Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft: Eine phänomenologische Besinnung [1 ed.] 3110079623, 9783110079623

Frontmatter -- Vorbemerkungen -- Inhaltsübersicht -- Einleitung -- Teil 1. Der Anfang von Philosophie und Wissenschaft a

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Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft: Eine phänomenologische Besinnung [1 ed.]
 3110079623, 9783110079623

Table of contents :
Klaus Held Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft
Vorbemerkungen
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Teil Der Anfang von Philosophie und Wissenschaft alsjjegenstand unseres Interesses
II . Teil: Heraklit. Die Selbstunterscheidung des beginnenden Denkensvom vorphilosophischen Leben
III . Teil: Parmenides. Die Vorbereitung der Metaphysik

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Klaus Held Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft

Klaus Held

Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft Eine phänomenologische Besinnung

w G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1980

CIP-Kurztitelaufnabme

der Deutschen Bibliothek

Held, Klaus: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft : e. phänomenolog. Besinnung / Klaus Held. — Berlin, New York : de Gruyter, 1980. ISBN 3-11-007962-3

© 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drude: Walter Pieper, Würzburg Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Meinen Eltern und meiner Tante Maria Held in Dankbarkeit

Vorbemerkungen Die drei Teile dieses Buches ergänzen sich wechselseitig und sind durch Verweise und innere Zusammenhänge aufeinander bezogen. Trotzdem besitzen sie eine gewisse Selbständigkeit und lassen sich auch in einer anderen Reihenfolge als der hier vorgesehenen lesen. Das Kernstück der Untersuchungen bildet der II. Teil, die leicht überarbeitete und ergänzte Abhandlung über Heraklit, die unter dem Titel „Heraklit. Die Selbstunterscheidung des beginnenden Denkens vom vorphilosophischen Leben" im Jahre 1969 von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln als Habilitationsschrift angenommen wurde. Abgesehen von dem Aufsatz „Der Logos-Gedanke des Heraklit" (in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970), der einige Stücke vor allem aus den Abschnitten C und Ε des ersten Kapitels enthält, habe ich mit der Veröffentlichung der Abhandlung bis heute gewartet, nicht weil mir ihre Ergebnisse zweifelhaft geworden wären, sondern deshalb, weil die Untersuchung von vornherein in den Zusammenhang eines umfassenderen Versuchs gehörte, der ursprünglichen Idee von Philosophie auf die Spur zu kommen, und weil es mir geboten schien, mir selbst und dem Leser über den Sinn und die Tragweite des neuartigen Ansatzes dieser Untersuchung und ihrer Ergebnisse in wünschenswerter Klarheit Rechenschaft abzulegen. Das vorläufige Resultat dieser Bemühung ist einerseits der I. Teil, in dem ich im Rahmen eines Versuchs, phänomenologisch orientiertes Denken kritisch in Richtung auf eine historisch-genetische Phänomenologie zu erneuern, den methodischen und philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Horizont meiner Interpretation des Anfangs von Philosophie und Wissenschaft entwickle. Das andere Resultat jener Bemühung ist die Parmenides-Interpretation des I I I . Teils. Sie ist einerseits als eine Probe auf die in der Heraklit-Auslegung gewonnene Sicht der „Vorsokratik" gedacht, und sie soll andererseits verdeutlichen, wie sich in der von Heraklit und Parmenides reflektierten Ausgangslage des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens überhaupt die weitere Entwicklung dieses Denkens bis heute vorbereitet.

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Vorbemerkungen

Um den Umfang dieses Buches auf das Maß dessen, was mir unbedingt notwendig erschien, zu beschränken und seine Veröffentlichung nicht noch weiter zu verzögern, mußte ich im Parmenides-Teil die explizite Auseinandersetzung mit der umfangreichen philologischen und philosophischen Sekundärliteratur, die ich — wie der Kenner audi so leicht bemerken wird — stets zu Rate gezogen habe, auf einige neuere Arbeiten beschränken und konnte hier auch nur den einen oder anderen mir besonders wichtig erscheinenden Punkt herausheben. Wie ich mir eine eingehendere Auseinandersetzung insbesondere mit der philologischen Forschung, die bei der Aufhellung des frühgriechischen Denkens in diesem Jahrhundert Ergebnisse von hoher philosophischer Bedeutung gezeitigt hat, vorstelle, kann der Leser dem Heraklit-Teil des Buches entnehmen 1 . Zur Schreibung des Griechischen sei bemerkt, daß alle unentbehrlichen griechischen Begriffe und Wendungen im Haupttext mit Rücksicht auf den rapiden (wenn auch höchst beklagenswerten) Rückgang der Griechischkenntnisse selbst unter den philosophisch Interessierten in unsere Schrift transkribiert sind; bei der letztlich systematischen Absicht dieser Untersuchungen soll ihre Lektüre nicht an fehlenden Sprachkenntnissen scheitern. Wuppertal, im Februar 1980

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Klaus Held

Martin Heideggers Vorlesungen über Heraklit (Heidegger-Gesamtausgabe Bd. 55, Frankfurt a. M. 1979) erschienen erst während der Drucklegung dieses Buches. Ebenso wurden mir die neueren philologischen Analysen von D. Holwerda (Sprünge in die Tiefen Heraklits, Groningen 1978) und die interessante Untersuchung von Jörg Jantzen, Parmenides zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit (Zetemata 63, München 1976), erst nach Abfassung meines Textes bekannt. Die zuletzt genannte Abhandlung versucht, sprachanalytische Ansätze für die Parmenides-Auslegung fruchtbar zu machen. Warum ich einen sprachanalytischen Zugang zu Parmenides, Heraklit und den übrigen Vorsokratikern von der bei ihnen zur Verhandlung stehenden Sache her für inadäquat halte, mag der Leser meinen Ausführungen zu Tugendhat S. 496 ff. in Verbindung mit S. 80 ff. u. 211 ff. entnehmen.

Inhaltsübersicht Vorbemerkungen Einleitung I. Teil: Der Anfang von Philosophie und Wissenschaft als Gegenstand unseres Interesses . 1. Kapitel: Das philosophische Interesse an der Philosophiegeschichte 2. Kapitel: Das philosophische Interesse an der Wissenschaftsgeschichte 3. Kapitel: Das Interesse an der Vorsokratik 4. Kapitel: Das Interesse an Heraklit I I . Teil: Heraklit. Die Selbstunterscheidung des beginnenden Denkens vom vorphilosophischen Leben 1. Kapitel: Der Aufriß des heraklitischen Denkens . . . . 2. Kapitel: Die Urgestalten von Ansicht und der Doppelsinn der heraklitischen Gegensätze 3. Kapitel: Umschlagen und Identität . 4. Kapitel: Versuch einer lebensweltlichen Interpretation der heraklitischen „Kosmologie" 5. Kapitel: Die Theologie

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I I I . Teil: Parmenides. Die Vorbereitung der Metaphysik . . 1. Kapitel: Einleitung 2. Kapitel: Die allgemein-menschliche Grundüberzeugung . 3. Kapitel: Die Widerlegung der allgemein-menschlichen Grundüberzeugung 4. Kapitel: Die Explikation des Seinsgedankens 5. Kapitel: Die Erklärung der Doxa

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Bibliographie

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Register

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Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen Einleitung

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I . Teil: Der Anfang von Philosophie und Wissenschaft als Gegenstand unseres Interesses 1. Kapitel: Das philosophische Interesse an der Philosophiegeschichte 2. Kapitel: Das philosophische Interesse an der Wissenschaftsgeschichte A. Transzendentalphilosophie und objektive Wissenschaft . B. Die transzendentale Reflexion auf die Gegebenheitsweisen C. Wissenschaftsgeschichte und Lebenswelt 3. Kapitel: Das Interesse an der Vorsokratik A. Der Beginn des Denkens als vortranszendentale Thematisierung der Lebenswelt und Kritik des vorphilosophischen Lebens B. Die vortranszendentale Thematisierung des Erscheinens von Welt in der milesischen „Naturphilosophie" . . . C. Zur philosophischen und philologischen Beurteilung des anfänglichen Denkens 4. Kapitel: Das Interesse an Heraklit

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I I . Teil: Heraklit. Die Selbstunterscheidung des beginnenden Denkens vom vorphilosophischen Leben 1. Kapitel: Der Aufriß des heraklitischen Denkens . . . . A. Einleitung: Der Ansatz der Interpretation B. Der Unterschied von Einsicht und Ansicht C. Das Auseinandergehen von Ansichten D. Die Einsicht in den Zusammenhang der Ansichten . E. Der Logos-Gedanke F. Weiterführende Probleme

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Inhaltsverzeichnis

1. Die Äquivozität heraklitischer Grundbegriffe . . . 2. Notwendigkeit eines Rüdegangs auf die vorprädikative Gestalt von Ansicht 2. Kapitel: Die Urgestalten von Ansicht und der Doppelsinn der heraklitischen Gegensätze A. Die vorprädikativen Urgestalten von Ansicht . . . . 1. Rückgang auf die vorprädikative Verfassung der Ansicht 2. Das prädikative und das vorprädikative Zusammen der Ansichten 3. Der Wechsel der Ansichten und die Vergeßlichkeit der Vielen B. Einsichtsvolle und ansichtshafte Lebensführung . 1. Leben als Erneuerung und Sterben 2. Leben als Erfüllung und Hunger 3. Wiederaufnahme der Doppelsinn-Problematik . . . C. Wachen und Schlafen. Leben und Tod 1. Wachen und Schlafen 2. Wachen und Schlafen (Fortsetzung) 3. Schlaf und Tod 4. Sehen, Wachen, Schlaf und Tod D. Das Verhältnis von Sicht und Nicht-Sicht 3. Kapitel: Umschlagen und Identität . A. Interpretatorische Vorbereitung 1. Leben-Tod, Wachen-Schlafen, Jugend-Alter als Zustände 2. Der Wechsel der Zustände 3. Der Wechsel der Zustände (Fortsetzung) . . . . 4. Die Regelung des Wechsels B. Systematische Problematik des Umschlagens . . . . 1. Analyse des Umschlagens 2. Der Doppelsinn von „Umschlagen" 3. Identität und Unterschied 4. Umschlagen und Zeit 5. Das heraklitische Zeitverständnis im Gleichnis . . . 6. Die Verblendung der Ansicht als Zeitcharakter . C. Aufriß der Verhältnisse von Einsicht und Ansichten . 4. Kapitel: Versuch einer lebensweltlichen Interpretation der heraklitischen „Kosmologie" A. Systematische Grundlegung der lebensweltlichen Interpretation

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Inhaltsverzeichnis

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1. Ansatz und Notwendigkeit einer lebensweltlichen Interpretation 2. Die Qualitäten „kalt", „warm", „feucht", „trocken" in Fragment 126 3. Die lebensweltliche Motivation der Vierqualitätenlehre a. Die Einbettung der fundierenden Tastempfindungen in kinästhetisdie Hemmungserfahrungen . . b. Die Fundierung der Hemmungserfahrungen in der Selbsterfahrung des leiblich lebenden Ich . c. Differenzierung und Fundierungszusammenhang der taktuellen Kinästhesen d. Präzisierungen am phänomenalen Bestand der fundierenden Tastempfindungen 4. „Kälte", „Wärme", „Feuchtigkeit", „Trockenheit" als Grundweisen des Sidi-in-der-Welt-Befindens . 5. Die Identität der Zustände Wärme und Kälte mit den Urgestalten von Ansicht, Offenheit und Verschlossenheit 6. Die Zuordnung der vier Qualitäten und der drei heraklitisdien „Elemente" 7. Die lebensweltliche Motivation der drei „Elemente" . B. Darstellung der heraklischen „Kosmologie" im Lichte der lebensweltlichen Interpretation 1. Einsichtsvolle und ansichtshafte Kosmos-Erkenntnis . 2. Konkretisierung des Maß-Gedankens am Verhältnis der drei „Elemente" zueinander 3. Die Mehrdeutigkeit der „kosmologischen" Grundbegriffe 4. Gesamtfeuer und Himmelsfeuer 5. Die Seele als Feuer 5. Kapitel: Die Theologie A. Die theologische Wendung des Verhältnisdenkens . . . B. Göttliche und menschliche Einsicht C. Sterblichkeit und Unsterblichkeit D. Der eine Gott und die Götter der Menschen . . E . Die Wiederkehr der Doppelsinnproblematik in der Theologie I I I . Teil: Parmenides. Die Vorbereitung der Metaphysik 1. Kapitel: Einleitung

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Inhaltsverzeichnis

2. Kapitel: Die allgemein-menschliche Grundüberzeugung . . A. Die Erfahrung des Werdens B. Das Nichtsein in allgemein-menschlicher und philosophischer Sicht 3. Kapitel: Die Widerlegung der allgemein-menschlichen Grundüberzeugung 4. Kapitel: Die Explikation des Seinsgedankens A. Formulierung und Gehalt des Seinsgedankens . . . . B. Die Bestimmung des Seiend im Aletheia-Teil . . 1. Das erste Wegzeichen (B 8,5—21) 2. Das zweite Wegzeichen (B 8,22—25) 3. Das dritte Wegzeichen (B 8,26—30) 4. Das vierte Wegzeichen (B 8,31—49) a. Totalität und Räumlichkeit b. Die Versgruppe Β 8,34—41 5. Kapitel: Die Erklärung der Doxa A. Der Erklärungsansatz B. Der Aufbau der Doxa-Welt C. Doxa und Aletheia; die göttliche Verkündigung . . D. Die Erklärung der Doxa

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Bibliographie

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Register

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Namenverzeichnis Stellenverzeichnis Sachverzeichnis

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Einleitung In der Zerrissenheit der heutigen Philosophie spiegelt sich die tiefgreifende Sinnkrise unserer Zeit. Das philosophische Denken ist in eine Vielzahl von divergierenden Strömungen zerfallen, die einander zumeist gleichgültig, manchmal auch kämpferisch begegnen. Und doch läßt sich bei einer ganzen Reihe von Bemühungen eine Gemeinsamkeit feststellen: Der Aufriß der philosophischen Problematik wird jedesmal — bei unterschiedlicher systematischer Absicht — grundlegend durch ein Verhältnis bestimmt, für dessen Bezeichnung in beinahe jeder philosophischen Richtung ein bekanntes Begrifispaar zur Verfügung steht; es seien nur die geläufigsten genannt: logischwissenschaftliche und alltägliche Sprache, wissenschaftliche und hermeneutische Erfahrung, domestiziertes und „wildes" Denken, Theorie bzw. Ideologie und gesellschaftliche Praxis, reflexives und präreflexives Bewußtsein, transzendentale und natürliche Einstellung, phänomenologische Reflexion und Lebenswelt, metaphysisches und nachmetaphysisches Denken. Obwohl auf der Hand liegt, daß sich die genannten Verhältnisse nicht einfach inhaltlich decken, so wird man vielleicht doch sagen können, daß alle genannten Polaritäten insofern Varianten eines Grundverhältnisses darstellen, als sie auf vielfältige Weise die gleiche Situation zum Ausdruck bringen: Auf der einen Seite muß die Philosophie aufgrund ihrer Tradition und wegen ihrer zumindest institutionellen Zugehörigkeit zu den Wissenschaften gewissermaßen Partei ergreifen für eine Dimension, die sich durch Titel wie „Logik" , „wissenschaftliche Theorie" oder „Reflexion" umschreiben läßt; im Zusammenhang damit muß die Philosophie — und sie hat dies seit alters getan — sich als dasjenige Denken verstehen, das für sich das menschenmögliche Höchstmaß an Verbindlichkeit, Vorurteilslosigkeit und kritischem Bewußtsein in Anspruch nimmt. Auf der anderen Seite ist das philosophische Nachdenken seit etwa 200 Jahren in Konsequenz eben dieses Überlegenheitsanspruchs in eine radikale Krise geraten; die Krise hatte sich von langer Hand seit dem Nominalismus des Spätmittelalters, dann vor allem in Humes Skepsis und Kants kritischer Wendung vorbereitet; sie führte in der linkshegelianischen Selbstaufhebung von Theorie und in der lebensphilosophischen Selbstverdächtigung von Metaphysik zum entscheidenden Bruch mit

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Einleitung

der philosophischen Tradition; und sie durchläuft heute in verschiedenartigen Destruktionen überkommenen Denkens, wie sie Phänomenologie, Positivismus, Existenzphilosophie, Seinsdenken, Hermeneutik, Neomarxismus, Sprachanalytik und Strukturalismus vorgenommen haben und noch immer betreiben, ihre möglichen Spielarten. Gemeinsames Kennzeichen aller dieser Spielarten ist eine radikale Selbstkritik von Metaphysik, wissenschaftlicher Theoriebildung, Reflexion, logischem Denken und dergl. mehr, in der die Legitimität des eben erwähnten Anspruchs selbst von Grund auf in Frage gestellt wird. Alle Bemühungen, aus dieser Situation einen Ausweg zu finden, bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen einer Dimension, die sich bald als metaphysischer Traditionsbestand, bald als wissenschaftliche Theorie überhaupt, bald als transzendentale Reflexion, bald als logisches Denken darstellt, und einer Dimension auf der anderen Seite, die kritisch gegen die genannten und verwandte Instanzen ins Feld geführt wird. Diese Dimension tritt auf unter Titeln wie Leben, Lebenswelt, Existenz, Präreflexivität, Empfinden, Unmittelbarkeit, gesellschaftliche Praxis, hermeneutische Erfahrung, Alltagssprache und dergleichen mehr. Nennen wir die zunächst genannte Seite einmal in einer unvermeidlichen Vieldeutigkeit „das philosophisch-wissenschaftliche Denken", so läßt sich die zuletzt umschriebene Dimension als der Bereich charakterisieren, von dem sich jenes Denken traditionell unterscheidet und demgegenüber es auf vielfältige Weise den erwähnten Anspruch der Überlegenheit erhob. Sofern die genannten Krisenbewegungen versuchen, zu einem Neubeginn zu gelangen, beschreiten sie durchweg den Weg einer — wie auch immer angelegten — Besinnung auf die gerade charakterisierte, dem philosophisch-wissenschaftlichen Denken vorgelagerte Dimension, wobei diese Besinnung darauf abzielt, irgendwelche unverstandenen oder vergessenen Züge dieser Dimension ins Licht unserer Aufmerksamkeit zu rücken. Für unsere Krisensituation ist es nun charakteristisch, daß diese Besinnung weithin durch die Tendenz gekennzeichnet ist, dasjenige, was eben summarisch als „philosophisch-wissenschaftlidies Denken" bezeichnet wurde, in irgendeiner Hinsicht seiner beanspruchten Überlegenheit gegenüber der ihm vorgelagerten Dimension zu entkleiden oder es durch Zurücknahme in diese Dimension zu relativieren. Dem Denken in seinen verschiedenen Spielarten wird der Primat gegenüber dem, wovon es sich unterscheidet und worüber es sich zu erheben beansprucht, zugunsten des letzteren streitig gemacht. Versuche, gegen den Strom der Krise zu schwimmen, d. h. etwa Metaphysik oder transzendentale Reflexion zu erneuern oder in die Kraft der sich theoretisch distanzierenden oder logisch operierenden Vernunft ein

Einleitung

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neues Vertrauen zu setzen, stehen von vornherein im Verdacht der Naivität oder der Überheblichkeit eines unbelehrbaren Dogmatismus. Nennen wir den Ort des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens „die Vernunft", so können wir sagen, die Krisenbewegung durchzieht in diesem Sinne eine vernunftfeindliche Tendenz. In dieser Tendenz aber liegt ein altbekannter unschwer erkennbarer Widerspruch: Auch derjenige, der in irgendeiner und sei es noch so radikalen Form das Denken zugunsten dessen, wovon es sich unterscheidet, zu depotenzieren sucht, muß sich noch immer eben dieses Denkens bedienen. Jede Selbstkritik des Denkens, die darauf hinausläuft, diesem durch ein „neues Denken" seine Überlegenheit gegenüber der ihm vorgelagerten Dimension zu nehmen, hebt sich letztlich selbst auf. Einer einseitigen Besinnung auf eine dem Denken vorgelagerte Dimension, bei der das Denken das Faktum seiner eigenen Unaufgebbarkeit verdrängt, kann es darum nicht gelingen, das Denken aus seiner Krise herauszuführen. Soll die selbstkritische Besinnung wirklich radikal sein, so muß jenes Faktum mitbedacht werden. An dieser Konsequenz fehlt es aber weithin; man beschränkt sich auf Analysen der genannten Dimension, seien sie existenzphilosophisch, hermeneutisch, gesellschaftskritisch, sprachanalytisch, strukturalistisch oder wie immer angelegt, und leugnet explizit oder implizit die Unaufgebbarkeit eines überlegenen Denkens, die man zugleich durch das eigene Nachdenken über die besagte Dimension — mag man dies wollen oder nicht — bezeugt. Das Motiv für diese Einseitigkeit dürfte in einem tief verwurzelten Mißtrauen gegenüber der traditionell beanspruchten Überlegenheit des Denkens zu suchen sein, einem Mißtrauen, das vertieft wird durch unsere bitteren Erfahrungen mit der heutigen Weltsituation, in die uns der Siegeszug des wissenschaftlichen Denkens geführt hat. Man fürchtet, bei einer vorurteilslosen Anerkennung und einer entsprechenden Einbeziehimg jenes Überlegenheitsanspruchs in die Analyse einer dem Denken und seinem Überlegenheitsanspruch vorgeordneten Dimension in eine der dogmatischen Positionen des Denkens vor Ausbruch der Krise zurückzufallen und damit die schon gewonnenen Einsichten in die Dimension, die man der traditionellen Vergessenheit und Unbeachtetheit entrissen hat, wieder zu verschütten. Diese Furcht ist aber unberechtigt. Es ist nämlich möglich, den Gefahren des Dogmatismus, die das Eingeständnis einer wie auch immer gefaßten Überlegenheit des Denkens gegenüber jener ihm vorgelagerten Dimension zweifellos birgt, dadurch zu entgehen, daß man die Überlegenheitsposition des Denkens nicht naiv einnimmt, sondern gerade das Verhältnis des Denkens zu dem, worüber es sich durch Selbstunterscheidung erhebt, als Verhält-

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Einleitung

nis thematisiert. Bei einer solchen Besinnung auf das Verhältnis selbst, in dessen Spannungsfeld sich, wie eingangs festgestellt, das gegenwärtige Denken in so vielen seiner Spielarten ohnehin schon bewegt, braucht von den gewonnenen Einblicken in eine dem Denken gegenüber andere Dimension nichts verloren zu gehen. Im Gegenteil: so erst wird die Tragweite dieser Einblicke durch die Bestimmung ihres systematischen Stellenwertes ans Licht kommen, das heißt: so erst wird man ermessen können, was eigentlich aufs Ganze des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens gesehen mit all den unendlich subtilen und fleißigen Analysen der Alltagssprache, der hermeneutischen Erfahrung, der Phänomene der Lebenswelt und des „wilden Denkens", der verborgenen Mechanismen unseres außerwissenschaftlichen Bewußtseins oder unserer gesellschaftlichen Praxis gewonnen ist, — Analysen, bei denen sich doch wahrlich oft dem außerhalb der Philosophie stehenden Beobachter der Eindruck einer orientierungslos in sich selbst kreisenden Forschungsbetriebsamkeit aufdrängen muß. Kurz: was heute gefordert ist, ist ein konsequentes Verhältnis-Denken, d. h. ein Denken, welches sich weder narzistisch und scheinbar selbstgenügsam auf seine eigene anspruchsvolle Position zurückzieht, noch sich selbstmörderisch auf eine Dimension fixiert, durch die es in seinem Anspruch der Überlegenheit vermeintlich zunichte gemacht wird, welches sich auch nicht darauf beschränkt, beide genannten Seiten nachträglich zueinander in ein Verhältnis zu setzen, sondern welches dieses Verhältnis selbst zur Ausgangsund Grundproblematik erhebt und erst von ihr ausgehend eine neue Bestimmung der beiden genannten Seiten in Angriff nimmt. Ein solches Verhältnisdenken ist nun in der Philosophiegeschichte keineswegs etwas grundsätzlich Neues. Es liegt uns sogar noch beinahe unmittelbar geschichtlich gegenwärtig — und doch schon in merkwürdiger Weise vergessen — vor in der letzten Gestalt der klassischen philosophischen Tradition, in den großen Entwürfen des durch Kants transzendentale Wendung ermöglichten Idealismus, am ausgeprägtesten wohl in der „Phänomenologie des Geistes" von Hegel. Aber — so wird man einwerfen — gerade gegen diese geschichtliche Gestalt des Denkens richtet sich doch der stärkste Protest fast aller jener Krisenbewegungen in der Philosophie — und dies nicht zufällig; denn obwohl die dem Denken vorgegebene Dimension unter Titeln wie „natürliches Bewußtsein" erklärtermaßen ein Zentralthema aller transzendentalphilosophischen oder idealistischen Entwürfe bildet, so wird doch gerade sie, d. h. die Praxis, das Empfinden, die Alltagssprache, die Welt hermeneutischer Erfahrung, die Leiblichkeit, die Unmittelbarkeit, das Leben, kurz: das Außer- und Vorphilosophische und das Außer- und Vorwissen-

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schaftliche „in die Fußnote herabgesetzt", wie Feuerbach gesagt hat; gerade das scheint die tiefe Unaufriditigkeit des transzendental-idealistischen Denkens insbesondere bei Hegel auszumachen, daß es das außerhalb seiner Gelegene zwar ausdrücklich thematisiert, aber nur um es mit einer Gewaltsamkeit ohnegleichen so umzudeuten, daß es sich der von diesem Denken entworfenen Systematik bruchlos einfügt; dieses Denken scheint unfähig zu sein, die Dimension des Vor- und Außerphilosophischen bzw. des Vor- und Außerwissenschaftlichen so bestehen zu lassen, wie sie sich denjenigen erschließt, die sich innerhalb dieser Dimension aufhalten. Unter allen nachfolgenden Protesten gegen diese Gewaltsamkeit zeichnet sich einer durch eine bemerkenswerte Besonderheit aus. Fast alle diese Proteste ziehen gegen „den Idealismus" und direkt oder indirekt gegen die gesamte in irgendeinem Sinne „idealistische" philosophische und wissenschaftliche Tradition mit irgendeiner inhaltlichen Bestimmung dessen zu Felde, was in dieser Tradition übergangen, vergessen oder vernachlässigt worden sein soll: sei dies nun die Existenz, die gesellschaftliche Praxis, das Leben, die Welt des hermeneutisch Erfahrbaren, die Alltagssprache oder was auch immer. Nur einer von den nennenswerten Versuchen einer Neubesinnung setzte (jedenfalls zunächst) nicht mit einer solchen Bestimmung, sondern mit einem methodischen Protest ein, — mit dem Aufruf, auf die Gewaltsamkeit begrifflicher Vereinnahmungen überhaupt zu verzichten und das vorgegebene außerphilosophisch und außerwissenschaftlich sich Darbietende selbst zur Sprache kommen zu lassen, — es „selbst", d. h. es genauso hinzunehmen, wie es — anstatt in über das Gegebene hinausgehenden Interpretationen und Konstruktionen — in den mannigfachen Erfahrungen des außerphilosophischen-außerwissenschaftlichen Lebens erscheint. Durch diesen Verzicht auf eine inhaltliche Gegenposition gegen die Gewaltsamkeiten eines überheblich gewordenen Denkens und die Beschränkung auf die schlichte methodische Maxime „zu den Sachen selbst!" hatte und hat die Phänomenologie unter all unseren Protest- und Krisenphilosophien den Vorzug, am wenigsten durch die in all diesen Philosophien gefürchteten traditionellen Vorurteile und Einseitigkeiten belastet zu sein, — und zwar nicht etwa deswegen, weil sich die historisch vorliegenden Versuche in Phänomenologie alle als besonders wenig vorurteilsbehaftet erwiesen hätten, sondern nur deswegen, weil die erwähnte Maxime im Unterschied zu allen anderen denkbaren Protest-Maximen — konsequent befolgt — grundsätzlich jeden Versuch zunichte macht, sich durch irgendein noch so raffiniert ausgeklügeltes Verfahren dagegen abzuschirmen, das eigene Vorgehen immer wieder auf seine Unbefangenheit gegenüber dem sich von sich selbst her Zeigenden zu überprü-

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fen. Aus diesem und nur aus diesem Grunde habe ich im Untertitel dieses Buches das Wort „Phänomenologie" als programmatische Bezeichnung für die philosophische Besinnung wieder aufgenommen. Im Titel ist aber zugleich ein historischer Rückgang auf den Anfang des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens bei Heraklit und Parmenides angezeigt, und darin kommt zum Ausdruck, daß und weshalb sich das philosophische Nachdenken heute mit den bisher vorliegenden Versuchen, phänomenologisch zu philosophieren, nicht zufriedengeben kann. Auch diese Versuche waren nämlich — nicht anders als die angesprochenen anderen philosophischen Ansätze unserer Zeit — größtenteils mit dem Mangel der einseitigen Fixierung auf eine dem Denken vorgegebene Dimension, für die sich in der phänomenologisch orientierten Philosophie der Titel „Lebenswelt" eingebürgert hat, behaftet; die Rückfrage nach den Phänomenen der dem philosophisch-wissenschaftlichen Denken zugrundeliegenden „Lebenswelt" wurde nicht konsequent als „Verhältnis-Denken" im vorhin angezeigten Sinne entwickelt und blieb dadurch vielfach in ihrem Niveau weit hinter den klassischen Entwürfen solchen Denkens in der transzendentalphilosophisch-idealistischen Tradition zurück. Der Versuch, phänomenologisches Denken im Sinne jener unaufgebbaren Devise „zu den Sachen selbst!" zu erneuern, ist daher unzweifelhaft zunächst an diese Tradition verwiesen. Zugleich aber muß der Versuch audi über diese Tradition hinausdenken, um nicht gegen seine innerste Tendenz erneut der Gewaltsamkeit gegenüber dem sich Zeigenden zu verfallen und die phänomenologische Unbefangenheit gegenüber jener vorphÜosophisch-vorwissenschaftlichen, lebensweltlichen Dimension zu bewahren, um deren Erhellung es in so vielen Spielarten gegenwärtiger Philosophie geht. Ein neues phänomenologisch orientiertes Philosophieren muß sich daher auch in die vortranszendentalphilosophische bzw. voridealistische Tradition von Philosophie und Wissenschaft vertiefen, um hier nach Ansätzen eines gegenüber jener lebensweltlichen Dimension imbefangenen Verhältnisdenkens zu suchen. Aus Gründen, die im ersten Teil der folgenden Untersuchungen dargelegt werden, wird es bei dieser Suche schließlich in die Zeit des historischen Ursprungs von Philosophie und Wissenschaft überhaupt zurückgeführt, in der das Denken derjenigen Dimension, von der es sich abhebt, noch ganz nahe und doch — weil es Denken ist — schon imstande ist, über sein eigenes Verhältnis zu dieser Dimension Rechenschaft abzulegen, d. h. das zu tun, was die Griechen logon didonai nannten, — eine Wendung, in der bezeichnenderweise sogar das griechische Wort für „Verhältnis", nämlich „lögos", enthalten ist. Das Denken erhebt sich hier erstmals über die Befangenheit in der

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lebensweltlichen Denkart, ohne daß sich sein Uberlegenheitsanspruch schon zur Lebensweltvergessenheit der späteren Tradition übersteigerte. Es sind genügend Zeugnisse erhalten, um diese erste philosophische Rechenschaftsablage des Denkens über sich selbst in seinem Verhältnis zur vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen Denkart in ihren Grundzügen zu rekonstruieren. Damit aber läßt sich ein Ansatzpunkt gewinnen, um die Entwicklung unseres philosophisch-wissenschaftlichen Denkens von seinem Ursprung aus noch einmal so nachzuzeichnen, daß auf solche Weise eine Neubestimmung jener vorphüosophisch-vorwissenschaftlichen Dimension, auf die das gegenwärtige Denken so vielfältig bezogen ist, möglich wird — und zwar aus dem Verhältnis des Denkens zu dieser Dimension. Hierin liegt vielleicht sogar der Ansatz für eine Ortsbestimmung unserer durch die fortschreitende Verwissenschaftlichung aller Lebensbezüge charakterisierten Zeit. Auf solche Weise muß die Phänomenologie „historisch" werden und damit einer Forderung nachkommen, die schon ihr Begründer Edmund Husserl in seinem späten Entwurf einer genetischen Phänomenologie ins Auge gefaßt hatte und die neben ihm vor allem Martin Heidegger sowie nach ihnen mein Lehrer Ludwig Landgrebe und andere maßgebende Vertreter des phänomenologisch orientierten Denkens gestellt haben. Ohne den Rückgang auf die Geschichte, deren philosophischen Grundentscheidungen die phänomenologisch orientierte Philosophie ebenso wie jede andere Gestalt gegenwärtigen Denkens ihre gedanklichen Möglichkeiten verdankt, bleibt die Phänomenologie — das hatten jene Denker vielfach gezeigt — naiv und wird durch die daraus entstehende Vorurteilsbefangenheit gerade ihrer eigenen Maxime radikaler Vorurteilslosigkeit untreu. Im Rüdegang auf seine eigenen anfänglichsten und zugleich verborgenermaßen prägendsten Urspünge entdeckt das philosophisch-wissenschaftliche Denken — das hoffe ich im folgenden nachgewiesen zu haben —, daß es selbst in seiner ersten Selbstbesinnung bei Heraklit und Parmenides als ein der Dimension des vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen Lebens noch ganz nahes und doch mit einem einzigartigen Überlegenheitsanspruch auftretendes, konsequentes Verhältnisdenken gestiftet wurde. Damit rechtfertigt sich zugleich der hier versuchte Neuansatz phänomenologischen Philosophierens, indem die so verstandene Phänomenologie nichts anderes ist als die Wiederaufnahme des Versuchs, sich zum vorphilosophisch-vorwissenschaftlich sich Zeigenden, Erscheinenden als solchem (dem phaittömenon, dem Phänomen) in ein überlegenes Verhältnis (logos) zu setzen. Das Vorhaben, „phänomenologisch" zu philosophieren, verliert so den Beigeschmack, ein spätneuzeitlicher Methoden-Einfall zu sein. Es erweist sich als die philosophie- und

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Einleitung

wissenschaftsgeschichtlich reflektierte Wieder-holung der ältesten Idee von Philosophie. Die Absicht dieses Buches ist, sich von Heraklit und Parmenides über diese älteste Idee philosophisch-wissenschaftlichen Denkens belehren zu lassen — und nicht etwa, in das archaisch-einfache Denken jener Philosophen moderne phänomenologische Gedanken hineinzudeuten oder gar die vieldeutigen Sätze dieser Denker bloß zum Anlaß der Darstellung einer eigenen phänomenologischen Systematik zu nehmen. Es geht im Folgenden zwar um eine phänomenologische Systematik, und man könnte meinen, bei einer solchen letztlich nicht historischen Absicht käme es auf die historische Treue nicht so sehr an. Aber das Gegenteil ist richtig: Zu den grundlegenden systematischen Überzeugungen, die in dieser Abhandlung entfaltet werden, gehört gerade die, daß wir für eine genuin phänomenologische „Systematik" unabdingbar darauf angewiesen sind, den ursprünglichen Sinn der Einsichten zu vergegenwärtigen, durch die — mit Husserl zu sprechen — das philosophisch-wissenschaftliche Denken „urgestiftet" wurde. Die Frage, wie es dem Interpreten gelingen kann, jenem ursprünglichen Sinn so nahe wie möglich zu kommen, läßt sich in dieser Allgemeinheit nicht beantworten. Aber es läßt sich wohl sagen, welche Haltung ein Interpret, der die frühen Denker um der Sache der Philosophie willen studiert, ihnen gegenüber nicht einnehmen sollte: nämlich die eines Psychiaters, der sich zwar mit allen Mitteln die verzwickten Gedanken eines besonders komplizierten Patienten verständlich machen mödite, aber dabei selbstverständlich davon ausgeht, daß diese Gedanken für ihn selbst keine Verbindlichkeit haben. Sowohl an der Heraklit-Literatur als auch und gerade an den zahlreichen Parmenides-Büchern der letzten Jahrzehnte fällt auf, daß die meisten Autoren zwar ein bewundernswertes Maß an Scharfsinn und Kombinationsvermögen aufbringen, aber im Grunde die Gedanken dieser Denker wie die Lebensäußerungen exotischer Tiere analysieren, anstatt sie als philosophische Gesprächspartner zu akzeptieren, denen man es schuldig ist, sich unbefangen der Überzeugungskraft ihres Denkens auszusetzen. Die philologisch-historische Kleinarbeit ist unentbehrlich, aber sie reicht zum Verständnis der großen Philosophen der Vergangenheit nicht aus. Dieses kann nur dann wesentliche Fortschritte machen, wenn sich zunächst das philosophische Verständnis vertieft; und dies kann nur geschehen, wenn sich der Interpret dem Verbindlichkeitsanspruch der Einsichten früherer Denker nicht entzieht und seine ganze Energie darauf konzentriert, diese Einsichten in ihrer auch für die Gegenwart aktualisierbaren Überzeugungskraft mitzuvollziehen, anstatt bloß gelehrt „über" sie zu reden.

Einleitung

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Die Grundgedanken des Heraklit und Parmenides lassen sich aber deshalb in diesem Sinne lebendig vergegenwärtigen, weil der anfängliche und einfache Schritt der Erhebung des Denkens über die ihm vorgegebene „lebensweltliche" Dimension der vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen Denkart auch für das gegenwärtige Denken nicht vergangen ist; das Sich-ins-Verhältnis-Setzen des Denkens zu dieser Dimension vollzieht sich kontinuierlich vom Beginn des Denkens an bis heute, und die „Grammatik" der geschichtlich sich wandelnden Formen dieses Vollzugs baut sich auf einer grundlegenden Selbstunterscheidung des Denkens vom Nichtdenken auf, die den Horizont für die höheren und differenzierteren Stufen dieser Verhältnis-Grammatik allererst eröffnet. Der historische Anfang der Aufspannung des Verhältnisses ist so zugleich sein bleibender und damit auch gegenwärtig tragender Grund. Diesen systematisch-geschichtlichen „Anfangsgrund" — die arche — des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens versucht die folgende Untersuchung ans Licht zu bringen.

I. Teil Der Anfang von Philosophie und Wissenschaft alsjjegenstand unseres Interesses Die gegenwärtige Situation der Philosophie ist in weiten Bereichen dadurch gekennzeichnet, daß die systematischen und die historischen Interessen bis zur völligen Beziehungslosigkeit auseinandertreten. Unter diesen Umständen wird es manchen Leser der folgenden Untersuchungen überraschen oder irritieren, wenn darin Interpretationen auf der Basis philologisch-historischer Textkritik und philosophische Analysen in systematischer Absicht ständig miteinander verflochten sind. Man mag zwar geneigt sein, die Beschäftigung mit der alten und ältesten philosophischen Überlieferung als subjektive Aneignung von „Bildungsgut" oder als rein antiquarisch ausgerichtete historische Forschung zuzulassen; bei vielen wird aber eine Auseinandersetzung mit früheren Denktraditionen, die sich — wie die vorliegende Untersuchung — davon erklärtermaßen einen systematisch-sachlichen Erkenntnisgewinn erhofft, Befremden wecken. In dieser Lage wäre es unaufrichtig, sich sogleich in scheinbarer Unangefochtenheit der Interpretation von Texten zuzuwenden, die vor beinahe zweieinhalbtausend Jahren geschrieben wurden. Es bedarf vielmehr einer Verständigung über den Sinn eines solchen Unternehmens. Diese Notwendigkeit stellt den Verfasser zunächst einmal vor die Aufgabe, über zwei miteinander verknüpfte Fragen Rechenschaft abzulegen. Erstens hat er deutlich zu sagen, von welchem Vorverständnis von Philosophiegeschichte er sich leiten läßt, und zweitens hat er die Art des Interesses zu rechtfertigen, das er der philosophischen Überlieferung entgegenbringt. Doch damit nicht genug. Der Anfang von Philosophie bei den Vorsokratikern fällt mit dem Beginn der Wissenschaften zusammen. Die Entstehung beider ist ein einziger Prozeß, in dem sich das, was wir heute als Philosophie und Wissenschaft unterscheiden würden, zunächst schwerlich oder gar nicht auseinanderhalten läßt. Eine Auseinandersetzung mit dem Anfang der Philosophie schließt daher notwendig, wenigstens in gewissem Umfang, die Beschäftigung mit dem Beginn der Wissenschaften mit ein. Nun ist es klar, daß

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Der Anfang des Denkens als Gegenstand unseres Interesses

die allerersten Schritte der Wissenschaft in noch höherem Maße als schon überhaupt wissenschaftliche Theorien der Vergangenheit, gemessen am Objektivitätsanspruch heutiger Wissenschaft, den Eindruck der Naivität, um nicht zu sagen: der Primitivität, erwecken. Sie scheinen eher in ein historisches Kuriositätenkabinett zu gehören denn als Gegenstand eines ernsthaften und systematischen Interesses in Betracht zu kommen. Wer sich in systematischer Absicht dem Anfang des Denkens und damit auch der Entstehung der Wissenschaft zuwendet, wird demnach auch das systematische Interesse rechtfertigen müssen, das er der Frühgeschichte der Wissenschaft entgegenbringt. Die geforderten Vorüberlegungen sollen hier in vier Schritten vorgetragen werden. Zunächst ist allgemein zu fragen, von welcher Art ein Interesse der Philosophie an ihrer eigenen Vergangenheit überhaupt sein muß, damit es sich ernstlich philosophisch rechtfertigen läßt. Da das Interesse an einer Sache und das Vorverständnis davon wechselseitig voneinander abhängen, ist in diesem Zusammenhang auch darzulegen, welches Vorverständnis von Philosophiegeschichte mit einer gerechtfertigten Interessenahme an dieser verbunden ist. Als zweites ist ein systematisches Interesse der Philosophie an der Geschichte der Wissenschaft überhaupt zu begründen und im Zusammenhang damit ansatzweise ein Vorverständnis von philosophischer Wissenschaftsgeschichte zu entwickeln. Drittens ist das gerechtfertigte Interesse sowohl an Philosophie- wie an Wissenschaftsgeschichte in Bezug auf den Anfang von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen zu spezifizieren. Schließlich ist zu begründen, welches besondere Interesse in diesem Zusammenhang zunächst Heraklit verdient, soweit eine solche Begründung schon vor Eintritt in die Detailinterpretation gegeben werden kann.

1. Kapitel Das philosophische Interesse an der Philosophiegeschichte Die folgenden Überlegungen können sich nicht die Aufgabe stellen, im Leser ein bisher nicht vorhandenes philosophisches Interesse an alten Texten der Philosophie zu wecken. Es ist vielmehr daran anzuknüpfen, daß zwar noch immer ein breites philosophiegeschichtliches Interesse besteht, daß aber die Frage nicht zureichend beantwortet scheint, welcher Art dieses Interesse sinnvollerweise sein kann und darf. Wie ist diese Frage zu verstehen? Jedes Interesse schließt ein bestimmtes Vorverständnis von der als interessant erscheinenden Sache ein. Durch dieses Vorverständnis sind die Möglichkeiten der Erfahrung, die man mit der betreffenden Sache macht, in gewissen Grenzen vorgezeichnet. Das interessebedingte Vorverständnis bleibt im allgemeinen unreflektiert und undurchschaut. Hebt man es aber ins Bewußtsein und läßt sich von ihm ausdrücklich die Perspektive für die Erkenntnis der betreffenden Sache vorgeben, so kann es als Leitfaden oder heuristisches Prinzip dienen. Auch die Philosophiegeschichte stellt sich von vornherein, d. h. noch bevor ihre Erforschung zu konkreten Auffassungen über ihren Inhalt und Verlauf führt, jeweils in einem bestimmten Licht dar, je nach Art des Interesses, mit dem man sie betrachtet. Nun lassen sich aber Interessen in mehrfacher Hinsicht überprüfen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, die verschiedenen Arten des philosophiegeschichtlichen Interesses und des jeweils damit verbundenen Vorverständnisses kritisch durchzumustern und festzustellen, welche Art von Interesse schließlich der Überprüfung standhält. Das aus diesem Interesse erwachsene Vorverständnis würde damit als Leitfaden für die Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte legitimiert und dürfte rechtmäßig als heuristisches Prinzip für ihre Erforschung dienen. Die Aufgabe der Überprüfung eines Interesses ist nicht von außen an die menschliche Haltung, die wir Interesse nennen, herangetragen, sondern es liegt im Wesen von Interessen, überprüfbar zu sein, und dies in doppelter Hinsicht. Zunächst kommt in einem Interesse eine „Sache" im weitesten Sinne dieses Wortes, d. h. dasjenige, was jeweils als interessant erscheint, zur Gege-

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Der Anfang des Denkens als Gegenstand unseres Interesses

benheit. Das Interesse läßt die so verstandene Sache in einem bestimmten Licht erscheinen. Wer sich nämlich für etwas interessiert, geht dabei nicht rein in der Hingabe an die betreffende Sache auf, sondern ist zugleich von anderen, der Sache fremden, Motiven geleitet. Demgemäß läßt sich ein Interesse erstens daraufhin überprüfen, wie weit es der Sache, die das Interesse weckt, gerecht wird. Ein Interesse ist zweitens daraufhin befragbar, ob es „zu Recht" besteht oder ob es — was dasselbe besagt — „begründet" ist. Ein Interesse erscheint dann als gerechtfertigt, wenn sich ein Zweck angeben läßt, zu dessen Verwirklichung die Beschäftigung mit der jeweils als interessant erscheinenden Sache als geeignetes Mittel erscheint. Demnach lassen sich auch die verschiedenartigen Interessen an Philosophiegeschichte in doppelter Hinsicht überprüfen; wir können fragen: 1. Wie weit ist ein solches Interesse sachgemäß, d. h. wie weit wird das mit dem Interesse verbundene Vorverständnis dem Charakter der Sache, die wir als Philosophiegeschichte bezeichnen, gerecht? 2. Wie weit gelingt die Rechtfertigung eines philosophiegeschiditlidien Interesses, d. h. in welchem Maße ist seine Befriedigung geeignet, die Verwirklichung eines übergeordneten Zwecks zu fördern? Die zweite Frage verlangt außerdem die Beantwortung der Vorfrage, welches der genannte „übergeordnete" Zweck sei. Eine vorläufige Antwort auf diese Vorfrage wird sich sogleidi bei der Erörterung der ersten Frage ergeben. Die Kriterien einer Überprüfung unseres philosophiegeschiditlidien Interesses sind also einmal die Sachgemäßheit, zum andern der Nutzen für einen übergeordneten Zweck. Eine solche Überprüfung soll nun den kritischen Auftakt für die einleitenden Überlegungen dieser Untersuchung bilden. Nach dem Gesagten geht es darum, festzustellen, welche Art des philosophiegeschichtlichen Interesses und des daraus erwachsenden Vorverständnisses der besagten Überprüfung standhält und welche leitende Auffassung von Philosophiegeschichte damit zum legitimen heuristischen Prinzip für ihre Erforschung erhoben werden darf. Im Hinblick auf dieses Ziel lassen wir die folgenden Erwägungen zunächst so verlaufen, daß wir gewisse, mit bestimmten Interessen verknüpfte Arten des Vorverständnisses von Philosophiegeschichte ausscheiden, weil sie sich als nicht sachgemäß oder als nicht zureichend gerechtfertigt erweisen. Wir beginnen damit, daß wir die nicht sachgemäßen Arten von Interesse und die entsprechenden leitenden Auffassungen von Philosophiegesdiichte kennzeichnen. Wir beschränken uns dabei auf die wissenschaftlichen Inter-

Das philosophische Interesse an der Philosophiegesdiidite

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essen. Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, sich für Philosophiegesdiidite auf eine Weise wissenschaftlich zu interessieren, die dieser von vornherein nicht gerecht wird. Die eine Art von Interesse leitet diejenigen, die an Philosophie überhaupt, d. h. an ihren bleibenden sachlich-systematischen Fragen, kein wissenschaftliches Interesse haben, die andere diejenigen, die zwar an Philosophie interessiert sind, aber sie mit einer gewissen Einseitigkeit allein auf die unmittelbare Beantwortung der gerade genannten bleibenden sachlich-systematisdien Fragen beschränken wollen. Von der ersten Art ist ein Interesse, das wir hier kurz das kultur- oder literarhistorische Interesse an den Erscheinungen der philosophischen Tradition nennen. Es beruht darauf, daß die Bestände dieser Tradition zumeist zugleich gewichtige Beiträge zur Literatur bzw. Kultur ihres Zeitalters darstellen und insofern dieselbe Aufmerksamkeit beanspruchen wie andere Kulturdenkmäler auch. Ein derartiges bloß historisches Interesse verkennt aber die spezifische Differenz zwischen der überlieferten philosophischen Literatur und den übrigen literarischen Zeugnissen der Vergangenheit: Die in der philosophischen Literatur niedergelegten Gedankengänge treten mit dem einzigartigen Anspruch auf, als jederzeit wiederholbare unbedingt verbindliche Erkenntnisse nicht nur den zeitgenössischen Leser, sondern jeden möglichen Leser, d. h. auch uns heute noch, belehren zu können. Wer sich diesem Anspruch nicht stellt, d. h. darauf verzichtet, die überlieferten Argumentationszusammenhänge selbst nachzuvollziehen und zu prüfen, wird dem Charakter der überlieferten philosophischen Texte, so wie sie sich von sich selbst her darbieten, nicht gerecht. D. h. der Literatur- oder Kulturhistoriker, der philosophische Texte genauso wie andere Zeugnisse der Vergangenheit behandelt, verfälscht — streng genommen — bereits im Ansatz, ob er das will oder nicht, dasjenige, wovon er annähernd objektiv zu berichten beansprucht. Gleichwohl — das sei noch einmal hervorgehoben — ist das Verfahren des Kultur- oder Literaturhistorikers nicht willkürlich; denn es stützt sich darauf, daß die früheren Philosophien unzweifelhaft Bestandteile der geschichtlichen Entwicklung darstellen. Die zweite Art von unsachgemäßem Interesse treffen wir bei denjenigen an, die meinen, philosophisches Denken müsse jederzeit unmittelbar der Klärung der gegenwärtig anstehenden sachlich-systematischen philosophischen Probleme dienen: Sie bringen ein Interesse an der philosophischen Tradition nur insoweit auf, als sie erwarten, daß bestimmte überlieferte Überlegungen unmittelbar zur befriedigenden Lösung eines gegenwärtig anstehenden systematischen Problems beitragen können. Wer von einem solchen Interesse geleitet ist, erwartet in der Tradition so etwas wie Diskussionsbeiträge zu

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Der Anfang des Denkens als Gegenstand unseres Interesses

finden. Er sieht dabei davon ab, daß diese Diskussionsbeiträge erstens überhaupt in einer früheren Epoche verfaßt sind und zweitens als Glieder in die Kette der geschichtlichen Entwicklung gehören. Die Denker der Tradition erscheinen somit im Lichte des mit diesem Interesse gegebenen Vorverständnisses als quasi-zeitgenössische Diskussionspartner. So wie das rein kulturoder literarhistorische Interesse an der Philosophiegeschichte unsachgemäß blieb, weil es diese nur historisch verstand, so wird auch das unmittelbar systematische Interesse der Sache nicht gerecht, weil es ihren historischen Charakter völlig verkennt. Gleichwohl zielt auch das aus diesem Interesse erwachsende Vorverständnis nicht völlig an seiner Sache vorbei, sofern es nämlich den eben erwähnten Anspruch auf überzeitliche Verbindlichkeit der überlieferten Gedanken ernst nimmt. Damit die Vorstellung von der Quasi-Gleichzeitigkeit aller Philosophierenden, die mit der zweiten Art von Interesse verbunden ist, aufrechterhalten werden kann, bedarf es eines methodischen Kunstgriffs, um vom historischen Horizont abstrahieren zu können: Man unterscheidet zwischen denjenigen sprachlichen und literarischen Eigentümlichkeiten der Überlieferung, die als zeitbedingtes Gewand des eigentlich philosophischen Gedankens nur ein historisch-kritisches, aber kein philosophisches Interesse verdienen, und dem zeitlos überdauernden philosophischen Gedanken selbst. Diese Unterscheidung ist insoweit richtig, als sich zweifellos bestimmte Eigentümlichkeiten früherer Texte nur historisch-kritisch erklären lassen. Die Unterscheidung ist aber irreführend, sofern sie unterstellt, daß der Gedanke ausschließlich durch die sprachliche und literarische Gestalt, in der sich die Umstände seiner Abfassungssituation und -epoche niedergeschlagen haben, mit dem Ablauf der Geschichte in Berührung kommt. Es gibt vielmehr eine geschichtliche Entwicklung, von der die philosophischen Gedanken selbst betroffen sind: Jeder Gedanke der Tradition wird in irgendeiner Weise durch früher vorgelegte Gedanken vorbereitet; er antwortet seinerseits auf sie und ermöglicht damit wiederum spätere Konsequenzen und Reaktionen. Diese Folge von Sinn-Abhängigkeiten ist unter dem Titel „Wirkungsgeschichte'' bekannt. Sie ist zuletzt vor allem von Gadamer in „Wahrheit und Methode" hinsichtlich ihrer Struktur und Bedingungen eingehend analysiert worden. Was Philosophiegeschichte ist und welche Bedingungen ein sachgemäßes Interesse an ihr zu erfüllen hat, ist damit in einem ersten Umriß gekennzeichnet. Zugleich hat sich ein Anhaltspunkt für die Prüfung des philosophiegeschichtlichen Interesses unter dem zweiten einleitend genannten Kriterium, dem des Nutzens, ergeben: Wir stellten fest, daß die überlieferten philosophischen Gedanken mit dem Anspruch einer nicht nur für ihre eigene Zeit

Das philosophische Interesse an der Philosophiegeschichte

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gültigen Verbindlichkeit auftreten und daß es von da her sachgemäß ist, wenn sie einem auf Zuwachs an sachlich-systematischer Einsicht bedachten gegenwärtigen philosophischen Denken als Diskussionsbeiträge erscheinen. Das philosophische Denken unserer Zeit kann sich aber offenbar nur deswegen auf solche Weise mit dem Denken der Tradition treffen, weil es selbst ebenfalls von dem Ziel geleitet ist, unbedingt verbindliche Erkenntnisse zu gewinnen. Mit diesem Ziel aber dürfte bereits derjenige übergeordnete Zweck für eine wissenschaftliche Interessenahme an Philosophiegeschichte gefunden sein, der sich als einziger, und zwar wegen seiner Formalität, allgemein akzeptieren läßt. Ob wir diesen Zweck seinerseits als Mittel zur Verwirklichung eines übergeordneten Zwecks innerhalb oder außerhalb der Wissenschaft ansehen dürfen oder müssen, kann in unserem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Im Verlaufe dieser einleitenden Überlegungen wird sich im Vorblick auf die Begründung von Philosophie und Wissenschaft in der Frühzeit griechischen Denkens eine genauere Bestimmung des philosophischen Strebens nach unbedingt verbindlicher Erkenntnis ergeben. Für die nädisten Schritte unserer Überlegungen genügt die Feststellung, daß mit dem genannten „Zuwachs an unbedingt verbindlicher Erkenntnis" jedenfalls ein übergeordneter Zweck umschrieben ist, im Hinblick auf den die wissenschaftliche Legitimation von philosophiegeschichtlichen Interessen geprüft werden kann und muß. Damit läßt sich die zweite einleitend angekündigte Aufgabe stellen: Es ist diejenige Art von philosophiegeschichtlichem Interesse zu suchen, die der Überprüfung im Hinblick auf ihren Nutzen für den gerade genannten übergeordneten Zweck standhält. Gibt es eine Art des Interesses an der Sinnoder Wirkungsgeschidite, das sich dadurch rechtfertigen läßt, daß seine Befriedigung zu einem Zuwachs an unbedingt verbindlicher Erkenntnis führt? Hier beansprucht zunächst noch einmal das unmittelbar systematische Interesse unsere Aufmerksamkeit; erscheint es doch auf den ersten Blick höchst aussichtsreich, sich von einem solchen Interesse geleitet irgendwelchen philosophischen Autoren der Tradition zuzuwenden; denn diese werden so — streng sachlich — unter ihrem eigenen Anspruch einer auch für unsere Zeit gültigen Verbindlichkeit ihrer Erkenntnisse befragt. An einer derartigen Beschäftigung mit überlieferten Gedanken war zwar auszusetzen, daß sie wegen ihrer Abstraktion vom wirkungsgeschichtlichen Horizont unsachgemäß sei; eine naheliegende Überlegung scheint aber die Nichtbeachtung dieses Horizonts zu rechtfertigen: Wenn nämlich dem eben Gesagten zufolge alle tradierten philosophischen Gedanken gleichermaßen mit dem Anspruch unbedingter Verbindlichkeit auftreten, müßten sie sich demnach alle im besagten

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Der Anfang des Denkens als Gegenstand unseres Interesses

Sinne als nützlich für die philosophischen Gegenwartsaufgaben erweisen. Ihr geschichtlicher Ort wäre also belanglos. — Die Annahme, alle überlieferten Gedanken könnten dem gegenwärtigen philosophischen Denken in prinzipiell gleicher Weise zu einem Zuwachs an unbedingt verbindlicher Erkenntnis verhelfen, ist aber von vornherein zum Scheitern verurteilt; denn die überkommenen philosophischen Gedanken widersprechen sich zum großen Teil und in vielfacher Hinsicht. Der eine Gedanke negiert damit den Verbindlichkeitsanspruch des anderen oder schränkt ihn zumindest ein, und es ist folglich unmöglich, daß beide Gedanken für uns im Hinblick auf unser Streben nach unbedingt verbindlicher Erkenntnis gleiches Gewicht hätten. Nun treten die Gedanken in der Wirkungsgeschichte nicht gleichzeitig, sondern in einer Folge auf. Es besteht demnach die Notwendigkeit, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob der wirkungsgeschichtlich frühere Gedanke oder der spätere den Verbindlichkeitsanspruch in vollem bzw. höherem Maße zu Recht erhebt. Man wird sogleich darauf hinweisen, daß, wenn eine Entscheidung darüber überhaupt möglich ist, sie nur im konkreten Vergleich zweier bestimmter überlieferter Philosopheme gefällt werden kann. Das ist richtig, und doch bedarf die vom Interesse an unbedingt verbindlicher Erkenntnis geleitete Zuwendung zur Philosophiegeschidite bereits vor der konkreten Beschäftigung mit bestimmten Philosophen einer Vorentscheidung in der genannten Frage. Ohne solche Vorentscheidung fehlte nämlich jeder Leitfaden, um zu wissen, wo im unübersehbaren Feld der Überlieferung überhaupt nach Hilfen für gegenwärtig verbindliche Erkenntnis gesucht werden soll. Nun liegt die unübersehbare, ζ. T. nicht einmal mehr bekannte Überlieferung bereits in einer durch die Tradition selbst getroffenen Vorauswahl vor. In dieser Auswahl fungieren außerdem gewisse Epochen und Werke als Schwerpunkte, die erhöhte Aufmerksamkeit verdienen. Eine Orientierung in der Philosophiegeschichte ist offenbar nur möglich, indem man sich zunächst von der vorgefundenen Auswahl und Schwerpunktbildung leiten läßt. Diese Vertrauensvorgabe an die Tradition kann aber nicht ohne Grund geschehen; sie setzt eine Kenntnis und Bejahung der Regel voraus, nach der Auswahl und Schwerpunktbildung erfolgten. Diese Regel kann nur besagen, daß solche Gedanken in die Auswahl aufgenommen wurden bzw. eine Geltung als Schwerpunkt erlangt haben, die sich gegenüber ihren Vorgängern als überlegen erwiesen hatten. Neue philosophische Gedanken können sich aber nur dadurch als überlegen erweisen, daß sie dem Verbindlichkeitsanspruch der früheren Gedanken teilweise oder ganz seine Grundlage entziehen. Wenn Philosophiegeschidite als Wirkungsgeschichte von Gedanken, die in

Das philosophische Interesse an der Phüosophiegeschichte

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ihrem Verbindlidikeitsansprudi konkurrieren, verstanden wird, impliziert dies demnach notwendig ein Vorurteil über die Verlaufsform dieser Geschichte. Es besteht in der Vorannahme eines Fortschritts der philosophischen Problementwicklung im gerade dargestellten Sinne. Von diesem Vorurteil geleitet gehen wir an zwei aus verschiedenen Zeiten überlieferte philosophische Texte zur selben Thematik notwendig zunächst mit der — allerdings durch den späteren konkreten Vergleich korrigierbaren — Erwartung heran, daß der spätere Text die überlegenen Argumente enthalten wird. Dieses Fortschrittsvorurteil hat eine weitere Vorüberzeugung zur Folge. Wenn die Gegenwart, in der wir Philosophie treiben, selbst eine Phase, und zwar die letzte, in der Entwicklung der Philosophie ist, muß sie als der fortgeschrittenste Stand philosophischer Argumentation angesehen werden. Das aber bedeutet, daß an der gesamten Philosophiegeschichte als dem weniger fortgeschrittenen Abschnitt der Entwicklung nur ein eingeschränktes Interesse möglich ist. Mit dem vom Fortschrittsvorurteil bestimmten Vorverständnis von Philosophiegeschichte lassen sich darum zunächst überhaupt nur zwei Arten des philosophiegeschichtlichen Interesses verbinden. Die überlieferten philosophischen Gedanken können dem gegenwärtigen Denken entweder deswegen der Beschäftigung damit wert erscheinen, weil die Überlegenheit des gegenwärtig Gedachten in der Abgrenzung gegen die unzureichenden früheren Argumente deutlicher hervortritt, oder deswegen, weil sich die Zuverlässigkeit des gegenwärtig Gedachten in der Übereinstimmung mit Teilergebnissen früheren Denkens bestätigt. Diese beiden Haltungen nennen wir das kritische und das antiquarische Interesse an der philosophischen Vergangenheit. Tatsächlich haben diese beiden Interessen das Vorverständnis bestimmt, von dem sich die meisten großen Philosophen der Tradition bei der Auseinandersetzung mit ihren Vorgängern leiten ließen. Schon Aristoteles beurteilt — ζ. B. im ersten Buch der „Metaphysik" — seine Vorgänger im Lichte dieser Art von Vorverständnis. Die Vorgänger erscheinen so entweder in kritischer Sicht als Scheiternde oder in antiquarischer Sicht als Vorläufer. Die beiden Interessen sind nun im Licht des einleitend genannten zweiten Kriteriums, d.h. unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die Bewältigung der philosophischen Gegenwartsaufgaben zu prüfen. Kann man behaupten, daß eine von diesen Interessen geleitete Beschäftigung mit der Tradition geeignet ist, zu einem Zuwachs an schlechthin verbindlicher Erkenntnis zu führen? Offenbar läßt sich diese Frage im strengen Sinne nicht bejahen. Die in der Gegenwart mit dem Anspruch auf unbedingte Verbindlichkeit vorgelegten Gedanken erscheinen im Licht des Fortschrittsvorurteils wesentlich als neue Gedanken. Die kritische und antiquarische Vergegenwärtigung des

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früher Gedachten trägt zwar zur Sicherung der Verbindlichkeit und zur Verdeutlichung dieser neuen Erkenntnisse bei, sie kann aber nicht als ein Mittel verstanden werden, auf das der gegenwärtig Denkende angewiesen wäre, um die neuen Erkenntnisse selbst vollziehen zu können. Das kritische und das antiquarische Interesse lassen sich also nicht im geforderten Sinne rechtfertigen. Wenn uns nur diese Interessen leiten, lohnt sich die ganze unendliche Mühe, die wir heute faktisch auf das Verständnis alter philosophischer Texte verwenden, im Grunde nicht. Diese Interessen können demnach nicht die gesuchte Art von Interesse sein, dessen Befriedigung streng im Dienste der gegenwärtigen Bemühung um einen Zuwachs an schlechthin verbindlicher Erkenntnis stünde. Was nicht ausschließt, daß sie ein solches Interesse ergänzen. Dies wird sich in der Tat im folgenden ergeben. Was nun das gesuchte Interesse selbst betrifft, so verlangt es, daß die Vergegenwärtigung des Überlieferten einen notwendigen Bestandteil des Vollzugs der neuen verbindlichen Erkenntnis selbst bildet. Das aber kann nur bedeuten: Das in der Gegenwart verbindlich Gedachte muß selbst als Resultat der Sinngeschichte und nur als dieses bestimmt werden. Es ist kein Zufall, daß Hegel, der als erster die Philosophiegeschichte als solche und im ganzen zum Thema seines Denkens gemacht hat, die Vergegenwärtigung der Tradition in dieser Weise begründet hat. Er hat diese Begründung in der wenig beachteten Einleitung in die Geschichte der Philosophie gegeben. Dieser Einleitung läßt sich für unsere Zwecke entnehmen, daß Hegel das Fortschrittsvorurteil zwar beibehält, aber es durch den Resultatsgedanken modifiziert 1 . Dieser Gedanke besagt, daß in der gegenwärtigen Erkenntnis das früher Gedachte in der bekannten dreifachen Bedeutung „aufgehoben" ist. Auf diese Weise ergibt sich ein einheitliches, doch in sich dreifaches Interesse an der Philosophiegeschichte. Das früher Gedachte interessiert 1., weil es in die gegenwärtige verbindliche Erkenntnis als das Überwundene eingeht, 2., weil es sich darin als das bleibend Verbindliche erhält und 3., weil es selbst bereits Vorgriff auf das mögliche Resultat war und sich in dessen gegenwärtig vollzogenem Zustandekommen verwirklicht. In dem Bündel dieser drei Interessen kehren zunächst das kritische und das antiquarische Interesse als die beiden zuerst genannten Momente wieder. Als drittes Moment tritt eine Art von Interesse hinzu, in dessen Licht der frühere Gedanke als Vorwegnahme der für uns verbindlichen Erkenntnis im Modus der Möglichkeit erscheint. Ein historisches Interesse, dem sidi das Vergangene als vorweggenommene Möglichkeit des erst zu verwirklichenden ι Hegel, Jubiläumsausgabe Bd. 17, S. 66 ff.

Das philosophisdie Interesse an der Philosophiegesdiidite

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überlegenen Neuen erschließt, nennt Nietzsche später monumentalisch. Damit wird erkennbar, daß sich aus dem Hegeischen Verständnis von Philosophiegeschichte sachlich bereits die Dreigliederung der historischen Interessen ableiten läßt, die Nietzsche später in der Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" im Hinblick auf das Interesse an Geschichte überhaupt vorgenommen hat 2 . Wenn von der Vergangenheit erwartet werden darf, daß sie die Möglichkeit des überlegenen Neuen selbst bereithält, dann ist die Zuwendung zur Geschichte für die Gegenwart von unbestreitbarem Nutzen. Ein solches Vorverständnis von der Vergangenheit impliziert das monumentalische Interesse. Damit ist dasjenige Interesse gefunden, das einer kritischen Überprüfung unter dem Gesichtspunkt seiner Nützlichkeit für die Gegenwart standhält. Es stellt sich die Aufgabe, dieses monumentalische Interesse genauer zu untersuchen. Zunächst ist sein Verhältnis zum kritischen und antiquarischen Interesse zu bestimmen. Nietzsche nennt das überlegene Neue, das es in der Gegenwart zu verwirklichen gilt, das Große 3 . Nur eine Geschichtsbetrachtung, die im Dienste der Verwirklichung des Großen steht, bringt „Nutzen für das Leben". Der „Nachteil für das Leben", der im Titel der NietzscheSchrift ebenfalls genannt ist, entsteht, wenn die Geschichtsbetrachtung diese ihre Gegenwartsaufgabe aus dem Blick verliert. Das geschieht in der Weise, daß sich das antiquarische und das kritische Interesse aus der Einheit mit dem monumentalischen Interesse lösen. Dieses ist selbst das einheitsstiftende Moment im Gefüge der drei Geschichtsinteressen, und zwar auf folgende Weise: Das monumentalische Interesse spricht sich in der These aus: „Das zu verwirklichende Große war in der Geschichte bereits möglich" 4. Dieses Vorverständnis von Geschichte impliziert zwei weitere Vorannahmen: In der Geschichte müssen bereits Ansätze zu diesem Großen vorliegen — sonst könnte seine Verwirklichung nicht als möglich erscheinen —, und es muß darin zugleich solches vorkommen, was die Verwirklichung des Großen bisher verhindert hat. Das monumentalische Interesse schließt demnach ein Interesse an der Bewahrung jener Ansätze und ein Interesse an der Überwindung dieser Hindernisse ein; d. h. aber, das antiquarische und das kritische Interesse sind seine unentbehrlichen Begleiter. Verselbständigen sich diese Begleiter, so verlieren alle drei Interessen ihre Rechtfertigung. Das monumentalische Interesse entartet zur Kennerschaft des Großen ohne Könnerschaft des Großen. Der bewahrende Historiker wird zum Antiquar ohne 2 Nietzsdie, Ausgabe Sdiledita Bd. I, S. 219.

3 A.a.O., S.220iL • Vgl a. a. O. S. 221.

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Pietät, d. h. er beschränkt sich darauf, das geschichtlich Erreichte zur Kenntnis zu nehmen, und sieht dabei davon ab, daß das Erreichte partielle Vorwegnahme von größerem Erreichbare?» war; zum einzigen Ideal der Historie wird so die bedingungslose Genauigkeit in der Erfassung dessen, „wie es gewesen ist" 5 . Der Kritiker schließlich übt Kritik ohne Not, d. h. er begreift das Nicht-Erreichthaben nicht mehr als ein Zurückbleiben hinter den noch zu verwirklichenden Möglichkeiten. Die Einheit und damit zugleich die Rechtfertigung der Interessen durch ihren Nutzen für die Gegenwart bleibt nach dem Gesagten nur dann erhalten, wenn das geschichtlich Vorliegende von vornherein als Möglichkeit des Großen erscheint6. Diese Beobachtungen Nietzsches bedürfen nun noch der Begründung. Woher rührt der systematische Zusammenhang der drei Interessen, der ohne „Nachteil für das Leben" nicht zerstört werden darf? Die Frage verlangt die Beantwortung einer Vorfrage: Warum sind es überhaupt drei und gerade diese drei Interessen, die auf die dargestellte Weise zusammenhängen? Nietzsche beantwortet diese Fragen nicht explizit, aber er gibt durch den Anfang seiner Schrift zu erkennen, daß ihm der Grund für den systematischen Zusammenhang der drei Interessen bekannt ist. Er weist dort darauf hin, daß der Mensch sich durch sein Zeitbewußtsein vom Tier unterscheidet, welches seinerseits ganz der Gegenwart verhaftet ist 1 . In Anknüpfung daran hat Heidegger in „Sein und Zeit" zu Recht darauf hingewiesen, daß es die Zeit ist, aus der sich die Dreigliederung und Einheit der Geschichtsinteressen ergibt 8 . Im Lichte des kritischen Interesses erscheint das Überlieferte als das Vergangene im emphatischen Sinne, d. h. als das, was wir hinter uns zu lassen haben. Im Licht des antiquarischen Interesses erscheint es als das bleibend Gegenwärtige und damit als das zu Bewahrende, und im Licht des monumentalischen Interesses als das Zukünftige, nämlich als das Mögliche im Sinne des noch zu Verwirklichenden. Ziehen wir aus diesem systematischen Zusammenhang die Konsequenz für das monumentalische Interesse an der Philosophiegeschichte, so können wir das mit diesem Interesse verknüpfte Vorverständnis als die Überzeugung formulieren: „Durch die überlieferten Gedanken sind zukünftige Möglich5 Vgl. a. a. O. S. 228. 6 Zum ganzen vgl. a. a. O. S. 225. 7 Vgl. a. a. O. S. 211 ff. 8 Heidegger, Sein und Zeit, S. 396. In seiner Interpretation der drei Arten von Historie bei Nietzsche versteht Heidegger, a. a. O. S. 397, im Unterschied zur oben gegebenen Erklärung die kritische Historie als Kritik der Gegenwart, was bei Nietzsche sicher nicht gemeint ist; die Kritik bezieht sich auf die Vergangenheit (vgl. ζ. B. „jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden", a. a. O. S. 229).

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keiten unbedingt verbindlicher Erkenntnis vorgezeichnet". Nun ergab sich der Gedanke der systematischen Einheit von drei Interessen der Sache nach bereits bei Hegel aus der Modifikation des Fortschrittsvorurteils durch den Resultatsgedanken. Das von Hegel unangetastet gelassene Fortschrittsvorurteil schließt ein, daß die überlieferten Gedanken, sofern sie kommende Denkmöglichkeiten vorwegnehmen, im argumentativ fortgeschrittensten Stadium der Entwicklung, d. h. in der Gegenwart, ihre verbindliche Gestalt erhalten; das gegenwärtige Denken ist — in der Ausdrucksweise Hegels — die Wahrheit des früheren. Das aber bedeutet: Was für das unvollendet gebliebene Denken unserer Vorgänger Zukunft war, ist für uns Gegenwart geworden und hat damit seinen Zukunftscharakter verloren. Das wohlverstandene monumentalische Interesse verlangt aber zu seiner Rechtfertigung, daß die überlieferte Denkmöglichkeit audi für uns Zukunft bleibt, d. h. sich gerade nicht im gegenwärtigen Denken verwirklicht. Das gegenwärtige Denken bleibt demnach im Licht des monumentalischen Interesses notwendig hinter Denkmöglichkeiten zurück, die durch die Überlieferung vorgezeichnet sind. Das mit dem monumentalischen Interesse gegebene Vorverständnis von Philosophiegesdiichte verlangt demnach eine wesentliche Korrektur des Fortschrittsvorurteils auch in seiner durch Hegel modifizierten Gestalt, und zwar aus folgendem Grunde: Jedes für uns Heutige vergangene Denken war selbst einmal Gegenwart und stand zu seiner Vorgeschichte im selben Verhältnis wie unser Denken zu seiner Vergangenheit. Wenn nun unser gegenwärtiges Denken hinter seinen durch die Überlieferung vorgezeichneten Möglichkeiten zurückbleibt, so muß dies ebenso für jede Denkepoche gelten, da jede einmal Gegenwart war. Aus dem vom monumentalischen Interesse bestimmten Vorverständnis folgt demnach, daß alles philosophische Denken hinter irgendwelchen durch seine Vorgänger vorgezeichneten Möglichkeiten zurückbleibt. Diese Auffassung über die Verlaufsform der philosophischen Entwicklung steht nun in offenbarem Widerspruch zu der bei Hegel formulierten Vorüberzeugung, daß die früheren Gestalten des Denkens in den späteren zu ihrer Wahrheit kommen. Dieser Widerspruch läßt sich nicht beseitigen; denn ebenso wie die neugewonnene leitende Auffassung über die Verlaufsform der Philosophiegesdiichte mit Notwendigkeit aus einem gerechtfertigten monumentalischen Interesse folgt, ergab sich früher, daß die Interessenahme an einer Sinngeschichte von Gedanken, die in ihrem Verbindlichkeitsanspruch konkurrieren, nur unter der Voraussetzung des Fortschrittsvorurteils möglich ist. Die Verlaufsform der philosophischen Entwicklung muß demnach so bestimmt werden, daß sie in sich ein gegensätzliches Gefälle auf-

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weist. Der frühere Gedanke ist einerseits durch das jeweils spätere und zuletzt durch das gegenwärtig gewonnene Resultat überholt, d. h. in seinem Verbindlichkeitsanspruch eingeschränkt oder entkräftet, und er ist andererseits zugleich dasjenige, was gegenüber dem Späteren Zukunft bleibt, d. h. vom heutigen Denken unerkannte Erkenntnismöglichkeiten bereithält. Der Versuch einer konsequenten Rechtfertigung des Interesses an der Philosophiegeschichte führt also unvermeidlich zu einem Vorverständnis von ihrer Verlaufsform, demgemäß sich beständig ein fortschreitendes Ergreifen des Zu-Denkenden und ein ebenso fortschreitendes Zurückbleiben hinter diesem verschränken. Man kann sagen, daß diese Verlaufsform der Komplementarität zweier gegensätzlicher Gefälle erstmals in der letzten maßgebenden Gesamtinterpretation der Philosophiegeschichte, bei Heidegger, gesehen wurde. Es ist hier nicht notwendig, darauf einzugehen, daß und in welcher Weise Heidegger selbst das, was hier als komplementäre Verlaufsform bezeichnet wurde, als Gegenwendigkeit von Entbergung und Entzug des Seins ausgelegt hat. Diese Auslegung ließe sich nur im Zusammenhang einer Interpretation des gesamten Heideggerschen Denkens nach der „Kehre" zureichend erörtern. Unabhängig davon läßt sich aber im Rahmen dieser Überlegung festhalten, daß die erstmals im Heideggerschen Denken sich abzeichnende formale Kennzeichnung des Verlaufs der Philosophiegeschichte als einer Komplementarität von Fortschritt und Zurückbleiben in Bezug auf die Zukunft des verbindlich zu Denkenden unvermeidlich ist, wenn das philosophiegeschichtliche Interesse ernstlich gerechtfertigt sein soll, und d. h. zugleich: wenn das damit verknüpfte Vorverständnis als legitimes heuristisches Prinzip bei der Auseinandersetzung mit der Tradition fungieren soll. Mit dem monumentalischen Interesse und mit der Bestimmung des darin implizierten Vorverständnisses von Philosophiegesdiichte ist die einleitend gestellte Frage nach der Art eines sachgemäßen und gerechtfertigten Interesses an der Philosophiegeschichte beantwortet. Die Antwort hat aber etwas Unbefriedigendes, weil das gewonnene Vorverständnis nur zu einer formalen Kennzeichnung des Verlaufs der Philosophiegeschichte führte. Soll diese rein formale Bestimmung, d.h. die Komplementarität von Fortschritt und Zurückbleiben hinter vorgezeichneten Möglichkeiten, zum Leitfaden einer konkreten Auseinandersetzung mit der Tradition werden, so bedürfen wir eines inhaltlichen Maßstabes, an dem das Fortschreiten und das Zurückbleiben gemessen werden können. Dieser Maßstab wird offenbar durch die „Sache" in einem weitesten Sinne gesetzt, die wir in der unbedingt verbindlichen philosophischen Erkenntnis zu erfassen beanspruchen. Die Entscheidung darüber, welches diese Sache der Philosophie ist, kön-

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nen wir nur treffen, indem wir eine weitere bisher formal gebliebene Bestimmung durch eine inhaltliche Kennzeichnung ergänzen. Was Sache der Philosophie ist, entscheiden zuletzt wir, die wir heute Philosophie treiben; denn welche überkommene Aufgabenstellung wir übernehmen und in welcher Weise wir das tun, liegt allein bei uns, den gegenwärtig Philosophierenden. Wer sind aber die gegenwärtig Philosophierenden? Wann hat die Gegenwart der Philosophie, zu der wir uns zählen, begonnen? Hier ergibt sich offenbar die Notwendigkeit, die formale Abgrenzung der Gegenwart der Philosophie von ihrer Vergangenheit durch eine inhaltliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Entwicklungsabschnitten zu ergänzen. Die Gegenwart unterscheidet sich von der Vergangenheit durch das Auftreten des vorhin bereits erwähnten Neuen. Die philosophische Gegenwart inhaltlich von ihrer Vergangenheit abgrenzen und damit zugleich über die Sache der Philosophie entscheiden, heißt demnach zunächst: den Denker oder das Werk angeben, bei oder in dem derjenige neue Gedanke auftritt, mit dem sich die für uns Heutige verbindliche Erkenntnisaufgabe erstmals oder erstmals explizit stellt. Zumeist gilt das Werk Kants als diese Wendemarke, die die philosophische Gegenwart einleitet. Dieser Auffassung soll hier gefolgt werden, ohne daß es schon an dieser Stelle möglich ist, diese Entscheidung zu begründen. Die Entscheidung wird sich im weiteren Verlauf der Erwägungen dieses Teils der Untersuchung dadurch indirekt rechtfertigen, daß wir auf die älteste Idee von Philosophie, wie sie in der Vorsokratik gestiftet wurde, zurückgreifen und zeigen, daß mit der Wende, die Kant der Philosophie gegeben hat, in gewissem Sinne nur diese älteste Idee unter neuzeitlichen Bedingungen erneuert wurde. Gesetzt, die philosophisdie Gegenwart beginnt mit Kant, so läßt sich die Sache der Philosophie unschwer fesdegen. Kant selbst hatte ein Bewußtsein von der philosophiegeschichtlichen Wende, die er einleitete. Er bezeichnete sie als kopernikanisdi und deutete damit an, daß die bisher geltende ontologische Fragestellung der Philosophie der Vergangenheit angehöre und in die transzendentale zu überführen sei. Die philosophisdie apriorische Erkenntnis des Seienden muß nach und seit Kant die Gestalt einer transzendentalen apriorischen Untersuchung des Bewußtseins-vom-Seienden annehmen. Der letzte Grund dafür liegt in der Einsicht, die sich seit Descartes vorbereitet hatte, daß eine wirklich befriedigende Absicherung der Verbindlichkeit philosophischer Erkenntnis, wenn überhaupt, dann nur in der Dimension des Selbstbewußtseins möglich ist. Die transzendentale Untersuchung hat daher wesentlich den Charakter der Reflexion.

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Das Bewußtsein von Seiendem, das Gegenstand dieser Reflexion ist, stellt sich im Licht der transzendentalen Position als vorphilosophisch-naiv dar. Die Naivität besteht in einer fundamentalen Selbstvergessenheit, d. h. einer Vergessenheit, die dem naiven Bewußtsein ihrerseits als solche nicht bewußt wird. Das naive Bewußtsein lebt in der Vergessenheit davon, daß das Ansich-Sein des Seienden, d. h. die im außerphilosophischen Leben als selbstverständlich vorausgesetzte Unbezüglichkeit der vorgefundenen Wirklichkeit auf das Bewußtsein, Resultat konstitutiver Leistungen eben dieses Bewußtseins ist. Die Selbstvergessenheit, die das naive Bewußtsein ausmacht, ist dasjenige, was eine transzendentalphilosophische Theorie sowohl zu kritisieren, d. h. als Vergessenheit zu durchschauen, als auch in seiner Möglichkeit zu erklären hat. Wie diese Erklärung und Kritik zu vollziehen sei, unterliegt in der Entwicklung von Kant über Fichte, Schelling und Hegel bis hin zu Husserl unterschiedlichen Auffassungen. Im Hinblick auf die im Folgenden verwendete Terminologie sei daran erinnert, daß Hegel in der „Phänomenologie des Geistes" den Zustand der Selbstvergessenheit als „natürliches Bewußtsein" bezeichnet hat und daß Husserl vom Bewußtsein auf dem Boden der „natürlichen Einstellung" gesprochen hat. Das außerphilosophische Bewußtsein kann deswegen „natürlich" genannt werden, weil die für dieses Bewußtsein konstitutive Selbstvergessenheit eine Einstellung oder Haltung begründet, die niemand erst eigens einzunehmen oder hervorzubringen braucht: diese Grundhaltung ist in diesem Sinne etwas von selbst Vorliegendes und der Philosophie Vorgegebenes und insofern natürlich. Weil die natürliche Einstellung das schlechthin Selbstverständliche ist, kann sie aber erst dann in ihrer Existenz bemerkbar und in ihrem Wesen analysierbar werden, wenn das Denken eine Position einnimmt, auf der es diese Selbstverständlichkeit als solche durchschaut und infrage stellt. Daß und in welcher Weise es so etwas wie „natürliches Bewußtsein" gibt, tritt also überhaupt erst durch den Kontrast zur Transzendentalphilosophie hervor. Die Kennzeichnung der außerphilosophischen Natürlichkeit als „Bewußtsein" erwies sich schon in der Entwicklung des Idealismus und erst recht in der nadihegelschen Krise des transzendental-idealistischen Denkens als problematisch, da das, was in der Entwicklung nach Kant Gegenstand transzendentaler Erklärung und Kritik wird, mehr umfaßt als nur das Bewußtsein, sofern unter Bewußtsein ausschließlich der sich selbst durchsichtige Bezug des Subjekts auf Gegenstände, von denen es sich unterscheidet, verstanden wird. Es scheint daher angebracht, den Titel „Bewußtsein" in diesem Zusammenhang durch einen neutralen umfassenderen Titel zu ersetzen. In loser

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Anknüpfung an einen bereits idealistischen und bei Nietzsche, Dilthey und beim späten Husserl wiederkehrenden Sprachgebrauch, jedoch ohne strenge Bindung an das bei einem dieser Denker damit Gemeinte, soll hier für „natürliches Bewußtsein" audi der Ausdrude „außerphilosophisches oder vorphilosophisches Leben" eingesetzt werden, — ein Ausdruck, dessen Bedeutung im Rahmen der vorliegenden Untersuchung erst im Heraklit-Teil ausführlich erörtert und präzisiert werden kann. Wenn für die mit Kant eingeleitete Gegenwart die Erklärung und Kritik des natürlichen Bewußtseins oder des vorphilosophischen Lebens zu einer, wenn nicht der zentralen Aufgabe der Philosophie wird, so liegt das nach dem eben Gesagten an der Rückgründung der Verbindlichkeit philosophischer Erkenntnis auf das Selbstbewußtsein. Auf Grund dieser transzendentalen Neufassung des Verbindlichkeitsanspruchs erscheinen nun die überlieferten Philosophien prinzipiell, sofern sie nämlidi einem vortranszendentalen Denken entspringen, als unvollkommene Vorläufer einer gegenwärtig zu entwickelnden Theorie oder Kritik des natürlichen Bewußtseins. Fortschritt oder Zurückbleiben besagen nunmehr inhaltlich: Nähe oder Ferne zu einer gelingenden Theorie oder Kritik des natürlichen Bewußtseins oder des vorphilosophischen Lebens. Gesetzt, die Sadie der Philosophie in ihrer mit Kant anhebenden Gegenwart und von daher der inhaltliche Maßstab für die Beurteilung des Verlaufs der Philosophiegeschichte seien damit (wenn audi gewiß nicht vollständig, so doch) im Ansatz zutreffend gekennzeichnet, so bleibt die Frage, ob sich mit einem solchen Selbstverständnis gegenwärtiger Philosophie das aus dem wohlverstandenen monumentalischen Interesse hergeleitete Vorverständnis von Philosophiegeschichte überhaupt vereinbaren läßt. Dieses Vorverständnis ist durch den Komplementaritätsgedanken gekennzeichnet. Soll dieser Gedanke dem gegenwärtigen philosophischen Denken als Leitfaden für die Erforschung seiner Vorgeschichte dienen können, so impliziert das, daß wir unser eigenes Denken selbst von vornherein als ein doppeldeutiges Unternehmen begreifen müßten: Wir müßten es einerseits als eine Bemühung um Zuwachs an schlechthin verbindlicher transzendentaler Erkenntnis über das außerphilosophische Leben verstehen und andererseits zugleich als einen Versuch, der gerade, wenn und indem er gelingt, hinter Denkmöglichkeiten zurückbleibt, die durch das früher — d. h. in transzendentalphilosophischer Sicht unvollkommener — Gedachte vorgezeichnet sind. Diese Doppeldeutigkeit einer transzendentalphilosophisch „kritischen Theorie" des natürlichen Bewußtseins ist nun nicht nur durch das monumentalische Interesse an der Philosophiegesdiichte gefordert. Sie ergibt sich audi durch folgende einfache

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Überlegung zum Verhältnis von transzendentalem Standpunkt und natürlichem Bewußtsein: Eine Theorie des natürlichen Bewußtseins muß sich als unbedingt verbindliche Kritik an der selbstvergessen vollzogenen Vorüberzeugung über das Sein der uns begegnenden Welt verstehen, die das außerphilosophische Leben leitet. Eine solche mit dem Anspruch auf unbedingte Verbindlichkeit auftretende Kritik setzt die vollständige Erklärung dessen voraus, woran die Kritik geübt wird. Eine Kritik, die behaupten würde, dem Verbindlichkeitsanspruch völlig entsprochen zu haben, beanspruchte zugleich, den Gegenstand ihrer Überprüfung vollständig erklärt zu haben. Nun kann aber das vorphilosophische Leben selbst nur bestehen, indem es sich auf dem Boden unbefragt geltender Vorurteile über das Sein dessen, was uns begegnet, vollzieht. Das außerphilosophische Bewußtsein ist in jeder Transzendentalphilosophie durch diese Fraglosigkeit und Vorurteilsbefangenheit definiert. Es muß sich daher der vollständigen Erklärung widersetzen. Diese Widerspenstigkeit gegen die philosophische Erklärung und Kritik ist für das natürliche Bewußtsein konstitutiv. Die philosophische Theorie ihrerseits setzt als Theorie-über-etwas jene Widerspenstigkeit als diejenige Einstellung voraus, wogegen sich ihre Erklärung und Kritik durchsetzt. Sie muß sich selbst die „Gedankenlosigkeit" des natürlichen Bewußtseins vorgeben, um sie zu Gedanken bringen zu können. Würde es nun der Transzendentalphilosophie gelingen, die natürliche Befangenheit in Seinsvorurteilen vollständig in Gedanken aufzuheben, so wäre damit die Differenz zwischen der „Gedankenlosigkeit" , dem zu Erklärenden, und dem Gedanken, der Erklärung, beseitigt. Die Kritik entzöge nicht nur dem natürlichen Bewußtsein, sondern zugleich sich selbst den Boden. Die Philosophie ist angewiesen auf das von ihr unterschiedene naive Leben, das ihr zur Erklärung vorgegeben und aufgegeben ist. Würde die Aufgabe völlig gelöst, so wäre sie damit als Aufgabe beseitigt. Das vorgegebene Leben muß Aufgabe bleiben. Je näher demnach die Theorie des natürlichen Bewußtseins ihrem Telos einer vollständigen Einlösung ihres Verbindlichkeitsanspruches rückt, umso mehr setzt sie sich der Gefahr aus, daß sie das außerphilosophische Leben in seiner Unterschiedenheit vom philosophischen Denken aus dem Auge verliert, obwohl das letztere als transzendentale Erklärung und Kritik dieser Unterschiedenheit bedarf. Im Licht des teleologischen Strebens nach unbedingt verbindlicher Erkenntnis erscheinen die überlieferten philosophischen Versuche notwendig als unvollkommene Vorläufer einer gelingenden Theorie des natürlichen Bewußtseins. Gerade wegen dieser Unvollkommenheit stehen sie aber der transzendentalen „Gedankenlosigkeit" des außerphilosophischen

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Lebens noch näher. In ihnen kommt noch weniger verstellt, d. h. weniger durch Erklärung in Gedanken verwandelt, dieses Leben selbst zu Wort. Das ist allerdings nicht so zu verstehen, als enthielte die philosophische Überlieferung Stücke ausgeführter transzendentaler Selbstexplikation des natürlichen Bewußtseins, die die gegenwärtige Theorie darüber nur zu übernehmen brauchte. Was hier der gegenwärtigen Philosophie zum Nutzen für ihre eigene Zukunft vorgegeben ist, sind nicht fertig vorgedachte Gedanken, sondern Möglichkeiten des Zu-Denkenden, die in unvollkommenen Vorgestalten von Transzendentalphilosophie versteckt sind. In diesem Sinne enthält das — mit einem Ausdruck Heideggers — im überkommenen Sagen Ungesagte ein Angebot für das gegenwärtige Denken bereit. Dieser Zusammenhang läßt sich auch folgendermaßen verdeutlichen: Im Verhältnis zwischen gegenwärtiger und vergangener Philosophie wiederholt sich in einer Hinsicht das Verhältnis zwischen Philosophie überhaupt und außerphilosophischem Leben. Dieses ist dasjenige, woran die Philosophie gemäß ihrem durch Kant gestifteten Selbstverständnis ein Interesse nimmt. Die im Licht der transzendentalen Kritik zutage tretende Gedankenlosigkeit und Beschränktheit des vorphilosophischen Bewußtseins lassen dieses als das gegenüber der philosophischen Theorie im betonten Sinne Vergangene, nämlich Überwundene erscheinen. Philosophie ist — so lautet eine ihrer im deutschen Idealismus häufig wiederkehrenden Bestimmungen — als transzendentale Vergegenwärtigung dieses Vergangenen Erinnerung. Würde es dieser Erinnerung gelingen, die vorphilosophische Vergangenheit vollständig in sich aufzuheben, so würde sich die Philosophie damit desjenigen berauben, dessen Theorie sie ist. Sie muß also in ihrem eigenen Interesse dieser vorphilosophischen Vergangenheit den Vorsprung einer Zukunft gegenüber sich selbst einräumen. Sie muß als endliche Theorie die Uneinholbarkeit des Unphilosophischen anerkennen und dieses darum nach dem bekannten Wort Schellings und Feuerbachs in ihren Text aufnehmen. Sie muß sich mit Merleau-Ponty eingestehen, daß die Helle der Aufklärung über das natürliche Bewußtsein von einem nicht aufzuhellenden Schatten begleitet bleibt. Dieses Eingeständnis darf allerdings nicht zum Alibi werden für einen grundsätzlichen Verzicht auf das Streben nach unbedingt verbindlicher Erkenntnis. Zu einem solchen Verzicht kommt es dann, wenn der Aufgabecharakter des vorgegebenen außerphilosophischen Lebens für die Philosophie verdinglicht wird, d. h. wenn das außerphilosophische Leben nicht als etwas grundsätzlich vom philosophischen Gedanken zu durchdringendes Bestimmbares, sondern als etwas schlechthin der gedanklichen Bestimmung entzogenes Seiendes ausgegeben wird. Diese materialistische oder «rationalistische

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Wendung des Gedankens enthält zwar das Wahrheitsmoment, daß die totale Auflösung der Aufgabe, das vorphilosophische Leben zu bestimmen, der Philosophie nicht gelingen kann; doch kann die Philosophie wegen ihres Verbindlichkeitsansprudis nicht davon ablassen, das uneinholbar zukünftig bleibende vorphilosophische Leben so weitgehend wie möglich transzendental zur Vergangenheit herabzusetzen. Diesen vernunftteleologisdien Charakter ihres Vorgehens kann die Philosophie nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Gleichwohl ist das Telos dieser Teleologie, die vollständige Einholung des außerphilosophischen Lebens in gedankliche Bestimmtheit, nur formal antizipierbar, inhaltlich bleibt es notwendig offen. Auf diese eigentümliche Offenheit der Teleologie der Philosophiegeschichte werden wir im nächsten Kapitel in konkreterer Form zurückkommen. Nach dem Gesagten ist die Einheit zweier Bestimmungen des Verhältnisses von gegenwärtiger Philosophie und Tradition festzuhalten: Je mehr die Philosophie der Tradition den Ansprüchen einer gelingenden transzendentalen Theorie des natürlichen Bewußtseins entspricht, d. h. je vollkommener dieses in ihr zur Vergangenheit wird, um so mehr setzt sich damit die überlieferte Philosophie selbst zur Vergangenheit gegenüber dem gegenwärtigen Denken herab. Je mehr sie andererseits umgekehrt gerade durch ihr Zurückbleiben hinter der Theorie, an der sie von uns gemessen wird, indirekt die Uneinholbarkeit des vorphilosophischen Lebens sichtbar werden läßt, umso reicher sind die Möglichkeiten, die sie für das gegenwärtige Denken bereithält. Die überlieferten Gedanken sind Vergangenheit, indem sie in das gegenwärtig verbindlich zu denkende Resultat als ihre Wahrheit vergehen, und sie bleiben ineins damit Zukunft, weil sie vom uneinholbaren Vorsprung des vorphilosophischen Lebens vor der Theorie zehren. Der Gedanke dieser Komplementarität, der sich aus dem rechtverstandenen monumentalischen Interesse als legitimer Leitfaden zum Verständnis der Philosophiegeschichte ergab, ist damit, unter der Voraussetzung, daß Philosophie als Theorie des natürlichen Bewußtseins oder außerphilosophischen Lebens begriffen werden muß, auch in inhaltlicher Beziehung gerechtfertigt.

2. Kapitel Das philosophische Interesse an der Wissenschaftsgeschichte A. Transzendentalphilosophie und objektive Wissenschaft Die vorangegangenen Überlegungen zum Verhältnis von gegenwärtiger Philosophie und ihrer — gemessen am transzendental neugefaßten Verbindlichkeitsanspruch — unvollkommenen Vorgeschichte bedürfen einer wesentlichen Ergänzung. Bisher wurde davon abgesehen, daß es nicht nur zum Selbstverständnis der Philosophie, sondern unverzichtbar auch der nichtphilosophischen Wissenschaften gehörte und gehört, dem Anspruch verbindlicher Erkenntnis genügen zu wollen. In diesem Sinne konnten viele Untersuchungsbereiche, in denen sich heute die von der Philosophie emanzipierten Einzelwissenschaften angesiedelt haben, früher zur Philosophie im weiteren Sinne, verstanden nämlich als der einen umfassenden „Wissenschaft" l , gerechnet werden. Aber audi nach ihrer Emanzipation von der Philosophie haben die Einzelwissenschaften den Verbindlichkeitsanspruch ihrer Erkenntnis keineswegs fallen gelassen, sondern ihn im Gegenteil, vor allem in dem Anspruch auf Objektivität, noch einmal bestätigt und in eigentümlicher Weise erneuert. Dieser Anspruch hat das Selbstverständnis der sich von der Philosophie ablösenden Wissenschaften so sehr geprägt, daß heute das außerwissenschaftliche Bewußtsein die Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt weitgehend mit deren Objektivität identifiziert. Die Zugehörigkeit einer Reihe von heute als nichtphilosophisch angesehenen wissenschaftlichen Disziplinen zur Philosophie bedeutete selbstverständlich nicht, daß das philosophische und wissenschaftliche Denken vor der modernen Emanzipation der Einzelwissenschaften nicht zwischen den verschiedenartigen und abgestuften Verbindlichkeitsansprüchen von eigentlich philosophischer und nicht im strengen Sinne philosophischer wissenschaftlicher Erkenntnis unterschieden hätte. Nachdem das philosophische und das wissenschaftliche Denken in der frühen Vorsokratik zunächst eine — je1

Belege für diese Gleidisetzung von Philosophie mit Wissenschaft bei J. E. Heyde, in: Worte und Werte. Festschrift für Bruno Markwardt, Berlin 1961, S. 123 ff.

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denfalls soweit wir darüber Bescheid wissen — ungebrochene Einheit bildeten, entwickelte sich bald ein Bewußtsein von solchen Unterscheidungen, — vielleicht am frühesten bei Heraklit (worauf hier noch die Rede kommen wird), dann vor allem bei Aristoteles. Die Einschränkungen, die sich daraus von vornherein für den Verbindlichkeitsanspruch der heute einzelwissenschaftlich genannten Erkenntnis ergaben und ergeben, sind aber für die hier anzustellenden Erwägungen nicht von Belang. Es genügt zunächst die Feststellung, daß es auch einen Verbindlichkeitsanspruch der nicht im engeren Sinne philosophischen wissenschaftlichen Erkenntnis gab und gibt, — ein Anspruch, der sich früher in der Zurechenbarkeit der Wissenschaften zur Philosophie im weiteren Sinne bekundete und der uns im Zeitalter der Emanzipation der Einzelwissenschaften als Objektivitätsideal vertraut geworden ist. Aus dieser Feststellung ergibt sich, daß sich das Interesse des gegenwärtigen Denkens an seiner Vergangenheit nicht nur auf die Philosophie im engeren Sinne dieses Wortes beziehen darf, sondern in gewissem Umfange die frühere wissenschaftliche Theoriebildung überhaupt mitberücksichtigen muß; denn jede Erkenntnis, die wegen ihres eigens begründeten Anspruchs auf Verbindlichkeit in einem weiteren Sinne der Philosophie zugerechnet werden konnte, verdient zumindest ein antiquarisches und kritisches philosophisches Interesse. Allerdings liegt es nahe, die philosophische Motivation für die Zuwendung zur Wissenschaftsgeschichte von vornherein auf diese beiden Gestalten von Interesse zu beschränken, da auf der Hand zu liegen scheint, daß sich aus der Beschäftigung mit irgendwelchen überholten und für uns zum großen Teil sogar abstrusen früheren wissenschaftlichen Theorien wohl schwerlich ein echter Gewinn für die Zukunft der Philosophie im Sinne des monumentalischen Interesses ziehen läßt. Am Objektivitätsanspruch und dem ihm zugrundeliegenden ausgereiften Methodenbewußtsein gegenwärtiger Wissenschaft gemessen müssen uns ja die meisten Theorien der Vergangenheit in der Tat als ein Panoptikum mehr oder weniger unzulänglicher Erkenntnisbemühungen erscheinen, für die man nur deshalb ein Interesse aufbringen kann, weil man entweder in der Entdeckung von Vorläufern heutiger Theorien eine Befriedigung findet oder weil man daran sein Vergnügen hat, mit einer Mischung von Spott und Mitleid auf Irrwege und Kuriositäten der Vergangenheit Rückschau zu halten. Doch die wissenschaftlichen Theorien der Vergangenheit brauchen nicht ausschließlich im Lichte ihres Zurückbleibens hinter den Ansprüchen gegenwärtiger Wissenschaft betrachtet zu werden. Sofern sie zum Gesamtverband der Philosophie im weiten Wortsinne gerechnet werden konnten, muß es

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möglich sein, an ihnen ebenso wie an der vortranszendentalen Philosophie ein monumentalisches Interesse zu nehmen. Die Motivation eines solchen Interesses 2 wurde im vorangegangenen Kapitel bereits vorbereitet, und das ist nun zu zeigen. Das recht verstandene monumentalische Interesse einer transzendentalen Erklärung und Kritik des außerphilosophischen Lebens an früherer Philosophie entsprang der Erwartung, daß dieses Leben selbst in einer hinter dem gegenwärtigen Verbindlichkeitsanspruch zurückbleibenden philosophischen Theorie weniger durch Gedanken überlagert (wenn auch nur indirekt) zur Sprache kommen könnte. Die Motivation des monumentalischen Interesses beruht demnach im Grunde auf der Unterscheidung zwischen dem philosophischen Denken mit seinem Verbindlichkeitsanspruch einerseits und dem von diesem Verbindlichkeitsanspruch freien außerphilosophischen Leben andererseits. Diese Unterscheidung ist nun formal auch im Selbstverständnis der Wissenschaften vorausgesetzt. Wenn Wissenschaft mit ihren Erkenntnissen bestimmten Verbindlichkeitsansprüchen genügen will, dann unterscheidet sie damit implizit oder explizit zwischen sich selbst und dem außerwissenschaftlichen Leben, das — sofern es sich als Erkenntnis vollzieht — seine Erkenntnisse jedenfalls nicht dem wissenschaftlichen Verbindlichkeitsanspruch unterstellt. Die Wissenschaft setzt sich beständig mit diesem außerwissenschaftlichen Leben insofern auseinander, als sie bei ihrem Streben nach Objektivität die außerwissenschaftliche Erkenntnisart zu überwinden und ihre Reste in der wissenschaftlichen Erkenntnis fortschreitend zu eliminieren sucht. Ähnlich wie nun das monumentalische Interesse von Transzendentalphilosophie an ihrer Vorgeschichte auf der Erwartung beruht, daß sich in den — transzendentalphilosophisch gesehen — unvollkommenen Theorien dieser Vorgeschichte das außerphilosophische Leben weniger verstellt ausspricht, könnte sich ein monumentalisches Interesse an der Vorgeschichte gegenwärtiger Wissenschaft daran entzünden, daß sich in den wissenschaftlichen Theorien der Vergangenheit das außerwissenschaftliche Leben deutlicher zeigt. Dieses Interesse würde überdies dann mit dem Interesse von Transzendentalphilosophie an ihrer Vorgeschichte zusammenfallen, wenn sich nachweisen ließe, daß es sich bei dem außerphilosophischen und dem außerwissenschaft2 Das Interesse an der Wissenschaftsgeschichte ist heute vor allem durch die Arbeiten von Kuhn neu erwacht. Es würde den Rahmen dieser Überlegungen sprengen, hier zu Kuhns Entwurf Stellung zu nehmen. Es sei nur bemerkt, daß die philosophische Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte solange in der Luft hängt, als nicht die Frage gestellt und beantwortet ist, wie sich ein monumentalisches Interesse daran aufweisen läßt.

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liehen Leben, welches jeweils in den philosophischen bzw. wissenschaftlichen Theorien der Vergangenheit durchschlug, um ein und dasselbe Leben handelte. Nun bietet das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften in der Vergangenheit sogleich einen gewichtigen Anhaltspunkt dafür, daß wir das außerphilosophische und das außerwissenschaftliche Leben, denen sich die frühere Wissenschaft und Philosophie entgegensetzten, als identisch betrachten dürfen: Wie bereits erwähnt, war es, bevor es zur modernen Emanzipation der Einzelwissenschaften von der Philosophie kam, möglich, das nicht im strengen Sinne philosophische wissenschaftliche Wissen der Philosophie im weiteren Sinne zuzurechnen. Die Philosophie und die Wissenschaften konnten so als ein einziges (wenn auch in sich gegliedertes und nach Verbindlichkeitsarten abgestuftes) Ganzes von Erkenntnissen angesehen werden, die durch die Ausrichtung an einem eigens aufgestellten Verbindlichkeitsideal eine Überlegenheit gegenüber der Erkenntnisart des gleichermaßen außerphilosophischen wie außerwissenschaftlichen Lebens beanspruchten. Dieses Leben stellte sich somit im Lichte jenes einen Überlegenheitsanspruchs ebenfalls als eine einheitliche Gegebenheit dar, nämlich als das in seiner Erkenntnis- und Denkart im Vergleich zum wissenschaftlich-philosophischen Denken Unterlegene. Damit ergibt sich die Aufgabe, genauer zu bestimmen, durch was sich ein gleichermaßen außerphilosophisches wie außerwissenschaftliches Leben von einer als Einheit verstandenen Philosophie und Wissenschaft unterscheidet. Wie eben schon angedeutet, läßt sich die methodische Bemühung der modernen Wissenschaft, sofern hier Verbindlichkeit als Objektivität auftritt, als fortschreitende Eliminierung der „Rückstände" aus der vorwissenschaftlichen Erkenntnis- und Beurteilungsart im Bereich der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis ansehen. Daraus ergibt sich ein erster Schritt zur Lösung der genannten Aufgabe: Es ist genauer zu prüfen, was wir eigentlich unter diesen Resten nicht-objektiver Erkenntnis zu verstehen haben. Diese Reste müßten ja nach den bisherigen Überlegungen dasjenige sein, was ein monumentalisches Interesse an der Wissenschaftsgeschichte wecken könnte. Soweit das vorwissenschaftliche Leben, das sich in solchen Rückständen innerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst erhielt, mit dem außerphilosophischen Bewußtsein identisch war, fiele jenes monumentalische Interesse an der Wissenschaftsgeschichte mit dem Interesse der transzendentalen Theorie des natürlichen Bewußtseins an ihrem Gegenstand zusammen. Die Rückstände vorwissenschaftlicher Erkenntnisart, die den wissenschaftlichen Fortschritt früher so lange aufgehalten haben und auch gegenwärtig

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noch immer behindern, kennzeichnen wir heute als „das bloß Subjektive". Die Subjektivität dieses Subjektiven stellen wir in Gegensatz zur Objektivität, die die gelingende wissenschaftliche Erkenntnis auszeichnet. Wir verstehen unter der genannten Subjektivität den Umstand, daß die Geltung bestimmter Erkenntnisse auf einzelne Subjekte oder Gruppen von Subjekten und deren Erkenntnissituation eingeschränkt ist. Das in einer subjektiv „gefärbten" oder „getrübten" Erkenntnis Erkannte stellt sich so nur für Jemanden oder für mehrere Jemande dar und zwar entsprechend der Situation, in der sie sich jeweils gerade befinden. Das objektiv Erkannte ist frei von der Bezogenheit auf diese situationsbedingte Jeweiligkeit von einzelnen Subjekten oder Subjektgemeinschaften. Was objektiv ist, hat den Charakter des Ansich-Seins im Gegensatz zum „Sein bloß für Jemand"; es ist Subjekt-irrelativ. Es sei angemerkt, daß uns hier im Zusammenhang der Problematik der Erhebung des Verbindlichkeitsanspruchs nur die als Subjekt-Irrelativität verstandene Objektivität zu interessieren braucht. Von anderen Bedeutungen oder Bedeutungskomponenten von „Objektivität" kann hier deshalb abgesehen werden. Auch die Tatsache, daß die heutige Wissenschaft teilweise die normativen Ansprüche, denen sie sich unterstellt, nicht mehr mit Hilfe des Begriffs der Objektivität formuliert, ist für unseren Zusammenhang irrelevant; denn, wie auch immer der Verbindlichkeitsanspruch differenziert werden mag, so ändert das nichts an der Grundabsicht moderner Wissenschaft, Erkenntnisse zu gewinnen, deren Geltung nicht auf einzelne Subjekte oder Subjektgruppen eingeschränkt ist, — also in diesem Sinne „Objektivität" zu erreichen. Wenn etwas das monumentalische Interesse des Transzendentalphilosophen an der Wissenschaftsgeschichte erregen soll, dann kann es nach den bisherigen Überlegungen nur die noch nicht überwundene „Subjektivität", d. h. die Relativität heute überholter wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Jeweiligkeit von Situationen des oder der Erkennenden sein. Die moderne Wissensdiaft versucht mit methodischer Entschlossenheit, ihre Aussagen grundsätzlich unabhängig davon zu machen, wie jeweils etwas Jemandem oder Jemanden situationsbedingt erscheint. Dieses Erscheinen von etwas in situativer subjektiver Jeweiligkeit hat Husserl als ein zentrales Thema für die transzendentalphilosophische Erklärung und Kritik des natürlichen Bewußtseins entdeckt und unter dem Titel der „Gegebenheitsweisen" zum Grundproblem seiner Phänomenologie gemacht. Husserls letztem Werk, der Abhandlung über die „Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie", verdankt die vorliegende Untersuchung die entscheidende Anregung, die Rolle jener Gegebenheitsweisen in der früheren

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und frühesten Gestalt der Wissenschaft zum Gegenstand eines monumentalischen transzendentalphilosophischen Interesses an der Wissenschaftsgeschichte zu machen3. Um die Husserlsche Entdeckung der Gegebenheitsweisen für die vorliegenden Überlegungen fruchtbar zu machen, bedarf es im folgenden eines ausführlicheren Eingehens auf einige seiner Grundgedanken. Die Gegebenheitsweisen als Gegenstand eines monumentalischen Interesses, — gegen diesen Gedanken erhebt sich zunächst vom Standpunkt moderner Wissenschaft aus ein naheliegender Einwand: Das Subjektive der Gegebenheitsweisen ist das, was die gegenwärtige Wissenschaft zu überwinden, hinter sich zu lassen sucht, also das Vergangene im emphatischen Sinne. Wie soll dieses Vergangene künftige Erkenntnismöglichkeiten im Sinne des monumentalischen Interesses bereit halten können? Sind die subjektiven Momente in der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht eine quantite negligeable? Diesem Einwand ist nur zu begegnen, wenn sich zeigen läßt, daß die Gegebenheitsweisen für die wissenschaftliche Erkenntnis selbst mehr sind als bloß die zu eliminierenden Störungsfaktoren im Fortschritt zu immer größerer Objektivität. Zweifellos wird jedermann zugeben, daß die subjektiven Gegebenheitsweisen in jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnisbemühung als dasjenige im Spiel sind, wovon sich die wissenschaftliche Erkenntnis gewissermaßen beständig abstößt. Diese negative Beziehung auch noch der gegenwärtigen Wissenschaft zu den Gegebenheitsweisen läßt sich zwar für ihren gegenwärtigen Forschungsstand nicht leugnen, aber es könnte scheinen, als sei ein fortgeschritteneres oder fortgeschrittenstes Stadium objektiver Erkenntnis zumindest als Zielvorstellung denkbar, in dem sogar jene negative Bezogenheit wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Gegebenheitsweisen beseitigt wäre. Als (wenn audi vielleicht in unendlicher Ferne liegende) Vollendung objektiver Erkenntnis wäre eine Erkenntnis ohne Relativität auf die situative Jeweiligkeit des oder der Erkennenden zu denken. Sofern die neuere Wissenschaft sich insgeheim oder offen von dieser Zielvorstellung leiten läßt, heißt sie bei Husserl in der Krisis-Abhandlung objektivistisch. Dieser Objektivismus läßt sich nun offenbar sehr schnell als ein Widerspruch in sich durchschauen; denn eine Erkenntnis ohne Relativität auf einen erkennenden Jemand in seiner jeweiligen Situation bedeutete etwas Erkanntes ohne Erkennenden; Erkanntsein ist aber Erkanntsein durch jemanden. Jegliche Bezogenheit von Er3

Allerdings sei gleich darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff der Gegebenheitsweise in der vorliegenden Untersuchung durch die Einführung des Begriffs der reinen zuständlichen Bestimmtheiten in einer Weise erweitert werden wird, die nicht im Horizont der Husserlschen Forschungen lag.

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kenntnis auf die Gegebenheitsweisen aufheben, hieße: Erkenntnis selber aufheben. Durch diese einfache Überlegung, die Husserls vielfältige Reflexionen auf die Situation der modernen Wissenschaft in der Krisis-Abhandlung geleitet hat, kommt sogleich etwas außerordentlich Merkwürdiges zum Vorschein: Der modernen, objektivistischen Wissenschaft wohnt die Tendenz inne, jegliches subjektive Erkenntnismoment fortschreitend zu eliminieren. Bei dieser Bemühung ist sie überaus erfolgreich. Dieser Erfolg spricht durchschlagend dafür, daß der Objektivismus der Wissenschaften einen vernünftigen Sinn hat. Andererseits läßt sich nicht bestreiten, daß die Zielvorstellung, von der jene Tendenz geleitet ist, in ihrer Reinheit genommen eine Absurdität darstellt. Dieser Widerspruch ist nicht zu beseitigen: Die Wissenschaft muß die Relativität ihrer Erkenntnis auf die Gegebenheitsweisen um ihrer Verbindlichkeit willen negieren. Sie muß die gleiche Relativität aber audi aufrechterhalten und wollen, wenn das Ziel der Forschung nicht absurd werden soll. Mit diesem Widerspruch wird der Sinn moderner Wissenschaft überhaupt problematisch, und es stellt sich unabweisbar die Frage, wie das zugleich negative und affirmative und in diesem Sinne, wenn man so will, dialektische Verhältnis der objektiven Wissenschaft zu den Gegebenheitsweisen zu verstehen sei. Bevor die Lösung dieser Aufgabe in Angriff genommen werden kann, ist die Vorfrage zu stellen, in wessen Kompetenz diese Lösung fällt. Welche Disziplin oder welche Erkenntnisart ist geeignet und imstande, das „dialektische" Verhältnis der Wissenschaften zu den Gegebenheitsweisen sachgemäß methodisch auseinander zu legen und verständlich zu machen? Offenbar nicht die moderne Wissenschaft selbst in ihrem Streben nach immer mehr Objektivität: Die Wissenschaft hat zwar als konkrete Forschung insofern beständig mit den Gegebenheitsweisen zu tun, als sie sich bemüht, ihre Ergebnisse davon unabhängig zu machen. Sie hat die Gegebenheitsweisen überdies sogar ausdrücklich dann zum Thema, wenn sie sich in methodologischen oder wissenschaftstheoretischen Fragestellungen eigens darum bemüht, die Zuverlässigkeit und Effizienz ihrer Verfahren zu prüfen und abzusichern. Alle diese Bemühungen sind aber in der für die anstehende Frage entscheidenden Hinsicht in einer „Voreingenommenheit" befangen. Der Forscher ist als solcher voreingenommen für das Ziel der Objektivität. Ihm geht es — auf welchem objektbezogenen oder metatheoretischen Wege auch immer — grundsätzlich um die Maximierung von Objektivität und entsprechend um die Minimierung von „Subjektivität". Er nimmt also einseitig das negative Verhältnis zu den Gegebenheitsweisen ein.

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Wenn hier von „Einseitigkeit" und „Voreingenommenheit" die Rede ist, so sind diese Kennzeichnungen rein deskriptiv gemeint. Es wäre unsinnig, den Wissenschaftler zu tadeln wegen seines Objektivitätsstrebens oder ihm dies ausreden zu wollen. Eine solche romantische Kritik an der Wissenschaft liegt im übrigen auch Husserl in der Krisis-Abhandlung fern. Im Gegenteil: moderne Wissenschaft ist nur als solches Streben möglich. Gleichwohl stellt dieses legitime Streben eine Befangenheit dar, weil es das Verhältnis zu den Gegebenheitsweisen nur als negative Beziehung kennt. In Wahrheit aber muß dieses Verhältnis auch eine affirmative Seite haben; denn ohne diese würde das Objektivitätsstreben, wie sich eben zeigte, von seinem Endziel her absurd. Die Voreingenommenheit für die Objektivität, d. h. die Vergessenheit der affirmativen Beziehung zu den Gegebenheitsweisen, ist für die moderne Wissenschaft konstitutiv. Wenn es aber so steht, kann das „dialektische" Verhältnis von negativer und affirmativer Beziehung zu den Gegebenheitsweisen als solches nicht Gegenstand der Wissenschaft sein. Die Erörterung dieser Problematik muß einer denkenden Besinnung zufallen, die imstande ist, sich aus jener Vergessenheit oder Befangenheit zu lösen. Nach Husserls These in der Krisis-Abhandlung ist diese Besinnung das Geschäft einer transzendentalphilosophischen Reflexion. Das Eigentümliche dieser transzendentalen Reflexion gegenüber den früheren Gestalten von Transzendentalphilosophie besteht darin, daß ihr zentrales Thema die Gegebenheitsweisen sind. Diese wurden als die Weisen bestimmt, wie etwas jeweils jemandem oder jemanden situationsbedingt erscheint. Als solche Erscheinungsweisen heißen sie bei Husserl Phänomene. Die Besinnung auf das „dialektische" Verhältnis von Negation und Affirmation in der Beziehung der Wissenschaften zu den Gegebenheitsweisen ist daher die Aufgabe einer phänomenologischen Reflexion. Mit welchem Recht behauptet Husserl, daß diese Reflexion eine Gestalt von Transzendentalphilosophie sei? Wenn diese Behauptung zu Recht besteht, dann bestätigt sich damit die Vermutung, die diese Überlegungen auslöste: daß nämlich gerade die Reste außerwissenschaftlicher Erkenntnisart, die retardierenden Momente im Fortschritt der Wissenschaften, d.h. die subjektiven Gegebenheitsweisen, für die transzendentalphilosophische Erklärung und Kritik des außerphilosophischen Lebens von sachlichem Interesse seien. Und wenn dies zutrifft, dann eröffnet sich damit ein Weg, auf dem sich ein monumentalisches transzendentalphilosophisches Interesse an der Wissenschaftsgeschichte hinreichend motivieren läßt. Indem wir auf die Beziehung der Wissenschaft zu den Gegebenheitsweisen reflektieren, machen wir die wissenschaftliche Erkenntnis zum Gegen-

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stand unserer Betrachtung. Gegenstand transzendentalphilosophischer Reflexion ist das natürliche Bewußtsein als fraglose selbstvergessene Überzeugung von der Bewußtseinsunabhängigkeit des Seins der Welt. Was hat die wissenschaftliche Erkenntnis mit dem so verstandenen natürlichen Bewußtsein zu tun? Die moderne Wissenschaft stellt sich objektivistisch unter den Anspruch, fortschreitend jegliches subjektive Moment aus ihren Erkenntnissen zu eliminieren. Diese Bemühung kann nur den Sinn haben, die Welt rein in dem, was sie „an sich" ist, hervortreten zu lassen. Damit wird vorausgesetzt, daß die Welt das, was sie ist, ist — gleichgültig, ob und wie jemand dies erkennt oder nicht. Das Objektivitätsstreben der Wissenschaft beruht somit auf der ganz selbstverständlich geltenden Grundüberzeugung, daß das Sein der Welt unabhängig vom erkennenden Bewußtsein stattfindet. Die objektivistische Wissenschaft ist mithin eine Gestalt von natürlichem Bewußtsein. Die fraglose natürliche Überzeugung vom An-Sich-Sein der Welt hat in der neuzeitlichen Wissenschaft in einem hier nicht zu verfolgenden geschichtlichen Prozeß im Ausgang des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit die Gestalt des Bewußtseins von der methodischen Eliminierbarkeit aller subjektiven Momente aus der wissenschaftlichen Erkenntnis angenommen. Damit hat sich bereits in allgemeiner Weise herausgestellt, daß die phänomenologische Besinnung auf das Verhältnis von wissenschaftlichem Objektivitätsanspruch und subjektiven Gegebenheitsweisen ihren Ort innerhalb einer transzendentalphilosophischen Reflexion über eine besondere Gestalt natürlichen Bewußtseins hat. Es bleibt die Aufgabe, diese transzendentale Reflexion zu konkretisieren, d.h. das „dialektische" Verhältnis des wissenschaftlichen Objektivitätsbewußtseins zu den Gegebenheitsweisen zu erklären. Die vorangegangenen Überlegungen waren bereits die ersten Schritte dieser Besinnung: Sie haben ergeben, daß die Wissenschaft in einem merkwürdig zwiespältigen Verhältnis zum außerwissenschaftlichen und außerphilosophischen Leben steht. Auf der einen Seite beansprucht sie, wie sich zunächst zeigte, auf Grund der Verbindlichkeit ihrer Erkenntnisse eine Überlegenheit gegenüber dem vorwissenschaftlichen Leben. In dieser Hinsicht steht sie auf Seiten der Philosophie. Das außerwissenschaftliche und das außerphilosophische Leben erscheinen so als identisch. Auf der anderen Seite erwies sich zuletzt die einseitig negative Beziehung der modernen Wissenschaft zu den Gegebenheitsweisen, d. h. die Vergessenheit der affirmativen Seite dieses Verhältnisses, als eine Gestalt natürlichen Bewußtseins. In dieser Hinsicht steht die Wissenschaft nicht auf Seiten der Philosophie; sie fällt selbst noch ins außerphilosophische Leben. Das Leben, dem gegenüber Philosophie und Wissenschaft ihre Erkenntnis-

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Überlegenheit beanspruchen, gerät so in eine Doppeldeutigkeit: Bald scheint es nur das von der Philosophie Unterschiedene zu sein und die Wissenschaften mit zu umfassen, bald stellt es sich als das auch von der Wissenschaft Unterschiedene dar. Diese Doppeldeutigkeit läßt sich nur erklären durch eine eingehendere transzendentale Analyse der Rolle, die die Gegebenheitsweisen im Leben überhaupt spielen. Im folgenden Abschnitt sei daher in einer Anknüpfung an Husserl, bei der wir einige bei ihm ζ. T. verstreut entwickelte Gedanken im Hinblick auf unsere Problematik systematisieren, ein Überblick über die Hauptergebnisse einer solchen Analyse gegeben, soweit sie hier von Belang sind. B. Die transzendentale

Reflexion auf die

Gegebenheitsweisen

Man kann zunächst davon ausgehen, daß die wissenschaftliche Grundüberzeugung vom An-sich-Sein der Welt sich in einer Haltung des vorwissenschaftlichen alltäglichen Bewußtseins vorbereitet; der Mensch des außerwissenschaftlichen Alltags ist nämlich durchaus schon ansprechbar für den Objektivitätsgedanken. Diese Einstellung ist nun genauer zu bestimmen. Jegliche alltägliche Erkenntnis ist von der völlig selbstverständlichen und darum im Rahmen des außerphilosophischen Lebens grundsätzlich unbefragt bleibenden Überzeugung getragen, daß die Welt an sich ist. Diese Überzeugung spricht sich aber nicht in einer ausdrücklichen Bezugnahme auf „die Welt" aus, sondern sie äußert sich darin, daß der alltäglich Erkennende normalerweise von vornherein annimmt, der jeweils von ihm erkannte Gegenstand oder Gegenstandsbereich sei und er sei das, was er ist, unabhängig davon, ob er zum Gegenstand einer Erkenntnis werde oder nicht. Diese Überzeugung erweist sich aber schon auf dem Boden der natürlichen Einstellung und zwar bereits im außerwissenschaftlichen Alltag immer wieder als brüchig, da wir Menschen in vielfältiger Weise die Erfahrung machen, daß uns das, womit wir uns beschäftigen, je nach unseren jeweiligen subjektiven Empfindungen, Stimmungen, Vorurteilen, Gewohnheiten, Voreingenommenheiten, ideologischen Fixierungen usw. höchst unterschiedlich erscheint. Der Mensch macht so immer wieder die Erfahrung von der Subjekt-Relativität des Seins dessen, was ihm begegnet. Von allen solchen Krisen des Bewußtseins von An-sich-Sein bleibt aber ein An-sich-Bewußtsein unbetroffen, nämlich die Überzeugung vom Sein der „Welt", „in" der uns die vermeintlich an sich bestehenden Gegenstände begegnen. Dies ist eine zentrale These Husserls und die ihm eigene Grundbestimmung des natürlichen Bewußtseins. Was diese These besagt, bedarf einer ausführlichen Erläuterung:

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Dazu ist zunächst der Gebrauch der Begriffe „Gegenstand" und „an sich" zu präzisieren. „Gegenstand" sei hier in dem weiten Sinne gebraucht, daß er alles das bezeichnet, was für ein Bewußtsein in einer bestimmten, im folgenden noch genauer zu kennzeichnenden Weise „Thema" seiner Aufmerksamkeit wird; und zwar ist der Gegenstand in der Weise „Thema", daß er als etwas Identisches erscheint, als ein Pol, auf den das Erleben ausdrücklich gerichtet ist. — Der Gegenstand ist „an sich", heißt: sein Sein hat den Charakter des „von sich her Vorliegens", es ist nicht Resultat einer vergegenständlichenden Setzung des Bewußtseins. In welcher Weise hat das erlebende Bewußtsein konkret die Überzeugung davon, daß das Sein des begegnenden Gegenstandes den Charakter des Ansich hat? Hier ist auf die Gegebenheitsweisen zurückzukommen. Das Bewußtsein erlebt seinen Gegenstand konkret im Durchlaufen irgendwelcher Gegebenheitsweisen. Ein einfaches Beispiel: Diesen Baum als meinen Gegenstand erfahre ich und kann ich nur erfahren, indem ich ihn beispielsweise im Herumgehen in den verschiedenen Aspekten erfasse, in denen er sich mir zeigt. Wenn man den Begriff „Perspektive" über seine zunächst optische Bedeutung hinaus erweitert, läßt sich sagen, daß sich das Erlebnis von „Gegenständen" überhaupt perspektivisch, d.h. in Gegebenheitsweisen vollzieht. Perspektiven in diesem weiten Sinne sind alle Formen der subjektiven Empfindung, der persönlichen Verfassung, der situationsbedingten Voreingenommenheit, der intersubjektiv variierenden Ansicht, usw., sofern durch deren Mannigfaltigkeit hindurch ein Bewußtsein auf etwas Identisches, d. h. einen Gegenstand, gerichtet ist. Man kann nachweisen — und Husserl hat diesen Nachweis unter dem Titel der „Korrelationsforschung" zu seiner Lebensaufgabe gemacht — , daß und wie alle Gegenstände dem Bewußtsein ausschließlich in solchen Perspektiven erscheinen können. Dabei stellt sich heraus, daß bestimmten Gegenständen jeweils bestimmte Felder oder Systeme von Gegebenheitsweisen zugeordnet sind, in denen ausschließlich sie sich einem Bewußtsein bekunden können. Nun schreibt das Bewußtsein dem Gegenstand ein An-sich-Sein, d. h. eine Unbezogenheit auf den Erlebnisvollzug mit seiner Jeweiligkeit zu, obwohl der Gegenstand dem erlebenden Bewußtsein nur im Vollzug bestimmter Jeweiligkeiten seines Erscheinens begegnen kann. Das Bewußtsein ist also von der Überzeugung beherrscht, daß der Gegenstand „mehr" ist als etwas, was in seinem jeweiligen perspektivischen Erscheinen aufgeht. Diese Mehr-Meinung ist die Vorgestalt des wissenschaftlichen Objektivitätsbewußtseins im vorwissenschaftlichen Leben. W i e kann das Bewußtsein trotz der Korrelativität von Gegenstand und

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zugehörigen Gegebenheitsweisen von einem solchen Mehr überzeugt sein? Diese Frage impliziert, genau genommen, zwei Fragen: Die erste lautet: Wie kommt das Bewußtsein ursprünglich zu der Erwartung eines solchen Mehr, d. h. zunächst zu dem bloßen Anspruch, das Sein des Gegenstandes müsse den Charakter des An-sich haben? Die zweite Frage lautet: Wie kann sich das Bewußtsein bei einem bestimmten Gegenstand davon überzeugen, daß es mit etwas zu tun hat, was nicht in den Gegebenheitsweisen aufgeht; wie läßt sich m. a. W. der Anspruch bestätigen? Die erste Frage, also die, wie das Bewußtsein sozusagen auf die Idee kommt, dem Gegenstand von vornherein ein An-sich-Sein zuzusprechen, ist mit dem schlichten Hinweis darauf, das Bewußtsein habe es eben mit einer realen Außenwelt zu tun, nicht zu beantworten. Denn die grundlegende Frage ist nicht die, ob es eine solche bewußtseinsunabhängige Außenwelt gibt, sondern die, wie ein Bewußtsein von so etwas wie „Bewußtseinsunabhängigkeit" entstehen kann. Diese für jegliche Transzendentalphilosophie fundamentale Frage ist hier nicht zu beantworten, aber es ist möglich, in diesem Zusammenhang gewissermaßen den Finger auf die Stelle zu legen, an der das fragliche Bewußtsein sich ursprünglich zeigt. Diese Stelle ist die Spannung zwischen Identitäts- und Mannigfaltigkeitsbewußtsein. Das erlebende Bewußtsein ist in der Weise auf ein Identisches (den als An-sich bewußten Gegenstand) bezogen, daß es jeweils nur einen Ausschnitt aus einer Mannigfaltigkeit der Erscheinungsmöglichkeiten dieses Identischen aktuell vollziehen kann, aber zugleich weiß, daß dieser Ausschnitt nur einer unter vielen möglichen ist. Diese Verwiesenheit über die aktuell vollzogene Gegebenheitsweise hinaus ist die Stelle, an der das gegenstandsbezogene An-sichBewußtsein entsteht. Das An-sich-Sein des Gegenstandes ist demnach nicht zu verstehen als eine Unbezogenheit auf den Zusammenhang der spezifischen Gegebenheitsweisen überhaupt, in denen er dem Bewußtsein ja allein erscheinen kann; denn hätte das An-sich-Sein des Gegenstandes diesen Sinn, so würde schlechterdings unerklärlich, wie es dem Bewußtsein überhaupt möglich ist, zu dem so verstandenen Gegenstand irgendeine Beziehung aufzunehmen. Das gegenständliche An-sich-Sein besteht vielmehr in der Ungebundenheit des Erscheinens des Gegenstandes an nur eine Gegebenheitsweise im Felde der diesem Gegenstand korrespondierenden spezifischen Erscheinungsweisen überhaupt. Anders gesagt: die Unbezogenheit des vorwissenschaftlich „objektiven" Gegenstandes auf die subjektive Jeweiligkeit des Erfahrungsvollzuges ist nichts anderes als die Möglichkeit, den einen, identischen Gegenstand mit einer gewissen Beliebigkeit in einer Vielheit ihm entsprechender Perspektiven er-

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fahren zu können. Der Gegenstand tritt von vornherein als an sich seiend auf, sofern er sogleich als das identisch Verharrende im Vergleich zur Zufälligkeit, d. h. Auswechselbarkeit, der Weisen seines Erscheinens erfahren wird. Die zweite oben aufgeworfene Frage lautete: Wie kann das Bewußtsein die Erwartung von An-sich-Sein, in der es von vornherein auf Grund der Ungebundenheit der Identität des Erscheinenden an die aktuell vollzogene Erscheinungsweise lebt, bei einem bestimmten Gegenstand realisieren? Wie kann es sich konkret davon überzeugen, daß es mit etwas zu tun hat, was nicht in den Gegebenheitsweisen aufgeht? Kurz: wie kommt so etwas wie vorwissenschaftliches Objektivitätsbewußtsein wirklich zustande? Diese Frage setzt voraus, daß das Bewußtsein in einer Spannung zwischen dem Meinen des besagten Mehr, d.h. dem bloßen Behaupten von (vorwissenschaftlicher) Objektivität, einerseits und der Erfüllung oder Bestätigung solchen Meinens andererseits lebt. Diese Spannung nennt Husserl die Intentionalität des Bewußtseins. Die Erfüllung oder Bestätigung erwartet das Bewußtsein von bestimmten Gegebenheitsweisen, die im Vergleich zu anderen Gegebenheitsweisen durch eine gewisse Sachnähe — Husserl spricht von „Originalität" — ausgezeichnet sind. Angesichts vieler Mißverständnisse dieses Husserlschen Gedankens ist hierbei darauf hinzuweisen, daß Ausdrücke wie „Sachnähe" oder „Originarität" philosophisch nicht mehr als einen offenen Problemtitel bezeichnen; wodurch sich die Sachnähe gegenüber der Sachferne auszeichnet, ob durch Einfachheit, Klarheit, Distinktheit, Unvermitteltheit, Gegenwärtigkeit, Widerständigkeit oder was auch immer, muß hier unausgemacht bleiben und kann nur je nach Gegenstandsart und dazugehörigen Gegebenheitsweisen entschieden werden. Festzuhalten ist, daß sich das Bewußtsein im Vollzug der Gegebenheitsweisen auf vergleichsweise sachnähere Perspektiven verwiesen weiß. Diese Perspektiven vollzieht es nicht jederzeit und überall; aber es lebt grundsätzlich in der Erwartung, daß es sich auf geeignete Weise davon überzeugen kann oder könnte, daß seine Mehrmeinung begründet ist. Diese Erwartung ist demnach die konkrete Grundlage des gegenständlichen An-sich-Bewußtseins. Nun kann aber, wie vorhin erwähnt, dieses gegenständliche An-sichBewußtsein in Krisen geraten; d. h. die Erwartung kann, anstatt bestätigt oder erfüllt, — enttäuscht werden. Wie ist es zu verstehen, daß sich das An-sich-Bewußtsein durch solche Krisen hindurch erhält? Die genannte Erwartung besteht des näheren in dem beständigen Bewußtsein, daß es mir möglich ist, bestimmte (durch größere Sachnähe ausgezeichnete) Gegebenheitsweisen, die ich jetzt nicht vollziehe, aktuell zu vollziehen. Sie hat also den Charakter einer habituell bewußten Verwiesenheit auf Vollzugsmöglich-

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keiten, über die ich selbst verfüge. Zu beachten ist dabei, daß die Potentialitäten, auf die sich das Bewußtsein so verwiesen weiß, Möglichkeiten sind, die es selbst zu aktualisieren vermag, weil sie nichts anderes als Weisen seines eigenen Erlebnisvollzuges sind. Sie können deshalb mit Husserl als „Vermöglichkeiten" bezeichnet werden. Über welche Vermöglichkeiten ich zur Bestätigung meines An-sich-Bewußtseins in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand verfüge, steht nicht in meinem Belieben, sondern unterliegt einer Regelung. Ich weiß ζ. B., daß ich mich durch gewisse Bewegungen des Gehens oder Hinschauens, die ich in der und der Reihenfolge auszuführen hätte, von der konkreten Wirklichkeit des Baumes dort überzeugen kann. Die genannte Regelung schreibt mir also die „Schritte" (in einem weitesten Sinne dieses Wortes) vor, die ich „gehen" muß, um mich von der bloß vermeinten, d. h. im Vollzug mehr oder weniger sachferner Gegebenheitsweisen bloß antizipierten, Objektivität des Gegenstandes originär zu überzeugen. Jede derartige Regelung ist dem Bewußtsein bereits, bevor sich eine Antizipation in einem originären Erlebnis bestätigt oder erfüllt (beziehungsweise in einem nicht-originären Erlebnis enttäuscht), bewußt in der Art und Weise, wie es sich beim aktuellen Vollzug bestimmter Gegebenheitsweisen eines Gegenstandes auf andere mögliche („vermögliche") Perspektiven verwiesen weiß. Durch dieses Verwiesenheitsbewußtsein verfügt das Bewußtsein bei jedem Erlebnis eines Gegenstandes jeweils über einen Spielraum von Erlebnisvermöglichkeiten, die es in geregelter Weise aktualisieren kann. Dieser Spielraum sei mit Husserl Horizont genannt, und die Vertrautheit mit einem solchen Spielraum möge Horizontbewußtsein heißen. Ein Horizontbewußtsein begleitet jedes Erlebnis von einem Gegenstand. Es ist nun daran zu erinnern, daß der Gegenstand vorhin als das Thema eines Erlebens bestimmt worden war. Der Sinn dieser Bestimmung läßt sich jetzt durch die Berücksichtigung des Horizontbegriffs präzisieren. Dem Bewußtsein ist die Mannigfaltigkeit vermöglidh aktualisierbarer Gegebenheitsweisen und die Regelung von deren Aktualisierbarkeit, die es durch das jeweils ein Gegenstandsbewußtsein begleitende Horizontbewußtsein kennt, auf eine andere Weise bekannt, als es von dem Gegenstand weiß, den es gerade thematisiert. Während der Gegenstand gewissermaßen im hellen Licht seiner Aufmerksamkeit steht, sind ihm die vermöglichen Gegebenheitsweisen und die Regelung ihrer Aktualisierbarkeit zwar vertraut, aber nicht Bezugspole seines Erlebens. D. h., sie erscheinen dem Bewußtsein nicht ihrerseits als etwas Identisches im Durchbilde oder Durchgang durch eine Mannigfaltigkeit von Gegebenheitsweisen, sondern sie haben nur die Funktion, das Unbeachtete, wenngleich dem Bewußtsein Vertraute zu sein, durch dessen

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Mannigfaltigkeit hindurch es sich auf das Identische, den Gegenstand, bezieht. Es ist das Eigentümliche der Gegebenheitsweisen bzw. Vermöglichkeiten, in dieser Durchgangsfunktion aufzugehen. Sie sind daher dasjenige, was das Bewußtsein bei seinen gegenstandsbezogenen Erlebnissen schlechterdings nicht zum Thema machen kann. Sie bleiben, obschon dem Bewußtsein vertraut, im Schatten der Unthematizität zugunsten der Helle des Gegenstandes. Nun scheint es aber, daß das Bewußtsein sehr wohl irgendwelche Gegebenheitsweisen thematisieren kann. Das ist in gewissem Sinne richtig, und doch ist es für alle folgenden Überlegungen entscheidend zu beachten, daß das Thematisieren von Gegebenheitsweisen zwei wesentlich verschiedene Bedeutungen haben kann. Das sei an dem eben angeführten Beispiel der Wahrnehmung eines Baumes verdeutlicht. Dieser Baum hier begegnet mir, dem Wahrnehmenden, in vielen möglichen Perspektiven, von denen ich gerade jetzt eine aktualisiere. Der Baum erscheint mir dabei von einer Seite, ζ. B. als ein Stamm, dessen grüne, mit Moos bewachsene Seite mir zugekehrt ist. Die im Augenblick aktuell vollzogene Gegebenheitsweise sei also etwa das Als-grün-Erscheinen dieses Baumstammes. Mein Thema ist dabei nicht etwa dieses sich zeigende Grün selbst, also ζ. B. das Moos, sondern der Baum, den ich durch die Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsweisen, seiner perspektivisch dargebotenen Aspekte hindurch — darunter auch des Grün-Anblicks — als das Identische im vermöglich oder wirklich vollzogenen Wechsel dieser Erscheinungsweisen fixiere. Nun kann ich aber audi das grüne Moos selbst zum Thema machen, d. h. meine Aufmerksamkeit in dieser Richtung — im Durchblick durch eine Mannigfaltigkeit von Aspekten, die das Moos darbietet — polarisieren, ebenso wie ich das vorhin mit dem Baum als dem identisch Verharrenden im wirklichen oder möglichen Wechsel seiner Erscheinungsweisen tat. Hier handelt es sich zweifellos um die Thematisierung einer Gegebenheitsweise, jedoch nicht der Gegebenheitsweise als solcher. Durch die Thematisierung hat die Gegebenheitsweise nämlich ihren Charakter als Gegebenheitsweise verloren; denn das Als-grün-Erscheinen, das vorhin Gegebenheitsweise war, ist nun selbst zu einem Identischen geworden, das mir im Durchgang durch eine unthematisch fungierende Erscheinungsmannigfaltigkeit bewußt ist. Als Gegebenheitsweise war das Als-grün-Erscheinen nichts anderes als eine Funktion meines Bewußtseins, deren dieses bedurfte, um etwas Anderes als diese Gegebenheitsweise, nämlich den Baum als identischen Gegenstand, in seinem An-sich-Sein zu erfassen. Die Gegebenheitsweise selbst war kein An-sich-Seiendes, kein Stück Realität, sondern nur Vollzugsmoment im An-sich-Erlebnis des Bewußtseins. In diesem Vollzugsmoment er-

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schien dem Bewußtsein etwas von dem, was sein Gegenstand, der Baum, war; d. h. es bekundete sich darin eine der Bestimmtheiten des Baumes. Sobald aber diese Bestimmtheit — „das erscheinende Grün", das vorher bloß Gegebenheitsweise war, — als ein eigener gegenständlicher Identitätspol thematisiert und d. h. zu etwas in Perspektiven Erscheinendem wird, wird es damit selbst zu etwas An-sich-Seiendem. Diese verdinglichende Thematisierung von Bestimmtheiten, die ihm vorher rein in perspektivischen Vermöglichkeiten unthematisch bewußt waren, ist dem Bewußtsein beim Vollzug seiner alltäglichen Erfahrung geläufig. Diese Art von Thematisierung, bei der notwendig der Vollzugscharakter der Gegebenheitsweise in Vergessenheit gerät, ist nun von einer anderen Thematisierungsart streng zu unterscheiden. Die Thematisierung, von der jetzt die Rede ist, ist das eigentliche Geschäft der transzendental-phänomenologischen Reflexion. Hier wird die Gegebenheitsweise als solche, d.h. als Vollzugsmoment, als bloße Funktion des An-sich-Bewußtseins zum Thema der Betrachtung. Eine solche Betrachtung ist zwar auch eine Thematisierung, aber keine Verdinglichung, d.h. keine Verwandlung in ein An-sich-Seiendes; denn sie analysiert die Struktur, welche die Gegebenheitsweise bzw. Vermöglichkeit gerade als das notwendig vom natürlichen Bewußtsein Vergessene, als das im gegenständlichen An-sich-Bewußtsein Unbeachtete und gleichwohl funktional Vertraute hat. Die oben aufgestellte These bleibt also richtig, daß die Gegebenheitsweise als solche für das natürliche Bewußtsein notwendig den Charakter der Unthematizität (was nicht heißt: den der Unbekanntheit schlechthin) behält. Die doppelte — nämlich natürliche und transzendentale — Thematisierbarkeit der Gegebenheitsweisen beruht auf dem Doppelcharakter, den sie als Erscheinungsweisen-von haben. Sofern das Erscheinen Erscheinen-von, d. h. ein Sich-Zeigen des Seienden, ein Sich-Bekunden von vorliegender Bestimmtheit, ist, läßt es zu, als seiender Gegenstand verdinglicht zu werden. Sofern das Erscheinen Vollzugsweise des Bewußtseins ist, läßt es zu, daß das Bewußtsein in einer eigentümlichen, in ihrer letzten Konsequenz transzendentalen, Reflexion diese Vollzugsweise als solche zum Thema macht. (Dabei ist hier noch von der zusätzlichen Komplikation abgesehen, daß diese Reflexion selbst wiederum in einer verdinglichenden Gestalt auftreten kann. Diese vortranszendentale Reflexion auf die Gegebenheitsweise wird erst für das Verständnis des vorsokratischen Denkens bedeutsam und daher im nächsten Kapitel erörtert.) Die Thematisierbarkeit der Gegebenheitsweisen im natürlichen Bewußtsein soll zunächst ein Stüde weiter verfolgt werden, weil sich dadurch die

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noch offene Frage nach der Erhaltung des An-sich-Bewußtseins durch die Krisen des Gegenstandsbewußtseins hindurch beantworten läßt. Die Gegebenheitsweisen sind als Vollzugsmomente oder Bewußtseinsfunktionen Vermöglichkeiten und damit Momente des Horizontbewußtseins. Immer, wenn das natürliche Bewußtsein irgendwelche Themenwechsel vornimmt, verdinglicht es vermöglich vollziehbare Gegebenheitsweisen. Auf diese Weise — und nur auf diese Weise — geht die Aufmerksamkeit des natürlichen Bewußtseins von einem Gegenstand zu einem anderen über. Die Spielräume geregelt aktualisierbarer Vermöglichkeiten, die das Horizontbewußtsein jeweils eröffnet, sind demnach auch die Spielräume thematisierbarer Gegenstände überhaupt. Indem ein wahrnehmendes Bewußtsein beispielsweise irgendwelchen inneren oder äußeren Bestimmungen des Baumes vergegenständlichend nachfragt, erschließt sich ihm ein ganzer Zusammenhang von Gegenständen, ζ. B. das Innere des Baumstammes bis hin zum Mikrokosmos seines biologischen Aufbaus, oder die Umgebung des Baumes, oder der Wald, in dem der Baum steht, die Gegend, in der sich der Wald mit dem Baum befindet, usw. Der Horizont als Vermöglichkeitsspielraum weist mithin die gleiche doppelte Thematisierbarkeit auf, wie sie sich eben für die Gegebenheitsweisen herausstellte. Wird er vom natürlichen Bewußtsein als Umgebung, Gegend und dergleichen mehr zum Thema gemacht, so erscheint er als ein Ganzes von zusammen vorfindlichen Gegenständen. Auf der Ebene der transzendentalen Reflexion hingegen, auf der wir uns im übrigen mit diesen Überlegungen längst befinden, erweist er sich als Bewußtsein der geregelten Verwiesenheit auf Vermöglichkeiten. Das Beispiel von Baum, Wald und Gegend deutete schon darauf hin, daß es möglich ist, dem Verwiesenheitsbewußtsein in der Form einer fortschreitenden Iteration von Thematisierungen nachzugehen. Bei dieser Iteration ist keine Thematisierung eines Zusammenhangs von Seiendem die denkbar letzte. Der Verweisungszusammenhang hat keine Grenze. Diese Aussage bleibt allerdings einseitig, wenn man nicht beachtet, daß es dem natürlichen Bewußtsein immer wieder so scheint, als habe er doch eine Grenze. Durch eben diesen Schein erhält sich das natürliche Bewußtsein die Überzeugung von einem in allen Krisen beharrenden An-sich-Sein. Im Verhältnis zwischen einem horizonthaft bewußten Ganzen einer Mehrzahl oder Vielzahl von Gegenständen, also ζ. B. einer Umgebung oder einer Gegend, und dem einzelnen Gegenstand, der uns als ein Vorkommnis „in" einem solchen Ganzen erscheint, kehrt nämlich dasselbe Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit wieder, welches das Erscheinen des Gegenstandes in seinem An-sich-Sein bestimmte. So wie sich der Gegenstand in der Korrelation zu seinen im ein-

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zelnen zufälligen Gegebenheitsweisen als identisch verharrendes An-sich bekundete, ebenso wird ein vergegenständlichter Horizont vom Bewußtsein als ein verharrendes An-sich verstanden, das vom Wechsel dessen, was zufällig in ihm vorkommt, in seiner Identität nicht beeinträchtigt wird. Die Gegenstände fungieren also als so etwas wie die Gegebenheitsweisen des Horizonts. Wenn daher das Bewußtsein in eine Krise seines gegenständlichen Ansich-Bewußtseins gerät, wird es sich immer damit trösten können, daß der zugehörige Horizont als das umfassende verharrende An-sich von der Nichtigkeit des An-sich-Seins des betreffenden Gegenstandes „in" ihm nicht betroffen ist. Dieser Trost ist aber, wie eben schon angekündigt, nur ein Schein; denn kein Horizont ist das An-sich, als das er bei seiner Vergegenständlichung in Anspruch genommen wird, da jeder Horizont in Wahrheit — wie die transzendentale Reflexion aufdeckt — kein bewußtseinsunabhängig vorfindliches Ganzes von Seienden, sondern ein Zusammenhang ist, der nur im Verwiesenheitsbewußtsein erlebt wird. Die Verwiesenheit dieses Bewußtseins reicht aber immer weiter; d. h. jeder vergegenständlichte Horizont erweist sich damit, daß er vergegenständlicht wurde, bereits als etwas, was als zufällige Gegebenheitsweise eines auch ihn noch umfassenden Horizonts betrachtet werden kann. Das mögliche Scheitern jeder thematisierenden Inanspruchnahme eines An-sich-Seins durch die Vergegenständlichung von Horizonten bedeutet nun aber keineswegs, daß das natürliche Bewußtsein seine fraglose Überzeugung vom An-sich dessen, was ihm überhaupt begegnet, nicht aufrechterhalten könnte. Im Gegenteil: Die endlose Verwiesenheit auf immer umfassendere Horizonte erlaubt es dem Bewußtsein, seine Überzeugung von einem An-sich immer wieder zu erneuern. Indem das Bewußtsein so auf die endlose Erneuerbarkeit der Überzeugung von einem An-sich vertrauen kann, verfügt es schon über ein letztes unüberholbares An-sich; denn in der Zuversicht des immer weiter Thematisierenkönnens bewegt es sich bereits in einem unüberschreitbaren und damit umfassendsten Verweisungszusammenhang, in einem Horizont, in den alle erdenklichen Horizonte einbehalten bleiben und der darum einzig ist. Dieser einzige Horizont der Horizonte ist die Welt. Die so verstandene Welt ist das letzte An-sich. Das An-sich-Sein der Welt bleibt darum in allen Krisen des gegenständlichen An-sich Bewußtseins erhalten. Das ist aber nicht so zu verstehen, als sei das Bewußtsein vom An-sichSein der Welt ein Rettungsanker, den der Mensch gelegentlich einmal in höchster Not, dann und wann in den Krisen seines gegenständlichen An-sichBewußtseins, auswürfe. Wäre es so, dann könnte die Welt selbst als solche

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für das natürliche Bewußtsein zum Thema, d. h. so wie irgendwelche partikularen Horizonte in einer Vergegenständlidiung einholbar werden. Sie ist aber als letzter Horizont, d. h. als äußerster Verweisungszusammenhang, der sich im Bewußtsein — oder genauer: als das Bewußtsein — der endlosen Iterierbarkeit des Thematisierens eröffnet, das in aller Thematisierung Uneinholbare. Gerade als dieses Uneinholbare ist die Welt unüberholbar und damit an sich. Thematisierbar sind nur Gegenstände und Gegenstandszusammenhänge „in" der Welt. Hier wird deutlich, daß dieses Sein „in" der Welt, transzendentalphilosophisch gesehen, keine Vorfindlichkeit des Gegenstandes in so etwas wie einem großen Behältnis ist, da Welt ausschließlich als Vermöglichkeit der endlosen Wiederholbarkeit von Thematisierung bewußt ist. „Die Welt" ist, transzendentalphänomenologisch, nicht die Gesamtheit des Seienden, Inbegriff des Vorhandenen, sondern das allein im Iterierenkönnen von Thematisierung bewußte „Undsoweiter". Sie ist so in jeglichem Verwiesenheitsbewußtsein, gewissermaßen im Rücken der thematisierenden Aufmerksamkeit, mitbewußt als der Grund, der das Weiterthematisieren in letzter Instanz ermöglicht und motiviert. Mit dieser Bestimmung ist im übrigen erst — in Anknüpfung an Husserl — ein vorläufiger transzendentalphänomenologischer Weltbegriff gewonnen. Ein vertieftes Verständnis werden wir — über Husserl hinausgehend und Anregungen Heideggers aufnehmend — erst im Heraklit-Teil erarbeiten können. Der hier entwickelten vorläufigen Fassung des Weltbegriffs bedarf es aber zum Verständnis der Gegebenheitsweisen. Woher nimmt das Bewußtsein seinen „Weltglauben", d. h. die Zuversicht, daß es bei der endlosen Iteration von Thematisierung nicht doch einmal ins Leere stößt? Diese Frage läßt sich so pauschal gestellt nicht zureichend beantworten, aber es dürfte deutlich geworden sein, daß die konkrete Gestalt des Weltglaubens, der der Erfahrung von an sich seienden Gegenständen zugrundeliegt, das Horizontbewußtsein ist, d. h. das geregelte Verfügen über immer neue Vermöglichkeiten und über die damit gegebenen Spielräume von Thematisierung. Die aufgeworfene Frage stellt sich demnach konkret zunächst so: Woher verfügt das Bewußtsein über geregelt aktualisierbare Vermöglichkeiten? Woher weiß ich etwa, um das Beispiel noch einmal aufzugreifen, daß ich die Bestimmtheit, die mir gerade beim Vollzug der Baum-Wahrnehmung unthematisch in der Gegebenheitsweise der Grüneindrucks bewußt war, eigens als „Moos am Baumstamm" thematisieren oder objektivieren kann? Offenbar beruht dieses Vermöglichkeitsbewußtsein darauf, daß mir so etwas wie „Moos an einem Baumstamm" schon bekannt und das mögliche Verfahren, um so etwas wahrzunehmen, bereits von früher vertraut ist. Ver-

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allgemeinernd läßt sich sagen, daß Vermöglichkeitsbewußtsein weitgehend den Niederschlag aus früheren aktuellen Bewußtseinsvollzügen darstellt. Das Bewußtsein kann — auf eine hier nicht zu untersuchende Weise — den Typ oder die Art von Gegenstand „behalten", die es einmal aktuell thematisiert hat. Das hängt damit zusammen, daß ihm die Regelung vertraut bleibt, die ihm vorschreibt, wie es verfahren muß, um einen Gegenstand des betreffenden Typs erneut thematisch zu erfassen. Eine Bedingung der Möglichkeit von Horizontbewußtsein ist dieser bewußtseinsgeschiditliche Prozeß, durch den das Resultat von aktuellen Thematisierungen zum bleibend vertrauten Erwerb wird. Diese Habitualisierung der Regelstruktur von Thematisierungsvollzügen und das damit verbundene Behalten der Gegenstandstypen, die dem Bewußtsein durch die betreffenden Objektivierungen zur Gegebenheit kamen, können allerdings nicht der einzige Ursprung von Horizontbewußtsein sein. Käme Horizontbewußtsein nur als Resultat von Thematisierung zustande, so würde dies in einen unendlichen Regreß führen: Jegliches Thematisieren von Gegenständen eines bestimmten Typs hat einmal bewußtseinsgeschiditlich begonnen; d. h., das Bewußtsein hat irgendwann eine bestimmte Mannigfaltigkeit von Gegebenheitsweisen dergestalt überschritten, daß es eigens ein Identisches als den thematischen Pol dieser Mannigfaltigkeit setzte. In diesem Sinne ist Gegenständlichkeit Resultat von konstitutiven, nämlich Einheiten-setzenden Thematisierungsleistungen des Bewußtseins. Husserl nennt die bewußtseinsgeschiditlich ursprünglichen Objektivierungsvollzüge Urstiftungen. Jegliche Urstiftung setzt bereits einen Horizont des Thematisierbaren voraus; dieser soll seinerseits Resultat von Urstiftungen sein, usw. Es ist ersichtlich, daß die so angesetzte Genesis von Objektivierung einen unendlichen Regreß darstellt. Ein solcher Regreß würde das faktische aktuale Zustandegekommensein von Objektivitäts- oder Gegenstandsbewußtsein, wie wir es antreffen, unerklärlich machen. Demnach muß es Bewußtseinsprozesse geben, die nicht, wie die Urstiftungen, erst zu einem bestimmten Zeitpunkt oder auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Bewußtseinsgeschichte beginnen und bereits Objektivierungsprozesse darstellen, sondern die jederzeit im Bewußtsein ablaufen und ihm bloße Thematisierungspermöglichkeiten vor aller Objektivation verschaffen. Husserl faßt diese Prozesse unter dem Titel der passiven Genesis und unterscheidet diese von der aktiven Genesis der Urstiftungen. Der Weltglaube des Bewußtseins, verstanden als Vertrauen auf ein unüberholbares An-sich, beruht in letzter Instanz auf der passiven Genesis. Wenn Husserl von einer „Aktivität" des urstiftenden „Leistens" spricht, dann ist damit

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gemeint, daß das Bewußtsein hier eigens die Initiative einer thematisierenden Identifikation aufbringt. Diese Spontaneität des objektivierenden Identifizierens muß der passiven Genesis fehlen. Diese Andeutungen mögen zunächst zum Begriff der passiven Genesis genügen. Im nächsten Abschnitt wird mehr darüber zu sagen sein. Das Resultat einer phänomenologischen, d. h. auf die unthematischen Gegebenheitsweisen als solche reflektierenden, transzendentalen Theorie des natürlichen Bewußtseins läßt sich, soweit es hier von Belang ist, nun folgendermaßen zusammenfassen: Weil die Welt in aller Thematisierung uneinholbar bleibt und zugleich jegliches Thematisieren als den immerwährenden Versuch, des letzten An-sich habhaft zu werden, verborgenermaßen motiviert, deswegen ist die Überzeugung von ihrem An-sich-Sein, auf der das natürliche Bewußtsein beruht, eine Haltung, deren sich dieses niemals bewußt werden kann. In diesem Sinne konnte im ersten Kapitel gesagt werden, daß die natürliche Einstellung etwas ist, was in seiner Existenz und in seinem Wesen nur von einer grundsätzlich andersartigen Position aus, nämlich der transzendentalen, ansichtig werden kann. Diese transzendentale Position beruht phänomenologisch auf der reflexiven Thematisierung des natürlicherweise unthematisch Fungierenden als solchen. Dieses Unthematische sind zunächst die Gegebenheitsweisen und in letzter Instanz die Welt. Die Selbstvergessenheit des natürlichen Bewußtseins, von der ebenfalls bereits im ersten Kapitel die Rede war, stellt sich phänomenologisch als die Unthematizität und zugleich Unüberholbarkeit der Welt dar. Die Unthematizität der zugleich als unverrückbarer Boden vertrauten Welt ist Selbstvergessenheit, weil der konkrete Weltglaube, d. h. das Vertrauen auf die endlose Iterierbarkeit von Thematisierung, auf der Vorgegebenheit von Vermöglichkeiten beruht und diese Vorgegebenheit das Resultat subjektiver Genesis ist. Das Bewußtsein lebt in der Vergessenheit dieser subjektiven Genesis, obwohl es von ihrem Resultat, den Vermöglichkeiten, beständig Gebrauch macht und mit der Regelung ihrer Aktualisierbarkeit habituell vertraut ist. Es zehrt immerfort von dem, was es sich in der Genesis zu eigen gemacht hat, bemerkt oder durchschaut aber gleichwohl nicht den transzendentalen Charakter des Erwerbs als eines Resultats von Genesis. Fazit: Die Selbstvergessenheit des natürlichen Bewußtseins, die Unthematizität der Gegebenheitsweisen bzw. der Welt und die Vergessenheit der Genesis der Horizonte sind dasselbe.

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C. Wissenschaftsgeschichte und Lebenswelt Durch die Besinnung auf das Verhältnis von Unthematizität und Thematizität im natürlichen Bewußtsein hat sich nun verdeutlicht, wie sich das „dialektische" Verhältnis der wissenschaftlichen Erkenntnis zu den Gegebenheitsweisen bereits im vorwissenschaftlichen Bewußtsein vorbereitet. Das vorwissenschaftliche Streben nach einer ersten Objektivität, d. h. die alltäglichen Bemühungen des Menschen um eine in gewissem Umfange perspektivitätsfreie Erkenntnis von An-sich-Seiendem, erwies sich zuletzt als der Versuch, die in jeglicher Thematisierung oder Objektivierung uneinholbare Welt, das letzte An-sich dennoch einzuholen. Im ständigen Scheitern dieses Versuchs, d.h. in den Krisen des gegenständlichen An-sich-Bewußtseins, kommt für die transzendentale Reflexion ein Verhältnis des vorwissenschaftlichen Bewußtseins zu den Gegebenheitsweisen, d.h. zu seinem jeweils unthematischen Horizont, zum Vorschein, das man in der Tat dialektisch nennen kann: Das Interesse des Gegenstandsbewußtseins ist auf An-sich-Sein und damit auf thematische Identität, auf das Bleibende in der Relativität der Gegebenheitsweisen gerichtet. Das natürliche Bewußtsein vergißt dabei notwendig, daß es das thematisch intendierte Identische nur haben kann durch Objektivierung des Unthematischen. Es bemerkt trotz seiner habituellen Vertrautheit mit den Vermöglichkeiten nicht, daß die Thematisierung jederzeit auf deren genetische Vorgegebenheit angewiesen ist. Es affirmiert den Horizont in der Vertrautheit mit ihm bzw. im geregelten Gebrauch, den es von den darin liegenden Vermöglichkeiten macht. Es negiert ihn, indem es ihn thematisiert und damit nicht als solchen bestehen lassen will. Diese Negation wird aber wiederum dadurch überholt, daß der Horizont sich als solcher (d. h. als NichtDingliches, Funktionales) in der Thematisierung nicht fassen läßt und letztlich als Welt uneinholbar bleibt. Damit deutet sich bereits an, wie das dialektische Verhältnis des An-sichBewußtseins zu den Gegebenheitsweisen zu denken ist: Gegen die Einseitigkeit des Thematisierens setzt sich in dessen ständig wiederkehrendem Scheitern das Horizontbewußtsein durch, und doch verlegt sich das Bewußtsein gerade auf Grund der Beharrlichkeit des Horizontbewußtseins, d. h. letztlich des Weltglaubens, immer wieder hartnäckig auf ein neues thematisches Ansich. Das entperspektivierende, Einheit-setzende Objektivieren und die unthematisch-perspektivische Mannigfaltigkeit des Horizonts überholen sich wechselseitig. Das besagt: Das dialektische Verhältnis ist zu begreifen als ein Prozeß, als eine in transzendental-phänomenologischer Reflexion erkennbare

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Geschichte des Bewußtseins, in der sich die affirmative Beziehung zu den Gegebenheitsweisen und die negative wechselseitig genetisch bedingen. Dieser Prozeß wechselseitiger Überholung von Thematisierung und Horizontbewußtsein spielt sich gewissermaßen stationär oder zirkulär jederzeit schon im alltäglichen vorwissenschaftlichen Bewußtsein ab. In seiner Horizontvergessenheit und -Vertrautheit durchläuft das außerwissenschaftliche Leben immer wieder dieselben Prozesse von Entperspektivierung und deren Scheitern; es kehrt immer wieder dahin zurück, von wo es ausgegangen war — ein Kreislauf mit unüberschaubar vielen Variationen. Der Prozeß findet nun aber nicht nur in der Form dieses Kreislaufs statt. Er tritt nämlich nur solange zirkulär auf der Stelle, als das Bewußtsein sich darauf beschränkt, diese oder jene partikularen Horizonte „in" der unbefragt vorgegebenen Welt zu thematisieren. Solches partikulare Thematisieren „in" der Welt scheitert in der Tat jederzeit, fällt hinter sich selbst zurück und beginnt von neuem. Anders steht es, wenn das menschliche Bewußtsein — nicht der Einzelne, sondern eine (wie immer zu definierende) Kultur- und Sprachgemeinschaft — daran geht, den Welthorizont selbst zu thematisieren. Dies geschieht in einer eigentümlichen und überaus folgenreichen Weise um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends durch den Beginn von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen. Nun wurde vorhin gesagt, die Thematisierung des Welthorizonts als eines solchen, d. h. in seiner Unthematizität, sei phänomenologische Transzendentalphilosophie. Man wird aber im Ernst nicht behaupten können, der Anfang von Philosophie und Wissenschaft sei schon Transzendentalphilosophie gewesen. Es ist also zu präzisieren, in welchem Sinne dieser Anfang Weltthematisierung war. Das kann genauer erst im folgenden Kapitel geschehen; daher soll an dieser Stelle eine erste grobe Kennzeichnung des Prozesses genügen, den der Beginn von Philosophie und Wissenschaft in Gang bringt. Die Welt als das letzte unumstößliche An-sich ist das Identische im Wechsel und in der Zufälligkeit jeglichen gegenständlichen An-sich-Bewußtseins. Dieses seinerseits ist Thematisierung von genetisch vorgegebenen unthematischen Perspektiven. Soll Welt erstmals als solche thematisiert werden, so kann dies demnach nur so geschehen, daß der Unterschied zwischen ihrer Identität und der Mannigfaltigkeit des Perspektivischen auf irgendeine Weise als solcher bewußt wird. Die Bewußtwerdung dieses Unterschiedes als eines solchen ist, wie sich zeigen wird, der Beginn von Philosophie und Wissenschaft. Nun muß aber auch bei dieser Bewußtwerdung die Welt als solche, d. h. in ihrer Unthematizität, uneinholbar bleiben. Überdies wird diese Uneinholbarkeit selbst noch nicht transzendentalphänomenologisch zum Thema. Das hat zur Folge, daß die an-

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fänglich entdeckte Identität der Welt sogleich vergegenständlicht, objektiviert wird. Dies wiederum bedeutet, daß die Differenz zwischen der Identität und der perspektivischen Mannigfaltigkeit bald nur noch so bewußt wird, daß die letztere ausschließlich als das für die Erfassung der Identität Hinderliche erscheint. Indem die Thematisierung der Welt sich sogleich objektiviert, wird Welt als Horizont, d. h. als Spielraum der Vermöglichkeiten bzw. Gegebenheitsweisen zum bloß Subjektiven, will sagen: zum Zufälligen und Unbeständigen gegenüber der verharrenden Identität herabgesetzt, (d. h., platonisch gesprochen, zur doxa). Wissenschaft und Philosophie beginnen, wie eingangs dieses Kapitels gesagt wurde, mit der Statuierung eines eigenen Verbindlichkeitsanspruchs gegenüber dem vorwissenschaftlich-vorphilosophischen Leben und d.h.: mit dem Bewußtsein von einem Unterschied zwischen ihrer eigenen Erkenntnisart und der jenes Lebens. Indem aber der Verbindlichkeitsanspruch sogleich die Gestalt eines ersten Strebens nach Objektivität annimmt, kommt der beginnenden Wissenschaft ihre Selbstunterscheidung vom vorphilosophischvorwissenschaftlichen Leben nur noch so zu Bewußtsein, daß sie sich bemüht, sich von diesem abzusetzen. Die Welt als Horizont, die dem vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen Leben im Vollzug der Gegebenheitsweisen vertraut ist, wird im Zusammenhang dieser Abstoßbewegung nur noch als das zugelassen, was die Wissenschaft hinter sich zu lassen hat. (Davon, daß die beginnende Philosophie bei Heraklit diesem Prozeß selbst noch kritisch gegenübersteht, muß hier noch abgesehen werden.) Gemäß der oben entwickelten Prozessualität des natürlichen Bewußtseins setzt sich aber der bei der ersten Objektivierung des Weltganzen scheinbar überwundene subjektive Welthorizont erneut durch. Die Resultate der ersten Entperspektivierung der Welt als soldier, d. h. das Bewußtsein von den Ergebnissen der beginnenden Wissenschaft wird selbst habituell und damit zur unthematischen perspektivischen Vorgegebenheit. Es gerät so in die für das natürliche Bewußtsein konstitutive Vergessenheit. Das aber hat gravierende Folgen für die nun einsetzende Wissenschaftsgeschichte. Nachdem der wissenschaftliche Objektivierungsprozeß des Weltganzen in Gang gebracht ist, entwickelt er sich gemäß der schon in den Entperspektivierungsbemühungen des außerwissenschaftlichen Bewußtseins angelegten Tendenz weiter: Die Wissenschaft gibt sich mit den Resultaten ihres ersten Anlaufs nicht zufrieden und macht Anstalten zu einer noch entschiedeneren Abstreifung der Momente der perspektivisch-unverbindlichen Erkenntnis in neuen Identitätssetzungen. Wissenschaft begreift sich nun als Erkenntnis des Bleibend-Identischen, d. h. als episteme, und setzt sich der gemeinmensch-

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liehen Erkenntnis, in der etwas jeweils jemandem nur perspektivisch und situationsbedingt erscheint, der doxa, entgegen. Dieser zweite Anlauf aber — und das ist für das hier zu entwerfende Vorverständnis von Wissenschaftsgeschichte das Entscheidende — beruht bereits auf Resultaten des ersten Anlaufs, die habituell geworden waren, und diese Resultate werden, weil sie unthematisch zur Verfügung stehender Erkenntnisbesitz geworden sind, nicht mehr als Resultate durchschaut. Der zweite Anlauf findet also in einem genetisch vorgegebenen Welthorizont statt, der seinerseits schon bewußtseinsgeschichtliche Sedimentierung, Reperspektivierung der ersten wissenschaftlichen Entperspektivierung oder Objektivierung des Weltganzen war, wobei dieser Prozeß als solcher in Vergessenheit gerät. Dieser Vorgang wiederholt sich in der europäischen Wissenschaftsgeschichte mehrfach, wobei hier nicht zu entscheiden ist, welches die entscheidenden Schwellen des Prozesses waren. Husserl selbst hat eine erste Analyse der angedeuteten Verhältnisse in der Krisis-Abhandlung am Beispiel des Neueinsatzes der neuzeitlichen Wissenschaft bei Galilei versucht. In diesem Zusammenhang hat Husserl einen Begriff eingeführt, der seitdem in den philosophischen Bemühungen fast aller Richtungen und Schattierungen Anklang oder zumindest ein Echo gefunden hat und zugleich — wie es Begriffen von solcher Durchschlagskraft wohl immer ergeht — zum Gegenstand uferlosen Geredes und hemmungsloser Assoziationsfreude geworden ist. Gemeint ist der Begriff der Lebenswelt. Dieser Begriff wird für die ganze folgende Untersuchung von zentraler Bedeutung sein. Deswegen sollte er hier nicht als abgegriffene Münze oder als eine modische Parole für Eingeweihte (oder solche, die sich dafür halten) in die Debatte geworfen werden; sondern das mit ihm rechtmäßig Gemeinte sollte — und das war eine Hauptabsicht der vorangegangenen Überlegungen — zunächst unter anderen Titeln eingeführt werden. Von „Lebenwelt" war in der Tat im Vorangegangenen der Sache nach die Rede. „Lebenswelt" ist ein Kontrastbegriff. Husserl hat diesen Terminus eingeführt als Gegenbegriff zu der radikal entperspektivierten, entsubjektivierten Welt, die Gegenstand neuzeitlicher Wissenschaft ist, und als Gegenbegriff zur relativ entperspektivierten Welt von Wissenschaft überhaupt. Demnach ist Lebenswelt nichts anderes als die „Welt" als genetisch vorgegebener umfassendster Horizont, d. h. als Verweisungszusammenhang der subjektiven Gegebenheitsweisen überhaupt, mit dem das Bewußtsein unthematisch habituell vertraut sein muß, wenn es irgendeinen Anlauf zur wissenschaftlichen entperspektivierenden Thematisierung des Weltganzen unternimmt. Der Begriff der Lebenswelt verdient somit ein primäres

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wissenschaftsgeschichtliches Interesse, sofern dieses monumentalisdier Art sein soll. Der Husserlsche Lebensweltbegriff ist zweifellos mit vielen Unklarheiten behaftet. Diese Unklarheiten sind zum geringeren Teil durch gewisse Weitschweifigkeiten und Unfertigkeiten im Alterswerk der Krisis-Abhandlung bedingt. Sie lassen sich zum größeren Teil auf einige grundlegende Zweideutigkeiten zurückführen 4 . Diese Zweideutigkeiten wiederum beruhen im Grunde darauf, daß Husserl sich nicht eigens die Frage gestellt hat, ob der umfassende Horizont des außerwissenschaftlichen Lebens, den der Lebensweltbegriff bezeichnet, Resultat aktiver oder passiver Genesis ist. Je nach der Antwort auf diese Frage ist unter Lebenswelt etwas anderes zu verstehen, wie sich in Anknüpfung an die vorangegangenen Überlegungen sogleich zeigen läßt: Wenn Lebenswelt Resultat aktiver Genesis ist, dann ist unter ihr der umfassende Horizont zu verstehen, der jeweils geschichtlich einem neuen Entwurf wissenschaftlicher Entperspektivierung des Weltganzen unthematisch zugrunde liegt und der seinerseits bereits, mit Ausnahme der Situation, am Anfang von Philosophie und Wissenschaft, habituell gewordenes, reperspektiviertes und als solches vergessenes Resultat einer vorangegangenen wissenschaftlichen Entperspektivierung von Welt ist. „Lebenswelt" bezeichnet dann etwas nur formal im wissenschaftsgeschichtlichen Wandel Identisches; der Begriff deutet auf den gleichbleibenden Umstand hin, daß jeglicher wissenschaftliche Gesamtentwurf auf gewissen, notwendig unbefragt bleibenden Beständen vorgegebenen Weltbewußtseins beruht. Lebenswelt ist dann aber keine inhaltlich im wissenschaftsgeschichtlichen Wandel gleichbleibende Struktur, sondern unterliegt eben diesem Wandel. Genaugenommen läßt sich dann nur ζ. B. von der „frühgriechischen Lebenswelt" sprechen, von der sich die beginnende Philosophie bzw. Wissenschaft absetzt, oder von der „spätmittelalterlichen Lebenswelt", von der sich die anfangende neuzeitliche Wissenschaft abhebt, oder evtl. auch von „außereuropäischen Lebenswelten", sofern Völker mit völlig anderen Traditionen in der Neuzeit und in unserem Jahrhundert in die Konfrontation mit unserem durch die neuzeitliche europäische Wissenschaft geprägten Bewußtsein eintreten, sich unsere Welt zu eigen machen und sie zugleich mit dieser Anverwandlung auf Grund der vorgegebenen eigenen Vermöglichkeiten modifizieren. Wenn Lebenswelt Resultat aktiver Genesis ist, gibt es also, genau genommen, nur geschichtliche Le* In seinem Aufsatz „Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff* (in: Per spektiven transzendentalphänomenologischer Forschung) hat U. Claesges diese Zweideutigkeiten erstmals klar formuliert.

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bensweiten. Der Gebrauch des Begriffs im Singular ist dann nur im Hinblick auf eine rein formale Bedeutung sinnvoll. Es scheint übrigens, daß Husserl in der Krisis-Abhandlung nicht primär an diesen Gebrauch des Lebensweltbegriffs im Zusammenhang der aktiven Genesis gedacht hat, obwohl seine konkrete Analyse des Einsatzes neuzeitlicher Wissenschaft bei Galilei sachlich und methodisch nur unter Zugrundelegung dieses Gebrauchs verständlich wird. Husserl scheint vielmehr Lebenswelt als Resultat passiver Genesis begriffen zu haben. So verstanden, bezeichnet Lebenswelt einen Vermöglichkeitsspielraum, der immer und gleichbleibend für jegliches Bewußtsein vorab zu jeder thematisierenden Initiative besteht, d.h. einen vom wissenschaftsgeschichtlichen und überhaupt vom geschichtlichen Wandel unberührten Horizont. Nur bei diesem Gebrauch des Begriffs kann man eigentlich inhaltlich im Singular von „der Lebenswelt" sprechen, die als Invariante für alle Völker und Kulturen gleich ist. Was das Inhaltliche dieses einen und selben lebensweltlichen Horizonts der Menschheit ausmacht, ergibt sich aus dem Charakter der passiven Genesis. Diese verschafft nach Husserls Auffassung dem Bewußtsein die elementare Vertrautheit mit dem räumlichen und zeitlichen Gegebensein von etwas überhaupt. Dieses elementare Bewußtsein bekundet sich nach Husserl primär in der sinnlichen Wahrnehmung. Die so verstandene Lebenswelt wäre demnach der Erfahrungshorizont, den uns die reine Wahrnehmung als solche verschafft. Nun gibt es aber solch reine Wahrnehmung überhaupt nicht; denn jegliches Wahrgenommene hat, wie hier nicht gezeigt zu werden braucht, als thematischer Gegenstand seine Bestimmtheit durch urstiftende Leistungen, in denen mehr als bloß ein reines raumzeitliches Etwas konstituiert wird. Jeglicher Gegenstand einer in der vollen Konkretion ihres Sinngehaltes analysierten Wahrnehmung ist von vornherein mehr als etwas rein Wahrgenommenes; er ist etwas, was ζ. B. so und so zu gebrauchen ist, was in diese oder jene Stimmungen „eingebettet" ist, was bestimmte Affekte auslöst, was Produkt technischer Erzeugung ist, usw. Demnach wäre Lebenswelt als Resultat rein passiver Genesis, d. h. als der gegen alle nichtwahrnehmungsmäßigen Erlebnisarten neutrale Horizont, methodisch nur in einer Abstraktion von allen diesen nicht rein wahrnehmungsmäßigen Erlebnisarten erkennbar. Im Vergleich hiermit sind die aus aktiver Genesis hervorgehenden geschichtlichen Lebenswelten kein bloßes philosophisches Abstraktionsprodukt, sondern im Gegenteil die volle bewußtseinsgeschichtliche Konkretion, in der jeweils ein Gesamtentwurf von Wissenschaft stattfindet, eine Konkretion,

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die allerdings eigens in transzendentalphänomenologisdier Reflexion ans Lidit gezogen werden muß, weil sie für das natürliche Bewußtsein notwendig unthematisch bleibt. Der methodische Charakter der Lebensweltanalyse bei Husserl stellt sich also je nach dem Verständnis dieses Begriffs entweder als bewußtseinsgeschichtlich konkrete Reflexion auf die jeweils unthematischen Horizonte als solche dar oder als eine ungeschichtlich abstrahierende Reflexion auf den Horizont des reinen Wahrnehmens als eines solchen. Nun hat die ungeschichtlich abstrahierende Reflexion ihrer Absicht nach ohne Zweifel einen vernünftigen Sinn, da eine Genesis von Horizonten aus bloßer thematisierender Aktivität in den zu vermeidenden unendlichen Regreß der Iteration von Thematisierung führt. Andererseits impliziert das Wahrnehmen selbst immer schon Thematisierungen. Daher ist es von vornherein ungeeignet, das, was Husserl unter dem Titel „passive Genesis" ins Auge gefaßt hat, ans Licht zu bringen. Als Ausweg aus dieser Schwierigkeit bietet sich zunächst der Gedanke an, die passive Genesis systematisch an anderer Stelle aufzusuchen, d.h. die Wahrnehmung durch andere Weisen von Bewußtsein zu ersetzen, die noch keine Thematisierungen implizieren und die somit durch diese ihre Unmittelbarkeit für die genannte abstrahierende Reflexion mehr Erfolg versprechen. Diesen Weg zur Erhellung der Herkunft des Weltglaubens ist die nachhusserlsche phänomenologische Analyse mehrfach gegangen. An die Stelle der am Wahrnehmungsakt abgelesenen Bewußtseinsstrukturen traten Phänomenbestände unmittelbarer Erfahrung, d. h. Weisen nicht-thematisierender, vorobjektiver Welterschließung wie Empfinden, Stimmung, Befindlichkeit, Ich-Du-Beziehung, präreflexives leibliches In-der-Welt-sein, u. ä. m. Der Wert mancher dieser Analysen soll hier nicht bestritten werden; die Überlegungen im Heraklit-Teil der Untersuchung wären ohne sie nicht möglich geworden. Gleichwohl löst die Ersetzung der Husserlschen Orientierung am Wahrnehmungsakt durch die Orientierung an anderen Formen vermeintlich unmittelbarer Welterschlossenheit das grundlegende methodische Problem nicht, das sich mit dem Stichwort der passiven Genesis stellt: Was auch immer die passive Genesis sein mag, — nicht zu bestreiten ist, daß sie dem Bewußtsein einen Horizont der Thematisierbarkeit bereitstellt. Die gesuchten rein passiven Vollzüge mögen zwar, abstrakt betrachtet, dem Bewußtsein einen Spielraum verschaffen, der als solcher aller Objektivität zugrunde liegt. Es ist audi nicht zu bestreiten, daß der Weltglaube nur unter Voraussetzung soldier Vorgegebenheiten möglich ist. Aber die vorgegebene rein vorobjektive, perspektivische Welt ist etwas, was bereit liegt für Thematisierung. Sie ist nicht etwas schlechthin Unbestimmtes, sondern etwas durch objektivie-

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rende Identitätssetzung Bestimmbares. Damit aber ergibt sich unausweichlich ein methodisches Problem für jede transzendentalphänomenologische Reflexion auf die Bewußtseinsvollzüge, die unter dem Titel „passive Genesis" gefaßt sein mögen. Diese Reflexion ist nämlich selbst ein Thematisieren. Das aber bedeutet: Der Reflektierende kann den passiven Vollzug, den er zum Gegenstand seiner Reflexion macht, nur so behandeln, als ob dieser Vollzug selbst bereits auf einen Gegenstand, ein thematisch Identisches gerichtet wäre; denn er kann das reine Bestimmbare, das die passive Genesis bereitstellt, nur als ein Bestimmtes fassen. Diesem Zwang kann man nicht durch die bloße Versicherung entkommen, das in den passiven Vollzügen Erschlossene sei etwas „Ungegenständliches" oder „Vorgegenständliches", der Vollzug sei „präreflexiv", — und wie immer die Verbotsschilder heißen mögen, mit denen sich der reflektierende Philosoph am Vergegenständlichungszwang, dem er durch sein eigenes Reflektieren unterliegt, vorbeimogeln will. Das Thematisierbare, das die Vollzüge passiver Genesis dem Bewußtsein jederzeit zur Verfügung stellen, wäre als reines Thematisierbares das jeglicher Identität Ermangelnde, mithin die unbestimmte perspektivische Vielheit schlechthin, das platonisch verstandene äpeiron. Als das ist es aber für die Reflexion unerreichbar. Auch diejenige Reflexion, die versucht, von jeglicher Objektivierung des passiv vorgegebenen Horizonts zu abstrahieren, bestätigt dies, indem sie selbst noch dem Thematisierungszwang unterliegt. Damit aber zeigt sich: Die Husserlsche Analyse der passiven Genesis ist nicht primär durch ihre Orientierung an der Wahrnehmung, d. h. nicht so sehr durch ihren Inhalt, als durch ihre abstrahierende Methode zum Mißerfolg verurteilt. Aus diesem Grunde müssen alle, auch die nicht am Husserlschen Wahrnehmungsmodell orientierten, Versuche scheitern, die passive Genesis und ihren Horizont ungeschichtlich abstraktiv herauszupräparieren, d. h. so etwas wie eine überzeitliche Struktur von unmittelbarer lebensweltlicher Erfahrung ans Licht zu bringen. Gleichwohl bleibt das Ziel solcher Versuche legitim; denn die Rüdefrage nach der transzendentalen Genesis des natürlichen Bewußtseins brauchte gar nicht erst auf den Weg gebracht zu werden, wenn klar wäre, daß es sich dabei um einen unendlichen Regreß handelt. Die transzendentale Rüdefrage muß sich also einen genetischen Anfang voraussetzen. Andererseits ist dieser nidit in abstraktiver Vergegenständlichung fixierbar. Führt aus diesem Dilemma ein Ausweg? Zunächst läßt sich aus den bisherigen Überlegungen nur eine Konsequenz ziehen: Wenn die genetische Reflexion nicht ohne die Annahme eines Anfangs auskommt und wenn sie andererseits dieses Anfangs nicht (durch Abstraktion) habhaft werden kann,

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dann muß sie so verfahren, als sei sie unterwegs zur Aufdeckung dieses Anfangs. Das heißt: der genetische Anfang muß interpretiert werden als Anweisung an die Reflexion, fortschreitend zurückzufragen. Da der passive Anfang der Genesis uneinholbar ist, wird die auf ihn abzielende Rückfrage zu einem unabschließbaren Prozeß. Für diesen Prozeß bezeichnet die Erkenntnis des einen lebensweltlichen Horizonts, verstanden als Spielraum der reinen für jegliches Objektivieren genetisch bereitliegenden Bestimmbarkeiten, nur das formale Ziel, eine Aufgabe, deren inhaltliche Lösung im Unendlichen liegt. Wie findet die so verstandene genetische Reflexion aber ihre konkreten Inhalte, welche lösbaren Aufgaben stellen sich ihr? Wie verläuft der Forschungsprozeß, durch den sie sich dem einen vorobjektiven lebensweltlichen Horizont reiner Bestimmbarkeit annähert, ohne ihn je zu erreichen? Wir sahen: Keine Reflexion, auch wenn sie radikal von jeglicher Spontaneität des Thematisierens zu abstrahieren versucht, trifft auf die reine Passivität in statu nascendi, sondern zugänglich wird ihr immer nur eine in Thematisierungsvollzüge übergegangene Passivität. Den Übergang von Passivität in entperspektivierende Thematisierung nannten wir Urstiftung. Demnach kann die nicht-abstraktive, konkrete Rückfrage nach dem passiven Anfang der Genesis nur so vonstatten gehen, daß jeweils eine durch urstiftende Entperspektivierung bzw. Thematisierung mit Bestimmtheit ausgestattete Welt auf ihre genetischen Voraussetzungen hin befragt wird. Bei welcher Welt soll diese konkrete genetische Reflexion aber ansetzen? Eine unübersehbare und zum großen Teil längst wieder in Vergessenheit geratene Mannigfaltigkeit von Urstiftungen hat in der Menschheitsgeschichte stattgefunden. Welcher Bereich von Urstiftungen verdient unser Interesse? Offenbar der, aus dem die Welt hervorgegangen ist, in der wir gegenwärtig leben. Wie wir schon andeuteten, wurde durch die revolutionäre Thematisierung der Welt als solcher, mit der die Geschichte von Philosophie und Wissenschaft anhebt, der ungeschichtliche Kreislauf von Entperspektivierung und Reperspektivierung aufgebrochen, und es entstand die lineare geschichtliche Entwicklung des europäischen Bewußtseins mit ihrer Dialektik von wissenschaftlicher Entperspektivierung und lebensweltlicher Reperspektivierung, die sich bis zur heutigen Verwissenschaftlichung unseres ganzen Lebens gesteigert hat. Die gegenwärtige Lebenswelt ist das Resultat dieser linearen — und sich in der Neuzeit überschlagenden — Entwicklung. An der gegenwärtigen Lebenswelt haben wir den Ausgangspunkt und an der Linie dieser Entwicklung den Leitfaden für eine konkrete Rückfrage nach dem im Unendlichen liegenden Anfang der Genesis. Daß die Rückfrage von unserem gegenwärtigen Lebenshorizont ihren Aus-

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gang nehmen muß, wird durch folgende Überlegung erhärtet: Wie wir sahen, ist auch die ungeschichtliche Reflexion auf die passive Genesis, die von jeglicher Thematisierung zu abstrahieren versucht, gezwungen, die Weisen vorobjektiver Welterschließung nachträglich wie Thematisierungsvollzüge zu behandeln. Sie stellt diese damit in einen Horizont, der selbst geschichtlich durch aktive Genesis zustande gekommen ist. Dieser Horizont ist hier nämlich der der transzendentalen Reflexion selbst. Soll die abstrahierende Reflexion gelingen, muß sie also von diesem ihren Horizont des transzendentalen Thematisierens selbst abstrahieren. Das aber ist nur möglich, indem das reflektierende transzendentale Thematisieren den Objektivationsprozeß zurückverfolgt, dessen Sedimentierung und Reperspektivierung es seine eigene Möglichkeit verdankt. Dieser Prozeß deckt sich aber, wie wir schon früher sahen, etwa bis zur Zeit Kants mit dem Prozeß der europäischen Wissenschaftsgeschichte überhaupt. Der energische Versuch, die ungeschichtlich abstrahierende Reflexion, deren legitimes Ziel: die Aufdeckung des rein passiven lebensweltlichen Horizonts wir als regulatives Forschungsprinzip festhalten mußten, wirklich in Gang zu bringen, führt also zu einer wissenschaf tsbzw. philosophiegeschichtlichen genetischen Rückfrage im Ausgang von unserer gegenwärtigen Welt. An die Stelle der allgemein und abstrakt gestellten Frage nach der zeitlosen passiven Genesis überhaupt muß demnach eine gleichermaßen wissenschafts- wie philosophiegeschichtliche Rückfrage nach der Genesis unseres gegenwärtigen Weltbewußtseins treten. Damit aber scheint diese Rückfrage doch wieder dem regressus in infinitum ausgesetzt zu sein, den die abstrahierende Reflexion mit Recht vermeiden wollte; denn, wie festgestellt, liegt die Aufdeckung des Anfangs jener Genesis als bloß regulatives Ziel eines unabschließbaren Forschungsprozesses in unendlicher Ferne. An diesem Einwand ist richtig, daß die Aufklärung von passiver Genesis schlechthin und überhaupt notwendig in den unendlichen Regreß gerät und also eine unlösbare Aufgabe darstellt. Doch in dieser Form — als abstrakt ungeschichtliche Frage nach „der" passiven Genesis überhaupt — erwies sich die Aufgabe gerade als falsch gestellt. Anders steht es mit der Aufklärung der konkreten geschichtlichen Genesis unseres gegenwärtigen Weltbewußtseins, zu der uns unsere Überlegungen inzwischen geführt haben. Diese Genesis hat einen faßbaren Anfang, nämlich in der geschichtlichen Situation der Urstiftung von Philosophie und Wissenschaft, d. h. derjenigen Situation, in der die ungeschichtliche Zirkularität des Ineinanderübergehens von Entperspektivierung und Reperspektivierung in die lineare dialektische Entwicklung der europäischen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte umschlug.

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Nicht verschwiegen sei allerdings, daß dieser geschichtliche Anfang, bei dem die in dieser Abhandlung vorgetragene genetische Reflexion — mit gutem Grund — Halt macht, seinerseits vorbereitet wurde durch das geschichtliche Unikum des griechischen Mythos und die darin ausgesprochene eigentümliche Erschlossenheit des Weltgan2en. Zweifellos könnten wir also über die hier vorgelegten Analysen dadurch noch hinausgehen, daß wir die geschichtliche Vorbereitung des eigentlichen Aufbruchs von Philosophie und Wissenschaft untersuchten. Wir könnten ferner den weiteren Schritt tun und die geschichtlichen lebensweltlichen Vorbedingungen der Heraufkunft der mythisch orientierten griechischen Lebens weit untersuchen. Wir könnten darüber hinaus den geschichtlichen lebensweltlichen Vorbedingungen dieser Vorbedingungen, vielleicht in Ägypten oder im Dreistromland oder wo immer nachgehen, usw. Auf der anderen Seite gewinnt für uns aber schon die vorwissenschaftlich-vorphilosophische frühgriechische Lebenswelt überhaupt, die als unmittelbarer Hintergrund der Entstehung von Philosophie und Wissenschaft unser vordringliches Interesse beanspruchen müßte, nur durch die radikale Abstoßbewegung der beginnenden Philosophie und Wissenschaft Profil; sie tritt allererst durch diese Abstoßbewegung und in ihrem Rahmen als solche hervor. Was sich im griechischen Mythos geschichtlich ankündigt, sind wir nur deswegen imstande zu erkennen, weil wir ihn im Lichte desjenigen Denkens sehen, das, wie sich zeigen wird, durch einen revolutionär neuen Verbindlichkeitsansprudi gegenüber der vorwissenschaftlich-vorphilosophischen Denkart auf den Weg gebracht wurde und in dessen Nachfolge wir stehen, ob uns das paßt oder nicht. Wenn — was hier wesentlich zu beachten ist — Lebenswelt als Kontrastbegriff zur wissenschaftlichen Welt verstanden werden muß, dann gibt es keine Lebensweltforschung, die beliebig mal hier mal dort in die Geschichte oder gar Urgeschichte hineinleuchtet, sondern dann kann eine methodisch gesicherte Theorie der Lebenswelt nur geschichtlich regressiv von unserer gegenwärtigen Lebenswelt und dann von der frühgriechischen Lebenswelt aus zurückfragend entwickelt werden. Doch selbst wenn man voraussetzt, daß die methodische Sicherung einer solchen allgemeinen, hinter die Entstehungssituation von Philosophie und Wissenschaft noch zurückfragenden Lebenswelttheorie möglich ist, stellt sich das Problem, ob sie nicht daran scheitert, daß ihr zuwenig Zeugnisse zur Verfügung stehen, um überhaupt in das Horizontbewußtsein griechischer Stämme oder anderer Völker vor jener Entstehungssituation einzudringen. Aber sogar einmal unterstellt, die Forschung fände Wege, aus relativ spärlichen Zeugnissen zuverlässige Rückschlüsse auf das lebensweltliche „Bewußtsein" jener Kulturen zu ziehen, so bleibt eine fundamentale Vorfrage zu be-

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antworten: Verdient eine solche Forschung überhaupt ein monumentalisches Interesse? Das heißt: besteht begründete Aussicht, daß sie uns neue überlegene Möglichkeiten für unser Denken und Handeln — also neue Perspektiven des „Großen", wie dies Nietzsche nannte, — eröffnet? Es ist selbstverständlich auf einer prinzipiellen Ebene nicht von vornherein auszuschließen, daß wir durch den Rückgang hinter die frühgriechische Entstehungssituation von Philosophie und Wissenschaft eine seitdem vergessene oder übersprungene Möglichkeit des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses entdecken, die unserer seitdem durch Philosophie und Wissenschaft geprägten „Bewußtseinsstellung" überlegen ist. Aber mir scheint, daß sich ernsthaft und konkret nicht mit einer solchen Entdeckung rechnen läßt, — aus folgendem Grunde: Wie ich im folgenden Kapitel zeigen und im Heraldit- und Parmenides-Teil ausführlicher begründen werde, ist es gerade das Einzigartige und Charakteristische des Aufbruchs von Philosophie und Wissenschaft, daß sich hier in einer ausdrücklichen Selbstunterscheidung zum bisherigen Selbst- und Weltverständnis des Menschen und in der damit verbundenen Orientierung an einem schlechthin radikalen Verbindlichkeitsanspruch ein völlig neuartiges Überlegenheitsbewußtsein etabliert, das sich selber von vornherein das Äußerste an kritischer Rechtfertigung abverlangt. Um diese neuartige und bis heute währende „Bewußtseinsstellung" ihrerseits noch einmal durch eine überlegene Möglichkeit zu relativieren, die durch den Aufbruch von Philosophie und Wissenschaft oder dessen Vorgeschichte für uns in Vergessenheit geraten wäre, müßte man zeigen, daß sich der neuartige philosophisch-wissenschaftliche Überlegenheitsanspruch selbst als eine Folge jener Vergessenheit erklären ließe. Aber dies zu zeigen erscheint unmöglich; denn wer die Herkunft des philosophisch-wissenschaftlichen Überlegenheits- oder Verbindlichkeitsanspruches aus der Vergessenheit einer anderen, überlegenen „Bewußtseinsstellung" zu erklären versucht, behält damit gerade für diesen seinen Erklärungsversuch den alten, durch Philosophie und Wissenschaft gestifteten, Überlegenheits- oder Verbindlichkeitsanspruch bei. Dieser Anspruch, der durch den Erklärungsversuch zu etwas Sekundärem, Hintergehbarem herabgesetzt werden soll, behauptet sich also gerade bei dem Versuch als das Primäre, Unhintergehbare. In Anbetracht dieser Situation läßt sich nicht absehen, wie es dem philosophisch-wissenschaftlichen Denken gelingen soll, sich selbst durch den Rückgang auf eine ursprünglichere, vergessene Denkart geschichtlich und sachlich zu relativieren und so einen Neubeginn jenseits des philosophischwissenschaftlichen Denkens zu eröffnen.

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Der Dreh- und Angelpunkt einer konkret geschichtlichen Rückfrage nach der passiven Genesis unseres Weltbemißtseins ist somit der Anfang von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen. Die unendliche Annäherung einer abstrakt bleibenden Reflexion an den absoluten, zeitlosen Anfang reiner Passivität konkretisiert sich und findet ihren Halt im Rückgang auf diejenige ausgezeichnete bewußtseinsgeschichtliche Situation, in der das wissenschaftliche Thematisieren der Welt als solcher urgestiftet wird. Die Untersuchung der Rolle der Gegebenheitsweisen am Anfang von Philosophie und Wissenschaft tritt somit systematisch an die Stelle des notwendig scheiternden Versuchs, abstrakt Strukturen wie „Zeitlichkeit", „Empfinden", „IchDu-Beziehung", „Leiblichkeit" und dergleichen mehr als Weisen passiver Genesis zu Tage zu fördern. Transzendentale „Erkenntnistheorie" wird hier — wie es Husserl selbst schon einmal mehr ahnend formuliert hatte — zur philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung. (Daß eine solche Untersuchung sich im übrigen in verwandelter Form manches aus den Analysen einer nicht an der Dingwahrnehmung orientierten Phänomenologie der unmittelbaren Erfahrungen zunutze und zu eigen machen kann, sei aber im Vorgriff auf die Untersuchungen im Heraklit-Teil noch einmal angemerkt). Mit diesen Überlegungen hat sich der Gedanke konkretisiert, mit dem zum Schluß des vorangegangenen Kapitels das monumentalische Interesse an der Philosophiegeschichte inhaltlich gerechtfertigt worden war: Es war der Gedanke, daß das außerphilosophische Leben einen uneinholbaren Vorsprung für die transzendentalphilosophische Reflexion besitzt und ihr gleidiwohl unabdingbar zur Erklärung und Kritik aufgegeben bleibt 5 . Mit der regulativen Idee vom zeitlosen lebensweltlichen Horizont reiner Passivität bzw. Bestimmbarkeit ist nunmehr ein Titel für das Moment der Uneinholbarkeit als solches gefunden. Zugleich hat sich der Begriff jener Reflexion durch die Einbeziehung der Wissenschaftsgeschichte konkretisiert. Diese Einbeziehung hat sich als systematisch notwendig erwiesen, weil sich die transzendentalphänomenologische Aufgabe, den Ursprung des Weltglaubens in der passiven Genesis der einen zeitlosen Lebenswelt aufzudecken, nur lösen läßt in der konkreten Rückfrage nach der aktiven Genese der Abfolge geschichtlicher Lebenswelten, gegen die sich jeweils die epochalen Gestalten von Wissenschaft abheben. Damit dürfte hinreichend deutlich geworden sein, wie sich von der Reflexion auf die Gegebenheitsweisen her, die die neuzeitliche Wissenschaft bloß als das fortschreitend zu Eliminierende kennt, ein monumentalisches 5 Vgl. hier S. 28 ff.

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transzendentalphilosophisches Interesse an der Wissenschaftsgeschichte ergibt. Mit diesem Interesse ist ein Vorverständnis verbunden, dem gemäß sich Wissenschaftsgeschichte im Verein mit der Geschichte der Philosophie selbst als dialektischer Prozeß von wissenschaftlich-thematisierender Entperspektivierung und lebensweltlicher Reperspektivierung der Welt darstellt. Das Interesse an diesem Prozeß ist transzendentaler Natur, weil sowohl das gegenwärtig der Philosophie zur Erklärung und Kritik aufgegebene Leben als auch die dieses Leben prägende Wissenschaft sich selbst nicht als Resultat der so verstandenen Wissenschaftsgeschichte durchschauen und in diesem Sinne transzendentaler Reflexion bedürfen. Das Leben, das Gegenstand der transzendentalphilosophischen Reflexion ist, erschien zu Beginn dieses Kapitels doppeldeutig bald als außerphilosophisch, bald als außerwissenschaftlich. Entsprechend kam die Wissenschaft einmal wegen ihres Verbindlichkeitsanspruchs auf die Seite der Philosophie zu stehen, ein andermal erschien sie selbst wegen ihres einseitig negativen Verhältnisses zu den Gegebenheitsweisen als Gestalt des außerphilosophischen Lebens. Die Herkunft dieser Doppeldeutigkeit läßt sich nun aufklären: Sofern Wissenschaft als urstiftend objektivierender Weltentwurf eine der vorgegebenen Lebenswelt überlegene Erkenntnisposition einnimmt, steht sie tendenziell auf Seiten der Philosophie, die sich durch die Thematisierung der Lebenswelt in ihrer Unthematizität für das natürliche Bewußtsein als das gegenüber diesem prinzipiell Überlegene erweist. Überdies trennen sich die Wege von Wissenschaft und Philosophie nicht grundsätzlich, solange die Philosophie vortranszendental bleibt, d. h. solange sie das natürliche Weltbewußtsein, von dem sie sich unterscheidet, nicht als solches, d. h. in seiner natürlichen Unthematizität, zum Thema einer neuartigen Reflexion macht. Vorwissenschaftliches und vorphilosophisches Leben sind also für die Wissenschaft und Philosophie in der vortranszendentalen Phase ihrer Entwicklung dasselbe. Daher darf die vorwissenschaftliche Lebenswelt in dieser Phase das legitime Interesse einer transzendentalphilosophischen Theorie des außerphilosophischen Bewußtseins beanspruchen. In anderer Hinsicht aber sind außerwissenschaftliches und außerphilosophisches Leben nicht dasselbe, sofern sich nämlich in der nachkantisdien Entwicklung die Wege von Transzendentalphilosophie und Wissenschaft trennen und die Wissenschaft wegen ihres Objektivitätsanspruchs die Unthematizität der Lebenswelt, auf der sie weiterhin — wie immer in ihrer Geschichte — beruht, im Gegensatz zur transzendentalen Reflexion unbefragt lassen muß. Dieses Auseinandertreten von Philosophie und Wissenschaft bereitet sich auf vielfältige, hier nicht zu verfolgende Weise in der Tradition vor. Es ist

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aber nur unter der Voraussetzung möglich, daß ursprünglich in einer Einheit von Philosophie und Wissenschaft ein beiden gemeinsamer Verbindlichkeitsanspruch durch Selbstunterscheidung vom vorgegebenen Leben in einer unthematischen Lebenswelt überhaupt urgestiftet worden war. Hier erwächst das besondere Interesse der transzendentalen wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion an der Vorsokratik: Weil die Wissenschaft in ihrem anfänglichen Aufbruch noch eins ist mit der Philosophie, steht zu vermuten, daß sie zu Beginn in der ersten Selbstunterscheidung vom Leben in der vorgegebenen Lebenswelt diese nicht wie in ihrer späteren Entwicklung der Unthematizität überläßt, sondern einiges von ihrer natürlicherweise unthematisch bleibenden Verfassung zum Vorschein kommen läßt. Wie dies möglich ist, ohne daß die anfangende Wissenschaft und Philosophie transzendentale Reflexion ist, soll im folgenden Kapitel gezeigt werden.

3. Kapitel Das Interesse an der Vorsokratik A. Der Beginn des Denkens als vortranszendentale Thematisierung der Lebenswelt und Kritik des vorphilosopbiscben Lebens Es stellt sich nunmehr die Aufgabe, die Brauchbarkeit der vorangegangenen Überlegungen im Hinblick auf unser Interesse an der Vorsokratik und unser damit verbundenes Vorverständnis von dieser Epoche des Denkens zu erweisen. Alle Erwägungen zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, die bisher vorgetragen wurden, beruhten auf der Voraussetzung, daß diese Geschichte zumindest in einer Hinsicht eine Kontinuität aufweist. Die Kontinuität sollte durch den Verbindlichkeitsanspruch phüosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis gegeben sein. Der Anspruch auf schlechthin verbindliche Erkenntnis impliziert das Bewußtsein von einem Unterschied zwischen der an diesem Anspruch orientierten überlegenen Erkenntnisart und einer vergleichsweise unterlegenen Erkenntnisart des vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen Lebens. Eine solche Kontinuität ist die Grundlage für eine wie auch immer näher zu bestimmende philosophische Interessenahme des gegenwärtigen Denkens an seiner Vergangenheit. Es stellt sich daher zunächst die Frage, ob wir der frühesten philosophisch-wissenschaftlichen Theoriebildung im 6. Jahrhundert v. Chr. das Bewußtsein von einer eigentümlichen Verbindlichkeit und einer damit verbundenen Überlegenheit der eigenen Erkenntnis in Abhebung vom vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen Leben überhaupt unterstellen dürfen. Damit ist nicht gefragt, ob das früheste Denken in unseren Augen schon Stücke solch verbindlicher Erkenntnis wirklich enthält, sondern nur, ob es vom Bewußtsein der genannten Selbstunterscheidung von der Erkenntnisart des vorgegebenen Lebens getragen ist. Als erstes ist an eine bekannte Tatsache zu erinnern, deren Bedeutung die Philosophiegeschichtsschreibung vielleicht nicht immer voll gerecht wird: Der zweite Anlauf, den die Philosophie — entsprechend der seit Cicero geläufigen Epocheneinteilung ihrer eigenen Geschichte — bei Sokrates und Piaton nimmt, ist wesentlich durch das Bewußtsein der Selbstunterscheidung der

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verbindlichen von der bloß meinungshaften vorphilosophischen Erkenntnis motiviert. Diesen Unterschied hat Piaton mit den Begriffen Episteme und Doxa ausgesprochen. Es ist bekannt, doch, wie mir scheint, in seiner Tragweite nicht immer voll erkannt, daß dieser Unterschied der Sache nach schon ein Jahrhundert vorher gemacht wurde, noch bevor ihn Piaton terminologisch fixierte. Die beiden unbestritten größten Denker in der Anfangszeit von Philosophie und Wissenschaft, Heraklit und Parmenides, haben mit unüberhörbarem Nachdruck und mit drastischer Deutlichkeit den Verbindlichkeitsund Überlegenheitsanspruch ihres Denkens gegenüber dem Nicht-Denken ausgesprochen; Parmenides geht so weit, daß er im Prooemium seines Lehrgedichts in feierlicher Form eine Göttin auftreten läßt, von der er behauptet, sie habe ihm die folgenden Erkenntnisse gewissermaßen in die Feder diktiert. Über der Fülle der einzelnen und schwierigen Interpretationsprobleme, die der Parmenides-Text aufgibt, sollte man den in die Augen springenden Umstand nicht übersehen, daß Parmenides selbst unzweifelhaft eine Behauptung zunächst in den Vordergrund stellt, die These nämlich, daß die Wahrheit seiner Erkenntnisse auf göttlicher „Inspiration" beruht und daß diese darum das bloße Meinen der Menschen, denen jene göttliche Offenbarung nicht zuteil geworden ist, weit hinter sich lassen. Vom gleichen Wahrheits- und Überlegenheitspathos ist Heraklit erfüllt, der sich nicht genug daran tun kann, die unvollkommene Erkenntnisart der „Vielen", d. h. der Menschen, sofern sie nicht im Sinne des Heraklit philosophisch denken, zu kritisieren und im Zusammenhang damit die Verbindlichkeit des eigentlich zu Denkenden hervorzuheben. In welcher Form und in welchem, von der bisherigen Interpretation beider Denker nicht voll erkannten, Ausmaße der Gedanke der Selbstunterscheidung des verbindlichen Denkens vom Nicht-Denken die Überlegungen des Heraklit und Parmenides bestimmt, werden der zweite und dritte Teil dieser Untersuchung zeigen. Hier genügt die Feststellung, daß die beiden führenden Vertreter des beginnenden Denkens ihre eigene Erkenntnisart ausdrücklich von der des außerwissenschaftlich oder außerphilosophisch lebenden Menschen überhaupt unterschieden und dafür offensichtlich im Rahmen dieser Selbstunterscheidung eine ausgezeichnete Verbindlichkeit und damit Überlegenheit gegenüber dem vorgegebenen Leben beansprucht haben. Nun liegt es nahe, das überaus selbstbewußte Auftreten dieser Denker für ein Zeichen ihrer Naivität zu halten. Man wird sagen, es sei charakteristisch für die Primitivität des beginnenden Denkens, sich in einem Maße zu überschätzen, das in umgekehrtem Verhältnis zum Ausmaß der tatsächlich gewonnenen und haltbaren Erkenntnisse steht. Von daher liegt der Einwand

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nahe, der Verbindlichkeitsanspruch der frühen Denker sei die denkbar ungeeignetste Stelle, um daran unser Sachinteresse am Anfang von Philosophie und Wissenschaft aufzuhängen. Dieser Einwand verkennt zweierlei: Erstens ist das Ausmaß des „Erfolges" der ersten wissenschaftlichen Erkenntnis für die wissenschafts- und philosophiegeschichtliche Kontinuität des Verbindlichkeits- und Unterscheidungsgedankens irrelevant. Zweitens ist das Wahrheitspathos von Heraklit und Parmenides nicht so naiv, wie der Einwand unterstellt. Beide Denker behaupten ja nicht völlig unreflektiert den Verbindlidikeitsanspruch ihrer Erkenntnis; d. h. sie gehen nicht darauf aus, in schlichter Selbstüberschätzung ihre Privatmeinung in den Köpfen ihrer Zeitgenossen als die allein gültige durchzusetzen, sondern sie haben gerade erstmals erkannt, daß man einen prinzipiellen Unterschied zwischen solchen Privatmeinungen überhaupt, auch wenn sie sich selbst für noch so bedeutend halten, und einer Erkenntnis mit dem neuartigen Anspruch auf schlechthinnige Verbindlichkeit machen muß. Das Bewußtsein von genau diesem Unterschied ist das Grundmotiv des Heraklit und Parmenides. Heraklit sagt einmal sogar mit unmißverständlicher Deutlichkeit, daß man nicht etwa auf ihn persönlich hören solle. Er betont damit — ebenso wie Parmenides durch die Berufung auf die übermenschliche Instanz einer göttlichen Verkündigung —, daß er gerade nicht für sich spricht, sondern daß er eine Erkenntnis ausspricht, deren Eigentümlichkeit es ist, den Bereich bloßer Privatmeinungen — und damit ist nichts anderes als die Erkenntnisart des vorwissenschaftlichen Lebens angesprochen — als solchen und im ganzen zu überschreiten Selbstverständlich ist nicht zu bestreiten, daß Dichter und Weise, Religionsstifter und Propheten, die in Griechenland oder in anderen Kulturen zu früherer oder zu gleicher Zeit wie die ersten Philosophen lebten, ihre Gedanken ebenfalls als verbindliche Lehre verkündigten. Man darf aber nicht verkennen, daß sich der Wahrheitsanspruch bei Heraklit und Parmenides im Vergleich zu solcher Verkündigung durch die genannte eigentümliche Selbstunterscheidung auszeichnet. Zu dieser Selbstunterscheidung gehört nun nicht nur die Erkenntnis, daß es Andere gibt, die für ihre Gedanken unrechtmäßig einen Verbindlidikeitsanspruch .erheben; eine solche Kritik an der „Konkurrenz" wäre noch nichts dem Heraklit oder Parmenides Eigenes. Das Neuartige des von ihnen erhobenen Verbindlichkeitsanspruchs liegt darin, daß sie die von ihnen kritisierten Positionen Anderer einem vom Denken unterschiedenen Gesamtbereich des bloßen Meinens einordnen. Genau das tut Heraklit, 1B50, vgLhierS. 175 fi.

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wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, in seiner berühmt-berüchtigten Polemik gegen die Großen seiner Zeit und der griechischen Tradition. Die Bedeutsamkeit und den Sinn dieser Kritik im Rahmen der Selbstunterscheidung des beginnenden Denkens vom vorphilosophischen Leben hat man bisher noch kaum erkannt, im Grunde wohl deshalb, weil man den Überlegenheits- und Verbindlichkeitsanspruch, dessen kritische Seite die heraklitische Polemik ist, in Anbetracht der Überholtheit der ersten inhaltlichen Erkenntnisse der beginnenden Philosophie und Wissenschaft von vornherein nicht ernst nahm. Man sollte sich aber erneut an die längst angestellte Erwägimg erinnern, daß nicht das, was die ersten Wissenschaftler an zum größten Teil abstrusen Theorien über die Welt vorgelegt haben, sie zu den ersten Wissensdiafdern macht. Möglicherweise kommt irgendetwas, was in frühen chinesischen, indischen, babylonischen oder sonstigen Texten steht, dem, was wir heute für eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis halten, viel näher. Entscheidend ist vielmehr das Bewußtsein von der Etablierung einer Erkenntnisart, die sich von der des sonstigen menschlichen Lebens im ganzen unterscheidet und diesem gegenüber eine prinzipielle Überlegenheit aufweist. Damit dürfte deutlich geworden sein, daß zwischen unserem Denken und dem des Anfangs von Philosophie und Wissenschaft die Kontinuität besteht, von der die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel ausgegangen waren. Nun hatte sich aus jenen Überlegungen des weiteren die Vermutung ergeben, daß im Rahmen der Selbstunterscheidung des Denkens vom vorgegebenen Leben etwas vom Eigentümlichen dieses Lebens und seiner Welt zum Vorschein kommen könnte. Diese Vermutung ist nun im Hinblick auf die Vorsokratik zu prüfen. Die Beschäftigung mit dem Anfang von Philosophie und Wissenschaft ist — kurz gesagt — dann im Sinne des monumentalischen Interessses motiviert und gerechtfertigt, wenn sie geeignet ist, die transzendentalphilosophische Analyse „der Lebenswelt" zu fördern. In diesem Zusammenhang ist zu zeigen, daß und wie die anfängliche Selbstunterscheidung des Denkens vom vorgegebenen Leben für uns Aufschlüsse über die Gegebenheitsweisen bereithält, ohne selbst transzendentalphilosophische Reflexion auf diese zu sein. Eine vortranszendentale Thematisierung der Gegebenheitsweisen als solcher setzt zunächst, wie bereits erwähnt, ein Bewußtsein vom Unterschied zwischen der Identität der Welt und der perspektivischen Mannigfaltigkeit voraus. Indem dieses Bewußtsein aufkommt, wird erstmals in gewisser Weise Welt als solche thematisiert, und das heißt: es entsteht Wissenschaft. Ein erstes Bewußtsein von dem Unterschied zwischen Identität der Welt und perspektivischer Mannigfaltigkeit kann nur so auftreten, daß man einen

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Widerspruch zwischen der Identität und der Mannigfaltigkeit bemerkt. Dieser Widerspruch ist dem alltäglichen Bewußtsein bereits vertraut, ohne daß es dabei das Ganze des Verweisungszusammenhangs thematisierend in den Blick nimmt. Die Bekanntschaft mit der Spannung zwischen Identität und Mannigfaltigkeit kommt alltäglich in den Krisen des gegenständlichen An-sich-Bewußtseins zum Vorschein, von denen im vorigen Kapitel die Rede war. Das Bewußtsein thematisiert seine zunächst als an sich seiend aufgefaßten Gegenstände als etwas jeweils mit sich Identisches. Es kann sich aber von dem, was der identische Gegenstand ist, nur im Durchlaufen von Gegebenheitsweisen überzeugen. Der Gegenstand ist in seiner Gegebenheit daran gebunden, sich nur in deren situativer Jeweiligkeit in seiner Bestimmtheit zeigen zu können. Dabei macht sich in den Krisen der alltäglichen Erfahrung bemerkbar, daß die Identität des Gegenstandes immer nur antizipiert ist und uneinholbar bleibt, und zwar aus folgendem Grunde: Der thematisierte und damit als an sich seiend angesetzte Gegenstand zeigt sich nie unmittelbar als das an sich Seiende selbst im Erleben, sondern nur seine einzelnen Bestimmtheiten, d. h. die Momente dessen, was er ist, erscheinen dem Bewußtsein unmittelbar im aktuellen oder vermöglichen Vollzug von Gegebenheitsweisen. Nur des Seins dieser Bestimmtheiten ist das erlebende Bewußtsein unmittelbar inne. Will es des Gehaltes, den es auf solche Weise besitzt, aber gegenständlich habhaft werden, so muß es thematisieren, d. h. gerade die Unmittelbarkeit aufgeben, in der das Erscheinen der seienden Bestimmtheit und der bewußtseinsmäßige Vollzug des Erfassens der Bestimmtheit eins sind. Durch die Thematisierung tritt der Gegenstand als etwas dem Bewußtsein „gegenüber" Bestehendes auf. Die Metapher vom „Gegenüber" besagt: Das Sein des Gegenstandes wird als etwas verstanden, was vom Vollzug des Erlebens jenes Gegenstandes unterschieden ist. Das Vorliegen des Gegenstandes und seine Bekundung im Bewußtsein kommen auf verschiedene Seiten zu stehen. Die Gegebenheitsweise ist frei von dieser Unterscheidung: sie ist bewußtseinsmäßiger Vollzug als Erscheinen des Seienden selbst. Sie ist, anders gesagt, seiende Bestimmtheit und Weise des Erlebens ineins. Sie ist das reine „Zwischen" von „bewußtseinstranszendenter Außenwelt" und „Bewußtseinsimmanenz" und sprengt so den cartesianisdien Dualismus dieser beiden Seiten. Weil der so verstandene Begriff der Gegebenheitsweise dasjenige bezeichnet, was im neuzeitlichen Dualismus von Subjekt und Objekt übersehen und übersprungen wird, ist er im übrigen auch geeignet, bei der Entfaltung eines Sachinteresses am vorneuzeitlichen, d. h. von jenem Dualismus

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noch nicht geprägten, Denken die zentrale Rolle zu spielen, die ihm hier zugebilligt wird. Indem der Begriff der Gegebenheitsweisen für uns in eine voroder außercartesianische Dimension verweist, folgen wir damit im übrigen einer grundlegend anderen Tendenz als Husserl, der seine eigene epochale Entdeckung bis zum Schluß seines Lebens cartesianisch zu interpretieren suchte. Das Erleben ist im Vollzug von Gegebenheitsweisen unmittelbar beim Seienden. Es kann aber über das Seiende, das ihm so in — oder genauer: als — Vollzug erscheint, nur in der Weise als Seiendes, d. h. als Identisches verfügen, daß es die Unmittelbarkeit der Gegebenheitsweisen durch Thematisieren aufhebt. Damit aber ist die Identität des als an sich seiend angesetzten Gegenstandes dazu verurteilt, immer nur bloße Antizipation zu sein. Weil sie Antizipation ist, kann das gegenständliche An-sich-Bewußtsein in die erwähnten Krisen geraten. Alles gegenständliche Erleben bewegt sich in der Spannung zwischen Identitätsantizipation und Erscheinen in Gegebenheitsweisen. Dieser Umstand und kein anderer erlaubt es den griechischen Philosophen, die menschliche Erkenntnisart überhaupt als Schein, Doxa, zu bestimmen. Zum Verständnis dieses Gedankens ist von der Wendung „es scheint mir", dokei moi, auszugehen. Dieses „es scheint mir" ist doppelsinnig: es spricht einerseits aus, daß das Seiende sich unzweifelhaft im menschlichen Erkenntnisvollzug bekundet, „offenbar" vorliegt, „aufscheint"; es besagt andererseits, daß diese Offenbarkeit auch „bloßer Schein" ist, weil der Mensch aufgrund des unmittelbaren Erscheinens glaubt, über gegenständliche Identität zu verfügen, die Bestimmtheit des Seienden selbst zu erkennen. Dieser Glaube durchschaut sich selbst nicht als bloße Antizipation. Die Doxa erweist sich so als „bloße Meinung". Die so verstandene meinungshafte Verfassung menschlicher Erkenntnis überhaupt ist dasjenige, wovon sich das beginnende Denken bei Heraklit und Parmenides erstmals unterscheidet. Diese Feststellung bleibt richtig, unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob oder wie weit sich der Ausdruck „d6xa" im vorplatonischen Denken schon zu einer Art Terminus verfestigt hat. Die vortranszendentale Thematisierung der Welt und das damit verbundene Bewußtsein vom Widerspruch zwischen der antizipierten Identität und der Mannigfaltigkeit der Gegebenheitsweisen tritt bei Heraklit und Parmenides deutlich hervor, indem dort das Denken erstmals die Erkenntnisart des außerphilosophisch-außerwissenschaftlichen Lebens als einen Gesamtbereich des Nicht-Denkens von sich unterscheidet und als doxahaft kennzeichnet. Indem die menschliche Erkenntnis im ganzen als doxahaft bestimmt wird,

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bezieht sich der Gedanke des Parmenides und Heraklit nicht mehr bloß auf die einzelnen Krisen des gegenständlichen An-sich-Bewußtseins, die dem Menschen schon alltäglich, vorwissenschaftlich vertraut sind, sondern auf das Bewußtsein von Welt überhaupt. Hier wird also der Widersprach zwischen der Antizipation der Identität von Welt und der Erscheinungsmannigfaltigkeit überhaupt bereits als solcher ausgesprochen. Darin liegt im übrigen der Sache nach schon der Anfang einer Differenzierung des Verbindlichkeitsgedankens in bezug auf philosophische und wissenschaftliche Erkenntnis. Diesem ersten eigentlich philosophischen Schritt des beginnenden Denkens geht aber geschichtlich eine Phase voraus, in der die beginnende Wissenschaft und Philosophie eine — jedenfalls so weit wir das erkennen können — ungebrochene Einheit bilden. In dieser Phase entdeckt das Denken den Widerspruch zwischen der weltbezogenen Identitätsantizipation und Erscheinungsmannigfaltigkeit, ohne ihn als solchen schon in der Weise des Parmenides oder Heraklit zum Thema einer Selbstbesinnung zu machen. Das früheste Denken bewegt sich in der Spannung zwischen der auf das Ganze der Lebenswelt bezogenen Identitätsantizipation und den Perspektiven dieses Ganzen. Es ist motiviert durch die Entdeckung der perspektivischen Mannigfaltigkeit dieses Ganzen und ihres Widerspruchs zur Zuversicht in die Identität. Diese Motivation impliziert einheitlich einerseits das von Aristoteles zu Recht im ersten Buch der Metaphysik genannte Staunen über den ungeheuren Reichtum der Erscheinungen der Welt und andererseits die Erschütterung über den Identitätsverlust, die Relativierung, den die Entdeckung der Gegebenheitsweisen des Ganzen mit sich bringt. Die relativistische Krise, die in der Sophistik ausbricht, schwelt schon in der anfänglichen Motivationslage der Vorsokratik. Sie wird nur am Anfang sogleich durch verschiedene Versuche aufgefangen, das Identitätsbewußtsein in bezug auf die Welterkenntnis zurückzugewinnen. Die Selbstbesinnung des beginnenden Denkens bei Heraklit und Parmenides durchschaut diese Versuche als selbst noch doxahaft und bereitet damit den Ausbruch der sophistischen Krise und zugleich den radikalisierten Versuch der Bewältigung dieser Krise bei Piaton vor. Die verschiedenen, inhaltlich weit auseinandergehenden Schritte der beginnenden Wissenschaft bis zur Zeit des Heraklit und Parmenides bilden insofern eine Einheit, als sie alle nur Varianten des Versuchs darstellen, die im vorwissenschaftlichen Leben fraglos vorausgesetzte und im Mythos ausgesprochene Identität der Welterkenntnis zu sichern, die durch die entdeckte Perspektivität der Gegebenheitsweisen des Ganzen verlorenzugehen droht. Die Hauptspielarten dieses Versuchs sind die jonische historie, die milesische

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„Naturphilosophie", die „systematisierende" Theologie bei Hesiod und Xenophanes, die beginnende wissenschaftliche Medizin und — vermutlich — auch das ursprüngliche pythagoräische Gegensatzdenken. Es würde den Rahmen dieser Untersuchungen überschreiten, diesem Zusammenhang — mit der notwendigen philologischen Genauigkeit — nachzugehen. Hier muß es genügen, skizzenhaft auf den Ansatz des milesischen Denkens einzugehen, das schon die antiken Interpreten ins philosophische Zentrum des Anfangs gerückt haben. Was das Eigentümliche der frühgriechischen Theologie und Medizin sowie der histori'i angeht, so wird sich im Heraklit-Teil Gelegenheit bieten, das hier Angedeutete ein wenig zu verdeutlichen. An dieser Stelle nur soviel: Die anfangende wissenschaftliche Medizin unterscheidet sich durch eine eigene Art des Theoretisierens, dessen Reste uns im Corpus Hippocraticum erhalten sind, von der bloßen praktischen Heilkunst, die es zu allen Zeiten gab. Diese früheste medizinische Theoriebildung beruht, soweit wir das erkennen können, als Humoralpathologie auf einer Thematik, die sie weitgehend mit dem milesischen Denken teilt. Diese Thematik wird durch Stichworte wie „das Kalte", „das Warme", „das Flüssige" , „das Feuchte" und dergleichen mehr bezeichnet. Welche Bewandtnis es aber mit dieser Thematik für den Beginn der Wissenschaft hat, wird sich sogleich — im nächsten Abschnitt bei der Behandlung der Milesier — herausstellen. — Der systematische Zug ist das vorherrschende Kennzeichen der Theologie des Hesiod. Der Sinn dieser Systematisierung ist die Absicht, die Vielfalt der Erscheinungsweisen des einen Göttlichen überschaubar zu machen und damit einem Einheitsprinzip zu unterstellen. Dieser Systematisierungsversuch entspringt damit schon derselben Motivationslage, wie sie — das soll gleich gezeigt werden— auch noch zu Beginn der Wissenschaft gegen Ende des 7. vorchristlichen Jahrhunderts und im 6. Jahrhundert herrscht. Die Einheit des Göttlichen in der Perspektivität seiner Erscheinungsweisen bei den verschiedenen Menschen und Völkern ist auch noch das eine große Thema des Xenophanes. — Die Mannigfaltigkeit der geographischen und kulturellen Horizonte überhaupt bewegt die jonische histori'e. Wie sie sich versteht, spricht die Bezeichnung „historie", „Erkundung", deutlich aus. Die Erkundung dient der Sammlung der unterschiedlichen Erscheinungsarten der Welt, in der wir Menschen leben, überhaupt. Koloniengründungen und „weltweiter" Handel hatten die Möglichkeiten, fremde Länder und Völker kennenzulernen, sprunghaft erweitert. Die Identität des lebensweltlichen Horizonts geriet so durch seine explosionsartige Expansion in die Krise. Die „Logographen" glauben offenbar dem ständigen Überraschtwerden durch immer neue Gegebenheitsweisen des Ganzen dadurch entgehen zu können, daß

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sie sich annäherungsweise eine Orientierung über dieses Ganze der Welt, in der Menschen leben, verschaffen und damit die bedrohte Identität schrittweise zurückgewinnen. Daß diese Absicht das Selbstverständnis der histort'e geleitet haben mag, ist deshalb mehr als eine Vermutung, weil Heraklit, der die Blüte der historie als Zeitgenosse und aus unmittelbarer geographischer Nähe erlebt hat, sie genau wegen der Unhaltbarkeit dieser Absicht kritisiert. Die heraklitische Selbstbesinnung der anfangenden Wissenschaft deckt auf, daß die Erkundung der perspektivischen Totalität durch umfassende Sammeltätigkeit nicht zur verbindlichen Erkenntnis der Identität führen kann. Die verbindliche Erkenntnis der Identität ist nach ihm Sache des Geistes, nüs. Das besinnungslose Sammeln kennzeichnet er als Vielwissen. Heraklits präzise Kritik an der Motivation der historie lautet: „Vielwissen lehrt nicht Geist haben" 2. Das Sammeln und erste systematisierende Überschaubarmachen bei den ersten „Historikern" und „Geographen" ist die eine vorherrschende Gestalt des Versuchs, die Krise der weltbezogenen Identitätsantizipation zu meistern. Die andere Gestalt, bei Hesiod in gewisser Weise vorweggenommen, besteht darin, eine Gesetzmäßigkeit im Verhältnis der Erscheinungsweisen von Welt aufzudecken. Dieser Versuch ist radikaler als der der historie, weil er bereits die Identität selbst zum Frageziel macht. Die Forschung im Geiste der histort'e setzt noch unbefragt Identität voraus. Das zeigt sich in der bekannten Naivität, mit der etwa Herodot als selbstverständlich annimmt, daß es ein und derselbe Gott ζ. B. in Griechenland und in Ägypten ist, der hier und dort nur unter verschiedenem Namen erscheint und verehrt wird. Mit der milesischen „Naturphilosophie" wird das identisch Verharrende im Wechsel der Erscheinungsweisen von Welt selbst das Gesuchte. Die Identität läßt sich, sofern sie diesem Wechsel zugrunde liegt, als der Grund und, sofern sie im Wechsel der jeweiligen Erscheinungsgegenwarten das Ständige ist, als die Gegenwart bestimmen. Hier etablieren sich also in der Tat, mit der treffenden Formulierung von H. Boeder, „Grund und Gegenwart als Frageziel der frühgriechischen Philosophie" 3. Die Identität des Gesamthorizonts selbst kann nur so zum Gesuchten werden, daß die Erscheinungsmannigfaltigkeit, an der die Suche eine Gesetzmäßigkeit aufdecken will, als solche thematisch wird. Hier stoßen wir bei den Milesiern auf die angekündigte vortranszendentale Thematisierung der Gegebenheitsweisen von Welt als solcher und damit auf den eigentlichen Ge2 Β 40, vgl. hier S. 187 δ. 3 So der Titel von Boeders Vorsokratikerbuch.

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genstand unseres monumentalischen Interesses am Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Worin eine solche Thematisierung besteht, ist nun genauer zu bestimmen und zugleich zu prüfen, ob eine solche Thematisierung in der milesischen „Naturphilosophie" vorliegt. B. Die vortranszendentale Thematisierung des Erscheinens von Welt in der milesischen „Naturphilosophie" Es ist davon auszugehen, daß die fragliche Thematisierung 1. nicht irgendwelche Gegebenheitsweisen, sondern die des Weltganzen betrifft und daß sie 2. noch nicht den Charakter einer transzendentalen Reflexion haben kann. Was die erste Bestimmung betrifft, so ist zunächst daran zu erinnern, daß mit dem „Weltganzen", von dem vorhin die Rede war, hier nicht der Inbegriff seiender Gegenstände gemeint ist, sondern der Horizont der Horizonte. Das Ganze als Inbegriff alles Seienden hat keine Erscheinungsweisen; es ist ein Grenzbegriff, dessen eigene Problematik hier nicht zu diskutieren ist. Welt im Sinne des Horizonts hingegen hat durchaus Gegebenheitsweisen; es gibt nämlich im alltäglichen Leben Weisen eines Bewußtseins vom Ganzen des Verweisungszusammenhangs, in dem wir uns erlebend aufhalten. Wir sind überdies auch imstande, das, was uns in diesen Bewußtseinsweisen erscheint, thematisierend auszusprechen. Diese Thematisierung kann nach dem im vorigen Kapitel Ausgeführten nicht bedeuten, daß damit die Welt als solche vergegenständlicht würde, wohl aber, daß das Horizontbewußtsein, d. h. die Vertrautheit mit dem ins Endlose reichenden Verweisungszusammenhang, sich gewissermaßen bei dem im alltäglichen Leben umfassendsten überschaubaren Spielraum beruhigt. Dieser Lebensraum, den wir in unserem durchschnittlichen Bewußtsein normalerweise nicht überschreiten (aber selbstverständlich überschreiten können), möge hier mit der dafür passendsten Bezeichnung der Alltagssprache „Gegend" heißen. Bei dem, was dieser Begriff im vorliegenden Zusammenhang bezeichnen soll, ist nach dem Gesagten nicht an den Bezirk zu denken, den man auf der Landkarte abstecken kann, sondern an den Raum, in dem wir uns im Freien orientieren und innerhalb dessen wir die uns vertrauten Ortsbewegungen vornehmen können. Das hier Gemeinte könnte auch „die Umwelt" oder „die Umgebung" in einem weitesten Sinne dieser Wörter genannt werden, sofern man in diese Umwelt oder Umgebung auch das über uns Sichtbare, also „den Himmel" in einem naiven Sinne des Wortes einbezieht. Die so verstandene Gegend erfahren wir in Erscheinungsweisen, und das heißt: auch hier kann sich der Widerspruch zwischen Identitätsantizipation und Gegebenheitswei-

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sen auftun. Schon im Hinblick auf das milesisdie Denken sind vor allem drei Erfahrungen zu nennen, in denen die Spannung zwischen der Identität der Gegend und ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen spürbar wird: 1. Die Erfahrung des Wechsels von Tag und Nacht. Sie ist ein Bewußtsein vom Ganzen im Sinne der Gegend; denn wenn es dunkel oder hell wird, erleben wir zunächst nicht diesen oder jenen einzelnen Gegenstand in einer neuartigen Erscheinungsweise, sondern unsere Umgebung überhaupt. Dieses Ganze unseres Lebensraumes fassen wir auf als ein Identisches, das sich uns als solches bei Tag und bei Nacht mit einem verschiedenen Aussehen darbietet. 2. Die Erfahrung des Wechsels der Jahreszeiten. Hier gilt das unter 1. Gesagte entsprechend. 3. Die Erfahrung des Wechsels, die wir machen, wenn wir unser Leben einmal zu Lande und einmal zu Wasser führen. Wir haben dann zwar das Bewußtsein, daß es noch immer dieselbe Erfahrungswelt ist, in der wir uns auf See befinden, wie die Welt, in der wir zu Lande leben; und doch hat sich die Erscheinungsweise dieser Welt im ganzen geändert. Auf dem Meer erfahren wir eine Art von Gegend, die geeignet ist, wenn wir das zum ersten Mal erleben, unsere Vorstellung von dem, was „Gegend" überhaupt heißen kann, völlig auf den Kopf zu stellen. Die entsprechende Erfahrung vom Dasein in der Luft konnten die Griechen zwar noch nicht in derselben Weise wie wir machen; sie haben sie aber, wie vor allem aus der griechischen Sage hervorgeht, in der Vorstellung des Lebens auf hohem Berge lebhaft antizipiert. Von der Erfahrung des Aufenthaltswechsels zwischen Land und Wasser hatten die Jonier als seefahrendes Küstenvolk ein sehr deutliches Bewußtsein. Das Gleiche gilt aber auch von den beiden zuerst genannten Erfahrungen: Den Wechsel von Tag und Nacht kann man, wie jeder weiß, der diesen Lebensraum kennt, am Mittelmeer in einer geradezu erschreckenden Weise erleben. Das Gleiche gilt für das zweite Beispiel, den jahreszeitlichen Klimawechsel in der Ägäis. Zunächst ist nun darauf aufmerksam zu machen, daß die drei genannten Beispiele eine auffallende Gemeinsamkeit aufweisen: Der Wechsel zwischen Tag und Nacht ist vorherrschend der Wechsel von Helle und Dunkelheit; der Wechsel der Jahreszeiten ist im Mittelmeerraum zum einen der Wechsel zwischen sommerlicher Dürre oder Trockenheit und winterlicher Feuchtigkeit, zum anderen parallel dazu der Wechsel zwischen Hitze und Kälte. Auch der Wechsel zwischen Tag und Nacht ist im Mittelmeerraum meistens identisch mit einem deutlichen Übergang von Hitze zu Kälte und umgekehrt.

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Was das dritte Beispiel betrifft, so läßt sich auch hier eine entsprechende Beobachtung machen: Die Unterschiede zwischen dem Sein zu Lande, zu Wasser und in der Luft sind Unterschiede von Hitze und Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit, Helligkeit und Dunkel. Es tritt vielleicht noch der Unterschied von Schwere und Leichtigkeit hinzu, wenn man etwa an den Unterschied zwischen dem Gehen auf der Erde und dem Fliegen in der Luft denkt. Bei allen gewählten Beispielen kehrt somit eine gewisse Art von Unterschieden der Erscheinungsweisen von Welt wieder. Sie ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß es sich nicht um eine größere Zahl von Erscheinungsweisen ein und derselben Welt handelt, sondern um jeweils zwei, und zwar entgegengesetzte Erscheinungsweisen, die sich als Zustände bezeichnen lassen. Der Zustand der Helligkeit ist das Gegenteil des Zustandes der Dunkelheit usw. Wenn nun soldie Zustände aufeinander folgen, wie es z.B. bei der Abfolge von Tag und Nacht der Fall ist, dann müssen sie, da es nur zwei sind, abwechslungsweise, d. h. periodisch, aufeinander folgen. Die Folge von Tag und Nacht, die Folge der Jahreszeiten und auch die Folge des Verweilens auf See und zu Lande beim Fischer oder beim Handel treibenden Seefahrer haben die Form der Periode. Die Periodizität des Auftretens von Zuständen ist aber eine Weise der Regelung einer Abfolge, die sich als Gesetz formulieren läßt. Die letzten Überlegungen waren von der Annahme geleitet, daß es für die beginnende Wissenschaft nicht nur den Weg der histori'e gibt, um die Identitätskrise der Welt zu meistern, sondern audi den Weg der Aufstellung einer Gesetzmäßigkeit, dergemäß das Auftreten der Erscheinungsweisen, und zwar der Erscheinungsweisen des Ganzen der Welt, in der wir leben, in bestimmter Weise geregelt wäre. Es kann nun nicht überraschen, wenn eine Reihe von Anzeichen in der Überlieferung tatsächlich darauf hindeutet, daß in der frühesten milesischen Wissenschaft Versuche unternommen wurden, so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit der periodischen Abfolge solcher gegensätzlichen Zustände wie Kälte-Wärme, Helle-Dunkel und Feuditigkeit-Trockenheit zu erkennen. Wir wissen zwar aufgrund der dürftigen Überlieferung nicht ganz genau und nicht mit letzter Sicherheit, wie diese Gesetzmäßigkeit im einzelnen bestimmt wurde. Immerhin liegt aber im Originalsatz des Anaximander ein eindrucksvolles Beispiel für die Formulierung einer solchen Gesetzmäßigkeit vor. Es sei also festgehalten, daß wir bei der frühesten Wissenschaft überhaupt genau auf die Thematik stoßen, die sich einstellen muß, wenn man versucht, eine Identitätskrise der Erfahrungswelt im ganzen durch eine Systematisie-

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rung der Gegebenheitsweisen dieser Welt zu überwinden. Die Frage, warum sich die Aufmerksamkeit des frühesten Denkens gerade den genannten entgegengesetzten Zuständen und überhaupt solchen Zuständen, in denen Welt als Gegend begegnet, zuwendet, sei noch für einen Augenblick zurückgestellt. Es ist nun zunächst die zweite oben gegebene Bestimmung der Thematisierung der Gegebenheitsweisen aufzugreifen, nach der sie vortranszendentalen Charakter haben muß. Mit der Klärung dieser Bestimmung wird sich zugleich zeigen, daß die milesische Thematik, auf die wir bisher nur durch die Analyse von Beispielen gestoßen sind, deren Auswahl als zufällig erscheinen könnte, sich mit einer gewissen Notwendigkeit entwickelt. Als das eigentlich Kennzeichnende der Gegebenheitsweisen, durch das sie sich zugleich als geeigneter Leitfaden für eine Rüdefrage in den Bereich des von der Neuzeit am weitesten entfernten wissenschaftlichen Denkens anboten, erwies sich in diesem Kapitel ihr „Zwischen"-Charakter. Sie sind ineins die Weisen der Offenbarkeit des Seienden selbst wie seiner Erlebtheit im Bewußtseinsvollzug. Transzendentalphilosophie orientiert sich, wie schon im ersten Kapitel erwähnt, für den Verbindlichkeitsanspruch ihrer Erkenntnisse am Selbstbewußtsein. Es genügt für die Zwecke der vorliegenden Überlegung, dieses Selbstbewußtsein als die bereits vorreflexive und in der Reflexion sichtbar werdende Identität des Vollziehers aller Bewußtseinsvollzüge mit sich selbst zu bestimmen. Eine transzendentale Besinnung auf die Gegebenheitsweisen muß deshalb Reflexion auf ihren Vollzugscharakter und ineins damit auf ihren Vollzieher sein. Nun sind aber die Gegebenheitsweisen, ebensosehr wie sie Vollzugsweisen sind, als das auch Bekundungsweisen des Seienden. Eine hinreichend gründliche transzendentale Reflexion hat gerade diese Zweiseitigkeit noch als solche zu bedenken. Unabhängig davon aber deutet sich mit der Zweiseitigkeit der Gegebenheitsweisen die Möglichkeit an, sie rein als Weisen der Bekundung, der Offenbarkeit des Seienden zu thematisieren. Darin besteht nun in der Tat die vortranszendentale Reflexion auf die Gegebenheitsweisen. Gegen diese These läßt sich allerdings sogleich der Einwand erheben, diese Thematisierung sei im Prinzip nichts anderes als die Verdinglichung, die das natürliche Bewußtsein jederzeit vornimmt, indem es etwas, was gerade noch unthematisches Vollzugsmoment, Gegebenheitsweise bei einer Objektivierung war, selbst zum Objekt macht. Soll dieser Einwand entkräftet werden, so ist zu zeigen, daß die Gegebenheitsweise, indem sie rein als Bekundungsweise des Seienden thematisiert wird, damit nicht zum Objekt im Sinne des Einwandes wird. Das Objekt im Sinne des Einwandes ist der identische Gegenstand als

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verharrender Pol im Wechsel seiner Erscheinungsweisen. Es ist genauer zu betrachten, wie der Gegenstand dem erlebenden Bewußtsein als ein solcher identischer Pol begegnet. Das Urmodell für die so verstandene Gegenstandserfahrung ist, darin behält Husserl recht, die Wahrnehmung eines Dings. Das Ding erscheint dem wahrnehmenden Bewußtsein insofern als identisch Verharrendes, als es als Träger möglicher wechselnder Bestimmungen aufgefaßt wird. Diese Bestimmungen erscheinen dem Bewußtsein im einzelnen im Vollzug von Gegebenheitsweisen. Die Gegebenheitsweisen als Bekundungsweisen des Seienden sind also zunächst die wechselnden Bestimmungen des identisch verharrenden Gegenstandes. Als das sind sie dem natürlichen Bewußtsein bekannt. Der Wahrnehmende weiß ζ. B., daß ihm je nach subjektivem Vollzug wechselnde Bestimmungen des Baumes, ζ. B. verschiedene Eigenschaften, seine Lage, bestimmte Relationen zu anderen Gegenständen usw. erscheinen. Objektiviert das natürliche Bewußtsein durch Themenwechsel solche Bestimmungen als selbständige identische Pole seiner Aufmerksamkeit, so erscheint ihm der jeweils gewonnene neue Gegenstand erneut als Bezugspunkt oder Träger möglicher wechselnder Bestimmungen; d. h. — subjektiv gewendet — es faßt den Gegenstand als identisches Ansich im Durchblick oder Durchgang durch irgendwelche, als solche unthematisch bleibenden, Vollzugsmomente auf. Das natürliche Bewußtsein ist also bei seinem Thematisieren aufgrund des Zusammenhangs von Vollzug in Gegebenheitsweisen und antizipativer Setzung von Identität bzw. An-sidi-Sein an eine bestimmte Gegenstandsstruktur gebunden. Diese Struktur kommt im prädikativen Aussagesatz zum Vorschein, mit dem wir das gegenständlich Erkannte aussprechen. Der Aussagesatz bezieht als Prädikation Bestimmungen auf Bestimmbares; er sagt etwas über etwas aus {ti katä tinös). Mit diesem Aufbau paßt sich der Aussagesatz sachgemäß der Struktur des gegenständlich Erkannten an; denn der Gegenstand ist als identischer Pol Bezugspunkt oder Träger für Bestimmungen. Für die vorliegende Überlegung ist nun entscheidend, daß in dieser Gegenstandsstruktur Bestimmtheit, d. h. das, was Seiendes ist, nur als Bestimmungvon... auftreten kann. Das Seiende, welches dem Bewußtsein gegenständlich erscheint, ist identischer „Pol", „an" dem oder in bezug auf den es Bestimmtheit ausschließlich gibt. Wird eine solche Bestimmtheit selbst vergegenständlicht, so ist das natürliche Bewußtsein daran gebunden, die vergegenständlichte Bestimmtheit wiederum als identischen „Pol" für Bestimmungen zu setzen. Die transzendentale Reflexion auf die Gegebenheitsweisen ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die Ansetzung von An-sidi-Sein als solche der Selbst-

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Vergessenheit bzw. Horizontvergessenheit des natürlichen Bewußtseins entreißt. Das kann sie nur, indem sie die Bestimmtheiten nicht — wie das natürliche Bewußtsein — sogleich als Bestimmungen dem gegenständlich gesetzten An-sich zuschreibt, sondern sie als die Vollzugsmomente thematisiert, als die sie als reine Erscheinungsweisen des Gegenstandes fungieren. Die transzendentale Reflexion auf die Gegebenheitsweisen ist also u. a. durch die Enthaltung von dem für das natürliche Bewußtsein selbstverständlichen Akt gekennzeichnet, durch den dieses die Bestimmtheiten als Bestimmungen auf den an sich existierenden Gegenstand bezieht 4 . Nun kann eine vortranszendentale Reflexion den funktionalen Charakter der Gegebenheitsweisen, ihr Stattfinden als Vollzugsmoment noch nicht erkennen. Sie kann aber einen Schritt der transzendentalen Reflexion bereits tun, ohne den Vollzugscharakter als solchen zu durchschauen: Sie kann sich nämlich ebenfalls des selbstverständlichen Aktes enthalten, durch den wir die qua Gegebenheitsweisen erscheinenden Bestimmtheiten als Bestimmungen auf den an sich bestehenden Gegenstand beziehen. Die vortranszendentale Thematisierung der Gegebenheitsweisen als reiner Bekundungsweisen des Seienden ist also deshalb keine Vergegenständlichimg im Sinne des ungebrochenen natürlichen Bewußtseins, weil die reinen Bekundungsweisen des Seienden reine, d. h. nicht auf vorausgesetzte Gegenstände bezügliche, Bestimmtheiten sind. Die auf als an sich gesetzte Gegenstände bezogenen Bestimmtheiten seien hier terminologisch — und wurden im Vorigen schon — Bestimmungen (von etwas) genannt. Die nicht solchermaßen bezogenen Bestimmtheiten mögen reine Bestimmtheiten heißen. Sie sind der Wasgehalt des in den Gegebenheitsweisen jeweils Erscheinenden als solchen. Die so verstandenen reinen Bestimmtheiten sind der Gegenstand vortranszendentaler Thematisierung. Die Frage ist nun, ob und wie eine solche vortranszendentale Thematisierung durchführbar ist. Was sind die reinen Bestimmtheiten, die dem Bewußtsein erscheinen? Wie läßt sich das bloße Was des Seienden bestimmen, wenn man einerseits nodi nichts davon weiß, daß dieses Was Vollzugsmoment und damit letztlich Begriff ist, und wenn man es andererseits auch nicht als Prädikat-von-etwas begreift? Diese Frage läßt sich auch so zuspitzen: Mit welchem Recht darf eine so verstandene Bestimmtheit überhaupt Bestimmtheit heißen; d. h. inwiefern weist sie überhaupt die im Begriff „Bestimmtheit" implizierte Grenze auf; anders gesagt: Was macht eine solche reine Bestimmtheit zu unverwechselbar dieser und keiner anderen? * Dies ist im Grunde der Sinn der ,εροώέ" bei Husserl.

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Es muß doch zumindest eine Bestimmtheit Β geben, an der eine Bestimmtheit Α ihre Grenze hat. Die Bestimmtheit der Bestimmungen eines Gegenstandes, ζ. B. der Eigenschaften des wahrgenommenen Dinges, ist gesichert durch ihr Auftreten „am" oder „im" oder „in bezug auf" den Gegenstand. Die Eigenschaft „weiß" wird für mich nur dadurch zu etwas Bestimmten, daß ich sie 1. an unverwechselbar diesem und keinem anderen Gegenstand meiner Wahrnehmung beobachten und 2. als eine Eigenschaft von anderen Eigenschaften am selben Wahrnehmungsgegenstand unterscheiden kann 5 . Als was läßt sich eine Bestimmtheit aber verstehen, wenn sie nicht als eine solche Eigenschaft an etwas begriffen wird, und wie weist sie dann Grenze auf? Die Antwort wurde mit den vorangegangenen Überlegungen zur Erscheinungsweise von Lebenswelt als Gegend schon vorbereitet. Aus diesen Überlegungen ergab sich, daß das Erscheinende als solches, das im Wechsel des Erscheinens von Gegend erlebt wird, entgegengesetzte Zustände sind. Diese Zustände sind das im periodischen Wechsel des Aussehens der Erfahrungsumwelt Wechselnde selbst, d. h. die Erscheinungsweisen als Bestimmtheiten ihrer selbst. Nun hat das natürliche Bewußtsein zwar auch die Möglichkeit, einen solchen erscheinenden Zustand nicht als Bestimmtheit seiner selbst, sondern als Eigenschaft-von . . . , in diesem Falle also etwa als Bestimmung der Umgebung, der Landschaft usw. aufzufassen; doch hier wird bereits an der Sprache, die das natürliche Bewußtsein selbst spricht, spürbar, daß das vergegenständlichende Sprechen in Aussagesätzen die gemeinte Sache verfehlt. Der Zustand „Nacht", womit, wie oben ausgeführt, eine Einheit mehrerer Zustände (Dunkelheit, Kälte usw.) genannt ist, läßt sich nur mit einer gewissen Künstlichkeit in einem Aussagesatz von der Struktur „S ist p" aussprechen, in dem die mit „Nacht" genannten Zustände als Eigenschaften einem, wie auch immer gefaßten, Gegenstand zugesprochen würden. Der Satz „es ist Nacht", der nicht die Urteilsstruktur „S ist p" aufweist, klingt ungekünstelt und sachgemäß, der ein Urteil „S ist p" formulierende Aussagesatz „die Gegend ist nächtlich" (oder ähnliche Aussagesätze) nicht. Was es mit solchen Sätzen wie „es ist Nacht" auf sich hat, wird im Heraklit-Teil noch genauer zu untersuchen sein. Hier sei nur bereits darauf hingewiesen, daß man Sätze bilden kann, die ebenso wie der Satz „es ist Nacht" gebaut sind und in denen die Zustände im einzelnen genannt werden, die in der Bezeichnung „Nacht" undifferenziert angesprochen werden: D. h., es lassen sich alltagssprachlich sog. „subjektlose Sätze" oder „impersonale Sätze" formulieren wie ζ. B. „es ist hell" oder „es ist kalt" usw. Mit solchen Sät5 Vgl. dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, Kapitel „Die Wahrnehmung; oder das Ding und die Täuschung".

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zen sprechen wir die Kälte, die Helligkeit usw. nicht prädikativ als Eigenschaften einem Träger, einem wie immer verstandenen „Ding" zu, dem sie als Bestimmungen zukämen. Das Schema von Substanz und Inhärenz versagt hier. Mit solchen Sätzen sprechen wir vielmehr das Stattfinden von bestimmten Zuständen als solches aus. Nun liegt es nahe einzuwenden, von Zuständen könnten wir doch nur sprechen, sofern sie Zustände von etwas sind, und dieses „etwas" sei eben doch ein Gegenstand in dem weiten Sinne des Begriffs, wie er in der vorliegenden Überlegung verwendet wird. Dieser Einwand enthält einen richtigen Gedanken, aber er behauptet zu viel. Richtig ist, daß die Rede von Zuständen voraussetzt, daß es ein Identisches gibt, welches im Wechsel der Zustände beharrt. Ohne ein solches „Hypokeimenon" in einer weitesten, noch nicht auf Dinge eingeschränkten Bedeutung dieses Wortes ist Zustandswechsel in der Tat nicht möglich. Es ist aber durchaus offen, wie das identisch im Zustandswechsel Verharrende zu bestimmen sei. Es muß nicht unbedingt als dinglicher Träger verstanden werden, dem die Zustände als zeitweilig auftretende Eigenschaften zukämen. Aristoteles hat recht mit der Behauptung, daß das Thema des frühesten griechischen Denkens das hypokeimenon ist. Der durchschlagende Erfolg der glänzenden aristotelischen Interpretation der Vorsokratik, der — oft unerkannt — bis in die neuesten Philosophiegeschichten reicht, beruht auf der Auslegung des frühesten Denkens im Lichte des hypokeimenon-Begtiäs. Das eigentlich Problematische an dieser Auslegung ist nicht dieser Begriff selbst, sondern der Umstand, daß mit ihm auch der aristotelische Substanzgedanke und d. h. die Orientierung am Urteilssatz und an der Struktur „ti katä finds" das Vorverständnis vom Anfang des Denkens bestimmen. Darauf wird im folgenden zurückzukommen sein. Das identisch Verharrende im Zustandswechsel, „Grund und Gegenwart", ist das im milesischen Denken Gesuchte. In den vorangegangenen Überlegungen wurde diese Identität, die hier erstmals zum Problem wird, mit „Welt" bezeichnet. Weil dieser Begriff aber einen offenen Problemtitel darstellt, da die Lebenswelt das für die transzendentale Reflexion uneinholbar Aufgegebene ist, wird mit ihm keine Vorentscheidung über den Inhalt der frühesten Philosophie und Wissenschaft gefällt 6 . Der Mitvollzug des mi^ An diesen Feststellungen möge der Leser erkennen, daß mir bei den hier vorgelegten transzendentalphänomenologischen Erörterungen nidits ferner liegt als der Versuch, frühgriediisdies Denken unter der Hand als Transzendentalphilosophie zu interpretieren und so seine historische Eigentümlidikeit wegzudeuten. Die ganze Bemühung gilt vielmehr — umgekehrt — dem Ziel, dieses Denken gerade in seiner unverwechselbaren Eigentümlidikeit für eine Reflexion auf der Höhe nachkantischet Philosophie allererst zum Sprechen zu bringen.

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lesischen Denkens, soweit es uns in seinen Spuren zugänglich ist, begibt sich mit diesem Denken auf die Suche nach einer Bestimmung der Identität von Welt. Das gegenwärtige Denken muß sich im Sinne eines monumentalischen Interesses ernsthaft darauf einlassen, sich ein Stück weit vom anfängerhaften, naiven Denken der Frühzeit leiten zu lassen, und zwar gerade deshalb, weil es sich um die Naivität einer vortranszendentalen Thematisierung der Gegebenheitsweisen handelt. Warum und wie in dieser Thematisierung „Welt" zur Sprache kommt, ist nun noch zu präzisieren. Die vortranszendentale Thematisierung der Gegebenheitsweisen begreift diese als reine Bestimmtheiten, d. h. sie bezieht sie nicht auf Gegenstände als ihre Träger. Der Gegenstand ist das, was das natürliche Bewußtsein thematisch als an sich auffaßt. Etwas als an sich seiend auffassen, heißt: sein Sein als vom subjektiven Vollzug des Erlebenden unabhängig ansetzen. Mit dieser Ansetzung von Unabhängigkeit unterscheidet das Bewußtsein zwischen sich selbst und dem, was es nicht selbst ist, also dem, was ihm als gegenständliches Gegenüber begegnet. Demnach begründet erst das Gegenstandsbewußtsein ein Bewußtsein vom Unterschied zwischen „Ich" und „Welt". Nun bezieht die vortranszendentale Thematisierung der Gegebenheitsweisen die erscheinenden Bestimmtheiten nicht auf Gegenstände; sie stellt also ein Denken dar, das sich nicht als Gegenstandsbewußtsein vollzieht. Mithin kann dieses Denken den Unterschied von „Ich" und „Welt", von Subjekt und Objekt, der erst im Gegenstandsbewußtsein entsteht, nicht kennen. Daraus folgt, daß die reinen Bestimmtheiten, die vortranszendental thematisiert werden, nicht als Objekte zu verstehen sind, die das vortranszendentale Denken von so etwas wie subjektivem Vollzug unterschiede. Die reinen Bestimmtheiten sind zwar das Seiende. Aber dieses Seiende ist das Erscheinende schlechthin; es steht dem Bewußtsein nicht „gegenüber", sondern es ist — wie wir nachträglich aus der Perspektive der Unterscheidung von Subjekt und Objekt sagen — „gleichermaßen" Bewußtsein. Nun kann das beginnende Denken in seiner vortranszendentalen Naivität diesen Bewußtseins-, d. h. Vollzugscharakter der reinen Bestimmtheiten nicht als solchen erkennen. Andererseits aber muß sich doch, wenn dieses beginnende Denken sachgemäß denkt, in der Weise, wie es die reinen Bestimmtheiten versteht, zeigen, daß diese Bestimmtheiten eine ungegenständliche Verfassung haben, daß sie m. a. W. durch die Indifferenz von Subjekt und Objekt gekennzeichnet sind. Genau diese Erwartung bestätigt sich mit der Beobachtung, daß das anfangende Denken reine entgegengesetzte Zustände wie das Kalte, das Helle, das Feuchte usw. zum Thema hat. Solche Zustände sind nämlich in der Tat zunächst nicht nur keine Eigenschaften von Objek-

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ten, sondern sie umgreifen audi die Wirklichkeit und das erlebende Subjekt. Die vorhin angeführten „impersonalen" Beispielsätze bringen das deutlich zum Ausdruck: Der Satz „es ist warm" spricht aus, daß ein Zustand stattfindet, der „das Ganze" der Umwelt, in der ich mich befinde, und — ununtersdiieden davon — mich selbst „durchwaltet", „durchstimmt", oder wie immer man sprachlich den Indifferenzcharakter des Stattfindens soldier reinen Bestimmtheiten fassen will. Damit wird klar, daß es nicht irgendwelche beliebigen Zustände sind, die zum Thema einer vortranszendentalen Erkenntnis der Gegebenheitsweisen werden, sondern nur Zustände von einer solchen indifferenten Verfassung. Im Heraklit-Teil wird noch genauer zu zeigen sein, daß sich von daher die Auswahl der Gegensatzpaare bestimmt, die das frühe Denken beschäftigt haben. Die Indifferenz von erlebendem Bewußtsein und thematischem Gegenstand läßt nun auch verständlich werden, warum die genannten Zustände sich auf Gegenden, d.h. das gerade genannte „Ganze" einer Umwelt, beziehen. Erst indem das erlebende Bewußtsein thematisierend zwischen sich und seinem an sich bestehenden Gegenstand unterscheidet, unterscheidet es auch die Gegenstände untereinander; denn das Thematisieren ist ein Setzen von Identität, und nur sofern die Gegenstände mit sich selbst identisch sind, können sie jeweils dieser und kein anderer Gegenstand sein. Nur auf Gegenstände, die wir thematisierend unterscheiden, können wir zeigen, d. h. ostensiv ihre Unverwechselbarkeit zum Ausdruck bringen. Nun haben wir — in einer im Heraklit-Teil genauer zu analysierenden Weise — ein Bewußtsein von dem umweltlichen Raum, in den wir mehrere Gegenstände einordnen, auf die wir zeigen oder zeigen können. Die Differenzierung innerhalb soldier umweltlicher Räume beruht auf der thematisierenden Setzung von gegenständlichem An-sich-Sein. In der vortranszendentalen Thematisierung reiner Zustände wird diese Setzung nicht vollzogen. Die thematisierten Zustände können daher nur Bestimmtheiten sein, in denen das Ganze der jeweiligen Lebensumwelt des oder der diese Welt Erlebenden erscheint. Daß im milesisdien Denken von Zuständen von Gegenden die Rede ist, ist also kein Zufall, sondern ergibt sich aus der Verfassung der Zustände, die das Thema einer vortranszendentalen Beschäftigung mit den Gegebenheitsweisen sein müssen. Die Zustände, mit denen sich die beginnende Philosophie und Wissenschaft beschäftigt, sind also unvermeidlich in doppelter Hinsicht durch Indifferenz gekennzeichnet: 1. durch die Ununterschiedenheit von erlebendem Bewußtsein und Sein, 2. durch die Indifferenz der aufzeigbaren Gegenstände selbst. Damit ist der innere Zusammenhang zweier Seiten des beginnenden Den-

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kens noch deutlicher hervorgetreten: Es ist als Beginn von Wissenschaft überhaupt zum einen der erste Versuch einer Thematisierung der Welt als solcher in ihrer Identität; es ist zum, andern als das Bewußtsein vom Unterschied zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Denken, das es als beginnende Wissenschaft sein muß, vortranszendentale Thematisierung der Gegebenheitsweisen. Beide Thematisierungen sind aber nicht zweierlei, sondern zwei Seiten desselben, weil die vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen nur reine Bestimmtheiten, somit in doppelter Hinsicht indifferente Zustände und damit wiederum nur Zustände von Welt sein können. Der Gedanke, daß die Kontinuität des Überlegenheits- bzw. Verbindlichkeitsanspruchs von Philosophie und Wissenschaft nur dann gewahrt ist, wenn sie als ein zunächst einheitliches Bewußtsein vom Unterschied zwischen Weltidentität und perspektivischer Mannigfaltigkeit entstehen, hat sich damit konkretisiert: Diesen Unterschied erfaßt das mjlesische Denken als die Spannung zwischen dem identisch Verharrenden der umfassendsten Gegend, in der der Mensch lebt, und ihren periodisch wechselnden zuständlichen Erscheinungsweisen. Die Rede vom doppelten Indifferenzcharakter der Zustände könnte das Mißverständnis hervorrufen, als seien die Zustände so etwas wie die berüchtigte „Nacht, in der alle Kühe schwarz sind", ein Brei, in dem der Enthusiasmus des Anfänglichen und Primitiven nur heftig rühren, aber nichts erkennen kann. Dagegen ist daran zu erinnern, daß die Zustände als reine Bestimmtheiten gefaßt wurden. Allerdings steht noch immer die Beantwortung der Frage aus, woher sie ihre Bestimmtheit erhalten. Wie kann beispielsweise der Zustand der Wärme ein bestimmter sein, wenn er weder als Gegenstand an anderen Gegenständen noch als Objekt am Subjekt seine Grenze hat? Dies ist nur so möglich, daß er sich von einem — und zwar ausschließlich einem — anderen Zustand unterscheidet. Es können m. a. W. nur zwei Zustände sein, die sich wechselseitig ihre Bestimmtheit verleihen, und zwar aus folgendem Grunde: Der reine Zustand läßt sich nur als eine zeitweilig stattfindende Bestimmtheit denken; der so verstandene Zustand ist etwas „in der Zeit", in dem Sinne, daß er eine bestimmte Dauer hat. Reine Zustände finden aber nicht in analoger Weise „im Räume" statt, deshalb nicht, weil sie aufgrund ihres Indifferenzdiarakters den Lebensraum im ganzen durchwalten. „Im Räume", an einem bestimmten „Ort" im, Sinne der Besetzung eines Ausschnitts aus einem Ganzen sind nur thematisierbare Gegenstände. Indem wir auf sie zeigen, weisen wir ihnen eine Stelle im Räume zu. Auf die reinen Zustände können wir in diesem Sinne nicht zeigen. Demnach können sich reine Zu-

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stände nicht räumlich von einander abgrenzen, sondern nur als Dauern in der Zeit, d. h. in einer Abfolge. Wenn die einander begrenzenden Zustände Bestimmtheiten sind, so können sie unter dieser Bedingung nur zwei sein. Angenommen nämlich, es gäbe mehr als zwei aufeinander folgende Zustände, ζ. B. drei, genannt Α, Β und C, so würden diese bei regelmäßiger Abfolge in der Reihe A B C A B C usw. aufeinander folgen (bei Annahme einer unregelmäßigen Abfolge ändert sich am Ergebnis der folgenden Überlegung nichts). In dieser Zustandsreihe hat jeder Zustand eine Grenze „nach hinten" und „nach vorne", — „nach hinten", sofern sein Entstehen Aufhören des vorangegangenen Zustandes ist, „nach vorne" entsprechend umgekehrt. Bei der angesetzten Abfolge würde nun beispielsweise der Zustand Β nach hinten den Zustand Α und nach vorne den Zustand C zur Grenze haben. Er bliebe aber nach hinten im Hinblick auf C und nach vorne im Hinblick auf Α unbestimmt. Ihm fehlte mithin etwas an seiner Bestimmtheit. Dieser Mangel an Bestimmtheit kann nicht durch eine Bestimmung von anderswoher aufgehoben werden; denn die reinen Zustände erhalten ihre Bestimmtheit, wie gezeigt wurde, ausschließlich in der Dimension der Zeit. Folglich können die vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen nur in der Weise etwas Bestimmtes sein, daß ausschließlich zwei Zustände sich wechselseitig bestimmen. Diese Zustände sind vollständig bestimmt, sofern es zur Bestimmung von Α hinreicht, daß es nicht Β ist und umgekehrt. Reine Zustände müssen also im Dual auftreten und im Verhältnis des Gegensatzes, der enantlotes (oder mit einer Formulierung von Lorenzen: der polaren Kontrarietät), zueinander stehen. Auch damit bestätigen sich oben angeführte Beobachtungen: Das beginnende Denken muß die Zustände als Paare von Gegensätzen fassen und die darauf bezogene Gesetzmäßigkeit als Periodizität. Daraus, daß die entgegengesetzten Zustände reine wechselseitige Bestimmtheiten in der Dimension der Zeit sind, folgt ein weiterer Gedanke: Wir haben zwar mit der frühesten Wissenschaft unterstellt, daß es mehrere Paare von reinen entgegengesetzten Zuständen gibt, z.B. Kälte — Wärme, Trockenheit — Feuchtigkeit, Helle — Dunkel und dergl. mehr. Genaugenommen ist es aber nicht möglich, reine Zustandspaare voneinander zu unterscheiden; das setzte nämlich voraus, daß jeder Zustand noch andere Grenzen aufwiese als die eine Grenze, die ihn von seinem Gegenzustand unterscheidet. Dies wiederum wäre nur unter der Bedingung möglich, daß die Zustände einen gemeinsamen Ort ihres Auftretens hätten, an dem sie sich in mehrfacher Hinsicht von einander unterscheiden ließen. Dieser Ort wäre das „Ding", von dem wir hier methodisch im Rahmen einer vortranszendentalen Thematisierung reiner Gegebenheitsweisen nichts wissen. Wenn polar

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entgegengesetzte zeitweilige Zustände rein wechselseitig bestimmt sein sollen, so kann es mithin im Grunde nur ein einziges Paar soldier Zustände geben. Die Notwendigkeit dieses Gedankens schlägt sich nun tatsächlich in der historisch beobachtbaren Tendenz des frühesten Denkens nieder, die vielen Gegensatzpaare als deckungsgleich oder austauschbar anzusehen. Sie kommt noch deutlicher zum Ausdruck in der Bemühung, alle Gegensätze in einem einzigen Urgegensatz zusammenfallen zu lassen. Diese Bemühung dürfte sich schon bei Anaximenes in dem Gegensatz von Verdichtung und Verdünnung ankündigen. Ihr Resultat hat sich bei Parmenides im Doxateil des Lehrgedichts bereits zum Gegensatz der Urgestalten Licht und Nacht verfestigt. Bei Heraklit ist die gedankliche Bewegung, die alle Gegensätze von Zuständen in einen Urgegensatz zurückzwingt, noch im Fluß und schlägt sich daher in weniger massiven, wenngleich für die Erhellung der Sache selbst aufschlußreicheren Ergebnissen nieder: Vorgreifend auf spätere Analysen könnte man sagen, daß bei Heraklit der Gedanke des Urgegensatzes so wiederkehrt, daß jedes Zustandspaar der ganze Urgegensatz ist und ihn jeweils nur unter einer anderen Hinsicht darstellt. Der Gedanke der Zurückführung aller Gegensätze auf einen Urgegensatz sei an dieser Stelle nicht weiterverfolgt, da er im Heraklit- und Parmenidesteil wieder aufgenommen wird. C. Zur philosophischen und philologischen Beurteilung des anfänglichen Denkens Es sei noch auf die sprachliche Seite der vortranszendentalen Thematisierung der Gegebenheitsweisen aufmerksam gemacht, die sich in besonders eindrucksvoller Weise in der historischen Entwicklung des frühgriechischen Denkens dokumentiert. Dazu ist zunächst an den bekannten Sachverhalt zu erinnern, daß das alltägliche Thematisieren von an sich seienden Gegenständen als unmittelbar erlebten in unserer und der altgriechischen Sprache die Gestalt des „Dieses"-Sagens hat. Das Thematisieren unterscheidet, wie oben ausgeführt, den Gegenstand vom eigenen Vollzug und unterscheidet ineins damit die Gegenstände untereinander. Auf den durch die doppelte Unterscheidung in seiner Identität gesicherten Gegenstand kann man zeigen. Der adäquate sprachliche Ausdruck des alltäglichen Thematisierens ist daher der Gebrauch des Demonstrativpronomens. In der altgriechischen Sprache entsteht, wie man weiß, allmählich aus dem Demonstrativpronomen der bestimmte Artikel. Auch dieser ist also sprachlich und sachlich Ausdruck des ostensiven Charakters, den das Thematisieren hat.

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Das erste Auftreten des bestimmten Artikels fällt, wie besonders B. Snell gezeigt hat 7 , geschichtlich mit der Entstehung der Wissenschaft zusammen. Und hier geschieht — wiederum nach den Beobachtungen von Snell — etwas Erstaunliches: Der bestimmte Artikel wird nämlich dazu benutzt, um Ausdrücke wie „das Kalte", „das Flüssige" und dergl. mehr zu bilden. Dieser Vorgang ist insofern erstaunlich, als mit diesen Ausdrücken nach unserer Interpretation Gegebenheitsweisen als solche bezeichnet werden. Diese aber sind, wie im vorigen Kapitel dargelegt wurde, gerade das alltäglich Unthematische als solches; sie sind als das bloß Funktionale des Erkenntnisvollzuges das bei jeglicher Thematisierung normalerweise gerade Übergangene und Übersprungene; sie sind demgemäß auch nur dasjenige, durch das hindurch sich jegliches Zeigen vollzieht, jedoch niemals das Gezeigte selbst. Mit dem Beginn der griechischen Wissenschaft aber werden sie erstmals selbst zum Thema eines Zeigens, d.h. sie werden mit dem bestimmten Artikel versehen. B. Snell hat gewiß recht, wenn er in diesem Vorgang ein — wenn nicht das entscheidende — Moment für die Entstehung des wissenschaftlichen Denkens sieht. Es trifft auch gewiß zu, daß in der Entstehung von Ausdrücken wie „das Kalte" usw. eine anfängliche Vorgestalt von Begriffsbildung vorliegt; denn die reine Gegebenheitsweise ist Bestimmtheit und damit im Grunde Begriff (was aber historisch erst endgültig herauskommt, wenn der Vollzugscharakter der Gegebenheitsweise und damit der Zusammenhang von Bestimmtheit und Denken ans Licht tritt). Snell hat allerdings seine wichtigen diesbezüglichen Beobachtungen anders interpretiert, als es hier versucht wird. Insbesondere stand ihm noch nicht der Begriff der Gegebenheitsweise zur Verfügung. Die Fruchtbarkeit dieses Begriffs bestätigt sich gerade in der Reinterpretation der Snellschen Beobachtungen. Mit dem Begriff der vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen als reiner entgegengesetzter Zustände, so wie er hier bestimmt wurde, dürfte überhaupt erstmals eine einheitliche positive Bestimmung für etwas gefunden sein, was in der bisherigen Literatur immer nur umschrieben oder negativ eingegrenzt werden konnte. Überall, wo man in der Literatur zur frühesten Wissenschaft versucht zu sagen, womit sich das beginnende Denken eigentlich beschäftigt hat, treffen wir selbst bei hervorragenden Forschern auf eine charakteristische Hilflosigkeit. Eines der letzten Beispiele hierfür sind etwa die Ausführungen von K. von Fritz zur Thematik des Anaximander. Es sei mir erlaubt, diese Ausführungen einmal in voller Länge zu zitieren, 7

Vgl. Die Entdeckung des Geistes, S. 299 ff.

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weil hier eine wissenschaftliche Autorität spricht, die aufgrund umfangreicher lebenslanger Forschung vom ganzen komplexen Sachverhalt wohl unbestritten eine originäre Kennerschaft besitzt, und dafür auf die vielen allerorts mühelos zu findenden Zitate aus der übrigen Sekundärliteratur zu verzichten. „Was bei Anaximander . . . durch die Neutra von Adjektiven bezeichnet wird, hat . . . die verschiedensten Aspekte. Wenn in dem Bericht über die Entstehung der „Welt" aus dem Urgegensatz des Heißen und Kalten das Heiße unmittelbar darauf mit der Flamme gleichgesetzt zu werden scheint, welche die die Erde umgebende Luft wie die Rinde eines Baumes „umwächst", so scheint „das Heiße" doch auch einen stofflichen Aspekt zu haben, wenn nicht geradezu etwas Stoffliches zu sein; und man mag fragen, ob und wieweit „das Kalte" ebenfalls mit etwas Stofflichem, wie etwa der Luft oder der Erde, gleichgesetzt werden kann, ohne aus der Überlieferung eine ganz klare Antwort auf diese Frage entnehmen zu können. Auf der anderen Seite sind das Heiße und Kalte bei Anaximander gewiß nicht inerte Materie, sondern erscheinen in gewisser Weise als Kräfte, die aufeinander wirken und miteinander im Kampfe liegen, wie aus den Einzelheiten der Entstehung der Gestirne in der Darstellung Anaximanders, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen zu werden braucht, noch deutlicher hervorgeht. Sie sind aber nicht nur zugleich etwas Stoffliches und Kräfte, sondern, wie ihre Bezeichnung unmittelbar besagt, audi das, was wir etwa physische Qualitäten nennen könnten. Damit nicht genug. Die spätere Entwicklung, vor allem die Lehre, daß Gleiches nur durch Gleiches erkannt oder wahrgenommen werden könne, die offenbar von den emotionalen Qualitäten hergeleitet ist, zeigt, daß die physischen Qualitäten des Heißen und Kalten als mit den emotionalen Qualitäten, die mit denselben Worten bezeichnet werden, identisch empfunden wurden; und wenn sich audi nicht strikt beweisen läßt, daß dies schon auf Anaximander zurückgeht, so ist dies doch äußerst wahrscheinlich, da es höchst seltsam wäre, wenn diese Nichtunterscheidung der physischen und der entsprechenden emotionalen Qualitäten, deren Spuren später auf das deutlichste nachzuweisen sind, gerade bei ihm, der die Dinge wie menschliche Wesen einander „Gerechtigkeit geben" und „Buße leisten" läßt, nicht zu finden gewesen sein soll. Daraus läßt sich nun auch der Grundcharakter der Weltauffassung des Anaximander genauer bestimmen. Wie bei Thaies sind die mehr oder minder menschengestaltigen göttlichen Mächte, die bei verschiedenen Völkern ja audi in verschiedenen Gestalten erscheinen, verschwunden. Was am Anfang und auf dem Grunde des Seins erscheint, ist etwas allen Menschen, gleich welcher Herkunft, in gleicher Weise Erfahrbares. Aber dies für alle Menschen in glei-

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eher Weise Erfahrbare ist nicht analytisch in seine verschiedenen Aspekte auseinandergelegt, wie etwa in einen stofflichen Aspekt des passiven Gegenstandes, den Aspekt der auf den Menschen, aber audi auf andere Dinge, wirkenden Kraft, den Aspekt der Qualität, die ja auch den Stoff als diesen von allen anderen Stoffen verschiedenen Stoff bestimmt, aber insofern sie wirkt und affiziert, auch etwas von dem Charakter einer wirkenden Kraft besitzt, oder endlich in die physischen und die emotionalen Qualitäten, die doch auch nicht ganz zufällig und aufgrund einer willkürlichen „Übertragung" und als rein sprachliche „Metaphern" denselben Namen tragen. Vielmehr ist es offenbar für Anaximander mehr oder minder dasselbe, das sich bald mehr unter diesem, bald mehr unter jenem Aspekt enthüllt. Eben in dieser Ungeschiedenheit ihrer Aspekte aber erscheinen die Urgegebenheiten dem Menschen noch so nahe, noch so verwandt, daß selbst solche Vorstellungen wie die des „Buße Gebens", wenn auch in einer von der menschlichen verschiedenen Abschattung, auf sie angewendet werden können. Aus diesen so gefaßten Grundgegebenheiten sucht Anaximander die Entstehung, das Werden und das Vergehen der „Welt" zu erklären . . . " 8 . Die „Grundgegebenheiten der Welt" „erscheinen" dem Anaximander, so sagt von Fritz in einer Fußnote zu diesen Ausführungen, „in einer Form, in der Stoff, Kraft und Qualität gewissermaßen ungeschieden beieinander lagen" 9 . Es sei hinzugefügt, daß das, was von Fritz hier über die Thematik des Anaximander ausführt, mutatis mutandis auch von den „Grundgegebenheiten" bei den anderen frühgriechischen Denkern bis hin zu Empedokles gesagt werden könnte, und ζ. T. von von Fritz auch gesagt wird. Für eine sachlich-systematische und nicht rein antiquarisch-historisch interessierte Vorsokratiker-Interpretation stellt sich nach der Lektüre dieser Ausführungen in erster Linie die Frage, wie wir Heutigen uns zu jenen Stoff-Kraft-Qualität-„Grundgegebenheiten" der Welt stellen, die von Fritz ohne Zweifel richtig umschreibt. Müssen wir uns darauf beschränken, jene „Grundgegebenheiten" in rein historischer Bestandsaufnahme als etwas anzuerkennen, was zwar von den frühen Denkern für eine vorliegende Sache, die untersucht zu werden verdient, gehalten wurde, was aber von uns Heutigen als ein bloßes Resultat der Differenzierungsarmut des frühesten Denkens durchschaut wird? In diesem Falle ist das Äußerste, was unser Verständnis erreichen kann, eine historisch-psychologische Erklärung der damaligen Themenstellung aus der Verfassung eines noch halb-mythischen Denkens. Oder K. v. Fritz, Grundprobleme der Gesdiidite der antiken Wissenschaft, S. 21 ff. ' a.a.O., S.21. 8

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gibt es zur rein antiquarischen Bestandsaufnahme und den damit verbundenen Erklärungen der genannten Art eine rational und ernsthaft vertretbare Alternative, die lauten würde: Jene Grundgegebenheiten sind eine Sache, die es in gewissem Sinne in der Tat gibt und über die es sich darum auch heute noch nachzudenken lohnt? Diese letztere Auffassung wird hier vertreten. Wie sich im Heraklit-Teil zeigen wird, läßt sich die rätselhafte Vieldeutigkeit jener „Grundgegebenheiten", wie sie von Fritz beschreibt, mit Hilfe des Begriffs der vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen vollständig erklären. Selbstverständlich muß dieser, dem geläufigen Vorverständnis von frühester Wissenschaft diametral widersprechende und zunächst befremdlich klingende Anspruch der hier vorgelegten Interpretation von vornherein mancherlei Mißverständnissen ausgesetzt sein. Das grundlegende Mißverständnis beruht darauf, daß man annimmt, eine Sache, die ernsthaft von uns zu einem Untersuchungsthema gemacht werden kann, müsse für jedermann oder zumindest für einen Wissenschaftler unmittelbar feststellbar oder erkennbar und damit auch benennbar sein. Wer mit diesem Vorurteil die Thematik der frühesten Wissenschaft prüft, wird als erstes bemerken, daß es ihm nicht auf Anhieb gelingt, die „Sache selbst", von der jene Denker bewegt sind, beim Namen zu nennen, und er wird daraus, daß ihm nur Umschreibungen, bestenfalls negative Bestimmungen jener „Sache" möglich sind, schließen, es könne sich nicht um etwas handeln, was wirklich als Untersuchungsgegenstand vorliegt, sondern nur um den Ausdruck der Primitivität oder Ungenauigkeit jenes Denkens, das so etwas wie Dinge, Kräfte, Elementarstoffe, Qualitäten, Gemütszustände usw. noch nicht auseinanderzuhalten wußte. Die Beurteilung der frühesten Wissenschaft im Lichte dieser Einstellung wird so immer darauf hinauslaufen, daß Denken und Sein, Denken und Sprache, Denken und Fühlen — und wie immer die gängigen Unterscheidungen lauten mögen — damals noch eine — uns sachlich nicht mehr nachvollziehbare — Einheit gebildet hätten. Derartige Versicherungen werden denn auch bis heute gewissermaßen als der Weisheit letzter Schluß in der Einschätzung des vorsokratischen Denkens ausgegeben. Mit dieser Beurteilungsart hängt der weitere Umstand zusammen, daß man sich im Prinzip seines eigenen Begriffsbestandes bei der Interpretation so sicher zu sein glaubt, daß man ihn keiner gründlichen und kritischen Überprüfung im Hinblick auf seine Eignung für eine Vorsokratiker-Auslegung unterzieht. Man hantiert etwa mit Ausdrücken wie „subjektiv" und „objektiv", „extramentale Außenwelt", „Prinzip", „materiell" , „ideell" und dergl. mehr so, als ob unmittelbar klar sei, daß solchen Ausdrücken Sachen oder Sachverhalte, die wirklich vorliegen, entsprechen.

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Auf der anderen Seite korrespondiert dieser unkritischen Einstellung gegenüber den eigenen Interpretationsmitteln die pauschale Vorab-Verdächtigung aller Interpretationen, in denen aus gutem Grunde nicht die gängigen begrifflichen Klischees verwendet werden, als Vergewaltigungen des historischen Befundes. Selbstverständlich ist die Gewaltsamkeit ζ. B. der Hegeischen oder Heideggerschen Vergegenwärtigungen frühgriechischen Denkens nicht zu bestreiten. Nur sollte der, der dies solchen Philosophen zum Vorwurf madit oder sie zumindest bei seiner Interpretation aus diesem Grunde übergehen zu dürfen glaubt, nicht so tun, als sei seine eigene Interpretation im Prinzip weniger „gewaltsam". Wer etwa in der Auslegung des Parmenides dessen „Seiendes" als „extramentale Realität" bestimmt 10 und die Alternativfrage stellt, ob es materiell oder immateriell sei 1 0 , der denkt so unverblümt in cartesianischen bzw. aristotelisch-scholastischen Denkbahnen, daß man doch wohl auch einmal um die Beantwortung der Frage bitten darf, mit welchem Recht man von vornherein und unreflektiert annimmt, das frühgriechische Denken sei auf diesen Bahnen adäquater als auf denen Hegels oder Heideggers nachzuvollziehen11. Es ist ein Vorurteil, zu meinen, philosophiegeschichtlich früher entwickelte Unterscheidungen, Begriffe usw. müßten zur Interpretation des frühesten Denkens geeigneter sein als modernere. Es könnte ja auch sein, daß sich das philosophische Denken durch gewisse neuere Gedanken Möglichkeiten eines adäquateren Verständnisses vom Überlieferten verschafft. Dies behaupten Hegel und Heidegger in der Tat von ihren eigenen Denkbemühungen. Unter diesen Umständen wird man aber der Vergegenwärtigimg der frühesten Philosophie durch diese Denker in Anbetracht ihres Ranges doch wohl erheblich mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, als es der eben zitierte Autor und viele andere mit ihm für nötig halten. Die Kritik der weitverbreiteten Naivität, die angeblich rein historische Betrachtung gegen die „modernistische" Vergewaltigung der Überlieferung auszuspielen, sei hier nicht weitergeführt. Es dürfte schon ersichtlich geworden sein, daß sich der Interpret gegen jene Naivität — und selbstverständlich auch gegen diese Vergewaltigung — nur schützen kann, indem er kritisch io So in Bormanns Parmenides-Budi. Das nimmt der oben zitierte Autor — wie viele Gleichgesinnte — offenbar als selbstverständlich an, wenn er etwa schreibt: „Wenn Heidegger Gedanken anderer als Ausgangspunkt wählt und von ihnen ausgehend seine eigenen Lehren entwickelt, dann ist diese Methode gerechtfertigt. Aber in einer Untersuchung, welche einen kleinen Bereich der antiken Philosophiegesdiichte aufhellen will, kann auf Heideggers Parmenides-Verständnis ebensowenig eingegangen werden wie auf das Hegels oder Kants" (Bonnann, S. 6).

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und ausführlidi über seine eigenen Denkbahnen und Begriffe im Hinblick auf ihre Eignung zur Auslegung des frühesten Denkens Rechenschaft ablegt. Diese „Eignungsprüfung" hat zwei Seiten: Die eine Seite ist die konkrete operative Erprobung der verwendeten Begriffe und Gedanken an den überlieferten Texten und der Versuch, von diesen Texten mit ihrer Hilie möglichst viel (und mehr als bisher möglich) verständlich zu machen. Diese „Probe aufs Exempel" wird für die hier anstehende Thematik im zweiten und dritten Teil der vorliegenden Abhandlung vorgelegt. Die andere Seite der Eignungsprüfung ist — und das wird von den philologischen Interpreten gern vergessen — eine Reflexion auf die verwendeten Begriffe und Gedanken vorab zu ihrem bloß operativen Gebrauch bei der Interpretation; die operative Verwendung allein darf einer selbstkritischen Interpretation nicht genügen. Sie muß also die Erwägung anstellen, ob und aus welchen Gründen vorab zum operativen Gebrauch in der Einzelinterpretation zu erwarten ist, daß die betreffenden Begriffe und Gedanken ein Denken für uns aufschließen können, zu dem unser gegenwärtiges Denken in einem bestimmten — erst innerhalb dieser Erwägung zu bestimmenden — zugleich geschichtlichen und systematischen Verhältnis steht. Diese ineins geschichtliche und systematische Erwägung kann man sich jedenfalls dann nicht ersparen, wenn man sich eingesteht, daß es keine Selbstverständlichkeit ist, sich mit einer zweieinhalbtausend Jahre vergangenen Epoche der Wissenschaft zu beschäftigen, und wenn man es darum unbefriedigend findet, einen weitgehend sinnendeert gewordenen philosophiehistorisch-philologischen Forschungsbetrieb oder eine zur bloßen Phrase gewordene Tradierung von Bildungsgütern um ihrer selbst willen fortzusetzen. Ich hoffe nach allem Gesagten, daß die vorliegenden Untersuchungen von dem wohlfeilen Vorwurf verschont bleiben, hier werde der historische Bestand frühgriechischen Denkens von einem „Gebäude" oder „System" aus Gedanken der Transzendentalphilosophie und Phänomenologie überlagert. Gegen dieses Mißverständnis kann ich vorerst nur darauf hinweisen, daß es die bereits mehrfadh erklärte Absicht dieser Untersuchung ist, gerade nicht das frühe Denken mit modernen Gedanken zu übermalen oder ihm mit Modernismen aufzuhelfen, sondern im Gegenteil: „modernem Denken", d. h. hier dem wissenschaftlichen Objektivismus und der Transzendentalphilosophie zugleich zu einer echten Belehrung durch das früheste Denken zu verhelfen. Die einzige „Zutat" unserer Interpretation besteht gerade darin, dieses früheste Denken in seiner Naivität für uns verbindlich zum Sprechen zu bringen, d. h. dieser Naivität allererst eine Verbindlichkeit für uns abzu-

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gewinnen, anstatt uns das, was es sachlich zu sagen hat, durch philosophiegeschichtlich festgefahrene Formeln vom Leibe zu halten. Die vorliegende Untersuchung versucht, den Beginn von Philosophie und Wissenschaft ernstlich in systematischer Absicht zu vergegenwärtigen und dabei zugleich den Fehler zu vermeiden, dem historischen Zeitenabstand zu wenig Gewicht beizumessen. In diesen Fehler kann man auf doppelte Weise verfallen: Man kann zum einen die systematische Vergegenwärtigung, durch die die Denker der Vergangenheit zu quasi-zeitgenössischen Diskussionspartnern erhoben werden, soweit treiben, daß die angebliche Interpretation in der Tat nur noch eine historische Illustration des Denkgebäudes des Interpreten selbst bzw. seiner modernen Vorbilder ist. Dieser Fehler läge hier vor, wenn das frühgriechische Denken als Transzendentalphilosophie, als objektive Wissenschaft, als Phänomenologie oder als Reflexion in einem strengen Sinne dieses Wortes und dergl. mehr ausgegeben würde und vor allem: wenn wir unabhängig vom historischen Beginn von Philosophie und Wissenschaft schon zu wissen glaubten, was „Thematisierung der Welt als soldier" heißt. Um diesen Fehler zu vermeiden, wurde auf die genaue systematischhistorische Ortsbestimmung einer „vortranszendentalen Reflexion auf die Gegebenheitsweisen von Welt" größter Wert gelegt. In diesem Sinne und in dieser Hinsicht bleibt die hermeneutische Vorsicht vorbildlich, in deren Geist vor allem Heidegger und ihm verwandte oder von ihm angeregte Denker immer wieder vor der Anwendung nachcartesianischer Begriffe wie „Subjekt" (neuzeitlich verstanden), „Reflexion" und dergl. auf das griechische Denken gewarnt haben. Andererseits stellt sich gerade auch im Zusammenhang einer solchen hermeneutischen Zurückhaltung gern der Fehler wieder ein, daß der historische Zeitenabstand nicht ernst genug genommen wird; dieser Fehler tritt dann in seiner zweiten Gestalt auf, von der nunmehr zu sprechen ist: Wird nämlich der Bogen der hermeneutischen Zurückhaltung überspannt, so kommt der Interpret in die grundsätzliche Schwierigkeit, nicht mehr erklären zu können, wieso das griechische und frühgriechische Denken, das von dem unsrigen nun durch einen wahren Abgrund getrennt sein soll, für uns noch einen Beitrag zur verbindlichen Erkenntnis enthalten kann. Die Kontinuität verbindlichen Denkens gerät, wenn sich „wesentliches Denken" „jäh" und radikal „epochal" ereignet, in Gefahr. Manches, was in dieser Richtung — vielleicht nicht bei Heidegger selbst, aber bei dem einen oder anderen seiner Nachfolger — behauptet wird, klingt beinahe so, als gebe es eine doppelte (nämlich neuzeitliche und vorneuzeitliche) oder gar vielfache (nämlich für jeden großen Philosophen eine andere) Wahrheit. Aus den Schwierigkeiten einer sol-

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dien Position führt nun als ein Ausweg die Behauptung, in den geheimnisvollen Texten aus der Frühzeit des Denkens (und übrigens auch des Dichtens) bekunde sich eine höhere (oder, wenn man so will, tiefere) — und uns verlorengegangene — Wahrheit als die, die wir durch gegenwärtige philosophische oder wissenschaftliche Erkenntnisse erfassen könnten. Damit aber wird erneut die systematische Relevanz des Zeilenabstandes unterschätzt, weil man unterstellt, es sei so etwas wie eine Erneuerung einer mythischen oder tragischen oder aufgeklärt-mythischen Bewußtseinsstellung in unserer Welt möglich. Gegen die zerstörerischen Kräfte von neuzeitlicher Wissenschaft und Technik werden „Mächte" und „Gestalten" zitiert (und manchmal geradezu durch Wortzauber „beschworen"), von deren „Walten" das „ursprüngliche" Denken und Dichten noch Kunde geben soll. Als solche Mächte und Gestalten fungieren „Himmel" und „Erde", „Tag" und „Nacht", Elemente wie „das Wasser" und „das Feuer" und dergl. mehr n . Diese angeblichen Mächte und Gestalten sind aber, wenn das Reden von ihnen einen diskutablen Sachgehalt haben soll, nichts anderes als das, was hier als vortranszendental thematisierte Gegebenheitsweisen bestimmt wurde. „Der Tag" oder „die Nacht" beispielsweise wurden ja bereits als Weisen des Erscheinens des „Weltganzen" qua Gegend genannt. Von „Himmel", „Erde" und „Meer" und den „Elementen" wird sich aufgrund der Analysen im Heraklit-Teil dasselbe herausstellen. „Objektiv-wissenschaftlich" „gibt" es dergleichen wie die „Nacht" nicht, sondern ζ. B. nur die verschiedenen Stellungen, die zwei annähernd kugelförmige Körper im Weltraum, von denen der eine Licht aussendet, aufgrund bestimmter Kreisbewegungen zueinander einnehmen, und die Beleuchtungs- und Temperaturverhältnisse, die dabei entstehen. Der Ernüchterung unseres Weltverhältnisses, wie es sich in einer solchen Erkenntnis ausspricht, ist durch keine Beschwörung einer quasi-mythischen Nacht abzuhelfen. Ihre Etikettierung als „Macht" oder „Gestalt" soll diese Nacht vor ihrer Destruktion durch die Wissenschaft schützen. In Wahrheit bleibt die so besdiworene „Nacht" gegenüber dem „objektiven Tatbestand", der in der Wissenschaft formuliert wird, definitiv machdos, weil wesenlos. Und das hat seinen eigentlichen Grund darin, daß man dergleichen angebliche Mächte gewissermaßen unvermittelt in Konkurrenz mit den Tatbeständen treten läßt, die die objektive Wissenschaft ermittelt. D. h., die Behauptung solcher Mächte oder Gestalten tritt gegen die 12 Ich denke hierbei etwa an das, was Eugen Fink, Walter F. Otto und Gerhard Nebel zum frühgriediisdien Denken geschrieben haben, ohne die Anregungen verleugnen zu wollen, die ihre Interpretationen für ein angemessenes Verständnis des frühgriediisdien Denkens und Daseins bereit halten.

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Wissenschaft im Grunde auf der gleichen Ebene des natürlichen Bewußtseins an; beide statuieren nämlich ein durch Subjektivität nicht vermitteltes Seiendes. Dabei muß die Wissenschaft aufgrund ihrer überlegenen methodischen Absicherung des An-sich-Seienden, das ihr Gegenstand ist, Sieger bleiben. Anders steht es, wenn man die subjektive Seite sowohl der wissenschaftlichen Objektivität als auch jener angeblichen Mächte bedenkt. Dann zeigt sich, daß jene archaisierende Vergegenwärtigung des frühesten Denkens durchaus ein Wahrheitsmoment enthält, nämlich die Bereitschaft, sich in der Krise der objektivistischen Wissenschaft und ihrer Folgen von einem Denken belehren zu lassen, das sachlich und historisch dem unsrigen zugrundeliegt. Indem man aber das unaufhebbare „Vergangensein" jenes frühen Denkens angesichts seiner Bedeutsamkeit für uns nicht wahrhaben will, stilisiert man „Tag" und „Nacht", „Himmel" und „Erde", „Feuer" und „Wasser" und dergl. mehr, die nicht mehr und nicht weniger als die vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen sind, zu quasi-göttlichen Mächten und Gestalten herauf. Ich sage mit Absicht „nicht mehr und nicht weniger": Die „Nacht" und dergleichen sind „nicht mehr" als Gegebenheitsweisen, sofern sie keine Seienden von geheimnisvoller Macht, sondern nur Weisen des Erscheinens (von objektiv Seiendem) sind. Sie sind aber auch „nicht weniger", sofern die Gegebenheitsweisen nicht bloß das subjektive, erkenntnishemmende Moment sind, als das sie die objektivistische Wissenschaft eines Tages ganz eliminieren möchte, sondern vielmehr jenes von der cartesianischen Wissenschaftsbefangenheit vergessene „Zwischen" von Bewußtsein und Sein, auf das alle objektive Erkenntnis zurückbezogen und dialektisch angewiesen bleibt. In gewisser Weise hat Heidegger, in Aufnahme von Anregungen bei Hölderlin und Nietzsche, als erster das Wesentliche der Verfassung der in der Vorsokratik vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen von Welt erkannt. Er hat diese Erkenntnis in seinem vielgeschmähten AnaximanderAufsatz zum ersten Mal veröffentlicht. Durch den auf die Spitze getriebenen Manierismus gerade dieses Aufsatzes verständlicherweise abgeschreckt, hat die philologische Forschung aber meines Wissens bis heute darauf verzichtet, sich seinen einfachen Grundgedanken für die Vorsokratiker-Interpretation zunutze zu machen. Dieser einfache Grundgedanke ergibt sich, wenn man die eigentümliche (und für unseren Zeitbegriff ganz ungewohnte) Rolle beachtet, die die Zeit im überlieferten Satz des Anaximander spielt. Der auffallendste Gedanke in

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jenem ersten erhaltenen Satz der Philosophie ist ja die Behauptung, die Zeit sei der Richter beim Reditsausgleich für eine pleonexia von Gegensätzlichem. Nun ist der Gedanke, daß die Zeit den Hochmut des immer-mehr-HabenWollens (die „pleonexia") vor den Fall bringt und alle Wunden heilt, so nur eine aus der Erfahrung abgelesene Lebensweisheit und noch keine philosophische These. Eine solche liegt erst dann vor, wenn die pleonexia sich auf die Zeit als Dauer selbst bezieht, d. h. wenn der Satz des Anaximander von Gegensätzlichem handelt, das sich wechselseitig die Dauer seiner Anwesenheit streitig macht. Nun kann man zwar in gewissem Sinne sagen, daß sich vieles Seiende, das in räumlicher Nähe koexistiert, gelegentlich wechselseitig seinen Platz streitig macht und damit die Dauer der Anwesenheit an der betreffenden Raumstelle. Doch dabei geht es nicht um die Anwesenheit, die Existenz der betreffenden Wirklichkeiten schlechthin. Es gibt aber solches, was in der Weise im Gegensatz zueinander steht, daß die Dauer der Existenz der einen Gegebenheit die Existenzdauer der entgegengesetzten Gegebenheit einschränkt; d. h. solange die Gegebenheit Α dauert, kann die entgegengesetzte Gegebenheit Β nicht stattfinden und umgekehrt. Was auf solche Weise existiert, hat ein in einem strengen Sinne je-weiliges Sein. Seine Existenz hat, wie im Heraklit-Teil noch genauer zu zeigen sein wird, den Charakter eines Kommens-im-Weggehen und eines Weggehens-im-Kommen. Die Jeweiligkeit solchen Seins ist in diesem Sinne Übergänglichkeit. Nun ist das so verstandene Jeweilige aber als Übergängliches nicht rein verschwindend, sondern es behauptet sich im Verweilen mit einer gewissen Dauer. Damit aber macht es, und das ist durchaus unmetaphorisch gesprochen, dem entgegengesetzten Jeweiligen die Dauer seiner ihm zustehenden jeweiligen Anwesenheit streitig. Die Jeweiligen sind füreinander enantioi in der ursprünglichen Bedeutung dieses griechischen Wortes, d. h. sie sind einander als Feinde „entgegengesetzt" . So befindet sich das solchermaßen Jeweilige in einem Streit um die den Gegensätzen zustehenden Weilen. Ein Streit um Zustehendes ist ein Rechtsstreit. Die Richterin in diesem Streit, d. h. die Instanz, die den Rechtsausgleich schafft, kann aber, da sich die Auseinandersetzung auf die Weilen bezieht, nur die Zeit sein. Mir scheint, daß Heidegger mit der Aufdeckung dieser Zusammenhänge für die gesamte Vorsokratiker-Auslegung einen entscheidenden Hinweis gegeben hat. Allerdings hat er die aufschließende Kraft seines Gedankens dadurch selbst verstellt, daß er dasjenige, was in der besagten Form der Jeweiligkeit anwesend ist, mit folgender Aufzählung umschreibt: „Götter und Menschen, Tempel und Städte, Meer und Land, Adler und Schlange, Baum

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und Strauch, Wind und Licht, Stein und Sand, Tag und Nacht" . Von den hier genannten „Seienden" (abgesehen von „Tag" und „Nacht") ist nicht einzusehen, wieso sie streng in der Weise der Jeweiligkeit auftreten und damit dem Richtspruch der Zeit unterliegen müssen. Ein ontologischer „Streit" von Dingen oder Lebewesen um ihre Weile klingt in der Tat nach einer verblasenen Metapher, und Theophrast behielte mit seiner Kritik an Anaximander recht. Übergängige Jeweiligkeit läßt sich nur bei Gegensätzlichem von reiner wechselseitiger Bestimmtheit denken. Als solches Gegensätzliche kommen aber systematisch und historisch allein die vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen qua reine entgegengesetzte Zustände in Betracht. Erst wenn die „Gegenstände" des anaximandrischen Denkens in diesem Sinne genauer bestimmt sind, kann Heideggers Anregung wirklich zum Tragen kommen. Diese Überlegungen seien mit einer philosophiehistorischen Erwägung abgeschlossen. Gesetzt, daß die Philosophiegeschichte in ihrer Entwicklung bei ihren zentralen Themen eine gewisse Folgerichtigkeit aufweist, so scheint es nicht abwegig, von der Entwicklung, die von Piatons Frühzeit über die Spätphase seines Denkens bis zu Aristoteles führt 14 , zurückzuschließen auf eine „Vorgeschichte der Metaphysik" 15. Dieser Rückschluß bliebe selbstverständlich ohne die Bestätigung durch gewisse Bestände der vorsokratischen Überlieferung selbst eine leere Konstruktion. Im Vorblick aber auf die vorsokratischen Texte selbst dürfen wir an einen bekannten Zug der Entwicklung von Piaton zu Aristoteles anknüpfen: Ein Prinzip des aristotelischen Substanzdenkens ist, wie Tugendhat überzeugend gezeigt hat, mit der Struktur „ti katä tinos" bezeichnet. Für Aristoteles kann Bestimmtheit nur so auftreten, daß sie Bestimmung-von . . . als kategoriale Ausgesagtheit über ein Hypokeimenon bzw. als eidetische Prägung von Hyle ist. Bestimmtheit als Bestimmung-von . . . wird im Logos, der solche Bestimmung-von . . . als Verhältnis aufdeckt, erfaßt. Die philosophische Erkenntnis des so verstandenen „Logischen" bereitet sich in der Dialektik von Piatons späten Dialogen vor. Piaton erkennt dort in wachsendem Maße, daß das Denken von Bestimmt13 Holzwege, S. 326. 14 Ich beziehe mich auf die in den platonischen Dialogen jedenfalls unverkennbare und unbestreitbare Entwicklung. Wieweit Piatons „ungeschriebene Lehre" eine von dieser Entwicklung freie oder jedenfalls kaum berührte Identität aufweist, muß hier unberüdcsichtigt bleiben. Ich gestehe, daß ich mir die Entwicklung in den Dialogen nur als Widerspiegelung einer Entwicklung auch des esoterischen platonischen Denkens zu erklären vermag . is So der Titel eines Aufsatzes von H. G. Gadamer, der mir zum Verständnis der Vorsokratik hilfreicher war als manches dickleibige Buch.

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heit ein Verknüpfen ist; die Lehre von der Definition kündigt sich an; die Prädikationsstruktur des Aussagesatzes wird entdeckt. Piatons Spätphilosophie als Vorbereitung der aristotelischen Entdeckungen, Aristoteles als „die Wahrheit Piatons" — das ist die geläufige Sicht dieser Entwicklung, die hier nicht zu prüfen ist. Wenn sich bei dieser Entwicklung der systematisch bedingte Fortschritt des Denkens und sein historischer Gang in gewissem Umfange decken, dann muß es auch möglich sein, die historisch vor dem Einsatz der platonischaristotelischen Denkbewegung liegende Phase des Denkens systematisch zu rekonstruieren. Nun liegt der Entwicklung des „Logischen" bei Piaton zweifellos biographisch und systematisch die Entdeckung der Ideen als rein apriori gesdiauter Anblicke zugrunde. Als solchermaßen Geschautes sind die Ideen einfache Bestimmtheiten ihrer selbst. Die Beispiele, die Piaton für die so verstandenen Ideen gibt, sind von höchst unterschiedlicher Art, und Piaton hat darauf später selbst aufmerksam gemacht. Wenn Piaton die Ideen in ihrer paradigmatischen Funktion anspricht, bevorzugt er Beispiele wie „der Mensch an sich" und dergleichen, d. h. — aristotelisch gesprochen — hypostasierte eide. Eine andere Art von Beispielen für Ideen gewinnt Piaton, indem er, wie wir heute — im Grunde noch immer aristotelisch — sagen würden, Prädikaten ein An-sich-Sein zuspricht. Nun ist klar, daß die erstgenannte Spielart der Ideenlehre auf eine Fortführung im Rahmen einer (hier gleichgültig ob platonisch als Dihairesis oder aristotelisch gefaßten) Lehre vom Definieren hindrängt; denn die Bestimmtheit von so etwas wie „Menschsein als solches" kann nur in Zuordnungsverhältnissen nach Gattung und Art gedacht werden. Anders steht es mit den hypostasierten Prädikaten. Diese entsprechen eher dem anfänglichen Ansatz bei reinen einfachen Bestimmtheiten ihrer selbst. Es läßt sich an vielen Stellen zeigen, daß Piaton sich zunächst primär an solchen Bestimmtheiten orientiert hat; sind doch auch „die Tapferkeit an sich", „die Besonnenheit an sich", usw., deren Problematik das Denken des Sokratikers Piaton ursprünglich motiviert hat, „hypostasierte" Zustände des Menschen bzw. der Seele und d. h. Prädikate, die wir deren Verfassung zuschreiben. In der Tat ist es eine Welt von reinen Zuständen als Bestimmtheiten ihrer selbst, die Piaton zunächst im Blick hat und deren „heraklitische" Instabilität ihn zwingt, ihr um der wahren, verbindlichen Erkenntnis willen einen kosmos noetos überzuordnen. Als ein charakteristisches Beispiel für diesen Denkansatz sei der erste Beweisgang im „Phaidon" angeführt. Piaton hat diesen Beweisgang offenbar selbst als ungenügend angesehen; sonst hätte er nidit auf ihn weitere, von ihm als stichhaltiger angesehene Beweise folgen

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lassen. Ein Mangel des Beweises liegt in den Augen Piatons offenbar darin, daß er noch nicht auf dem Boden der Ideenlehre geführt wird. Gerade so zeigt uns der Beweis aber, wie für Piaton ein immerhin schon argumentierendes Denken verläuft, das dem Eintritt in die Ideenlehre unmittelbar vorangeht. Der Beweis begründet die These von der Unsterblichkeit der Seele mit der Analogie der Verhältnisse zwischen Wachen und Schlafen einerseits und Leben und Tod andererseits. Weil sich alles Werden erstens als ein Umschlagen zwischen Gegensätzen vollzieht, und zwar immer in beiden Richtungen, und weil zweitens Aufwachen und Einschlafen Formen solchen Werdens sind und das Sterben dem Einschlafen analog ist, so muß es auch ein Analogen zum Aufwachen geben. Die Schwäche dieses Beweises liegt konkret darin, daß sich auf eine solche Analogie kein zuverlässiger Schluß aufbauen läßt. Vielfach wird dem Beweis aber nicht nur diese Schwäche vorgehalten, sondern man verweist audi darauf, daß die hier vorausgesetzte ontologische These, alles entstehe aus seinem Gegenteil, in dieser Form zu undifferenziert sei; ihr fehle noch die aristotelische Unterscheidung, daß es zwar im Felde der Eigenschaften als zeitweiliger Zustände-von-etwas ein Anderswerden gibt, das sich zwischen Gegensätzen bewegt (heiß — kalt, feucht — trocken usw.), daß es aber kein Entgegengesetztes des Wesens, der usia, d. h. in diesem Falle: der Dinge als der Träger der genannten Zustände, gibt. „Das Gegenteil von heiß ist kalt; aber was ist das Gegenteil einer Eiche, oder eines Herings oder eines Tellers?" 16 Diese Kritik betrachtet Pia ton als einen differenzierungsarmen Aristoteles; sie verkennt, daß Piaton nicht bei einer aristotelischen Welt von „Dingen mit Eigenschaften" ansetzt, sondern bei einer Welt des reinen Werdens oder Vergehens von entgegengesetzten Zuständen, die keine Bestimmungen-von . . . (Substanzen, Dingen) sind, sondern sich rein wechselseitig ihre Bestimmtheit verleihen. Und genau dieser Ansatz ist noch vorsokratisch. Mit dieser „herakli tischen" Welt, wie er selbst sie bezeichnenderweise nennt, steht Piaton der Sache nach der Vorsokratik bedeutend näher als Aristoteles, der sich später so intensiv und extensiv um die bewahrende Aneignung der Wahrheitsmomente des vorsokratischen Denkens bemüht. Allerdings kommt auch bei Aristoteles mancherorts noch etwas von jener vorsokratischen Welt reiner entgegengesetzter Zustände zum Vorschein. Das deutlichste Beispiel scheint mir hierfür seine Lehre von den vier Elementen zu sein, von der im übrigen ja bekannt ist, daß sie eine systematisierende Wiederaufnahme vorplatonischer Lehren darstellt. Die vier Elemente sind 16 So Bröcker, Piatos Gespräche, S. 178.

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nach Aristoteles die „einfachen Körper". Sie sind nicht die „prote hyle", d.h. das hypokeimenon als reines sinnliches unbestimmtes Bestimmbares, sondern schon ein erstes Bestimmtes. Die prote hyle ist ein Grenzbegriff, den Aristoteles gewissermaßen „aus Systemzwang" aufstellen muß. Als bloßer Grenzbegriff kann die prote hyle aber nicht so etwas wie „die ersten Bausteine" im entelechialen Aufbau der Welt darstellen. Sie läßt sich nicht als das für eine erste eidetische Prägung Bereit- und Vorliegende namhaft machen, so wie das ζ. B. für das Baumaterial beim Bau eines Hauses gilt. Als solchermaßen konkret prägungsbereit Vorliegendes wäre sie nicht mehr reines Bestimmbares (d.h. Grenzbegriff), sondern sie müßte schon ein Bestimmtes sein. Das erste konkrete bestimmbare Bestimmte sind vielmehr die vier Elemente. Nun müßte deren Bestimmtheit nach dem aristotelischen Prinzip „ti katä tinos" ihrerseits Bestimmung-von . . . sein. Diesem Erfordernis entspricht aber die Darstellung des Aristoteles keineswegs; und dies ist kein Zufall; denn wollte Aristoteles ein Substrat für die Elemente benennen, so würde dabei nicht mehr als der leere Verweis auf die prote hyle als das erste und reine Bestimmbare herauskommen. Wir dürfen uns also, was den „konkreten" (dieser Begriff in dem Sinne genommen, den Aristoteles selbst geprägt hat) Aufbau der Welt angeht, getrost an die vier Elemente halten. Und da zeigt sich nun charakteristischerweise, daß deren Bestimmtheit von Aristoteles nicht als Bestimmung-von..., sondern als reine wechselseitige Bestimmtheit von Zuständen gefaßt wird. Die beiden Paare von entgegengesetzten Zuständen, aus deren Überkreuz-Kombination Aristoteles die Vierzahl der Elemente konstruiert, sind aber genau die Empfindungsqualitäten Kalt — Warm und Feucht — Trocken, mit deren Thematisierung bereits die milesische Wissenschaft begonnen hatte. Auch die aristotelische Elementenlehre und die damit verbundene Lehre vom wechselseitigen Umschlagen entgegengesetzter päthe als enantia ineinander weist also noch ebenso wie die frühplatonische Ontologie der wahrnehmbaren Welt des Werdens und Vergehens zurück in eine Epoche des Denkens, in der diese Welt als solche, nämlich als periodisches Erscheinen reiner gegensätzlicher Zustände, Thema war. Als gleichermaßen systematische wie historische Vorbedingung einer Entwicklung, die im aristotelischen „logos ustas" kulminiert, läßt sich demnach ein Denken rekonstruieren, das eine Welt reiner entgegengesetzter ineinander umschlagender Zustände zum Thema hat, wobei — das sei schon im Vorgriff auf den Heraklit-Teil bemerkt — auch dieses Denken, eben weil es Denken ist, nicht ohne Logos, Verhältnisbestimmung, auskommen kann; doch

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dieser — bei Heraklit hervortretende — Logos wird ein anderer als der des Aristoteles sein. Wenn die systematisch-historische Rüdeverweisung in eine Phase „vorplatonischer Ontotogie" so offenkundig ist, wie sie in der vorgelegten Skizze dargestellt wurde, wird man vielleicht fragen, warum das vorsokratische Denken selbst — jedenfalls nach den Zeugnissen, die wir besitzen — diese seine „Ontologie" nicht deutlicher ausgebildet hat bzw. warum es solch umständlicher Erörterungen wie der Überlegungen dieses Teils bedarf, um diese „Ontologie" ans Licht zu bringen. Der Verdacht scheint sich aufzudrängen, es ließe sich der Gegenstand des frühesten Denkens doch nicht so eindeutig bestimmen, wie es hier versucht wird. Gegen dieses Bedenken ist darauf aufmerksam zu machen, daß die Undeutlichkeit und Uneindeutigkeit der frühesten Philosophie und Wissenschaft und die damit verbundenen Interpretationsschwierigkeiten sich gerade durch die hier vorgetragene These noch erklären lassen. Eine vorplatonische „Ontologie" reiner vortranszendental thematisierter Gegebenheitsweisen kann von der Art ihres Denkens und seines Gegenstandes her noch keine Begriffe im strengen (aristotelischen) Sinne des Wortes ausbilden und sich selbst nicht so durchsichtig werden, wie es dem platonischen und aristotelischen Denken gelingt. Die fundamentale Schwierigkeit, mit der das früheste Denken zu kämpfen hat, besteht nämlich darin, daß es genau das thematisiert, was nicht als An-sich-Seiendes vorliegt. Erst bei Piaton und Aristoteles wird An-sich-Seiendes bzw. An-sich-Sein zum Gegenstand des Denkens, und so können sich Begrifflichkeit, Ontologie und Metaphysik herausbilden. Genau damit aber gehen entscheidende, wenn auch vor-begriffliche und vor-ontologische Erkenntnisse des frühesten Denkens verloren. Auf diese Erkenntnisse vermag das philosophische Denken systematisch und historisch erst nach Erfüllung zweier Bedingungen zurückzukommen: Erstens muß es radikal durch die nominalistische Krise hindurchgegangen sein, d. h. der Bann der Substanzontologie muß durch die transzendentale Wende gebrochen und die seinskonstitutive Funktion des Bewußtseinsvollzugs anerkannt sein, damit die Gegebenheitsweisen als Vollzugsweisen entdeckt bzw. in gewissem Sinne wiederentdeckt werden können. Zweitens muß sich ein Weg eröffnet haben, um die fundamentale Orientierung auch noch des transzendentalen Denkens am Substanzmodell bzw. an der Bestimmungsstruktur „ti katä tinos" kritisch zu relativieren. Diesen Weg erschließt erst ein in einem weitesten Sinne phänomenologisches Denken, zu dem Hegel durch die „Phänomenologie des Geistes", Husserl durch sein Gesamtwerk und Heidegger durch „Sein und Zeit" die entscheidenden An-

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stöße gegeben haben. Erst diese Denker wiesen der Philosophie Wege einer konkret durchgeführten transzendentalen Theorie, die nicht deduziert, sondern sich die Gestalten des natürlichen Bewußtseins oder des außerphilosophischen Lebens von diesem vorgeben läßt, ohne deswegen in positivistische Kritiklosigkeit zu verfallen. Erst durch den phänomenologischen Denkstil (in einer weiten Bedeutung des Wortes Phänomeno-logie) fand die Philosophie Zugang zum eigentlichen Reich des „Erscheinens", d. h. der Lebenswelt oder jenem „Zwischen" der Gegebenheitsweisen, das Husserl — wenn auch noch cartesianisch verstellt — zum zentralen Thema der Philosophie erhob. Mit diesen Bedingungen konkretisiert sich im übrigen der oben gegebene Hinweis, daß es keineswegs die geschichtlich den Vorsokratikern näher oder am nächsten stehenden Philosophen sein müssen, deren Begrifflichkeit und Denkbahnen für die Erschließung des frühesten Denkens am besten geeignet wären. Im Gegenteil: Der große historische Abstand unseres Denkens zu seiner frühesten Vergangenheit ermöglicht uns aufgrund der beiden angeführten Vorbedingungen ein Vorverständnis, aufgrund dessen wir uns im Prinzip (das Gelingen hängt von der Einzelinterpretation ab) einen originäreren Zugang zu dieser Vergangenheit verschaffen können, als ihn beispielsweise Piaton und Aristoteles trotz ihrer unvergleichlich breiteren Kenntnis des Denkens ihrer Vorgänger haben konnten.

4. Kapitel Das Interesse an Heraklit Das Interesse an Heraklit ergibt sich in dieser Untersuchung aus der besonderen Stellung, die ihm hier innerhalb der Entwicklung des vorsokratischen Denkens zugesprochen wird. Er teilt diese Stellung in einer wesentlichen Beziehung zunächst mit Parmenides. Beider Denken ist — jedenfalls soweit wir das feststellen können — der früheste Versuch einer Rückwendung der beginnenden Philosophie und Wissenschaft auf sich selbst. Diese Rückwendung besteht darin, daß sich das Denken erstmals seiner Unterschiedenheit von der Erkenntnisart des vorwissenschaftÜch-vorphilosophischen Lebens bewußt wird. Indem er dies tut, etabliert es sich als Kritik dieser Erkenntnisart und nimmt für sich eine, von Heraklit und Parmenides zu Recht als staunenswert empfundene — d. h. griechisch verstanden: „göttliche" — Überlegenheit in Anspruch; das Göttliche dieser Überlegenheit kommt denn audi bei beiden eigens zur Sprache, bei Parmenides durch das Proemium seines Lehrgedichts (die Auffahrt zur Göttin), bei Heraklit in einer ganzen Gruppe von Sprüchen, die der Analogie gewidmet sind, die zwischen dem Verhältnis von philosophischer und alltäglicher Erkenntnis und dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Denken besteht. In dieser Seite des herakütisch-parmenideischen Denkens kommt zugleich seine Nähe (aber auch erste Ferne) zur Tragödie zum Vorschein. Diesen Zusammenhängen wird jeweils das letzte Kapitel sowohl des Heraklit- wie des ParmenidesTeils gewidmet sein. Durch die Selbstbesinnung des beginnenden Denkens ergibt sich erstmals geschichtlich die Chance, daß etwas vom subjektiven Vollzugscharakter der Gegebenheitsweisen ans Licht tritt. Parmenides nutzt diese Chance nicht, weil seine Absicht — auf eine im III. Teil noch zu erörternde Weise — darauf gerichtet ist, den Verbindlichkeitsanspruch des beginnenden Denkens durch Abweis jeglicher Zweideutigkeit und Unklarheit abzusichern. Parmenides hat dazu, systematisch gesehen, guten Grund; denn, wie der HeraklitTeil zeigen wird, verwickelt sich die erste ausdrücklich durchgeführte Selbstunterscheidung des Denkens vom außerphilosophischen Leben mit einer ge-

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wissen Notwendigkeit in eine fundamentale Doppeldeutigkeit, die in mannigfacher Gestalt in allen Bereichen der Philosophie Heraklits zutage tritt. Es gelingt Parmenides, diese Zweideutigkeit zu vermeiden; er bereitet dadurch die Möglichkeiten des klassischen mit Piaton beginnenden idealistischen Denkens und seines materialistischen Gegenbildes (beginnend bei Piatons Zeitgenossen Demokrit) vor; aber er begründet damit zugleich die Vergessenheit von Erkenntnissen, die Heraklit noch gehabt hat (womit im übrigen über das vieldiskutierte Problem, in welchem Verhältnis die Lebenszeiten des Heraklit und Parmenides zueinander stehen, selbstverständlich nichts entschieden ist. Systematisch betrachtet, ist Heraklit nach der hier vertretenen Auffassung der „frühere" Denker.) Der Reichtum an Erkenntnissen, den das Denken des Heraklit für uns bereithält und den Parmenides der größeren Strenge o p f e r t i s t darin begründet, daß Heraklit — wie im folgenden gezeigt wird — den Grundgedanken der Selbstunterscheidung des Denkens vom Nichtdenken in allen seinen Bezügen vollständig durchspielt. Heraklit begreift das Denken, die „Einsicht", wie es im folgenden genannt wird, streng von seinem Verhältnis zum NichtDenken her und bestimmt konsequenterweise dieses Nicht-Denken, d . h . die Erkenntnisart des vorphilosophischen Lebens, als ein Erkennen, das sich zu sich selbst ins Verhältnis setzen könnte, aber dies nicht tut. Wenn nun das vorphilosophische Erkennen grundsätzlich imstande ist, sich zu sich selbst denkend ins Verhältnis zu setzen, dann muß es selbst bereits ein, wenn auch außerphilosophisch bleibender, Verhältnisvollzug sein. Das ist es nach Heraklit als eine grundsätzlich niemals zu schlichtende Auseinandersetzung zwischen kontradiktorisch widerstreitenden und auf ihre jeweiligen Vertreter relativen „Ansichten", wie sie im folgenden genannt werden. Diese gegegensätzlichen Ansichten wiederum erweisen sich, zu Ende gedacht, als nichts anderes denn als die entgegengesetzten Zustände, d. h. die vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen. Heraklit kann so im Rahmen eines konsequenten Verhältnisdenkens, dessen Verhältnischarakter sich auch in seinem bekannten Leitwort „logos" eigens ausspricht, die Problematik der Milesier wieder aufnehmen und deren frühe Thematisierung der Gegebenheitsweisen in vielfältiger Weise entfalten. Diese Vielfalt rührt daher, daß die Gegebenheitsweisen den doppelten Aspekt aufweisen, einerseits — in ihrer prädikativen Artikulation — als die ι Jedenfalls im aUtheia-Teil des Lehrgedichts; wie weit der Doxa-Teil doch einen dem Denken des Heraklit vergleichbaren Reichtum an Bestimmungen der verwissenschaftlichen Lebenswelt enthielt, können wir nicht zuverlässig beurteilen. Zum DoxaTeil vgl. hier S. 545 ff.

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von der Philosophie kritisierten Ansichten der außerphilosophisch lebenden Menschen und andererseits — in ihrer vorprädikativen Gestalt — als reine entgegengesetzte Zustände von „Welt" wie bei Anaximander auftreten zu können. Von diesem Doppelcharakter her läßt sidi, wie zu zeigen sein wird, die Vielgesichtigkeit der heraklitischen Gegensatzlehre systematisch aufschlüsseln und durchsichtig machen. Über den ersten Aspekt der Gegebenheitsweisen kann Heraklit in seine schon erwähnte Kritik der jonischen historie eintreten, und in diesem Zusammenhang nimmt er auch bereits eine erste Kritik des bald aufkommenden sophistischen Relativismus vorweg, indem er zeigt, daß der Mensch sich nicht — wie Protagoras später meint 2 — auf die jeweiligen Ansichten zu beschränken braucht, sondern imstande ist, die überlegene Einsicht in die eine Gegenwart zu gewinnen, in der die entgegengesetzten Ansichten zusammengehören und eins sind. Der zweite Aspekt ermöglicht ihm, die kosmologische Seite des milesischen Denkens wiederaufzugreifen und in der Lehre vom Feuer und den drei „Elementen" (dies ein späterer Begriff) zu einer — von den späteren antiken Elemententheorien nicht mehr erreichten — Vollendung zu bringen. Dabei wird zugleich erstmals Welt als solche unter dem Titel kosmos genannt. Der Gesetzmäßigkeit, dem „Maß", das das Auftreten der entgegengesetzen Zustände als Periodizität regelt, hat Heraklit dabei von seinem Verhältnisdenken her offenbar besonderes Interesse entgegengebracht und in diesem Zusammenhang über die Rolle der Zeit 3 nachgedacht, wovon insbesondere der Komplex der Fragmente Zeugnis gibt, die um das berühmte Fluß-Gleichnis kreisen. Vor allem in der Interpretation der Sprüche „kosmologischen" Inhalts kann sich die Heraklit-Interpretation als historisch-genetische Phänomenologie konkretisieren; denn hier trifft die ineins geschichtliche und sachlich-systematische Rüdefrage nach der ursprünglichen vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen Lebenswelt auf Aussagen, in denen sich vortranszendental die leibliche Verfassung des In-der-Welt-seins und die Erschlossenheit dieser Verfassung in Gestimmtheit und Befindlichkeit ausspricht. Diese Andeutungen im Vorgriff auf die Ausführungen im Heraklit-Teil mögen genügen, um zu zeigen, daß Heraklit in der Vorsokratik und damit in der Situation der Entstehung von Philosophie und Wissenschaft über2 Zur Position des Protagoras und der mit ihr verwandten späteren antiken Skepsis vgl. meinen Aufsatz „Husserls Rückgang auf das pbain6menon und die geschichtliche Stellung der Phänomenologie", in dem ich skizziere, wie sich das Verhältnisdenken nadi Heraklit bis heute fortentwickelt hat. J Das bedeutet nicht, daß er „die Zeit" begrifflich thematisiert hätte. Eine explizite Zeitproblematik bereitet sich nach allem, was wir wissen, erst in Piatons „Timaios" vor und gibt es ausgearbeitet erst im 4. Budi der aristotelisdien „Physik".

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haupt, wie man immer wieder vermutet hat, eine Sonderstellung einnimmt. Man hat schon mehrfach die Beobachtung gemacht, daß bei Heraklit in einem für uns unerwarteten und — wie es sdhien — für einen Denker jener Frühzeit kaum glaublichen Maße vom Menschen die Rede ist 4 . Diese Beobachtung ist richtig. Sie wird hier so interpretiert, daß Heraklit sich für den Menschen als den Vollzieher der eben genannten Verhältnisse interessieren muß. Damit aber kommt bei ihm tatsächlich schon etwas von der „Subjektivität" des Vollzugs zum Vorschein, ohne daß das Denken in dieser Frühzeit bereits in der Lage gewesen wäre, diese Subjektivität als solche transzendental reflektierend zu thematisieren. Aus dieser Ausnahmestellung des Heraklit in der Entwicklung der Philosophie resultiert nach der in der folgenden Untersuchung vertretenen These im Grunde seine ganze, seit der Antike beklagte und bewunderte Dunkelheit oder Tiefe. Diese Dunkelheit deutet nicht, wie bis heute immer wieder unterstellt wird, auf prinzipiell unauslotbare Abgründe hin; die Fragmente Heraklits sind keine Orakelsprüche, sondern — sozusagen philosophiegeschichtlich voreilige — Versuche, etwas auszusprechen, was sich damals noch nicht sagen ließ; sie lassen sich auf dem heutigen Stand unseres Denkens erklären und, wie ich zu zeigen hoffe, in allen wesentlichen Details wirklich verständlich machen5. Die philosophiegeschichtliche Sonderstellung Heraklits hat schon Piaton gespürt, und sie hat immer wieder, besonders in den letzten hundert Jahren, ein gesteigertes Interesse der Dichter, Philosophen und Philologen an seinem Denken geweckt. Bei den Philologen hat dieses Interesse seit dem ersten bedeutenden Versuch einer Sichtung des Überlieferungsbestandes durch Schleiermacher zu einer anhaltenden und intensiven Bemühung um die Sicherung und Wiederherstellung der erhaltenen Brudhstücke des Originaltextes und um die Gewinnung von Hilfen für ihr Verständnis geführt 6 . Nur weil die klassische Philologie mit diesen Bemühungen, vor allem in der Entwicklung der Vorsokratikerinterpretation seit Karl Reinhardts bahnbrechen4

Diese Beobachtung ist das Fundament solcher Interpretationen wie der von Brecht oder Binswangen 5 Wer den „schnöden Rationalismus" bedauert, mit dem hier versucht wird, den tiefen Heraklit Schritt für Schritt in Klartext zu übersetzen, dem sei gesagt, daß wir einen großen Denker doch wohl mehr ehren, indem wir seine Gedanken diskursiv und sachhaltig mitvollziehen, als indem wir vor seinem Tiefsinn Verbeugungen machen, die uns nichts kosten. Die Tiefe eines Denkens wird sich darin zeigen, daß wir beim Mitvollzug die konkrete Erfahrung machen werden, daß wir in der Erfassung der Fülle und der inneren Zusammenhänge der Gedanken hinter der synopsis des großen Denkers selbst zurückbleiben. 6 Vgl. den ausführlichen Bericht über die Geschichte der Heraklit-Forschung bei E. Kurtz, S. 1 ff.

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dem Parmenides-Buch so erstaunliche Erfolge erzielt hat, konnte überhaupt der im folgenden Teil ausgearbeitete Interpretationsansatz gewonnen werden. Dieser Ansatz ist weitgehend als der Versuch zu verstehen, die Konsequenzen aus Auslegungstendenzen zu ziehen, die insbesondere schon in den Arbeiten von K. Reinhardt, B. Snell, H. Frankel, G. S. Kirk und E. Kurtz leitend waren, ohne daß ihre philosophische Tragweite und von daher ihre verborgene Konvergenz untereinander bisher durchschaut wurden. Die grundlegende Bedeutung des heraklitischen Gedankens der Einheit des Strittigen, die Hölderlin zum ersten Mal sah und die Nietzsche in seiner Nachfolge wiedererkannte, kam philologisch erstmals bei Burnet und dann vor allem bei Reinhardt zum Tragen. Die im folgenden versuchte konkrete Interpretation der heraklitischen „Gegensatzlehre" in einer Zurückführung auf die Gegenwendigkeit der reinen zuständlichen Bestimmtheiten in der einen Gegenwart empfing aus dieser Tradition ihre ersten Anstöße. Als zweite große Entdeckung in der Geschichte der Heraklit-Interpretation, deren Gedanke ebenfalls für die folgende Auslegung konstitutiv wurde, ist die Freilegung des Proportionsgedankens durch Frankel und Reinhardt anzusehen; im Vergleich des Verhältnisses der Einsicht zum Nicht-Denken der Vielen mit dem Verhältnis des Gottes zu den Menschen und des erwachsenen Menschen zum Affen und zum Kind tritt der Gedanke des Überlegenheitsverhältnisses deutlich hervor, der zum Leitfaden dieser ganzen Untersuchung wurde. Die dritte entscheidende Anregung ging von den feinsinnigen Beobachtungen Snells aus, der die elementare Erfahrungsgesättigtheit der heraklitischen Sprache ans Licht brachte und so den hier konzipierten Begriff der lebensweltlichen Ansicht als vortranszendentaler Thematisierung der Gegebenheitsweisen und den darauf fußenden Aufweis der lebensweltlichen Motivation der heraklitischen Elementenlehre möglich machte. Auf dieser Linie liegen audi die außerordentlich fruchtbaren Untersuchungen von Kirk, der erkannte und in einer Fülle von Einzelinterpretationen zeigte, daß und wie „the world, as men experience it" das Thema des Heraklit bildet. Durch seine konkreten Analysen wurde allem verblasenen Gerede von einer geheimnisvollen „coincidentia oppositorum" bei Heraklit endgültig der Boden entzogen. Zugleich präzisierte Kirk die Gegensatzlehre durch die Ausarbeitung des Maßgedankens, die hier vor allem im 3. und 4. Kapitel des HeraklitTeils wiederaufgenommen wird. Kurtz erkannte, angeregt durch W. Schadewald, erstmals, daß ein innerer Zusammenhang zwischen Gegensatzlehre und Maßgedanken einerseits und dem schon früher entwickelten Proportionsoder Analogiegedanken andererseits bestehen und daß vor allem das Leitwort logos von diesem Zusammenhang her verstanden werden müßte. Aller-

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dings gelang es Kurtz nicht, in concreto philosophisch zu zeigen, wie die Gegensatzlehre dem Proportionsbegriff unterzuordnen ist. Dieser Aufweis wird im folgenden versucht, indem der Logos als Darlegung des Überlegenheitsverhältnisses der „Einsicht" zur Gesamtsphäre der „Ansicht" interpretiert wird, welche Sphäre ihrerseits auf einem Verhältnis beruht, nämlich dem Gegensatz zwischen den prädikativ artikulierten Ansichten, der seinerseits auf die Gegenwendigkeit der vorprädikativ verfaßten Ansichten qua reiner gegensätzlicher zuständlicher Bestimmtheiten zurückzuführen ist. Mit der zuletzt gemachten Unterscheidung werden die sorgfältigen Differenzierungen in der heraklitischen „Gegensatzlehre", die Kirk vorgenommen hatte, wiederaufgenommen und philosophisch systematisiert7. Die folgenden Untersuchungen sind so primär als ein Versuch zu verstehen, auf dem durch die genannten Philologen und vor allem zuletzt durch Kirk beschrittenen konkreten Interpretationswege philosophisch weiter zu denken und auf die beliebten „tiefsinnigen" Spekulationen zu verzichten, bei denen man Heraklits Sprüche nur als Reizworte für eigene Einfälle zu benutzen pflegt. Zugleich aber knüpft dieses Wexterdenken als ein philosophischer Versuch an die Tradition philosophischer Heraklit-Interpretation an, wie sie seit Schleiermacher in erster Linie durch Hegel, Nietzsche und Heidegger geprägt wurde. Seit Piaton hatte man in Heraklit den Philosophen des Werdens gesehen. In diese Tradition gehören auf den ersten Blick audi noch Hegel und Nietzsche: Hegel, weil er die Negativität des Begriffs konsequent als (dialektische) Bewegung begreift und Heraklit als denjenigen Denker ansieht, der diese Bewegung des Begriffs, wenn auch im Gewände einer naturphilosophischen Verdinglichung, erstmals als solche durchschaut habe. Daher der berühmte Satz: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen" 8; Nietzsche, weil er im Zuge der Umwertung und Umstülpung der unter platonischem Vorzeichen stehenden Metaphysik das Werden über das starre, einer fundamentalen Illusion entspringende Sein stellt und Heraklit als die Vorweg-Widerlegung Piatons ansieht. Erst durch Heidegger ist die Philosophie erstmals in die Lage versetzt worden, bei der Heraklit-Interpretation über den Dualismus von Werden und Sein hinauszugelangen. 7 Nicht unerwähnt lassen möchte ich schließlich die neue sorgfältige und umfassende Sichtung des Überlieferungsbestandes, die Marcovidi 1967 auf der Grundlage von anderthalb Jahrhunderten Heraklit-Forsdiung vorgelegt hat. 8 Hegel, Werke, Bd. 17, S. 344.

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Heidegger interpretiert Heraklit vom Logos her 9 , und dieser Ansatz ist auch für die vorliegende Untersuchung gewählt worden. Der Logos wird hier aber als das Leitwort eines konsequenten Verhältnisdenkens verstanden, während er bei Heidegger als eine Auslegung der physis erscheint, die ihrerseits als der Titel des frühgriechischen Denkens für das Sein angesehen wird. Im ursprünglichen Gebrauch des Wortes physis ist nach Heidegger noch etwas von dem Verhältnis zu hören, das in dem Wort a-letheia, Un-verborgenheit, von den Griechen zwar genannt, aber nicht eigens bedacht wurde. Dieses Verhältnis ist die Gegenwendigkeit von Offenbarkeit, Entbergung und Verbergung, Entzug des Seins, die Heidegger seit dem Ende der dreißiger Jahre als „Ereignis" zu fassen versucht hat. In der Metaphysikgeschichte und der ihr entsprechenden Geschichte der zunehmenden Verwissenschaftlichung aller unserer Lebensbezüge bekundet sich die sich steigernde Offenbarkeit des Seins als Seiendheit des Seienden. In dieser Offenbarkeit aber hält das Sein mit sich selbst in seiner Differenz zum Seienden, d. h. in seinem Sichverbergen, an sich. Sein als Entzug entzieht sich selbst zugunsten seiner Offenbarkeit, die sich geschichtlich bis zur schrankenlosen Vergegenständlichung von Allem und Jedem durch die modernen Wissenschaften steigert. Im Äußersten der so verstandenen Seinsvergessenheit, im abgründigsten Seinsvorenthalt, d. h. der Vollendung des Nihilismus, — im Innern dieser „Gefahr" , wie Heidegger mit Hölderlin sagt, wächst aber auch „das Rettende", d. h. bereitet sich die Möglichkeit eines neuartigen Einblicks in das, was ist, nämlich in das Geheimnis des Ereignisses vor. Das gegenwärtige Zeitalter hat den Charakter der Ambiguität; es waltet der extremste Seinsentzug als Vorform des Ereignisses, das wir so als die gegenwendige „Einheit" von Entbergung und Entzug „anzudenken" lernen. Im Zuge dieser andenkenden Besinnung auf einen „anderen Anfang" verwinden, d. h. bewahren und überschreiten wir zugleich die metaphysische Tradition und werden nun fähig, aus den ältesten Leitworten des Denkens die darin mitgesagte, aber seitdem ungedacht gebliebene Seinsverborgenheit herauszuhören, — so vor allem auch aus dem Spruch des Heraklit, daß die physis geneigt ist sich zu verbergen 10 . An dieser Stelle steht der wohlfeile Einwurf zu erwarten, Heidegger lege also dem Heraklit nur seine eigenen, modernen Gedanken in den Mund, und mit einer derartigen historischen Naivität brauche sich ein Interpret, der 9 wie er zuletzt noch einmal gegen E. Finks Interpretationsansatz betont hat (vgl. „Vier Seminare", S. 10fi.) und auch im gemeinsam mit Fink gehaltenen Seminar zum Ausdruck brachte (vgl. Heidegger/Fink, Heraklit, S. 117 f.). 10 Heraklit Β 123.

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an dem interessiert sei, was Heraklit historisch wirklich gedacht habe, nicht abzugeben. Der Einwurf beruht auf der Vorstellung, Heidegger habe zunächst einmal seine eigene „Sache des Denkens" zum Thema gehabt und habe dann außerdem noch eine Bestätigung für seine Behauptungen gesucht, indem er Heraklit als seinen Vorläufer in Anspruch genommen habe. Doch mit dieser Vorstellung verkennt man, daß Heideggers Denken gerade durch seine „Sache", Sein als Ereignis, von vornherein auf das geschichtliche Ganze der Geschichte des Denkens und insbesondere auf den Beginn dieser Geschichte bezogen ist. Von historischer Naivität kann also bei ihm schon deshalb keine Rede sein, weil das Andenken des Ereignisses in sich wesentlich eine Besinnung auf die Geschichte des Denkens ist. Heidegger erkennt, daß der Beginn der Denkgeschichte mehr war als ein später überholter Ausgangspunkt, nämlich Anfang als arche, d. h. als stiftender und damit bleibender Anfangsgrund. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die nicht von der Hand zu weisende Vermutung, daß am so verstandenen Anfang etwas von dem zur Sprache gekommen sein könnte, wodurch das philosophisch-wissenschaftliche Denken in seiner Grundfassung und von daher auch in seinem geschichtlichen Schicksal im ganzen bestimmt ist. Diese Vermutung liegt auch dem Interpretationsansatz der hier vorgelegten Untersuchungen zugrunde, und es ist schwer zu sehen, wie eine philosophische Interessenahme an Heraklit, und zwar — wie gegen jenen Einwurf zu betonen ist: an dem Heraklit, der historisch am Anfang unserer Denkgeschichte steht — einen anderen Horizont haben könnte. Aber, so ließe sich immer noch einwenden, gesetzt, die Vermutung sei wohlbegründet, — verführt sie Heidegger nicht doch zu einer historisch naiven Rückprojektion der eigenen Gedanken? Hierzu ist zu sagen, daß Heraklit bei ihm keineswegs als ein Proto-Heidegger figuriert. Zwar spricht aus Heraklits Worten nach Heidegger das Ereignis und damit das immer im Kommen bleibende Anfängliche des Denkens. Aber das Ereignis wird von Heraklit selbst gerade nicht als Ereignis bedacht. Das kann erst in der Wieder-holung des Anfangs im Andenken des „anderen Anfangs" geschehen, und dieser setzt die „Verwindung der Metaphysik", d.h. aber ihre ganze Geschichte voraus. Einen Mangel an reflektiertem historischem Bewußtsein kann man Heidegger also wirklich nicht vorrechnen. Indem Heidegger der besagten Vermutung folgt und Heraklits Sprüche als Vor-sprüche des Ereignisses in Anspruch nimmt, weist er ihnen damit eine Sonderstellung in der Geschichte der Philosophie zu; denn wenn Sein als Ereignis dasjenige ist, durch dessen Offenbarkeit als Sein des Seienden und durch dessen damit verschränktes als-Geheimnis-Ansichhalten — die epoche

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des Seins — sich in diesem Sinne epochal das geschichtliche Schicksal des Denkens bestimmt, und wenn bei Heraklit erstmals etwas von diesem Ansichhalten zur Sprache kommt, dann enthält sein Denken so etwas wie die Vorzeichnung des Ganges der Philosophie überhaupt. Im Spruch über die pbysis, die zum Sichverbergen neigt, ist — so könnte man freier formulieren — das geheime Gesetz für die Entwicklung des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens vorab zu dieser Entwicklung aufgezeichnet. So kommt Heraklit in eine einzigartige Position: Sein Denken hat eine „Sache" zum Thema, deren Verfassung zugleich das gesamte geschichtliche Schicksal des Denkens überhaupt prägt. Diese eigentümliche Struktur der philosophischen Beurteilung Heraklits und der Interessenahme an ihm kennzeichnet nun aber nicht nur den Zugang Heideggers zu diesem Denker, sondern auch schon das Verhältnis Hegels und Nietzsches zu Heraklit. Beide thematisieren auf ihre Weise — Hegel als erster Denker der Philosophiegeschichte überhaupt — das Ganze der Philosophiegeschichte philosophisch als Ganzes, und beide sehen in ihrem Anfang eine ausgezeichnete Phase, weil sie von der gleichen Vermutung wie Heidegger über die grundlegende Bedeutung dieses Anfangs geleitet sind. Heraklit ist nach dem bekannten vorhin zitierten Hegeischen Ausspruch und nach dem Verständnis, das dahinter steht, derjenige Philosoph, der das Gesetz der dialektischen Bewegung des Begriffs, wie sie in ihrer Reinheit in der „Wissenschaft der Logik" entwickelt wird, schon zu Anfang der Denkgeschichte formuliert hat. Diese Bewegung liegt aber, da nach Hegel die Philosophiegeschichte die in der „Logik" rein dargestellten Entwicklungen gewissermaßen in die Zeit geklappt enthält, auch dem geschichtlichen Verlauf des Denkens zugrunde. Also nimmt Heraklit auch für Hegel die Sonderstellung ein, am Anfang der Philosophiegeschichte das Gesetz ihrer weiteren Entwicklung antizipiert zu haben. Eine ähnlich herausragende Bedeutung hat Heraklit aber auch für Nietzsche, sowohl für den frühen Verfasser der „Geburt der Tragödie" und der „Philosophie im tragischen Zeitalter" als audi — wie aus manchen Andeutungen zu entnehmen ist — für den späteren Denker der ewigen Wiederkehr. Heraklit, in dem Nietzsche im Grunde den einzigen sah, dem er sich verwandt fühlte, nahm mit seinem dionysischen Ja zum Negativen Nietzsches „amor fati" vorweg und gab damit zugleich der Geschichte der Verweigerung dieses Ja, dem christlichen Piatonismus der Metaphysik, ihren Spielraum vor. In Anbetracht der Animosität, die auch heute noch bei Philosophiehistorikern unterschiedlichster Provenienz nicht nur gegen Heidegger, sondern

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ebenso gegen Hegel und Nietzsche als Interpreten der Vorsokratik zu beobachten ist, sei hervorgehoben, daß auch diese beiden Philosophen der Vorwurf nicht trifft, sie hätten historisch naiv ihre eigenen Gedanken in Heraklit rückprojiziert. Hegels Berufung auf Heraklit hat keineswegs den Sinn einer unvermittelten Identifikation mit ihm. Heraklit erscheint nicht als ein vorweggenommener Hegel, sondern nur als derjenige, der in einer noch ganz abstrakten, verdinglichenden Objektivation die reine dialektische Gesetzlichkeit unmittelbar als solche formuliert hat, deren vermittelter und damit konkreter Sinn erst als Resultat im End- und Vollendungsstadium der Denkgeschichte hervortreten kann. In ähnlicher Weise ist beim frühen Nietzsche die Besinnung auf das tragische Zeitalter und auf Heraklit als sein philosophisches Sprachrohr erst dann möglich, wenn der tragödienvergessene Sokratismus der Wissenschaft — und dies geschieht in unserer Zeit — auf die Spitze getrieben wird; erst in diesem Extremzustand kann sich eine rücksichtslose wissenschaftliche Selbstkritik als höchste Form von Wissenschaft entwickeln, in der diese ihre eigene Herkunft zu durchschauen und das heraklitischtragische Bewußtsein als Wurzelgrund ihrer selbst aufzudecken vermag; die Wiederkehr der Tragödie wird erst nach Durchlaufen der Tragödie der Wissenschaft möglich. Obwohl das Interesse an Heraklit bei seinen maßgebenden neueren philosophischen Interpreten, Hegel, Nietzsche und Heidegger, also offenkundig in seiner Struktur verwandt ist, so ist doch zwischen Hegels Interessenahme einerseits und der Nietzsches und Heideggers andererseits ein bedeutsamer Unterschied zu vermerken. Bei Hegel erscheint Heraklit als der früheste Vorläufer der gegenwärtig erreichten, abschließenden höchsten Vollendung des Denkens, bei den beiden anderen hingegen als der früheste Vorbote seiner tiefsten Krise; die Vollendung beruht auf dem vollständigen Erscheinen des von Heraklit ahnungsweise Angedeuteten, die Krise auf seiner vollständigen Vergessenheit im gegenwärtigen Zeitalter. Mit diesem Gegensatz kehren wir zu der Gegenwart des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens zurück, um die es in diesen Untersuchungen letztlich geht und von der im 1. und 2. Kapitel ausgegangen wurde. Nietzsche und Heidegger sind von vornherein auf der Suche nach dem Anderen gegenüber der gesamten philosophischen Tradition, die ihnen im gegenwärtigen Zeitalter als ganze fragwürdig geworden ist. Im Zuge dieser Suche gehen sie auf ein — allerdings je verschieden gefaßtes — Prius der überlieferten Philosophie zurück, um von daher einen Horizont zu gewinnen, in dem sie in ihrer Gesamtheit problematisiert werden kann. Dieses Prius, das tragische Bewußtsein bei Nietzsche, der „Grund

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der Metaphysik" bei Heidegger, ist gleichermaßen sachlich-systematischer wie geschichtlicher11 Natur; dieser Unterschied selbst entfällt hier. Hegel sieht in seiner Gesamtdarstellung der Philosophiegeschichte keinen Grund, in einem dem Vorgehen Nietzsches oder Heideggers vergleichbaren Sinne nach einem vorgegebenen Horizont als Prius für das philosophischwissenschaftliche Denken als solches und als ganzes zu suchen. Gleichwohl thematisiert auch und gerade Hegel die diesem Denken vorgeordnete Dimension und erkennt sie ausdrücklich (in der Einleitung zur „Phänomenologie des Geistes") als dasjenige an, wovon das Denken auszugehen hat und worauf es bezogen bleiben muß, soll es nicht zu einem unverbindlichen Gedankenspiel werden. Diese Ausgangsdimension kann aber nicht in der „Logik" und der darauf aufbauenden Darstellung der Philosophiegeschichte thematisch werden, sondern nur in der der „Logik" systematisch vorangehenden Darstellung der Entwicklung des erscheinenden Wissens, also in der „Phänomenologie des Geistes". Die Erhebung des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens aus der Natürlichkeit kommt hier unter dem Titel der „sinnlichen Gewißheit" zur Darstellung, — allerdings, wie man einschränkend hinzufügen muß, nicht wie bei Nietzsche und Heidegger als eine geschichtliche Stiftung, sondern als erster Schritt in einer Gestaltenfolge des Bewußtseins, die in diesem Teil der „Phänomenologie des Geistes" noch kaum auf historisch lokalisierbare Entwicklungen beziehbar ist. Wollte man die gegensätzliche Einschätzung der Bedeutung Heraklits — als Vorbote der Vollendung oder als Vorbote der Krise — im Rahmen der ähnlich strukturierten Interessenahmen Hegels, Nietzsches und Heideggers sachlich-systematisch miteinander konfrontieren, so müßte man dem inneren Zusammenhang zwischen Hegels Interessenahme an Heraklit und seiner Kritik des natürlichen Bewußtseins in der Dialektik der sinnlichen Gewißheit nachgehen. Dies zu tun, würde eine Hegel-Interpretation in einem außerordentlich schwer zu durchschauenden Bezirk seines Denkens erfordern und den Rahmen dieser Vorüberlegungen sprengen. Gleichwohl darf und braucht das mit den angedeuteten Zusammenhängen angesprochene Sachproblem hier nicht übergangen werden. Hegel hat die Besinnung des philosophischen Denkens Ii Wobei hier übergangen sei, daß Heidegger zunächst dazu neigte, in der frühgriechischen Philosophie ein im strengen Sinne vor- und außermetaphysisches Denken zu sehen, während er später erkannte, daß die Metaphysik in einem ungebrochenen Entwicklungsgang von den Vorsokratikern bis Piaton und Aristoteles heraufkommt. Sofern sich im frühgriediischen Denken, insbesondere bei Heraklit, Spuren des Ereignisses finden, bleibt das Denken audi beim späteren Heidegger darauf verwiesen, sich im Zuge seines sachlich-systematisch geforderten Rüdegangs in den Grund der Metaphysik an das geschichtlich anfängliche Denken zu erinnern.

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auf sein — wie auch immer zu bestimmendes — Prius im „natürlichen Bewußtsein" nicht expressis verbis zur Interessenahme dieses Denkens an Heraklit in Beziehung gesetzt. Ausdrücklich angedeutet — wenn auch nicht ausgeführt — hat sie aber Husserl, an dessen Lebensweltproblematik im Rahmen des Entwurfs einer historisch-genetischen Phänomenologie im 2. Kapitel angeknüpft wurde. Husserl war in der griechischen Philosophie zu wenig bewandert und auch in zu geringem Maße historisch daran interessiert, um eigens die Sonderstellung Heraklits, die bei Hegel, Nietzsche und Heidegger so deutlich hervortritt, explizit darzulegen. Doch selbst er muß eine Ahnung davon gehabt haben, da er die vorobjektive-vorwissenschaftliche Sphäre lebensweltlicher Gegebenheitsweisen und deren Zeitlichkeit in der „Krisis"Abhandlung mehrfach an exponierter Stelle12 mit dem Titel des „Heraklitischen Flusses" bezeichnet hat. Mit dieser höchst mißverständlichen Redeweise verlängert er, oberflächlich gesehen, nur die Reihe derer, die von Piaton bis Hegel und Nietzsche in Heraklit den Philosophen des Werdens gesehen haben. Die Grundstruktur der Lebenswelt als „Heraklitischer Fluß" — das klingt so, als wolle Husserl nur noch einmal einen der aus der Geschichte der Metaphysik bekannten Versuche, die metaphysische Rangordnung des Seins materialistisch, sensualistisch, relativistisch oder anthropologisch umzukehren, unternehmen und das Werden — unter dem Titel der Lebenswelt — über das Sein — unter dem Titel der objektiven Welt der Wissenschaft — stellen. Da viele Interpreten bis heute in mannigfachen Varianten und vielfach in beklagenswerter Unklarheit über den Horizont ihres eigenen Vorgehens dem Husserlschen Lebensweltdenken eine solche metaphysische Umkehrungstendenz unterstellen, gilt es eines festzuhalten: Ein solches Verständnis verfehlt die Tendenz der Husserlschen Lebensweltproblematik im entscheidenden Punkte. Es gibt nichts daran zu deuteln, daß Husserl niemals sein Programm der Philosophie als strenger Wissenschaft zurückgenommen hat und also auch keinesfalls gemeint haben kann, ein allem Begreifen entzogener Fluß sinnlich-lebensweltlichen Lebens relativiere jegliches Streben nach verbindlicher philosophischwissenschaftlicher Erkenntnis. Hätte Husserl in der „Krisis"-Abhandlung so gedacht, so wäre seine Spätphilosophie in der Tat nur die blasse und unbeholfene Reprise einer die metaphysische Ordnung umstülpenden Zurücknahme des Denkens in einen Perspektivismus des Lebens, wie sie Nietzsche längst viel radikaler vollzogen hatte. Husserl geht es — ganz im Gegenteil — um die Begründung einer „Wis12 Vor allem vom Kontext her bemerkenswert die Stelle S. 159.

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senschajt von der Lebenswelt". A m Ziel, eine Wissenschaft, in gewissem Sinne sogar eine Philosophie und Einzelwissenschaften umgreifende Universalwissenschaft aufzubauen, hält er fest (wenn auch nicht unbeirrt 1 3 ); ja er versucht überdies, diese Zielsetzung seines Denkens im Rückgang auf eine urtümliche Teleologie eben jenes „Heraklitischen Flusses" der natürlichen, lebensweltlichen Erfahrung und eine darauf beruhende Teleologie der Philosophie· und Wissenschaftsgeschichte zu legitimieren 114 . Husserl teilt zwar mit Nietzsche und Heidegger das Bewußtsein einer tiefen Krise, und er inauguriert wie sie eine Besinnung auf die Dimension eines dem philosophischwissenschaftlichen Denken in seiner Gesamtheit vorgeordneten Prius, welche lebensweltliche Dimension nicht nur eine Ausgangsstufe darstellt, die dieses Denken inzwischen hinter sich gelassen hätte, sondern die wie bei Nietzsche und Heidegger den bleibenden Anfangsgrund und Horizont für dieses Denken bildet. Aber Husserl teilt zugleich, und das ist ebenso wesentlich, mit dem Hegel, der auf seine Weise die dem Denken vorgegebene Natürlichkeit thematisiert, die Überzeugung, daß das philosophische Denken grundsätzlich darin besteht, sich von jenem Prius zu distanzieren; nur ein Denken, das selbst mit der Denkart der Lebenswelt nicht identisch ist, kann eine „Wissenschaft von der Lebenswelt" ausbilden. Es wäre ganz verfehlt zu glauben, Husserl schöpfe seine Hoffnung für die Zukunft des Denkens daraus, daß das Denken von nun an zum Sprachrohr für die Denkart des lebensweltlichen Lebens selbst werden könnte. Gewiß, das Denken muß nach Husserl zu einem Denken der Lebenswelt werden: aber dieser Genitiv ist kein genitivus subjectivus, sondern objectivus; die künftige Philosophie soll nicht für, sondern über die Lebenswelt sprechen 15 . Greifen wir noch einmal den Strukturvergleich mit Heideggers und Nietzsches Interessenahme an dem von ihnen angesetzten — selbstverständlich inhaltlich zunächst jeweils ganz anders gedachten — Prius des Denkens auf, so sehen wir: diese Denker erblicken in der Tat die Zukunft des Denkens darin, daß es das „Prius", d. h. der Grund der Metaphysik, nämlich das Er13 Vgl. den viel mißdeuteten Satz Krisis S. 508: „Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft — der Traum ist ausgeträumt." 1 4 Wobei einschränkend hinzu2ufügen ist, daß Husserl die Fundierung dieser geschichtlichen Teleologie in jener urtümlichen des „Heraklitischen Flusses" der „lebendigen Gegenwart" nur noch angedeutet, aber nicht mehr ausgeführt hat; vgl. dazu die Belege bei Hoyos, Intentionalität als Verantwortung. 15 Dies wird zu Recht auch bei Janssen, Geschichte und Lebenswelt, S. 186 klargestellt. Uberhaupt sind zu den pauschalen Bemerkungen über Husserl, auf die wir uns hier beschränken müssen, die sorgfältigen Sondierungen bei Janssen, insbesondere S. 53 ff., zu vergleichen.

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eignis, bzw. das tragische Bewußtsein, selbst sei, das im nachmetaphysischen Denken zu Wort kommen werde. Das Denken muß lernen, in sein Prius als seine Zukunft einzukehren. Husserl hingegen nimmt wie Hegel zu diesem Prius das Verhältnis der Distanz und damit im Prinzip — wie schon Hegel bei der Darstellung der sinnlichen Gewißheit — das der Kritik ein. In der Sprache des hier unternommenen Versuchs: Husserl erhält den Überlegenheitsanspruch des Denkens gegenüber derjenigen Dimension aufrecht, von der her eben diesem Denken sein Horizont vorgegeben wird. Mit diesem Überlegenheitsanspruch gegenüber einer zugleich als Horizont verstandenen vorgegebenen Dimension stellt Husserls Ansatz freilich eine äußerst prekäre und Mißdeutungen besonders stark ausgesetzte Position dar. Auf der einen Seite geht Husserl mit der Anerkennung des lebensweltlichen Prius als eines Anderen zum Denken, von dem her sich dieses seinen Horizont vorgeben lassen muß, über Hegel hinaus und billigt diesem Prius eine solche Bedeutimg zu, wie sie Nietzsche und Heidegger dem ihren zusprechen; denn obwohl Hegel anerkennt, daß die philosophische Vermittlung nur im notwendigen Durchgang durch die Unmittelbarkeit gewonnen werden kann und daß demgemäß die philosophische Kritik ihre Maßstäbe dem vorgegebenen natürlichen Bewußtsein selbst entnehmen muß, so begreift er doch die Unmittelbarkeit der sinnlichen Gewißheit keineswegs als etwas schlechthin Anderes oder Fremdes gegenüber dem Denken. Ist doch die sinnliche Gewißheit aufs Ganze des Systems gesehen nur das unmittelbare Auftreten des absoluten Wissens. Das Andere des Denkens bildet im absoluten Kreislauf der Vermittlung, der Negativität kein begrifflich uneinholbares Außerhalb für das denkende Bestimmen, sondern hat gerade in dieser Negativität, das Andere des Denkens zu sein, seine wesentliche und hinreichende Bestimmung; es kann sich also dem Bannkreis des Denkens nicht entziehen. Anders bei Husserl: die Analyse des lebensweltlichen Horizonts stellt für die „Arbeitsphilosophie" , als die Husserl sein Denken versteht, eine Aufgabe dar, deren Erfüllung im Unendlichen liegt, — ein Telos, das paradoxerweise offen bleibt. Damit ist die begriffliche Uneinholbarkeit dieses Prius im Prinzip anerkannt, obwohl es in Husserls programmatischen Erklärungen zur Konstitutionslehre manchmal anders klingt 16 . Aber zugleich ist damit der lebensweltliche Horizont auch als etwas ständig zur Bestimmung aufgegebenes real Bestimmbares anerkannt, d. h. als eine Dimension, zu der sich das Denken als bestimmendes in ein Verhältnis der Distanz und damit Kritik setzt wie bei Hegel. 16 Vgl. zum Vergleich zwischen Husserls und Hegels Geschichtsdenken audi die ausführliche Konfrontation beider bei Janssen a. a. O., S. 107 ff.

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Husserl nimmt so, ganz äußerlich gesprochen, eine „Mittelstellung" zwischen der in Hegel kulminierenden Tradition des Vertrauens in eine Vernunftteleologie einerseits und dem bei Nietzsche und Heidegger ins Äußerste getriebenen Krisenbewußtsein andererseits ein. So ist es kein Zufall, daß sein Denken immer wieder bald für ein Wiederaufleben cartesianischer Denktraditionen in Anspruch genommen, bald als Wegbereitung eines nachcartesianischen oder gar nachmetaphysischen Denkens angesehen wird. Die vorliegenden Untersuchungen verstehen sich als ersten Schritt einer historischgenetischen Phänomenologie, die jene bei Husserl in mannigfache Zweideutigkeiten verstrickte „Mittelstellung" auf einem in sich konsistenten Denkweg im ständigen gleichermaßen sachlich-systematischen wie historischen Rückbezug auf die Phänomene „der Lebenswelt" auszuarbeiten sucht. Wie ein Überlegenheitsanspruch des philosophisch-wissenschafdichen Denkens und damit eine Teleologie aufrechterhalten und doch zugleich die Lebenswelt als uneinholbarer historisch-systematischer Anfangsgrund und Horizont für jegliches Denken rehabilitiert und damit jene Teleologie „offen" gehalten werden kann, sollte der umrißhafte Entwurf eines historisch-genetischen phänomenologischen Rückgangs auf den Anfang der Denkgeschichte in den vorangegangenen Kapiteln zeigen. Die bei Husserl selbst ungeklärte „Mittelstellung" seiner Lebensweltproblematik muß denjenigen, der diese Problematik aus der Perspektive eines an Hegel, Nietzsche oder Heidegger orientierten Denkens zu verstehen sucht, aufs stärkste beirren. Die Husserlsche Rede von der Vergessenheit der Lebenswelt und vom „Heraklitischen Fluß" muß solche Interpreten in eine Unsicherheit versetzen, die außerdem noch durch die Art vertieft wird, in der Husserl in der „Krisis" -Abhandlung zum gegenwärtigen Zustand von Philosophie und Wissenschaft Stellung nimmt: Er kritisiert die neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft wegen ihrer Lebensweltvergessenheit aufs schärfste, und das könnte man so verstehen, als gehe es ihm darum, jeglichem wissenschaftlichen Denken den Rücken zu kehren und mit einem ganz neuartigen „Denken" jenseits der Tradition dieses Denkens in die außerphilosophische Selbstverständigung der lebensweltlichen Praxis heimzukehren. Dieses Mißverständnis legt sich nahe, weil Husserl alle geläufigen Kennzeichen des wissenschafdichen Denkens, vor allem seine Objektivität, d. h. seine Statuierung von Erkenntnisverbindlichkeit in Gestalt eines bleibenden An-sich, als etwas Sekundäres, nämlich als Resultate lebensweltlicher Idealisierungsleistungen entlarvt. Damit scheint er dem Denken alle Mittel aus der Hand zu schlagen, mit denen es sein überliefertes Telos der verbindlichen Erkenntnis eines Ansich noch weiter als eine primäre, nämlich unrelativierbare Aufgabe aufrecht-

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erhalten könnte. Gräbt Husserl sich also nicht — man mag zugeben: entgegen seiner Absicht — mit der Thematisierung der Lebenswelt die Grube eines dann endgültig unentrinnbaren Relativismus? 17 Verfällt er nicht der Widersprüchlichkeit, an der alle in der Metaphysikgeschichte aufgetretenen Umkehrungsversuche der metaphysischen Rangordnung gescheitert sind? Den Hinweis, wie der durch die Lebensweltthematisierung hervorgerufenen Gefahr zu entkommen ist, hat Husserl selbst damit gegeben, daß er sich der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zuwandte und in ihr die Urstiftung eines unrelativierbar verbindlichen Telos suchte. In der Tat kann ja die Gefahr des Relativismus beim Rückgang auf die Dimension eines allem philosophisdi-wissenschaftlichen Denken vorgeordneten Prius nur durch den Nachweis abgewendet werden, daß dieser Dimension eine innere Bewegtheit eignet, die auf ein Telos hindrängt, welches das philosophisch-wissenschaftliche Denken nur ausdrücklich aufnimmt. Nur die Teleologie des „Heraklitischen Flusses" selbst kann den Rechtfertigungsgrund dafür abgeben, daß Husserl audi und gerade die Besinnung, durch die die Lebenswelt gewissermaßen nach zweieinhalb Jahrtausenden rehabilitiert wird, noch immer als eine „wissenschaftliche" Bemühung um die Verbindlichkeit eines bleibenden An-sich bestimmt. Aber es bleibt kritisch zu fragen, ob Husserl nicht mit der Beibehaltung dieser Kennzeichnungen für sein eigenes Lebensweltdenken dem erwähnten Mißverständnis Vorschub leistet, er wiederhole nur den Versuch, die metaphysische Rangordnung umzukehren; denn auch die Begriffe „Wissenschaft", „Verbindlichkeit" und „An sich" lassen sich noch als genetisch-geschichtlich bedingte und damit als — wie es scheint — bloß relativ gültige Resultate lebensweltlicher Urstiftung durchschauen. Gerade mit solchen Selbstcharakteristiken setzt sich das Denken also noch dem Verdacht aus, mit der Besinnung auf die Lebenswelt betreibe es — wenn auch bei Husserl ungewollt — seine Selbstaufhebung in die wandelbare lebensweltliche Praxis. Soll dieser Verdacht nicht aufkommen, so bleibt nur der in diesen Untersuchungen beschrittene Weg, die Tendenz des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens im ganzen zunächst rein formal zu bestimmen: d. h. als einen Überlegenheitsanspruch, der im Zuge der Darlegung der Selbstunterscheidung von einer Denkart des vorphilosophischen-vorwissenschaftlichen Lebens erhoben wird. Dieser Überlegenheitsanspruch aber läßt sich in der abstrakt-ungeschicht17 Präziser stellt sich diese Frage so, wie Landgrebe sie in seiner „Meditation über Husserls Wort ,Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins'", S. 117 ff., gestellt hat. Vgl. audi dazu vom gleichen Verf. „Lebenswelt und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins".

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liehen Analyse eines „Heraklitischen Flusses", der als Grundverfassung einer als geschichtliche Invariante begriffenen Lebenswelt verstanden würde, nicht aufweisen; denn er artikuliert sich überhaupt erst mit der geschichtlichen Urstiftung von Philosophie und Wissenschaft im Gegenzug — nicht gegen ein allgemein-ungeschichtlidies „natürliches Bewußtsein", sondern gegen das historisch gegebene lebensweltliche Bewußtsein, von dem sich das beginnende philosophisdi-wissenschaftliche Denken abhebt. So bekommt Husserls Rede vom „Heraklitischen Fluß" eine Bedeutung, von der er selbst gewiß nichts geahnt hat: Das Epitheton „heraklitisch" deutet nun konkret historisch auf denjenigen Denker, der — wie hier noch zu zeigen sein wird — die Zeitlichkeit des lebensweltlichen Lebens vor aller begrifflichen Auseinandersetzung mit „der Zeit" im Zuge der Stiftung des Überlegenheitsanspruchs des Denkens gegenüber diesem Leben bedacht hat; in seiner Darlegung dieses Verhältnisses tritt allererst so etwas wie eine „Teleologie" jenes Lebens, aus der das Denken erwächst, hervor. Diese Vorgestalt von „Teleologie" wird hier im 3. Kapitel des Heraklit-Teils als die Prävalenz der Ankünftigkeit der von Heraklit bedachten „Weile-Gegenwart" bestimmt werden. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die zuletzt versuchte Anknüpfung an die schwer durchschaubare Grundtendenz Husserls in der „Krisis"-Abhandlung nur möglich wurde durch eine Abwehr naheliegender Mißverständnisse, die darauf beruhen, daß man aus dem Stichwort „Heraklitischer Fluß" einen an Nietzsche erinnernden Umkehrungsversuch der Rangordnung innerhalb des gesamten bisherigen philosophischen Denkens heraushört. Ein soldier Umstülpungsversuch bestünde letztlich in einer Umkehrung der metaphysischen Rangordnung von Sein und Werden. Es wurde schon hervorgehoben, daß die Philosophie erst durch Heidegger in die Lage versetzt worden ist, bei der Interpretation Heraklits über den Dualismus von Werden und Sein hinauszugelangen und so die Aneignung seines Denkens vom „Heraklitismus" eines antimetaphysischen Protests frei zu halten. Den Einfluß und die Anregungen des Heideggerschen Denkens wird der kundige Leser nicht nur im gerade Vorgetragenen, sondern auch in den folgenden Erörterungen auf Schritt und Tritt spüren; ohne Heidegger wären diese Untersuchungen nicht möglich geworden. Der Leser wird aber auch erkennen und konnte schon aus den ersten Kapiteln und den zuletzt vorgelegten Erwägungen entnehmen, daß der geschichtliche Anfang der Philosophie und ihr davon abhängiges Schicksal sich in der Sicht der vorliegenden Untersuchungen anders darstellen als bei Heidegger. Wohin das Denken durch die hier inaugurierte geschichtliche phänomenologische Selbstbesinnung geführt wird, bleibt am Ende dieses Buches und in der Sache offen. Gleichwohl scheinen

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hier doch schon die folgenden kritischen Anfragen an Heidegger mit Bezug auf Heraklit möglich: Die älteste maßgebende und sich durchhaltende Idee von Philosophie bildet für Heidegger die Seinsfrage. Für ihn ist das Sein unter Titeln wie „physis" oder „eon" auch schon das Thema des frühesten Denkens. Daß das Sein Thema des Parmenides und von da fortwirkend des Piaton und des Aristoteles wird, läßt sich auch gar nicht ernsthaft anzweifeln. Aber man kann mit Fug fragen, ob Philosophie (und zwar, wie nie übersehen werden darf, in ihrer anfänglichen Einheit mit Wissenschaft überhaupt) als Seinsproblematik gestiftet wird. Die Auffassung, die mir im Laufe der hier niedergelegten Untersuchungen zugewachsen ist, lautet: Die älteste Idee von Philosophie liegt in nichts anderem als in dem Anspruch, eine der Denkart des außerphilosophischen Lebens schlechthin überlegene Denkart, ein durch eine demgegenüber neue Art von Verbindlichkeit ausgezeichnetes Wissen erlangen zu können. Der Anspruch auf gelingende Darstellung dieses Uberlegenheitsverhältnisses ist die älteste Idee von Philosophie und Wissenschaft als einer Einheit. Wie im III. Teil nachgewiesen wird, bestimmt Parmenides erst in einer Situation, in der diesem Anspruch das erste Scheitern droht, als Thema der Philosophie das eon18. Der Auftakt des eigentlich klassischen philosophischen Denkens bei Piaton ist noch zweideutig. Er kann als erste breite Entfaltung der Seinsfrage verstanden werden, zumal Piaton selbst, insbesondere in seinen Spätdialogen, programmatisch an die „Gigantomachie um das Sein" anknüpft. Das platonische Denken läßt sich aber auch als eine Wiederaufnahme des bei Heraklit zum ersten Mal vollzogenen Verhältnisdenkens interpretieren, — und dafür spricht vieles: Am platonischen Selbstverständnis von philosophischer Wissenschaft, episteme, ist ja auffällig, daß die Kritik der Doxa dabei so breiten Raum einnimmt. Das ist unter anderem damit zu erklären, daß die Doxa nicht nur als Denkart des Mensdien in seinem alltäglichen Leben außerhalb der Philosophie auftritt, sondern sogar innerhalb des Bereiches wiederkehrt, der rechtmäßig allein der philosophischen Episteme zusteht. Die Doxa in der Maske des philosophischen Wissens ist die „Sophistik", die Piaton sein Leben lang bekämpft hat. Daß es wesentlich zur Philosophie gehört, sich kritisch gegen die der Philosophie entgegengesetzte Denkart zu wenden, wird in der literarischen Gestalt der platonischen Dialoge vor allem an der Figur des Sokrates deutlich, der mit seiner Ironie und seinem elenktischen Scharfsinn die alltägliche und die sophistische Doxa ihrer Unhaltbarkeit überführt. 18 Vgl. hier S. 576 fi.

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Sokrates bezeichnet seine Aufgabe denn audi als „logon didonai", — eine Wendung, die mit „Rechenschaft ablegen" immer noch richtig übersetzt ist I 9 . Wenn Piaton auch vom „Gigantenkampf um die Seiendheit" spricht, so kann man doch nicht sagen, daß die Frage „ti to on" („Was ist das Seiend(e)?"), wie sie Aristoteles formuliert hat 20 , das Ausgangsproblem seines Denkens darstelle. Die Wendung von der Gigantomachie und der dazu gehörige berühmte Hinweis auf die Aporie in der Seinsfrage, den Heidegger programmatisch an den Anfang von „Sein und Zeit" gestellt hat, gehören — das sollte man nicht übersehen — in den Kontext eines Dialogs, der die Wesensbestimmung des Sophisten, d. h. die Selbstabgrenzung des Denkens vom vollendeten Schein des Denkens, zum eigentlichen Thema hat. Die grundlegende Aufgabe, die sich das platonische Denken stellt, dürfte eher getroffen sein, wenn man es als kritische Selbstabgrenzung von der Denkart der Doxa in allen ihren Spielarten bezeichnet, wobei es Piaton in erster Linie darum geht, zu zeigen, daß es dieser Denkart nicht gelingen kann, ein glükkendes und das heißt für ihn: gerechtes menschliches Leben und Zusammenleben zu begründen. So wird „das Gute" zum Grundthema seines Denkens. Bei Aristoteles allerdings, das sei zugegeben, verfestigt sich die Philosophie in der Tat in dem Bereich dessen, was sie „in erster Linie" ist (prote philosophia), zur Befragung des Seienden im Hinblick auf sein Sein. Aber die Frage ist, ob Aristoteles damit nicht bereits eine abkünftige Idee von Philosophie formuliert. Wenn dies so ist, müssen wir an Heideggers Denken die kritische Frage richten, ob es gut daran getan hat, sich in der Bemühung, den Leitfaden für das Verständnis der Metaphysik im ganzen aufzufinden, an der Bestimmung der Philosophie bei Aristoteles zu orientieren. Der Weg der Philosophie (in Einheit mit dem der Wissenschaft!) und ihre Aussicht für die Zukunft müssen sich anders darstellen, wenn sich nachweisen läßt, daß sich mit der Seinsproblematik bereits ein nichtursprüngliches Verständnis von Philosophie ausbildet. Ob sich dies zeigen läßt, möge der Leser aufgrund der hier gegebenen Interpretation des beginnenden philosophisch-wissenschaftlichen Denkens bei Heraklit und dann bei Parmenides selbst prüfen und beurteilen. Ein zweites: Gesetzt, der philosophischen Frage nach dem Sein liegt ein ursprünglicheres Selbstverständnis von Philosophie zugrunde, dann muß die Heideggersche These überprüft werden, das Schicksal der bisherigen Philo19 Wie Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 368, richtig gegen Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 181, bemerkt hat. μ Metaphysik, 1028 b 3.

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sophie sei wesentlich dadurch bestimmt, daß sich das Sein im Zuge seiner fortschreitenden Entbergung als Seiendheit des Seienden gerade als es selbst — in seiner Differenz zum Sein — entzogen habe. Woher nimmt der Gedanke der Verschränkung von Seinsentbergung und Seinsentzug seine Ausgewiesenheit oder Sachhaltigkeit, oder zumindest seine Plausibilität? Welcher Sachverhalt diente als Modell? Es sei eine Vermutung erlaubt: Hat die Rede von einem Verhältnis von Entbergung und Verbergung ihren phänomenalen Anhaltspunkt nicht vielleicht in dem konkret aufweisbaren Verhältnis, in dem wir Menschen den erstmals von Heidegger in „Sein und Zeit" thematisierten Erschlossenheitscharakter unseres In-der-Welt-seins erfahren? Das faktische „Da" dieser Erschlossenheit, als welche unser Dasein existiert, erfahren wir als solches grundlegend in unserer Gestimmtheit. Wenn es zutrifft, daß in der Stimmung die grundlegende Erschlossenheit des Seins — und das heißt in der späteren Sprache Heideggers: die Gegenwendigkeit von Seinseröffnung und Seinsentzug — stattfindet, dann hat Heidegger der Analyse dieses Phänomenbereichs in „Sein und Zeit" entschieden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In den folgenden genetisch-phänomenologischen Untersuchungen zu Heraklit wird sich die Gelegenheit ergeben, der Gestimmtheit des Daseins genauer nachzugehen. Dabei wird sich zeigen, daß die reine zuständliche Bestimmtheit, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits eingeführt wurde, in letzter Instanz als die komplementär-polare Gestimmtheit zu verstehen ist, in der dem sterblichen Menschen im vorprädikativen Ansiditsvollzug die Lebendigkeit seines Da bald als Gebürtigkeit bald als Sterblichkeit und in diesem Sinne als sich öffnend-erneuernder Aufgang und als sich-verschließender Weggang erschlossen ist. Dieser Gegenwendigkeitscharakter der stimmungshaften Erschlossenheit klingt in „Sein und Zeit" nur ganz flüchtig an 21 , obwohl einiges dafür spricht, daß er es ist, der die eigentliche phänomenale Basis für die Rede von Offenbarkeit und Entzug bildet. Heidegger nimmt, wie erwähnt, Heraklit als denjenigen Denker in Anspruch, bei dem die innere Gegenwendigkeit der „Wahrheit" qua Un-verborgenheit ( a - l e t h e i a ) zum ersten und zum letzten Mal in der Geschichte des 21 Vgl. „Sein und Zeit", S. 135: „Die Stimmung erschließt nicht in der Weise des Hinblicks auf die Geworfenheit, sondern als An- und Abkehr." Zur schlechthin grundlegenden Bedeutung der Gestimmtheit vgl. die Sätze: „Die Befindlichkeit ist eine existenziale Grundart, in der das Dasein sein Da ist." (S. 139) Und: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins . . . Wir müssen in der Tat ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der .bloßen Stimmung' überlassen." (S. 137 f.)

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Denkens aufgeblitzt sei 22 . Wenn nun diese Gegenwendigkeit phänomenologisch im Grunde von der in sich gegenwendigen Gestimmtheit her zu verstehen ist und wenn diese die Grundverfassung des Ansichtenhabens darstellt, dann scheint es höchst problematisch, in ihr — wie Heidegger dies tut — das Gesetz für jegliches Denken zu sehen und vor allem: aus ihr für die Zukunft des Denkens Hoffnung zu schöpfen; denn auf dem in sich gegenläufigen stimmungshaften Erschlossenheitscharakter der Lebendigkeit des Daseins beruht gerade die vorphilosophisdi-vorwissenschaftliche Denkart des lebensweltlichen Lebens, von der sich das Denken, soll es überhaupt Denken sein, unterscheiden muß und sich bei Heraklit aufs entschiedenste unterschieden hat; das Denken kann — wie hier schon dargelegt — nicht hinter den Schritt zurück, mit dem es sich im frühgriechischen Denken zum Gesetz der ansichtshaften Denkart gerade in ein Verhältnis der Überlegenheit gesetzt hatte. Mithin bleibt für die Zukunft des Denkens nur der Weg, den dem Geiste — nicht dem Buchstaben und nicht der Begrifflichkeit — nach Husserl eröffnet hatte, indem er es anwies, das Prius der Lebenswelt zu rehabilitieren, aber nicht in einer zum Relativismus führenden Preisgabe seiner selbst an diese Lebenswelt, sondern in einer sich mit dieser Rehabilitierung gerade konkretisierenden und bestätigenden Darlegung seines Überlegenheitsverhältnisses {logos) gegenüber dem lebensweltlichen Erscheinen ( p h a i n o m e nori).

Die so verstandene „phänomenologische" Philosophie entfaltet sich als geschichtliche zielstrebig in ihre offene Zukunft hinein, indem sie die innere Entwicklung überprüft, in der das philosophisch-wissenschaftliche Denken der Vergangenheit in immer neuen Entperspektivierungsversuchen der jeweils vorgegebenen Lebenswelt seinen Überlegenheitsanspruch einzulösen versucht und damit sich selbst als Verhältnisvollzug gewissermaßen durchdekliniert hat. Die so angesetzte konsequent geschichtliche Besinnung führt nicht in einen historischen Relativismus, sondern versetzt das gegenwärtige philosophisch-wissenschaftliche Denken in die Lage, seinen Stand qua Darlegung des Überlegenheitsverhältnisses verbindlich zu bestimmen und einen Einblick in seine künftige Aufgabe zu gewinnen. Das „Gesetz", nach dem das Denken angetreten ist und sich entwickelt hat, ist der Versuch, sein eigenes Überlegenheitsverhältnis zum lebensweltlichen Erscheinen in einer gelingenden Weise darzulegen; im Denken Heraklits aber, der einzigartigen anfänglich-geradlinigen Bemühung um dieses Gelingen, kommt dieses Gesetz in 22

unter Berufung auf den schon erwähnten Spruch: „Die physis neigt zum Sichverbergen", Β 123.

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seiner geschichtlichen Ursprünglichkeit und ineins damit in seiner sachlichsystematisch grundlegenden Bedeutung zum Vorschein. Ihn zu verstehen, ist daher das Ziel des folgenden, zentralen Teils dieser Untersuchungen.

II. Teil Heraklit. Die Selbstunterscheidung des beginnenden Denkens vom vorphilosophischen Leben 1. Kapitel Der Aufriß des heraklitischen Denkens A. Einleitung: Der Ansatz der

Interpretation

Dem aufmerksamen Leser der erhaltenen Fragmente Heraklits fällt auf, daß e i η Thema am weitaus häufigsten wiederkehrt: die Bekämpfung und kritische Charakterisierung derer, die er hoi polloi, „die Vielen", nennt. Welche Bedeutung hat diese Polemik für die tragenden Gedanken seiner Philosophie? In dieser Frage ist eine erstaunliche und bisher noch nie infrage gestellte Übereinstimmung aller Interpreten zu bemerken: Man unterstellt von vornherein, jene Auseinandersetzung betreffe nur die Weise, w i e Heraklit seine Philosophie vorträgt; man hält sie für eine zwar in mancher Hinsicht bemerkenswerte, jedoch in den eigentlichen Inhalt des heraklitischen Denkens nicht eingehende, d. h. für diesen beiläufige und im Grunde entbehrliche Eigentümlichkeit1. Diese bisher undiskutiert als selbstverständlich geltende Auffassung muß bereits vom Anfang des Werkes her als fragwürdig erscheinen, der uns im ersten Fragment der Dielsschen Sammlung glücklicherweise erhalten ist. Er lautet: Für den L o g o s , der dieser hier i s t , erweisen die Menschen sich immer als v e r s t ä n d n i s l o s , s o w o h l bevor sie ihn g e h ö r t w i e wenn s i e ihn zum e r s t e n M a l g e h ö r t hab e n . Denn o b s c h o n a l l e s g e m ä ß d i e s e m L o g o s ges c h i e h t , so g l e i c h e n sie doch U n e r f a h r e n e n , wenn sie sich auf die E r f a h r u n g mit solchen W o r t e n und Werken e i n l a s s e n , wie ich sie b e h a n d l e , indem ich ein ι So 2. B. Rivier S. 162: die „inonces polimiques" „n'ont pas de portie systematique"

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Heraklit. Die Selbstunterscheidung des beginnenden Denkens

Jegliches gemäß seiner Physis auseinanderlege und e r k l ä r e , w i e es s i c h v e r h ä l t ; d e n a n d e r e n M e n s c h e n a b e r b l e i b t v e r b o r g e n , w a s s i e im W a c h e n t u n , g l e i c h w i e s i e v e r g e s s e n , w a s s i e im S c h l a f e ( t u n ) . 2 Der Text behandelt thematisch ausschließlich das Verhältnis zwischen den philosophisch Denkenden, vertreten durch Heraklit, und den vielen „anderen Menschen" bzw. — im Gleichnis dafür — das Verhältnis zwischen den Wachen und den Schlafenden. Das ganze kunstvolle Satzgefüge besteht, worauf schon verschiedentlich hingewiesen wurde 3 und wie sich unschwer erkennen läßt, allein aus Thesen und Antithesen, in denen das philosophische Denken, wie es Heraklit vorträgt, und die Denk- und Verhaltensart der Vielen unterschieden und auf der Grundlage dieser Unterscheidung zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Was sich dem Text im einzelnen entnehmen läßt, soll im folgenden jeweils bei passender Gelegenheit dargestellt werden. Nicht nur der programmatische Auftakt des Werkes weckt Bedenken an der Art und Weise, wie man die Bedeutung der heraklitischen Polemik gegen die Vielen bisher beurteilt hat. Auch der breite Raum, den sie im Rahmen des Werkes eingenommen haben muß, läßt jene Einschätzung als ungerechtfertigt erscheinen: Die Bekämpfung und zugleich kritische Charakterisierung der Denk- und Verhaltensart der Vielen und die damit verbundene Bemühung um die Abgrenzung des seines Namens würdigen Denkens von jener Denkart ist die Thematik, der die relativ bei weitem größte thematisch zusammengehörige Gruppe von Fragmenten gewidmet ist: Von den insgesamt etwa 110 echten Heraklitworten, die wir besitzen, enthalten mindestens 13 ein direkte polemische Charakterisierung der Vielen 4 . Weitere sechs haben indirekt die gleiche Polemik zum Inhalt 5 , und zwar in der Form eines Angriffs auf eine Reihe der angesehensten griechischen Dichter und Denker, die Heraklit allein deswegen kritisiert, weil er in ihnen Wortführer und Verführer der Vielen sieht, wie aus der Formulierung seiner Kritik an manchen Stellen unzweideutig hervorgeht 6 . Darüberhinaus machen mindestens wei2

(Β 1) Τοϋ δέ λόγου τοΰδ' έόντος αεί άξύνετοι γίνονται άνθρωποι και πρόσθεν ή άκοϋσαι και άκουσαντε ς τό πρώτον· γινομένων γαρ πάντων κατά τόν λόγον τόνδε άπείροισιν έοίκασι πειρώμενοι και έπέων καΐ έργων τοιούτων όκοίων έγώ διηγεϋμαι, κατά φύσιν διαιρέων εκαστον και φράζων δκως Ιχει. τους δέ άλλους ανθρώπους λανθάνει όκόσα έγερθέντες ποιοΰσιν δκωσπερ όκόσα είίδοντες έπιλανθάνονται. Zur Rechtfertigung der Übersetzung vgl. Kirk S. 33 fi. Zur Ergänzung von „(tun)" vgl. hier S. 245 fi. 3 Vgl. zuletzt Kirk S. 45 fi. und Marcovidi S. 7. t Β 17, Β 19, Β 28, Β 34, Β 46, Β 56, Β 85, Β 87, Β 95, Β 97, Β 104, Β 107, Β 121. 5 Β 40, Β 42, Β 57, Β 81, Β 106, Β 129. 6 Vgl. Β 28, Β 40, Β 57, Β 104.

Der Aufriß des heraklitischen Denkens

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tere elf Fragmente ausdrücklich den Unterschied zwischen der Denk- und Verhaltensart der „Wenigen" und der der Vielen zum Thema, teils in Gestalt eines Vergleichs mit dem Unterschied zwischen Wachen und Schlafenden 7, wie er bereits im Schlußsatz von Fragment 1 begegnete, teils in einer Reihe von Tiergleichnissen8, teils durch Anknüpfung an die den Zeitgenossen Heraklits vertraute Unterscheidung zwischen den Edlen, die ihr Leben im Kampfe wagen oder dahingehen, und den durchschnittlichen, lebensverfallenen anderen Menschen 9 . In zwei weiteren zentralen Sprüchen wird der Unterschied zwischen Denkenden und Nichtdenkenden ohne Polemik und ohne gleichnishafte Einkleidung als Unterschied in der Fähigkeit, Zusammenhang zu erfassen, thematisch10. Zu diesen Fragmenten, die der Thematik ausdrücklich gewidmet sind, treten zahlreiche Texte, in denen der Gedanke der Unterscheidung zwischen dem Denken und der Denkart der Vielen bzw. des Erfordernisses einer Abkehr von dieser einschlußweise enthalten ist: So macht Heraklit in einer Reihe von teilweise besonders bedeutsamen Sprüchen durch ein an den Beginn der Aussage gestelltes ehre „es tut not, daß . . . " bzw. ein u xyniäsin, „sie verstehen nicht, d a ß . . . " eigens darauf aufmerksam, daß es zum Verständnis des vorgelegten Gedankens einer Abwendung vom geläufigen und selbstverständlichen Meinen bedarf 11 . Für die zureichende Auslegung einer Anzahl weiterer Sprüche ist es ebenfalls erforderlich,· den implicite darin enthaltenen Gedanken der Unverstandenheit des zu Denkenden durch die Vielen in die Interpretation miteinzubeziehen12. Schließlich wiederholt sich die Unterscheidung zwischen Denkenden und Vielen in der zwischen Göttern und Menschen; denn Heraklit bezieht in einer Reihe von untereinander verwandten Sprüchen beide Unterscheidungen ausdrücklich in Gestalt einer Proportion aufeinander. Und endlich gehört, wie sich von dieser Entsprechung der Unterscheidungen her zeigen läßt, auch die heraklitische Kritik an überkommenen Gestalten von Religion und Kult in den gedanklichen Kontext der kritischen Selbstunterscheidung des Denkens von der Denk- und Verhaltensart der Vielen Wenn es auf dem Felde der Heraklit-Forschung überhaupt eine Sicherheit ^ Neben dem Schlußsatz von Β 1: Β 21, Β 26, Β 89. Zu diesen Texten vgl. im 2. Kap. dieses Teils der Untersuchung S. 244 ff. 8 Β 4, Β 9, Β 13, Β 37, außerdem das schon genannte Β 97. 9 Β 24, Β 25, Β 29, Β 49, vielleicht auch Β 27. Zur Problematik vgl. hier S. 229 ff. to Β 10, Β 54. 11 Β 2, Β 35, Β 43, Β 44, Β 51, Β 80, Β 1 1 4 . 12 Ζ. Β. bei Β 16, Β 18, Β 20, Β 86, Β 30 (zu diesem Fragment vgl. im 4. Kap. S. 394 ff.), außerdem Β 58 (dazu hier S. 225 ff.). υ Diese Zusammenhänge werden ausführlich im 5. Kap. dargestellt.

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gibt, muß man angesichts dieser Lage davon ausgehen, daß die Überzahl der Sprüche dieses Inhalts und die Wiederkehr dieser Thematik in vielen besonders wichtigen anderen Sprüchen nicht nur nicht dem Zufall der Überlieferung zuzuschreiben ist, sondern daß die Auseinandersetzung mit den Vielen auch im Mittelpunkt des uns nicht erhaltenen vollständigen Werkes des Heraklit gestanden hat. Verhält es sich aber so, dann ist es an der Zeit, die nie infrage gestellte Übereinstimmung der Heraklit-Interpreten, auf die eingangs aufmerksam gemacht wurde, zu durchbrechen und den Versuch zu unternehmen, das Denken des Heraklit einmal konsequent von seinem vorherrschenden Thema her zu verstehen und zu entfalten. Dieses Thema ist die kritische Selbstunterscheidung des von Heraklit vertretenen Denkens von der Denkund Verhaltensart der Vielen. Zwar hat es kaum ein Interpret versäumt, die mannigfache Polemik des Heraklit gegen die Vielen mehr oder weniger ausführlich darzustellen und nach den Gründen oder Motiven dafür zu fragen, warum diese Polemik bei ihm eine so auffallend große Rolle spielt. Jedoch zumeist hat man diese Frage mit dem Hinweis auf Heraklits aristokratische Herkunft und Gesinnung oder gar sein iraszibles Temperament beantwortet. Bestenfalls billigt man der polemischen Selbstabgrenzung eine propädeutische oder propagandistische14 Funktion zu. Die Möglichkeit, daß diese Polemik die kritische Seite des philosophischen Gedankens der Selbstunterscheidung des Denkens vom Nichtdenken und daß dieser Gedanke selbst gar der tragende und leitende philosophische Einfall Heraklits sei, wird von vornherein nirgendwo im Ernst in Betracht gezogen. Allein in der „Geschichte der antiken Philosophie" von Karl Joel findet sich einmal die treffende Bemerkung: „Heraklits Kampfeseifer ist keine persönliche Marotte, sondern die Entfaltung des kritischen Prozesses, in dem sich das Denken selber heraufbildet." 15 Doch es ist charakteristisch, daß diese Erkenntnis im Verlauf der weiteren Heraklit-Interpretation von Joel an keiner Stelle und in keiner Hinsicht fruchtbar gemacht wird. Die Behauptung, die kritische Selbstunterscheidung des Denkens von der vor- oder außerphilosophischen Denk- und Verhaltensart sei der Grundgedanke Heraklits, von dem her sich alle seine weiteren Gedanken entfalten lassen, soll gegenüber den bisher vorliegenden Heraklit-Interpretationen die Hypothese darstellen, die der folgenden Untersuchung zugrundegelegt wird. Wie jede solche Interpretationshypothese ist sie zunächst nur ein Vorgriff auf das Ganze des Verständniszusammenhanges, der durch die fortschreiH So Marcovich S. 59: „the gross of Heraclitus' polemics might be understood as Logos-propaganda." 15 K. Joel, Geschichte der antiken Philosophie, l . B d . , S.285.

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tende Interpretation erst schrittweise entwickelt werden muß. Der Vorgriff hat sich in diesem Fortschreiten zu bewähren; d. h. die Folge der Textauslegungen im einzelnen und in ihrer Gesamtheit stellt eine Prüfung dar, in der sich herausstellt, ob die Hypothese die Kraft besitzt, mehr vom überlieferten Heraklit-Text einheitlich verständlich und im Detail erklärbar zu machen, als es die bisherigen Interpretationen vermochten. Im Ausgang von der genannten Hypothese lassen sich die ersten Schritte, die die folgende Untersuchung zu gehen hat, bereits vorzeichnen — wenn audi nur in einer gewissen unvermeidlichen Leere und Unbestimmtheit: Als Selbstunterscheidung, deren kritische Seite die Polemik gegen die Vielen ist, setzt sich das philosophische Denken bei Heraklit in ein Verhältnis zum Niditdenken. Soll die Statuierung dieses Verhältnisses der Ausgangshypothese gemäß nicht bloß als eine entbehrliche, weil nicht notwendig zum eigentlichen Gedankeninhalt gehörende, Begleiterscheinung der heraklitischen Philosophie erscheinen, so ist zu zeigen, daß Heraklit diesen „eigentlichen Gedankeninhalt" allein im Durchdenken jenes Verhältnisses entwickelt und entwickeln kann. Die philosophiegeschichtlich bekannten „Lehren" des Heraklit vom Gegensatz, vom Fluß, vom Feuer, von Gott usw. müssen als Entfaltungen des einen Ausgangsgedankens verständlich gemacht werden, der in der Aufstellung jenes Verhältnisses besteht. Wenn die Entdeckung des Verhältnisses zwischen Philosophie und vor- oder außerphilosophischem Leben in nuce bereits der „Inhalt" des von Heraklit vertretenen Denkens ist, dann bedeutet das, daß es für Heraklit kein zunächst selbständig bestehendes philosophisches Denken gibt, das dann obendrein und nadhträglidi zum Niditdenken in ein Verhältnis gesetzt werden könnte; was philosophisches Denken und nidit-philosophisdies Leben sind, läßt sich vielmehr allein von ihrem Verhältnis zueinander her bestimmen; die Aufstellung dieses Verhältnisses aber ist mit der Entstehung der Philosophie, wie sie Heraklit versteht, identisch. In der Unterscheidung zur so verstandenen Philosophie kann dann das nicht-philosophische Leben nur als diejenige Denk- und Verhaltensart definiert werden, die sich noch nicht in ein Verhältnis zu sich selbst gesetzt hat. Wenn sich die Ausgangshypothese bewähren soll, müßte sich demnach den Aussagen des Heraklit erstens entnehmen lassen, daß dem vor- oder außerphilosophischen Leben in seinen Augen ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst fehlt. Zweitens müßte sich zeigen, daß das philosophische Denken bei Heraklit sich selbst entsprechend als die Aufstellung und Entfaltung dieses Verhältnisses begreift. Die Aufstellung eines Verhältnisses impliziert erstens die Statuierung eines Unterschieds und zweitens die Herstellung einer Beziehung zwischen

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den Unterschiedenen. Wenn die Philosophie sich bei Heraklit von dem vorphilosophischen Leben, zu dem sie sich ins Verhältnis setzt, dadurch unterscheidet, daß sie an diesem Leben den Mangel jenes Verhältnisses aufdeckt, so gewinnt sie auf solche Weise zwar einen dem vorphilosophischen Leben überlegenen Standort der Erkenntnis; diese Überlegenheit geht aber nicht so weit, daß die Philosophie die vorphilosophische Erkenntnisart unbeachtet hinter sich lassen könnte. Täte sie dies, so wäre das Denken vom Nichtdenken bloß u n t e r s c h i e d e n . Es muß aber, da es nichts anderes als die Entfaltung des Verhältnisses zu dem, wovon es sich unterscheidet, ist, auch über die B e z i e h u n g zwischen seiner eigenen Erkenntnisart und der des vorphilosophischen Lebens Rechenschaft ablegen. Nun ist die Erkenntnisart des philosophischen Denkens als Sich-ins-Verhältnis-Setzen ein Sich-Untersdieiden und ein aufeinander Beziehen des Unterschiedenen. Soll das philosophische Denken die geforderte Beziehung zwischen sich und dem vorphilosophischen Leben herstellen, so ist ihm dies nur dann möglich, wenn es an eine verwandte Erkenntnisart im vorphilosophischen Leben, d.h. an ein Sich-Unterscheiden und ein Aufeinander-Beziehen des Unterschiedenen anknüpfen kann. Aus den Aussagen des Heraklit müßte demnach nicht nur, wie eben gesagt, hervorgehen, daß dem vorphilosophischen Leben in seinen Augen ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst fehlt, sondern ebenso, daß es gleichwohl mit der Erkenntnisart des Sich-ins-Verhältnis-Setzens vertraut ist — allerdings in einer Weise, die die Kritik des philosophischen Denkens herausfordert. Aus diesen Überlegungen ergeben sich die folgenden Frageschritte, an denen sich die Interpretation in diesem ersten Kapitel dieses Teils der Untersuchung zu orientieren hat. Dabei wird sich die Reihenfolge dieser Schritte nicht immer einhalten lassen, da sich der Inhalt der einzelnen Sprüche überschneidet, an deren Interpretation die Untersuchung jeweils gebunden ist. 1) Welcher Unterschied besteht zwischen dem philosophischen Denken und dem vor- oder außerphilosophischen Leben, d. h. genauer: welchen Mangel stellt jenes an diesem fest? 2) Welches Sich-Unterscheiden kennzeichnet das vorphilosophische Leben selbst? 3) Welche Beziehung zwischen den so Unterschiedenen kennt das vorphilosophische Leben selbst? 4) Welche Beziehung ergibt sich daraus zwischen dem philosophischen Denken und dem davon gleichwohl unterschiedenen vorphilosophischen Leben?

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B. Der Unterschied von Einsicht und Ansicht Die gewissermaßen einschlägige Auskunft über den Unterschied zwischen Denken und vorphilosophischem Leben enthält das Fragment 2, von dem wir wissen, daß es mit wenig Abstand auf den in Fragment 1 erhaltenen Anfang des Werkes folgte I6 . Nicht nur wegen dieser seiner Stellung im Buche des Heraklit scheint es zum Einstieg in die Interpretation geeignet, sondern auch deswegen, weil man annehmen darf, daß Heraklit hier den für die vorliegende Untersuchung grundlegenden Titel „die Vielen" als Bezeichnung der Menschen des vorphilosophischen Lebens einführt, nachdem er zu Beginn des Werkes im gleichen Sinne von den „anderen Menschen" gesprochen hatte. Der Spruch17 lautet in der Gestalt, die sich mit großer Sicherheit aus einer etwas entstellenden Überlieferung rekonstruieren läßt: D a r u m t u t e s n o t , d a s G e m e i n s a m e zu b e f o l g e n . D o c h o b w o h l der Logos gemeinsam ist, f ü h r e n die Vielen i h r L e b e n so, als h ä t t e n sie e i n e p r i v a t e Einsicht.18 Schon der Anfang des Spruches läßt sogleich den Unterschied von Denken und Nichtdenken anklingen; die Eingangsformel „es tut not" 19, auf deren Wiederkehr in anderen Sprüchen bereits hingewiesen wurde, darf nicht als eine nebensächliche Floskel betrachtet werden. Ebensowenig gibt sie freilich Anlaß, in Heraklit einen „Ethiker" oder „Mahner" zu sehen, dem es „nicht (um) die Mitteilung irgendeiner Einsicht", sondern um den bloßen Appell zu einem besseren Leben gegangen sei 20 . Die Formel zeigt zunächst nicht mehr als die Aufgabe an, vom Nichtdenken zum Denken überzugehen, und damit ist der Unterschied beider gemacht. Der Spruch entfaltet nun diesen Unterschied, indem er sagt, daß sich die Denkenden und die Nichtdenkenden durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu etwas unterscheiden, mit dem sie beide zu tun haben. Dieses nennt Heraklit to xynon, „das Gemeinsame" . Der zweite Satz bringt die zusätzliche Auskunft, daß „der Logos" dieses Gemeinsame sei. An ihm scheiden sich demnach die Geister der Denkenden und der Nichtdenkenden; denn nach der Aussage des Spruches wer16 Sextus Empiricus, adv. math. VII, 132 f., zitiert Β 2 unmittelbar nach Β 1 mit der Bemerkung, Heraklit habe jene Worte „wenig später" hinzugefügt. 17 Zur Rechtfertigung der Bezeichnung „Sprüche" für Sätze Heraklits vgl. Gigon, Ursprung, S. 200, und Boeder S. 74 f. 18 (B2) Διό δει £πεσθαι τφ ξυνψ. τοΰ λόγου δ'έόντος ξυνοΰ ζώουσιν ol πολλοί ώς ιδίαν Ιχοντες φρόνησιν. Zur Textherstellung im ersten Satz vgl. Kirk S. 57 f. 19 Vermutlich ist das in Β 2 überlieferte δει an die Stelle eines ursprünglichen χρή getreten. 20 Gigon, Ursprung, S. 198.

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den jene im Unterschied zu diesen mit ihrer Befolgung des Logos dem Umstand gerecht, daß er „gemeinsam" ist. An dieser Stelle scheint es nicht ratsam, sogleich nach der Bedeutung des Logosbegriiis zu fragen. Diese Aufgabe kann erst gegen Ende dieses Kapitels in Angriff genommen werden, nachdem die jetzt noch nicht gegebenen Voraussetzungen für ihre Lösung gewonnen sind. Zu diesen Voraussetzungen zählt die Klärung der Bedeutung von xynön im vorliegenden Fragment und einigen anderen Heraklittexten. Was mit der „Gemeinsamkeit" des Logos im vorliegenden Spruch gemeint ist, läßt sein Zusammenhang unschwer erkennen: Die Pointe liegt in dem idios, das Heraklit im zweiten Satz dem xynös entgegenstellt. Dieser zweite Satz besagt: Wenn die Vielen eine private Einsicht, idία phrönesis, erlangen zu können glauben, so ist dies eine Selbsttäuschung, weil sie sich in Wahrheit (d. h. vom Standpunkt des Denkens aus beurteilt) vom xynön nicht abwenden können; denn dieses schließt die Menschen zu einer Gemeinsamkeit zusammen, aus der keiner auszubrechen vermag. Welche Bedeutung das Wort xynös in diesem Zusammenhang hat, dürfte demnach keinem Zweifel unterliegen: Es bezeichnet das „Gemeinsame" im Sinne dessen, was Gemeinsamkeit unter den Menschen stiftet. D. h., der Logos als das „Gemeinsame" ist das alle Menschen Verbindende, Vereinigende. In der Anerkennung dieser Verbundenheit im Logos besteht die Einsicht, phrönesis, der Denkenden. Im Unterschied dazu glauben die Vielen, sich im Vollzug einer privaten Einsicht aus dieser Verbundenheit lösen zu können. Eine „private Einsicht" ist also ein Widerspruch in sich. Die phrönesis hat es immer und notwendig mit dem xynön zu tun. Der Widerspruch, den der Spruch herausstellt, besteht nicht, wie man gelegentlich gemeint hat, zwischen lögos und phrönesis, sondern zwischen xynön und idion 21. Heraklit gibt der Erkenntnisart der Denkenden an dieser Stelle den Titel phrönesis, hier übersetzt mit „Einsicht". Dieser soll im folgenden terminologisch die ^Ansicht" als die Erkenntnisart der Menschen des vor- oder außerphilosophischen Lebens gegenübergestellt werden. Die Einsicht besteht nach Auskunft des Spruches in einer „Befolgung" des Gemeinsamen. Die Übersetzung von £πεσθαι mit „befolgen" versucht einer Bedeutungskomponente des Wortes gerecht zu werden, die es wahrscheinlich an dieser Stelle in Übereinstimmung mit einem Sprachgebraudi der Zeit hat, demgemäß Επεσθαι den Gehorsam bezeichnet, den der Mensch den Aufforderungen des delphischen Gottes entgegenzubringen hat 22 . Wenn die φρόνησις als ein gehorsames Befolgen, d. h. 21 Vgl. Kirk S. 61 f. 22 Vgl. Kirk S. 60.

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aber: als eine Weise des Handelns, gekennzeichnet wird (erster Satz des Spruches) und ihr Fehlen sich in einer bestimmten Art der Lebensführung bekundet (zweiter Satz des Spruches), dann ergibt sich daraus bereits, daß die Einsicht, das philosophische Denken, für Heraklit mehr ist als ein bloß theoretisches Wissen. Dies wird durch den Wortsinn von φρόνησις im Griechischen der Zeit bestätigt: Das Wort bezeichnet ein auf die Lebensführung, das Handeln bezogenes Verständigsein 23 . Der Unterschied zwischen Einsicht und Ansicht ist demnach ebensosehr ein Unterschied zwischen Erkenntnis- wie zwischen Lebensarten. Zufolgedessen kann Heraklit in anderen Sprüchen, die später untersucht werden sollen, den Unterschied auch an der Art des Verhaltens von Menschen verdeutlichen 24 . Wie sich eben ergab, geht aus der Gedankenführung des Spruches unmißverständlich hervor, daß xynos hier „gemeinsam" im Sinne des Menschen Verbindenden oder Vereinigenden bedeutet. Trotzdem bevorzugen die meisten Interpreten die Übersetzung „allgemein". Diese Übersetzung und die ihr zugrundeliegende Interpretation läßt sich vom vorliegenden Spruch her nicht rechtfertigen. Die Interpreten berufen sich darauf, daß die Angabe, der Logos sei xynos, wahrscheinlich der Aussage in Fragment 1 äquivalent ist, die besagt, alles und jedes geschehe gemäß dem Logos 25 . Diese Aussage versteht man so, daß der Logos als etwas Allgemeingültiges, ζ. B. als eine Art „Weltgesetz" , das überall „wirksam" sei, auf jegliches Besondere zutreffe. Die Angabe in Fragment 2, der Logos sei xynös, würde nach dieser Interpretation nur noch einmal seine zu Beginn des Werkes behauptete Allgemeingültigkeit bestätigen, und xynos würde „allgemein" im Sinne von „allgemeingültig" bedeuten 26 . Nun blieb den Interpreten, die diese Auffassung vertreten, nicht verborgen, daß das xynon in Fragment 2 aber offenbar als das Gemeinsamkeit Stiftende verstanden wird. Dieser Schwierigkeit meinte man durch die Erklärung entgehen zu können, daß der Logos — weil i n Allgemeinheit gültig (d. h. alles Seiende betreffend) — auf f ü r die Allgemeinheit (der Menschen nämlich) gültig sei. Man glaubte, der Bedeutung von xynos in diesem Sinne mit dem merkwürdigen Zwitterwort „allgemeinsam" gerecht werden zu können. Der angeführten Erklärung liegt unausgesprochenermaßen die uns geläufige Unterscheidimg von Objektivem und Subjektivem zugrunde: Xynös in der Bedeutung „allgemein" betrifft die Verhältnisse in der unabhängig von unseren subjektiven Meinungen oder Behauptungen über sie objektiv vorhandenen Welt; in dieser Welt gibt es — so wird Heraklit verstanden — ein 23 Vgl. ebda und W. Jaeger, Paideia, 1. Bd. S. 243. 24 Vgl. hier S.229S. 25 γινομένων γαρ πάντων κατά τον λόγον τόνδε. » So ζ. Β. zuletzt Bröcker S. 28.

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allgemeines „Weltgesetz", das die Ordnung der „Wirklichkeit" regelt, unabhängig davon, ob wir es oder wieviel wir davon erkennen. Xynös in der Bedeutung „gemeinsam" betrifft die Verhältnisse, die unter den Menschen herrschen; die Menschen fühlen oder wissen sich in ihren subjektiven Vorstellungen und Auffassungen (die sie über die objektive Welt haben) einander mehr oder weniger verbunden. Was die Menschen in dieser subjektiven Weise verbindet, hat zunächst mit dem allgemeingültig Objektiven nichts zu tun, kann aber damit in Zusammenhang gebracht werden, so wie es Heraklit nach der hier dargestellten ry»ci«-Interpretation tut. Daß Heraklit sich, wenn die Konstruktion stimmte, mit der die Interpreten die Vereinigung beider Bedeutungen im Wort xynös erklären, einer Äquivokation schuldig gemacht hätte, wird ihm als einem archaischen Denker zugestanden, zumal man zu erkennen glaubt, daß Heraklit sich bei dem (ihm natürlich nicht explizit bewußten) Doppelsinn von xynös etwas gedacht habe; denn er könne ja das subjektive xynön, das die Zusammengehörigkeit der Menschen stiftet, nur deswegen mit dem objektiven xynön des allgemeingültigen Weltgesetzes identifiziert haben, weil dieses jenes begründe. Es sollte deutlich werden, daß das geläufige xynön-Verständnis nur solange als unproblematisch erscheinen kann, als man sich die Frage nicht stellt, ob eine Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem in dem Sinne, wie sie die meisten Interpreten ihrer Diskussion der vermeintlichen Doppelbedeutung von xynös stillschweigend zugrundelegen, dem Verständnis Heraklits überhaupt angemessen und förderlich ist. Es wird sich zeigen, daß die ungeklärte und fraglos vorausgesetzte Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem eine der unreflektiert gebliebenen Vorüberzeugungen ist, die die bisherige Heraklit-Interpretation in vielerlei Spielarten durchzogen und das Verständnis dieses Denkers in besonderem Maße erschwert haben. Die Thematik des Heraklit wird wie die der Milesier durch die (vortranszendental gefaßten) Gegebenheitsweisen, d. h. das ursprüngliche „Zwischen" von „Subjekt" und „Objekt", bestimmt. Sie entzieht sich daher den Interpretationen, deren begrifflichem Instrumentarium der cartesianische Gegensatz von subjektiver „innerer Welt" und „bewußtseinsunabhängiger Außenwelt" zugrunde liegt. Die Heraklit-Interpretation ist bei der Klärung der Bedeutung von xynös zum Glück nicht ausschließlich auf das Fragment 2 angewiesen. Das Wort kommt auch in den Fragmenten 114, 103 und 80 vor. Da sich Einsicht und Ansicht durch ihr Verhältnis zum xynön unterscheiden, sollen entsprechend der leitenden Fragestellung dieses Abschnitts der Untersuchung im folgenden unter anderem diese Fragmente interpretiert werden. Das Fragment 114

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wird seit längerem in der Heraklitforschung als sachlich und möglicherweise sogar literarisch mit Fragment 2 zusammengehörig betrachtet, und zwar aus folgendem Grunde: Man darf als sicher annehmen, daß Heraklit den Begriff des xynön in dem Textstück eingeführt hat, das zwischen Fragment 1 und 2 gestanden hat; es spricht einiges dafür, daß Fragment 114 dieses Textstück darstellt 27 . Die Untersuchung sei daher mit der Auslegung dieses Spruches fortgesetzt. Er lautet: Es t u t n o t , daß die, die mit E i n s i c h t r e d e n , sich mit dem G e m e i n s a m e n A l l e r s t ä r k e n , g l e i c h w i e die P o l i s mit dem Nomos, und noch viel s t ä r k e r ; denn alle m e n s c h l i c h e n N o m o i n ä h r e n sich von dem einen göttlichen (Nomos); der herrscht nämlich, soweit nur i m m e r es i h m p a ß t , u n d e r r e i c h t a u s f ü r A l l e u n d d a r ü b e r h i n a u s.28 Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist zunächst der erste Satz des Spruches von Bedeutung. Daß in ihm vom Unterschied zwischen Denken und Nichtdenken die Rede ist, zeigt abermals das einleitende „es tut not", durch das, wie bekannt, das zu Denkende vom Selbstverständlichen und Geläufigen abgehoben wird. Das „es tut not" wird darüberhinaus im vorliegenden Spruch durch einen Infinitiv ergänzt, der die besagte Unterscheidung als eine solche zwischen Stärke und Mangel an Stärke kennzeichnet. Außerdem werden die Denkenden eigens als die „mit Vernunft Redenden" bezeichnet. Das xynön wird hier als das xynön pänton eingeführt. Wenn man den Kontext unbefangen und unvoreingenommen liest, so kann man schwerlich 2xi der Annahme kommen, panton könne an dieser Stelle Genitiv von panta, „alles Seiende", sein; vom Kontext her kann es eigentlich nur „alle Menschen" bedeuten. Damit würde auch der Gedanke aus Fragment 2 bestätigt, daß jegliches Erkennen auf das xynön bezogen ist. Nun gibt es aber, wie ebenfalls schon Fragment 2 — jedoch in anderer Form — zum Ausdruck brachte, bei den Menschen einen Unterschied in der W e i s e dieser Bezogenheit; sonst brauchte Heraklit nicht darauf hinzuweisen, daß die Denkenden sich am xynön eigens stark machen müssen. Dieser Gedanke wird nun durch den Vergleich mit der Polis, die sich an ihrem Nomos stark macht, 27 So vermutete als erster Bywater in seiner Edition. Vgl. außerdem Gigon S. 11. Marcovich, S. 91 f., vertritt sogar die Auffassung, daß Β 2 und Β 114 eine Einheit bildeten. 28 Ξύν νφ λέγοντας Ισχυρίζεσθαι χρή τφ ξυνψ πάντων, δκωσπερ νόμψ πόλις, καΐ πολύ Ισχυτέρως· τρέφονται γάρ πάντες ol άνθρώπειοι νάμοι ύπό ένός τοϋ θείου· κρατεί γάρ τοσούτον όκόσον έθέλει και έξαρκεϊ πάσιν καΐ περιγίνεται.

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verdeutlicht. Der Nomos ist im archaischen Griechentum, in dessen Endzeit Heraklit steht, der Inbegriff der verbindlichen Rechtsordnungen, auf denen Leben und Bestand der Polis beruhen29. Welche Beziehung nach der Auffassung Heraklits zwischen dem Leben der Polis und ihrem Nomos besteht, läßt sich deutlicher aus Fragment 44 ersehen: K ä m p f e n muß d a s V o l k f ü r den N o m o s w i e f ü r die S t a d t m a u e r.30 Die Stadtmauer unterscheidet sich von allen anderen Gütern, die gegen den Angriff äußerer Feinde zu verteidigen sind, dadurch, daß auf ihr der Bestand der Stadt beruht; die Stadt fällt mit dem Zusammenbruch der Verteidigung an der Mauer. Warum gerade dadurch? Weil die Mauer dasjenige ist, was das Gemeinwesen sichtbar — es rings umschließend — zusammenhält31. Der F a l l der Polis nach der Niederlage an der Mauer ist ein Z e r f a l l , bedeutet Auflösung der Einheit, die die Bedingung jeglicher Verteidigung ist. Deshalb ist die Verteidigung der Mauer der hartnäckigste und der Angriff auf sie der erbittertste Kampf. Heraklits Vergleiche sind, wie sich noch oft erweisen wird, außerordentlich genau. Wenn er den Nomos mit der Stadtmauer vergleicht, die aus den angeführten Gründen so leidenschaftlich vom Volk verteidigt wird, so sagt er damit, daß der Nomos dasjenige ist, worauf der innere Zusammenhalt, die Einheit des Gemeinwesens beruht. Bedrohlich für den inneren Zusammenhalt der Polis sind weniger die äußeren Feinde als vielmehr alle Tendenzen, Parteiungen, Feindseligkeiten, die zur Auflösung des Gemeinwesens von innen her führen können32. Diese Kämpfe, die in den griechischen Stadtstaaten zur Zeit Heraklits toben, sind hinlänglich bekannt und brauchen hier nicht geschildert zu werden. Daß sie auch im Ephesus Heraklits im Gange waren, bezeugen neben dem zuletzt angeführten drei weitere Sprüche Heraklits (B 121, Β 33, Β 125a), auf die später einzugehen ist 33 . Der Nomos ist der Inbegriff derjenigen Regelungen, die garantieren, daß das Zusammenleben der Menschen in der Polis trotz aller gegensätzlichen Auffassungen darüber, wie es sich zu vollziehen habe, nicht auseinanderfällt 34 . Durch ihn hat die ständig vom Zerfall bedrohte Einheit des Gemeinwesens Bestand. In diesem Sinne ist er „das Gemeinsame", will sagen: das 29 Vgl. Wolf S. 273 fi. 30 (B 44) Μάχεσθαι χρή τόν δήμον ύπέρ τοΰ νόμου δκωσπερ τείχεος. 31 Vgl. a. a. Ο. S. 269 Fußn. 1. 32 Vgl. a. a. Ο. S. 268. 33 Vgl. hier S. 437 f. 34 Vgl. Wolf S. 269 ff.

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Zusammenhaltende, Gemeinsamkeit Stiftende; und in dieser Bedeutung kommt er für Heraklit in Fragment 114 für einen Vergleich mit dem xynon der einsichtsvollen bzw. ansichtshaften Erkenntnis in Betracht. Am Nomos als demjenigen, was ihr den Zusammenhalt und damit den Bestand verleiht, macht sich — so sagt Heraklit — die Polis „stark". Dies ist keineswegs eine verschwommene Metapher, sondern präzise der Ausdruck für das Verhältnis der Polis zum Nomos: „Schwach" ist das vom Zerfall Bedrohte. Die Polis überwindet diese Schwäche durch ihre ständige Orientierung am Nomos, der Einheit und damit Eintracht in aller Zwietracht stiftet. Worauf es nun Heraklit ankommt, ist nicht das Verhältnis von Polis und Nomos — dieses wird nur beiläufig durch den Vergleich thematisch — , sondern der durch dieses Verhältnis verdeudichte Bezug zwischen Denken und xynon35: Der Vergleich lehrt, daß das xynon dem Denken einen bestimmten Zusammenhalt und d. h. „Stärke" verleiht. Darin liegt zugleich, daß sich das Nichtdenken vom Dendien durch den Zerfall in zerstrittene Parteiungen unterscheidet. Im xynön haben die vorphilosophisch feindlich auseinandergehenden Ansichten der Menschen einen einheitlichen Zusammenhang. Daß das Nichtdenken der Vielen ein Ausweichen vor dem xynon ins Private, jeweils Eigene bedeutet, wird durch Fragment 2 bestätigt. Etwas für alles Seiende Allgemeingültiges bezeichnet nach dem Gesagten das xynön in Fragment 114 ebensowenig wie das in Fragment 2. Es erscheint vielmehr hier wie dort als das Gemeinsamkeit Stiftende in dem Sinne, daß es einen Zusammenhang der feindlich auseinandergehenden, „privaten", Ansichten der vorphilosophisch lebenden Menschen begründet. Die Einsicht stärkt sich am xynön und gewinnt von daher die Kraft einer zusammenbringenden Erkenntnis, die Heraklit nüs nennt, durch die die Einsichtigen die Einheit jener auseinanderstrebenden Privatmeinungen erfassen können. Heraklit deutet durch seine Vorliebe für die Silbe xyn im Zusammenhang von Aussagen über die Einsichtigen nachdrücklich darauf hin, daß es gerade die Kraft des „Zusammen" ist, die die Einsicht vor der Ansicht auszeichnet 36 . Die sprachliche Balance im ersten Satz von Fragment 114 beruht auf dem 35 Kirk, S. 51, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Aussage über die πόλις hier nicht Selbstzweck ist, d. h. nicht als erster Ansatz einer „Rechtsphilosophie" verstanden werden darf (wie es viele Interpreten, zuletzt H. Blass, Gott und die Gesetze, getan haben), sondern daß sie ausdrücklich als verdeutlichender Vergleich (δκωσπερ ist ein Wort, das in vielen Heraklit-Sprüchen die Vergleiche einleitet) eingeführt ist. Worum es Heraklit geht, ist nidit das Verhältnis von Polis und Nomos, sondern von Denken und ξυνόν, wie durch die Interpretation der zweiten Hälfte des Spruches noch deutlicher werden wird. 36 Vgl. etwa Β 1 und Β 51.

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seit langem in der Heraklitforschung bemerkten „Wortspiel" des Gleichklangs von xyn nö („mit Vernunft") und (to) xyno („durch das Gemeinsame" ) 37 , wodurch das ohnehin schon betont am Anfang des Satzes stehende xyn ein weiteres Schwergewicht erhält. Eine solch bewußte Wortwahl hat im übrigen bei Heraklit entgegen einer immer wieder vertretenen Auffassung weder an dieser Stelle noch, wie sich zeigen wird, andernorts den Charakter eines bloß rhetorischen Wortspiels, sondern dient jedesmal der Hervorhebung des entscheidenden Gedankens. Dieser lautet hier: „mit Vernunft" und „durch das Gemeinsame" besagen dasselbe. Weitere Beispiele für Heraklits Vorliebe für die Silbe enthalten Fragment 1, in dem die uneinsichtigen Menschen άξύνετοι heißen, und Fragment 51, in dem von den selben Menschen gesagt wird, daß sie nicht „zusammenbringen", οΰ ξυνιδσιν, wie das Auseinandergehende (nämlich die gegensätzlichen Ansichten, wie sich zeigen wird) zusammenkommt. So wie sich das Verhältnis von Denken und Nichtdenken nunmehr darstellt, erscheint es auch aufgrund des Vergleichs mit dem Verhältnis zwischen Wachen und Schlafen, den Heraklit bereits im Schlußsatz von Fragment 1 bringt. Diesem Vergleich, dessen große Bedeutung für das heraklitische Denken noch durch Hinzuziehung anderer, inhaltlich verwandter Bruchstücke ans Licht treten wird 38 , sei vorgreifend schon der Hinweis entnommen, daß die Schlafenden, womit die Vielen als „abwesend Anwesende" (Fragment 34) gemeint sind, sich dadurch von den Wachenden, d. h. den Einsichtigen, unterscheiden, daß ihre jeweiligen Traum-Sichten sich nicht zu einer gemeinsamen Weltsicht vereinigen. Damit ist eine Antwort auf die erste der beiden einleitend entwickelten Leitfragen gewonnen: Die Einsicht der Denkenden unterscheidet sich selbst von der Nicht-Einsicht der Vielen dadurch, daß sie im Bereich dieser die Unterschiedenheit auseinandergehender Ansiditen aufdeckt. Der Unterschied zwischen philosophischer und vor- oder außerphilosophischer Erkenntnisart stellt sich damit zunächst als der Unterschied zwischen einer Ununterschiedenheit und einer Unterschiedenheit von Sichten dar. Die Menschen als Vertreter der nichtphilosophischen Erkenntnisart werden demnach in Fragment 2 ganz sachgemäß unter dem Titel „die Vielen" eingeführt, sofern sie im Zuge der gerade dargelegten doppelten Unterscheidung allein als die Vertreter der immer im Plural auftretenden auseinandergehenden Ansichten in Betracht kommen. Die zweite eingangs formulierte Leitfrage betraf das Sich-Unterscheiden, •V Vgl. schon Lassalle 2. Bd. S. 513. J8 Vgl. hier S. 244 ff.

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von dem das vorphilosophische Leben durchzogen ist. Bevor dieser Frage entsprechend das Auseinandergehen der Ansichten näher untersucht wird, sei gegen ein mögliches Mißverständnis darauf aufmerksam gemacht, daß die Ansichten nach Auskunft der Fragmente 2 und 114 keineswegs völlig beziehungslos auseinandergehen. Fragment 2 kennzeichnete dieses Auseinandergehen ins Private als ein Ausweichen vor dem xynon und dieses Ausweichen wiederum als Selbsttäuschung. Demnach bleiben die Ansichten trotz ihrer Aufsplitterung vom Gemeinsamen umfangen. Fragment 114 sagt ebendies noch deutlicher, und zwar im zweiten Teil des Spruches, der bisher noch nicht berücksichtigt wurde: Dieser Teil hat offenbar die Aufgabe, den Polis-Nomos-Vergleich zu ergänzen. Die Ergänzung ist deswegen notwendig, weil der Vergleich — wie alle Vergleiche — an einer Stelle „hinkt". Heraklit macht selbst am Ende des ersten Satzes durch den Zusatz „und noch viel stärker" auf diese schwache Stelle aufmerksam. Er sagt damit: Das xynon bedeutet für das Denken eine bedeutend größere Stärkung als im Vergleich der Nomos für die Polis. Diesen korrigierenden Hinweis entfaltet Heraklit im folgenden Satz, indem er den Vergleich selbst ausweitet und eine Vielheit menschlicher nömoi von dem einen göttlichen n:οινόν κόσιιον είναι, των δέ κοιμωμένων £καστον είς ίδιον άναστρέφεσθαι; der berühmte Satz ist bei Diels noch unter Nr. 89 als Originalfragment aufgeführt. 88 Vgl. Bröcker S. 36.

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der Götter in einem bestimmten Sinne als ansichtshaft einseitig bestimmen kann 89 . 2. Konkretisierung des Maß-Gedankens am Verhältnis der drei „Elemente" zueinander Bei der Interpretation des Fragments 30 wurde bisher die Erklärung seines Schlusses ausgespart, der vom Feuer sagt, es verglimme und verlösche nach Maßen. Die Heraklit-Forsdiung hat zu Recht in dem wahrscheinlich auf Fragment 30 folgenden 90 Fragment 31 eine Art Erläuterung dieses Gedankens gesehen. Daher soll dieses Fragment sogleich herangezogen werden. Es lautet: (a) F e u e r s W e n d e n : z u e r s t M e e r , vom M e e r d i e e i n e H ä l f t e E r d e , d i e a n d e r e G l u t w i n d (. . .) ( b ) ( E r d e ) z e r f l i e ß t (zu) M e e r , und ( d i e s e s ) b e m i ß t sich nach dem s e l b e n V e r h ä l t n i s , w i e es b e s t a n d , b e v o r es E r d e w u r d e.91 Der Zusammenhang der hier entwickelten Vorstellungen mit dem Ende von Fragment 30 liegt auf der Hand und ist in der Heraklit-Forschung auch immer gesehen worden: Offenbar besteht die eigentümliche Lebendigkeit des Feuers darin, daß es einen Wechsel zwischen Wachstum und Verminderung seiner Strahlungs- und Leuchtkraft aufweist, der am Schluß von Fragment 30 als Wechsel von Erglimmen und Erlösdien und in Fragment 31 als eine Folge von Umschlägen zwischen entgegengesetzten Zuständen charakterisiert wird. Was in diesem Wechsel erfahren wird, ergibt sich bereits aus der Interpretation von Fragment 30: Wenn Heraklits Bezugnahme auf die ansichtshaft einseitige ^diwoi-Erfahrung in dessen ersten Teil nicht ein im Grunde entbehrliches Beiwerk des Gedankens bleiben soll, dann muß Heraklit den Erschlossenheitsspielraum nicht nur als die eine bleibende Wärme und Helle denken, sondern zugleich auch als den, der in einseitigen Weilen des Sich-kaltoder warm-Befindens, des Sich-feucht- oder trocken-Befindens erschlossen ist. In der Ersdhlossenheit des einen Spielraums der Wärme und Helligkeit wird die eigene welterschließende Lebendigkeit selbst erfahren. In den einseitigen Spielraum-Erfahrungen begegnet dieselbe Lebendigkeit — jedoch diesmal als sterbliche, d. h. als vom Zerfall bedrohte. «9 Vgl. hier S. 461 f. 90 So K. Deichgräber in Rheinisches Museum 89, 1940, S. 44 ff. 91 (B 31) Πυρός τροπαί· πρώτον θάλασσα, θαλάσσης δέ τό μέν ήμισυ γη, τό δέ ήμισυ πρηστήρ . . . (γη) θάλασσα διαχέεται, και μετρέεται είς τόν αυτόν λόγον, άκοΐος πρόσθεν ήν ή γενέσθαι γη. Zur Textkonstitution vgl. Marcovich S. 282 ff.

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Zunächst die Kälte — im umfassenden Sinne (als Auftreten eines ersten Unterschiedes zur Wärme überhaupt), sodann die vier einseitigen, welterschließenden Gefühlszustände sind Negationen der Lebendigkeit — selbstverständlich im Rahmen der einen bleibenden Lebendigkeit. Diese Sterblichkeit-in-der-Lebendigkeit wird im Wechsel der Strahlungs- und Leuchtkraft des Feuers erfahren. Das immer lebende Feuer ist einerseits die eine Gegenwart der Wärme bzw. Helligkeit, andererseits aber als diese bleibende Gegenwart zugleich die Folge der vielen ineinander umschlagenden WeileGegenwarten der (einseitigen) Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, in die es sich zersetzt. Nun bleiben die einseitigen Erschlossenheitsweisen des Spielraums nicht bloße Zustände, sondern begegnen aufgrund der oben entwickelten Ausbildung von Zeigerichtungen als Charaktere bestimmter Weltgegenden. Es ist daher konsequent, daß Heraklit nicht bei dem allgemeinen Hinweis auf das Erglimmen und Erlöschen des Feuers am Ende von Fragment 30 stehenbleibt, sondern in Fragment 31 die Umschläge zwischen den Zuständen als Übergänge zwischen den kosmologisch lokaÜsierten Elementen charakterisiert: Daß diese Umschläge das Thema des Spruches sind, sagt Heraklit selbst, indem er ihn — ähnlich wie andere Sprüche — gleichsam mit einer Überschrift beginnen läßt: „Die Wenden des Feuers": Das mit „Wende" übersetzte Wort trope bezeichnet in der Meteorologie die Wende von Gestirnen auf ihrer Bahn 92 . Trope impliziert also eine Richtungsänderung. Damit hat es die gleiche Grundbedeutung wie das metapiptein, das, wie im 3. Kapitel ausgeführt, bei Heraklit einen Umschlag des Erfahrungsgefälles, d. h. den Wechsel zwischen Ankunft und Weggang bezeichnet. Das Thema des Spruches wird also mit den beiden ersten Wörtern eindeutig angegeben: Er handelt vom Umschlag zwischen einseitigen Zuständen, die aber zugleich als Einseitigkeiten des Feuers in dessen einzig-eine bleibende Gegenwart einbehalten bleiben. Das „Feuer", von dem die „Überschrift" des Satzes spricht, kann demnach nur das Gesamtfeuer, d. h. das Feuer im Sinne der Wärme bzw. Helligkeit in ihrer weiteren Bedeutung sein. Es ist wichtig, dies festzuhalten, da im folgenden Text des Spruches noch einmal vom Feuer die Rede ist; dort aber ist das Feuer eine der einseitigen, ineinander umschlagenden Gestalten (des Gesamtfeuers) und wird deswegen audi mit einem anderen Namen belegt. Es heißt dort prester. Mit diesem Wort bezeichnet Heraklit zweifellos ein meteorologisches Phänomen, das wir heute aber mangels ausreichender Überlieferung nicht eindeutig mit einer uns bekannten Erscheinung identifizieren können. 92 Vgl. Kirk S. 329.

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Ein erster Anhaltspunkt zum Verständnis des Wortes ist für uns die Bedeutung der Wurzel preth-: „brennen" und „wehen", worauf Kirk aufmerksam gemacht hat 93 . Ein zweiter Anhaltspunkt ist der Bericht über die heraklitische Kosmologie bei Diogenes Laertius. Ihm läßt sich entnehmen, daß das Phänomen der Verdunstung bei Heraklit eine besondere Rolle spielte: Heraklit hielt die Gestirne für umgestülpte Nachen (skäphai) 9 4 . In ihnen sammeln sich aufsteigende Dünste und entzünden sich. Die beiden Anhaltspunkte machen es wahrscheinlich, daß Heraklit mit prester irgendeine Himmelserscheinung bezeichnet, die er für die glühend gewordene Aufdünstung hält. Von der Bedeutung der Wurzel her legt sich daher die von Diels und Kranz gewählte Übersetzung „Glutwind" nahe. Auch wenn unbestimmt bleiben muß, welches meteorologische Phänomen Heraklit im Auge hat, so besteht kein Anlaß zum Zweifel daran, daß Heraklit mit prester das in einer bestimmten Weltgegend, nämlich „oben", „im Himmel" lokalisierte Feuer bezeichnet95. Diesem Himmelsfeuer liegen „unten" die im Spruch eindeutig bezeichneten Gegenden von Erde und Meer gegenüber. Der Wortlaut des Spruches stellt eine Reihe von Überlieferungsproblemen. Sie wurden mehrfach und ausführlich bei ReinhardtGigon 97, Deichgräber 98, Kirk 99 und zuletzt von E. Kurtz100 behandelt und brauchen an dieser Stelle nicht noch einmal durchgesprochen zu werden, zumal der Wortlaut des Spruches trotz aller Einzelschwierigkeiten im ganzen ein deutliches Bild von der herakütischen „Kosmologie" vermittelt. Es sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß der Text des Spruches auf keinen Fall vollständig überliefert ist. Zwischen den beidm Hälften, die wir in der Übersetzung mit (a) und (b) unterschieden haben, fehlt ein Stück. Trotz dieser Lücke läßt sich aus dem gesamten Zusammenhang eine klare Vorstellung gewinnen: Nachdem Heraklit in der „Überschrift" das Gesamtfeuer genannt hat, setzt die Aufzählung der Umschläge des Feuers mit dem Auftreten des Wassers ein. Das entspricht der früher entwickelten Fundierungsordnung der Zustandserfahrungen in den welterschließenden Gefühlszuständen: Auf dem Boden der bleibenden Erschlossenheit der Lebendigkeit als Wärme und Helle tritt als erster einseitiger Zustand die Kälte auf, durch die die bleibende Lebenswärme selbst erstmals zu einer Einseitigkeit wird. Mit dem w S. 330. Vgl. Diels 22 A 1,9. Marcovich S. 333 f. versteht σκάφη allerdings anders. Vgl. Marcovich S. 288 f. 9 6 S. 57 fi. und S. 94 ff. 9 7 S. 65 ff. 9 8 Rhythmische Elemente im Logos des Heraklit, S. 501 ff. 9 9 S. 325 ff. 100 S. 151 ff. 94

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Auftreten dieser Einseitigkeit, die wir als die Isolierung des Hiercharakters gekennzeichnet hatten, treten zugleich die beiden Modi der Erschlossenheit des Hiercharakters als Feuchtigkeit und Trockenheit auseinander. Von diesen Momenten hat gemäß ihrer früher dargelegten Prävalenz die Feuchtigkeit die Führung. Sie, d. h. mit Heraklit gesprochen: das Wasser, muß demnach dasjenige sein, das als erste wirkliche Einseitigkeit des Gesamtfeuers und d. h.: als in einer bestimmten Gegend des Ganzen der Lebenswelt lokalisiert aufgeführt wird. Genau dies geschieht im vorliegenden Spruch. Während das in der „Überschrift" ganz sachgemäß an erster Stelle genannte Gesamtfeuer noch unter dem allgemeinen und keine Lokalisierung implizierenden Titel pyr eingeführt wird, wird die erste Einseitigkeit, das Wasser, sogleich unter dem Namen „Meer" vorgestellt, der diese „Weltmasse" primär als Weltgegend kennzeichnet. Indem so der Zustand, in dem der eine einseitige Modus des seinerseits isolierten Hiercharakters empfunden wird, an einen Ort gebunden auftritt, tritt ihm sogleich der zugehörige Gegenzustand in der entsprechenden kosmologischen Gestalt entgegen: „vom Meer die eine Hälfte Erde". Das Auftreten dieser beiden Einseitigkeiten und ihrer Lokalisierung schlägt notwendig zugleich auf das Gesamtfeuer zurück, das in der Entgegensetzung zur unteren Welthälfte nun selbst als einseitig und als an eine Gegend gebunden erscheint: „die andere (Hälfte) Glutwind". Schon aus diesen Bemerkungen zur ersten Hälfte von Fragment 31 dürfte deutlich werden, wie sich Heraklits Angaben bis in die Einzelheiten von der lebensweltlichen Motivation der Dreielementenlehre her verständlich machen lassen. Wir müssen nun aber ergänzend auf die Art und Weise eingehen, in der Heraklit das Verhältnis der in der Erfahrungswelt lokalisierten Zustände untereinander bestimmt. Dabei ist zunächst festzuhalten, was Heraklit sachgemäß als Leitwort an den Anfang des Spruches stellt: Zwischen den einseitigen Zuständen findet jeweils ein Umschlagen, eine trope statt. Nun werden die in den Weltgefühlen erschlossenen Zustände mit ihrer Vereinseitigung notwendig audi lokalisiert. Sie treten damit in unserer Erfahrung als Gegebenheiten auf, die eine bestimmte Gegend, auf die hin wir uns lebend orientieren, erfüllen. Solche Gegenden mit den sie erfüllenden Gegebenheiten stehen aber im Unterschied zu den Zuständen, in denen sie motiviert sind, nicht im Verhältnis eines abwechslungsweisen Nacheinander, sondern sie liegen gleichzeitig in der Lebenswelt vor. Andererseits können diese ortsgebundenen Gegebenheiten nicht beziehungslos nebeneinander koexistieren, da in ihnen ja nichts anderes als die Zustände des Lebendigkeitsspielraums erfahren werden, die ohne die Beziehung des Umsdilagensi-ineinander nicht

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zu denken sind. Damit stellt sich für Heraklit die Aufgabe, das Verhältnis der ortsgebunden in der Welt koexistierenden drei Elemente als ein Umschlagen vorzustellen. Bei der Lösung dieser Aufgabe hat Heraklit als erstes zu berücksichtigen, daß sich der Dual der Urzustände bei ihrer kosmologischen Lokalisierung zum Geviert der Zeigerichtungen erweitert: 1. oben — 2. unten, 3. die eine Seite — 4. die andere Seite. Das Umschlagen findet also in vertikaler und horizontaler Richtung statt. Von den drei Elementen ist nur das Meer vom Umschlagen in beiden Richtungen betroffen; es vermittelt zwischen Himmelsfeuer und Erde. Um dies leisten zu können, muß sich das Meer halbieren. Genau dies sagt Heraklit im ersten Teil (a) des Spruches. In diesem Teil nennt Heraklit zwei von vier möglichen Umschlagsarten, ohne sie näher zu charakterisieren: die Übergänge von Wasser in Erde und von Wasser in Glutwind. Daneben sind noch die Übergänge in umgekehrter Richtung in der Horizontalen und in der Vertikalen möglich, d. h. die Umschläge von Glutwind in Wasser und von Erde in Wasser. Es könnte sein, daß der verlorenengegangene Teil des Spruches eine nähere Charakteristik der beiden erstgenannten Umschlagsarten enthielt, und es ist wahrscheinlich, daß er zumindest eine Aussage über den Übergang von Glutwind in Wasser brachte, da der erhaltene Schlußteil (b) etwas über den Umschlag von Erde in Wasser sagt, wie aus dem Nebensatz an seinem Ende eindeutig hervorgeht. Von daher ist klar, daß der Beginn dieses Teils (θάλασσα διαχέεται) auf jeden Fall vom Umschlag von Erde in Meer handeln muß: Damit θάλασσα διαχέεται diesen Sinn ergibt, ist entweder mit K. Reinhardt der überlieferte Text beizubehalten und so zu verstehen, daß θάλασσα an dieser Stelle das zur Erde verfestigte Meer bedeutet 1 0 1 , oder man ergänzt mit Kranz 1 0 2 , K i r k 1 0 3 und Marcovich 104 γη vor θάλασσα. Ich haibe midi für die zweite Lösung entschieden und übersetzt „Erde zerfließt zu Meer". Doch auch die Lösung von Reinhardt könnte möglich sein.

In jedem Falle ist uns in dem diacheetai wenigstens eine nähere Charakteristik für einen bestimmten Umschlag, nämlich den von Erde zu Meer, erhalten. Diacheisthai bedeutet ein „Zerfließen", das im Zusammenhang der platonischen Darstellung der Elementenlehre als Gegensatz zu pegnynai, „Sich-Verfestigen", gebraucht wird 105 . Wie schon beim Problem des „Glutwinds" hat die Forschung vorwiegend die Frage gestellt, auf welche Natura l S. Reinhardt S. 58 ff. 102 In: Diels-Kranz, Vorsokratiker Bd. I, S. 158. 103 S. 331 f. im S. 282 ff. los Timaios 46 d. Die Parallele verdanke ich Kurtz S. 177.

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erscheinung sich Heraklit mit der Kennzeichnung des Übergangs von Land zu Meer als eines Zerfließens bezieht. Gewiß hat Heraklit als Küstenbewohner auch an bestimmte von ihm oder Zeitgenossen beobachtete Vorgänge zwischen Land und Meer gedacht. Doch die Lösung des Problems, welche Vorgänge dies wohl gewesen sein mögen, scheint für eine philosophische Vergegenwärtigung Heraklits wesentlich weniger wichtig als darauf zu achten, in welcher Weise die Wahl des Wortes diacheetai den lebensweltlichen Verhältnissen entspricht: „Zerfließen" — das ist genau der Übergang vom ansichtshaft zuständlich erfahrenen Trocken-Festen zum Feucht-Weichen. Diese Art von Rückgründung seiner Aussagen in der Erfahrungswelt ist für das heraklitische Denken wesentlich und charakteristisch. Daß in die heraklitische Vorstellungswelt außerdem zugleich mit dieser Art von Bezugnahme auf seine Lebenswelt auch bestimmte naiv-naturwissenschaftliche Beobachtungen und Erklärungen einfließen, ist für sein philosophisches Denken irrelevant. Solche Vorstellungen haben für uns im Grunde nur als wissenschaftsgeschichtliche Curiosa ein Interesse. Den Beobachtungen, die wir bisher am Text von Fragment 31 machen konnten, läßt sich noch nicht entnehmen, wie Heraklit die Aufgabe löst, das Verhältnis der ortsgebundenen koexistierenden drei Elemente als ein Umschlagen zu begreifen. Den entscheidenden Hinweis in dieser Hinsicht enthält erst der auf das thälassa diacheetai folgende Schlußsatz des Teils (b): „(das Meer) bemißt sich nach dem selben Verhältnis wie es bestand, bevor es Erde wurde". Den hier mit Bezug auf das Verhältnis von Meer und Erde ausgesprochenen Gedanken enthält schon in allgemeinerer Form das metra am Schluß von Fragment 30. Es besagt, daß das Aufflammen und das Erlöschen des Feuers durch ein „Maß" geregelt sind. „Aufflammen" und „Erlöschen" des Feuers — das bedeutet, daß die eine bleibende Lebendigkeit qua Wärme bzw. Helle immer auch als Abfolge entgegengesetzter Zustände, d. h. in Weilen, erfahren wird. Daß die Bemessung der Dauer der Weilen aneinander „wie es sich gehört" geregelt ist, ergab sich bereits im Verlauf der Analyse, die dem Umschlagen gewidmet war 106 . Die Weilen können ein gewisses Zeitmaß nicht überschreiten. Die ausdrückliche Rede von Maß und „sich bemessen" in den Fragmenten 30 und 31 bestätigt dieses Resultat der Umschlagsanalyse. Das Maß bedeutet zunächst die Beschränkung der zeitlichen Ausdehnung der Weilen aneinander. Da die Weilen aber als zuständliche Gegebenheitsweisen von Welt zu koexistierenden Gegebenheiten in bestimmten Welt106 Vgl. hier S. 296 ff.

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gegenden lokalisiert werden, muß das Maß auch räumliche Bedeutung annehmen: Das sichtbare Ausmaß einer der drei Gegebenheiten Himmelsfeuer, Meer und Erde beschränkt sich jeweils am Ausmaß der entgegengesetzten Gegebenheiten. Das bedeutet aber: Keine der drei „Weltmassen" kann ein Übergewicht über eine andere erlangen, geschweige denn eine andere zeitweilig völlig vertilgen. Die Mengen von Himmelsfeuer, Meer und Erde bleiben trotz des wechselseitigen Ineinanderumschlagens ausgeglichen. Wie ist dies möglich? Wenn Erde, wie eben gesagt, in Meer zerfließt, so wird doch die Menge des Wassers größer und die des Landes kleiner. Diese Schwierigkeit läßt sich nur unter der Voraussetzung beheben, daß man die drei Gegebenheiten Himmelsfeuer, Meer und Land als teilbar versteht. Daß Heraklit dies getan hat, ging bereits aus dem ersten Satz von Fragment 31 zumindest bezüglich des Meeres hervor, da dort von seinen Hälften gesprochen wurde. Überdies leuchtet sogleich ein, daß diese Voraussetzung auch sachlich sinnvoll und folgerichtig ist, da raumerfüllende Gegebenheiten — und zu solchen sind die Ersdilossenheitsweisen des Spielraums ja aufgrund ihrer Lokalisierung geworden — teilbar sind. Erst unter der Vorausetzung der Teilbarkeit der Elemente lassen sich ihre räumliche Koexistenz und ihr geregeltes Ineinanderumschlagen gedanklich miteinander vereinbaren: Die Regelung, die für den rein zeitlichen Wechsel der Zustände in der Gestalt der Bemessung der Dauern aneinander auftrat, muß nun so gedacht werden, daß dasselbe Element, das zum einen Teil durch Umschlag ins Gegenelement abnimmt, zum anderen Teil durch den rückläufigen Umschlag zunimmt 107 . Auf diese Weise verwandeln sich die Elemente ineinander und koexistieren dabei: In diesem Verhältnis bekundet sich, wie schon bei der zeitlichen Regelung, nichts anderes als das unaufhebbare Beieinander der entgegengesetzten Zustände als reiner Möglichkeiten. Dieses Beieinander erwies sich früher als ein solches von reiner Ankunft und reinem Weggang. In genauer Entsprechung zu diesem Beieinander erfüllen die Elemente die ihnen zugehörigen Weltgegenden nicht als tote und beziehungslos nebeneinander befindliche Vorhandenheiten, sondern als Zustände, deren Sein ein immerwährender Übergang ist, nämlich zum einen Teil Weggang aus der ihnen eigentümlichen Präsenz, d. h. ein Sich-Verwandeln ins Gegenteil, zum anderen Teil Ankunft, d. h. ein Rückkehren von dorther. Auf diese Weise bleibt beispielsweise das Mengenverhältnis von Meer überhaupt und Erde überhaupt immer konstant. Diese Feststellung ist aber dahingehend zu ergänzen, daß die Konstanz des Mengenverhältnisses in der 107 Vgl. Marcovichs Diagramme S. 285 u. S. 287.

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Weise besteht, daß sie sich beständig erneuert; denn jeder Teilumschlag droht die Konstanz zu durchbrechen, wird aber sogleich durch das Mitauftreten eines Teilumsdilags in der Gegenrichtung korrigiert. Von dieser beständigen Erneuerung des Mengenverhältnisses spricht Heraklit im Schlußsatz des Fragments 31, wenn er am Beispiel des Meeres erklärt: „Es bemißt sich nach dem selben Verhältnis, wie es bestand, bevor es Erde wurde". Im Griechischen steht: μετρέεται είς τόν αυτόν λόγον. Die Übersetzung „bemißt sich", in der μετρέεται als Medium aufgefaßt wird, erscheint am passendsten, da Übersetzungen wie „erhält sein Maß" oder „wird bemessen" das Mißverständnis nahelegen, als ob den Elementen ihr Maß von irgendeiner Instanz außerhalb ihrer auferlegt würde; in Wirklichkeit ist die Regelung der Einhaltung des Maßes, wie schon beim Zeitmaß der Weilen ausgeführt wurde, in deren Verhältnis zueinander impliziert. Λόγος bedeutet hier, wie heute nicht mehr bezweifelt wird, „Verhältnis", und zwar Mengenverhältnis. Die Wendung είς τόν λόγον ist ungewöhnlich; είς kann mit „gemäß, nach" übersetzt werden; es wäre dann in seiner Bedeutung an dieser Stelle einem κατά verwandt; es könnte aber auch konsekutiven Sinn haben (Übersetzung: „... bemißt sidi so, daß das selbe Verhältnis entsteht ..."). Beide Erklärungen ändern nichts am Sinn des Schlußsatzes108. Es bestätigt sich die Bedeutung von „Verhältnis" für λόγος. So wie sich das Mengenverhältnis von Erde und Meer durch beständige Erneuerung konstant erhält, muß dies auch für die Menge des Himmelsfeuers in seinem Verhältnis zur Masse der unteren Welthälfte gelten. Aus der Doxographie ist uns bekannt, daß Heraklit die beständige Erneuerung der oberen „Weltmasse" von der unteren her unter dem Titel anathymiasis, „Aufdampfung", oder zumindest, wenn sich seine Ausdrudksweise noch nicht zu einem solchen Terminus verfestigt haben sollte, am Leitfaden der damit bezeichneten Vorstellung dargestellt haben muß 109 . Der Vorgang der beständigen Erneuerung des Himmelsfeuers durch Aufdampfen war notwendig als der Prozeß, der eine gleichzeitig stattfindende, durch den Umschlag in die untere Welthälfte bedingte beständige Abnahme desselben Feuers ausglich. In welchen Himmels- oder Wettererscheinungen dieser Umschlag für Heraklit anschaulich gegeben war, braucht hier nicht zu interessieren. Es sei nur erwähnt, daß Heraklit aus dem Gedanken der beständigen Erneuerung des Himmelsfeuers offenbar auch Konsequenzen für seine Vorstellung von den Himmelskörpern zog: Er stellte sie als umgestülpte Schalen („Nachen") vor, in denen sich der aufsteigende leuchtende Feuerdunst fängt und sammelt u o . 108 Vgl. Kurtz S. 153. Ii» Vgl. 22 A 1,9. Dazu vgl. zuletzt Kirk S. 272 fi. «ο Vgl. ebda.

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In diesen Zusammenhang sind auch die erhaltenen Aussagen Heraklits über die Sonne einzuordnen: (Sie hat) die Breite eines Menschenfußes.111 D i e S o n n e i s t t ä g l i c h neu. 1 1 2 Die Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten; sonst w e r d e n sie die E r i n y e n , die S c h e r g e n der D i k e , ausf i n d i g machen.113 Da wir die Naturvorstellungen, die diese Aussagen erst voll verständlich machen, nicht genau genug und vor allem zu bruchstückhaft kennen, sei hier auf Vermutungen über die Einzelheiten der heraklitischen Sonnentheorie verzichtet, zumal für die Absicht und den Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung die Feststellung genügt, daß die—im übrigen nur noch alswissenschaftsgeschichtliche Curiosa interessanten — Vorstellungen Heraklits über die Himmelskörper offenbar mit einer gewissen Konsequenz aus der lebensweltlich motivierten Auffassung von der „oberen Welthälfte" hervorgegangen sind: Wenn die Sonne ein schalenartiges Gefäß zur Sammlung von Feuerdunst ist, kann die Annahme plausibel erscheinen, sie habe etwa „die Größe eines Menschenfußes" 114. Wenn der Feuerdunst, der sich in diesem Gefäß sammelt, den Bewegungscharakter der ständigen Selbsterneuerung-im-Schwinden hat, liegt es nahe, die Bewegung des täglich neuen Erscheinens der Sonne durch diese Bewegung zu erklären („neu" = sich erneuernd)115. Und schließlich, wenn der Bewegungscharakter des Himmelsfeuers durch das Maßverhältnis zwischen den „Elementen" geregelt ist, ist es nicht weit hergeholt, die Regelmäßigkeit des Sonnenlaufs irgendwie (wir wissen nicht genau, wie) 116 von der Geregeltheit des Bewegungscharakters des in ihr gesammelten Feuers her verständlich zu machen (Fragment 94). Das zuletzt genannte Fragment erscheint außerdem bemerkenswert, weil in ihm die Regelung des Maßverhältnisses (metra) mit dem Titel dike, Zuteilung des Zustehenden, benannt wird. Dieser Titel ist bereits aus frühe111

(B 3) . . . είρος ποδός ανθρωπείου. (Β 6) Ό ήλιος νέος έφ'ήμέρη εστίν. 113 (Β 94) "Ηλιος ούχ ύπερβήσεται μέτρα- ε'ι δέ μή, Ερινύες μιν Δίκης επίκουροι έξευρήσουσιν. 114 Der kuriosen Erklärung von Frankel S.433 bedarf es nicht: „Man legt sich auf den Rücken, streckt ein Bein in die Luft, und deckt mit der Breite des Fusses die Sonne von Rand zu Rand zu." "5 Vgl. KirkS.269£f. Ii 6 Kirk S. 286 f. warnt gegenüber Gigon, der „mit großer Wahrscheinlichkeit den Schluß" zieht, „Heraklit habe mit Frg. 94 zum Problem der Sonnenfinsternis Stellung genommen" (S. 86), zu Recht davor, aus Β 94 zu weitgehende Schlußfolgerungen zu ziehen. 112

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rem Zusammenhang als eine Bezeichnung für die in der Einsicht begriffene Identität von Auseinander- und Zusammengehen der Ansichten bekannt. Sofern er im vorliegenden Fragment im Zusammenhang einer heraklitischen Aussage über die Sonne auftaucht, bezeugt er, daß eine Unterscheidung von Themenbereichen wie „allgemeine Gegensatzlehre" einerseits und „Kosmologie" andererseits dem heraklitischen Denken ganz unangemessen bleiben muß. Die Aussagen über die Sonne gehören in den Kontext der heraklitischen Gedanken über das geregelte Verhältnis von Himmelsfeuer und unterer Welthälfte. Diese Gedanken sind nicht Bestandteil einer heraklitischen „Naturphilosophie" oder „Naturwissenschaft" und insofern von einer „allgemeinen Gegensatzlehre" zu unterscheiden, sondern haben ebenso wie alle Sprüche Heraklits über Gegensätze die gegensätzlichen Ansichten, nur diesmal in ihrer vorprädikativen Urgestalt als Weisen der Erschlossenheit des Befindlichkeitsspielraums, d. h. der Welt, zum Thema. Demgemäß kann von einer Verwendung des Wortes dike in einer „übertragenen" (nämlich auf „bloße Naturvorgänge" angewandten) Bedeutung im vorliegenden Spruch nicht die Rede sein117. Begreift man das Denken Heraklits in seiner Einheitlichkeit als Rechenschaftsablage der Einsicht über die lebensweltliche Ansicht, kann das Auftreten desselben Wortes in den beiden (vermeintlich) verschiedenartigen Zusammenhängen nicht überraschen. Daß Dike im vorliegenden Fragment außerdem, wie aus der Erwähnung der Erinyen, der ihr zugeordneten göttlichen „Polizei", hervorgeht, als Göttin charakterisiert wird, stellt ein eigenes Problem dar, für dessen Behandlung auf das folgende Kapitel verwiesen sei. 3. Die Mehrdeutigkeit der „kosmologischen" Grundbegriffe Die Ergebnisse der Interpretation von Fragment 31 erlauben eine Präzisierung des bisher gewonnenen ^owoi-Begriffs. Im Anschluß an Fragment 30 wurde kösmos als Titel für den bleibend erschlossenen Zustand der leibenden Lebendigkeit überhaupt, anders gesagt: für die Welt als Spielraum des Sich-Befindens verstanden. Dabei konnte die Grundbedeutung des Wortes, das sich von kosmein, „schmücken", „anordnen" herleitet, noch nicht genügend berücksichtigt werden. Inzwischen hat sich herausgestellt, in welchem 117

Von daher erweist sich der Vorwurf von E. Topitsdi in: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, S. 115 ff., mit seinem Gebrauch von Vokabeln wie δίκη erweise sich Heraklit als ein besonders ausgeprägter Vertreter jener soziomorphen Interpretation des Universums, in der nach Topitschs These das Wahngebilde „Metaphysik" u. a. seinen Ursprung hat, als gegenstandslos.

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Sinne der Erschlossenheitsspielraum den Charakter einer Anordnung oder Gliederung hat, und zwar einer solchen, deren Gelungenheit es erlaubt, sie als schmuckvoll, als im griechischen Sinne „schön" zu bezeichnen. Die solchermaßen gelingende Anordnung besteht in der Regelung des Verhältnisses der drei Elemente durch das Maß. Damit wird aber deutlich, daß in den heraklitischen Kosmosbegriff nicht nur die Weltauffassung der Einsicht eingeht, für die der kösmos die einzig-eine bleibende Gegenwart des Lebendigkeitsspielraums, und d.h.: immerlebendes Feuer ist. In den Bedeutungsgehalt dieses Begriffs geht zugleich die durch das Auseinandergehen der Ansichten bedingte Aufteilung des einen Welt-Spielraums in Elementen-erfüllte Weltgegenden ein. Diese Aufteilung des einen Spielraums würde auf dem Standpunkt der Ansicht gemäß der ersten Hälfte von Fragment 30 zu seinem völligen Zerfall führen, was bedeutete: Der köstnos-Begriff selbst könnte nicht mehr aufrechterhalten werden. Doch wie sich ebenfalls schon aus Fragment 30 ergab, bleiben audi die Ansichten an den einen Spielraum gebunden. Diese Gebundenheit bekundet sich „kosmologisch" in der Regelung des Verhältnisses der Elemente untereinander. Die Einsicht durchschaut und begreift diese Regelung. Demgemäß übernimmt Heraklit, auch wenn er die durch den Zerfall der Ansichten bedingte Aufteilung des Spielraums in Elementengegenden im kösmos-Begriff mitdenkt, keineswegs einfach die reine ansichtshafte Auffassung von der Welt in den kösmos-Begrifi. Er fängt vielmehr den Zerfall des Welt-Spielraums in ansichtshaft erschlossene Gegenden bzw. „Elemente" gewissermaßen auf, indem er, wie die Wahl des Wortes kösmos bekundet, das Verhältnis der Resultate des Zerfalls als gelingende Anordnung, d. h. als maßvoll geregelt begreift. Von daher klärt sich die zu Beginn dieser Interpretationsreihe erwähnte Doppeldeutigkeit des heraklitischen &chaft. 17 Der Spruch schien zwei Interpretationsmöglichkeiten zuzulassen, die beide in der Geschichte der Heraklitauslegung seit der Antike 18 vertreten wurden 19. Die einen sahen in ihm eine weitere und oft die letzte und entscheidende Bestimmung des „Weltgesetzes", das Heraklit andernorts als „Krieg", „Streit", „Harmonie" oder „Logos" kennzeichnet. So fand zuletzt Heidegger, hier in der Nachfolge Nietzsches20, in dem Spruch den Wink, Sein als Spiel zu denken 21 . Problematisch blieb an dieser Deutung, daß sich für diesen völlig aus dem Rahmen des frühen griechischen Denkens fallenden und auch für den griechischen Leser der Folgezeit ungewöhnlichen Gedanken kein weiterer Beleg bei Heraklit findet. Die anderen Interpreten stellten den Spruch in den Zusammenhang der heraklitischen Polemik gegen die Vielen und konnten sich dabei erstens darauf stützen, daß Heraklit deren Verhaltensart, wie eben gezeigt, mehrfach als kindisch charakterisiert und zweitens darauf, daß Heraklit mit der dieser Charakteristik zugrundeliegenden Geringschätzung des Kindes nicht aus dem Rahmen gemeingriechischer Denkweise fällt, wie er es bei Annahme der ersten Auslegungsmöglichkeit tun würde. Der Interpretationsansatz dieser Untersuchung erlaubt es, den zweiten Auslegungsansatz dem Verständnis des Spruches zugrundezulegen, ohne den ersten ganz aufzugeben. Zunächst muß der Interpret davon ausgehen — mag es auch schwer fallen, mit jener langen und bedeutenden philosophischen Tradition zu brechen, die wie für sein Publikum war es eine Selbstverständlichkeit, daß ein Kind schwach, töricht und verächtlich ist." Frankel erinnert außerdem an dieser Stelle zu Recht daran, „daß in der Kunst dieser Zeit Kinder als verkleinerte Erwachsene dargestellt werden. Die spezifisch positiven Werte des Kindes sind erst viel später entdeckt worden." 17 (B 52) Αιών παις έστι παίζων, πεσσεΰων· παιδός ή βασιλτμη. 18 Vgl. die bei R. Walzer, Eraclito, S. 89 f., zu Β 52 zusammengestellten Belege. 19 Vgl. den Überblick bei Zeller, S. 807 ff. 20 Vgl. F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Werke Bd. 3 (Ausgabe Schledita) S. 374: „Die Welt ist das Spiel des Zeus oder, physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst, . . u n d S. 376: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören ohne jede moralische Zurechnung in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld — und dieses Spiel spielt der Äon mit sich." 21 Vgl. Der Satz vom Grund, S. 186 ff., außerdem Nietzsche Bd. 1, S. 333.

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schon bei Heraklit „Spiel als Weltsymbol" 22 vorgedacht findet —, daß nach allem eben über die Überlieferungslage Ausgeführten die zweite Interpretation den Vorzug verdient. In dieser Interpretation liegt aber mehr, als man bisher sehen konnte: Wenn erstens die Selbstunterscheidung der Einsicht von der Denk- und Verhaltensart der Vielen der leitende Gedanke Heraklits ist und wenn zweitens die heraklitischen Gegensätze nichts anderes als die Ansichten eben dieser Vielen sind, d. h. aber das vorphilosophische Weltverhalten ineins mit der in diesem Verhalten zur Erscheinung kommenden Welt das Thema des Heraklit ist, dann enthält der Spruch als Kritik der Einsicht am ansichtshaft geführten Leben zugleich eine Aussage über so etwas wie ein „Weltgesetz", nämlich über die Verfassung der Lebenswelt. Diesen Zusammenhang bestätigt der Wortlaut des Spruches auf überraschende Weise: aioti bezeichnet genau das, was Gegenstand der Einsicht ist: das alle einzelnen Weilen überdauernde außerphilosophische Menschenleben im ganzen mit der darin zur Erscheinung kommenden Welt. Die schwebende Bedeutung des Wortes, dergemäß es bald mit „Lebenszeit" , bald mit „Weltzeit" übersetzt wurde, hat immer gewisse Schwierigkeiten gemacht23. Der Begriff der Lebenswelt, wie er hier eingeführt wurde, läßt deutlich werden, daß sich die mit diesen Übersetzungsmöglichkeiten bezeichnete Alternative nicht stellt. Das vorphilosophische, ansichtshaft geführte Leben ist durch die Einheit von Sich-Zeigen und Vernehmen, und in seiner vorprädikativen Grundgestalt sogar durch die von Sich-Zeigendem und Vernehmendem gekennzeichnet; d.h. der Vollzug dieses Lebens ist ohne das jeweils in Situationen Erscheinende nicht zu denken24. Aiön bezeichnet im vorliegenden Spruch nicht einfach die Zeit oder gar die Ewigkeit 25, sondern es ist der Titel für das so verfaßte vorphilosophische Leben, wie es als ganzes erstmals in den Augen der sich davon distanzierenden Einsicht vor den Blick tritt, — als ganzes, d. h. aber: in seiner zeitlichen Erstreckung über den für dieses Leben individell und sozial konstitutiven Wechsel der Weilen hinweg. Dieselbe Erstreckung hatte Heraklit schon in den Sprüchen über die Todesvergessenheit bzw. Lebensverfallenheit im Blick, So der charakteristische Titel eines Werkes von E. Fink, Stuttgart 1966, der den (vermeintlich heraklitischen) Spielbegriii in den Mittelpunkt einer neuen, durdi Gedanken Nietzsches und Heideggers angeregten, Kosmologie stellt. 2 3 Vgl. neben Zeller Kirk S. X I I I , außerdem zur Entwicklung des Begriffs A. J . Festugifere, Le sense philosophique du mot αΙών. 2 4 Ähnlich Heidegger, Nietzsche Bd. 1, S. 334: „Das Wort (seil.: αΙών) läßt sich kaum sachgerecht übersetzen. Es meint das Ganze von Welt, aber zugleich als Zeit und durch sie auf unser „Leben" bezogen, meint den Lebensgang selbst." 25 Vgl. Frankel S. 447, Fußn. 55 und Kirk S. X I I I . 22

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wenn er etwa darauf hinwies, daß das beständig sich regenerierende Mensenleben sich in den Augen der Einsicht als immerwährende Erneuerung des Sterbens darstellt. Heraklit nennt in dem Spruch über den spielenden Knaben aber nicht nur das immerwährende {αϊόη von ae'i) ansichtshaft geführte Leben im ganzen unter dem Titel aiott, sondern er hat vermutlich zugleich auch den Wechsel der Weilen im Blick, der diese Dauer ausfüllt: Die jeweiligen Zustände sind ja nichts anderes als die vorprädikativen Urgestalten strittiger Ansichten. Man darf vermuten, daß das Brettspiel des Knaben, an das Heraklit bei seinem Spruch dachte, agonalen Charakter hatte und dadurch geeignet war, im Gleichnis den Streit der Ansichten darzustellen. Dieser Streit ist allerdings ein kindischer Streit, nicht deswegen, weil er vermeidbar wäre, sondern weil die, die ihn austragen, nicht wissen, was sie tun: Sie vollziehen ihre jeweilige Ansicht im Gegenzug gegen die dagegenstehende Ansicht, so wie im Gleichnis der Knabe jeweils seinen Brettstein setzt; doch sie durchschauen das Gesetz, dem sie im Ansichtsvollzug unterworfen sind, ebensowenig, wie der brettspielende Knabe über die Regel Rechenschaft abzulegen vermag, nach der er bei seinem Spiel unwillkürlich verfährt26; das Kind geht wie das Tier im jeweiligen Augenblick auf. Darum kann Heraklit den Spruch mit der Feststellung beschließen, daß nicht derjenige die Herrschaft jenes Gesetzes bzw. der Regel im Spiel ausübt, dem sie aufgrund seiner überlegenen und reifen Einsicht zustünde, sondern — ein Kind. Der Gedanke, dem Heraklit in der Kritik an den Ephesern eine konkrete politische Gestalt gegeben hatte, wiederholt sich hier also in seiner allgemeinsten, nämlich das vorphilosophische Leben im ganzen treffenden Form. Es sollte geklärt werden, daß die Verhältnisse zwischen Mensch und Affen und zwischen Erwachsenem und Kind vergleichsweise das Verhältnis zwischen Wenigen und Vielen verdeutlichen. Erst aufgrund dieser Klärung läßt sich die Frage beantworten, mit welchem Recht Heraklit überhaupt die zu Beginn des Kapitels genannte Proportion aufstellt, dergemäß sich Gott zum schönsten, weisesten Menschen wie dieser Mensch zu Affe oder Kind verhält. Steht „Mensch" in dieser Proportion für „Einsichtiger" und „Affe" oder „Kind" für die „Vielen", so sind damit Gott und Einsichtiger einerseits und Menschen überhaupt und Menschen qua Viele andererseits parallelisiert. Diese letztere Parallelisierung aber ist der Punkt, an den Heraklit bei der Aufstellung der Proportion zu Recht anknüpfen darf; denn, wie sich zeigte, bezeichnet der Titel „die Vielen" nicht eine besondere oder gar absonderliche 26 So ähnlich schon Snell S. 145, Fußn. 2.

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Gruppe innerhalb der Menschheit, sondern vielmehr den Menschen überhaupt in einer bestimmten Hinsicht, sofern er nämlich sein Leben vor- oder außerphilosophisch ansichtshaft führt. Ähnlich wie sich nun der Mensch als (zeitweilig und annähernd) einsichtiger von den ansichtshaft ihr Leben führenden Menschen überhaupt unterscheidet, unterscheidet sich auch Gott (bzw. die Götter) von den Menschen überhaupt. Indem Heraklit sich die Möglichkeit der Parallelisierbarkeit dieser beiden Unterscheidungen, die durch die Identität des einen in beiden auftretenden Gliedes „Mensch" gegeben ist, zunutze macht und zufolgedessen die genannte Proportion aufstellt, fällt er bereits gewisse schwerwiegende Vorentscheidungen. Diese liegen sowohl in der Zuordnung der beiden zueinander ins Verhältnis gesetzten Verhältnisse überhaupt, als auch in der mittelbar damit vollzogenen Parallelisierung von Gott und Einsichtigem. Was den ersten Gedanken anlangt, so liegt darin zunächst, daß Heraklit das vorphilosophisch gegebene Verhältnis von Mensch und Gott philosophisch anerkennt, d.h. eine Existenz von Gott oder Göttern nicht leugnet. Indem Heraklit aber jenes vorphilosophisch gegebene Verhältnis allein in der Perspektive des vom philosophischen Denken allererst aufgestellten Verhältnisses von Einsicht und Ansicht aufnimmt, übt er zugleich die entschiedenste Kritik an dem vorphilosophischen Selbstverständnis des Menschen hinsichtlich seines Verhältnisses zu Gott oder Göttern; er klärt auf, was es mit diesem Verhältnis in Wahrheit auf sich hat. Dieses Verfahren Heraklits hat seine Parallele darin, daß er das seinen Zeitgenossen vorphilosophisch bekannte Verhältnis zwischen den Edlen, die ihr Leben im Kampfe wagen, und den „viehisch" lebenden Vielen aufnimmt, um es als ein Verhältnis zwischen einsichtsgeleiteter und ansichtshafter Lebensführung zu interpretieren 27 . Ebenso knüpft Heraklit an die zunächst vorphilosophisch, d. h. aber: selbst ansichtshaft vorgegebene Überzeugung der Menschen von einem Verhältnis ihrer selbst zu einem überlegenen Lebendigen namens „Gott" oder „Götter" an und bestimmt dann dieses Verhältnis von dem Grundverhältnis EinsichtAnsicht her neu. In den Zusammenhang dieser kritischen Anknüpfung ist eine Reihe von bekannten Fragmenten zu stellen, von denen das Fragment 15 (Dionysos und Hades sind derselbe) schon interpretiert wurde 28 . Es handelt sich um Texte über Reinigungsbräuche 29 und Mysterien 30 , über die Behandlung von 27 Vgl. hier S. 236 ff. 28 Vgl. hier S. 229 ff. 29 Β 5, Β 68, Β 69.

30 Β14, Β 69.

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Leichen31, über die delphische Sibylle32 und das dortige Orakel 33 . Diese Texte sollen im Rahmen dieser Untersuchung, die keine religionsgeschichtliche Absicht hat, nicht näher erörtert werden. Es sei aber folgender Hinweis gestattet: Auffälligerweise hat man diese Fragmente in der Heraklit-Interpretation für zwei entgegengesetzte Auslegungstendenzen in Anspruch nehmen können 34 . Die einen sahen in ihnen Zeugnisse dafür, daß Heraklit die überkommene Religion radikal in Frage gestellt habe, die anderen umgekehrt dafür, daß er sein Denken nur als eine Bestätigung und Artikulation der religiösen Überlieferung verstanden habe. Dieser doppelte Eindruck konnte entstehen, weil Heraklits Stellungnahme zur überkommenen Religion tatsächlich nicht eindeutig 35 als Ablehnung oder Übernahme zu charakterisieren ist. Sein Verhältnis dazu ist vielmehr in der Konsequenz seines Denkansatzes bei der Selbstunterscheidung der Einsicht von der Ansicht das der kritischen Zurückführung der Überlieferung auf ihre Wahrheit. Daß dies Heraklits Tendenz war, ging bereits unzweideutig aus dem Spruch über Hades und Dionysos hervor. Die gleiche Tendenz ist in dem Spruch36 über die Redeweise Apolls im delphischen Orakel erkennbar: „ E r s p r i c h t n i c h t a u s u n d e r v e r s t e c k t n i c h t s . . . " — erster Schritt: Kritik überkommener Mißverständnisse —, „ s o n d e r n e r g i b t W i n k e " — zweiter Schritt: Aufklärung über die Wahrheit. Im gleichen Stil etwa Fragment 5, in dessen Schlußsatz Heraklit unmißverständlich darauf hinweist, daß die Menschen noch nicht begriffen haben, „ w a s G ö t t e r u n d H e r o e n eigentlich sind"37. B. Göttliche und menschliche Einsicht

Indem Heraklit die Verhältnisse von einsichtsvoll und ansichtshaft Lebenden einerseits und von Gott (Göttern) und Menschen andererseits untereinander ins Verhältnis setzt, fällt er zugleich eine Reihe von Vorentscheidungen durch die mittelbar damit vollzogene Parallelisierung von Gott und Einsich31 Β 96.

32 Β 92. 33 Β 93. 34 Vgl. den Überblick bei Zeller S. 915 ff. Als rationalistischen Religionskritiker stellt neuerdings auch Dodds, Die Griechen und das Irrationale, S. 94 f., Heraklit dar. 35 Daher hat schon Merlan in seinem gleichnamigen Aufsatz, gestützt auf die Fragmente 15, 14, 5 und 93, die These von der „ambiguity in Heraclitus" vertreten.

36 Β 93: "Ό fivat, οΰ τό μαντεΐόν έστι τό έν Δελφοίς, οϋτε λέγει οΰτε κρύπτει άλλά σημαίνει. 37 . . . οΰ τι γινώσκων θεούς ούδ'ήρωας οΐτινές είσι.

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tigern. Er hält es 1. überhaupt für möglich, über Gott oder Götter irgendwelche philosophischen Aussagen zu machen, und zwar auf dem Wege und zugleich in den Grenzen einer analogia proportionalitatis. Mit der Analogie von Gott und Einsichtigem legt er 2. den leitenden Gesichtspunkt fest, unter dem der Vergleich zwischen Gott und einer ausgezeichneten Gestalt des Menschseins zu ziehen ist: Der Einsichtige ist, was er ist, im Grunde durch seine Erkenntnisart; denn diese bestimmt auch dann, wenn er einsichtsvoll handelt, sein Verhalten und verschafft ihm die Überlegenheit (sophön) gegenüber dem ansichtshaft geführten Leben. In der Perspektive des Vergleichs zwischen dem so verstandenen Einsichtigen und Gott muß die Überlegenheit Gottes gegenüber dem Menschen ebenfalls zunächst als ein Mehr an Erkenntnis in Erscheinung treten. Heraklit fällt eine philosophiegeschichtlich folgenschwere Entscheidung über den Rang des philosophisch Einsichtigen: Die Einsicht versetzt ihn in einen gott-ähnlichen Status, wie auch immer dieser näherhin bestimmt werden mag 38 . Durch die folgenden Interpretationen wird sich konkretisieren, welcher Weg durch diese Vorentscheidungen für die Theologie Heraklits vorgezeichnet ist. Nach dem Gesagten liegt der geeignetste Ansatzpunkt für ihre Erörterung in der Ähnlichkeit, die der Einsichtige und Gott durch ihre überlegene Erkenntnisart aufweisen. Erst in Abhebung von dieser Ähnlichkeit läßt sich dann bestimmen, wodurch sich Gott von allen Menschen, die Einsichtigen eingeschlossen, unterscheidet. Die Ähnlichkeit wird augenfällig in einem bereits früher erörterten Spruch39, in dem Heraklit die Erkenntnisart Gottes bestimmt. An ihn sei daher zunächst erinnert: Für G o t t ist alles s c h ö n , gut und g e r e c h t ; die Menschen aber f a s s e n das eine als u n g e r e c h t a u f , das and e r e als gerecht. Mit „die Menschen" bezeichnet Heraklit im zweiten Satz offenbar sowohl alle Menschen als Nicht-Götter — das wird aus der Entgegensetzung zum ersten Satz deutlich — als auch alle Menschen als die Vielen — das liegt in ihrer Kennzeichnung als solche, denen die Identität von Recht und Unrecht zerfällt. In der Unterscheidung zu den so charakterisierten Menschen erscheint Gott nicht anders als der Einsichtige: Er erfaßt die Identität von 38

Um nur an die klassischen Stellen zu erinnern: Piaton, Theaitetos 176 b 1, wird ais Aufgabe des Philosophen die όμοί,ωσις θεω κατά τό δυνατόν benennen (vgl. Timaios 90 c und d), und Aristoteles wird in der Nikomachischen Ethik 1177 b 30 f. die Philosophie als ein θεΐόν τι preisen, das den Menschen zum άθανατίζειν (allerdings ebenfalls mit der Einschränkung έφ'δσον ένδέχεται.) befähigt (vgl. Metaphysik 938 a). 39 Vgl. hier S. 197 f.

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Recht und Unrecht (Streit), welcher Identität Heraklit, wie bekannt, den Titel des Rechts gibt. Auf eine Erörterung der parallel dazu auftretenden Titel „schön" und „gut" muß verzichtet werden, da der Spruch für ihre Auslegung keine Anhaltspunkte bietet. Außerdem scheint der Verdacht von Wilamowitz nicht unbegründet40, daß der überlieferte Wortlaut des Spruches nicht ganz der originale ist, ein Bedenken, das sich gegen den unvollkommenen Parallelismus der beiden Sätze richtet; zu dieser Unvollkommenheit gehört das Fehlen von „schön", „gut" oder einer äquivalenten Wendung im zweiten Satz. Das läßt den Verdacht zu, daß „schön und gut" oder zumindest das „gut" 41 im ersten Satz als eine von Hippolytos hinzugefügte Floskel zu betrachten sind. Die Fähigkeit zur Zusammensdhau, die auf der Einsicht in die Identität beruht, verschafft Gott und den Einsichtigen gleichermaßen eine überlegene Erkenntnisart, die Heraklit mit dem griechischen Wort für ein herausragendes, auffallendes Wissen als sophon bezeichnet. Diese Bezeichnung tauchte bereits in zwei früher erörterten Sprüchen auf 4 2 , die hier noch einmal angeführt seien: F ü r d i e , d i e n i c h t auf m i c h , s o n d e r n auf d e n L o g o s h ö r e n , i s t es w e i s e , d a r i n ü b e r e i n z u s t i m m e n , daß alles eins ist. Von A l l e n , d e r e n Logoi ich g e h ö r t habe, g e l a n g t kein e r d a z u , z u e r k e n n e n , d a ß d a s W e i s l e v o n A l l e m (oder: „ A l l e n " ) a b g e s o n d e r t ist. In der Heraklit-Interpretation gibt es eine Kontroverse darüber, ob das im zweiten Spruch genannte Weise sich auf den Einsichtigen oder auf Gott bezieht 43 . Diese Kontroverse ist unentscheidbar, aber nicht deswegen, weil weitere Zeugnisse fehlen, sondern deshalb, weil „das Weise", d . h . das durch die Selbstunterscheidung von jeglicher Ansicht definierte und ihr darum schlechthin überlegene Wissen, aufgrund des von Heraklit gewählten Ansatzes bei der dargestellten Proportion sowohl dem Einsichtigen wie Gott zugesprochen werden kann. Die Aussage, dieses Wissen sei etwas von jeglicher ansichtshaften Erfahrung, was zugleich heißt: von allem ansichtshaft Erfahrbaren, Abgesondertes {kechorismenon), trifft zu unabhängig davon, ob Gott oder der Einsichtige der Vollzieher dieses Wissens ist. Nicht anders steht es to Euripides Herakles (Nachdruck der Ausgabe 1889 Wiss. Budiges., Darmstadt 1969) 2. Bd., S. 68. « So Marcovich S. 481. « Vgl. hier S. 175 ff. und S. 186. 43 Diese Kontroverse bezieht sich ebenso auf das σοφόν in Β 32 und Β 41. Einen vollständigen Überblick über diese Diskussion gibt Kirk S. 385 ff.

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mit der gleichen Kontroverse, die der folgende Spruch in der HeraklitForsdiung ausgelöst hat: E i n e s i s t das W e i s e : siich auf d i e E r k e n n t n i s v e r stehen, wie alles durch alles hindurch gesteuert wird.44 E s ist vorauszuschicken, daß das erste W o r t des Nebensatzes u n d sein Prädikat auf jeden Fall korrupt überliefert sind. F ü r die Beurteilung der verschiedenen Heilungsversuche sei auf Kirk verwiesen 4 5 . Hier sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß sich zwei Gruppen solcher Versuche unterscheiden lassen. E n t w e d e r man gibt dem Verb die Form 3. Sgl. act. und übernimmt das in zwei Handschriften überlieferte δτέη, wodurch der Nebensatz zu einem Relativsatz folgenden Inhalts wird: (die Erkenntnis), die alles durch alles hindurch steuert 4 6 , oder man wählt, wie in der oben angeführten "Übersetzung, f ü r das Verb eine Passivform 4 7 u n d f ü h r t das einleitende W o r t auf ein indirektes Fragepronomen 48 zurück. I m ersten Fall ist γνώμην äußeres O b j e k t zu έπίστασθαι; γνώμη erscheint d a n n als ein Titel f ü r die weltlenkende Macht selbst. I m zweiten Fall ist γνώμην inneres O b j e k t 4 9 ; γνώμην έπίστασθαι besagt dann ungefähr so viel wie: „die Erkenntnis erkennen". Die erste Möglichkeit scheidet nicht nur deswegen aus, weil δτέη auf keinen Fall zu halten ist, sondern vor allem deshalb, weil „die Gnome" als Titel f ü r ein Prinzip der W e l d e n k u n g ganz und gar unheraklitisdi u n d viel eher stoisch klingt und außerdem der Gebrauch eines solchen Wortes in der frühen griechischen Literatur die Nennung des Trägers der damit bezeichneten Fähigkeit verlangen w ü r d e 5 0 . Abgesehen davon sprechen die Stellen bei Plutarch und im Zeushymnus des Kleanthes, die offenbar ein Echo auf den vorliegenden Heraklit-Spruch darstellen, dafür, daß die Verfasser bei Heraklit am Anfang des Nebensatzes ein „Wie" gelesen haben (Plutarch: 8 πω ς si, Kleanthes: γνώμης η . . . πάντα κυβερνάς 52).

Die Überlieferung gibt Gründe an die Hand, die Aussage des Spruches sowohl auf den Einsichtigen wie auf Gott zu beziehen. Für das erstere spricht 44

(B 41) "Εν τό σοφόν έπίστασθαι γνώμην, δκη κυβερνάται πάντα δια πάντων. « S. 386 ff. So Diels: δτέη έκυβέρνησε, Snell: ότέη κυβερνφ. Deichgräber a. a. Ο., S. 516, setzt statt der unbekannten Form δτέη mit Bechtel, Griechische Dialekte I I I , S. 171, ήτις und mit Diels έκυβέρνησε. 47 κυβερναται. 48 f| Burnet. Gigon S. 144 hält audi όπηι und δκηι für möglich. Am einleuchtendsten erscheint Kirks 8κη; aber δκη und κυβερναται stehen nach Marcovich S. 450 paläographisch auf schwachen Füßen. 49 So verstand als erster W. A. Heidel in: Proceedings American Academy of Arts and Sciences 48, 1913, S. 700. 50 Vgl. Kirk S. 388. Aus diesem Grunde scheidet audi Bröckers origineller Vorschlag, S. 30, aus: ότέο κυβερνησαι „dessen Sadie es ist zu . . 51 De Isid. 76, 382 B. 52 S V F I , Nr. 537 Vers 31.

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der Umstand, daß Diogenes Laertius den Spruch unmittelbar im Ansdhluß an das bereits erwähnte Urteil Heraklits über die Polymathie („sie lehrt nicht Geist haben") zitiert 53 . Das könnte darauf hindeuten, daß Heraklit selbst „das eine Weise" vom Vielwissen unterschieden hat. Ein solcher Zusammenhang wäre jedenfalls nach allem bisher Gesagten gut heraklitisch. Er würde nur bestätigen, daß das Weise, wie bereits bekannt, von Allem abgesondert ist. Der Inhalt jener überragenden Erkenntnis, die Heraklit als „das eine Weise" bezeichnet, ist „die Erkenntnis, wie alles durch alles hindurch gesteuert wird". Als das Steuernde, Lenkende wurde bereits das Gesamtfeuer eingeführt. Dieses wiederum stellt Heraklit, sofern er seine Fähigkeit maßvoll zu steuern (pyr phronimon) hervorheben will, als den Blitz, keraunös, vor 5 4 . Wenn Heraklit den keraunös, das traditionelle Attribut des Zeus, nennt, so darf man, wie Gigon wohl mit Recht vermutet 55 , darin einen Hinweis auf die lenkende Gottheit selbst erblicken. Dieser Zusammenhang wird dadurch bestätigt, daß erstens gnöme kein zufälliger Titel für die auf die Steuerung von Allem bezogene Erkenntnis^ art ist und daß zweitens Heraklit an anderer Stelle Gott ausdrücklich die gnome als charakteristische Eigenschaft zuschreibt. Zunächst zum ersten: Auf den inneren Zusammenhang von gnome und Steuerungsvermögen im heraklitischen Sinne hat W. Jaeger aufmerksam gemacht 56 . Wenn gnöme im Griechischen schon früh soviel wie „Norm", „Maßstab" bedeutet und wenn, wie Snell sagt 57 , darin immer der Bezug aufs Praktische mitgedacht war, weshalb das Wort später bekanntlich Sentenz und dgl. bedeuten konnte, so deswegen, weil die Einsicht, die das Wort gnöme bezeichnet, früh als „Wissen um das Maß" verstanden wurde 5 8 . Unter der Fähigkeit zu steuern ist aber bei Heraklit, wie bereits dargelegt, nichts anderes als das Vermögen zu verstehen, in der ständigen Erneuerung des Ausgleichs zwischen Übermaß und Untermaß der gegensätzlichen Weilen das konstante Maß einzuhalten 59 . Die für diese beständige Erneuerung erforderlichen aus Einsicht erwachsenden Erkenntnisse schreibt Heraklit nun ausdrücklich im folgenden Spruch der Gottheit zu: D e n n m e n s c h l i c h e W e s e n s v e r f a s s u n g hat keine Erk e n n t n i s s e , wohl aber göttliche.60 53 Vgl. hier S. 188 f. 54 Vgl. hier S. 414. 55 S. 145 f. 56 S. 276 ff. 57 Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens, S. 33. 58 Vgl. W. Jaeger ebda. 59 Vgl. hier S. 413 f. 60 (B 78) Ή θ ο ς γάρ άνθρώπειον μέν οΰκ εχει γνώμας, θείον δέ ϊχει.

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Der Spruch scheint sich von den zuletzt erörterten dadurch zu unterscheiden, daß Heraklit hier die göttliche Erkenntnisart von der menschlichen überhaupt abgrenzt. Die bisher in den Vordergrund gestellte Ähnlichkeit zwischen der Erkenntnisart der Gottheit und des einsichtigen Menschen scheint Heraklit hier aus dem Blick verloren zu haben. Es ist aber zu berücksichtigen, daß Heraklit nicht einfach von „allen Menschen" spricht, wozu dann auch die Einsichtigen gerechnet werden könnten, sondern vom anthropeion ethos. Was aber ethos bei Heraklit heißt, läßt sich mit Hilfe eines anderen Spruches aufklären, der so lautet: S e i n e W e s e n s a r t w i r d d e m M e n s c h e n z u m D a i m on. 61 Daimon bezeichnet im Griechischen zunächst einen Gott, der im Menschenleben — Glück oder Unglück zuteilend — erscheint62. Grammatisch ist der Spruch doppeldeutig: Sowohl ethos wie daimon könnten Subjekt des Satzes sein. Unter den bedeutenden Interpreten hat, wenn ich ihn richtig verstehe, nur Heidegger die Auffassung vertreten, daimon sei Subjekt des Spruches 63. Der Spruch besagt dann: Das Erscheinen des Gottes, der Daimon, ist der dem Menschen zugewiesene und angemessene Aufenthaltsort (ursprüngliche Bedeutung von ethos) M. Doch abgesehen davon, daß schon sprachlich die größere Wahrscheinlichkeit dafür spricht, das am Anfang des Satzes stehende ethos auch als Subjekt anzusetzen, lassen eigentlich alle anderen Aussagen Heraklits über die menschliche Lebensführung nur eine Deutung zu, wie sie der oben gegebenen und geläufigen Übersetzung zugrundeliegt. Der ganze Nachdruck aller Aussagen Heraklits über menschliche Lebensführung liegt ja, wie sich vielfältig zeigte, darauf, daß der Mensch sich aus der Herrschaft der Todesvergessenheit, des thymös, der seine Seele verkauft, d. h. aus der Befangenheit in der Lebensart der polloi befreien kann. In diesem Spruch ebenso wie überall bei Heraklit ist die Pointe in der Unterscheidung der einsichtsvollen Denk- und Verhaltensart von der vorphilosophischen zu suchen. Demgemäß besagt der Spruch: Über den Daimon, das bisher einem erscheinenden Gott zugeschriebene Gelingen oder Nichtgeiingen des Lebens, entscheidet die bleibende Verfassung, in die sich der Mensch selbst bringt, 61

(B 119) Ήθος άνϋρώπω δαίμων. w Vgl. Marcovidi S. 502 f. Die o. a. Bedeutung von δαίμων scheint sidi erst allmählich zu der unpersönlichen Bedeutung „Lebensgeschick, Glück" gewandelt zu haben; vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen bei Dodds, Die Griechen und das Irrationale, S. 172 f. ö Vgl. Brief über den „Humanismus", S. 106 ff. 64 Snell S. 138: „'Ηθος ist ursprünglich der gewohnte Aufenthaltsort für Menschen und Tiere, das Bewohnte und Gewohnte."

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der Aufenthaltsort {ethos), den der Mensch wählt65 — und nichts anderes, wie nämlich die Vielen meinen, die im unbegriffenen Umschlagen der Lebensumstände ineinander umgetrieben und hin- und hergeworfen werden und denen daher Glück und Unglück immer wieder als jähe und undurchschaubare Fügungen begegnen. Sie wissen ζ. B. nicht, daß größerem Todesgeschick ein entsprechend größeres Schicksal beschieden ist (Fragment 25). Heraklit stellt sich in der Diskussion seiner Zeit auf die Seite derer, die dem Menschen selbst die Verantwortung für sein Lebensgeschick zuweisen66. Gerade auch im Hinblick auf diese Diskussion ist die traditionelle Übersetzung: „Seine Eigenart wird dem Menschen zum Schicksal" nicht so ungriechisch, wie Heidegger meint. Versteht man hier unter „Eigenart" die Weise der Lebensführung, die der Mensch an den Tag legt, je nachdem es ihm gelingt oder nicht gelingt, das Verhältnis als Verhältnis zu vollziehen (logon didonai), d. h. die Einsicht in die gegenspännige Zusammenfügung, bzw. die Identität, aufzubringen, so enthält der Spruch gerade den Hinweis auf die Möglichkeit des Menschen, sich in dem so verstandenen logon didonai von der Herrschaft eines datmon über sein Leben in gewissen Grenzen zu befreien. Diese Auffassung vom menschlichen ethos wirft aber ein neues Licht auf den Spruch, dessen Erörterung oben unterbrochen wurde: „Menschliche Wesensart {ethos) hat keine Erkenntnisse {gnomai), wohl aber göttliche". Die hier genannte bleibende menschliche Lebensverfassung ist demnach die, in der sich der Mensch überhaupt in der Durchschnittlichkeit des vorphilosophisdien Lebens befindet, in der er sich aber nicht immer und überall zu befinden brauchte. Gemeint sind die Menschen als die Vielen, die „das eine als ungerecht, das andere als gerecht" „auffassen". Audi in diesem Spruch unterscheidet Heraklit also die göttliche Erkenntnisart noch nicht in dem umfassenden Sinne von der menschlichen, daß er in diese auch die der Einsichtigen miteinbezöge. Auch hier kann das über die göttliche Wesensverfassung Gesagte, auch wenn Heraklit dies nicht eigens ausspricht, ebensogut von der des einsichtigen Menschen gelten; auch er echei gnömas (hat Erkenntnisse). Auf der anderen Seite ist nun zu berücksichtigen, daß die von Heraklit aufgestellte analogia proportionalitatis eine völlige Gleichsetzung von göttlicher und einsichtiger Erkenntnisart nicht zuläßt. Gerade auf dem Hintergrund ihrer Ähnlichkeit muß nun umso deutlicher die unaufhebbare Geschiedenheit aller menschlichen Erkenntnis, der des „Weisesten" eingeschlossen, Im gleichen Sinne (der Akzent des Spruches liegt auf der Entscheidung) interpretieren auch Boeder S. 105 und Dodds, a. a. O., S. 94 u. S. 29.