Hellenistische Demokratie: Politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen 9783515090636, 3515090630

Die antike Demokratie ist bislang vor allem mit Bezug auf das klassische Griechenland untersucht worden. Diese Arbeit an

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Polecaj historie

Hellenistische Demokratie: Politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen
 9783515090636, 3515090630

Table of contents :
VORWORT
INHALT
EINLEITUNG
ERSTES KAPITEL: ATHEN
I. 1. DER ATHENER
I. 2. DIE POLITISCHEN INSTITUTIONEN DER POLIS
I. 3. DEMOKRATIE [...]
I. 4. POLITISCHE VERÄNDERUNGEN IM HELLENISTISCHEN ATHEN UNTER RÖMISCHER DOMINANZ
ZWEITES KAPITEL: KOS
II. 1. DER KOER
II. 2. DIE POLITISCHEN INSTITUTIONEN DER POLIS
II. 3. POLITISCHE PRAXIS IM HELLENISTISCHEN KOS
II. 4. DEMOKRATIE [...]
II. 5. POLITISCHE VERÄNDERUNGEN IM HELLENISTISCHEN KOS UNTER RÖMISCHER DOMINANZ
DRITTES KAPITEL: MILET
III. 1. DER MILESIER
III. 2. DIE POLITISCHEN INSTITUTIONEN DER POLIS
III. 3. POLITISCHE PRAXIS IM HELLENISTISCHEN MILET
III. 4. DEMOKRATIE [...]
III. 5. POLITISCHE VERÄNDERUNGEN IM HELLENISTISCHEN MILET UNTER RÖMISCHER DOMINANZ
VIERTES KAPITEL: RHODOS
IV. 1. DER RHODIER
IV. 2. DIE POLITISCHEN INSTITUTIONEN DER POLIS
IV. 3. POLITISCHE PRAXIS IM HELLENISTISCHEN RHODOS
IV. 4. DEMOKRATIE [...]
IV. 5. POLITISCHE VERÄNDERUNGEN IM HELLENISTISCHEN RHODOS UNTER RÖMISCHER DOMINANZ
IV. 6. STRABON XIV 2,5
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
QUELLENVERZEICHNIS
LITERATURVERZEICHNIS
QUELLENINDEX

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Volker Grieb Hellenistische Demokratie

HISTORIA Zeitschrift für Alte Geschichte Revue d’histoire ancienne Journal of Ancient History Rivista di storia antica –––––––––––––––––– EINZELSCHRIFTEN Herausgegeben von Kai Brodersen/Mannheim Mortimer Chambers/Los Angeles Martin Jehne/Dresden François Paschoud/Genève Aloys Winterling/Basel

HEFT 199

Volker Grieb

Hellenistische Demokratie Politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09063-6

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany

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Meinen Eltern und Pauline

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(vakat)

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VORWORT Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Hamburg im Sommersemester 2006 eingereichten Dissertation. Herzlichst danke ich Herrn Professor Dr. Jürgen Deininger (Hamburg), der die Arbeit von den anfänglichen Überlegungen bis zur Fertigstellung mit Wohlwollen und steter Unterstützung begleitete. Seine prägnanten Fragen regten stets ein abermaliges Betrachten von scheinbar klaren Sachverhalten an und ließen mich nie zu weit von den angestrebten Zielen abkommen. Ebenfalls danke ich Herrn Professor Dr. Helmut Halfmann (Hamburg), der nicht nur das Korreferat übernahm, sondern mich sowohl während der Promotion als auch in der vorangehenden Studienzeit in vielfältiger Weise unterstützte. In der abschließenden Phase der Promotion halfen mir zahlreiche Anregungen von Herrn Professor Dr. Burkhard Meißner (Hamburg), einzelne Überlegungen weiter zu präzisieren. Hierfür und für seine rege Anteilnahme in dieser Phase der Arbeit sei auch ihm herzlich gedankt. Einen besonderen Dank hätte ich zudem gerne noch persönlich an Herrn Professor Dr. Hans Lauter † (Marburg) gerichtet, der mir während mehrerer Ausgrabungskampagnen im Herzen der Megavla povli" Einblicke – mitunter ganz praktischer Art – in die Zusammenhänge der spätklassischen und hellenistischen Kultur weit über die gängigen Grenzen der Klassischen Archäologie hinaus gewährte, ohne die einzelne Ergebnisse dieser Arbeit nicht möglich gewesen wären. Der Freien und Hansestadt Hamburg danke ich für die Gewährung eines zweijährigen Graduiertenstipendiums. Ein dreimonatiger Aufenthalt in Athen wurde mir dankenswerterweise durch eine finanzielle Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes möglich. Dem Deutschen Archäologischen Institut in Athen, namentlich seinem Ersten Direktor Herrn Professor Dr. Wolf-Dietrich Niemeier, gebührt der Dank für eine herzliche Aufnahme und die dortigen hervorragenden Arbeitsbedingungen. Für wertvolle Hinweise, Ratschläge, Anregungen und Diskussionen, die sehr zum Abschluß der Promotion sowie der Bearbeitung dieser Thematik beitrugen, danke ich außerdem Frau Privatdozentin Dr. Martina Seifert (Bern), Herrn Dr. Rolf Hurschmann (Hamburg), Frau Irna Mittag, M.A. (München), Frau Paraskevi Gatsioufa, Herrn Dr. Michael Alpers, Herrn Dr. Clemens Koehn (Hamburg), Herrn Dr. Roland Oetjen (Heidelberg) sowie den Herrn Professoren Dr. Christoph Schäfer und Dr. Joachim Molthagen (Hamburg). Keine Zeit verblieb bedauerlicherweise für eine intensivere Diskussion der behandelten Quellen mit Herrn Professor Dr. Peter Herrmann † (Hamburg). Den Herausgebern der „Historia Einzelschriften“, namentlich Herrn Professor Dr. Kai Brodersen (Mannheim), danke ich schließlich für die Aufnahme dieser Arbeit in die vorliegende Reihe.

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Vorwort

Daß die vielfältige Unterstützung, die ich während meiner Studien- und Promotionszeit von meinen Eltern erhielt, die vorliegende Arbeit erst ermöglichte, bedarf keiner näheren Erläuterung. Ihnen und meiner Nichte sei diese Arbeit gewidmet. Hamburg, März 2007

INHALT Einleitung ............................................................................................................. 13

ERSTES KAPITEL: ATHEN I. 1. Der dh`mo" der Athener ............................................................................ 27 I. 2. Die politischen Institutionen der Polis ................................................... 36 2.1. Die lokale politische Organisation ................................................. 36 Die dh`moi (36) – Die fulaiv und trittuve" (40)

2.2. Die politische Organisation der Gesamtpolis ................................ 42 Die ejkklhsiva (42) – Die boulhv (45) – Das dikasthvrion (47) – Der Areopag (48) – Beurteilung (50)

I. 3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva ................................................. 51 Athen nach dem Lamischen Krieg (51) – Das Ende der timokratischen Ordnung und die restituierte pavtrio" politeiva (56) – Athen unter Kassander und Demetrios von Phaleron (61) – Athen um 307/6 v.Chr. (68) – Außenpolitische Unabhängigkeit, innenpolitischer Konflikt und die ‚Tyrannis‘ des Lachares (73) – dhmokrativa und ojligarciva zwischen 294 und 287 v.Chr. (77) – Athens Befreiung 287 v.Chr. (83) – Athen zwischen 287 v.Chr. und dem Chremonideischen Krieg (85) – Das Bündnis mit Sparta und Ptolemaios (88) – Niederlage und Veränderungen (89) – Athen nach der Mitte der 250er Jahre (95) – Athen um und nach 229 v.Chr. (99) – Einrichtung des Dh`mo"-Kultes (107) – Neutralität und diplomatische Aktivität bis 200 v.Chr. (110) – Athen um 200 v.Chr. (113) – Athen nach dem Zweiten Makedonischen Krieg (118)

I. 4. Politische Veränderungen im hellenistischen Athen unter römischer Dominanz ................................................................................................. 124 Athen nach 168 v.Chr. (124) – Von 146 v.Chr. bis zum ausgehenden 2. Jh. v.Chr. (127) – Gesellschaftspolitische Veränderungen nach 168 v.Chr: Fazit (132) – Athen zur Zeit von Mithradates und Sulla (133)

ZWEITES KAPITEL: KOS II. 1. Der da`mo" der Koer ................................................................................. 139 II. 2. Die politischen Institutionen der Polis ................................................... 147 2.1. Die lokale politische Organisation ................................................. 147 Die fulaiv (147) – Die da`moi (150)

2.2. Die politische Organisation der Gesamtpolis ................................ 153 Die ejkklhsiva (153) – Die boulav (157) – Die prostavtai (160) – Die stratagoiv (163) – Weitere Ämter und Gremien (164) – Fazit (165)

II. 3. Politische Praxis im hellenistischen Kos ................................................ 166

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Inhalt Repräsentanten und Repräsentation der Polis gegenüber auswärtigen Mächten (166) – Politische Gruppen und einflußreiche Koer innerhalb der Bürgerschaft (170) – Subskriptionen und der Verkauf von Priesterämtern (174)

II. 4. damokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva ................................................. 177 Die Verfassung nach der Befreiung durch Alexander den Großen (177) – Der außenpolitische Handlungsspielraum im ausgehenden 4. Jh. v.Chr. (180) – Kos in der 1. Hälfte des 3. Jhs. v.Chr. (182) – Die aujtonomiva bei Herondas und die damokrativa-Propaganda in Delphi (184) – Neutralität und Asyliestreben (186) – Außenpolitische Parteinahme und die Homopolitie mit Kalymna (188) – Kos zur Zeit des Dritten Makedonischen Krieges (192)

II. 5. Politische Veränderungen im hellenistischen Kos unter römischer Dominanz ................................................................................................. 193

DRITTES KAPITEL: MILET III. 1. Der dh`mo" der Milesier............................................................................ 199 III. 2. Die politischen Institutionen der Polis ................................................... 206 2.1. Die lokale politische Organisation ................................................. 206 Die dh`moi (206) – Die fulaiv (208)

2.2. Die politische Organisation der Gesamtpolis ................................ 209 Die ejkklhsiva und die Besetzung von Ämtern (210) – Die boulhv und die prutavnei" (213) – Die ejpistavtai (218) – Weitere Ämter und Gremien (220)

III. 3. Politische Praxis im hellenistischen Milet ............................................. 221 3.1. Kult und Politik ............................................................................... 221 3.2. Der dh`mo" von Milet und einflußreiche Bürger der Stadt ............. 225 Repräsentanten und Repräsentation der Polis gegenüber auswärtigen Mächten (225) – Milesier mit eigener auswärtiger Initiative (228) – Milesier am Königshof und die Lebenswerkehrung für Eirenias (230) – Politische Gruppen und einflußreiche Milesier innerhalb der Bürgerschaft (234)

III. 4. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva ................................................. 238 Die Wiederherstellung von dhmokrativa, aujtonomiva und ejleuqeriva 313/12 v.Chr. (238) – Die Tyrannis des Timarchos (243) – Die zweite Hälfte des 3. Jhs. v. Chr. (245) – Milet in der ersten Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. (250)

III. 5. Politische Veränderungen im hellenistischen Milet unter römischer Dominanz ................................................................................................. 256

VIERTES KAPITEL: RHODOS IV. 1. Der da`mo" der Rhodier ............................................................................ 263 Der da`mo" (263) – Die weitere Bevölkerung (266) – Das plh`qo" (267) – Vereine (270) – Bürgerschaft und Bevölkerung (272)

IV. 2. Die politischen Institutionen der Polis ................................................... 273 2.1. Die lokale politische Organisation ................................................. 273 Die fulaiv (273) – Die da`moi (275)

2.2. Die politische Organisation der Gesamtpolis ................................ 276 Die ejkklhsiva (276) – Die boulav (289) – Die prutavnei" (292) – Der nauvarco" (296) – Die weitere politische Organisation (299) – Bewertung (302)

Inhalt

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IV. 3. Politische Praxis im hellenistischen Rhodos .......................................... 304 3.1. Repräsentanten und Repräsentation des da`mo" gegenüber auswärtigen Mächten............................................................................ 304 Gesandte (304) – Richter (308) – Der nauvarco" (310)

3.2. Politische Gruppen innerhalb des da`mo" ....................................... 311 3.3. Die rhodische ‚Aristokratie‘ ........................................................... 316 IV. 4. damokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva ................................................. 320 Von Alexanders Tod bis zum beginnenden 3. Jh. v.Chr. (321) – Der Dritte Makedonische Krieg (327)

IV. 5. Politische Veränderungen im hellenistischen Rhodos unter römischer Dominanz ................................................................................................. 334 Der eingeschränkte außenpolitische Handlungsspielraum (334) – Der RomaKult (335) – Innenpolitische Veränderungen I: civitas und populus (337) – Institutionelle Veränderungen – (339) – Innenpolitische Veränderungen II: Die Entstehung einer ‚Aristokratie‘ (340)

IV. 6. Strabon XIV 2,5....................................................................................... 344

Zusammenfassung und Ausblick ...................................................................... 355 Quellenverzeichnis ............................................................................................ 379 Literaturverzeichnis ........................................................................................... 382 Quellenindex ...................................................................................................... 395

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(vakat)

EINLEITUNG „Maltraitées par les historiens, parce qu’elles jouent un rôle mineur dans l’histoire politique, les démocraties hellénistiques restent à redécouvrir“. So beschrieb Philippe Gauthier vor wenigen Jahren den Forschungsstand zur Demokratie in der hellenistischen Zeit1. Zwar wurde in der althistorischen Forschung bereits früh hervorgehoben, daß nach Alexander dem Großen in zahlreichen Gemeinwesen der damaligen Poliswelt eine demokratia als politische Organisationsform bestand und somit mehr noch als in der klassischen Zeit den demokratischformalen Rahmen für das politische Geschehen ausmachte2 – Georg Busolt spricht in dieser Hinsicht bereits am Beginn des 20. Jhs. von einer ‚koine der Verfassungen‘3 –, jedoch haben im Gegensatz zur vieldiskutierten klassischen Demokratie nur sehr wenige, vor allem kürzere Beiträge diejenige der nachfolgenden hellenistischen Zeit bis hin zur römischen Dominanz im östlichen Mittelmeerraum eingehender behandelt4. 1 GAUTHIER 1990, 99. Die von Gauthier angeführte ,mindere Rolle‘ der Demokratie innerhalb der politischen Geschichte der hellenistischen Zeit bedarf einer eigenen Bewertung, welche die nachfolgend aufzuzeigenden Wechselbeziehungen von polisinternen Strukturen und außenpolitischen Ereignissen berücksichtigt und daher methodisch anzuschließen ist. Vgl. dazu unten die Zusammenfassung. 2 JONES 1940, 157f.; QUASS 1979, 37–41; CROWTHER 1992, 15; O’N EIL 1995, 104–106. Vgl. J.-D. GAUGER, in: Kleines Lexikon des Hellenismus, hrsg. v. H. H. Schmitt, E. Vogt, Wiesbaden 1993, 125f., s.v. Demokratie. 3 BUSOLT/SWOBODA 1920, 439f.: „(...) so erwuchs auch ein stetig sich vergrößernder Bestand von gemeingriechischem Privatrecht und, trotz der Fortdauer lokaler Eigenheiten, eine von demokratischen, vielfach attischen Institutionen bedingte oder beeinflußte koinhv von staatsrechtlichen Formeln und Begriffen, von Grundsätzen und Organen der Staatsverwaltung“. Das die demokratia als Verfassungsform in einer scheinbar von Monarchien dominierten Epoche bisher kaum eingehender behandelt wurde, stellt aus forschungshistorischer Perspektive ein eigenes Untersuchungsfeld dar. 4 Die Verfassungen allgemein in griechischen Poleis der hellenistischen Zeit behandelt QUASS 1979, während O’NEIL 1995 in seiner Monographie zu den Ursprüngen und der Entwicklung der antiken griechischen Demokratie dem Fortleben in nachklassischer Zeit einen kürzeren Abschnitt widmet. CROWTHER 1992 führt in einem kürzeren Beitrag ebenfalls ein Fortleben der demokratia in hellenistischen Poleis an, wobei er insbesondere die auswärtig tätigen Richter berücksichtigt. Die einzige Untersuchung in monographischer Form hat jetzt CARLSSON 2005 vorgelegt, worauf im folgenden näher einzugehen sein wird. Detailliertere Studien zur demokratia in einzelnen hellenistischen Poleis bieten SHERWIN-WHITE 1978 in ihrer Untersuchung zum antiken Kos (ebendort 175–223), CARLSSON 2004 mit einer Zusammenfassung einzelner Demokratieaspekte des hellenistischen Kos, O’NEIL 1981 mit einer Diskussion zu Rhodos und der Frage nach der Ausprägung der dortigen demokratia sowie DREYER 2001, der für Athen Veränderungen anführt, die seiner Meinung nach ein Ende der „klassischen Demokratie“ kennzeichnen. Siehe zu diesen Untersuchungen die entsprechenden Abschnitte in den folgenden Kapiteln. Vgl. weiterhin den knappen Beitrag von GABBERT 1986 zur (außen-)politischen Ideologie von einflußreichen athenischen Staatsmännern im ausgehenden 4. und 3. Jh. v.Chr., den kurzen

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Einleitung

Bei der Darlegung der innenpolitischen Verhältnisse in den Gemeinwesen stellt die Forschung seit der 1. Hälfte des 20. Jhs. insbesondere gesellschaftspolitische Aspekte in den Vordergrund, wonach die politischen Abläufe in einer formal bestehenden demokratia von einer kleinen, finanziell einflußreichen Gruppe bestimmt wurden5. Die zu einer solchen Gruppe gehörenden Personen werden gemeinhin unter dem Begriff ‚Honoratioren‘ subsummiert, deren Gesamtheit man als ‚Honoratiorenschicht‘ oder ‚Honoratiorenregime‘ bezeichnet6; beides rückte in der jüngeren Zeit wieder stärker in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung. So versteht Paul Veyne die finanziellen Aufwendungen reicher und einflußreicher Bürger für ihre Polis, den Euergetismus, als eine Art ‚Regierungssystem‘ und bekräftigt damit gleichsam die Vorstellung eines dominierenden Honoratiorenregimes7. Erheblich schärfer und in klarer Abgrenzung zur klassischen Demokratie meint G. E. M. de Ste. Croix sogar eine im 4. Jh. v.Chr. beginnende ‚Zerstörung‘ der Demokratie zu erkennen, wonach eine große Gruppe ärmerer Bürger ihren Einfluß und ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Institutionen allmählich verloren habe und von den wohlhabenden Bürgern weitgehend beherrscht worden sei8. Wenngleich de Ste. Croix damit einen extremen Standpunkt vertritt, findet die Annahme einer kleinen, reichen und politikbestimmenden Schicht insbesondere durch die umfangreiche Arbeit von Friedemann Quaß eine abermalige Bestätigung. In seiner detailreichen Studie untersuchte Quaß mögliche Charakteristika einer Honoratiorenschicht, wofür er grundsätzlich eine politisch führende Personengruppe voraussetzt, die innerhalb der Polis dem übrigen, politisch schwachen demos gegenüberstand. Gleichzeitig stellt Quaß aber auch ein formales Fortbestehen der demokratischen Verfassungen fest, so daß politische Entscheidungsprozesse weiterhin an die bestehenden Institutionen gebunden blieben9; in ganz ähnlicher Weise versteht Jochen Bleicken im Hinblick auf das nachklassische Athen die dortige Demokratie als „nichts anderes als eine Oligarchie im demokratischen Festgewand“10. Folgt man diesen Sichtweisen, so muß der Begriff der demokratia im Vergleich zur klassischen Zeit einen Bedeutungswandel durchlaufen haben. James O’Neil kennzeichnet diesen Wandel dahingehend, daß einerseits in hellenistiAbschnitt von MUSTI 1995, 294–310 zur nachklassischen Demokratie in der Beurteilung des Polybios sowie die Studie von VIAL 1984 zum unabhängigen Delos (314–167 v.Chr.), der die dortigen institutionellen Kompetenzen und Abhängigkeiten ausführlich darlegt; Delos stellt jedoch aufgrund des Status als überregionales Heiligtum einen Sonderfall dar. 5 Siehe dazu etwa die Arbeiten von TARN 1927; JONES 1940; ROSTOVTZEFF 1941; MAGIE 1950. Einen Überblick der diesbezüglichen älteren Forschung bietet QUASS 1993, 11–17; vgl. auch GAUTHIER 1984, 82–87. 6 Zu dieser Begrifflichkeit QUASS 1993, 11f. 7 VEYNE 1976; siehe ebendort etwa S. 110 (Le régime des notables). Vgl. die Kritik bei MIGEOTTE 1997, 183f. 8 DE STE . CROIX 1981, 300–326 (The destruction of Greek democracy); vgl. hierzu CROWTHER 1992, 14–16. 9 QUASS 1993. Für die hier vorliegende Untersuchung sind dessen Abschnitte zur hellenistischen Zeit relevant. Wie Quaß sieht auch O’NEIL 1995 die demokratischen Verfassungen in hellenistischen Poleis von einer kleineren Elite dominiert (ebendort S. 105–107. 116). 10 BLEICKEN 1994, 410. Vgl. dagegen HABICHT 1995, 13f.

Einleitung

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schen demokratischen Poleis im Gegensatz zum 5. und 4. Jh. v.Chr. der politischen Beteiligung eine geringere Bedeutung beigemessen wurde und andererseits die demokratischen Gemeinwesen durchaus oligarchische Tendenzen aufweisen konnten11. Einer ähnlichen Charakterisierung zufolge habe „allenthalben eine Ordnung bestanden, die an sich eher dem klassischen Begriff der ‚Oligarchie‘ entsprach: Die Führung der Politik war überall in den Händen einer kleinen Oberschicht“12. Auf einen solchen Bedeutungswandel nimmt weiterhin auch Friedemann Quaß in seinem Beitrag zur Verfassung der Städte in hellenistischer Zeit Bezug und urteilt, daß der Begriff demokratia in dieser späteren Zeit eher eine rechtmäßige und traditionsgebundene politische Ordnung bezeichnet. Weniger der politische Entscheidungsprozeß habe daher im Vordergrunde gestanden als vielmehr ein Anknüpfen an Errungenschaften der unabhängigen Polis klassischer Zeit, nämlich an die autonomia und eleutheria13. Seit etwa zwei Jahrzehnten steht dieser Annahme einer politikbestimmenden kleinen Oberschicht eine stärkere Hervorhebung der politischen Institutionen in den hellenistischen Gemeinwesen gegenüber. Ein Fortbestehen dieser Institutionen und eine gleichzeitig zu konstatierende gesellschaftspolitische Vitalität innerhalb der Poleis betonen Peter Herrmann und insbesondere Philipp Gauthier14, die damit eine bereits von Louis Robert geäußerte Einschätzung aufgreifen15. In mehreren jüngeren Beiträgen führen etwa Erich Gruen16, Adalberto Giovannini17, Peter Rhodes18, Hans-Joachim Gehrke19, Richard Billows20 oder Pierre Fröhlich21 diese Überlegungen weiter aus. Anhand zahlreicher Belege aus unter11 O’NEIL 1995, 105: „(...) democracies retreated from the more radical measures of the fifth and fourth centuries and increasingly allowed their leading citizens to play prominent roles in public life, making the idea of democracy more acceptable to many members of the upper class who might otherwise have favoured oligarchy“. Weiterhin ebendort 107: „But the democracies which revived within Greece [scil. in hellenistischer Zeit] placed a much lower emphasis on actual participation by the ordinary citizens than had the final democracies of the fifth and fourth centuries“. 12 Diese Sichtweise wird in einem anderen Zusammenhange angeführt von DEINIGER 1971, 16f. und fand als Charakterisierung eines Bedeutungswandels der demokratia durch J.-D. Gauger Aufnahme in das ‚Kleine Lexikon des Hellenismus‘, hrsg. v. H. H. Schmitt, E. Vogt, Wiesbaden 1993, 125f., s. v. Demokratie (jetzt abermals in das ‚Lexikon des Hellenismus‘, hrsg. v. H. H. Schmitt, E. Vogt, Wiesbaden 2005, 238f.). 13 QUASS 1979, 37–52. So auch RHODES/LEWIS 1997, 61; HAHM 2000, 457; vgl. GREEN 1990, 632. Siehe in dieser Hinsicht zu den seleukidischen Poleis MA 2002, 160–162. 14 GAUTHIER 1984 (besonders 83f. 92–102); HERRMANN 1984; vgl. GAUTHIER 1990; GAUTHIER 1993. Vgl. weiterhin DAVIS 1984. 15 ROBERT 1969, 42f.; vgl. L. R OBERT, REA 62, 1960, 324–326. 16 GRUEN 1993 zur Polis in der hellenistischen Zeit. 17 GIOVANNINI 1993. 18 RHODES 1994, 589–591 mit einem Ausblick auf die Polisentwicklung in der nachklassischen Zeit. 19 GEHRKE 2003 zum bürgerlichen Selbstverständnis und einer Polisidentität im Hellenismus. 20 BILLOWS 2003 zu den Städten in hellenistischer Zeit. 21 FRÖHLICH 2004 mit einer umfangreichen Untersuchung der Kontrolle der ‚Magistrate‘ in Poleis der klassischen und hellenistischen Zeit.

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Einleitung

schiedlichen Gemeinwesen werden in diesen zumeist kürzeren Beiträgen unterschiedliche Aspekte einer gesellschaftspolitischen Vitalität und institutionellen Vielfalt aufgezeigt, womit ein durchaus gegensätzliches Bild zu demjenigen einer von Honoratioren respektive einer städtischen Elite dominierten hellenistischen Polis entsteht22. Auf die Frage nach der Bedeutung der demokratia gehen diese Beiträge hingegen kaum näher ein23 . Die Ansicht eines politisch und gesellschaftlich dominierenden kleinen Bürgerkreises im Sinne der Honoratioren steht demnach innerhalb der Forschung derjenigen einer gesellschaftspolitischen Vitalität und gleichzeitig fortbestehenden, umfangreichen politischen Institutionalisierung der Poleis gegenüber. Beide Positionen bringen nun offene Fragen und ungelöste Problemfelder mit sich, die zunächst eine kritische Betrachtung der angenommenen ‚Honoratiorenschicht‘ nahelegen24, sodann aber zu der Frage der Bedeutung und Ausprägung der demokratia in Poleis der hellenistischen Zeit führen. Grundsätzlich ist hierbei die Vorstellung einer politikbestimmenden Gruppe von Honoratioren zu betrachten. Diese beruht für die althistorische Forschung im wesentlichen auf Überlegungen von Max Weber, der damit eine Elite charakterisierte, die sich durch eine finanzielle Unabhängigkeit und ein Streben nach politischen Ämtern auszeichnete, woraus wiederum eine dieser Elite entgegengebrachte Wertschätzung innerhalb des Gemeinwesens resultierte, die allmählich zu einer mehr traditionellen Übernahme von Ämtern durch die Honoratioren führte und dadurch deren Dominanz im jeweiligen Gemeinwesen festigte25. Hinsichtlich des von Max Weber verwendeten Honoratiorenbegriffes muß nun jedoch berücksichtigt werden, daß Weber seine Überlegungen nicht anhand der antiken Quellen zur hellenistischen Zeit entwickelte. Eine entsprechende Übertragung der These auf diese Epoche und deren politische und gesellschaftliche Verhältnisse läßt zwar – wie die Arbeit von Friedemann Quaß zeigt – durchaus adäquate, insbesondere epigraphische Belege aufzeigen, birgt jedoch bei einer ausbleibenden Überprüfung der wesentlichen Grundbedingungen die Gefahr eines Zirkelschlusses. So wäre zunächst der politische Zusammenhang von Honoratioren und übriger Polisbevölkerung genauer zu berücksichtigen. Quaß hingegen kennzeichnet – um der Annahme von Weber zu 22

Siehe zu den einzelnen Aspekten die angeführten Untersuchungen. Eine diesbezügliche Ausnahme bildet der Beitrag von CROWTHER 1992, der anhand einiger politischer Institutionen ein gewisses Fortbestehen der demokratia aufzuzeigen vermochte. 24 Auf die kritischen Stellungnahmen zu einer die politischen Belange dominierenden Honoratiorenschicht, wie sie HABICHT 1995a, WÖRRLE 1995 und LEHMANN 1998 äußern, braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden, da sich diese Beiträge auf die spätere hellenistische Zeit beziehen, in der nun allerdings aus der Sicht der hier darzulegenden demokratia wiederum grundsätzlich veränderte gesellschaftliche und politische Bedingungen bestanden, die in den angeführten Untersuchungen jedoch unberücksichtigt bleiben. Vgl. zur Rolle einer städtischen Elite nun auch den knappen Überblick von SAVALLI-LESTRADE 2003. Zur kritischen Bewertung des Euergetismus in hellenistischer Zeit siehe MIGEOTTE 1997. 25 QUASS 1993, 11f., der diesbezüglich verweist auf M. WEBER , Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Tübingen 1972, 170 (demnächst in Max Weber Gesamtausgabe (MWG) I/23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920). 23

Einleitung

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entsprechen – die Rolle eines übrigen ‚Volkes‘ dahingehend, daß dieses „sowohl als Öffentlichkeit Zeuge und positiv oder negativ Betroffener jener politischen Tätigkeit [scil. der Honoratioren] war. Formiert in der Volksversammlung bildete es zugleich die entscheidende Instanz, die den Honoratioren die allgemeine Anerkennung, nach der sie strebten, in Gestalt förmlicher Beschlüsse und Auszeichnungen verbürgen konnte“26. Eine genaue Klärung der Frage, innerhalb welcher institutionellen Abhängigkeiten die ‚Honoratioren‘ agierten und wieweit sie dabei auch auf die ‚entscheidende Instanz der Volksversammlung‘ Rücksicht zu nehmen hatten, ja vielleicht sogar von dieser kontrolliert wurden, bleibt nicht nur bei Quaß, sondern auch bei früheren diesbezüglichen Arbeiten zugunsten einer umfangreichen Zustimmung des ‚Volkes‘ weitestgehend unbehandelt. Da nun aber in hellenistischen Poleis die ekklesia wenigstens in formaler Hinsicht die Entscheidungen traf, wäre zunächst grundsätzlich zu klären, in welcher Abhängigkeit die einzelnen Ämter und damit auch die Amtsinhaber von der Institution der ‚Volksversammlung‘ standen und ob daran anschließend überhaupt eine dominierende politische Schicht von Honoratioren bestehen konnte27. Geht man hingegen mit einem Teil der jüngeren Forschung von einer fortbestehenden umfangreichen Institutionalisierung und politischen Vitalität in den hellenistischen Poleis aus, so müßte demgegenüber gefragt werden, welche Rolle in dieser Hinsicht die Honoratioren einnahmen, für deren Existenz nun doch – gemessen an den vorliegenden Untersuchungen – zahlreiche Belege zu bestehen scheinen. Ebenso wäre zu fragen, welche Bedeutung eine fortschreitende institutionelle Ausprägung bei einer bestehenden Honoratiorenschicht besaß und ob die Honoratioren in hellenistischer Zeit nicht innerhalb einer politisch lebhaften Polis durchaus eine dominierende Rolle einnehmen konnten. Und hinsichtlich der demokratia verlangen gerade eine konstatierte Ausprägung der politischen Institutionen sowie eine bestehende politische Vitalität nach einer Klärung der Frage, in welcher Beziehung der demokratia-Begriff zu diesen Phänomenen steht, ob es sich dabei um eine demokratia für alle Bürger handelte und ob der oben angeführte Bedeutungswandel des Begriffes hin zu einer allgemeingültiger zu verstehenden, also eher rechtmäßigen Polisverfassung weiterhin angebracht ist. Zudem sind die bisher erreichten Ergebnisse von beiden vorliegenden Forschungspositionen in ihrer Aussagekraft mitunter dahingehend zu relativieren, daß sie jeweils aufzuzeigende Aspekte mit Beispielen aus ganz unterschiedlichen Poleis belegen, ohne dabei im speziellen die unterschiedlichen historischen Entwicklungen 26 QUASS 1993, 353. Vgl. dazu aber Max Webers Ausführungen zu „Herrschaft und Verwaltung. Wesen und Grenzen der demokratischen Verwaltung“ (MWG I/22–4, hrsg. von E. Hanke, Tübingen 2005, 139–145) und darin insbesondere seine Differenzierung hinsichtlich einer „reinen Demokratie“ (ebendort 144), die bei einer Übertragung der Honoratiorenthese auf antike ‚demokratische‘ Stadtstaaten zu einer gewissen Vorsicht mahnt. Vgl. zur traditionellen Herrschaft zudem MWG I/22–4, 729–734. Siehe weiterhin W. NIPPEL, Die antike Stadt in Max Webers Herrschaftssoziologie, in: E. Hanke, W. J. Mommsen (Hrsgg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001, 189–201 (besonders 200). 27 Zur Kritik an einer Honoratiorenschicht in hellenistischer Zeit siehe HABICHT 1995a sowie SAVALLI-LESTRADE 2003.

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und Traditionen sowie außenpolitischen Abhängigkeiten des entsprechenden Gemeinwesens zu berücksichtigen. Eine hieraus resultierende Ungenauigkeit der Ergebnisse für den Kontext des Einzelfalles ist aber gerade deshalb in Erwägung zu zie-hen, weil die konkurrierenden Monarchien der Diadochen und Epigonen regional ganz unterschiedliche außenpolitische Einflüsse und Verhältnisse mit sich brachten. Die Frage, ob in dieser Hinsicht sogar verschiedene Formen einer politischen Vitalität, einer institutionellen Ausprägung und eines Einflusses von Honoratioren vorlagen, ließ die Forschung bislang unberücksichtigt. Daß damit jedoch auch eine differenzierte Beurteilung der jeweiligen demokratia einherzugehen hätte, sollte aus der nunmehr dargelegten Perspektive naheliegend angenommen werden können. Hinsichtlich dieser Forschungssituation und der daraus resultierenden offenen Fragen bedürfen zwei jüngere, sich auf die hier behandelte Thematik beziehende und etwa zeitgleich mit der vorliegenden Untersuchung entstandene Monographien einer kurzen kritischen Einordnung. Zum einen ist dies die Arbeit von Susanne Carlsson zu hellenistischen Demokratien in einigen ostgriechischen Poleis28. Anhand der inschriftlichen Überlieferung diskutiert Carlsson zunächst die Bedeutung von Autonomie und Freiheit für hellenistische Gemeinwesen der östlichen Ägäis und des angrenzenden kleinasiatischen Raumes29, um dann in einer Detailstudie zu Iasos, Kalymna, Kos und Milet mittels der überlieferten Dekrete und der dort angeführten politischen Verfahrensweisen die demokratia der hellenistischen Zeit genauer zu bestimmen. Carlsson kommt zu dem Ergebnis, daß dieser Verfassung als politische Organisationsform weiterhin eine hohe Bedeutung zukam und antike sowie moderne Demokratiekriterien, die für die vorangehende klassische Zeit bestehen, auch für die von ihr untersuchten hellenistischen Poleis zutreffend angewendet werden können30. In ihrer Arbeit spielt jedoch die Problematik von reichen und einflußreichen Personen innerhalb der Gemeinwesen keine Rolle31, und auch bleibt von ihr unberücksichtigt, wie eine anhand von Inschriftentexten formal zu konstatierende demokratia in der politischen Praxis ausgeprägt war respektive wie diesbezügliche innenpolitische Abläufe überhaupt faßbar werden32. Die in der Forschung für die hellenistische Zeit 28

CARLSSON 2005. CARLSSON 2005, 125–166; vgl. hierzu HEUSS 1937. 30 Carlsson führt dazu sowohl aristotelische Kriterien (Arist. Pol. 1317 b17–40) als auch diejenigen des Politologen R. A. Dahl (Democracy and its critics, New Haven 1989) an und sieht sie für die von ihr untersuchten Poleis weitgehend erfüllt (CARLSSON 2005, 374–376). 31 Vgl. hierzu den knappen Hinweis auf diese Problematik am Beginn der Arbeit; CARLSSON 2005, 19. 32 Gerade hinsichtlich der von Carlsson für ihre Einzeluntersuchung herangezogenen Poleis ist anzumerken, daß die von ihr erreichten Ergebnisse einer nach formalen Kriterien bestehenden demokratia für Kos und Milet bereits weitestgehend in Einzelstudien vorgelegt wurden; siehe hierzu die entsprechenden, umfangreichen Abschnitte in den Untersuchungen von SHERWINWHITE 1978 zu Kos und von NAWOTKA 1999 zu Milet. Wie bei Carlsson wird allerdings auch in diesen Arbeiten zumeist nicht näher auf die angeführten Aspekte der politischen Praxis eingegangen. Darüber hinaus bestehen einzelne Beurteilungen von demokratischen hellenistischen Verfassungen etwa von O’NEIL 1981 zu Rhodos oder von DREYER 2001 zu Athen. 29

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immer wieder angeführte Sichtweise einer politikbestimmenden Elite drängt nun – wie aufgezeigt – bei der Untersuchung einer Herrschaft des demos jedoch die Frage auf, in welcher Abhängigkeit eine solche Elite von der politischen Organisation stand und welche Schlüsse daraus für die Annahme einer ‚Honoratiorenschicht‘ zu ziehen sind. Das hellenistische Rhodos mag diese Problematik beispielhaft verdeutlichen. In der Forschung ist hinlänglich betont worden, daß in diesem Gemeinwesen sowohl nach formalen Kriterien als auch aus der Sicht der antiken Quellen eine politische Organisation bestand, die mit einer demokratia gleichgesetzt werden kann. Und auch darf diese Polis für nahezu die gesamte hellenistische Zeit als freies und autonomes Gemeinwesen angesehen werden33. Gleichzeitig gilt aber gerade Rhodos in der Forschung zumeist als eines der signifikantesten Beispiele für solche Poleis, die von einer kleinen aristokratischen Elite dominiert worden sein sollen34. Die angeführte Forschungssituation, deren notwendige Berücksichtigung bei einer Diskussion der demokratia in hellenistischer Zeit und die damit einhergehende Frage, ob nun in der politischen Praxis der demos die ‚Herrschaft‘ in der Polis ausgeübt habe, sind in diesem Falle evident. In ihrer Untersuchung führt Carlsson weiterhin eine Veränderung der demokratia in der Mitte des 2. Jhs. v.Chr. an, die sie mit der römischen Vorherrschaft im östlichen Mittelmeergebiet, spätestens mit der Einrichtung der Provinz Asia, begründet. Als Indiz dieser Veränderung in den von ihr herangezogenen Poleis bringt sie jedoch einzig eine signifikante Abnahme der inschriftlich überlieferten Dekrete vor35. Da nun die politische Organisation aber auch in der folgenden römischen Zeit in ganz ähnlicher Form fortbestand, muß vielmehr die Frage nach den Auswirkungen einer solchen Dominanz auf die innenpolitischen Verhältnisse gestellt werden. Dieses wäre im Falle der Untersuchung von Carlsson gerade deshalb naheliegend, weil sie im ersten Abschnitt ihrer Arbeit die Begriffe autonomia und eleutheria in griechischen Poleis ausführlicher bespricht. Der Zusammenhang einer außenpolitischen Beeinflussung der innenpolitischen Verhältnisse, der insbesondere – wie in der hier vorliegenden Arbeit darzulegen sein wird – im Bereich der politischen Praxis aufgezeigt werden kann, bleibt dagegen von Carlsson unberücksichtigt. Bei der zweiten jüngeren Untersuchung handelt es sich um die Arbeit von Sviatoslav Dmitriev mit dem Titel „City Government in Hellenistic and Roman Asia Minor“36. Dmitriev stellt insbesondere den administrativen Aspekt der politischen Polisverwaltung in den Vordergrund. Anhand der epigraphischen Überlieferung versucht er die Terminologie von „city administration“ und „responsi33 Vgl. zu den dortigen demokratischen Institutionen BERTHOLD 1984, 38–41; GABRIELSEN 1997, 24–31; WIEMER 2002, 21f. Zur Bezeichnung der rhodischen Verfassung als demokratia siehe STAATSVERTRÄGE III n. 55113f.; Diod. XX 93,7 (mit Diod. XX 81,2; Cic. de rep. I 31,47. III 35,48). Die in diesem Zusammenhang zentrale Ausführung von Strabon (XIV 2,5) wird eigens in einem Abschnitt im Kapitel Rhodos behandelt. 34 Vgl. O’NEIL 1981; GABRIELSEN 1997. Ausführlich dazu unten im Kapitel Rhodos. 35 Dieses Indiz führt Carlsson für die von ihr untersuchten Poleis Iasos, Kos und Milet an. Kalymna ging bereits zuvor eine Homopolitie mit Kos ein und ist daher nur noch sehr bedingt als unabhängiger Einzelfall zu behandeln. Vgl. dazu unten das Kapitel Kos sowie allgemein die Abschnitte zur Veränderung unter Rom in den folgenden vier Kapiteln. 36 DMITRIEV 2005.

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bilities of city officials“ sowie die gegenseitige Beziehung dieser Bereiche genauer zu beurteilen37, um so Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzuzeigen, die mit der überkommenden römischen Dominanz im östlichen Mittelmeer einhergingen38. Die formale und praktische Bedeutung einer demokratia spielt in Dmitrievs Arbeit hingegen keine Rolle, obwohl er aufgrund der von ihm diskutierten Ämterkompetenzen, insbesondere hinsichtlich seiner drei Fallbeispiele Milet, Priene und Samos, dieses Problemfeld behandelt. Im Gegensatz zu dem von Carlsson beobachteten Wandel der demokratia im 2. Jh. v.Chr. sieht Dmitriev im Bereiche der „city administration“ innerhalb der kleinasiatischen hellenistischen Poleis für diese Zeit keine signifikante Veränderung39. Die in der Forschung diskutierte Annahme einer politisch dominierenden Elite innerhalb der Gemeinwesen und damit verbundene Aspekte der politischen Praxis läßt Dmitriev in seiner Untersuchung weitestgehend unberücksichtigt, wenngleich – wie ebenfalls nachfolgend dargelegt – innerhalb der Poleis gerade hieran signifikante Unterschiede zwischen der hellenistischen und der folgenden römisch dominierten Zeit aufgezeigt werden können. Insgesamt behandeln die umfangreichen Arbeiten von Carlsson und Dmitriev die oben angeführten Forschungspositionen zur demokratischen Verfassung und den gesellschaftspolitischen Abläufen innerhalb der hellenistischen Poleis also nur sehr begrenzt und lassen vor allem die kaum miteinander zu vereinenden Sichtweisen einer politisch dominierenden Elite einerseits und einer politischinstitutionellen Vitalität andererseits weiterhin undiskutiert nebeneinander bestehen. Daß allerdings der lange Zeit vernachlässigte Forschungsbereich der politischen Organisation in hellenistischen Poleis sowie deren politische Bedeutung nun gleich mehrfach eine umfassendere wissenschaftliche Berücksichtigung findet, ist ein durchweg erfreulicher Umstand, dem die Quellenlage sicherlich keineswegs entgegensteht. Eine Beantwortung der nunmehr aufgeworfenen Fragen wie auch die Diskussion der im folgenden angeführten Untersuchungsaspekte verlangen zunächst eine Auswahl der eingehender zu betrachtenden Poleis. Hierfür bieten sich diejenigen Gemeinwesen an, für die eine ausreichend große Anzahl von Quellenbelegen zur jeweiligen innen- und außenpolitischen Situation besteht. Außerdem sollten die heranzuziehenden Poleis einen weitgehend freien und unabhängigen Status besessen oder aber aufgrund eines nachdrücklichen Bestrebens der Bürgerschaft diesen Status – möglicherweise mehrmals wieder – erlangt haben, so daß als Kriterium für die innenpolitische Entwicklung auch verschiedenartige außenpolitische Einflüsse hinreichend berücksichtigt werden können40. Für die vorliegende 37

DMITRIEV 2005, 13. DMITRIEV 2005, 6: „A diachronic examination of the main attributes of Greek city administration in pre-Roman and Roman times (such as administrative concepts which were employed in Greek cities (…), and features of individual offices) will be necessary for establishing the extent to which Roman rule could have affected local life in the Greek east“. 39 Vgl. DMITRIEV 2005, 329f. 40 Die Einschätzung des jeweiligen Status wird anhand des Quellenkontextes in den einzelnen Kapiteln eingehender diskutiert. 38

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Untersuchung sind aus diesen Gründen die Poleis Athen, Kos, Milet und Rhodos näher betrachtet worden41. Bei der Diskussion der demokratia in hellenistischer Zeit geht es bei jeder Polis zunächst darum, im Sinne der Begriffsbedeutung von demokratia die Gruppe des demos zu bestimmen. Es sind dabei einerseits die ihr zugehörenden Personen als auch die von ihr ausgeschlossenen Personengruppen innerhalb des Gemeinwesens zu kennzeichnen. Für die hellenistische Zeit ist diese Bestimmung auch deshalb notwendig, weil seit dem ausgehenden 19. Jh. und der Untersuchung von Emil Szanto zu dieser Thematik keine umfangreichere Arbeit mehr vorgelegt wurde, sich demgegenüber jedoch die epigraphische Quellengrundlage erheblich vergrößert hat42. Eine polisspezifische Bestimmung des demos ist weiterhin notwendig, um für das jeweilige Gemeinwesen die Relevanz des Bürgerstatus sowie bestimmte lokale Charakteristika deutlich aufzuzeigen; bestehende Wertmaßstäbe innerhalb des gesellschaftspolitischen Gefüges können dadurch gerade im Hinblick auf eine lokale Elite genauer beurteilt werden43. Die in hellenistischen Dekreten durchweg angeführte Formel e[doxe tw`i dhvmwi wirft sodann grundsätzlich die Frage auf, welche politische Rolle die nunmehr bestimmte Gruppe des demos und damit auch der einzelne Bürger innerhalb der Polis einnahm und auf welche Weise er an den politischen Institutionen der Polis partizipierte. Da hierbei sowohl auf lokaler als auch auf polisübergreifender Ebene die entsprechende Bürgerversammlung im Mittelpunkt stand, werden in diesem Untersuchungsabschnitt Kompetenzen und Abhängigkeiten dieser Versammlungen im Verhältnis zu den zentralen Ämtern und Gremien der Polis sowohl in außen- als auch innenpolitischer Hinsicht beurteilt. Hierbei wird aufzuzeigen sein, in welchem Umfang die Bürger am politischen Geschehen teilhaben konnten und inwieweit dabei eine zumindest formale Gleichberechtigung der politai bestand44. Dieses so beschriebene politische Gefüge kennzeichnet die zu erschließenden formalpolitischen Möglichkeiten der Bürger und soll in der vorliegenden Arbeit als die politische Organisation der Polis verstanden werden. 41 Die Diskussion der bestehenden Einzelstudien zu den Verfassungen dieser Poleis – etwa DREYER 2001; GABRIELSEN 1997; NAWOTKA 1999; O’NEIL 1981; SHERWIN-WHITE 1978 – erfolgt in den entsprechenden Kapiteln. 42 SZANTO 1892. Vgl. dazu S AVALLI 1985 sowie den allgemeinen Überblick von CARLSSON 2005, 84–89. Zu der vergrößerten Inschriftengrundlange siehe beispielsweise die zahlreichen Funde von Bürgerrechtsrechtsdekreten aus dem Delphinion von Milet (vgl. dazu die entsprechenden Angaben unten im Kapitel III.1). 43 Vgl. dagegen die polisübergreifende Darstellung von CARLSSON 2005, 84–92. 44 Vgl. hierzu CARLSSON 2005, die zwar die jeweilige ekklesia der von ihr herangezogenen Poleis behandelt, dabei aber deren Kompetenzen gegenüber den übrigen Gremien und Ämtern kaum weiter differenziert. Die Untersuchung einer Herrschaft des demos läßt nun aber gerade vor dem Hintergrund der in der Forschung bestehenden Honoratiorenthese eine solche Bestimmung notwendig erscheinen. Weiterhin beschränkt sich CARLSSON 2005 bei der von ihr für die vier Poleis ebenfalls behandelten lokalen politischen Organisationen auf einen kurzen Überblick der jeweiligen Organisationseinheiten. Die Frage der Bedeutung dieser lokalen politischen Organisation für ein demokratisches Selbstverständnis der jeweiligen Bürgerschaft sowie des einzelnen Bürgers spielt bei ihr zudem keine Rolle.

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Gegenüber den bestehenden Untersuchungen, in denen der Fokus zumeist auf einer städtischen Elite oder auf den zentralen Ämtern liegt, wird in der vorliegenden Arbeit die Perspektive der versammelten Bürgerschaft und damit jedes einzelnen Bürgers eingenommen; freilich eine Perspektive, die für eine adäquate Beurteilung einer ‚Herrschaft des demos‘ notwendig erscheint. In welcher Form das politische Geschehen der Polis von weiteren Faktoren bestimmt sein konnte, die über diesen formalen Rahmen hinausgingen, soll im anschließenden Abschnitt zur politischen Praxis betrachtet werden. Da die vorliegenden literarischen und epigraphischen Quellen zumeist nur wenige hervorragende Persönlichkeiten innerhalb der Gemeinwesen nennen – wie etwa Eirenias in Milet nach 200 v.Chr. oder Eurykleides und Mikion für Athen nach der Befreiung der Polis von 229 v.Chr.45 –, scheint das Bild einer kleinen, politikbestimmenden Gruppe auf den ersten Blick naheliegend zu sein. Es muß in dieser Hinsicht jedoch sogleich die Frage angeschlossen werden, in welcher Form einzelne Bürger einen persönlichen und über eine Ämterkompetenz hinausgehenden Einfluß innerhalb der Poleis ausgeübt haben konnten, wie sich deren Stellung zu anderen, ähnlichen Persönlichkeiten innerhalb des Gemeinwesens verhielt und vor allem, welche Unterschiede sich dadurch gegebenenfalls zu der angeführten politischen Organisation ergeben. Mit einer Bestimmung der gegenseitigen Abhängigkeiten von politischer Organisation und Praxis können schließlich der Handlungsspielraum und die Handlungsbedingungen möglicher Honoratioren in der jeweiligen Polis genauer beurteilt werden. Insbesondere muß aber unter dem Aspekt der politischen Praxis ein ganz zentrales Kennzeichen der vorangehenden klassischen athenischen demokratia Berücksichtigung finden, welches, sofern es sich auch für die diskutierten hellenistischen demokratischen Gemeinwesen überzeugend nachweisen ließe, die Annahme einer politikbestimmenden Honoratiorenschicht, der die übrigen Bürger, möglicherweise sogar überaus passiv46, gegenüberstanden, als weitestgehend haltlos erwiese: Die Berücksichtigung entgegengesetzter und miteinander konkurrierender politischer Gruppierungen innerhalb der Bürgerschaft. Nicht nur hinsichtlich einer Honoratiorenthese kann die Beachtung dieses klassisch-demokratischen Charakteristikums gänzlich veränderte Einblicke in die politische Praxis der hellenistischen Zeit ermöglichen. Da dessen Rolle weder in der Arbeit von Susanne Carlsson noch in der bisherigen Forschung für eine Beurteilung herangezogen wurde47, bietet sich damit auch für die andernorts beobachtete politische Vitalität und fortbestehende institutionelle 45 Vgl. dagegen Chr. HABICHT, Pausanias und seine „Beschreibung Griechenlands“, München 1985, 84f., der im Zusammenhang mit dem Athener Kallippos treffend anführt, daß tonangebende Männer einer Polis nicht unbedingt in den Quellen auch als diese auftauchen müssen. So war Kallippos in den 70er und 60er Jahren des 3. Jhs. v.Chr. einer der führenden athenischen Politiker, der jedoch in den literarischen Quellen mit Ausnahme von drei Erwähnungen bei Pausanias nicht erscheint. 46 Entsprechend der extremen Sichtweise von DE STE. CROIX 1975. 47 Ein wesentlicher Grund für die bisher ausbleibende Beachtung dieses zentralen Aspektes liegt sicherlich in den zumeist nur selten betrachteten Auswirkungen, die eine umfangreiche Kompetenz der ekklesia für die polisinternen Abläufe und Bedingungen mit sich bringt.

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Differenzierung ein neuer Bewertungsmaßstab. Mit einer solchen Berücksichtigung lassen sich sodann, wie zu zeigen sein wird, zentrale politische Vorgänge sowie die Stellung der ‚Honoratioren‘ deutlich bestimmen. Schließlich werden signifikante Veränderungen innerhalb eines gemeinschaftlichen Gefüges von konkurrierenden politischen Gruppen auch grundsätzliche politische Veränderungen in den untersuchten Poleis aufzeigen helfen und sowohl eine Erklärung für einen Wandel der demokratia innerhalb der hellenistischen Zeit als auch für die in der Forschung nunmehr häufiger angeführte Veränderung der hellenistischen Poliswelt um die Mitte des 2. Jhs. v.Chr. bieten48. Die möglicherweise als Argument für eine städtische Elite vorzubringenden finanziellen Aufwendungen für die Gemeinschaft seitens einer einflußreichen Bürgerschicht bleiben in der vorliegenden Untersuchung dagegen weitestgehend unberücksichtigt, da entsprechend der nachzuweisenden konkurrierenden politischen Gruppen solche finanziellen Aufwendungen freilich auch in einer gegenseitigen bürgerlichen Konkurrenz standen und deren Beurteilung damit derjenigen der angeführten politischen Vorgänge untergeordnet werden kann49. Auf der Grundlage der nunmehr erfolgten Bestimmung, wer in der Polis die Bürgerschaft ausmachte, wie die einzelnen Bürger in die politische Organisation eingebunden waren und welche Bedingungen für die politische Praxis bestanden, sollen die zur Beschreibung des Polisstatus häufig gebrauchten Begriffe demokratia, eleutheria und autonomia in ihrem jeweiligen historischen Kontexte genauer bestimmt werden50. Dabei ist es wiederum notwendig, von der Perspektive des demos auszugehen. Eine von einem Herrscher für eine Polis propagierte eleutheria ist in dieser Hinsicht von einer durch die Polis selbst propagierten eleutheria deutlich zu unterscheiden. Die drei angeführten Begriffe werden hierfür zunächst in ihrer grundsätzlichen Wortbedeutung verstanden und dann entsprechend dem vorliegenden Kontexte und den beobachteten Bedingungen innerhalb der Polis weiter differenziert. Die demokratia meint diesbezüglich die Herrschaft des demos im institutionalisierten Rahmen von Ämtern und Gremien, die eleutheria eine bestehende Freiheit und den damit für die Polis einhergehenden, im wesentlichen auf den außenpolitischen Bereich zu beziehenden politischen Handlungsspielraum, wohingegen die autonomia eine Eigenständigkeit kennzeichnet, die sich vor allem auf den innenpolitischen Bereich der Polis bezieht. Im Gegensatz zu der diachronen Darstellung in den drei ersten Untersuchungsabschnitten erfolgt die Diskussion von demokratia, eleutheria und auto48 Dieser Wandel wird hervorgehoben von GAUTHIER 1985 in seiner Untersuchung zu den Euergeten und von FRÖHLICH 2004 in seiner Untersuchung zur Kontrolle der Magistrate. Siehe dazu MIGEOTTE 1997 sowie jetzt CARLSSON 2005. Vgl. weiterhin den Forschungsüberblick von BERNHARDT 1998, 102f. 49 Siehe zum Euergetismus in hellenistischen Poleis die Bewertung von MIGEOTTE 1997, 191–195. 50 Vgl. dagegen das methodische Vorgehen von CARLSSON 2005, die eine ausführlichere Besprechung der Begriffe autonomia und eleutheria allgemein in griechischen Poleis der östlichen Ägäis und des angrenzenden kleinasiatischen Bereiches an den Beginn ihrer Untersuchung stellt, ohne den jeweiligen Einzelfall im genaueren historischen Kontexte und mit einem Bezug auf die demokratia der entsprechenden Polis zu bestimmen.

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nomia in chronologischer Reihenfolge der Ereignisgeschichte. Es werden hierbei diejenigen Situationen berücksichtigt, die für die Poleis eine äußere oder innere Bedrohung darstellten und somit erkennbare Auswirkungen auf den Bestand der etablierten Verfassung haben konnten. Da die hellenistischen Poleis häufig in einem Spannungsfeld von konkurrierenden hellenistischen Herrschern agierten, liegt ein Hauptaugenmerk dieses Abschnittes auf dem Einfluß von äußeren Mächten auf die Gemeinwesen und damit möglicherweise einhergehenden Auswirkungen auf interne politische Abläufe. Chronologische Abschnitte, in denen weder signifikante Bedrohungen noch wesentliche Veränderungen der Polisverfassung aufzuzeigen sind, wurden in der vorliegenden Untersuchung weitestgehend unberücksichtigt gelassen51. Die in den Abschnitten zur politischen Praxis und zur demokratia, eleutheria und autonomia gekennzeichneten Zusammenhänge werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als politische Strukturen verstanden. Zusammen mit der zuvor dargelegten politischen Organisation kann so ein umfangreiches Bild der politischen Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Polis unter Berücksichtigung der außenpolitischen Einflüsse erreicht werden. Abschließend bedarf es für eine zusätzliche Differenzierung des demokratiaVerständnisses eines Blickes auf die nachfolgende, römisch dominierte Zeit. Zu beobachtende Veränderungen im innen- und außenpolitischen Bereich lassen vor dem Hintergrunde nunmehr aufgezeigter politischer Strukturen einen deutlichen Wandel erkennen und damit auch die ‚hellenistischen‘ Merkmale der demokratia genauer hervortreten. Gleichzeitig bieten die anzuführenden Veränderungen, die im wesentlichen in die Zeit ab der Mitte des 2. Jhs. v.Chr. zu datieren sind, eine Erklärung und Ursachenbestimmung des in der jüngeren Forschung betonten Wandels der hellenistischen Poliswelt innerhalb dieses Jahrhunderts52. Für die vorliegende Untersuchungsmethode wurden die vier näher betrachteten Poleis – Athen, Kos, Milet und Rhodos – in eigenständigen Kapiteln behandelt. Die Darstellung der Untersuchungsaspekte folgt innerhalb der Kapitel der soeben dargelegten Reihenfolge, wobei die jeweilige Quellenlage eigene, charakteristische Untersuchungsschwerpunkte mit sich brachte. So finden etwa für Milet die Verknüpfung von Kult und Politik, für Kos die auswärtig tätigen Richter oder für Rhodos die zahlreichen Gesandtschaften der Polis im Abschnitt zur politischen Praxis eine besondere Berücksichtigung. Einen gewissen Sonderfall stellt Athen dar. Aufgrund der mehrmaligen makedonischen Vorherrschaft nach dem Lamischen Krieg und den damit einhergehenden innenpolitischen Umbrüchen liegt der Schwerpunkt in diesem Kapitel auf dem Abschnitt zur demokratia, eleutheria und autonomia. Einzelne Aspekte der politischen Praxis, die ebendort nicht eigenständig behandelt wurde, sind im chronologischen Abschnitt, bezogen auf den jeweiligen historischen Kontext, angeführt. Insgesamt wird mit der 51 Dieses ist der Fall für die rhodische Geschichte nahezu im gesamten dritten vorchristlichen Jahrhundert. 52 Siehe GAUTHIER 1984; F RÖHLICH 2004; CARLSSON 2005. Vgl. weiterhin Chr. Habicht, Die Rolle der Könige gegenüber Städten und Bünden, in: Actes du Xe Congrès international d’épigraphie grecque et latine (Nimes 1992), Paris 1997, 161–168 (besonders 166); MIGEOTTE 1997, 186–188.

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Betrachtung dieser vier Poleis also eine jeweils individuelle Ausprägung und Entwicklung der politischen Organisation und Struktur in hellenistischer Zeit dargelegt, die im speziellen mehrere unterschiedliche Rahmen- und Entwicklungsbedingungen berücksichtigt und dabei im allgemeinen einen grundsätzlichen Einblick in die demokratia von freien griechischen Poleis der Zeit nach Alexander dem Großen bis hin zur römischen Dominanz im östlichen Mittelmeerraume bietet. Die aufgrund des methodischen Vorgehens gewonnenen Strukturen und Charakteristika sollen schließlich die Fragen beantworten, welche Form und Ausprägung die de-mokratia der hellenistischen Zeit in freien Poleis besessen haben konnte und welche Bedeutung ihr insbesondere aus der Sicht eines zeitgenössischen Polisbürgers beizumessen ist. *** Die vorliegenden Kapitel behandeln in den Abschnitten zum demos, zur politischen Organisation und zur politischen Praxis den Zeitraum vom ausgehenden 4. Jh. v.Chr. bis zur 1. Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. als eine zeitliche Einheit; Quellenbelege wurden nur dann mit einer Datierung versehen, wenn sie nicht diesem Zeitraume zugehören. Das Literaturverzeichnis beinhaltet die häufiger zitierten Arbeiten und Forschungsbeiträge, wohingegen Titel, auf welche nur ein- oder zweimal verwiesen wurde, einzig in den entsprechenden Anmerkungen erscheinen. Der in der Forschung als Übersetzung für demos ganz überwiegend gebrauchte Begriff ‚Volk‘ stellt aufgrund der im folgenden anzuführenden polisinternen Zusammenhänge eine unzureichende Übersetzung dar und wurde deshalb weitestgehend vermieden53. Weitaus treffender vermag der – hier synonym verwendete – Begriff ‚Bürgerschaft‘ die inhaltliche Bedeutung von demos für die angeführten Poleis wiederzugeben. Für die Benennung der in einer Polis ansässigen Bewohner, die gerade die epigraphischen Quellen häufiger anführen, wurde der Begriff ‚Bevölkerung‘ gewählt. Dieser schließt allerdings für die untersuchten Poleis – und dabei stößt man mit der modernen deutschen Begrifflichkeit wohl an die Grenze der inhaltlich ausreichenden Übersetzungsmöglichkeit – die Sklaven aus. Innerhalb einer Polis konnte dabei die Bevölkerung terminologisch die Bürgerschaft einschließen, nicht aber umgekehrt. Auf einzelne Beispiele von bestehenden mißverständlichen Übersetzungen im Zusammenhang mit dem Be53

Dem modernen Begriff ‚Volk‘ liegt insbesondere die Assoziation eines größeren Flächenstaates zugrunde, in dem die weitaus meisten Bewohner gleichzeitig Bürger sind. Hiermit unterscheidet sich ein damit einhergehendes Zahlenverhältnis von Bürgern und anwesenden Nichtbürgern im Vergleich zu einer antiken griechischen Polis ganz grundsätzlich, so daß ein ‚Volk‘ im modernen Sinne deutlich von einem ‚Volk‘ im Sinne einer griechischen Polis zu trennen ist. Gleiches gilt für die Übersetzungen von demos mit den Begriffen popolo, peuple und people. Die im folgenden häufig angeführten Begriffe Polis und Stadtstaat wurden hingegen gleichbedeutend verwendet. Eine genauere Differenzierung erschien für die vorliegende Untersuchung nicht notwendig; vgl. dazu W. G. RUNCIMAN, Doomed to Extinction: The polis as an Evolutionary Dead-End, in: O. Murray, S. Price (Hrsgg.), The Greek City from Homer to Alexander, Oxford 1990, 347–367.

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griff ‚Volk‘ wird in den Kapiteln sowie insbesondere im Abschnitt zu Strabon XIV 2,5 zurückzukommen sein54. Ad fontes

54 Gerade diese Angabe von Strabon ist in der Forschung aufgrund ungenügender terminologischer Differenzierung bisher mißverstanden worden und hat dadurch sogar zu nicht unerheblichen Fehldeutungen der gesellschaftspolitischen Verhältnisse im hellenistischen Rhodos geführt.

ERSTES KAPITEL: ATHEN I. 1. DER dh`mo" DER ATHENER Das umfangreiche Inschriftenmaterial und die literarischen Quellen zum hellenistischen Athen bezeugen die Gruppe des dh`mo" als die Gesamtheit der das Bürgerrecht besitzenden Personen, die auch als jAqhnai`oi oder poli`tai bezeichnet wurden1, wobei diejenigen Bewohner, deren Eltern bereits den Bürgerstatus besaßen, das athenische Bürgerrecht erlangten2; sie wurden mit dem 18. Lebensjahr in die Bürgerlisten der Polis eingeschrieben3 . Die bereits unter Perikles 451/450 v.Chr. eingeführten Bestimmungen für die Weitergabe des athenischen Bürgerrechtes behielten in dieser Hinsicht in hellenistischer Zeit ihre Bedeutung4, so daß der Bürgerstatus die Zugehörigkeit zu einem exklusiven Kreis innerhalb des Gemeinwesens ausmachte5. 1 In der epigraphischen Überlieferung werden die angeführten Zusammenhänge insbesondere durch die Bürgerrechtsverleihungen deutlich. Das Dekret für den Akarnanier Euenor (IG II2 n. 374) kann hierfür als Beispiel dienen: ejpeidh; Eujhvnwr oJ ijºatro;" provterovn te p|ªa`san eu[noian ajpodevºdeiktai tw`i dhvmwi kai; | ªcrhvsimon eJauto;n paºrevschken kata; th;n tevc|nhn toi`" deomevnoi"º tw`m politw`n kai; tw`n a[l|ªlwn tw`n oijkouvntwn ejºn th`i povlei kai; nu`n ejpi|(devdwken proquvmw" eºij" th;n paraskeuh;n tavl|ªanton ajrgurivou: ajgaqºh`i tuvcei: dedovcqai tw`|ªi dhvmwi: ejpainevsai Eºujhvnora Eujhpivou  jArgei`|ªon kai; stefanw`sai aujtºvo;n qallou` stefavnwi |ªeujnoiva" e{neken th`" perºi; to;n dh`mon to;n jAqh|ªnaivwn: ei\nai d j aujto;n kai;º A j qhnai`on kai; ejkgov|ªnou" j qhnai`o" den aujtou` (Z. 4–15). Euenor wurde demnach durch seinen zukünftigen Status als A poli`tai (Z. 7) gleichgestellt und dadurch von den a[lloi tw`n oijkouvntwn ejn th`i povlei (Z. 7f.) unterschieden. Vgl. dazu etwa die Bürgerrechtsdekrete IG II2 n. 508. 558. 576. 646. 652. 808. 850 (dort auch mit der Verleihung der politeiva). 851. Zu den literarischen Quellen siehe Ktesikles FGrHist 245 F1: (…) genevsqai uJpo; Dhmhtrivou tou` Falhrevw" tw`n katoikouvntwn th;n A j ttikhvn, kai; euJreqh`nai A j qhnaivou" me;n dismurivou" pro;" toi`" cilivoi", metoivkou" de; murivou", oijketw`n de; (…). Vgl. dazu OSBORNE 1983, 139f. Siehe weiterhin Plut. mor. 1034A: kai; mh;n A j ntivpatro" ejn tw`/ peri; th`" Kleavnqou" kai; Crusivppou diafora`" iJstovrhken o{ti Zhvnwn kai; Kleavnqh" oujk hjqevlhsan A j qhnai`oi genevsqai, mh; dovxwsi ta;" auJtw`n patrivda" ajdikei`n. o{ti mevn, eij kalw`" ou|toi, Cruvsippo" oujk ojrqw`" ejpoivhsen ejggrafei;" eij" th;n politeivan pareivsqw. Für die vorangehende Zeit des 4. und 5. Jhs. v.Chr. siehe HANSEN 1991, 94– 101; BLOK 2005. 2 [Ps.-] Arist. Ath. pol. 42,1: e[cei d j hJ nu`n katavstasi" th`" politeiva" tovnde to;n trovpon: metevcousin me;n th`" politeiva" oiJ ejx ajmfotevrwn gegonovte" ajstw`n. Vgl. dazu die bekannte Anklage der Neaira, der Ende der 340er Jahre v.Chr. ein Verstoß gegen bestehende Gesetze vorgeworfen wurde, weil sie als Nichtbürgerin in Athen in einer Ehegemeinschaft mit einem Bürger lebte; [Ps.-] Demosth. or. LIX 16 (Apollodoros). Zur weiteren Gültigkeit dieses Gesetzes in hellenistischer Zeit bis ins spätere 2. Jh. v.Chr. siehe OSBORNE 1983, 141–144; vgl. weiterhin VÉRILHAC/VIAL 1998, 60. 3 [Ps.-] Arist. Ath. pol. 42,1: ejggravfontai d jeij" tou;" dhmovta" ojktwkaivdeka e[th gegonovte". 4 OSBORNE 1983, 144; VÉRILHAC/VIAL 1998, 60. Zu einem möglichen veränderten Umgang mit den novqoi zum Ende des 3. Jhs. v.Chr. siehe OGDEN 1996, 81f.

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Erstes Kapitel: Athen

Im besonderen wird diese Exklusivität durch die Verleihungen der politeiva an Nichtbürger ersichtlich. Für die hellenistische Zeit sind mehrere dieser Dekrete überliefert6, die als Voraussetzung zum Erlangen des Bürgerrechtes ein Verdienst um die Polis7 und als beschließendes Gremium dieses Privilegs die Gesamtheit des dh`mo" in der ejkklhsiva anführen8. Mit einer Verleihung erfolgte die notwendige Eingliederung der Neubürger in eine fulhv, einen lokalen dh`mo" und eine fratriva, wodurch der Bürgerstatus nicht einzig eine Zugehörigkeit zum Kreise der poli`tai mit sich brachte, sondern den Neubürger auch in lokale, also dem dh`mo" der Gesamtpolis untergeordnete politische Gemeinschaften eingliederte9. Ein von der ejkklhsiva beschlossenes Bürgerrechtsdekret wurde weiterhin auf Stein, zumeist im Bereiche der Akropolis, öffentlich aufgestellt10 und die zu der Verleihung führenden persönlichen Leistungen dabei gewöhnlich im Dekrettext dokumentiert11. Diese Inschriftenstelen sind somit nicht nur als dauerhaft sichtbarer Beleg für die Rechtmäßigkeit des jeweiligen Beschlusses zu verstehen, sondern machten gleichzeitig einen öffentlich manifestierten Maßstab für nachfolgende Bürgerrechtsverleihungen aus, weshalb diese Aufstellung einen wichtigen Aspekt der politischen Tradition des dh`mo" darstellt. Exemplarisch für einen solchen Vorgang kann das Dekret für einen Strombichos aus der 1. Hälfte des 3. Jhs. v.Chr. betrachtet werden12. Dieser Strombichos agierte zunächst als einer der von Demetrios Poliorketes zur Kontrolle der Polis eingesetzten Soldaten. In der folgenden Zeit wechselte er jedoch die Seite und kämpfte, als die Athener am Beginn des 3. Jhs. v.Chr. mit einer militärischen Unternehmung versuchten, ihre Unabhängigkeit von Demetrios zurückzuerlangen, mit diesen erfolgreich gegen die makedonische Besatzung13. Etwas später dann, im Chremonideischen Krieg, 5

LEPPIN 2002, 51 betont mit Recht den in Theophrasts Charakteren ex negativo zum Ausdruck kommenden Stolz der Athener auf ihren Bürgerstatus; siehe etwa Theophr. char. 28,2. Vgl. zu den Charakteren des Theophrast etwa R. J. LANE FOX, Theophrastus’ Characters and the historian, PCPS 42, 1996, 127–170. Zur Datierung siehe STEIN 1992, 21–45. Zum Bürgerstatus in den Komödien dieser Epoche S. LAPE, Reproducing Athens. Menander’s comedy, democratic culture, and the Hellenistic city, Princeton 2004, 21–24. 72–83. 6 Siehe dazu die entsprechende Auflistung bei OSBORNE 1981 n. D 29–D 121. 7 OSBORNE 1983, 145f. 8 Siehe dazu die Präskripte in den jeweiligen Bürgerrechtsdekreten; so etwa IG II2 n. 486 3– . 495 10 1–10 (beide Ende 4. Jh. v.Chr.). 654 1–10 (Anfang 3. Jh. v.Chr.); OSBORNE 1983 n. D 991–7 (Anfang 2. Jh. v.Chr.). 9 Siehe etwa IG II2 n. 394 13–15. 55818–21. 57613–15. 65446–50. 667 22–24. 8567–9. 92213f.. Dazu OSBORNE 1983, 158. 10 Die Anweisung zur Aufstellung des Bürgerrechtsdekretes an einem bestimmten Ort findet sich im Dekrettext selbst; siehe etwa IG II2 n. 37419–22. 50810–12. 55825–29. 71215–18. 85311–13. 98216–18. Vgl. dazu auch die statistische Auflistung von Aufstellungsorten in athenischen Dekreten bei LIDDEL 2003, 85. 11 Siehe hierzu den Überblick von OSBORNE 1983, 216–221. 12 IG II2 n. 666. 667. Vgl. OSBORNE 1981 n. D 78. 13 IG II2 666 7–15: ejpeidh; St∫ rovmbico" strateuovmeno" provteroªnº | para; Dhmhtrivwi kai; kataleifqei;" ejn tw`i a[stei meta; S[pi]|nqavrou, labovnto" tou` dhvmou ta; o{pla uJpe;r th`" ejleuqªerº|iva" kai; parakalou`ªnºto" kai; tou;" stratiwvta" tivqesqaªi pº|ro;" th;m povlin uJphvkousen tw`i dhvmwi eij" th;n ejleuqerivan ªk|aºi; e[qeto ta; o{pla meta; th`" povlew" oijovmeno" dei`n mh; ejnivsªtº|asqai tw`i th`" povlew" sumfevronti ajlla; sunaivtio" genevsªq|aºi tei` swthrivai,

I.1. Der dh`mo" der Athener

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bewährte sich Strombichos abermals für Athen14, so daß ihm für seine Verdienste schließlich vom dh`mo" das Bürgerrecht zuerkannt wurde15. Mit der Verleihung ging auch die Eintragung in fulhv, dh`mo" und fratriva einher16. Die inschriftliche Aufzeichnung sowie öffentliche Aufstellung des Dekretes ist in diesem Fall außerdem durch eine zweifache Ausfertigung belegt17. In hellenistischer Zeit hat es mit der Verleihung des Bürgerstatus keine Abstufung der politischen Rechte gegeben, so daß eine Person, sobald sie das Bürgerrecht – sei es durch Verleihung, sei es durch Geburt – erhielt, allen übrigen Bürgern im politischen Entscheidungsprozeß gleichgestellt war und damit grundsätzlich auch gleiche politische Möglichkeiten besaß18. Die überlieferten Quellen zum Bürgerrecht im hellenistischen Athen lassen darüber hinaus den Schluß zu, daß die Bürgerschaft diesen Status bis in die zweite Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. nur in außergewöhnlichen Fällen verlieh und keineswegs aus einer Notwendigkeit heraus handelte, eine Mindestbürgerzahl in der Polis, etwa zur Besetzung der zahlreichen Ämter, zu erreichen19. Einen besonderen Fall der Bürgerrechtsvergabe stellt in dieser Hinsicht sicherlich diejenige an den gesamten dh`mo" einer anderen Polis dar, wie sie im Jahre 200 v.Chr. den Rhodiern mit der Isopolitieverleihung zuteil wurde20. Hierunter ist allerdings noch keine rechtliche Gleichstelsunepoliovrkei de; kai; to; Mousªei`ºon meta; ªtoº|u` dhvmou kai; suntªeºlesqevªntºwn tei` povlei tw`n prªaºgmavtwªn. 14 IG II2 n. 666 15–18: kº|ai; ta;" loipa;" creiva" ajprofasivstw" parascovmenoª" diatº|etevleken kai; diamemevnhken ejn tei` tou` dhvmou eujªnoivai kaº|i; tou` polevmou genomevnou ªajºnh;r ajgaªqo;º" h\ªn - - - . Bei dem ohne genauere Bezeichnung angeführten Krieg handelte es sich um den Chremonideischen; hierzu OSBORNE 1982, 164; HABICHT 1995, 152. 15 IG II2 n. 667 17–21: (…) o{ti dokei` tei` b|ªoulei` ejpainevsai Strovmbicon kai; stºefanw`sai cru|ªsw`i stefavnwi kata; to;n novmon ajreth`º" e{neka kai; fªi|lotimiva" th`" eij" to;n dh`mon: ei\nai dºe; aujto;n jAqhnªa|i`on kai; tou;" ejkgovnou" aujtou` (…). 16 IG II2 n. 667 21–24: kai; gravºyasqai fulh`|ª" kai; dhvmou kai; fratriva" h|" a]n bouvlhtaºi kata; to;n n|ªovmon. 17 IG II2 n. 666. 667 überliefern die zweifache Ausführung des Dekrettextes. Allerdings ist das Ende des Dekrets nicht erhalten, so daß die gängige Anweisung zur Aufstellung einer Stele fehlt und daher nicht mehr zu ermitteln ist, wo die beiden Exemplare aufgestellt werden sollten. 18 Vgl. OSBORNE 1983, 139, der für die hellenistische Zeit keine rechtliche Unterscheidung anführt, mit der Ausnahme, daß Neubürger das Amt eines Archon nicht übernehmen konnten. [Ps.-] Arist. Ath. pol. 55,2–4 schildert die Bestimmung, diese Amtsträger hätten eine bürgerliche Abstammung über mindestens drei Generationen vorweisen müssen. Zu weiteren Einschränkungen der vorherigen klassischen Zeit OSBORNE 1983, 173–180. Zur bürgerlichen Gleichheit vgl. Theophr. char. 29,3 (dazu LEPPIN 2002, 47; vgl. STEIN 1992, 257f.). Daß in hellenistischer Zeit einzelne ‚Neubürger‘ trotz des verliehenen Status einen persönlichen Nachteil empfunden haben mögen, wie dieses Apollodoros im 4. Jh. v.Chr. ([Ps.-] Demosth. or. XLV 78) beklagte, ist durchaus denkbar, dürfte aber aufgrund der allgemeinen Wertschätzung des Bürgerstatus (vgl. LEPPIN 2002, 51 für Theophrasts Zeit) eine Ausnahme dargestellt haben. 19 OSBORNE 1983, 145f.; ADAK 2003, 240. 20 Polyb. XVI 26,9. Dazu OSBORNE 1983, 96. Vgl. weiterhin die Isopolitieverleihung OSBORNE 1981 n. D 95; dazu OSBORNE 1983, 154. Im Gegensatze zu den allermeisten Bürgerrechtsdekreten wurde dieser Beschluß zum potentiellen Bürgerrecht nicht auf der Akropolis, sondern auf der Agora aufgestellt, was einen Grund darin gehabt haben könnte, dessen ‚potentiellen‘ Charakter sowie das Anrecht auf den Bürgerstatus im Zentrum der Polis allen Bewohnern dauerhaft aufzuzeigen.

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Erstes Kapitel: Athen

lung mit den athenischen Bürgern zu verstehen, woraus ansonsten eine uneingeschränkte Teilnahme am politischen Leben von Athen resultiert hätte; vielmehr bot sich damit für jeden einzelnen Rhodier zunächst nur die Möglichkeit, das verliehene Privileg in der Zukunft zu nutzen21: Erst mit einer Umsiedlung in die Polis Athen sowie einer Einschreibung in die dortige Bürgerliste hätte ein Angehöriger der geehrten rhodischen Bürgerschaft die Umwandlung seines potentiellen in ein uneingeschränktes athenisches Bürgerrecht erlangt22. Im Gegensatz zu den Bürgerrechtsverleihungen an Einzelpersonen lag die Entscheidung über die Zugehörigkeit zum dh`mo" tw`n A j qhnaivwn nunmehr aber nicht weiter bei der athenischen Bürgerschaft selbst, sondern wurde mit der Isopolitieverleihung an den einzelnen Rhodier übertragen23 . Die Exklusivität des dh`mo" bestand notwendigerweise aufgrund einer weiteren Bevölkerung innerhalb der Polis, die nicht der Bürgerschaft zugehörte; von dieser machten die mevtoikoi den größten Teil aus24. Diese mevtoikoi besaßen eine den Bürgern untergeordnete rechtliche Stellung25 und blieben von der politischen Teilnahme grundsätzlich ausgeschlossen26. Als ständig anwesende Bewohner 21

OSBORNE 1983, 181. Wenngleich dieses Verfahren für das hellenistische Athen nicht direkt belegt ist, bestehen für andere hellenistische Poleis vergleichbare Belege; dazu GAWANTKA 1975, 11–20. Daß es sich grundsätzlich um ein sehr hohes Privileg gehandelt haben muß, zeigt der Kontext der IsopolitieVerleihung an die Rhodier (dazu unten im dritten Abschnitt des vorliegenden Kapitels). 23 Zur Stellung der rhodischen Bürger innerhalb ihrer Polis siehe unten das Kapitel zu Rhodos. 24 Im ausgehenden 4. Jh. v.Chr. lebten nach der Angabe von Ktesikles (FGrHist 245 F1) hinsichtlich einer von Demetrios von Phaleron beauftragten Bevölkerungszählung in Attika 10.000 mevtoikoi und 21.000 Bürger; vgl. dazu HABICHT 1995, 67f.; ADAK 2003, 14. 25 Siehe dazu ADAK 2003, 16f. 251–256 sowie ebendort den umfangreichen Abschnitt über die für die mevtoikoi zu erreichenden rechtlichen Vergünstigungen (S. 201–241), woraus sich gleichsam deren geminderte rechtliche Stellung in der Polis ergibt; eine grundsätzliche Veränderung zwischen dem 4. Jh. v.Chr. und der hellenistischen Zeit scheint nicht vorzuliegen. 26 ADAK 2003, 16. In einigen wenigen Fällen sind Bürgerrechtsverleihungen des dh`mo" an mevtoikoi überliefert, wodurch diese auch die Teilnahmeberechtigung an der politischen Organisation der Polis erhielten. Die Anzahl solcher Verleihungen fällt im Vergleiche zu den übrigen überlieferten Bürgerrechtsdekreten jedoch sehr gering aus (ADAK 2003, 239), so daß dieses Privileg eher selten vergeben worden sein sollte und die A j qhnai`oi also in dieser politisch-rechtlichen Hinsicht den mevtoikoi – trotz deren unverkennbaren Bedeutung für die Polis (dazu ADAK 2003, 251–256) – eher restriktiv gegenüberstanden. OSBORNE 1983, 194–200 führt an, daß bezüglich der überwiegend ins 4. Jh. v.Chr. fallenden Bürgerrechtsverleihungen an mevtoikoi für die nachfolgende Zeit bis zur Mitte des 2. Jhs. v.Chr. kein veränderter Umgang zu erkennen ist. Vgl. zu diesem Aspekt die ironisch-kritische Überzeichnung des ‚bäuerlichen‘ Charakters bei Theophrast (char. 4,2) für die Zeit um 300 v.Chr. Daß mevtoikoi in der Zeit der Diadochen in Athen in bestimmten Fällen eine Teilnahmeberechtigung an der ejkklhsiva besessen haben, wie aus einer Anekdote über das dortige Auftreten eines mevtoiko" durch die späten Quellen des Photios (s.v. qeriw`) und der Suda (s.v. qeriw`) hervorzugehen scheint (dazu GAUTHIER 1985, 184; ADAK 2003, 23), muß insofern problematisch bleiben, da in diesem Zeitraum gerade die Phasen der Zensusverfassungen fallen und damit grundsätzlich kurzzeitig veränderte, aber gleichzeitig kaum genauer zu bestimmende politische Bedingungen zu berücksichtigen wären. Weiterhin stünde diese Überlieferung den zeitgenössischen Angaben von Theophrast (char. 4,2) zum standesgemäßen Verhalten eines Bürgers, die politischen Inhalte der ejkklhsivai gerade 22

I.1. Der dh`mo" der Athener

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der Polis wurden sie eigens vom dh`mo" verzeichnet; sie unterlagen in dieser Hinsicht der Kontrolle der Bürgerschaft27. Da die mevtoikoi sich jedoch unter anderem durch finanzielle Aufwendungen an notwendigen Ausgaben der Polis beteiligen konnten28, dürften sie trotz der fehlenden politischen Rechte im alltäglichen Leben durchaus enger an den Kreis der poli`tai gebunden gewesen sein29. Im Falle von diplomatischen auswärtigen Gesandtschaften konnten einzelne, hervorragende mevtoikoi auch politisch für die Polis aktiv werden, wenngleich diese Gesandtschaften vom dh`mo" auf den Weg gebracht und kontrolliert wurden. Mehrere Fälle dieser Art sind für die hellenistische Zeit überliefert30, wobei der bekannteste die sogenannte Philosophengesandtschaft im Jahre 156/5 v.Chr. nach Rom ist31. Bei den hierbei agierenden mevtoikoi handelte es sich um Angehörige der athenischen Philosophenschulen und damit um Personen, die eine besondere rhetorische Bildung und intellektuelle Schärfe besaßen und mitunter auch eigene, gute Beziehungen zu entsprechenden Herrschern vorweisen konnten32, so daß sich die Bürgerschaft mit dem auswärtigen Einsatz dieser Personen eine erfolgversprechende Aussicht auf die Durchsetzung der eigenen Interessen sicherte, was wiederum der gesamten Polis zugute kam und das gegenseitige Verhältnis stärkte. Solche Gesandtschaften blieben jedoch die Ausnahnicht an Außenstehende weiterzutragen, entgegen. Darüber hinaus bestand eine Kontrolle der Teilnahmeberechtigten durch die 30 sullogei`" tou` dhvmou (4. Jh. v.Chr.; dazu HANSEN 1991, 129) und eine mitunter strenge Bestrafung für unberechtigte Teilnehmer ([Ps.-] Demosth. or. XXV 42. 92 (wenigstens für das 4. Jh. v.Chr. belegt). Nach Aischin. Ktes. 224 (330 v.Chr.) konnten xevnoi wohl in der ejkklhsiva als Zuschauer anwesend sein. Es ist denkbar, daß in dieser Hinsicht einige Versammlungen auch bestimmten mevtoikoi als Zuschauern offen standen, zumal diese finanzielle Aufwendungen für die Polis tätigten; ansonsten blieb aber deren Ausschluß von der politischen Organisation die Norm. 27 Zur Institution der Metoikie und den damit einhergehenden Abgaben, die Wahl eines Prostates für die mevtoikoi und die obligatorische Registrierung in einem lokalen dh`mo" siehe WHITEHEAD 1977, 75–77. Der älteren Forschungsmeinung, die Metoikie wäre um 300 v.Chr. abgeschafft worden oder hätte erheblich an Bedeutung verloren, hat jetzt ADAK 2003, 23–27 begründet widersprochen und vielmehr ein Fortbestehen noch bis ins 2. Jh. v.Chr. sehr wahrscheinlich gemacht; so auch M. NIKU, Arctos 36, 2002, 41–57. Nach Mustafa Adak wäre die Metoikie erst mit einer zunehmenden Ansiedlung von Römern und Italikern ab der Mitte dieses Jahrhunderts nicht mehr haltbar gewesen. Vgl. dazu die sich treffend an diese Überlegung von Adak anschließenden Ergebnisse im vorliegenden Abschnitt zur ‚Veränderung unter Rom‘ in diesem Kapitel. 28 Zu den finanziellen Aufwendungen siehe ADAK 2003, 95–142. 29 Vgl. dazu das Resümee von ADAK 2003, 251–256, woraus die enge Verflechtung zwischen mevtoikoi und poli`tai im täglichen Leben der Polis hervorgeht, die wiederum – trotz der bescheideneren Quellenlage – auch für die hellenistische Zeit angenommen werden darf. 30 Siehe dazu die Auflistung bei HABICHT 1994, 240. 31 Der Anlaß der Philosophengesandtschaft war ein Rechtsstreit zwischen Athen und Oropos vor dem römischen Senate. Hierzu sowie zur Gesandtschaft, an der je ein Mitglied der drei großen Philosophenschulen der Stadt – Akademiker, Aristoteliker und Stoiker – teilnahmen, HABICHT 1995, 266f.; ADAK 2003, 180f. (mit dem Verweis auf die entsprechenden Quellen). Siehe grundsätzlich zur Philosophengesandtschaft H. WISKEMANN, Abhandlung über die Sendung drei berühmter Philosophen von Athen nach Rom im Jahre 155 v.Chr., Hersfeld 1867. 32 HABICHT 1994, 240f.; ADAK 2003, 170–183.

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Erstes Kapitel: Athen

me33, so daß grundsätzlich die poli`tai selbst diese Tätigkeit übernahmen. Da schließlich alle Gesandtschaften in direkter Abhängigkeit von den Beschlüssen der Bürgerschaft handelten, blieb das politische Monopol des dh`mo" uneingeschränkt bestehen34. Als weitere, nicht den Bürgern hinzuzuzählende Personengruppe innerhalb der Polis werden in den Inschriften die pavroikoi genannt. Bei ihnen handelt es sich, so bezeugen die überlieferten Ethnika, um Söldner, die dem Befehl der vom dh`mo" der Polis gewählten strathgoiv unterstellt waren und damit im Dienste der Bürgerschaft standen35. Die pavroikoi waren zumeist an bestimmten Orten in Attika stationiert und übernahmen Aufgaben der Verteidigung des Polisterritoriums36. Wenngleich ihnen vom dh`mo" eigene Rechte zugestanden wurden, indem sie etwa als Gruppe Ehrungen beschließen und öffentlich aufstellen lassen konnten37, besaßen sie dennoch keine politischen Rechte und blieben somit von den politischen Entscheidungsstrukturen ausgeschlossen38. Eine weitere, in der epigraphischen Überlieferung angeführte Trennung von Bewohnern der Polis ist grundsätzlicher Art und unterscheidet die Bürger von einer nicht näher differenzierten Gruppe von Nichtbürgern. In einem Bürgerrechtsdekret des ausgehenden 4. Jhs. v.Chr. für den Arzt Euenor aus Akarnanien wird als Grund der politeiva-Verleihung dessen Wohlwollen gegenüber dem dh`mo" hervorgehoben39 und zudem dargelegt, daß seine Tätigkeit neben den Bürgern auch den a[lloi tw`n oijkouvntwn ejn th`i povlei, also den übrigen Bewohnern der Polis, zugute kam40. Die Gesamtheit der Bürger ehrt als dh`mo" damit 33

ADAK 2003, 170. Zu den Ehrungen, die diese Gesandten innerhalb der Polis erlangen konnten, HABICHT 1994, 240–242 35 Vgl. etwa EpigrRhamn. n. 43 (Ende 3. Jh. v.Chr.): ej p eidh; Qeov t imo" strathgo; " ceirotonh|qei;" uJpo; tou` dhvmou (Z. 3f.); ejfrovntisen de; kai; tw`n paroivkwn | tw`n tetagmevnwn uJf j auJto;n (Z. 11f.); dedovcqai toi`" | tetagmevnoi" tw`n paroivkwn JRamnou`nti: ejpainev|sai Qeovtimon Qeodwvrou JRamnouvsion (Z. 19–21); PAPAZOGLOU 1997, 190–193. 211 (mit weiteren Beispielen). 36 Sie waren in Sounion (IG II2 n. 1309b ), Rhamnous und wohl auch in den anderen 6 Festungen der Polis stationiert (vgl. dazu die spezifische Bezeichnung „oiJ tetagmevnoi tw`n paroivkwn ejn JRamnou`nti“); GAUTHIER 1988, 36f. PAPAZOGLOU 1997, 190–193. 37 Siehe etwa EpigrRhamn. n. 23. 27. 30. 43. 47. 51. Vgl. demgegenüber Beschlüsse lokaler poli`tai (EpigrRhamn. n. 31); siehe zu einzelnen (Bürger-) Gruppen in den lokalen dh`moi JONES 1999, 70–81. Zu dieser Thematik wird R. OETJEN eine differenzierte Darstellung mit dem Titel „Die Garnisonsinschriften und die Geschichte Athens im dritten Jahrhundert v.Chr.“ (Stuttgart 2008) vorlegen. 38 GAUTHIER 1988, 36f.; P APAZOGLOU 1997, 211. Die pavroikoi finden sich in der Polis Athen erst im ausgehenden 3. Jh. v.Chr., was auf die veränderte politische Situation nach 229 v.Chr. zurückgeführt werden könnte (dazu GAUTHIER ebendort). 39 IG II2 n. 374 j rgei`|ªon kai; stefanw`sai aujtºo;n 11–14: ejpainevsai Eºujhvnora Eujhpivou A qallou` stefavnwi | ªeujnoiva" e{neken th`" perºi; to;n dh`mon to;n A j qh|ªnaivwn. 40 IG II2 n. 374 4–8: ejpeidh; Eujhv nwr oJ ijºatro;" provterovn te p|ªa`san eu[noian ajpodev|dºeiktai tw`i dhvmwi kai; | ªcrhvsimon eJauto;n paºrevschken kata; th;n tevc|ªnhn toi`" deomevnoi"º tw`m politw`n kai; tw`n a[l|ªlwn tw`n oijkouvntwn ejºn th`i povlei. Die Richtigkeit der Ergänzung von oijkouvntwn ist in diesem Falle mit dem sicheren a[llwn und dem ejn th`i povlei sowie aufgrund der Tatsache, daß es sich um einen Stoichedontext handelt, gewährleistet. 34

I.1. Der dh`mo" der Athener

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eine Person, die sich aufgrund persönlicher Leistungen sowohl gegenüber ihnen selbst als auch gegenüber den übrigen Bewohnern der Polis ausgezeichnet hatte. Eine solche grundsätzliche Unterscheidung von Bürgern und Bevölkerung ist auch im Ehrendekret für Demosthenes berücksichtigt worden41, wo bei der Auflistung seiner erbrachten Leistungen zunächst ausschließlich die Rede ist von Tätigkeiten, die Demosthenes bezüglich des dh`mo" und der poli`tai erbrachte42, während am Ende des Dekrettextes dann aber die allgemeine Angabe folgt, Demosthenes habe auch im Wohlwollen gegenüber dem plh`qo" ausgeharrt43. Die vorangehend konsequent verwendeten Begriffe dh`mo" und polivth" lassen keinen Zweifel daran, daß die allgemeingehaltene Aussage zum Verhalten gegenüber dem plh`qo" nur bedeuten kann, daß bei diesem Objekt im Wortsinne eben die ‚Menge‘ der Polisbewohner im Sinne der allgemeinen Bevölkerung gemeint war und das plh`qo" dementsprechend die bereits angeführten Gruppen umfaßte44. Im hellenistischen Athen bezeichnete also der dh`mo" grundsätzlich die Gruppe derjenigen Personen, die das Bürgerrecht besaßen und am politischen Entscheidungsprozeß sowie der politischen Organisation gleichberechtigt teilnehmen konnten. Diesem dh`mo" oblag die Entscheidungsgewalt über die Verleihung des Bürgerrechtes und damit die Aufnahme von Außenstehenden in den ihm zugehörenden Personenkreis. Die demonstrative und öffentliche Aufstellung der Bürgerrechtsdekrete im Bereich der Akropolis und der Agora, also im Zentrum der Polis, manifestierte hierbei ein offensichtliches Bestreben, die Trennung zwischen Bürgern und den a[lloi tw`n oijkouvntwn ejjn th`i povlei dauerhaft öffentlich zu präsentieren und gleichzeitig mit der steinernen Publikation eine eigene Identifikation und Tradition zu etablieren45. Diese zentrale gesellschaftspoliti41 [Ps.-] Plut. mor. 850F–851C überliefert das nach Demosthenes’ Tod für diesen beschlossene Ehrendekret. 42 [Ps.-] Plut. mor. 850F–851C; etwa „eujergevth/ kai; sumbouvlw/ gegonovti pollw`n kai; kalw`n tw`/ dhvmw/ tw/` A j qhnaivwn“, „kai; kaqwvplise tou;" polivta" tw`n ejlleipovntwn“, „ceirotonhqei;" uJpo; tou` dhvmou“ oder „kai; a[llwn pollw`n kai; kalw`n tw`/ dhvmw/ sumbouvlw/ gegonovti kai; pepoliteumevnw/ tw`n kaq j eJauto;n pro;" ejleuqerivan kai; dhmokrativan a[rista“. 43 [Ps.-]. Plut. mor. 851C: diameivnanti ejn th`/ pro;" to; plh`qo" eujnoiva/ kai; oijkeiovthti. 44 Die Übersetzung und Interpretation von Harold N. Fowler in der entsprechenden Ausgabe der Loeb Classical Library, Plutarch’s Moralia Vol. 10 (Havard 1960), mit „persisting in his loyalty and devotion to the democracy“ ist mit der eigentlichen Bedeutung von plh`qo" nicht in Übereinstimmung zu bringen. Ob das plh`qo" aus Sicht der Athener auch die Bürger selbst einbezog oder einzig die Nichtbürger meinte, kann für das ausgehende 4. Jh. v.Chr. nicht sicher bestimmt werden. In den weiterhin herangezogenen Poleis der vorliegenden Untersuchung kennzeichnet to; plh`qo" in eben dieser für das Athen des ausgehenden 4. und beginnenden 3. Jh. v.Chr. überlieferten Form die Bevölkerung der Polis auch in der folgenden hellenistischen Zeit. 45 Problematisch bleibt in dieser Hinsicht die Sichtweise von COHEN 2000, 11–22 (bes. 22 mit älterer Literatur), der weniger eine Trennung zwischen Bürgern und Nichtbürgern als vielmehr zwischen Arm und Reich sieht sowie weiterhin zwischen klassischer und hellenistischer Zeit wenig differenziert. Cohen gelangt zu seiner Sichtweise jedoch nur, indem er der politischen Bedeutung des Bürgerrechtes eine untergeordnete, aus Sicht der hier vorliegenden Untersuchung keineswegs zutreffende Bedeutung beimißt. Offen muß bei seinen Ausführungen deshalb insbesondere die Frage bleiben, warum die Athener nichtsdestotrotz über mehrere Jahrhunderte ihrem Bürgerrecht eine derart hohe Bedeutung hätten zukommen lassen sollen. Des

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Erstes Kapitel: Athen

sche Differenzierung wurde allerdings im Athen des ausgehenden 4. Jhs. v.Chr. gleich zweimal außer Kraft gesetzt, indem durch äußere Machteinwirkung ein Teil der rechtmäßigen Bürger ihrer politischen Rechte durch einen Zensus beraubt und somit den a[lloi tw`n oijkouvntwn ejjn th`i povlei mehr oder minder gleichgestellt wurde46. Einerseits bedeutete dieses nun, wie von der bisherigen Forschung auch herausgestellt, eine Ausgrenzung der entrechteten Gruppe von der politischen Organisation und Entscheidungsgewalt der Polis. Andererseits sahen sich darüber hinaus die durch den Zensus ohnehin nicht zu den vermögenden Bewohnern zählenden entrechteten Bürger sogar, was für die Forschung bisher keine Rolle spielte, einer doppelten gesellschaftlichen Herabwürdigung gegenüber, indem sie mit diesem veränderten Status nunmehr auch hinter diejenigen Nichtbürger zurücktraten, die mit persönlichen finanziellen Aufwendungen für dh`mo" und Polis eine gesellschaftlich exponierte Stellung einnahmen und daher im alltäglichen Leben durchaus enger der Gruppe der poli`tai verbunden waren47. Vor dem Hintergrund der beschriebenen politischen Exklusivität des dh`mo" bedeuteten die Zensusregelungen des ausgehenden 4. Jhs. v.Chr. also nicht nur eine politische Ausgrenzung, sondern gleichzeitig und vielmehr noch eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Veränderung innerhalb der gesamten Bevölkerung der Polis: Durch den Zensus konnte sich sehr deutlich eine Schicht von reichen Bürgern und Nichtbürgern von einer allgemein ärmeren Bevölkerung einschließlich der entrechteten Bürger unterscheiden, wohingegen eine zuvor durchaus große Zahl ärmerer Bürger48 aufgrund ihrer politischen Rechte einem exklusiven Kreise der Polis zuzurechnen war und sich so deutlich von den reicheren Nichtbürgern unterschied. In hellenistischer Zeit blieb es für Athen schließlich bei den zwei zeitlich befristeten Zensusverfassungen des ausgehenden 4. Jhs. v.Chr., während in der darauf folgenden Zeit bis zur Mitte des 2. Jhs. v.Chr. die weiteren kommt Cohen in seiner Untersuchung nicht zu einer Bestimmung der dem dh`mo"Begriffe zugehörenden Personengruppe, wodurch aber nun gerade in den epigraphischen Quellen – und damit aus Sicht der Bürger selbst – die hervorragende Stellung der poli`tai innerhalb der Polis hervorginge. Zudem bliebe, Cohens Sichtweise folgend, die vehemente Reaktion der in den Zensusverfassungen des ausgehenden 4. Jhs. v.Chr. ausgeschlossenen Bürger gänzlich unerklärt (siehe dazu das Folgende sowie den dritten Abschnitt in diesem Kapitel). Die gesellschaftlich anerkannte und häufig auch hohe Stellung von Nichtbürgern, besonders von zahlreichen mevtoikoi im alltäglichen Leben braucht dadurch keineswegs unberücksichtigt zu bleiben und läßt sich bei der hier zugrundeliegenden Differenzierungfähigkeit der antiken Polisbewohner bezüglich eines politischen und eines gesellschaftlichen Bereiches sogar naheliegend erklären. 46 Dieses ist die Zensusverfassung nach Athens Niederlage im Lamischen Kriege sowie diejenige von 317–307 v.Chr. unter Kassander und Demetrios von Phaleron. 47 Siehe hierzu etwa die ejpivdosei"-Aufwendungen von mevtoikoi in der Übersicht bei ADAK 2003, 100f. (vgl. ebendort 95–160 mit zahlreichen Beispielen auch für die hellenistische Zeit). Siehe weiterhin die Angaben bei COHEN 2000, 11–22, bes. 22 (mit weiterer Literatur). Vgl. für einen Einzelfall etwa HABICHT 1982, 82 (mit Anm. 18) zum Wiederaufbau der Häfen nach dem Abzuge der Makedonen nach 229 v.Chr., an dem sich eben auch Nichtbürger beteiligten. 48 Zwischen 322 und 319 v.Chr. wurden aufgrund der Zensusverfassung über die Hälfte der Bürger von der politischen Teilnahme ausgeschlossen; siehe dazu den dritten Abschnitt in diesem Kapitel.

I.1. Der dh`mo" der Athener

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Zugehörigkeitskriterien zum dh`mo" unverändert in der althergebrachten Form fortbestehen sollten49. Abschließend sei für die hier aufgeführten Zusammenhänge von Bürgerschaft und übrigen Bewohnern der Polis angemerkt, daß die gängige Übersetzung des Begriffes dh`mo" mit dem deutschen Wort ‚Volk‘ die notwendige Exklusivität dieser Gruppe gegenüber den übrigen Bewohnern innerhalb des Gemeinwesens nur ungenügend zu kennzeichnen vermag und daher – wie eingangs beschrieben und in den folgenden Kapiteln weiter ausgeführt – hiervon gänzlich abzusehen ist50. Stattdessen wird die Gruppe der poli`tai grundsätzlich und zutreffender als ‚Bürgerschaft‘ bezeichnet, während für die Gesamtheit der Polisbewohner der Begriff ‚Bevölkerung‘ verwendet wird, wodurch die entsprechende Abgrenzung des dh`mo" deutlicher hervortritt und letztlich auch mit einer notwendigen Genauigkeit unterschieden werden kann, wann von den Bürgern und wann von der Gesamtheit respektive den übrigen Bewohnern der Polis die Rede ist – eine terminologische Trennung also, die insbesondere für die Beachtung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche innerhalb der Polis nicht unerheblich ist51: Wenn also beispielsweise ein basileuv" sich an den dh`mo" oJ jAqhnaivwn wandte52, wurde damit unmißverständlich die Gesamtheit der poli`tai und eben jeder einzelne Bürger selbst angesprochen, während die übrige Bevölkerung hiervon ausgegrenzt blieb. Und wenn ein besonderer Einsatz für den dh`mo" zu einer Ehrung eines Einzelnen führte53 oder bestimmte Opfer vor dem dh`mo" verkündet werden sollten54, war in den Quellen ebenso unmißverständlich die Gesamtheit der Bürger gemeint, während die übrige Bevölkerung der Polis entsprechend unberücksichtigt blieb oder bleiben sollte. Daß diese für die weitere Untersu49 Die mit den beiden Zensusverfassungen einhergehenden politischen Situationen sowie das daraus für Athen erwachsende Konfliktpotential werden im Abschnitt „dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva“ ausführlich behandelt. Auf den Wandel im Umgange mit dem Bürgerstatus in der 2. Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. wird am Ende des vorliegenden Kapitels zurückzukommen sein, da dessen hinreichende Erklärung insbesondere aus dem Verständnis der vorangehenden politischen und historischen Veränderungen zu erreichen ist. 50 Gleiches gilt für entsprechende Begriffe etwa im Englischen (the people), im Französischen (le peuple) oder im Italienischen (il popolo). Vgl. zu der begrenzten Aussagefähigkeit dieser Terminologie etwa HANSEN 1991, der unter „5. The People of Athens“ (S. 86–124) auch die Bevölkerung jenseits der Bürger anführt, im folgenden Kapitel dann aber von „The Assembly of the People“ spricht. 51 Ist von der Bürgerschaft die Rede, so wird dadurch zunächst vor allem ein politischer (und mitunter freilich auch ein dazugehöriger kultischer) Bereich impliziert, während bei weiteren Bevölkerungsgruppen zunächst von einer gesellschaftlichen Ebene auszugehen ist. 52 Siehe dazu im dritten Abschnitt die Anwesenheit zahlreicher auswärtiger Gesandtschaften in Athen insbesondere zwischen dem Zweiten Makedonischen Krieg und dem Ende des Perseuskrieges. 53 Siehe etwa IG II2 n. 657 58–60 : ejpainevsai Filippivdhn Filoklevou" Kefalªh`º|qen ajreth`" e{neka kai; eujnoiva" h|" e[cwn diatelei` pªeº|ri; to;n dh`mon to;n jAqhnaivwn. 54 Siehe dazu etwa die trotz des ironischen Anklanges unmißverständliche Angabe von Theophrast (char. 21,11): ajmevlei de; kai; dioikhvsasqai [scil. oJ mikrofilovtimo"º para; tw`n sumprutavnewn, o{pw" ajpaggeivlh/ tw`/ dhvmw/ ta; iJerav, kai; pareskeuasmevno" lampro;n iJmavtion kai; ejstefanwmevno" parelqw;n eijpei`n: „w\ a[ndre" A j qhnai`oi, ejquvomen oiJ prutavnei" ªta iJera;º th`/ Mhtri; tw`n qew`n ta; Galavxia, kai; ta; iJera; kalav, kai; uJmei`" devcesqe ta; ajgaqav“.

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Erstes Kapitel: Athen

chung notwendige Begriffsschärfung aus der Sicht eines zeitgenössischen polivth" und dessen Selbstverständnis und Identifikation mit der eigenen Polis sowie grundsätzlich seiner ‚bürgerlichen Identität‘ eine kaum zu unterschätzende Bedeutung hatte, braucht an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden.

I. 2. DIE POLITISCHEN INSTITUTIONEN DER POLIS 2.1. Die lokale politische Organisation Die dh`moi In hellenistischer Zeit bestanden die fest in die politische Organisation der Gesamtpolis eingebundenen dh`moi als Grundeinheiten weiterhin fort, wobei die diesbezüglichen Quellen des 3. Jhs. v.Chr. grundsätzlich die Angaben der pseudoaristotelischen A j qhnaivwn politeiva und der epigraphischen Quellen der 2. Hälfte des 4. Jhs. v.Chr. bestätigen – die ihrerseits wesentliche Einblicke in deren Organisation ermöglichen55 –, so daß an dieser Stelle für den Kontext der dh`moi auch auf diese zeitlich direkt vorangehenden Belege zurückgegriffen werden kann. Das wichtigste politische Organ der zum lokalen dh`mo" gehörenden Bürger, den dhmovtai, bildete deren als ajgorav bezeichnete Versammlung56. Die Häufigkeit des Zusammentreffens der lokalen Versammlungen ist nicht sicher zu bestimmen, wobei jedoch von regelmäßigen Treffen ausgegangen werden muß57, zu denen aufgrund der Kleinräumigkeit dieser lokalen Gebiete auch ad hoc einberufene Treffen hinzuzurechnen sind58. Neben der Wahl von Amtsträgern des eigenen dh`mo"59 und den Beschlüssen über Ehrungen60 bestand eine wesentliche 55 Vgl. hierzu die Untersuchung von WHITEHEAD 1986, der nicht zwischen dem 4. Jahrhundert und der darauffolgenden Zeit des 3. Jhs. v.Chr. differenziert, gleichsam aber aufgrund der ab etwa 300 v.Chr. abnehmenden Belege zu den dh`moi einen Bedeutungswandel einhergehen sieht (ebendort 360f.). Zu einem möglichen „Niedergang“ der dh`moi am Beginn der hellenistischen Zeit sowie zu den Veränderungen gegenüber dem 4. Jh. v.Chr. siehe JONES 1999, 143–150. Vgl. zur vorhellenistischen Zeit die knappe Übersicht bei JONES 1987, 61–65 sowie allgemein TRAILL 1975, 95–103. Eine Übersicht über Quellenbelege zu den dh`moi bieten WHITEHEAD 1986, 374–393 und JONES 1987, 87–89. Siehe auch die chronologisch-quantitative Auflistung der Belege bei JONES 1999, 143f. Anm. 68. Eine Studie des dh`mo" Sounion hat jetzt vorgelegt H. R. GOETTE, O J ajxiovlogo" dh`mo" Souvnion. Landeskundliche Studien in Südost-Attika, Rahden/ Westf. 2000. Vgl. weiterhin H. LOHMANN, Atene. Forschungen zu Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur des klassischen Attika, Köln/Weimar/Wien 1993. 56 Siehe WHITEHEAD 1986, 86–90; JONES 1987, 62 mit Anm. 7; JONES 1999, 87–89. 57 So ist für den dh`mo" der Aixonier mit ejn tei` ajgora`i tei` kur|ivai eine Hauptversammlung belegt (IG II2 n. 12021f.; Ende 4. Jh. v.Chr.), womit freilich weitere Versammlungen impliziert werden; vgl. WHITEHEAD 1986, 90f. mit Anm. 19. 58 Siehe dazu die Angaben bei WHITEHEAD 1986, 91. Zum Versammlungsorte, der nicht ausnahmslos im lokalen dh`mo" gelegen haben muß, ebendort 86–90. 59 Dazu WHITEHEAD 1986, 114–119. Neben der Wahl von Magistraten führt David Whitehead (ebendort mit Belegen) als zwei weitere regelmäßige, den einzelnen dh`moi zukommende Aufgaben die lokale Finanzverwaltung sowie die Organisation von Kulten und Feierlichkeiten an.

I.2. Die politische Organisation der Polis

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Aufgabe der lokalen ajgorav in der jährlich stattfindenden Aufnahme neuer dhmovtai. Da die Zugehörigkeit zur Polisbürgerschaft die Zugehörigkeit zu einem lokalen dh`mo" voraussetzte, dazu die Bürger der Polis in den dh`moi verzeichnet waren61, besaßen diese lokalen Gruppen aufgrund der jährlichen Aufnahme und der damit verbundenen Kontrolle des Bürgerrechts bereits eine hervorragende gesamtpolitische Bedeutung. Das Demotikon als Angabe des eigenen lokalen dh`mo" in der Namensnennung war auch in hellenistischer Zeit für jeden Bürger sichtbarer Ausdruck dieser rechtmäßigen Zugehörigkeit62. Aus den dh`moi wurden weiterhin die jährlichen bouleutaiv der boulhv der Polis gewählt, wobei die Anzahl der Amtsträger auf einer im 3. Jh. v.Chr. zunächst weiterhin konstanten Zahl für den jeweiligen lokalen dh`mo" beruhte63. Entsprechend der Angabe der pseudoaristotelischen A j qhnaivwn politeiva wurde diese Wahl nach dem Losverfahren durchgeführt64. Aus welchem Personenkreis der lokalen Bürgerschaft die bouleutaiv gewählt wurden, kann nicht entschieden werden. So ist vorstellbar, daß sie entweder aus dem Kreis der gesamten dortigen Bürger oder nur aus den Kandidaten gelost wurden65. Da die Quellen jedoch nicht auf einen Ausschluß bestimmter Bürger von diesem Losverfahren verweisen, muß vorausgesetzt werden, daß grundsätzlich für jeden polivth" die Möglichkeit der Teilnahme an der boulhv mittels Losverfahren bestand66. Im Gegensatze zur polisweiten politischen Organisation ist für die dh`moi kein geschäftsführendes Gremium der Versammlung im Sinne eines lokalen Rates überliefert. Ein Grund hierfür dürfte einerseits in der Kleinräumigkeit der dh`moi bestanden haben, während andererseits die geringe Teilnehmerzahl in den ajgoraiv zu einer charakteristischen Unmittelbarkeit führte, die umfangreich vorzubereitende und zeiteffektiv zu gestaltende Versammlungen kaum notwendig erschienen ließ. Innerhalb der dh`moi kamen dem dhvmarco" zentrale Aufgaben der lokalen Organisation zu, indem er die jeweilige ajgorav einberief und deren Verlauf leitete67. Zudem war er für die Ausführung von beschlossenen Ehrungen zuständig und besaß weiterhin Kompe60

Dazu WHITEHEAD 1986, 111–114. [Ps.-] Arist. Ath. pol. 42,1f.; WHITEHEAD 1986, 97–103; JONES 1987, 61. 62 WHITEHEAD 1986, 67–69. Ab dem 4. Jh. v.Chr. setzte sich in der Polis eine ‚tria nomina‘ als standardisierte Namensgebung durch, wozu eben auch die Angabe des eigenen dh`mo" zählte; WHITEHEAD 1986, 72, Anm. 25 mit Belegen. Vgl. dazu etwa Demosth. or. XXXIX 9. Siehe weiterhin [Ps.-] Arist. Ath. pol. 21,4. 63 TRAILL 1986, 123–140. 64 [Ps.-] Arist. Ath. pol. 43,2: boulh; de; klhrou`tai F, N ajpo; fulh`" eJkavsth". 62,1: ejpeidh; d j ejpwvloun oiJ dh`moi, kai; tauvta" ejk th`" fulh`" o{lh" klhrou`si plh;n bouleutw`n kai; frourw`n. Vgl. dazu WHITEHEAD 1986, 266–270. 65 Hierzu WHITEHEAD 1986, 267f. mit Anm. 47. 66 Unklar muß auch der Ort der bouleutaiv-Wahl bleiben, die entweder in der ajgorav stattfand oder innerhalb der fulaiv durchgeführt wurde. Die von WHITEHEAD 1986, 268–270 vertretene Meinung, das Losverfahren wurde auf der Ebene der fulaiv bei bestimmten Treffen durchgeführt, ist durchaus naheliegend. Hierfür spricht sicherlich auch die Kontrollmöglichkeit solcher Vorgänge aufgrund eines größeren ‚offiziellen‘ Rahmens; siehe zu dieser Diskussion WHITEHEAD 1986, 266–271. 67 WHITEHEAD 1986, 121f.; JONES 1987, 61. 61

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Erstes Kapitel: Athen

tenzen im kultischen und finanziellen Bereich68. Anstehende Entscheidungen wurden jedoch von der Gesamtheit der dhmovtai in den ajgoraiv getroffen69, wobei deren Entscheidung auf einer lokalen Eigenständigkeit beruhte, die nur bei bestimmten, die gesamte Polis betreffenden Aspekten – wie etwa der Überprüfung der Bürgerlisten – eingeschränkt war70. Die lokalen Bürgerschaften trafen also für ihren eigenen Bereich grundsätzlich souveräne Entscheidungen71. Ein von Nicholas Jones für die hellenistische Zeit angeführter Bedeutungsverlust der dh`moi, indem „the Attic deme (…) suffered after the end of the fourth century an increasing loss of function, until it disappeared altogether on the eve of Greece’s absorption by Rome“72, scheint hinsichtlich der weiterhin bestehenden integrativen Funktion der dh`moi als Grundeinheit für die politische Organisation der Polis zweifelhaft. Jones führt als Beleg seiner Aussage insbesondere die Anzahl der überlieferten Dekrete aus den dh`moi an, die, gemessen an der Zahl der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v.Chr., für das folgende 3. Jh. v.Chr. geringer ausfällt73. Demgegenüber zeigen aber gerade die ab 307/6 v.Chr. einsetzenden Ehrendekrete für die prutavnei", also dem jeweils nach fulaiv rotierenden geschäftsführenden Ausschuß der boulhv, eine Hervorhebung dieser dh`moi. In diesen Ehrendekreten wurden die Mitglieder der jeweiligen fulhv für ihre Amtsführung geehrt und nach dh`moi geordnet angeführt74. Da außerdem diese Form der Auflistung das gesamte 3. Jh. v.Chr. beibehalten wurde75, kann darin ein durchaus gewichtiges Argument für eine weiterhin bestehende lokale Identifikation und Tradition gesehen werden. Zudem bezeugen zahlreiche Inschriften der hellenistischen Zeit die boulhv der Polis als ein funktionierendes und wesentlich am politischen Prozeß beteiligtes Gremium des Stadtstaates, so daß indirekt auch hieran eine Relevanz der lokalen Organisation abgelesen werden muß, denn wenigstens bis zum Ende des 3. Jhs. v.Chr. wurden die bouleutaiv nach festgelegten Zahlen aus den dh`moi gelost. Zu berücksichtigen wäre in dieser Hinsicht ebenfalls, daß man die Neubürger auch weiterhin in die dh`moi einloste. Der von Jones angeführte „loss of function“ der dh`moi kann also kaum auf deren Rolle

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Siehe hierzu den Überblick bei WHITEHEAD 1986, 121–139, wobei allerdings die Einschränkungen durch Zuständigkeiten von weiteren Amtsträgern im lokalen dh`mo" zu beachten sind; dazu ebendort 139–144. Bei der politischen Organisation der dh`moi bestanden mitunter lokale Unterschiede und Besonderheiten. 69 WHITEHEAD 1986, 94f. 70 WHITEHEAD 1986, 100–104 (mit der älteren Literatur); vgl. etwa Demosth. or. LVII passim. Zur Eigenständigkeit siehe allgemein die Entscheidungs- und Zuständigkeitsbereiche der ajgoraiv bei JONES 1987, 62–65. 71 Das athenische Delos stellt in dieser Hinsicht einen Sonderfall dar. Obwohl Delos als lokale Bürgerschaft bezeichnet werden kann und eigene Beschlüsse faßte, wurden zentrale Amtsträger von der Bürgerschaft der Gesamtpolis gewählt. 72 JONES 1999, 144. 73 JONES 1999, 143f. Anm. 68 mit einer Auflistung der überlieferten Belege für die klassische und hellenistische Zeit. 74 M ERITT/TRAILL 1974, 2f. 75 M ERITT/TRAILL 1974, 2f.

I.2. Die politische Organisation der Polis

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innerhalb der politischen Organisation der Polis bezogen werden und ebenso ist, da die politische Organisation in den dh`moi fortbestand, für diesen Bereich auch kein ‚Niedergang‘ festzustellen. Daß hingegen Belege aus den dh`moi für das 3. Jh. v.Chr. weniger zahlreich überliefert sind als für die zweite Hälfte des 4. Jhs. v.Chr., liegt viel eher in einer weniger nachdrücklich verfolgten öffentlichen Aufstellung der eigenen Beschlüsse begründet, womit sich jedoch ohne weiteres noch kein allmählicher Funktionsverlust der dh`moi begründen läßt. Auf eine im 3. Jh. v.Chr. sich nach und nach verändernde Bürgerzahl innerhalb der dh`moi verweisen hingegen die schwankenden Quoten der bouleutaiv ab 200/199 v.Chr, die noch für die vorangehende Zeit dementgegen konstante Werte aufweisen76. Dieser Bruch kann möglicherweise mit einer Losung der bouleutaiv innerhalb der nächst größeren politischen Organisationseinheit, den fulaiv, erklärt werden77, so daß sich daraus mitunter für einen dh`mo" mit einer zuvor geringen Zahl von bouleutaiv eine nunmehr hohe Quote ergeben konnte78. Ein Grund für eine derart veränderte Bestimmungsmethode ließe sich dann wiederum in einer nicht mehr ausreichend großen Anzahl von Kandidaten innerhalb eines dh`mo" erkennen, weshalb schließlich auch veränderte Bürgerzahlen in den lokalen Einheiten angenommen werden könnten. Dieses ist insofern naheliegend, weil die dh`moi weiterhin geographisch festgelegte Größen blieben und die dortige Bürgerzahl gewissen Veränderungen unterlag79. Eine entsprechende Umgestaltung der Bestimmungsmethode zeigte dann aber auch, daß mit der neuen Verfahrensweise die politische Organisation an die veränderten, zeitgemäßen Umstände angepaßt worden wäre, womit freilich einherginge, daß ein problemloses Funktionieren der politischen Organisation sichergestellt werden sollte. Während der lokale politische Bereich von der ejkklhsiva der Polis weitgehend unabhängig blieb, liegt bei der Verwaltung der Athen 167 v.Chr. von den Römern zugesprochenen Insel Delos ein Sonderfall vor80. Obwohl die dortigen Bürger, oiJ jAqhnai`oi oiJ ejn Dhvlwi katoikouvnte"81, ihre Amtsträger eigenständig wählten82, bestand ein wesentlicher Unterschied zur übrigen lokalen Organisation darin, daß der oberste Amtsträger von Delos, der ejpimelhth;" Dhvlou, von der 76 TRAILL 1975, 61–64. Bereits in der Zeit vor 200 v.Chr. gab es kleinere Schwankungen bei der Anzahl der bouleutaiv der dh`moi, die jedoch mit ein bis zwei Amtsträgern zu vernachlässigen sind. Nach 200 v.Chr. hingegen kommt es dann jedoch zu extremeren Veränderungen dieser bouleutaiv-Quoten, so daß bisherige Zahlen kaum noch als Grundlage genommen worden sein konnten. Insgesamt sind im Zeitraum zwischen 200/199 v.Chr. bis 126/7 n.Chr. keine genauen Quoten zu bestimmen. 77 TRAILL 1975, 64. 78 TRAILL 1975, 64 führt in dieser Hinsicht das signifikante Beispiel des dh`mo" Azenia an, der vor 200 v.Chr. zwei bouleutaiv in den Rat entsandte, während für die folgende Zeit mitunter erheblich höhere Zahlen überliefert sind (vgl. ebendort, Anhang Tafel VIII (Hippontis), s.v. Azenia). 79 Die dh`moi bestanden bis in die Kaiserzeit fort; dazu TRAILL 1975, 64. 80 HABICHT 1995, 250. 81 Siehe etwa IdDélos n. 1497 18–20; vgl. ROUSSEL 1987, 34. 82 ROUSSEL 1987, 42–50 zur Organisation des hellenistischen athenischen Delos. Vgl. HABICHT 1995, 250.

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Erstes Kapitel: Athen

gesamten athenischen Bürgerschaft bestimmt wurde83 . Auch kennzeichnen Anweisungen von Seiten der boulhv an die A j qhnai`oi oiJ ejn Dhvlwi katoikouvnte", daß Interessen der athenischen ejkklhsiva in diesem Falle gegenüber der lokalen Autonomie Vorrang hatten84. Das Interesse der gesamten Bürgerschaft an einer weitgehenden Kontrolle dieses ihr von den Römern zugesprochenen Besitzes ist dabei insbesondere durch die hiermit verbundene erhebliche Vergrößerung der athenischen Einnahmen und einer Steigerung des überregionalen Prestiges der Polis zu erklären85 . Die fulaiv und trittuve" Neben den dh`moi bestanden auf lokaler Ebene auch in hellenistischer Zeit die beiden weiteren politischen Bereiche, in die die poli`tai der Polis eingebunden waren, fort: die fulaiv und trittuve". Über die interne Organisation der trittuve" sind aufgrund der wenigen Quellenbelege keine genaueren Aussagen möglich86, so daß auch deren Bedeutung für die politische Einbindung des einzelnen Bürgers nicht genauer zu bewerten ist87; ihre zentrale Bedeutung für die politische Organisation der Gesamtpolis blieb freilich unverändert88. Eine genauere Kenntnis der internen Organisation besteht hingegen für die fulaiv89. Deren Mitglieder traten in ebenfalls ajgoraiv genannten Versammlungen zusammen90, in denen die jeweiligen Jahresbeamten bestimmt sowie Ehrungen in Form von Kranzverleihungen, Lobaussprechungen oder Aufstellungen von Ehrenstatuen beschlossen wurden91. Darüber hinaus kamen den fulaiv im Bereiche der militärischen Organisation der Polis wesentliche Aufgaben zu92. Die Zusammentreffen der fulevtai dürften, da es sich hierbei um zusammengesetzte Bürgergruppen aus verschiedenen Gebieten der Polis handelte93, im wesentlichen in zeitlicher und örtlicher 83 Zum ejpimelhth;" Dhvlou oder ejpimelhth;" th`" nhvsou siehe ROUSSEL 1987, 97–99; HABICHT 1994, 264–286. 84 Siehe dazu die Anweisungen der boulhv zur Umsetzung eines senatus consultum in bezug auf Delos; IdDélos n. 1510; vgl. SHERK Documents n. 5 (Kommentar). 85 Siehe HABICHT 1995, 259–264; RHODES/LEWIS 1997, 33. 86 Für die Belege zum trittuvarco" siehe JONES 1987, 60f. 87. T RAILL 1986, 89 nimmt an, daß die trittuvarcoi der trittuv" gleichzeitig als ejpimelhtaiv der fulaiv agierten. 87 So auch JONES 1987, 60: „The thirty trittyes are scarcely documented as internally organized associations“. 88 Für die politische Organisation der Polis wurden die über 130 dh`moi in jeweils zehn trittuve" Stadt, Binnenland und Küste aufgeteilt, wovon wiederum drei trittuve" einer jeden Kategorie eine fulhv konstituierten. 89 Siehe dazu JONES 1987, 58f. Die Belege stammen im wesentlichen aus der Zeit der 2. Hälfte des 4. sowie des 3. Jhs. v.Chr. und können aufgrund ihrer Übereinstimmung insgesamt auch auf das 3. Jh. v.Chr. bezogen werden. Eine Übersicht über die Belege bietet JONES 1987, 86f. 90 Dazu J ONES 1999, 161f.; vgl. etwa IG II2 n. 1165 33f. (ca. 300–250 v.Chr.): ejavn tino" devhtai ejmfanivzont|a" tei` fulei` o{tan ajgora;n poiw`sin (…). 91 Dazu JONES 1999, 163–168. 174–191. 92 Siehe dazu die Zusammenstellung bei JONES 1987, 53–57. 93 Durch die Zuordnung jeweils einer trittuv" Stadt, Binnenland und Küste auf eine fulhv befanden sich Bürger aus ganz unterschiedlichen und über das Polisgebiet verteilten dh`moi nicht nur in den trittuve", sondern gerade auch in den fulaiv.

I.2. Die politische Organisation der Polis

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Nähe zu den Versammlungen der gesamten Bürgerschaft der Polis stattgefunden haben94, wobei in der ajgorav der fulhv die drei jährlich zu bestimmenden ejpimelhtaiv präsidierten95, die jeweils aus einer der drei zugehörenden trittuve" gewählt wurden96. Zu den drei ejpimelhtaiv kamen noch weitere Amtsträger, die innerhalb der fulhv agierten97 und solche, die für die fulhv Ämter in der Gesamtpolis übernahmen98 . Während im Zeitraum vom späten 4. Jh. v.Chr. bis zum Ende des 3. Jhs. v.Chr. keine wesentlichen Umgestaltungen der internen Organisation der fulaiv zu erkennen sind99, veränderten die Athener in dieser Zeit jedoch mehrmals deren Gesamtzahl. So kam es nach der Befreiung der Polis von der Vorherrschaft des Makedonenkönigs Kassander 307/6 v.Chr. zunächst zur Einrichtung zweier neuer fulaiv, die nach Antigonos Monophthalmos und dessen Sohn Demetrios Poliorketes, den zentralen Persönlichkeiten dieser Befreiung, ehrenhalber Antigonis und Demetrias benannt wurden100. Damit ging gleichzeitig eine neue Zuordnung der dh`moi auf nunmehr 36 trittuve" und zwölf fulaiv einher101, wobei allerdings die vorherige Zahl der dh`moi bestehen blieb102. In der folgenden hellenistischen Zeit wechselte die Anzahl der fulaiv – und damit auch der trittuve" – noch weitere Male: 224/3 v.Chr. wurde zu Ehren von Ptolemaios III. Euergetes eine 13. fulhv eingerichtet103, während 200 v.Chr. auch Attalos I. Soter diese Ehrung zuteil wurde104. Darüber hinaus beseitigten die Athener zu dieser späteren Zeit die fulaiv Antigonis und Demetrias wieder105, so daß schließlich die ab 200 v.Chr. bestehenden zwölf fulaiv bis in hadrianische Zeit fortbestehen sollten106. Eine solche, scheinbar ohne größere Schwierigkeiten vollzogene Neuverteilung 94

Zum Versammlungsort in der Nähe der Akropolis JONES 1987, 58f.; JONES 1999, 161–164. Die Annuität belegt etwa IG II2 n. 116518f.: oiJ ejpimelhtai; | oiJ aijei; kaqistavmenoi kat j ejniauto;n (so auch in Z. 31f.); vgl. IG II2 n. 11646–8 (Anfang 3. Jh. v.Chr.); siehe zudem JONES 1999, 174f. Nach JONES 1999, 175 besaßen die ejpimelhtaiv auch die Zuständigkeit für die ajgorav, womit sie wohl auch in dieser präsidierten (ebendort mit Belegen). 96 Zur Zusammensetzung dieses Gremiums aus jeweils einem Vertreter einer trittuv" T RAILL 1986, 79–90. 97 Siehe hierzu die Belege bei JONES 1987, 86 Anm. 1. 98 So etwa die ajqloqevtai in [Ps.-] Arist. Ath. pol. 60,1. Aufgrund der (pseudo-)aristotelischen A j qhnaivwn politeiva sowie weiterer Quellen sind mehrere Polisämter überliefert, deren Amtszahl denen der fulaiv entspricht. Eine Besetzung nach fulaiv ist in einigen Fällen sicher, in anderen naheliegend; siehe dazu die Auflistung bei JONES 1987, 46f. 99 Vgl. JONES 1987, 58f. 100 Zur Einrichtung der beiden neuen fulaiv 307/6 v.Chr. siehe TRAILL 1975, 26; HABICHT 1995, 77. Vgl. zudem Philochoros FGrHist 328 F48. 101 Zur Aufteilung T RAILL 1975, 26–29. 102 TRAILL 1975, 26. 103 TRAILL 1975, 29. Die Athener richteten außerdem einen neuen dh`mo" zu Ehren der Berenike ein, den sie nach ihr benannten; hierzu sowie zur Neuverteilung der dh`moi siehe TRAILL 1975, 29f. 104 Polyb. XVI 25,9; Liv. XXXI 15,6. TRAILL 1975, 30f. auch zum neugeschaffenen dh`mo" der Apollonieis zu Ehren der Frau des Attalos, Apollonis. Vgl. dazu HABICHT 1982, 145. 105 Siehe HABICHT 1982, 145–150. Vgl. HABICHT 1995, 200. 106 TRAILL 1975, 31. 103. 95

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Erstes Kapitel: Athen

der dh`moi auf die fulaiv kennzeichnet die Flexibilität der politischen Zuordnung und bezeugt die fulaiv als veränderbare Größen, während das unveränderte Fortbestehen der althergebrachten dh`moi107 demgegenüber die Bedeutung dieser grundlegenden Organisationseinheit der athenischen Bürgerschaft aufzeigt. In hellenistischer Zeit waren die athenischen Bürger im lokalen Bereich somit auf mehreren Ebenen in eine vielgestaltige politische Organisation eingebunden. Insbesondere die dh`moi und fulaiv lassen durch die Versammlungen, die Ämterbesetzung und die Beschlußfassung eine fortwährende und regelmäßige Auseinandersetzung des einzelnen Bürgers mit den aktuellen politischen Geschehnissen unzweifelhaft voraussetzen. Die Verknüpfung der lokalen mit der polisweiten politischen Organisation, wie sie etwa durch die Losung der bouleutaiv und durch die Verankerung des Bürgerrechts in den dh`moi gegeben war, bezeugt dabei gleichsam einen Bezug der einzelnen Ebenen zueinander und läßt darüber hinaus die Auseinandersetzung des einzelnen Bürgers mit der Politik der gesamten Polis notwendig annehmen108. Ein politisches Betätigungsfeld, auf dem der einzelne Bürger entsprechend seinem persönlichen Einsatz Einfluß erlangen und auch ausüben konnte, indem er aktiv am politischen Prozeß teilnahm, hat somit bereits auf lokaler Ebene bestanden109. 2.2. Die politische Organisation der Gesamtpolis Die ejkklhsiva Der politische Entscheidungsträger und damit das zentrale politische Organ in der Polis Athen blieb in hellenistischer Zeit die ejkklhsiva110. Der Versammlung oblagen bis zum Beginn des 1. Jhs. v.Chr. alle grundsätzlichen politischen Entscheidungen der Polis. So entschied sie über Verhalten und Umgang gegenüber den auswärtigen Mächten111 und brachte die Gesandtschaften für die damit 107

Mit der Ausnahme der aufgrund des quantitaven Verhältnisses an dieser Stelle zu vernachlässigenden ganz wenigen neu geschaffenen dh`moi. 108 Vgl. WHITEHEAD 1986, 266 zu einer gleichzeitig bestehenden Identifikation der Bürger mit ihrem lokalen dh`mo". 109 Nicht berücksichtigt werden können für die vorliegende Untersuchung die Phratrien, die ebenfalls als eine Organisationsform der poli`tai bestanden, gleichsam aber keine direkte Verbindung zu der politischen Entscheidungsfindung innerhalb der Polis besaßen. Siehe zu den Phratrien JONES 1999, 195–220. 110 Zur Teilnahmeberechtigung aller Bürger an der ejkklhsiva siehe [Ps.-] Arist. Ath. pol. 42,5; zur Kontrolle der Zugangsberechtigung durch die sullogei`" tou` dhvmou zur Zeit des Demosthenes siehe AGORA XV n. 3878–81; zum pivnax ejkklhsiastikov" Demosth. or. XLIV 35; vgl. zu beidem HANSEN 1991, 129 (mit den entsprechenden Quellennachweisen) sowie WHITEHEAD 1986, 98. 103f. 111 Vgl. stellvertretend hierzu das sogenannte Chremonides-Dekret IG II2 n. 686. 687 (STAATSVERTRÄGE III n. 476) zum Bündnis mit Sparta, welches kurz darauf zum Krieg gegen Antigonos Gonatas und die Makedonen sowie deren Verbündete führen sollte. Siehe weiterhin Polyb. XVI 25f. zum Kriegsbeitritt der Athener gegen Philipp V. und dem daraus resultierenden Zusammengehen mit Attalos I. und den Rhodiern.

I.2. Die politische Organisation der Polis

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verbundene Diplomatie auf den Weg112. Bürgerrechtsverleihungen sowie Verleihungen von Ehrungen der Polis113 lagen ebenso in ihrer Zuständigkeit wie die Wahl von zahlreichen politischen Amtsträgern114. Für eine Entscheidungsfindung insbesondere in außenpolitischen Fragen bestand die Notwendigkeit, die gesamte Bürgerschaft möglichst umfassend über die entsprechenden Zusammenhänge zu unterrichten, weshalb die ejkklhsiva auch der Ort blieb, an dem Gesandtschaften auftraten oder Anliegen von auswärtigen Mächten vorgetragen wurden115. Das politische Monopol der Bürger ging daher mit einem exklusiven Wissen über die außenpolitischen Vorgänge einher, welches den übrigen, nicht teilnahmeberechtigten Bewohnern der Polis in dieser Form nicht zuteil wurde, diese damit also auch von einer offiziellen ‚internationalen‘ politischen Kommunikation und Meinungsbildung in der Polis ausgeschlossen blieben. Hieraus ist aber gleichsam zu folgern, daß mit der politischen Tätigkeit der Bürger und Bürgerschaft eine eigene Tradition und Identifikation erwuchs, die selbst für ärmere Bürgerschichten ein politisches Bewußtsein mit sich brachte, aufgrund dessen sie sich von den übrigen Bewohnern unterscheiden konnten. Die Wahrung dieses exklusiven politischen ‚Wissensmonopols‘ kann als ein Kennzeichen für ein standesgemäßes Selbstverständnis der poli`tai gerade für die Zeit gesehen werden, in welcher der dh`mo" die oben beschriebene herausragende Position und Exklusivität innerhalb der Polis besaß. Für die frühe hellenistische Zeit wird diese Annahme durch Theophrast bestätigt, der seinen ‚bäuerlichen‘ Charakter, der seinerseits Athener Bürger ist, unter anderem dadurch als ehrlos kennzeichnet, daß dieser nach der Teilnahme an einer ejkklhsiva die ebendort diskutierten und entschiedenen Themen sogleich an seine Arbeiter weiterträgt116. Mittels einer überspitzten und negativ gekennzeichneten Darstellung wird hier also das Bewahren eines exklusiven Wissens um die politische Auseinandersetzung und Meinungsfindung in der ejkklhsiva als standesgemäßes bürgerliches Verhalten charakterisiert, dessen Mißachtung zwar nicht unter Strafe stand, jedoch keineswegs einer mehrheitlich anerkannten Bürgertradition entsprach117. 112 Vgl. etwa STAATSVERTRÄGE III n. 476 46f. zu athenischen Gesandten im ChremonidesDekret und stellvertretend insgesamt die Phase der sich stetig intensivierenden Diplomatie zwischen 229 und 168 v.Chr.; siehe dazu unten den dritten Abschnitt; vgl. PERRIN-SAMINADAYAR 1999. 113 Siehe zu den Bürgerrechtsverleihungen die zahlreichen Belege hellenistischer Zeit bei OSBORNE 1981 und OSBORNE 1982. Die Beschlußfassung durch die versammelte Bürgerschaft ist durch die Formel e[doxe th`i boulh`i kai; tw`i dhvmwi gesichert, wenngleich der Antrag hierfür in vielen Fällen von der boulhv gestellt worden ist. 114 Für das 4. Jh. v.Chr. siehe die Angaben bei HANSEN 1991, 159f. Zur fortbestehenden Gültigkeit in hellenistischer Zeit HABICHT 1995, 14. 115 Vgl. etwa für die Zeit des Zweiten Makedonischen Krieges Polyb. XVI 26. Siehe hierzu auch den Beschluß der Bürgerschaft am Ende des 4. Jhs. v.Chr., keine Personen mit Schreiben des Königs Demetrios Poliorketes mehr vor die ejkklhsiva treten zu lassen (Plut. Demetrios 24,6–8), wodurch freilich ein ansonsten regelmäßig bestehender Kontakt impliziert wird. Siehe weiterhin die entsprechenden Belege unten im dritten Abschnitt. 116 Theophr. char. 4,6: kai; toi`" par j aujtw`/ [scil. oJ a[groiko"] ejrgazomevnoi" misqwtoi`" ejn ajgrw`/ pavnta ta; ajpo; th`" ejkklhsiva" dihgei`sqai. 117 Siehe dazu LEPPIN 2002, 46; vgl. STEIN 1992, 72–75.

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Erstes Kapitel: Athen

Die Anzahl der Versammlungen lag in der Zeit der ΔAqhnaivwn politeiva noch bei vier regelmäßigen Treffen; dazu kamen weitere unregelmäßige Treffen innerhalb einer prutaneiva118. Daß auch in hellenistischer Zeit eine vergleichbare Regelmäßigkeit bestand, legen die epigraphischen Quellen nahe119, obwohl eine exakte Anzahl nicht zu bestimmen ist120. Wenngleich in Zeiten der Zensusverfassungen respektive der direkten makedonischen Einflußnahme wohl nur die notwendigen Versammlungen stattgefunden haben, liegen demgegenüber gerade aus den Phasen der außenpolitischen Unabhängigkeit zahlreiche Dekrete vor, die auf intensivere politische Auseinandersetzungen hindeuten121. Gleiches gilt insbesondere für die erste Hälfte des 2. Jhs. v.Chr., in der Athen seine diplomatischen Kontakte und außenpolitischen Bestrebungen stetig intensivieren konnte122, so daß die Bürgerversammlung als Entscheidungsträger und Ort der Entscheidungsfindung besonders in dieser Zeit ständig neuerliche Impulse erhielt. Über die Anzahl der Versammlungsteilnehmer lassen die Quellen ebenfalls keine sicheren Angaben zu. Zwar ist für das 1. Jh. v.Chr. die Zahl von 3616 Teilnehmern überliefert123, jedoch dürfen hieraus keineswegs direkte Rückschlüsse auf eine Teilnehmerzahl in der vorangegangen hellenistischen Zeit gezogen werden. Wie unten im dritten Abschnitt zu den ‚Veränderungen unter Rom‘ zu zeigen sein wird, können für die Zeit der 2. Hälfte des 2. Jhs. sowie für das 1. Jh. v.Chr. bereits wesentliche Veränderungen in der politischen Praxis kenntlich gemacht werden, die einen Bedeutungsverlust der ejkklhsiva und damit ein zurückhaltendes Interesse an der politischen Entscheidungsfindung annehmen lassen müssen. Für die vorangehenden Phasen der politischen Unabhängigkeit bis 118

[Ps.-] Arist. Ath. Pol. 43,3–6; HANSEN 1991, 133–135; ERRINGTON 1994, 135f.; RHODES/ LEWIS 1997, 13. 119 ERRINGTON 1994 hat gezeigt, daß eine Unterscheidung der Hauptversammlung (ejkklhsiva kuriva) von weiteren Versammlungen (ejkklhsivai) der Bürgerschaft je prutaneiva, wie sie von [Ps.-] Arist. Ath. pol. 43,4–6 beschrieben wird, ab 336/5 v.Chr. in den Dekreten belegt ist; vgl. hierzu RHODES 1995, 187–191. Da diese formale Bezeichnung in den Präskripten der Dekrete bis ins 1. Jh. v.Chr. bestehen blieb (ERRINGTON 1994, 140; ERRINGTON 1995, 20), ist ebenso von einer fortbestehenden Regelmäßigkeit der Versammlungen in der folgenden hellenistischen Zeit auszugehen. 120 RHODES/LEWIS 1997, 14 führen an, daß „after 307, when there were more than ten tribes and so more than ten prytanies, there were perhaps three regular assemblies per prytany, equivalent in twelve-tribe periods to three per month“. 121 HABICHT 1995, 79f. Siehe dazu auch den folgenden dritten Abschnitt in diesem Kapitel; vgl. weiterhin HEDRICK 1999, 402–406. WOODHEAD 1997, 167 mahnt hinsichtlich der zahlreichen athenischen Dekrete zwischen 307/6 und 201/200 v.Chr., die inzwischen bei den Grabungen auf der Agora zutage traten, vor einer Unterschätzung (!) ‚der Rolle der Athener auf der Bühne der hellenistischen Geschichte‘, was bezogen auf die Rolle der ejkklhsiva gleichsam eine Warnung vor einer Unterschätzung der politischen Aktivität der athenischen Bürgerschaft in dieser Zeit bedeutete. 122 Dazu ebenfalls ausführlicher im folgenden Abschnitt. Siehe weiterhin P ERRIN-SAMINADAYAR 1999 zur umfangreichen athenischen Diplomatie in der Zeit zwischen 229 v.Chr. und dem Ende des Dritten Makedonischen Krieges. 123 IG II2 n. 1035 : CCCHHHHGDI n aiJ de; tetruphmevnai, ai| oujk ejdovkei n n n HGG. RHODES/ 3 LEWIS 1997, 14. 510. Î

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zur Mitte des 2. Jhs. v.Chr., die demgegenüber ein breiteres außenpolitisches Entscheidungsspektrum der Bürgerschaft mit sich brachten, ist aus diesem Grunde vielmehr ein stärkeres Interesse und somit eine größere Beteiligung der Bürger an der ejkklhsiva vorauszusetzen124. Auch darf zugrunde gelegt werden, daß eine Teilnahme in gewisser Weise in direkter Abhängigkeit von der Relevanz der zu treffenden Beschlüsse stand, so daß in den Zeiten, in denen über kriegerische Auseinandersetzungen abzuwägen war oder aber Athen verstärkt in eine überregionale Mächtekonstellation eingebunden war und somit ganz grundsätzlich zahlreichere diplomatische Aktivitäten auf den Weg gebracht werden mußten, mehr Bürger die ejkklhsiva besuchten. Eine Teilnehmerzahl von 3616, wie sie für das 1. Jh. v.Chr. überliefert ist, kann daher für die Zeit des außenpolitisch unabhängigen hellenistischen Athen bis zur Mitte des 2. Jhs. v.Chr. allenfalls als ein minimaler Wert angesehen werden125. Eine Gesamtzahl der Bürger ist demgegenüber nur für den Beginn der hellenistischen Zeit mit 21.000 jAqhnai`oi überliefert126, die dann während der nachfolgenden beiden Jahrhunderte in einem nicht genauer zu bestimmenden Maße zurückgegangen sein dürfte127. Inwieweit daher auch in nachklassischer Zeit noch eine Mindestteilnehmerzahl für bestimmte Entscheidungen notwendig war, kann nicht gesagt werden128; die Entscheidungen der Bürgerschaft sind in hellenistischer Zeit ansonsten weiterhin nach einem Mehrheitsbeschluß zustande gekommen129. Die boulhv Wenngleich innerhalb der politischen Organisation der Gesamtpolis die endgültige Entscheidungsgewalt für polisweite Bestimmungen bei der versammelten Bürgerschaft lag, übernahm die boulhv als geschäftsführender Ausschuß und gewissermaßen komplementäres Gremium zur ejkklhsiva zahlreiche notwendige Aufgaben. Besetzt wurde die boulhv durch jeweils 50 erloste bouleutaiv jeder fulhv130, so daß deren Gesamtzahl entsprechend der Anzahl der fulaiv ab dem ausgehenden 4. Jh. v.Chr. entweder 500, 600 oder 650 betrug, ab 200 v.Chr. dann bis in hadrianische Zeit mit 600 konstant blieb131. Eine Einschränkung für das 124

Auch hierauf wird im folgenden Abschnitt ausführlicher zurückzukommen sein. Siehe zum Bürgerstolz aufgrund der Teilnahme an der ejkklhsiva um ca. 300 v.Chr. die zahlreichen Bemerkungen in Theophrasts Charakteren; dazu LEPPIN 2002, 46. 125 Vgl. hierzu die Angaben und Schätzungen von HANSEN 1991, 130–132 zur klassischen Zeit, insbesondere zum 4. Jh. v.Chr. 126 Diese Zahl ist überliefert durch Ktesikles FGrHist 245 F1; vgl. HABICHT 1995, 67f.; ADAK 2003, 14. Andere moderne Schätzungen gehen für diese Zeit von etwa 30.000 Bürgern aus; siehe dazu HANSEN 1991, 92f. (mit weiterer Literatur). 127 Dieses lassen die bereits angeführten veränderten Quoten der bouleutaiv nach 200 v.Chr. annehmen. 128 Zum Quorum von 6.000 Stimmen für bestimmte Beschlüsse im 4. Jh. v.Chr. siehe HANSEN 1991, 130f.; GAUTHIER 1990, 77–84. 129 RHODES/LEWIS 1997, 13 (mit den entsprechenden Quellenbelegen). Für die klassische Zeit siehe HANSEN 1991, 147f. 130 [Ps.-] Arist. Ath. pol. 43,2; TRAILL 1975 xiii–xvi. 131 RHODES 1972, 1; TRAILL 1975 xvi–xviii; MÜLLER 1995, 43.

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Erstes Kapitel: Athen

Amt eines bouleuthv" hat es in hellenistischer Zeit offensichtlich nicht gegeben132, so daß das Losverfahren grundsätzlich jedem Bürger den Zugang zum Rat eröffnen konnte. Da zudem eine mehr als zweifache Besetzung dieses Amtes nicht die Regel war, wird eine große Bürgerschaftsmehrheit wenigstens einmal als bouleuthv" ein politisches Amt bekleidet haben133. Zu den Aufgabenbereichen der bouleutaiv gehörten vorbereitende Tätigkeiten für die Bürgerversammlung134, die Ausführung der täglichen Geschäfte der Polis135, eine Kontrolle von Amtsträgern und politischen Abläufen136 sowie die Funktion als anzusprechendes Gremium für Bürger und Bewohner in polisrelevanten Angelegenheiten137, wobei eine Veränderung zwischen der 2. Hälfte des 4. Jhs. v.Chr. und der nachfolgenden Zeit des 3. und 2. Jhs. v.Chr. nicht zu erkennen ist138. Innerhalb der boulhv blieb der aus klassischer Zeit bekannte regelmäßige Wechsel des geschäftsführenden Ausschusses auch in hellenistischer Zeit bestehen, so daß die bouleutaiv jeder fulhv für einen gleichen Teil des Jahres die prutaneiva ausübten139 . Wenngleich die Entscheidungshoheit der ejkklhsiva bereits betont wurde, ist bezüglich der Machtkompetenz der boulhv an dieser Stelle grundsätzlich anzuführen, daß durch den Rat wie auch innerhalb des Rates schon aufgrund seiner Zusammensetzung keine eigenständige Politik gegenüber der ejkklhsiva betrieben werden konnte: So führte einerseits der wenigstens zehnmalige Wechsel der Ratsführung innerhalb eines Jahres zu einer Berücksichtigung aller lokalen Siedlungsbereiche der Polis, weshalb eine geschlossene politische Meinung nur dann anzunehmen ist, wenn auch ein allgemeiner politischer Konsens der Bürgerschaft bestand. Andererseits war die Zusammensetzung der bouleutaiv durch die Losung, die fehlende Möglichkeit einer mehrmaligen Besetzung sowie 132

Siehe oben. RHODES 1972, 3 (mit Hinweisen zu den wenigen Ausnahmen von dieser Regelmäßigkeit) sowie RHODES/LEWIS 1997, 11. Eine boulhv mit jährlich neugewählten 500 Mitgliedern brachte mit sich, daß nach einem Zeitraum von 40 Jahren insgesamt 20.000 Personen dieses Amt ausgeübt hatten. Dieses entspricht etwa der Bürgerzahl des ausgehenden 4. Jhs. v.Chr. Da das Eintrittsalter für die Besetzung politischer Ämter 30 Jahre betrug, hätten die Bürger durchweg 70 Jahre alt werden müssen, damit jeder Bürger wenigstens einmal das Amt eines bouleuthv" innegehabt hätte. Mit der Einrichtung der beiden makedonischen Phylen 307 v.Chr. stieg die Bouleutenzahl pro Jahr um weitere 100 Amtsträger, so daß eine zweimalige Besetzung dieses Amtes durchaus häufig vorgekommen sein muß; vgl. hierzu HANSEN 1991, 248f. 134 RHODES 1972, 52–87 (mit den nicht gesondert aufgeführten Abschnitten zu den hellenistischen Belegen; dies gilt auch für die folgenden drei Verweise auf RHODES 1972). 135 RHODES 1972, 88–143; vgl. HANSEN 1991, 259–264; weiterhin MÜLLER 1995, 47. 136 RHODES 1972, 144–178; vgl. HANSEN 1991, 257–259; MÜLLER 1995, 45. 137 RHODES/LEWIS 1997, 12f. 28f.; vgl. HANSEN 1991, 252f. 138 RHODES 1972, 221–223. Ebendort allerdings mit Einschätzungen zu Athens hellenistischer Geschichte, die nicht mehr haltbar sind; so etwa, daß „Athens [nach 229 v.Chr.] remained free but unimportant until occupied by Sulla in 86“. 139 MERITT /TRAILL 1974, 1–3. Dieselben bezeichnen die prutavnei" und bouleutaiv als „the Athenians who ruled the Athenian State“ (ebendort 24). Die prutaneiva dauerte entsprechend der Gesamtzahl der fulaiv 1/10, 1/12 beziehungsweise 1/13 des Jahres. Den Vorsitz in der boulhv und in der ejkklhsiva übernahmen spätestens seit der Zeit der pseudoaristotelischen A j qhnaivwn politeiva die provedroi; dazu RHODES 1972, 25; vgl. MÜLLER 1995, 44. 133

I.2. Die politische Organisation der Polis

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den regelmäßigen Wechsel dieses Amtes einer grundsätzlichen Zufälligkeit unterworfen, die keinen Spielraum für die Annahme eines eigenständigen politischen Machtblocks läßt. Da weiterhin in der ejkklhsiva Bürger aus den einzelnen dh`moi saßen, aus denen eben auch Teilnehmer in den Rat gelost wurden, diese somit keine besonderen Bürgergruppen ausgemacht haben können, ist die mögliche Annahme von entgegengesetzten politischen Gremien sogar vollständig auszuschließen140. Das dikasthvrion Über ein weiteres, in der Forschung zum klassischen Athen vielbehandeltes politisches Gremium liegen für die hellenistische Zeit nur ganz wenige Belege vor, die zudem kaum gesicherte Aussagen über dessen Zuständigkeiten und politische Rolle erlauben: das dikasthvrion. Ist für das 4. Jh. v.Chr. die jährliche Losung von 6.000 Richtern aus dem Kreise der über 30jährigen poli`tai überliefert141, die Urteile etwa über die Rechtmäßigkeit von Beschlüssen, Bürgerrechtsverleihungen oder Ämterführungen trafen142, sind diese Zuständigkeiten für die darauffolgende Zeit nur ganz ungenügend belegt. Allerdings beruht die detaillierte Kenntnis der vorangehenden Zeit auf der pseudoaristotelischen ΔAqhnaivwn politeiva sowie den umfangreich erhaltenen Schriften von attischen Rednern, womit es sich um Quellen handelt, die in dieser Form und diesem Umfang für das hellenistische Athen nicht vorliegen143, so daß aufgrund der fehlenden Hinweise sicherlich noch kein Bedeutungsverlust oder eine grundsätzliche Veränderung der Institution ‚dikasthvrion‘ gefolgert werden darf. Wenngleich also die epigraphischen Quellen hellenistischer Zeit in dieser Hinsicht im allgemeinen kein differenziertes Bild erwarten lassen, lassen dennoch einzelne Hinweise eine weiterhin zentrale Bedeutung des dikasthvrion für die politische Organisation der Polis erahnen. In mehreren Bürgerrechtsdekreten dieser Zeit wird für eine rechtmäßige Verleihung die dokimasiva, also eine Rechtmäßigkeitsprüfung des verliehenen Bürgerstatus, angeführt, welche vom dikasthvrion durchzuführen war144, und ebenso verweisen Angaben zur Untersuchung der Ämterführung nach Beendigung einer politischen Amtszeit auf die fortbestehende Relevanz 140 Den früher häufiger vertretenden Forschungsstandpunkt einer (gewissen) Souveränität der boulhv faßt RHODES 1972, 52f. zusammen. Hierauf braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden, wenngleich die ältere Sichtweise auch für freie hellenistische Poleis noch in jüngeren Überblickswerken angeführt wird. Eine detaillierte Studie der boulhv in hellenistischer Zeit wird demnächst Patrice Hamon vorlegen. Vgl. bereits HAMON 2001 und HAMON 2005. 141 HANSEN 1991, 181–183. 189f. 213–219. 142 HANSEN 1991, 205–212. 143 Zur literarischen und epigraphischen Überlieferung für das hellenistische Athen siehe HABICHT 1995, 105–111. 121–128; A. L. BOEGEHOLD, The Lawcourts at Athens. Sites, Buildings, Equipment, Procedure, and Testimonia (The Athenian Agora XXVIII), Princeton 1995, 41f. passim. 144 Siehe AGORA XVI n. 316 3f. (um 130 v.Chr.): dedovsqai | de; aujtw`i kai; politeivan dokimasqºevnti ejn tw`i dikaªsthrivwi. Weiterhin etwa IG II2 n. 398b (Ende 4. Jh. v.Chr.); OSBORNE 1983, 164–167; RHODES/LEWIS 1997, 38.

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Erstes Kapitel: Athen

dieser Institution145. Beide Aufgaben betonen demnach eine Kontrollfunktion des dikasthvrion, wie sie bereits im 4. Jh. v.Chr. innerhalb der politischen Organisation bestanden hat. Inwieweit solche Zuständigkeiten während Athens makedonischer Abhängigkeit einen Bedeutungsverlust oder Bedeutungswandel erfuhren, ist aufgrund der Quellenlage ebensowenig zu klären wie die Frage nach einer grundsätzlichen Bezahlung bei der Übernahme einer Tätigkeit als dikasthv"146. Der Areopag Eine Sonderrolle nimmt in der politischen Organisation auch in hellenistischer Zeit die ejx A j reivou pavgou boulhv, der sogenannte Areopag, ein. In dieses Gremium gelangten die jährlich gelosten a[rconte" der Polis nach Beendigung ihres Amtes, wobei sie entgegen der sonst üblichen Annuität politischer Ämter im Areopag eine Zugehörigkeit auf Lebenszeit behielten147. In der Forschung hat man mitunter eine Veränderung der demokratischen Strukturen an einer zunehmenden Gerichtsbarkeit des Areopags im 4. Jh. v.Chr. und darüber hinaus festmachen wollen. Besaß der Areopag zuvor die Zuständigkeiten für Tötungsdelikte148, so sind ihm im 4. Jh. v.Chr. durch Beschlüsse der ejkklhsiva weitere Kompetenzen zugesprochen worden, die vormalig von der Bürgerversammlung und dem Bürgergericht wahrgenommen worden waren149. Mogens Hansen hat diese Veränderung dahingehend beurteilt, daß „throuout the fourth century, we can see its [scil. der Areopag] powers expanding all the time“, und dann in Hinblick auf die hellenistische Zeit weiter ausgeführt, daß „that tendency continued into the Hellenistic age, and came full circle in the age when Athens was a provincial city of the Roman Empire“150. Hansens Einschätzung zum Areopag ist nun jedoch nur bedingt zutreffend. Zunächst einmal läßt sich seine Annahme einer tendenziell expandierenden Macht des Areopags in hellenistischer Zeit für das 3. sowie für die meiste Zeit des 2. Jhs. v.Chr. bisher nicht belegen151. Die nachweislich 145

IG II2 n. 84727–30. 100860f.. 101141f.; RHODES/LEWIS 1997, 54f.; FRÖHLICH 2004, 104–106. RHODES/LEWIS 1997, 55 schließen sich hinsichtlich einer Richterbezahlung der Einschätzung von FERGUSON 1911, 289f. an, der sich für Diäten aussprach. Ebenso verweisen sie darauf, daß fehlende Belege zum dikasthvrion nicht gegen eine praktizierte demokratische Verfassung sprechen müssen (ebendort 38). Die Bezahlung für eine Teilnahme am dikasthvrion in hellenistischer Zeit ist nicht belegt, obwohl naheliegend; vgl. dazu die Belege für eine Bezahlung der Teilnahme an Festveranstaltungen IG II2 n. 95614f.. 9579f.. 95812. 95911f. (RHODES/LEWIS 1997, 55). 147 Nach ihrem Archontat und einer Überprüfung der Amtsführung wurden die Archonten auf Lebenszeit in den Areopag gewählt; [Ps.-] Arist. Ath. pol. 3,2. 60,3; HANSEN 1991, 288–290. 148 HANSEN 1991, 290f. 149 HANSEN 1991, 291–294 (mit den Veränderungen und Belegen). Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Areopag im 4. Jh. v.Chr. von SCHUBERT 2000, 125–132, die eine zunehmende Kompetenz des Areopags in politischen Belangen konstatiert. 150 HANSEN 1991, 290; so schon BUSOLT/S WOBODA 1920/26, 935. 151 Zwar nahm der machtpolitische Einfluß des Areopags am Ende des 4. Jhs. v.Chr. unter Demetrios von Phaleron nochmals zu (WALLACE 1989, 201–206), jedoch reduzierte sich dessen Einfluß in der folgenden freiheitlichen Phase wieder. Für die Zeit des 3. und 2. Jhs. v.Chr. ist eher von einer Machtkontinuität zu sprechen. Siehe zum Areopag in hellenistischer Zeit weiterhin die Diskussion der Quellenbelege bei DE BRUYN 1995, 165–184. 146

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bestehenden Veränderungen im ausgehenden 2. und beginnenden 1. Jh. v.Chr. sind hingegen unter grundsätzlich veränderten politischen Verhältnissen zu verstehen, wobei der Wandel des Areopags nur ein Symptom eines komplexeren gesellschaftspolitischen Wandels dieser Zeit darstellt, dessen Ursachen in dem hier vorliegenden Abschnitt zu den ‚Veränderungen unter Rom‘ detaillierter behandelt werden152. Muß also einerseits für die in dieser Untersuchung im Mittelpunkt stehenden Zeit weniger von einem Machtzuwachs als vielmehr von einer Machtkontinuität gesprochen werden, ist hinsichtlich der Zuständigkeit des Areopags andererseits grundsätzlich die Frage nach dessen Rolle ab etwa 300 v.Chr. anzuschließen. Zunächst verweist die Art und Weise der Zusammensetzung des Gremiums generell auf eine Absicherung der Bürgerschaft gegenüber einer übermäßigen politischen Machtkonzentration, indem die für die Teilhabe an diesem Gremium berechtigten a[rconte" weiterhin nach dem Los bestimmt wurden153. Möchte man also den Areopag im Sinne der von Hansen postulierten „expanding power“ als politischen Machtblock verstehen, so stellt sich bezüglich einer politischen Praxis sogleich die Frage, wie, trotz dieser letztlich mittels Zufälligkeit bestimmten ajreopagivtai, ein weitgehend einheitliches Agieren des Gremiums zustande gekommen sein sollte. Selbst wenn man zugrunde legte, daß der Bewerberkreis der a[rconte" sich auf wohlhabendere Bürgerschichten begrenzte154, wären innerhalb des Areopags immer noch verschiedene politische Interessengruppen der Bürgerschaft vertreten gewesen; eine dafür wiederum anzunehmende monokausale gesellschaftspolitische Sicht einer reichen Klientel, die einer armen Bürgerschicht gegenüberstand, entspricht aber weder den historisch-politischen Gegebenheiten innerhalb der Polis in der 2. Hälfte des 4. Jhs. v.Chr. noch denen der darauffolgenden hellenistischen Zeit155. Schließlich bedarf es zur genaueren Kennzeichnung der ejx A j reivou pavgou boulhv eines Blickes auf deren Abhängigkeit von der ejkklhsiva: Sind nämlich die Kompetenzerweiterungen des Gremiums im 4. Jh. v.Chr. gerade durch einen Beschluß der ejkklhsiva zustande gekommen156, so hat damit eben auch die versammelte Bürgerschaft über die 152 TRACY 1979, 227–229 führt eine herausragenden Stellung des Areopags bereits für die Zeit um 100 v.Chr. an. 153 Nach [Ps.-] Arist. Ath. pol. 8,1. 55,1 wurden in einer Vorwahl aus jeder fulhv zunächst zehn Kandidaten erlost, aus denen dann in einer gemeinsamen Hauptwahl jeweils ein a[rcwn (respektive in einem Falle der Sekretär der Thesmoteten) aus jeder fulhv gelost wurde; vgl. dazu den Kommentar von RHODES 1981, 146–148. 154 Das Amt des a[rcwn unterlag im 4. Jh. wohl keiner Vermögensqualifikation; RHODES 1981, 147f. 155 Siehe dazu die im folgenden, dritten Abschnitt diskutierten politischen Umbrüche innerhalb der Polis nach dem Lamischen Kriege bis hin zur Wiedererlangung der ejleuqeriva von 229 v.Chr. und darüber hinaus. 156 Zur Überwachung der Heiligtümer in Athen und Attika zusammen mit anderen Gremien: IG II2 n. 20416–33; zu Kontrolle und Eingriffsrecht bei der Besetzung bestimmter hoher Ämter: Demosth. or. XVIII 134 (athenischer Vertreter in einem internationalen Gerichtsverfahren zu Delos); Plut. Phokion 16,3 (Strategenwahl); zur Anzeige und Untersuchung (sogenannte ajpovfasi") von innenpolitischen Bestrebungen, die gegen die Polis gerichtet waren sowie bei Bestechung oder Verrat die bei HANSEN 1991, 292 angeführten Belege. Daß nach Dein. 1,62 der Areopag das Urteilsrecht über alle Delikte in der Polis ohne Einspruchmöglichkeit besessen hat

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Erstes Kapitel: Athen

Zuständigkeiten der ajreopagivtai bestimmt, weshalb eine Kompetenzerweitung entweder als Symptom eines grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Wandels innerhalb der Bürgerschaft gesehen werden muß oder aber, und dies scheint aufgrund weiterhin bestehender, ausgeprägter politischer Interessengruppen sowie der Beibehaltung des Losverfahrens sicherlich naheliegender, darin zunächst eine Veränderung von Zuständigkeiten innerhalb der politischen Organisation der Polis zu erkennen ist. Dementsprechend ist es sinnvoller, für das 4. Jh. v.Chr. von einem allmählich ausgeweiteten Aufgabenbereich des Areopags zu sprechen. Wenngleich dessen Zuständigkeiten innerhalb der Polis dadurch zwar vergrößert wurden, ist diesem Gremium im freien und unabhängigen Athen der hellenistischen Zeit bis hin zum ausgehenden 2. Jh. v.Chr. keine übermäßige und – insbesondere gegenüber der ejkklhsiva – keine signifikante eigenständige Machtposition zuteil geworden157. Beurteilung Die angeführten Zuständigkeiten und Abhängigkeiten der zentralen Gremien im hellenistischen Athen kennzeichnen allgemein den Zustand der politischen Organisation während der freien und unabhängigen Zeit der Stadt. Obwohl für die Phasen der direkten äußeren Machteinwirkung und einer damit einhergehenden Fremdbestimmung, sei es unter Kassander, Demetrios Poliorketes oder Antigonos Gonatas, sei es während der sogenannten Tyrannis des Lachares, keineswegs immer genau auszumachen ist, in welchem Umfang die politische Organisation weiterhin Bestand hatte oder aber aufgrund der veränderten machtpolitischen Verhältnisse mitunter modifiziert wurde, bleibt als ein signifikantes und zugleich wesentliches Kennzeichen der hellenistischen Polis zu beachten, daß die politische Organisation nach der Beseitigung einer Fremdherrschaft respektive der Wiedererlangung des eigenen politischen Handlungsspielraumes im wesentlichen in der ‚althergebrachten‘ Form restituiert wurde. Dieses muß als ein offensichtliches politisches Bestreben der athenischen Bürgerschaft verstanden werden, die traditionelle Form der politischen Organisation als bewährte und rechtmäßige politeiva beizubehalten, aufgrund derer – so darf man durch einen Vergleich mit der Verfassung der Zeit vor dem Lamischen Kriege folgern – die Bürgerschaft für sich selbst und damit für jeden einzelnen Bürger der Gemeinschaft eine möglichst breitgefächerte und gleichberechtigte Beteiligungsmöglichkeit sicherzustellen glaubte.

(HANSEN 1991, 291f.), darf als zweifelhaft gelten; dazu WALLACE 1989, 115–119; vgl. SCHUBERT 2000, 129–132. 157 Eine Ausnahme hiervon bildet die zweifache Zensusverfassung zwischen 322 und 307 v.Chr.; dazu WALLACE 1989, 201–207. Vgl. auch die Einschätzung des Areopags in hellenistischer Zeit von DE BRUYN 1995, 183 („D’une manière générale, l’Aréopage semble donc avoir joué, à l’époque hellénistique, un rôle plus effacé et surtout moins engagé“).

I.3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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I. 3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva158 Athen nach dem Lamischen Krieg159 Mit dem Ende des Lamischen Krieges mußte auch Athen den makedonischen Sieg anerkennen und in Kapitulationsverhandlungen mit Antipatros treten160. Festgelegt wurde hierbei für die Stadt die Stationierung einer makedonischen Garnison in der Hafenfestung Munychia im Piräus und die Auslieferung der für den Krieg verantwortlichen athenischen Politiker161. Die makedonische Garnison im Piräus bedeutete insofern eine erhebliche Einschränkung des außenpolitischen athenischen Handlungsspielraumes, weil damit der gesamte Hafenbereich sowie die Flotte unter direkter Kontrolle einer fremden Macht standen162. Außerdem führte die Auslieferung und der Tod von führenden Makedonengegnern, die zuvor als Kriegsbefürworter sowie richtungsweisende Politiker auftraten163, zu einer grundsätzlichen Verschiebung innerhalb des politischen Machtgefüges der Bürgerschaft. Namentlich Phokion und Demades, die zuvor als Sprachführer der Kriegsgegner aufgetreten waren, standen nun an der Spitze der Polis164. Weitaus schwerwiegender als diese Machtverschiebung und die Aufnahme der Garnison fiel für das folgende politische Geschehen der Stadt eine Maßnahme der Kapitulationsverhandlungen ins Gewicht, die die Athener in dieser Form seit dem Ende des 5. Jhs. v.Chr. nicht mehr erfahren hatten, nämlich der Ausschluß eines Teils der Bürgerschaft vom politischen Entscheidungsprozeß durch einen Zensus: Es wurde festgelegt, daß für die Zukunft nur noch diejenigen Bürger an den politischen Entscheidungen teilhaben sollten, die über ein Min158 Zu den Problemen der athenischen Chronologie, insbesondere des 3. Jh. v.Chr. siehe TRACY 2003, 1–3 (mit den Verweisen). 159 Vgl. zu Veränderungen der athenischen Demokratie im vorangehenden 4. Jh. v.Chr. etwa W. EDER (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v.Chr. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform?, Stuttgart 1995. 160 Vgl. hierzu S CHMITT 1992, 147–157; HABICHT 1995, 50f. Auf die zahlreichen Untersuchungen, welche die athenische Demokratie mit dem Lamischen Kriege enden sehen, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; vgl. etwa BLEICKEN 1994, 399. 409f. Siehe dagegen HABICHT 1995, 14. 16 sowie jetzt auch DREYER 2001. 161 Plut. Phokion 27,3; Diod. XVIII 18,6; siehe dazu G EHRKE 1976, 89f.; E NGELS 1989, 384; SCHMITT 1992, 149–151; BRUN 2000, 116. 162 FERGUSON 1911, 19f.; HABICHT 1995, 51f. Die mit der Besatzung im Piräus einhergehende Einschränkung des innenpolitischen Handlungsspielraums der Polis wird dadurch deutlich, daß selbst Phokion, der den weiteren Bestimmungen des Antipatros keineswegs negativ gegenüberstand und als einflußreicher athenischer Politiker davon profitierte (GEHRKE 1976, 90f.), beim Makedonen wohl um die Erlassung der Besatzung bat (Plut. Phokion 27,4f.); vgl. TRACY 1995, 20. 163 Plut. Demosthenes 28,2–29,5; Plut. Phokion 27,3. 29,1; Arr. succ. Al. fr. 1,13; vgl. Nep. Phoc. 2,2. Zu Details der Verfolgungen und Tötungen vgl. ENGELS 1989, 385f.; SCHMITT 1992, 151f.; HABICHT 1995, 51. 164 HABICHT 1995, 55f. Demades trat gleichzeitig als Antragsteller für das Todesurteil gegen die Makedonengegner auf (Plut. Demosthenes 28,2); zu dessen Rolle in dieser Situation siehe BRUN 2000, 118–123. Vgl. zu Phokion und der im folgenden behandelten Zensusherrschaft in Athen TRITLE 1988, 131–140.

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destvermögen von 2.000 Drachmen verfügten165. Die Zahl der ‚aktiven‘ Bürger wurde dadurch von etwa 21.000 auf weniger als die Hälfte, wohl 9.000, beschränkt166. Diejenigen Athener, deren Vermögen unterhalb der festgesetzten 2.000 Drachmen lag, behielten zwar ihren Bürgerstatus, waren jedoch von den politischen Entscheidungen und der Ämterbesetzung ausgeschlossen167. Welche genaue Bezeichnung diesen Bürgern zweiter Klasse zukam, kann nicht geklärt werden. Man wird sie jedoch entgegen Emil Szanto168, Hans-Joachim Gehrke169 und Gustav Adolf Lehmann170 kaum als a[timoi bezeichnen dürfen, sie also jenen Bürgern gleichgestellt sehen, denen ein rechtmäßig bestehender dh`mo" wegen eines persönlichen Mißverhaltens die Ausübung der politischen Teilnahme und Rechte untersagen konnte171. Eine entsprechende Bezeichnung dieser unter den Zensus von 2.000 Drachmen fallenden Bürger als a[timoi geht einerseits aus den Quellen nicht hervor172 und wäre andererseits mit dem zeitgenössischen politischen Begriffsverständnis von a[timo" kaum in Übereinstimmung zu bringen

165 Diod. XVIII 18,4: oJ de; [scil. A j ntivpatro"] filanqrwvpw" aujtoi`" prosenecqei;" sunecwvrhsen e[cein thvn te povlin kai; ta;" kthvsei" kai; ta[lla pavnta: th;n de; politeivan metevsthsen ejk th`" dhmokrativa" kai; prosevtaxen ajpo; timhvsew" ei\nai to; polivteuma kai; tou;" me;n kekthmevnou" pleivw dracmw`n discilivwn kurivou" ei\nai tou` politeuvmato" kai; th`" ceirotoniva". Vgl. dazu Plut. Phokion 27,3. Vgl. auch LEHMANN 1997, 55f. 166 Plut. Phokion 28,4. Dazu Diod. XVIII 18,5: ou|toi me;n ou\n o[nte" pleivou" tw`n murivwn kai; discilivwn metestavqhsan ejk th`" patrivdo", oiJ de; th;n wJrismevnhn tivmhsin e[conte" peri; ejnnakiscilivou". Im Anschluß an GEHRKE 1976, 93 Anm. 36, der sich (mit Bezug auf die ältere Literatur) gegen die bei Diodor überlieferten dismurivwn kai; discilivwn ausspricht und eine Tilgung des di" für zutreffend hält. So bereits FERGUSON 1911, 22 mit Anm. 3. Zu folgern ist diese Tilgung durch die aus Ktesikles FGrHist 245 F1 bekannte Bürgerzahl für die Zeit des Demetrios von Phaleron von 21.000. Vgl. LEHMANN 1997, 56f. 167 Plut. Phokion 28,4: tw`n de; ajpoyhfisqevntwn tou` politeuvmato" dia; penivan uJpe;r murivou" kai; discilivou" genomevnwn, oi{ te mevnonte" ejdovkoun scevtlia kai; a[tima pavscein, oi{ te dia; tou`to th;n povlin ejklipovnte" kai; metastavnte" eij" Qrav/khn, A j ntipavtrou gh`n kai; povlin aujtoi`" parascovnto", ejkpepoliorkhmevnoi" ejwv/kesan. Nach GEHRKE 1976, 92 blieben die privaten Rechte bestehen, womit sich diese Personen von den Metöken und Fremden unterschieden hätten. 168 SZANTO 1892, 61. 169 GEHRKE 1976, 92; vgl. auch 119 Anm. 56. 170 LEHMANN 1995, 141. 149. So jetzt weiterhin HABICHT 1995, 54f.; DREYER 1999, 158f.; LAMBERTON 2003, 11. 171 Zur a[timiva der vorangegangenen Zeit HANSEN 1991, 86. 99. 100f. Ein a[timiva-Beschluß gegen einen rechtmäßigen athenischen Bürger hätte ein persönliches Vergehen zur Grundlage haben müssen, welches bei den nunmehr politisch ausgeschlossenen Bürgern kaum vorgelegen haben kann. 172 Eine ajtimiva wird in diesem Zusammenhang zweimal von Plutarch angeführt. In Plut. Phokion 28,4 heißt es, die in Athen gebliebenen Entrechteten erlitten dort Frevelhaftes und Verachtenswertes (oi{ te mevnonte" ejdovkoun scevtlia kai; a[tima pavscein), während dieser Autor in Phokion 33, 2 sogar anführt: oi{ te ga;r fugavde" aujtw`i [scil. A j levxandro", oJ Poluspevrconto" uiJo;"] suneisbalovnte" eujqu;" h\san ejn a[stei, kai; tw`n xevnwn a{ma kai; tw`n ajtivmwn pro;" aujtou;" eijsdramovntwn (…). In diesem Passus werden also ins Exil gegangene entrechtete Bürger deutlich von anderen Fremden (xevnoi) und Entehrten (a[{timoi), die sich ebenfalls dem späteren Zug auf die Stadt anschlossen, getrennt!

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gewesen173. Darüberhinaus war diese politische Neuregelung zunächst auch zeitlich unbefristet gedacht, so daß eine entsprechende Bestimmung bestanden haben muß, der zufolge Athener bei einem Überschreiten des 2.000-Drachmen-Zensus wieder in den politischen Entscheidungsprozeß und die Ämterbesetzung hätten aufgenommen werden können174. Gleichsam bliebe zu beachteten, daß eine allgemeine – im politischen Sinne zu verstehende – ajtimiva-Erklärung von 12.000 Bürgern zu einer erheblichen Verstärkung der ohnehin bestehenden Spannungen innerhalb der Bürgerschaft geführt hätte175, an der wiederum sowohl Antipater also auch der Gruppe um Phokion und Demades bei der Festlegung dieser Regelung kaum gelegen gewesen sein konnte176. Man wird daher zunächst am ehesten von einer politischen Entrechtung auszugehen haben, die bei einem möglicherweise nachfolgenden Überschreiten des Zensus hinfällig wurde und die weiterhin den übrigen Status als Bürger nicht betraf. Eine begriffliche Kategorie hierfür geben die Quellen für die Zeit nach 322 v.Chr. sowie insbesondere für die dann folgende Zensusverfassung von 317–307 v.Chr. nicht an. Die politische Gewichtung innerhalb der Bürgerschaft hatte sich durch Antipaters Bestimmungen also dahingehend verändert, daß die Gruppe der Makedonengegner nicht nur aufgrund des Verlustes ihrer Wortführer, sondern auch 173 Vgl. dazu das erst 337/6 v.Chr. von Eukrates eingebrachte Gesetz zum Schutz von dh`mo" und dhmokrativa der Polis (SEG XII n. 87): eja;n dev ti" tou` dhvmou h] th`" dhmokr|ativa" katalelumevnwn tw`n A j qhvnhsin ajnivhi tw`|n bouleutw`n tw`n ejx A j reivou Pavgou eij" A [ reion P|avgon h] sunkaqivzhi ejn tw`i sunedrivwi h] boleuvh|i periv tino" a[timo" e[stw (sic!) kai; aujto;" kai; gevno" | to; ejx ejkeivnou kai; hJ oujsiva dhmosiva e[stw aujtou` | kai; th`" qeou` to; ejpidevkaton (Z. 16–22). Siehe dazu HANSEN 1991, 295; HABICHT 1995, 25f.; SEG L n. 142. 174 Im Gegensatz dazu waren a[timiva-Beschlüsse der Bürgerschaft für die jeweilige Person mit einer zeitlichen Frist verbunden. 175 Diodors Angabe (XVIII 18,5), es hätten sogar mehr als 12.000 der Entrechteten Attika verlassen, wird allgemein als unglaubwürdig angesehen; siehe etwa OLIVER 2003, 45; vgl. zu diesen Zahlen GEHRKE 1976, 92 Anm. 34. Nimmt man allerdings an, daß eine Großzahl dieser Gruppe in der Polis verblieb, was insbesondere auch dadurch nahegelegt wird, daß Diodor im gleichen Passus davon spricht, daß alle ihren Besitz behielten, wäre aufgrund der a[timiva-Erklärung in bezug auf diese Gruppe ein kaum zu beabsichtigendes Konfliktpotential für die Polis geschürt worden. 176 Für Antipaters Sichtweise darf gelten, daß dieser bestrebt war, mit einem möglichst geringen militärischen Aufwand die Kontrolle über die Stadt zu behalten, wozu aber zusätzliche innenpolitische Konflikte gerade Gegenteiliges beigetragen hätten. Für die Gruppe um Phokion und Demades darf weiterhin angenommen werden, daß sie, so zeigen die Bemühungen des Phokion vor Antipater (Plut. Phokion 27,4), Bedenken gegenüber einer makedonischen Besatzung in der Stadt besaß. Diese Bedenken können sich sinnvoll vor allem auf den mit einer Besatzung verbunden Verlust des außenpolitischen Handlungsspielraumes beziehen. Ohne eine militärische Unterstützung hätte jedoch dieses neue Regime kaum gegen eine Mehrzahl der eigentlichen Bürgerschaft bestehen können, wäre es aufgrund einer a[timiva-Erklärung zu inneren Konflikten und einer möglichen Stasis gekommen. Sowohl Antipater als auch der Gruppe um Phokion und Demades wird also trotz der politischen Entrechtung einer Mehrzahl der Bürger daran gelegen gewesen sein, diese nicht endgültig ihres (politischen) Bürgerstatus zu berauben – dieses schon deswegen nicht, weil sich innerhalb der Gruppe der Entrechteten durchaus zahlreiche Anhänger der promakedonisch gesinnten Gruppe befunden haben sollten, für die eine a[timiva dann ebenfalls angenommen werden muß. Siehe zu den Bestrebungen von Phokion und Demades während der Zensusherrschaft auch TRITLE 1988, 131–133; TRACY 1995, 20. Vgl. weiterhin LEHMANN 1997, 57.

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aufgrund des Zensus – dieser betraf die Makedonengegner wohl weitaus stärker – politisch geschwächt war177. Die innenpolitische Stabilität sowie den Bestand der politischen Führungsschicht garantierte für die folgende Zeit nunmehr die makedonische Besatzung im Piräus178. Athens politische Organisation blieb hingegen mit der Ausnahme des Zensus und wenigen leicht modifizierten Ämtern179 unverändert, so daß trotz der geringeren Bürgerzahl die Zuordnung und Organisation von dh`moi, trittuve" und fulaiv sowie allgemein die Entscheidungsgremien in ihrer alten Form fortbestanden180. Die bestehende politische Ordnung konnte insofern aus Sicht der nach dem Lamischen Krieg bestimmenden Gruppe um Phokion und Demades durchaus legitim als pavtrio" politeiva bezeichnet werden181 und besaß daher aus Sicht dieses Teils der Bürgerschaft einen begründeten Rechtmäßigkeitsanspruch. Für die Mehrheit des gesamten dh`mo" dürfte allerdings die für die Durchsetzung und Etablierung der ‚modifizierten‘ pavtrio" politeiva notwendige auswärtige Macht, namentlich Antipatros, den entscheidenden Grund ihres Bestandes ausgemacht haben, so daß aus deren Perspektive eben kaum von einer rechtmäßigen und mehrheitlich akzeptierten politeiva gesprochen worden sein wird. Vielmehr dominierte die Gruppe um Phokion einerseits aufgrund des Ausschlusses vollberechtigter Bürger und der dadurch bestehenden Begrenzung der Politik auf einen kleinen Bürgerkreis und andererseits insbesondere aufgrund der auswärtigen, makedonischen Unterstützung. Der mehrheitliche Teil der ursprünglichen und später wieder restituierten Bürgerschaft 177 Die Bestimmung einer Zensusverfassung ging entweder auf ein Bestreben der Gruppe um Phokion und Demades zurück oder konnte aber von dieser gutgeheißen werden (GEHRKE 1976, 91; HABICHT 1995, 51), so daß diese in erster Linie zu einer Schwächung von deren politischen Gegnern geführt haben sollte. Anders hingegen LEHMANN 1995, 146, der – allerdings ohne Belege – die Regelungen als striktes Diktat des Antipatros verstehen möchte. HACKL 1987, 65 führt aus, daß die Makedonen im ausgehenden 4. Jh. v.Chr. nicht an einer bestimmten Verfassung interessiert gewesen wären, es ihnen hingegen nur um den Machterhalt ihrer Anhänger ging. 178 Die Einsetzung einer Besatzung in den Städten zur Sicherung des eigenen Einflusses war bei den Makedonen ein in dieser Zeit gängiges Mittel; siehe dazu die Zusammenstellung eines vergleichbaren Vorgehens bei GEHRKE 1976, 91 Anm. 25. 179 Siehe dazu GEHRKE 1976, 93–95; HABICHT 1995, 54f. Daß diese Modifikationen in gewisser Weise einer Machtsicherung der Gruppe um Phokion und Demades gedient haben mögen, ist anzunehmen. In welchem Maße dieses jedoch letztlich die politische Praxis bestimmte, ist hingegen nicht nachzuzeichnen. 180 GEHRKE 1976, 95; TRITLE 1988, 135f.; LEHMANN 1997, 58. TRACY 2003, 11 führt an, daß „much of the democratic machinery remained in place“. Gleichzeitig muß jedoch, nimmt man die Konzeption dieser Zensusverfassung als dauerhaft geplantes Gebilde an, von einer veränderten Besetzung der boulhv ausgegangen werden, da die verringerte Größe der (politischen) Bürgerschaft nicht ausgereicht hätte, bei nur ein- respektive zweimaliger Übernahme des Ratsamtes den Bedarf der jährlichen 500 bouleutaiv zu decken. Zu den in dieser Zeit beschlossenen Dekreten siehe die Ausführungen von OLIVER 2003. 181 Dieser Begriff wird, obwohl er so nicht überliefert ist, in der Forschung als Etikett für diese Verfassung gesehen und diskutiert (GEHRKE 1976, 90 mit Anm. 23; HABICHT 1995, 54). Zurückzuführen ist dieses auf eine Angabe von Diod. XVIII 18,5, wonach die politisch berechtigten Bürger kata; tou;" Sovlwno" novmou" die Politik betrieben. Anders LEHMANN 1995, 142. 146.

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konnte diesen Zustand daher im folgenden – ebenfalls begründet – als ojligarciva bezeichnen und ihn von einer rechtmäßigen dhmokrativa klar unterscheiden182. Innerhalb der Bürgerschaft bestand so freilich für beide politische Gruppen die Möglichkeit, mittels der für ihre Bestrebungen nützlichen Betonung des jeweiligen Zustandes von einer rechtmäßigen beziehungsweise unrechtmäßigen Verfassung zu sprechen. Ob zur Kennzeichnung der vorangehenden Verfassung aus moderner Sicht nun der Begriff „modifizierte Oligarchie“ gebraucht werden soll, der sie von einer zuvor bestehenden Demokratie oder sogar ‚radikalen‘ Demokratie unterscheidet, bleibt dahingestellt183. Vielmehr erscheint für die inhaltliche Differenzierung notwendiger, daß der in den Quellen gebrauchte Begriff der ojligarciva184 in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie als Gegensatz zur Aufhebung der demokratischen politischen Organisation stehen muß, sondern vielmehr, wie später in der Anklage der ‚Oligarchen‘ durch die athenische Bürgerschaft selbst formuliert wurde, eine katavlusi" tou` dhvmou ausmachte185. Hiermit ist nun unmißverständlich die Auflösung der Bürgerschaft in ihrem rechtmäßigen Umfange und damit die Beseitigung der Gleichberechtigung aller poli`tai als wesentliches Vergehen ausgedrückt, während freilich die politische Organisation der Polis mit einem zahlenmäßig begrenzten dh`mo" durchaus fortbestehen konnte186. Der in diesem Zusammenhang bestehende Interpretationsspielraum wird eben dadurch am deutlichsten aufgezeigt, daß sowohl die ‚oligarchisch‘ gesinnte Gruppe von einer weiterhin bestehenden pavtrio" politeiva im Sinne der früheren Gesetze und Organisationsformen187, eine ‚demokratisch‘ gesinnte Mehrheit demgegenüber von einer ojligarciva sprechen konnte. 182 Das wiederhergestellte Ehrendekret des Euphornios von Sikyon führt zeitlich direkt nach dieser Zensusverfassung dessen Verdienste während einer zuvor bestehenden ojligarciva auf (IG II2 n. 44860–62; 318/7 v.Chr.), womit eben die vorangehende Zeit des Ausschlusses eines Großteils der Bürgerschaft von der politischen Teilnahme gemeint ist: ajfeivlonto ªaujto;nº | ta;" dwrea;" oiJ ejn tei` ojligarcivai politeuovmenªoi kai;º | ta;" sthvla" kaqei`lon. 183 So die Charakterisierung der Zensusverfassung von GEHRKE 1976, 95. Ebenso könnte man, sogar zutreffender, von einer oligarchisierten dhmokrativa oder einer timokratischen pavtrio" politeiva sprechen. Siehe dazu auch die Auflistung der Charakterisierungen bei OLIVER 2003, 50, dessen Urteil zu dieser Zeit („Oligarchy is ultimately a better description than democracy“) aufgrund der nunmehr angeführten Gründe hier nicht geteilt wird. Vgl. dazu TRITLE 1988, 136: „…a moderate democracy, not an oligarchy“. 184 IG II2 n. 448 60–62; vgl. dazu Plut. Phokion 34,4f. 185 So insbesondere im Ehrendekret für den unter der ojligarciva zu Tode gekommenen Demosthenes; [Ps.-] Plut. mor. 851C: fugovnti [scil. Demosthenes] de; di j ojligarcivan kataluqevnto" tou` dhvmou. Ebenso Diod. XX 46,3: oJ me;n ou\n dh`mo" ejn tw`/ Lamiakw`/ polevmw/ kataluei;" uJpΔ Antipavtrou met j e[th pentekaivdeka paradovxw" ejkomivsato th;n pavtrion politeivan. Dieses verkennt freilich die Tatsache, daß dh`mo" und pavtrio" politeiva vor 317 v.Chr. kurzzeitig wieder uneingeschränkt bestanden. Vgl. ebenso das Ehrendekret des Euphornios aus der Zeit direkt nach der Aufhebung der Zensusverfassung (IG II2 n. 44862–64): nu`n de; ejpeidh; o{ te dh`mo" ªkatelº|hvluqe kai; tou;" novmou" kai; th;n dhmokrativan ajªpeivlhº|fe (…). Ganz offensichtlich werden in dieser Passage aus Sicht der Bürgerschaft die verlorenen novmoi und die verlorene dhmokrativa von dem aufgelösten dh`mo" unterschieden. Keine Berücksichtigung findet der Aspekt der katavlusi" tou` dhvmou in der Diskussion von LEHMANN 1995/1997. 186 TRACY 2003, 11. 187 Dazu die Angaben bei GEHRKE 1976, 90 Anm. 23.

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Das Ende der timokratischen Ordnung und die restituierte pavtrio" politeiva Wie sehr diese timokratische pavtrio" politeiva unter Phokion von der äußeren Machtkonstellation getragen wurde, zeigen die Auswirkungen der unklaren Nachfolgeregelung nach dem Tode des Antipatros 319 v.Chr. auf die innenpolitische Situation der Polis. Im Machtkampf von Kassander und Polyperchon proklamierte letzterer, um die Hellenen möglichst zahlreich auf seine Seite zu bringen188, die „Freiheit“ der griechischen Poleis sowie die Restauration der unter Philipp II. und Alexander dem Großen bestehenden Verfassungen189. Für die Athener hätte eine Umsetzung dieser Proklamation innenpolitisch die Aufhebung der bestehenden Zensusbeschränkung und damit die Rückkehr zum altbekannten Umfang der Bürgerschaft bedeutet, während in außenpolitischer Hinsicht damit strenggenommen eine Aufhebung der Besatzung der Munychia hätte einhergehen müssen190. Daß sich die Athener dann umgehend für einen Abzug der Besatzung einsetzten und dabei vor allem auf eine Unterstützung von Polyperchon zählten, ist überliefert191. Problematisch bleiben hingegen die Frage nach dem Umgang mit den bestehenden Zensusregelungen sowie insbesondere der Zeitpunkt ihrer Aufhebung. Während sich in der Forschung zumeist keine direkte Stellungnahme zur Aufhebung des Zensus findet192, geht Hans-Joachim Gehrke von einem vorläufigen Fortbestehen dieser Restriktion aus und meint, daß „unter den 9.000 Bürgern die antimakedonischen Kräfte imstande waren“, sich aufgrund der Resolution gegen die Besatzung und die konservativen Kräfte um Phokion durchzusetzen, woraufhin sich eine Spaltung in der führenden Gruppe abgezeichnet habe193. Gegen Gehrkes Sichtweise spricht jedoch, daß Polyperchons Proklamation gerade die Restauration der alten politeiva betonte und ein Vorgehen gegen die Besatzung in der Munychia vor allem mit einer unbeschränkten, weil dann gestärkt 188

GEHRKE 1976, 110; HABICHT 1995, 57. Diod. XVIII 56 mit der Proklamation. Dazu Plut. Phokion 32,1 mit einem detaillierten Bezug zu Athen: ejn touvtw/ de; kai; Poluspevrcwn (…) e[pemyen ejpistolh;n toi`" ejn a[stei gegrammevnhn, wJ" tou` basilevw" ajpodidovnto" aujtoi`" th;n dhmokrativan kai; politeuvesqai kata; ta; pavtria pavnta" A j qhnaivou" keleuvonto". Vgl. GEHRKE 1976, 110. 190 Neben den allgemeinen Bestimmungen hätte insbesondere ein von Diodor im Zusammenhang mit der Proklamation geschilderter, Athen betreffender Absatz aus der Sicht der Bürgerschaft diese Aufhebung erwarten lassen: A j qhnaivoi" d j ei\nai ta; me;n a[lla kaqavper ejpi; Filivppou kai; A j lexavndrou, jWrwpo;n de; jWrwpivou" e[cein kaqavper nu`n (XVIII 56,6). 191 Diod. XVIII 64,3: oiJ de; A j qhnai`oi gnovnte" to;n Nikavnora mhde;n uJgie;" pravttonta pro;" me;n tou;" basileva" kai; Polupe;rconta presbeivan ejxevpemyan, ajxiou`nte" bohqei`n aujtoi`" kata; to; diavgramma to; grafe;n uJpe;r th`" tw`n E J llhvnwn aujtonomiva". 192 Keine Stellungnahme etwa bei TRITLE 1988; HABICHT 1995. LEHMANN 1995, 144 spricht einzig von einem abrupten Zusammenbruch der „oligarchisch-nicht-demokratischen Regierung“ mit dem Verlust des Rückhaltes durch die überlegene Hegemonialmacht. 193 GEHRKE 1976, 110–112. LEHMANN 1995, 143 mit Anm. 9 meint, Phokion wäre erst in der Krisensituation von 318 v.Chr. bereit gewesen, „sich und sein Regime bedingungslos als politisches Instrument der makedonischen Hegemoniemacht anzubieten“. Ebendort 144 führt Lehmann – ohne weitere Differenzierung – an, daß sich auch die Aktiv-Bürgerschaft direkt an dem Verfassungssturz beteiligt habe. 189

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agierenden Bürgerschaft sinnvoll erscheint und daher auch die unter den Zensus fallenden Bürger umfaßt haben sollte. Außerdem scheint es kaum naheliegend, die bei Diodor und Plutarch beschriebenen Versammlungen des dh`mo", in denen ja gerade aufgrund Polyperchons’ Proklamation und dessen möglicher Unterstützung die Verhandlungen mit der Besatzung in der Munychia unter Nikanor beschlossen wurden, ohne den wesentlichen Teil der Proklamation, nämlich die Restitution der alten Verfassung und damit die Aufhebung des Zensus, anzunehmen194. Da weiterhin eine Vielzahl der zuvor vom politischen Geschehen Ausgeschlossenen die Stadt nicht verlassen hatten195 und deren Gesamtzahl nun mehr als die Hälfte der Bürgerschaft ausmachte, muß diese Gruppe durchaus als wesentlicher Machtfaktor bei einem Streben nach den alten Rechten Berücksichtigung finden196, so daß es eben auch diesbezüglich wenig sinnvoll ist, zunächst eine Meinungsspaltung innerhalb der 9.000 Bürger anzunehmen, aufgrund derer die antimakedonischen Kräfte imstande gewesen wären, sich gegen die promakedonischen Politiker durchzusetzen, und woraufhin erst dann eine Wiederzulassung der zuvor entrechten Athener zum politischen Entscheidungsprozeß stattgefunden hätte197. Mit einer Berücksichtigung der Zensusaufhebung in der Zeit alsbald nach der Proklamation hingegen läßt sich die Veränderung der politischen Gewichte innerhalb der nun wieder vervollständigten Bürgerschaft zutreffender erklären, wobei sich nämlich eine auch zahlenmäßig große Gruppe gegen die Makedonenfreunde um Phokion etablieren konnte, die zudem deutlich gegen Kassander und die Besatzung in der Munychia gerichtet war. 194

Auch die Angaben von Plut. Phokion 33,2, wonach Polyperchons Sohn, Alexandros, mit einem Heer sowie fugavde", xevnoi und a[timoi nach Athen kam, widerspricht der hier verfolgten Sichtweise nicht, da sich die Rückkehr zuvor ausgezogener entrechteter Bürger sowie von Verbannten keineswegs in einer einzigen Rückkehraktion vollzogen haben dürfte, sondern erst nach und nach vonstatten gegangen sein sollte und außerdem eine große Anzahl entrechteter Bürger Athen gar nicht verlassen haben wird. Anders GEHRKE 1976, 114f., der von d e n Verbannten und d e r Rückkehr spricht und daher von einer Aktion ausgeht, in deren Folge sich dann auch die Frage der Verfassungsrestitution ergeben habe. 195 GEHRKE 1976, 93; HABICHT 1995, 55, meint, es sei ausgeschlossen, daß Athen nach den Friedensreglungen nach dem Lamischen Krieg ein Drittel seiner Bevölkerung verloren habe. Auch GEHRKE 1976, 93 mit Anm. 37 geht davon aus, daß keineswegs alle Entrechteten Athen verlassen hätten. 196 Anders eben GEHRKE 1976, 111f. 114f.: „Die Frage nach der Änderung der Verfassung, die ja mit dem Freiheitsedikt auch gestellt war, wurde jetzt [scil. zur Zeit, als Polyperchon/ Alexandros auf Athen zuzog] akut, nachdem sie vorher bezeichnenderweise keine Relevanz besessen hatte oder doch zumindest weit hinter dem Problem ‚Besatzung‘ zurückgetreten war“. 197 Zu berücksichtigen bleibt hierbei, daß es sich um einen Zensus handelte, der eben nicht grundsätzlich alle Makedoniengegner ausschloß, diese Parteiung also noch im dh`mo" vertreten gewesen sein muß und daher sehr wahrscheinlich auch die Proklamation von Polyperchon schnell umgesetzt gesehen haben wollte. Nimmt man zuvor einen weitgehenden promakedonischen Konsens innerhalb der Bürgerschaft an, bedeutet dies, daß der größte Teil der Bürger mit einem Vermögen über 2.000 Drachmen (Zensus) promakedonisch gewesen wäre. Eine solche Gleichsetzung der Über-2.000-Drachmen-Bürger mit der promakedonischen Partei und daraus resultierend der ärmeren Bürger mit der der ‚Demokraten‘ entspricht kaum den Verhältnissen innerhalb der athenischen Bürgerschaft.

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Athens innenpolitische Situation blieb damit allerdings weiterhin ganz erheblich von der außenpolitischen Lage der Polis beeinflußt, weshalb auch Kassanders Gegner innerhalb der Bürgerschaft damit rechnen mußten, daß dessen möglicher Sieg über Polyperchon für sie abermals mit Restriktionen verbunden sein konnte. Die Bürgerschaft blieb also auch nach der Zensusaufhebung deutlich gespalten, wenngleich es aufgrund der starken außenpolitischen Abhängigkeit der politischen Gruppierungen und der damit vorläufig verbundenen unklaren Situation zunächst nur eingeschränkt zu innenpolitischen Auseinandersetzungen gekommen sein sollte198 – eine mögliche Verurteilung der ‚oligarchischen‘ Protagonisten scheint wegen des weiterhin bestehenden Einflusses von Kassander und der Besatzung in der Munychia daher vorerst auch nicht möglich gewesen zu sein199. Die Zensusaufhebung fand also nicht lange nach Polyperchons’ Proklamation und noch vor dem Versuch der Athener statt, den direkten auswärtigen Einfluß auf die eigene Polis durch die Auflösung der Besatzung zu beseitigen200. Eine sofortige Wiedereingliederung der zuvor von der Politik ausgeschlossenen Bürger war durch die weitgehend unveränderte politische Organisation der Stadt ohne größere Schwierigkeiten möglich, zumal die folgenden Entscheidungen in erster Linie die Teilnahme am politischen Entscheidungsorgan der Polis, der ejkklhsiva, notwendig machten201. Außerdem scheinen innerhalb der Bürgerschaft noch keine unüberwindbaren Fronten zwischen den Interessengruppen bestanden zu haben, da der dh`mo" alsbald beschloß, eine Gesandtschaft zu Nikanor zu entsenden, die für das Gesamtwohl der Bürgerschaft weitere Eingriffe in die verbliebene Eigenständigkeit der Stadt verhindern sollte202. Ob hierbei die promakedonischen Athener eine Mehrheit der gegen die Besatzung und Kassander gerichteten Gruppe akzeptierten, ist nicht überliefert. Man wird allerdings nicht fehlgehen in der Annahme, daß in der bestehenden, von außenpolitischen Faktoren abhängigen Situation letztlich auch dem Wohle der eigenen Polis eine wesentliche Bedeutung zukam, was wiederum einen gewissen Konsens innerhalb des dh`mo" ermöglichte203. Eine zunehmende Verschärfung der innenpolitischen Situation ergab sich dann jedoch nochmals mit Phokions weiterer Parteinahme für Nikanor204. Nach Diodor sahen sich in dieser Situation gerade die zuvor 198

Zur Situation siehe HABICHT 1995, 57f. Zur Situation bezüglich Phokions Ende siehe GEHRKE 1976, 114–120. Zum Ende von Demades siehe BRUN 2000, 123–130. 200 Anders GEHRKE 1976, 111f. 201 Inwiefern ein spezieller Akt einer ‚Verfassungsänderung‘ angenommen werden muß, ist ohnehin fraglich – vgl. dagegen GEHRKE 1976, 115f. 202 Nikanor war von Kassander nach Athen gesandt worden, um den Piräus zu besetzen und so Kassanders Machtposition gegenüber Polyperchon zu festigen; vgl. HABICHT 1995, 57f. Diod. XVIII 66,2 führt bei der athenischen Bitte an Polyperchon um Unterstützung auf, daß es den Bürgern in diesem Fall um ihre aujtonomiva ging. Diodors Begrifflichkeit stimmt hier also mit der inhaltlichen Situation überein; vgl. dazu auch Diod. XVIII 64,5. 203 Dieses käme den Überlegungen von LEHMANN 1995, 146 nahe, der den Zensus im wesentlichen als Kassanders Strafmaßnahme gegen die Bürgerschaft versteht. 204 Die von den Athenern verfolgten Bestrebungen, gegen die Einnahme des Piräus durch Nikanor vorzugehen, wurden von Phokion nicht unterstützt, so daß es zu einer erneuten Polari199

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ausgeschlossenen Bürger205 wegen Phokions enger Verbindung zu Nikanor sowie seiner führenden politischen Rolle direkt bedroht und richteten innerhalb der Bürgerschaft Beschuldigungen gegen ihn und seine Parteigänger, die schließlich zu deren Verurteilung führen sollten206. Dem angeführten Ausschluß eines Großteils der Bürger von der politischen Mitbestimmung entsprechend wurden die Beschuldigten von der Bürgerschaft dann zutreffend der katavlusi" tou` dhvmou angeklagt207, also der Auflösung der Bürgerschaft208. Hierunter kann allerdings nur sehr eingeschränkt der Aspekt der „Absetzung einer Regierung“209 – die sierung politischer Gruppen kam und Phokion durch seinen ausbleibenden Einsatz für eine Eigenständigkeit der Polis indirekt eine Unterstützung des Nikanor/Kassander vorgeworfen werden konnte. Siehe hierzu Nep. Phoc. 2,4f.; Plut. Phokion 33; vgl. GEHRKE 1976, 113–115; TRITLE 1988, 137–140. 205 Diod. XVIII 66,6: to; ga;r plh`qo" tw`n dhmotikw`n, ajpwsmevnon th`" politeiva" kai; par j ejlpivda" teteuco;" th`" kaqovdou. pikrw`" dievkeito pro;" tou;" ajfh/rhmevnou" th;n aujtonomivan. Das von Diodor hier angeführte plh`qo" bezieht sich aufgrund des folgenden tw`n dhmotikw`n und th`" politeiva" eindeutig auf die Zugehörigen der Bürgerschaft. Im gleichen Kapitel verwendet Diodor plh`qo" ebenfalls für die lärmende Mehrzahl in der einberufenden ejjkklhsiva, bei der nach Diodors Schilderung keine Nichtbürger anwesend waren (vgl. XVIII 66,4f. 67,2), so daß der Autor folgerichtig auch hier einzig die Bürger meint (vgl. XVIII 67,3). Siehe auch oJ o[clo" als Bezeichnung dieser lärmenden Gruppe innerhalb der ejkklhsiva in XVIII 66,6. Vgl. weiterhin Diod. XVIII 67,5: polloi; de; kai; tw`n dhmotikw`n kai; pikrw`" diakeimevnwn pro;" aujto;n ejloidovroun te ajnhlew`" kai; pikrw`" wjneivdizon aujtw`/ [scil. Phokion] ta;" sumforav". Im Gegensatz hierzu steht die Angabe von Plut. Phokion 34,3–6, wonach auch Sklaven und Nichtbürger an dieser ejkklhsiva teilhatten. Letzteres wird man, da es sich naheliegend um eine emotionalisierende Ausschmückung der geschilderten Situation durch Plutarch handeln dürfte, für eine rationalere Bewertung vorerst unbeachtet lassen können. Keinesfalls sollte man diese Angaben bei einer Bewertung jedoch miteinander vermengen (vgl. dagegen etwa GEHRKE 1976, 119 mit Anm. 56–60; HABICHT 1995, 58f.), da ansonsten eine ausreichende Differenzierung der Vorgänge für eine kritische Beurteilung nicht gegeben ist. 206 Exemplarisch für die innenpolitische Gesamtsituation dieser Zeit kann die Rolle von Konon, einem namensgleichen Nachkommen des berühmten Atheners der Zeit nach der Tyrannis der Dreißig, herangezogen werden. Dieser Konon nahm nach der Proklamation des Polyperchon und nach der Ausweitung der Besatzung auf den gesamten Piräus durch Kassander/Nikanor zusammen mit Phokion [sic!] an einer vom dh`mo" beschlossenen Gesandtschaft zu Nikanor teil (Diod. XVIII 64,5), um Verhandlungen für die Bürgerschaft mit dem Befehlshaber zu führen. Später, nach Klärung der außenpolitischen Situation und nach der Ächtung der ‚Oligarchen‘, zu denen eben auch Phokion gehörte, besaß Konon in der Bürgerschaft eine weiterhin exponierte Stellung und wurde sogar vom dh`mo" für seine Verdienste geehrt (IG II2 n. 1479A18–21; HABICHT 1995, 59). Es muß also auch in dieser Hinsicht bereits zur Zeit der Gesandtschaft einen Ausgleich innerhalb der Bürgerschaft gegeben haben. Eine spätere Polarisierung wäre dann durch Phokions Verhalten motiviert worden. Vgl. hierzu GEHRKE 1976, 230–232. 207 Diod. XVIII 66,5: h\n d j oJ suvmpa" th`" kathgoriva" lovgo" o{ti ou|toi paraivtioi gegevnhntai meta; to;n Lamiako;n povlemon th`" te douleiva" th`/ patrivdi kai; th`" kataluvsew" tou` dhvmou [sic!] kai; tw`n novmwn. Unzutreffend bleibt die häufige Übersetzung der katavlusi" tou` dhvmou als „Auflösung der Demokratie“ (vgl. etwa in der Diodor-Ausgabe Loeb mit der Übersetzung von E. A. WARMINGTON). Daß Diodors Angabe hier zutreffend den Sachverhalt auch aus Sicht der Mehrheit der Bürgerschaft traf, belegt eben diese Formulierung in IG II2 n. 44862–64. 208 Vergleiche dazu auch das von Eukrates 337/6 v.Chr. eingebrachte Gesetz gegen eine Tyrannisherrschaft: AGORA XVI n. 7316f. (SEG XII n. 87). 209 GEHRKE 1976, 116 mit Anm. 42. Von Regierung spricht neuerdings insbesondere DREYER

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sicherlich in der Form nicht bestanden hatte – verstanden werden. Vielmehr verurteilte die Gesamtheit des dh`mo" in der Folge der Auseinandersetzung die maßgeblichen Vertreter einer bestimmten politischen Richtung für ihr Fehlverhalten gegenüber der Bürgerschaftsgemeinschaft, aus der die Angeklagten dann ihrerseits entfernt werden sollten. Dieser mitunter als „demokratischer Umsturz“ betitelte Vorgang210 meint also vor allem die Aufhebung des Zensus und die damit verbundene Ausweitung der politischen Rechte auf den ursprünglichen Kreis der Bürgerschaft, weshalb als zentrale Veränderung die Aufhebung bestehender, unrechtmäßiger Beschränkungen von Bürgern gegenüber Bürgern zu konstatieren ist211. Von einer Wiedereinführung der dhmokrativa, die in den zeitgenössischen athenischen Quellen auch nicht angeführt wird, kann nicht die Rede sein212. Aus inhaltlicher Sicht bezeichnet die katavlusi" tou` dhvmou die beschriebenen Zusammenhänge daher auch weitaus zutreffender, womit zugleich die bestehende Relevanz der gesamten Bürgergruppe für eine rechtmäßige Verfassung und die einhergehende gesellschaftliche Ordnung sowie das Selbstverständnis der Bürgerschaft deutlichst und unmißverständlich hervortritt: Indem ein großer Teil der Bürger nicht mehr an der politischen Exklusivität des dh`mo" teilhatte, ergab sich zugleich ein gänzlich verändertes gesellschaftspolitisches Gefüge, in welchem die durch den Zensus ausgeschlossenen, zuvor privilegierten ärmeren Bürger plötzlich hinter vormals politisch unberechtigte reichere mevtoikoi zurücktraten. Diese doppelte, also politische und gesellschaftliche Rückstufung konnte auf Dauer – zumal von einer derart großen Gruppe – kaum akzeptiert worden sein213, worin dann schließlich ein weiterer gewichtiger Grund zu sehen ist, weshalb ein Wiedererlangen der politischen Berechtigung für den Kreis der ärmeren Bürger alsbald nach der Freiheitsproklamation des Polyperchon sicher angenommen werden darf.

1999, 184–186. passim, ohne dabei jedoch klar aufzuzeigen, in welchem Zusammenhang eine solche Regierung innerhalb der demokratischen Strukturen zu verstehen wäre, zumal Dreyer die Bedeutung und die Organisationsprinzipien der Bürgerschaft in dieser und für diese Situation weitgehend unberücksichtigt läßt. Zum Verständnis der Vorgänge bleibt nun aber gerade die Beachtung der bürgerschaftlichen Bestrebungen unabdingbar. 210 HABICHT 1995, 59. L EHMANN 1995, 142. 144 spricht von einem Verfassungsumsturz, der Restauration der Demokratie und einer zuvor gestürzten Demokratie. 211 In Plut. Phokion 34,4 werden die Zugehörigen dieser Gruppe um Phokion als ojligarcikoiv kai; misovdhmoi bezeichnet. 212 Vgl. dazu die von T RACY 2003, 9f. angeführten vier, seiner Meinung nach notwendigen Kriterien für die Klassifizierung der athenischen Verfassung als Demokratie. Da diese Kriterien bei der Zensus-Verfassung aber im wesentlichen auch zutreffen, merkt Tracy (S. 11) weiterhin an, man könne diese Verfassung aufgrund der ausgeschlossenen Bürger nicht als demokratisch bezeichnen. 213 Diese Differenzierung tritt nun kaum hervor, wenn die Bürgerschaft mit dem allgemeinen Begriff des Volkes bezeichnet wird. Daß es sich dann auch keinesfalls um eine „Auflösung des Volkes“ (s.u.) handeln kann, braucht nicht weiter begründet zu werden.

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Athen unter Kassander und Demetrios von Phaleron Die wieder vollständig eingesetzte Bürgerschaft agierte von Beginn an unter zwei fortbestehenden Belastungen, welche bald abermals zu einer Einschränkung ihres Handlungsspielraumes führen sollten: Zum einen zogen sich Anhänger von Kassander, die der Gruppe um Phokion angehörten, aufgrund der innenpolitischen Polarisierung in den Piräus unter Nikanors Schutz zurück214 und zum anderen, was schwerwiegender wog, bestanden außenpolitisch weiterhin keine klaren Verhältnisse zwischen den Rivalen Kassander und Polyperchon, so daß sich die Bürgerschaft bei einer Niederlage des Polyperchon, dessen Sympathisant sie zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich war, einer direkten Konfrontation mit Kassander gegenüber gesehen hätte – eine Situation, die schließlich im Jahre 317 v.Chr. auch eintrat215. Der dh`mo", wohlwissend, daß seine Situation nunmehr äußerst prekär war, nahm – dem Anschein nach zum Wohle der Polis – entsprechende Verhandlungen mit Kassander auf216, aus denen noch im gleichen Jahr die abermalige Beschränkung der politischen Beteiligung durch einen Zensus resultierte. Als direkte Konsequenz des Widerstandes gegen Kassander wurden die aktivsten politischen Wortführer der Polyperchon-Gruppe – so ein Resultat der Verhandlungen – beseitigt und Kassanders Parteigängern, die sich zuvor unter Nikanors Schutz begeben hatten, die Rückkehr in die Stadt ermöglicht217. Als fortan dauerhafte Maßnahme bestand nun abermals ein Zensus, der jedoch im Gegensatz zu demjenigen nach dem Lamischen Krieg nur 1.000 Drachmen persönliches Vermögen als Voraussetzung für eine politische Beteiligung ausmachte218. Weiterhin erfolgte ein wesentlicher Einschnitt durch die ‚Einsetzung‘ des Atheners Demetrios von Phaleron als Epimelet der Polis219, womit für das 214 Mit der Verurteilung und Hinrichtung des Phokion sowie einiger seiner maßgeblichen Mitstreiter (Diod. XVIII 67,3f.; Plut. Phokion 35,2) verschärften sich die innenpolitischen Gegensätze in der Polis; vgl. dazu, wenngleich weniger aus der Sicht des dh`mo" geschildert, HABICHT 1995, 58f. Auch Demetrios von Phaleron gehörte zu denjenigen, die sich unter den Schutz des Nikanor in den Piräus zurückzogen; dazu FERGUSON 1911, 34. 38f. 215 Die außenpolitische Situation läßt sich knapp so skizzieren, daß Kassander (und damit der ihm unterstehende Nikanor) zusammen mit Antigonos und Lysimachos dem Lager von Polyperchon gegenüberstanden. Nach einer Niederlage des auf der Seite von Polyperchon stehenden Kleitos am Bosporos gegen Nikanor und Antigonos sowie einer Niederlage des Polyperchon auf der Peloponnes veränderte sich die außenpolitische Situation zugunsten Kassanders, wodurch auch in Athen ein gewisser Handlungsbedarf bestand. Siehe hierzu den knappen Überblick bei HABICHT 1995, 60f. 216 Diod. XVIII 74,1f.: A j qhnaivwn de; mh; dunamevnwn ajpotrivyasqai th;n froura;n mhvte dia; tou` Polupevrconto" mhvte di j jOlumpiavdo" ajpetovlmhsev ti" tw`n ejpainoumevnwn politw`n eijpei`n ejn ejkklhsiva/ diovti sumfevrei pro;" Kavsandron dialuvsasqai: to; me;n ou\n prw`ton ejgevneto qovrubo", tw`n me;n ajntilegovntwn, tw`n de; sugkatatiqemevnwn toi`" lovgoi": wJ" de; ajneqewrhvqh to; sumfevron, e[doxe toi`" pa`si presbeuvein pro;" Kavsandron kai; tivqesqai ta; pro;" aujto;n wJ" a]n h/\ dunatovn. Siehe dazu außerdem das Ehrendekret für Demetrios von Phaleron IG II2 n. 1201. 217 HABICHT 1995, 62. 218 Diod. XVIII 74,3: to; polivteuma dioikei`sqai ajpo; timhvsewn a[cri mnw`n devka. 219 Diod. XVIII 74,3: katasth`sai d j ejpimelhth;n th`" povlew" e{na a[ndra A j qhnai`on o}n a]n dovxh/ Kasavndrw/: kai; hJ/revqh Dhmhvtrio" oJ Falhreuv". Vgl. Strab. IX 1,20: ejpevsthse [scil. Kassander] ga;r tw`n politw`n Dhmhvtrion to;n Falhreva, tw`n Qeofravstou tou` filosovfou

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nächste Jahrzehnt die Geschicke der Stadt von Kassander und dessen ‚Vertrauensmann‘ Demetrios abhängig bleiben sollten220. Zunächst muß die Frage nach der genaueren Bedeutung des Zensus von 1.000 Drachmen sowie den damit verbundenen Auswirkungen auf die athenische politeiva gestellt werden. Da es sich bei dem Zensus nun gerade um die Hälfte der zuvor bestehenden Beschränkung handelte, darf naheliegend angenommen werden, daß diese Restriktion nicht abermals mehr als die Hälfte der rechtmäßigen Bürger von den politischen Aktivitäten ausschließen sollte, sondern hierin vielmehr ein Kompromiß zu sehen ist, der ein Zugeständnis an die Gruppe der ‚Demokraten‘ bedeutete und daher als innenpolitisch ausgleichende Maßnahme bewertet werden kann221. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die ehemalige Gruppe um Phokion, der eben auch Demetrios von Phaleron – nunmehr als führende Persönlichkeit – angehörte222, durch ihre klare Parteinahme für Kassander hätte durchaus eine striktere Maßnahme fordern können. Inwieweit solche Forderungen bestanden, ist nicht belegt, jedoch dürfte den Athener zugute gehalten worden sein, daß sie selbst es waren, die nach Polyperchons außenpolitischem Machtverluste die Initiative für die Friedensverhandlungen und Friedensbestimmungen mit Kassander ergriffen und ihrerseits eine Gesandtschaft zum Herrscher auf den Weg gebracht hatten223. Aus diesem Grunde wird gerade Kassander als nicht unerheblicher Faktor der folgenden politischen Bestimmungen für die Stadt angesehen werden müssen, und seine Person dürfte es daher auch gewesen sein, die Athens Verhandlungsbereitschaft entsprechend honorierte224. Zudem sollte gnwrivmwn. Vgl. zu Demetrios von Phaleron St. TRACY, Demetrius of Phalerum: Who Was He and Who Was He Not?, in: Demetrius of Phalerum. Text, Translation and Discussion, hrsg. von W.W. Fortenbaugh und E. Schütrumpf, New Brunswick, N.J. 2000, 331–354. 220 Siehe dazu Diod. XVIII 74,3; weiterhin HABICHT 1995, 62. 221 Ob hingegen „der Zensus von 1000 Drachmen mit dem bekannten Ziel der Desintegration der Bürgerschaft“ festgeschrieben wurde, wie DREYER 1999, 161 feststellt, bleibt dementsprechend fraglich. Eine solche Annahme berücksichtigt nun insbesondere nicht die Frage, warum gerade die Hälfte des vorherigen Zensus gewählt wurde und welche Gruppe des dh`mo" denn „desintegriert“ werden sollte. Den geringen Zensus als erhebliche Konzession gegenüber der ärmeren Bevölkerung sieht – im Anschluß an die ältere Forschung – GEHRKE 1978, 183. Wenig überzeugend bleibt die Ansicht von LEHMANN 1995, 147, der anführt, daß aufgrund dieses Zensus „zumindest die Ekklesia als zentrale Wahl- und Entscheidungskörperschaft annähernd einer (...) ‚Dreiviertel-Gesellschaft‘ des aktuellen Bürgerverbandes offenstand“. Für Lehmann spielt der zentrale Aspekt der katavlusi" tou` dhvmou auch in diesem Falle keine Rolle. 222 Vgl. zu Demetrios von Phaleron, seinem Umfelde sowie seinen persönlichen Bestrebungen die Angaben bei HABICHT 1995, 62–75 sowie ausführlicher bei GEHRKE 1978 (jeweils mit weiterer Literatur). 223 Diod. XVIII 74,2. 224 Siehe dazu auch GREEN 2003, 6. Anders HACKL 1987, 65 sowie GEHRKE 1978, 181–188, der die innenpolitischen Regelungen in Athen nach den Verhandlungen mit Kassander insbesondere auf Demetrios von Phaleron bezieht. Da die außenpolitischen Bezüge auf die innenpolitische Situation allerdings evident sind, erscheint es unwahrscheinlich, daß Demetrios von Phaleron hier – wie von Gehrke zugrunde gelegt – einen nahezu eigenständigen Ermessensspielraum besaß. Vgl. zur Abhängigkeit auch Polyb. XII 13,8–11, wonach Demochares über Athens Zeit unter Demetrios von Phaleron urteilte, die Stadt sei Kassander (sic!) zu Gehorsam verpflichtet und somit unfrei gewesen: (…) diovti dh; pavntwn tw`n th`" E J llavdo" kalw`n hJ patri;" para-

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ein weiterer Grund für den konstatierten Umgang mit der Stadt darin bestanden haben, daß Kassander Athen zukünftig als Bündnispartner – im Sinne einer summaciva – an seiner Seite wissen wollte225. Dieses, so darf man mit einiger Sicherheit vermuten, konnte aber nur dann auch sinnvoll gelingen, wenn die Gefahr einer stasis innerhalb der Bürgerschaft möglichst gering gehalten wurde, weshalb aus einer solchen Perspektive der 1.000-Drachmen-Zensus naheliegend auch nur eine bestimmte, politisch wohlmöglich eher unbeständige Gruppe von der aktiven Teilnahme an der Bürgerschaft ausschließen sollte. Die Mehrzahl der Bürger hingegen konnte weiterhin ihre politischen Rechte wahrnehmen und auch die politische Organisation blieb von den Bestimmungen nahezu unbetroffen226, so daß die gängigen Verfahrensweisen der dhmokrativa weitestgehend in hergebrachter Form fortbestanden227. Die politische Aktivität der Bürgerschaft scheint für den Zeitraum der nächsten zehn Jahre dagegen sehr mäßig gewesen zu sein. Insbesondere die geringe Anzahl der überlieferten Dekrete verweist auf eine wenig intensive Tätigkeit der ejkklhsiva228. Als Grund dieser Zurückhaltung muß die direkte Abhängigkeit des dh`mo" von Kassander und dessen ejpimelhthv" Demetrios gesehen werden229. Diese außenpolitische Abhängigkeit in den Jahren von 317–307 v.Chr.230 erübrigte die meisten politischen Kontroversen und Auseinandersetzungen innerhalb der ejkklhsiva, da eine Diskussion von möglichen politischen Alternativen oder entsprechenden Gesandtschaften zu konkurrierenden Machthabern nicht gegeben231 und somit gleichzeitig ein wesentlicher Impuls für die politische Aktivität der Bürgerschaft unterbunden war. Eine derartige Einschränkung des Betätigungsfeldes der ejkklhsiva mußte bei vielen Bürgern zwangsweise entweder zu einer Abwendung von der Politik oder einer Hinwendung zu polisinternen Ange-

kecwrhkui`a toi`" a[lloi" ejpoivei Kassavndrw/ to; prostattovmenon, ejpi; touvtoi" aujto;n oujk aijscuvnesqaiv fhsin (XII 13,11). Dazu HABICHT 1979, 25f. Vgl. auch DREYER 1999, 163, der scheinbar sicher zwischen Kassanders Absichten und den „Verbesserungen“ des Demetrios von Phaleron zu trennen in der Lage ist. 225 Diod. XVIII 74,3: genomevnwn de; pleiovnwn ejnteuvxewn sunevqento th;n eijrhvnhn w{ste tou;" A j qhnaivou" e[cein povlin te kai; cwvran kai; prosovdou" kai; nau`" kai; ta[lla pavnta fivlou" o[nta" kai; summavcou" Kasavndrou. 226 Zu den Veränderungen der politischen Organisation knapp HABICHT 1995, 64–67 sowie umfassend die Diskussion von GEHRKE 1978, 151–181; dort vor dem Hintergrund des Einflusses von philosophischen Lehren auf das Wirken des Demetrios. 227 Vgl. GEHRKE 1978, 184. 228 HABICHT 1995, 72. 79; vgl. dagegen zurückhaltender HEDRICK 1999, 407f.; siehe weiterhin LIDDEL 2003, 85. 229 Dazu, allerdings aus der Sicht der Zeit nach 307 v.Chr., HABICHT 1995, 79f. Dieses steht im Gegensatze zu der vorherigen Zensusverfassung von 322–318 v.Chr., für die gerade zahlreiche Dekrete überliefert sind; OLIVER 2003, 41f. Während diese Vielzahl am ehesten als Ausdruck einer bewußten politischen Manifestation zu verstehen ist, scheint die geringe Anzahl von 317– 307 v.Chr. viel eher die bestehenden politischen Verhältnisse widerzuspiegeln. 230 HABICHT 1995, 63: „Die Unterwerfung der Stadt unter Kassanders Willen bedeutete den Verzicht auf jede eigene äußere Politik, deren Kurs vielmehr Kassander vorschrieb“. 231 Eine überlieferte Gesandtschaft zu Ptolemaios wird als nicht offiziell anzusehen sein.

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legenheiten führen232 – dort jedoch konnte die Gruppe um Demetrios von Phaleron aufgrund ihres Rückhaltes durch Kassander den maßgeblichen Einfluß ausüben. Als wesentliche ‚gesetzgeberische Maßnahme‘ unter Demetrios von Phaleron mit einer direkten Auswirkung auf die politische Situation der Polis wird in der Forschung die Einführung beziehungsweise Stärkung der nomofuvlake" gesehen233. Diese gewählten Gesetzeswächter sollten innerhalb der Bürgerschaft die – nicht näher zu definierenden – gesetzeswidrigen Handlungen verfolgen und eine generelle Überwachung der novmoi sicherstellen234. Nun ist jedoch für die Einschätzung von Athens politischer Situation zwischen 317 und 307 v.Chr. auch die Frage zu stellen, warum in dieser Zeit keine strikteren Eingriffe in die politische Organisation vorgenommen wurden. Hierbei wäre zunächst zu berücksichtigen, daß die Maßnahmen des Demetrios einerseits in Übereinstimmung mit Kassanders Vorgaben gestanden haben dürften, dessen angestrebte summaciva mit Athen aber nur dann wirkungsvoll gewesen wäre, wenn innerhalb der Bürgerschaft eine starke Polarisierung weitestgehend vermieden werden konnte und daher ein wenigstens akzeptabler innenpolitischer Konsens bestanden haben sollte. Dieses wiederum scheint jedoch nur dann möglich, wenn die Mehrheit des dh`mo" Demetrios’ Maßnahmen – zumindest als ein zu akzeptierendes Übel – ‚duldete‘235. Da nun aber freilich die Mehrheit der Bürger den Zustand der alten pavtrio" politeiva favorisierte und, wie sich nach 307 v.Chr. zeigen sollte, grundsätzlich gegen einen Zensus tendierte, dürften Veränderungen ihrer politeiva trotz der außenpolitisch abhängigen Situation auch weiterhin nicht unwesentlich vom politischen Meinungsbild des dh`mo" abhängig gewesen sein, weshalb dann letztlich auch Demetrios von Phaleron in seiner Stellung als Kassanders ejpimelhthv" nur in einem eher begrenzten Umfang politische Veränderungen durchzuführen in der Lage war236. Mögliche staatsphilosophische Überlegungen 232 Bei der von Diod. XIX 78,4 überlieferten Gesandtschaft der Athener an Antigonos Monophthalmos handelte es sich um den Versuch einer Gruppe innerhalb der Bürgerschaft, durch äußere Unterstützung den Sturz des Demetrios von Phaleron und die Unabhängigkeit von Kassander herbeizuführen; vgl. HABICHT 1995, 72f. 233 Ob Demetrios das Gremium der sieben nomofuvlake" eingeführt hat, ist aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig zu klären; siehe hierzu sowie zu deren Kompetenzen ausführlich GEHRKE 1978, 151–162 (mit der älteren Literatur); vgl. HABICHT 1995, 64. 234 Die Kompetenzen der nomofuvlake" lagen zuvor bei der boulhv. Da es sich nunmehr um ein gewähltes und damit von Demetrios von Phaleron direkt zu beeinflussenden Gremium handelte, konnten die entsprechenden Kompetenzen von ihm und seinen Parteigängern kontrolliert werden. Zu diesen Kompetenzen, etwa die Kontrolle der Gesetzeseinhaltung, die Beaufsichtigung von Amtsträgern, boulhv und ejkklhsiva sowie die vorherige Zuständigkeit der boulhv, siehe ausführlich GEHRKE 1978, 152–155. Zu den weiteren Maßnahmen unter Demetrios von Phaleron (etwa die gunaikonovmoi und die Gesetze zur Beschränkung des Luxus, das Amt des ajgwnoqevth" oder das kurzzeitige Amt des nomoqevth") siehe die Angaben bei HABICHT 1995, 64– 67; GEHRKE 1978, 162–178; vgl. DREYER 1999, 162 Anm. 206. 235 Freilich unter der Prämisse vorheriger Friedensverhandlungen mit Kassander und den daraus zu folgernden Eingeständnissen der Athener an den Herrscher; vgl. dazu Strab. IX 1,20: pro;" A j qhnaivou" de; eujgnwmovnhse [scil. Kassander], labw;n uJphvkoon th;n povlin. Siehe zur Einschätzung der Abhängigkeit des Demetrios von Kassander auch HABICHT 1979, 25f. 236 Anders die Ausführungen von GEHRKE 1978, der die hier angesprochene außenpolitische

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als Grundlage seiner Maßnahmen hätte der Aristotelesschüler und Theophrastfreund Demetrios von Phaleron also zunächst den politischen Rahmenbedingungen anzupassen gehabt237, die sich in diesem Falle eben ganz konkret an Kassanders machtpolitischen Ambitionen und einer diesbezüglichen Rolle der athenischen Bürgerschaft zu orientieren hatten. Nichtsdestotrotz konnte sich Demetrios für seine Zeit als athenischer ejpimelhthv" des Makedonen – so eine Angabe von Strabon – mit der Aussage schmücken, nicht nur die dhmokrativa nicht aufgelöst, sondern sie sogar berichtigt zu haben238. Indem Demetrios hierbei indirekt einen Vorwurf seiner Gegner zur Rechtfertigung des eigenes Handeln aufnahm239, verweist er durchaus nicht ungeschickt darauf, die politische Organisation der Polis im Sinne der dhmokrativa nicht außer Kraft gesetzt, sie hingegen in einzelnen Punkten mittels bestimmter Regelungen modifiziert zu haben. Berücksichtigt man allerdings nach der hier nunmehr aufgezeigten Sichtweise die außenpolitischen Bedingungen sowie einen darauf zu beziehenden, weiterhin bestehenden machtpolitischen Einfluß des dh`mo", wäre seine Aussage – wenngleich in bezug auf die vorliegende Situation durchaus plausibel – diesem entsprechend zu relativieren, und schließlich warf die Mehrheit der Bürgerschaft ihm dann auch nicht sein Vorgehen hinsichtlich der athenischen dhmokrativa vor, sondern lastete ihm und seinen Parteigängern ein noch schwerwiegenderes Fehlverhalten an: Das von Kassander gestützte Regime wurde, wie schon zuvor die Gruppe um Phokion, angeklagt, die katavlusi" tou` dhvmou betrieben zu haben240. Es handelte sich also auch in diesem Falle nicht um Verpflichtung des Demetrios gegenüber Kassander in seinen Ausführungen unbeachtet läßt. Gehrke spricht diesbezüglich zudem von „seiner Herrschaft“ (ebendort 187. passim), womit die des Demetrios von Phaleron über Athen gemeint ist, und auch die von Gehrke (ebendort 188) auf Demetrios bezogene zehnjährige Stabilität in Athen (317–307 v.Chr.) wäre zunächst und ganz wesentlich im Kontexte von Kassanders Machtmöglichkeiten zu verstehen. Siehe dagegen LEHMANN 1995, 140. 144, der die Abhängigkeit von Kassander respektive dem „makedonischen Patronat“ betont, aber gleichzeitig den politischen Gestaltungsspielraum des Demetrios von Phaleron hervorgehoben wissen möchte (ebendort 148f.). Deutlicher schließlich LEHMANN 1997, 63. 67f. 79. 237 Die Unterschiede von Politik und Philosophie in dessen Wirken hat GEHRKE 1978 hinreichend und überzeugend dargelegt; vgl. dazu nunmehr DREYER 1999, 180–184. Siehe allgemein zum Verhältnis von Politik und Philosophie in Athen die Beurteilung von P. SCHOLZ, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v.Chr., Stuttgart 1998, 365– 368 (insbesondere 365: „Insgesamt betrachtet hatte ihr Wirken [scil. das der einzelnen Philosophen] auf den Gang der politischen Geschichte Griechenlands keinen Einfluß, nicht einmal auf den Athens.“). 238 Strab. IX 1,20: o}" [scil. Demetrios] ouj movnon ouj katevluse th;n dhmokrativan, ajlla; kai; ejphnwvrqwse. Dazu HABICHT 1995, 75; LEHMANN 1995, 147. 239 Daß es sich hierbei um einen naheliegenden Vorwurf seiner Gegner handelte, belegt die spätere Anklage gegen ihn und seine Mitstreiter; siehe dazu im folgenden. 240 Philochoros FGrHist 328 F66: Filovcoro" de; ejn tai`" A j ttikai`" iJstorivai" periv te th`" fugh`" tw`n katalusavntwn to;n dh`mon kai; peri; th`" kaqovdou pavlin ou{tw" levgei (…). Wenngleich die Aussage von Dionysios von Halikarnassos, dessen Werk das Fragment überliefert, entstammt, hatte diesem freilich der ursprüngliche Text des Philochoros und damit auch der geschilderte Zusammenhang vorgelegen, so daß die verwendete Terminologie kaum in Frage gestellt werden kann; vgl. hierzu den entsprechenden Kommentar von Felix Jacoby in den Fragmenten der griechischen Historiker.

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die Beseitigung einer dhmokrativa, sondern eben genauer um die Auflösung der die politeiva ausmachenden rechtmäßigen Bürgergemeinschaft. Vor dem dargelegten Hintergrund und unter Berücksichtigung des jeweiligen Betrachtungsstandpunktes scheinen letztlich die unterschiedlichen Urteile antiker Autoren über Demetrios von Phaleron und dessen Vorgehen somit allesamt verständlich: So habe Demetrios von Phaleron nach Diodor Wohlwollen gegenüber den Bürgern bewiesen241, während Plutarch hingegen schreibt, die Athener hätten dem Namen nach eine ojligarciva, tatsächlich jedoch eine monarchische Verfassung besessen242, und Pausanias sogar urteilen kann, Demetrios’ ‚Herrschaft‘ hätte eine Tyrannis ausgemacht243. Wenn Plutarch als einzige und zugleich spätere Quelle hinsichtlich der Befreiung darüber hinaus noch von einer Rückgewinnung einer dhmokrativa spricht, die auf die ojligarciva respektive die monarciva gefolgt sei244, bleibt hierbei zu berücksichtigen, daß in den zeitnahen Quellen – in diesem Falle Philochoros245 – von einer aufgelösten dhmokrativa nicht die Rede ist, allgemein die demokratischen Institutionen zwischen 317 und 307 v.Chr. nun keineswegs aufgehoben waren und daher eine Beseitigung der dhmokrativa für die Athener auch nicht die zentrale Verfehlung von Demetrios ausmachte. Das Geschehen von 307 v.Chr. mit Plutarch als eine „Rückkehr zur Demokratie“ zu bezeichnen246, vermag die eigentlichen Veränderungen also kaum ausreichend zu kennzeichnen, zumal dann weiterhin die zwei wesentlichen Aspekte, nämlich die vollständige Wiedereinsetzung der Bürgerschaft in ihre politischen Rechte sowie die Rückgewinnung der eigenen Handlungsfreiheit, die am ehesten mit der ejleuqeriva bezeichnet werden konnte, unberücksichtigt blieben247. Darüberhinaus sollte die von Plutarch für das kassandrische Regime von 241

Diod. XVIII 74,3: ou|to" [scil. Demetrios] de; paralabw;n th;n ejpimevleian th`" povlew" h\rcen eijrhnikw`" kai; pro;" tou;" polivta" filanqrwvpw". 242 Plut. Demetrios 10,2: A j qhnai`oi d j ajpolabovnte" th;n dhmokrativan (…), lovgw/ me;n ojligarcikh`", e[rgw/ de; monarcikh`" katastavsew" genomevnh" dia; th;n tou` Falhrevw" duvnamin. Zu Plut. Demetrios 10,1f. siehe weiterhin das Folgende. 243 Paus. I 25,6: ei|le [scil. Kassander] tuvrannovn te A j qhnaivoi" e[praxe genevsqai Dhmhvtrion to;n Fanostravtou, dovxan eijlhfovta ejpi; sofiva/. HABICHT 1979, 26 führt nicht zu unrecht an, daß „Demetrios von Phaleron allein unter allen Athenern für die Politik der Stadt gegenüber Kassander bürgte“, daher eigentlich weniger von einer Oligarchie als vielmehr von einer Tyrannis die Rede sein müsse. Anders HACKL 1987, 71. 244 Plut. Demetrios 10,2 führt an, daß die Athener ihre dhmokrativa zurückerlangten und dadurch eine 15jährige ojligarciva, die aufgrund der Person des Demetrios von Phaleron eher eine monarciva gewesen sei, beseitigt worden wäre. 245 Philochoros FGrHist 328 F66. 246 Z.B. bei HABICHT 1995, 75. L EHMANN 1995, 149 sieht eine Rückkehr zur angestammten „radikalen“ Demokratie gegenüber einer vorherigen ‚konservativ‘-nichtdemokratischen Ordnung. 247 Daß in diesem Zusammenhang die Bezeichnung katavlusi" tou` dhvmou beziehungsweise kataluvsante" to;n dh`mon weder mit „Auflösung des Volkes“ (so HABICHT 1995, 76) noch mit „Vernichter der Demokratie“ (HABICHT 1970, 47) hinreichend übersetzt ist, sollte aus dem Angeführten deutlich geworden sein. Vgl. hierzu ganz ähnliche Übersetzungen etwa von FERGUSON 1911, 95 (democratic restoration). 96 (re-establishment of the democracy); HEDRICK 1999, 403f. (restoration of democracy); DREYER 2001, 31f. (Wiedereinrichtung der herkömmlichen Demokratie).

I.3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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Demetrios von Phaleron angeführte Charakterisierung als ojligarciva248 – wie bereits unter der vorherigen Zensusregelung nach dem Lamischen Krieg – auch hier nicht als Gegenbegriff zur dhmokrativa verstanden werden, da letztere wenigstens hinsichtlich der politischen Organisation weitestgehend unverändert blieb und sich innerhalb der zahlenmäßig eingeschränkten Bürgergruppe durchaus eine ganze Reihe von politischen Gegnern von Kassander und Demetrios von Phaleron befanden, die die Voraussetzung des 1.000-Drachmen-Zensus erfüllten und somit letztlich auch an den politischen Vorgängen teilhaben konnten249. Unter ojligarciva ist somit in diesem Falle keine institutionelle Regelung zu verstehen, sondern im Wortsinne eine Herrschaft der Wenigen, nämlich diejenige der von Kassander unterstützten Gruppe innerhalb der demokratischen Grundformen. Da eine genauere Differenzierung, welche Handlungen letztlich von Demetrios von Phaleron selbst ausgingen und welche er durch Kassanders Initiative zu vermitteln hatte, nur sehr bedingt möglich ist, muß eine Bestimmung von Demetrios’ Verhältnis zur athenischen politeiva ambivalent bleiben. Ebenso bleibt auch unklar, in welchem Maße und wann im Verlaufe der zehn Jahre das Regime um Demetrios von Phaleron in eine stärkere Konfrontation zur Bürgerschaft geriet. Jedenfalls kann vorausgesetzt werden, daß Demetrios durch das athenische Eingeständnis der kassandrischen Vorherrschaft im Jahre 317 v.Chr. kaum bereits am Beginn seines Wirkens in der späteren Form vom dh`mo" angeklagt worden wäre. Einen möglichen Anhaltspunkt für eine Veränderung bietet sicherlich das von Antigonos Monophthalmos propagierte allgemeine Freiheitsedikt von 315 v.Chr.250, wonach die Athener recht bald nach der Einführung der Beschränkungen wieder Hoffnung auf eine eigene Unabhängigkeit und Selbstbestimmung schöpfen konnten. Auch nahmen die Athener spätestens 313 v.Chr. in Form einer ,geheimen‘ Gesandtschaft zu Monophthalmos direkten Kontakt auf251. Hierin einen Wendepunkt zu sehen, nach dem sich die innerpolitischen Spannungen zwischen Demetrios von Phaleron und den ‚Demokraten‘ verstärkt haben könnten und ersterer seine Position möglicherweise mit strikteren Maßnahmen abzusichern versucht hätte, liegt nahe252. Das gegenseitige Verhältnis muß sich 248 Plut. Demetrios 10,2. Ebendort wird allerdings einschränkend angeführt, daß es sich nur dem Namen nach um eine ojligarciva gehandelt habe. 249 Es bleibt notwendigerweise zu beachten, daß Plutarch in diesem Falle sehr allgemein über die athenische Verfassungen nach dem Lamischen Krieg urteilt, dabei die – wenngleich kurze – Zwischenphase des vollständig wieder eingesetzten dh`mo" unberücksichtigt ließ. Auch führt Plut. Demetrios 10, 1f. pavtrio" politeiva und dhmokrativa gewissermaßen als Synonyme an, indem er einerseits davon spricht, sie hätten ihre pavtrio" politeiva 307 v.Chr. wiedererlangt, und andererseits sagt, daß in der vorherigen Zeit keine dhmokrativa bestanden habe. Siehe auch Plut. Demetrios 9,3, wonach die politeiva unter Demetrios von Phaleron verändert worden sei. 250 Diod. XIX 61,3: ei\nai de; kai; tou;" {Ellhna" a{panta" ejleuqevrou", ajfrourhvtou", aujtonovmou". 251 Diod. XIX 78,4: oiJ d j A j qhnai`oi to; me;n prw`ton lavqra/ diepevmponto pro;" A j ntivgonon ajxiou`nte" ejleuqerw`sai th;n povlin. Die Hoffnung der Athener erübrigte sich allerdings alsbald, da Antigonos 312 und 311 v.Chr. durch Niederlagen geschwächt wurde und einen Friedensschluß mit Kassander einging. HABICHT 1995, 73; DREYER 1999, 183f. 252 Waren es 317 v.Chr. noch die Athener insgesamt, die aufgrund ihrer außenpolitisch

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jedenfalls in der folgenden Zeit schließlich soweit verschlechtert haben, daß nach dem Ende von Kassanders Vorherrschaft Demetrios von Phaleron keinen ausreichenden Rückhalt in der Polis mehr besaß und sich die Mehrheit der athenischen Bürgerschaft auf die Anklage der katavlusi" tou` dhvmou festgelegte, also eindeutig gegen ihn und seine Parteigänger Stellung bezog. Unbegründet bleibt gerade hinsichtlich der Rolle der athenischen Bürgerschaft in dieser Zeit die Beurteilung von Hans-Joachim Gehrke, der ausführt, man müsse, um Demetrios von Phaleron „wirklich Gerechtigkeit widerfahren“ zu lassen, „auch die historische Größe, mit der er es zu tun hatte, stärker in Rechnung stellen, nämlich das -demokratische Selbstbewußtsein des Atheners, das in den eigenen ehemaligen Rang verliebt und der eigenen Tradition verfallen war. Dies hat auch noch in viel späterer Zeit merkwürdige Blüten getrieben. Wie stark es war, zeigt, daß noch Jahrhunderte vergehen mußten, bis es aufhörte, die Athener zu elementaren politischen Verirrungen [sic!] zu verleiten“253. Im Gegensatz zu Gehrkes Urteil verdeutlicht vielmehr die durch die athenische Bürgerschaft formulierte, von Gehrke nicht weiter berücksichtigte Anschuldigung der katavlusi" tou` dhvmou den in dieser Zeit grundsätzlich und mehrheitlich bestehenden allgemeinen Wertmaßstab, den man kaum als „merkwürdige Blüte“ oder „politische Verirrung“ verstehen kann, will man nicht die historisch-politischen Bedingungen innerhalb der Polis gänzlich unbeachtet lassen. Unabhängig vom Vermögen kam dem Bürgerstatus in dieser und auch der folgenden Zeit eine weiterhin außergewöhnlich hohe und zentrale Bedeutung zu, deren Mißachtung eben nicht nur einen Angriff auf einzelne Personen bedeutete, sondern den gesamten dh`mo" generell in Frage stellte254. An dieser Mißachtung des Wertemaßstabs der Bürgerschaftsmehrheit scheiterte schließlich Demetrios von Phaleron, und auch die Einrichtung eines Zensus erwies sich in der folgenden Zeit für Athen nicht mehr als politische Alternative. Dem traditionellen ‚demokratischen Selbstbewußtsein‘ und den politischen Bestrebungen der Bürgerschaft soll freilich auch im folgenden Verlauf dieser Untersuchung nachgegangen werden – die athenische Dekade des Demetrios von Phaleron jedenfalls war mit dem Eingreifen des Demetrios Poliorketes beendet. Athen um 307/6 v.Chr. Im Frühjahr 307 v.Chr. beendete die Eroberung des Piräus durch Demetrios Poliorketes Kassanders Vorherrschaft über Athen, woraufhin im Sommer mit der prekären Lage zu Verhandlungen mit Kassander bereit waren und somit die Einschränkungen durch den Herrscher hinnehmen mußten, hätte Demetrios von Phaleron aus der Sicht des dh`mo" und insbesondere aufgrund seiner Stellung durchaus die Möglichkeit besessen, zukünftig integrierend für die Bürgerschaft tätig zu werden. Daß er dieses schließlich nicht getan hat, zeigt seine folgende Anklage und der Umgang mit seinem Andenken in der Stadt nach der Befreiung 307 v.Chr.: Strab. IX 1,20; Dion Chrys. or. 37,41; Plut. mor. 820F. 253 GEHRKE 1978, 188. Vgl. demgegenüber jetzt GEHRKE 2003; siehe zudem LEHMANN 1997, 84. 128. 254 So befürchtete Demetrios von Phaleron nach Plutarchs Aussage (Demetrios 9,3) wohl zu Recht nicht zuerst seinen außenpolitischen Gegner Demetrios Poliorketes, sondern insbesondere seine eigenen Mitbürger.

I.3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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Niederringung der Besatzung in der Munychia auch der sichtbare Ausdruck von dessen Vorherrschaft in der Stadt beseitigt werden konnte255. Die Gruppe um Demetrios von Phaleron verlor hiermit den für ihre Machtstellung notwendigen Rückhalt und verließ die Stadt256. Durch sein Vorgehen wird Demetrios Poliorketes in den Quellen als derjenige angeführt, der dem dh`mo" der Athener die ejleuqeriva zurückgab und die pavtrio" politeiva restituierte257. Indem die Beseitigung der fremden Besatzung im Piräus und des beherrschenden Einflusses von Kassanders Statthalter aus Sicht des dh`mo" kaum anders als eine Befreiung für die Athener bezeichnet werden kann, stimmt der Terminus der ejleuqeriva inhaltlich mit der veränderten Situation der Athener überein. Mit einer restituierten pavtrio" politeiva wird dann insbesondere die Aufhebung der Zensusregelung gemeint sein, wenngleich ein solcher Bezug in den Quellen nicht direkt erwähnt wird258. Die im folgenden gegen Kassanders Parteigänger erhobene Anklage einer katavlusi" tou` dhvmou läßt dieses Gleichsetzung jedoch notwendig erscheinen259. Zusammenfassend beziehen sich also die drei angeführten Aspekte, nämlich die Rückgabe der ejleuqeriva, die Wiedergewinnung der pavtrio" politeiva sowie die Anschuldigung der katavlusi" tou` dhvmou gerade auf diejenigen Mißstände, die aus der Sicht der Bürgerschaftsmehrheit in der vorhergehenden Zeit unter Kassander und Demetrios von Phaleron bestanden hatten. Der Übergang zur alten pavtrio" politeiva verlief anscheinend problemlos, zumal die entscheidenden Protagonisten der gestürzten ‚Oligarchen‘ bereits vor ihrer Anklage ins Exil gegangen waren260. Diejenigen hingegen, die sich den Vorwürfen stellten, wurden freigesprochen261, so daß die Bürgerschaft ohne größere innere Konflikte zu einem Ausgleich gefunden haben dürfte. Ein Grund hierfür wird sicherlich der maßgebliche Einfluß von Demetrios Poliorketes gewesen sein, dem aufgrund außenpolitischer Auseinandersetzungen, in denen er sich in dieser Zeit befand, kaum an einem innenpolitischen Krisenherd ‚Athen‘ gelegen gewesen sein konnte. Außerdem darf man vermuten, daß sein Aufruf an die Athener, Ruhe zu bewahren, nicht nur auf die Zeit seines Eindringens in den 255

Diod. XX 45; Plut. Demetrios 8–10,1; Marmor Parium FGrHist 239 B20–21. Demetrios von Phaleron ging ins Exil nach Theben und später an den ptolemaiischen Hof nach Alexandria; siehe Diod. XX 45,4f.; Plut. Demetrios 9,3. 257 Diod. XX 45,5: oJ de; dh`mo" tw`n A j qhnaivwn komisavmeno" th`n ejleuqerivan ejyhfivsato tima;" toi`" aijtivoi" th`" aujtonomiva", sowie XX 46,1: oJ me;n Dhmhvtrio" kataskavya" th;n Mounucivan oJlovklhron tw`/ dhvmw/ th;n ejleuqerivan ajpokatevsthsen kai; filivan kai; summacivan pro;" aujtou;" sunevqeto. Zudem Plut. Demetrios 8,6: tou;" A j qhnaivou" ejleuqerwvsonta kai; th;n froura;n ejkbalou`nta kai; tou;" novmou" aujtoi`" kai; th;n pavtrion ajpodwvsonta politeivan (vgl. ebendort 9,8). 258 Zu den mit der Freiheitserklärung von 307 v.Chr. einhergehenden Veränderungen HABICHT 1995, 76. 259 Philochoros FGrHist 328 F66. 260 HABICHT 1995, 76. 261 Siehe dazu den Fall des Dichters Menander, der nach dem politischen Wechsel seine Anklage und Verurteilung zu befürchten hatte, jedoch wegen einflußreicher Fürsprecher verschont blieb. Andere Verurteilte gingen zuvor in die Verbannung; dazu HABICHT 1995, 76 (mit weiterer Literatur). 256

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Piräus im Frühjahr 307 v.Chr. bezogen war262, sondern auch für die folgende Zeit galt, zumal die Polis ihre Freiheit letztlich ganz und gar seinem Wirken zu verdanken hatte. In der Polis ging die Bürgerschaft sogleich daran, die Tradition der wiedererlangten pavtrio" politeiva zu festigen, indem posthume Ehren an Lykurg verliehen wurden, die genau diejenigen Charakteristika hervorhoben, die zuvor sowohl unter Kassander und Demetrios von Phaleron als auch unter Phokion eingeschränkt waren oder aber eben grundsätzlich mißachtet wurden263. So wird am Beginn des Dekretes die pro;" to;n dh`mon eu[noia, die bereits seine Vorfahren auszeichnete, angeführt, womit nicht einzig ein Wohlwollen gegenüber der Bürgerschaft gemeint ist, sondern grundsätzlich auch deren Respektierung betont wird264. Deutlich konnte hieran die Mißachtung des rechtmäßigen dh`mo" in der vorherigen Zeit abgelesen werden, zumal die Ehrung des Lykurg auch die Aufstellung eines bronzenen Standbildes auf der Agora von Athen beinhaltete und somit auf dem zentralen Platze der Polis für alle Bewohner sichtbar wurde265. Diese Wohlgesinnung als alter Brauch innerhalb der Familie des Lykurg mag vor dem Hintergrund der vorangegangenen Zustände und Ereignisse insbesondere als direkte Anspielung auf Athens rechtmäßige und althergebrachte pavtrio" politeiva verstanden werden, indem betont wurde, daß die Familie sich gerade nach der ordnungsgemäßen Tradition der Gemeinschaft richtete und somit selbst als vorbildlicher Traditionsträger begriffen werden sollte. Daß Lykurg des weiteren mehrmals Rechenschaft über seine Tätigkeiten als Staatsmann in der freien und demokratischen Polis ablegte und sich dabei keine Schuld zukommen ließ266, dürfte ebenfalls als deutlicher Gegensatz zu den persönlichen ‚Qualitäten‘ der führenden Politiker der beiden vorhergehenden Zensusverfassungen aufgefaßt worden sein. Mit der Ehrung des Lykurg motivierte die Bürgerschaft außerdem ein zukünftiges Streben für den dh`mo" dadurch, daß diejenigen Athener, die in Zukunft ihr politisches Leben mit entsprechender Gerechtigkeit gegenüber der dhmokrativa und ejleuqeriva verbrachten, nach ihrem Tode mit einer ebensolchen Auszeichnung rechnen konnten267. 262 Plut. Demetrios 8,4: toi`" ga;r stovmasi tw`n limevnwn ajkleivstoi" ejpitucw;n oJ Dhmhvtrio" kai; diexelavsa", ejnto;" h\n h[dh katafanh;" pa`si, kai; dieshvmhnen ajpo; th`" new;" ai[thsin hJsuciva" kai; siwph`". 263 [Ps.-] Plut. mor. 852A-E. Eine inschriftliche Fassung dieser Angaben von [Ps.-] Plutarch ist überliefert in IG II2 n. 457; vgl. HABICHT 1995, 76 mit Anm. 2. Zur Ehrung des Lykurg siehe GAUTHIER 1985, 89–92. Vgl. allgemein zu Athens Ehrendekreten für verdiente Bürger der frühen hellenistischen Zeit I. KRALLI, Athens and her Leading Citizens in the Early Hellenistic Period (338–261 B.C.): The Evidence of the Decrees Awarding the Highest Honours, Archaiognosia 10, 1999/2000, 133–161. 264 [Ps.-] Plut. mor. 852A: ejpeidh; Lukou`rgo" Lukovfrono" Boutavdh" paralabw;n para; tw`n eJautou` progovnwn oijkeivan ejk palaiou` th;n pro;" to;n dh`mon eu[noian. Eine Übersetzung von dh`mo" mit Demokratie, wie in Textausgaben anzutreffen (siehe H. N. Fowler, Loeb), trifft nicht den geschilderten Sachverhalt. 265 [Ps.-] Plut. mor. 852E: sth`sai aujtou` to;n dh`mon calkh`n eijkovna ejn ajgora/`. 266 [Ps.-] Plut. mor 852D: kai; didou;" eujquvna" pollavki" tw`n pepoliteumevnwn ejn ejleuqevra/ kai; dhmokratoumevnh/ th/` povlei dietevlesen ajnexevlegkto" kai; ajdwrodovkhto" to;n a{panta crovnon. 267 [Ps.-] Plut. mor. 852D: o{pw" a]n eijdw`si pavnte", diovti tou;" proairoumevnou" uJpe;r th`"

I.3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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Neben Ehrungen von einzelnen Persönlichkeiten können auch die im Vergleich zur vorherigen Zeit zwischen 317–307 v.Chr. nun weitaus zahlreicher beschlossenen Dekrete der ejkklhsiva als ein Beleg dafür gewertet werden, daß der dh`mo" seine zurückgewonnene uneingeschränkte Entscheidungsgewalt wieder ausübte und durch deren öffentliche Aufstellung die politische Tradition der Polis neuerlich manifestierte: Christian Habicht hat diesbezüglich zurecht betont268, daß einem einzigen „substantiellen Dekret“269 der Zeit unter Demetrios von Phaleron mehr als einhundert aus den sechs Jahren nach der Befreiung entgegen stehen270 – trotz einer möglichen Unsicherheit der Überlieferungslage ein klares Verhältnis. Bei den meisten Beschlüssen der Jahre nach 307 v.Chr. handelt es sich um Ehrungen für Poleis oder einzelne Personen, die sich um Athen verdient gemacht haben271, so daß eine wesentliche Motivation der Aufstellung solcher Beschlüsse neben der Manifestation der eigenen politischen Tätigkeit auch darin bestand, die politische Eigenständigkeit der Polis gegenüber der zuvor bestehenden Abhängigkeit von Kassander deutlich abzugrenzen272. Gleichsam stand die Polis nun aber loyal an der Seite ihrer Befreier, womit nachfolgende, innenpolitische Spannungen und Konflikte vorhersehbar waren273. Eine zunehmende Einschränkung des politischen Handlungsspielraumes aufgrund einer engeren Anlehnung an die Vorstellungen des Poliorketes wird dann im folgenden auch deutlich274. Dieses darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bürgerschaft nach 307 v.Chr. im Vergleich zur vorherigen Zeit zunächst ihre auswärtigen Kontakte wieder auszubauen in der Lage war und mit einer umfassenden politischen Aktivität zu einer Festigung der politischen Strukturen gelangte275.

dhmokrativa" kai; th`" ejleuqeriva" dikaivw" politeuvesqai kai; zw`ta" me;n peri; pleivstou poiei`tai kai; teleuthvsasi de; ajpodivdwsi cavrita" ajeimnhvstou". 268 HABICHT 1995, 79f. mit Anm. 14 (weitere Literatur). 269 HABICHT 1995, 79; weiterhin HEDRICK 1999, 402. 270 HABICHT 1995, 79. Habicht spricht von einer „fast exzessiv zu nennenden Publikationssucht im Zusammenhang mit der Tätigkeit“ der ejkklhsiva; vgl. auch HEDRICK 1999, 402f.; St.V. TRACY, Athenian Politicians and Inscriptions of the Years 307 to 302, Hesperia 69, 2000, 227– 233. Die Mehrzahl der Dekrete wurde auf der Akropolis aufgestellt; siehe dazu die Statistik bei LIDDEL 2003, 85. 271 Geehrt wurden insbesondere solche Personen, die dem Umfelde des Demetrios Poliorketes hinzuzurechnen sind; HABICHT 1995, 80. 272 Vgl. dazu etwa die Restituierung der samischen Bürgerschaft und Polis nach dem Lamischen Kriege. 273 Siehe dazu die Verbannung des Demochares 304/3 v.Chr. (allerdings erst drei Jahre nach der Befreiung). 274 So haben nunmehr diejenigen Politiker wie Stratokles, die Demetrios Poliorketes nahestanden, einen stärkeren Einfluß innerhalb der Bürgerschaft ausüben können; dazu HABICHT 1995, 80f. 275 HABICHT 1995, 78 Anm. 7 mit Belegen. Gleichzeitig bedeutete die Befreiung durch Demetrios Poliorketes eine wirtschaftliche Öffnung der Polis gegenüber dem Einflußbereiche des Antigonos Monophthalmos (vgl. ebendort 78). Siehe weiterhin Ch. W. HEDRICK, Epigraphic Writing and the Democratic Restoration of 307, in: POLIS & POLITICS 2000, 327–335.

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Hinsichtlich der politischen Organisation brachte die Befreiung aber auch eine nicht unwesentliche Veränderung mit sich, indem nämlich die Athener für Demetrios Poliorketes und seinen Vater Antigonos Monophthalmos Ehrungen beschlossen, die zu einer Konstituierung von zwei neuen, nach den Befreiern benannten fulaiv führten276. Die Aufstockung von deren Gesamtzahl auf zwölf bedeutete gleichzeitig, daß die zeitlichen Abschnitte für eine einzelne Prytanie auf nunmehr ein Zwölftel des Jahres verkürzt und die boulhv durch einhundert weitere bouleutaiv auf insgesamt 600 Amtsträger vergrößert wurde. Durch diese Neugestaltung konnten jährlich einhundert zusätzliche Bürger an den Aufgaben der boulhv teilhaben, wodurch also auch mehrere Bürger an der Ausführung der politischen Geschäfte des dh`mo" beteiligt wurden277. Aufgrund der zwei neuen Phylen wurden im Bereiche der lokalen politischen Organisation gleichzeitig neue Ämter geschaffen278. Inwieweit diese veränderte politische Organisation aus Sicht der Athener aber auch eine bewußte Veränderung der pavtrio" politeiva bedeutete, ist nicht zu beurteilen. Daß allerdings diese Ehrung nicht nur ein symbolisches Zugeständnis an die Herrscher darstellte, zeigt die Dauer ihrer Gültigkeit bis zum Ende des 3. Jhs. v.Chr. und damit einer Beibehaltung über einen Zeitraum hinweg, der von Gegensätzen zu Demetrios und späteren Makedonenherrschern geprägt sein sollte279. Ein wesentlicher Grund für die Veränderung des nunmehr seit Kleisthenes bestehenden Phylensystems ist freilich in einem überschwenglich begrüßten Neubeginn nach der vorangegangenen, nahezu 15jährigen und in diesem Umfang für die Athener bisher unbekannten Beschränkung der politischen Beteiligung zu sehen280. Dem Urteil von Christian Habicht, die Athener seien mit 307 v.Chr. freier in den Dingen geworden, die dem Herrscher gleichgültig waren, wird man dabei zwar grundsätzlich zustimmen können281, jedoch scheint zunächst auch ein Respekt des Herrschers gegenüber den Angelegenheiten des dh`mo" bestanden zu haben, da ansonsten die Ehren für Demetrios und Antigonos kaum über diesen Zeitraum beibehalten worden wären und die Bürgerschaft durchaus einfachere, die politische Organisation und Tradition der Polis weniger direkt betreffende Ehrungen hätte beschließen können. Die Befreiung durch Demetrios und die wiedererlangte ejleuqeriva des dh`mo" standen daher deutlich in einer zumindest anfänglich durchweg positiven gegenseitigen Beeinflussung282 . 276 Plut. Demetrios 10,6; vgl. hierzu generell HABICHT 1970, 44–48; B. DREYER, The Hiereus of the Soteres: Plut. Dem. 10.4, 46,2, GRBS 39, 1998, 23–38; A. CHANIOTIS, The Divinity of Hellenistic Rulers, in: HELLENISTIC WORLD 2003, 436. 277 So bereits F ERGUSON 1911, 97. 278 Siehe zu den Veränderungen FERGUSON 1911, 96–98; TRAILL 1975, 58–61. 279 Siehe dazu das Folgende. 280 Insbesondere die Dauer der Beschränkungen muß als wesentlicher Grund der darauffolgenden Reaktion berücksichtigt werden, denn die vorher bekannten Restriktionen von 404/3 v.Chr. und 411/10 BC waren von wesentlich kürzerer Dauer (vgl. HANSEN 1991, 40–43) und lagen nunmehr bereits mehr als 90 Jahre, also etwa drei Generationen zurück. 281 HABICHT 1995, 80. 282 Als primärer Grund der Unterstützung des Demetrios Poliorketes muß eine Beseitigung der restriktiven Maßnahme innerhalb der Polis gesehen werden, wobei als eigentliche Zielvor-

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Außenpolitische Unabhängigkeit, innenpolitischer Konflikt und die ‚Tyrannis‘ des Lachares Im folgenden, sogenannten „Vierjährigen Krieg“ von 307–304 v.Chr. ging es für Athen zusammen mit Demetrios Poliorketes zunächst um die Abwehr von mehreren Angriffen des Kassander283, so daß für die Bürgerschaft in dieser Zeit eine äußere Schutzmacht notwendig blieb. Wann genau und durch welche Ursachen sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der athenischen Bürgerschaft in der Zeit zwischen 307–301 v.Chr. dann gegen Demetrios Poliorketes richteten, ist anhand der Quellen nur ungenau zu beurteilen. Es mögen dabei durchaus die von Plutarch beschriebenen Veränderungen im persönlichen Verhalten des Herrschers aufgrund der Annahme des basileuv"-Titels im Jahre 306 eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben284. Jedenfalls steigerte sich eine Feindseligkeit der Athener gegenüber Demetrios in der Art, daß der dh`mo" beschloß, keinen Bürger mehr mit einem Schreiben des Königs vor die ejkklhsiva zu lassen285. Wenngleich dieser Beschluß nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen wurde, brüskierte Demetrios die Athener quasi im Gegenzuge mit seiner, die bestehenden novmoi mißachtenden Einweihung in die Eleusinischen Mysterien286, womit die Spannungen zwischen Herrscher und Polis auch innerhalb der Bürgerschaft zu einer zunehmenden Polarisierung der politischen Gruppen führten, die im Gegeneinander von Stratokles als Demetrios’ Parteigänger und Demochares ihren personellen Ausdruck finden sollten287. Die Niederlage und der Tod des Antigonos Monophthalmos in der Schlacht von Ipsos 301 v.Chr. schwächten Demetrios’ Position erheblich, so daß die Athener in der Folge die Entscheidung treffen konnten, sich von Demetrios loszusagen und zudem beschlossen, zukünftig, wie Plutarch ausführt, keinen basileuv" mehr in der Stadt aufzunehmen288. Demetrios blieb zunächst nichts anderes stellung am ehesten die vormaligen freiheitlichen und einflußreichen Zeiten von vor 322 v.Chr. gegolten haben sollte. Daß hierfür zunächst eine gewisse außenpolitische Abhängigkeit von Demetrios Poliorketes hingenommen wurde, scheint schließlich auch deshalb verständlich, weil die Situation zwischen den Herrschern keineswegs geklärt war und Kassander auch in der Folgezeit noch erhebliches Interesse an Athen zeigte. Zur Person des Demetrios Poliorketes in der Neuen Komödie siehe S. LAPE, Reproducing Athens. Menander’s comedy, democratic culture, and the Hellenistic city, Princeton 2004, 61f. 283 Siehe dazu HABICHT 1995, 82f. 284 Plut. Demetrios 18,3f. Siehe hierzu auch die Äußerungen des Dichters Philippides, der Demetrios u.a. vorwarf, aus dem Parthenon ein Bordell gemacht zu haben; PCG VII 347, fr. 25. Philippides schrieb allerdings als ein am Hofe des Lysimachos anwesender Dichter, weshalb seine Ausführungen entsprechend zu relativieren wären; dazu HABICHT 1995, 86. 285 Plut. Demetrios 24,6–8. 286 Philochoros FGrHist 328 F69–70; Diod. XX 110,1; Plut. Demetrios 26,1–5. 287 Vgl. hierzu insgesamt HABICHT 1995, 80f. 86f. Habicht nimmt an, daß das Exil des Demochares bereits in diese Zeit gefallen sei, nicht aber erst ca. 292 v.Chr. Aus Gründen, die im folgenden näher auszuführen sein werden, scheint ein Exil des Demochares zu dem späteren Zeitpunkt jedoch naheliegender. Zum Exil des Philippides und des Kallias siehe ebenfalls das Folgende. Vgl. die Forschungsdiskussion zum Exil des Demochares bei HABICHT 1979, 24. 288 Plut. Demetrios 30,4.: o{qen ejpei; genomevnw/ peri; ta;" Kuklavda" aujtw`/ [scil. Demetrios]

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übrig, als diese Situation hinzunehmen, wobei er jedoch die Rückgabe seiner in Athen liegenden Schiffe erreichte. Dieses Übereinkommen legt nahe, daß zwar von einem offensichtlichen, jedoch keineswegs vollständigen Bruch zwischen beiden Parteien auszugehen ist. Durch die klare Stellungnahme gegen Demetrios befand sich die Stadt ohne eine ‚Schutzmacht‘ in einer nunmehr auch außenpolitisch unabhängigen Position. Ein seit dem Lamischen Krieg bestehender direkter äußerer Druck auf die innenpolitischen Verhältnisse war somit beseitigt, jedoch entwickelte sich nach dieser ‚Unabhängigkeitserklärung‘ der Stadt alsbald eine interne Auseinandersetzung, die dann zu einer stasis-ähnlichen Situation, der sogenannten ‚Tyrannis‘ des Lachares, führen sollte. Große Probleme für eine Bewertung der athenischen politeiva nach der Schlacht von Ipsos gibt die bisher keineswegs sicher geklärte Chronologie der Ereignisse um diese ‚Tyrannis‘ des Lachares auf, wobei die verschiedenen chronologischen Modelle ganz unterschiedliche Zusammenhänge folgern lassen. Die neuerdings von Christian Habicht wieder vertretene, bereits von William Ferguson vorgebrachte Ansicht, die Tyrannis habe bereits im Jahre 300 v.Chr. bestanden289, ließe eine Dauer von mindestens sechs Jahren annehmen, da ein Ende dieser ‚Herrschaft‘ mit Athens Einnahme durch Demetrios Poliorketes nach Plutarch290 entweder 294 v.Chr.291 oder aber kurz davor, 295 v.Chr.292, gesichert ist. Ein gänzlich anderer Einfluß auf die innenpolitische Situation muß hingegen angenommen werden, wenn man der ausführlichen und jüngsten Einschätzung der Problematik von Boris Dreyer folgt. Dieser hat zunächst die in den Quellen als ‚Tyrannis‘ charakterisierte Herrschaft relativiert als ein Streben des Lachares hin zu einer solchen Stellung und darüber die keineswegs widerspruchsfreie Chronologie in detaillierter Weise aufgeschlüsselt293. Hiernach ergeben sich zunächst innenpolitische Streitigkeiten, die die Zeit nach 301 v.Chr. bestimmten prevsbei" A j qhnaivwn ajphvnthsan, ajpevcesqai th`" povlew" parakalou`nte", wJ" ejyhfismevnou tou` dhvmou mhdevna devcesqai th`/ povlei tw`n basilevwn. Vgl. zum Verhältnis von Athen und Demetrios Poliorketes nach der Schlacht von Ipsos B. DREYER, Athen und Demetrios Poliorketes nach der Schlacht von Ipsos (301 v.Chr.). Bemerkungen zum Marmor Parium FGrHist 239 B 27 und zur Offensive des Demetrios im Jahre 299/8 v.Chr., Historia 42, 2000, 54–66. 289 HABICHT 1995, 90 mit Anm. 58 (mit der entsprechenden älteren Literatur). 290 Plut. Demetrios 33, 5–8. 291 HABICHT 1979, 1 mit Anm. 3 (Position von De Sanctis) 292 HABICHT 1979, 1 mit Anm. 2 (Position von Ferguson) – so jetzt wieder HABICHT 1995, 90. 293 DREYER 1999, 19–76. Hinsichtlich der umfangreichen Diskussion von Boris Dreyer (ebendort) bleibt allerdings inhaltlich zu bemängeln, daß in dessen Ausführungen im Einzelfall zumeist unklar bleibt, was genau er mit den Angaben „demokratische Verfassung“, „Wiedereinführung der Demokratie“, „aufgelöste herkömmliche Verfassung“ oder allgemein „demokratisch“ meint und welche Perspektive er damit jeweils widergespiegelt sehen möchte. Weiterhin erschwert seine häufig wechselnde Gewichtung der Bürgerschaft (bei Dreyer häufig als ‚Volk‘ bezeichnet) und die daraus folgende Interpretation der ‚Tyrannis‘ des Lachares die Nachvollziehbarkeit seiner Bewertung, so daß letztlich die sich anschließenden Bemerkungen zum „Regierungssystem des Lachares“ (77–110) gänzlich problematisch bleiben müssen. Gerade eine Diskussion von Verfassungsfragen macht in dieser Hinsicht eine exaktere Begriffsverwendung unabdingbar. Dreyers überzeugende Ausführungen zum chronologischen Gerüst dieser Zeit bleiben von dieser Kritik freilich unberührt.

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und aus denen Lachares gestärkt hervorgegangen zu sein schien, wohingegen dessen anschließendes Streben hin zu einer scheinbar noch stärkeren Machtposition schließlich durch eine äußere Macht, nämlich abermals mittels Einflußnahme des Demetrios Poliorketes 295/294 v.Chr., beendet worden wäre294. Auf die keineswegs abschließend diskutierte, an dieser Stelle jedoch nicht ausführlicher zu behandelnde Ereignisabfolge kann nur knapp eingegangen werden. Gerade bei der Annahme einer längerfristigen Herrschaft in Form einer ‚Tyrannis‘ wäre selbstverständlich die Frage zu stellen, welche machtpolitische Grundlage eine Machtstellung des Lachares ausgemacht haben könnte und in welchem Verhältnisse sie zur politischen Organisation der Polis stand. Aufgrund eines überlieferten Todesurteils gegen einen führenden Athener dieser Zeit nimmt Christian Habicht an, daß Lachares die ejkklhsiva als „das wichtigste Verfassungsorgan der Demokratie bestehen ließ“ und auch die Strategenwahl unangetastet blieb295. Boris Dreyer fügt dem hinzu, daß die meisten demokratischen Institutionen von Lachares überhaupt nicht verändert wurden296 und auch „lokale Institutionen, Vereine und Heiligtümer unbeeindruckt ihre Verwaltung fortgesetzt haben, wenig beeinträchtigt durch die neue Regierung“297. Folgt man diesen Einschätzungen, muß angenommen werden, daß während der innenpolitischen Konfliktsituation zwischen 301 v.Chr. und 294 v.Chr. die bestehende politische Organisation der Polis keineswegs ausgesetzt oder wesentlich verändert wurde und daher auch weiterhin die Grundlage für das politische Leben der Polis ausgemacht haben wird. Nimmt man darüber hinaus mit Dreyer die naheliegende Beurteilung eines nur kurzzeitigen ‚Regimes‘ des Lachares an, so kann schließlich die weiterhin ausgefüllte politische Organisation sinnvoll erklärt werden298 . Eine weitere Beurteilung der Stellung des Lachares sowie der vorliegenden Situation in dieser Zeit wird durch eine kritische Betrachtung der verschiedenen Quellen ermöglicht, die ihn als Machthaber oder Tyrannen innerhalb der Polis aufführen. Hierbei ist zunächst die Einschätzung von Pausanias zu betrachten299. Die Bezeichnung „Tyrann“ erfolgt dort gerade in direktem Gegensatz zu den vortrefflichen Bürgern, die unter anderem in der Auseinandersetzung mit Lachares den Tod fanden, so daß in diesem Falle zunächst die Konstruktion eines offensichtlichen Gegensatzes maßgebend gewesen zu sein scheint300. Auch ist 294

Eine ähnliche Position vertrat zunächst auch HABICHT 1979, 8–13. HABICHT 1995, 91f. Diese Sichtweise zieht jedoch gleichzeitig die kaum zu beantwortende Frage nach sich, inwieweit der ‚Tyrann‘ überhaupt die Möglichkeit besaß, durch seine ja keineswegs sichere Machtposition die ejkklhsiva zu beseitigen. 296 DREYER 1999, 34 mit Anm. 63 sowie ebendort 92f. 297 DREYER 1999, 93. 298 In den Quellen ist konsequenterweise nach der Beseitigung des ‚Tyrannen‘ durch das abermalige Eindringen des Demetrios Poliorketes auch nicht von einer Restituierung der dhmokrativa die Rede. Ob darüber hinaus der Einfluß von Lachares in der Polis als ein „Regierungssystem“ zu verstehen ist, muß fraglich bleiben, da ebenfalls in dieser Zeit die demokratischen Institutionen, insbesondere die ejkklhsiva, bestehen blieben und für die Stellung eines Einzelnen daher durchaus eine nicht zu vernachlässigende Relevanz besaßen. 299 Paus. I 29,10. 300 Paus. I 29,10: (…) ou|tov" te ou\n ejntau`qa tevqaptai kai; Eu[boulo" oJ Spinqavrou kai; 295

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bei Pausanias’ Klassifizierung zu beachten, daß dieser gerade vier Kapitel zuvor Demetrios von Phaleron ebenfalls als einen „Tyrannen“ bezeichnet301, der sich jedoch selbst – wie oben angeführt – durchaus begründet der Erhaltung der dhmokrativa rühmen konnte, so daß Pausanias’ Beurteilung des Lachares als „Tyrann“ insgesamt nur wenig zuverlässig erscheint. Auch Plutarchs Erwähnung, Lachares habe mit dem Eindringen des Demetrios in die Stadt seine Stellung als „Tyrann“ aufgegeben302, legt schließlich nur nahe, daß dieser in der letzten Phase seines Wirkens in Athen eine mit einer Tyrannis vergleichbare Stellung inne gehabt haben könnte, jedoch keineswegs, daß damit eine längerfristige Machtstellung verbundenen war. Ebenso verweist auch die Angabe von Polyainos, 1.000 Männer aus dem Piräus seien zu Demetrios gegangen, um diesen im Kampfe gegen den „Tyrannen“ Lachares zu unterstützen303, nur auf die abschließende Phase dieses Zeitraumes304. Die vierte Quelle, ein Papyrus aus Oxyrhynchus, verallgemeinert hingegen die Stellung des Lachares im Zusammenhang mit einer Inhaltsangabe eines Werkes des Menander dahingehend, daß wegen der „Tyrannis“ und einer damit einhergehenden Aussetzung der Dionysien auch die Aufführung der Imbrioi ausbleiben mußte305. Zieht man in Betracht, daß in der Spätphase seines Wirkens eine tyrannisähnliche Stellung des Lachares bestanden haben könnte, muß zunächst auch für diese Quelle die Rückprojektion einer späteren Sicht angenommen werden306. Keineswegs verweisen diese Quellen also auf eine genauere und vor allem langfristige Stellung des Lachares als ‚Tyrann‘ der Stadt Athen, so daß es angebrachter erscheint, nur sein Vorgehen und seine Position kurz vor der Vertreibung derart zu verstehen, daß es in der Rückschau als eine ‚Tyrannis‘ beurteilt werden konnte. Dieses wird insbesondere aus dem bei Plutarch und Pausanias dargelegten Gesamtzusammenhang deutlich, wonach nämlich von einer in interne Auseinandersetzungen verstrickten Bürgerschaft die Rede ist, aus der zunächst eine einflußreiche Stellung des Lachares resultierte, die Pausanias als prostasiva tou` dhvmou bezeichnet307, aus der heraus a[ndre" oi|" ajgaqoi`" ou\sin oujk ejphkolouvqhse tuvch crhsthv, toi`" me;n ejpiqemevnoi" turannou`nti Lacavrei, oiJ de; tou` Peiraiw`" katavlhyin ejbouvleusan Makedovnwn frourouvntwn, pri;n de; eijrgavsqai to; e[rgon uJpo; tw`n suneidovtwn mhnuqevnte" ajpwvlonto. 301 Paus. I 25,6. 302 Plut. Demetrios 33,4. 303 Polyainos IV 7,5. 304 Polyainos IV 7,5: e[pemye [scil Demetrios] pro;" tou;" ejn Peiraiei`, aijtw`n o{pla cilivoi" ajndravsin wJ" h{kwn suvmmaco" aujtoi`" kata; tou` turavnnou Lacavrou". 305 P.Oxy X, n. 1235 105–112 (PCG VI 2, 140, s.v. Menander, fr. 189105–112). Zeile 105–112: tauvthn [e[gra]|yen ejpi; Neikoklevo[u"...]|thn kai; eJbdomhkost[h;n kai;]| e[dwken eij" ejrgasivan [eij" ta;]| Dionuvsia, oujk ejgevneto d[e; dia;]| Lacavrhn to;n tuvrannoªn, e[pei]|ta uJpekrivneto Kavl[lip]|po" A j qhnai`o" (…). Die Forschungspositionen, insbesondere zur Datierung der Imbrioi, die im Archontat des Nikokles (302/301 v.Chr.) von Menander geschrieben und für die Dionysien bestimmt waren, führen auf: HABICHT 1979, 16–18 (mit dem alternativen Datierungsvorschlag von 296/5 v.Chr. für das Archontat des Nikios); DREYER 1999, 46–49. 306 Hierzu DREYER 1999, 46–49. 307 Paus. I 25,7: Kavssandro" de; – deino;n gavr ti uJph`n oiJ mi`so" ej" tou;" A j qhnaivou" – oJ de; au\qi" Lacavrhn proesthkovta ej" ejkei`no tou` dhvmou, tou`ton to;n a[ndra oijkeiwsavmeno" turannivda e[peise bouleu`sai. Die Unterstützung, die Lachares durch Kassander erfuhr, läßt sich in

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er einige Zeit später308 nach einer ‚Tyrannis‘ oder tyrannisähnlichen Position streben konnte309, die wiederum mit dem Eintreffen des Demetrios und der Belagerung der Stadt beseitigt wurde310. Betrachtet man hierzu die Tyrannis-Charakterisierung als eine posthume Bezeichnung der antiken Autoren für dessen sicherlich übermächtige, aber eben nur für kurze Zeit bestehende Stellung311, wird deutlich, warum in den Quellen weiterhin nicht die Rede von einer Veränderung der politeiva, der Abschaffung oder Wiedereinführung der dhmokrativa oder aber einer katavlusi" tou` dhvmou ist 312. Wenngleich am Ende dieser Phase sicherlich eine innerpolitische Konfrontation und eine hervorgehobene Machstellung des Lachares bestand, wurde in dieser Zeit jedoch keineswegs die dhmokrativa als politische Organisation der Polis weder grundsätzlich verändert noch abgeschafft, und auch der dh`mo" blieb in seinem Bestande anscheinend unangetastet313. dhmokrativa und ojligarciva zwischen 294 und 287 v.Chr. Nach der Beseitigung von Lachares’ Regime richtete nun auch Demetrios Poliorketes, wie zuvor bereits Kassander, eine Besatzung in der Stadt ein, die sich jedoch von der vorherigen dadurch unterschied, daß sie nicht im ‚entfernten‘ Piräus, sondern in direkter Nähe der entscheidenden politischen Organe der Polis, am Museionhügel südwestlich der Akropolis, postiert war314, so daß jedem Athener die beherrschende Kontrolle des Demetrios im politischen Herzen der

ihrer Dauer nicht genau bestimmen, wird aber möglicherweise über einen längeren Zeitraum, vielleicht sogar bis zu Kassanders Tod 297 v.Chr. bestanden haben; vgl. dazu DREYER 1999, 74. Zu Plut. Demetrios 33,1, wo eine Tyrannis angeführt wird, die Lachares schon um 301 v.Chr. angestrebt haben könnte, siehe DREYER 1999, 42f. 308 Wohl um das Jahr 295 v.Chr. Siehe dazu die plausible Chronologie von DREYER 1999, 75f. (in bezug auf seine vorangehende Argumentation). 309 Plut. Demetrios 33,1. 5–8. 310 Plut. Demetrios 33,5–8; Paus. I 25,7. 311 So eben auch die Position von DREYER 1999, 73–76 sowie HABICHT 1979, 8–21 (jeweils mit der älteren Literatur). 312 Vgl. bezüglich politischer Veränderungen in der Mitte der 290er Jahre und bezüglich des sogenannten ‚Staatstreiches‘ des Lachares die Ausführungen bei HABICHT 1979, 8–13; DREYER 1999, 24–37. Das Bürgerrechtsdekret für Herodoros mit der dort angeführten Demokratie im Stadtzentrum (IG II2 n. 64622f.) muß in dieser Hinsicht problematisch bleiben. Siehe dazu TRACY 2003, 13 Anm. 19. 313 DREYER 1999, 34 Anm. 63 betont, daß unter Lachares die „herkömmliche Verfassung nicht aufgelöst wurde“. Die etwa dreizehnmonatige Zeit zwischen dem ‚Staatsstreich‘ des Lachares (295 v.Chr.) und Demetrios’ Eindringen in die Polis (294 v.Chr.) muß an dieser Stelle außer Betracht bleiben. 314 Paus. I 25,8: Dhmhvtrio" de; oJ A j ntigovnou turavnnwn ejleuqerwvsa" A j qhnaivou" tov te parautivka meta; th;n Lacavrou" fugh;n oujk ajpevdwkev sfisi to;n Peiraia` kai; u{steron polevmw/ krathvsa" ejshvgagen ej" aujto; froura;n to; a[stu, to; Mousei`on kalouvmenon teicivsa": e[sti de; ejnto;" tou` peribovlou tou` ajrcaivou to; Mousei`on ajpantikru; th`" ajkropovlew" lovfo". Plut. Demetrios 34,7: oJ Dhmhvtrio" aujto;" ejf j eJautou` prosenevbale froura;n eij" to; Mousei`on, wJ" mh; pavlin ajnacaitivsanta to;n dh`mon ajscoliva" aujtw`/ pragmavtwn eJtevrwn parascei`n.

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Stadt nunmehr nachdrücklich vor Augen geführt wurde315. In den direkten Ablauf der politischen Organisation scheint Demetrios dagegen nur begrenzt eingegriffen zu haben, als nämlich im Jahre 294/3 v.Chr. die nach Los bestimmte Besetzung des Archontats ausgerechnet auf einen der populärsten Athener, Olympiodoros, fiel und es im folgenden Jahre sogar zu einer gesetzeswidrigen Wiederbesetzung dieses Amtes durch selbigen kam316. Olympiodoros trat nach dieser zweijährigen Amtsbekleidung zunächst kaum weiter in Erscheinung, erreichte dann jedoch gegen Demetrios agierend als einer der führenden Athener im Jahre 287 v.Chr. die Beseitigung der Besatzung am Museionhügel. Es wäre naheliegend anzunehmen, daß seine Wahl zum Archon den Einfluß des Demetrios in Athen sichern helfen sollte, wenngleich ein solcher bereits mit der Besatzung und mittels der Parteigänger innerhalb der Bürgerschaft gegeben war317. Da Olympiodoros darüber hinaus auch eine anerkannte Persönlichkeit innerhalb der Polis war, könnte zudem angenommen werden, daß er die politischen Verhältnisse nach den vorherigen Jahren der stasis-ähnlichen Zustände wieder in vernunftbedingte Bahnen lenken sollte. Olympiodoros wäre dementsprechend eben nicht nur als Parteigänger des Demetrios zu erklären, der, wie zuvor etwa Phokion oder Demetrios von Phaleron, bis zu seinem politischen Ende an der Seite des Herrschers stand und dadurch auch zum Sinnbild einer entsprechenden politischen Gruppe innerhalb der Bürgerschaft werden konnte. Im Vergleich zu der vorangehenden Zeit scheint nämlich innerhalb des dh`mo" eine nunmehr veränderte Situation vorgelegen zu haben. Wie Boris Dreyer für die Zeit nach 307 v.Chr. hervorhebt318, können in dieser Phase der athenischen Geschichte nur noch in einem geringen Maße feste politische Gruppen angenommen werden, deren Bestreben die Durchsetzung einer „Oligarchie“ oder „radikalen Demokratie“ war. Dieser Sichtweise folgend wird verständlicher, warum Olympiodoros zunächst für wenigstens zwei Jahre als zentrale Person der Politik sowie als Vertrauensperson von Demetrios auftreten konnte, sich in der Folgezeit aber gerade als Gegner des basileuv" profilierte319. Olympiodoros hätte mit seinem politischen Seitenwech315 Die örtliche Nähe zum Dionysostheater, zur Pnyx, dem Areopag sowie letztlich auch zur Agora ist damit evident. 316 Zu diesem Sachverhalt treffend HABICHT 1995, 97; vgl. TRACY 2003, 12f. Nicht eingehender braucht hier eine Benennung der athenischen politeiva direkt vor respektive nach 294 v.Chr. bestimmt zu werden, da die Quellen in diesem Falle m. E. keine genauere Beurteilung ermöglichen. Die von HABICHT 1979, 22–33 angeführte Diskussion läßt leider offen, was er jeweils unter dhmokrativa und ojligarciva versteht und aus welcher Perspektive (etwa Bürgerschaft („Volk“), Institutionen, pavtrio" politeiva) er jeweils urteilt. Bezüglich der Bewertungsgrundlage bleibt ebenfalls wenig differenziert die – im wesentlichen als Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Christian Habicht angelegte – Ausführung von DREYER 1999, 122–142, auf die hier im einzelnen nicht immer verwiesen werden braucht. 317 Vgl. dazu HABICHT 1979, 27–29. 318 DREYER 1999, 78. In diesem Sinne bereits GABBERT 1986 passim. 319 Olympiodoros wird von HABICHT 1995, 145 aufgrund seines späteren Einsatzes als Freiheitsheld von 287 v.Chr. bezeichnet; vgl. zu weiteren Motiven, die Olympiodoros unter Demetrios in zentraler politischer Funktion möglicherweise haben aktiv werden lassen DREYER 1999, 139f. Zu dessen politischer Karriere vgl. GABBERT 1986, 31f.

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sel und der nachfolgenden Gegnerschaft zum König sowie mit dem vorbildhaften Einsatz für die eigene Polis genau das getan, was die Mehrheit der Bürgerschaft zwischen 317–307 v.Chr. noch von Demetrios von Phaleron erwarten konnte, nämlich die eigene Stadt im Sinne der gesamten Bürgerschaft in den Mittelpunkt der persönlichen Bestrebungen zu stellen. Für ein genaueres Urteil bedarf es aber zuerst der Betrachtung weiterer Aspekte. Grundlage des politischen Lebens blieb auch in der Zeit zwischen 294–287 v.Chr. die alte politische Organisation320, wobei aber die außenpolitischen Entscheidungen der Bürgerschaft von einer grundsätzlichen Zustimmung des Herrschers abhingen. Dem politischen Handlungsspielraum des dh`mo" waren damit klare Grenzen gesetzt321, so daß die Entscheidungsbereiche sich im wesentlichen auf einen innenpolitischen Bereich beschränkt haben dürften. Doch auch hier war die politische ‚Meinung‘ von der Dominanz des basileuv" bestimmt, indem dieser mit der Evidenz seiner militärischen Überlegenheit seinen Vorstellungen einen notwendigen Nachdruck verleihen konnte. Daß viele Athener sich mit der bestehenden Situation abgefunden zu haben scheinen und sich damit abermals unter ein makedonisches Joch begaben, geht treffend aus der Sicht des Douris von Samos hervor, der in einer auf Demochares zurückgehenden Charakterisierung dieser Zeit die Knechtschaft der Stadt mit der rühmlichen Größe der früheren Zeit kontrastiert322. Eine weitgehende Akzeptanz der Fremdbestimmung wird weiterhin aus dem bei Plutarch überlieferten Antrag des Laches für die Ehrung seines Vaters Demochares klar ersichtlich. Demochares sei nämlich der einzige Athener gewesen, so rühmte er sich später, der sich nicht an Bestrebungen beteiligt habe, die Athens politeiva von der dhmokrativa entfernt hätten323. Eine Mehrheit des dh`mo" hingegen dürfte demnach die auswärtige Dominanz innerhalb der eigenen Polis mehr oder weniger ertragen haben, wenngleich die Bürgerschaft entgegen der früheren timokratischen Ordnung in dieser Zeit noch in vollem Umfang fortbestand und zumindest formal uneingeschränkt handeln konnte. In der Forschung wird der gesamte Abschnitt von 294–287 v.Chr. mitunter als „Oligarchie“ oder „oligarchische Verfassung“ verstanden324. Diesbezüglich muß jedoch gefragt werden, wie bei der fortbestehenden demokratischen Organisation der Polis eine solche ajrchv der ojlivgoi ausgeprägt gewesen sein könnte. Sicherlich kann hiermit nicht die Beschränkung der politischen Teilnahme auf nur einen Teil der Bürgerschaft gemeint sein, da die Quellen diesbezüglich keinerlei Hinweise bieten. Gerade im Gegenteile wird in den Dekreten von 294 v.Chr. betont, daß die Wahlen ejx A j qhnaivwn aJpavntwn erfolgen sollten325. Auch 320

BELOCH 1929, 447–450; HABICHT 1979, 26–28. Die Grenzen dieses Handlungsspielraumes, die letztlich von Demetrios bestimmt werden konnten, fanden ihren offensichtlichen Ausdruck in der militärischen Präsenz am Museionhügel. 322 Demochares FGrHist 75 F2; Duris FGrHist 76 F13; dazu HABICHT 1995, 98f. 323 [Ps.-] Plut. mor. 851F: kai; movnw/ A j qhnaivwn tw`n kata; th;n aujth;n hJlikivan politeusamevnwn [scil. Demochares] mh; memelethkovti th;n patrivda kinei`n eJtevrw/ politeuvmati h] dhmokrativa/. 324 HABICHT 1979, 28–31. 325 IG II2 n. 646 40–42. 6487f. (jeweils sicher ergänzt); dazu HABICHT 1979, 28, Anm. 48. 321

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das bereits aus der Zeit der timokratischen Ordnung von 322–318 v.Chr. bekannte Amt der ajnagrafei`", daß mit dem ersten Archontat des Olympiodoros wieder bezeugt ist, bestand nur in den ersten drei Jahren der Dominanz des Demetrios, keinesfalls aber in der gesamten Zeit bis 287 v.Chr.326. Diese Amtsträger können daher schwerlich, zumal ihr genauer Einflußbereich ohnehin nicht zu bestimmen ist, als bestimmendes oligarchisches Element bezeichnet werden327, und weiterhin wäre dieses auch deshalb unwahrscheinlich, weil man die ajnagrafei`" dann insbesondere auch in der Folge von 292/1 v.Chr. erwarten sollte, als nämlich die Rückkehr von Verbannten ‚Oligarchen‘ aus der Zeit nach 307 v.Chr. erfolgte – dies ist jedoch gerade nicht der Fall328. Nun scheint aber insbesondere diese Rückkehr der 307 v.Chr. verbannten Athener in der Zeit von 294–287 v.Chr. einen auffallenden gesellschaftspolitischen Einschnitt zu markieren. Bereits Karl Julius Beloch hatte innerhalb dieser Zeit aufgrund von deren Rückkehr von einer um 292 v.Chr. beginnenden Oligarchisierung gesprochen329. Sicherlich darf angenommen werden, daß eine solche Rückkehr innerhalb der Bürgerschaft zu einer gewissen Polarisierung führte, zumal in jener Zeit auch der zwischen 307– 301 v.Chr. als Wortführer von Demetrios auftretende Athener Stratokles nach langer Zeit wieder aktiv am politischen Leben der Stadt teilnahm330. Ein Grund für diese Rückberufung liegt indes wohl in Theophrasts Fürsprache und dessen Einfluß bei Demetrios331, so daß die Bewilligung des Vorganges vor allem vom basileuv" selbst ausgegangen sein sollte. Die Bürgerschaft hingegen mußte sich mit solchen Rückberufungen nicht nur einer zunehmenden innenpolitischen Polarisierung ausgesetzt gesehen haben, sondern konnte durchaus begründet befürchten, in Zukunft einer zunehmenden Willkür des Herrschers ausgeliefert zu sein und aufgrund einer möglichen Stärkung der ‚antidemokratischen‘ Kräfte um die zurückgekehrten Verbannten nunmehr doch mit der Gefahr einer katavlusi" tou` dhvmou konfrontiert zu werden – eben dem zentralen Grund noch für deren Verbannung nach der Befreiung von 307 v.Chr.332 . Die so verstandene innenpolitische Situation um das Jahr 292 v.Chr. verdeutlicht dann, warum der populäre Athener Olympiodoros zunächst als Vertrauens326

DREYER 1999, 118–121. Vgl. HABICHT 1979, 27 mit Anm. 39 (mit älterer Literatur), der die ajnagrafei`" – wie ein Teil der älteren Forschung – in Beziehung zu eben denen von 322–318 v.Chr. setzt; die Belege und die Literatur sind zusammengestellt bei DREYER 1999, 118 Anm. 26. Vgl. TRACY 2003, 13f. 328 Ebensowenig ist die Wiedereinführung des unter der vorherigen Zensusverfassung bestehenden Schreiberzyklus zu belegen; dazu DREYER 1999, 123 (mit der entsprechenden Literatur). 329 BELOCH 1929, 449f.; dagegen HABICHT 1979, 29f. Die von Beloch verfolgte Sichtweise einer ‚Verfassungsänderung‘ wird man allerdings von einem ‚Oligarchisierungsprozeß‘ innerhalb der Bürgerschaft durch die Rückkehr der Verbannten unterscheiden müssen. 330 In einem Ehrendekret dieser Zeit (IG II2 n. 649) tritt Stratokles nochmals als Antragsteller auf; dazu HABICHT 1979, 27f. 331 Philochoros FGrHist 328 F167; vgl. HABICHT 1979, 27. 332 Daß eine solche Befürchtung in dieser Zeit durchaus berechtigt war, zeigt die in den Ehrendekreten für Kallias von Sphettos und für Demochares angeführte katavlusi" tou` dhvmou, die sich auf die nun folgende Zeit bezieht (s.u.). 327

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mann des Demetrios agierte, darauf für einen kurzen Zeitraum politisch nicht mehr in Erscheinung trat und schließlich 287 v.Chr. als Führer der Athener Demetrios’ Besatzung am Museionhügel niederringen konnte333. Erklärte Christian Habicht den Gesinnungswandel von Olympiodoros mit einer nicht näher bezeichneten Verstimmung zwischen dem Athener und Demetrios334, kann vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen um 292 v.Chr. begründet angenommen werden, daß ein wesentlicher Aspekt dieser Verstimmung in der neuen innenpolitischen Konstellation zu sehen ist. In ihrer Gesamtheit lassen das zeitliche Zusammenfallen der Rückführung der Verbannten, die politische Reaktivierung eines Stratokles, der Einfluß des Theophrast auf die Politik und die veränderte politische Haltung des Olympiodoros erkennen, daß mit diesen Ereignissen die zuvor noch vorhandenen politischen Möglichkeiten der Bürgerschaft massiv untergraben worden sein müssen, eben in dem Maße, daß nunmehr Vertreter einer oligarchischen Politik aufgrund des Einverständnisses und der Unterstützung des basileuv" die Politik der Polis umfangreich bestimmten. Nimmt man für Olympiodoros und ähnlich gesinnte Athener naheliegend nicht nur die Sicherung der eigenen Machtstellung, sondern zudem ein allgemeines Bemühen um die Integration der Bürgerschaft nach den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die ‚Tyrannis‘ des Lachares an335, so mußten sich solche Bürger mit den Ereignissen von 292 v.Chr. zunächst weitgehend hilflos der veränderten Situation gegenüber gesehen haben. Der Grund für Demetrios’ veränderten Umgang mit der Polis scheint hingegen nicht in Athen selbst zu liegen, sondern ist am ehesten mit dessen Einnahme von Makedonien336 und der Gründung der neuen Residenzstadt Demetrias im Jahre 293 v.Chr. zu erklären337. Eine nun überwiegende Abwesenheit aus seiner vormaligen ‚Residenz‘ dürfte ihn bewogen haben, dem dortigen Freiheitsdrange der Bürgerschaft, den er ja bereits 301 v.Chr. in einer militärisch schwachen Situation selbst zu spüren bekommen hatte, eine ihm im wesentlichen verpflichtete Gruppe entgegenzusetzen, die zusammen mit der Besatzung Athen für ihn sichern sollte. Wie die folgenden Ereignisse von 287 v.Chr. dann auch zeigen, war diese durch eine größere Mehrheit der Bürgerschaft bestehende Gefahr durchaus begründet. In Übereinstimmung mit der von Karl Julius Beloch geäußerten Vermutung338 kann daher gerade für die Zeit ab 292 v.Chr. berechtigt von einer ‚Oligarchisierung‘ der innenpolitischen Zustände gesprochen werden, die also auf einer Gruppe von Parteigängern und den vom basileuv" zurückgerufenen Verbannten sowie der militärischen Besatzung im politischen Herzen der Stadt beruhte. 333

HABICHT 1995, 102. HABICHT 1995, 98; HABICHT 1979, 42f. 335 Vgl. F ERGUSON 1911, 136–138. 336 Plut. Demetrios 36f. Demetrios konnte sich im makedonischen Thronfolgestreit nach Kassanders Tod durch eine militärische Intervention 304 v.Chr. die dortige Königskrone sichern; dazu HAMMOND/WALBANK 1988, 210–218. 337 FERGUSON 1911, 138. 140; HABICHT 1995, 96; anders DREYER 1999, 135f. Vgl. zudem Strab. IX 5,15 (dazu wiederum HAMMOND/WALBANK 1988, 222f.). 338 BELOCH 1927, 447–450. 334

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In den Quellen findet sich der Bezug auf ein vorangehendes oligarchisches Regime und die damit verbundene Entmachtung des dh`mo" in den Ehrendekreten des Kallias von Sphettos und des Demochares von Leukonoë; beide beschlossen nach dem Wiedererlangen der Freiheit von 287 v.Chr.339. Die dort angeführte Terminologie entspricht den hier beschriebenen Zusammenhängen. So verlor Kallias seinen Besitz durch die Konfiskation unter der ojligarciva340 und Kallias wie auch Demochares waren nicht in der Polis anwesend, als der dh`mo" aufgelöst war341. Dem entgegen könnte eingewandt werden, daß im vergleichbaren offiziellen Ehrendekret des Dichters Philippides342 aus eben der Zeit nach 287 v.Chr. lediglich dessen Einsatz für die ejleuqeriva betont wird343, während eher allgemeingültig davon die Rede ist, Philippides habe weder durch e[rga noch durch lovgoi etwas gegen Athens dhmokrativa betrieben344. Der Dichter war – dies gilt es freilich zu beachten – bereits kurz vor 301 v.Chr., wohlmöglich sogar freiwillig, ins Exil gegangen345, so daß in seinem offiziellen Dekret346 – im Gegensatz zu denen des Kallias und Demochares – folglich auch nicht die Rede von einer ojligarciva oder der katavlusi" tou` dhvmou sein durfte347. Einzig wird dann auch 339 Die nunmehr geschilderte Sichtweise steht der neueren Forschung entgegen; siehe dazu die angeführte Literatur. 340 SHEAR 1978, 4 Zeile 80f.: kai; th;n oujsivan th;n ej≥[autou`] | proevmeno" dovsin doqh`nai ejn tei` ojligarcivai. 341 [Ps.-] Plut. mor. 851E (Demochares): ajnq j w|n ejxevpesen uJpo; tw`n katalusavntwn to;n dh`mon. SHEAR 1978, 4 Zeile 79f. (Kallias): Kalliva" oujdepwvpoqΔ uJ

omeivna" [...]e [...k]|atalelumevnou tou` dhvmou. Zur Lesung dieser Zeilen des Kallias-Dekretes siehe die Angaben von D. KNOEPFLER, BCH 126, 2002, 188f. Während in der älteren Forschung angenommen wurde, daß Demochares erst am Ende der 290er Jahre, also unter den veränderten Bedingungen nach 292 v.Chr. ins Exil gegangen sei (siehe dazu BELOCH 1929, 447–449 sowie die Literatur bei HABICHT 1979, 24 mit Anm. 22), hat sich in der jüngeren Forschung die Ansicht durchgesetzt, daß dieses Exil bereits etwa 303 v.Chr. begann (dazu HABICHT 1979, 24). Nun ist, wie bereits Beloch betonte, kaum anzunehmen, daß Demochares einerseits nur von 307–303 v.Chr. sowie eine kurze Zeit nach der Befreiung von 287 v.Chr. innerhalb der Polis aktiv gewesen wäre und er andererseits damit auch – sollte er bereits 303 v.Chr. ins Exil gegangen sein – die veränderte politische Lage nach 301 v.Chr. für eine Rückkehr ungenutzt gelassen hätte. Nimmt man letzteres dennoch an, kann allerdings sein Einsatz in dem ihm von der Bürgerschaft zuerkannten Ehrendekret nicht zutreffend sein, was aber ob der Tragweite der Geschehnisse für den dh`mo" in diesem Falle ganz unwahrscheinlich ist. Ein Exil am Ende der 290er Jahre, also unter den veränderten Bedingungen nach 292 v.Chr. dürfte daher weitaus größere Wahrscheinlichkeit besitzen. 342 IG II2 n. 657. 343 IG II2 n. 657 31f. 34f.. 344 IG II2 n. 657 48–50. Geehrt wurde er schließlich für seinen Einsatz um die Bürgerschaft (Z. 58–60): ejpainevsai Filippivdhn Filoklevou" Kefal[h`]|qen ajreth`" e{neka kai; eujnoiva" h|" e[cwn diatelei` p[e]|ri; to;n dh`mon to;n jAqhnaivwn (…). 345 HABICHT 1995, 86. 144; vgl. S ONNABEND 1996, 311; SAVALLI-LESTRADE 1998, 69f. Philippides ging wohl 304 oder 303 v.Chr. ins Exil. Vgl. zu Philippides weiterhin SONNABEND 1996, 305–313. 346 Siehe IG II2 n. 657 1–7. 347 Dagegen äußerte Philippides Anschuldigungen gegen Demetrios Poliorketes und seinen persönlichen Athener Widersacher Stratokles, die eine Auflösung des dh`mo" beinhalten: tau`ta

I.3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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die fehlende ejleuqeriva erwähnt, die sich für die Bürgerschaft in der Zeit kurz vor 301 v.Chr. aufgrund der Dominanz des Demetrios zunehmend verstärkte hatte und wegen der Philippides wohl ins Exil ging. Athens Befreiung 287 v.Chr. Athens Befreiung von der Besatzung am Museionhügel erfolgte schließlich in einer Zeit, in der Demetrios auf überregionaler Ebene militärische Schwächungen hinnehmen mußte und sich gegen ihn eine Koalition gebildet hatte, der auch Ptolemaios I. Soter angehörte348. In Diensten dieses Ptolemaios stand der bereits angeführte Athener Kallias, der durch seinen Einsatz maßgeblich zum Erfolg der Befreiung beitrug. Innerhalb der Bürgerschaft verdankten die Parteigänger des Demetrios ihre gesicherte Position der Unterstützung des basileuv", die entsprechend seiner militärischen Schwächung keineswegs mehr unangefochten war349. Ausschlaggebend für eine Sicherstellung seiner Macht waren auch die im Kallias-Dekrete angeführten, an verschiedenen Orten in Attika stationierten Söldner, von denen eine gewisse Anzahl, noch bevor die Besatzung des Museionhügels bezwungen wurde, auf die Seite der Bürgerschaft übergetreten waren350. Für die Athener ging es 287 v.Chr. sodann in erster Linie gegen die Besatzung, mit deren Niederringung freilich auch ein innerhalb des dh`mo" bestehendes Widerstandspotential beseitigt werden konnte. Der in den Inschriften als Umschreibung für die veränderte Situation nach 287 v.Chr. gebrauchte Begriff ist die ejleuqeriva351. Diese Freiheit umfaßte sowohl den zurückgewonnenen außenpolitischen Spielraum als auch die Aufhebung der innenpolitischen Einflußnahme des Demetrios auf die Entscheidungen der Bürgerschaft. Ob die in diesem Zusammenhange ebenfalls angeführte katavlusi" tou` dhvmou mit einer Beschränkung der Bürgerschaft durch einen Zensus [scil. die vorhergehenden Ausführungen] kataluvei dh`mon, ouj kwmwidiva (Philippides, PCG VII 347 F257). Diese Formulierung bezeichnet ebenfalls zunächst die Anschuldigung einer Auflösung der Bürgerschaft, nicht hingegen die Auflösung einer Demokratie (anders HABICHT 1995, 144). 348 Demetrios erlitt 287 v.Chr. in mehreren Regionen Rückschläge gegen die Verbündeten Lysimachos, Ptolemaios, Seleukos und Pyrrhos, so daß er sich zunächst auf die Verteidigung von Makedonien beschränkte; WILL 1979, 94–97; HAMMOND/WALBANK 1988, 224–229. 349 Die Quellen führen jedenfalls für die Zeit nach dem Angriff auf die Besatzung in der Munychia keine größeren innenpolitischen Auseinandersetzungen an, so daß die ‚oligarchische‘, von Demetrios gestützte Parteiung als eigenständige Gruppe in der folgenden Zeit kaum einen signifikanten politischen Einfluß ausgeübt haben sollte. Vgl. dazu [Ps.-] Plut. mor. 851E (Ehrendekret für Demochares), wonach Demochares auf einer Gesandtschaft an Lysimachos im Jahre des Archon Diokles von diesem zunächst 30 und später weitere 100 Talente für Athen eingeworben haben soll; vgl. dazu K. BRINGMANN, Grain, Timber and Money. Hellenistic Kings, Finance, Buildings and Foundations in Greek Cities, in: HELLENISTIC ECONOMIES 2001, 207. 350 SHEAR 1978, 2 Zeile 11–16. Daß mit einem Teile der in [Ps.-] Plut. mor. 851E genannten Gelder, die Demochares als Gesandter für die Bürgerschaft erlangte, auch eine Befreiung der Polis von den Söldnern erreicht werden konnte, liegt nahe. 351 Als deutlicher Hinweis hierfür kann das von Philippides 284/3 v.Chr. gestiftete Fest für die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit gesehen werden (IG II2 n. 65738–45); HABICHT 1995, 140f. Zum ejleuqeriva-Begriff siehe weiterhin IG II2 n. 65730–32. 34–36.

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verbunden gewesen ist, kann aufgrund der vorliegenden Quellen nicht entschieden werden, wenngleich diese Überlegung eher wenig für sich hat352. Vielmehr wird damit unter anderem ein unberechtigtes Exil rechtmäßiger Bürger, wie das des Kallias oder des Demochares, gemeint sein353. Der in diesem Kontext gebrauchte Begriff der ojligarciva354 ist insofern nicht als eine institutionell verankerte Herrschaft zu verstehen, da die demokratische Organisation der Polis in der Zeit zwischen 292 und 287 v.Chr. – soweit zu erkennen ist – nicht aufgehoben oder signifikant verändert wurde355. Der Begriff bezeichnet vielmehr die Gruppe von Demetrios’ Anhängern und Parteigängern sowie deren Machtausübung in der Polis. Dieser Sichtweise entspricht außerdem, daß in den Quellen der direkt folgenden Zeit auch nicht die Rede von einer Wiedereinführung der dhmokrativa ist356, sondern die Mißstände der vorherigen Zeit mit der angeführten katavlusi" tou` dhvmou gekennzeichnet wurden. jOligarciva und dhmokrativa sind aus Sicht der athenischen Bürgerschaft in diesem Zusammenhange daher abermals nicht als antithetische Begriffe gebraucht worden357. Es handelte sich aus der Sicht des freien Athen nach 287 v.Chr. bei der ojligarciva vielmehr um die Beschreibung einer unrechtmäßigen Herrschaft der vorangegangenen Zeit, wohingegen die demokratische Organisation während der ojligarciva durchaus fortbestehen konnte, denn eine Beseitigung der dhmokrativa nach 287 v.Chr. haben die Athener nach Aussage der Quellen den zuvor dominierenden Parteigängern des Demetrios nicht vorgeworfen358. Durch die wiedergewonnene Freiheit konnte der vorherige 352 Insofern liegt hier gegenüber der Zeit von 322–318 v.Chr. und 317–307 v.Chr. ein anderer Grund für dieselbe Anklage vor. 353 Weitere Handlungen gegen die Rechte und Möglichkeiten der Bürgerschaft und damit jedes einzelnen polivth" sind zwar naheliegend, lassen sich aber anhand der Quellen nicht aufzeigen. 354 [Ps.-] Plut. mor. 851F (Ehrendekret für Demochares); S HEAR 1978, 4 Zeile 80f. (Ehrendekret für Kallias). 355 Als Veränderung der politischen Organisation käme insbesondere die Einführung der ajnagrafei`" in Betracht, die jedoch bisher nur für die ersten drei Jahre, beginnend mit 294/3 v.Chr. belegt werden können. DREYER 1999, 123. 135f. Zur Problematik des (der) oJ (oiJ) ejpi; tei` dioikhvsei siehe ebendort 124f. 356 So führt die Kallias-Ehrung an, daß dieser nicht gegen die dhmokrativa gehandelt habe, während demgegenüber als Mißstand die katavlusi" tou` dhvmou gekennzeichnet wird. Auch im Demochares-Dekret ist zwar mehrmals dessen Einsatz für die dhmokrativa aufgeführt, jedoch wird nicht von einer vorherigen Aufhebung der dhmokrativa gesprochen, sondern ebenfalls genauer von einer katavlusi" tou` dhvmou. 357 Die im späteren Ehrendekret für Phaidros von Sphettos (Mitte der 250er Jahre v.Chr.) auf diese Zeit bezogenen Angaben lassen sich aufgrund des nicht erhaltenen Kontextes kaum genauer beurteilen. Jedenfalls heißt es dort (IG II2 n. 68238–40): (…), kai; th;n povlin ejleuqevran kai; dhmokratoumevnhn auj|tovnomon parevdwken kai; tou;" novmou" kurivou" toi`" meq j| eJauto;n - -. Vgl. dazu GAUTHIER 1985, 79–89. 358 Vgl. dazu etwa HABICHT 1995, 144, der in diesem Zusammenhange den vorangehenden Zustand als eine „suspendierte Demokratie“ bezeichnet, sowie DREYER 1999, 212f., der das Ergebnis der Erhebung gegen Demetrios als eine „Wiedereinrichtung der demokratischen Verfassung“ versteht. Unbegründet bleibt die Interpretation von HABICHT 1995, 144, der Philippides Stratokles die „Zerstörung der Demokratie“ vorwerfen läßt und anschließend ausführt, es sei „eben immer auch Interpretationssache, was jemand als Demokratie gelten ließ“. Da im griechi-

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Mißstand sodann beseitigt werden, indem man den Zustand eines als „aufgelöst“ beschriebenen dh`mo" aufhob und so die Bürgerschaft in ihrem ursprünglichen Umfang und vor allem ohne äußere Einflußnahme wieder als Entscheidungsträger der Polis agieren ließ359. Die im Kallias-Dekret angeführte dhmokrativa ejx aJpavntwn A j qhnaivwn360 betont in diesem Sinne eben auch treffend und überaus deutlich die nunmehr wieder rechtmäßige Beteiligung aller Bürger und drückt so recht deutlich aus, daß aus Sicht der Athener zuvor noch eine dhmokrativa bestand, an der jedoch gerade nicht alle rechtmäßigen Bürger teilhatten. Daß die Athener in dieser Situation der wiedergewonnenen Freiheit ein ausgeprägtes Bewußtsein für ihre Entscheidungen hatten, wodurch auch den von ihnen beschlossenen Ehrungen eine hohe inhaltliche Authentizität und damit Aussagekraft beizumessen ist, zeigt schließlich ihr Umgang mit den Demetrios Poliorketes in der vorangegangenen Zeit zugesprochenen Auszeichnungen. Blieben nämlich die früheren Ehren für ihn und seinen Vater Antigonos für deren damaligen Einsatz bei der Befreiung von 307 v.Chr., die ja von der gesamten Bürgerschaft durch eine rechtmäßige Entscheidung beschlossen worden waren, bestehen, berichtigte der dh`mo" demgegenüber nachträglich die unter der ojligarciva getroffenen Entscheidungen der ejkklhsiva und erkannte dem basileuv" diesbezügliche Ehrungen ab361. Hierin spiegelt sich nicht nur ein selbstkritischer und reflektierter Umgang mit entsprechenden Beschlüssen, sondern gleichzeitig auch die unmißverständliche Berücksichtigung der eigenen, durch die Mehrheitsentscheidungen einer rechtmäßigen Bürgerschaft erlangte politische Tradition der Polis. Athen zwischen 287 v.Chr. und dem Chremonideischen Krieg Die folgende Zeit bis zur Niederlage im Chremonideischen Kriege trug aufgrund der nun wieder uneingeschränkt ausgeübten demokratischen Institutionen und des zurückgewonnenen außenpolitischen Handlungsspielraumes mit der dazugehörigen diplomatischen Aktivität der ejkklhsiva über das folgende Vierteljahrhundert, also nahezu eine Generation, maßgeblich zu einer Konsolidierung und weiteren Etablierung der politischen Organisation und des politischen Selbstbewußtseins der Bürgerschaft bei362. Die nach 287 v.Chr. getroffenen Ehrungen für die Athener Kallias, Demosthenes363, Demochares und Philippides verdeutlichen schen Wortlaut von der Auflösung des dh`mo", nicht hingegen von der dhmokrativa die Rede ist, ist gerade in diesem Zusammenhang auf der Grundlage der griechischen Begrifflichkeit der Interpretationsspielraum sehr begrenzt. 359 Dieses muß aus der angeführten Umschreibung der Situation als katavlusi" tou` dhvmou bei [Ps.-] Plut. mor. 851F und SHEAR 1978, 4 Zeile 80f. gefolgert werden. 360 S HEAR 1978, 4 Zeile 82f.; vgl. dazu auch HABICHT 1979, 28 mit Anm. 48. 361 Siehe dazu HABICHT 1970, 50–55 (mit den entsprechenden Quellenangaben); vgl. dazu jetzt HABICHT 1995, 95. 98f. 362 Siehe hierzu den Abschnitt bei HABICHT 1995, 129–153. 363 In wieweit die posthume Ehrung des Demosthenes (280/279 v.Chr.) mit HABICHT 1995, 143f. als eine direkte Kampfansage der Athener an die Makedonen zu verstehen ist, kann letztlich nicht sicher entschieden werden.

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mit den darin hervorgehobenen Leistungen dieser Bürger für dh`mo" und Polis sowie den kontrastierend dazu ebenfalls angeführten Unrechtsregimen und Verfehlungen der vorangehenden Zeit ein Bestreben, zukünftig klare Wertmaßstäbe im Sinne einer uneingeschränkten Herrschaft des dh`mo" zu propagieren364, um so an alte und rechtmäßige Traditionen anzuknüpfen und damit einen Gegenpol zu den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit nach dem Lamischen Kriege zu bestimmen365. Dh`mo", dhmokrativa und ejleuqeriva, die in den angeführten Ehrendekreten als die wesentlichen Grundpfeiler des politischen Geschehens angeführt sind366, bildeten nun wieder die wesentlichen Konstanten im politischen Geschehen und Bestreben der Polis. Darauf, daß die Erfolge bei Athens Befreiung von der Besatzung des Demetrios nicht gänzlich ohne auswärtige Unterstützungen erreicht wurden, verweist das Eingreifen des Kallias, der als athenischer Bürger im Dienste des ptolemaiischen Königs stand und, von außerhalb agierend, mit dessen Soldaten militärische Erfolge in Attika errang367. Auch kam der Friede zwischen Athen und Demetrios unter der direkten Vermittlung von Ptolemaios I. zustande368, so daß dieser quasi als Friedens- und Freiheitsgarant der Stadt wirkte369. Eine latente Bedrohung war für die Bürgerschaft jedoch weiterhin dadurch gegeben, daß trotz der Befreiung des Museionhügels andere attische Festungen und insbesondere der Piräus vorerst weiter in makedonischer Hand blieben370. Die Athener versuchten allerdings, diese alsbald wieder in ihre Gewalt zu bekommen. So konnte Eleusis wohl nachfolgend befreit werden371 und Rhamnous muß spätestens im Chremonideischen Kriege wieder unter athenischer Kontrolle gewesen sein372. 364

HABICHT 1995, 143f. Ein ähnliches Bestreben konnte bereits für die Zeit im Anschluß an die Befreiung von 307 v.Chr. festgestellt werden, wenngleich sich daraus eine zunehmend einseitige Politik zugunsten des Demetrios Poliorketes ergab. Die Ehrung von Philippides: IG II2 n. 657 (283 v.Chr.); die Ehrung von Kallias bei SHEAR 1978, 2–4 (270/69 v.Chr.); die posthume Ehrung von Demosthenes bei [Ps.-] Plut. mor. 850F – 851C (280/79 v.Chr.); die ebenfalls posthume Ehrung von Demochares bei [Ps.-] Plut. mor. 851D–F (271/0 v.Chr.). Siehe zur politischen und ereignisgeschichtlichen Einordnung der Angaben im Kallias-Dekret den ausführlichen Kommentar von SHEAR 1978, 9–60 sowie, insbesondere zur Chronologie, HABICHT 1979, 45–62 (nunmehr auch DREYER 1999, 204–211). Vgl. für diesen Zeitraum außerdem HABICHT 1995, 129–146; siehe zum Inhalt der Ehrung auch GAUTHIER 1985, 79–89; siehe außerdem die Interpretation dieser Ehrendekrete von I. KRALLI, Athens and Her Leading Citizens in the Early Hellenistic Period (338–261 B.C.): The Evidence of the Decrees Awarding the Highest Honours, Archaiognosia 10, 1999– 2000 (1999), 133–162. 366 Siehe dazu die bereits angeführten Bemerkungen zu diesen Ehrungen. 367 S HEAR 1978, 2f. Zeile 18–27. 368 Entsprechend den Angaben im Kallias-Dekret Zeile 34–36. Dazu HABICHT 1979, 62. 369 HABICHT 1979, 62–67 und DREYER 1999, 219–223 zur Bedeutung der Rolle des Ptolemaios bei diesem Friedensschluß zwischen Demetrios und Athen. 370 Siehe dazu DREYER 1999, 232–240; HABICHT 1995, 134f. 371 Es war nach [Ps.-] Plut. mor. 851F der 286/5 v.Chr. aus dem Exil zurückkehrende Demochares, der maßgeblichen Anteil an der Befreiung von Eleusis hatte. Auch Olympiodoros konnte nach Paus. I 26,3 Verdienste um Eleusis erlangen. Weiterhin fiel Rhamnous vor dem Beginn des Krieges wieder an Athen; HABICHT 2006, 148. 372 DREYER 1999, 233f. 365

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Auch wagten die Athener in den 280er Jahren einen Angriff auf die makedonische Besatzung in der Munychia373, der jedoch in einen Hinterhalt geriet374 und 420 Angreifern das Leben kostete375. Das Ziel einer strategisch wichtigen Wiedergewinnung des Piräus blieb somit zunächst unerreicht, wurde aber keineswegs aufgegeben376. Daß sogar eine Befreiung der Munychia noch vor der späteren Niederlage 262 v.Chr. im Chremonideischen Kriege erreicht werden konnte, besitzt einige Wahrscheinlichkeit377. Die Beseitigung der fortbestehenden Besatzungen ist jedenfalls ein zentrales Anliegen des dh`mo" gewesen und hat somit auch dessen außen- und innenpolitische Bestrebungen erheblich beeinflußt, weshalb hierin ebenfalls ein für die Bürgerschaft integrierendes Merkmal dieser Zeit zu sehen ist378 . Neben dem Ziel der weiteren Befreiung des Polisterritoriums bestand in der Bürgerschaft nach 287 v.Chr. eine allgemeine Sorge um die athenische Wehrkraft, deren Grund in der andauernden makedonischen Bedrohung lag379. In dieser Zeit scheint die Polis mehrere Male in einen Versorgungsengpaß und damit eine äußere Abhängigkeit geraten zu sein. Mehrere von der ejkklhsiva beschlossene Ehrungen für Getreidehändler sind diesbezüglich überliefert380 , wodurch ein Bemühen um die Versorgungslage der Stadt als eine zentrale politische 373

Zu den Datierungsmöglichkeiten dieses Vorgehens siehe DREYER 1999, 238f. Polyain. V 17,1. 375 Paus. I 29,10 erwähnt das Staatsgrab für die Toten auf dem Kerameikos. 376 Zur Zielsetzung der Befreiung des Piräus siehe das Ehrendekret für Philippides IG II2 n. 65734–36: o{pw" a]n diamevnei oJ dh`m|o" ejleuvqero" w]n kai; to;n Peiraia` komivshtai kai; ta; | frouvria th;n tacivsthn (283 v.Chr.). Ob diese Angabe eine weitere Bemühung um die Befreiung des Piräus schildert oder aber überhaupt die Befreiung des Piräus meint, hängt von der unsicheren Datierung des Befreiungsversuches der 280er Jahre ab (Polyain. V 17,1). Wahrscheinlicher ist allerdings, daß der Befreiungsversuch bereits zuvor stattgefunden hatte. Vgl. zur grundsätzlichen Zielsetzung der Athener in diesen Belangen DREYER 1999, 238f. 377 Die hierfür entscheidende Textstelle macht Paus. I 26,3 aus: O j lumpiodwvrw/ de; tovde mevn ejstin e[rgon mevgiston cwri;" touvtwn w|n e[praxe Peiraia` kai; Mounucivan ajnaswsavmeno" – „Dies [scil. die Eroberung des Museions] war Olympiodors größte Tat, abgesehen von dem, was er vollbrachte, indem er Piräus und Munychia (unversehrt) bewahrte“ (Übersetzung HABICHT 1979, 105). Die ältere Forschung, die eine ständige Besetzung des Piräus zwischen 294 bis 229 v.Chr. annimmt, führt HABICHT 1979, 96 an (vgl. dazu jetzt auch DREYER 1999, 257f.). Zu den früheren Forschungsmeinungen, die von einer zwischenzeitlichen Befreiung ausgingen, siehe HABICHT 1979, 96f. Siehe zur Verläßlichkeit der Angabe des Pausanias überzeugend HABICHT 1979, 102–107 (vgl. dazu mit möglichen Modifikationen des Textverständnisses jetzt DREYER 1999, 259–265; zu den möglichen Datierungen DREYER 1999, 265–278). Eine abermalige Diskussion dieser Zusammenhänge trägt zu der hier verfolgten Problematik wenig bei – das Bemühen der Athener um die Wiedergewinnung des Piräus bleibt in jedem Falle evident. 378 Vgl. dazu AGORA XVI n. 181 28–31 (282 v.Chr. – Ehrendekret für Euthios): ei\nai de; aujtw`i kai; a[l|lo ajgaqo;n euJrevsqai para; tou` dhvmou o{to|u a]n dokei` a[xio" ei\nai o{tan oJ Peiraieu;|" kai; to; a[stu ejn tw`i aujtw`i gevnhtai. Siehe zu dieser Zielsetzung HABICHT 1995, 130. DREYER 1999, 279f. sieht für die Zeit von 286 bis ca. 270 v.Chr. im Vorgehen der Athener ein Streben nach „Autonomie“. Der Begriff der aujtonomiva wird zwar im nachfolgenden Vertrag zwischen Athen und Sparta (STAATSVERTRÄGE III n. 476) verwendet, dort aber allgemein auf griechische Poleis bezogen. In den athenischen Quellen dieser Zeit spielt der Begriff keine Rolle. 379 HABICHT 1995, 141–144. 380 HABICHT 1995, 140 (mit den Quellennachweisen). 374

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Aktivität hervorgehoben wird; den jeweils hilfreich eingreifenden Personen ließ die Bürgerschaft entsprechende Ehrungen zukommen381. Sowohl die Bemühungen um die Wehrkraft als auch um die Getreideversorgung sind als allgemeine Problemfelder zu verstehen, die in der ejkklhsiva über längere Zeit das politische Geschehen bestimmten und Impulse für die politische Praxis ausmachten. Sofern die Bürgerschaft diese Herausforderungen meisterte und zudem ihre Entscheidungsfindung entsprechend der politischen Organisation ausführte, darf eine derartig überwundene Krisensituation letztlich auch mit einer weiteren Konsolidierung der politischen Tradition gleichgesetzt werden. Das Bündnis mit Sparta und Ptolemaios Aus dieser Situation einer inneren Konsolidierung ging Athen 268 v.Chr. das bekannte, in der ejkklhsiva nach einem Antrag des Chremonides beschlossene Bündnis mit Sparta ein382, das im Dreibund mit Ptolemaios II. Philadelphos zum sogenannten Chremonideischen Krieg führen und der Stadt infolge der daraus resultierenden Niederlage 262 v.Chr. erneut eine makedonische Oberherrschaft einbringen sollte383. Als ein wesentliches Ziel des Bündnisses stand die ejleuqeriva im Mittelpunkt der propagierten Bestrebungen384, die in diesem Falle auch von allen Bündnispartnern angeführt werden konnte, ohne direkt auf eine spezifische politische Organisationsform Bezug zu nehmen. Gleichzeitig drückte sie unmißverständlich das Bestreben nach einer eigenständigen Entscheidungsfindung in den Angelegenheiten aus, die die Polis respektive den Herrscher betraf. Darüber hinaus führt der Dekrettext auch eine allgemein durch Umstürze gefährdete pavtrio" politeiva an385, wohingegen eine dhmokrativa nicht erwähnt wird. Daß die Athener in dieser Zeit ihre althergebrachte Verfassung mit der bestehenden dhmokrativa gleichsetzten, ist überliefert386. Unter pavtrio" politeiva konnte 381 Die entsprechenden Quellennachweise sowie weitere Literatur bei HABICHT 1995, 140 Anm. 47–49. 382 S TAATSVERTRÄGE III n. 476. 383 Ausführlich dazu und zu den weiteren Auseinandersetzungen HEINEN 1972, 117–142. 167–181; HABICHT 1995, 147–153. Weiterhin jetzt mit etwas veränderter Chronologie DREYER 1999, 283–376, die aber für die hier vorliegende Argumentation außer Betracht bleiben kann. 384 Die Zielsetzung wird sogleich deutlich bei der angeführten alten, die Vertragspartner verbindenden Tradition (STAATSVERTRÄGE III n. 47610–13): kai; kalou;" ajgw`na" hjgwnivsanto [scil. oiJ A j qhnai`oi kai; oiJ Lakedaimovnioi] me|t j ajllhvlwn pro;" tou;" katadoulou`sqai ta;" povlei" ejpiceir|ou`nta", ejx w|n eJautoi`" te dovxan ejkthvsanto kai; toi`" a[llªoºi" | {Ellhsin pareskeuvasan th;n ejleuqerivan. Siehe weiterhin HABICHT 1994, 142. 385 Ebendort Zeile 13–16: kai; nu`n de; k[a]irw`n | kaqeilhfovtwn oJmoivwn th;n E J llavda pa`san dia; to[u;" k]ataluvein ejpiceirou`nta" touv" te novmou" kai; ta;" patrivou" eJkavst|oi" politeiva". Vgl. dazu den Vertragstext der Lakedaimonier Zeile 70–74: Spondai; kai; summaciva [Lakedaimonivoi" kai; toi`" summavcoi" to]|i`" Lakedaimonivwn pro;" [ A j qhnaivou" kai; tou;" summavcou" tou;" A j qhn]|aivwn eij" to;n a{panta [crovnon: e[cein eJkatevrou" th;n eJautw`n ejleuqevr]|ou" o[nta" kai; aujto[novmou", politeivan politeuomevnou" kata;] | ta; pavtria. Die Ergänzungen dürfen aufgrund der erhaltenen Reste der Inschrift als sicher gelten. 386 So führen die gerade zuvor beschlossenen Ehrendekrete für Kallias (SHEAR 1978, 4 Zeile 82f.) und Demochares ([Ps.-] Plut. mor. 851F) deren Einsatz und Verdienst um die dhmokrativa der Polis an.

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allerdings in anderen Poleis, insbesondere beim Bündnispartner Sparta, auch eine andere Form der politischen Organisation verstanden werden387. Die im Dekrettext verwendete allgemeingültigere Formulierung dürfte also ganz offensichtlich mit Bedacht gewählt worden sein, um eine entsprechende Respektierung der Integrität der Bündnispartner zu gewährleisteten und für das gemeinsame Bestreben einen möglichst großen Adressatenkreis anzusprechen. Daß der Dekrettext im besonderen auf die vorhergehenden Erfahrungen der Athener Bezug nahm und damit indirekt gegen den Makedonenkönig Antigonos Gonatas gerichtet war, kann trotz einer ausbleibenden Erwähnung dieses direkten Gegners als sicher gelten388. Die inhaltliche Bedeutung der ejleuqeriva spiegelt daher vor allem auch das wider, worum es den Athener schon in den vorhergehenden Jahrzehnten gegangen war, was sie zu einem wesentlichen Teil mit dem Jahr 287 v.Chr. bereits erreicht hatten, aber wonach sie auch weiterhin strebten, nämlich die Aufhebung jedweder Besatzung innerhalb ihres Polisterritoriums und damit die Beseitigung möglicher Einschränkungen für die Bürger auf dem Gebiete der eigenen Polis. Niederlage und Veränderungen War das Ziel des Bündnisses durchaus mit freiheitlicher Absicht formuliert, stand am Ende des Krieges 262 v.Chr. dennoch eine Niederlage389 und damit der erneute Verlust der Freiheit der Stadt gegenüber dem Nachfolger und Sohn von Demetrios Poliorketes, Antigonos Gonatas. Im Zentrum der Stadt am Museionhügel wurde abermals eine Besatzung stationiert und zuvor befreite Befestigungen in Attika wieder von makedonischen Soldaten besetzt390. Daß Antigonos in der Folge der Niederlage die politischen Entscheidungen des dh`mo" weitgehend seinen Vorstellungen entsprechend beeinflußte, ist in der Forschung hinlänglich hervorgehoben worden391. Im wesentlichen fußen diesbezügliche Ausführungen auf einer bei Philodemos überlieferten Angabe der Chronik des Apollodoros, in der es heißt, die Stadt habe nach der Niederlage eine Garnison am Museionhügel aufnehmen müssen, die Ämter seien ‚beseitigt‘ worden und alles dem Willen eines Mannes unterworfen gewesen392. Während die Auf387 Da in Sparta weiterhin Könige amtierten, in Athen aber eine dhmokrativa bestand, wird die Bezeichnung pavtrio" politeiva gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner dieser beiden politischen Organisationsformen angesehen werden können. Polyb. II 70,1 bezeichnet mit eben diesem Begriffe die Restitution der spartanischen Verfassung durch Antigonos Doson nach Kleomenes’ III. Herrschaft. Vgl. dazu aber auch Polyb. II 47,3. 388 Zur Zielsetzung des Bündnisses HABICHT 1995, 147; TRACY 2003a, 56. 389 HABICHT 1995, 151; DREYER 1999, 361–370. 390 Siehe zu den Auswirkungen der Niederlage auf Athen HABICHT 1995, 154–160; T RACY 2003, 15f.; zur Aufnahme der folgenden Besatzungen HABICHT 2003, 52–55. 391 Siehe hierzu HABICHT 1995, 154f.; TRACY 2003, 15f. 392 Apollodoros FGrHist 244 F44: kai; A j pollov[dw]ro" de; to; ka[qhir]h`sqai [tivqhsi t]h;n povlin [ejp j ΔAntip]av≥trou t≥[ou`] pro; A j rreneivd[ou], k∫a∫i∫; froura;[n eij"] to; Mousei`on [tovte] eijsh`cq≥[ai uJp j] A j ntigovnou, [kai; ta;"] ajrca;" [ajnhirh`sq]ai kai; pa`n eJ∫n[i;] bouleuv[ein ejf]ei`sqai. Vgl. dazu HABICHT 1982, 15–20. Siehe insbesondere die Ergänzung des abschließenden Gliedes von M. Gigante mit pa`n eJn[o;"] bouleuv[mati tel]ei`sqai. Vgl. dazu die Literatur bei OETJEN 2000, 111 Anm. 5.

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nahme der Garnison und der damit einhergehende Freiheitsverlust unstrittig sind393, gibt jedoch der Passus über die ‚Beseitigung‘ der Ämter dahingehend Schwierigkeiten auf, daß der entscheidende Begriff die Ergänzung einer verlorenen Stelle ausmacht. Christian Habicht hat diesbezüglich begründet dargelegt, daß gerade ‚zentrale‘ Ämter auch nach der Niederlage fortbestanden, also auch die politische Organisation der Polis weitgehend unverändert blieb und deshalb von einer ‚Beseitigung‘ weniger die Rede sein könne394. Ferner muß Apollodoros’ Angabe, daß „alles dem Willen eines Mannes unterworfen wurde“395, als problematisch gelten. Lange Zeit bestand die Ansicht, eine solche Person müsse – in ganz ähnlicher Weise wie Demetrios von Phaleron in der Zeit von 317–307 v.Chr. – die Stellung eines ‚Epistates‘ besessen haben396; Christian Habicht versuchte dieses auf die Person des gleichnamigen Neffen von Demetrios von Phaleron zu präzisieren und ihm die politikbestimmende Rolle in Athen nach der Niederlage im Chremonideischen Kriege zuzuweisen397. Inzwischen konnte jedoch Roland Oetjen begründet darlegen, daß dieser Demetrios nicht als Regent des Makedonenkönigs in der Stadt agierte, sondern nur ein – wenngleich namhafter – Parteigänger des Antigonos in der Bürgerschaft war398. Hiermit müßte nun entsprechend der älteren Forschung also der von Oetjen nicht weiter behandelten Frage nachgegangen werden, wer ein solcher Regent des basileuv" gewesen sein könnte. Grundsätzlich wäre demgegenüber aber zu bedenken, ob Apollodoros’ Angabe eine solche Person überhaupt notwendig macht. Diesbezüglich kann freilich zunächst konstatiert werden, daß die politischen Möglichkeiten der Bürgerschaft ohnehin vom basileuv" und dessen Willen abhängig waren. Durch die am Museion, also in unmittelbarer Nähe der politischen Entscheidungsorgane der Bürgerschaft stationierten und ihm verpflichteten Soldaten bestand – wie schon nach 294 v.Chr. unter Demetrios Poliorketes – ein sichtbarer Ausdruck des dominierenden basileuv". Darüber hinaus bezeugen einflußreiche Personen wie gerade der jüngere Demetrios von Phaleron, die eben nicht die Macht des Herrschers in der Stadt monopolisierten, aber trotzdem als dessen Parteigänger eine 393

Hierzu HABICHT 1995, 155 sowie jetzt HABICHT 2003, 52f. HABICHT, 1982, 16f. Insbesondere bezieht sich Habicht auf das bei Diog. Laert. 7,10–12 überlieferte Dekret zu Ehren des verstorbenen Philosophen Zenon. Vgl. dazu auch RHODES/LEWIS 1997, 49f.; TRACY 2003a, 57f. Dagegen früher etwa FERGUSON 1911, 183. Eine Einschränkung erfuhr die politische Organisation allerdings im Bereich des Archontats; dazu im folgenden. Will man hier nicht zwangsläufig von einer Beseitigung der Ämter sprechen, so würde im übertragenen Sinne sicherlich eine nicht mehr rechtmäßig vorgenommene Besetzung der Ämter – etwa durch Bestimmung der Amtsinhaber durch den König – die vorliegenden Umstände treffender wiedergeben. Vgl. dazu TRACY 2003a, 59f. 395 Siehe dazu auch die veränderte Lesung bei TRACY 2003a, 57: kai; pa`n eJn[o;"] bouleuv[mati tel]ei`sqai. 396 Hierzu und mit weiterer Literatur HABICHT 1982, 16. 397 HABICHT 1982, 17–20; H ABICHT 1995, 156–158. Vgl. dazu die Angaben von Hegesander bei Athen. IV 167E-F. Siehe zudem TRACY 2003, 19 Anm. 11. 398 OETJEN 2000, 111–117. Oetjen führt zudem begründet aus, daß Demetrios aufgrund der Protektion durch den basileuv" zu einer erfolgreichen Karriere kam und dabei – trotz des von Hegesander (Athen. IV 167E–F) kritisierten frevelhaften Verhaltens – persönliche Ehrungen erreichte (siehe dazu IG II2 n. 2971). 394

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hervorragende Stellung einnahmen399, eine bestehende Gruppe von einflußreichen promakedonischen Bürgern400, die im Sinne des Herrschers die Politik der Stadt bestimmen konnten. Es scheint daher durchaus naheliegend, die Angabe von Apollodoros gerade nicht auf einen eingesetzten städtischen Regenten zu beziehen401. Überdies macht auch der inhaltliche Zusammenhang der überlieferten Textstelle diese Überlegung wahrscheinlich. Da Apollodoros hier eine summarische Aufzählung der zentralen Veränderungen nach der athenischen Niederlage gibt, die er in Abhängigkeit vom basileuv" schildert und zudem in den letzten drei Gliedern dieser Aufzählung aus athenischer Sicht eine evidente Steigerung der innenpolitischen Einschränkung vorliegt402, wird man dem mit pa`n eingeleiteten letzten Glied eine abschließende, das Vorherige subsummierende Bedeutung beimessen können. Die eine bestimmende Person sollte insofern dann auch der König selbst sein, weil einzig er es ist, der im Kontexte der athenischen Veränderungen von Apollodoros genannt wird, das abschließende Glied seines Namens somit nicht abermals bedurfte und ein Verweis auf eine namentlich nicht genannte weitere Person zudem die inhaltliche Geschlossenheit dieser Sequenz gänzlich aufbräche. Schließlich wäre hinsichtlich einer solchen weiteren, aus zeitgenössischer Sicht dann sicherlich auch prominenten Person zu fragen, warum Apollodoros sie nicht namentlich nannte und warum er sie in offensichtlicher Unterscheidung zum basileuv" nicht mit einer naheliegenden und klareren Terminologie charakterisierte403, um so seine Angabe in der vorherigen prägnanten Weise abzuschließen. In diesem Sinne kommt einer Ergänzung mit pa`n eJn[o;"] bouleuv[mati tel]ei`sqai eine größere Wahrscheinlichkeit zu404. Die Annahme eines wie auch immer zu betitelnden Regenten des Antigonos in Athen nach dem Chremonideischen Krieg ist also aufgrund der Quellen weder als zwingend noch als sehr naheliegend anzusehen405. 399 Der Einfluß des Königs wurde zudem gesichert mittels loyaler Strategen; siehe dazu die Ehrungen IG II2 n. 677. 1225. 1299; EpigrRhamn. n. 17; vgl. HABICHT 1995, 154f. 400 Siehe dazu die weiteren Angaben bei TRACY 2003a, 56–58. 401 Ebenso TRACY 2003, 16 (2003a, 57f.); KRALLI 2003, 63. 402 So wird im drittletzten Glied mit der Besatzung am Museion zunächst ein erheblicher indirekter Einfluß des Königs auf die innenpolitischen Verhältnisse impliziert, während das nachfolgende Glied mit der ‚Beseitigung‘ der Ämter bereits eine offensichtlich direkte Veränderung der demokratischen Organisation ausdrückt. Daß im abschließenden Glied alles dem Willen eines Mannes unterworfen wurde, bezeichnet aus der Sicht der Bürgerschaft sodann die Aufhebung jedweder Teilnahme des dh`mo" an den politischen Entscheidungen und stellt eine nochmalige Steigerung der vorherigen Inhalte dar. Das hier abschließend angeführte bouleuv[- verweist auf die Verfassungsterminologie der Polis und läßt daher gerade die Betrachtung dieser Aufzählung aus der Perspektive der athenischen Bürgerschaft sinnvoll erscheinen. 403 So lägen hinsichtlich der athenischen Verhältnisse im ausgehenden 4. Jh. oder hinsichtlich der etwa in Makedonien vom Könige kontrollierten Poleis die Termini prostavth", ejpistavth" oder ejpimelhthv" nahe. Vgl. zu dieser Terminologie in bezug auf Athen G. MARASCO, Democare di Leuconoe. Politica e cultura in Atene fra VI e III sec. a. C., Florenz 1984, 184f. Siehe weiterhin OETJEN 2000, 116. 404 So zuletzt wieder TRACY 2003a, 57. 405 Selbst mit der Annahme eines königlichen Regenten ginge man m. E. fehl, dessen Einflußbereich so zu verstehen, daß dieser „Verwaltungsakte der Beamten durch sein Veto aufhe-

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Die zeitgenössischen zahlreichen Bekundungen der Loyalität gegenüber Antigonos nach Athens Niederlage verweisen auf eine allgemeine Durchsetzung seiner politischen Richtung innerhalb der Bürgerschaft406. Zwar kann nach Christian Habicht und entgegen früherer Meinungen kaum mehr davon ausgegangen werden, daß Antigonos einen dauerhaften und direkten Einfluß auf die Wahl der Strategen und Archonten ausübte, da dies letztlich nur in einem Fall belegt ist407, jedoch wird man wenigstens einen indirekten Einfluß des Königs annehmen müssen, da zumindest die Archonten nach der Niederlage nicht mehr gelost, sondern gewählt wurden und damit der Kandidatenkreis für dieses Amt durchaus direkt beeinflußt werden konnte408. Auch dürfte zu einer Stärkung der promakedonischen Gefolgschaft in nicht unerheblichem Maße das makedonische Vorgehen gegen politische Gegner nach dem Ende des Chremonideischen Krieges innerhalb der Bürgerschaft beigetragen haben. So wurde Philochoros wegen seines Eintretens für den ptolemaiischen Königshof auf Anweisung des Antigonos hingerichtet409, während sich Chremonides sowie sein Bruder Glaukon ins Exil flüchteten und in den Dienst des Ptolemaios traten410. Sowohl die Stärkung der makedonischen Parteigänger einerseits wie auch das Vorgehen des Königs gegenüber dem innerpolitischen Widerstande und dessen Eingriffe in die politische Organisation der Polis anderseits führten demnach direkt nach der Niederlage zu einer offenkundigen Machtverschiebung zu Ungunsten der freiheitlich gesinnten Athener innerhalb der Bürgerschaft. Vor dem Hintergrund einer derart konsolidierten makedonischen Dominanz wird sogleich ein wesentlicher Grund für Pausanias’ Angabe ersichtlich, wonach der Abzug der makedonischen Truppen aus dem Zentrum der Stadt „einige Zeit“ nach der vorherigen Besetzung vonstatten gegangen sei411: Der Einfluß des Antigonos auf die athenische Politik war soweit gesichert, daß dieser einer direkten Machtdemonstration gegenüber der Bürgerschaft nicht mehr bedurfte und sich militärisch mit der Kontrolle der Grenzfestungen und des Piräus zufrieden geben konnte412. Obwohl Pausanias seine Angabe zeitlich nur sehr vage mit „einige Zeit danach“ bestimmt, wird diese in der Forschung überwiegend mit der von Eusebiben konnte“ (HABICHT 1995, 155). Kann durch eine promakedonische Gruppe innerhalb der Bürgerschaft angenommen werden, daß deren Wille weitestgehend mit dem des Königs übereinstimmte und daher kaum anderweitige Beschlüsse gefaßt wurden, wäre ein „Veto“ des Königs überflüssig gewesen. Die Annahme einer ‚Veto-Option‘ des Königs setzte ansonsten voraus, daß der dh`mo" weitestgehend freie Entscheidungen hätte treffen können. 406 HABICHT 1995, 154 mit Anm. 2 (Verweise auf die entsprechende Literatur). 407 HABICHT 1982, 47–55 mit EpigrRhamn. n. 8. 408 Aufgrund mehrerer Archonten gerade aus prominenten Familien ist deren Losung für diese Zeit wohl auszuschließen, während vielmehr eine Wahl, vielleicht sogar eine Bestimmung angenommen werden muß; HABICHT 1995, 162. Ebendort 162f. zu weiteren Veränderungen der politischen Organisation. 409 Philochoros FGrHist 328 T1 (Suda s.v. Philochoros). 410 F ERGUSON 1911, 188; HABICHT 1995, 159. 411 Paus. III 6,6: toi`" de; A j qhnaivoi" ajntiscou`sin ejpi; makrovtaton ejpoihvsato A j ntivgono" eijrhvnhn, ejf j w|/ tev sfisin ejpagavgh/ froura;n ej" to; Mousei`on: kai; toi`" me;n ajna; crovnon aujto;" ejxhvgagen eJkousivw" th;n froura;n oJ A j ntivgono". 412 Zu den Grenzfestungen siehe HABICHT 2003, 52f.

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os für das Jahr 255 v.Chr. aufgeführten Freiheit der Stadt in einen Zusammenhang gebracht413. In einer sehr knappen Notiz in dessen Chronik heißt es, daß Antigonos den Athenern in diesem Jahr die ejleuqeriva gegeben habe414. Durch Eusebios’ Angabe ist dieses Datum gewissermaßen zu einem Wendepunkt innerhalb der Periode des makedonischen Einflusses von 262–229 v.Chr. stilisiert worden415. Insbesondere die Annahme, Athen habe nach der Niederlage unter einem ‚Epistates‘ gestanden, maß der folgenden ejleuqeriva bei, sich neben dem militärischen Rückzug auch auf die Abschaffung eines makedonischen Statthalters zu beziehen; gleichsam wurden die Athener trotz der „Rückgabe“ der ejleuqeriva freilich auch weiterhin in einer deutlichen Abhängigkeit zu Antigonos gesehen416. In bezug auf den Quellenwert der ejleuqeriva bei Eusebios ergeben sich nun jedoch schier unauflösbare Eventualitäten, die weitere, damit verbundene Interpretationen müßig erscheinen lassen. So muß zunächst angemerkt werden, daß es sich bei der Angabe des Chronisten nur um eine knappe Notiz ohne einen größeren Zusammenhang handelt. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, daß Eusebios seine Bemerkung nicht als eigenständige Interpretation anführte, sondern sie aus einer früheren Quelle übernahm417, so daß sich schließlich als zentrales Problem eine adäquate Beurteilung des ejleuqeriva-Begriffes ergibt: Es kann aufgrund der Quellenlage gerade nicht mehr nachvollzogen werden, ob die Aussage, Antigonos habe den Athenern die ejleuqeriva zurückgegeben, eine auf den basileuv" selbst zurückgehende Proklamation war oder ob es sich dabei bereits um die Interpretation eines späteren Historikers handelte. Eine solche spätere Interpretation könnte wiederum die Umstände – möglicherweise aufgrund des Abzuges der Besatzung vom Museionhügel – als eine Befreiung der Stadt gedeutete haben, die dann ihrerseits am ehesten einen Ausgangspunkt in Maßnahmen des Antigonos gehabt hätte. Eine Proklamation von seiten der Bürgerschaft ist bei dieser Angabe jedenfalls zweifelsohne auszuschließen. Da gegen eine Proklamation der Freiheit durch Antigonos spricht, daß dieser damit eine durch ihn selbst ursächlich bedingte vorherige Unfreiheit der Stadt eingestanden hätte418, erscheint es naheliegender, den von Eusebios angeführten Freiheitsbegriff vielmehr als die Interpretation eines weiteren antiken Historikers zu verstehen. Weil damit aber über die entsprechenden historischen Bedingungen, die zu 413 Euseb., Chronik II 120 (hrsg. von A. Schöne). Zum Kontext des Besatzungsabzuges vom Museionhügel siehe HABICHT 1995, 155; TRACY 2003, 20. 414 Euseb., Chronik II 120: A j qhnaivoi" A j ntivgono" th;n ejleuqerivan ajpevdwken. 415 Dazu HABICHT 1982, 16; HABICHT 1995, 155–157; TRACY 2003, 20. 416 Siehe HABICHT 1995, 156f. Zur weiteren Abhängigkeit von Antigonos Gonatas T RACY 2003, 21–24. 417 Eusebios hat seine Chronik um 300 n.Chr. zusammengestellt. Hinsichtlich der von ihm für das Jahr 256/5 v.Chr. verwendeten Quellen lassen sich aus Sicht der hier verfolgten Fragestellung freilich keine ausreichend genauen Aussagen machen. 418 Einschränkend wäre diesbezüglich anzuführen, daß der Chremonideische Krieg durch ein aktives Eintreten der Athener zusammen mit Ptolemaios II. Philadelphos und Sparta gegen den Makedonenkönig ausgelöst wurde, so daß Antigonos mit einer offiziellen Rückgabe der ejleuqeriva durchaus eine auf den Kriegsausgang bezogene und seit diesem bestehende Beschränkung der Stadt hätte aufgehoben haben können.

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einer Deutung als Befreiung führten, keineswegs genauere Aussagen möglich sind419, sondern vielmehr unterschiedlichste Konstellationen denkbar werden, muß jede weitere Annahme als Grundlage der Interpretation bloße Spekulation bleiben420. Berücksichtigt man außerdem, daß, wie dargelegt, Demetrios von Phaleron in der Polis keine Position eines ‚Epistates‘ einnahm sowie überhaupt die Annahme eines ‚Epistates‘ oder einer Person in vergleichbarer Stellung anhand der Quellen nicht wahrscheinlich ist, dann relativiert sich in diesem Sinne die Annahme eines Wendejahres 255 v.Chr. nicht unerheblich421. Durchaus plausibel bleibt schließlich der von Pausanias überlieferte militärische Rückzug der Makedonen aus dem Museion als eine Maßnahme zu erklären, die zur Einschätzung einer von Antigonos gewährten ejleuqeriva geführt haben könnte422. Aus der Sicht der athenischen Bürgerschaft kann jedenfalls die bei Eusebios angeführte ejleuqeriva, die sich, wenn überhaupt, nur auf einen vergrößerten innenpolitischen Handlungsspielraum bezogen haben konnte, keinesfalls aber mit einer ejleuqeriva gleichgesetzt werden, die vom dh`mo" selbst etwa in den Ehrendekreten oder dem Chremonides-Dekrete aus der Zeit vor der Niederlage von 262 v.Chr.423 oder auch in der Zeit nach der wiedergewonnenen Freiheit von 229 v.Chr. propagiert wurde424. In diesen Fällen handelte es sich um ein Selbstbestimmungsrecht der Polis nach außen, dem ein freies Spiel der Kräfte im Inneren und innerhalb der demokratischen Organisation gegenüberstand. In der Zeit zwischen 262 v.Chr. und 229 v.Chr. befand sich Athen jedoch außenpolitisch425 und innenpolitisch zumindest weitgehend in direkter Abhängigkeit von den Makedonen426. Eine in dieser Phase der athenischen Geschichte postulierte ejleuqeriva 419 Nimmt man hingegen den Abzug der Besatzung vom Museionhügel als einen Beleg für den bei Eusebios verwendeten Freiheitsbegriff, ergäbe sich freilich ein klassischer Zirkelschluß. 420 Die Angabe von HABICHT 1982, 16, es handele sich bei der Rückgabe der ejleuqeriva durch Antigonos im Jahre 256/255 v.Chr. um ein Faktum, ist in dem hier angeführten Sinne zu relativieren. 421 Vgl. dagegen noch die Annahme von HABICHT 1982, 20, Athen sei mit diesem Jahre wieder als ein ‚de iure souveräner Staat‘ anzusehen. Gleichzeitig ist auch die ebendort 21f. angeführte Veränderung der Aktivität der ejkklhsiva zu relativieren, die sich nach Habicht „nicht in dramatischer, aber doch in bedeutsamer Weise“ aufgrund der „Aufhebung des Besatzungsstatus“ geändert habe. Daß es hingegen in der Zeit der 240/30er Jahre zu einer politischen Stabilisierung innerhalb der Bürgerschaft gekommen ist, scheint unstrittig. 422 In der jüngeren Forschung werden Veränderungen hinsichtlich der makedonischen Besatzung sowie des Einflusses von Antigonos überwiegend auf Eusebios’ Angabe bezogen, ohne daß diese dabei grundsätzlich in Frage gestellt wird. Hiermit ist nun aber das Problem verbunden, daß zentrale Inschriften dieser Zeit keineswegs sicher datiert werden können (vgl. hierzu etwa die Untersuchungen von TRACY 2003. 2003a). Weiterhin braucht eine von Antigonos propagierte Freiheitserklärung der Stadt im Jahre 255 v.Chr. keineswegs gleichzeitig auch eine grundsätzliche Veränderung in dessen Umgang mit Athen bedeutet zu haben. Vielmehr sollte in dieser Hinsicht auch ein allmählicher, langfristiger Wandel in Betracht gezogen werden. 423 Siehe oben. 424 Siehe dazu die folgenden Ausführungen, insbesondere die zum Ehrendekret des Eurykleides IG II2 n. 834. 425 Vgl. HABICHT 1995, 161. 426 TRACY 2003, 21–24 zum weiteren Einfluß des Antigonos auf die athenische Politik. Siehe weiterhin HABICHT 2003, 52–55; vgl. OETJEN 2000, 115f.

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durch den König dürfte daher aus Sicht der Mehrheit der Bürgerschaft kaum mehr als eine bloße Worthülse ausgemacht haben427. Selbst wenn zur Zeit der Herrschaft des Antigonos die Rede von der ejleuqeriva der Hellenen gewesen ist, wie dies eine Inschrift anführt428, spiegelte sich darin zuallererst eine stark makedonisch beeinflußte Auffassung wider, nicht aber die Sicht einer freiheitlich agierenden athenischen Bürgerschaft429. Somit erscheint es durchaus folgerichtig, daß der ejleuqeriva-Begriff in der gesamten Epoche vom Ende des Chremonideischen Krieges bis zum Ende der Besatzung 229 v.Chr. von der Bürgerschaft zur Beschreibung eines Polis-‚Status‘ weder im Sinne der vorhergehenden noch der auf 229 v.Chr. folgenden freiheitlichen Zeit gebraucht wurde. Athen nach der Mitte der 250er Jahre Auch nach dem Abzug der militärischen Garnison aus dem Stadtzentrum um die Mitte der 250er Jahre v.Chr. blieb Athens Politik durch Parteigänger des Antigonos bestimmt. So konnte etwa Demetrios von Phaleron seine politische Karriere durch die Bekleidung von mehreren höheren Ämtern fortsetzen430. Auch scheint es Demetrios gleichzeitig möglich gewesen zu sein, und dies verdeutlicht den Handlungsspielraum der von Antigonos protegierten Athener, innerhalb der Bürgerschaft ein die gängigen Normen erheblich mißachtendes Verhalten an den Tag legen zu können, ohne dafür direkte Konsequenzen durch den dh`mo" befürchten zu müssen431. Einen Einfluß auf die innenpolitische Machtkonstellation wird man auch einflußreichen Personen wie Herakleitos von Athmonon zuzumessen 427 FERGUSON 1911, 191f. skizziert die athenische Lage m. E. zutreffend: The fact was that, with the Piraeus, Salamis, Sunium, and the frontier forts garrisoned, the seas and islands all about held by a victorious fleet, and Chalcis, Megara, and Corinth governed for Antigonus by his half-brother Craterus, Attica was helpless. 428 AGORA XVI n. 197. Dort ist die Rede von der JEllhvnw[n] ejleuqeriva (Z. 3) sowie von einem Antigonos (Z. 1), wobei allerdings die Zuweisung an Gonatas keineswegs sicher ist; siehe dazu den Kommentar von A. G. Woodhead, AGORA XVI 286. Genauere Aussagen zum Inhalt sind aufgrund des fragmentarischen Zustandes der Inschrift weiterhin nicht möglich. 429 Vgl. dazu auch IG II2 n. 774b 12f. (ca. 253/2 v.Chr.), wo die Rede von der ejleuqeriva tou` dhvmou ist. Es handelt sich um ein Bemühen des Aristomachos, ‚Tyrann‘ von Argos, der in diesem Zusammenhange eine größere Summe Geld aufgewendet hat (ebendort Z. 19f.). Da es sich bei dieser Inschrift um ein athenisches Ehrendekret für Aristomachos handelt, sind die sich daraus ergebenden Interpretationsmöglichkeiten des ejleuqeriva-Begriffes insbesondere für die wahrscheinliche Zeit der 250er Jahre vielfältig und können an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. 430 Das Amt des Hipparchen wird angeführt bei Athen. IV 167f (Hegesander); das des Hipparchen sowie das dreimal besetzte Amt des Strategen ist für Demetrios belegt in IG II2 n. 2971. Siehe zur Ämterlaufbahn des Demetrios sowie den damit zusammenhängenden chronologischen Problemen die überzeugende Argumentation von OETJEN 2000, 113–116. 431 Das Fehlverhalten des Demetrios von Phaleron bei den eleusinischen Mysterien fiel in die Zeit, in der dieser den königlichen Schutz genoß, indem Athen. IV 167e–f (Hegesander) sein frevelhaftes Verhalten nach dessen Ernennung zum Thesmotheten durch Antigonos anführt. Nicht zu entscheiden ist freilich, ob diese Entgleisungen vor oder nach 255 v.Chr. geschahen und in welchem zeitlichen Verhältnisse sie zu den ihm verliehenen Ehren in Eleusis standen. Zu diesem chronologischen Komplex siehe insgesamt OETJEN 2000.

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haben, der als Athener Bürger im Dienst des Antigonos das Amt des Piräuskommandaten ausübte, also für den basileuv" den Piräus sicherte432. Dieses Amt, bei dem jener also die Besatzung eines Bereiches seiner Heimatpolis befehligte, wird ihn zwar in einen direkten Gegensatz zum freiheitlichen Streben der Bürgerschaftsmehrheit gebracht haben, jedoch dürfte Herakleitos durch seine vom Herrscher legitimierten Machtkompetenzen gleichzeitig auch eine persönliche Anhängerschaft auf die Seite des Antigonos gebracht haben, was vor dem Hintergrund von mehreren einflußreichen, zugleich promakedonischen Athenern den Zustand einer grundsätzlichen Polarisierung innerhalb des dh`mo" verdeutlichen kann. Dem Könige selbst ist hingegen anhand der Quellen mit der Bestimmung eines Strategen nur in einem Falle ein direktes Eingreifen in die athenische Politik nachzuweisen433, doch muß davon ausgegangen werden, daß es in der ersten Zeit seiner Machtausübung in Athen mehrere ähnliche Fälle gab434 und des weiteren ihm entgegenstehende Bürger kaum ohne seine Zustimmung einen bestimmenden Einfluß in der Polis erlangen konnten435. Trotz der weiterhin bestehenden und praktizierten politischen Ordnung436 dürfte eine mitunter sogar einflußreichere antimakedonische Gruppe aufgrund dieser Machtverschiebung innerhalb der Bürgerschaft nur wenige Möglichkeiten besessen haben, sich gegen den Einfluß des basileuv" zu etablieren. Für die erste Zeit unter Antigonos Gonatas vermitteln die Quellen insgesamt ein Bild der athenischen Bürgerschaft, in dem promakedonische Kräfte das politische Geschehen bestimmen. Wenngleich die politische Organisation weitestgehend unverändert fortbestand437 und eine antimakedonische Gruppe nach der Niederlage im Chremonideischen Kriege innerhalb der Bürgerschaft noch in der Mehrzahl gewesen sein sollte, reduzierte die makedonische Dominanz die politischen Entscheidungsmöglichkeiten erheblich und nahm der politischen Praxis zur Zeit des Antigonos Gonatas438 wesentliche Impulse. Mit der Unfreiheit 432

Zu Herakleitos von Athmonon und dessen Funktion als Militärkommandant des Königs im Piräus HABICHT 1982, 51f. Sein Status als Athener Bürger geht aus IG II2 n. 677 hervor; vgl. dazu IG II2 n. 1225, wo er als Stratege des Piräus genannt wird. 433 EpigrRhamn. n. 8, wo angeführt ist, daß der König Apollodoros von Otryne zum Küstenstrategen bestimmte und dieser darüber hinaus vom dh`mo" der Polis per Handzeichen formal gewählt wurde: [k]atastaqei;" strathgo;" uJpov te tou` basilevw" A j ntigovnou kai; | [uJpo; tou` dhvmou] ceirotonhqei;" ejpi; th;n cwvran th;n paralivan (Z. 7f.); dazu HABICHT 1982, 47f.; TRACY 2003, 18. 434 Vgl. dazu HABICHT 1992, 47–55; TRACY 2003, 19–24. 435 Die athenischen Urkunden der Zeit nach dem Chremonideischen Kriege bezeugen zahlreiche Loyalitätsversicherungen gegenüber dem König; HABICHT 1995, 154 (mit den Quellenund Literaturverweisen); vgl. OETJEN 2000, 115f. 436 HABICHT 1995, 162f. 437 Daß die politische Organisation der Stadt bis auf ganz wenige Veränderungen (siehe dazu HABICHT 1995, 162f.; TRACY 2003, 21–24) fortbestand, ist nicht in Frage gestellt worden; HABICHT 1995, 162; TRACY 2003, 16. Ob allerdings der König, wie HABICHT 1995, 157 meint, „mit der Verfassung Athens nach seinem Gutdünken umspringen konnte“, muß fraglich bleiben. 438 Antigonos Gonatas starb 239 v.Chr. Sein Sohn Demetrios II. folgte ihm auf den makedonischen Thron und damit auch in der Kontrolle der Stadt. Siehe zu Demetrios II. HAMMOND/ WALBANK 1988, 317–336.

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ging auch eine politische Lähmung einher, die hinsichtlich der inschriftlichen Überlieferung daran abzulesen ist, daß der dh`mo" nur noch Routineangelegenheiten beschloß439 und insgesamt kaum eigenständige Aktivität erkennen ließ440. Für die politische Kultur der Polis, die nun für ihre dauerhafte Manifestierung gerade ständiger Impulse bedurfte, haben im Sinne der althergebrachten pavtrio" politeiva während dieser Zeit keineswegs die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten bestanden. Eine Restituierung der noch im Chremonides-Dekret propagierten ejleuqeriva konnte aus Sicht der Bürgerschaft unter den vorliegenden Bedingungen kaum realisierbar gewesen sein, zumal die Überlegenheit des Antigonos in dieser Zeit durch seine außenpolitischen Erfolge nie wirklich in Gefahr geriet441. Athens außenpolitische Möglichkeiten blieben an die Interessen des basileuv" gebunden442, so daß eine aus Sicht der Bürgerschaft notwendige Grundbedingung für eine bestehende ejleuqeriva, nämlich die freie, aus einer kritischen innenpolitischen Auseinandersetzung hervorgehenden Entscheidung über außenpolitische Kontakte und Bündnisse der Polis, nicht gegeben war443. Zu einer scheinbaren Lockerung der Abhängigkeit scheint es dann im Verlaufe der 240er Jahre gekommen zu sein. Zwar standen der Piräus, Sounion und Salamis weiterhin unter makedonischer Kontrolle444, weshalb die Macht des Herrschers auch permanent sichtbar blieb, jedoch dürfte die ejkklhsiva, so legen es die vermehrt überlieferten Dekrete nahe, in dieser Zeit wieder eine zunehmende Bedeutung erlangt haben445. Ein Ausgleich entgegengesetzter Gruppen innerhalb der Bürgerschaft wird unter anderem dadurch sichtbar, daß der Athener Eurykleides, der maßgeblich an der folgenden Befreiung von 229 v.Chr. beteiligt 439 HABICHT 1982, 20–26 zur politischen Aktivität der ejkklhsiva; HABICHT 1995, 160f. betont, daß sich die ejkklhsiva insbesondere mit Routineangelegenheiten wie Ehrungen befaßte, die häufig an Personen gingen, die im Dienste des Königs standen; vgl. dazu IG II2 n. 477. 677. 777. 440 Eine geringfügige Verstärkung der politischen Aktivität der ejkklhsiva sieht Habicht ab dem Ende der 250er Jahre und dann vor allem in den 240er Jahren durch mehrere überlieferte Dekrete des dh`mo"; siehe dazu HABICHT 1982, 24–26. 441 Vgl. HABICHT 1995, 157. 162–166; KRALLI 2003, 63. Letztere mit einem Vergleich zwischen der wieder gewonnenen Freiheit von 287/6 v.Chr. und der Situation der 250er Jahre. Auch sie kommt zu dem Schluß, daß in den 250er Jahren eine veränderte Situation vorlag. Problematisch bleibt bei Kralli allerdings die fehlende kritische Bestimmung der relevanten Termini; so spricht sie von einer Wiedereinführung der Demokratie, die, wie oben gezeigt, in dieser Form in den Quellen nicht angeführt wird, daher auch nur eingeschränkt mit der ejleuqeriva in Beziehung zu setzen ist und somit letztlich eine Sichtweise des dh`mo" unzutreffend widerspiegelt. 442 HABICHT 1995, 162 mit Anm. 33 (Belege); vgl. dazu F ERGUSON 1911, 190f. mit den außenpolitischen Unternehmungen des Antigonos Gonatas und damit verbundenen Einschränkungen der athenischen Bestrebungen. 443 Eine vergleichbare, wenn auch weniger autoritär bedingte Situation sollte unter der römischen Vorherrschaft dann einen dauerhaften Wandel der athenischen Demokratie herbeiführen. Zunächst jedoch konnte Athen mit dem Erlangen der Freiheit von 229 v.Chr. einen neuen Anlauf zur Etablierung von abermaligen freien politischen Verhältnissen beginnen. 444 Plut. Aratos 34,4; Paus. II 8,6; dazu HABICHT 2003, 52f. 445 Siehe dazu HABICHT 1982, 25f.; vgl. DREYER 2001, 51 Anm. 65.

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war und daher als Protagonist einer athenischen Unabhängigkeit gelten kann, bereits in den 240er Jahren ein höheres Amt in der Polis ausgeübt hatte446. Auch dürften die Übergriffe der Achaier unter Aratos auf das attische Gebiet, wodurch diese die Stadt von den Makedonen zu lösen und auf ihre Seite zu bringen versuchten447, eher zu einer Integration der Bürgerschaft geführt haben. Eine solche Rückwirkung wird etwa durch einen ganz ähnlichen Zusammenhang dieser Zeit, nämlich den Übergriff von Alexander von Korinth, deutlich, wodurch die große Epidosis zur „Rettung der Stadt und den Schutz des Landgebietes”448 motiviert wurde, an der sich zahlreiche Bürger und Bewohner der Polis beteiligten449 und die als ein Indiz einer zunehmend eigenständig agierenden Gemeinschaft gewertet werden kann450. Da nach dem Tode des Antigonos und mit dem Herrschaftsantritt seines Sohnes Demetrios II. ab 239 v.Chr. keine neuerlichen Restriktionen gegenüber Athen überliefert sind, der König in der Folgezeit selbst aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen des Demetrischen Krieges unter Druck geriet, ist eine weitere Konsolidierung der innenpolitischen Verhältnisse auch für die Zeit der 230er Jahre naheliegend451. Für die Zeit der makedonischen Dominanz in Athen seit den 250er Jahren wären demnach hinsichtlich des Zustandes und der Entwicklung der Bürgerschaft im wesentlichen zwei Faktoren 446 Zur Rolle und politischen Einstellung des Eurykleides HABICHT 1982, 81. 118–127 (besonders 124). Noch in die Zeit der 250er Jahre dürfte sogar die Ehrung des Phaidros von Sphettos fallen (IG II2 n. 682), der in der Zeit vor dem Chremonideischen Kriege eine führende Rolle in Athen einnahm und kaum zu den Unterstützern einer makedonischen Vorherrschaft gehörte; siehe dazu HABICHT 1995, 158f. Vgl. zu den zunehmenden diplomatischen Beziehungen der Athener in den 240er Jahren HABICHT 1995, 162f. 447 Plut. Aratos, 24,3; dazu URBAN 1979, 51–54. 448 IG II2 n. 791 15–19: tou;" boulomevnou" tw`[n] politw`n kai; tw`n a[l|lwn tw`n oijkouvntwn ejn th`i povlei ejpididov[na]i eij" th;n swthriva|n th;" povlew" kai; th;n fulakh;n th`" cwvra" ej[n] tw`i dhvmwi h] ejn th`i b|oulei` h] pro;" tou;" strathgou;" ajpograya[m]evnou" mevcri tou` Mo|uniciw`no" (nach MIGEOTTE Souscriptions n. 17). Zur Zuweisung dieser Epidosis in die Zeit der Auseinandersetzung mit Alexander von Korinth am Beginn der 240er Jahre siehe jetzt HABICHT 2003, 54f. Vgl. zu einigen Modifikationen der athenischen Chronologie für diese Zeit weiterhin M. J. OSBORNE, Shadowland: Athens under Antigonos Gonatas and his successor, in: PALAGIA/TRACY 2003, 67–75 449 Siehe dazu HABICHT 1982, 26–33; MIGEOTTE Souscriptions 28–34; jeweils mit der Einschränkung, daß die Epidosis nicht mehr in dem Zusammenhange mit den Übergriffen von Aratos auf attisches Gebiet zu sehen ist, sondern in den Konflikt mit Alexander von Korinth datiert. 450 Inwieweit auch die Übergriffe des Achaiischen Bundes unter Aratos auf Attika von der Bürgerschaft mehrheitlich als Bedrohung der Polis aufgefaßt wurden, kann aufgrund der Quellenlage nicht genauer beurteilt werden. Zur athenischen Geschichte der 240er und 230er Jahre siehe HABICHT 2006, 176–184; I. KRALLI, Aspects of Athenian Military Command under the Antigonids (262–229 B.C.), Athenaeum 84, 2006, 543–561(jeweils mit weiterer Literatur). Vgl. dazu demnächst grundlegend R. OETJEN, Die Garnisonsinschriften und die Geschichte Athens im dritten Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 2008. 451 Demetrios II. sah sich in diesem Krieg einer Koalition von Aitolern und Achaiern gegenüber. Zu den Ereignissen hinsichtlich Attika HABICHT 1982, 57–59. HABICHT 1995, 167; vgl. HAMMOND/WALBANK 1988, 326–327. Die Aufhebung der makedonischen Besatzung in Eleusis fällt wohl nicht in diese Zeit, sondern in die Mitte der 250er Jahre; dazu jetzt HABICHT 2003, 53.

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zu beachten: Zum einen bestand ein dauerhafter äußerer Druck aufgrund der Dominanz des Antigonos Gonatas und der makedonischen Truppen, womit für eine promakedonische Gruppe innerhalb des dh`mo" eine Einflußmöglichkeit gegeben war. Zum anderen kann eine allmähliche Konsolidierung des nach der Niederlage im Chremonideischen Kriege zunächst gespaltenen dh`mo" konstatiert werden, die wiederum zu einer langsamen Integration der Bürgergemeinschaft führte. Beide Faktoren sind in Abhängigkeit von der Dauer der makedonischen Vorherrschaft von mehr als 30 Jahren zu verstehen, wobei ein nachlassender makedonischer Druck eine Integration der Bürgerschaft förderte, dabei aber gleichzeitig einen radikalen Umschwung unterband. Innerhalb dieses Zeitraumes von einer Generation konnte sich damit langsam wieder ein gemeinschaftlicher politischer Interessenschwerpunkt der sich konsolidierenden Bürgergemeinschaft herausbilden, der schließlich nach der Befreiung von 229 v.Chr. deutlich hervortrat. Athen um und nach 229 v.Chr. Die Schwächung des makedonischen Königtums mit dem Tode des Demetrios II. brachte den Athenern die Möglichkeit, sich der verbliebenen Besetzung in Attika zu entledigen. Im Gegensatz zur vorherigen Zeit wurde die ejleuqeriva in diesem Falle jedoch nicht durch eine militärische Auseinandersetzung erreicht, sondern vollzog sich auf diplomatischem Wege, indem die Athener durch Verhandlungen mit dem Kommandanten der Besatzung im Piräus, einem Diogenes, die Rückgabe der Festungen an den dh`mo" mit einer Zahlung von 150 Talenten erlangten452. Während Plutarch und Pausanias dem achaiischen Staatsmanne Aratos bei der Befreiung sowohl diplomatisch als auch finanziell die zentrale Rolle zuschreiben, hat Christian Habicht diese dahingehend relativiert, daß beide Autoren ihre Angaben vor allem aus den Hypomnemata des Aratos selbst übernommen hätten, dieser aber seinen persönlichen Einsatz bisweilen übermäßig stark hervorhob453. In der Forschung wurde weiterhin die Annahme vertreten, daß Ptolemaios III. Euergetes für die Befreiung eine finanzielle Unterstützung geleistet habe454, was jedoch durch Quellen weder direkt noch indirekt zu belegen ist455. Dementsprechend wäre also vor allem die Rolle der Bürgerschaft bei der Befreiung in besonderer Weise zu berücksichtigen. Eine entsprechende Initiative hierzu scheint von den Athenern Eurykleides und Mikion ausgegangen zu sein, wie das spätere 452 Plut. Aratos 34, 4–5; Paus. II 8,6; IG II2 n. 834 10–14 (Ehrendekret des Eurykleides). Die Summe war im wesentlichen als Zahlung an die Soldaten bestimmt. Es ist möglich, daß Diogenes selbst Athener Bürger war; dazu HABICHT 1995, 176. Vgl. zu den Ereignissen von 229 v.Chr. allgemein HABICHT 1995, 176–181. 453 HABICHT 1982, 79 mit Anm. 3. Siehe zudem Aratos FGrHist 231 F3 mit dem Kommentare von F. Jacoby. Daß mit dieser finanziellen Aufwendung von außerhalb Einfluß auf die politischen Vorgänge innerhalb der Polis genommen worden ist, steht außer Frage. Strukturelle Veränderungen der Demokratie sowie eine dauerhafte Abhängigkeit der Athener von Aratos lassen sich daran aber keineswegs festmachen, zumal die Polis alsbald ein Hilfegesuch des Achaiischen Bundes ausschlug (dazu im folgenden). 454 Siehe HABICHT 1995, 177 mit Literatur. 455 Dazu deutlich HABICHT 1995, 177.

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Ehrendekret für ersteren nahelegt456. In der Aufzählung seiner Verdienste heißt es ebendort, Eurykleides habe zusammen mit seinem Bruder Mikion die ejleuqeriva der Polis wiederhergestellt und zudem das Geld für die Auszahlung an die im Piräus stationierten Soldaten herbeigeschafft457. Es kann hiernach festgehalten werden, daß Eurykleides im Zusammenwirken mit seinem Bruder Mikion bei der Wiedergewinnung der Freiheit eine zentrale Rolle zukam. Für eine genauere Bewertung der Rolle dieser Brüder bedarf es jedoch insbesondere der Berücksichtigung der athenischen Bürgerschaft. Da zu der Zeit, als das Ehrendekret beschlossen wurde, die ejkklhsiva unter keiner außenpolitischen Abhängigkeit stand458 und Eurykleides seine Maßnahmen in Übereinstimmung mit den Bestrebungen der Bürgerschaftsmehrheit durchgeführt hatte, kann ausgeschlossen werden, daß sein Einsatz und seine Verdienste im Gegensatz zur Polis standen. Hierdurch muß aber gleichsam gefolgert werden, daß Eurykleides bei seinen Leistungen auch mit einer Legitimation des dh`mo" handelte, weshalb er als ein – gleichwohl entscheidender – Wortführer des gemeinschaftlichen Bestrebens anzusehen ist. Eine herausragende Rolle der gesamten Bürgerschaft wird zudem dadurch gestützt, daß ein wohl großer Teil der 150 Talente für die ejleuqeriva von der Bevölkerung der Stadt selbst aufgebracht wurde459. Daß dementsprechend auch die gesamte Bürgerschaft sich mit der Wiederherstellung der ejleuqeriva identifizieren konnte, belegen Dekrete aus der attischen Festung Rhamnous, die – in diesem Falle auch terminologisch zutreffend – von einer wiedererlangten pavtrio" ejleuqeriva sprechen460. Die dargelegte Sichtweise fügt sich stichhaltig an das zuvor angeführte Bild einer in der Zeit der makedonischen Vorherrschaft sich bereits verstärkt konsolidierenden Bürgerschaft. Das Erreichen der ejleuqeriva von 229 v.Chr. ist demnach vor dem Hintergrunde eines weitgehend einheitlich handelnden athenischen dh`mo" zu verstehen, womit dann allerdings diese historische Situation deutlich von den Bedingungen der wiedererlangten Freiheit in den Jahren 307 v.Chr. und 287 v.Chr. zu unterscheiden wäre. Während bei den vorherigen Befreiungen jeweils offensichtliche Auseinandersetzungen innerhalb der Bürgerschaft eine wesentliche Rolle im Vorgehen gegen die makedonische Besatzung spielten, gleich456

IG II2 n. 834. IG II2 n. 83410–14: kai; th;n ejleuqerivan ajpokatevsths[en th`i povlei me]|ta; tou` ajdelfou` Mikivwno", meta; tou;" ajp[odovnta" to;n Pei]|raia` kai; ta; eij" to;n stevfanon toi`" stra[tiwvtai" toi`"] | ajpokatasthvs[[as]]asin meta; Diogevnou[" ta; frouvria crhvma]|ta ejpovrisen. 458 HABICHT 1982, 118–127 datiert das Ehrendekret in die Zeit um 215 v.Chr.; vgl. dazu GAUTHIER 1985, 83. 459 Die Aufwendungen für die Freiheit überliefern – wenngleich fragmentarisch – IG II2 n. 835. 786; dazu HABICHT 1982, 81. 460 EpigrRhamn. n. 22 : o{te oJ dh`]mo" ejkomivsato th;n pav |[trion ejleuqerivan k]ai; (…). 2f. EpigrRhamn. n. 267f.: [o{te oJ dh`]|mo" ejkomivsato th;n pavtr[io]n ejl[euqeriv]an (…). HABICHT 1982, 81f. nimmt an, es könne sich in n. 22 auch um die pavtrio" politeiva handeln. Der gleiche Wortlaut in n. 26 zeigt jedoch, daß es sich bei der Ergänzung vielmehr um die pavtrio" ejleuqeriva handeln sollte, wohingegen für eine Ergänzung mit pavtrio" politeiva nach der derzeitigen Quellenlage m. E. keine überzeugenden Argumente vorzubringen wären. Vgl. nunmehr TRACY 2003, 24f.; KRALLI 2003, 63. 457

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zeitig auch militärische Aktionen gegen die Besatzung durchgeführt wurden und darüber hinaus der Ausgangspunkt einer innenpolitischen Stabilisierung erst mit der Befreiung selbst erlangt werden mußte, stehen die Ereignisse von 229 v.Chr. unter gänzlich anderen Vorzeichen, nämlich einer vorherigen Festigung der Bürgerschaft und damit verbunden auch dem Ausbleiben von innenpolitischen Spannungen und einem militärischen Vorgehen461. Der diplomatische Erfolg eines Abzuges der makedonischen Truppen darf somit sogar als zusätzlicher Impuls einer bereits bestehenden innenpolitischen Konsolidierung in dieser Zeit verstanden werden. Daß mit den Veränderungen von 229/8 v.Chr. in Athen keine Restitution der dhmokrativa einher ging, sondern der zurückgewonnene außenpolitische Handlungsspielraum eine Erweiterung des politischen Betätigungsfeldes der Polis bedeutete, wird neben der Kontinuität der demokratischen Institutionen auch aus der von der Bürgerschaft eigens gewählten Begrifflichkeit für die Ereignisse von 229 v.Chr. deutlich: In bezug auf die Befreiung ist eben nicht von der Wiedererlangung einer dhmokrativa die Rede, sondern freilich gerade von der einer ejleuqeriva, an deren Restitution Eurykleides und Mikion einen maßgeblichen Anteil besaßen462, die ganz durch den dh`mo" wiederhergestellt wurde463 und die schließlich auch Plutarch als Charakterisierung der veränderten Situation anführt464. Ein in dieser Zeit beschlossenes Dekret465, wonach nämlich zukünftig diejenigen Personen vom dh`mo" Ehren erhalten sollten, die entweder Tropaia zu Lande oder zu Wasser aufstellten oder die ejleuqeriva (sic!) wiederherstellten, ihr Vermögen für die Rettung der Gemeinschaft aufwendeten oder aber Euergeten oder förderliche Ratgeber geworden waren466, bekräftigt die dargelegte zentrale Bedeutung der ejleuqeriva ganz vortrefflich. Die berücksichtigten Aspekte verweisen den bisherigen Beobachtungen zur ejleuqeriva entsprechend insbesondere auf den Handlungsspielraum und die Darstellungsmöglichkeiten der eigenen Polis nach außen, wenngleich „Aufwendungen des eigenen Vermögens zur Rettung der Gemeinschaft“ durchaus auch auf innere Auseinandersetzungen bezogen werden konn461 In der vorhergehenden, inneren Konsolidierung kann sicherlich auch ein Grund gesehen werden, weswegen die Athener bei der Befreiung nicht auf militärische Mittel zurückgegriffen, sondern einen diplomatisch sinnvollen Zeitpunkt für dieses Bestreben abzuwarten vermochten. 462 IG II2 n. 834 . 10 463 EpigrRhamn. n. 22 . 26 . TRACY 2003, 25 meint zu der dort angeführten pavtrio" ejleu2f. 7f. qeriva, sie sei anderswo in attischen Inschriften nicht belegt „and seems to be more than usual political rhetoric“. Die ‚übliche politische Rhetorik‘ wird von Tracy leider nicht genauer charakterisiert. 464 Plut. Aratos 34,3f.: oiJ de; A j qhnai`oi (…) w{rmhsan ejpi; th;n ejleuqerivan. Vgl. dazu Paus. II 8,6. 465 IG II2 n. 832. 466 IG II2 n. 832 12–21(229/8 v.Chr): ejpeidh; kai; [oiJ] novmoi pr[os]tavttous[i]n, o{sou["] | oJ d[h`m]o" oJ [ A j q]hnaivwn tr[ov]paia [st]hvs[an]ta" h] kata; gh`n h] | ka[ta;] qav[la]tt[a]n h] th;n ej[l]euq[er]iva[n ejp]anorqwvsanta" | h] th;n [ij]divan ouj[s]iva[n eij]" t[h;n] k[o]in[h;]n [s]wthrivan qevnta" | h] euje[r]gev[t]a["] kai; [sum]bouvlou" ajgaqou;" genomevnou" | ejtivmhs[en s]ivtwi ejn prºutaneivwi, ejpimelei`sqai aujtw`n | [k]ai; ej[g]g[ovnwn t]h;n [b]oulh;n kai; to;n dh`mon, didovnai de; kai; | qug[at]evrw[n] e[ij]" e[gªdosºin to;n ªdh`ºmon pªroi`ºka ªo{ºshn a[n bouv|lªhºtªaºi kai; eij" ejpa[n]ovr[q]wsi[n tw`n] ijdivw[n] k[a]t j ajxivan eJkav[s]|t[o]i["] tw`n eujergethmavtwn. Siehe dazu HABICHT 1982, 83 mit Anm. 25.

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ten. Die ejleuqeriva ist also im Zusammenhang von 229 v.Chr. als spezifischer politischer Terminus der Bürgerschaft verwendet, der sich vor dem Hintergrund der mit der Befreiung einhergehenden historischen Situation eindeutig von der dhmokrativa unterscheidet und, so belegen die Quellen, entsprechend seiner inhaltlichen Bedeutung auch von der Bürgerschaft gebraucht wurde467. Dieser aus athenischer Sicht notwendigen Bedeutungsdifferenzierung folgte schließlich auch Polybios bei der Wahl seiner Begrifflichkeit und der Bewertung der Ereignisse sehr genau, indem er anführt, daß Athens zurückgewonnene ejleuqeriva nach 229 v.Chr. der Bürgerschaft auch außenpolitisch eine selbstbestimmte Handlungsweise einbrachte468. Insbesondere das Dekret zur Ehrung von zukünftig um die Polis sich verdient machenden Personen zeigt, daß der dh`mo" die Rückgewinnung der ejleuqeriva als ein herausragendes und einschneidendes Ereignis beurteilte. Auch die mit dem Archon von 230/229 v.Chr. begonnene neue Archontenliste469 spiegelt, wie Christian Habicht hervorgehoben hat470, das Bewußtsein einer am Beginn eines neuen historischen Abschnittes stehenden Gemeinschaft wider. In gleicher Weise unterstreicht die Einrichtung eines Agons für die ejleuqeriva durch den Athener Eurykleides die aufgehobenen Beschränkungen des politischen Handlungsspielraumes und erinnerte durch den nahezu identischen Wortlaut und die inhaltliche Übereinstimmung mit der Stiftung eines ebensolchen Agons durch Philippides nach der Befreiung von 287 v.Chr. an eine – wenngleich für die Polis nicht identische, jedoch freilich direkt vergleichbare – frühere Situation471. Personifiziert wurde die Befreiung in der darauffolgenden Zeit mehr und mehr mit der Person des bereits oben angeführten Festungskommandanten Diogenes. Dieser war durch sein, aus athenischer Sicht vorbildhaftes Verhalten bei den Verhandlungen über den Abzug der makedonischen Truppen durch die Gunst der Bürgerschaft zu hohen Ehren gekommen. Durch das 229/8 v.Chr. beschlossene Dekret zur Ehrung verdienter Personen kann angenommen werden, daß er das Vorrecht der Speisung auf Staatskosten im Prytanaion erhielt472 und ihm weiterhin auch das athenische Bürgerrecht zugestanden wurde473. 467 KRALLI 2003, 63 interpretiert diese Freiheit der Athener als eine politische Autonomie; der Begriff der aujtonomiva wird in diesem Zusammenhange jedoch in den Quellen nicht gebraucht. 468 Polyb. V 106,6: A j qhnai`oi de; tw`n ejk Makedoniva" fovbwn ajpelevlunto kai; th;n ejleuqerivan e[cein ejdovkoun h[dh bebaivw". 469 IG II 2 n. 1706. Siehe zu vergleichbaren Neuanfängen von eponymen Listen HABICHT 1982, 79f. mit Anm. 5. 470 HABICHT 1982, 79f. mit Anm. 4. 5; ebendort auch mit den Verweisen auf vergleichbare Neuanfänge von eponymen Listen. 471 HABICHT 1995, 183; IG II2 n. 834 2 23f. (Eurykleides-Dekret); IG II n. 65743–45 (PhilippidesDekret). 472 HABICHT 1995, 182. 473 Da seine Tochter in eine athenische Familie einheiratete, mußte ihm als Vater entsprechend dem athenischen Rechte das Bürgerrecht verliehen worden sein; dazu HABICHT 1982, 83; GAUTHIER 1985, 63–66. Zu weiteren Ehrungen für Diogenes zählte etwa der Ehrensitz im Theater (IG II2 n. 5080); vgl. HABICHT 1982, 83; GAUTHIER 1985, 63–65.

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Nach der Befreiung, in den 20er Jahren des 3. Jhs. v.Chr., waren die Athener Mikion und Eurykleides die scheinbar prominentesten Politiker der Stadt. Ihre Rolle wurde in der Forschung häufig nach der Bewertung des Polybios474 beurteilt, weshalb man ihnen einen sehr bestimmenden Einfluß auf die athenische Politik zumaß475. Der megalopolitanische Historiker kritisierte bei seiner Bewertung insbesondere die fehlende athenische Parteinahme für den Achaiischen Bund, als dieser in den 220er Jahren in den Auseinandersetzungen mit den Spartanern unter Kleomenes vor einer existentiellen Bedrohung stand476. Gerade der Agitation des Eurykleides und Mikion sei es zuzurechnen gewesen, so Polybios, daß die anfänglich durchaus positive Stimmung der Athener gegenüber einem achaiischen Hilfsgesuch ins Negative umschlug477. Dieser Sicht zufolge warf Polybios der athenischen Bürgerschaft vor, Beschlüsse nur nach dem Willen der führenden Männer umgesetzt, sich zudem bei Ptolemaios angebiedert und somit letztlich eine Würdelosigkeit gegenüber den hellenischen Interessen gezeigt zu haben478. Im besonderen resultierte sein Urteil dabei wohl aus der fehlenden militärischen Unterstützung der Athener, weshalb der Achaiische Bund nunmehr sogar ein Bündnis mit dem ehemaligen Gegner, den Makedonen, eingehen mußte. Dieses kaum wünschenswerte Zweckbündnis sowie auch die folgende Zerstörung der Heimatstadt des Polybios durch die Spartaner unter Kleomenes dürften insgesamt Polybios’ Urteil über das vorherige athenische Verhalten erheblich beeinflußt haben, so daß seine negative Wertschätzung der athenischen Bürgerschaft in dieser Hinsicht zu relativieren wäre479. Zudem ist auch die Rolle der Brüder aus Kephisia und deren Bezeichnung als Athens prostavtai, so Polybios, dahingehend zu verstehen, daß dieser charakterisierende Begriff keiner offiziellen Terminologie der Polis folgte, sondern einzig auf die ihnen von Polybios zugeschriebene Stellung hindeutet. Durch diese Art der Kennzeichnung wird nun gleichsam die Stellung der Bürgerschaft nicht unerheblich verringert 474

Polyb. V 106,6f.: crwvmenoi [scil. oiJ A j qhnai`oi] de; prostavtai" Eujrukleivda/ kai; Mikivwni tw`n me;n a[llwn JEllhnikw`n pravxewn oujd j oJpoiva" metei`con, ajkolouqou`nte" de; th`/ tw`n proestwvtwn aiJrevsei kai; tai`" touvtwn oJrmai`" eij" pavnta" tou;" basilei`" ejxekevcunto, kai; mavlista touvtwn eij" Ptolemai`on. 475 HABICHT 1982, 127 spricht von einem „Regiment der Brüder Eurykleides und Mikion“, wenngleich er ihre Leistungen dem staatlichen Rahmen unterordnet und nicht im Gegensatze zur Demokratie sieht. Bereits FERGUSON 1911, 237 spricht von dem „régime of Eurykleides and Micion“, was natürlich hinsichtlich des ebendort auch angeführten „Macedonian régime“ zu gewissen Mißverständnissen führen könnte. DREYER 2001, 54 meint hinsichtlich der Polybiosangabe, daß die beiden Athener sich den maßgeblichen politischen Einfluß in der Stadt gesichert hatten. Zu den weiteren Ausführungen von DREYER 2001 und dem von ihm angeführten „Ende der klassischen Demokratie“ siehe das Folgende. 476 Dazu ausführlich URBAN 1979, 117–214. 477 Plut. Aratos 41,2: kai; th;n A j qhnaivwn povlin cavriti tou` A j ravtou provqumon ou\san oiJ peri; Eujrukleivdhn kai; Mikivwna diekwvlusan. Vgl. dazu HABICHT 1995, 178. 478 Polyb. V 106,6–8: A j qhnai`oi (…) ajkolouqou`nte" de; th`/ tw`n proestwvtwn aiJrevsei kai; tai`" touvtwn oJrmai`" eij" pavnta" tou;" basilei`" ejxekevcunto, kai; mavlista touvtwn eij" Ptolemai`on, kai; pa`n gevno" uJpevmenon yhfismavtwn kai; khrugmavtwn, bracuvn tina lovgon poiouvmenoi tou` kaqhvkonto" dia; th;n tw`n proestwvtwn ajkrisivan. 479 HABICHT 1995, 178–181.

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und der dh`mo" als dem Willen und den Initiativen des Eurykleides und Mikion folgend hingestellt, so daß wiederum das Bild einer den Vorgaben dieser Bürger folgenden Masse evoziert wird480. Gleichzeitig verweist aber die von Polybios verwendete Terminologie gerade auch auf den verfassungsrechtlichen Rahmen, der mit den entsprechenden Entscheidungen einhergegangen sein muß, denn Polybios spricht zum einen von den A j qhnai`oi, also der Bürgerschaft, die gegen eine Beteiligung an den achaiischen Unternehmungen gestimmt hätten, und zum anderen führt er die yhfivsmata und Proklamationen auf, die ebenfalls auf einen rechtmäßigen Entscheidungsprozeß innerhalb der ejkklhsiva verweisen481. Selbst wenn die Entscheidung gegen eine Unterstützung des Achaiischen Bundes aus Sicht des Polybios und vieler Bundesmitglieder unverständlich und inakzeptabel gewesen sein mochte, liegt in der Polybiosaussage doch ein klarer Hinweis darauf, daß die athenische politische Praxis dieser Zeit im Rahmen der demokratischen Organisation der Polis abgelaufen sein muß, wobei sich – wie in der politisch-demokratischen Praxis im freien Athen üblich – gerade diejenigen Bürger durchzusetzen vermochten, die durch ihre persönliche Stellung und ihre politischen Fähigkeiten die Mehrheit des dh`mo" auf ihre Seite zu bringen in der Lage waren. Hierin nun scheinen Eurykleides und Mikion erfolgreich gewesen zu sein, wenn nämlich Plutarch schildert, daß die A j qhnai`oi zuvor durchaus noch gewillt waren, dem Achaiischen Bund eine Unterstützung zukommen zu lassen482, dann aber durch das Brüderpaar von einer für die eigene Polis wohlmöglich konstruktiveren Maßnahme überzeugt wurden. Darüberhinaus zeigt dieser Zusammenhang, daß es in der Bürgerschaft zu dieser Zeit wieder verschiedene politische Lager gegeben haben muß und daher die politische Auseinandersetzung innerhalb der ejkklhsiva und innerhalb der politischen Organisation kultiviert war. Insofern darf die Charakterisierung von Eurykleides und Mikion als prostavtai der A j qhnai`oi dann auch im Sinne einer demokratischen Meinungsfindung und Betonung der persönlichen Fähigkeiten aus athenischer Sicht durchaus positiv verstanden werden, während Polybios ganz offensichtlich eine persönlich motivierte, entgegengesetzte Sichtweise vertrat. Neben den Angaben des Polybios weist zudem die Ehrung des Eurykleides auf den notwendigen demokratischen Rahmen der Entscheidungsfindung sowie auf die Bürgerschaft als Entscheidungsträger innerhalb der Polis hin. Wie bereits verdiente Athener vor ihm im 3. Jh. v.Chr. so erhält auch Eurykleides gegen Ende seiner politischen Laufbahn eine Lebenswerkehrung483. Von der Bürgerschaft 480

Diesem Bild ist zuletzt, wie angeführt, DREYER 2001, 54. 65 gefolgt. Polyb. V 106,7f. 482 Plut. Aratos 41,2. 483 HABICHT 1982, 118–127 datiert diese Ehrung überzeugend in die Zeit um 215 v.Chr. Wenngleich Eurykleides auch in den folgenden Jahren noch politisch aktiv war, so bekleidete er bereits Mitte der 240er Jahre ein hohes Amt in der Polis und wurde wahrscheinlich in der Zeit um 280–275 v.Chr. geboren – zur Zeit seiner Ehrung dürfte er daher das 60. Lebensjahr bereits erreicht haben. Vgl. zu den Lebensdaten des Eurykleides HABICHT 1982, 121f. Die in diesem hohen Lebensalter verliehene Ehrung steht damit „in einer Reihe mit mehreren gleichartigen Dekreten, denen allen eben dieses Moment (und damit zugleich ein relativ hohes Alter der so ausgezeichneten Bürger) gemeinsam ist“, wie HABICHT 1982, 124 überzeugend urteilt (ebendort mit den entsprechenden Vergleichen); vgl. hierzu auch GAUTHIER 1985, 82f. 481

I.3. dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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wurde dabei nicht das Einzelverdienst, sondern die Summe der Handlungen und des dauerhaften Einsatzes eines Bürgers für dh`mo" und Polis geehrt. Persönliche Fähigkeit und Einfluß des Geehrten müssen hierbei fraglos die notwendige Voraussetzung zum Erlangen einer herausragenden Stellung gewesen sein, jedoch bot schließlich erst die Akzeptanz des Handelns durch die bürgerliche Gemeinschaft den entscheidenden und unmißverständlichen Bewertungsmaßstab einer solchen Ehrung. Diesem Maßstab hatte sich auch Eurykleides während seiner Karriere gestellt und konnte ihm anscheinend vollauf genügen. Seine Stellung innerhalb der Bürgerschaft ist dementsprechend vor allem aufgrund einer vollständigen Einbindung in die gängige politische Organisation und Praxis der Polis sowie einer umfangreichen Akzeptanz innerhalb des dh`mo" zu verstehen und darf daher als weiteres Indiz für eine ausgebildete demokratische Praxis gelten. Das außenpolitische Verhalten der athenischen Bürgerschaft in den 220er Jahren wird in der Forschung zumeist als ‚neutral‘ bezeichnet484, wenngleich die Bemühungen um eine Annäherung an den ptolemaiischen Hof unverkennbar sind und damit eine gewisse Parteinahme nicht übersehen werden kann485. Allerdings vermied es der dh`mo" in dieser Zeit, Bündnisse oder bündnisähnliche Verpflichtungen einzugehen, die die Stadt in eine direkte Konfrontation zu den Makedonen gebracht hätten486. Bedrohlich für die athenische Außenpolitik dürfte sich in den 220er Jahren dann jedoch das Bündnis des Achaiischen Bundes mit Antigonos Doson entwickelt haben487. Aufgrund der vorherigen Ablehnung des achaiischen Hilfegesuches bestand nunmehr ein offensichtliches Gefahrenpotential für Athen, indem mit dem Zusammengehen der Makedonen und Achaier eine Umklammerung der Polis offensichtlich wurde488. Daß die Athener darin auch eine Bedrohung ihrer ejleuqeriva gesehen haben müssen, braucht aufgrund der Erfahrungen der vorangegangenen, nunmehr fast einhundert Jahre nicht weiter begründet zu werden. Eine Annäherung an Ptolemaios III. Euergetes in den 20er Jahren scheint sodann als Maßnahme athenischer Sicherheitspolitik verständlich489, zumal daraus kaum eine umfangreichere Abhängigkeit von den Ptolemaiern und somit wiederum eine etwaige Aufgabe der errungenen ejleuqeriva gefolgert zu werden braucht, denn der außenpolitische Handlungsspielraum und die Souveränität der

484

Siehe hierzu allgemein HABICHT 1995, 188–196; vgl. PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 444–

462. 485

HABICHT 1995, 178f. 181. 184–186; vgl. HABICHT 1994, 145–148. HABICHT 1995, 179f. führt diesbezüglich an, daß sich die Athener nach 229 v.Chr. nicht auf die Seite der Aitoler stellten, die, durchaus erfolgreich agierend, in einer direkten Auseinandersetzung mit den Makedonen standen. 487 Zum Zusammengehen des Achaiischen Bundes mit Antigonos Doson im Jahre 224 v.Chr. siehe URBAN 1979, 135–159; HAMMOND/WALBANK 1988, 345–354. Die Quellen sind zusammengestellt in STAATSVERTRÄGE III n. 507. 488 HABICHT 1982, 110–112; HABICHT 1995, 181. Zu diesem Bündnis von 224 v.Chr. gehörten weiterhin der Boiotische Bund und Staaten in Nordgriechenland, wodurch eine Isolierung Athens noch offensichtlicher hervortrat. 489 HABICHT 1995, 181. 486

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Erstes Kapitel: Athen

Athener wurden hierdurch keineswegs eingeschränkt490. Die Stadt befand sich bisweilen aber auch in einer ähnlichen Situation wie bereits 307 v.Chr., als nur durch einen äußeren Sicherheitsgaranten die gewonnene Freiheit garantiert werden konnte491. Es ist daher sicher kein Zufall, daß Ptolemaios III. in den Mitte der 220er Jahre492 in ganz ähnlichem Umfange Ehrungen erhielt, wie sie die Athener bereits für Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes beschlossen hatten: Eine neu eingerichtete, dreizehnte Phyle wurde nach dem basileuv" benannt und die damit verbundenen Maßnahmen wie die Umgestaltung der Phylenorganisation vorgenommen; weiterhin wurde dem König ein Fest, die Ptolemaia, gestiftet und zu Ehren seiner Frau Berenike ein neuer dh`mo" geschaffen493. Der Vergleich der Ehrung für Ptolemaios mit derjenigen für Demetrios Poliorketes und Antigonos Monophthalmos erlaubt darüber hinaus Einblicke in den Umgang und das Verständnis der Bürgerschaft bezüglich dieser Auszeichnung. Wie oben bereits für die Ehrung von 307 v.Chr. für Demetrios und Antigonos gezeigt wurde, hielten die Athener trotz der darauffolgenden Bestrebungen von Demetrios zwischen (spätestens) 292 v.Chr. und 287 v.Chr. gegen die athenische Bürgerschaft an den vormals verliehenen Auszeichnungen fest. Dies läßt nun sicherlich erkennen, daß die Bürgerschaft ihre rechtmäßig beschlossenen Dekrete achtete und somit die eigene Tradition bewußt respektierte. Gleichzeitig zeugt dieses Verhalten aber auch von einem hohen Reflektionsgrad der entsprechenden politisch-historischen Zustände und Bedingungen, unter der die Entscheidung getroffen wurde494. Da nun Ptolemaios III. in Athen ganz ähnliche Ehrungen erhielt wie die, die Antigonos und Demetrios zuteil wurden495, und zudem keine Hinweise auf einen äußeren Zwang für diese Ehrungen bestehen, dürften die Athener auch hierdurch einen entsprechenden persönlichen Einsatz für das Wohl der Polis bedingt durch die äußeren Umstände honoriert haben496. Daß diese Ehrungen dann nicht im Widerspruch, sondern im Einklang mit dem ejleuqeriva-Verständnis der Bürgerschaft standen, legt insbesondere deren Fort490 Dieses wird durch Athens weiteres außenpolitisches Wirken im ausgehenden 3. Jh. v.Chr. nahegelegt; siehe dazu das Folgende sowie HABICHT 1982, 127–142. 491 Im Unterschied zur gewonnenen Freiheit im ausgehenden 4. Jh. v.Chr., als diese 307 v.Chr. erst durch die Hilfe von Demetrios Poliorketes und Antigonos Monophthalmos ermöglicht wurde, erreichte die Stadt 229 v.Chr. die ejleuqeriva weitestgehend aus eigener Kraft. 492 Zur Datierung HABICHT 1982, 107–111. 493 Siehe zu den Ehrungen OSBORNE 1983, 93f; HABICHT 1982, 105–112. Neben anderen Hinweisen zur Datierung dieser Ehren in die Mitte der 220er Jahre führt Habicht als Hintergrund vor allem ein Erstarken der Makedonen und die Gründung eines Bundes bestehend aus Makedonen, Boiotern und Achaiern im Jahre 224/3 v.Chr. an. 494 Den Athenern wird hinsichtlich der Situation von 307 v.Chr. durchaus bewußt gewesen sein, daß sie ihre Freiheit damals ohne das Eintreten von Demetrios und Antigonos nicht hätten erreichen können, sie also mit einer Aufhebung der Ehrung auch den historischen Vorgang und damit die eigene, in diesem Falle positive Tradition erheblich verklärt hätten. 495 Vgl. dazu HABICHT 1982, 107, der die Übereinstimmungen zwischen der Ehrung des Ptolemaios, der der Makedonen von 307 v.Chr. und der noch näher zu behandelnden des Attalos I. aufführt. 496 Vgl. HABICHT 1982, 107–109.

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dauer bis weit in die Kaiserzeit nahe497. Trotz der Gemeinsamkeiten muß als wesentlicher Unterschied dieser Ehrungen hervorgehoben werden, daß Demetrios und Antigonos gerade aufgrund ihrer aktiven Unterstützung bei der Restitution von dh`mo" und ejleuqeriva geehrt wurden. Der Einsatz des Ptolemaios, wie im übrigen auch der folgende des Attalos, bezog sich dagegen gerade nicht auf eine solche Wiederherstellung eines inneren oder äußeren status quo ante, da dieser zuvor eigenständig erreicht worden war, so daß hierdurch ein direkter innenpolitischer Bezug der Ehrung ausbleibt. Vielmehr trugen Ptolemaios wie später auch Attalos zunächst ‚nur‘ zu einer Sicherung der athenischen ejleuqeriva bei. Den Gemeinsamkeiten der Ehrungen für Antigonos und Demetrios und derjenigen für Ptolemaios und später für Attalos steht also ein auf die innen- und außenpolitische Situation bezogener struktureller Unterschied gegenüber: Im Falle des Ptolemaios und des Attalos nutzten die Athener die Ehrung demnach als Instrument einer außenpolitischen Absicherung, ohne damit ein direktes Eingreifen des Königs bezüglich einer Restitution von dh`mo" oder ejleuqeriva zu honorieren. Einrichtung des Dh`mo"-Kultes Auf die Ereignisse der Befreiung von 229 v.Chr. und Athens darauffolgende politische Situation ist in der Forschung die Einrichtung des Heiligtums für den Dh`mo" und die Chariten bezogen worden498. Christian Habicht hat diesem Heiligtum und dem dazugehörigen Kult sogar eine Bedeutung „als ideologisch-religiöses Sinnbild des neuen, freien und demokratischen Athen“ zugesprochen499 und als sicher bezeichnet, „daß der neue Kult des Demos und der Chariten die neue attische Demokratie repräsentieren sollte“; zugleich verwies er aber auch auf die Schwierigkeit der Bestimmung des eigentlichen Sinngehaltes dieses Kultes500, dessen Einrichtung jedenfalls auf die Zeit direkt nach der Befreiung bezogen wurde, wobei die Initiative zur Einrichtung von Eurykleides ausgegangen zu sein schien501. 497 Vergleichbares gilt für die Ehrungen verdienter Bürger, bei denen ebenfalls die Bürgerschaft den Wertmaßstab der Ehrung ausmachte und die darin angeführte Terminologie als eine Manifestation der bürgerschaftlichen Traditionen diente, so daß von einer Verwendung bewußt gebrauchter Wertbegriffe ausgegangen werden muß. Eurykleides’ Einsatz bei der Rückgewinnung der ejleuqeriva von 229 v.Chr. unterscheidet sich daher im Bürgerschaftsverständnis nicht von ähnlichen Auszeichnungen der vorhergehenden Zeit. Zum Fortbestehen der Phyle Ptolemais siehe TRAILL 1975 xvi. 1f. 498 So bereits WILHELM 1909, 77–79; FERGUSON 1911, 238f.; siehe weiterhin HABICHT 1982, 84–93; MIKALSON 1998, 172f. 499 HABICHT 1982, 84 (HABICHT 1995, 183). 500 HABICHT 1982, 85. 501 HABICHT 1995, 183 („wohl sehr bald nach den Ereignissen von 229“); ausführlicher dazu HABICHT 1982, 84f. 93 sowie jetzt MIKALSON 1998, 168–207 (dazu aber die im folgenden angeführte Kritik). Die Initiative zur Einrichtung des Kultes geht aus dem Ehrendekret für Eurykleides IG II2 n. 83425f. hervor: [h]u[xhsen de; kai; to;n d[h`mon qew`n iJera; kataskeuavsa" kai; te]|mevnh (Ergänzung nach WILHELM 1909, 78); vgl. dazu auch IG II2 n. 84439–42. Zu den zahlreichen Nachweisen, die das Heiligtum belegen und am Nordhange des Kolonos Agoraios lokalisieren lassen, siehe die Verweise bei HABICHT 1982, 84 Anm. 30.

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Während die Initiative und der Einsatz des Eurykleides für das Heiligtum unstrittig sind, muß jedoch eine genauere Datierung der Kulteinrichtung zunächst offen bleiben. Es kann letztlich nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden, daß das Heiligtum ausschließlich nach 229 v.Chr. eingerichtet wurde502, da hierfür die zuvor erreichte Freiheit als wesentliche Voraussetzung gesehen wurde503. Insbesondere die Annahme eines epochalen Jahres 229 v.Chr., mitunter sogar einer mit der Befreiung einhergehenden „neuen Demokratie“ hat eine Kulteinrichtung erst nach diesem Datum sinnvoll erscheinen lassen504. Da allerdings in den Quellen kein Hinweis auf einen Zusammenhang von dhmokrativa und ejleuqeriva vorliegt, die dhmokrativa vielmehr in den Quellen keine Rolle spielt und zudem die ejleuqeriva von 229 v.Chr. keine direkte Auswirkung auf den Bestand der athenischen Bürgerschaft hatte, ist aus diesem Grund zunächst auch kein ursächlicher Zusammenhang von Kulteinrichtung und den Ereignissen von 229 v.Chr. zu erkennen. Vielmehr ließe sich eine Einführung des Kultes aufgrund der Rolle des Eurykleides in der Polis dementgegen durchaus schon zu einem früheren Zeitpunkt erklären, da dieser – wie oben dargelegt – bereits vor 229 v.Chr. höhere Ämter innerhalb der demokratischen Organisation bekleidete und somit auch bereits zuvor eine derartige Initiative hätte anregen können. Da dh`mo" und dhmokrativa nun bereits vor 229 v.Chr. nicht mehr in Frage gestellt waren und sich die Bürgerschaft sogar weitgehend konsolidiert hatte, erscheint in diesem Sinne eine Kulteinrichtung vor 229 v.Chr. sogar durchaus sinnvoll505. Allerdings 502 Zu den Belegen für die Datierung, für die letztlich als terminus post quem 229 v.Chr. angenommen wurde, siehe HABICHT 1982, 84f. 93. 503 Auch die Verlegung eines Standbildes für Eumaridas aus Kydonia von der Akropolis in das Temenos des Dh`mo" und der Chariten in den 210er Jahren auf Betreiben von Eurykleides und Mikion (IG II2 n. 84439–42) spricht dem nicht entgegen. Da der vorhergehende Beschluß zur Aufstellung der Weihung auf der Akropolis ins Jahr 229/8 v.Chr. datiert, könnte angenommen werden, daß in dieser Zeit das Heiligtum noch nicht bestanden hat. Nach der im folgenden aufzuzeigenden Deutung des Temenos ist diese Annahme jedoch nicht zwingend. Vgl. zur Weihung des Eumaridas von Kydonia schon die Angaben bei WILHELM 1909, 78; jetzt HABICHT 1982, 84. 504 Die Befreiung gilt seit jeher als der Bezugspunkt für die Einrichtung. Die Interpretation einer „neuen Demokratie“ führt HABICHT 1982, 85 an. 505 Habichts Interpretation des Kultes als ein auf 229 v.Chr. bezogenes Sinnbild einer „neuen attischen Demokratie“ ist wenig naheliegend, weil nicht nur von der dhmokrativa in den Quellen in diesem Zusammenhange keine Rede ist, sondern freilich diese Form der politischen Organisation bereits in der vorangehenden Zeit im alten Sinne bestand. Vgl. dazu weiterhin die nun von MIKALSON 1998, 173 angeführte Sichtweise: „The Demos itself, not Demokratia, is a cult figure, but this may not be significant. In Athenian political terms, oligarchy, monarchy, tyranny, and foreign oppression were expressed as limitations on and enslavement of the Demos“. Es handele sich bei dh`mo" und dhmokrativa, so Mikalson weiter, demnach um Synonyme, so daß er den Kult für den dh`mo" auch mit dem für eine dhmokrativa gleichsetzt. Die synonyme Verwendung der Begriffe läßt sich allerdings anhand der bestehenden Quellen – wie bereits aufgezeigt – nicht festmachen und kann damit entgegen der Annahme von Mikalson (und Habicht) kaum einem zeitgenössischen Verständnis entsprochen haben. Eine Differenzierung des athenischen Verfassungs- und Politikverständnisses ist also auch in diesem Falle mittels einer genauen Beachtung der verwendeten Terminologie zu erreichen, während die angeführte Gleichsetzung von inhaltlich ungleichen Begriffen zu einiger Unschärfe führt. Auf Mikalsons weitere Ausführungen zum dh`mo"-Kult, den er insbesondere auf Attikas Fruchtbarkeit bezieht (MIKALSON 1998, 168–207), braucht somit an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden.

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verweisen andere, sich auf die inhaltliche Bedeutung des Temenos beziehenden Aspekte eher darauf, von einer Datierung nach 229 v.Chr. auszugehen. Wie Christian Habicht in seiner Untersuchung zum hellenistischen Athen weiterhin ausführt506, sind es in der folgenden Zeit insbesondere Ehrungen für verdiente Personen der außerattischen Welt, denen die Bürgerschaft das Heiligtum als Aufstellungsplatz zuwies507. Es handelt sich also um solche Personen, die durch ihren Einsatz für Polis und dh`mo" eine Ehrung erhielten, weniger hingegen um attische Bürger selbst508. Nun erscheinen diese Ehrungen gerade zu der Zeit naheliegend, als die Stadt ihr außenpolitisches Geflecht von Beziehungen zu sichern versuchte und durch derartige Auszeichnungen einen entsprechenden Anreiz für ein Bemühen um die Polis schuf. Die Einrichtung des Heiligtums wäre somit in einem ganz ähnlichen Zusammenhange zu sehen wie die in IG II2 n. 832 aufgeführte und in das Jahr 228 v.Chr. zu datierende Bekräftigung der Bürgerschaft, diejenigen Personen zu ehren, die sich um die Polis und den dh`mo" in unterschiedlichster Form besondere Verdienste erworben hatten509. Wenn es sich bei dieser Interpretation des Heiligtums also nicht zuerst um einen polisinternen, auf die eigene Bürgerschaft bezogenen Kult handelte, bedeutet dies gleichwohl nicht, daß dieser damit unabhängig von der athenischen Bürgerschaft zu verstehen ist. Freilich galt eine derart honorierte Leistung Auswärtiger der Gesamtheit der Bürger und war dementsprechend auch an jede einzelne Person mit athenischem Bürgerrecht gerichtet510. Dieser Sichtweise folgend ist es also der Aspekt 506

HABICHT 1982, 90f. HABICHT (ebendort) argumentiert gegen die Ansicht von OLIVER 1960, 91–117, der wiederum das Heiligtum als ein hauptsächlich auf Athens Bürger bezogenes versteht (vgl. etwa OLIVER 1960, 109). Vgl. zu einer außenpolitischen Funktion des Heiligtums auch FERGUSON 1911, 212 (Zeichen an die außerattische Welt für Athens Abkehr von imperialistischen Zielen; vgl. dazu aber auch dessen weitere Deutung ebendort 309). 508 Siehe dazu die Belege AGORA III n. 125–130. Siehe zudem THOMPSON/W YCHERLEY 1972, 159f.; HABICHT 1982, 85. 509 IG II2 n. 832 12–21. Auch die spätere Verbindung des Roma-Kultes mit diesem Heiligtum spräche keineswegs gegen, sondern viel eher für eine solche Interpretation, da es freilich der römische Senat war, der den Athenern zunächst ihren außenpolitischen Handlungsspielraum sicherte (s.u.). Vgl. dazu die Ansicht von HABICHT 1995, 184, wonach der so „erweiterte Kult zum Ausdruck bringen sollte, daß die athenische Bürgerschaft und die römische Republik untrennbar miteinander verbunden waren“. 510 Mit dieser integrativen Funktion trug der Kult nicht unwesentlich zur Einheit und einer weiteren Festigung der Bürgerschaft bei, denn gerade die hier angeführte Diskussion zu den vorangegangenen Jahrzehnten seit dem Lamischen Kriege bis in die 240er und 230er Jahre sollte hinreichend gezeigt haben, welche Bedeutung ein uneingeschränkt bestehender und agierender dh`mo" für die Polis besaß, so daß neben dem außenpolitischen in diesem Falle auch der innenpolitische Bezug Beachtung zu finden hat – die Lage des Kultes am Nordrand des zentralen Polis-Platzes, der Athener Agora, sowie gleichzeitig an einer aus der Stadt führenden Hauptstraße, nämlich derjenigen von der Agora zum Dipylon respektive zum Heiligen Tor führenden, auf der unter anderem auch der Festzug der Panathenäen in die Stadt führte, verdeutlicht beide angesprochenen Aspekte hinreichend. Zur Lokalisierung siehe die Verweise bei THOMPSON/WYCHERLEY 1972, 159f.; zudem MIKALSON 1998, 172f. Vgl. DREYER 2001, 54 Anm. 74, der anführt, es habe bei der Mehrheit der Bevölkerung eine Gleichgültigkeit hinsichtlich einer „demokratisch überfrachteten Symbolik von 229/8“ bestanden. Da Dreyer hierzu allerdings keine Belege 507

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der ejleuqeriva, der die entscheidende Rolle für ein Verständnis und eine Bewertung des Kultes einnehmen muß, so daß dann eine Datierung der Kulteinführung nach 229 v.Chr. mit größerer Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Neutralität und diplomatische Aktivität bis 200 v.Chr. Ein wesentliches Merkmal der athenischen Außenpolitik nach 229 v.Chr. bestand darin, entgegen dem in der vorherigen Zeit bis zur Niederlage von 262 v.Chr. häufiger verfolgten aktiven außenpolitischen Eingreifen nunmehr eine deutlich zurückhaltendere Politik zu betreiben und sich von kriegerischen Auseinandersetzungen der griechischen Welt bis etwa 200 v.Chr. nahezu vollständig fern zu halten511. Wenngleich die politische Ausrichtung der Polis in dieser Zeit eng mit den Namen der Brüder Eurykleides und Mikion verbunden ist, muß aufgrund der freiheitlichen und demokratischen Situation angenommen werden, daß die Mehrheit der Bürgerschaft entsprechend häufig im Einklang mit deren Sichtweisen stand respektive sich beide dem zeitgenössischen Mehrheitswillen der Bürgerschaft voranzustellen vermochten. Mit der Konsolidierung des dh`mo" bereits vor der Befreiung von 229 v.Chr. haben offen ausgetragene innenpolitische Gegensätze, soweit dieses anhand der Quellen zu erkennen ist, jedenfalls nicht mehr das Maß einer politisch akzeptablen und zugleich auch notwendigen Auseinandersetzung innerhalb der ejkklhsiva überschritten. Vielmehr verdeutlichen die guten Beziehungen zu verschiedenen Poleis und Herrschern, daß die Sicherheit und damit die ejleuqeriva der Polis mittels der Diplomatie abgesichert werden sollte, wenngleich Polybios dieses Bestreben etwas mißfällig als „Anbiedern“ der Polis bei den basilei`" bezeichnet512. Dieses erklärt gleichsam, warum die Athener einerseits die Ehren für Ptolemaios III. beschließen konnten, andererseits in der folgenden Zeit aber auch eine längere filiva zum Makedonenkönig bestand513. Eine von der Bürgerschaft bewußt gewählte und mit diplomatischen Mitteln vorangetriebene außenpolitische Neutralität bot damit den politischen Rahmen, eine weitere innenpolitische Festigung zu erreichen. Die ab 229 v.Chr. zu beobachtende Neutralität ist jedoch kaum mit einer politischen Passivität der Bürgerschaft gleichzusetzen514 oder als Bruch mit der alten dhmokrativa zu verstehen515. So zeigt nämlich die athenische Diplomatie in der Zeit bis 200 v.Chr., insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten des Jahr-

anführt, bleibt ein damit möglicherweise für sein ‚Ende der klassischen Demokratie in Athen‘ einhergehendes Argument zunächst rein spekulativ. 511 HABICHT 1982, 141f. sowie P ERRIN-SAMINADAYAR 1999, 444. 512 Polyb. V 106,7: kai; tai`" touvtwn oJrmai`" eij" pavnta" tou;" basilei`" ejxekevcunto. Vgl. hierzu PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 447. 513 IG II2 n. 1304 5–7 (kurz nach 211/10 v.Chr.) führt eine bereits längere Zeit bestehende filiva zwischen dem Makedonenkönige und den Athener an; siehe dazu HABICHT 1982, 130. 134; PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 448f. 514 Anders DREYER 2001, 54f. 65. 515 HABICHT 1982, 85 spricht – wie angeführt – von einer „neuen attischen Demokratie“ nach 229 v.Chr.

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hunderts516, daß die Stadt am internationalen politischen Geschehen teilhatte517. Hierbei kam selbstverständlich der ejkklhsiva als Ort der politischen Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung des dh`mo" weiterhin die zentrale Funktion zu. Die Neutralität muß somit vielmehr als Kennzeichen für eine bewußt bedachte, innerhalb des dh`mo" debattierte und mit den notwendigen diplomatischen Bemühungen einhergehende politische Haltung verstanden werden, nicht aber als ein Hinweis auf eine politische Enthaltsamkeit zahlreicher Bürger. Insofern bleibt letztlich auch die von Boris Dreyer formulierte Annahme unbegründet, daß es „nämlich nach 229/8 völlig unproblematisch war, daß die Brüder Mikion und Eurykleides (…) maßgeblich die Politik Athens weiter bestimmten und damit ihre schon in der Periode der douleiva errungene Stellung perpetuierten: Die politisch entwöhnte Masse der Bevölkerung ließ sich lenken und der symbolische Wiederaufbruch von 229 bzw. 228 wurde im wesentlichen durch eine kleine Politikergruppe inszeniert (…)“518. Tatsächlich konnte nur die fortbestehende politische Organisation sowohl den Ausgangspunkt als auch den Rahmen der im folgenden besonders hervortretenden Diplomatie und damit der politischen Praxis der Polis bilden519. Mit der nach 229 v.Chr. erneut beginnenden außenpoliti516 Dazu HABICHT 1995, 189–196. Die diplomatische Aktivität geht freilich noch über die Jahrhundertwende hinaus; dazu jetzt ausführlich PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 444–462, der bezüglich der beginnenden Aktivitäten nach der Befreiung treffend urteilt: „aussi est-on en droit de parler d’un sursaut de la diplomatie athénienne à partir de 229 (…)“. 517 Die diplomatischen Bemühungen der Athener in dieser Zeitspanne beziehen sich insbesondere auf die überregionalen Konflikte, nämlich den bereits angeführten und bis 222 v.Chr. andauernden zwischen Kleomenes III. von Sparta und Antigonos Doson zusammen mit dem Achaiischen Bund, dann auf den Bundesgenossenkrieg zwischen Philipp V. zusammen mit seinen Verbündeten gegen den Aitolischen Bund zwischen 220–217 v.Chr. sowie den des Ersten Makedonischen Krieges von 212 bis 205 v.Chr., wo schließlich Rom in die innergriechischen Angelegenheiten aktiv eingriff. Die einzelnen diplomatischen Aktivitäten werden von HABICHT 1982, 127–142 ausführlich diskutiert. Vgl. besonders IG II2 n. 1304 (SYLLOGE n. 547) zum diplomatischen Auftreten des Atheners Demainetos; dazu HABICHT 1982, 134–137. 518 DREYER 2001, 65. Vgl. ebendort 54 Anm. 74: „Die einflußreichen Personen hatten an einem Rückgriff auf das 4. Jh. [scil. hinsichtlich der demokratischen Symbolik] kein Interesse und sie trafen hierin wenigstens auf die Gleichgültigkeit der Mehrheit der Bevölkerung“. Weiterhin sieht DREYER 2001, 57 auch ein gewandeltes „Selbstverständnis“ bei den Politikern, die sich nach 229 v.Chr. etabliert hatten. Dreyer bedient sich hierbei insbesondere der Weberschen Honoratiorenthese und möchte so eine kleine führende politische Gruppe von der übrigen Bevölkerung differenzieren. Die in der folgenden Zeit weiterhin lebhaft ausgefüllte politische Organisation läßt Dreyer bei seiner Argumentation allerdings unberücksichtigt, was gerade bei einer angenommenen und argumentativ vorgebrachten Honoratiorenschicht dann wiederum eine ganze Reihe offener Fragen aufwirft. Daß mit Dreyers Verständnis schließlich auch wichtige demokratische Impulse für eine Beurteilung der demokratischen Verhältnisse unberücksichtigt bleiben, braucht an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden. Für die Bewertung des ‚Selbstverständnisses‘ der Bürger wäre sicherlich die hier bereits diskutierte Terminologie im Zusammenhange mit der Befreiung von 229 v.Chr. beachtenswert. 519 Daß die politischen Entscheidungen hinsichtlich der athenischen Diplomatie in der freien und demokratisch organisierten Polis in der ejkklhsiva als dem Beschlußfassungsorgan der Bürgerschaft getroffen wurden, sollte außer Frage stehen; vgl. dennoch RHODES/LEWIS 1997, 54f.

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schen Betätigung erfuhr zugleich diese politische Praxis einen starken neuen Impuls, da das Entscheidungsspektrum der Bürgerschaft mit dem notwendigen Diskurs der auswärtigen Politik erheblich erweitert wurde und demnach nicht mehr allein polisinterne Routinebeschlüsse auf der Tagesordnung standen. Die politische Auseinandersetzung innerhalb der ejkklhsiva besaß ab diesem Zeitpunkt wieder uneingeschränkte Gültigkeit – eine Gültigkeit, die den Grund für das Streben nach der ejleuqeriva von 229 v.Chr. ausgemacht hatte und die zuvor unter den Makedonen in der Form keineswegs bestanden hatte. Vor diesem Hintergrund scheint es weiterhin fraglich, ob man der Lebenswerkehrung des Eurykleides, die diesem in der Dekade nach 220 v.Chr., wahrscheinlich um 215 v.Chr., von der Bürgerschaft zugesprochen wurde520, lediglich eine normativ-ideelle Sichtweise beizumessen hat, deren Maximen zwar an der „klassischen Demokratie“ orientiert gewesen wären521, nicht aber einen realen beziehungsweise realdemokratischen Zustand der Polis widerspiegelten522. Da nun der Zeitpunkt der Lebenswerkehrung des Eurykleides in eine Phase fällt, in der die auswärtigen Beziehungen der Polis wieder umfangreich etabliert waren und somit auch von einer festgefügten und intakten innenpolitischen Organisation ausgegangen werden darf, ist es dementsprechend sogar äußerst naheliegend, mit der Ehrung auch einen realen oder realdemokratischen Zustand der Polis widergespiegelt zu sehen523. Das anzunehmende Gegenbild jedenfalls, nämlich eine kleine, elitäre und politikbestimmende Gruppe innerhalb der Bürgerschaft bei einer gleichzeitigen und ausgeprägten politischen Passivität der Bürgermehrheit, entbehrt nicht nur den entsprechenden Belegen, sondern wird auch dem übrigen Bild der Quellen für diese Zeit keineswegs gerecht524. Die formalen wie auch inhaltlichen Übereinstimmungen der Ehrung des Eurykleides mit denen vorangegangener Lebenswerkehrungen525 müssen daher vielmehr als Beleg einer demokratischen Praxis gewertet werden, die derjenigen der früheren Zeit sehr nahe stand und bei der die gesamte Bürgerschaft mit der Ehrung einerseits den lebenslangen politischen Einsatz und das Engagement des geehrten Bürgers ab520

HABICHT 1982, 123f. 126f. Boris Dreyer versteht hierunter die Zeit bis zum Ende des Chremonideischen Krieges. 522 DREYER 2001, 37. 523 Anders DREYER 2001. 524 Bereits die von Dreyer angeführte „politisch entwöhnte Masse der Bevölkerung“ (ebendort 65) bleibt ohne Beleg, wobei diese Formulierung des weiteren freilich die Frage offen läßt, inwieweit die Bevölkerung zuvor politisiert war oder ob Dreyer damit einzig die Bürger im Sinne der Bürgerschaft meint. Seine Annahme scheint vielmehr dem von ihm propagierten „Ende der klassischen Demokratie Athens“ verpflichtet zu sein, weshalb seine These, die „klassische Demokratie“ habe 229 v.Chr. nicht überlebt, aufgrund der unberücksichtigten, aber zugleich wesentlichen Quellenzusammenhänge als Urteil keineswegs überzeugen kann. 525 HABICHT 1982, 124 zur Übereinstimmung des Eurykleides-Dekretes mit den vorherigen Lebenswerkdekreten. DREYER 2001, 56 sieht hingegen gerade in den früheren Lebenswerkdekreten einen jeweiligen Bezug auf ein Eintreten für panhellenische, internationale Belange der Athener, was dann in der späteren Zeit, belegt durch Polybios (V 106,6–8), nicht mehr gegeben gewesen sei. Während die Angabe von Polybios bereits oben relativiert wurde, muß hinsichtlich eines Ausbleibens ‚internationaler‘ Bestrebungen gefragt werden, wie diese mit einer gleichzeitig verfolgten Neutralität der Bürgerschaft hätte vereinbart werden können. 521

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schließend beurteilte und andererseits der erreichten Leistung ihre entsprechende Wertschätzung entgegenbrachte526. Athen um 200 v.Chr. Die von Athen lange Zeit verfolgte Neutralität gegenüber den Auseinandersetzungen in der griechischen Welt endete mit dem Eintritt in den Krieg gegen Philipp V. im Jahre 200 v.Chr.527. Ein Grund für den Kriegseintritt der Athener bestand offensichtlich in den Einfällen der Akarnanier nach Attika, der damit einhergehenden Verwüstung des Landes sowie in der hinzukommenden Unterstützung der Akarnanier durch Makedonien528; auch wurden in diesem Zusammenhang vier athenische Kriegsschiffe von den Makedonen aufgebracht529. Die Athener waren allerdings an dieser Auseinandersetzung nicht ganz unbeteiligt, da sie zuvor zwei Akarnanier aufgrund eines Religionsfrevels bei den eleusinischen Mysterien hinrichten ließen und damit den Anlaß für die folgenden Einfälle boten530. Die Bürgerschaft sah sich seit langem wieder einer direkten kriegerischen Konfrontation gegenüber. Für den athenischen Kriegseintritt war eine bereits bestehende Koalition von Pergamon und Rhodos gegen die Makedonen unter Philipp maßgeblich, zumal in dieser Phase kaum mit einer Hilfeleistung aus Ägypten zu rechnen war531. Vertreter der beiden Makedonengegner befanden sich 200 v.Chr. in Athen und richteten Appelle an die versammelte Bürgerschaft, um sie zum Kriegseintritt auf ihrer Seite zu bewegen532. Ob der von Polybios angeführte und dem Pergamener Attolos I. Soter zugeschriebene Grund, Athen solle sich am Krieg beteiligen, da es ansonsten von den Früchten des Sieges nicht profitiere533, den Kriegseintritt entscheidend bedingte und damit auch den dh`mo" 526 Eine detaillierte Besprechung des Ehrendekretes und der persönlichen Leistungen des Eurykleides (IG II2 n. 8341–26) bei HABICHT 1982, 119–127; es fallen darunter neben der bekannten Leistung bei der Befreiung der Stadt von 229 v.Chr. etwa die Beschaffung von Geldern zur Bestellung von kriegsverwüstetem Land, die Befestigung der Häfen und Mauern der Stadt, diplomatische Aktivitäten oder auch die Vermehrung der Staatseinkünfte. 527 Polyb. XVI 26,7–8 (vgl. Liv. XXXI 15,3–5): th`" d j ejpistolh`" tauvth" [scil. der Brief des Attalos] ajnagnwsqeivsh" e{toimon h\n to; plh`qo" [scil. to; ejn th`/ ejkklhsiva/] yhfivzesqai to;n povlemon kai; dia; ta; legovmena kai; dia; th;n eu[noian th;n pro;" to;n “Attalon. ouj mh;n ajlla; kai; tw`n R J odivwn ejpeiselqovntwn kai; pollou;" pro;" th;n aujth;n uJpovqesin diaqemevnwn lovgou", e[doxe toi`" A j qhnaivoi" ejkfevrein tw`/ Filivppw/ to;n povlemon. Siehe dazu HABICHT 1982, 142. 528 Liv. XXXI 14,10; zu den Vorgängen im Vorfeld der Kriegserklärung siehe HABICHT 1995, 199f. 529 Polyb. XVI 26,9; Liv. XXXI 15,5. 530 Liv. XXXI 14,6–9. 531 Der junge Ptolemaios V. Epiphanes stand in einer Auseinandersetzung mit Antiochos III. Letzterer verzeichnete gegenüber Ptolemaios Gebietsgewinne, und auch Philipp V. konnte in dieser Zeit das zuvor ptolemaiisch dominierte Samos unter seine Kontrolle bringen, so daß die militärischen Möglichkeiten des alexandrinischen Hofes ausgelastet gewesen zu sein schienen. Siehe dazu HAMMOND/WALBANK 1988, 411–416; HABICHT 1995, 199; MA 1999, 74–82. 532 Polyb. XVI 26; Liv. XXXI 15,1–8. Vgl. dazu PERRIN -SAMINADAYAR 1999, 453–455. 533 Polyb. XVI 26,6 (vgl. Liv. XXXI 15,1–4): teleutaiva de; paravklhsi" eij" to;n kata; Filivppou povlemon, kai; diorkismov", wJ" eja;n mh; nu`n e{lwntai sunembaivnein eujgenw`" eij" th;n ajpevcqeian a{ma R J odivoi" kai; R J wmaivoi" kai; aujtw`/, meta; de; tau`ta parevnte" tou;" kairou;"

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zur Aufgabe seiner Neutralität bewog, darf bezweifelt werden534. Viel eher sollten die angeführten Übergriffe durch die akarnanisch-makedonischen Truppen auf Attika sowie durch die Makedonen auf die athenischen Kriegsschiffe den Kriegseintritt begründet haben, wobei sich die Polis eben auch der Unterstützung von Attalos I. und den Rhodier nach deren Auftreten in Athen sicher sein konnte. Ein ausschlaggebendes Moment für ein aktives Eintreten der Bürgerschaft in die kriegerischen Auseinandersetzungen dürfte zudem die Anwesenheit römischer Gesandter gewesen sein, die sich zusammen mit Attalos und den Rhodiern in der Polis befanden und zu dieser Zeit möglicherweise einen römischen Kriegseintritt signalisierten535. Daß die athenische Bürgerschaft ihre Entscheidung zum Kriege unmißverständlich getroffen und vertreten haben muß, bekräftigt ihr gleichzeitiger Beschluß zur Aufhebung der makedonischen Ehrenbekundungen der früheren Zeit, insbesondere der Phylen von 307 v.Chr. zu Ehren des Antigonos und des Demetrios536. Demgegenüber verlieh der dh`mo" dem pergamenischen König nun gerakoinwnei`n bouvlwntai th`" eijrhvnh", a[llwn aujth;n katergasamevnwn, ajstochvsein aujtou;" tou` th`/ patrivdi sumfevronto". 534 Aufgrund der nunmehr über zwei Jahrzehnte andauernden diplomatischen Aktivitäten der Athener, die auch im Bundesgenossenkrieg und im Ersten Makedonischen Krieg einer neutralen Haltung treu blieben, ist für diese Zeit kaum von einer leicht zu beeinflussenden Bürgerschaft auszugehen. Die politische Haltung mußte, um überhaupt Gesandtschaften diplomatisch tätig werden zu lassen, freilich in der ejkklhsiva diskutiert sowie dann auch beschlossen werden. Zudem setzt eine Neutralität einen hohen Reflektionsgrad des Entscheidungsträgers voraus, da eine Ablehnung der Parteinahme zumeist einer klareren, entemotionalisierten und damit vor allem rationalen Begründung bedarf als eine entsprechende Zustimmung. Wenn Polybios also vordergründig die Athener aufgrund des Motivs eines Unbedingt-Am-Sieg-Beteiligt-Sein-Wollens dem Kriege gegen Philipp V. zustimmen läßt, so muß darin sicherlich zunächst ein vorgeschobenes Motiv gesehen werden. Seine wenig vorteilhafte Darstellung der Athener mag auch in diesem Falle mit der unterlassenen Hilfe im Krieg des Achaierbundes gegen Kleomenes begründet gewesen sein. Jedenfalls kennzeichnet er in dem angeführten Abschnitt die A j qhnai`oi als Entscheidungsträger der Polis, spricht aber gleichzeitig eher abfällig auch vom plh`qo" in der ejkklhsiva (Polyb. XVI 26,7). Schließlich kann das von Polybios angeführte Motiv kaum begründen, warum die Athener gerade mit dem Kriegseintritt die ansonsten unangetastet gelassenen Ehrungen für Makedonen, darunter unter anderem die makedonischen Phylen zu Ehren von Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes, nunmehr uneingeschränkt aufhoben. 535 Polyb. XVI 25,4: A [ ttalo" de; katapleuvsa" eij" to;n Peiraia` th;n me;n prwvthn hJmevran ejcrhmavtise toi`" ejk th`" R J wvmh" presbeutai`", qewrw`n d j aujtou;" kai; th`" progegenhmevnh" koinopragiva" mnhmoneuvonta" kai; pro;" to;n kata; tou` Filivppou povlemon eJtoivmou" o[nta" pericarh;" h\\n ( vgl. 26,6; Liv. XXXI 15,4); HABICHT 1995, 199. Vgl. entgegen der hier vertretenen Sichtweise DREYER 2000, 81, der anführt, daß „zwischen dem Herbst 200 und dem Sommer 197 Roms Intervention der Polis Athen schlechthin die Fortexistenz [sic!] gegenüber der Bedrohung durch Philipp V. gesichert“ hätte. In welcher Form Rom die Fortexistenz der Athener gesichert hatte, führt Dreyer nicht weiter aus. 536 Die Tilgung des makedonischen Andenkens in Athen schildert Liv. XXXI 44,2–9. Zur Frage der Gleichzeitigkeit dieses Beschlusses mit der Einrichtung einer neuen Phyle zu Attalos’ Ehren siehe HABICHT 1982, 148f. Vgl. dazu HABICHT 1995, 200. Den Anlaß der Auseinandersetzung bildete die bereits angeführte Hinrichtung zweier Akarnanen in Athen, die ihrerseits einen Religionsfrevel bei den Eleusinischen Mysterien begangen hatten. Makedonien, das seit längerem mit den Akarnanern verbündet war, leistete bei den folgenden akarnanischen Übergriffen

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de eine solche Auszeichnung, die den makedonischen Königen aberkannt, wenig zuvor in den 220er Jahren hingegen Ptolemaios III. Euergetes zuteil wurde: Man richtete eine neue, nach dem König benannte Phyle ein537. Die in der Forschung in diesem Kontexte zumeist ausschließlich hervorgehobene Ehrung des Pergameners538 muß in ihrer Bedeutung jedoch dahingehend differenziert werden, daß zugleich auch der dh`mo" der Rhodier für seine Unterstützung eine ebenso außergewöhnliche Auszeichnung erhielt, nämlich die Verleihung des potentiellen athenischen Bürgerrechtes539. Die Ehrungen des Attalos und die der Rhodier sind, da sie sich auf dieselbe Situation und denselben Umstand beziehen, gleichberechtigt nebeneinanderstehend zu verstehen, was schließlich auch deshalb notwendig erscheint, weil es sich aus der Sicht der Bürgerschaft jeweils um die höchste mögliche Ehrung für den jeweiligen Adressaten handelte540. Die beschlossenen Ehrungen dienten hierbei also wie bereits im Falle des Ptolemaios III. dazu, eine angestrebte Sicherung des außenpolitischen Handlungsspielraumes zu gewährleisten, also letztlich die ejleuqeriva zu bewahren541. Der Hintergrund der Ehrung ist demnach auch hier nicht mehr wie noch 307 v.Chr. für Antigonos und Demetrios darin zu sehen, die Herrscher für ihre erbrachten Leistungen gegenüber der Stadt auszuzeichnen, sondern eine erhoffte Leistungen für die Zukunft sicherzustellen. Ein wesentlicher Grund für den veränderten Gebrauch der Ehrungen läßt sich sehr wahrscheinlich in der militärischen Schwäche erkennen542, die freilich einauf attisches Gebiet Unterstützung und brachte selbst athenische Kriegsschiffe auf. Wenngleich die vorherige Hinrichtung der Akarnaner vorschnell von den Athenern beschlossen und durchgeführt worden sein mag, HABICHT 1995, 199f. bezeichnet sie als „maßlos und politisch unbedacht“, muß fraglich bleiben, ob dieses die folgenden Übergriffe von akarnanischer und vor allem makedonischer Seite rechtfertigte. 537 Polyb. XVI 25,9: pro;" ga;r toi`" a[lloi" kai; fulh;n ejpwvnumon ejpoivhsan A j ttavlw/ (Liv. XXXI 15,6). Zu den weiteren Ehrenbekundungen für Attalos siehe OSBORNE 1983, 94–96; HABICHT 1982, 107 Anm. 125. 538 Vgl. etwa HABICHT 1982, 142–150; HABICHT 1995, 197–201. Vgl. dagegen FERGUSON 1911, 271f. 539 Polyb. XVI 26,9: ajpedevxanto de; kai; tou;" R J odivou" megalomerw`" kai; tovn te dh`mon ejstefavnwsan ajristeivwn stefavnw/ kai; pa`si R J odivoi" ijsopoliteivan ejyhfivsanto (Liv. XXXI 15,7); vgl. OSBORNE 1983, 96. 181. Livius führt weiterhin auf, daß die Rhodier zuvor den Athenern das Bürgerrecht verliehen hätten, was jedoch anderweitig nicht belegt ist und unsicher bleiben muß. 540 Göttliche Ehren können hierbei außer Betracht bleiben, zumal diese keineswegs derartige Veränderungen in der politischen Tradition der Bürgerschaft bedeutet hätten, wie es das verliehene potentielle Bürgerrecht und die Einrichtung einer neuen Phyle mit sich brachte. 541 Obwohl Polybios (XVI 26,9) im Kontext der Ehrung anführt, die Athener hätten diese neben anderem aus Dankbarkeit für die Rückführung der von Philipp V. gekaperten athenischen Schiffe samt deren Besatzung beschlossen, wird als wesentlicher Grund der zukünftig zu erwartende Einsatz der Rhodier für die Athener in der bevorstehenden Auseinandersetzung mit Philipp V. gesehen werden müssen – einen Einsatz, den jene freilich durch die Rückführung der Schiffe gerade erst bewiesen hatten. PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 452 bezieht diese Ehrung einzig auf die Rückführung der Schiffe und hält sie daher für „disproportionné“, also für übermäßig. 542 Athens militärische Schwäche wird in dieser Zeit neben der Zurückhaltung beim Kriegsbeitritt insbesondere während der ersten Kriegsgeschehnisse deutlich, als nämlich bereits die

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herging mit der oben angeführten, seit der Befreiung von 229 v.Chr. angestrebten außenpolitischen Neutralität der Polis. Die Athener jedenfalls waren sich auch in dieser Zeit über die Gefahren einer direkten auswärtigen Einflußnahme auf ihre Entscheidungsfreiheit zur Genüge bewußt und auch dürfte ihnen anhand mehrerer Auseinandersetzungen zwischen unabhängigen Poleis und ambitionierten Herrschern, in denen schwächere Poleis eine mitunter erhebliche Einschränkung ihres eigenen Handlungsspielraumes erlitten hatten, hinreichend vor Augen geführt worden sein543. Daß allerdings die Bürgerschaft bei der Entscheidung über den Kriegseintritt gegen Philipp V. und damit eben auch bei den Ehrenbeschlüssen nichtsdestotrotz eigenständig und frei entschied, bezeugt in diesem Falle Polybios mit der bereits angeführten Aussage, wonach er nämlich Attalos I. die Athener auffordern ließ, sich am Kriege gegen die Makedonen zu beteiligen, wollten sie auch an Erfolgen des Krieges teilhaben. Trotz der inhaltlichen Problematik dieser Angabe wird damit freilich ganz grundsätzlich Athens Entscheidungsfreiheit herausgestellt; da Polybios zudem die Beschlußfassung der Bürgerschaft anführt544, besteht an einer freien, bürgerschaftsinternen Entscheidungsfindung und Beschlußfassung in dieser Situation also keinerlei Zweifel. Im Krieg gegen Philipp V., dem Zweiten Makedonischen Krieg, trat Athen militärisch kaum hervor545 und wird zudem bei Gesandtschaften später nicht mehr angeführt546. Aus den Friedensverhandlungen von 196 v.Chr. ging die Polis schließlich auch ohne territoriale Gewinne hervor, was in der Forschung zu dem Urteil führte, die Stadt sei „leer“ ausgegangen547. Verdeutlicht man sich hingegen nochmals die Situation zu Beginn des Krieges, so darf Athen durchaus als ein Gewinner bezeichnet werden. Zum einen waren die Befürchtungen eines FreiVerteidigung von Attika die Athener – wohl ohne größere Unterstützung von Attalos und den Rhodiern – in erhebliche Schwierigkeiten brachte; HABICHT 1995, 201f.; vgl. ebendort 188f. Die fehlende militärische Stärke der Polis in dieser Zeit betont auch PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 444. 543 So die Einnahme von Samos durch Philipp V. 201 v.Chr., der dort das ptolemaiische Militär verdrängte. Samos hatte in der Zeit davor bereits einen Großteil seiner politischen Vitalität verloren, die es hingegen in der vormaligen Zeit seit der Wiedereinrichtung der Polis auszeichnete. Kurz vor der Einnahme von Samos überfiel Philipp V. bereits Kios und verkaufte die Bürger in die Sklaverei (Polyb. XV 23); siehe dazu WILL 1982, 124f.; SHIPLEY 1987, 192f. Als zeitlich späteres Beispiel mag Ephesos dienen, das mit dem Frieden von Apameia 188 an Eumenes II. fiel (Polyb. XXI 45,10), ein Zentrum der attalidischen Administration wurde und seine außenpolitische Unabhängigkeit damit vollständig einbüßte; dazu ALLEN 1983, 98–101. 544 Polyb. XVI 26,8: e[doxe toi`" A j qhnaivoi" ejkfevrein tw`/ Filivppw/ to;n povlemon. 545 Athens fehlendes militärisches Hervortreten liegt sicherlich in der die eigenen Mittel ausschöpfenden Verteidigung des Polisterritoriums begründet; dazu HABICHT 1995, 201–206. 546 So sind die Athener beim Zusammentreffen der Kriegsparteien auf der Bundesversammlung der Achaier 198 v.Chr., auf der letztere der Koalition gegen Philipp V. beitraten, noch beteiligt (Liv. XXXII 19), treten dann in den Quellen aber nicht mehr in Erscheinung; HABICHT 1995, 204f. 547 HABICHT 1982, 157 (vgl. ebendort 141;). HABICHT 1995, 207 spricht sogar von einem für die Athener enttäuschenden Frieden. Zu einer athenischen Gesandtschaft nach Rom (198/7 v.Chr.), die möglicherweise Ansprüche auf Lemnos, Skyros und Imbros geltend machen sollte, siehe Paus. I 36,6 mit Polyb. XXX 20,3; dazu HABICHT 1995, 206. Das Ehrendekret für Kephisodoros, Teilnehmer der Gesandtschaft und maßgeblicher Politiker dieser Zeit in Athen: AGORA XVI n. 261 mit dem Kommentar von A. G. Woodhead. Die dort angeführte aujtonomiva (Z. 30) ist in ihrer inhaltlichen Bedeutung unspezifisch gebraucht.

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heitsverlustes durch die makedonische Niederlage vorerst beseitigt und die Polis daher von einer erheblichen außenpolitischen Belastung befreit worden, zum anderen befand sich Athen nun auf der Seite einer siegreichen Koalition, ohne jedoch dabei ihre Eigenständigkeit sowie ihren außenpolitischen Handlungsspielraum aufgegeben haben zu müssen. Darüberhinaus war zur Zeit des athenischen Kriegseintrittes keineswegs sicher, daß Rom die Auseinandersetzung mit Makedonien derart bestimmen würde548, zumal sich die Bürgerschaft in dieser Hinsicht eben Attalos und den Rhodiern anschloß. Mit dem Kriegsausgang sah sich Athen dann jedoch auch an der Seite der dominierenden Macht aus dem Westen. Aus der Sicht der athenischen Bürgerschaft darf die Polis daher selbst ohne territoriale Zugewinne als eine Gewinnerin des Krieges gegen Philipp V. bezeichnet werden549. Daß dieser Ausgang zudem eine wesentliche Grundlage der weiteren athenischen Entwicklung im 2. Jh. v.Chr. darstellen sollte, war zu jenem Zeitpunkt jedoch keineswegs sicher zu erkennen. Hinsichtlich der politischen Abläufe und der politischen Praxis innerhalb der Bürgerschaft belegen die im ausgehenden 3. Jh. v.Chr. zunehmende diplomatische Aktivität der Polis und deren Rolle im Zweiten Makedonischen Krieg sowie das Bemühen von Pergamon und Rhodos um die Stadt ein gefestigtes Gefüge von dh`mo" und dhmokrativa. Da weder Hinweise auf eine Einschränkung der politischen Beteiligung innerhalb der Bürgerschaft noch auf eine Entscheidungsfindung außerhalb der ejkklhsiva bestehen, muß, und dieses legen schließlich auch die in diesem Kontexte angeführten Aussagen von Polybios nahe, davon ausgegangen werden, daß politische Auseinandersetzungen zu Relevanz, Bestimmung und Ziel von Gesandtschaften, Bündnissen und Kriegsbeteiligungen innerhalb der ejkklhsiva geführt und vom dh`mo" legitimiert wurden550. Die Auseinandersetzungen über Athens außenpolitische Situation sind hierbei sogar als erheblicher Impuls für die politische Kultur der Stadt anzusehen, wobei eben die Athener seit dem ausgehenden 3. Jh. v.Chr. wieder verstärkt am politischen ‚Weltgeschehen‘ teilnahmen, dadurch vermehrt auswärtige Repräsentanten vor die eigene ejkklhsiva traten und so wiederum deren Rolle als Beschlußfassungsorgan bestätigt wurde551. Aufgrund dieses Zusammenhanges darf man freilich außerdem folgern, daß mit der neuen Rolle der Stadt ganz grundsätzlich ein Selbstverständnis und 548 Zur Rolle von Rom im Zweiten Makedonischen Krieg neuerdings PFEILSCHIFTER 2005, 78–111. 549 Inwiefern die Athener sich aufgrund der Kriegsteilnahme begründete Hoffnung auf einen territorialen Gewinn machen konnten, ist letztlich anhand der Quellen nicht ausreichend zu beurteilen. 550 Hinsichtlich der Diplomatie im Zweiten Makedonischen Kriege vgl. Athens Auftreten vor der Bundesversammlung der Aitoler 199 v.Chr. in Naupaktos (Liv. XXXI 30), vor der des Achaiischen Bundes 198 v.Chr. in Sikyon sowie die athenische Gesandtschaft an Rom unter Kephisodoros (Paus. I 36,6). 551 Zu den außenpolitischen Aktivitäten der Athener zwischen der Befreiung und dem Zweiten Makedonischen Krieg HABICHT 1982, 127–142. Während der athenischen Entscheidung zum Kriegsbeitritt hielten sich die Rhodier, Attalos I. und Vertreter der Römer in der Stadt auf (s.o.). Weiterhin befanden sich im Kriegsverlauf sowohl römische Befehlshaber als auch Attalos I. noch mehrmals in der Stadt; HABICHT 1995, 205f. mit Anm. 33f. (Quellenbelege).

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Selbstbewußtsein des einzelnen Bürgers als Entscheidungsträger der Gemeinschaft nachhaltig gestärkt wurde. Jenseits einer früheren militärischen Stärke hat Athen im ausgehenden 3. und besonders, wie im folgenden auszuführen sein wird, in der ersten Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. durch die Diplomatie zu einer neuen und gleichzeitig bedeutenden Rolle im Mächtespiel der Zeit gefunden552, wobei die demokratische Ordnung der Stadt sowie ihr freiheitlicher außenpolitischer Handlungsspielraum bis in die zweite Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. als die wesentlichen Stützen dieser Entwicklung zu betrachten sind, deren Grundlagen wiederum in der zuvor dargelegten athenischen Neuorientierung der 230er und 220er Jahre v.Chr. lagen. Athen nach dem Zweiten Makedonischen Krieg Während Athen im Krieg gegen Philipp V. vor allem auf pergamenischer und rhodischer Seite stand und sich eine Nähe zu Rom wohl erst in dieser Auseinandersetzung ergab553, zeugen die folgenden Gesandtschaften davon, daß der dh`mo" sich nunmehr außenpolitisch deutlicher an Rom orientierte. Diese Position sollte vor dem Antiochoskriege nicht nur griechischen Widerspruch hervorrufen, sondern auch zu einer innenpolitischen Konfrontation führen. Nach dem Ende des Zweiten Makedonischen Krieges trat eine athenische Gesandtschaft zunächst an der Seite von achaiischen Gesandten als Vermittler in einer Auseinandersetzung zwischen Römern und Boiotern auf554. In einer späteren Gesandtschaft, in der die Athener zusammen mit weiteren Beteiligten zwischen Flamininus und den Aitolern vermitteln sollten, befürwortete die Polis bereits eindeutig die römische Position und mußte sich hierfür von den Aitolern den Vorwurf der Abhängigkeit von Rom gefallen lassen555. Daß die Athener zu dieser Zeit Verrat an einem gemeinsamen griechischen Freiheitsideal, dessen Vorkämpfer sie früher einmal gewesen seien, begangen hätten, wie es ihnen die Aitolern in dieser Situation aufgrund ihres Verhaltens vorwarfen556, ist aus einer traditionsgebundenen Sichtweise sicherlich zutreffend, berücksichtigt aber kaum das Verhalten und die Möglichkeiten der Stadt seit nunmehr einer Generation. Eine selbstgewählte Nähe zur italischen Großmacht erscheint freilich gerade deshalb verständlich, weil der dh`mo" diese als einen bisher zuverlässigen Garanten für die eigene Freiheit innerhalb der ‚griechischen‘ Welt kennengelernt hatte. Berücksichtigt man das vorangehende athenische Streben nach außenpolitischer Absicherung seit 229 v.Chr., darf Roms Machtpotential insbesondere im Vergleich zu dem der 552

So PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 444. Dieses darf aus den angeführten Ehrungen und den Ereignissen um den Kriegsbeitritt der Athener 200 v.Chr. gefolgert werden. Auf der Bundesversammlung der Aitoler 199 v.Chr. unterstützten die Römer die athenische Gesandtschaft bei der vorgebrachten Klage über das zuvor erlittene Unrecht (Liv. XXXI 30,1). 554 Liv. XXXIII 29,11–12; dazu sowie zum folgenden HABICHT 1995, 208f. 555 Liv. XXXIV 22,6–23,11; besonders 23,1–4 (195 v.Chr.). 556 Liv. XXXIV 23,5: Igitur Alexander, princeps gentis, invectus primum in Athenienses, libertatis quondam duces et auctores, adsentationis propriae gratia communem causam prodentes. 553

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Attaliden, Pergamener oder Rhodier eine entscheidende Rolle beigemessen werden, da hiermit eine alternative Möglichkeit gegeben war, die eigene militärische Schwäche gegenüber anderen griechischen Mächten zu kompensieren, und ihren politischen Handlungsspielraum hatte die Bürgerschaft aufgrund der Nähe zu Rom bisher außerdem noch nicht einbüßen müssen. Vor dem Hintergrund der eigenen, aus der jüngeren Vergangenheit begründeten Sicherheitsbestrebungen ist daher eine außenpolitische Orientierung der Polis gen Westen zweifellos naheliegend gewesen. Innerhalb der Bürgerschaft ergaben sich durch den engen Bezug zu Rom jedoch sodann Auseinandersetzungen, die den dh`mo" zu spalten drohten. So berichtet Livius von einem Aufruhr in Athen zu der Zeit, als Antiochos III. Megas 192 v.Chr. Griechenland erreichte557. Die Polarisierung zwischen Rom und Antiochos hatte sich damit auch auf die Bevölkerung der Polis übertragen. Innerhalb der Bürgerschaft wurde, so führt Livius weiter aus, eine wohl längere Zeit andauernde Streitigkeit schließlich damit beigelegt, daß der Führer der für Antiochos eintretenden Partei, ein gewisser Apollodoros, ins Exil gehen mußte558. 557 Liv. XXXV 50,4: Erat enim haud procul seditione Athenis res trahentibus ad Antiochum quibusdam spe largitionum venalem pretio multitudinem, donec ab iis, qui Romanae partis erant, Quinctius est accitus. Die von Livius (Polybios) dargelegte Situation schildert dieses freilich als ein Aufbegehren gegen Rom, so daß entsprechend die multitudo als leicht zu überzeugende Gruppe dargestellt wird. Wie die folgende Verbannung des Apollodoros zeigt, wurden die Entscheidungen allerdings weiterhin in der Bürgerschaft getroffen, so daß der von Livius gewählte Begriff multitudo dem von Polybios mitunter mißfällig gebrauchten plh`qo" entsprechen dürfte; Polybios hat damit auch eine ‚Menge‘ innerhalb der Bürgerschaft angesprochen (vgl. Polyb. XVI 26). 558 Liv. XXXV 50,4: et accusante Leonte quodam Apollodorus auctor defectionis damnatus atque in exilium est eiectus. Zum Kontext vgl. DEININGER 1971, 89f.; HABICHT 1995, 210. Bei der Interpretation von Livius’ Angabe (XXXV 50,3f.) ist eine gewisse Vorsicht geboten. Livius schildert die Entscheidung der Bürgerschaft für eine Verbannung des Apollodoros vor dem Hintergrund einer auswärtigen militärischen Beeinflussung. So habe die prorömische Partei den Flamininus herbeigerufen, der dann seinerseits mit 500 Achaiern zum Piräus gekommen sei, woraufhin wiederum der Anführer der proseleukidischen Partei, Apollodoros, ins Exil geschickt wurde und sich Athen auf die römische Seite gestellt habe. Livius’ Ausführung ist, wie in der vorherigen Anmerkung dargelegt, an dieser Stelle deutlich wertend gehalten und dürfte auf eine stark tendenziöse Darstellung seiner Quelle ‚Polybios‘ zurückgehen, der eine solche Abwertung der athenischen Bürgerschaft und der demokratischen Verhältnisse nun seinerseits bereits in einem ganz ähnlichen Zusammenhang klar erkennen ließ (siehe dazu oben Polybios’ Beurteilung des athenischen dh`mo" kurz nach 229 v.Chr. hinsichtlich der Rolle des Eurykleides; Polybios urteilte dort vor allem aufgrund einer persönlichen Betroffenheit wegen der ausbleibenden athenischen Unterstützung für den Achaiischen Bund). Eine leicht beeinflußbare athenische multitudo, die als polybianische Diffamierung dementsprechend recht unproblematisch erkannt werden kann, bedarf dann freilich auch einer Relativierung hinsichtlich der Aussage des Livius, so daß der geschilderte innenpolitische Vorgang – wie dargelegt – zunächst ohne diese stark subjektive Verzerrung zu betrachten wäre. Die Hilfstruppe von 500 Achaiern, die nach Flamininus’ Dafürhalten in den Piräus geschickt wurde, ist somit insbesondere im Kontext der weiteren Hilfstruppe von 500 Achaiern zu verstehen, die entsprechend der Vorstellung des Flamininus nach Chalkis ging: beides vor allem und zuallererst notwendige militärische Vorbereitungen gegen Antiochos III., der kurz zuvor in Demetrias gelandet war. Vgl. zu den militärischen Vorgängen HABICHT 1994, 172f., der allerdings die angeführte Livius-Stelle eher im Wortsinne

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Diese Angabe verdeutlicht wiederum zwei zentrale Aspekte der zeitgenössischen athenischen Politik: Einerseits verweist Apollodoros’ Exil auf eine rechtmäßige Mehrheitsentscheidung innerhalb der Bürgerschaft, zumal Livius anführt, der Beschluß sei infolge eines Antrages des Leon gefaßt worden559. Hieraus wird gleichsam ersichtlich, daß der vorliegende innenpolitische Konflikt innerhalb der bestehenden demokratischen Institutionen, insbesondere freilich der ejkklhsiva, gelöst wurde. Andererseits müssen aufgrund der von Livius angeführten Auseinandersetzung wenigstens zwei politische Lager innerhalb der Bürgerschaft bestanden haben, die ihrerseits wiederum dem politischen Geschehen in der ejkklhsiva wichtige Impulse brachten. Gerade diese beiden Aspekte stehen nun jedoch im deutlichen Gegensatz zu einer mitunter angenommenen, nur formal bestehenden demokratischen Organisation, in der de facto eine herrschende Elite das politische Geschehen bestimmte, die Mehrzahl der Bürger jedoch weitgehend entpolitisiert gewesen sei560 – die Angaben des Livius bezeugen gerade das Gegenteil. Und auf den Aspekt einer für die Bürgerschaft relevanten und von ihr praktizierten demokratischen Entscheidungsfindung verweist auch eine kurz vor dem Exil des Apollodoros in der Polis anwesende römische Gesandtschaft, die nämlich ihrerseits versuchte, Athen wie auch weitere griechische Poleis von einem Anschluß an Antiochos abzubringen und sie vielmehr vom römischen Standpunkt zu überzeugen561. Daß diese Gesandtschaft in Athen ihr Anliegen wohl weitgehend erfolgreich vertrat, zeigt der Beschluß der Bürgerschaft zum Exil. Daraus wird zudem der in dieser Zeit bestehende außenpolitische Handlungsspielraum der Bürgerschaft ersichtlich, denn bei einem veränderten politischen Meinungsbild hätte die von Apollodoros vertretene politische Richtung durchaus mehrheitsfähig werden und sich die Stadt damit Antiochos’ Bestreben anschließen können. Zur Zeit des Auftretens der römischen Gesandtschaft war diese Entscheidungsfindung jedenfalls noch im Fortgang und keineswegs abgeschlossen562. Aus dem römischen Kriege gegen die Aitoler und Antiochos III. gingen die Athener, obwohl auf römischer Seite stehend, militärisch aber kaum in Erscheinung tretend563, wiederum ohne territoriale Gewinne hervor564. Ihr außenpolitiversteht. Ebenso DREYER 2000, 83, der ausführt, daß die innenpolitische „Richtungsentscheidung von einer achäischen Garnison im Piräus abgesichert“ werden mußte. 559 Liv. XXXV 50,3f. Zu Leon siehe HABICHT 1982, 194–197. 560 So aber DREYER 2001, 65. 561 Liv. XXXV 31,3; zu den Teilnehmern an der römischen Gesandtschaft siehe Liv. XXXV 23,4f. Nach Livius sei Athen die erste Stadt gewesen, die von den Römern besucht worden war. Gleichzeitig führt Livius an, die Gesandten seien mit dem Achaiischen Bund nur schriftlich in Kontakt getreten, weil sie sich deren Unterstützung sicher wähnten. Das sofortige Aufsuchen von Athen legt in dieser Hinsicht nahe, daß die dortige Bürgerschaft keineswegs sicher auf römischer Seite stand; dazu HABICHT 1994, 171; vgl. nunmehr PFEILSCHIFTER 2005, 170f. 562 Die angeführten Zusammenhänge zwischen außenpolitischem Handlungsspielraume und Meinungsbildungsprozeß innerhalb der ejkklhsiva werden in den Quellen abermals für das Jahr 191 v.Chr. deutlich, als M. Porcius Cato in der athenischen Bürgerversammlung auftrat und die Athener dort wohl vom römischen Vorgehen zu überzeugen versuchte; Plut. Cato maior 12,4f.; vgl. HABICHT 1995, 210f. 563 Vgl. dazu HABICHT 1995, 220f.; PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 452.

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sches Prestige dürfte sich aufgrund ihrer abermaligen diplomatischen Bemühungen auch in diesem Falle weiter verstärkt haben, zumal athenische Gesandte bei Friedensbemühungen für die Interessen der gegen Rom stehenden Aitoler eintraten565, was als Hinweis auf einen größeren Einfluß und ein Bemühen um eine Beilegung von innergriechischen Konflikten gewertet werden kann. Als vorläufiger Höhepunkt des diplomatischen Einsatzes ist die athenisch-rhodische Gesandtschaft nach Rom zu sehen, bei der der Athener Leon aufgrund seiner Rede vor dem Senat diesen von einem römisch-aitolischen Friedensschluß überzeugen konnte566. Ob schließlich nach dem Antiochoskrieg sogar ein foedus zwischen Athen und Rom abgeschlossen wurde, wie Christian Habicht im Anschluß an Sterling Dow meint, muß – obwohl aufgrund der Quellenlage durchaus denkbar – letztlich unsicher bleiben567. In der Zeit vom Antiochoskrieg bis hin zum Perseuskrieg bestand für die athenische Bürgerschaft nicht nur ein intensiver Kontakt zu Rom, sonders es wurden auch bestehende Beziehungen zu den Königshäusern intensiv gepflegt. Ein enges Verhältnis zum pergamenischen Hof ist durch die bereits angeführten Ehrungen für Attalos I. sowie die Aufenthalte seines Sohnes Eumenes II. in der Polis belegt568. Darüber hinaus kam es zur Zeit des Antiochoskrieges zur Ehrung von hochrangigen Pergamenern in Athen, die ebenfalls als Bekräftigung des guten gegenseitigen Verhältnisses gesehen werden müssen569. Auch die Beziehungen zu den Ptolemaiern wurden nach dem Antiochoskrieg verstärkt, was durch Ehrendekrete für höhere Beamte des alexandrinischen Hofes in Athen belegt ist570. Zudem weisen zahlreiche Panathenäensieger aus der Königsfamilie 564 Zu Athen siehe HABICHT 1995, 212. Zu den Friedensbestimmungen von 189/8 v.Chr. siehe MA 2002, 282f. 565 Siehe dazu die Angaben zur Friedensvermittlung zwischen Aitolern und Römern bei Polyb. XXI 4f. 25. 29–31. (Liv. XXXVII 6–7; XXXVIII 3. 9–10); HABICHT 1995, 211. 566 Polyb. XXI 31,5–16 (Liv. XXXVIII 10,4–6). Vgl. zu diesem Abschnitt der athenischen Diplomatie PERRIN-SAMINADAYAR 1999, 456–461; dort sowie in den Untersuchungen von Habicht freilich ohne den hier im besonderen berücksichtigten Aspekt der innenpolitischen Relevanz dieser Aktivität. Eine Ausweitung des Einflußbereiches hat Athen allerdings durch eine stärkere Stellung im Rat der Amphiktionie von Delphi erreicht; dazu HABICHT 1995, 212f. 567 Ein Bündnisvertrag wird überliefert von Tac. ann. II 53,3, dessen Angabe allerdings in einen Zusammenhang von Ereignissen des Jahres 18 n.Chr. fällt. Vielmehr sind es athenische Inschriften der Zeit nach dem Kriegsende von 188 v.Chr., die beim Opfer für das Wohl von boulhv und dh`mo" nun auch suvmmacoi nennen, so daß hinsichtlich der engen Beziehung zu Rom naheliegend ein foedus mit der Tiberstadt anzunehmen wäre; dazu und mit den entsprechenden Verweisen, insbesondere auf die bereits von Sterling Dow geäußerte Vermutung, HABICHT 1995, 214f. Da in den Inschriften allerdings von mehreren Bündnispartnern (eben suvmmacoi) die Rede ist, kann diese Annahme kaum als Indiz einer allzu engen Abhängigkeit von Rom gewertet werden; skeptisch hinsichtlich eines Bündnisvertrages in dieser Zeit auch KALLET-MARX 1995, 201. 568 Zu den Ehrungen und Aufenthalten siehe oben; des weiteren HABICHT 1994, 191–194; vgl. H. MATTINGLY, Athens between Rome and the Kings: 229/8 to 129 B.C., in: HELLENISTIC CONSTRUCTS 1997, 133–137. 569 Siehe dazu HABICHT 1994, 187–190; die Ehreninschriften für die drei Pergamener sind IG II2 n. 946. 947. 954 (diese Inschriften datieren in die 180er Jahre v.Chr.). 570 IG II2 n. 891. 893a. 897 (alle 180er Jahre v.Chr.); HABICHT 1994, 149.

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und deren Umfeld571, insbesondere in den 170er und 160er Jahren v.Chr., auf einen intensiven diplomatischen Austausch hin. Zu den Seleukiden bestanden zwar während des Antiochoskrieges wohl kaum Beziehungen, jedoch verbesserte sich das Verhältnis mit der Thronübernahme von Antiochos IV. Epiphanes ab 175 v.Chr., der zuvor selbst einige Zeit in Athen zugebracht hatte572. Die Intensität des diplomatischen Austausches zwischen Athen und den Herrschern wird wohl am besten durch eine von Polybios eher zufällig überlieferte Begebenheit zur Zeit des Sechsten Syrischen Krieges charakterisiert, wonach sich nämlich gleichzeitig drei athenische Gesandtschaften, alle mit unterschiedlichen Anliegen, am ptolemaiischen Hofe aufgehalten hatten, die im folgenden zusammen mit weiteren Gesandtschaften zwischen Antiochos IV. und Ptolemaios VI. Philometor in deren Auseinandersetzung vermitteln sollten573. Sowohl die eigenen diplomatischen Aktivitäten als auch die Anwesenheit auswärtiger Gesandter und basilei`" in der Stadt boten der athenischen Politik während dieser Zeit einerseits regelmäßige und wichtige politische Impulse und führten andererseits der Bürgerschaft ihre Bedeutung als Entscheidungsträger stets aufs Neue dadurch vor Augen, daß sie nicht nur für Beschlüsse zuständig war, sondern selbstverständlich Adressat auswärtiger Anliegen sowie grundsätzlich Ort der Entscheidungsfindung blieb. Die getätigten finanziellen Aufwendungen durch die Attaliden Eumenes II. und später Attalos II., jeweils mit dem Bau einer Stoa574, oder durch Antiochos IV. mit der Wiederaufnahme der Bautätigkeiten am Olympieion575, verweisen hierbei über die freundschaftlichen Beziehungen hinaus auf eine Anerkennung der athenischen Position als eine eigenständige diplomatische Macht, um deren Gunst geworben wurde und deren politische Nähe angestrebt war576. Vor dem Perseuskrieg stand Athen also als eine Polis dar, deren Bürgerschaft zwar durchaus enger an Rom orientiert war, andererseits aber auch vielfältige und intakte Beziehungen zu hellenistischen basilei`" pflegte. Eine einseitige Abhängigkeit, die möglicherweise zu einer Einschränkung des 571 Siehe dazu HABICHT 1994, 150f. (mit den entsprechenden Quellenangaben). Vgl. H. MATTINGLY, Athens between Rome and the Kings: 229/8 to 129 B.C., in: HELLENISTIC CONSTRUCTS 1997, 129–133. 572 HABICHT 1994, 175f. (mit zahlreichen Belegen). Vgl. besonders AGORA XVI n. 332D, wonach Antiochos IV. vor Erlangen der Königswürde längere Zeit in Athen verbrachte. Vgl. dazu P. F. MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes. Eine politische Biographie, Berlin 2006, 41f. 573 Polyb. XXVIII 19. HABICHT 1994, 151f. 574 S CHAAF 1992, 84–111. Beide Gebäude sind nicht sicher zu datieren, jedoch scheint das des Eumenes II. eher in die fortgeschrittene Phase seiner von 197–159 v.Chr. währenden Regierungszeit zu gehören, das des Attalos II. eher in dessen frühe Regierungszeit (ebendort 88. 98). Es ist daher zumindest bei der Eumenes-Stoa nicht zu bestimmen, ob sie vor oder nach 168 v.Chr. datiert. Vgl. zu den Gebäudestiftungen von Attalos I. in Athen SCHAAF 1992, 116–120; siehe zu den Herrscherstiftungen in Athen im 2. Jh. v.Chr. jetzt die Zusammenstellung von SCHMIDT-DOUNAS 2000, 216–244. 575 Polyb. XXVI 1,11. Siehe dazu Chr. H ABICHT, Die Rolle der Könige gegenüber Städten und Bünden, in: Actes du Xe Congrès international d’épigraphie grecque et latine (Nimes 1992), Paris 1997, 167f. 576 Dieses gilt eben auch für die Zeit nach der entscheidenden Auseinandersetzung von Pydna, da zumindest die Gebäudestiftung des Attalos II. aufgrund seiner Regierungszeit von 159–138 v.Chr. dorthin gesetzt werden muß.

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äußeren Handlungsspielraumes geführt haben könnte, läßt sich für diese Zeit nicht erkennen, und auch innenpolitisch fehlen sowohl entsprechende Hinweise auf eine Einschränkung der demokratischen Institutionen wie auch Anzeichen für eine fehlende politische Aktivität der Bürgerschaft577. Die Stadt befand sich in außenpolitischer Hinsicht also in einer sehr vorteilhaften Lage, wobei die dank des diplomatischen Einsatzes gesicherte Unabhängigkeit der Polis durchaus derjenigen der vorangegangenen Freiheitsphasen im 3. Jh. v.Chr. vergleichbar gewesen sein dürfte578. Nach dem römischen Sieg über die Makedonen 168 v.Chr. gestand der römische Senat den Athenern aufgrund ihres loyalen Verhaltens nun auch territoriale Zugewinne, nämlich die ägäischen Inseln Lemnos und Delos, zu579. Eine athenische Gesandtschaft konnte diese nicht unerhebliche territoriale Forderung in Rom ohne wesentliche Einschränkungen durchsetzen, obwohl die Polis an der vorherigen Auseinandersetzung militärisch kaum beteiligt war580. Wiederum erbrachte also nicht ein aktives militärisches Eingreifen einen gesteigerten überregionalen Bedeutungszuwachs, sondern einzig eine unmißverständliche Haltung der Bürgerschaft während des Konfliktes. Im Gegensatz zu anderen Mächten, die sich den römischen Plänen gegenüber eher zurückhaltend zeigten oder aber weiterhin Beziehungen zu Perseus pflegten581, bestand für die Mehrheit der athenischen Bürgerschaft im Perseuskriege scheinbar kein Zweifel an der Unterstützung der Römer582. Freilich ist eine übergroße Opposition gegen Rom inner577 Eine veränderte Entscheidungsfindung oder veränderte Kompetenzen innerhalb der politischen Organisation sind bis in die Zeit der ersten Jahrzehnte des 2. Jhs. v.Chr. nicht zu erkennen, so daß ein Bedeutungsverlust nicht zu begründen wäre. Ein solcher muß aber angenommen werden, will man die soeben angeführte intensive diplomatische Tätigkeit nicht als einen Impuls für die Festigung der demokratischen Organisation verstehen; somit kann schließlich eine weitere Etablierung der bisher bekannten demokratischen Praxis der freien Polis sicher angenommen werden. Anders DREYER 2001. 578 Die Einschätzung von John M. CAMP (The Archaeology of Athens, New Haven/London 2001, 170), daß „by this time [scil. die 1. Hälfte des 2. Jhs. v.Chr.] Athens had lost all military, political, and economic preeminence“, ist hinsichtlich der militärischen Möglichkeiten der Polis sicherlich berechtigt, hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung in dieser Zeit jedoch schlichtweg unzutreffend. Für das Verständnis und den Kontext der hier angeführten Gebäudestiftungen jenseits des archäologischen Befundes bleibt der politische Aspekt freilich von nicht unerheblicher Bedeutung. 579 Polyb. XXX 20,7: plh;n h{ ge suvgklhto" kai; th;n Dh`lon aujtoi`" e[dwke kai; th;n Lh`mnon (…). Wohl sind den Athenern in diesem Zusammenhange auch Skyros und Imbros zuerkannt worden; dazu HABICHT 1995, 220 (mit weiterer Literatur). 580 Polyb. XXX 20 mit dem Auftreten und den Forderungen der athenischen Gesandtschaft. Außer einer Getreideunterstützung (Liv. XLIII 6,2f.) haben die Athener die römische Seite möglicherweise noch mit einem kleineren Aufgebot bei Pydna unterstützt; HABICHT 1995, 220f. 581 Der Senat warf den Pergamenern unter Eumenes II. sowie dem Achaiischen Bund fortwährende Beziehungen zu Perseus vor und verhielt sich ihnen gegenüber entsprechend restriktiv. Im Falle des Achaiischen Bundes führte dieses zur der bekannten Stellung von 1.500 Geiseln, die über mehrere Jahre in Italien festgehalten wurden; hierzu WILL 1982, 282–285. DEROW 1989, 318f. Ein zögerliches Verhalten gegenüber dem Senat wurde den Rhodiern vorgeworfen, was der Inselpolis im folgenden erhebliche Einbußen einbrachte (siehe dazu unten das Kapitel zu Rhodos). 582 HABICHT 1995, 216 sieht den Grund hierfür in einem bestehenden förmlichen Bündnis-

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halb des dh`mo" in dieser Zeit auch deshalb kaum naheliegend, weil die Polis durch die gute Verbindung zum Senat auch in den 180er und 170er Jahren eine militärisch starke Macht an ihrer Seite wußte, zumal hinsichtlich einer möglichen Opposition gegen Rom zu fragen wäre, welche Gründe es für einen Anschluß an Perseus und die Makedonen gegeben hätte, die nun ja über längere Zeit der vorangehenden 150 Jahre den athenischen Handlungsspielraum mitunter erheblich eingeschränkt hatten und denen man sich kurz zuvor im Zweiten Makedonischen Krieg bereits entgegengestellt hatte. Eine noch im Antiochoskrieg durch das Exil des Apollodoros aufzuzeigende, innenpolitische Polarisierung zwischen Rom und dem Seleukiden dürfte im Vorfeld der Auseinandersetzung zwischen Rom und Perseus innerhalb der Bürgerschaft die politischen Gewichte kaum wesentlich zugunsten der Makedonen verändert haben. Zugleich ist darin allerdings noch keine außenpolitische Abhängigkeit der Polis von Rom zu erkennen, da ihr Verhalten gegenüber dem Senat bis dato ausschließlich selbstbestimmt war und bisher zu jedem Zeitpunkt politische Alternativen bot583. I. 4. POLITISCHE VERÄNDERUNGEN IM HELLENISTISCHEN ATHEN UNTER RÖMISCHER DOMINANZ Athen nach 168 v.Chr. Wenngleich Rom die Entscheidung über den athenischen Zugewinn getroffen hatte, übte die griechische Polis die Herrschaft über die Insel Delos aus. Die Bürgerschaft organisierte die politische Verwaltung von Delos teils in Anlehnung an einen attischen dh`mo", teils in Anlehnung an die Gesamtpolis. Die dortige Bürgerschaft, die sowohl eigene Amtsträger wählte als auch Ehrungen beschloß, wurde als oiJ A j qhnai`oi oiJ ejn Dhvlwi katoikouvnte" bezeichnet584. Als Beschlußfassungsorgan agierte eine ejkklhsiva, der im Gegensatz zu der übrigen lokalen Organisation eine boulhv zugeordnet war. Daß die in Delos ansässigen Athener der versammelten Gesamtbürgerschaft stärker verpflichtet waren als die anderen lokalen dh`moi, zeigen die Zustimmung der athenischen ejkklhsiva zu bestimmten lokalen Beschlüssen585 sowie die Wahl hoher Amtsträger der Insel, insbesondere vertrag, dessen Existenz jedoch weder zwingend noch sicher ist (s.o.). Vergleicht man Athens Stellung direkt nach 168 v.Chr. gegenüber Rom mit der des Eumenes II., der vom Senat als persona non grata betrachtet wurde, oder mit der der Rhodier, die aufgrund der römischen Entscheidungen nach 168 v.Chr. erhebliche territoriale und wirtschaftliche Einbußen zu beklagen hatten, so scheint Athen zu dieser Zeit vielmehr als gleichberechtigter Machtfaktor neben anderen griechischen Machtblöcken gestanden zu haben. 583 DREYER 2001, 65 sieht die „Phase der freiwilligen Selbstbeschränkung und des Rückzuges nach 229/8 durch den zunehmend beschränkenden Einfluß Roms, der insbes. über das athenische Delos wirksam wurde“ abgelöst. Angesichts der hier nunmehr betrachteten Aspekte kann allerdings weder von einem „Rückzug“ noch von einem allzu „beschränkenden Einfluß Roms“ vor 167 v.Chr. die Rede sein. 584 Siehe zur politischen Organisation von Delos oben die Angaben und Belege im Abschnitt zur lokalen politischen Organisation. Die delischen Bürger erhielten mit der Übernahme der Insel durch Athen das Bürgerrecht in Städten des Achaierbundes; Polyb. XXXII 7,2f. 585 ROUSSEL 1987, 44–47 (mit den Belegen).

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des ejpimelhthv", durch die ejkklhsiva der Polis586 . Diese Kontrolle wesentlicher Entscheidungen bezüglich der Insel Delos hat für die gesamte athenische Bürgerschaft ein zentrales Interesse ausgemacht, zumal die Insel durch ihren Freihafenstatus der Polis finanzielle Gewinne ermöglichte587. Weiterhin lagen politische Vorgänge in Delos gerade auch deshalb in einem speziellen Blickfeld der gesamten Bürgerschaft, weil es der römische Senat war, der Athen diesen territorialen Zugewinn überhaupt ermöglichte, so daß die im Zusammenhang mit der Insel zu treffenden Entscheidungen immer auch im Kontext der athenisch-römischen Beziehungen zu beurteilen waren und dementsprechend einer besonderen politischen Sensibilität unterlagen. Die im folgenden anzuführenden politischen Veränderungen auf Delos bieten somit auch Hinweise auf eine grundsätzlich veränderte politische Situation in der Gesamtpolis. War nämlich nach der Übernahme der Insel noch die gesamte Bürgerschaft für die dortigen politischen Vorkommnisse verantwortlich, sollte der durch die römische Dominanz nun zunehmend eingeschränkte außenpolitische Handlungsspielraum – sowohl für Delos als auch für Attika – eine veränderte politische Praxis, letztlich sogar eine veränderte politische Organisation mit sich bringen, wodurch schließlich die bisher beobachtete, althergebrachte Herrschaft des dh`mo" grundsätzlich umgeformt wurde; ein unmißverständlicher Endpunkt dieses Vorganges war für die Athener mit Sullas Vorgehen gegen die Stadt erreicht. Eine erste Einschränkung der Entscheidungsgewalt hinsichtlich ihres neuen Besitzes Delos mußten die Athener hinnehmen, als der römische Senat der Klage gegen ein Kultverbot auf der Insel stattgab und die Bürgerschaft durch ein senatus consultum anwies, ein von ihnen zuvor ausgesprochenes Verbot aufzuheben588. Allerdings respektierte der Senat die athenische Verfügungsgewalt über die Insel sowie die Integrität der Polis dahingehend, daß Athen selbst für die Umsetzung des senatus consultum Sorge zu tragen hatte589. In einer weiteren Episode bald nach dem Dritten Makedonischen Krieg wurde den Athenern eine außenpolitische Einschränkung abermals von Rom aufgezeigt. Bei dem Versuch, das Heiligtum des Amphiareios der Oropier zu vereinnahmen, bestimmte der 586

Zu den ejpimelhtaiv ausführlich ROUSSEL 1987, 97–125; HABICHT 1994, 264–286. Zu weiteren hohen Amtsträgern der Insel, die durch die ejkklhsiva in Athen bestimmt wurden, gehören etwa die Vorsteher der öffentlichen Bank und die Gymnasiarchen (HABICHT 1995, 250 mit Verweisen). 587 Die wirtschaftliche Bedeutung von Delos in der 2. Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. hebt Strab. X 5,4 hervor, wonach insbesondere nach der Zerstörung von Korinth die Insel eine wirtschaftliche Blüte erfuhr; siehe weiterhin HABICHT 1995, 258–264. 588 IdDélos n. 1510; vgl. S HERK Documents n. 5 (Kommentar); dazu TRACY 1979, 214; HABICHT 1995, 255–257; KALLET-MARX 1995, 200. 589 IdDélos n. 1510 2–10: genomevnwn | pleiovnwn lovgwn ejn tei` boulei` | peri; tou` dovgmato" ou| h[negken | ejk JRwvmh" Dhmhvtrio" JRhnai|eu;" [scil. der die Athener in Rom anklagende Priester] uJpe;r tw`n kata; to; Sarapi|ei`on, e[doxen mh; kwluvein auj|to;n ajnoivgein kai; qerapeuvein to; iJero;n kaqavper kai; provte|ron. In Athen selbst wurde das senatus consultum der Römer als bindend angesehen, so daß es keiner eigenständigen Entscheidung der ejkklhsiva für dessen Bestätigung bedürfte und daher nur die boulhv mit der Übermittlung des Beschlusses befaßt war. Dieses wird deutlich durch das e[doxen (Z. 7), das sich eben auf das erwähnte Gremium der boulhv bezieht.

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Senat nach der Beschwerde der Oropier die Polis Sikyon als Schlichter jenes Streites590. Dieses wiederum schienen die Athener nicht zu akzeptieren und entsandten im folgenden die berühmte Philosophengesandtschaft von 155 v.Chr. an den Tiber591. Das schließlich vom Senat festgesetzte Strafmaß gegen die Athener wurde von der Bürgerschaft akzeptiert592, so daß auch in diesem Falle eine direkte Einflußnahme in Form eines Schiedsspruches mit dazugehöriger Strafverhängung durch Rom die außenpolitischen Möglichkeiten des dh`mo" deutlich einschränkte. Beide Episoden kennzeichnen die neue athenische Situation im Anschluß an den Dritten Makedonischen Krieg: Versuche der Stadt, ihren außenpolitischen Handlungsspielraum gemäß den eigenen Vorstellungen respektive den Entscheidungen der Bürgerschaft auszuweiten, endeten eben genau dort, wo römische Interessen betroffen waren, so daß die nunmehr bestehende römische Dominanz in der griechischen Welt eine deutliche Vorgabe für die Ambitionen der Polis darstellte593. Der athenische Handlungsspielraum blieb nunmehr wenigstens indirekt an den Bestrebungen des römischen Senats orientiert und trug somit den bestehenden außenpolitischen Machtverhältnissen Rechnung. Letzteres wird ab den 150er Jahren an zahlreichen Huldigungen gegenüber Rom deutlich. So wurde – dies zeigen insbesondere Inschriften aus Delos – bei öffentlichen Feierlichkeiten auch dem Wohle der Römer gedacht594 sowie deren civitas geopfert595. Eine Inschrift aus dem Jahre 158/7 v.Chr. führt zusammen mit dem Kult der Hestia auch den der Roma an596 und für Athen ist das erste Opfer für die civitas der 590

Paus. VII 11,4–8; vgl. dazu Polyb. XXXII 11,5–7. Sikyon war Mitglied des Achaiischen Bundes, in dem zuvor die vertriebenen Delier ansässig geworden waren, und setzte im Streit nach dem athenischen Nichterscheinen eine Schadensersatzzahlung von 500 Talenten fest. Der darauffolgend tätigen Philosophengesandtschaft der Athener gehörten der Akademiker Karneades aus Kyrene, der Aristoteliker Kritolaos aus Phaselis und der Stoiker Diogenes aus Seleukeia am Tigris an; vgl. zur Situation HABICHT 1995, 266f. Zum öffentlichen Auftreten dieser Gesandten in Rom, an dem insbesondere der ältere Cato Anstoß nahm, siehe die Verweise bei HABICHT (ebendort); KALLET-MARX 1995, 200; ADAK 2003, 180. 592 Die Gesandtschaft hatte insofern Erfolg, als daß sie die von Athen zu zahlende Strafsumme von 500 auf 100 Talente mindern konnte; Paus. VII 11,5. ADAK 2003, 180f. (mit weiterer Literatur). 593 Vgl. Polyb. XXXII 7,1–5; (dazu auch XXX 20,9) zu einem weiteren Disput zwischen den vertriebenen Deliern und den Athenern, der in dieser Zeit vom römischen Senate – zugunsten der Delier – entschieden wurde. 594 IdDélos n. 1498 j qhnaiv|wn kai; JRwmaivwn kalw`" (159/8 20f.: kai; ta;" qusiva" uJpe;r A v.Chr.). 595 IdDélos n. 1499 3–8.: tav" te qusiva" e[qu|[san ta;" kaqhk]ouvsa" aJpavsa" uJpevr te th`" | [boulh`" kai; t]ou` dhvmou tou` A j qhnaivwn kai; | [paivdwn] kai; gunaikw`n kai; tou` dhvmou tou` ÔRw|[m]aivwn kai; tw`n katoikouvntwn A j qhnaivwn | [t]w`n ejn Dhvlwi (…) (153/2 v.Chr.). Vgl. dazu außerdem IdDélos n. 25891–5: Fwkivwn  A j ristokravtou Meliteu;" | gumnasiarchvsa" ajnevgrayen | tou;" gumnasiarchvsanta" | ajf j ou| oJ dh`mo" dia; R J wmaivwn ajnekthvsato | th;n nh`son. Die Gymnasiarchenliste wurde in der Mitte der 150er Jahre, als eben dieser Phokion Gymnasiarch in Delos war, begonnen und spiegelt demnach die Sicht der 150er Jahre v.Chr. wider. 596 IdDélos n. 2605 : [ E J ]stiva" [Dhvmou JR]wvmh". Siehe dazu ROUSSEL 1987, 222f.; BRUNEAU 9 1970, 444. Ob der Kultzusammenhang von Hestia und Roma bereits für die Zeit ab 167/6 v.Chr. geltend gemacht werden kann, wie HABICHT 1995, 257f. meint, muß offen bleiben. 591

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Römer in der Mitte des 2. Jhs. v.Chr., wohlmöglich im Jahre direkt nach der Philosophengesandtschaft von 155 v.Chr., belegt597. Diese Häufung der Ehrerweisungen an Rom in dieser Zeit läßt erkennen, daß der athenische dh`mo" die bestehenden Machtverhältnisse, zumal ohne greifbare außenpolitische Alternative, akzeptierte. Obwohl bereits ab dem Jahre 167/6 v.Chr. ein Ehrenfest für die Göttin Roma, die JRwmaiva, bezeugt ist598, scheint es hingegen eine deutliche Zunahme der Huldigungen gegenüber den Römern erst in den 150er Jahren gegeben zu haben. Ein wesentlicher Grund für diese Veränderung dürfte in dem bereits angeführten athenischen ‚Mißverhalten‘ gegenüber römischen Vorstellungen respektive in der Angst der Bürgerschaft, mit einer möglichen Ungnade des Senates konfrontiert zu werden, zu erkennen sein – der senatorische Mißmut gegenüber Rhodos nach dem Dritten Makedonischen Krieg war den Athenern jedenfalls nicht zuletzt durch ihren Zugewinn ‚Delos‘ durchaus präsent. Folgt man dieser Sichtweise, ergibt sich eine veränderte Interpretation des grundsätzlichen athenischen Auftretens gegenüber Rom nach dem Perseuskrieg: Keineswegs brauchte die Polis sogleich eine Abhängigkeit von der Tibermacht mittels Huldigungen und Ehrerbietungen einzugestehen, was schließlich auch einen erheblichen Bruch mit der direkt vorangehenden Zeit bedeutet hätte und was Athen, gemessen am vorherigen Selbstverständnisse der Bürgerschaft, trotz der territorialen Begünstigung in seiner außenpolitischen Bedeutung durchaus als erhebliche Demütigung hätte empfinden müssen599. Anders als Rhodos brauchte die Polis gegenüber dem Senat noch nicht als Bittsteller aufzutreten, sondern ging vorerst als außenpolitisch weiterhin selbstbewußte Macht aus dem Dritten Makedonischen Krieg hervor. Erst mit den in bezug auf Rom eher unglücklichen eigenen Entscheidungen der sich direkt anschließenden Zeit brachte sich die Bürgerschaft in eine zunehmend defensive Position, die sie dann mittels der angeführten Ehrerbietungen gegenüber Rom auszugleichen versuchte. Für die politische Praxis innerhalb des dh`mo" sollte dieser Vorgang allerdings auch bedeuten, daß nunmehr vor allem diejenigen Bürger, die sich Rom gegenüber loyal verhalten hatten, in einer vorteilhaften Position waren, wohingegen romkritische Stimmen, wollte die Polis ihre außenpolitischen Errungenschaften auch weiterhin bewahren, nur noch sehr bedingt als zeitgemäß betrachtet werden konnten600. Von 146 v.Chr. bis zum ausgehenden 2. Jh. v.Chr. Eine abermalige Manifestation der römischen Macht offenbarte sich der griechischen Welt mit den Vorgängen des Jahres 146 v.Chr. und der Zerstörung von Korinth. Athen verhielt sich diesen Ereignissen gegenüber weitgehend passiv und war zudem von den Auswirkungen des Achaiischen Krieges nicht direkt 597 AGORA XV n. 180 10f.: kai;] | [tw`i dhvmw]i∫ tw`i JRwmaiv[wn uJpe;r th`" boulh`" kai; tou` dhvmou (…). Die Datierung dieser Inschrift ist allerdings nicht sicher; siehe dazu TRACY 1990, 141f. 598 ROUSSEL 1987, 344; BRUNEAU 1970, 445. Vgl. IdDélos n. 1450A 119. 599 Dieses gilt auch dann, wenn die JRwmaiva bereits 167/6 v.Chr. eingeführt worden wären. 600 Freilich bedeutet diese Interpretation nicht, daß die im folgenden anzuführenden Veränderungen innerhalb der Bürgerschaft ohne ein solches ‚Fehlverhalten‘ ausgeblieben wären. Die Dauer und die Intensität der Veränderung wären jedoch in einer anderen Form ausgefallen.

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betroffen601. Indirekt hingegen weitete sich Roms Herrschaftsbereich nun auch sichtbar auf die Städte der Peloponnes aus, indem der Statthalter der Provinz Macedonia die Gebiete des Achaiischen Bundes sowie weiterhin die Megaris, Theben und Chalkis kontrollierte602. Athen wurde damit zu einer freien Enklave inmitten eines römisch dominierten Bereiches. Jedwede diplomatische Bemühung der Polis konnte spätestens jetzt, wollte die Stadt ihren verbliebenen außenpolitischen Handlungsspielraum nicht weiter einbüßen und keine vergleichbare Beherrschung erleiden, nur noch in vollständiger Übereinstimmung mit römischem Bestreben oder sogar mit deren Zustimmung vonstatten gehen. Die Bedeutung der Diplomatie, die der Stadt seit dem ausgehenden 3. Jh. v.Chr. wieder zu einer hervorragenden Stellung verholfen hatte, ging also in den 160er und 150er Jahren und dann mit den Ereignissen von 146 v.Chr. weitgehend wieder verloren. Wenngleich freilich auch zukünftig athenische Gesandtschaften auf den Weg gebracht wurden, waren deren politische Möglichkeiten erheblich eingeschränkt. Hiermit blieb nun allerdings gleichzeitig auch ein entscheidender Impulsgeber für die innenpolitischen Abläufe der Stadt nach und nach aus. Mit der Herrschaftsübernahme im pergamenischen Reiche und der Einrichtung der römischen Provinz Asia durch Rom am Beginn der 120er Jahre v.Chr. verstärkte sich diese Situation schließlich noch dadurch, daß für die Polis ein weiterer Adressat politisch bedeutsamer Diplomatie verloren ging603. Sicherlich handelte es sich bei Roms Dominanz um eine von Athen zunächst keineswegs durchweg negativ wahrgenommene Entwicklung, da die Stadt dem Jahre von Korinths Zerstörung dadurch Rechnung trug, daß sie dieses Ereignis mit einer neuen Archontenliste als ein epochemachendes verstanden wissen wollte. Vergleiche mit ähnlichen Neuanfängen dieser Liste kennzeichnen einen solchen Vorgang als ‚positive‘ Wertschätzung, wobei im Falle von Korinths Zerstörung dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Aufschwung des athenischen Delos eine nicht unwesentliche Bedeutung beizumessen war604. Es ist freilich nicht klar zu bestimmen, wie groß bereits der Einfluß von prorömischen Kreisen innerhalb der Bürgerschaft auf derartige Entscheidungen war. In wirtschaftlicher Hinsicht ging es der Stadt zu dieser Zeit sicherlich gut605, und auch verweisen die Quellen für die 2. Hälfte 601 HABICHT 1995, 270f.; vgl. dazu Polyb. XXXVIII 13,9 mit dem Auftreten von Gesandten des Statthalters der Provinz Macedonia in Athen. 602 Der Beginn der Ausübung einer direkten römischen Herrschaft in Makedonien fällt in das Jahr 148 v.Chr. nach der Niederschlagung des Andriskosaufstandes. Zur Einrichtung der Provinz Macedonia 146 v.Chr. nach dem Eingreifen des Q. Caecilius Metellus KALLET-MARX 1995, 11–18. Für die hier diskutierten Zusammenhänge ist wenig relevant, ob der Provinzstatus, entsprechend der älteren Forschung (vgl. dazu FERRARY 1988, 186–209), bereits 148 v.Chr. bestand. Zur weiteren Machtausübung des makedonischen Statthalters in griechischen Gebieten siehe KALLET-MARX 1995, 42–56; vgl. zu Athens Rolle im Achaiischen Kriege HABICHT 1995, 272–274. 603 Zur Einrichtung der Provinz Asia und den damit verbundenen Datierungsproblemen, die an dieser Stelle ebenfalls unberücksichtigt bleiben können, siehe KALLET-MARX 1995, 97–122; F. DAUBNER, Bellum Asiaticum. Der Krieg der Römer gegen Aristonikos von Pergamon und die Einrichtung der Provinz Asia, München 22006, 191–224. 604 Dazu HABICHT 1995, 271. 605 HABICHT 1995, 288f.

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des 2. Jhs. v.Chr. auf forthin bestehende Beziehungen zu den Königreichen und anderen Staaten606. Christian Habicht beurteilte die athenische Situation für das fortgeschrittene 2. Jh. v.Chr. dahingehend, daß es nicht zweifelhaft sein könne, „daß Athen auch während des ausgehenden 2. Jahrhunderts mit zahlreichen anderen Staaten Griechenlands in lebhaftem Austausch über politische und wirtschaftliche, rechtliche, kulturelle und religiöse Angelegenheiten stand“607. Allerdings dürfte ein Austausch in politischen Angelegenheiten kaum mehr von gewichtiger Bedeutung gewesen sein, da jedes Bestreben gegen römische Interessen die eigene Freiheit und damit auch die Prosperität der Stadt gefährdet hätte. Ein einflußreicher außenpolitischer Handlungsspielraum, der eben auch eine international entscheidende Diplomatie nach sich gezogen hätte, war kaum mehr gegeben, so daß vor allem eben die wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Aspekte im Vordergrunde gestanden haben sollten608. Die sich im folgenden klarer abzeichnenden Veränderungen der politischen Gewichte innerhalb der athenischen dhmokrativa und damit auch in der athenischen Gesellschaft werden wiederum auf Delos deutlich. Der letzte, dort einzig von den A j qhnai`oi ejn Dhvlwi gefaßte Beschluß ist in das Jahr 145/4 v.Chr. zu datieren609, während darauf folgend auch die JRwmaivoi oiJ parepidhmou`ne" genannt werden610, zu denen noch Kaufleute, Reeder und die anwesenden Fremden hinzukommen611. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt hatte es in der Zwischenzeit also eine Verlagerung von politischen Gewichten dahingehend gegeben, daß das Entscheidungsmonopol der Athener und damit auch die Aufrechterhaltung einer politischen Exklusivität verloren ging612. Wenngleich Delos den Athenern nur durch römisches Wohlwollen zugestanden worden war, steht dieser Verlust des

606 Athens auswärtige Aktivitäten von der Mitte bis zum ausgehenden 2. Jh. v.Chr. sind mit den entsprechenden Quellenverweisen zusammengestellt bei HABICHT 1995, 281–288. Siehe zu den guten Beziehungen zu den Ptolemaiern HABICHT 1994, 155–160 sowie Th. MAVROGIANNIS, in: MÜLLER/HASENOHR 2002, 163–179 (zu den Ptolemaiern in Delos im ausgehenden 2. Jh. v.Chr.). 607 HABICHT 1995, 286. 608 Wenn HABICHT 1995, 286f. in diesem Zusammenhange von einer auswärtigen „Betriebsamkeit“ spricht, dürfte dieser Begriff die Umstände sehr genau treffen. Die von HABICHT 1995, 281–288 aufgezählten Kontakte bestätigen jedenfalls das Ausbleiben gewichtiger außenpolitischer Einflußnahme und zeigen vielmehr ein Interesse an wirtschaftlich guten Verhältnissen zu auswärtigen Mächten. Vgl. jetzt weiterhin R. COMPATANGELO-SOUSSIGNAN, Les Italiens à Délos et l’économie de l’Italie méridionale au IIe s. av. n.è., Athenaeum 84, 2006, 167–193. 609 Hierzu und zum folgenden HABICHT 2006, 275f. 610 IdDélos n. 1643 : [ A j q]h∫naivwn oiJ katoikou`nte" ejn Dhvlwi | kai; JRwmaivwn oiJ pare1f. pidhmou`nte". 611 IdDélos n. 1645 : A 3f. j qhnaivwn oiJ katoikou`nte" ejn Dhvlwi kai; oiJ e[mporoi kaiv oiJ nauvklhroi | kai; JRwmaivwn kai; tw`n a[llwn xevnwn oiJ parepidhmou`nte". Siehe weiterhin IdDélos n. 1646. 1647. 1648. 1649. 1650. 1651. Die Inschriften datieren in die Zeit nach 130 v.Chr. Eine Liste der delischen Epimeleten zwischen 167 und 88 v.Chr. bietet HABICHT 1994, 267–270. 612 Auch wenn es sich in den angeführten Inschriften um Ehrendekrete handelt, wird mit der Beistellung weiterer ehrender Bevölkerungsgruppen deutlich, daß die Athener auf der Insel grundsätzlich an Einfluß verloren hatten.

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Einflusses auf dem der Polis zugehörenden Territorium beispielhaft für den Wandel nach dem Dritten Makedonischen Krieg und einer damit verbundenen, sich weiterhin verstärkenden außenpolitischen Abhängigkeit – im Falle von Delos eben gekennzeichnet durch die zunehmende Gleichberechtigung von Bevölkerungsgruppen jenseits der die Politik zuvor bestimmenden Bürgerschaft. In diesem Zusammenhang ist auch die von Christian Habicht angeführte Beobachtung zu verstehen, daß ab etwa 120 v.Chr. in vielen Weihungen einzelner Personen auf Delos neben dem dh`mo" der Athener auch dem der Römer gedacht wurde613. Die von Habicht formulierte Frage, warum eine solche Berücksichtigung der Römer nicht alsbald nach 166 v.Chr. auftrat, ist deshalb irreführend, weil sie auch eine notwendige Berücksichtigung der römischen civitas in dieser früheren Zeit voraussetzt, nicht aber die Wahrung der athenischen politischen Souveränität auf der Insel beachtet. Sicherlich trägt, wie Habicht anführt, eine Einbeziehung der Römer ab etwa 120 v.Chr. auch der gewachsenen römischen Bevölkerung auf der Insel Rechnung614. Habichts anschließende Deutung, daß die kürzeren Formen uJpe;r tou` dhvmou tou` A j qhnaivwn sowie uJpe`r tou` dhvmou tou` JRwmaivwn mit der Ausprägung dieser Weihungen dann nur Kürzel der vollständigen Angabe uJpe;r tou` dhvmou tou` A j qhnaivwn kai; tou` dhvmou tou` JRwmaivwn seien615, greift aber zu kurz. Indem diejenigen Inschriften, die einzig die Athener nennen, in die Zeit der letzten Jahre des 2. Jhs. sowie des beginnenden 1. Jhs. v.Chr. datieren616, wird man sie auch vor den im folgenden näher zu behandelnden innenpolitischen Auseinandersetzungen der Polis dieser Zeit verstehen müssen, so daß dann in der fehlenden Einbeziehung der Römer durchaus eine Kritik an einer römischern Dominanz respektive ein Wunsch nach stärkerem athenischen Einfluß zu erkennen wäre617. In Athen selbst ist ein grundsätzlicher Wandel der gesellschaftspolitischen Verhältnissen und eine Abkehr von zuvor fest etablierten Werteidealen der Bürgerschaft wohl an keinem Umstand so deutlich zu erkennen wie am Ausbleiben öffentlich aufgestellter Bürgerrechtsverleihungen seit den 130er Jahren v.Chr.618. Indem der dh`mo" in der vorangegangenen Zeit die für eine angestrebte Zugehörigkeit zu seinem Kreise notwendigen Leistungskriterien durch die öffentliche Präsentation beschlossener Privilegien zu Schau stellte, manifestierte er einerseits seine exklusive Stellung und ermöglichte andererseits der Bürgerschaft eine 613

HABICHT 1995, 258 (mit den Belegen). HABICHT 2006, 283. Zu römischen Bürgern in Athen siehe Chr. HABICHT, Roman Citizens in Athens (228–31 B.C.), in: M. C. Hoff, S. I. Rotroff (Hrsgg.), The Romanization of Athens, Oxford 1997, 9–17. 615 Vgl. etwa IdDélos n. 1709. 1810. Insgesamt bestehen 45 diesbezügliche Belege, wovon 13 einzig die Athener, die übrigen beide Bürgerschaften nennen; HABICHT 1995, 258 mit weiteren Angaben. 616 HABICHT ebendort. 617 Habicht hingegen begründet die höhere Zahl von Ehrungen, die beide Bürgerschaften einbezogen, mit einer größeren Popularität dieser Fassung, die eben auch durch die zahlreich anwesenden Römer und Italiker bedingt gewesen sei. 618 Siehe zu den letzten überlieferten Dekreten OSBORNE 1982, 191; zur Datierung des wohl letzten Bürgerrechtsdekretes IG II2 n. 980 siehe TRACY 1990, 241. 614

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Identifikation mit diesen Leistungen. Das Ausbleiben dieser Veröffentlichungen muß daher als einschneidende Veränderung im Umgang mit der eigenen Tradition und, daraus resultierend, auch als ein Bedeutungsverlust der Bürgerschaftsexklusivität gewertet werden. Nur kurze Zeit darauf, nämlich 119/8 v.Chr., und dieses fügt sich ebenfalls in das Bild einer nunmehr nachlassenden Exklusivität des dh`mo", finden sich unter den athenischen Epheben der Stadt zum ersten Male Fremde, womit gleichzeitig ein weiteres, zuvor bestehendes Monopol der Bürgerschaft aufgehoben wurde. In Athen wiederholte sich hierbei nur eine bereits in Delos eingeleitete Entwicklung, denn dort nahmen schon 126/5 v.Chr. mehrere Fremde an der Ephebia teil619. Selbst wenn die Epheben nur eine kleine, zugleich aber elitäre Gruppe innerhalb der Bürgerschaft ausmachten, wurden Bürger aus ihrem Kreise in früherer Zeit auch als mögliche zukünftige Führungspersönlichkeiten angesehen620, so daß eine solche Aufnahme von Nichtbürgern nicht nur einen Bruch mit innenpolitischen Wertmaßstäben darstellte, sondern gleichzeitig auch deren Bedeutung für das politischen Geschehen innerhalb der ejkklhsiva deutlich schmälerte. Daß die Ephebia darüberhinaus für Fremde eine Möglichkeit zum Erwerb des Bürgerrechts dargestellte621, führt schließlich abermals zu der bereits angesprochenen Entwicklung einer abnehmenden Bedeutung des vormals durchweg exklusiven Kreises der athenischen Bürgerschaft. Dieser aufgezeigte gesellschaftspolitische Wandel läßt sich im ausgehenden 2. Jh. v.Chr. weiterhin an Veränderungen der politeiva festmachen, die kaum mit Athens freiheitlicher dhmokrativa der vorangegangenen hellenistischen Zeit zu vereinbaren gewesen wären. Insbesondere wird dies durch die Aufhebung des Losverfahrens und des Iterationsverbotes für das Amt des eponymen Archon deutlich622. Bereits in der Zeit um 100 v.Chr. wurde dieser Archon nicht mehr nach dem Losverfahren gewählt, denn ein gewisser Medeios besetzte das Amt mehrere Male623. Wann die Veränderung stattfand, ist nicht genau zu bestimmen, jedoch könnte dies bereits 116/5 v.Chr. geschehen sein, da mit Sarapion von Melite in diesem Jahre einer der einflußreichsten athenischen Politiker als Ar619 Zu den ersten Fremden in der Ephebia in Athen siehe PÉLÉKIDIS 1962, 183–196 mit IG II 2 n. 1008. Zu den ersten Fremden unter den Epheben in Delos siehe IdDélos n. 1923. Die Fremden kamen aus unterschiedlichen Regionen der Mittelmeerwelt; siehe dazu und zu den Datierungen die Angaben bei HABICHT 2006, 318f. 620 HABICHT 1995, 237f. 289f. 621 OSBORNE 1983, 167f. 204f.; HABICHT 1995, 343. Die Annahme von DREYER 2001, 47, die Ephebia sei ab dem Ende des 2. Jhs. v.Chr. „zu einem Einbürgerungsinstrument (an der Ekklesie vorbei) geworden, indem hier junge ausländische Adlige nach Beendigung des Ephebendienstes vollwertige Bürger wurden, während gleichzeitige Belege von Einbürgerungen durch die Ekklesie fehlen und diese Einbürgerungen auch wohl de facto zurückgingen“, bleibt unbegründet, da hierfür zunächst zu fragen wäre, wer über die Zulassung zur Ephebia entschied. Weiterhin darf die ausbleibende öffentliche Präsentation von Bürgerrechtsdekreten nicht mit einem grundsätzlichen Rückgang der Einbürgerungen gleichgesetzt werden. Beides bleibt bei Dreyer unberücksichtigt. 622 HABICHT 1995, 301. 623 Medeios ist 101/0 und 91/0 v.Chr. eponymer Archon, bekleidet dieses Amt dann noch weitere Male; siehe dazu IG II2 n. 17139–11; sein Archontat im Jahre 101/100 v.Chr. in IG II2 n. 233689–92; HABICHT 1994, 216. 1995, 301. Zu Medeios siehe weiterhin TRACY 1979, 223f.

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chon belegt ist, was freilich kaum dem Zufall zugerechnet werden kann624. Mit dieser Veränderung erlangte nun das höchste repräsentative Amt der Polis für politisch ambitionierte Bürger wieder erhebliche Attraktivität, womit gleichzeitig eine Aufwertung des Areopags als Gremium der ehemaligen Archonten verbunden war625. In der von Stephen Tracy umfassend behandelten Inschrift IG II2 2336, eine Liste von Beiträgen an den pythischen Apollon über einen Zeitraum von sieben Jahren um das Jahr 100 v.Chr., wird eine solche Verlagerung von politischen Gewichten hin zu einer kleineren, wohlhabenden Gruppe, die zunehmend einflußreiche und prestigeträchtige Ämter besetzte, sichtbar626. Es scheint daher durchaus gerechtfertigt, hinsichtlich der politischen Praxis des ausgehenden 2. Jhs. v.Chr. von einer Konzentration politischer Macht auf eine kleinere Führungsschicht innerhalb der Bürgerschaft zu sprechen627. Daß der damit einhergehende Bedeutungsverlust des dh`mo" und damit eben auch der ejkklhsiva hin zu einer politikbeherrschenden Elite ein Konfliktpotential mit sich brachte, das von der Mehrheit der Bürger kaum dauerhaft akzeptiert wurde, sollte die am Ende der 90er Jahre v.Chr. gegenüber einer Abhängigkeit von Rom sich bietende politische Alternative in der Person des Mithradates überaus deutlich zum Ausdruck bringen628. Gesellschaftspolitische Veränderungen nach 168 v.Chr: Fazit Der angeführte Wandel der athenischen Demokratie in der 2. Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. vollzog sich also – und dieses ist im Vergleiche zu den zuvor behandelten Phasen der athenischen Geschichte seit dem Lamischen Krieg kennzeichnend – nicht aus einer innen- oder außenpolitischen Krisensituation heraus, sondern fiel in eine Phase, in der die Polis keiner offensichtlichen Bedrohung gegenüberstand. Vielmehr erlebte Athen, so die einhellige Meinung der Forschung629, im letzten Drittel des 2. Jhs. v.Chr. sogar einen wirtschaftlichen Höhepunkt, dessen Grundlagen im Zugewinn von Delos und der folgenden Verlagerung des korinthischen Handels hauptsächlich auf die Kykladeninsel zu sehen sind. Allerdings befand sich Athen nach dem Ende des Dritten Makedonischen Krieges auch in einer ständig wachsenden Abhängigkeit von Rom, die, wenngleich keineswegs in allen Belangen negativ, mit der Ausweitung der römischen Vorherrschaft in Griechenland aufgrund der Provinzeinrichtungen Macedonia und Asia zunahm und zu der bis zum beginnenden 1. Jh. v.Chr. keine außenpolitischen Alternativen bestanden. Die athenische Diplomatie hatte damit ihr politisches Gewicht weitestgehend verloren und überdies einen entscheidenden Impuls für die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Bürgerschaft eingebüßt – Entschei624

HABICHT 1995, 320; vgl. TRACY 1979, 227. So eben TRACY 1979, 228f.; HABICHT 1995, 320. 626 TRACY 1979 passim, besonders 227–231. Dazu jetzt auch DREYER 2001, 60f. 627 Vgl. dazu DREYER 2001, 60f.; HABICHT 2006, 353f. 628 Daß in der Mitte des 2. Jhs. v.Chr. die maßgebenden Politiker der Stadt noch keiner etablierten „Schicht“ hinzuzurechnen sind, da sie aus anderen Familien stammen als diejenigen der nachfolgenden Generationen, hat HABICHT 1995, 288f. deutlich aufgezeigt. 629 Siehe dazu HABICHT 2006, 317. 625

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dungen mehr oder weniger im Sinne des römischen Senates konnten kaum auf Dauer eine politische Kultur am Leben erhalten, wie sie bis dahin seit der klassischen Zeit ausgeübt wurde630. Die abnehmende Bedeutung der politischen Entscheidungsorgane aufgrund nachlassender (außen-)politischer Notwendigkeiten ließ nunmehr den dh`mo" an Exklusivität verlieren, was deutlich an dem veränderten Umgang mit den Bürgerrechtsdekreten und der Ephebia abzulesen ist. Gleichzeitig konnte sich eine auch in finanziellen Belangen hervortretende Elite unter den Bürgern nachhaltig etablieren, die obendrein von den wirtschaftlichen Möglichkeiten auf Delos begünstigt wurde631 und die zudem mit der Besetzung von hochrangigen politischen Ämtern zu persönlichem Prestige gelangte. Es wäre in dieser Hinsicht gerechtfertigt, für die 2. Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. von einer Timokratisierung der politischen Verhältnisse in der Polis zu sprechen. Daß diese Entwicklung aus römischer Sicht keineswegs unerwünscht war, vielleicht sogar noch gefördert wurde632, mag Roms gesellschaftspolitischer Umgang mit anderen Städten nahelegen, wobei eine reiche und exklusive Gruppe unterstützt wurde, gleichzeitig aber eine althergebrachte politische Gleichheit der Bürger weitestgehend unberücksichtigt blieb633. In Athen sollte Roms Bevorzugung einer Bürgerelite freilich mit der Neukonstitution der Verfassung nach Sulla deutlich hervortreten, in der Art nämlich, daß der Areopag zusammen mit der boulhv die künftigen Entscheidungen in der Polis traf und die ejkklhsiva für die folgenden 40 Jahre nach der Neuordnung von der Beschlußfassung ausgeschlossen blieb634. Athen zur Zeit von Mithradates und Sulla Daß in Athen die alten demokratischen Strukturen am Beginn des 1. Jhs. v.Chr. keineswegs gänzlich verschwunden waren, sollten die alsbald folgenden Ereignisse im Zusammenhang mit Mithradates zeigen. Das Vorgehen und die Erfolge des pontischen Königs gegen die Römer im kleinasiatischen Raum machten ihn 630 Vgl. in diesem Sinne, allerdings aus der Perspektive des folgenden Mithradateskrieges, BERNHARDT 1985, 45f. 631 Zur Steigerung einer Prosperität der athenischen Familien in der zweiten Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. siehe TRACY 1979, 229f. 632 Wenngleich hierzu keine Hinweise vorliegen, so zeigt die mit Mithradates aufbrechende Spannung innerhalb der Bürgerschaft, daß zuvor in mehrfacher Hinsicht Ressentiments gegenüber Rom geschürt worden sein müssen. 633 Vgl. dazu die Einrichtung einer oligarchischen Verfassung nach timokratischen Kriterien im Thessalischen Bunde durch Titus Flamininus nach dem Siege der Römer über Philipp V.; Liv. XXXIV 51,4–6 mit dem senatus consultum SYLLOGE n. 67450–53. 63f.; siehe dazu DEININGER 1971, 92. Siehe weiterhin Ciceros Lob des durchaus an timokratischen Wertvorstellungen orientierten athenischen ‚Staatsmannes‘ Demetrios von Phaleron (Cic. leg. 3,14; vgl. Strab. IX 1,20). Die für die damalige Mehrheit der Athener untragbare Beschränkung der Bürgerschaft unter Demetrios’ ‚Regime‘ scheint für Cicero entsprechend seiner Einschätzung keine Rolle gespielt zu haben. Vgl. zu Roms Eingreifen in innenpolitische Strukturen des griechischen Ostens J.-L. FERRARY, Opus 6–8, 1987–89, 203–216; zu Athen weiterhin E. RAWSON, Cicero and the Areopagus, Athenaeum 73, 1985, 44–67. 634 Dazu GEAGAN 1967, 90; HABICHT 1995, 316f.

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nicht nur zum „Anwalt des Griechentums“635, sondern boten Athen gleichzeitig eine mögliche machtpolitische Alternative zu Rom, die es für die Stadt seit dem Ende des Perseuskrieges nicht mehr gegeben hatte. Mit dieser Alternative rückte nun auch die ejkklhsiva – und mit ihr die politische Gleichberechtigung aller Bürger – wieder in das Zentrum des politischen Geschehens, denn die Bürgerschaft wählte (!) den für Mithradates eintretenden Athener Athenion zunächst zum Gesandten an den pontischen König636 und später zum Hoplitenstrategen der Stadt637. Mit dieser Entscheidung hatte sich die Mehrheit des dh`mo" eindeutig für die Unterstützung des Mithradates ausgesprochen und sich gleichzeitig gegen eine ganze Reihe einflußreicher, auf römischer Seite stehender Athener innerhalb der Bürgerschaft gewandt638; von letzteren verließ infolgedessen eine größere Anzahl die Stadt639. Es ist wahrscheinlich, daß bereits vor Athenions Wahl zum Hoplitenstrategen die Fronten zwischen Anhängern des Senates und denen des Mithradates derart verhärtet waren, daß es zu einer schärferen innenpolitischen Krise gekommen war640. Jedenfalls verweist die Tatsache, daß Medeios nach seinem zweiten Archontat 91/90 v.Chr. dieses Amt noch für zwei weitere Jahre innehatte und in der Archontenliste für das darauffolgende Jahr 88/87 v.Chr. der Eintrag ajnarciva verzeichnet ist641, auf innenpolitische Auseinandersetzungen von größerem Ausmaße. Auf einen innenpolitischen Gegensatz verweist ebenfalls die eindeutige 635

HABICHT 1995, 300. Poseidonios FGrHist 87 F36 (48): ceirotonhqei;" uJpo; tw`n Aqhnaivwn presbeuthv", o{te eij" Miqridavthn ta; pravgmata metevrrei. Athenions Einstellung gegenüber den Römern schildert Poseidonios; vgl. dazu A. MASTROCINQUE, Studi sulle guerre Mitridatiche, Stuttgart 1999, 79–86. Zur Aristion/Athenion-Problematik, deren Berücksichtigung hier ausbleiben kann, siehe ebendort 77–79 sowie BRINGMANN 1997. 637 Poseidonios FGrHist 87 F36 (51): (…) oiJ o[cloi kai; sundramovnte" eij" to; qevatron ei{lonto to;n  A j qhnivwna strathgo;n ejpi; tw`n o{plwn. Diese Ereignisse beziehen sich auf die zuvor von Athenion gehaltene Rede auf der Agora (siehe zur Situation DEININGER 1971, 248–255; KALLET-MARX 1995, 205–212; vgl. BRINGMANN 1997, 146), mit der dieser, so Poseidonios, die ‚Masse‘ gegen die Römer aufzubringen vermochte. Die von Poseidonios verwendete Bezeichnung o[clo" meint dabei aber keineswegs, daß auch Nichtbürger an der Wahl zum Strategen teilnehmen konnten, sondern ist vielmehr als stark wertender Begriff hinsichtlich seines negativen Urteils über Athenion zu verstehen. Daß Poseidonios in beiden angeführten Episoden aber grundsätzlich demokratiekonforme Abläufe schildert, wird mit der fortbestehenden Relevanz der alten demokratischen Struktur bestätigt, um dann sogleich durch das geschilderte negative Urteil des Poseidonios nicht unerheblich konterkariert werden zu können. Eine an die Öffentlichkeit gerichtete Rede auf der Agora stand nach demokratischem Verständnis freilich nicht nur Athenion, sondern auch seinen politischen Widersachern zu. Die Vorgaben der demokratischen Organisation scheint Athenion, wie BADIAN 1976, 112 hervorgehoben hat, eingehalten zu haben. 638 Nach HABICHT 1995, 300 war mit diesem von Poseidonios geschilderten Auftreten des Athenion „der Übertritt der Stadt von römischer auf die pontische Seite vollzogen“. 639 BADIAN 1976, 115. 640 Die These von Ferguson 1911, 425–437, in Athen habe bereits um 103/2 v.Chr. eine oligarchische Revolution stattgefunden, ist nicht mehr haltbar; sie beruhte insbesondere auf dem ersten Archontat des Medeios; dagegen BADIAN 1976, 105f.; TRACY 1979, 225. Zu den Veränderungen in dieser Zeit siehe weiterhin die Auflistung bei DREYER 2001, 59. 641 IG II2 n. 1713 9–12. Vgl. hierzu KALLET-MARX 1995, 206. 636

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prorömische Symbolik der attischen Neusilberprägungen der Jahre 90/89 v.Chr. und 89/88 v.Chr., die vor dem Hintergrund des direkt darauffolgenden Umschwenkens der Bürgerschaft zu Mithradates kaum als eine Loyalitätsbekundung gegenüber Rom642 zu erklären ist, sondern viel eher eine Propaganda der prorömischen Seite innerhalb der Bürgerschaft zur Zeit der Mehrfachbesetzung des Archontats durch Medeios ausmachte643. Daß unter dem vorangehenden Einfluß der prorömischen Politiker innerhalb der Polis nicht nur die altbekannte Regelung des Archontats mißachtet wurde, sondern auch wesentliche demokratische Institutionen nicht mehr ihre ursprüngliche politische Bedeutung besaßen und sich daher die bereits aus anderen Gründen angeführte Verschiebung der politischen Einflußnahme zugunsten eines prorömischen Machtblockes vollzogen hatte, zeigt weiterhin eine Angabe des Poseidonios, der Athenion ausführen läßt, unter der vorangehenden politischen Führungsschicht seien die Bürgerversammlung und die Gerichte aufgehoben sowie Heiligtümer geschlossen worden, Gymnasien ausgestorben und die Philosophen verstummt644. Selbst wenn die realen Dimensionen dieser Aussage überzeichnet sein mögen, kennzeichnet deren Kern eine Abwendung von der bisherigen demokratischen Praxis und offenbart ein deutliches innenpolitisches Zerwürfnis. Poseidonios’ Aussage bestätigt hiermit also grundsätzlich die zuvor angeführte Elitebildung unter römischer Vorherrschaft, die im wesentlichen mit einer fehlenden politischen Alternative und daraus resultierend mit ausbleibenden politischen Impulsen begründet werden kann. Das Vorgehen des Mithradates sowie dessen Erfolge brachten der Stadt dann schließlich genau diese Alternative, die eine notwendige Unterstützung gegen die mittlerweile etablierten und von Rom geförderten Machtstrukturen in Aussicht stellte, so daß gleichzeitig eine Rückbesinnung auf die alten Formen der dhmokrativa für die Mehrheit der Bürgerschaft in greifbare Nähe rückte645. Poseidonios’ Aussage, Athenion konnte die Athener mit dem Hinweise auf die Restituierung ihrer dhmokrativa auf seine Seite bringen, steht somit freilich in logischer Folge seiner zuvor angeführten Beschreibung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowie der darüberhinaus zu beobachtenden politischen Situation von Athen646. Weiterhin kennzeich642

Die Münzen zeigen das Symbol der Roma; dazu HABICHT 1995, 301. BADIAN 1976, 107f. und BERNHARD 1985, 40 sprechen Medeios für die Zeit seiner drei aufeinanderfolgenden Archontate als ‚eine Art Tyrannen‘ an. Dies vermag den angeführten Umständen einer kleinen und romfreundlichen Elite sicherlich kaum zu entsprechen; vgl. dagegen auch KALLET-MARX 1995, 206, der in dieser Hinsicht die treffende Frage stellt, warum Medeios als möglicher Tyrann nicht ein einflußreicheres Amt als das des eponymen Archon gewählt habe und warum Athenion dann als Gesandter des dh`mo" zu Mithradates hätte bestimmt werden können. Inwieweit bestimmte Institutionen möglicherweise ihre Funktion verloren hatten und so zu einer weiteren Abkehr von der alten politischen Praxis führten, muß Spekulation bleiben; siehe dazu die Angaben bei BERNHARDT 1985, 41f. 644 Poseidonios FGrHist 87 F36 (51): kai; mh; periivdwmen ta; iJera; keklhimevna, aujcmw`nta de; ta; gumnavsia, to; de; qevatron ajnekklhsivaston, a[fwna de; ta; dikasthvria kai; th;n qew`n crhsmoi`" kaqwsiwmevnhn Puvkna ajfhirhmevnhn tou` dhvmou. 645 In diesem Sinne auch BERNHARDT 1985, 45f. 646 Poseidonios FGrHist 87 F36 (48): mh; movnon tw`n ejpiferomevnwn ojflhmavtwn ajpoluqevn643

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net in diesem Falle auch der von Poseidonios gebrauchte Begriff dhmokrativa die vorliegenden Umstände treffend, da der dh`mo" in seinem Bestand, etwa im Vergleich zur Zensuseinrichtung nach dem Lamischen Krieg, nicht in Frage gestellt war und deshalb auch nicht von einer katavlusi" tou` dhvmou gesprochen werden konnte. Soweit sich aufgrund der Quellenlage erschließen läßt, war zuvor gerade die Ausführung demokratischer Institutionen, wie die Mehrfachbesetzung des Archontats zeigt, erheblich verändert worden, weshalb eine Restituierung der dhmokrativa als politisches Argument in der Folge begründet angeführt werden konnte. Daß die politische Gruppe um Athenion dabei gleichzeitig die alten demokratischen Formen zu wahren versuchte und keineswegs einen Bruch mit der nunmehr führenden Bürgerschicht provozieren wollte, wird aus Poseidonios’ Angabe deutlich, Athenion sei nicht nur von der Bürgerschaft in seine Ämter gewählt worden647 , sondern habe in mehreren Versammlungen der ejkklhsiva einen Bruch mit Rom zu vermeiden versucht648: Die ejkklhsiva war in dieser krisenhaften Situation wieder zu dem zentralen Instrument der athenischen Politik geworden649. Dem sich gleichermaßen verstärkenden Widerstand der prorömischen Athener650 konnten die konservativ-demokratisch orientierten Bürger nur mit ta", ajlla; kai; th;n dhmokrativan ajnakthsamevnou" ejn oJmonoivai zh`n kai; dwrew`n megavlwn tucei`n ijdivai kai; dhmosivai. Vgl. dazu KALLET-MARX 1995, 207f. Dieser meint, daß „reinstating the ,democracy‘ need not be seen as a call for a popular revolt against an oligarchical clique“ und daß „in the late Hellenistic period it [scil. Demokratia] tended to mean no more than the established government of a typical Greek type with an assembly and a council [sic!]. Nothing in our evidence suggests that the call for the ,recovery of the democracy‘ meant in effect anything other than the resumption of the normal functioning of the Athenian state“. Indem Kallet-Marx diese Ereignisse im Kontext der ausgehenden 90er Jahre behandelt, läßt er außer Betracht, daß es sich hierbei um eine Entwicklung handelte, die erst in dieser Zeit ihren Endpunkt erreichen sollten, aber bereits erheblich früher, greifbar schon in den 130er Jahren (siehe die Bürgerrechtsdekrete und die Ephebia) einsetzte, der Großteil der Bürgerschaft aufgrund der außenpolitischen Situation aber hiergegen keine Einflußnahme besaß, so daß eine Rückbesinnung auf eine altbekannte demokratische Praxis sicherlich nicht nur ein „patriotic appeal for the revival of Athens’s traditional institutions, now interrupted by the anarchia“ [!] gewesen sein kann. Die ejkklhsiva und boulhv haben unter Medeios ohnehin fortbestanden und können daher nicht Gegenstand einer wieder eingerichteten dhmokrativa gewesen sein. Auch die von BERNHARDT 1985, 43f. postulierte Annahme, „dhmokrativa und oJmovnoia waren in dieser Zeit längst zu banalen Schlagworten politischer Propaganda herabgesunken“, bleibt hinsichtlich Athen unbegründet – Athenions Ausführungen mit dem hier geschilderten Bürgerschaftsverständnis sprechen jedenfalls sogleich gegen Bernhardts Sichtweise. 647 Siehe dazu die oben besprochenen Angaben von Poseidonios FGrHist 87 F36 (48). (51). 648 Poseidonios FGrHist 87 F36 (52): sunavgwn de; kai; ejkklhsiva" pollavki" ta; R J wmaivwn fronei`n prosepoiei`to. Vgl. dazu DEININGER 1971, 254. 649 Vgl. zu einer nun wieder größeren Bedeutung der ejkklhsiva B ERNHARDT 1985, 44, der allerdings für die vorangegangene Zeit durch eine „Tyrannis“ des Medeios eine „völlige Unterdrückung der Ekklesie“ zu erkennen meint. 650 Nach Poseidonios FGrHist 87 F36 (52) waren dies die eu\ fronou`nqe" tw`n politw`n. Nach DEININGER 1971, 253 handelte es sich um einen „fühlbar werdenden Widerstand“ gegen das neue Regime, während es sich nach BERNHARDT 1985, 46 (mit Bezug auf BADIAN 1976, 115) um eine eher kleine Zahl handelte.

I.4. Politische Veränderungen im hellenistischen Athen unter römischer Dominanz

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scharfen Maßnahmen begegnen, was ihrer Führungspersönlichkeit Athenion aus Sicht der späteren Sieger die Benennung ‚Tyrann‘ einbrachte – eine Benennung allerdings, die aus der Perspektive der althergebrachten Demosherrschaft freilich ganz ungerechtfertigt ist651. Den Gegensatz innerhalb der Bürgerschaft als einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Arm und Reich zu verstehen652, hieße, die vorliegende Situation kaum angemessen zu interpretieren. Vielmehr befanden sich auf Athenions Seite – wie Ernst Badian darlegt653 – auch reiche und einflußreiche Bürger, die in der vorherigen römisch dominierten Zeit zwar an politischem Einfluß verloren, damit aber keineswegs gleich zu finanziell minderbemittelten Bürgern herabsanken. Die Ausprägung einer politischen Elite unter römischer Dominanz sollte daher zunächst, zumal die Wirkungsdauer bisher nur etwa eine Generation betrug, auf den politischen Bereich begrenzt bleiben. Daß ein angenommener Gegensatzes von Arm und Reich darüberhinaus keineswegs hinreicht, Poseidonios’ Angabe über die Verwahrlosung von Bürgerversammlungen, Gerichten, Heiligtümern, Gymnasien und Philosophenschulen innerhalb der Polis zu erklären, braucht nicht weiter dargelegt zu werden. Der von Christian Habicht vorgebrachten Beurteilungsschwierigkeit jedenfalls654, wonach nämlich „der Bruch Athens mit Rom (…) nicht leicht zu verstehen ist, waren doch noch vor kurzem die Beziehungen zu Rom von offenkundiger Herzlichkeit bestimmt gewesen“, kann mit der nunmehr vorgelegten Verknüpfung von außen- und innenpolitischen Vorgängen des ausgehenden 2. und beginnenden 1. Jh. v.Chr. ein Erklärungsmodell gegenübergestellt werden. Daß die kurze Episode der Wiederbelebung der athenischen Demokratie zur Zeit des Mithradates in den Quellen eine überwiegend negative Beurteilung erhielt, liegt freilich in der darstellenden Sichtweise der späteren ‚Sieger‘ begründet. Dieser schloß sich nicht zuletzt auch Poseidonios an, dem es „mehr um die gelungene Parodie auf den „Staatsmann“ Athenion ging als um die Ergründung der tieferen Ursachen, warum Athenion die Masse der Athener in einen derartigen Erregungszustand zu stürzen“ vermochte655, der diese ‚Parodie‘ allerdings auch vor dem Hintergrund der politischen Geschehnisse formulierte und somit wenigstens indirekt wertvolle Hinweise auf die Wiederbelebung der demokratischen Strukturen kurz vor der sullanischen ‚Neuordnung‘ der Stadt überliefert. Die nachfolgend mit Sulla einhergehende Entmachtung der Bürgerschaft und Machtkonzentration auf den Areopag656 ist also insgesamt als Konsequenz der 651 Vgl. etwa Poseidonios FGrHist 87 F36 (41). Daß die Mehrheit der athenischen Bürgerschaft dieses Urteil in dieser Zeit geteilt hätte, ist mehr als zweifelhaft. Vgl. dazu Strab. IX 1,20, der im Zusammenhange mit dem Mithradateskrieg auf mehrere Tyrannisherrschaften in Athen verweist: ejpipesw;n d j oJ Miqridatiko;" povlemo" turavnnou" aujtoi`" katevsthsen, ou}" oJ basileu;" ejbouvleto. 652 Siehe dazu die Ausführungen und die ältere Literatur bei BERNHARDT 1985, 43f.; KALLETMARX 1995, 207. 653 BADIAN 1976, 112. 654 HABICHT 1995, 300. 655 DEININGER 1971, 252. 656 Dazu GEAGAN 1967, 90; HABICHT 1995, 316f.

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Erstes Kapitel: Athen

vorangegangenen Ereignisse des ausgehenden 2. Jhs. und ersten Jahrzehnts des 1. Jhs. v.Chr. zu verstehen. Ein mithradatischer Sieg hätte demgegenüber sicherlich der alten demokratischen Ordnung – wenigstens kurzzeitig – zu einer Restituierung verholfen. Dieses blieb Athen jedoch vergönnt, so daß die Bürgerschaft aufgrund ihrer vorherigen mehrheitlichen Entscheidung für Mithradates nunmehr die entsprechenden Konsequenzen zu tragen hatte657. Eine neuerliche Chance auf eine Etablierung ihrer althergebrachten politischen Strukturen sollten die Athener mit der nunmehr fortwährenden römischen Dominanz nicht mehr erhalten.

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Vgl. zur athenischen Verfassung nach Sulla GEAGAN 1967; zur Staatsordnung und herrschenden Schicht KALLET-MARX 1995, 212–219; HABICHT 1995, 314–326.

ZWEITES KAPITEL: KOS1 II. 1. DER da`mo" DER KOER In den Inschriften zum hellenistischen Kos bezeichnen die Begriffe oJ da`mo", oiJ poli`tai und oiJ Kw`ioi die Gruppe der das Bürgerrecht besitzenden Personen2 . Den Bürgerstatus der Polis erlangte man als Nachkomme einer Ehe zweier rechtmäßiger Koer3, so daß neben den männlichen auch den weibliche Personen mit Bürgerstatus eine hervorragende Bedeutung zukam. In dieser Hinsicht werden etwa in mehreren Inschriften die Bürgerinnen neben den Bürgern gesondert angeführt4, und zudem findet sich in bestimmten Fällen der Namensangabe von Bürgern sowohl der Muttername als auch der Name des Vaters mütterlicherseits verzeichnet5, womit die Bedeutung dieser politivde" entsprechend hervorgehoben wurde6. Neben der Weitergabe des Bürgerstatus durch Geburt konnte die gesamte Bürgerschaft das koische Bürgerrecht an auswärtige Personen verlei1 Wenngleich die Bearbeitung des Faszikels IG XII 4 mit den Inschriften zu Kos und Kalymna in vollem Gange ist, wird eine Fertigstellung jedoch alsbald nicht zu erwarten sein. Für das vorliegende Kapitel mußte daher auf die Einzelpublikationen zurückgegriffen werden. Zur ereignisreichen Publikationsgeschichte der Inschriften aus Kos und Kalymna innerhalb der INSCRIPTIONES GRAECAE siehe L. und K. HALLOF, Zur Geschichte des Corpus Inscriptionum Coarum (IG XII 4), in: HÖGHAMMAR 2004, 83–87. 2 Siehe zur synonymen Verwendung von da`mo", poli`tai und Kw`ioi die im folgenden angeführten zahlreichen Inschriften und literarischen Belege; vgl. beispielsweise RIGSBY/HALLOF 2001 n. 41–3 (242 v.Chr.), wo die beschließende Instanz des da`mo" im weiteren Inschriftentext auch als oiJ Kw`ioi den qewrov" beauftragt. 3 Hierzu VIAL 1992, 290f. 296; VÉRILHAC /VIAL 1998, 60–62 sowie die folgenden Ausführungen. 4 PATON /HICKS n. 10 7–11; SEGRE IdCos n. ED 1809–12 (1. Jh. v.Chr.); vgl. SEGRE IdCos n. ED 178a(A)15–19. Siehe außerdem in SEGRE IdCos n. ED 1091–3 die Opfer für die Gesundheit der poli`tai und politivde". 5 PATON/HICKS n. 368; vgl. HABICHT 2000, 314f. 6 Hinsichtlich dieser drei Generationen umfassenden Angabe äußert SHERWIN-W HITE 1978, 153f., daß „the criterion of citizenship, except in the case of the enfranchisement of foreigners, was citizen birth for three generations (…)“. Mit der von Sherwin-White angeführten Ausnahme macht der Drei-Generationen-Nachweis aber keineswegs mehr ein Kriterium für das Bürgerrecht aus, sondern kann nur noch als ein Nachweis über die Vorfahren gewertet werden und dürfte somit eine andere Bedeutung besessen haben. Auffällig bleibt nämlich, daß dieser Drei-Generationen-Nachweis häufig im kultischen Zusammenhang Berücksichtigung findet. Ein so verstandener Nachweis könnte etwa als Voraussetzung für bestimmte Ämter angenommen werden. Siehe dazu in ähnlicher Weise auch VÉRILHAC/VIAL 1998, 60f. Vgl. außerdem das Verzeichnis der am Kult von Apollon und Herakles in Halasarna Anteil habenden Bürger, die jeweils mit dem Nachweis aufgeführt wurden, in PATON/HICKS n. 367. 368. Siehe zudem PUGLIESE CARRATELLI IdIsthmos n. XXVI; S EGRE T.Calymnii n. 88–90; SEGRE IdCos n. ED 234. Vgl. weiterhin OGDEN 1996, 310–312.

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Zweites Kapitel: Kos

hen7. Daß in hellenistischer Zeit ein solcher Beschluß jedoch nur selten getroffen wurde, geht aus den nur wenigen überlieferten Bürgerrechtsverleihungen hervor, denen zahlreiche Verleihungen der weniger privilegierten Stellung eines Proxenos gegenüberstehen8. Die seltene Vergabe dieses Status kann als ein Bestreben der Bürgerschaft verstanden werden, die eigene Exklusivität zu wahren, wobei die Bürgerrechtsverleihung als ein Beschluß der gesamten Bürgerschaft gleichzeitig den notwendigen Schluß mit sich bringt, daß die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe einzig durch das Einverständnis der Gruppe selbst erreicht wurde. Die in Bürgerrechtsdekreten weiterhin angeführte Bestimmung, daß Neubürger an allem teilhaben sollten, an dem auch die übrigen Koer teilhatten9, charakterisiert die Kw`ioi als privilegierte und untereinander gleichberechtigt agierende Personen innerhalb der Polis, so daß die Neubürger gegenüber den ‚Alt‘-Bürgern zumindest eine politische Gleichstellung erfuhren10. Einen Sonderfall der koischen Bürgerrechtsverleihungen stellt die Ausweitung des Polisgebietes auf das zuvor eigenständige Kalymna im ausgehenden 3. Jh. v.Chr. dar, bei dem die dortigen poli`tai aufgrund der Vereinbarung einer oJmopoliteiva in die koische Bürgerschaft integriert wurden11 und so den da`mo" der Polis um einen erheblichen Teil vergrößerten. Daß dieser Aufnahme ein – wenngleich nicht erhaltener – Beschluß des koischen da`mo" vorausgegangen sein muß, ist unzweifelhaft12. Darüber hinaus wird auch in diesem Falle die Gleichberechtigung der zukünftigen poli`tai der Polis durch den überlieferten Bürgereid belegt13, und ebenso fand der Status der politivde" 7 Vgl. HALLOF/HABICHT 1998 n. 5; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 12; PATON/HICKS n. 367 37–41: oi|" | ªde;º devdotai aJ politeiva, ka|ta; tivna novmon h] dovgma | koino;n tou` panto;" dav|mou (…). 8 So bereits HERZOG 1928, 42. Nach HABICHT 1996, 84 stehen in den von SEGRE IdCos publizierten Inschriften 30 Proxeniedekrete einem Bürgerrechtsdekret gegenüber. Vgl. jetzt BOSNAKIS/HALLOF 2005, 243, wonach bisher nur vier Bürgerrechtsdekrete für das hellenistische Kos bekannt sind (ebendort mit den Belegen). 9 Siehe dazu HALLOF/HABICHT 1998 n. 5 13–16: h\men polivtan ta`" | povlio" ta`" Kwviwn kai; ejkgovno" metev|conta" pavntwn w|mper kai; toi; | a[lloi Kw`ioi. Ebenso BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 125–7; SEGRE T.Calymnii n. 7418–20; vgl. SEGRE IdCos n. ED 911 (spätes 4. Jh. v.Chr.); vgl. zudem die oJmopoliteiva zwischen Kalymna und Kos in STAATSVERTRÄGE III n. 545 (= SEGRE T.Calymnii n. XII). 10 Zur rechtlichen Gleichstellung der Bürger siehe SHERWIN -WHITE 1978, 172. Zur Unterscheidung der Bürger von den weiteren Bewohnern siehe das Folgende. 11 STAATSVERTRÄGE III n. 545; dazu S HERWIN-WHITE 1978, 124–128; BAKER 1991, 11f.; RHODES/LEWIS 1997, 222; zur Datierung HABICHT 2000, 312. Da es sich bei den Kalymniern eben auch um Bürger der dortigen Polis handelte, die einen eigenen Rechtsstatus besaßen, blieb die zuvor bestehende Exklusivität der koischen Bürgerschaft gewahrt. Zum Hintergrund der oJmopoliteiva zwischen Kos und Kalymna vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 124f. 128f. und BAKER 1991, 11f. sowie den vierten Abschnitt in diesem Kapitel. 12 Der für die Bürgerrechtsverleihungen der Koer an Einzelpersonen notwendige Beschluß des da`mo" ist in diesem Falle – obwohl nicht überliefert – vorauszusetzen. 13 Der überlieferte Eid zur oJmopoliteiva in STAATSVERTRÄGE III n. 545 18–29 führt die Gleichberechtigung auf. Zur Eingliederung der Kalymnier in die koischen Phylen siehe Zeile 4f. Der Eingemeindung lagen nach Zeile 17f. bestimmte diagrafaiv zugrunde; vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 176 zur Gleichheit der Bürger aufgrund des Eides; siehe dazu auch KROB 1997, 436–445.

II.1. Der da`mo" der Koer

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bei dieser Einbürgerung eine entsprechend ihrer Bedeutung notwendige Berücksichtigung14. Neben der Bürgerschaft sind weitere Bevölkerungsgruppen innerhalb der Polis für die hellenistische Zeit belegt. Zu diesen zählen die novqoi als diejenige Gruppe, deren Zugehörige von nur einem koischen Bürger abstammten oder aber nicht aus einer rechtmäßigen ehelichen Verbindung hervorgingen15. Wenngleich die novqoi von der politischen Teilnahme ausgeschlossen blieben16, nahmen sie innerhalb der Polis eine besondere Stellung ein, mit der auch ein eigener Rechtsstatus verbunden gewesen sein dürfte, da die novqoi in einer Auflistung verschiedener Bevölkerungsgruppen der Polis direkt hinter den Bürgern und Bürgerinnen, aber noch vor weiteren Gruppen genannt werden17. Inwieweit und unter welchen Umständen sie als Nachwuchs von Bürgern die Möglichkeit besaßen, wieder in den Kreis der Bürgerschaft zu gelangen, kann hingegen nicht gesagt werden18. In der sogenannten Großen Epidosis, einem Spendenverzeichnis vom Ende des 3. Jhs. v.Chr., sind neben den bisher angeführten noch weitere Bevölkerungsgruppen verzeichnet, wozu die pavroikoi und die xevnoi gehören19. Der Status der pavroikoi ist trotz deren Nennung auch in anderen Inschriften bisher nur ungenau zu bestimmen20. Durch ihre eigenständige Bezeichnung müssen sie zwar von den Personen der übrigen genannten Gruppen unterschieden werden, doch sind sie, wie Fanoula Papazoglou zuletzt darlegte, kaum von den für Kos später genannten mevtoikoi zu unterscheiden und sollten viel eher gleichbedeutend mit diesen verstanden werden21. Die in der Großen Epidosis angeführten xevnoi hingegen wird man allgemein als die nicht ständig ansässigen Fremden ansehen dürfen22. 14

Eine Namensliste aus etwas späterer Zeit verzeichnet Frauen und Unmündige aus Kalymna, die in die koischen Phylen eingetragen waren und somit den (weiblichen) Bürgerstatus besaßen: SEGRE T.Calymnii n. 88 (um 180 v.Chr.); dazu HABICHT 2000, 312–314. Vgl. ebenso SEGRE T.Calymnii n. 89–96; dazu HABICHT 2000, 317f. 15 Vgl. zu den novqoi P ATON/HICKS n. 10 7–11; SEGRE IdCos n. ED 149146–149. ED 178a(A) 15–18. Vgl. weiterhin SHERWIN-WHITE 1978, 172; VIAL 1992, 287–290; OGDEN 1996, 310–316; VÉRILHAC/VIAL 1998, 61f. 16 Hinweise, daß die novqoi einen den Bürgern gleichberechtigten politischen Status besaßen, liegen nicht vor. Ihre separate inschriftliche Nennung unabhängig von den poli`tai und politivde" muß ebenfalls als diesbezügliches Indiz gewertet werden. 17 Siehe PATON/HICKS n. 10 7–11, wo die novqoi direkt nach den Bürgern und Bürgerinnen, jedoch vor weiteren Bevölkerungsgruppen aufgeführt werden. Vgl. auch die besondere Stellung in SEGRE IdCos n. ED 149146–149; ED 178a(A)15–18. Vgl. auch SHERWIN-WHITE 1978, 172; OGDEN 1996, 313f. 18 Zu denken wäre hierbei an eine Heirat zwischen novqoi und politivde", wodurch deren Nachkommen unter bestimmten Umständen den Bürgerstatus erhalten konnten; vgl. dazu die matrovxenoi im Abschnitt zum da`mo" von Rhodos. 19 P ATON/HICKS n. 10 9–11. 20 Zu den pavroikoi siehe weiterhin SYLLOGE n. 398 34–38; SEG XXXIII n. 675 6f.; SEGRE IdCos n. ED 55–7 (sicher ergänzt). ED 178a(A)15–18; HALLOF/HABICHT 1998 n. 154f. (1. Jh. v.Chr.); PARKER/OBBINK 2001a, n. 117f.. n. 36. 21 PAPAZOGLOU 1997, 184–188. So bereits Ph. GAUTHIER, BE 1995, 503; vgl. VIAL 1992, 291. Zu den mevtoikoi siehe PATON/HICKS n. 3447f. (allerdings augusteisch); die mevtoikoi werden ebendort von den poli`tai und R J wmaivoi unterschieden.

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Zweites Kapitel: Kos

Aus der Kombination zweier unterschiedlicher Inschriftenangaben meinte Susan Sherwin-White folgern zu können, daß die novqoi und xevnoi durch den umfassenden Begriff der ejndameu`nte" bezeichnet worden wären23. Nun bringt eine solche Zusammenfassung gerade dieser beiden Gruppen allerdings einige Schwierigkeiten mit sich, denn die novqoi weisen an den angeführten Stellen viel eher einen – durchaus naheliegenden – Bezug zu den Bürgern auf. Die xevnoi werden hingegen sogar noch nach den pavroikoi genannt24, so daß sich schon aufgrund der in den Inschriften aufgeführten Reihenfolge, sicherlich aber auch aufgrund eines unterschiedlichen Rechtsstatus von novqoi und xevnoi eine zusammenfassende Benennung beider Gruppen kaum anbietet25. Warum schließlich die pavroikoi von dieser Gruppe, obwohl scheinbar zwischen beiden stehend, ausgeschlossen worden wären, bliebe zudem unbeantwortet. Es ist daher naheliegender, in der Bezeichnung der ejndameu`nte" zunächst nur eine unspezifische Bezeichnung der Bevölkerung jenseits der poli`tai, politivde" und pavroikoi zu verstehen, wobei freilich die Frage offen bleiben muß, wem oder vielmehr ob die novqoi diesen überhaupt zugeordnet werden müssen26 . Ein umfassender Begriff für die koische Bevölkerung liegt demgegenüber mit der Bezeichnung to; plh`qo" vor. Eine jüngst aus dem Nachlaß von Rudolf Herzog veröffentlichte Inschrift kann den Zusammenhang von to; plh`qo" und oJ da`mo" für die Polis treffend aufzeigen helfen27: Der von Kos zum Zwecke der Richterwerbung nach Smyrna entsandte koische Bürger Theugenes erhielt nach einer erfolgreichen Mission und der im folgenden durch die auswärtigen Richter in Kos geglückten Beilegung der Streitigkeiten von den Koern eine persönliche Ehrung, wobei aber die im Inschriftentext beschriebenen Vorgänge nur mit einer entsprechenden inhaltlichen Trennung der dort angeführten Begrifflichkeit von plh`qo" und da`mo" ersichtlich werden. Zunächst handelt es sich unmißverständlich um einen Beschluß des da`mo", wie sowohl der Sanktionsantrag als auch die Sanktionsformel aufzeigen28. Des weiteren ist zu beachten, daß Theugenes in 22

Vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 245; VÉRILHAC/VIAL 1998, 61f. SHERWIN-WHITE 1978, 171f. führt an, daß SYLLOGE n. 39836–38 (…) tou;" polivta" kai; tou;" | paroivkou" kai; to;" a[llo" to;" ejnda|meu`nta" ejg Kw`i pavnta" (…) nennt, während PATON/HICKS n. 109–11. ausführlicher (…) polita`n kai; | politivdwn kai; novqwn kai; pa|ªrºoivkwn kai; xevnwn auflistet, so daß eine Übereinstimmung von den ejndameu`nte" und den novqoi kai; xevnoi zu folgern wäre. Vgl. auch SEG XXXIII n. 6756f.. 24 Siehe P ATON/HICKS n. 10 7–11.Vgl. auch SEGRE IdCos n. ED 178a(A)15–18 mit der Berücksichtigung der novqoi im Anschluß an die Bürgerinnen, aber noch vor den pavroikoi, sowie SEGRE IdCos n. ED 149146–149 mit besonderen Kultbestimmungen für die novqoi. 25 Siehe dazu SEGRE IdCos n. ED 5 : (…) me;n to;" polivta" kai; to;" pa∫ªroivko" kai; to;" ejg 6f. Kw`iº | ªejºpidameu`nta". 26 Vgl. zudem die kavtoikoi in PATON/HICKS n. 344 ; SEGRE IdCos n. ED 109 ; HALLOF /HA4 2 BICHT 1998 n. 127. 11f.; SYLLOGE n. 5699–10 sowie die gewrgeu`nte" und ejnekthmevnoi in P ATON/ HICKS n. 3446. Zu welcher Gruppe weiterhin die Freigelassenen zu zählen sind (vgl. die ejleuqerouvmenoi in PARKER/OBBINK 2000 n. 125f.), muß offenbleiben. 27 CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998 n. 1 (2. H. 2. Jh. v.Chr.). 28 CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998 n. 1: dedovcqai ta`i | ejkklhsivai (Z. 35f.); e[doxe tªa`iº | boula`i kai; tw`i davmwi (Z. 45f.). 23

II.1. Der da`mo" der Koer

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seiner Funktion als Richterwerber zuvor offiziell von der Bürgerschaft bestimmt worden sein muß, da an zwei Stellen angeführt wird, daß der da`mo" ihm diese Vertrauensstellung übertrug29. In der Hortativformel hingegen heißt es demgegenüber, die ganze Dankbarkeit des da`mo" – also der Gruppe der poli`tai – gegenüber den besten Männern solle offensichtlich werden und die Dankbarkeit des plh`qo" möge weitere Personen zu einem zukünftigen eifrigen Einsatz für die Polis motivieren30. Werden hier also innerhalb eines Satzes da`mo" und plh`qo" klar voneinander unterschieden, so läßt die ansonsten ausschließliche Nennung des da`mo" keinen Zweifel daran, daß es sich bei dem angeführten plh`qo" um eine bewußt gewählte Begrifflichkeit handelte31. Für die inhaltliche Unterscheidung beider Termini ist dann zu berücksichtigen, daß das plh`qo" einzig eine Dankbarkeit gegenüber den Wohltätern der Polis äußerte, ansonsten aber nicht eigenständig agierte. Dagegen wird der da`mo" offenkundig durch die von ihm ausgeübte politische Gewalt als selbständig handelndes und entscheidendes Subjekt bestimmt. Aufgrund dieses inhaltlichen Bedeutungsunterschiedes erscheint es daher naheliegend, gerade das plh`qo" als die Bevölkerung der Polis vom da`mo" als qualifizierenden Begriff für die exklusive Gruppe der Bürger zu unterscheiden32. Die so im Ehrendekret für Theugenes beobachtete Trennung von da`mo" und plh`qo" ist in gleicher Weise im Texte des Ehrendekretes für den Arzt Athenagoras aus Larisa nachzuzeichnen33, in dem ebenfalls die Bürgerschaft den Beschluß der Ehrung faßte, wobei der diesbezügliche Grund noch dahingehend kenntlich wird, daß Athenagoras Wohlwollen gegenüber dem plh`qo" der Koer bewiesen hatte34. Und in einer weiteren Inschrift des lokalen da`mo" von Antimachia für den Arzt Eukrates sollte der mit der Ehrung ausgesprochene Dank des lokalen da`mo" dem suvnpan plh`qo" bekannt gemacht werden, so daß man unter letzterem dementsprechend das plh`qo" der gesamten Polis, also die koische Bevölkerung zu verstehen hat35. Daß allerdings, wie kürzlich von Dimitris Bosnakis und Klaus 29

CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998 n. 1: diafulavxa" i[sw" kai; dikaivw" | kai; misoponhvrw" pa`si ta;n ejnceirisqei`san | aujtw`i pivstin uJpo; tou` suvmpanto" davmou (Z. 23–25); ejpainh`sqai Qeugevnhn E J rmogevnou kaªi;º | stefanw`sai aujto;n crusevwi stefavnwi ej∫p∫i;∫ tw`i ej|xapostalevnta dikastagwgo;n diafulavxai pa`|sin i[sw" ta;n doqei`san aujtw`i pivstªinº uJpo; tou` dav|mou (Z. 36– 40). 30 CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998 n. 1 30–35 : o{pw" ou\n kai; oJ da`|mo" eujcarivstw" ajpantw`n faivnhtai toi`" ajga|qoi`" tw`n ajndrw`n, toiv te a[lloi qewreu`nte" | ta;n eujcari〈s〉tivan tou` plhvqeu" polu; proqumov|teron ejpididw`nti eJautou;" eij" pavnta ta; sun|fevronta ta`i povlei (…). 31 Siehe dazu auch CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998 n. 2. 3, die ein ganz ähnliches Formular aufweisen, wenngleich der entsprechende Abschnitt in der Hortativformel verloren ist; die Ergänzung dürfte sicher sein. 32 Demnach sind dem plh`qo" auch die nicht näher behandelten kavtoikoi, gewrgeu`nte", ejnekthmevnoi und ejleuqerouvmenoi zuzurechnen. 33 HALLOF/HABICHT 1998 n. 6. 34 HALLOF/HABICHT 1998 n. 6 1–6: ªe[doxºe ta`i boula`i kai; tw`i davmwi, gnwvmai prosta|ta`n: ejpeidh; A J qhnagovra" Stavcuo" Qes|salªo;º" ejg Larivsa" ijatro;" me;n uJpavrcwn | Gnaivou tou` Gnaivou O j ktai?ou stratagªou`º | eu[nou" de; tw`i pªlºhvqei tw`i Kwviwn ªdiav te ta;nº | suggevneian kai; ta;n Kwviwn (…). 35 BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 11 : o{pw" ou\n kai; to; suvnpan plh`qo" ªejº|ªpiºgnw`i ta;n tou` 7f. aJmetevrou davmou eujcaristivan.

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Zweites Kapitel: Kos

Hallof angeführt wurde, unter to; suvnpan plh`qo" im Gegensatz zu aJmevtero" da`mo" der Gesamtstaat zu verstehen sei36, muß bezweifelt werden, denn entsprechend der hier beobachteten inhaltlichen Trennung ist to; (suvnpan) plh`qo" in den Inschriften bisher weder als entscheidende Instanz der Polis zu fassen noch im Sinne eines qualifizierenden Begriffes für eine bestimmte Gruppe gebraucht worden37. Eine inhaltliche Gleichstellung von to; (suvnpan) plh`qo" mit der Entscheidungsinstanz oJ da`mo" oder oJ suvnpa" da`mo" ließe somit die getrennten Rechtsund Bedeutungsebenen innerhalb der Polis unberücksichtigt. Vielmehr bezeichnet das plh`qo" im polisweiten Sinne also die Gesamtbevölkerung von Kos, zu der die zuvor angeführten Gruppen der novqoi, pavroikoi und xevnoi hinzuzählen sind. Daß dieses plh`qo" auch den da`mo" selbst umfaßte, scheint durch die an das suvnpan plh`qo" gerichtete Bekanntmachung des lokalen Beschlusses für den Arzt Eukrates naheliegend, muß aber nicht zwingend angenommen werden38. Die offensichtliche inhaltliche Trennung der Begriffe plh`qo" und da`mo" darf aufgrund des dargelegten Zusammenhanges als eine bewußt gewählte Terminologie zur Bezeichnung polisinterner Verhältnisse verstanden werden. Daß die Kennzeichnung dieser antiken Verhältnisse mit dem im Deutschen häufig gebrauchten „Volks“-Begriffe zu mitunter erheblichen Mißverständnissen und Unschärfen führen kann, ja sogar eine inhaltliche Fehldeutung mit sich bringt, mag das angeführte, jüngst edierte Ehrendekret für Athenagoras aus Larisa zeigen. So übersetzen Luise und Klaus Hallof und Christian Habicht sowohl da`mo" als auch plh`qo" im Deutschen synonym mit dem Begriff „Volk“39, wodurch die zu trennenden Bereiche unweigerlich als gleichbedeutend verstanden werden müs36 BOSNAKIS/HALLOF 2003, 223 mit weiteren Vergleichen für oJ suvnpa" da`mo", jedoch ohne eine Begründung für die Gleichsetzung von to; suvnpan plh`qo" mit dem Gesamtstaat der Koer. 37 Auf die beiden durch das Inschriftenformular sicher zu ergänzenden Angaben von to; plh`qo" in CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998 n. 214–18. 326–30 ist oben hingewiesen worden. Bei der fragmentarischen Überlieferung von PARKER/OBBINK 2001a, n. 34 kann zwar das plh`qo" sicher ergänzt werden, jedoch muß dabei offen bleiben, ob es sich um das lokale oder das polisweite plh`qo" handelt. Siehe zudem SEGRE IdCos n. ED 903: plh`qo" de; ajnqrªwvpwn - - -º (Ende 4. Jh. v.Chr.); weiterhin SEG XLI n. 68038–42 für den da`mo" von Halasarna (wohl nach 150 v.Chr.). 38 Ein eindeutiger Beleg, daß der da`mo" in diesem Falle zum plh`qo" hinzuzurechnen ist, braucht hier allerdings nicht vorliegen, denn ebensogut könnte die Ehrung des lokalen da`mo" nur aufgrund der Leistung des Eukrates für das plh`qo" ohne den da`mo" bedingt gewesen sein, wobei letzterer einzig die staatliche Ehrung beschließen konnte, so daß weiterhin entsprechend auch nur das suvnpan plh`qo" ohne den suvnpa" da`mo" angesprochen gewesen wäre. Ein diesbezüglicher Zweifel muß weiterhin wegen der klaren Trennung der Dankbarkeit von da`mo" und plh`qo" in der Hortativformel der Ehrung für Theugenes (CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998 n. 1) bestehen bleiben. Keineswegs eindeutiger ist das Ehrendekret für den Arzt Onasandros durch den da`mo" von Halasarna formuliert (SEG XLI n. 68038–42): o{pw" ou\n kai; toi; damovtai faivnwntai | ªmh;º movnon tw`n polita`n to;" ajgaqo;" kai; eujno〈i>〉kw`" di|ªakeiºmevno" poq j auJto;" timw`nte", ajlla; kai; tw`n paroiv|ªkwn tºo;" ejktenw`" kai; filotivmw" ejm panti; kairw`i poti; | ªto; plºh`qo" potiferomevno" (…). Der da`mo" ehrt eben nicht nur poli`tai, sondern ebenso pavroikoi, die sich hinsichtlich des plh`qo" bemühten. Hiermit wird impliziert, daß das plh`qo" die Bevölkerung ausschließlich der Bürger meinte. Eine abschließende Bestimmung scheint m.E. bisher nicht möglich. 39 HALLOF/HABICHT 1998 n. 6: ªe[doxºe ta`i boula`i kai; tw`i davmwi – „Beschluß von Rat und Volk“ (Z.1); tw`i pªlºhvqei tw`i Kwviwn – „dem Volk der Koer“ (Z. 5).

II.1. Der da`mo" der Koer

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sen und eine inhaltliche Differenzierung zwischen der politisch beschließenden Bürgerschaft (da`mo") innerhalb der Bevölkerung (plh`qo") der Polis entgegen der exakten antiken griechischen Terminologie aufgehoben wird. Wird ein Beschluß des da`mo" angeführt, so ist damit also grundsätzlich und ausschließlich die Bürgerschaft gemeint, keineswegs jedoch die gesamte Bevölkerung. Dieses gilt eben auch für die Kommunikation im zwischenstaatlichen Bereich, wo der da`mo" als Adressat einer äußeren Macht nicht die Bevölkerung, sondern einzig die Gesamtheit der Bürger umfaßte40. Die Exklusivität der Bürgerschaft kann in diesem Sinne auch an Ehrendekreten für Ärzte41 sowie an der Bürgerrechtsverleihung für den Arzt Diokles42 abgelesen werden, indem nämlich diese Auszeichnungen einzig aufgrund des jeweiligen Einsatzes für die poli`tai beschlossen wurden und somit die restliche Bevölkerung von der Leistung, die zur Ehrung führte, ausgeschlossen blieb. Im Gegensatz dazu konnten in Ehrungen zusätzlich zu den Bürgern durchaus auch die pavroikoi als Objekt des zur Ehrung führenden Einsatzes genannt sein43 und weiterhin finden sich in Opfervorschriften neben den Bürgern und Bürgerinnen die kavtoikoi der Polis angeführt44, so daß insgesamt eine bewußt gewählte und mit den inhaltlichen Vorgängen übereinstimmende Terminologie vorauszusetzen ist. Die hier dargelegte strikte Trennung zwischen Bürgerschaft und übriger Bevölkerung kann somit als weiteres Charakteristikum der gesellschaftspolitischen Situation im hellenistischen Kos angesehen werden, wobei allerdings aus heutiger Sicht die Quellenlage nahezu ausschließlich durch die von der Bürgerschaft respektive einzelnen Bürgern bedingte inschriftliche Aufzeichnung geprägt ist. Eine eindrucksvolle Ausnahme hierzu stellt der in die 1. Hälfte des 3. Jhs., wohl vor 266 v.Chr. zu datierende und im koischen Kontexte handelnde Mimiambus des Herondas dar. Dieser beschreibt die nunmehr angeführten Unterscheidungen aus der Perspektive eines in der Polis ansässigen Nichtbürgers und bestätigt dabei die soeben skizzierten Charakteristika vortrefflich45. So schildert Herondas einen Streit zweier ansässiger Nichtbürger, einem Frauenwirte und einem Reeder, der durch örtliche Richter46 beigelegt werden sollte und zum Gegenstand die Entführung einer Prostituierten hatte. Der Autor läßt dabei den klagenden Frauenwirt Battaros über dessen Widersacher Thales äußern, daß dieser sich in der Polis überheblich verhalten habe, statt „in Ehrfurcht vor dem geringsten Bürger zu zittern“, wie es eben Battaros selbst tue47. Der Status eines Nichtbürgers wird 40

Siehe etwa RIGSBY Asylia n. 81f.. 912–15. PATON/HICKS n. 5; HALLOF/HABICHT 1998 n. 11. 42 HALLOF/HABICHT 1998 n. 5. 43 HALLOF/HABICHT 1998 n. 15 4–6 (1. Jh. v.Chr. – die poli`tai sind aufgrund des Kontextes sicher ergänzt). 44 SEGRE IdCos n. ED 180 11f. (vgl. ED 1092). Siehe auch die pavroikoi und die ejg Kw`i ejpidameu`nte" neben den poli`tai in SEG XXXIII n. 6756f.. 45 GERHARD, RE VIII,1 (1912) 1080–1102, s.v. Herondas. Zur Datierung der Mimiamben IIV des Herondas siehe CUNNINGHAM 1971, 2. 84f.; SHERWIN-WHITE 1978, 94 Anm. 60. 46 Herondas II 1f. 47 Herondas II 29f.: (…) wj" ejgw; [scil. Bavttaro"] zwvein | tw`n dhmotevwn frivssonta kai; to;n h[kiston. 41

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demnach – trotz der parodistisch zugespitzten Darstellung, aber entsprechend dem durch die Inschriften vermittelten Bild – in einer deutlichen Abgrenzung zum Bürgerstatus beschrieben48. Weiterhin läßt Herondas seinen Hauptakteur Battaros auch ein rechtmäßiges Verhalten anführen, dessen Berücksichtigung dieser vor den Richtern fordert. Zu diesem Zweck solle der anwesende grammateuv", ein Mann mit Bürgerstatus, ein entsprechendes Gesetz zitieren49. Da nun andernorts überliefert ist, daß der koische Bürgerstatus auch dazu verpflichtete, einen bestimmten Gesetzeskanon aus dem Gedächtnis rezitieren zu können50, führt der grammateuv" in dieser Situation eine allgemeine bürgerliche Pflicht aus, wodurch allerdings der da`mo" als Träger einer innerhalb der Polis bestehenden und durch die Bürgerschaft repräsentierten Gesetzesgrundlage gekennzeichnet wird, die ihn somit erheblich von der übrigen Bevölkerung unterscheidet. Da Herondas seinen Battaros nun als Nichtbürger mit der persönlichen Fähigkeit ausstattete, diese Gesetze ebenso wie die Bürger aus dem Gedächtnisse aufsagen zu können51, kennzeichnet er ihn diesbezüglich zwar der Bürgerschaft ebenbürtig, zeigt gleichzeitig aber einen unüberbrückbaren Statusunterschied zwischen seiner Hauptperson und den Bürgern auf, indem er ihn mit der angeführten „Ehrfurcht sogar vor den geringsten Bürgern zittern“ läßt. Das Bestreben, die bürgerlichen Werte und Normen zu befolgen sowie die strikte Trennung zwischen poli`tai und ansässigen Nichtbürgern zu achten, stellt Herondas in spannungsvoller Form dar. Die aufgrund der Inschriften zu folgernde seltene Bürgerrechtsvergabe sowie die damit einhergehende Exklusivität des da`mo" stimmt ebenfalls mit der geschilderten Sicht des Herondas überein, indem nämlich die Nichtbürger wie Battaros von den Bürgern durch einen nur mit Zustimmung der Bürgerschaft überwindbaren Statusunterschied voneinander getrennt sind. Die von Herondas geschilderte klare Trennung von Bürgern und Nichtbürgern wird ebenfalls in einem von Diodor für Kos angeführten alten Gesetz ersichtlich, wodurch nämlich Kinder von poli`tai einen Unterricht in den gravmmata, also dem Lesen und Schreiben, erhielten, für dessen Kosten die Polis aufkommen sollte52. Wenngleich die Gültigkeit dieses Gesetzes für die hellenisti48 Vgl. dazu auch Herondas II 92–94, wo die Richter aufgefordert werden, mit der Entscheidung zugunsten des Battaros grundsätzlich auch für die xevnoi der Polis zu entscheiden, zu denen auch Battaros hinzuzuzählen ist: to; loipovn, a[ndre", mh; dokei`te th;n yh`fon | tw`i pornoboskw`i Battavrwi fevrein, ajllav | a[pasi toi`" oijkeu`si th;n povlin xeivnoi". 49 Battaros beruft sich vor den Richtern auf bestehende Gesetze und zwar die des Charondas, die er den grammateu;" zitieren läßt (II 41–49): Bavttaro": kaivtoi labwvn moi, grammateu`, th`" aijkeivh" | to;n novmon a[neipe (…) Grammateuv": ejph;n d j ejleuvqerov" ti" aijkivshi douvlhn | h] e[〈l〉kwn ejpivsphi, th`" divkh" to; tivmhma | diplou`n teleivtw. Bavttaro": tau`t j e[graye Cairwvndh", | a[ndre" dikastaiv, (…). Vgl. dazu DI GREGORIO 1997, 141–146. 50 Zu der bürgerlichen Tradition, die ‚Gesetze des Charondas‘ rezitieren zu können, HERZOG Koische Forschungen 204f. Anm. 3. 51 Indem Battaros den grammateuv" dieses alte Gesetz rezitieren läßt und dann den Schluß selbst ausführt, wird er von Herondas als ein Nichtbürger charakterisiert, der trotz seines Status eine genaue ‚Kenntnis‘ dieses bürgerlichen Gesetzes zu besitzen scheint. 52 Diod. XII 12,4: e[graye [scil. Carwvnda"] de; kai; e{teron novmon polu; touvtou kreivttona kai; toi`" palaiotevroi" aujtou` nomoqevtai" hjmelhmevnon: ejnomoqevthse ga;r tw`n politw`n tou;" uiJei`" a{panta" manqavnein gravmmata, corhgouvsh" th`" povlew" tou;" misqou;" toi`" didaskavloi".

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sche Zeit aus Diodors Angabe nicht hervorgeht, so darf sie aber mit großer Wahrscheinlichkeit für diese Zeit vorausgesetzt werden53, da die separate Erziehung des bürgerlichen Nachwuchses in eigenen Gymnasien weiterhin belegt ist54 und in dieser Hinsicht die strikte Trennung der Gruppe der Bürger von der übrigen Bevölkerung bestehen blieb. Dieses Beispiel sowie die zuvor aufgeführten Zusammenhänge haben nunmehr außerdem hinreichend gezeigt, daß „Volk“, „people“, „peuple“ oder auch „popolo“ als Übersetzung von da`mo" zwar bei exakter Verwendung und entsprechender Berücksichtigung der inhaltlichen Bedingungen durchaus folgerichtig bliebe, jedoch aufgrund der verallgemeinernden modernen Wortbedeutung kaum die für ein Verständnis interner Polisvorgänge notwendige Exklusivität des da`mo" gegenüber der restlichen Bevölkerung wiederzugeben vermag55. II. 2. DIE POLITISCHEN INSTITUTIONEN DER POLIS56 2.1. Die lokale politische Organisation Die fulaiv Auf lokaler Ebene war die Bürgerschaft des hellenistischen Kos in die drei dorischen fulaiv, die der JUllei`", Duma`ne" und Pavmfuloi, aufgeteilt57. Diese konstituierten sich aus der ihr zugehörigen Personengruppe und bildeten keine geographisch begrenzten Einheiten58. Die Bürgerrechtsdekrete der hellenistischen Zeit verweisen auf die Bedeutung der fulaiv dadurch, daß neue poli`tai nicht nur fortan an allem den gleichen Anteil haben sollten, sondern mit der 53 Vgl. zur öffentlich finanzierten Bildung des bürgerlichen Nachwuchses im hellenistischen Gymnasion SCHOLZ 2004, 109–111. Vgl. zum Zusammenhang von der koischen Jugend und dem Chariten-Kult der Polis V. PIRENNE-DELFORGE, Kernos 9, 1996, 195–214. 54 P ATON/HICKS n. 8 : ejn tw`/ gumnasivw/ tw`n nevwn ejn A j ª - - -. Dieses gumnavsion befand sich 9 wohl in einem der davmoi, wie der im folgenden abbrechende Wortlaut vermuten läßt: ejn A j ªlasavrna oder ejn A j ªntimaciva/; siehe dazu PATON/HICKS ebendort. 55 Die hier für die Bürgerschaft aufgezeigte Exklusivität dürfte darüber hinaus die geringe Anzahl der Bürgerrechtsverleihungen, insbesondere gemessen an den zahlreichen Proxeniedekreten, ausreichend begründen, so daß darin jedenfalls keine Zufälligkeit der Überlieferung gesehen werden braucht. 56 Die spezifischen Verfahrensweisen innerhalb der demokratischen politischen Organisation der Polis bedürften aufgrund der von M. Segre (SEGRE IdCos) und der in einer Reihe von Aufsätzen seit 1998 im Chiron veröffentlichten Inschriften einer umfangreicheren Untersuchung, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Soweit es für die im folgenden dargelegte Stellung der ejkklhsiva sowie die Abhängigkeit zentraler Gremien und Ämter von der Bürgerversammlung erforderlich wurde, sind die Veröffentlichungen berücksichtigt. Zu einigen unsicheren respektive leicht veränderten Datierungen vgl. jetzt Ch. CROWTHER, The Dating of Koan Hellenistic Inscriptions, in: HÖGHAMMAR 2004, 21–30. 57 Zur Benennung siehe etwa PATON/HICKS n. 39 2–4; vgl. S HERWIN-WHITE 1978, 155; JONES 1987, 236f. (mit weiteren Quellenangaben). 58 S HERWIN-WHITE 1978, 171.

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Verleihung auch einer dieser koischen fulaiv zuzulosen waren59. Aufgrund des angeführten Losverfahrens als Zuteilungsmethode darf angenommen werden, daß hiermit die Gefahr möglicher Interessengruppen eingeschränkt werden sollte. Dies ist gerade deshalb naheliegend, weil die Zugehörigkeit zu einer fulav innerhalb der Familie vererbt wurde60 und somit für jeden Bürger eine traditionelle Identifikation mit der eigenen fulav bestand, aus der politisch festgefügte Gruppen erwachsen konnten. Die überlieferten Quellen bieten für die genauere politische Funktion dieser Gruppen insgesamt nur sehr begrenzte Aussagemöglichkeiten. Ließe zwar die Dreizahl der fulaiv darauf schließen, daß bestimmte Gremien der Polis hiernach besetzt wurden, liegen jedoch diesbezüglich nur sehr schwache direkte Hinweise vor61. Vielmehr dürfte aber, wie unten im Abschnitt zur politischen Organisation der Gesamtpolis ausgeführt wird, die Besetzung respektive interne Rotation der boulav nach der Dreizahl der fulaiv durchgeführt worden sein, womit dem angeführten Losverfahren bei der fulaiv-Zuteilung der Neubürger bei diesem, für die politische Organisation der Gesamtpolis zentralen Gremium eine grundsätzliche Bedeutung zukäme. Eine politisch-organisatorische Eigenständigkeit der fulaiv wird durch die Tatsache aufgezeigt, daß für den Bürgereid der Homopolitie mit Kalymna zwei oJrkwtaiv aus jeder fulav gewählt werden sollten62. Darüber hinaus verliehen die fulaiv als Gemeinschaften Ehrungen an Amtsträger63, und neben ihrer politischen Bedeutung besaßen sie auch kultische Funktionen, indem die Polis einzelne Opfer kata; fulav" durchführte64 oder Bürger innerhalb der Polis zu Agonen für ihre fulav antraten65. Die zentrale politische Bedeutung der drei fulaiv wird nun aber gerade dadurch kenntlich, daß erst eine Zugehörigkeit zu den JUllei`", Duma`ne" oder Pavmfuloi den koischen Bürgerstatus mit sich brachte, wie neben 59 HALLOF/HABICHT 1998 n. 5 13–18; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 125–9; SEGRE T.Calymnii n. 7420f. (2. Hälfte 2. Jh. v.Chr.); siehe auch SEGRE IdCos n. ED 911f. (4. Jh. v.Chr.). Die überlieferte Homopolitia mit Kalymna (STAATSVERTRÄGE III n. 545) führt den Eid der Bürger an, den diese in ihren Phylen abzulegen hatten; dazu SHERWIN-WHITE 1978, 155; KROB 1997, 438f. 60 Siehe dazu die umfangreiche Namensliste aus Halasarna PUGLIESE CARRATELLI IdIsthmos n. 26B (ca. 175 v.Chr.); dort auch die Angaben zu den familiären Beziehungen zwischen den angeführten Personen, die jeweils nur innerhalb der fulav bestanden und so einen klaren Beleg für die Weitergabe der Phylenzugehörigkeit innerhalb der Familie darstellen; siehe zu den Duma`ne" die Namen ebendort n. 1–88, zu den JUllei`" n. 89–158 und zu den Pavmfuloi n. 159– 179. Vgl. die weiteren Angaben im Kommentare zu PATON/HICKS n. 368; darauf Bezug nehmend jetzt HABICHT 2000, 315f. 61 PATON /HICKS n. 388 mit möglicherweise zwei Hieropoioi je fulav . Siehe zu weiteren Belegen JONES 1987, 237 mit Anm. 5. 62 STAATSVERTRÄGE III n. 545 . Vgl. zur Eigenständigkeit der fulaiv auch die dortigen 1f. a[rceuvonte", die – allerdings hauptsächlich im kultischen Zusammenhang – als zentrale Amtsträger agierten; PATON/HICKS n. 44. 384. Vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 170; JONES 1987, 240f. 63 S EGRE IdCos n. ED 138 macht eine Ehrung von 22 Beamten aus. Vgl. zur Eigenständigkeit auch das Dekret einer fulav SGDI n. 3720 mit der Angabe des Abstimmungsergebnisses (Z. 20). 64 P ATON/HICKS n. 39 ; siehe zudem P ATON/HICKS n. 37 (dazu S HERWIN-WHITE 1978, 159f.). 1f. 65 So bei den koischen Dionysien: PATON /HICKS n. 45; HERZOG Koische Forschungen n. 13; dazu SHERWIN-WHITE 1978, 170; Ph. GAUTHIER, REG 108, 1995, 576–585.

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den Bürgerrechtsverleihungen auch durch Bürgerlisten nahegelegt wird, in denen die Bürgernamen nach fulaiv angeführt wurden66. Berücksichtigt man zudem, daß ihnen die Aufzeichnung und die Kontrolle des Bürgerrechtsstatus oblag67, so wird man vor dem Hintergrund der oben dargelegten zentralen Bedeutung des Bürgerrechtes innerhalb der Polis auch die Bedeutung der fulaiv bezüglich der politischen Organisation – entgegen Susan Sherwin-White – keineswegs unterschätzen dürfen68. In den Bürgerrechtsdekreten wird weiterhin die Zulosung der Neubürger in eine triakav" und eine penthkostuv" angeführt69. Die Bedeutung dieser Gruppen ist in der Forschung umfangreich diskutiert worden, zumal ihre Benennung und ihre Angabe in Dekreten zusammen mit den fulaiv zahlreiche Überlegungen zu einer auf einem Zahlenverhältnis beruhenden Aufteilung der koischen Bürgerschaft motivierte70. Für die Bewertung von triakav" und penthkostuv" muß jedoch zunächst – wie Nicholas Jones bemerkt hat – beachtet werden, daß aus den Inschriften eine direkte Einbindung beider Gruppen in die fulaiv keineswegs sicher herzuleiten ist und somit vielmehr auch deren Eigenständigkeit in Erwägung gezogen werden sollte71. Die umfangreiche Analyse von Sherwin-White geht hingegen von triakav" und penthkostuv" als „subdivisions“ der fulaiv aus72. Darüber hinaus – und auch dieses hat Jones angemerkt – sind triakavde" und penthkostuve" bisher nur in kultisch-religiösem Zusammenhang belegt73, so daß eine Funktion innerhalb der politischen Organisation auch in dieser Hinsicht keineswegs vorausgesetzt werden braucht und eine direkte Abhängigkeit von den politischen Einheiten der fulaiv letztlich zweifelhaft bleiben muß. Unzweifelhaft ist allerdings die Einlosung von Neubürgern in jeweils eine triakav" und penthkostuv", wodurch beide als eine Organisationseinheit der Bürgerschaft gekennzeichnet sind, von denen dann sehr wahrscheinlich die übrige Bevölkerung der Polis ausgeschlossen blieb. Zieht man in Betracht, daß einige Priesterämter nur einer bestimmten Kombination von triakav" und penthkostuv" vorbehalten wa66

PATON/HICKS n. 367. 368. Dazu JONES 1987, 238; SHERWIN-WHITE 1978, 169. 68 SHERWIN -WHITE 1978, 169: „The civic importance of the Dorian tribes of Cos lay primarily in the fact that membership of a tribe validated citizenship. (…). The general impression in the present state of evidence is that the Coan tribes, (…), were largely divorced from political life“. Zurückhaltender hingegen JONES 1987, 237. 69 HALLOF/HABICHT 1998 n. 5 16–18; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 12A 8–10; SEGRE T.Calymnii n. 7421f.(sicher ergänzt); SEGRE IdCos n. ED 912f.(sicher ergänzt). Vgl. zur Einlosung in die fulaiv und triakavde" weiterhin BOSNAKIS/HALLOF 2005 n. 204f. (mit dem Kommentar). 70 Siehe die Diskussion der entsprechenden Möglichkeiten von Zahlenverhältnissen sowie die ältere Forschung bei SHERWIN-WHITE 1978, 155–165. Zur Bevölkerungszahl siehe die Angaben von WIEMER 2003, 278 Anm. 107 (mit der älteren Forschung). 71 JONES 1987, 239. Zudem brauchen die triakavde" nicht in einem direkten Verhältnis zu den penthkostuve" gestanden zu haben. 72 SHERWIN-WHITE 1978, 155. 162. 163: „Subdivisions of the tribes were called triakades and pentekostyes, to which citizens also belonged“ (155). 73 JONES 1987, 238f. (Anm. 16 mit vergleichbaren Belegen für andere Poleis). Beide Gruppen sind aus koischen Kultgesetzen bekannt. 67

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ren74, erhält die von Jones angedachte kultisch-religiöse Funktion der triakav" und penthkostuv" eine weitere Bestätigung, indem nämlich eine Exklusivität einer bestimmten Personengruppe innerhalb der Bürgerschaft in diesem Bereich bestehen konnte. Hingegen ist – wie bereits angeführt wurde und im folgenden weiterhin zu zeigen sein wird – für die Besetzung von politischen Ämtern sowie bei der politischen Mitbestimmung innerhalb der Bürgerschaft ansonsten keine Exklusivität bestimmter poli`tai zu beobachten. Neben den triakavde" und penthkostuve" bestanden als weitere lokale Unterteilung noch die ciliastuve". Aufgrund eines überlieferten Kultgesetzes für Zeus Polieus ist sowohl deren Gesamtzahl mit neun als auch die synonyme Benennung mit ejnavta belegt75. Da in diesem Gesetz zugleich Aufgaben für einzelne fulaiv angeführt sind, können die ciliastuve" respektive ejnavtai als Untereinheiten der fulaiv bestimmt werden und zwar derart, daß jeder fulav drei ciliastuve" zugehörten76. Im Gegensatz zu den triakavde" und penthkostuve" sind die ciliastuve"/ejnavtai somit der politischen Organisation zuzuweisen, wenngleich bisher weder ihre genaue politische Funktion noch ihre interne Organisation zu bestimmen ist77. Die da`moi Als zweite wesentliche Gliederungseinheit der Bürgerschaft bestanden mehrere da`moi, die im Gegensatz zu den fulaiv geographisch begrenzt waren und sich auf einzelne Siedlungszentren der Polis bezogen78. Die jeweiligen Bürger eines da`mo" traten in Versammlungen zusammen, die als beschlußfassendes Organ agierten79 und in denen mittels Mehrheitsbeschluß entweder durch Handzeichen oder durch Stimmsteine entschieden wurde80. Einen wichtigen Hinweis zur lokalen Versammlungshäufigkeit bietet ein Subskriptionsbeschluß zur Fertigstellung 74 Die Quellen dazu in den Kultgesetzen HERZOG Heilige Gesetze n. 5A 16f.. 8 IIA34f. (ergänzt); SHERWIN-WHITE 1978, 155f. 75 PATON/HICKS n. 37 (Ende 4. Jh. v.Chr.). 76 Aus der bei PATON /HICKS n. 37 genannten Anzahl, Bestimmung und Zuordnung von neun Opfertieren für das Opfer bezüglich der ciliastuve", ejnavtai und der drei fulaiv ergibt sich die Zuweisung von je drei ciliastuve"/ejnavta an jede fulav; SHERWIN-WHITE 1978, 159–161; JONES 1987, 237f. 77 Vgl. insgesamt zur lokalen Organisation jenseits der fulaiv JONES 1987, 239: „The disposition of the organization in its lower levels, it must be admitted, remains quite uncertain“. 78 P ATON/HICKS 212f.; HERZOG Heilige Gesetze 44. Zu den bisher belegten da`moi siehe JONES 1987, 239. Für das nach dem metoikismov" von 366 v.Chr. (Diod. XV 76; Strab. XIV 2,19) etablierte Zentrum Kos-Stadt ist bisher keine Einbeziehung in das System der da`moi nachzuweisen; SHERWIN-WHITE 1978, 154. 79 Dieses belegen die lokaken Dekrete, die den da`mo" in der Sanktionsformel nennen; vgl. SYLLOGE n. 568 (Halasarna); SEG XLI n. 68044f.. 80 Einige Dekrete führen das Abstimmungsergebnis des Beschlusses im Inschriftentext an: PATON/HICKS n. 38419f.(Antimachia); SEG XLI n. 68053–55 (Halasarna). Dazu SHERWIN-WHITE 1978, 183; BOSNAKIS/HALLOF 2003, 206f. Nach HALLOF/HABICHT 1998 n. 143–8 wurde ein lokaler Arzt, wie seine spätere Ehrung aufführt, durch Abstimmung nach Handzeichen gewählt: dedovcqai ejpªainevsai teº | ªPraxiºavnakta Nannavkou (…) ejpimeleiva" e{ªnekaº | kai; dikaiosuvna" a}m pepoivhtai kata; pa`ªsanº | ta;n ajrca;n ajxivw" tw`g ceirotonhsavnªtwnº | aujto;m polita`n.

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des Apollontempels in Halasarna81, wonach die erhofften Spenden innerhalb eines Jahres bei der Versammlung des da`mo" anzuzeigen waren und zwar beginnend mit einem festgelegten Monat82. Eine mindestens einmal im Monat zusammentretende Versammlung des lokalen da`mo" wäre demzufolge naheliegend83. Da in den bisherigen Quellen keine Hinweise auf eine lokale boulav bestehen84, kann deren Fehlen als ein Charakteristikum für die da`moi angesehen werden. Demgegenüber verweisen das Amt eines davmarco"85 sowie weitere Amtsträger86 auf eine interne politische Organisation, die jedoch in keiner erkennbaren Weise das Entscheidungsmonopol der Bürgerversammlung beschränkte87, sondern vielmehr in einer direkten Abhängigkeit zur lokalen Bürgerschaft stand. Daß auf dieser lokalen Ebene ferner Variationen der politischen Organisation gegeben waren, zeigt etwa das Amt der napoi`ai im da`mo" Halasarna, die dort zentrale politische Aufgaben übernahmen, wohingegen ein davmarco" nicht überliefert ist88. Außergewöhnlich ist in dieser Hinsicht auch die Untergliederung des da`mo" von Isthmos in eigene fulaiv, die nicht mit denen der Polis identisch waren89. Der Grund für einzelne lokale Variationen wird vor allem in der bis zum metoikismov" von 366 v.Chr. bestehenden Eigenständigkeit der einzelnen Siedlungszentren zu sehen sein. 81 P ARKER/OBBINK 2001a, n. 1. Zu den Kulten in Halasarna vgl. G. KOKKOROU-ALEVRAS, New Epigraphical Evidence on the Cults of Ancient Halasarna in Cos, in: HÖGHAMMAR 2004, 119– 127. 82 P ARKER/OBBINK 2001a, n. 1A 20–22: poieuvmenoi ta;n | me;n ejpaggelivan ejn ejniautw`i ejn tai`" sunovdoi" tai`" ginomevnai" ejn tw`i davmwi a[rconto" Dalivou (…). Zur Zugehörigkeit dieser Inschrift zum da`mo" der Halasarner siehe PARKER/OBBINK 2001a, 258. 83 Zieht man die geringe territoriale Ausdehnung der da`moi und damit die räumliche Nähe der lokalen Bürgerschaft in betracht, so hätten für ein noch häufigeres Zusammentreffen auf lokaler Ebene jedenfalls keine Hindernisse bestanden. 84 RHODES/LEWIS 1997, 238. Die Inschriften zu den da`moi, worunter sich eben auch Dekrete mit Sanktionsformeln befinden, sollten freilich, sofern es einen Rat gegeben hätte, hierzu einen Beleg geliefert haben. Man wird daher die geringe Größe dieser politischen (und auch gesellschaftlichen) Einheiten als Grund für dessen Fehlen annehmen dürfen. 85 Zu Haleis siehe PATON /HICKS n. 344 16–18 (augusteisch). 3473–6 (kaiserzeitlich); zu Isthmos siehe PUGLIESE CARRATELLI IdIsthmos n. VI19. 29. 36; zu Antimachia siehe BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 118f.; des weiteren PATON/HICKS n. 99. Nach BOSNAKIS/HALLOF 2003, 223 ist ein davmarco" an der Spitze eines da`mo" sonst nur in Isthmos belegt. 86 So etwa die tamivai in PATON/HICKS n. 9 . Zu weiteren Ämtern siehe JONES 1987, 240f. Da 4 die offizielle Wahl eines Arztes durch die Versammlung in einem nicht näher zu bestimmenden da`mo" belegt ist (HALLOF/HABICHT 1998 n. 147f.), wird man auch bestimmte ijatroiv als Amtsträger der lokalen da`moi anzusehen haben. 87 Die in BOSNAKIS /HALLOF 2003 n. 11 8–10 vom davmarco" und einem weiteren Gremium gewählten fünf damovtai haben nur übermittelnde Funktion und sind daher weniger als Amtsträger zu verstehen. 88 Zu den napoi`ai siehe SHERWIN-W HITE 1978, 182f. (mit Quellenbelegen). Deren exponierte Stellung im lokalen Bereich ist aufgrund des Rechtes, der Versammlung ‚Beschlußvorschläge‘ als gnwvma tw`n napoi`an vorzulegen, zu erkennen; vgl. dazu etwa SEG XXVII n. 519. XXX n. 1051. XLI n. 680 (jeweils 2. Jh. v.Chr.). 89 Zu den drei lokalen fulaiv und einer möglicherweise weiteren fulav siehe JONES 1987, 239f. Im da`mo" der Isthmier ist zudem das Amt eines lokalen movnarco" belegt; vgl. dazu SHERWIN-WHITE 1978, 183; HABICHT 2000, 326; HABICHT 2000a, 293.

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Die von den da`moi gefaßten politischen Beschlüsse bedurften grundsätzlich keiner Bestätigung durch die ejkklhsiva der Polis, so daß die lokale Versammlung auch als lokale politische Autorität zu gelten hat. In einigen Fällen, die über den lokalen Bereich hinausreichten, scheint allerdings ein Einverständnis der gesamten Bürgerschaft notwendig gewesen zu sein. So mußte bei einer Ehrung, die der da`mo" der Halasarnier für einen Bürger beschloß und im Heiligtum des Asklepios aufstellen lassen wollte, zunächst die Erlaubnis der ejkklhsiva eingeholt werden, da jener die Zuständigkeit für dieses Heiligtum oblag90. Auch zeigen Anfragen zur Ausweitung von lokal beschlossenen Ehrungen auf die gesamte Polis an die gesamte Bürgerschaft, daß die Zuständigkeit der da`moi auf den lokalen Bereich begrenzt blieb91. Die von Sherwin-White formulierte Annahme, lokale Beschlüsse hätten de iure von der Bürgerschaft der Polis bestätigt werden müssen92, läßt sich nicht belegen und ist auch insofern wenig naheliegend, weil der lokale da`mo" in der ejkklhsiva durch die entsprechenden poli`tai bereits vertreten war. Daß hingegen die da`moi durchaus ein Interesse an der Vermittlung ihrer lokalen Ehrungen an die gesamte Bürgerschaft haben konnten, um dadurch die eigene Tradition gegenüber den anderen da`moi und der Polis hervorzuheben und deshalb bestrebt waren, bestimmte Beschlüsse polisweit zu propagieren93, liegt nahe. Einen Sonderfall für die lokale politische Organisation stellt die Aufnahme der zuvor eigenständigen Bürgerschaft der Kalymnier im ausgehenden 3. Jh. v.Chr.94 dar, der gleichzeitig charakteristische Aspekte für das Verständnis der gesamten politischen Organisation sowie auch der koischen politeiva aufzeigen helfen kann. So blieb nämlich deren lokale politische Organisation trotz der Integration weitestgehend unverändert, und ebenfalls blieb dadurch, daß das Gebiet der Kalymnier als neuer lokaler da`mo" den bestehenden koischen da`moi gleichgestellt war, deren territoriale Geschlossenheit gewahrt95, wohingegen ihre Aufteilung auf die drei bestehenden koischen fulaiv eine Durchmischung mit den übrigen Bürgern innerhalb dieser Personengruppen bedeutete96. Ersteres hatte zur Folge, daß sie die in ihrem lokalen Bereich bestehende politische Tradition 90 Vgl. hierzu die Anfragen an die ejkklhsiva zur Ausweitung lokaler Ehren auf die gesamte Polis: HALLOF/HABICHT 1998 n. 4. 1320–24; PATON/HICKS n. 97–13. 91 P ATON/HICKS n. 9 7–13; HALLOF /HABICHT 1998 n. 1320–24; EaAlavsarna n. 1. 2 (nicht gesehen); vgl. RHODES/LEWIS 1997, 238; PARKER/OBBINK 2001a, 259f. Siehe weiterhin die lokale Anfrage um Unterstützung in einer bedrohten Lage in SYLLOGE n. 569 sowie die finanziellen Verknüpfungen zwischen einem lokalen da`mo" und der gesamten Bürgerschaft in PATON/HICKS n. 383. 92 S HERWIN-WHITE 1978, 183 meint, daß die „kuvrwsi" may have been de iure obligatory but not always practised“. 93 Siehe hierzu BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 11 7–9 mit dem Wunsche des da`mo" von Antimachia, Ehrungen auch dem suvnpan plh`qo" anzuzeigen, was eine Bekanntmachung an die gesamte Bürgerschaft als selbstverständlich erscheinen läßt. 94 Siehe zur Datierung und zu den Umständen S HERWIN-WHITE 1978, 124–129. 95 Zum lokalen da`mo" der Kalymnier innerhalb der politischen Organisation von Kos siehe SHERWIN-WHITE 1978, 129; JONES 1987, 236; RHODES/LEWIS 1997, 222. 96 Zwar ist die Verteilung der Kalymnier auf die drei fulaiv nicht direkt belegt, jedoch darf sie als sicher angenommen werden, da ansonsten das Verfahren der Zulosung der Neubürger auf die fulaiv sinnlos bliebe.

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und Identität bewahren konnten97, dem durch letzteres eine polisweite Integration der gesamten Bürgerschaft gegenüberstand. Insgesamt kann für das hellenistische Kos somit bereits für die lokale Ebene eine umfangreiche Einbindung des einzelnen Bürgers in die politische Organisation festgestellt werden. Im Bereich der da`moi sowie im Bereich der fulaiv sind hinsichtlich der politischen Beteiligung keine rechtlichen Unterschiede zu beobachten. Während man lokale Ambitionen und Identifikationen der Bürger in den geographisch festgelegten da`moi aufgrund der angeführten Aspekte voraussetzen kann, erhielten diese mit einer überregionalen Einbindung des einzelnen in die fulaiv ein entsprechendes, für die Integration der gesamten Bürgerschaft förderliches Gegengewicht98.

2.2. Die politische Organisation der Gesamtpolis Die ejkklhsiva Für die hellenistische Zeit führen die Inschriften die ejkklhsiva99 als die versammelte Bürgerschaft100 und als beschlußfassendes politisches Gremium101 der 97 Ein Problem ergibt sich hierbei durch die Frage, ob der Rat von Kalymna auch nach der Homopolitia fortbestand. RHODOS/LEWIS 1997, 223 sehen kein Anzeichen für einen solchen Rat nach der Inkorporation, wobei allerdings einige Dekrete, die den Rat nennen, nicht mit Sicherheit datiert werden können (RHODES/LEWIS 1997, 220–222 mit den Belegen). Indem nun aber zahlreiche Dekrete des 3. Jhs. v.Chr. den Rat anführen, würde ein Fehlen nach der Homopolitia bedeuten, daß für die lokalen da`moi keine boulav vorgesehen war oder aber für sie aufgrund der Unterordnung unter die Organisation der Gesamtpolis keine Notwendigkeit bestand. Letzteres erscheint m. E. naheliegender. Die Größe der lokalen Bürgerschaft, die freilich unverändert blieb, kann jedenfalls kein Grund für eine etwaige Veränderung ausgemacht haben. Daß die Kalymnier trotz ihrer Gleichstellung zu den restlichen Bürgern als lokaler da`mo" ebenso wie die übrigen lokalen koischen da`moi für eine Aufstellung einer Ehrung im Asklepieion die Genehmigung der gesamten Bürgerschaft einzuholen hatten, belegt das Dekret über die Ehrung eines dortigen Gemeindearztes (SEGRE T.Calymnii n.782–5). Vgl. zur Eingliederung von Kalymna jetzt auch BOSNAKIS/HALLOF 2005, 243f. 98 Zu weiteren gesellschaftlichen Gruppen, die jedoch von der politischen Organisation ausgeschlossen blieben und an dieser Stelle nicht näher zu diskutieren sind, siehe SHERWIN-WHITE 1978, 165–169. 99 In Dekreten des 4. und 3. Jhs. v.Chr. wurde auch die Formel e[doxe (ta`i boula`i kai;) ta`i ejkklhsivai gebraucht; siehe dazu etwa PATON/HICKS n. 28f.; HERZOG Koische Forschungen n. 21f.; SEGRE IdCos n. ED 181 (4.-3. Jh. v.Chr.). ED 211f.. ED 401f. (4. Jh. v.Chr.). ED 731f.. ED 1061 (4. Jh. v.Chr.). ED 1853. ED 2251f. (4.-3. Jh. v.Chr.). ED 2392f. (ergänzt). ED 2421f. (3. Jh. v.Chr.). ED 2721 (4. Jh. v.Chr.). ED 203f. (Ende 4. Jh. v.Chr. – ejkklhsiva erscheint dort nur im Sanktionsantrag, während in der Sanktionsformel (Z. 19) oJ da`mo" angeführt ist). 100 Die Bürgerschaft wird zugleich auch mit oJ suvmpa" da`mo" angesprochen. Zur Unterscheidung des gesamten da`mo" von einem lokalen da`mo" in den Dekreten siehe PATON/HICKS n. 97f.; HERZOG Koische Forschungen n. 2104; SYLLOGE n. 5674. 56930. 35. Vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 182. Vgl. zudem den suvmpa" da`mo" ohne eine direkt ersichtliche Abgrenzung zu einem lokalen da`mo" in CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 125. 101 Die Größe der Bürgerschaft sollte aufgrund einer überlieferten Abstimmungszahl von

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Polis an. Indem für die Neubürger bestimmt wurde, daß sie metevconta" pavntwn w|mper kai; toi; a[lloi Kw`ioi, bestand innerhalb der Bürgerschaft das Bestreben nach einer Gleichheit aller poli`tai102. Die Gleichberechtigung mit den a[lloi Kw`ioi wird in den überlieferten Quellen insbesondere im Eid der Homopolitie mit den Kalymniern ausgedrückt, in dem es heißt, ejsseu`mai de; kai; dikasta;" divkaio" kai; polivta" i[so" ceirotonw`n kai; yafizovmeno" a[neu cavristo" o{ kav moi dokh`i sumfevron h\men tw`i davmwi, eine rechtliche Ungleichberechtigung somit schwerlich anzunehmen ist, indem neben dem „gleichen Anteil an allem übrigen“ außerdem die Gleich- und Stimmberechtigung des Bürgers im Kreise des da`mo" nachdrücklich betont wurde103. Ein wesentliches Merkmal der durch die Bürgerschaft konstituierten politischen Organisation bestand darin, daß eine Entscheidung über die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bei der Gesamtheit der Bürger lag und durch einen Mehrheitsbeschluß der ejkklhsiva erreicht wurde104. Neben der Vergabe des Bürgerrechts traf die ejkklhsiva auch die Entscheidung über die Vergabe der Proxenia, mit der auswärtige Personen geehrt wurden und ihnen besondere Vorrechte in der Polis zukamen105, und weiterhin beschloß die versammelte Bürgerschaft auch die übrigen polisweiten Ehrungen sowohl für Könige als auch für andere verdiente Personen106, so daß letztlich alle offiziellen, von der Polis zuzuerkennenden Privilegien und Ehrungen von ihrer Entscheidung abhingen. Weiterhin tritt die zentrale politische Funktion des da`mo" dadurch hervor, daß die Amtsträger der Polis von der ejkklhsiva gewählt wurden. Hierzu zählen nicht nur die regelmäßig für oder innerhalb eines Jahres zu besetzenden Ämter, sondern auch die Bestimmung 885 Bürgerstimmen im 2. Jh. v.Chr. (CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 147f.) auf jeden Fall über 1.000 Männer ausgemacht haben; vgl. BOSNAKIS/HALLOF 2003, 224f. Die von Rudolf Herzog für das 6. und 5. Jh. v.Chr. angeführten 9.000 Bürger sind für die hellenistische Zeit unverhältnismäßig, weil ein Abstimmungsergebnis mit 4.000 Stimmen nicht Kos, sondern Halikarnassos zu-zurechnen ist; anders noch RHODES/LEWIS 1997, 238; siehe dagegen jetzt WIEMER 2003, 278 Anm. 107. Vgl. zur ejkklhsiva jetzt weiterhin CARLSSON 2005, 307f. 102 Vgl. etwa SEG XLVIII n. 1092 11–18; HALLOF/HABICHT 1998 n. 514–16. 103 STAATSVERTRÄGE III n. 545 14–31 (hier 27–29). Besondere Beachtung bedarf bei dieser Textstelle die Stellung des i[so", wodurch zunächst grammatikalisch mit polivta" i[so" ein gleicher respektive gleichberechtigter Bürger gemeint ist, andererseits aber aufgrund des direkten Anschlusses der Abstimmungsmethode zudem eine unparteiische Haltung bei der Entscheidungsfindung impliziert wird, die mit a[neu cavristo" im folgenden weiter ausgeführt ist. Vgl. zudem SHERWIN-WHITE 1978, 176, die keine bestehende Exklusivität innerhalb der Bürgerschaft annimmt. 104 Diese Exklusivität ist oben ausführlich anhand der Vergabe des Bürgerrechts an Außenstehende und anhand des Homopolitievertrages zwischen Koern und Kalymniern aufgezeigt worden. 105 Vgl. zu den Proxeniedekreten etwa S EGRE IdCos n. ED 20 (Ende 4. Jh. v.Chr.). ED 34 (4. Jh. v.Chr.). ED 40 (4. Jh. v.Chr.). ED 108. ED 190 (4. Jh. v.Chr.) und ED 207 (4. Jh. v.Chr.); HALLOF/HABICHT 1998 n. 8. 9. Zu den Vorrechten gehörte etwa das ungehinderte Anlaufen der Polis per Schiff sowohl zu Kriegs- als auch zu Friedenszeiten. Zur Rolle der boulav bei diesen Entscheidungen siehe unten. 106 Siehe etwa HALLOF /HABICHT 1998 n. 6. 10; BOSNAKIS /HALLOF 2003 n. 2a. Zur Festlegung des Umfangs der Ehrung durch die Bürgerschaft siehe PATON/HICKS n. 520–23.

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von Bürgern für die Übernahme unregelmäßiger, aber gleichzeitig notwendiger Aufgaben, wie sie etwa im innenpolitischen Bereich für die Kommissionen zum Verkauf von Priesterämtern oder im außenpolitischen Bereich ganz grundsätzlich für Gesandtschaften der Polis gegeben waren107. Die Gesandtschaften beleuchten zudem eine weitere wichtige Funktion der ejkklhsiva, indem nämlich angestrebt war, die offizielle Kommunikation mit auswärtigen Mächten ebendort stattfinden zu lassen, so daß nach Möglichkeit deren Gesandte ihre Anliegen direkt an die Bürgerschaft richteten108. Ebenso wurden Schreiben auswärtiger Mächte, die an den da`mo" gerichtet waren, in der Bürgerversammlung vorgetragen109. Die ejkklhsiva ist damit nicht nur als Gremium der Entscheidungsfindung der Bürger zu verstehen, sondern gleichzeitig auch als der Ort der offiziellen Kommunikation und des offiziellen Informationsaustausches. Beide Aspekte, Entscheidungsfindung und Informationsaustausch, verweisen sogleich auf die naheliegende Annahme, daß eine konstruktive und auf allen Bürgern beruhende Entscheidungsfindung gerade im außenpolitischen Bereich auch eine alle Bürger umfassende, möglichst unvermittelte und umfangreiche politische Information notwendig machte. Vor diesem Hintergrunde muß freilich sodann den politisch ‚passiveren‘ Bürgern ein keineswegs zu unterschätzendes politisches Bewußtsein beigemessen werden, und die Tatsache, daß in der offiziellen Kommunikation eben auch Königsschreiben an den da`mo" und damit letztlich direkt an jeden einzelnen polivta" selbst gerichtet waren, vermag ein solches politisches Bewußtsein noch verstärkt und eine empfundene Exklusivität dieser Gruppe gegenüber den übrigen Bewohnern der Polis weiter vergrößert haben. Für die Häufigkeit der bürgerschaftlichen Zusammentreffen sind wenigstens zwei reguläre Treffen im Monat anzunehmen, da in Dekreten mehrmals der erste wie auch der 16. Tag des Monats als Zeitpunkte der Beschlußfassung genannt sind110. Da ein Dekret zudem ein Treffen in der Zwischenzeit, nämlich am 23. Tage, anführt111, kann vielmehr sogar von vier monatlichen Treffen ausgegangen werden112. Eine solche Häufigkeit der Bürgerschaftsversammlung trägt sicher107 Zur Wahl von Gesandten vgl. etwa BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 2A sowie die Angaben zu 13 den Gesandten im Abschnitt zur politischen Praxis. Zur Wahl der Kommissionen für den Verkauf von Priesterämtern siehe die Quellenangaben bei WIEMER 2003, 272f. Zur Besetzung von regelmäßigen Ämtern durch die ejkklhsiva vgl. die im folgenden angeführten Ämter sowie weiterhin jetzt CARLSSON 2005, 301–303. 108 BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 5 8–10; C ROWTHER 1999 n. 79–12. 109f. (sicher ergänzt). 1112–14 (2. H. 2. Jhs. v.Chr.); vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 181. 109 HERZOG/KLAFFENBACH Asylieurkunden n. 2; vgl. etwa WELLES RC n. 25 1–3; CROWTHER 1999 n. 93f.; RIGSBY/HALLOF 2001 n. 21f.; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 191f.; vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 222. 110 Zum Ersten des Monats: SOKOLOWSKI Lois sacrées n. 155 . 166 ; S EGRE IdCos n. ED 49 . 1 8 1f. ED 1461f.. ED 18014f.; PATON/HICKS n. 10a1f.; CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 11. Zum 16. des Monats: SEGRE IdCos n. ED 1542f.. 178a (A)1f.; PARKER/OBBINK 2001 n. 21f. (Belege nach WIEMER 2003, 278 mit Anm. 104). SHERWIN-WHITE 1978, 185 nahm – freilich ohne die Kenntnis von SEGRE IdCos – ein monatliches Treffen an. 111 S EGRE IdCos n. ED 239 ; WIEMER 2003, 278 Anm. 104. 2 112 Hierauf verwiesen dann auch die Ergänzungen von SEGRE IdCos n. ED 2 . 224 1f. 1f. mit dekºavtai oder ejnºavtai. Die Entfernungen auf der Insel stünden jedenfalls einem häufigeren

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lich der bisher aufgezeigten zentralen Bedeutung der ejkklhsiva für die politische Organisation der Gesamtpolis Rechnung. Innerhalb der ejkklhsiva sind Anträge sowohl von Gremien113 als auch von einzelnen Bürgern eingebracht worden114, was eine unmittelbare politische Beteiligungsmöglichkeit des Bürgers nahelegt. Zudem wurden in der Versammlung, so führt der Homopolitie-Eid aus, zwei Verfahren der Abstimmung, nämlich das der ceirotoniva und das mittels ya`foi, angewendet, wobei epigraphisch überlieferte Beschlüsse der Koer sowohl die ceirotoniva115 als auch die ya`foi116 belegen. Die offensichtliche Anführung beider Verfahren im Texte des Eides und in den Beschlüssen läßt nun sogleich die Frage anschließen, zu welchen Anlässen nach welcher Methode verfahren wurde117. Da die bisher bekannten Abstimmungsergebnisse durch ya`foi allesamt über Ehrungen entschieden118, kann zunächst festgehalten werden, daß damit eine erbrachte Leistung einer Person bewertet wurde. Die Auswahl eines Bürgers für ein Amt oder eine Aufgabe geschah demgegenüber mittels Handzeichen und somit als offene Abstimmung. Da nun eine solche Auswahl einer Person aus einem Bewerberkreise vor der versammelten Bürgerschaft ohnehin eine offensichtliche Konkurrenzsituation darstellte, wird man annehmen dürfen, daß eine öffentliche Abstimmung den Wettbewerb sowie die von den Kandidaten zukünftig zu erwartenden Anstrengungen im Amte durchaus konstruktiv verstärkt haben sollte, womit letztlich dem Wohle der Polis gedient war. Außerdem handelte es sich bei dieser Wahl eben noch nicht um die Bewertung einer bereits erbrachten Leistung, sondern zunächst eben ‚nur‘ um die Auswahl eines Bürgers für eine solche in der Zukunft119. Bei einer geheimen Zusammentreffen nicht entgegen. BOSNAKIS/HALLOF 2005, 239 gehen nach WIEMER 2003, 278 Anm. 4 von nur zwei Treffen im Monat aus. 113 Dazu die angeführten Belege bei RHODES/LEWIS 1997, 232f. Die Formulierung gnwvma prostata`n wird gegenüber RHODES/LEWIS 1997, 237f. hier allerdings, wie im folgenden angeführt ist, nicht zwingend als eine Antragstellung der prostavtai verstanden. 114 Darauf verweist die häufige Formel oJ dei`na ei\pen. Die Belege sind aufgelistet bei RHODES/LEWIS 1997, 231f. Die von SHERWIN-WHITE 1978, 176–178 vorgeschlagenen vier formalen Prozeduren zur Antragsstellung im hellenistischen Kos stellen RHODES/LEWIS 1997, 237 in Frage. 115 P ATON/HICKS n. 5 21–23; SEGRE IdCos n. ED 20 7 (Ende 4. Jh. v.Chr.). ED 399f.. ED 8926f. (1. Jh. v.Chr.). ED 20613f.. 116 CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 1 47f.; SEG XLVIII n. 111030–32; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 2A30–32. 12A15–17; zu lokalen Beschlüssen siehe PATON/HICKS n. 38419f. (Antimachia); SEG XLI n. 68053–55 (Halasarna). Mit der Ausnahme von BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 12A (3. Jh. v.Chr.) datieren alle Inschriften in das 2. Jh. v.Chr.; vgl. dazu BOSNAKIS/HALLOF 2003, 206f. (mit älterer Literatur). Unberücksichtigt bleiben muß hier die Abstimmung im dikasthvrion, die der Angabe des Herondas II 92–94 zufolge wohl ebenfalls mittels Stimmsteinchen erfolgte. 117 Wie mir scheint, ist die Übereinstimmung des Abstimmungsverfahrens mit dem genauen Wortlaut des Eides (STAATSVERTRÄGE III n. 54528) bisher nicht weiter beachtet worden; vgl. BOSNAKIS/HALLOF 2003, 206f. mit weiterer Literatur; vgl. außerdem zu diesen Methoden der Abstimmung NAWOTKA 1999, 24f. 118 Siehe dazu die soeben angeführten Belege, wovon sich zwei auf lokale da`moi beziehen. 119 Siehe hierzu insbesondere CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 1 mit der Wahl des Theugenes in eine Vertrauensstellung durch die Bürgerschaft nach Handzeichen: diafulavxa" i[sw"

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Abstimmung über bestimmte Ehrungen nach erbrachter Leistung lag hingegen eine andere Situation vor: Durch die bei geheimer Wahl viel eher zu erwartenden und auch belegten Gegenstimmen120 ließ sich mit dem Abstimmungsergebnis eine weniger verfälschte Beurteilung der erbrachten Leistung erreichen und zwar derart, daß mit der Veröffentlichung des Abstimmungsergebnisses gleichzeitig eine kritische Beurteilung der Leistung gegeben war. Eine derart kritische, an der jeweiligen Leistung orientierte Bewertung motivierte freilich zukünftige Kandidaten zu einer über die bloße Aufgabe hinausgehenden Pflichterfüllung, die schließlich ebenfalls dem Wohle der gesamten Bürgerschaft diente121, wohingegen eine Abstimmung mittels Handzeichen entgegen dem formulierten Bestreben im Eide der Homopolitie die Bürgerschaft hätte weniger unbefangen abstimmen lassen122. Wenngleich die hier vorgeschlagene Deutung dieses Zusammenhanges naheliegend ist, wird sie jedoch dadurch erschwert, daß die Koer auch Ehrungen nach der ceirotoniva vergaben. Hierbei könnte es sich möglicherweise um eine Veränderung im Abstimmungsverfahren im Verlaufe des 3. und 2. Jh. v.Chr. handeln, wozu aufgrund der wenigen Belege allerdings bisher keine genaueren Aussagen möglich sind123. Im Gegensatz zu der ansonsten für Kos zu beobachtenden politischen Organisation und Praxis stehen die angeführten Überlegungen jedoch keineswegs. Die boulav Als ständiges Gremium übernahm die boulav zahlreiche politische Aufgaben der Bürgerschaft und repräsentierte stellvertretend für diese die Polis gegenüber auswärtigen, nach Kos gelangenden Gesandten. Trotz der im folgenden auszuführenden, recht sicher zu kennzeichnenden Zuständigkeitsbereiche können über die Zusammensetzung der boulav sowie über die Amtsdauer der bouleutaiv nur Vermutungen angestellt werden. Inwieweit deren Amtsdauer mit der für andere

kai; dikaivw" | kai; misoponhvrw" pa`si ta;n ejnceirisqei`san | aujtw`i pivstin uJpo; tou` suvmpanto" davmou (Z. 23–25); in Zeile 47f. die Abstimmung über die Ehrung aufgrund seiner Leistung nach Stimmsteinchen. Welches Wahlverfahren hingegen die Angabe eJlevsqai meinte, kann nicht gesagt werden, wenngleich entsprechend der Wahl eines Koers aus der gesamten Bürgerschaft zur Übermittlung der einem Sikyonier verliehenen Ehren an dessen Heimatpolis (BOSNAKIS/ HALLOF 2003 n. 2A13–16) durchaus auch in diesem Falle das Verfahren nach der ceirotoniva vermuten ließe. 120 In HALLOF/HABICHT 1998 n. 10 werden 13 Gegenstimmen aufgeführt, während die Zahl 9 der Ja-Stimmen nicht erhalten ist. Die Ehrung des Theugenes (CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 147f.) verzeichnet 885 Ja-Stimmen. Für den da`mo" der Halasarnier liegt die überlieferte Zahl von 248 Ja-Stimmen entsprechend niedriger (SEG XLI n. 68053–55). 121 Im Eide zur Homopolitia heißt es diesbezüglich: o{ kav moi dokh`i sumfevron h\men tw`i davmwi (STAATSVERTRÄGE III n. 54529). 122 S TAATSVERTRÄGE III n. 545 : ceirotonw`n kai; yafizovmeno" a[neu cavristo". 28 123 Während die Ehrungen nach ya`foi eher ins ausgehende 3. und beginnende 2. Jh. v.Chr. datieren (eine Ausnahme stellte in dieser Hinsicht die Inschrift BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 12A dar, die wohlmöglich in die erste Hälfte des 3. Jhs. v.Chr. datiert), fallen diejenigen Entscheidungen, die mittels ceirotoniva abgestimmt wurden, in die frühere Zeit.

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Ämter überlieferten Befristung von sechs Monaten einherging124, kann nicht gesagt werden, und auch über eine Rotation innerhalb des Rates sind weiter keine Aussagen möglich. Daß allerdings die bouleutaiv über eine Jahresfrist hinaus amtierten, womit ihnen ein dauerhafter Einfluß und eine privilegierte Stellung innerhalb der Bürgerschaft hätte zuteil werden können, läßt sich nicht belegen, weshalb zunächst grundsätzlich davon auszugehen ist, daß sie für einen befristeten Zeitraum einen Ausschnitt der gesamten Bürgerschaft darstellten und die Amtsträger sich nach dem Ende ihrer Amtszeit wieder in den Kreis der übrigen Bürger innerhalb der ejkklhsiva einzureihen hatten125. Die Aufgabenbereiche der boulav standen in direkter Abhängigkeit von der versammelten Bürgerschaft und den von ihr getroffenen Entscheidungen. So kennzeichnen die Inschriften den Rat neben der ejkklhsiva als das Gremium, an das sich auswärtige Gesandte wandten, wenn diese sich mit einem Anliegen an die Polis richten wollten126. Die Funktion des Rates ist hierbei derart zu verstehen, daß dieser als Ansprechpartner für die Gesandten fungierte und deren Auftreten in der ejkklhsiva gewährleistete127. Auch war der Rat neben der ejkklhsiva Adressat der auswärtigen Schreiben, was ebenfalls in der Form zu verstehen ist, daß solche Schreiben durch die boulav in der folgenden Versammlung der Bürgerschaft vorgetragen wurden128. Beide Aufgabenbereiche weisen diesem Gremium also die Übernahme notwendiger und grundsätzlicher Tätigkeiten zur effektiven Gestaltung der Bürgerversammlung zu, ohne dabei in irgendeiner Form deren Entscheidungskompetenz einzuschränken129. Einen bisher einzigartigen Sonderfall hingegen überliefert ein Proxeniedekret des 3. Jhs. v.Chr., dessen Sanktionsformel ausschließlich die boulav nennt, während der ansonsten allein oder zusammen mit der boulav beschließende da`mo" unerwähnt bleibt130. Wenngleich die Proxenie im hellenistischen Kos zahlreich vergeben wurde131, läßt die 124 Für ein halbes Jahr wurde auch das Amt der prostavtai besetzt. Vgl. zum Winter- und Sommerhalbjahr jetzt BOSNAKIS/HALLOF 2005 n. 2010–12 (mit Kommentar); zum koischen Kalender ebendort 233–240. 125 Daß innerhalb der boulav kein Prytanensystem bestand, führt S HERWIN-WHITE 1978, 186 näher aus. 126 Siehe BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 5 . 8f. 127 Es ist darüber hinaus anzunehmen, daß die Mitglieder der boulav stellvertretend für die Gesandten deren Anliegen in der ejkklhsiva vorgetragen haben, sollte dieses gegebenenfalls notwendig gewesen sein. 128 BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 19 (Königsbrief an boulav und da`mo"). 129 Siehe hierzu auch deren innenpolitischen Aufgabenbereich hinsichtlich der Anträge lokaler da`moi zur Ausweitung beschlossener Ehren auf die gesamte Polis; dazu HALLOF/HABICHT 1998 n. 43–11: o{pw" ªou\ºn∫ kai; oJ d∫ªa`mo" faivº|nhtai A J lasarªnivºtai" te ªuJpakouvwnº | ta; ajxiouvmena kai; Dioklªei` sunka|tºaskeuavzwn pavnta ta; ªfilavnqrw|pºa kai; ªªrasuraºº kalw`" e[conta, ªdedovcqai | ta`i bºoula`i, dovmen aujtªoºi∫`ª" ta;n ajnag|gelivaºn tou` stªefavºn∫ªouº kªai; ta;n ajnav|qesinº ta`" stavªla" kaºqovªti ajxiou`n|ti (…). Daß es sich um einen Sanktionsantrag handelt und dementsprechend die Ergänzung dedovcqai zu wählen ist, darf als sicher gelten. Vgl. auch BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 1320–24. 130 S EGRE IdCos n. ED 9 j qhnai`on | 1–7: ª [Edoºxe ta`i boula`i: | ªQeºov∫dwron Qeo|ª.ºnio" A ªpºrovxªenºon h\men | ta`" pªovlºio" ta`" | Kwviwªn kºai; aujto;|n kai; ejk∫govno". Vgl. zu dem geehrten Athener Theodoros HABICHT 1996, 88, dessen Ergänzungsvorschlag hier berücksichtigt ist. 131 Siehe dazu HABICHT 1996, 84.

II.2. Die politischen Institutionen der Polis

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Quantität kaum einen formalisierten Akt annehmen, bei dem möglicherweise ein Beschluß des Rates als ausreichend angesehen wurde. Gerade für die mit der Ehrung verbundenen Privilegien, die eben nicht nur dem Geehrten galten, sondern auch dessen Nachkommen zukamen, besaß in vergleichbaren Entscheidungen einzig die gesamte Bürgerschaft die Zuständigkeit132. Es scheint daher vorerst am sinnvollsten, diesen Einzelfall als eine nicht genauer zu begründende Ausnahme zu betrachten133 . Die Zuständigkeit des Rates beurteilte Susan Sherwin-White dahingehend, daß „the main area in which the activity of the Coan boula is attested is in the practice of probouleusis, documented in the formula e[doxe ta`i boula`i kai; tw`i davmwi“134. Der wesentliche, wenngleich seltener belegte Aufgabenbereich wird jedoch – wie dargelegt – in der Funktion eines zentralen Ansprechpartners sowie eines ordnenden und vorbereitenden Gremiums für die Belange der Bürgerschaft gelegen haben. Weiterhin wäre zu berücksichtigen, daß die versammelte Bürgerschaft in Hinblick auf ihre Rolle und die Anzahl ihrer Treffen kaum ohne ein zentrales und organisierendes Gremium wie der boulav ausgekommen sein dürfte. Im Gegensatz dazu bedurften die lokalen da`moi aufgrund ihrer begrenzten örtlichen Ausdehnung und geringeren Zahl an Bürgern eines solchen Rates gerade nicht. Die boulav machte auch aus dieser Perspektive ein zwar notwendiges, nicht aber gleichzeitig entscheidendes Gremium der politischen Organisation von Kos aus. Daß durch die boulav die Entscheidungshoheit der Bürgerschaft in irgendeiner Form gemindert worden wäre, ist trotz der zahlreich überlieferten probouleuvmata schließlich nicht zu erkennen, während ganz im Gegenteil der Rat in einer evidenten Abhängigkeit von der ejkklhsiva stand, was schließlich gleichsam bedeutet, daß sich die durch die Formel e[doxe ta`i boula`i kai; tw`i davmwi überlieferten probouleuvmata auf formale Kriterien bezogen haben. In eben diese Richtung weist auch das von Sherwin-White als „strongly democratic feature“ bezeichnete Recht der Bürger zur direkten Antragstellung ohne eine vorherige Überprüfung des Antrages durch den Rat, womit der Bürger eben die 132 In dieser Hinsicht auch die im folgenden angeführte Begutachtung von Ehrenbeschlüssen durch die prostavtai. 133 Ein Versehen des Steinmetzen scheint hier kaum naheliegend, da eine Mißachtung der ständig verwendeten Sanktionsformel e[doxe (ta`i boula;i) kai; tw`i davmwi gleichzeitig eine Mißachtung einer Grundfeste des Selbstverständnisses der poli`tai bedeutete hätte und selbst bei einem persönlichen Fehler des Steinmetzen undenkbar unkorrigiert geblieben wäre. HABICHT 1996, 84 Anm. 2 subsumiert diese Inschrift unter „Proxenieverleihungen in abgekürzter Dekretform“ ohne weitere koische Charakteristika möglicher abgekürzter Dekrete anzuführen. Vergleicht man die von Habicht angeführten „abgekürzten Proxeniedekrete“ mit denen, die er (ebendort) als – dann wohl – unabgekürzt zu verstehende „koische Proxeniedekrete“ auflistet (allesamt Nummern aus SEGRE IdCos), ließen die daraus resultierenden Variationsmöglichkeiten zwischen Abkürzungen und vollständigen Angaben überhaupt keinen Rückbezug des Inschriftentextes auf die politischen Umstände zu (vgl. die Variationsmöglichkeiten zu ejkklhsiva, boulav und prostavtai der bei HABICHT ebendort angegebenen Inschriften) – dieses ist nun wenig naheliegend. Einen grundsätzlichen Zusammenhang von Niederschrift und Beschlußfassung anzunehmen, scheint daher ratsamer. Einige, sich wiederum daraus ergebende Problemstellungen können an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. 134 S HERWIN-WHITE 1978, 185.

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Möglichkeit besaß, politisch eigenständig und unabhängig in den Vordergrund zu treten135. Der aus den Quellen zu erschließende Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich der boulav deutet also letztlich darauf hin, daß ihre Zusammensetzung – beurteilt nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Bürger – auf einer möglichst breiten Grundlage der Bürgerschaft beruhen mußte. Da nun gerade die Zuteilung der Bürger auf die territorial unabhängigen fulaiv diese Bedingung erfüllen konnte und hierbei politische Interessengruppen weitestgehend ausgeschlossen werden konnten, zugleich aber die Zugehörigkeit für jeden Bürger zu einer dieser fulaiv obligatorisch war, scheint es naheliegend, eine Besetzung des Rates gerade auf deren Grundlage anzunehmen136. Die prostavtai Ein weiteres zentrales politisches Ämtergremium im hellenistischen Kos bildeten die fünf prostavtai137, deren Amtsdauer mit einem halben Jahre sicher zu bestimmen ist138. Eine wesentliche Aufgabe dieser prostavtai bestand in der Verantwortlichkeit für finanzielle Bereiche der Polis. So trugen sie bei mehreren, vom da`mo" verwalteten Heiligtümern die Verantwortung für die Schatzhäuser139, für welche sie auch die Schlüsselgewalt besitzen konnten140 und deren Finanzen sie für die Bürgerschaft beaufsichtigten141. Ihr persönlicher Entscheidungs- oder Ermessensspielraum kann bei dieser Tätigkeit jedoch als gering eingeschätzt werden, da ihnen bezüglich der Finanzaufgaben mit den tamivai oder dem jeweiligen Priester eine Kontrollinstanz an die Seite gestellt war142 und zudem mehrere Kultvorschriften belegen, daß Aufwendungen und Einnahmen minutiös zu verzeichnen waren143, weshalb es sich bei ihrem Amt eben auch um eine Verwal135 SHERWIN-W HITE 1978, 178f. RHODES /LEWIS 1997, 237 sprechen sich gegen die Umgehung der Probouleusis aus, was letztlich auch mit einer starken Stellung des Rates einhergeht. 136 Ebenso SHERWIN -WHITE 1978, 186. 137 Zu ihrer Anzahl siehe die Angaben bei SHERWIN-WHITE 1978, 200; ebendort auch die frühere Annahme, es habe sechs prostavtai gegeben. Vgl. zu einem möglichen Vorsteher innerhalb dieses Gremiums PATON/HICKS n. 10b29f.. Siehe jetzt weiterhin CARLSSON 2005, 303f. 138 S HERWIN-WHITE 1978, 200 mit den Quellennachweisen und der älteren Literatur; vgl. jetzt auch CARLSSON 2005, 304. 139 Siehe SHERWIN -WHITE 1978, 201f. mit Anm. 162 mit den Quellenangaben zu einzelnen Heiligtümern. Siehe dazu jetzt auch die Angaben bei WIEMER 2003, 288 mit Anm. 188. 140 SOKOLOWSKI Lois sacrées n. 155 15–17. Siehe weiterhin SHERWIN -WHITE 1978, 202 mit Anm. 164. Dazu jetzt PARKER/OBBINK 2000 n. 116f.. 141 SHERWIN -WHITE 1978, 202 mit Anm. 165f.; WIEMER 2003, 288. Siehe zur Hoheit des da`mo" über die Verwendung von Einnahmen der Heiligtümer PARKER/OBBINK 2001 n. 1, wo trotz der Priestereinnahmen noch über die Hälfte der Einnahmen an die Bank des da`mo" gehen. Siehe weiterhin zu den Finanzaufgaben der prostavtai BOSNAKIS/HALLOF 2005 n. 2039–41, wo diese einen Kostenvoranschlag für Sakralgerät eines Heiligtums erstellten und im folgenden an die boulav und die ejkklhsiva weitergaben. 142 S EGRE IdCos n. ED 58 7–10. ED 8921f.. ED 178b (A)12–14; PARKER /OBBINK 2000 n. 116f.. 2001 n. 4A11–16. Vgl. PATON/HICKS n. 2716–20. 143 Eine Reihe von festgeschriebenen Opfergebühren in koischen Heiligtümern bezeugt den genau beachteten Umgang mit den Einnahmen der Heiligtümer. WIEMER 2003, 295–298 mit einem Überblick über die Opfergebühren.

II.2. Die politischen Institutionen der Polis

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tungsaufgabe hinsichtlich der Finanzen handelte. Aufgrund des regelmäßigen Wechsels der Amtsträger nach sechsmonatiger Frist dürfte die Kontrolle des entsprechenden Finanzstatus eine ihrer Hauptaufgaben ausgemacht haben. Eine Verletzung der Amtspflicht konnte durch den regelmäßigen Amtswechsel, das Gremium der tamivai sowie die Aufsicht der Bürgerschaft, die schließlich den Umgang mit den Tempelgeldern zu beschließen hatte144, weitgehend verhindert werden. An prominenter Stelle erscheinen die prostavtai zudem bei Opfern, die sie als Hauptmagistrate der Bürgerschaft bei zentralen Veranstaltungen der Polis145 sowie bestimmten kultischen Anlässen146 durchführten. Ihre politisch-kultische Funktion wird auch in den Bestimmungen zum Homopolitie-Eid deutlich, in denen sie zusammen mit den stratagoiv als diejenigen angeführt werden, die den Eid vor allen anderen abzulegen hatten147. Und bei der Verleihung des Bürgerrechtes bestand die Aufgabe der prostavtai darin, die für das (kultisch-) politische Gefüge der Bürgerschaft wichtige Zulosung der Neubürger in die fulav, triakav" und penthkostuv" vorzunehmen148. Vor dem Hintergrund dieser zwar umfangreichen Zuständigkeiten, jedoch keineswegs eigenständigen Entscheidungsbereiche ist zu fragen, welche Funktion den prostavtai dann durch die in den Inschriften angeführte Formel gnwvma prostata`n zukam. Sherwin-White spricht dem Gremium aufgrund dieser Formel ein ‚erhebliches Antragsrecht‘ zu149, dem auch Peter Rhodes und David Lewis folgen150, während Hans-Ulrich Wiemer hingegen zurückhaltender eine Stellungnahme im Sinne einer Begutachtung anführt, die durch die prostavtai erfolgt sei151. Nun muß freilich eine Zuständigkeit, die aus einer Stellungnahme resultierte, gänzlich anders bewertet werden als diejenige, die mit einem Initiativrecht zu verbinden ist. Ein jüngst publiziertes Ehrendekret kann helfen, diesen Zusammenhang genauer zu beurteilen. Diese Inschrift behandelt die Ehrung des Koers Theugenes, der als Richterwerber für die eigene Polis erfolgreich tätig war, woraufhin diese Ehrung von der Bürgerschaft für ihn beschlossen wurde152. Während der Antrag, wie gleich am Beginn des Dekretes aufgeführt wird, von Theudotos gestellt wurde153, folgt am Ende des Dekrettextes mit der Sanktions144 Vgl. etwa HERZOG Heilige Gesetze n. 14 1–3; PARKER /OBBINK 2000 n. 118–20. Vgl. MAIURI Nuova silloge n. 441. 145 S YLLOGE n. 398 30–34; S HERWIN-WHITE 1978, 203 (mit weiteren Belegen). 146 Siehe etwa S EGRE IdCos n. ED 109 (ergänzt). ED 180 . SHERWIN-WHITE 1978, 203 mit 1f. 9f. Anm. 177 (Opfer beim Verkauf von Priesterämtern und der Einführung von Priestern und Priesterinnen in ihr Amt); dazu jetzt auch WIEMER 2003, 279. 147 S TAATSVERTRÄGE III n. 545 10f.. 148 Vgl. etwa HALLOF/HABICHT 1998 n. 5 16–18; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 128–10. 149 SHERWIN -WHITE 1978, 176: „the chief magistrates, the prostatai, exercised considerable initiative in proposing decrees“. 150 RHODES/LEWIS 1997, 237. 497. So auch CROWTHER/HABICHT/HALLOF 1998, 94 und jetzt wieder CARLSSON 2005, 304f. 151 WIEMER 2003, 273f. 152 CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 1 mit der Sanktionsformel in Zeile 45f. 153 CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 1 : ejpi; Fainivppou, Gerastivou noumhniva, | Qeuvdo1f. to" Menhtivda ei\pen.

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formel die Angabe der gnwvma prostata`n sowie nochmals der Bezug auf das von Theudotos Beantragte154. Da nun freilich der Antrag nicht von zwei Antragstellern gestellt worden sein kann, ergeben sich die Möglichkeiten, daß entweder Theudotos Mitglied eben dieses Gremiums war oder aber den prostavtai hier eine anderweitige Aufgabe zugekommen sein muß155. Zieht man die weiteren Inschriften mit der Formel gnwvma prostata`n für eine Beurteilung dieses Zusammenhanges heran, wird sogleich deutlich, daß es sich dabei gerade um Ehrendekrete156 und kultische Bestimmungen157 handelt. Beides sind nun Bereiche, bei denen dasjenige, was zu beschließen war, eine Einschätzung von ‚Sachverständigen‘ erfordern konnte, um im Falle der Ehrungen die erbrachten Leistungen – waren diese nicht ohnehin offensichtlich158 – zutreffender bewerten zu können oder aber, um im Falle der kultischen Bestimmungen eine Übereinstimmung des zu Beschließenden mit bestehenden Satzungen und Verfahrensweisen der Polis zu gewährleisten159. Eine so verstandene gnwvma weist dem Gremium der prostavtai für Kos folglich die Aufgabe der Überwachung und Einhaltung bestehender Vorschriften und etablierter Traditionen innerhalb der Polis zu, die letztlich mit der bereits angeführten Opferfunktion sowie der Kontrolle finanzieller Bereiche einherginge160. Eine in politischer Hinsicht bestimmende Rolle, wie sie diesem 154

CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 145–47: e[doxe tªa`iº | boula`i kai; tw`i davmwi, gnwv{i}ma prostata`n: crh`sqai | ta`/ Qeudovtou ejfovdwi. 155 Vgl. dazu SEGRE IdCos n. 2 2–6, wo die prostavtai zusammen mit einem für die diagrafav gewählten Gremium den Antrag an die boulav weiterleiten. Es wird dort der Begriff ajpofevrein verwendet. Hierzu und zum Verfahren beim Einbringen der diagrafaiv-Dekrete siehe WIEMER 2003, 273f. 156 Siehe hierzu PATON/HICKS n. 2 ; SGDI n. 3612 (sicher ergänzt). 3617 ; HERZOG Koische 9f. 1 3 Forschungen n. 33. 1882; MAIURI Nuova silloge n. 4322. 4362f.; SEGRE IdCos n. ED 181f.. ED 225 (beide 4./3. Jh. v.Chr.); CROWTHER/HALLOF/HABICHT 1998 n. 146; HALLOF/HABICHT n. 61f.. 88. 157 Die gnwvma der prostavtai zu einem Verkauf eines Priesteramtes in SEGRE IdCos n. ED 3216f.; vgl. dazu WIEMER 2003, 273. Siehe zudem HERZOG Koische Forschungen n. 22f. (Beschluß über ein Anliegen einer nicht bekannten Stadt); SEGRE IdCos n. ED 771. 158 Dieses legen entsprechend die Ehrenbeschlüsse ohne eine gnwvma prostata`n nahe. 159 Die diagrafaiv etwa wurden durch einzelne Kommissionen erarbeitet (dazu WIEMER 2003, 275), so daß die folgende Begutachtung durch die prostavtai durchaus sinnvoll erscheint. 160 Die Interpretation von Sanktionsformel und gnwvma prostata`n durch WIEMER 2003, 273 ist mißverständlich, indem er die Formulierung e[doxe ta`i boula`i kai; tw`i davmwi, gnwvmai prostata`n: crh`sqai ta`i diagrafa`i (SEGRE IdCos n. 3216f.) folgendermaßen deutet: „Wie aus der einzigen erhaltenen Sanktionsformel einer diagrapha hervorgeht [scil. SEGRE ebendort], war zunächst eine Stellungnahme (gnoma) der fünf prostatai erforderlich. Gaben sie ein positives Votum ab, wurde die diagrapha im Rat zur Abstimmung gestellt. Wurde sie dort beschlossen, kam sie schließlich vor die Volksversammlung“. Hans-Ulrich Wiemer setzt damit voraus, daß die Beschlußfassung mittels einer sukzessiven Abhängigkeit zustande kam, womit das Bild vermittelt wird, der Rat habe nur bei einem positivem Votum der prostavtai seinen Beschluß fassen können, von dem dann wiederum eine Entscheidung in der ejkklhsiva abhängig war. Sicherlich wurde die Entscheidung der Bürgerschaft von den Beurteilungen der gewählten Gremien beeinflußt, nur ist eine Abhängigkeit von deren positivem Votum letztlich nicht belegt. Ganz unwahrscheinlich wäre eine solche Sichtweise schon deshalb, weil die Bürgerschaft grundsätzlich die Entscheidungshoheit besaß und vielmehr die übrigen Gremien in ihrer Abhängigkeit standen, nicht aber die Bürgerschaft in einer Abhängigkeit von diesen Gremien.

II.2. Die politischen Institutionen der Polis

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Gremium aufgrund eines möglichen Initiativrechtes beizumessen wäre, kann hingegen anhand der Quellen nicht erkannt werden161. Die enge Verknüpfung der Aufgaben der prostavtai mit dem kultischen Bereich sowie eine weitgehende Beschränkung der bisher belegten Tätigkeiten auf innenpolitische Zusammenhänge lassen diese Amtsträger insbesondere als Zuständige und Repräsentanten der kultischen und politischen Normen der Bürgerschaft erscheinen. Mit der Kontrolle und Überwachung der Einnahmen aus Heiligtümern kam ihnen ferner eine hohe finanzielle Verantwortlichkeit zu, die es sinnvoll erscheinen läßt, sie als gewählte, nicht aber als geloste Amtsträger zu verstehen162, so daß mitunter persönliche Voraussetzungen für die Amtsausübung, aufgrund der Kontrolle der Finanzen wohl ein persönliches Vermögen, notwendig waren, die dann entsprechend der Wahl durch die ejkklhsiva als ausreichend erachtet werden konnten163. Die stratagoiv Eine mit den prostavtai vergleichbare zentrale Stellung haben in der Polis die stratagoiv eingenommen. Das Gremium umfaßte fünf gewählte Bürger164, deren Amtszeit – wie die anderer koischer Ämter und insbesondere die der prostavtai – sechs Monate betragen haben könnte, wenngleich dieses bisher nicht direkt belegt ist165. Es wäre nun naheliegend anzunehmen, die stratagoiv seien als Gremium insbesondere mit militärisch-politischen Pflichten betraut gewesen und hätten so gewissermaßen ein komplementäres Gremium zu dem der prostavtai gebildet, was weiterhin auch die jeweilige Fünfzahl der Amtsträger nahelegte. Allerdings bestehen für militärische Tätigkeiten dieses Gremiums nur wenige Belege166. Da eine zentrale Funktion der stratagoiv durch den Eid der Homopolitie jedoch belegt ist, indem sie zusammen mit den prostavtai vor allen anderen Bürgern den Eid für die Homopolitie ausführten167 und weiterhin nicht anzuneh161 Zu den Aufgaben der prostavtai scheinen außerdem vertrauenswürdige Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung sowie die Verhängung von Geldstrafen im Falle von Verstößen gegen bestehende Gesetze gehört zu haben; dazu SHERWIN-WHITE 1978, 201 mit den entsprechenden Quellen. Auch diese Aufgaben fallen letztlich in den Bereich der Überwachung bestehender Regelungen und Bestimmungen. Weiterhin verwalteten die prostavtai wohl auch das koische Staatssiegel, indem ihnen der offizielle Gebrauch zukam; vgl. HALLOF/HABICHT 1998 n. 72–4. 162 SEGRE T.Calymnii n. 78 : kai; toi; prostavtai meta; tou` iJerevw" toi; aij∫r∫ªeqe;nº|te" (…). 8f. Siehe weiterhin SHERWIN-WHITE 1978, 200. 163 Daß die gesamte Bürgerschaft über die Wahl der prostavtai entschied, kann nicht direkt belegt werden. Andererseits bestehen keine Hinweise, die eine Wahl durch einen eingeschränkten Personenkreis rechtfertigten. Insbesondere der Inhalt des Homopolitie-Eides und die Gleichheit der poli`tai dürften daher als Begründung dieser Annahme hinreichend erscheinen. 164 P ATON/HICKS n. 27 2–5; dazu S HERWIN-WHITE 1978, 206 mit Anm. 193. 165 S HERWIN-WHITE 1978, 206 mit den Quellen und weiterer Literatur. 166 SHERWIN -WHITE 1978, 206f. Die jüngst publizierten Inschriften lassen die militärischen Kompetenzen des stratagov" für Kos etwas deutlicher hervortreten; siehe dazu BAKER 2001, 189–191. 167 S TAATSVERTRÄGE III n. 545 10f..

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Zweites Kapitel: Kos

men ist, daß ihr Aufgabenbereich ansonsten dem der prostavtai glich168, wäre es durchaus naheliegend, ihre Zuständigkeit vor allem im militärisch-politischen Bereich zu sehen. Dieses jedoch muß vorerst eine Vermutung bleiben. Weitere Ämter und Gremien Zu weiteren zentralen Ämtern der politischen Polisorganisation sind der nauvarco"169 und die trihvrarcoi170 sowie die tamivai171 und pwlhtaiv zu zählen172. An dieser Stelle kann eine nähere Diskussion dieser Ämter jedoch ausbleiben173, da ihre Entscheidungsbefugnis auf ihren Aufgabenbereich beschränkt war und ihre Abhängigkeit von der Bürgerschaft, die sie wählte174, außer Frage steht. Ihre jeweilige Amtsdauer sollte entweder durch die Annuität bestimmt worden sein oder aber, wie für die prostavtai angeführt, sechs Monate betragen haben175. In wenigstens einem festen Monat dürfte die Wahl von Amtsträgern vorgenommen worden sein176. Der Annuität unterlag auch in Kos das Amt des eponymen movnarco", dessen Aufgabenbereich auf priesterliche Pflichten für verschiedene Kulte beschränkt gewesen zu sein scheint177, so daß ihm insbesondere eine repräsentative politische Stellung beizumessen ist178. Die frühere Annahme, die 168

So der Verkauf eines Priesteramtes (PATON/HICKS n. 32). Diese Inschrift datiert allerdings in das Jahrhundert vor oder nach der Zeitenwende. Siehe hierzu SHERWIN-WHITE 1978, 207; vgl. zudem SOKOLOWSKI Lois sacrées n. 1662f. mit WIEMER 2003, 272 Anm. 69. SHERWINWHITE 1978, 207 führt darüber hinaus an, die nicht belegte Formel gnwvma stratagw`n deutete auf einen fehlenden Gebrauch oder ein fehlendes Initiativrecht der stratagoiv, was aufgrund des hier für Kos nahegelegten Verständnisses der gnwvma als eine Stellungnahme zu einem zu beschließenden Antrag nicht weiter diskutiert werden braucht. 169 Vgl. dazu SHERWIN -WHITE 1978, 209. Siehe zur koischen Marine BAKER 2001, 187f. 170 Dazu S HERWIN-WHITE 1978, 209. 171 Dazu S HERWIN-WHITE 1978, 210f. 172 Dazu S HERWIN-WHITE 1978, 211 mit Anm. 229. 173 Siehe zudem SHERWIN -WHITE 1978, 211–214 mit weiteren Ämtern. 174 Daß auch diese politischen Ämter durch Wahl besetzt worden sind, ist zwar nicht in jedem Falle belegt, steht jedoch durch die ansonsten überlieferte Besetzung von politischen Ämtern mittels Wahl außer Frage. Aufgrund der Kontroll- und Beschlußfunktion sowie aufgrund der Gleichheit der Bürger muß die ejkklhsiva das Wahlorgan für die wesentlichen Ämter gewesen sein. 175 Die Amtsdauer ist bei vielen Ämtern nicht belegt, so daß unsicher bleibt, welche Ämter entsprechend dem des prostavta" auf sechs Monate befristet waren. In HERZOG Koische Forschungen n. 93–5 sind allgemein a[rconte" des Winter- und Sommerhalbjahres angeführt: toi; me;n ta;n ceimerinªa;nº | a[rconte" Gerastivou · kz ·, toi; de; ta;n qeªriº|na;n a[rconªtºe" ªtºa`ªiº kd. Es wäre durchaus zu überlegen – wenngleich kaum genauer zu belegen –, ob die kürzere Amtsdauer von einem halben Jahre wie bei den prostavtai auch einer umfassenderen Kontrolle der Amtsinhaber gedient haben sollte. 176 S EGRE IdCos n. ED 178a(A) : toi; pwlhtai; ajpodovsqwn ta;n iJe|rwsuvnan mhno;" A j l5f. seivou ejn ajrcairesivai"; vgl. WIEMER 2003, 278. Zum koischen Kalender siehe BOSNAKIS/ HALLOF 2005, 233–240. 177 SHERWIN -WHITE 1978, 197f. mit einer Auflistung von Pflichten bei verschiedenen Kulten. Vgl. dazu G. REGER, REA 103, 2001, 173f. 178 S HERWIN-WHITE 1978, 198. Zum Verfahren der Bestimmung des movnarco" bestehen keine direkten Hinweise, jedoch dürften diese Amtsträger wohl durch Wahl aus der Bürgerschaft hervorgegangen sein, wie auch SHERWIN-WHITE 1978, 194 annimmt.

II.2. Die politischen Institutionen der Polis

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auf koischen Münzen hellenistischer Zeit aufgeführten Personen seien mit den movnarcoi gleichzusetzen179, ist jüngst von Christian Habicht mit wesentlichen Argumenten angezweifelt worden180, so daß diese Möglichkeit einer persönlichen Präsentation einem bisher nicht genauer zu bestimmenden anderen ‚Amtsträger‘ zugerechnet werden muß181. Die Institution eines dikasthvrion ist für die hellenistische Zeit bisher zwar nicht direkt belegt182, allerdings besteht mit dem oben zitierten Abschnitt des Homopolitie-Eides wenigstens ein indirekter Beleg, der schon für sich genommen, insbesondere dann aber vor den hier nunmehr aufgezeigten Zusammenhängen der politischen Organisation folgern läßt, daß alle Bürger auch gleichberechtigt an der Rechtsprechung beteiligt waren und das dikasthvrion für die koische Bürgerschaft neben der ejkklhsiva als zweites wesentliches Gremium des da`mo" erachtet wurde: Der Bürger sollte, so heißt es im Texte des Eides, als polivta" und auch als dikastav" ohne persönliche Gefälligkeit zum Wohle der Bürgerschaft entscheiden183 . Fazit Die ejkklhsiva machte in der politischen Organisation des hellenistischen Kos das zentrale politische Gremium aus, welches Ämter besetzte, die Entscheidungsgewalt in der Polis besaß und in dem alle Bürger gleichberechtigt vertreten waren. Die Entscheidungskompetenz einzelner Amtsinhaber und Gremien war der ejkklhsiva untergeordnet. Mit der boulav besaß die Bürgerschaft ein geschäftsführendes Gremium, welches die wesentlichen Aufgaben der ständigen politischen Erfordernisse der Polis erfüllte und dabei notwendige Vorarbeiten für die Entscheidungsfähigkeit der ejkklhsiva ausführte. Für die koische politische 179 Dieses nahm S HERWIN-WHITE 1978, 188 an; siehe dazu die Kritik von HABICHT 2000, 323f. Einen knappen Überblick über die Problemfelder und den Forschungsstand bieten HABICHT 2000, 322–324; INGVALDSEN 2004, 89–91. 180 HABICHT 2000, 324–326 verweist auf die geringe Übereinstimmung der belegten 243 Münznamen der Zeit von ca. 300 v.Chr. bis ca. 50 v.Chr. mit den bisher belegten movnarcoi dieser Zeit, die nur in 26 Fällen gegeben ist, womit eine Gleichsetzung nahezu unmöglich wird. 181 Vgl. dazu HABICHT 2000, 325, der hinsichtlich der Untersuchungen von Håkon Ingvaldsen (siehe INGVALDSEN 2004) anführt, es könne sich möglicherweise um den jeweiligen Vorsitzenden der fünf prostavtai handeln. Diese Überlegung muß allerdings ohne genauere Belege vorerst eine Hypothese bleiben. 182 Siehe zum dikasthvrion S HERWIN-WHITE 1978, 184 mit Belegen für die Zeit des 4. Jhs. v.Chr. SHERWIN-WHITE 1978, 176 sieht die „popular juries“ als eine „basic democratic institution of the Coan constitution in the Hellenistic period“. Vgl. jetzt auch SEGRE IdCos n. ED 90. 183 STAATSVERTRÄGE III n. 545 27–29: ejsseu`mai de; kai; dikasta;" divkaio" | kai; polivta" i[s o" ceirotonw`n kai; yafizovmeno" a[neu cavristo" | o{ kav moi dokh`i sumfevron h\men tw`i davmwi. Den beiden Nominativen dikasta;" und polivta" ist mit divkaio" und i[so" jeweils ein Adjektiv beigestellt, wobei sich beide durch den Ausdruck kai; (...) kai; auch auf die Methode der Abstimmung und die nähere Erläuterung „ohne [persönliche] Gefälligkeit“ beziehen, so daß zu übersetzen ist: „Ich werde zukünftig sowohl als gerechter Richter als auch als gleichberechtigter Bürger bei Abstimmungen nach Handzeichen wie auch nach Stimmsteinchen ohne [persönliche] Gefälligkeit [entscheiden, sondern] nach dem, was mir für die Bürgerschaft am nützlichsten erscheint“.

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Zweites Kapitel: Kos

Organisation scheint weiterhin charakteristisch zu sein, daß zentrale Zuständigkeiten nicht monopolisiert, sondern von wenigstens zwei Gremien gleichzeitig ausgeübt wurden, wodurch in einem nicht genauer zu bestimmenden Umfang eine gegenseitige Kontrolle gewährleistet war. Neben den bereits angeführten Überschneidungen von Zuständigkeiten bei den prostavtai und tamivai184 ist dieses auch beim Eid der Homopolitie für stratagoiv und prostavtai185 sowie bei kultischen Pflichten für den movnarco" und weiteren Amtsträgern186 zu beobachten. Einer möglichen Konzentration von Kompetenzen und Machtbefugnissen eines Gremiums wäre somit durch ein zweites Gremium eine ‚Kontrollinstanz‘ zur Seite gestellt worden187. Das wichtigste Instrument gegen den Machtmißbrauch eines Amtsinhabers dürfte weiterhin die regelmäßige Ämterbesetzung durch den da`mo" gewesen sein, indem ein gewählter Amtsinhaber durch seine Aufgaben grundsätzlich der Bürgergemeinschaft verpflichtet war, in deren Kreis er nach der Beendigung seiner Aufgaben als polivta" schließlich auch zurückkehrte. Des weiteren ist für die koischen Bürger aufgrund der Beteiligung sowohl an der politischen Organisation der Gesamtpolis als auch an derjenigen ihres jeweiligen lokalen Bereiches allgemein von einer umfangreichen politischen Einbindung und Beteiligung auszugehen. Trotz fehlender direkter Hinweise auf die Anzahl der monatlichen lokalen und polisübergreifenden Versammlungen läßt die zentrale Stellung der ejkklhsiva keinen Zweifel an der engen Einbindung des einzelnen, an ihr gleichberechtigt teilnehmenden Bürgers. Ebenso verweisen die verschiedenen politischen Ämter sowie die innen- und außenpolitischen Entscheidungsbereiche der Bürgerversammlung auf ein insgesamt überaus umfangreiches politisches Betätigungsfeld, weshalb daraus folgend schließlich ein hoher Grad an politischem Verständnis und Bewußtsein für die Zugehörigen des da`mo" vorausgesetzt werden muß. II. 3. POLITISCHE PRAXIS IM HELLENISTISCHEN KOS Repräsentanten und Repräsentation der Polis gegenüber auswärtigen Mächten Neben der Besetzung politischer Ämter bot sich innerhalb der Bürgerschaft des hellenistischen Kos durch die Übernahme von auswärtigen Tätigkeiten für die Polis eine ständige Möglichkeit des persönlichen Prestigegewinnes und damit der persönlichen Hervorhebung gegenüber anderen, ambitionierten Bürgern, für deren Bewertung insbesondere die politischen Gesandtschaften zu betrachten sind. Einen treffenden Einblick in die sich für den Einzelnen aus solchen Tätigkeiten ergebenden Möglichkeiten sowie Abhängigkeiten mag ein Ehrendekret der 184 Neben der oben knapp dargelegten gemeinsamen Zuständigkeit in finanziellen Belangen konnten beide Gremien zusammen auch Strafen bei Zuwiderhandlungen gegen Gesetze im kultischen Bereiche verhängen; dazu SOKOLOWSKI Lois sacrées n. 16616–20 (2.–1. Jh. v.Chr.). 185 S TAATSVERTRÄGE III n. 545 10f.. 186 Siehe dazu SOKOLOWSKI Lois sacrées n. 163 4–10 und weiterhin die Angaben bei SHERWINWHITE 1978, 197f. 187 Allgemein zur Kontrolle der Magistrate in hellenistischer Zeit jetzt FRÖHLICH 2004, der den angeführten Aspekt der Ämterkontrolle für Kos allerdings unberücksichtigt läßt.

II.3. Politische Praxis im hellenistischen Kos

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Schwarzmeerstadt Sinope für einen gewissen Dionnes aus Kos geben188. Der Dekrettext führt an, daß Dionnes von der koischen Polis während eines Krieges als Gesandter nach Sinope geschickt worden war, daselbst vor der ejkklhsiva sprach, seine Stadt in würdiger Weise vertrat und dem da`mo" von Sinope sowie einzelnen Bürgern nützliche Dienste erwies189. Für seine erbrachte Leistung erhielt Dionnes eine außerordentliche Ehrung in Form eines goldenen Kranzes und besonderer, auch für seine Nachkommen geltender Vorrechte in der Schwarzmeerstadt190. In seiner Heimatstadt Kos sollte die Ehrung zudem von den Sinopern verkündet191 und als Ehreninschrift im Asklepieion aufgestellt werden192. Mit der Übernahme der Gesandtentätigkeit und deren erfolgreicher Durchführung in der fremden Stadt konnte Dionnes demzufolge ein größeres persönliches Prestige erlangen und sich damit gleichzeitig Vorrechte für sich und seine Nachkommen sichern. Die feierliche Verkündung der verliehenen Ehren durch die Sinoper in seiner Heimatstadt dürfte ebendort außerdem sein persönliches Ansehen gesteigert haben, welches mit der Ehreninschrift im Asklepieion entsprechend dauerhaft manifestiert wurde. Nun bleibt jedoch zu beachten, daß Dionnes, und darauf wird in der Ehreninschrift ausdrücklich verwiesen, uJpo; th`" Kwviwn povlew" entsandt wurde. Da innerhalb der Polis, wie oben dargelegt, die Bürgerschaft die politischen Entscheidungen traf, kann der Ausdruck „uJpo; th`" Kwviwn povlew"“ nur die Entsendung durch den da`mo" bedeutet haben, so daß auch das ebenfalls im Dekrettext angeführte „würdige Vertreten der Stadt“ auf die Anliegen der Bürgerschaft bezogen werden muß. Das aus der erfolgreichen auswärtigen Tätigkeit gewonnene persönliche Prestige des einzelnen Bürgers stand also in direkter Abhängigkeit von der Wahl, der Bestimmung und der Beauftragung des einzelnen durch die ejkklhsiva und ist folglich nicht ohne die versammelte Bürgerschaft denkbar193. 188

HALLOF/HABICHT 1998 n. 21 (ca. 220 v.Chr.). HALLOF/HABICHT 1998 n. 212–11: ejpeidh; Divon|no" Polutivwno" Kw`io" ajpostalei;" presbeuth;" | (…) uJpo; th`" Kwviwn povlew" pa`n to; s|umfevron levgwn kai; pravttwn dietevlei ou[te povno|n ou[te kivndunon oujqevna ejkklivna" kai; creiva" parev|cetai∫ koinei` te tw`i dhvmwi kaiv ijdivai toi`" ejntugcavn|ousin aujtw`i tw`n politw`n kai; ajnh;r ajgaqo;" kai; provqumov" | ejsti peri; th;n povlin ejpelqw;n de; kai; ejpi; th;n ejkk∫|lhsivan ejmpefavniken peri; touvtwn tw`i dhvmwi kai; pare|pidedhvmhken ajxivw" auJtou` te kai; th`" Kwviwn povlew". 190 HALLOF /HABICHT 1998 n. 21 12–24: dedovcqai tw`i dhvmwi [scil. tw`i Sinopevwn] ejpainevsai Divonnon eujnoiva" e{ne|ke kai; proqumiva" h|" e[cei peri; Sinwpei`" kai; stefanw`s|ai aujto;n crusw`i stefavnwi, tou;" de; prutavnei" tou;" | ejn tw`i A j nqesthriw`ni mhni; ajnaggei`lai to;n stevfa|ªnoºn Diovnnwi ginomevnou ajgw`no" poihsamevnou" | ªth;n ajºnagovreusin thvnde: oJ dh`mo" oJ Sinwpevwn s/|ªtefanoi` Dºivonnon Polutivwno" Kw`ion eujnoiva" e{neke k∫a∫|ªi; proqumiva"º h≥|" ei\cen eij" auJtovn: ei\nai de; aujtw`i kai; ªe[f|odon ejpi; th;n boºulh;n kai; to;n dh`mon meq j iJera; prwvtwi, | ªtou;" de; strathºgou;" kai; tou;" a[llou" a[rconta" ejp∫|ªimelhqh`nai aujtºou` kai; tw`n ajpogovnwn aujtou` o{pw" aJ|ªpavntwn tw`n fºilanqrwvpwn tugcavnwsin, kalevsaªi | de; aujto;n kai; ejpi;º xevnia. 191 HALLOF/HABICHT 1998 n. 21 24–29: o{pw" de; kai; ejg Kw`i ajnag|ªoreuqh`i oJ stevfanoº" Dionusivwn te tw`i prwvtwi ajªgw`n|i kai; toi`" megavloiº" A j sklhpieivoi" ejn tw`i gumn∫ªikw`i | ajgw`ni kai; o{pw" to; yhvfºisma ajnateqh`/ ejn tw`i iJerw`i t∫ªou` | A j sklhpiou` ejn tw`i ejpifºanestavtwi tovpwi o- - -. 192 HALLOF/HABICHT 1998 n. 21 27f.. 193 Vgl. hierzu HALLOF/HABICHT 1998 n. 20 (Ehrendekret des tw`n Samoqravikwn dh`mo" für Praximenes aus Kos für dessen Einsatz für Bürger der Polis). 189

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Wenngleich die am Beispiel des Dionnes aufgezeigte Möglichkeit eines einzelnen polivta" bei anderen Gesandtschaftstätigkeiten keineswegs immer eine derartig ausgeprägte Form der Ehrung nach sich gezogen haben wird, boten solche Tätigkeiten aufgrund der für die Polis notwendigen diplomatischen Kontakte einzelnen Bürgern dennoch fortwährend Möglichkeiten, mit einem persönlichen Einsatz für die Polis zu einer angesehenen Stellung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Heimat zu gelangen. Die Abhängigkeit eines damit verbundenen Prestigegewinnes vom gesamten da`mo" bleibt jedenfalls aufgrund der Abhängigkeit der Gesandtschaften vom Entscheidungsmonopol der Bürgerschaft in der ejkklhsiva evident194. Eine weitere Möglichkeit einer prestigebringenden, keinesfalls aber ähnlich regelmäßigen Aufgabe für koische Bürger bot die Übernahme einer auswärtigen Richtertätigkeit. Im Gegensatz zu den Gesandtschaften ging die Initiative zur Entsendung von Richtern nicht von der eigenen Polis aus, sondern wurde von außen an sie herangetragen. Innerhalb der Polis bestimmte die Bürgerschaft jedoch die für diese Tätigkeit notwendige Bürger, die ihrerseits versuchten, die vorliegenden Streitigkeiten in der Fremde zu schlichten. Nach einem erfolgreichen Abschluß der Aufgabe konnten sie dafür von den beteiligten Parteien eine Ehrung erhalten, die mitunter zur Aufstellung einer Ehreninschrift auch in einem koischen Heiligtum führte195. Verdeutlichen kann diesen Zusammenhang ein Beispiel von koischen Richtern in Naxos196. Wohl unter der Vermittlung des Königs Ptolemaios II. Philadelphos entsandte hJ povli" hJ tw`n Kwviwn197 zur Beilegung einer innenpolitischen Auseinandersetzung mehrere Bürger für richterliche Tätigkeiten nach Naxos198. Nachdem diese die vorliegenden Streitigkeiten überaus zufriedenstellend gelöst hatten, wurden sie von den Naxiern geehrt und die Ehrung entsprechend bekannt gemacht199. Wie bereits in dem zuvor angeführten Beispiel zu den Gesandtschaften muß auch in diesem Falle innerhalb der Polis Kos der Vorgang von der Bürgerschaft bestimmt worden sein, da unter der Angabe hJ povli" hJ tw`n Kwviwn ajpevsteilein einzig der da`mo" als Entscheidungsor194 Zahlreiche weitere Gesandtschaften, die zwar als notwendig zu erachten sind, jedoch keine Ehrung nach sich gezogen haben müssen und die zudem durch die Überlieferungssituation nicht mehr faßbar sind, lassen sich dennoch indirekt erschließen. Vergleiche hierzu unten den Abschnitt „dhmokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva“ und die dort aufgeführten Kontakte und Auseinandersetzungen von und mit einzelnen Herrschern und Poleis. Als Beispiel eines Zusammentreffens von koischen Gesandten mit einem Herrscher, in diesem Falle Eumenes II., siehe SEGRE IdCos n. ED 23568–71 (zum diesbezüglichen möglichen historischen Kontext siehe HABICHT 1996, 90f.). 195 Für Kos sind hinsichtlich der hellenistischen Zeit nach Priene die meisten Ehrendekrete für eigene Bürger mit auswärtiger richterlicher Tätigkeit überliefert; CROWTHER 1999, 307. Die günstige Überlieferungslage ist bedingt durch die entsprechenden Funde im koischen Asklepieion, dem Orte, an dem wohl eine Mehrzahl der Ehrentexte aufgestellt wurde. 196 CROWTHER 1999 n. 2. 197 CROWTHER 1999 n. 2A . Vgl. zur Rolle von Ptolemaios II. Philadelphos den Kommentar 4f. von CROWTHER 1999, 262–266. 198 Nach CROWTHER 1999 n. 2B 11–13 waren fünf Koer als Richter tätig. 199 CROWTHER 1999 n. 2B 14–41.

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gan zu verstehen ist. Im Dekrettext der Naxier wird die Belobigung des da`mo" für die Entsendung solcher vorzüglichen Männer dann noch vor derjenigen der Richter angeführt200 und demzufolge berücksichtigt, daß die erfolgreiche Beilegung der naxischen Auseinandersetzung überhaupt erst durch die koische Bürgerschaft möglich wurde, die richterliche Tätigkeit einzelner Bürger also in direkter Abhängigkeit von der Entscheidung der Bürgerschaft stand. Zur Auswahl der Richter bietet der Dekrettext allerdings keine direkten Hinweise, jedoch weisen einige Indizien auf einen Bewerberkreis, aus dem vor und durch den versammelten da`mo" gewählt wurde. Hierfür ist zunächst zu beachten, daß insgesamt fünf Personen als Richter bestimmt wurden. Berücksichtigt man zudem die mit der erfolgreichen Beilegung für diese Personen verbundenen Vorrechte und Ehrungen in Naxos201, so scheint es gerechtfertigt anzunehmen, daß der Bewerberkreis für diese Tätigkeit ursprünglich mehr als nur die fünf Bürger umfaßte und somit eine Wahl der zu entsendenden Richter vorzunehmen war, die dann freilich dem da`mo" oblag. Eine solche Wahl ist gleichsam auch anzunehmen, weil die Aufgabe für den gewählten polivta" eine erhebliche Verpflichtung gegenüber der eigenen Bürgerschaft mit sich brachte202 und der da`mo" daher an einer Entsendung entsprechend befähigter Bürger interessiert gewesen sein sollte. Eine Entscheidung jenseits des Rahmens der versammelten Bürgerschaft und somit auch ohne eine vorherige Profilierung der Kandidaten vor der ejkklhsiva scheint aufgrund der Angaben des Ehrendekretes kaum wahrscheinlich und unter Berücksichtigung des zuvor zur politischen Organisation Angeführten sogar weitestgehend auszuschließen zu sein. Die anhand der koischen Richter für Naxos aufgezeigten Zusammenhänge und Aspekte der richterlichen Aufgaben, der Möglichkeit des persönlichen Prestigegewinnes sowie der gleichzeitigen Abhängigkeit von den Entscheidungen der ejkklhsiva lassen sich ebenfalls an den weiteren Belegen zur auswärtigen richterlichen Tätigkeit der Koer vom ausgehenden 4. bis zum 2. Jh. v.Chr. aufzeigen203, so daß sich in diesem Zeitraum für die gewählten Bürger beständig wiederkehrende Möglichkeiten sowohl für einen polisinternen als auch für einen auswärtigen Prestigegewinn ergaben, der jedoch in einer offensichtlichen und grundsätzlichen Abhängigkeit von den Entscheidungen der eigenen Bürgerschaft stand. Einen wichtigen Impuls für die politische Praxis der Polis wird neben dem 200 CROWTHER 1999 n. 2B 1–11. Obwohl hier der entsprechende Textabschnitt verloren ist, kann es sich nur um die Ehrung des tw`n Kwviwn da`mo" handeln; vgl. CROWTHER 1999, 263–266. 201 CROWTHER 1999 n. 2B 14–29. 202 Diese Verpflichtung ergibt sich gerade dadurch, daß insbesondere die koische Bürgerschaft von den Naxiern geehrt wurde, die Naxier also die richterliche Tätigkeit als in direkter Abhängigkeit zum da`mo" stehend verstanden. 203 Vgl. zur Entsendung der Richter durch die Bürgerschaft, zur Ehrung der Bürgerschaft aufgrund der Entsendung durch die die Richter erbittende Polis sowie die Verkündung der auswärtigen Ehren vor der koischen Bürgerschaft CROWTHER 1999 n. 1–11; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 31–3. Ebenso dürften auch die qewroiv, die andernorts um die Anerkennung der Asylia des Asklepiosheiligtums warben, von der Bürgerschaft gewählt worden sein, da sie auch als ‚von den Koern gesandt‘ bezeichnet wurden und die Aufsicht über dieses Heiligtum dem da`mo" oblag; siehe dazu BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 412f.. 162f..

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Zweites Kapitel: Kos

möglichen Prestigegewinn für den einzelnen insbesondere die mit der Wahl einhergehende Konkurrenzsituation bei der Übernahme dieser Tätigkeiten ausgemacht haben, indem diese Wahl innerhalb des da`mo" stattfand und hierbei, wie im folgenden zu zeigen sein wird, auch unterschiedliche politische Interessen von einzelnen Bürgergruppen verfolgt worden sein sollten. Politische Gruppen und einflußreiche Koer innerhalb der Bürgerschaft Das Bestreben, sich innerhalb der Polis zur Befähigung für Ämter und Aufgaben vor dem da`mo" auszuzeichnen und gegenüber Mitbürgern durchzusetzen, brachte eine Konkurrenzsituation mit sich, die sich an den politischen Interessengruppen näher aufzeigen läßt. In den Quellen treten diese Interessengruppen für Kos sehr deutlich in der Zeit des Dritten Makedonischen Krieges hervor. So berichtet Polybios, daß sich in der Auseinandersetzung über eine koische Parteinahme für Perseus oder Rom einige Bürger vehement für ein Eintreten auf makedonischer Seite ausgesprochen hätten, jedoch davon letztlich nicht die Mehrheit der Bürgerschaft überzeugen konnten204. Polybios’ Angabe belegt für sich genommen wenigsten zwei Interessengruppen innerhalb der Bürgerschaft bei einer für die Polis zentralen Entscheidungsfindung. Daß sich diese politischen Gruppen nicht nur kurzfristig formierten, sondern es sich dabei um langfristige Parteigänger einer außenpolitischen Macht handelte, legt in diesem Falle der Landbesitz des Makedonenkönigs auf Kos nahe205. Indem nun für einen Landbesitz von Außenstehenden ein Beschluß der Bürgerschaft vonnöten war, mußte dieser also zuvor für den Makedonenkönig getroffen worden sein, wofür wiederum innerhalb des da`mo" Bürger anzunehmen sind, die diesen propagierten und – wie im vorliegenden Falle vorauszusetzen – als Fürsprecher des Königs auftraten. Die beiden von Polybios genannten koischen Protagonisten der makedonischen Vorhaben zur Zeit des Perseuskrieges, die Brüder Hippokritos und Diomedon206, waren daher mit einiger Wahrscheinlichkeit führende Persönlichkeiten einer bereits längere Zeit bestehenden promakedonischen Gruppe innerhalb der Bürgerschaft, zu der dann ebenfalls ihr Vater Zmendron gehören sollte. Dieser bekleidete kurz zuvor, nämlich in der Mitte der 180er Jahre das eponyme Amt der Polis207, was allerdings auch in eine Zeit fällt, in der Kos engere Kontakte zu den Ptolemaiern 204 Polyb. XXX 7,9f.: kai; mh;n ejn R J ovdw/ kai; Kw/` kai; pleivosin eJtevrai" povlesin ejgevnontov tine" oiJ fronou`nte" ta; Persevw", oi} kai; levgein ejqavrroun peri; Makedovnwn ejn toi`" ijdivoi" politeuvmasi kai; kathgorei`n me;n R J wmaivwn kai; kaqovlou sunivstasqai pro;" to;n Perseva koinopragivan, ouj dunhqevnte" de; metarri`yai ta; politeu;mata pro;" th;n tou` basilevw" summacivan. 205 Dazu SHERWIN -WHITE 1978, 134 mit Anm. 274: o{ro" | cwrivou | basilevw" Pers〈ev〉w". Unklar muß weiterhin bleiben, ob dieser Landbesitz aus einer Gewährung von Land für einen vorherigen Makedonenkönig resultierte oder ob Perseus diesen selbst von den Koern erhielt. Daran sich anschließende Überlegungen über eine politische Ausrichtung der Polis bleiben deshalb vorerst Spekulation; vgl. neuerdings CROWTHER/OBBINK 2001, 231 mit Anm. 6. 206 Polyb. XXX 7,10: touvtwn d  j h\san ejpifanevstatoi para; me;n toi`" Kwv/oi" IJ ppovkrito" kai; Diomevdwn ajdelfoiv. 207 HABICHT 1996, 89; HABICHT 2000, 306. 317.

II.3. Politische Praxis im hellenistischen Kos

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besaß, die dann wiederum durch andere Bürger propagiert und gepflegt worden sein mußten208. Christian Habicht hat für diese Zeit der ersten Jahrzehnte des 3. Jhs. v.Chr. außerdem gezeigt, daß einige Familien der Polis dem pergamenischen Königshause sehr nahe standen209, womit insgesamt sogar ein Geflecht von unterschiedlichen politischen Beziehungen und einhergehend damit auch entsprechender Interessengruppen bestanden haben muß. Dieser Umstand läßt nun aber nur den Schluß zu, daß innerhalb der ejkklhsiva – und dieses entspricht deutlich Polybios’ Angabe zu Hippokritos und Diomedon –, wenigstens zu den außenpolitischen Entscheidungen die jeweiligen politischen Gruppen die übrige Bürgerschaft von ihren Anliegen zu überzeugen versuchten. Vor dem Hintergrund der angeführten politischen Organisation bedeutet dieses jedoch gleichsam, daß eine kritische und kontroverse Auseinandersetzung einen wesentlichen Bestandteil der Entscheidungsfindung innerhalb des da`mo" ausgemacht haben muß. Eine solche notwendige Schlußfolgerung verweist nun gleichsam auf zwei sich anschließende Aspekte. So kommt einerseits der im Homopolitie-Vertrag angeführten Eidesformel, bürgerliche Entscheidungen insbesondere für das Wohl der Polis zu treffen, eine ganz grundsätzliche Bedeutung für die politische Beschlußfassung zu. Zieht man nämlich in Betracht, daß für die gerade angesprochene Zeit des beginnenden 2. Jhs. v.Chr. keine polisinternen Krisensituationen überliefert sind, so muß die Bürgerschaft sich trotz bestehender Interessengruppen und damit gegenteiligen politischen Ansichten immer wieder auf eine Entscheidung, die von der Gesamtheit der Bürger getragen wurde, verständigt und geeinigt haben. Wenngleich für die Bürgerschaft bei den unterschiedlichsten historischen Situationen im einzelnen kaum im voraus zu erkennen war, ob eine Entscheidung zukünftig „dem Wohle der Polis“ zuträglich sein konnte, scheinen die stabilen innenpolitischen Verhältnisse dieser Zeit210 durch eben diesen Grundsatz bei der politischen Entscheidungsfindung geprägt worden zu sein. Der zweite, sich an die obige Schlußfolgerung anschließende Aspekt führt sodann zum näheren Verständniss des Handlungsrahmens einer führenden Politikerschicht. Konnte im Abschnitt zur politischen Organisation der da`mo" als die politische Entscheidungsgewalt herausgestellt werden und weisen auch die in diesem Abschnitt bisher behandelten Beispiele zur politischen Praxis auf genau diese zentrale Rolle der Bürgerschaft hin, wird mit der Kennzeichnung der 208 Siehe zu koischen Bürgern mit guten Beziehungen zu den Ptolemaiern und daraus mitunter resultierenden Vergünstigungen HABICHT 2000a, 295–301 mit Bezug auf SEGRE IdCos n. ED 235; hierzu auch SAVALLI-LESTRADE 1998, 80. Die Datierung dieser Inschrift von Habicht in die Zeit um 180–170 v.Chr. liegt aus prosopographischen Gründen etwa eine Generation nach der Großen Epidosis. Zu den Vergünstigungen, die einzelne Koer erhielten, macht der überlieferte Teil der Inschrift keine Angaben; siehe dazu HABICHT 2000a, 296. Daß Kos zu dieser Zeit ein Protektorat der Ptolemaier oder aber sogar von diesen abhängig war (HABICHT 2000a, 299), darf durchaus bezweifelt werden; vgl. dazu unten den vierten Abschnitt. 209 Siehe dazu die Angaben und Quellenbelege bei HABICHT 2000a, 299f. Dieser kommt zu dem Schluß, daß „angesichts dieser [scil. die von ihm angeführten] Daten klar ist, daß es in Kos auch Bürger gegeben hat, die dem einen oder anderen der pergamenischen Könige so nahestanden, wie Aglaos und Acheloos dem Haus der Ptolemäer und ihren Funktionären“ (ebendort 300). 210 Vgl. dazu unten den vierten Abschnitt.

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politischen Interessengruppen nunmehr gewissermaßen eine Notwendigkeit dieser Funktion deutlich: Für eine gleichberechtigte Beteiligung der jeweiligen Gruppen mußten die Entscheidungen durch die Gesamtheit der Bürger getroffen werden und konnten nur durch einen solchen Beschluß eine allgemein anerkannte Rechtmäßigkeit erlangen. Bestehende Interessengruppen innerhalb der Bürgerschaft fanden mit einem mehrheitlich gefaßten Beschluß einen politischen Konsens, der stets aufs neue herbeigeführt werden mußte und für die Bürgerschaft daher ständig neue politische Impulse mit sich brachte. Einzelne, für Kos möglicherweise als „Honoratioren“ zu bezeichnende, einflußreiche Bürger211 standen folglich nicht innerhalb einer Gruppe von ihresgleichen einer großen, übrigen Menge von Bürgern („dem Volk“) gegenüber, sondern agierten vor der gesamten Bürgerschaft und mußten sich dort gegen anderweitige politische Meinungen und Gruppen durchsetzen. Dieses wiederum läßt die moderne Sichtweise einer politisch bestimmenden Schicht im Sinne einer Honoratiorenthese für Kos hinfällig werden und führt vielmehr zum genauen Gegenteil, nämlich der notwendigen Berücksichtigung der gesamten Bürgerschaft als Entscheidungsträger, vor der sich einzelne, sicherlich besonders fähige oder ambitionierte Bürger profilieren mußten, wollten sie innerhalb der Polis gegenüber ähnlich ambitionierten Mitbürgern herausragen212. Werden mit Hippokritos und Diomedon bei Polybios also zwei solcher ambitionierten koischen Bürger genannt, die die Bürgerschaft von ihren persönlichen Ansichten zu überzeugen versuchten, steht hinter dieser knappen Angabe die soeben skizzierte Interaktion und Abhängigkeit von individuellen Bestrebungen einzelner Bürger und politischen Abwägungen und Entscheidungen des gesamten da`mo". Gleiches darf auch für Diokles, Sohn des Leodamas, eine der zentralen koischen Persönlichkeiten der hellenistischen Zeit, vorausgesetzt werden. In der Großen Epidosis des ausgehenden 3. Jhs. v.Chr., die Spenden der gesamten Bevölkerung zum Schutze und zur Verteidigung der Polis verzeichnete213, wird Diokles nicht nur als Antragsteller dieser Initiative genannt214, sondern gleichzeitig auch als diejenige Person, die selbst den weitaus größten Beitrag aufbrachte und zudem in der Liste an erster Stelle aufgeführt wurde215. Daß hieraus jedoch eine außergewöhnliche Stellung jenseits des dargelegten politischen Rahmens resultierte, ist nicht erkennbar. Da sich Kos in dieser Phase in einer militärisch prekären Lage befand, die zu bestehen es eines besonderen Aufwandes bedurfte, ist es für die politische Praxis vielmehr kennzeichnend, daß in dieser Situation 211 WIEMER 2002, 309 rechnet die Brüder Hippokritos und Diomedon „dem Kreise der Honoratioren“ zu. 212 Vgl. vor diesem Hintergrunde allgemein den Abschnitt zu den Ehrenstatuen und den Gründen der Ehrenverleihung in Kos bei HÖGHAMMAR 1993, 76–85. 213 PATON/HICKS n. 10a. 214 P ATON/HICKS n. 10a . 2f. 215 P ATON/HICKS n. 10a x 37f.: Dioklh`" | Lewdavmanto" kai; uJpe;r tou` uiJou` Xenotivmou GXX. Diokles spendete die Summe von 7.000 Drachmen also gleichsam auch im Namen seines Sohnes. Die nachfolgend größte Summe betrug 4.000 Drachmen und wurde von einem Philistos, Sohn des Moschion, gestiftet. Im weiteren schließen sich sechsmal 3.000 Drachmen an. Zu den gestifteten Summen ausführlich MIGEOTTE Souscriptions 154–157.

II.3. Politische Praxis im hellenistischen Kos

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zahlreiche Bewohner für ihre Heimatpolis finanzielle Aufwendungen erbrachten und innerhalb dieser Gruppe durch die gespendete Summe einige wenige, allen voran eben jener Diokles, hervorragten216. Dieses verdeutlicht auch der einleitende Abschnitt des Spendenverzeichnisses, in dem sogleich die genauen Umstände der Spendeneingabe beschrieben sind und bestimmt wurde, daß jede Aufwendung durch den da`mo" mittels einer diaceirotoniva, also einer Abstimmung nach Handzeichen, bestätigt werden mußte217. Im Falle einer unzureichenden Aufwendung besaß der da`mo" durchaus die Möglichkeit einer Abweisung, worauf im Inschriftentext durch die ajpoceirotoniva von unzureichenden Summen hingewiesen wird218. Dem da`mo" war demnach die Entscheidung überlassen, ob sie die jeweils erbrachte Leistung für die Abwendung der Polisbedrohung als ausreichend erachtete, so daß gegenüber jedem einzelnen polivta" eine bestimmte Erwartungshaltung von seiten der gesamten Bürgerschaft bestand219 und damit schließlich der aus dem nur wenig späteren Homopolitie-Eide bekannte persönliche Einsatz für die Polis im Mittelpunkt des da`mo"-Interesses gestanden haben sollte. Da nun die Initiative dieser Maßnahme zur Abwendung der äußeren Bedrohung von Diokles ausging, er gleichzeitig die größte finanzielle Aufwendung leistete und auch sonst in der Politik dieser Phase hervortrat220, mag man ihm eine herausragende Rolle in der zeitgenössischen Politik zuweisen – Susan Sherwin-White bezeichnet ihn als „a real prostatas of the damos“221 –, die er letztlich aber nur deshalb einnehmen konnte, weil der da`mo" sie ihm zubilligte. Die insbesondere auf der Spendenliste und der Person des Diokles beruhende Einschätzung, die politische Organisation des hellenistischen Kos sei möglicherweise durch reiche Bürger dominiert gewesen222, vermag demnach die dargelegten innenpolitischen Zusammenhänge kaum ausreichend zu kennzeichnen. Daß reiche Bürger innerhalb der Bürgerschaft eine hervorragende Rolle einnahmen, braucht dabei keineswegs angezweifelt zu werden, eine dominierende Rolle wird man ihnen hingegen aufgrund der dargelegten Entscheidungsgewalt der Bürger216 Streng genommen kennzeichnet die Spendensumme dementsprechend zunächst auch nur die finanziellen Möglichkeiten der Spender. 217 PATON /HICKS n. 10a 14–16: oJ dªe;º | da`mo" diaceirotoneivtw | ta;n ajxivan ta`" dwrea`". Vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 179f.; MIGEOTTE Souscriptions 151 mit Anm. 46. 218 P ATON/HICKS n. 10a 32–34: katacrhmaªtiºsavntw de; kaªi;º | ei[ ªkav tºinwn ajpoceirotonh|qh`/ aJ ejpaggeliva. Dazu MIGEOTTE Souscriptions 151 Anm. 46. 219 Die Bürger sind diejenigen, die im Vergleiche zu den Nichtbürgern höhere Summen spendeten; MIGEOTTE Souscriptions 157f. 357–363. Vgl. auch den Kommentar zu HALLOF/ HABICHT 1998 n. 24. 220 Siehe SHERWIN-WHITE 1978, 180. 216. 221 SHERWIN -WHITE 1978, 180. Zurückhaltender etwa BAKER 1991, 32: „Dioklès fils de Léodamas était un personnage bien en vue et bien connu de la cité de Cos à la fin du IIIe siècle“. 222 RHODES/LEWIS 1997, 237f. führen aus, daß die in koischen Belegen angeführte „democracy“ durchaus ernst zu nehmen sei und darüber hinaus drei grundlegende, von SHERWIN-WHITE 1978, 176 angeführte Kriterien für eine Demokratie in Kos erfüllt seien, um dann jedoch wieder einzuschränken: „A constitution which was democratic by theses criteria [scil. diejenigen von Sherwin-White] could in practice be dominated by the richer citizens (…)“. Einen Beleg für diese angenommene Dominanz führen sie nicht an.

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schaft, aufgrund der bestehenden Interessengruppen und des notwendigen Bezuges der politischen Belange auf das Gremium der ejkklhsiva allerdings nicht zusprechen dürfen. Subskriptionen und der Verkauf von Priesterämtern Die Spendenaufwendungen für die Polis sind als ein weiterer Bereich anzusehen, in dem gerade wohlhabende Bürger einen persönlichen Prestigegewinn erzielen konnten. Bei diesen Subskriptionen, von denen mehrere für das hellenistische Kos belegt sind223, bestand die Möglichkeit, durch finanzielle Aufwendungen innerhalb der Polisgemeinschaft auch jenseits persönlicher Fähigkeiten nachdrücklich hervorzutreten. Daß damit keinesfalls auch politische Vorrechte verbunden waren, wurde soeben für die Große Subskription und den Koer Diokles angeführt. Vielmehr verdeutlichen die finanziellen Aufwendungen aber grundsätzlich, daß innerhalb der Polis ein Kreis von vermögenden Bürger bestrebt war, sich für die Gemeinschaft einzusetzen und von den Zeitgenossen entsprechend wahrgenommen wurde. In ganz ähnlicher Weise wird ein Kreis von vermögenden Bürger im Falle des Verkaufes von koischen Priesterämtern offensichtlich. Durch die Zahlung einer mitunter erheblichen Geldsumme konnten einzelne Bürger das Priesteramt für ein bestimmtes Heiligtum erlangen224, wobei sich dem Kaufenden mit der Übernahme des Amtes eine Einnahmequelle dadurch erschloß, daß er einen Teil der Einnahmen des Heiligtums für sich erhielt225. Zudem konnte das Amt durch die gesellschaftlich-kultische Rolle der Priester ein erhebliches persönliches Ansehen mit sich bringen226, das sich von demjenigen der politischen Ämter grundsätzlich dadurch unterschied, daß die Priesterämter auf Lebenszeit vergeben wurden227. Indem nun aufgrund der finanziellen Notwendigkeiten insbesondere Mitglieder wohlhabender Bürgerfamilien diese Priesterämter besetzten228, läßt sich in diesem Bereich ein dauerhaftes Hervortreten einer reicheren Bürgerschicht innerhalb der Polisgesellschaft von Kos aufzeigen; die zahlreichen Inschriften zum Verkauf von Priesterämtern für das hellenistische Kos229 bezeugen zugleich, daß es sich hierbei um eine gängige Praxis des 223 Siehe dazu die Auflistung der Subskriptionen des hellenistischen Kos in HALLOF/ HABICHT 1998, 143 Anm. 1; vgl. weiterhin PARKER/OBBINK 2001 n. 1 (mit Kommentar). 224 Siehe dazu die Angaben bei WIEMER 2003, 281f. 290–293. 225 WIEMER 2003, 286–288 zu den Einnahmen. 226 Die gesellschaftlich hervorragende Rolle der Priester läßt sich unter anderem in ihrer prominenten Rolle bei kultischen und kultisch-agonalen Veranstaltungen der Polis sowie der Möglichkeit einer „prestigeträchtigen Selbstdarstellung“ in der Öffentlichkeit erkennen; siehe hierzu WIEMER 2003, 285f. (ebendort mit dem Zitat). Vgl. zu den lokalen Kulten von Halasarna jetzt G. KOKKOROU-ALEVRAS, New Epigraphical Evidence on the Cults of Ancient Halasarna in Cos, in: HÖGHAMMAR 2004, 119–127. 227 WIEMER 2003, 284 mit Anm. 146; vgl. P ARKER/OBBINK 2000, 424. 228 Vgl. zu deren Zugehörigkeit zum Kreise der Bürger WIEMER 2003, 282; vgl. zu deren Zugehörigkeit zu wohlhabenden Familien die Quellenangaben bei WIEMER 2003, 290–293. 229 Siehe dazu die Angaben von PARKER/OBBINK 2000, 419–426 (unter Berücksichtigung einzelner, auf die diagrafaiv bezogener Aspekte); vgl. dazu A. CHANIOTIS, The Divinity of Hellenistic Rulers, in: HELLENISTIC WORLD 2003, 439 sowie auch die Zusammenstellung bei

II.3. Politische Praxis im hellenistischen Kos

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persönlichen Prestigeerwerbes handelte. Die politische Dimension des mit dem Priesteramt einhergehenden Prestigegewinnes bedarf allerdings einer genaueren Bewertung. So ist zunächst festzustellen, daß Priesterämter innerhalb der ejkklhsiva durch die Bürgerschaft verkauft wurden230, wofür Hans-Ulrich Wiemer den Grund in einer Sicherung der „denkbar höchsten Publizität“ beim Ämterverkauf sieht231. Aufgrund der bisher aufgezeigten politischen Organisation und Struktur der Polis wäre es allerdings verwunderlich, wenn das Priesteramt eines Heiligtums, das dem da`mo" unterstellt war und dessen Amtsträger von diesem eingesetzt wurden, gerade nicht im versammelten Kreise der Bürgerschaft vergeben worden wäre232, so daß weniger die öffentliche Wirkung als vielmehr die Kontrolle und dadurch die Rechtmäßigkeit des Verkaufes nur in der ejkklhsiva erreicht werden konnte. Mit der Vergabe wurde dieses Amt sodann auf Lebenszeit besetzt, worin der grundsätzliche Unterschied zu den zeitlich befristeten politischen Ämtern bestand, den Wiemer als deutlichen „Widerspruch zur politischen Ideologie des demokratischen Bürgerstaates“ sieht233. Für diese Einschätzung bedarf es allerdings einer Differenzierung der kultischen und politischen Zuständigkeiten der Priester, indem zu beachten ist, daß sie trotz ihrer angesehenen Tätigkeit weder politische Entscheidungskompetenzen noch einen erkennbaren direkten Einfluß auf politische Entscheidungen besaßen. Die kultischen Zuständigkeiten mußten daher keineswegs einen direkten politischen Einfluß mit sich bringen. Berücksichtigt man dieses, so wird deutlich, warum nämlich die Bürgerschaft in der langfristigen Besetzung der Priesterämter – entgegen der Meinung von Hans-Ulrich Wiemer – eben gerade keinen Widerspruch zu ihrer „politischen Ideologie“ zu sehen brauchte: Die politischen Kompetenzen der Bürgerschaft wurden dadurch freilich in keiner Weise eingeschränkt234. Folgt man hingegen Wiemers Sichtweise, so bringt dieses gleichsam mit sich, die politische Macht WIEMER 2003, 266f. mit Anm. 35f. Nach Hans-Ulrich WIEMER (ebendort) sind für Kos mittlerweile mehr zu verkaufende Priesterämter überliefert als für alle anderen hellenistischen Stadtstaaten zusammen. 230 WIEMER 2003, 277f. 231 W IEMER 2003, 278. 232 Die von Hans-Ulrich Wiemer (ebendort mit Anm. 105f.) angeführten Vergleiche des Priesteramtverkaufes in Athen und im ptolemaiischen Ägypten, die nicht vor der ejkklhsiva stattfanden, sind freilich vor dem Hintergrund einer dort unterschiedlichen politischen Organisation und Praxis zu verstehen. 233 W IEMER 2003, 309: „Indem man Priestertümer auf Lebenszeit an den Meistbietenden vergab, vertraute man sakrale Aufgaben, die alle Bürger angingen, einzelnen Mitgliedern führender Familien auf sehr lange Zeit an, akzeptierte also die Monopolisierung des im Namen der Polis ausgeübten Götterkultes durch wenige vermögende Familien. Zugleich reservierte man diesen Familien eine prominente Rolle bei den Festen der Polis und tolerierte damit die Darstellung sozialer Überlegenheit bei Veranstaltungen der Bürgerschaft. Der Widerspruch zur politischen Ideologie [sic!!] des demokratischen Bürgerstaates ist manifest“. 234 Siehe das soeben angeführte Zitat von WIEMER 2003, 309. S HERWIN-WHITE 1978, 155f. führt an, daß bestimmte Priesterämter und öffentliche Kulte nur bestimmten Kombinationen von triakavde" und penthkostuve" vorbehalten waren, eine Vorbedingung, die für ‚politische‘ Bereiche nicht beobachtet werden kann und somit ebenfalls auf eine notwendige Unterscheidung von kultischen und politischen Ämtern verweist. Vgl. hierzu auch PARKER/OBBINK 2000, 420.

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bei einer kleinen, finanziell starken Oberschicht anzunehmen, zu der dann wohl auch der bereits für die Subskriptionen angeführte Kreis reicher Bürger hinzuzurechnen wäre. Für diese Annahme besteht jedoch aufgrund der dargelegten politischen Zusammenhänge während der hier zunächst zu betrachtenden hellenistischen Zeit bis hin zum beginnenden 2. Jh. v. Chr. und der damit einhergehenden Quellenlage keinerlei Notwendigkeit235. Daß man insofern auch für die koische Bürgerschaft eine Differenzierungsfähigkeit zwischen politischen und kultischen Ämtern zugrundelegen kann, scheint hinsichtlich der Quellenlage zur hellenistischen Zeit angemessen. Mit dem Kauf von Priesterämtern sowie den Subskriptionen läßt sich also eine reiche Bürgerschicht kennzeichnen, die zum Erlangen einer hervorragenden Stellung innerhalb der Polisgesellschaft mitunter erhebliche Gelder aufzuwenden bereit war236. Der politische Einfluß einer solchen finanziellen Oberschicht wurde jedoch durch die bestehenden Interessengruppen und die Entscheidungskompetenzen der Bürgerschaft erheblich begrenzt. Wollte ein einzelner, ambitionierter Bürger politisch hervortreten, hatte er sich sowohl gegen ambitionierte Gleichgesinnte durchzusetzen als auch den da`mo" von seinen Ansichten zu überzeugen und mußte zudem den Beschlüssen seiner Bürgergemeinschaft Folge leisten. Hiermit war gleichsam eine ständige politische Kompromißbereitschaft zugunsten des mehrheitlichen Willens notwendig, zumal schließlich nur die Einbindung in die versammelte Bürgerschaft überhaupt zu einer hervorragenden und rechtmäßigen Stellung in der Polis führen konnte und damit dem einzelnen polivta" den Rahmen seiner persönlichen Ambitionen ermöglichte. Hedwig Krob bezeichnete kürzlich das hellenistische Kos als eine „communauté vivante“ und führte als Grund für eine politische Stabilität und der daraus resultierenden lebhaften und harmonischen Bürgergemeinschaft die zahlreich belegten Eide an, die die Bürger zu verschiedenen Anlässen zu leisten hatten und die nach ihrer Meinung ein Bindeglied zwischen den einzelnen Gliedern der Polis dargestellt hätten237. Der Grund für die Stabilität ist aus der Sicht des hier nunmehr Dargelegten allerdings zunächst weniger in den zu leistenden Eiden zu sehen – denn diese bestanden nun freilich auch in späterer Zeit weiterhin fort – als vielmehr der Form der politischen Organisation der Polis zuzurechnen, welche den Bürgern ihren grundsätzlichen politischen Handlungsrahmen vorgab. Auch sollte der im Zusammenhang mit dem Mimiambos des Herondas bereits oben angeführte Umstand, daß ein bestimmter Gesetzeskanon von koischen Bürgern aus dem Gedächtnis rezitiert werden konnte und somit ein gesamtbürgerschaftliches Ge235

Wenngleich außer Frage steht, daß die Priester durch ihre öffentliche Funktion einen keineswegs zu unterschätzenden gesamtgesellschaftlichen Einfluß in der Polis ausüben konnten, ist dieser jedoch anhand der Quellen einerseits kaum genauer zu bestimmen und muß andererseits durch die zahlreichen für Kos belegten Priesterämter ebenfalls in einer Konkurrenzsituation verschiedener Interessengruppen verstanden werden. Die politischen, also auf die poli`tai und das plh`qo" bezogenen Entscheidungen innerhalb der Polis und für die Polis gingen jedoch weiterhin und ohne Ausnahme von der Gesamtheit aller Bürger aus. 236 Bezüglich der Priesterämter hat WIEMER 2003, 290f. dieses treffend dargestellt. 237 KROB 1997, 451f.

II.3. Politische Praxis im hellenistischen Kos

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meingut darstellte238, als Hinweis einer wesentlichen rechtlichen Grundlage für die politische Stabilität sprechen. Beide Aspekte sind unter einer Berücksichtigung der hier nicht weiter ausgeführten Einbindung der Bürger in den kultischreligiösen Bereich der Polis239 gewissermaßen als Voraussetzung für eine allgemeine Akzeptanz der von Krob angeführten Eide anzusehen. Die Vitalität des politischen Geschehens in dem soeben genannten Zeitraume ist dann aber vor allem durch die regelmäßigen außenpolitischen Impulse gegeben gewesen, die wiederum für den da`mo" zu der Notwendigkeit führten, sich mit äußeren und auswärtigen Konfliktsituationen sowie den resultierenden Folgen für Polis und Bürgerschaft auseinanderzusetzen. Die angeführten politischen Interessengruppen bezeugen ein daraus hervorgehendes innenpolitisches Spannungsfeld. Wenn das politische Gemeinwesen der Koer für die hellenistische Zeit bis etwa zur Mitte des 2. Jhs. v.Chr. also trotzdem von einer – im folgenden Abschnitt näher zu behandelnden – politischen Stabilität gekennzeichnet war, läßt dieses im besonderen auf die angeführte Kompromißfähigkeit innerhalb der Bürgerschaft und damit einhergehend auf eine entsprechend ausgeprägte hohe politische Kultur schließen. II. 4. damokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva240 Die Verfassung nach der Befreiung durch Alexander den Großen Über die Form der koischen Verfassung während Alexanders Herrschaft sowie der direkt vorangehenden Zeit sind aufgrund der Quellenlage nur wenige sichere Aussagen möglich. Die nach dem Synoikismos von 366 v.Chr. bestehende damokrativa241 dürfte nicht lange später durch eine oligarchische Verfassung abgelöst worden sein, da ein von Aristoteles für Kos angeführter oligarchischer Umsturz wohl in diese Zeit datiert242. Zudem läßt auch die seit der Herrschaft des Mauso238 Siehe oben den ersten Abschnitt. Für diese gemeinschaftliche Tradition und Identifikation kann sicherlich der in jüngster Zeit in inflationärer Weise als Schlagwort angeführte Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ in seinem strengsten Sinne verwendet werden. 239 Siehe hierzu die umfangreichen Ausführungen von SHERWIN -WHITE 1978, 290–373 zur „Religion“ im antiken Kos. Die nunmehr von SEGRE IdCos und in mehreren Artikeln im CHIRON 1998–2003 vorgelegten Inschriften insbesondere zum hellenistischen Kos lassen gerade im kultisch-religiösen Bereich ein genaueres Bild der Polis erwarten, wozu Hans-Ulrich Wiemer (WIEMER 2003) hinsichtlich des Verkaufes der dortigen Priesterämter einen Beitrag geleistet hat. 240 Der folgende chronologische Überblick berücksichtigt die aus Sicht dieser Untersuchung zentralen Aspekte und Abschnitte der Entwicklung der damokrativa, ejleuqeriva und aujtonomiva vom ausgehenden 4. bis zum beginnenden 2. Jh. v.Chr. Für einen detaillierten Überblick der gesamten hellenistischen Epoche siehe die Darstellung von SHERWIN-WHITE 1978, 82– 145. Die seitdem erheblich vergrößerte inschriftliche Grundlage zur koischen Geschichte verlangt eine neuerliche, umfassende Untersuchung, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. 241 Vgl. SHERWIN -WHITE 1978, 65f.; CARLSSON 2004, 114. Zum Synoikismos vgl. G. REGER, REA 103, 2001, 171–174. 242 Arist. Pol. 1304b5; dazu und zu einem möglichen historischen Kontext der ojligarciva SHERWIN-WHITE 1978, 65f. 73f.

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los bestehende Abhängigkeit der Polis von den persischen Satrapen eine oligarchisch geprägte Verfassung naheliegend erscheinen, wenngleich hierüber kaum genauere Aussagen möglich sind243. Über welchen Zeitraum diese oligarchischen Strukturen fortbestanden, ist ebenfalls nicht sicher zu bestimmen, so daß letztlich unklar bleiben muß, welche Art von Verfassung im Jahre 333/2 v.Chr., als Alexanders Truppen persische Kontingente von der Insel vertrieben, existierte244. Für die darauf folgende Zeit ist dann jedoch mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß die Befreiung der Insel auch die – sofern nicht bereits zuvor erfolgte – Restitution einer damokrativa bedeutete, da einerseits Alexanders Erklärung der ejleuqeriva und aujtonomiva für die sich ihm anschließenden Städte ebenfalls für Kos gegolten haben muß245 und die Polis andererseits bei Alexander um Hilfe für die Befreiung von den Persern gebeten hatte246. Ein neuerdings sicher belegter, unter der später etablierten damokrativa bestehender und damit vom da`mo" sanktionierter Kult für Alexander kann weiterhin als ein Argument für die Annahme einer demokratischen Verfassung wenigstens seit der Befreiung der Polis durch die makedonischen Truppen gelten247. Eine alternativ anzunehmende, zunächst fortbestehende ojligarciva, deren Mitglieder sich dann folglich auch mit den vormaligen persischen Satrapen hätten arrangiert haben müssen, ist indessen wenig naheliegend248. Ein deutlicherer Hinweis für eine etablierte damokrativa liegt für das ausgehende 4. Jh. v.Chr. vor, als nämlich koische novmoi durch Vermittlung des Antigonos Monophthalmos zum Zwecke einer vorübergehenden Gesetzesgrundlage beim Synoikismos von Lebedos und Teos dienen sollten249. Streng genommen ist auch hiermit zwar noch keine in Kos bestehende demokratische Verfassung belegt, jedoch charakterisiert Antigonos’ diesbezüglicher Königsbrief die zu243

Siehe zur Beziehung von Kos und den Satrapen SHERWIN-WHITE 1978, 70f. 75f. Nach Arr. an. II 5,7 zog sich der Satrap von Karien, Orontobates, nach Kos zurück, wohin sich auch weitere persische Truppen begaben. Zur Befreiung von Kos durch Alexanders Truppen siehe Arr. an. II 13,4–6; Curt. III 1,19; vgl. zudem SHERWIN-WHITE 1978, 77. 245 Diod. XVII 24,1: mavlista d j eujergevtei ta;" E J llhnivda" povlei", poiw`n [scil. Alexander] aujta;" aujtonovmou" kai; ajforologhvtou", prosepilevgwn o{ti th`" tw`n JEllhvnwn ejleuqerwvsew" e{neka to;n pro;" Pevrsa" povlemon ejpanhv/rhtai. SHERWIN-WHITE 1978, 77f. 246 Arr. an. III 2,6; vgl. Curt. III I,19; SHERWIN -WHITE 1978, 77f. 247 BOSNAKIS /HALLOF 2003 n. 13 (um 250 v.Chr.) mit dem dortigen Kommentar. Zu einer in Kos möglicherweise stationierten Garnison von Alexander, die nach dessen Tod eine Einschränkung des Handlungsspielraumes der Polis bedeutet haben könnte, bestehen keine Belege. 248 Auch wenn Karien zunächst von einem Alexander unterstellten Satrapen ‚beherrscht‘ blieb, veränderten sich die Abhängigkeitsverhältnisse für Kos durch die neue Situation grundlegend. Ein fortbestehendes, auf äußerer Unterstützung beruhendes Regime ist daher wenig naheliegend. Siehe auch SHERWIN-WHITE 1978, 78. 249 WELLES RC n. 3 57–61: ejpei; de; dikaiº|ovteron uJpolambavnomen ei\nai ejx a[llh" povlew" metapevmyasqªai novmou", keleuvsante" me;n ajmº|fotevrou" levgein ejk poiva" povlew" bouvlontai cra`sqai novmoi", sunoªmologhsavntwn de; | ajºmfotevron w{ste toi`" Kwviwn novmoi" crh`sqai, ejpikekrivkamen, tou`" ªde; Kwviou" parekalevsa|mºen pro;" tou;" novmou" o{pw" dw`sin uJmi`n ejggravvyasqai. Vgl. zum Synoikismos G. REGER, Sympoliteiai in Hellenistic Asia Minor, in: St. Colvin (Hrsg.), The Greco-Roman East. Politics, Culture, Society, Cambridge 2004, 169–172 (mit weiterer Literatur). 244

II.4. damokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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künftige Polis gerade deshalb auch als demokratisch, weil die einzuführenden novmoi für ihre dortige Gültigkeit zuvor vom dh`mo" zu beschließen waren250. Somit ist freilich ebenfalls für das koische Gemeinwesen aufgrund der in diesem Zusammenhang bestehenden Vorbildfunktion mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß der da`mo" ebendort als Beschlußfassungsinstanz agierte und die novmoi aus der Sicht des da`mo" als vorbildlich gegolten haben251. Indem nun die Wahl der für Lebedos und Teos vorläufig zu verwendenden Gesetze gerade auf Kos fiel, scheint es darüber hinaus sehr wahrscheinlich, daß deren politische Ordnung bereits fest etabliert war, sich deren Gesetze durch längerfristige Anwendung bewährt hatten und beides mitunter über die Grenzen der Polis hinaus größeres Ansehen genoß252. Die angeführten Überlegungen zur koischen damokrativa werden für das ausgehende 4. Jh. v.Chr. weiterhin durch ein unterstützendes Eingreifen der Polis in Telos gesichert. Aufgrund einer koischen Vermittlung während einer um 300 v.Chr. in Telos bestehenden Stasis253 wurde ebendort im folgenden eine auch auf Münzen propagierte damokrativa etabliert, die insbesondere auf diese koische Vermittlung zurückzuführen ist254 und die somit auch als ein direkter Reflex der koischen innenpolitischen Verhältnisse gedeutet werden darf255. Als dritter Hinweis auf eine etablierte damokrativa der Koer im ausgehenden 4. Jh. v.Chr. kann letztlich eine aus dem Nachlaß von Rudolf Herzog publizierte und sehr wahrscheinlich in diesen Zeitraum zu datierende samische Ehreninschrift für koische Richter gelten256. Demnach hätten die Samier nach 250 WELLES RC n. 3 48–50: ei\nai de; | kºai; a[llwi tw`i boulomevnwi gravyanti novmon esfevrein: tw`n de; ªeijsenecqevntwn o{saº | me;n a]n ejx oJmologoumevnwn oJ dh`mo" ejpikurwvshi, (…). 251 Vgl. S HERWIN-WHITE 1978, 89f.; KROB 1997, 446f. 252 So auch Susan Sherwin-White, die hierdurch auf eine stabile und geordnete Demokratie schließt: „The wider repute of the Coan state in this period is established by the request of Teos and Lebedus to borrow the Coan laws. Their choice reflects in a general way the repute of Coan laws and the good name of Cos as a stable and orderly democracy“ (SHERWIN-WHITE 1978, 90). 253 Die von Rudolf Herzog diesbezüglich angeführte Inschrift ist bisher nur in Auszügen publiziert; siehe dazu SHERWIN-WHITE 1978, 89; CROWTHER 1999, 251f. Die Datierung schwankt zwischen dem ausgehenden 4. Jh. und dem beginnenden 3. Jh. v.Chr.; vgl. KROB 1997, 445f. mit Anm. 48. 254 Der Text führt den Eid der Telier nach der Beilegung der Streitigkeiten an. Der Eid wiederum behandelt die Erhaltung der damokrativa sowie die Eintracht des da`mo". Zu dieser Münzprägung siehe L. ROBERT, RPh 8, 1934, 43–48 (OpMinSel 1969, 569–574); einen direkten koischen Einfluß auf diese Emission sieht SHERWIN-WHITE 1978, 89. 255 KROB 1997, 447 formuliert die – bisher freilich nicht zu beweisende – Annahme, daß aufgrund der Eidesformel aus Telos, die Parallelen zum Homopolitie-Eid des ausgehenden 3. Jhs. v.Chr. zwischen Kos und Kalymna aufweist, bereits am Ende des 4. Jhs. v.Chr. in Kos ein Formular für einen Bürgereid bestand, das den Teliern vermittelt werden konnte. Nach WIEMER 2002, 229 gelang es Rhodos in der ersten Hälfte des 3. Jhs. v.Chr., Telos aus der koischen in die eigene Einflußzone hinüberzuziehen. Ob es das Ziel der Koer war, nach der Schlichtung einen Einfluß in Telos auszuüben, ist aufgrund der Quellenlage kaum genauer zu bestimmen und muß eine nicht näher einzugrenzende Spekulation bleiben. 256 CROWTHER 1999 n. 1. Die Datierung ist von der Zuweisung der in Zeile 23 genannten basilivssh Fivla, bei der es sich entweder um die Frau des Antigonos Gonatas oder die des Demetrios Poliorketes gehandelt haben kann, abhängig. Ich folge hier der Zuweisung von CROWTHER 1999, 255f. an letztere, wonach eine Datierung in die Jahre 306–301 v.Chr. in Betracht kommt.

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einer erfolgreichen richterlichen Tätigkeit von einzelnen Koer, so heißt es dort, einen Gesandten nach Kos geschickt, um die für die Richter beschlossenen Ehren zu verkünden und den da`mo" um deren öffentliche Aufstellung zu bitten257. Sowohl im Falle der Aufschreibung und Aufstellung wie auch im Falle der Wahl des Heiligtumes sollte der koische da`mo" durch ein yavfisma einen Beschluß fassen258, womit die innenpolitische Eigenständigkeit sowie eine demokratische Entscheidungsstruktur – zumal weiterhin keine gegenteiligen Indizien bestehen – offensichtlich werden259. Die Summe dieser Hinweise legt es nahe, daß im ausgehenden 4. Jh. v.Chr. eine fest etablierte und wohl auch überregional geschätzte politische Organisation der Polis in Form einer damokrativa bestand. Da nun die vorangegangene Zeit nach der Befreiung durch Alexanders Truppen insgesamt keine Indizien für eine grundlegende politische Veränderung bietet, darf somit insgesamt für den Zeitraum seit 333/2 v.Chr. eine demokratische Organisation der koischen Bürgerschaft vorausgesetzt werden. Der außenpolitische Handlungsspielraum im ausgehenden 4. Jh. v.Chr. In der Zeit nach Alexanders Tod wurde der außenpolitische Handlungsspielraum zunächst von einer freundschaftlichen Beziehung zu Ptolemaios I. Soter bestimmt. Im Dritten Diadochenkrieg gewährten die Koer dessen Flotte ohne Anzeichen einer Auseinandersetzung in ihrem Hafen Aufenthalt260, und ebenfalls wurde Ptolemaios’ Sohn, der spätere basileuv" Philadelphos, im Jahre 308 v.Chr. in Kos geboren261. In welcher Abhängigkeit die Polis jedoch zum ägyptischen Herrscher stand, läßt sich indes kaum genauer bestimmten. Zwischen Herrscher und Polis eine freundschaftliche Beziehung zugrunde zu legen, aus der gleichsam ein gewisser Schutz für Kos resultierte, charakterisiert das gegenseitige Verhältnis wohl treffend262. Die aus Ptolemaios’ Niederlage bei Salamis 306 v.Chr. resultierende Verschiebung der Machtverhältnisse im Bereich der südöstlichen Ägäis brachte für die Polis eine neue außenpolitische Situation mit sich und führte auch zu der bereits angeführten engeren Beziehung zu Antigonos Monophthalmos, aus der weiterhin die Vermittlung koischer novmoi an Teos und Lebedos hervorging. Wiederum ist allerdings der Grad der Abhängigkeit zwischen 257

CROWTHER 1999 n. 125–29. CROWTHER 1999 n. 126–28: o{∫sti" [scil. der Gesandte] to; te yhvfisma ajpoivsei kai; ajxiwvsei to;n dh`mon yhfivsasqai o∫{|p∫w" ajnagrafe;n ejn sthvlhi ajnateqh`i eij" iJero;n ou| a]n oJ dh`mo" yhfiv∫s∫ªhº|tai (…). 259 Vgl. außerdem SEG XXVIII n. 697 mit der Vermittlung von Kos in einem Streit zwischen Klazomenai und Teos, der wahrscheinlich ins ausgehende 4. Jh. v.Chr. datiert; dazu AGER 1996 n. 15 (mit dem dortigen Kommentar). 260 Diod. XIX 68,4. Seleukos nutzte 314 v.Chr. mit einer Flotte den koischen Hafen. Siehe außerdem Diod XX 27,1f., wonach die Insel 309–308 v.Chr. dem Ptolemaios als Stützpunkt diente. Für die Zeit von Alexanders Tod bis zum Beginn des Dritten Diadochenkrieges sind keine für die hier vorliegende Fragestellung relevanten Quellen zur außenpolitischen Situation von Kos überliefert; SHERWIN-WHITE 1978, 82. 261 Marmor Parium FGrHist 239 B19 (309/8 v.Chr.). 262 Siehe SHERWIN -WHITE 1978, 83. 258

II.4. damokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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Herrscher und Polis kaum genauer zu bestimmen. Da einerseits keine Einschränkungen für die Insel überliefert sind und andererseits Antigonos die Gesetze der Polis nach einer offiziellen Anfrage an die koische Bürgerschaft an Teos und Lebedos vermittelte263, somit das koische Gemeinwesen respektierte und als vorbildhaft auswies und darüber hinaus auch einzelne Koer in seine Dienste aufnahm264, scheint eine Beziehung auf der Grundlage eines gegenseitigen Nutzens mit beiderseitigem Wohlwollen wahrscheinlich. Die Vermittlung der koischen Gesetze von Antigonos interpretiert Susan Sherwin-White dahingehend, daß die Polis in der Lage gewesen sei, ihre eigenen Gesetze zu gebrauchen, womit ihrer Meinung nach im wörtlichen Sinne eine aujtonomiva einherginge265, und weiterhin meint Sherwin-White, daß die Polis ihre ‚Freiheit‘ durch Antigonos garantiert bekommen habe266. Sicherlich ist diese enge Auslegung des aujtonomiva-Begriffes zutreffend, jedoch scheint überdies kein Grund ersichtlich, weshalb Kos bei einer bestehenden damokrativa in dieser Situation nicht auch die eigenen, wohl althergebrachten Gesetze gebraucht haben sollte267. Nun ist der Begriff der aujtonomiva für diesen Zeitraum aber nicht überliefert, so daß diesbezüglich kaum weitere Schlüsse möglich sind, und auch hinsichtlich der ‚Freiheit‘ läßt sich anhand der Quellen ein vergleichbarer griechischer Begriff – etwa die ejleuqeriva – in diesem Zusammenhange nicht belegen. Allerdings könnte ‚freedom‘, so der von Sherwin-White angeführte Begriff, im Sinne einer ejleuqeriva bei einer notwendigen Garantie durch einen Herrscher aus Sicht der koischen Bürgerschaft kaum eine uneingeschränkte Freiheit gemeint haben, so daß ihre Interpretation einer Freiheitsgewährung nur auf die Sichtweise des Herrschers selbst beschränkt bliebe. Wenngleich letztlich keine direktere Bestimmung einer außenpolitischen Abhängigkeit der Polis bis zum Beginn des 3. Jhs. v.Chr. erreicht werden kann, scheint jedoch zumindest ab dem Dritten Diadochenkrieg ein eigenständiger Handlungsspielraum für die koische Bürgerschaft darin be263 WELLES RC n. 3 60f. mit der – allerdings ergänzten – Angabe, daß Antigonos selbst den Gebrauch der koischen Gesetze in der Polis erbat: tou;" ªde; Kwviou" parekalevsa|mºen pro;" tou;" novmou" o{pw" dw`sin uJmi`n ejggravyasqai. Mit einiger Wahrscheinlichkeit fällt in diese Zeit auch die in IG XII 6 n. 150 angeführte Entsendung koischer Richter nach Samos. Diese Inselpolis lag in dieser Zeit im direkten Einflußbereich von Antigonos Monophthalmos und dessen Sohn, womit durchaus eine gewisse Abhängigkeit dieser Richterentsendung von einem antigonidischen Machtbereich ersichtlich wird; siehe zur Datierung und dem historischen Kontext HALLOF/ MILETA 1997, 281f. (mit älterer Literatur); HABICHT 1996, 85. Vgl. auch die Angabe von Strab. XIV 2,19, der eine von Apelles gefertige Darstellung des Antigonos für das Asklepieion in Kos anführt. 264 Dazu S HERWIN-WHITE 1978, 85–87. 265 SHERWIN-WHITE 1978, 85: „The letter incidentally reveals that Cos had the use of its own nomoi, that is to say literally enjoyed the condition of autonomia“. 266 SHERWIN -WHITE 1978, 88: „In this period of Macedonian alignment Cos was technically autonomous, with the use of its own laws and constitution, and had no doubt had its ‘freedom’ guaranteed by Antigonus in accordance with his well attested policy“. 267 Daß die eigenen Gesetze für die koische Bürgerschaft einen höheren Rang als ihre Beschlüsse hatten, verdeutlicht jetzt HALLOF/HABICHT 1998 n. 710–12; PARKER/OBBINK 2001a n. 340– 42. HALLOF/HABICHT 1998, 111 verweisen noch auf eine weitere, bisher unpublizierte Inschrift mit eben dieser Aussage (M 54 Zeile 31–33); vgl. auch WIEMER 2003, 271.

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standen zu haben, daß auswärtige Tätigkeiten von einzelnen Bürgern für den eigenen da`mo" sichergestellt waren, die (eigene) damokrativa in der benachbarten Polis Telos etabliert werden konnte und ein grundsätzlich gutes Verhältnis zu Ptolemaios und später Antigonos aufgebaut war. Kos in der 1. Hälfte des 3. Jhs. v.Chr. In der Zeit nach der Schlacht von Ipsos 301 v.Chr. verblieb Kos im Einflußbereiche des Antigoniden Demetrios Poliorketes, was durch eine von Demetrios vermittelte knidische Schlichtung eines Rechtsstreites zwischen Koern und Kalymniern am Beginn des 3. Jhs. v.Chr. ersichtlich wird268 – eine direkte Abhängigkeit der Polis von Demetrios ist damit allerdings nicht zu belegen269. Nach dessen Tod wird durch mehrere Hinweise abermals eine freundschaftliche Beziehung zum alexandrinischen Hofe bezeugt270. Unter der Vermittlung von Ptolemaios II. Philadelphos entsandte die koische Bürgerschaft um 280 v.Chr. mehrere Richter nach Naxos zum Zweck der Beilegung von dortigen innenpolitischen Streitigkeiten271. Weiterhin findet die freundschaftliche Beziehung Ausdruck in einem in Kos für Arsinoë II. eingerichteten Kult272. Zwei weitere Hinweise, deren Datierung allerdings nicht exakt zu bestimmen ist, bezeugen ebenfalls gute Beziehungen zum ägyptischen Hofe: Zum einen verliehen die Koer dem im Dienste eines Ptolemaios stehenden Akarnanen Diokles das Bürgerrecht ihrer Polis273 und zum anderen wird in einem koischen Dekret aus der Zeit um 250 v.Chr. ein Ptolemaiei`on der Polis erwähnt274. Bei letzterem kann jedoch weder bestimmt werden, ob es sich um ein Heiligtum oder ein Gymnasion handelte, noch ist sicher, ob die Einrichtung auf Philadelphos oder aber auf dessen Vater Bezug nimmt275, so daß aufgrund der im Dekret angeführten Kulthandlungen schließlich nur allgemein engere Beziehungen zwischen Kos und Alexandria anzunehmen sind. Eine direkte Einflußnahme der ersten beiden Ptolemäer auf 268 S EGRE T.Calymnii n. 79; dazu ausführlich M AGNETTO 1997 n. 14; AGER 1996 n. 21; vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 88. Zur Vermittlung durch Demetrios Poliorketes siehe MAGNETTO 1997, 88f.; AGER 1996, 81. 269 HABICHT 2000, 306 spricht für die Zeit von 301–286 v.Chr. von einer „Herrschaft des Demetrios Poliorketes über die Inseln“. Daß dieses auch für Kos gegolten haben könnte, ist anhand der Quellen nicht zu belegen, zumal der vorherige Handlungsspielraum der Koer unter Antigonos sowie fehlende Hinweise auf Restriktionen kaum eine Herrschaft über Kos annehmen lassen. 270 CROWTHER 1999 n. 2 (mit neuen Fragmenten und der älteren Literatur). 271 Siehe dazu den Kommentar von CROWTHER 1999, 262–266. Ebendort 266 Anm. 34 mit den Belegen für ein vergleichbares Eingreifen des Philadelphos in die Angelegenheiten von anderen Poleis. 272 S EGRE IdCos n. ED 61+189. Siehe dazu auch WIEMER 2002, 228f. 273 H ALLOF/HABICHT 1998 n. 5. Es handelt sich entweder um Ptolemaios Philadelphos oder um Ptolemaios Soter. Welcher der beiden Herrscher gemeint ist, kann weder durch den Schriftcharakter noch durch andere Indizien entschieden werden; vgl. HALLOF/HABICHT 1998, 104; SHERWIN-WHITE 1978, 99 Anm. 84. 274 BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 13 . Zur Datierung ebendort 226. 8 275 BOSNAKIS/HALLOF 2003, 226–228.

II.4. damokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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Kos geht aus den angeführten Belegen hingegen nicht hervor, so daß auch mit den neueren Inschriften die Beurteilung von Susan Sherwin-White ihre Gültigkeit behält, Kos habe in einer guten Beziehung, jedoch in keiner direkten Abhängigkeit zu Ptolemaios Philadelphos gestanden276. Ein in dieser Zeit vielmehr bestehender eigenständiger Handlungsspielraum der Polis wird durch eine koische Ehrung des im Dienste von Seleukos I. Nikator stehenden Antipater nahegelegt277. Wenngleich auch hier eine genaue Datierung des Dekretes nicht möglich ist, verweist die Betitelung des Herrschers als basileuv" auf die Zeit zwischen 305 und 281 v. Chr.278. In der Ehrung wird angeführt, daß die von der Bürgerschaft beschlossene Ehrung mit dem Staatssiegel versehen und mit der folgenden Gesandtschaft an den Hof des Königs gesandt werden sollte, wo sich der geehrte Antipatros befand279. Gleichzeitig erhofften sich die Koer durch die beschlossenen Ehren und die Bemühungen ihrer Gesandten einen verbindlichen Beweis des Wohlwollens für die eigene Stadt280. Nun geht aus der fragmentarisch überlieferten Inschrift nicht hervor, in welcher Position dieser Antipatros am Königshofe tätig war und in welcher Beziehung er zu Seleukos stand. Da aber die Gesandtschaft zur Übergabe der Ehrung an den Königshof reiste, dürfte Antipatros zum engeren Umfeld des Herrschers gezählt werden können, so daß sich der koische da`mo" letztlich einen Vorteil für die eigene Polis von einer dem Herrscher sehr nahestehenden Person erwartete. Berücksichtigt man, daß für diesen Zeitraum insgesamt keine direkt ersichtliche Abhängigkeit der Polis von einem Herrscher zu belegen ist, die Stadt hingegen freundschaftliche Beziehungen zu Antigonos und Demetrios sowie zu den Ptolemaiern pflegte, 276 S HERWIN-WHITE 1978, 90–94. Das von Sherwin-White hervorgehobene Fehlen eines Statthalters, einer Garnison und einer Steuerpflichtigkeit als Kennzeichen der Unabhängigkeit behält mit den jüngst publizierten Inschriften seine Gültigkeit; siehe bereits BAGNALL 1976, 103– 105. Vgl. weiterhin die Angaben von SHERWIN-WHITE 1978, 97f. über die positive Hervorhebung der Insel als Geburtsort des Königs bei Theokrit und Kallimachos, die jedoch letztlich keinen genaueren Rückschluß auf das eigentliche Verhältnis zwischen Polis und Herrscher erlauben. HÖGHAMMAR 1993, 20f. sieht eine vorteilhafte Stellung der Koer als direkte Konsequenz aus der Geburt des Philadelphos auf der Insel, was – wenngleich naheliegend – jedoch nicht differenzierter zu belegen ist. Nach WIEMER 2002, 229 bestand eine „besonders herzliche Beziehung“ zwischen Kos und Philadelphos. 277 HALLOF/HABICHT 1998 n. 7. 278 HALLOF/HABICHT 1998 n. 7 . Durch den Schriftcharakter der Inschrift kann es sich nach 5 Rudolf Herzog (siehe dazu den Kommentar von HALLOF/HABICHT ebendort) nur um Seleukos I. handeln. Die von Hallof und Habicht ebendort 111 im Kommentar angeführte Datierung in „die kurze Spanne von sieben Monaten“ zwischen Seleukos’ Sieg über Lysimachos und seiner Ermordung zu Anfang des Jahres 280 v. Chr. ist keineswegs zwingend auf diesen Zeitraum zu begrenzen, da auch in der vorhergehenden Zeit der Königsherrschaft des Seleukos durchaus ein – wenngleich bisher aufgrund der Quellen nicht belegter – Kontakt zwischen ihm und der Polis denkbar ist. Zum Könige abgehende koische Gesandtschaften sollten in diesem Zeitraum entsprechend der politischen Praxis von der Bürgerschaft beauftragt worden sein. 279 HALLOF/HABICHT 1998 n. 7 1–5. 280 HALLOF/HABICHT 1998 n. 7 5–9: toi; de; presbeutai; aj≥s≥ªpaº|xavmenoi aujto;n [scil. Antipatros] uJpe;r tou` davmou tov te yavfi∫s∫m∫ªaº | ajpodovntw k〈a〉i; parakaleuvntw qewre∫u∫`ªnºt∫ªa..º | ta;n tou` davmou ai{resin a]n e[cei poq j auJto;∫ªnº b∫ªevbaiº|on ajpovdeixin poei`sqai t〈a`〉" poti; ta;n povliªn eujnoiva"º.

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Zweites Kapitel: Kos

so spricht im Falle des erhofften Wohlwollens aus dem Umfeld des Seleukos einiges für ein gleichzeitiges förderliches Verhältnis auch zu diesem Herrscher. Dieses läßt dann freilich die Annahme einer umfangreichen außenpolitischen Eigenständigkeit der Polis weitaus sinnvoller erscheinen als eine entsprechend häufig wechselnde einseitige außenpolitische Abhängigkeit von einem Herrscherhofe. Die aujtonomiva bei Herondas und die damokrativa-Propaganda in Delphi In dem bereits im Abschnitt zum koischen da`mo" angeführten Mimiambos des Herondas, der in die erste Hälfte des 3. Jhs. v.Chr., wohl in die Zeit vor 266 v.Chr. zu datieren ist281, läßt Herondas seinen Hauptakteur Battaros von der aujtonomiva der Koer sprechen, die der Gefahr unterlag, durch Unachtsamkeit der Bürger beseitigt zu werden. Susan Sherwin-White verweist darauf, daß kaum ein Zweifel an der Authentizität dieser aujtonomiva für Kos zu bestehen brauche und dadurch ein weiterer Beleg bestehe, der eine Unabhängigkeit der Koer gegenüber einem ptolemaiischen Eingreifen in die inneren Angelegenheiten der Bürgerschaft zeige282. Nun muß jedoch zunächst die Frage gestellt werden, welche inhaltliche Bedeutung mit diesem Begriff in Herondas’ Angabe zu verbinden ist. In dem besagten Abschnitt ermahnt der eher ärmliche Nichtbürger Battaros die koischen Richter, im Hinblick auf den Erhalt der öffentlichen Sicherheit, das unrechtmäßige Verhalten seines reicheren Widersachers Thales, ebenfalls Nichtbürger, nicht ungesühnt zu lassen, da die Koer sonst letztlich auch ihre aujtonomiva, auf die sie stolz seien, gefährdeten283. Ein direkter Hinweis, daß Herondas sich hierbei auch auf einen außenpolitischen Kontext bezieht, liegt demnach nicht vor. Vielmehr geht seine Schilderung von einer möglichen Gefährdung der koischen aujtonomiva durch die Billigung eines unrechtmäßigen Verhaltens innerhalb der Bevölkerung und einer daraus folgenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Polis aus. Die aujtonomiva wird in dieser Situation somit als eine innenpolitische Errungenschaft der koischen Bürgerschaft verstanden, die, so der Kontext der Darstellung, von einer äußeren Beeinflussung unabhängig war. Denkbar ist sicherlich, daß Herondas mit dem Verlust der öffentlichen Sicherheit gleichzeitig ein notwendiges Eingreifen einer äußeren Macht, möglicherweise eines Herrschers, implizieren wollte, womit gleichsam eine außenpolitische Abhängigkeit der koischen aujtonomiva verbunden gewesen wäre284 – dieses muß freilich Spekulation bleiben, so daß trotz der klaren Aussage einer für die Bürger281

CUNNINGHAM 1971, 2. 84f.; SHERWIN-WHITE 1978, 94 Anm. 60. SHERWIN-WHITE 1978, 95. Sie führt ebendort an: „The conclusion to be drawn from the combined evidence of Herodas and Coan documents is that Cos was free from Ptolemaic interference in government“. 283 Herondas II 21–27: eij d j ou[neken plei` th;n qavlassan h] clai`nan | e[cei triw`n mnevwn    A j ttikw`n, ejgw d j oijkevw | ejn gh`i trivbwna kai; ajskevra" sapra;" e[lkwn, | bivhi tin j a[xei tw`n ejmw`n e[m j ouj peivsa", | kai; tau`ta nuktov", oi[cet j h\min hj ajlewrhv | th`" povlio", a[ndre", kajp j o[t〈e〉wi semnuvnesqe, | th;n aujtonomivhn ujmevwn Qalh`" luvsei. 284 Vgl. in dieser Hinsicht die oben angeführte Vermittlung der koischen Gesetze nach Lebedos und Teos sowie das koische Eingreifen in den inneren Konflikt von Telos. 282

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schaft bestehenden aujtonomiva ein damit möglicherweise bestehender außenpolitischer Zusammenhang nicht belegt werden kann. Läßt der zeitgenössische Autor Herondas die Koer in seinem Pornoboskov" mit Stolz auf ihre aujtonomiva blicken, beschwor die koische Bürgerschaft selbst in einem Dekret zu etwa der gleichen Zeit ihre gemeinsame bürgerliche Gesinnung auf der Grundlage der damokrativa. Nach der Aussage des Dekretes beschloß nämlich der koische da`mo" hinsichtlich der Beseitigung der 279 v.Chr. über das nördliche Festlandgriechenland hereinbrechenden Galatergefahr, Festgesandte nach Delphi zu entsenden, um dort für den Sieg und den weiteren Schutz der Griechen ein umfangreiches Opfer durchzuführen285. Den koischen Gesandten wurde für ihre Opfertätigkeit in Delphi von der eigenen Bürgerschaft insbesondere aufgetragen, die Bitte um das Gute für ihren da`mo" sowie um die politische Eintracht in ihrer damokrativa an Apollon zu richten286. Diese inschriftliche Überlieferung sichert demnach einerseits die für die vorangehende Zeit bereits angeführte Form der politischen Organisation als damokrativa und zeigt andererseits das Selbstverständnis der Bürgerschaft im Umgang mit ihrer politischen Staatsform, indem an einem zentralen Ort während eines zentralen Ereignisses der griechischen Welt die Koer neben dem eigentlichen Anlaß der Feierlichkeiten gerade auch die politische Eintracht innerhalb ihrer damokrativa berücksichtigt wissen wollten, sie diese hierbei öffentlich propagierten und mit der Einbindung in die Opferzeremonie einer göttlichen Sanktionierung unterstellten. Ein parallel durchgeführtes Opfer in der Polis selbst ließ darüber hinaus diese Bestrebungen der Koer nicht nur ein entferntes auswärtiges Ereignis bleiben, sondern bot jedem einzelnen Bürger wie auch der gesamten Polisbevölkerung die Möglichkeit, an den Feierlichkeiten, der damit verbundenen gemeinschaftlichen Identifikation und den Wertvorstellungen der Bürgerschaft teilzuhaben287. Das überlieferte Dekret zum koischen Verhalten nach dem Sieg über die Galater kennzeichnet schließlich nicht nur das Bestreben einer überregionalen Manifestation koischer politischer Eintracht und damokrativa, sondern bestätigt gleichzeitig das aus den Quellen bisher gewonnene Bild.

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SYLLOGE n. 398. Der Beschluß dürfte frühestens 278 v.Chr. nach dem Angriff der Galater auf Delphi und deren darauffolgenden Rückzug getroffen worden sein. Vgl. SHERWIN-WHITE 1978, 107f. Zu diesen Auseinandersetzungen zwischen Galatern und Griechen STROBEL 1996, 214–216. Vgl. weiterhin C. CHAMPION, AJPh. 116, 1995, 213–220 zu den Bezügen in der inschriftlichen Überlieferung zum Gallierangriff von 279/278 v.Chr. 286 SYLLOGE n. 398 j povl|lwni tw`i Puqivwi bou`n crusovkerw uJpe;r | ta`" tw`n 24–30: qu`sai tw`i A JEllavnwn swthriva" kai; ejpeuv|cesqai tw`i te davmwi tw`i Kwviwn givnes|qai ta; ajgaqa; kai; meq j oJmonoiva" poli|teuven ejn damokrtivai, kai; toi`" ejpiboa|qhvsasi tw`n E J llavnwn tw`i iJerw`i eu\ h\men | ej" to;n ajei; crovnon. Wenngleich die Koer keinen Anteil am Sieg über die Galater hatten, nahmen sie trotzdem an diesen Feierlichkeiten teil. Zum koischen Dekret und den sich daraus ergebenden prosopographischen Bezügen siehe SHERWIN-WHITE 1978, 107f.; vgl. weiterhin CARLSSON 2004, 115. 287 SYLLOGE n. 398 30–44 mit den Bestimmungen für die Opfer in Kos. Zur Beteiligung der Bürger und der übrigen Bevölkerung siehe Zeile 34–39.

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Neutralität und Asyliestreben Kurz nach der Mitte des Jahrhunderts288 hatte Kos seine Stellung überregional derart gefestigt, daß es der Polis gelang, das Fest der Asklepieia als penteterische panhellenische Veranstaltung zu etablieren und in weiten Teilen der griechischen Welt für das Heiligtum die Anerkennung der Asylia zu erreichen289. Zahlreiche Urkunden dieser koischen Bestrebungen des Jahres 242 v.Chr. für die im folgenden Jahr veranstalteten großen Feierlichkeiten für Asklepios verdeutlichen, daß mit der Anerkennung der Asylia keine machtpolitische Parteinahme zu verbinden ist, da sich die Adressaten trotz gegenseitiger Auseinandersetzungen an der Anerkennung beteiligten290. Hierin darf somit auch eine Bestätigung der zuvor beobachteten außenpolitischen Unabhängigkeit der Koer gesehen werden, die gleichzeitig nicht gegen eine intensivere Beziehung zu einem einzelnen Herrscher, für die Zeit vor 242 v.Chr. besonders zum alexandrinischen Hofe, sprechen mußte291. Eine zentrale Rolle bei der Frage einer außenpolitischen ‚Abhängigkeit‘ der Polis in der Zeit der 2. Hälfte des 3. Jhs. nimmt das auf Kos sich befindende und wegen der Zuweisung an einen Herrscher namens Antigonos umstrittene Antigoneion ein. Die diesbezügliche, diesen Kultort nennende Inschrift SEGRE IdCos n. ED 216 ist aus prosopographischen Gründen wohl eine Generation vor 200 v.Chr. zu datieren292. Eine Zuweisung wäre somit an Antigonos Doson (229–221 v.Chr.) oder dessen Vorgänger Antigonos Gonatas (ca. 277–239 v.Chr.) möglich, wobei sich für ersteren zuletzt Susan Sherwin-White mit einer gewissen Skepsis293, ohne weitere Begründung Christian Habicht294 und neuerdings nachdrücklich Hans-Ulrich Wiemer295 ausgesprochen haben. So zutreffend wie insbeson288 Zu den Beziehungen der Koer zum alexandrinischen Hofe insbesondere in der ersten Hälfte des 3. Jhs. v.Chr. siehe die Angaben bei SHERWIN-WHITE 1978, 99–107; WIEMER 2002, 229. 289 Siehe dazu jetzt RIGSBY Asylia 108–111 mit dem Bezug auf die umfangreiche frühere Literatur. Die Urkunden sind zusammengestellt bei RIGSBY Asylia 112–153 (n. 8–52); dazu jetzt die fünf weiteren Urkunden RIGSBY/HALLOF 2001 n. 1–5. 290 SHERWIN-W HITE 1978, 111–114; RIGSBY Asylia 110. Entgegen der Ansicht einer von Kos verfolgten neutralen außenpolitischen Position hat jetzt BURASELIS 2004, 16–19 – vor allem gegen K. RIGSBY (ebendort) – aufzuzeigen versucht, daß die Polis mit den Asylia-Bestrebungen auch ein deutliches politisches Sicherheitsbestreben verfolgte, wobei Buraselis den Grund darin sieht, daß der „Ptolemaic umbrella over Kos did not cease to exist, but it was apparently not enough any more to keep away all rain“. 291 Siehe dazu den Königsbrief des Ptolemaios III. Euergetes an Kos, der ein Standbild für den König in Kos und die Teilnahme an den Ptolemaia in Fayyum anführt, so daß zumindest ein intensiverer diplomatischer Kontakt bestanden haben muß; BOSNAKIS/HALLOF 2003 n. 19 sowie RIGSBY Asylia 112–114. 292 Eine mögliche alternative Datierung etwa eine Generation nach 200 v. Chr. hat nur wenig für sich. Siehe insgesamt dazu den Kommentar von PARKER/OBBINK 2001 n. 2 (mit der älteren Literatur). 293 SHERWIN -WHITE 1978, 115f., die sich der älteren Meinung von Mario Segre anschließt (ebendort mit der älteren Literatur). 294 HABICHT 2000, 320 („gewiß Antigonos Doson“). 295 W IEMER 2002, 230–233.

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dere Wiemer die Zuweisung an Antigonos Doson darzustellen versuchte, um daraus gleichsam eine Abhängigkeit der Polis von diesem zu folgern, ist die Aussage der Quellen jedoch keineswegs. Bevor hierauf genauer einzugehen ist, muß zunächst allerdings die Annahme einer Abhängigkeit der Polis von ausschließlich einem Herrscher, wie sie Wiemer für seine Argumentation zugrunde legt296, begründet in Frage gestellt werden. So konnten bereits für die vorhergehende Zeit bestehende gute Beziehungen zu einzelnen Herrschern belegt werden, die jedoch keineswegs eine Ausschließlichkeit mit sich brachten oder sogar eine direkte Parteinahme bedeuteten, welche die Polis mitunter in einen Gegensatz zu anderen, konkurrierenden Herrschern hätte bringen können. Insbesondere die Werbung um die Asylia und Asklepieia des Jahres 242 v.Chr. vermittelt dieses unabhängigkeitsgerichtetes Bestreben als Grundtendenz der koischen Bürgerschaft in jener Zeit297. Eine einseitige außenpolitische Abhängigkeit der Polis ist also wenig naheliegend und bedürfte eigener überzeugender Argumente. Desweiteren handelt es sich bei Wiemers Deutung des Antigoneions als ein „kurz zuvor errichtetes Heiligtum“298 um eine Interpretation, die zwar durch den Inschriftentext vorgebracht werden könnte, jedoch damit keineswegs ausdrücklich belegt ist299. Mit dem Hinweis auf die jährlichen finanziellen Aufwendungen von 100 Drachmen für das Heiligtum vermag Wiemer zwar durchaus zutreffend zu zeigen, daß es sich dabei nicht um eine einmalige Reparatur gehandelt haben kann, nur ist eben mit der Verwendung des Geldes zum Zwecke der ejpiskeuav zunächst die Instandhaltung, nicht aber notwendigerweise eine Ausschmückung gemeint, so daß ein daraus hergeleitetes zeitliches Zusammentreffen mit der Errichtung des Antigoneions eine Hypothese bleiben muß und dementsprechend nicht als Argument für die Zuweisung gelten kann. Darüber hinaus lassen die kurze Herrschaftszeit des Antigonos Doson sowie eine keineswegs sicher zu bestimmende Intensität des gegenseitigen Verhältnisses und eine daraus möglicherweise resultierende Form der Abhängigkeit zwischen Kos und Antigonos Doson letztlich keine eindeutigen Aussagen über dessen Rolle im Zusammenhange mit diesem Heiligtum zu. Vielmehr wäre hinsichtlich der derzeitigen Quellenlage sogar eine Zuweisung des Antigoneions an Antigonos Monophthalmos keineswegs ausgeschlossen und hätte mithin sogar einiges für sich300. Ist also diese Zuweisungsproblematik einstweilen nicht genauer zu klären, verweisen die fehlenden Hinweise einer außenpolitischen Konfrontation in dieser Phase der koischen Geschichte bei gleichzeitig bestehenden vielfältigen außenpolitischen Kontakten 296 WIEMER 2002, 231: „Da die Koer jedoch nachweislich sowohl Philadelphos als auch Euergetes eng verbunden waren, setzt der Bezug auf Gonatas einen mehrfachen Seitenwechsel [sic!] voraus“. 297 Das Bestreben um die Asylia ging freilich eindeutig von der koischen Bürgerschaft aus. 298 W IEMER 2002, 233. 299 Ebensowenig ist sicher, daß eine im Asklepieion von Kos geweihte Statue für einen König Antigonos (siehe dazu die Angaben bei HERZOG Heilige Gesetze 30) den Antigonos Doson meinen muß; so aber WIEMER 2002, 233; vgl. dazu SHERWIN-WHITE 1978, 116f. 300 So schon LE BOHEC 1993, 356f. Ohne eine eindeutige Festlegung bleiben PARKER /OBBINK 2001, 231.

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und guten, aber nicht ausschließlichen Beziehungen zu den einzelnen basilei`" im Gegenteil sogar auf das bereits angeführte Bemühen, nämlich eine eigene unabhängige Stellung zu wahren. Da für die vorangehende Zeit mit der erfolgreichen Werbung um die Anerkennung der Asylia des Asklepieions in der griechischen Welt gerade dieses koische Bestreben deutlich aufgezeigt werden konnte, sollte auch für die darauf folgenden Jahre ein ebensolches Bestreben einen Grundsatz der koischen Bürgerschaft ausgemacht haben – für eine einseitige oder striktere Form der außenpolitischen Abhängigkeit bieten die Quellen hingegen gerade keine Belege. Außenpolitische Parteinahme und die Homopolitie mit Kalymna In den zwei letzten Jahrzehnten des 3. Jhs. v.Chr. änderte sich dann allerdings diese Intention des da`mo". Ein direktes, stellungbeziehendes außenpolitisches Eingreifen der Koer belegt ein Dekret der Sinoper, die den Koern für ihren Einsatz um deren Stadt mit „Wort und Tat“ dankten301. Hierbei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Unterstützung während der Bedrohung der Sinoper durch Mithradates II.302. Da die Bedrohung durch diesen Mithradates gleichzeitig eine Gefährdung des koischen Getreidehandels mit der Schwarzmeerregion darstellte, nutzte die Bürgerschaft in diesem Falle ihren außenpolitischen Handlungsspielraum zur direkten Durchsetzung von zentralen eigenen Interessen303. Die Koer dürften in dieser Situation zudem gemeinsam mit den Rhodiern agiert haben, die Polybios als Unterstützende der Sinoper anführt304. Ein gemeinsames Handeln der Koer und Rhodier bezeugt für die folgende Zeit am Ende des 3. Jhs. v.Chr. auch der Erste Kretische Krieg305 und der Krieg gegen Philipp V., womit schließlich die veränderte außenpolitische Zielsetzung der Koer hin zu einem aktiveren, parteiergreifenden Vorgehen nicht nur eine Episode blieb. In einer Ehreninschrift des 1. Jhs. v.Chr., die auf Diogenes, einen Vorfahren des Geehrten Bezug nimmt, wird die Zeit des Ersten Kretischen Krieges als eine Phase der besonderen Bedrohung für die Polis gekennzeichnet, so daß im Falle einer möglichen Niederlage auch die ejleuqeriva gefährdet gewesen wäre306. Ein 301

HALLOF/HABICHT 1998 n. 21; siehe auch SHERWIN-WHITE 1978, 118. WIEMER 2002, 229. 303 SHERWIN -WHITE 1978, 243f. zum koischen Handel mit dem Schwarzmeergebiete. Vgl. zu einer wohl bereits längere Zeit bestehenden freundschaftlichen Beziehung zwischen Kos und Sinope SEGRE IdCos n. ED 20 (Ende 4. Jh. v.Chr.), in der ein Sinoper in Kos mit der Proxenia geehrt wird; dazu HABICHT 1996, 85. 304 Polyb. IV 56,1–57,1. Siehe SHERWIN-WHITE 1978, 118; WIEMER 2002, 229. 305 Zum Verhältnisse von Rhodos und Kos sind für die Zeit vor dem beiderseitigen Eintreten für Sinope aufgrund der Quellenlage kaum genauere Aussagen möglich. Die von WIEMER 2002, 228–233 aufgeworfene Frage zu rhodisch-makedonischen Interessengegensätzen auf Kos bleibt von ihm selbst leider weitgehend unbeantwortet. 306 SEGRE IdCos n. ED 229 1–4: ªe[kgono" w]nº Diogevnou", o}" ta;n pro;" tou;" ejn Aijguvptw/ basilei`" | ªtovte o[nta"º filivan gennhqei`san katecrhvsato ej" ta;n ta`" | ªpatrivºdo" ejleuqerivan ejn toi`" susta`si ta`/ povlei pro;" Krh|ªtaievºa" ejpi; polemwtavtoi" kairoi`" (…); dazu HABICHT 1996, 89. 302

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Ehrendekret des lokalen da`mo" von Halasarna belegt dazu, daß sowohl im Ersten Kretischen Krieg als auch in demjenigen gegen Philipp V. militärische Übergriffe auf die Insel erfolgten307 und somit ganz offensichtlich eine direkte Bedrohung der Polis bestand. Diese Bedrohung muß schließlich als ein konkreter Grund für die im Homopolitie-Eid angeführten Bündnisse verstanden werden308. Neben der außenpolitischen Absicherung durch ein Bündnis mit Ptolemaios V. Epiphanes309 ist zudem die Rede von weiteren, nicht näher ausgeführten Bündnissen des da`mo"310, wobei neben einer Verbindung zu den Rhodiern311 eine solche wenigstens noch zu Milet und Knidos belegt ist312. Eine nunmehr bestehende dichte außenpolitische Verflechtung der Polis mit einer deutlichen Parteinahme in dieser Zeit wäre damit evident. Die mit der Bedrohung durch Philipp V. einhergehenden polisinternen Anstrengungen zur Sicherung der Insel läßt das bereits angeführte Dekret der Großen Epidosis erkennen313, das gerade diejenigen Bewohner der Polis verzeichnet, die für die Sicherung der Gemeinschaft eine finanzielle Aufwendung getätigt hatten314. Entsprechend der Bedrohung der gesamten Polis ist in dieser Epidosis auch nicht nur von einer Sicherung des da`mo" die Rede, sondern allgemein von der Gemeinschaft, was daran abzulesen ist, daß sich neben den Bürger und Bürgerinnen auch die novqoi, pavroikoi und xevnoi beteiligten315. In eben dieser Situation einer erheblichen Bedrohung scheint sich der prominente Koer Diokles durch besonderen Einsatzwillen und persönliche Fähigkeiten ausgezeichnet zu haben, da er als Antragsteller dieser Epidosis agierte, ebendort auch mit der größten Summe verzeichnet ist und später noch durch ein Ehrendekret ausgezeichnet wurde316. Eine einflußreiche Stellung jenseits der politischen Mög307 HALLOF/HABICHT 1998 n. 12 9–20 (ebenda 119–121 mit dem Kommentar). Vgl. zur militärischen Organisation von Kos in hellenistischer Zeit BAKER 2001 (mit weiterer Literatur). 308 Siehe dazu auch SYLLOGE n. 569 12–43. SEGRE T.Calymnii n. 64A mit einem Angriff der Hierapytnier auf das Territorium von Halasarna; dazu und zu weiteren Belegen SHERWIN-WHITE 1978, 119–124. 309 Die Zuweisung an Ptolemaios V. ergibt sich aufgrund der Datierung von S TAATSVERTRÄGE III n. 545; SHERWIN -WHITE 1978, 128; HÖGHAMMAR 1993, 89; HABICHT 2000a, 299; vgl. dagegen die Bedenken hierzu von WIEMER 2000, 207 Anm. 19. Siehe zur Beziehung zwischen den Ptolemaiern und Kos weiterhin HABICHT 2000a, 296f. 310 STAATSVERTRÄGE III n. 545 18–20: ejmmenw` de; kai; ta`i | poti; basilh` Ptolemai`on filivai kai; summacivai kai; tai`" sunqhv|kai" tai`" poti; tou;" summavcou" tw`i davmwi kekurwmevnai". 311 Zum Bündnis WIEMER 2002, 170. Ebendort 168–174 zu den Ereignissen des Krieges sowie Seite 150–155 zu den koischen Inschriften, die sich auf diese Auseinandersetzung beziehen. Während der Auseinandersetzung mit Philipp V. nimmt Kos nach Polyb. XVI 15,4 die rhodische Flotte auf. 312 S HERWIN-WHITE 1978, 129f. Vgl. zudem HABICHT 1989, 92–94. 313 P ATON/HICKS n. 10. 314 PATON /HICKS n. 10a 1–36; 10a37–74; 10b–d (Verzeichnis der Spendengeber); zum Inhalt vgl. MIGEOTTE Souscriptions 151–160. Zu vergleichbaren Spendenlisten siehe HALLOF/HABICHT 1998 n. 25. 26. 315 Zur Staffelung der finanziellen Aufwendungen siehe die Ausführungen bei MIGEOTTE Souscriptions 154–160. Vgl. HALLOF/HABICHT 1998, 159f. 316 P ATON/HICKS n. 10 1f. 37f.. M IGEOTTE Souscriptions 154; SHERWIN -WHITE 1978, 119–124. SHERWIN-WHITE ebendort auch mit der Rolle des Theukles, eines weiteren prominenten Koers

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lichkeiten der damokrativa konnte jedoch für Diokles in der Zeit der Bedrohung und darüber hinaus – wie oben angeführt – nicht belegt werden. In der bekannten, in das Jahr 200 v. Chr. beziehungsweise kurz darauf zu datierenden Inschrift zur Homopolitie zwischen Kalymniern und Koern317 werden sodann die für diese Zeit zentralen innen- wie außenpolitischen Aspekte der Polis deutlich aufgezeigt. So betont der Eid der Homopolitie neben der oben angeführten Gleichheit der Bürger insbesondere die damokrativa als die einzige legitime Verfassung der Bürgerschaft, für die sich die Bürger einzusetzen hätten und die gegen oligarchische, tyrannische oder anderweitige, nicht der etablierten damokrativa entsprechende Bestrebungen geschützt werden sollte318. Welche Gründe letztlich zur Inkorporation der vorher unabhängigen Polis geführt haben, ist nicht auszumachen, nur kann es sich dabei nicht um eine einseitige koische Absicht gehandelt haben, wie mitunter angenommen worden zu sein scheint319. Das Hauptargument gegen eine unfreiwillige Inkorporation stellt gerade der angeführte Inhalt des Eides selbst dar. Dieser ergibt freilich erst dann einen Sinn, wenn die Kalymnier aus eigener Überzeugung dem Zusammenschluß mit den Koern zugestimmt haben, während eine unter politischem Druck der Koer vollzogene Inkorporation dessen Inhalt aus Sicht der Kalymnier hätten gegenstandslos werden lassen320. dieser Zeit. Siehe zu Kopien der Subskriptionsliste, die in Kos aufgestellt waren, jetzt L. MIGEOTTE, in: Tivmai Iwavnnou Triantafullopouvlou, Athen 2000, 159–174 (vgl. SEG 2000 n. 761). 317 S TAATSVERTRÄGE III n. 545. Zur Datierung SHERWIN -WHITE 1978, 124–129. Ihre Zuweisung in die Zeit direkt nach der Zurückdrängung von Philipp V. aus dieser Region findet allgemeine Anerkennung; vgl. etwa HÖGHAMMAR 1993, 89; KROB 1997, 437f.; HABICHT 2000a, 299; G. REGER, Sympoliteiai in Hellenistic Asia Minor, in: St. Colvin (Hrsg.), The Greco-Roman East. Politics, Culture, Society, Cambridge 2004, 153. Die Kalymnier gehörten bereits in vorheriger Zeit, in einer nicht genauer zu bestimmenden Phase zwischen 220 und 205 v.Chr., der koischen Bürgerschaft an. Diese Verbindung wurde dann aber, wohl durch ein Eingreifen von Philipp V., wieder aufgehoben, um schließlich, nachdem dessen dominierender Einfluß in dieser Region gebannt war, in beiderseitigem Einvernehmen restituiert zu werden – hierauf wird in der Inschrift verwiesen: ejmmenw` | ta`i kaqestakuivai damokrativai kai; ta`i ajpokatastavsei | ta`" oJmopoliteiva" kai; toi`" novmoi" toi`" ejg Kw`i patrivoi" | uJpavrcousi (STAATSVERTRÄGE III n. 54514– 17). SEGRE T.Calymnii n. 64 belegt die Zugehörigkeit der Kalymnier zur koischen Bürgerschaft im Ersten Kretischen Krieg, dessen Beginn wohl ins Jahre 205 v.Chr. zu datieren ist (dazu WIEMER 2002, 168f.), während die Inschriften für die Zeit um 220 v.Chr. noch die Eigenständigkeit der Kalymnier kennzeichnen (SEGRE T.Calymnii n. 61. 74. 75); dazu auch SHERWIN-WHITE 1978, 124–129; BAKER 1991, 11f. Vgl. HALLOF/HABICHT 1998, 153f.; WIEMER 2002, 230 Anm. 16. Zum Eingreifen von Philipp V. und der daraus resultierenden Auflösung der Homopolitia siehe KROB 1997, 437f.; HABICHT 2000a, 299. 318 S TAATSVERTRÄGE III n. 545 21–23: ojligarcivan de; oujde; tuvrannon oujde; a[llo polivteuma e[xw damo|krativa" ouj katastavsw pareurevsei oujdemia`i, oujd j ei[ tiv" ka a[llo" | kaqista`i ejpitrayw`, ajlla; kwluvsw kata; to; dunato;n (…). Hierzu sowie zu den einzelnen Ausführungen des Eides siehe auch KROB 1997, 437–444. Nach RHODES/LEWIS 1997, 237f. sei die Angabe der damokrativa durchaus wörtlich zu verstehen. 319 WIEMER 2002, 207 (mit Anm. 19) vermutet, daß die Kalymnier sich unter Philipp V. von Kos losgesagt hätten, womit er impliziert, daß eine Inkorporation nicht aus freien Stücken geschah. SHERWIN-WHITE 1978, 128 spricht in diesem Zusammenhang von „Cos and its possessions“. 320 Eine Inkorporation gegen den Willen der Mehrheit der Kalymnier stünde freilich gegen

II.4. damokrativa – ejleuqeriva – aujtonomiva

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Beide Bürgerschaften müssen sich demnach mehrheitlich für die Zusammenlegung entschieden haben, so daß als Grund hierfür ein Streben nach einer beiderseitigen vorteilhafteren außenpolitischen Position und einer damit einhergehenden besseren Absicherung gegenüber äußeren Mächten gesehen werden kann321. Im Text des Eides wird dieses grundsätzliche Ziel bestätigt durch eine nach Kräften zu verhindernde Reduzierung des koischen Gebietes bei einem gleichzeitigen allgemeinen Bestreben, den Besitz der Bürgerschaft zu mehren322. Die Betonung der damokrativa im Eid der Homopolitie als die einzige rechtmäßige Verfassung sowie die strikte Ablehnung jeder anderen Verfassung verdeutlicht daher gleichzeitig, daß nur die damokrativa als Grundlage für jedwede Bestrebung und damit auch für die außenpolitische Absicherung der Bürgerschaft gegolten haben kann, und dies zuletzt auch deshalb, weil die ebenfalls im Eid bekräftigten Bündnisse zuvor vom da`mo" entschieden wurden und so erst durch die damokrativa ihre Rechtmäßigkeit erlangten323. Wenngleich eine außenpolitische Abhängigkeit der Bürgerschaft von einem der Bündnispartner entgegen anderen Meinungen letztlich nicht zu erkennen ist324, verdeutlicht die Tatsache, daß die Koer im ausgehenden 3. Jh. v.Chr. den Versuch der Etablierung einer politischen Gleichheit und der Aufforderung, unparteiisch die Entscheidungen zu treffen; so aber STAATSVERTRÄGE III n. 54527–29. Auch die angeführten Bestrebungen des zukünftigen suvmpa" da`mo", keine andere als eine demokratische Verfassung zuzulassen, lassen die Annahme kaum sinnvoll erscheinen, die Koer hätten in diesem Falle gegen den Willen der Kalymnier gehandelt. 321 Im Gegensatze zu der ansonsten ganz seltenen Vergabe des Bürgerrechtes dürfte die oJmopoliteiva mit Kalymna und die damit verbundene Erweiterung der Bürgerschaft um eine größere Anzahl von Neubürgern zu einem wesentlichen Teile darin begründet gewesen sein, daß eine sowohl territorial als auch personal vergrößerte Polis in überregionalen Auseinandersetzungen ein stärkeres Gewicht besaß. Ob, wie KROB 1997, 437f. anführt, die Inkorporation von Kalymna mit der von Nisyros durch die Rhodier (wohl) am Ende des 3. Jhs. v.Chr. vergleichbar ist, muß hingegen ganz ungewiß bleiben, da die genaueren Umstände sowie eine Veränderung des Status der Bürger von Nisyros im Kontexte dieser Inkorporation bislang nicht zu klären sind; siehe dazu die Quellenangaben bei WIEMER 2002, 196f. 322 S TAATSVERTRÄGE III n. 545 26f.: oujde; ta;g Kwvian ejlavssw ginomevnan perioyeu`mai, ajll j aujxhvsw | kata; duvnamin ta;n auJtou`. 323 Kalymna gehörte wenigstens bis zum 1. Jh. n.Chr. zur koischen Polis; dazu RHODES/ LEWIS 1997, 222. 324 SHERWIN -WHITE 1978, 128 führt mit dem Bezug auf den bestehenden Forschungskonsens an, daß die Angabe des Bündnisses mit Ptolemaios im Eide dessen Einverständnis zur Homopolitia zeige. Sicherlich ist davon auszugehen, daß dieser einer Vereinigung nicht feindlich gegenüberstand. Der Eid kann allerdings hier nicht als Grund einer notwendigen Zustimmung für eine Homopolitia verstanden werden, da im direkten Zusammenhange des Textes eben gerade auch die anderen Bündnisse der Bürgerschaft aufgeführt werden, von denen diese Homopolitia nun keineswegs ebenfalls abhängig gewesen sein wird. Die Zusammenlegung beider Bürgerschaften muß daher letztlich als deren eigenständige, unabhängige Handlung verstanden werden. Auch HÖGHAMMAR 1993, 88–93 läßt bei ihrer Beurteilung der Homopolitia im Anschluß an BAGNALL 1976, 105 unberücksichtigt, daß im Eid nicht einzig das Bündnis mit Ptolemaios angeführt wird und gelangt so zu dem, aus der hier dargelegten Sichtweise nicht nachzuvollziehenden Urteil, daß die Angabe des Bündnisses mit Ptolemaios „indicates that the extent of the political control exerted by Ptolemaios must have been substantial“ (89).

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Zweites Kapitel: Kos

Bündnisse eingingen, einen Wandel zu der vorherigen hellenistischen Zeit. Konnten sie bis zu dieser Zeit eine Involvierung in überregionale, kriegerische Auseinandersetzungen scheinbar weitestgehend vermeiden, markierten das Eintreten für die bedrohten Sinoper sowie die nachfolgend belegten Bündnisse ein verändertes bürgerschaftliches Bestreben. Dieses außenpolitische Vorgehen setzte der da`mo" schließlich auch weiterhin fort, indem er im Antiochoskrieg 191 v.Chr. aktiv auf römischer Seite eintrat325, was der Polis im folgenden eine Sicherung ihres freien und unabhängigen Status bringen sollte326. Kos zur Zeit des Dritten Makedonischen Krieges Obwohl die Quellen hinsichtlich der außenpolitischen Auseinandersetzungen der Polis ganz überwiegend eine einheitlich handelnde Bürgerschaft zeigen, sind dennoch grundsätzlich die oben angeführten Interessengruppen für politische Entscheidungen zugrunde zu legen, wofür die überlieferten Ereignisse des Dritten Makedonischen Krieges ein deutlich Beispiel bieten. Polybios berichtet, es habe neben anderen Poleis auch in Kos Parteigänger gegeben, die durch Klagen gegen Rom und Parteinahme für Perseus versucht hätten, das eigene polivteuma auf die makedonische Seite zu bringen327. Da nun Kos in diesem Krieg schließlich nicht auf der Seite des Perseus stand, sondern sich weitestgehend neutral verhielt328, muß sich die Mehrheit der Bürgerschaft eben gerade gegen die makedonische Seite entschieden haben, wozu Polybios anführt, die promakedonische Gruppe habe ihr polivteuma nicht von einer summaciva mit Perseus überzeugen können329. Diese knappe Bemerkung ist in bezug auf die politische Praxis dahingehend zu verstehen, daß entsprechend der Tragweite dieses Krieges die Entscheidung zum politischen Verhalten der Polis letztlich mit einer längeren kontroversen Auseinandersetzung innerhalb der ejkklhsiva verbunden gewesen sein dürfte, in der sich schließlich neutrale Interessen der Bürgerschaft, sei es durch eine bestehende größere prorömische Gruppe, sei es durch eine direkt angestrebte Neutralität, gegen die Vertreter makedonischer Ambitionen durchzusetzen vermochten. Inwieweit es bei dieser internen Auseinandersetzung auch zu stärkeren Spannungen innerhalb der Bürgerschaft sowie möglicherweise sogar innerhalb der Bevölkerung gekommen ist, läßt sich anhand der Quellen nicht beurteilen. Daß hingegen die Entscheidungsfindung letztlich im Rahmen der seit nunmehr über einhundert, wohlmöglich schon einhundertundfünfzig Jahre eta325 Liv. XXXVII 11,13. 22,2; siehe auch 16,2. Vgl. MA 2002, 92. Zum Fortbestehen des koischen Bündnisses mit Rhodos siehe WIEMER 2002, 233. Daß Kos schon im Zweiten Makedonischen Krieg in einer guten Beziehung zu Rom stand, mag die Statuenweihung für T. Quinctius Flamininus 198 v.Chr. zeigen: PATON/HICKS n. 128; dazu SHERWIN-WHITE 1978, 131. 326 S HERWIN-WHITE 1978, 132. 327 Polyb. XXX 7,9: kai; mh;n ejn R J ovdw/ kai; Kw/` kai; pleivosin eJtevrai" povlesin ejgevnontov tine" oiJ fronou`nte" ta; Persevw", oi} kai; levgein ejqavrroun peri; Makedovnwn ejn toi`" ijdivoi" politeuvmasi kai; kathgorei`n me;n R J wmaivwn kai; kaqovlou sunivstasqai pro;" to;n Perseva koinopragivan. 328 HÖGHAMMAR 1993, 23. 26; SHERWIN -WHITE 1978, 134f. 329 Polyb. XXX 7,9: ouj dunhqevnte" [scil. die Anhänger des Perseus] de; metarri`yai ta; politeuvmata pro;" th;n tou` basilevw" summacivan.

II.5. Politische Veränderungen im hellenistischen Kos unter römischer Dominanz 193

blierten politischen Organisation erreicht wurde, bestätigt das zuvor gewonnene Bild einer gefestigten damokrativa sowie einer lebendigen politischen Kultur innerhalb der Polis. In dieser Phase der koischen Geschichte kam es zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt am Beginn des 2. Jhs. v.Chr. zu einer besonderen Manifestation der eigenen politischen Tradition, als nämlich in Kos ein Heiligtum für Zeus und den Da`mo" eingerichtet wurde330. Der von dem koischen Bürger Phanomachos gestiftete Kult zeigt, daß die Gesamtheit der poli`tai als kultisch idealisierter Da`mo" an der Seite des Zeus gewissermaßen eine göttliche Sanktionierung erhielt, die zugleich jeden Zugehörigen des da`mo" einschloß331. Die zeitgenössische Bedeutung dieses Kultes für die Polis, mit dem sich eben auch jeder Bürger identifizieren konnte, vermag eine Opfervorschrift für die prostavtai aus etwa derselben Zeit zu verdeutlichen. So hatten diese stellvertretend für die Bürgerschaft bei ihrem Opfer die Bürger und Bürgerinnen sowie den Wunsch nach oJmovnoia und damokrativa in ihr Gebet einzuschließen332, so daß die Bürger einerseits den Schutz der Götter erhofften und gleichzeitig ihr politisches Gemeinwesen der göttlichen Sanktionierung unterstellten, was selbstverständlich die Herrschaft des da`mo" umfaßte. In einer Zeit der nun bereits Jahrzehnte anhaltenden außenpolitischen Unsicherheiten im Bereich der südöstlichen Ägäis aufgrund des Ersten Kretischen Krieges, der Übergriffe von Philipp V., Antiochos III. und Perseus erscheint die bewußte Manifestation der eigenen innenpolitischen Errungenschaften und Traditionen, mit der die Stärke der Bürgerschaft und der Polis einherging, als ein deutliches Kennzeichen eines selbstbewußten da`mo". Aus dieser Situation einer gefestigten damokrativa sowie einer gleichzeitig bestehenden außenpolitischen Eigenständigkeit gelangte Kos nach dem Perseuskrieg in eine Zeit, die zwar ohne größere außenpolitische Auseinandersetzungen und Bedrohungen blieb, aber nunmehr für die Polis Roms unangefochtene Dominanz mit sich brachte.

II. 5. POLITISCHE VERÄNDERUNGEN IM HELLENISTISCHEN KOS UNTER RÖMISCHER DOMINANZ Die Zeit nach 168 v.Chr. war für Kos zunächst von einer politischen Kontinuität gekennzeichnet, wobei die politische Organisation unverändert blieb und der da`mo" weiterhin das bestimmende und entscheidende Gremium ausmachte333. 330 S EGRE IdCos n. ED 146(A). Zur Datierung vgl. HABICHT 1996, 84. SHERWIN -WHITE 1978, 332f. nimmt einen da`mo"-Kult erst für die Zeit der ausgehenden Republik an; vgl. auch KROB 1997, 444. 331 Zu Phanomachos, dem Stifter des Kultes, siehe HABICHT 1996, 84. Vgl. zur Einschätzung der Bedeutung des Kultes auch KROB 1997, 444; WIEMER 2003, 279f. mit Anm. 113. 332 SEGRE IdCos n. ED 109 1–8 (allerdings ergänzt): siehe dazu auch KROB 1997, 443f.; WIEMER 2003, 279. Zum Kult der Homonoia in Kos THÉRIAULT 1996, 21. 38f. 42f. sowie BOSNAKIS/HALLOF 2005, 240–245. Vgl. zur Datierung WIEMER 2003, 279f. Siehe weiterhin HÖGHAMMAR 1993, 100–102. 333 Vgl. S HERWIN-WHITE 1978, 221.

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Mehrere Ehrendekrete für entsandte Richter aus dieser Zeit bis hin zu einem nicht genauer zu bestimmenden Zeitpunkt um die Mitte des 2. Jhs. v.Chr.334 bezeugen, daß auswärtige Mächte auch fortan Richter aus Kos erbaten, woraus eine überregional fortbestehende vorbildhafte Stellung der Polis sowie ein politisch stabiles Gemeinwesen ersichtlich werden335. Ebenfalls besaßen die Koer weiterhin gute Beziehungen zu einzelnen Königshäusern336, so daß auch in dieser Hinsicht die außenpolitischen Impulse für die ejkklhsiva und damit das politische Gemeinwesen zunächst erhalten bleiben sollten. Roms Sieg im Perseuskrieg und die sich daran anschließende römische Dominanz brachten für die Polis jedoch allmählich Veränderungen mit sich, die dann in ihrer Summe zu einem erheblichen Wandel der politischen Praxis und damit auch der damokrativa insgesamt führen sollten. Das erste diesbezügliche Merkmal sind die von Kos zu Ehren der Göttin Roma eingerichteten Festspiele. Ein Dekret aus Chalkis für zwei koische Richter337 führt an, daß deren Ehrung in Kos an den Großen Asklepieia und JRwmaiva verkündet werden sollte338. Da die überlieferten Siegerlisten der Asklepieia von 241 v.Chr. bis 169 v.Chr. den Zusatz der JRwmaiva noch nicht führen339, müssen diese Festspiele in der nachfolgenden Zeit eingerichtet worden sein, wobei sich aufgrund prosopographischer Bezüge als spätester Zeitpunkt etwa die Mitte des 2. Jhs. v.Chr. ergibt340. Wenngleich es nun keineswegs verwunderlich ist, daß die Koer nach dem römischen Siege von Pydna regelmäßige Festspiele für die Göttin Roma ausrichteten341, so bietet jedoch der veränderte Umgang mit den Asklepieia einen klaren Hinweis auf eine gewandelte politische Priorität. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die seit 241 v.Chr. regelmäßig abgehaltenen Großen Askle334 C ROWTHER 1999 n. 6 (Mitte 2. Jh. v.Chr.). 8 (167–150 v.Chr.; dazu auch BOSNAKIS/ HALLOF 2003 n. 3). 9 (Mitte 2. Jh. v.Chr.). 10 (2. Jh. v.Chr.). 11 (2. H. 2. Jh. v.Chr.); BOSNAKIS/ HALLOF 2003 n. 7 (2. H. 2. Jh. v.Chr.). Die beiden Inschriften der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr. datieren nach dem Schriftcharakter, so daß eine sicher datierte auswärtige Richtertätigkeit der Koer bisher kaum weit über die Mitte des 2. Jhs. v.Chr. hinausreicht. In diesem Sinne auch CROWTHER 1999, 307, der den Zeitraum der Dekrete für koische Richter bemißt vom Ende des 4. Jhs. v.Chr. bis zur 2. H. 2. Jh. v.Chr. 335 Siehe dazu die soeben angeführten Belege. 336 Zu den Beziehungen zum ptolemaiischen Hof siehe SHERWIN -WHITE 1978, 135–137 (insbesondere zu Ptolemaios VI. Philometor); zum attalidischen Hof siehe SHERWIN-WHITE 1978, 132f.; vgl. zudem AMELING/BRINGMANN/SCHMIDT-DOUNAS 1995 n. 225. 227–229 mit den Gymnasionstiftungen einzelner Herrscher für Kos; diese datieren vor allem in die Zeit ab dem 2. Jh. v.Chr. 337 CROWTHER 1999 n. 8. 338 CROWTHER 1999 n. 8e 12–15: ajnagoreuv|htai par j aujtoi`" Dionusivoi" kai; ejn toi`" megavloi" | A j sklapieivoi" kai; R J wmaivoi" kaq j eJkavsthn panhvgu|rin ejn toi`" gumnikoi`" ajgw`sin. Ich folge hier der Einschätzung von Charles Crowther (ebendort 291), daß es sich bei den Großen Asklepieia und den Romaia um eine Veranstaltung handelte; dieses jedenfalls legt die angeführte Formulierung nahe. Vgl. noch MELLOR 1975, 46f. (ohne Kenntnis dieser Inschrift), der aufgrund der zuvor bekannten Belege auch die Möglichkeit zweier unterschiedlicher Feste in Erwägung zieht. 339 Dazu CROWTHER 1999, 291 mit Anm. 93. 340 CROWTHER 1999, 291f. 341 Vgl. CROWTHER 1999, 291. Vgl. BOSNAKIS/HALLOF 2005 n. 22 11f. (mit dem Kommentar).

II.5. Politische Veränderungen im hellenistischen Kos unter römischer Dominanz 195

pieia ein überregionales Fest darstellten, zu dessen Einrichtung Kos die oben angeführten, nicht unerheblichen Anstrengungen unternommen hatte und eine in der griechischen Welt anerkannte Asylia für das Heiligtum erlangen konnte. Die Bedeutung dieser Veranstaltung als panhellenische Festivität und die Aufrechterhaltung der Asylia machten für die Polis in der Folgezeit ein wesentliches außenpolitisches Bestreben aus, wobei allerdings einzelnen Herrschern oder Mächten gerade nicht die Möglichkeit geboten wurde, die mit den Asklepieia verbundenen Agone auch unter deren Namen stattfinden zu lassen, um so etwa eine königliche Propaganda zu ermöglichen342: Eine solche Parteinahme hätte nicht nur die Gefährdung der allgemeinen Anerkennung der Asylia des Heiligtums bedeutet, sondern gleichzeitig eine deutliche Parteinahme der Koer mit sich gebracht; dieses entsprach aber – wie oben dargelegt – nicht den Bestrebungen der Bürgerschaft. Mit der Einrichtung der Romaia und deren Durchführung zusammen mit den Großen Asklepieia handelten die Koer nunmehr entgegen diesen vorherigen Bestrebungen. Ganz offensichtlich stellte sich die Bürgerschaft also nicht nur an Roms Seite, sondern verband bald nach 168 v.Chr. den Hauptkult der Polis mit Feierlichkeiten für Roms göttliche Personifikation und damit für Rom selbst. Eine derartige Veränderung der bestehenden Traditionen konnte einzig von der gesamten Bürgerschaft beschlossen und verantwortet werden, so daß der da`mo" also mehrheitlich die römische Vorherrschaft akzeptiert haben muß, womit dann als neue außenpolitische Zielsetzung gleichsam eine offensichtliche und demonstrative politische Anlehnung an die Großmacht verfolgt wurde. Aus innenpolitischer Sicht ist der politische Wandel noch dadurch verstärkt worden, daß den von Polybios angeführten makedonischen Parteigängern mit dem römischen Sieg über Perseus die Basis ihrer politischen Bestrebungen verloren ging und sie somit ihren Einfluß innerhalb der Bürgerschaft einbüßten. Mit der fortwährenden und uneingeschränkten römischen Dominanz, so darf man daher schließen, bildete sich in den Jahrzehnten nach Pydna innerhalb der Bürgerschaft trotz der weiterhin bestehenden politischen Beziehungen zu anderen Herrschern eine zunehmend einseitige, auf Rom ausgerichtete innenpolitische Konzentration heraus, welche die politische Praxis erheblich beeinflußte. Es konnten sich nunmehr gerade diejenigen Bürger deutlicher etablieren, deren Bestrebungen zumindest nicht im Gegensatz zu denen der Römer standen, wobei die Tendenz dieser Entwicklung mit der Einrichtung der Provinz Asia 129 v.Chr. nochmals verstärkt wurde. Der noch in den ersten Jahrzehnten des 2. Jhs. v.Chr. bis hin zum Perseuskrieg beobachtete lebhafte Gegensatz politischer Interessen und Interessengruppen innerhalb der Bürgerschaft besaß in der Folgezeit – wenngleich solche im formalen Rahmen weiterhin fortbestanden – kaum noch eine signifikante außenpolitische Relevanz, wollte die Polis eine ‚unabhängige‘, von Rom akzeptierte Stellung behaupten. 342 Vgl. in dieser Hinsicht die Einrichtung eines Kultes mitsamt Priesteramt für König Eumenes II. wohl bald nach dem Frieden von Apameia 188 v.Chr.; BOSNAKIS/HALLOF 2005 n. 23 mit dem dortigen Kommentar. Siehe dazu auch IdCos n. ED 182 mit A. CHANIOTIS, The Divinity of Hellenistic Rulers, in: HELLENISTIC WORLD 2003, 439.

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Zweites Kapitel: Kos

Ab etwa der Mitte des 2. Jhs. v.Chr. ist für Kos desweiteren eine Veränderung im Umgang mit der eigenen politischen Tradition zu erkennen. Die große Anzahl der überlieferten Inschriften verdeutlicht vor dem Hintergrund der angeführten politischen Praxis, daß die Koer in der hellenistischen Zeit bis etwa zur Mitte des 2. Jhs. v.Chr. mit einer öffentlichen und offiziellen Aufstellung von zahlreichen politischen Beschlüssen stets bestrebt waren, ihre eigene politische Tradition mit Nachdruck zu manifestieren. Für die nun folgende Zeit sind jedoch nur noch sehr wenige politische Beschlüsse öffentlich aufgestellt worden343, wobei gleichzeitig die Anzahl der Weihungen und Ehrungen erheblich anstieg344. Hieraus darf zunächst gefolgert werden, daß die geringe Anzahl der politischen Beschlüsse aus späterer Zeit nicht auf eine unglückliche Überlieferungslage zurückzuführen sind. Desweiteren wird hieraus ein Wandel dahingehend kenntlich, daß innerhalb der koischen Gemeinschaft die öffentliche Manifestation der eigenen politischen Tradition erheblich an Bedeutung verlor, wohingegen die öffentliche Aufstellung von Weihungen und Ehrungen sowie von kultischen Belangen in den Vordergrund trat. Wenngleich dieser strukturelle Wandel nicht auf ein genaues Datum einzugrenzen ist, so bleiben der Gegensatz zur vorherigen hellenistischen Zeit sowie der um die Mitte des 2. Jhs. v.Chr. zu konstatierende Wechsel signifikant345. Die diesbezügliche Ursache im Umgang mit der politischen Tradition darf naheliegend mit der veränderten politischen Lage der Polis erklärt werden. War aufgrund von konkurrierenden politischen Gruppen die öffentliche Aufstellung eines Mehrheitsbeschlusses für die Beschlußgültigkeit nicht nur sinnvoll, sondern auch grundsätzlich erforderlich, so erübrigte sich diese Notwendigkeit mit der einseitigen Abhängigkeit der Polis von Rom allmählich: Ohne signifikante und vor allem entgegengesetzte Bestrebungen und Ambitionen von politischen Gruppen scheint kaum noch die Erfordernis bestanden zu haben, mehrheitlich erreichte politische Entscheidungen öffentlich zu manifestieren und damit einen politischen Konsens für alle Bürger innerhalb der Polis auch dauerhaft zu legitimieren. Ein weiterer politischer Wandel im 2. Jh. v.Chr. kann sodann im Zusammenhang mit der auswärtigen richterlichen Tätigkeit von koischen Bürger wahrscheinlich gemacht werden. So datieren die spätesten diesbezüglichen Ehrendekrete und damit auch das Erbitten von koischen Richtern durch eine auswärtige 343 Repräsentativ hierfür dürfte das Inschriftencorpus SEGRE IdCos sein (siehe diesbezüglich die knappe Charakterisierung dieses Corpus bei HABICHT 1996, 83f.). HABICHT ebendort 84 zählt für die Zeit vom 4. bis zum 2. Jh. v.Chr. insgesamt 121 Dekrete und andere Urkunden öffentlichen Charakters, während in die Zeit der darauffolgenden fünf (!) Jahrhunderte bis zum 4. Jh. n.Chr. nur 53 derartige Inschriften zu datieren sind. Eine grundsätzlich geringere Anzahl von überlieferten Inschriften ab der Mitte des 2. Jhs. v.Chr. merkt auch HÖGHAMMAR 1993, 28 an. In der Untersuchung von Susanne Carlsson wird dieses als einziges Indiz der Veränderung einer Demokratie angeführt (CARLSSON 2005, 322). 344 Diesbezüglich zählt HABICHT 1996, 84 für die Zeit nach dem 2. Jh. v.Chr. 230 Inschriften, während für die vorangehende Zeit seit dem 5. Jh. v.Chr. einzig 53 Inschriften verzeichnet sind. 345 Eine Eingrenzung ist deshalb nicht zu erreichen, weil viele Inschriften nur näherungsweise durch den Schriftcharakter datiert werden können.

II.5. Politische Veränderungen im hellenistischen Kos unter römischer Dominanz

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Macht um die Mitte des Jahrhunderts346. Ab dieser Zeit sind nun auch Dekrete überliefert, aus denen hervorgeht, daß sich in der Polis selbst auswärtige Richter befanden, um innenpolitische Auseinandersetzungen von öffentlicher und privater Natur zu schlichten347. Das bisher stabile, mitunter mustergültige koische Gemeinwesen bedurfte also nunmehr selbst derjenigen Personen, die es zuvor aufgrund seines eigenen Vorbildcharakters zu anderen Staaten entsenden konnte. Es erscheint naheliegend, in diesem Falle eine politische Instabilität innerhalb der koischen Bürgerschaft dieser Zeit zu erkennen. Trotz des nicht näher zu bestimmenden Hintergrundes und der Dauer der internen Auseinandersetzungen348 sowie der fehlenden exakten Datierungsmöglichkeit der letzten koischen Richterentsendungen, bleibt schließlich kennzeichnend, daß die Polis im folgenden selbst keine Bürger mehr als Richter entsandte349. Ein weiteres Indiz für eine grundsätzlich veränderte politische Situation ab etwa der zweiten Hälfte des 2. Jhs. v.Chr. wird somit auch in dieser Hinsicht deutlich. Obwohl für Kos im 2. Jh. v.Chr. nach 168 v.Chr. letztlich keine direkten Veränderungen der politischen Organisation zu erkennen sind und somit auch die damokrativa in formalen Belangen noch mit derjenigen der vorherigen Zeit übereinstimmte, verweisen die gerade angeführten Indizien und Zusammenhänge auf einen grundsätzlichen Wandel der politischen Struktur der Polis350. Der entscheidende Grund hierfür muß in den mit Roms zunehmender politischer Dominanz begründeten, nachlassenden politischen Impulsen für die Bürgerschaft gesehen werden, womit insbesondere ein weitreichender Verlust des polisinternen Spannungsfeldes von verschiedenen einflußreichen und politisch entgegengesetzten Interessengruppen einherging. Während die anhand der epigraphischen und literarischen Quellen aufgezeigte politische Praxis noch bis etwa zur Mitte des 2. Jhs. eine charakteristische Vitalität bezeugt, konnte diese in der nachfol346 CROWTHER 1999 n. 7–11 sowie ebendort 307. Siehe dazu außerdem oben die Angaben im Abschnitt zur politischen Praxis. 347 CROWTHER/HALLOF /HABICHT 1998 n. 1. 2. 3 (ebendort mit den Datierungen in die Mitte beziehungsweise in die 2. Hälfte des 2. Jhs. v.Chr.). 348 Ob dieses, wie WIEMER 2003, 307 anführt, darauf schließen läßt, „daß ein erheblicher Teil der Bürgerschaft zu dieser Zeit verschuldet war“, muß gewiß fraglich bleiben, da ein Gegensatz von Arm und Reich innerhalb der Bürgerschaft vor dem Hintergrund der vorangehenden hellenistischen Zeit wenig für sich hat. Vgl. zu den dikastagwgov"-Inschriften auch GAUTHIER BE 1999 n. 405. 349 Da die auswärtigen Mächte um eine Aufstellung verliehener Ehren für koische Bürger in Kos selbst baten, kann der Grund in diesem Falle nicht in einer unzureichenden Überlieferungslage gesehen werden. 350 Spätestens im 1. Jh. v.Chr. kam es dann auch zu Veränderungen der Kompetenzen von Gremien. So hat Hans-Ulrich Wiemer (WIEMER 2003, 274 mit Anm. 82 – ebendort mit den entsprechenden Belegen) zurecht darauf hingewiesen, daß die vorherige Zuständigkeit der ejkklhsiva beim Verkauf der Priestertümer im 1. Jh. v.Chr. für das Gremium der prostavtai belegt ist, diesen somit eine größere Kompetenz zugestanden worden sein dürfte, wenngleich die ejkklhsiva auch in dieser Zeit noch das entscheidende Gremium darstellte. Ab dem 1. Jh. v.Chr. ist dann zudem die Institution der gerousiva faßbar, die besonders ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert eine zentrale politische Stellung innerhalb der politischen Organisation einzunehmen scheint.

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genden Zeit unter Rom nicht mehr in der früheren Form erreicht werden. Ein zeitlich einhergehendes Nachlassen der öffentlich manifestierten politischen Tradition muß dabei als sichtbarer Ausdruck dieser Veränderung verstanden werden. Durch die einseitige römische Abhängigkeit der Polis war schließlich aber auch die Voraussetzung für die allmähliche Ausbildung einer dominierenden Oberschicht gegeben. Wenngleich zuvor bereits reiche und ambitionierte Bürger innerhalb der Bürgerschaft hervortreten konnten351, blieben diese innerhalb der ejkklhsiva jedoch in die verschiedenen Interessengruppen und die kritischen gegenseitigen Auseinandersetzungen eingebunden. Nunmehr mußten die Bürgerschaftsbeschlüsse mehr oder minder auf Rom ausgerichtet werden, womit das politische Gewicht des einzelnen Bürgers sank und weniger seine politische als vielmehr seine gesellschaftliche Stellung in den Vordergrund trat. Viel eher konnten nun also reiche und ambitionierte Bürger eine hervorgehobene Stellung in der Polis einnehmen und einen entsprechenden größeren Einfluß erlangen352. Nimmt man hingegen, wie jüngst noch Hans-Ulrich Wiemer, bereits für das ausgehende 3. und beginnende 2. Jh. v.Chr. eine kleine und reiche Oberschicht an, die durch ihre Aufwendungen einen großen Teil der finanziellen Belastungen der Polis trug und damit grundsätzlich den ärmeren Bürgern gegenüberstand353, blieben insbesondere der signifikante Wandel in der Zeit nach dem Dritten Makedonischen Krieg sowie die angeführten und damit einhergehenden Zusammenhänge nicht nur unerklärt, sondern auch weitgehend unberücksichtigt. In dieser Hinsicht ließe ein vorausgesetzter uniformer, die Politik bestimmender Gegensatz von armen und reichen Bürgern bereits vor den beschriebenen Veränderungen ein wesentliches Charakteristikum der politischen Praxis und damit eben auch einen Grund für die Beständigkeit der damokrativa im hellenistischen Kos unbeachtet, nämlich die politische Auseinandersetzung verschiedener politischer Gruppen innerhalb der ejkklhsiva im Rahmen einer demokratisch organisierten Polis.

351 Siehe dazu die angeführten Subskriptionen der Kriegszeiten des ausgehenden 3. Jhs. v.Chr. sowie – allerdings mit den folgenden wesentlichen Einschränkungen – die Angaben bei WIEMER 2003, 307. 352 Ein vorheriges gesellschaftliches Hervortreten ist bereits im Zusammenhang mit den käuflichen Priesterämtern aufgezeigt worden, jedoch ging damit in der vorangehenden Zeit eben kein besonderer politischer Einfluß einher. Die sich innerhalb der Bevölkerung nunmehr ausprägenden Strukturen sind dementsprechend dadurch zu charakterisieren, daß der politische Aspekt für die gesellschaftliche Stellung Einzelner im Verhältnis zur vorherigen Zeit eine allmählich nachlassende Bedeutung besaß. 353 W IEMER 2003, 307–309. Wiemer begründet diesen Gegensatz mit den hohen Aufwendungen reicher Bürger während der Kriegszeiten des ausgehenden 3. Jhs. und einer Verschuldung erheblicher Teile der Bürgerschaft um die Mitte des 2. Jhs. v.Chr. Beide Aspekte sind aufgrund der angeführten notwendigen Unterscheidung der politischen Bedingung der jeweiligen Zeit nur sehr bedingt miteinander zu vergleichen. Weiterhin handelt es sich bei der Verschuldung eines erheblichen Teils der Bürgerschaft um eine Annahme.

DRITTES KAPITEL: MILET III. 1. DER dh`mo" DER MILESIER Um den Bürgerstatus und damit den dh`mo" im hellenistischen Milet genauer zu bestimmen, bedarf es zunächst einer Betrachtung der überlieferten Bürgerrechtsverträge, welche die Milesier mit anderen Poleis schlossen, da ebendort mehrere Bestimmungen angeführt sind, die sowohl Zugangsberechtigungen als auch Rechte und Pflichten der Neubürger beschreiben. Darüber hinaus kann hierdurch das rechtliche Verhältnis von den Neubürgern zu den ‚Altbürgern‘ näher bestimmt werden1. So wurde zum Erlangen des milesischen Bürgerrechtes der Besitz des Bürgerrechtes in der jeweils anderen Stadt vorausgesetzt2. Sollten Bürger dort nicht geboren worden sein, sondern ihrerseits die politeiva bereits verliehen bekommen haben, führen die Vertragstexte als weiteres Kriterium eine Mindestdauer des Wohnsitzes in der vormaligen Heimatpolis an3 . Wollte schließlich ein Bürger aus einer durch einen Vertrag mit Milet verbundenen Polis das milesische Bürgerrecht aktiv ausüben, mußte er sich im Amtslokal des Rates als Neubürger registrieren lassen. In den Dekreten wird daher ausdrücklich eine Unterscheidung getroffen zwischen denjenigen Personen, denen aufgrund des Vertrages das 1 IvMilet n. 141 (Vertrag mit Kios). 142 (Vertrag mit Phygela). 143 (Vertrag mit SeleukeiaTralleis). 146 (Vertrag mit Mylasa). 149 (Vertrag mit Pidasa). 150 (Vertrag mit Herakleia). Einen gewissen Sonderfall stellen die sogenannte erste und zweite Kretereinbürgerung dar; IvMilet n. 33–35. 36–38. Durch diese Beschlüsse erlangten zahlreiche Kreter aus verschiedenen Poleis der Insel das milesische Bürgerrecht, wobei mehrere Regelungen zur Vermeidung von möglichen nachfolgenden Konflikten zwischen Neu- und Altbürgern getroffen und eine besondere Betonung der Eintracht aller Milesier hervorgehoben wurde. Zur Forschungsliteratur siehe die Angaben bei HERRMANN 1997 n. 33–38 sowie VÉRILHAC/VIAL 1998, 62–65. Vgl. SAVALLI 1985, 397f. 406–408. Siehe weiterhin IvMilet n. 1065 (Proxenie- und Bürgerrechtsverleihung für einen Dexippos; Ende 4. Jh. v.Chr.) sowie den entsprechenden Kommentar von W. Günther in HERRMANN 2006 (mit weiterer Literatur); vgl. W. GÜNTHER, AA 1999, 475–479. 2 Aus IvMilet n. 141 39–41. 143A 20–23. 146A26–30. 15059f. geht jeweils hervor, daß es sich um Personen handelte, die bereits das Bürgerrecht einer anderen Polis besaßen. Im Vertrag mit Pidasa (IvMilet n. 149) wird in den Zeilen 10–12 ausdrücklich auch den Frauen (und Kindern) der Pidaseer das Bürgerrecht zugesprochen, sofern diese von Geburt an Pidaseerinnen oder aber Bürgerinnen einer anderen griechischen Polis gewesen waren. Ein solches Vorgehen belegt die Bedeutung des weiblichen Bürgerstatus für Milet und läßt gleichzeitig folgern, daß diese Frauen auch in Bürgerlisten eingetragen waren; vgl. dazu IvMilet n. 15046–48 sowie den Hinweis auf die Bürgerinnen in der städtischen Geldanleihe bei den poli`tai und politivde" von Milet in IvMilet n. 1478f.. Die Kretereinbürgerung (IvMilet n. 38) verzeichnete ebenfalls die Ehefrauen als Bürgerinnen; vgl. dazu VÉRILHAC/VIAL 1998, 63f. 3 Siehe dazu IvMilet n. 143A 20–23. 146A26–30. 15059f.. Bei dem nicht vollständig überlieferten Vertrag mit Phygela (IvMilet n. 142) handelt es sich um eine Erneuerung eines früheren Vertrages, während im Vertrag mit Kios (IvMilet n. 141) eine solche Regelung nicht angeführt ist.

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Drittes Kapitel: Milet

Bürgerrecht in Aussicht gestellt wurde, und denen, die sich für eine aktive politische Teilnahme in die milesische Bürgerschaft eintragen ließen. Nur letztere waren es dann, die schließlich an „religiösen Zeremonien, Ämtern und allem übrigen, was auch den anderen Milesiern zukommt, teilhaben sollen“, somit also den Altbürgern grundsätzlich gleichgestellt waren4. Hierbei galt allerdings die Einschränkung, daß Neubürger für einen bestimmten Zeitraum von der Zulosung zu den Wachämtern ausgeschlossen blieben5, was als eine Sicherheitsklausel des dh`mo" gegen möglichen Verrat bei der Bewachung der Stadt zu verstehen ist6. Diese formulierte Einschränkung verleiht gleichzeitig der übrigen Gleichstellung von Neu- und ‚Altbürgern‘ bei den politischen Ämtern und religiösen Zeremonien einen besonderen Nachdruck, und auch die Formulierung „alles übrige, an dem auch die anderen Milesier teilhaben“ darf, indem keine gegenteiligen Belege zu erkennen sind, wörtlich verstanden werden, so daß eine rechtliche Zweiklassengesellschaft innerhalb des dh`mo" nicht bestanden hat. Daß mit der Eintragung in die Bürgerliste zudem ein dauerhafter Wohnsitz in Milet verbunden war, kann sicher angenommen werden, da einerseits nur so den Rechten und Pflichten des polivth" regelmäßig nachzukommen war7 und andererseits insbesondere die ZehnJahres-Regel für die Besetzung der Wachämter einzig mit dieser Bedingung sinnvoll erscheint. Für weitere Bürger der durch Vertrag mit Milet verbundenen Poleis bestand schließlich einmal im Jahre die Möglichkeit, sich ebenfalls in die milesische Bürgerliste eintragen zu lassen und eine entsprechende Zugehörigkeit zur Bürgerschaft zu erreichen8. 4 Alle im Kapitel zu Milet angeführten Übersetzungen folgen, sofern nicht besonders gekennzeichnet, denen in den von Peter Herrmann bearbeiteten Inschriften von Milet (Milet VI 1– 3). IvMilet n. 143A23–26: oJpovsoi d j a]n aujtw`n aiJrw`ntai meq j hJmw`n sumpoliteuves|qai kai; metevcein iJerw`n kai; ajrceivwn kai; tw`n loipw`n aJpavntwn, w|g kai; toi`" a[lloi" | mevtesti Milhsivoi", poieivsqwsan th;n ajpografh;n ejpi; to; th`" boulh`" ajrcei`on ajn j e{|kaston e[to" e{w" th`" eijkavdo" tou` mhno;" tou` A j nqesthriw`no" patrovqen kªai;º | h|" a]n w\si fulh`". Siehe auch IvMilet n. 14214–17. 146A30–33. 15043–45. 10237–11. 3737–39; vgl. IvMilet n. 1055. Siehe weiterhin GAWANTKA 1975, 16. Bei dem Übereinkommen mit Pidasa (IvMilet n. 14912–15) handelt es sich um einen Sympolitievertrag, aus dem eine Inkorporation der Pidaseer und ihres Gebietes in die Polis Milet folgte; vgl. mit weiteren Ausführungen zu dieser Inkorporation GAUTHIER 2001, 126. 5 IvMilet n. 143A 29–31: tou;" de; prosiovnta" pro;" th;m politeivan tw`m me;n a[llwn para≥| crh`ma metevcein pavntwn, fulakh;n de; kai; frourarcivan sugklhrou`sqai diel|qovntwn ejtw`n devka ajf j eJkavsth" ejpiklhrwvsew". Siehe auch IvMilet n. 146A38–40. 15050–52. Bei der zweiten Kretereinbürgerung betrug die Ausschlußfrist sogar 20 Jahre (IvMilet n. 3765f.). Vgl. GAWANTKA 1975, 16 sowie weiterhin GAUTHIER 1985, 150f. 6 Da eine Stadtmauer ohne vertrauenswürdige Wachmannschaften ihren Sinn verliert (vgl. [Ps.-] Xen. Ath. pol. II 14f. für Athen in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v.Chr.), muß ein befristeter Ausschluß der Neubürger von diesem Amt derart verstanden werden, daß sich entsprechende Neubürger zunächst über den angeführten Zeitraum innerhalb der Bürgerschaft zu bewähren hatten. Insofern kann die Ausschlußfrist von 20 Jahren bei der zweiten Kretereinbürgerung als Kennzeichen der besonderen Umstände dieser Einbürgerung gewertet werden. Zur milesischen Stadtbefestigung in hellenistischer Zeit siehe COBET 1997 („Die Mauern sind die Stadt“), der allerdings diese Problematik unberücksichtigt läßt. Vgl. weiterhin P. BAKER, in: BRESSON/DESCAT 2001, 68f. 7 Vgl. GAWANTKA 1975, 16–19; GAUTHIER 1985, 150f. 8 IvMilet n. 143A 25–27. 146A30–35. 15043–67.

III.1. Der dh`mo" der Milesier

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Aufgrund der detaillierten Bestimmungen geben die milesischen Bürgerrechtsverträge demnach einen recht genauen Einblick in den Umgang des dh`mo" mit dem Bürgerrechtsstatus sowie dessen Wertschätzung innerhalb der Polis. Besonders die angeführten Einschränkungen, nämlich die nachzuweisende Mindestdauer des vorherigen Bürgerrechtes beziehungsweise der mehrjährige Aufenthalt in Milet als mevtoiko"9, die als Voraussetzung für eine zu erlangende politeiva von der Bürgerschaft festgelegt wurden, sind als Grundlage des Verständnisses für weitere, in der Forschung als „Bürgerrechtsverleihungen in abgekürzter Dekretform“ bezeichnete Beschlüsse10 anzusehen. Könnte vermutet werden, daß die Milesier eine eher freigebige Verleihung ihrer politeiva pflegten, indem die zahlreichen ‚abgekürzten Dekrete‘ auf eine größere Zahl von Neubürgern innerhalb eines kurzen Zeitraumes verwiesen11, so legen die ansonsten strikten Bestimmungen vielmehr einen sehr konservativen Umgang bei der Bürgerrechtsvergabe nahe. Dementsprechend sollten die ‚abgekürzten Bürgerrechtsdekrete‘ dahingehend interpretiert werden, daß sich jeweilige Neubürger gegenüber der Bürgerschaft bereits bewährt hatten, also zuvor wohl über einen längeren Zeitraum in der Polis, etwa als mevtoikoi, anwesend waren oder aber sich durch ein besonderes Wohlwollen gegenüber der Polis ausgezeichnet hatten12. Im Umgang der Milesier mit den novqoi, also dem aus Ehen mit ,auswärtigen‘ Frauen hervorgehenden Nachwuchs von milesischen Bürgern, findet diese Annahme eine Bestätigung, indem diese grundsätzlich kein Bürgerrecht besaßen, jedoch wohl vielen dieser ‚Halbbürger‘ in späterer Zeit vom dh`mo" die politeiva verliehen wurde13. Innerhalb der Polis bestanden neben der Bürgerschaft weitere Bevölkerungsgruppen, die deutlich vom dh`mo" zu unterscheiden sind. Wiederum bieten die epigraphischen Quellen zahlreiche Anhaltspunkte, um eine Trennung einzelner Bereiche genauer aufzuzeigen, wobei insbesondere dem plh`qo" als eine dieser vom dh`mo" zu unterscheidenden Gruppen sogar eine ganz zentrale Rolle für das Verständnis wesentlicher politischer und gesellschaftspolitischer Zusammenhänge in der Polis zukommt. Eine mißachtete Trennung der Begrifflichkeit, wie sie 9

IvMilet n. 15059f.. Siehe IvMilet n. 40–93 sowie IvMilet n. 1055–1064. IvMilet n. 10561f. überliefert die verkürzte Form des Beschlusses mit der anschließenden Namensliste. 11 Vgl. hierzu IvMilet n. 40–93 mit den Datierungen von HERRMANN 1997. Zahlreiche dieser Verleihungen datieren in das ausgehende 3. und beginnende 2. Jh. v.Chr. Vgl. etwa IvMilet n. 41–46. 49–52. 54. 1056–1058. 12 Dazu GÜNTHER 1988, 388; IvMilet n. 1057. 1064. Vgl. dazu IvMilet n. 101, wo ein mit der Proxenie Geehrter das Bürgerrecht erst zehn Jahre später erhielt. 13 Siehe dazu die Ausführungen von VÉRILHAC/VIAL 1998, 62–65; ebendort 64 zu der Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei den novqoi eher um Kinder aus Ehen mit auswärtigen Frauen handelte als um ehelose Kinder. Siehe außerdem IvMilet n. 1060 sowie den dazugehörigen Kommentar von W. Günther in HERRMANN 2006 (mit weiterer Literatur). Vgl. zu den milesischen novqoi VIAL 1992, 291–295 sowie OGDEN 1996, 304–309. Gegen die Deutung der novqoi als Nachkommen milesischer Väter mit auswärtigen Frauen spricht sich aus P. BRULÉ, Enquête démographique sur la famille grecque antique. Étude de listes de politographie d’Asie mineure d’époque hellénistique (Milet et Ilion), REA 92, 1990, 240. 10

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durch das in deutschen Übersetzungen synonym gebrauchte „Volk“ sowohl für dh`mo" als auch für plh`qo" vorliegt14, führt mitunter, wie im folgenden gezeigt wird, nicht nur zu einer irreführenden Interpretation des jeweiligen Inschriftenkontextes, sondern auch zu einer unzureichenden Darstellung dessen, was mit dem Begriff ‚Polisgemeinschaft‘ bezeichnet werden kann. Nachdem Antiochos I. Soter in Milet eine Stoa hatte errichten lassen, aus deren Einnahmen Bauvorhaben in Didyma finanziert werden sollten, beschloß der milesische dh`mo" neben anderen Ehrungen auch die Aufstellung einer Reiterstatue für den König15. In der entsprechenden Inschrift werden neben Antiochos’ Einsatz für Milet und Didyma die genauen Verfahrensvorschriften, der Umgang mit den zukünftig einzunehmenden Geldern der Stoa sowie die politische Entscheidungsfindung und Motivation der Ehrung aufgeführt. Durch die Formel e[doxe tw`i dhvmwi liegt dabei insgesamt ein Beschluß des dh`mo" vor16. Diesem habe Antiochos, so heißt es in der Inschrift, in der vorangegangenen Zeit Wohlwollen und Beistand entgegengebracht17, woraufhin die Milesier den Beschluß zu der Ehrung faßten18. Eine besondere Motivation hätte auch darin gelegen zu zeigen, daß diejenigen Wohltäter, die sich für das Heiligtum von Didyma und das plh`qo" von Milet einsetzten, vom dh`mo" der Stadt geehrt würden19. Insgesamt bezeugen in diesem Dekret die Beschlußformel, die Entscheidungsgewalt über die einzunehmenden Gelder und die mit dem Bau der Stoa sich ergebende Auftragsvergabe20 den dh`mo" als die innerhalb der Polis beschließende Instanz. Im Gegensatz dazu wird aber das plh`qo" gerade nicht als eine solche Instanz angeführt, sondern erscheint vielmehr als passive Gruppe, um die sich die Wohltäter bei ihrem Einsatze bemühen sollten, um dafür schließlich vom dh`mo" geehrt 14 Siehe etwa die Übersetzungen von HERRMANN 1997. Die in einigen Arbeiten (vgl. GÜNTHER 1971; AMELING/BRINGMANN/SCHMIDT-DOUNAS 1995, 431–433) verwendete Unterscheidung von dh`mo" als Volk und plh`qo" als Menge (von Milet) muß ebenfalls unbefriedigend bleiben, da sich letztlich der Begriff Volk (von Milet) inhaltlich nur sehr unscharf von der Menge (von Milet) abgrenzen läßt. Wenn GÜNTHER 1971, 66f. in seiner Übersetzung von IvDidyma n. 493 dann einmal den dh`mo", einmal das plh`qo" als Menge von Milet anführt (Z. 7. 14), wird eine klare inhaltliche Trennung beider Begriffe aufgehoben. 15 IvDidyma n. 479. Siehe dazu allgemein GÜNTHER 1971, 29–39. Bei der gestifteten Stoa handelt es sich wahrscheinlich um die Oststoa des Südmarktes, deren Länge dem für die Antiochosstoa in der Inschrift (Z. 9f.) überlieferten Maß entspricht. Vgl. zu dieser Stiftung weiterhin etwa K. BRINGMANN, Die Rolle der Königinnen, Prinzen und Vermittler, in: Actes du Xe Congrès international d’épigraphie grecque et latine (Nimes 1992), Paris 1997, 170. 16 IvDidyma n. 479 . 1 17 IvDidyma n. 479 j ntivoco" oJ presbuvtatoª"º | tou` basilevw" Seleuvkou 2–5: ejdeidh; A