besonders der Sport, vor allem das Fußballspiel. Im Jahre 1947 wurde eine Meisterschaft der zwölf Mannschaften umfassenden DP-Liga ausgetragen, die Landsberg gewann.35 Sofort nach der Befreiung entstand auch ein neues religiöses Leben, und es wurden nach und nach von den überlebenden Rabbinern mithilfe der amerikanischen Militärrabbiner die Voraussetzungen für die Einhaltung aller religiösen Gebote geschaffen. Mit der Etablierung einer Jeschiwa wurde bewusst an eine in Osteuropa vor dem Krieg übliche Tradition der religiösen Bildung angeknüpft. Zu den ersten, traurigen Pflichten der Rabbiner gehörten Bestattungszeremonien an den Orten der Massengräber, die nun zu Friedhöfen umgestaltet wurden, bald aber auch Trauungen. Dennoch, nur wenige Juden waren tatsächlich gläubig, und Konflikte zwischen den etwa 1500 orthodoxen und den 4000 säkularen Juden wegen der Einhaltung religiöser Gebote blieben nicht aus.36 Mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 verringerte sich die Anzahl der in Landsberg lebenden DPs stetig, und das Lager nahm immer mehr den Charakter eines Durchgangslagers an. Ende Oktober 1950 wurde es endgültig aufgelöst; für diejenigen, die noch nicht auswandern konnten, wurde das DP-Lager Föhrenwald bei Wolfratshausen, das bis 1957 bestand, eine neue Zufluchtsstätte.37

34

Eder 1998 (wie Anm. 2) S. 200 ff. Lewinsky 2008 (wie Anm. 22), S. 33 ff.; Brenner 1995 (wie Anm. 1), S. 30 ff.; Eder 1998 (wie Anm. 2) S. 218 ff.; Königseder/Wetzel 2004 (wie Anm. 1), S. 131. 36 Brenner 1995 (wie Anm. 1), S. 37 ff. 37 Dabei handelte es sich um 1096 Menschen, Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 232. 35

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Abb. 3: Ein Religionslehrer lernt mit zwei Knaben im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946–1947. © United States Holocaust Memorial Museum Washington, courtesy of George Kadish (Zvi Kadushin). Fotograf: George Kadish (Zvi Kadushin).

Es sei noch angemerkt, dass während dieser Zeit trotz allem Hass und aller Abgrenzung von Seiten der DPs vielfältige geschäftliche, nachbarliche, aber auch zwischenmenschliche Kontakte zur deutschen Bevölkerung existierten. In einem so kleinen Ort konnte für das DP-Lager von totaler Separation keine Rede sein. Manche Begegnungen wurden bewusst herbeigeführt, um gegenüber der deutschen Bevölkerung Präsenz, Stärke und jüdisches Selbstbewusstsein zu zeigen. Zu einer solchen Demonstration gestaltete sich das erste Purimfest in Freiheit im März 1946, als die DPs in Landsberg symbolträchtig Exemplare von Hitlers „Mein Kampf“ öffentlich verbrannten.38 Andere Kontakte hingegen konnten nicht vermieden werden: Man musste zu deutschen Ärzten, Notaren und Ämtern gehen; wer einen Betrieb eröffnen wollte, sah sich gezwungen, vor der deutschen Innung eine Eignungsprüfung abzulegen. In Landsberg gab es eine ganze Reihe von Geschäftsbeziehungen zwischen Juden und Deutschen. Hier sei das Textilgeschäft von Hans Hecht erwähnt, das dieser aus dem „arisierten Besitz“ der Landsberger Jüdin Erna Fischel übernommen hatte. Im September 1945 musste er die Hälfte der Räume an den baltischen Juden Bernhard Pickert abtreten, der einen Kommissionshan38 Grossmann 2007 (wie Anm. 25), S. 179; Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 172 ff. Hitler hatte 1943 verkündet, Juden würden niemals wieder Purim feiern.

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del eröffnete. Mit etlichen Angriffen versuchte Hecht, wieder das alleinige Recht am Laden zu erringen. Antisemitische Schmierereien an Pickerts Schaufenstern veranlassten eine Untersuchung durch die Militärpolizei.39 Sexuelle Kontakte und vor allem Ehen zwischen zumeist jüdischen Männern und deutschen Frauen wurden von jüdischer Seite scharf verurteilt. Die Vorstellung, durch Heirat eine Frau in die jüdische Gemeinschaft aufzunehmen, „die bis vor wenigen Jahren gelächelt hat, ‚wenn das Judenblut vom Messer spritzte‘“ 40 stand hinter der massiven Ablehnung solcher Verbindungen, die gleichwohl nicht verhindert werden konnten. Die She’erit Hapletah in Landsberg hat für wenige Jahre ein kulturelles und soziales jüdisches Leben gestaltet, das jedoch von bizarren Gegebenheiten bestimmt war: Es wurde von traumatisierten, entwurzelten Menschen aufgebaut, von denen „jeder […] als Letzter einer Familie, als Letzter eines Ortes, deren frühere Evidenz“41 bezeugte. Es fand in Deutschland statt, von welchem die Katastrophe für den Einzelnen und die Gemeinschaft ausgegangen war und das man so schnell wie möglich zu verlassen hoffte. In einer solchen Atmosphäre des Wartens wurde ein Weg in eine Zukunft beschritten, in welcher die Vergangenheit eines überaus vielfältigen osteuropäischen jüdischen Lebens mit der permanenten Erinnerung an die Katastrophe und die bzw. das niemals Wiederkehrende(n) zum verbindenden Element wurde. Das bewusste Festhalten an den Traditionen, die an Orten und mit Menschen gelebt worden waren, die nicht mehr existierten sowie kulturelle und politische Aktivitäten in DP-Lagern wie demjenigen in Landsberg waren daher wesentlich mehr als ein temporäres Aufblühen eines Schtetls, sondern schufen vor allem ein „Stück Normalität und kulturelle Autorität“42 der She’erit Hapletah. „Erst als Ende April 1945 alliierte Truppen einzogen, wurde Landsberg vom Krieg eingeholt und es begann für viele Landsberger Bürger ein Leidensweg.“ 43 Diese Worte einer Landsbergerin spiegeln wider, wie bedrohlich die Erinnerung an diese Zeit noch Jahrzehnte später wirkte. Am 27./28. April 1945 erreichte die 12. Armored Division der 7. Armee der Vereinigten Staaten die unzerstörte Kleinstadt. Die US-Soldaten zwangen die Einheimischen, in das Lager Kaufering IV zu gehen und die toten Häftlinge zu bestatten und sich so der Wahrheit des Massenmordes direkt vor ihrer Haustür zu stellen. Am 27. April 1945 hielt Lieutenant Colonel Seiller in Hurlach bei der feierlichen Beisetzung der KZ-Opfer eine Rede, bei der er sich vor der deutschen

39

Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 243–265, hier S. 253. Mordkhe Libhaber: Rand-notisn, in: Tsienistishe shtime 2. 9. 1948, aus: Lewinsky 2008 (wie Anm. 22), S. 142. Grossmann 2007 (wie Anm. 25), S. 218 ff. 41 Lewinsky 2008 (wie Anm. 22), S. 234. 42 Ebd., S. 234. 43 Offener Brief einer Landsbergerin an Major Heymont 7. 9. 1989, Privatarchiv Heymont, aus: Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 277. 40

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Bevölkerung so äußerte: „You may say you are not responsible but you supported the regime that committed such crimes.“44 Der Appell von Lieutenant Colonel Seiller an das Gewissen der Landsberger verhallte nicht ungehört, rief allerdings neben Entsetzen über das Ausmaß des Verbrechens vor allem Schuldabwehr hervor – schließlich hatte man diese Verbrechen nicht persönlich begangen. Basierend auf dieser auch mit Scham verbundenen Haltung manifestierte sich in den nächsten Jahren eine Selbstviktimisierung, die durch die Not der Nachkriegsverhältnisse unterstützt wurde und auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhte. Als Opfer verstand man ausschließlich sich selbst. Opfer waren Kriegswitwen und -waisen, Bombentote, Vertriebene und Flüchtlinge, gefallene Soldaten und Kriegsgefangene. Der Opferbegriff dieser Jahre schloss die jüdischen Überlebenden der Shoa aus, was auf der gängigen These fußte, das Nachkriegsleid der Deutschen habe das der Juden gesühnt. Vor allem in Vergleichen mit den etwa 1600 deutschen Heimatvertriebenen in Landsberg, die beider Heimatlosigkeit als verbindendes Moment instrumentalisierten, brachte man den Flüchtlingen als leidenden deutschen Opfern Sympathie und Verständnis entgegen, die DPs sah man hingegen durch die ihnen zuteil werdende Hilfe, z. B. von den Amerikanern, als unrechtmäßig begünstigt an.45 In diesen deutschen Opfermythos wurden selbst die verurteilten Kriegsverbrecher im War Criminal Prison (WCP) integriert. Päckchen, von Kindern aufgeführte Krippenspiele oder der Auftritt des Jugendchores am Totensonntag 1949 zum Gedenken an die bisher Hingerichteten im WCP legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Ihren stärksten Ausdruck fand die Solidarisierung mit den NS-Verbrechern während einer Kundgebung am 7. Januar 1951 auf dem Landsberger Hauptplatz, wo die Aussetzung der Todesstrafe für diese gefordert wurde. Der Landsberger Abgeordnete des bayerischen Landtages Michel äußerte auf der Demonstration: „Wir verurteilen die Morde an den Juden, aber wir verurteilen auch die Morde an den Deutschen.“46 Diese Gleichsetzung der Täter mit den Opfern blieb in Landsberg unwidersprochen. Im Gegensatz dazu löste die Gegendemonstration der jüdischen DPs aus dem Lager Lechfeld, die in der Presse als „Störenfriede“ bezeichnet wurden, größte Proteste aus.47 Auf die Worte des Lands-

44 New York Times vom 30. 4. 1945 „U.S. Officer Blames Germans for Crimes“, zitiert nach: Raim 1992 (wie Anm. 6), S. 276. Siehe dazu auch: Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 48 ff. 45 Z. B. in den Landsberger Nachrichten (LN) vom 11. 2. 1949: „Schluss mit der DP-Begünstigung“. Die Vertriebenen werden beschrieben als Menschen, die „sich unter ärmlichsten Verhältnissen viel Mühe [geben]“, die DPs hingegen sind „recht elegant […] gekleidet […]. Auch sie werden ihre Sorgen haben, gewiss. Aber steht nicht das Hilfsversprechen einer reichen Welt hinter ihnen?“; Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 283 ff. 46 LN vom 8. 1. 1951, „Protest gegen die Unmenschlichkeit“. Siehe dazu auch Raim 1995 (wie Anm. 2), S. 29. 47 LN vom 8. 1. 1951, „Protest gegen die Unmenschlichkeit“; Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 8. 1. 1951, zitiert nach Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2003, S. 211.

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berger Oberbürgermeisters Thoma, der die Kundgebung mit den Worten begann, „die Zeit des Schweigens sei vorbei, […] die protestierenden Juden sollten dorthin zurückgehen, woher sie gekommen seien“48, soll aus hunderten Kehlen der Ruf „Juden raus!“ erschollen sein.49 Schuldverdrängung und die Reinwaschung der Täter vollzogen sich in aller Öffentlichkeit und gipfelten in einer Verkehrung der Täter/Opfer-Beziehungen. Den jüdischen DPs als Zeugen der deutschen Verbrechen wurde hingegen die Wahrnehmung als Opfer verweigert. Die erneute Lagerunterbringung der jüdischen DPs durch die Besatzungstruppen schien zudem nachträglich die von den Nationalsozialisten praktizierte Ausgrenzung der Juden als potentiell gefährlich zu bestätigen. Der mit Kriegsende nicht automatisch verschwundene Antisemitismus wirkte häufig ungebrochen weiter und fand seinen Ausdruck in einer pauschalen Kriminalisierung der DPs, die den Judenmord quasi nachträglich rechtfertigen sollte: Der Antisemitismus wird nachträglich zur Folge ihres [gemeint sind jüdische DPs] Verhaltens gemacht. Damit wird auf der einen Seite die Existenz eines deutschen Antisemitismus während der Zeit, in der das Äußerste geschah, aus der Welt diskutiert, auf der andern Seite werden die heute bemerkbaren antisemitischen Tendenzen gerechtfertigt mit angeblicher jüdischer Schuld. Erst heute, so läuft die Argumentation, gibt es eigentlich in Deutschland etwas wie Antisemitismus, und die Anklagen gegen die Vergangenheit erscheinen gleichzeitig nichtig.50

Juden konnten derart aus ihrem historischen Kontext als Opfer der jüngsten deutschen Politik gelöst und als zufällig anwesende fremde Lagerbewohner wahrgenommen werden, die sich zudem als Nicht-Deutsche in Sprache, Habitus und Verhalten tatsächlich von der örtlichen Bevölkerung unterschieden; der Grund für ihren Aufenthalt vor Ort musste so nicht thematisiert werden. In Landsberg manifestierte sich ein Bild von stehlenden, plündernden Juden, als am 28./29. April 1945 „die KZ-Lager geöffnet“ und angeblich „13 000 der Insassen stadteinwärts strömten“ und besonders in der Katharinenvorstadt plünderten. Das wurde in der Rückschau allein den „Ausländern“ angelastet, obwohl auch viele Einheimische und Soldaten daran beteiligt waren.51 So hatte man in Landsberg keinen Zweifel daran, dass ausschließlich Juden den Schwarzmarkt der Nachkriegszeit dominierten, wohingegen die starke Beteiligung der Deutschen nicht erörtert wurde. In der Tat betrachtete man in einer Zeit, in der die Notlage der überlebenden Juden mit der allgemeinen der Deutschen verflochten war, die Anwesenheit von tausenden jüdischen DPs als Bedrohung für die eigene Existenz. Grund dafür lieferten zunächst die Lebensmittellieferungen in das DP-Lager, zu denen die Stadt in den ersten Monaten nach Kriegsende verpflichtet war, die Versorgung mit alltäglichen 48

Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland vom 12. 1. 1951, Artikel Karl Marx, zitiert nach Frei 2003 (wie Anm. 47), S. 211. 49 Ebd. 50 Vgl. dazu Friedrich Pollock: Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, in: Theodor W. Adorno/Walter Dirks (Hg.): Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Frankfurt 1955, S. 366 ff. 51 Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 94.

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Gebrauchsgütern und die Wohnungsfragen.52 Von Anfang an war es daher das Ziel der Stadt, dass den deutschen Behörden nicht zugängliche DP-Lager so schnell wie möglich zu schließen. Außerdem wollte man den so frei werdenden Wohnraum selbst nutzen, da solcher in der Stadt durch die unterzubringenden deutschen Flüchtlinge äußerst knapp war. So trug insbesondere die unangekündigte Requirierung von Häusern für die DPs durch Major Heymont am 3. Oktober 1945 zu einer Verfestigung bereits bestehender Spannungen bei und führte zu einem gewaltsamen Zusammenstoß von Juden und lokaler Bevölkerung. Die Ausweisung der betroffenen Landsberger aus ihren Wohnungen hatte sich schnell herumgesprochen, und die DPs eilten herbei; es bedeutete für sie einen ungeheueren Triumph, nun Deutsche aus ihren Häusern vertrieben zu sehen. Sie protestierten, als sie sahen, dass diese so gut wie alles mitnahmen und begannen schließlich zu plündern. Weniger die materielle Bereicherung, sondern eher lang aufgestaute Verbitterung waren die Triebkräfte ihres Handelns. Heymont gelang es schließlich, eine weitere Eskalation zu vermeiden.53 Diese Maßnahme zur Versorgung der Juden stieß bei den Landsbergern auf Unverständnis und große Empörung. Der Bürgermeister organisierte bereits am nächsten Tag eine Sammlung für die deutschen „Opfer“. Die „Plünderungsgeschädigten und Wohnungsausgewiesenen aus der Katharinenvorstadt“ schlossen sich zu einer Opfergemeinschaft zusammen, um ihre Interessen bei der Stadt und der Militärregierung besser vertreten zu können.54 Eine weitere Facette konnte dem eigenen Opferbild und dem des kriminellen Juden zugefügt werden, als es am 28. April 1946 zu tätlichen Übergriffen von DPs auf Landsberger Bürger kam, die durch die Angst um zwei ausgerissene Jugendliche im DP-Lager und Verzweiflung wegen ihrer immer noch hoffnungslosen Lage eskaliert waren. Bei den Schlägereien waren 22 Deutsche verletzt worden. Die Landsberger sahen sich als unschuldige Menschen einer ihnen unverständlichen Gewalt ausgeliefert und die „Überfälle auf die deutsche Bevölkerung […] in keiner Weise durch die deutsche Bevölkerung hervorgerufen“.55 52 Die Lebensmittelforderungen der DPs wurden von Anfang an als überzogen empfunden und der vorläufige Arbeitsausschuss beschwerte sich bei der Militärregierung, dass wegen der Versorgung des DP-Lagers die Ernährung der Bevölkerung leide. (Stadtarchiv Landsberg am Lech [StA LL], Niederschriften, 12. 5. 1945, 16. 5. 1945, 24. 5. 1945, 25. 5. 1945). Auch in den folgenden Monaten wurden durch die Militärregierung und die UNRRA weiter Kleidung, Schuhe, Haushaltsgegenstände, Betten, Schreib- und Nähmaschinen, Radios oder Werkstattausrüstungen etc. beschlagnahmt. Siehe zur gesamten Thematik auch Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 283 ff. 53 Heymont 1982 (wie Anm. 20), Brief 4. 10. 1945. Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 289 ff. 54 StA LL, Niederschrift 4. 10. 1945 und 18. 10. 1945. Ebd., 072/1, Hilfe für Plünderungsgeschädigte, Amtsblatt 11. 10. 47, „Schäden in Häusern und Wohnungen durch Quartierinanspruchnahme durch Besatzer oder DPs“. Ebd., 064/1, 064/2 (DP-Lager), 072/1, Hilfe für Plünderungsgeschädigte. 55 StA LL 064/1, Judenaufstand in der Kaserne 28. 4. 1946. Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 301 ff. Am 22. 5. 1946 verhängte die Militärregierung Urteile zwischen drei Monaten und zwei Jahren gegen 19 der 20 jüdischen Angeklagten.

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Vor allem die Auseinandersetzung mit dem Landsberg-Kauferinger KZ und deren Opfern verdeutlicht symptomatisch den damaligen Umgang der deutschen Bevölkerung mit Schuld und Verantwortung für die Verbrechen an den Juden. In den ersten Monaten nach Kriegsende wurden auf Befehl der Militärregierung immer wieder ehemalige NSDAP-Mitglieder zum Bau würdiger Friedhöfe für die ermordeten Juden herangezogen. Das stieß auf eine starke Verweigerung, mit vielerlei Mitteln wurde versucht, dieser unangenehmen Arbeit zu entkommen. Ein Zusammenhang zwischen dem jetzigen Zwang zum Anlegen von jüdischen Friedhöfen und den vergangenen zwölf Jahren schien sich für keinen aufzudrängen.56 Nicht zuletzt offenbart die Terminologie offizieller Schreiben die Ambivalenz gegenüber den Juden in der Stadt als auch eine gewisse Kontinuität antisemitischer Denkmuster: Es ist erforderlich den Opfern des Nationalsozialismus im Kreis eine würdige Begräbnisstätte zu schaffen, weshalb die Arbeiten an den Judenfriedhöfen vorwärts getrieben werden müssen […]. Um eine stärkere Einflussnahme hierauf, insbesondere aber auch auf die ganze Judenfrage und die Ausschreitungen einiger ausländischer Juden zu gewinnen, ist es notwendig, dass die jetzt aufgeforderten Arbeiter sich nicht der Arbeit widersetzen.57

Als schließlich der KZ-Friedhof zu Lager I am 1. September 1946 feierlich übergeben wurde, verneinte der damalige Bürgermeister in Anwesenheit Überlebender Schuld und Verantwortung und meinte: „Keiner der hier Stehenden muss sich schuldig fühlen am Friedensbruch.“58 Wirklich stellen mussten sich die Landsberger dem Judenmord in ihrer Nachbarschaft ab Januar 1949 bei einem bedeutungsschweren Streit zwischen dem Generalanwalt für Wiedergutmachung, Philipp Auerbach, und der Stadt um die Anzahl der in den Kauferinger Lagern ermordeten Juden, der zu einem Paradigma der Schuldabwehr schlechthin wurde: Auerbach sprach am 29. Januar 1949 in Landsberg vor Einheimischen und jüdischen DPs über „Wiedergutmachung im Lichte der Moral“. Auerbachs dabei geäußerte Behauptung, dass im Kreis Landsberg 60 000 Juden in den KZ ermordet worden seien, löste heftige Tumulte aus. Da Auerbach auf einer Feststellung der Totenzahlen bestand und auch die Militärregierung dieses Anliegen unterstützte, sah sich die Stadt gezwungen, der Angelegenheit nachzugehen. Das einstige NSDAP-Mitglied Winkelmeyer, nunmehr Stadtrat und Redakteur, fachte die Diskussion mit einer Auerbach diffamierenden Berichterstattung in der Lokalzeitung weiter an.59 Landsberg führte eine akribische Untersuchung durch und plädierte für eine Zahl von etwa 6000 Toten. Dabei wurden die Anzahl der durch die Militärregierung direkt nach der Befreiung bestatteten 56 StAM, LRA 195935, Judenfriedhöfe (KZ-Friedhöfe) 8. 5. 1944–1946, Brief Landrat Dr. Gerbl an Militärregierung 31. 10. 1945; Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 323 ff. 57 Ebd., Brief Landrat Dr. Gerbl an Gemeinden 1. 10. 1945. 58 StA LL 064/2, Rede zur Besichtigung des jüdischen Friedhofes 1. 9. 1946. 59 LN vom 31. 1. 1949, Generalanwalt Dr. Auerbach sprach in Landsberg. Die Wiedergutmachung im Lichte der Moral. Siehe auch Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 322 ff. zur gesamten Thematik.

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Leichen ebenso berücksichtigt wie die Schätzungen ehemaliger Häftlinge und die eines Regierungsbaurats der OT. Man befragte gleichfalls die Leute, die schon 1944/45 die Massengräber angezeigt hatten. Bürgermeister Thoma zitierte in einem Schreiben an den Landrat, das Jüdische Komitee und die Stadtverwaltung aus einer Entschließung des Regierungspräsidenten vom 27. Juni 1944, in der vom Einsatz von voraussichtlich 24 000 Juden die Rede ist, um zu beweisen, dass Auerbachs Zahl von 60 000 Toten gar nicht stimmen konnte.60 Alle anderen Dokumente des Aktes „Judenfriedhöfe (KZ-Friedhöfe) 8. 5. 1944–1946“, wie die makabre Beschriftung lautet, wurden zumindest offiziell nicht hinzugezogen. Bedenkt man, wie sich die Stadt nur vier Jahre zuvor wegen der Gefahren durch Massengräber sorgte, so erstaunt die jetzige Unkenntnis umso mehr. Insgesamt umfasst der Akt 53 Anlagen. Die deutsche Seite verfolgte explizit das Ziel, die Zahlen so gering wie möglich zu halten, zweifelte daher diejenigen von ehemaligen Häftlingen grundsätzlich an und korrigierte sie in ihren eigenen Zusammenstellungen nach unten. Wie bizarr die Untersuchung verlief, verdeutlicht auf einem Schreiben der Zusatz „Jude“ bzw. „Nichtjude“ hinter Namen und Herkunft jedes Befragten. Besonderen Wert legte man stets darauf, sowohl die Zahl der bei dem alliierten Fliegerangriff bei Schwabhausen umgekommenen Juden Ende April 1945 zu erwähnen als auch die schlechte physische Verfassung vieler Häftlinge. Die in den Lagern Türkheim und Utting ermordeten Juden zählte man nicht mit, da sich die Orte nicht mehr im Landkreis Landsberg befanden.61 Am 3. Juni 1949 „einigten“ sich die Stadt, der Leiter des Jüdischen Komitees Abraham Pelman und der Vertreter des Bayerischen Hilfswerkes Curt Klemann in einer gemeinsam unterzeichneten Erklärung auf 14 500 Tote.62 Ob diese Zahl den Tatsachen entspricht oder nicht, kann bis heute aufgrund unvollständiger Quellen nicht verifiziert werden. Auerbach hatte sich aufgrund der gegen ihn gerichteten Anschuldigungen geweigert zu diesem Anlass zu erscheinen, den er an sich als unwürdig empfand.63 In die Erklärung wurde ein Satz aufgenommen, der eindeutig besagt, dass kein Volk der Erde solches Leid wie das 60 Ebd.; StA LL, 064/2, KZ-Lager in Landsberg, getötete Juden, siehe auch LN vom 4. 2. 1949 und vom 9. 2. 1949. Siehe dazu: Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 325 ff. 61 StAM LRA 195936, Derzeitiger Stand der Erhebungen über die während der Jahre 1944/45 im Landkreis Landsberg umgekommenen Juden: Baurat N. gab 4300 Tote für alle Lager zusammen an; ehemalige KZ-Häftlinge z. B. allein für Lager III zwischen 2500 und 3300, was als unwahrscheinlich abgelehnt wurde; der Bürgermeister dieses Ortes insgesamt 2200, das wurde hingegen als zuverlässig akzeptiert. Dr. Paul Husarek als ehemaliger Häftling erforschte die Todeszahlen des KZ Dachau und der Außenlager, er konnte für Lager III 200 Tote belegen, betonte aber, dass auch die Toten von Lager IV dort begraben wurden, so dass man entsprechend seinen Unterlagen von 11 000 ausgehen müsse. Diese Zahl wurde von deutscher Seite sofort als unwahrscheinlich verworfen. 62 StAM, LRA 195936, Landratsamt Landsberg, Erklärung 3. 6. 1949. 63 StAM 195936, Brief Auerbach an Gerbl 2. 6. 1939. „Mögen Sie feststellen, was Sie wollen, Sie können nicht bestreiten, dass tausende unschuldige Menschen umgebracht worden sind und wie Hunde verscharrt wurden“.

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jüdische zu erdulden hatte, gleichwohl wird ausdrücklich eigene Schuld negiert: „Es liegt eine Schuld vor, aber nicht eine Schuld des ganzen deutschen Volkes, sondern eine Schuld der damals regierenden Klasse. Diese Schuld darf aber nicht größer gemacht werden.“64 Wieder delegierte man jegliche Verantwortung auf die wenigen Haupttäter, mit denen man selbst nichts zu schaffen gehabt hatte. Eigene Verwicklungen in das System des Nationalsozialismus musste man so nicht reflektieren. Dabei spielte es keine Rolle, dass Ausgrenzung und Ermordung der Juden ohne millionenfache Mithilfe und stillschweigendes Hinnehmen nicht möglich gewesen wären. Der einstige Landrat Müller-Hahl äußerte sich noch Jahrzehnte später in einem ZDF-Interview so: „Was soll hier eine Null hin oder her […] Es war im Prinzip […] nicht entscheidend, ob’s 600 oder 6000 waren […]. Man kann nicht behaupten, dass sie ermordet wurden, sondern die Lager waren teils so voll und sie kamen auch schon wie Wracks nach Landsberg.“65 Gut ein Jahr nach diesen Ereignissen, am 1. November 1950, hatten alle Juden die Sarburg-Kaserne verlassen, ein Kapitel Stadtgeschichte war scheinbar zu Ende. In den Zeitungen wurde das nirgends kommentiert, wieder waren die Juden einfach weg. In den Erinnerungen der Landsberger an die Nachkriegszeit haben selbst persönliche Begegnungen kaum Spuren hinterlassen. Ab 1956 war Landsberg, als zweite Stadt der Bundesrepublik, wieder Garnisonsstadt. Im Jahre 1958 verließ der letzte der verurteilten Kriegsverbrecher das War Criminal Prison als freier Mann. Von den einstigen Konzentrationslagern ist heute nur noch wenig zu sehen, lediglich von Kaufering VII sind einige der primitiven Tonflaschenbunker erhalten geblieben. An die jüdischen DPs erinnert erst seit 1989 eine Tafel am Eingang der Sarburg-Kaserne, die Irving Heymont gestiftet hat.66 Dennoch, ganz beendet war und ist das Kapitel „Juden in Landsberg“ nicht: Der Umgang mit der Geschichte blieb jahrzehntelang ein schwieriges, lange beschwiegenes Kapitel. 1983 gründete sich die „Bürgervereinigung Landsberg im 20. Jahrhundert“ und setzte sich in Landsberg für Gedenkstätten an den Orten der einstigen Konzentrationslager ein. Überlebende dieser Lager hofften, nun endlich die Schaffung einer Erinnerungsstätte für ihre ermordeten Angehörigen und Freunde zu erleben. Allerdings verweigerte sich die Bürgervereinigung allen Bemühungen von Stadt, Land und der „Stiftung Bayerische Gedenkstätten“ zu einer Zusammenarbeit. Auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Kaufering VII etablierte sie die „Europäische Holocaustgedenkstätte“, die streng umzäunt, nur nach Anmeldung und mit Erlaubnis der Bürgervereinigung betreten werden darf. Das gilt auch für Überlebende, die

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Ebd., Landratsamt Landsberg, Erklärung 3. 6. 1949. ZDF-Interview mit Müller-Hahl, zitiert nach Volker Gold: Wer kann öffentlich helfen?, in: Psychologie für Menschenwürde und Lebensqualität, Bd. 3, München 1989, S. 332, aus: Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 325. 66 Eder 1998 (wie Anm. 2), S. 316, 321; Raim 1995 (wie Anm. 2), S. 30. 65

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sich daher schweren Herzens von der Bürgervereinigung distanzierten.67 Inzwischen gibt es aber etliche Initiativen institutionellen und bürgerschaftlichen Engagements. Die Bundeswehr, die das Gelände der ehemaligen Bunkerbaustelle (Welfenkaserne) heute nutzt, bietet immer wieder Führungen an, was vor allem für die Überlebenden von großer, emotionaler Bedeutung ist, denn für sie ist dieser Ort ein Friedhof. Eine Lehrerin hat mit Schülern die Geschichte der Lager erforscht, deren Resultate in einer Ausstellung in der Welfenkaserne gezeigt werden.68 Die „Arbeitsgruppe Gedenkorte im Raum Landsberg-Kaufering“ mit Vertretern der KZ-Gedenkstätte Dachau, der Stadt Landsberg, Denkmalpflegern, Historikern und der Bundeswehr erstellt ein einheitliches Konzept zur Gestaltung aller ehemaligen Lagerorte und KZFriedhöfe in und um Landsberg als Gedenkort. In den Jahren 2008/2009 beschäftigte die Öffentlichkeit die kontroverse Debatte um ein prinzipiell ehrenhaftes Anliegen: Die Gemeinde Kaufering und der Verein „Gedenken in Kaufering“ entschlossen sich, eine Gedenkstätte für die Opfer der Kauferinger Lager, finanziert vom ehemaligen Nahostkorrespondenten der ARD, Dr. Friedrich Schreiber, am Kauferinger Bahnhof zu errichten. Eine wissenschaftliche Begleitung durch die KZ-Gedenkstätte Dachau lehnte man jedoch ab.69 Die Einwände der Historiker richteten sich sowohl gegen den Ort – am Kauferinger Bahnhof kam nur ein kleiner Teil der Häftlinge an – als auch gegen das geplante Konzept. Kaum weniger bizarr als damals entflammte zudem 60 Jahre nach der unsäglichen Leichenzählung von Landsberg wiederum eine Diskussion um die Zahl der in den Lagern umgekommenen Menschen, allerdings unter anderen Vorzeichen. War man 1949 aus Schuldverdrängung bestrebt, die Zahlen so niedrig wie möglich zu halten, so beharrten die Kauferinger Initiatoren nun auf 20 000 Toten, gerade weil die damalige Zählung derart diffamierend für die überlebenden Juden verlaufen war. Sachlich fundierte Argumentationen von renommierten Historikern gegen diese Zahl wurden als empathielos verworfen. Die Zahl von 20 000 Toten ergab sich in Kaufering aus einer einfachen Rechnung, bei der die 1945 10 000 befreiten Häftlinge von den 30 000 in die Lager Deportierten subtrahiert werden. Die vorhandenen Quellen wurden völlig außer Acht gelassen. Wie oben erläutert, können über die Opfer der Todesmärsche, die in weitere Lager verschleppten und nach der Befreiung verstorbenen Menschen keine exakten Aussagen getroffen werden. Es sei noch einmal betont: Sie sind gleichfalls durch die unmenschlichen Bedingungen in den Kauferinger Lagern zugrunde gerichtet worden. Die in der KZ- und Holocaustforschung etablierte Arbeitsweise, die Toten in den Lagern in ein Totenbuch aufzunehmen, in denen sie starben,

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Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 1. 6. 2001, Vom Kleingeist überwuchert. Barbara Fenner: Wir machen ein KZ sichtbar. Katalog zur Schülerausstellung über Lager XI des größten Außenkommandos des ehemaligen KZ Dachau im Bunker der Welfenkaserne der Bundeswehr Landsberg, Hofstetten 2000. 69 Siehe Landsberger Tagblatt vom 28. 4. 2009, Historiker üben Kritik. 68

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mag zunächst befremden. Dennoch, ein anderes Vorgehen ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich: Wie oben beschrieben, gab es selbst unter den nach Auschwitz Deportierten Überlebende. Zweitens steht hinter jedem Opfer ein Leben, ein Mensch – so würden Mehrfachzählungen eine diffuse Opfermasse hervorbringen, in der der Einzelne endgültig ausgelöscht und Erinnerung aufgehoben wird. Das kommt in einem Leserbrief an den „Münchner Merkur“ unbeabsichtigt, aber sehr deutlich zum Ausdruck, wenn eine Leserin zur Kauferinger Diskussion schreibt: „Ist es nicht völlig unerheblich, ob 20 000 oder 30 000 in diesem oder jenem KZ ihr grauenhaftes Ende fanden?“70 Drittens provoziert man, mit derart fehlerhaften Veröffentlichungen, von rechtsextremen Kreisen angegriffen zu werden. Gerade Landsberg muss sich seit 2008 verstärkt NPD-Aufmärschen erwehren.71 Tragisch jedoch ist, dass die ablehnende Haltung international geschätzter Historiker zu diesem Projekt und ihr Festhalten an wissenschaftlich fundierten Angaben auch von einigen ehemaligen Häftlingen nicht verstanden wurde, die dadurch ihr Leid verharmlost und sich, durchaus mit einer gewissen Berechtigung, durch die Diskussion um die Opferzahl beleidigt sehen.72 In der Initiative Kauferings erleben sie endlich die Erfüllung ihres nachvollziehbaren Wunsches nach einem Mahnmal gerade an diesem Ort, wie die bewegenden Briefe Überlebender zeigen. Gleichwohl darf sich die Forschung, mag das auch kaltherzig erscheinen, weder nicht nachprüfbaren Zahlen noch obskuren Projekten ausliefern. Das inzwischen eingeweihte Mahnmal am Bahnhof versucht, mit erinnerungspolitisch stark besetzten Ikonen eine Scheinauthentizität herzustellen. Es beinhaltet zwei Teile: Erstens errichtete man den „Gedenkort Rampe“, der aus einem Güterwaggon in einer Art Carport alpenländischen Stils auf einem Abstellgleis samt einer angebauten Rampe besteht. Zweitens schuf man den „Hain der 30 000“ mit einem der Todesmarschmahnmale des Künstlers Hubertus von Pilgrim, erweitert um eine Bronzetafel mit der Inschrift: „Gedenket der 30 000 Häftlinge des Kommandos Kaufering Juni 1944–April 1945. Etwa 20 000 starben durch Zwangsarbeit, Hunger, in Todesmärschen oder im 70 http://www.merkur-online.de/leserbriefe/jeder-ermordete-mensch-einer-zuviel-320970. html. Leserbrief vom 27. 5. 2009 (abgerufen am 20. 2. 2011). Die Leserin tut das unbeabsichtigt, sie findet „jeden im Konzentrationslager umgekommenen Menschen […] eine[n] zu viel“. Vorausgegangen war ein Beitrag im Münchner Merkur vom 25. 5. 2009, Das schwierige KZ-Mahnmal. 71 Kreisbote (Ausgabe Landsberg) vom 6. 5. 2009, Den falschen Weg gewählt? Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, äußerte sich darin so: „Es ist besorgniserregend und bietet Rechtsextremen ein Fundament, auch zukünftig Zahlen in Frage zu stellen.“ 72 Siehe dazu unter „Gedenken“, http://www.kaufering.de/Gedenken/index.htm, die Eintragungen zu einer Podiumsdiskussion am 14. 5. 2009 (abgerufen am 20. 2. 2011). Ebd., Brief des Überlebenden Peter Zvi Katz an den Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Herrn Karl Freller vom 5. 6. 2009; ebd., Schreiben des Überlebenden Peter Gadosch an den Direktor der Stiftung Bayerischer Gedenkstätten, Herrn Karl Freller vom 11. 5. 2009.

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Gas von Auschwitz.“ Der Name Auschwitz nimmt in größeren Lettern die ganze letzte Zeile ein und lenkt sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Es soll dahingestellt bleiben, ob das entlang der einstigen Strecke des Todesmarsches als auch in Yad Vashem stehende Mahnmal für das Gedenken an den Todesmarsch ebenso die Ankunft am und den Leidensort selbst symbolisieren kann. An sich fragwürdig aber sind die Verwendung eines Güterwaggons, der nie für den Häftlingstransport benutzt wurde, und vor allem die Errichtung einer Rampe, die es an dieser Stelle nicht gab: Waggon und Rampe evozieren Auschwitz und die berüchtigten Selektionen, die am Bahnhof Kaufering definitiv nicht stattfanden. Letztlich wurden hier Ausstellungselemente berühmter Holocaustmuseen kopiert und eine ahistorische Holocaust-Inszenierung geschaffen, die nichts mit den vorhandenen historischen Orten, den eigentlichen lieux de mémoire73 in Kaufering, zu tun hat. Mit einem emotionsgeladenen Paradigma „Rampe“ wird eher vom Ort des Verbrechens abgelenkt, der so wie die Jahrzehnte zuvor nicht im Fokus der Erinnerung steht und nicht unbedingt wahrgenommen werden muss. Abgesehen von christlichen Ritualen wie der Weihe durch katholische Geistliche und einer stark christlich konnotierten Terminologie74, die den „Hain der 30 000“ als einer Kathedrale gleichend beschreibt, stellt sich die Frage, inwieweit überhaupt der jüdischen Opfer und Überlebenden erinnert werden sollte. Der „Gedenkort Rampe“ mit dem Waggon sollte ursprünglich nicht nur den jüdischen Opfern der Landsberg/Kauferinger Lager gewidmet sein, sondern auch die Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten inkludieren: In Waggons dieser Typenbezeichnung wurden bis Kriegsende die KZ-Häftlinge zu den Arbeitslagern herantransportiert. Nach Kriegsende wurden diese Waggons dann zum Transport von Heimatvertriebenen benutzt. Die meisten unserer Heimatvertriebenen kamen in Kaufering mit dem Zug an. Gerade auch ihr Leid […] kann in ganzem Umfang gar nicht mehr richtig ermessen werden. Ein gravierender Unterschied im Transportziel Kaufering sei aber ganz offen angesprochen: Für die KZ-Häftlinge war die Zugfahrt nach Kaufering eine Fahrt in die ‚Vernichtung durch Arbeit‘; für Heimatvertriebenen war diese, wenn auch beschwerliche Zugfahrt die Fahrt zu einem Neubeginn […]. Wir können und wir dürfen dabei nicht Leid mit Leid vergleichen; […] Wir können aber das große Leid, das die verbrecherische Politik des Hitler-Regimes verursacht hat und in das Kaufering vor dem Kriegsende (KZ-Häftlinge) und nach dem Kriegsende (Heimatvertriebene) eingebunden ist, insgesamt in den Mittelpunkt unserer Gedenkarbeit stellen. Und dazu eignet sich unser Gedenkort ‚Rampe‘ mit seinem Leid verbindenden Waggon G10 ganz besonders: Lassen wir doch den Gedenkort ‚Rampe‘ in brüderlicher Eintracht zum Gedenkort für KZ-Häftlinge und für Heimatvertriebene werden.75

Zunächst einmal werden Juden hier als Opfer gar nicht benannt. Fraglos haben die Vertriebenen Leid erfahren, dennoch gehören auch sie der Nation an, 73

Pierre Nora: Das Ende der Gedächtnisgeschichte, in: Ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt 1998, S. 11 ff. 74 http://www.kaufering.de/Gedenken/index.htm, Gedenken, Mitteilungsblatt der Gemeinde Kaufering, Leitartikel Dr. Klaus Bühler Juni 2009 (abgerufen am 20. 2. 2011). 75 Ebd., Aus dem Mittelungsblatt Kaufering, Leitartikel von Dr. Klaus Bühler Mai 2009.

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die den Mord an den europäischen Juden begangen hat. Das wird durch ihre nach Kriegsende erfolgte Vertreibung nicht getilgt. In Kaufering sollte so eine Gleichsetzung von Opfern der Deutschen und deutschen Kriegsopfern, ähnlich wie schon 60 Jahre zuvor, intendiert werden. Für die Juden Europas bedeutet die Rampe in Auschwitz-Birkenau die Entscheidung über Leben und Tod. Welche Bedeutung hat sie im Falle der vertriebenen Deutschen? Auf der Rampe standen Deutsche als die Täter, die über Leben und Tod ihrer jüdischen Opfer entschieden. Da der Waggon in den „Gedenkort Rampe“ integriert wurde, kann er aus der Auschwitz-Metapher nicht herausgelöst werden und noch einmal etwas ganz anderes erinnern. Diesem gemeinschaftlichen Gedenken verweigerten sich die jüdischen Überlebenden, die israelische Organisation Association of survivors Landsberg/Kaufering outer camps of Dachau sowie das Comité International de Dachau vehement und äußerten sich bestürzt darüber, überhaupt auf eine solche Idee, die eine Verhöhnung der Opfer der Shoa bedeute, verfallen zu können. Nach kontroversen Diskussionen wurde symbolträchtig am 9. November 2009 der Plan eines gemeinschaftlichen Gedenkens an die Opfer der Landsberg-Kauferinger Lager und der deutschen Vertriebenen aufgegeben: „Der Markt Kaufering respektiert die Befindlichkeiten und die noch nicht verwachsenen Wunden seiner Freunde aus dem Kreis der Überlebenden“, so die von Nachgeben, aber nicht unbedingt von wirklichem Begreifen der Gefühle Überlebender erfüllten Worte des Bürgermeisters.76 Ein gemeinsamer Gedenkort für die ermordeten Juden und für Deutsche als Opfer des verlorenen Krieges würde nicht davon zeugen, Verantwortung für die Verbrechen der Shoa zu übernehmen, sondern bewirken, dass in einem „grenzenlosen Gedenken einer universalen Victimisierung […] mit der Differenz von Opfern und Tätern auch die Erinnerung aufgehoben [wird]. Was bleibt, ist ein allgemeines katastrophisches Schicksal, das alle teilen, und ein vages Pathos, das jeder Besucher des Denkmals nach eigenem Bedarf füllen kann.“77 Redaktionelle Notiz: Im November 2010 wurde am Eingang der Welfenkaserne der Bundeswehr in der Iglinger Straße nahe Landsberg am Lech, wo sich eine der Bunkerbaustellen befand, auf denen die KZ-Häftlinge Sklavenarbeit leisten mussten, von der „Arbeitsgruppe Gedenkorte im Raum Landsberg-Kaufering“ eine Informationstafel aufgestellt. Weitere Informationstafeln sollen folgen. Der Markt Kaufering weihte am 26. September 2010 einen „Stein der Erinnerung“ an der Ecke Iglinger Straße/Bahnhofstraße ein, der den Heimatvertriebenen gewidmet ist.

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SZ (Ausgabe Dachau) vom 19. 11. 2009, Bürgermeister Bühler macht Rückzieher. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 76. 77

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERISCH-SCHWABEN NACH 19451 Von Michael Brenner

An der Geschichte der Juden in Bayerisch-Schwaben nach 1945 lassen sich exemplarisch, und in vielerlei Hinsicht sogar zugespitzt, einige Grundmuster und Konflikte jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland darstellen. Wie in vielen anderen Regionen der Bundesrepublik waren auch in BayerischSchwaben die wenigen überlebenden Juden nur noch in einer einzigen Gemeinde zusammengefasst. Am Beispiel Augsburgs spiegeln sich die Auseinandersetzungen zwischen den wenigen überlebenden deutschen Juden und der größeren Zahl von ostjüdischen „Displaced Persons“, wie auch zwischen der Nachkriegsgemeinde und den internationalen jüdischen Nachfolgeorganisationen besonders ausgeprägt wider. Das allgemein steigende gesellschaftliche Interesse an den Überresten jüdischer Kultur seit den achtziger Jahren wird im spezifischen Fall Augsburgs an der Wiederinstandsetzung der wohl schönsten verbliebenen Synagoge Deutschlands und der Einrichtung eines Jüdischen Kulturmuseums deutlich. Schließlich lässt sich auch die „zweite Gründung“ einer jüdischen Gemeinde durch die Zuwanderung von Juden aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten in Augsburg sehr klar erkennen.

I. Nur wenige deutsche Juden überlebten Kriegs- und Verfolgungsjahre in ihren Heimatorten. Diejenigen, die geschützt durch nichtjüdische Angehörige oder im Versteck dem Naziterror entkamen, gründeten nach dem Krieg sofort wieder jüdische Gemeinden, nahmen sich der kranken und alten Menschen an, kümmerten sich um würdige Begräbnisse der Toten und führten wieder Gottesdienste durch. Wie in vielen anderen Gemeinden, fanden sich auch in Augsburg einige überlebende schwäbische Juden zusammen. Ihre Zahl – etwa 70 im ganzen Bezirk – reichte nicht aus, um außer der Augsburger Gemeinde noch andere schwäbische jüdische Gemeinden wiederbegründen zu lassen. So wie sich im benachbarten Württemberg alle Juden in der Stuttgarter Gemeinde zusammenfanden, war Augsburg nun die einzige jüdische Gemeinde im bayerischen Schwaben geworden.

1 Der nachfolgende Beitrag ist eine erweiterte Fassung des Aufsatzes „Die Augsburger Nachkriegsgemeinde“, in: Benigna Schönhagen/Franz Kimmel (Hg.): Die Augsburger Synagoge. Ein Bauwerk und seine Geschichte, Augsburg 2010, S. 87–91.

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Der prominenteste jüdische Überlebende kehrte der jüdischen Gemeinschaft den Rücken. Ludwig Dreifuß, ein seit 1911 in Augsburg ansässiger Rechtsanwalt, wurde am 1. September 1945 von der amerikanischen Militärregierung zum Oberbürgermeister Augsburgs eingesetzt. Der Sozialdemokrat war wenige Monate vorher im Konzentrationslager Theresienstadt befreit worden. Er blieb bis zur Wahl 1946, als die CSU die Mehrheit der Stimmen eroberte, Stadtoberhaupt und amtierte von 1946 bis 1948 als Bürgermeister. Dreifuß war mit einer Katholikin verheiratet und trat nach seiner Rückkehr aus Theresienstadt zum katholischen Glauben über.2 Neben der kleinen Zahl schwäbischer Juden existierte, zumindest vorübergehend, eine wesentlich größere Gruppe osteuropäischer Holocaust-Überlebender, die von den Alliierten als „Displaced Persons“ eingestuft wurden und teils in eigenen DP-Lagern, teils unter der deutschen Bevölkerung in verschiedenen Ortschaften lebten. Dass es hier zu offenen und versteckten Konflikten kam, kann angesichts der noch frischen Wunden kaum überraschen. Dennoch erstaunt ein Fall aus Memmingen, der eine verblüffende Kontinuität antisemitischer Traditionen an den Tag bringt. Am Rande der Klage einer christlichen Vermieterin, die einen ostjüdischen Mieter vor Gericht brachte, da er seine monatliche Miete nicht beglichen hatte, kam es zu einer Wiederauflage von Ritualmordbeschuldigungen, die sich im Mittelalter großer Popularität erfreuten und von der nationalsozialistischen Propaganda wiederbelebt wurden. In der vom Anwalt der Klägerin vor einem deutschen Gericht 1948 verlesenen Anklageschrift heißt es: Bei einer Festlichkeit, die der Beklagte zu Ostern 1947 in der streitbefangenen Wohnung ausrichtete, wurde ohne Zustimmung der Klägerin deren vierjähriges Kind Harald in die Wohnung des Beklagten geholt. Als er zurückkehrte, fiel er durch einen ganz unnormalen Übermut auf. Der Beklagte und seine Gäste hatten dem Kind Rotwein zum Trinken verabreicht, sodass das Kind betrunken war. Die Klägerin stellte am selben Tag fest, dass es an einer Vene des linken Armes einen Einstich erhielt. Entweder ist dem Kinde eine Injektion verabreicht oder es ist ihm Blut abgezapft worden […]. Soweit der Klägerin bekannt ist, besteht ein Brauch in den Kreisen des Beklagten, nach welchem Ostergebäck (!) ein Tropfen Christenblut zuzusetzen ist.3

Dass eine ältere Frau der in der Tradition der katholischen Kirche verwurzelten Ritualmordlegende Glauben schenkt, mag hierbei weniger erstaunen als die Tatsache, dass ein Rechtsanwalt diese Behauptung ernsthaft vor einem Memminger Gericht des Jahres 1948 vortragen konnte! Es handelte sich dabei keineswegs um die einzige Anklage dieser Art. So tauchten etwa in Bay-

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Gernot Römer: Schwäbische Juden, Augsburg 1990, S. 234–235. Amtsgericht Memmingen, Aktenzeichen C 312/48 (1948). Zitiert in: Jüdisches Gemeindeblatt. Die Zeitung der Juden in Deutschland vom 14. Januar 1949, S. 5 unter der Überschrift „Ritualmord 1948“. 3

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reuth um die gleiche Zeit Gerüchte auf, dass drei Juden einen Ritualmord begangen hatten, als ein Bayreuther Bürger verschwunden war.4 Die Konflikte zwischen der deutschen Bevölkerung und den aus Osteuropa stammenden jüdischen Überlebenden im Lager Landsberg am Lech sind andernorts in diesem Band beschrieben.5 In Landsberg bestand eines der größten jüdischen DP-Lager Deutschlands in unmittelbarer Nähe zum Regierungsbezirk Schwaben. Auch in Ulm und Neu-Ulm befanden sich DP-Lager mit mehreren Tausend jüdischen Bewohnern. Bis zur Auflösung der Lager 1949 waren die meisten von ihnen nach Israel und in die USA ausgewandert. Ein kleiner Teil jedoch verblieb in Deutschland, manche davon in Schwaben. Neben der kleinen, aus ehemaligen Augsburger Juden bestehenden Israelitischen Kultusgemeinde, bestand ein im Herbst 1946 etwa 400 Mitglieder zählendes, aus Displaced Persons bestehendes, Jüdisches Komitee. Die beiden Gemeinden bestanden zunächst mehr neben- als miteinander. Die kulturellen Unterschiede zwischen den ehemaligen Augsburger Juden und den osteuropäischen „Neuankömmlingen“ lassen sich in der Erinnerung von Gertrud Dann erahnen, die 1950 erstmals wieder aus ihrer britischen Wahlheimat zu einem Besuch in ihre Geburtsstadt Augsburg zurückkehrte: Am traurigsten und deprimierendsten war es, die Synagoge zu sehen. Sie war nicht bombardiert worden. Die ganze Zerstörung hatten die Nazis angerichtet. Im Hof und in einem Teil der Gebäude war ein blühender Schwarzhandel mit Alkohol, Butter, Zigaretten, – ein schauderhafter Anblick, all die fremd anmutenden Leute, die in einer mir unverständlichen Sprache redeten, schrien, gestikulierten und argumentierten. Wir gingen schnell wieder weg […].6

Die 1946 von deutschen Juden gegründete und geführte Gemeinde verschloss sich diesen Neuankömmlingen zunächst. Die Satzung der Kultusgemeinde, die 1948 77 Mitglieder zählte, gestand nur deutschen Staatsbürgern das aktive und passive Wahlrecht zu. Auch nach der Verschmelzung mit dem aus osteuropäischen Juden bestehenden Jüdischen Komitee 1950 bestand diese Situation weiter. Die deutschen Juden wollten somit auch in der Minderheitsposition die Kontrolle über die Gemeindeangelegenheiten bewahren und die Gemeinde im Sinne der deutsch-jüdischen Vorkriegsgemeinde weiterführen. Ähnliche Konfliktfälle gab es auch in anderen Gemeinden, wie München und Stuttgart, doch wurde zumeist in den ersten Nachkriegsjahren eine einvernehmliche Lösung gefunden. In Augsburg jedoch zog sich der Konflikt bis in die Mitte der fünfziger Jahre hinein. 1953 sah es gar so aus, als ob in Augsburg wieder eine zweite jüdische Gemeinde durch die osteuropäischen Juden

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Neue Welt. Mitteilungsblatt der Jüdischen Gemeinden in Bayern, Nr. 1, Mitte September 1947, S. 6. Das Gerücht konnte von dem vermeintlichen Opfer selbst aufgeklärt werden, nachdem „der Verschollene“ wieder aufgetaucht war. 5 Vgl. hierzu den Beitrag von Barbara Hutzelmann. 6 Gernot Römer (Hg.): Vier Schwestern. Die Lebenserinnerungen von Elisabeth, Lotte, Sophie und Gertrud Dann aus Augsburg, Augsburg 1998, S. 126.

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entstehen könnte.7 Noch Anfang 1954 war die deutsch-jüdische Gemeinde als maximale Konzession nur bereit, den Ostjuden zwei von neun Vorstandssitzen abzugeben und der Hälfte von ihnen das Wahlrecht zuzugestehen. Erst unter dem Druck der Behörden konnte die deutsch-jüdische Gemeindeführung im selben Jahr den nichtdeutschen Staatsangehörigen Mitgliedschaft und gleiche Rechte zugestehen.8 Die ersten Gemeindevorsitzenden waren deutsche Juden (1945–1947 Leo Gutmann, 1947–1952 Berthold Strauss, 1952–1957 Hugo Schwarz, 1957–1963 Ludwig Müller), der aus Polen stammende und im KZ Buchenwald befreite Julius Spokojny wurde zunächst 2. Vorsitzender, 1963 dann 1. Vorsitzender. In diesem Jahr zählte die Augsburger Gemeinde 234 Mitglieder und war damit die zweitgrößte in Bayern.9

II. Ein weiterer Konflikt, der sich vielerorts abzeichnete, war ebenfalls in Augsburg besonders stark ausgeprägt. Die Frage, wer berechtigt sei, das Erbe der ehemals bestehenden jüdischen Institutionen anzutreten, war nach Kriegsende durchaus nicht geklärt. Die neu gegründeten jüdischen Gemeinden waren ein Schatten ihrer selbst. Sie vertraten zumeist nur einen Bruchteil der früheren Mitglieder, die ermordet waren oder im Exil lebten. Die internationalen jüdischen Organisationen einigten sich daher, Nachfolgeorganisationen für das herrenlose und unbeansprucht gebliebene jüdische Vermögen zu etablieren und dessen Nutzbarmachung den überlebenden Juden in aller Welt, insbesondere dem Staat Israel zukommen zu lassen. So wurde im Juni 1948 in der amerikanischen Zone die JRSO (Jewish Restitution Successor Organization) gegründet, während die JTC (Jewish Trust Corporation) mit der gleichen Funktion in der britischen Zone und die Branche Francaise in der französischen Zone betraut wurden. Der Anspruch der JRSO, auch als legitime Nachfolgerin der vor dem Krieg bestehenden jüdischen Gemeinden zu gelten, rieb sich mit dem Eigenverständnis der neuen jüdischen Gemeinden in Deutschland. Eine zwischen der JRSO und den Gemeinden erfolgte Regelung sah vor, dass die Eigentumstitel für das von den Kultusgemeinden benötigte Eigentum der früheren Gemeinden in den Händen der JRSO verblieben, während den Gemeinden das

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Protokoll der Sitzung des Landesausschusses des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern vom 20. 12. 1953. Archiv des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern (LVIKGB), Protokolle 1947–1957. 8 Briefe des „Aktionskomitee zur Vorbereitung demokratischer Wahlen in der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg“, Januar 1954, Archiv des Leo Baeck Institute (LBI), New York, AR 5890/3. 9 IKG Schwaben/Augsburg (Hg.): Gebt Ehre der Lehre, Augsburg 1963, S. 74.

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Nutzungsrecht zugesprochen werden sollte.10 Viele Gemeinden erachteten sich bei dieser Lösung jedoch übervorteilt und fürchteten, nicht selbständig das ihnen zustehende Eigentum verwalten zu können. Überstürzte Verkäufe ehemaliger jüdischer Grundstücke durch die JRSO, die es als dringende Aufgabe ansah, möglichst schnell den bedrohten Menschen in Israel beizustehen, bestätigten ihre Befürchtungen. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Stuttgart, Benno Ostertag, sprach für viele Gemeindevertreter, als er 1949 mahnte: „Die in Deutschland teilweise schon seit über 1 000 Jahren bestehenden jüdischen Gemeinden wollen nicht von der Gnade der JRSO abhängig sein.“11 In den meisten Fällen konnten zwischen JRSO und jüdischer Gemeinde Vergleiche geschlossen werden, die das Vermögen der früheren Gemeinde eindeutig aufteilten. Die Zuweisung war dabei in den einzelnen Gemeinden sehr unterschiedlich und hing von der Höhe des Vermögens sowie der Größe der Nachkriegsgemeinde und deren Bedürfnissen ab. In Berlin etwa erhielt die JRSO neben dem gesamten Stiftungsvermögen 60% des früheren Gemeindevermögens, während die Gemeinde 40% zugesprochen erhielt. In Stuttgart konnte die Gemeinde 65% des ehemaligen Gemeindevermögens erhalten, in Wiesbaden dagegen nur 10%.12 Es gab jedoch auch Differenzen zwischen jüdischen Gemeinden und JRSO über die Frage der Rechtsnachfolge der früheren jüdischen Gemeinden, die sich zu Rechtsstreitigkeiten ausdehnten. Das Münchener Oberlandesgericht – wie bereits vorher die Wiedergutmachungskammer beim Augsburger Landesgericht – erklärte die Israelitische Kultusgemeinde Augsburg zur legitimen Rechtsnachfolgerin. Dieser Beschluss wurde jedoch durch das Oberste Rückerstattungsgericht in der amerikanischen Zone („Court of Restitution Appeals“) widerrufen, das zur Entscheidung gelangte, „daß die Auflösung der (früheren) Augsburger jüdischen Gemeinde tatsächlich und rechtlich wirklich stattfand, als sie in die Reichsvereinigung der Juden eingegliedert wurde“ und dass daher die neugegründete Gemeinde, obwohl sie „zugestandenermaßen eine die gleichen Ziele wie die ursprüngliche Gemeinde verfolgende religiöse Organisation“ sei, nicht deren Rechtsnachfolgerin sein könne. Es ist bemerkenswert, dass die JRSO nur ihren Rechtsanspruch durchsetzen konnte, indem sie die Auflösung der jüdischen Gemeinden durch den NS-Staat als rechtsgültig betrachtete.13 Im Augsburger Fall stieß der Beschluss des damals noch ausschließlich aus deutschen Juden bestehenden Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde,

10 Ben Ephraim: Der steile Weg zur Wiedergutmachung, in: Heinz Ganther: Juden in Deutschland 1952 – ein Almanach, Hamburg 1959, S. 296. 11 Office of the Advisor of Jewish Affairs (Hg.): Conference on the Future of the Jews in Germany, Heidelberg 1949, S. 56. 12 Archiv des LBI, New York, Sammlung Council of Jews from Germany, AR 5890/3. 13 Archiv des LBI, New York, Sammlung Council of Jews from Germany, AR 5890/2.

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sich als Rechtsnachfolgerin der Vorkriegsgemeinde zu betrachten, auch auf den Widerstand in Bayern lebender Juden. In der in München erscheinenden „Neuen Jüdischen Zeitung“ klagte der aus Wien stammende Journalist Ernest Landau „die selbstsüchtigen Augsburger Kehilla-Vorsteher“ an, „auf Kosten der in größter Not lebenden jüdischen Gemeinschaft in der ganzen Welt“ nur ihr persönliches Interesse im Sinn zu haben.14 Diese Position muss mit der großen Skepsis erklärt werden, die auch unter den in Bayern lebenden Juden gegenüber einer langfristigen Zukunftsplanung jüdischen Lebens hierzulande herrschte.

III. Während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte glaubte kaum jemand an eine dauerhafte Existenz jüdischen Lebens in Deutschland. 1948 hatte sich der Jüdische Weltkongress in einer Resolution gegen ein dauerhaftes Leben „auf der blutbefleckten Erde Deutschlands“ ausgesprochen. Der im gleichen Jahr gegründete Staat Israel lehnte jüdisches Leben in Deutschland vehement ab. Im August 1950 verkündete die für Einwanderung in den jüdischen Staat zuständige Jewish Agency, wer sich innerhalb der nächsten sechs Wochen noch in Deutschland aufhalte, wäre für sie künftig nicht als Jude zu betrachten und könne nicht mehr mit Unterstützung im Falle einer späteren Immigration nach Israel rechnen.15 Selbst die meisten Vertreter jüdischen Lebens in Deutschland sahen ihre Existenz zunächst nur als vorübergehende. Die jüdische Erziehung war auf Emigration nach Israel ausgerichtet. Dies war in Augsburg nicht anders. So traten jährlich die Jugendlichen der Gemeinde am Israelischen Unabhängigkeitstag in Aktion. 1962 etwa sagten sie Gedichte auf („Ein Gruß dem Volk“, „Juble mein Volk“, „Ein Land voller Fahnen“), rezitierten Worte Theodor Herzls, verlasen die Balfour-Deklaration, den UNO-Teilungsbeschluss sowie die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, und sangen am Ende die israelische Nationalhymne.16 Dennoch wurde auch die Grundlage für eine jüdische Erziehung gelegt. Seit 1961 war der in Nürnberg geborene und aus Israel zurückgekehrte Heinrich Joshua Scheindling als Religionslehrer in Augsburg für alle jüdischen Kinder Schwabens und auch andere jüdische Gemeinden in Bayern zuständig. In den sechziger Jahren gab es einige schulpflichtige Kinder in anderen 14

Neue Jüdische Zeitung vom 9. September 1953. Siehe hierzu Peter L. Münch: Zwischen „Liquidation“ und Wiederaufbau. Die deutschen Juden, der Staat Israel und die internationalen jüdischen Organisationen in der Phase der Wiedergutmachungsverhandlungen, in: Historische Mitteilungen 10 (1997), S. 81–111, hier S. 85. 16 „Programm zur Feier anlässlich des Nationalfeiertages am 12. Mai 1962“, Loseblatt im Archiv des LVIKGB. 15

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Orten Schwabens. Eine offene Frage war, wer die sechs Kinder in Neu-Ulm betreuen sollte. Ihre Eltern, die in Augsburg Kirchensteuer zahlten, forderten die Betreuung durch den Augsburger Religionslehrer und nicht mehr durch den Religionslehrer aus Stuttgart.17 Der Religionsunterricht beschränkte sich freilich auf einen Nachmittag in der Woche, was kaum die Möglichkeit bot, genügend jüdisches Wissen an die nächste Generation weiterzugeben. In den fünfziger und sechziger Jahren schickten daher zahlreiche in Deutschland lebende Juden ihre Kinder in jüdische Internate nach England oder Frankreich, von wo aus die meisten von ihnen nicht mehr nach Deutschland zurückkehrten. Aus diesem Grund wurden im Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden Bayerns sowie im Zentralrat zu Beginn der sechziger Jahre Pläne diskutiert, ein jüdisches Internat einzurichten. Im Zentralrat wurde eine eigene Internatskommission eingesetzt, und die Ratstagung stimmte 1962 mit großer Mehrheit der Errichtung eines jüdischen Internats zu.18 In den folgenden Jahren verlegte sich die Internatsdiskussion weitgehend auf Bayern. Nach langen Beratungen der jüdischen Gemeinden Bayerns erklärte sich die Augsburger Jüdische Gemeinde bereit, entsprechende Räume zur Verfügung zu stellen. Man rechnete mit 40–50 Schülern im Alter von 12–16 Jahren, vornehmlich aus Bayern, und wollte das Internat im September 1965 in Betrieb nehmen. Das Präsidium des Landesverbands verfasste eine diesbezügliche Resolution, doch aus finanziellen Gründen wie auch aus Bedenken, dass in wenigen Jahren nicht mehr genügend jüdische Jugendliche im Lande sein würden, zerschlug sich die Idee.19 Das religiöse Leben erhielt mit der „Kleinen Synagoge“, die am 15. Dezember 1963 in Anwesenheit des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel feierlich eingeweiht wurde, einen neuen Mittelpunkt. Dafür wurden die Wochentagssynagoge und der Hochzeitssaal der ehemals stattlichen Synagoge in der Halderstraße zusammengelegt. Der gesamte Gebäudekomplex hatte den Krieg überlebt, war jedoch innen verwüstet worden. Es war die Lebensaufgabe von Julius Spokojny, das Gebäude in seinem ursprünglichen Glanz wiedererstehen zu lassen. Er selbst beschrieb dies später in folgenden Worten: Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal diese ehemals wunderschöne Synagoge betrat. Ich habe geweint. Aber unter Tränen habe ich geschworen, diese Synagoge in ihrer alten Pracht und Herrlichkeit wiedererstehen zu lassen. In jenem Augenblick, der mir ins Herz gebrannt ist, konnte ich nicht absehen, wieviel Zeit vergehen sollte, wieviel Arbeit zu

17 Schreiben des Geschäftsführers des LV Tobias Berkal an die IKG Augsburg, 4. 7. 1961, Archiv des LVIKGB 643/61. 18 Zentralrat: Ratsversammlung: Korrespondenz und Protokolle (Sitzungen 1962). Archiv des Zentralrats, B. 1/7. 859, S. 3 Protokoll über die Ratstagung des Zentralrates der Juden in Deutschland am 20. und 21. Mai 1962 in Düsseldorf. 19 Protokoll der Präsidiumssitzungen des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern vom 1. 10. 1964 und 17. 1. 1965. Archiv des LVIKGB, Präsidiumsprotokolle 1957–1967.

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investieren war, wieviele Ärgernisse sich einstellen würden, bis dieser Bau wieder in den Dienst des Gebetes gestellt und als Treffpunkt einer Jüdischen Gemeinde eröffnet werden könnte.20

Spokojny, dem Gegner innerhalb der Gemeinde einen autoritären Führungsstil vorwarfen, blieb bis zu seinem Tod 1996 Vorsitzender und prägte die Gemeindegeschicke in entscheidender Weise. Als Präsident des Landesausschusses des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden Bayerns und Delegierter beim Zentralrat der Juden in Deutschland spielte er auch auf Landes- und Bundesebene eine wichtige Rolle im jüdischen Leben Deutschlands. Von 1982 bis 1996 vertrat er die jüdische Religionsgemeinschaft im Bayerischen Senat. Über zwanzig Jahre nach der Wiederherstellung des kleinen Gebetsraums wurde sein Traum wahr. Der prächtige große Kultraum konnte am 1. September 1985 feierlich eingeweiht werden.

IV. Die Synagoge erstand nun zwar wieder in ihrer alten Pracht, doch sie war eine Hülle ohne lebendigen Inhalt. Die Gemeinde war bis 1985 vor allem auf ältere Leute zusammengeschrumpft. Die Jugendlichen waren entweder nach Israel oder in die Großstädte abgewandert. Die Synagoge wurde nur einmal jährlich an den Hohen Feiertagen benutzt. Für den Rest des Jahres war sie der wichtigste Bestandteil des gleichzeitig eingeweihten Jüdischen Kulturmuseums. Auch hier lassen sich deutschlandweite Tendenzen in Augsburg besonders deutlich erkennen. Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg war das erste selbständige jüdische Museum im Nachkriegsdeutschland. Es stand am Beginn einer ganzen Reihe von Museumsgründungen, von Frankfurt bis Fürth und von Berlin bis München. Während der ersten Jahre waren die Exponate vor allem Ritualobjekte, die Sammlung sehr konservativ angelegt und die Synagoge das gewichtigste Exponat. Mit dem Amtsantritt der jetzigen Museumsdirektorin Benigna Schönhagen wurde ein neues Konzept erdacht. Die Eröffnung der aktuellen Dauerausstellung im November 2006 räumt der Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben breiten Raum ein.

V. Die gegenwärtige Augsburger Gemeinde repräsentiert ebenfalls einen deutschlandweiten Trend. 1990 öffneten sich die Tore für die Einwanderung von Juden aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Seitdem kamen 20

Julius Spokojny: Der Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde in Augsburg-Schwaben, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Stuttgart 2000, S. 416.

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Abb. 1: Synagoge Augsburg. © Fotonachweis: Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben/Franz Kimmel.

weit über 100 000 Juden nach Deutschland und vervierfachten damit die bestehende jüdische Gemeinschaft. In Augsburg bilden die Zuwanderer unter den mittlerweile über 1500 Mitgliedern weit über 90%. Russisch wurde zur Umgangssprache, und seit 2005 ist mit dem in Taschkent geborenen Alexander Mazo ein Zuwanderer auch Präsident der Gemeinde. Die Gemeinde unterhält ein Kulturzentrum, ein Jugendzentrum, eine Sonntagsschule und gibt eine monatliche Gemeindezeitung heraus. Zu den wichtigsten Aufgaben gehört die Sozialarbeit und Integration. Deutschunterricht, Berufsberatung, Bewerbungstraining und Seniorenbetreuung sind die wichtigsten Gemeindeaktivitäten. Die meisten Juden hatten in der Sowjetunion keinerlei Möglichkeit, sich religiös zu betätigen, doch war gleichzeitig ihr Judesein als „Nationalität“ in der Identitätskarte vermerkt. Die jüdische Identität der Zuwanderer ist damit oftmals eine ethnisch-kulturelle. Das Veranstaltungsprogramm der Gemeinde mit dem Kinoklub, dem Musiksalon und dem Schachklub spiegelt diese Situation wider. Doch auch das religiöse Leben ist seit den neunziger Jahren wiederbelebt worden. Zunächst amtierte ein orthodoxer Gemeinderabbiner, mit Henry Brandt ist seit 2004 ein liberaler Rabbiner im Amt. Brandt ist seit 1985 jüdischer Vorsitzender des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.21 21 Die Informationen zur heutigen Gemeinde finden sich auf ihrer Webseite: www.ikgaugsburg.com (abgerufen am 20. 4. 2009).

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Nach der Vorkriegsgemeinde, die sich vor allem aus schwäbischen Juden zusammensetzte und der DP-Gemeinde, deren Mehrzahl aus Polen stammte, besteht die „dritte“ Augsburger Gemeinde vorwiegend aus Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie verfügt sowohl über die baulichen, strukturellen und zahlenmäßigen Voraussetzungen, um eine Zukunft jüdischen Lebens in Bayerisch-Schwaben auch im 21. Jahrhundert zu gewährleisten. Ohne diese Entwicklung voraussehen zu können, haben sich die Grundsteinlegungen zur Neugründung der Gemeinde 1945, die Einweihung der „Kleinen Synagoge“ 1963 sowie die Wiedereröffnung der großen Synagoge 1985 als wegweisend erwiesen.

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AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE ZUR GESCHICHTE DER JUDEN IN SCHWABEN Auer, Herbert: Die Einbindung der Juden in das öffentliche Leben und das Vereinswesen in der Gemeinde Hürben/Krumbach, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Sigmaringen 1994 (Irseer Schriften 2), S. 117–128. Baer, Wolfram: Zwischen Vertreibung und Wiederansiedlung. Die Reichsstadt Augsburg und die Juden vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 110–127. Bell, Dean Phillip: Anti-Judaism and Anticlericalism in Late Medieval Augsburg, in: Proceedings of the PMR Conference 19–20, 1994–1996, S. 117–124. Berger-Dittscheid, Cornelia: Augsburg, in: Wolfgang Kraus/Berndt Hamm/Meier Schwarz (Hg.): Mehr als Steine… Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 1: Oberfranken, Oberpfalz, Niederbayern, Oberbayern, Schwaben, bearb. v. Barbara Eberhardt und Angela Hager, Lindenberg 2007, S. 397–413. Bernheim, Erhard: „Halbjude“ im Dritten Reich. Die Erinnerungen des Augsburger Fabrikanten Erhard Bernheim, hg. v. Gernot Römer, Augsburg 2000 (Lebenserinnerungen von Juden aus Schwaben Bd. 3). Dohm, Barbara: Juden in der spätmittelalterlichen Reichsstadt Nördlingen. Studien und Quellen. Diss. masch., Trier 2006. Dotterweich, Volker/Beate Reißner: Finanznot und Domizilrecht. Zur Aufnahme jüdischer Wechselhäuser in Augsburg 1803, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 282– 305. Eder, Angelika: Flüchtige Heimat. Jüdische Displaced Persons in Landsberg am Lech 1945–1950, München 1998. Fassl, Peter (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, 3 Bde., Sigmaringen u. a. 1994–2008. Fassl, Peter: Die wirtschaftliche und soziale Stellung der Juden in Augsburg im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. Wiss. Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee, Sigmaringen 1994 (Irseer Schriften Bd. 2), S. 129–146. Filser, Karl/Peter Sobzcyk: Augsburg im Dritten Reich, in: Gunther Gottlieb (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 614–637. Filser, Karl: „…weil es gefährlich wäre, die Kette des groß gewachsenen Sklaven zu lösen“. Lokalstudie zur Effektivität bayerischer Judenpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2) S. 249–281. Friedmann, Friedrich G.: Heimkehr ins Exil. Jüdische Existenz in der Begegnung mit dem Christentum, hg. v. Christian Wiese, München 2001. Gotto, Bernhard: Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München 2006 (Studien zur Zeitgeschichte Bd. 71). Gotto, Bernhard: Machtergreifung und Gleichschaltung, in: Ders./Michael Cramer-Fürtig (Hg.): „Machtergreifung“ in Augsburg. Anfänge der NS-Diktatur 1933–1937, Augsburg 2008 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg Bd. 4), S. 17–27.

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Auswahlbibliographie zur Geschichte der Juden in Schwaben

Grünfeld, Richard: Ein Gang durch die Geschichte der Juden von Augsburg. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge von Augsburg am 4. April 1917, Augsburg 1917. Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): Juden auf dem Lande, Beispiel Ichenhausen. Katalog zur Ausstellung in der ehemaligen Synagoge Ichenhausen, München 1991 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 22). Hazan, Souzana: „…dieser schönen Welt Lebewohl sagen.“ Der Weg der Familie Sturm aus Augsburg, Augsburg 2010 (LEBENSLINIEN. Deutsch-jüdische Familiengeschichten Bd. 3). Hetzer, Gerhard: Die Beteiligung von Juden an der politischen Willensbildung in Schwaben 1818–1871. Erfolge und Fehlschläge eines Integrationsprozesses, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Sigmaringen 1994 (Irseer Schriften 2), S. 73–91. Hirsch, Hans K.: Zur Situation der Juden in Augsburg während der Emanzipationszeit, in: Rolf Kießling(Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 306–323. Hirsch, Hans K.: Juden in Augsburg, in: Günther Grünsteudel u. a. (Hg.): Augsburger Stadtlexikon, 2. Aufl., Augsburg 1998, S. 135–145. Hirsch-Erlund, Irmgard: Irmgard. Eine jüdische Kindheit in Bayern und eine Vertreibung, hg. v. Gernot Römer, Augsburg 1999 (Lebenserinnerungen von Juden aus Schwaben Bd. 2). Immenkötter, Herbert: Die israelitische Kultusgemeinde in Hainsfarth (Landkreis DonauRies) im 19. und 20. Jahrhundert, Augsburg 2002 (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 30). Immenkötter, Herbert: Zur sog. Reichskristallnacht in Augsburg, in: Johannes Burkhardt u. a. (Hg.): Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 13–21. Jacob, Walter: Ein Rabbinat in dunklen Stunden. Ernest I. Jacob 1899–1974, in: Gernot Römer (Hg.): „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“. Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949, Augsburg 2007 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben Bd. 29, S. 5–22. Jakob, Reinhard: Die jüdische Gemeinde von Harburg (1671–1871), Nördlingen 1988. Jakob, Reinhard: Frühneuzeitliche Erwerbs- und Sozialstrukturen der schwäbischen Judenschaft. Dargestellt vornehmlich am Beispiel der oettingischen Stadt Harburg an der Wörnitz, in: Aschkenas 3 (1993), S. 65–84. Jakob, Reinhard: Judenschul und jüdische Schule. Zur Bildungsgeschichte der Juden in Schwaben vor Moses Mendelssohn, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Sigmaringen 1994 (Irseer Schriften 2), S. 45–61. Jakob, Reinhard: Konflikt und Stereotyp. Die Beschwerden von Rat und Bürgerschaft in Harburg und Monheim über die jüdischen Mitbewohner (1671–1741), in: André Holenstein/Sabine Ullmann (Hg.): Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit, Epfendorf 2004 (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 12), S. 325–356. Kießling, Rolf: Zwischen Vertreibung und Emanzipation – Judendörfer in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 154–180. Kießling, Rolf: „Fremde“ in einer christlichen Umwelt – die schwäbischen Judengemeinden vor der Emanzipation, in: Ein fast normales Leben. Erinnerungen an die jüdischen Gemeinden Schwabens. Ausstellung der Stiftung Jüdisches Kulturmuseum

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Auswahlbibliographie zur Geschichte der Juden in Schwaben

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Augsburg-Schwaben nach einem Konzept von Gernot Römer. Katalog, Augsburg 1995, S. 21–30. Kießling, Rolf (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995. Kießling, Rolf/Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999. Kießling, Rolf/Sabine Ullmann: Christlich-jüdische „Doppelgemeinden“ in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17./18. Jahrhunderts, in: Christoph Cluse/ Alfred Haverkamp/Israel J. Yuval (Hg.): Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, Hannover 2003 (Forschungen zur Geschichte der Juden 13), S. 513–534. Kießling, Rolf: Zwischen Schutzherrschaft und Reichsbürgerschaft. Die schwäbischen Juden und das Reich, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hg.): Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Konstanz 2005, S. 99–122. Kießling, Rolf: Synagogen und Judendörfer – schwäbische Juden als „Fremde“ in der Region, in: Ders./Dietmar Schiersner (Hg.): Erinnerungsorte in Oberschwaben. Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis (Forum Suevicum, Bd. 8), Konstanz 2009, S. 249–286. Krug, Raphael M.: Pest in Augsburg 1348–1351? Eine Studie zur Frage eines Pestvorkommens zu Zeiten des Schwarzen Todes in Europa, in: Rolf Kießling (Hg.): Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens, Augsburg 2005 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 10), S. 285–321. Ksoll, Margit/Manfred Hörner: Fränkische und schwäbische Juden vor dem Reichskammergericht, in: Manfred Treml/Josef Kirmeier (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17/88), S. 183–197. Lamm, Louis: Ortsgeschichte von Buttenwiesen, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 15 (1902), S. 1–21. Lang, Stefan: Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492–1650), Ostfildern 2008 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 63). Lechner, Silvester: Juden auf dem Lande – die Geschichte der Ichenhausener Juden, in: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): Juden auf dem Lande, Beispiel Ichenhausen. Katalog zur Ausstellung in der ehemaligen Synagoge Ichenhausen, München 1991 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 22). Merkl, Franz Josef: Der Augsburger jüdische Bankier Carl von Obermayer (1811–1889) als Militärreformer, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben III. Zwischen Nähe, Distanz und Fremdheit, Augsburg 2007, S. 147–199. Miedel, Julius: Die Juden in Memmingen. Aus Anlass der Einweihung der Memminger Synagoge, Memmingen 1909. Mix, Rosemarie: Die Judenordnung der Markgrafschaft Burgau von 1534, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999 (Colloquia Augustana 10), S. 23–57. Mordstein, Johannes: Ein Jahr Streit um drei Klafter Holz. Der Konflikt zwischen Bürgerschaft und Judengemeinde im schwäbischen Harburg um die Teilhabe der Juden an den Gemeinderechten 1739/40, in: André Holenstein/Sabine Ullmann (Hg.): Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit, Epfendorf 2004 (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 12), S. 301–324. Mordstein, Johannes: Selbstbewusste Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637–1806, Epfendorf 2005 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 2).

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Auswahlbibliographie zur Geschichte der Juden in Schwaben

Müller, Jörg R.: „Sex and crime“ in Augsburg. Das Komplott gegen den Juden Joehlin im Jahre 1355, in: Frank G. Hirschmann/Gerd Mentgen (Hg.): „Campana pulsante convocati“. Festschrift anläßlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, Trier 2005, S. 395–419. Müller, Ludwig: Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Riess [!]. 2 Teile, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg (ZHVS) 25 (1898), S. 1–124; ZHVS 26 (1899), S. 81–182. Müller, Monika: „Das Trauma der Verbannung ist nicht auslöschbar.“ Der Weg der Familie Aub aus Augsburg, Augsburg 2009 (LEBENSLINIEN. Deutsch-jüdische Familiengeschichten Bd. 2). Mütschele, Sabine: Juden in Augsburg, 1212–1440, Stuttgart 1996. Oelsner, Toni: (Art.) Augsburg, in: Zvi Avneri (Hg.): Germania Judaica, Bd. II: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 1. Teilbd.: Ortsartikel Aachen–Luzern, Tübingen 1968, S. 30–41. Raim, Edith: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/1945, Landsberg am Lech 1992. Raim, Edith: Nitzotz. Die Zukunft beschreiben, in: Dies. (Hg.): Überlebende von Kaufering. Biographische Skizzen jüdischer ehemaliger Häftlinge. Materialien zum KZ-Außenlagerkomplex Kaufering, Berlin 2008. Römer, Gernot: Der Leidensweg der Juden in Schwaben, Augsburg 1983. Römer, Gernot: Die Austreibung der Juden aus Schwaben, Augsburg 1987. Römer, Gernot: Schwäbische Juden, Augsburg 1990. Römer, Gernot: „Wir haben uns gewehrt.“ Wie Juden aus Schwaben gegen Hitler kämpften und wie Christen Juden halfen, Augsburg 1995. Römer, Gernot: „Jüdisch versippt“. Schicksale von „Mischlingen“ und nichtarischen Christen in Schwaben, Augsburg 1996. Römer, Gernot (Hg.): Vier Schwestern. Die Lebenserinnerungen von Elisabeth, Lotte, Sophie und Gertrud Dann aus Augsburg, Augsburg 1998. Römer, Gernot (Hg.): „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“. Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949, Augsburg 2007 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben Bd. 29). Römer, Gernot: Bewährt im Untergang – Benno Arnold und das Ende der jüdischen Gemeinde, in: Benigna Schönhagen (Hg.): Die Augsburger Synagoge – ein Bauwerk und seine Geschichte, Augsburg 2010, S. 77–81. Römer, Gernot: Wo Steine sprechen. Die jüdischen Friedhöfe in Schwaben, Augsburg o. J. Rohrbacher, Stefan: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit: in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 80–109. Rohrbacher, Stefan: Ungleiche Partnerschaft. Simon Günzburg und die erste Ansiedlung von Juden vor den Toren Augsburgs in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999 (Colloquia Augustana 10), S. 192–219. Rose, Hermann: Geschichtliches der Israelitischen Kultusgemeinde Altenstadt, Altenstadt 1931. Schalm, Sabine: Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933–1945, Berlin 2009. Schimmelpfennig, Bernhard: Christen und Juden im Augsburg des Mittelalters, in: Rolf Kießling (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995, S. 23–38.

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Auswahlbibliographie zur Geschichte der Juden in Schwaben

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Schönhagen, Benigna: Augsburg. Die Synagoge. Einladung zu einem Rundgang, hg. v. Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben, Haigerloch 2006 (Orte jüdischer Kultur). Schönhagen, Benigna: Die Augsburger Synagogenorgel – eine verstummte Tradition, in: Dies. (Hg.): Die Augsburger Synagoge – ein Bauwerk und seine Geschichte, Augsburg 2010, S. 49–54. Schönhagen, Benigna (Hg.): Die Augsburger Synagoge – ein Bauwerk und seine Geschichte, Augsburg 2010. Spokojny, Julius: Der Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde in Augsburg-Schwaben, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Stuttgart 2000. Steber, Martina: Die Kraft des „großen Ganzen“. Bayern auf der bayerisch-schwäbischen „Mental Map“ der Prinzregentenzeit, in: Carl A. Hoffmann/Rolf Kießling (Hg.): Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert, Konstanz 2007 (Forum Suevicum 7), S. 333–354. Steber, Martina: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime (Bürgertum Neue Folge, Bd. 9), Göttingen 2010. Steinthal, Fritz Leopold: Geschichte der Augsburger Juden im Mittelalter, Berlin 1911. Straus, Raphael: Regensburg and Augsburg, Philadelphia 1939. Toch, Michael: Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998, 2. Auflage 2003 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44). Treml, Manfred: Von der „Judenmission“ zur „Bürgerlichen Verbesserung“. Zur Vorgeschichte und Frühphase der Judenemanzipation in Bayern, in: Ders./Josef Kirmeier (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17/88), S. 247–265. Türke, Barbara: Anmerkungen zum Bürgerbegriff im Mittelalter. Das Beispiel christlicher und jüdischer Bürger der Reichsstadt Nördlingen im 15. Jahrhundert, in: Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg.): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main u. a., S. 135–154. Ullmann, Sabine: Kontakte und Konflikte zwischen Landjuden und Christen in Schwaben während des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts, in: Sybille Backmann/Hans-Jörg Künast/B. Ann Tlusty/Sabine Ullmann (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998 (Colloquia Augustana 6), S. 288–315. Ullmann, Sabine: Zwischen Fürstenhöfen und Gemeinde. Die jüdische Hoffaktorenfamilie Ulman in Pfersee während des 18 Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 90 (1998), S. 159–187. Ullmann, Sabine: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 151). Ullmann, Sabine: Sabbatmägde und Fronleichnam. Zu den religiösen Konflikten zwischen Christen und Juden in den schwäbischen Landgemeinden, in: Hartmut Lehmann/AnneCharlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 243–264. Ullmann, Sabine: Zwischen Pragmatismus und Ideologie – Entwicklungslinien der Judenpolitik des Schwäbischen Reichskreises, in: Wolfgang Wüst (Hg.): Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, Stuttgart 2000, S. 211–231. Wenninger, Markus: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Wien/Köln/Graz 1981 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 14).

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Auswahlbibliographie zur Geschichte der Juden in Schwaben

Wirsching, Andreas (Hg.): Nationalsozialismus in Bayerisch-Schwaben. Herrschaft – Verwaltung – Kultur, Ostfildern 2004 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens Bd. 9. Reihe 7 der Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsstelle Augsburg der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Wolf, Peter (Hg.): „Spuren“. Die jüdischen Schülerinnen und die Zeit des Nationalsozialismus an der Maria-Theresia-Schule Augsburg. Ein Bericht der Projektgruppe „Spurensuche“ des Maria-Theresia-Gymnasiums, Augsburg 2005. Wüst, Wolfgang: Die Judenpolitik der geistlichen Territorien Schwabens während der Frühen Neuzeit, in: Rolf Kießling (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches, Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2) S. 128–153.

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REGISTER Personenregister Aaron 35 f. Abraham 187 Albertus Magnus 201 Albrecht I. (König) 21, 37, 42 Albrecht II. 86, 88–91, 97 f. Albrecht Achilles (Markgraf) 32, 88 Albrecht von Rechberg 96 f. Alexander, Isaak 178 Anjous (Herrschergeschlecht) 22, 26 Aretin (Landrichter) 163 Aretin, Johann Christoph von 177, 179, 184 Arnold, Benno 229, 249 Auerbach, Philipp 280 f. Augustinus 77 Bach, Joseph 242 Bacharach, Joseph 158 Bachmann, Isaak 229 Baden, Markgrafen von 117 Baden-Hochberg, Wilhelm Markgraf von 144 Baer, Wolfram 67 Balfour, Arthur 292 Bellet (Tochter des R. Salomo) 95 Benedikt XIII. (Papst) 74 f. Ben-Gurion, David 272 Berndl, Heinrich 261 Bernheim, Hanna (geb. Bach) 246 Besserer, Bernhard 122 Bialik, Chaim Nachman 274 Binswanger, Julius 229 Bitterlin, Walther 102 Blanke, Max 266 f. Bohl (Oberbürgermeister) 242 Bonifant 43, 57 Bormann, Martin 255 Brandenburg-Ansbach (Herrscherlinie) 137 Brandt, Henry VII, 9, 295 Brenner, Michael VII, 2, 9 Buber, Martin 232, 245 Bühler, Sabine 230 Cöppel von Neresheim

190

Dann, Albert 228, 236 Dann, Gertrud 245, 289

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Dann, Lotte 243 Dann, Sophie 240 Demel, Walter 192 Dessauer, Bertha (geb. Heymann) Dohm, Christian Wilhelm 178 f. Dreifuß, Ludwig 239, 288 Dürrwanger, Louis 218

248

Einstein, Gustav 242 Englaender, Hedwig 248 Englaender, Paul 248 Fabian, Julius 239 Fabri, Felix (Dominikanermönch) 93 f. Fassl, Peter VII Feifelein (Sohn des Jäcklin) 111 Ferdinand (König) 25 f. Ferdinand I. (Kaiser) 122 f. Ferdinand II. (Erzherzog) 124 Filser, Karl 181 Fischel, Erna 275 Frank, Christian 222 Franklin, Abraham 190 Freyberg, Herren von 120 Friedmann, Fritz 242 Friedmann, Ludwig 236, 248 f. Friedmann, Selma 248 Friedrich I. (Herzog) 120 Friedrich I. (Kaiser), Barbarossa 14, 18 Friedrich II. (Kaiser) 11, 16, 18 f., 24, 27, 32 Friedrich III. (Kaiser) 88, 91 Fugger (Familie) 6, 125 Fugger, Anton 124 Fuhrmann, Rosi 153 Ganser 57 Gebele, Eduard 8, 219 Gienger, Damian 119 Gompeter 187 Goppel, Alfons 293 Grabherr, Eva 198 Graus, František 99 Gregor IX. (Papst) 15 f. Grinberg, Salman 271 f. Gringauz, Samuel 272 Groß, Heinrich 201, 228, 231 Grünfeld, Richard 206, 208 f., 212, 231 f.

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Register

Günzburg, Simon 122 f., 131 Guggenheim, Yacov 21 Guggenheimer, Anna 248 Guggenheimer, Aron 171 Guggenheimer, Julius 248 Gunzenhauser, Isaak Hirsch 167 Gutmann, Leo 290 Habsburger (Herrschergeschlecht) 6, 97, 115 ff., 121 Halbinger, Monika VII Hangenor, Stephan 87 f. Harrison, Earl G. 268 Haupt von Pappenheim (Reichserbmarschall) 79, 88, 90 Haverkamp, Alfred 2 f., 99 Hecht, Hans 275 f. Heilbronner, Liebermann 158 Heinrich (Schreiber) 84 Heinrich IV. (Kaiser) 18 Heinrich VII. 44 Heinrich der Zwainkirchner 42 Helfenstein, Grafen von 99–102 Henle 143 Henle, Elkan 179 Herz (Brüder) 242 Herz, Leo 238 Herz, Simon 238 Herzl, Theodor 292 Heymann, Clementine 248 Heymann, Ida 248 Heymann, Otto 245 Heymont, Irving 268, 272, 279, 282 Heyum 187 Hipper, Richard 218 f. Hirschfeld, Jakob Heinrich 227, 231 Hitler, Adolf 263, 275, 285 Hoffmann, Richard 59 Hohenzollern, Grafen von 118 Hohner, Heinz 240 Holenstein, André 154 Horn, Karolina 159 Hutzelmann, Barbara 2, 9 Innozenz III. (Papst) 15 Isaak (Sohn des Jäcklin) 111 Isaak (Sohn des Lamb) 44 Isaak zu Günzburg (Rabbiner) Isenmann, Eberhard 87

123 f.

Jacob, Anette (geb. Löwenberg) Jacob, Ernst 243 ff., 247 f. Jacob, Walter 245

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Jakob 57 Jakob (Sohn des Lamb) 44 Jakob Andreae 120 Jakob bar Juda, genannt Jäcklin Jakob Brun 84 Jörg, Christian 2, 4 Johann von Ergirsheim 84 Josef bar Mose 95, 113 Josel von Rosheim 128 Joseph II. (Kaiser) 178 Joseph von Kaufbeuren 52 Judas (Sohn des Samuel) 53 Jüdlin von Augsburg 55 Jütte, Robert 76

109–113

Kadish, George (Zvi) 271 Kahn, Isidor 205, 213, 221 f. Kaltenbrunner, Ernst 266 Karl I. (König) 34 Karl II. (König) 21 Karl IV. (König) 33, 38, 84, 96 f., 100 f., 110 Karl V. (Kaiser) 122, 128 Karl VI. (König) 21 Karolinger (Herrschergeschlecht) 18 Katzenellenbogen, Pinkas Jakob 167 Kießling, Rolf 2, 7 Klausner, Abraham 270 Klemann, Curt 281 Knöringen, Freiherren von 188 Köpflin 43, 57 Kohn, Ignaz 227 Kohn, Leopold 227 Konrad der Seffler 102, 104 Konrad von Weinsberg 82, 86 f., 90 f. Krafft (Patrizierfamilie) 102 Krafft (Sohn von Lutz Krafft) 102, 104 Krafft am Kornmarkt (Bruder von Lutz Krafft) 102 Krafft, Lutz 102, 104 Kratzer 43 Kümin, Beat 153 Labby, Eva 244 Lamb 36, 43 f., 55 Lamfromm, Bernhard 244 Lamm, Louis 201, 207 f., 213 Lammfromm, Israel 206 f., 212, 216 Landau, Ernest 292 Landauer (Rabbiner) 173 Landauer, Fritz 232 Landauer, Heinrich 229 Landauer, Julius 238 Landauer, Moses Samuel 230

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Personenregister Lang (Brüder) 55 Lang, Stefan 2, 5, 186, 189 Lazarus, Moritz 231 Lazarus (Vater von Simon Günzburg) 122 Lechsberger 51 Ledermann, Richard 205, 212, 215 Lessing, Gotthold Ephraim 178 Levi (Familie) 198 Levi, Simon Jacob 198 Levy, Fritz 245 Liffgens, Emil 249 Lömpel, Heinrich 232 Ludwig der Bayer 31 f., 38, 44, 81, 96 Ludwig II. von Oberbayern 55 Lukas Osiander d. Ä. 120 Luna, Pedro de 74 Lustig-Prean, Karl 236 Luxemburger (Herrschergeschlecht) 31 Maier, Gregor 2, 4 Manasses, Herz Löw 148 f. Martin (König) 25 Mauschi 187 Max IV. Joseph (Kurfürst) 177 f. Maximilian I. (König) 88, 128 Maximilian II. (Kaiser) 124 Mazo, Alexander 9, 295 Meir von Rothenburg 45 Mendelssohn, Moses 178, 198 Meyer 111 Meyerle, Jacob 147 f., 150 f. Michel (Landtagsabgeordneter) 277 Miedel, Julius 201, 205, 207, 209, 212, 214–217 Minne (Tochter des Samuel) 53 Moisele 143 Montgelas, Maximilian Graf von 175–179, 191, 193 Mordstein, Johannes 2, 6, 185 Moses 15 Moses da Bonavoglia 23 Mosse (Sohn des Lamb) 43 Müller, Ludwig 201, 204, 209, 212, 215 ff., 290 Müller-Hahl (Landrat) 282 Mütschele, Sabine 67, 77 Neuburger, Gabriel Leo 168 Neumark, Robert 239 Niederbayern, Stephan Herzog von Nikolaus von Kues 79 Nördlinger, Julius 239 Nübling, Eugen 215

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Obermayer (Familie) 230 Obermayer, Carl von 229 Obermayer, Jakob 198, 226 Oberthür, Franz 175, 179 Oettingen, Albrecht Ernst I. Graf von 194 Oettingen, Grafen von 96 f., 103, 117, 144, 150 Oettingen (Herrscherlinie) 137 Oettingen-Baldern (Herrrscherlinie) 136 f. Oettingen-Baldern, Isabella Eleonore Gräfin von 144 Oettingen-Oettingen (Herrscherlinie) 136, 145, 185 Oettingen-Spielberg, Franz Albrecht Graf von 133, 140 ff. Oettingen-Spielberg (Herrscherlinie) 136 f., 145, 147 f., 152 Oettingen-Spielberg, Johann Franz Graf von 144 Oettingen-Wallerstein, Anton Karl Graf von 185 Oettingen-Wallerstein, Ernst II. Graf von 144 Oettingen-Wallerstein (Herrscherlinie) 136, 145, 148, 185 Oettingen-Wallerstein, Johann Friedrich Graf von 145 f., 148 f. Olejski, Jakob 273 Oppenheimer, Samuel 197 Ostertag, Benno 291 Otto III. (Kaiser) 14, 56 Pelman, Abraham 281 Pfalz-Neuburg, Philipp Wilhelm Herzog von 144 Philipp der Schöne (König) 21 Pickert, Bernhard 275 f. Piechler, Arthur 242 Pilgrim, Hubertus von 284 Polatschek, Emanuel 235, 237 Port, Friedrich 240 Portner (Familie) 42 Portner, Heinrich d. Ä. 42 Potzner, Heinrich 51, 56 Pressel, Friedrich 103 Purin, Bernhard 189 Raiser, Nepomuk von 181, 183, 193 Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak) Reiner, Jakob 124 Reuchlin, Johannes 118, 128 Ried, Claudia 2, 7 Rieser, Leopold 241

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Register

Römer, Gernot VII Rohrbacher, Stefan 122 Rose, Hermann 205 f., 209, 215 f., 221 ff. Rosenberg, Paul 239 Rosenbusch, Alfred 248 Rosenbusch, Salomon 229 Rosenthal, Avram 271 Rosenthal, Emanuel 271 Rost, Hans 235 Rot, Ulrich 102 Rottenkolber, Josef 219 Rudolf (landesfürstlicher Richter) 57 Rudolf (König) 41 Rudolf II. (Kaiser) 126 Ruprecht (König) 82

Stern, Moritz 211 Stolzhirsch (Familie) 37, 42 Stolzhirsch, Lepold 42 Stolzhirsch, Siboto d. J. 42 Straßburger (Bankiersfamilie) Strauss, Berthold 290 Strauß, Eugen 236, 249 Suter 43

Sänger, Jonas 167 ff. Sahler (Kanzler) 148 Salomon 178 Samuel (Weinschenk) 52 f. Scheindling, Heinrich Joshua 292 Schilling, Lothar 154 Schimmelpfennig, Bernhard 67 Schlick, Kaspar 65 Schönhagen, Benigna VII, 3, 8, 294 Scholl, Christian 2, 4 Schotten, Nathan 122 f., 131 Schreiber, Friedrich 283 Schudt, Johann Jacob 118 Schwarz, Hugo 290 Schwarz, Stefan 175, 184 Schwarz, Traiteur 227 Segal, Isaak 123 Seiller, Edward 276 f. Seligmann 113 Seligsberg, Marx Hayum 171, 173 f. Seltzlin, David 116 Sigismund (König/Kaiser) 63–66, 69, 76, 79, 82 f., 85–89, 92, 124 Simon von Schwabach 122 Sinz, Heinrich 205, 207, 212, 216, 218, 220 f. Sonn, Moses 205, 209 Spokojny, Julius 290, 293 f. Sprinz (Frau des Schulmeisters) 43, 58 Staufer (Herrschergeschlecht) 26, 115 Steber, Martina 2, 7 Stein, Marquard Freiherr von 160 Steinfeld, Hugo 229 Steinthal, Fritz Leopold 211

Ulma-Günzburg (Familie) 126, 131, 197 Ullmann (Familie) 197 Ullmann, Henle Ephraim 198 Ullmann, Sabine 187

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198

Thoma (Oberbürgermeister) 278, 281 Thomas von Aquin 15, 32 Thumb, Herren von 120 Treml, Manfred 176 Trude (Frau des Samuel) 53 Truman, Harry S. 268

Vincenz, Ferrer 75 Visconti, Filippo Maria (Herzog)

64

Wainer, Shraga 271 Weil, Erna 243 Weis, Eberhard 175 Welsberg, Johann Nepomuk Graf von 179 Wenzel (König) 4, 32, 38, 81, 83 ff., 93, 111 ff., 117 Werdenberg, Grafen von 110 f. Werdenberg, Heinrich Graf von 110 Westheimer (Bankiersfamilie) 198 Wiedemann, Friedrich 259 Wiesemann, Falk 170 Winkelmeyer, Paul 280 Wirsching, Andreas 2, 8 Wölflin 50 Würgler, Andreas 153 Württemberg, Christoph Herzog von 130 Württemberg, Eberhard II. Graf von 110 Württemberg, Eberhard I. Graf von (Beiname „im Bart“) 117 Württemberg, Grafen von 115, 117 Württemberg, Ulrich Herzog von 120 Yuval, Israel J.

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Zöllner, Kläre (geb. Rosenthal)

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Ortsregister

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Ortsregister Aachen 37, 83 Aach im Hegau 118 f., 128 Agrigent 34 Aichelberg 120 Aislingen 97 Albeck 180 Allach 269 Allgäu 1, 219 Altbayern VII, 2 Altenstadt 159, 162, 169, 205, 212, 215, 221, 223, 227, 236, 252, 259 Altes Reich 1, 116, 120 f., 136, 140, 185, 195, 199 Altwürttemberg 116 Amerika 7, 244 Ancona 28 Asbach-Bäumenheim 252 Aufhausen 137 Augsburg VII, VIII, 3–6, 8 f., 11, 16–18, 35–38, 41, 45 f., 48–50, 52–55, 60 f., 64–67, 73, 75, 77 ff., 85 f., 88, 91 f., 102 f., 117, 130, 135, 168, 173, 194, 197, 209–212, 218 f., 225–229, 231, 234 ff., 238, 240–244, 246 f., 249, 252, 259, 287–295 Augsburg-Messerschmidt 252 Auschwitz 248 f., 264 f., 284 ff. Bach bei Ulm 119 Baden 1, 116, 175 Bad Wörishofen 252 Baisingen 121 Baldern 136, 151 Baltikum 69 Basel 68, 74 f., 86 ff. Bayerisch-Schwaben VIII, 1., 7 ff., 135, 160, 162, 201–204, 208 ff., 212–215, 219, 221 ff., 251, 287, 296 Bayern VII, 1, 7, 53, 62, 155 f., 159 f., 170, 174–179, 181, 183, 191, 193, 213, 216, 225 ff., 230, 243, 251 f., 255, 272, 290, 292 ff. Bayreuth 288 f. Beihingen 119 f. Bergen-Belsen 265 Bergheim 244 Berlin 208, 240, 291, 294 Bingen 125 Binswangen 157, 162, 167, 181, 187 f., 196, 205, 236, 252 Blaubeuren 117 Böhmen 19, 88 f.

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Böhmisch-Bayerischer Wald 22 Bopfingen 97 Breslau 66, 231 Buchau am Federsee 121, 128 Buchenwald 290 Bückeburg 258 Bühl 119 Burgau (Markgrafschaft/Stadt) 5, 118–124, 126, 131, 182, 185, 187, 189 f., 194, 199 Buttenhausen 121 Buttenwiesen 159, 162 f., 165, 167 ff., 171, 181, 187, 201, 205, 207, 212, 252, 259 Cannstatt 117 Cremona 14 Dachau 238 f., 241, 247, 264 f., 267, 269 f., 283, 286 Deggingen 259 Deutsches Königreich 18 Deutsches Reich 27, 34 Deutschland VII f., 9, 62, 156, 204, 211, 225, 228, 235, 239, 242 f., 249, 251, 253, 256, 258, 260–264, 274, 276, 278, 287, 289–295 Deutz 97 Dillingen 180 Donauwörth 3, 117 Durach bei Kempten 252 Eger 66 Ehingen 96 f. Eichstätt VII Eifel 95 Elchingen 180 Elsass 31, 178 England 16, 21, 293 Erfurt 254 Erlangen 218 Esslingen 42, 119 f., 122, 126, 128 Europa 69, 264, 267, 269, 286 Europa (westlicher Teil) 17, 21 Europa (Südosten) 69 Fellheim 157–160, 162, 165, 171, 173, 181, 227, 236, 252 Ferrara 27 Fischach 5, 163, 173, 194, 244, 252 Föhrenwald 274 Franken VII, 5, 7, 21, 31, 112, 125 f., 175, 191

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Register

Frankfurt 80, 118, 125, 127, 131, 137, 189, 267, 294 Frankreich 16, 21, 26, 57, 77, 178, 239, 293 Freudental 121 Friedberg 125 Fünfkirchen 227 Fürth 137, 294 Fulda 16, 125 Geislingen 119, 180 Giengen 117 Göppingen 117 Graisbach 97 Gravina 34 Griechenland 269 Großbritannien 249 Großeislingen 119 Großpolen 19 Günzburg 118 f., 122, 125, 130, 180, 189 Gundelfingen 97 Haigerloch 118 f. Hainsfarth 145, 152, 167, 252 Halle 231 Harburg 97, 138, 145, 159, 194, 252 Hechingen 118 f., 127 f., 189 Heilbronn 66, 83 f., 116 f. Herrlingen 119 Hohenberg (Herrschaft) 118, 120, 126 Hohenems 189, 198 Hohenrechberg (Herrschaft) 120 Hohenzollern 116 Horb 118, 121 Hürben 157, 164, 196, 205, 220, 230 Hurlach 276 Iberische Halbinsel 20, 25, 69, 72, 75, 92 Ichenhausen VIII, 5, 119, 121, 159 f., 180, 196, 205, 212, 216, 220, 252 Illertissen 180 Ingolstadt VII Innsbruck 123, 128, 190 Irland 69 Israel/Heiliges Land 9, 16, 270, 274, 289– 292, 294 Italien 2 f., 12, 19, 21, 54, 64, 70, 76 f., 85, 118 Jebenhausen

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Kärnten 56 Kaufbeuren 3, 205, 214 f., 222, 252 Kaufering 264, 267, 269, 276, 282–286

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Kempten 3, 236, 252 Kirchheim 117 Kleinerdlingen 137, 152 Köln 66 Konstanz 68 f., 74 f., 109, 111, 117 Kovno (Kaunas) 271 Kraichgau 5 Kriegshaber 171, 218, 226 ff., 234, 249, 252, 259 Krumbach 158, 163, 220, 252 Landsberg am Lech 2, 9, 37, 263 f., 267– 278, 280–286, 289 Langenargen 119 Lauda 16 Lauingen 36, 212, 252 Laupheim 121 Lechfeld 277 Lechrain 2 Leipheim 118 f. Leitmeritz 265 Lindau 3, 117, 252 Litauen 19, 264 Lucca 64 Ludwigsburg 121 Mähren 19 Mailand 14, 63 ff. Mainz 66, 84, 86, 95, 125 Mantua 124 Mark Brandenburg 84 Mauerstetten-Steinholz 252 Meersburg 119 Meißen 19 Memmingen 3, 97, 130, 165, 201, 209, 212, 216, 236, 252, 260 f., 288 Mertingen 259 Messina 22 ff. Mitteleuropa 12, 39, 231 Mittelitalien 3, 11 f., 22, 26–30, 39, 79, 92 Mittelrhein 31 Mittelmeerraum 11, 29 Mönchsdeggingen 138, 145, 252 Mönchsroth 137, 152 Mühringen 121 München VII, 53, 176, 231, 260 f., 270, 274, 289, 292, 294 Neapel 34 Neresheim 151 Neuburg an der Donau 201, 210, 218, 239 Neuburg-Sulzbach 177 Neu-Ulm 252, 289, 293

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Ortsregister Niederlande 54 Nördliches Afrika 23 Nördlingen 3, 98, 103, 109, 111, 117, 127, 201, 212, 216, 252 Nordamerika 159, 161, 229 Norditalien 3, 11 f., 22, 26–30, 39, 112 Nordstetten 121 Nürnberg 32, 61, 83, 88, 97, 103, 109, 111, 231, 292 Oberdonaukreis 167–174, 181 Oberdorf 185 Oberitalien 16, 28, 64, 69, 79, 81, 92 Oberlangenau 111 Obernau 119 Oberpfalz VII, 177 Oberschwaben 1, 2, 5, 99, 116 f. Österreich 19 Oettingen (Grafschaft/Residenzstadt) 57, 118, 133–138, 140, 142, 145, 147, 149, 151 f., 154, 167, 185, 190, 194, 199, 252 Orsenhausen 119, 121, 124 Osterberg 121, 124, 252, 259 Osteuropa 225, 230, 267, 269, 274, 289 Ostschwaben 1, 121 Ostwürttemberg 116 Padua 23 Palästina 236, 243, 247, 270, 273 f. Palermo 23 f. Pamplona 75 Parma 64 Pfaffenhofen an der Ilm 50 Pfalz-Zweibrücken 178 Pfersee 187 ff., 194, 197, 227 Pflaumloch 136, 185 Polen 9, 246, 264, 270, 290, 296 Prag 126, 137 Preußen 175, 255 Prutz 57 Rain 97 Rattenberg 55 Ravensburg 67, 117 Reichsitalien 26 Regensburg 40, 62, 88 Regnum Alemannie 16, 19, 21, 39 f. Reutlingen 117 Rexingen 121 Ries 1, 125, 135 f., 148, 189, 201 Römisch-Deutsches Reich 11, 20, 34, 40, 184

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Roggenburg 180 Rom 22, 26 Rothenburg ob der Tauber 103, 109 Rottenburg 118 Rottweil 116, 127–130, 186 Russland 9 Saar-Mosel-Raum 5 Sardinien 26 Savoyen 54 Schaffhausen 77 Schelklingen 96 f. Scheyern 50 Schlesien 19 Schlipsheim 227 Schnaittach 125 Schopfloch 137 Schwaben VII f., 1 ff., 5–9, 21, 31, 90, 99, 112–119, 121–127, 129–131, 136, 148, 156, 160 f., 166, 174 ff., 180 ff., 184, 189, 191, 193, 197 f., 201–204, 208 ff., 212–215, 217 ff., 221 ff., 228, 236, 239, 251 ff., 258 f., 264, 287, 289, 292 ff. Schwabhausen 267, 281 Schwäbisch Gmünd 117 Schwäbisch Hall 116 Schwäbisch Österreich 116, 124, 130 f. Schwarzwald 1 f., 116 Schweiz 242 Seesen 231 Seestall 252 Siena 64 Sizilien 2 f., 12, 20, 22 f., 25 f., 29 f., 34, 39 f., 61, 72 Söflingen 180 Sowjetunion 9, 270, 287, 294 ff. Spanien 16, 25 f. Speyer 18, 38, 103 Steinhart 252 Steppach 227 Stetten im Remstal 119 f., 128 Straßburg 95, 102, 109, 205 Stuttgart 117, 121, 289, 291, 293 Süddeutschland 227, 235 Süditalien 3, 12, 21 f., 26, 29 f., 34, 39 f. Südosteuropa 9 Südwestdeutschland 116, 118 Sulz 189 Syrakus 24 Taschkent 295 Tauberbischofsheim 16 Thannhausen 119, 189, 205, 212, 221

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Register

Theresienstadt 248, 288 Tirol 54, 57, 179 Tortosa 74 Trani 34 Traun/Donau 22 Treviso 29 Trient 179 Trier 32, 59 Tübingen 117 Türkheim 252, 281 Überlingen 117 Ulm 3f, 86, 94–104, 107, 109–113, 116 f., 119, 122, 130, 180, 215, 289 Ungarn 19, 88 f., 264 Unteritalien 34 Unterlangenau 111 USA 247, 272, 289 Utting 281 Venedig 29, 77 Vorderösterreich

187 f.

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Wallerstein /Oettingen-Wallerstein ([Teil]grafschaft) 125, 136, 143 f., 147, 185, 190, 252 Wankheim 121 Weingarten 130 Weißenburg 98 Wertingen 162 f., 181, 196 Westeuropa 267 Wien 66, 89, 123, 126, 144, 148, 231, 292 Wiesbaden 291 Wildberg 117 Windsheim 98 Wolfratshausen 274 Worms 14, 18, 86, 118, 123, 125, 131, 137, 189 Würmtal 267 Württemberg (Königreich/Herzogtum) 1, 116 f., 119 ff., 130, 175, 287 Würzburg 61 Zimmern 150 Zürich 66, 109 Zusmarshausen 162 f.

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VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Dr. Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Alfred Haverkamp, Professor em. für mittelalterliche Geschichte der Universität Trier und Direktor des Arye Maimon-Instituts Barbara Hutzelmann, Doktorandin zum Thema „Die jüdischen Kinder in der Ersten Slowakischen Republik 1938–1945“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Christian Jörg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier im Projekt „Verbindungen und Ausgrenzungen zwischen Christen und Juden zur Zeit der Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts“ innerhalb des SPP 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ Dr. Rolf Kießling, Professor em. für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg Dr. Stefan Lang, Projektmitarbeiter am Stadtarchiv Ulm Gregor Maier, Studienreferendar in München und freie Mitarbeit am Projekt „Corpus der Quellen zur mittelalterlichen Geschichte der Juden“ der Universität Trier Dr. Johannes Mordstein, Gemeindearchivar Buttenwiesen. Claudia Ried, Doktorandin zum Thema „Schwäbische Landjudengemeinden im 19. Jahrhundert“ an der Universität Augsburg Dr. Benigna Schönhagen, Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums AugsburgSchwaben Christian Scholl, Doktorand zum Thema „Geschichte der Juden in der Reichsstadt Ulm während des späten Mittelalters“ an der Universität Trier Dr. Martina Steber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am German Historical Institute London Dr. Sabine Ullmann, Professorin für Landesgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-MaximiliansUniversität München

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