Erich Kästner als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg: Zeitdiagnosen und politische Interventionen 9783111112169, 9783111111476

Die Studie untersucht erstmals systematisch Erich Kästners bislang nur marginal erforschte Rolle als Intellektueller nac

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Erich Kästner als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg: Zeitdiagnosen und politische Interventionen
 9783111112169, 9783111111476

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Prolog
1 Einleitung
2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs
3 Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg
4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Personenregister
Register der Werke Erich Kästners

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Nicole Pasuch Erich Kästner als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg

Erich Kästner Studien

Für den Förderverein Erich Kästner Forschung e. V. herausgegeben von Sven Hanuschek und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat Bernhard Fetz, Hans-Edwin Friedrich, Annette Keck, Helmuth Kiesel, Stefan Neuhaus, Yvonne Wübben

Nicole Pasuch

Erich Kästner als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg Zeitdiagnosen und politische Interventionen

zugl.: Dissertation zur Erlangung eines Doktorgrades der Philosophie im Fach Germanistik an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, 2018.

ISBN 978-3-11-111147-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-111216-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-111411-8 ISSN 2195-7339 Library of Congress Control Number: 2023938399 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung So skeptisch ich den einschlägigen ideologiekritischen Untersuchungen über Erich Kästner gegenüberstehe, so sehr habe ich stets die Nonchalance der Danksagung bewundert, die sich in Marianne Bäumlers Publikation über den Schriftsteller wiederfindet – belässt es die Verfasserin doch schlicht und einfach dabei, allen Leuten zu danken, die sie nicht nur gefragt haben, wann sie denn endlich fertig sei.¹ Bei der Niederschrift der vorliegenden Studie, die eine leicht überarbeitete Fassung meiner an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld eingereichten Dissertationsschrift darstellt, habe ich ein ums andere Mal heimlich davon geträumt, es ihr gleichzutun. Doch nun, wenige Wochen vor der Drucklegung, erscheint mir dies deutlich zu kurz zu greifen, wenn ich an all die Menschen denke, ohne die das Buch nicht – oder zumindest nicht in dieser Form – entstanden wäre. So möchte ich mich als Erstes bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal für seinen Glauben an das Potential meines Projekts, seine Unterstützung auf meinem wissenschaftlichen Weg und die mir gewährten Freiräume bedanken. Prof. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und ihre ansteckende und inspirierende Begeisterung für die Intellektuellenforschung. Beiden bin ich darüber hinaus für ihre gemeinsam abgehaltenen Seminare über Literatur und Zeitgeschichte dankbar, die mich fachlich sehr bereichert und mein Interesse an interdisziplinärer Forschung geweckt haben. Außerdem gebührt mein Dank allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Forschungskolloquien Prof. Dr. Bogdals und Prof. Dr. Gilcher-Holteys, die mir durch ihre wichtigen Nachfragen und wertvollen Rückmeldungen zahlreiche neue Perspektiven auf mein Promotionsprojekt eröffnet haben. Des Weiteren möchte ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach danken, die mir bei meinen mehrmonatigen Recherchen im umfangreichen Nachlass Kästners mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Ein besonders herzlicher Dank gilt auch Dr. Johan Zonneveld, der stets offene Ohren und ebenso offene Privatarchiv-Schubladen für meine Anliegen hatte. Zu Dank verpflichtet bin ich zudem Herrn Rechtsanwalt Peter Beisler, der mir als bevollmächtigter Vertreter Thomas Kästners die Genehmigung erteilte, in meiner Untersuchung Zitate aus bis dato unveröffentlichten Texten, Korrespondenzen und Dokumenten Erich Kästners zu verwenden. Für die freundliche Erlaubnis, aus unveröffentlichten Briefen verschiedener Personen des öffentlichen Lebens wie auch Privatpersonen an den Autor zu zitieren, danke ich Mathias Groll, Anna 1 Bäumler, Marianne: Die aufgeräumte Wirklichkeit des Erich Kästner. Köln 1984, S. 6. https://doi.org/10.1515/9783111112169-001

VI

Danksagung

Mendelssohn, Cor Nettinga, Hilke Ohsoling, Anatol Regnier, Dr. Bettina Ruhrberg, Christine Shuttleworth, Werner und Dr. Barbara Voigt, Ulrich Stein (i.V. von Monika Stein) sowie dem Archiv der Akademie der Künste, Berlin, dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Familienarchiv Heuss und dem Rowohlt Verlag. Bei meinen Herausgebern Prof. Dr. Sven Hanuschek und Prof. Dr. Gideon Stiening möchte ich mich vielmals für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der Erich Kästner Studien und ihre Unterstützung auf dem Weg zur Veröffentlichung bedanken; Herrn Hanuschek sei darüber hinaus herzlich für die Zeit gedankt, die er sich für die Lektüre meiner Arbeit und sein hilfreiches und wertschätzendes Feedback genommen hat. Für die durchweg freundliche und konstruktive Zusammenarbeit habe ich auch Dr. Marcus Böhm und Dr. Katrin Hudey vom De Gruyter Verlag zu danken, die meine letzten Arbeitsschritte vor dem Erscheinen dieses Buches mit großem Engagement begleitet haben. Weiterhin gebührt mein Dank der FAZIT-STIFTUNG, die den Beginn meiner Arbeit an dieser Studie durch ein Promotionsstipendium gefördert hat, und dem Förderverein Erich Kästner Forschung e. V., der die Publikation des Bandes durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt. Abschließend möchte ich mich noch besonders bei einer Reihe von Menschen bedanken, die mich in unterschiedlichen Phasen meiner Promotionszeit auf völlig verschiedene Weisen sehr unterstützt haben. So danke ich von ganzem Herzen Kai Büchner, Dr. Markus Engelns, Anja Henkel, Angelika Ibrügger, Marlene Antonia Illies, Bastian Lasse, Julia Lefarth, Luise Leimser, Dr. Thomas Lüttenberg, Dr. Oliver Müller, Ina Maria Naujoks-Rau, Jan Osterkamp, Dr. Patricia Pasic, Prof. Dr. Ulrike Preußer, Jens Roth, Dr. Lars Rosenbaum, Dr. Thomas von Pluto-Prondzinski, Dr. Kristin Weiser-Zurmühlen, Dr. Nicole Zielke und allen anderen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern, die mich nicht nur gefragt haben, wann ich denn endlich fertig sei. Nicole Pasuch Bielefeld, im Mai 2023

Inhalt Prolog 1

1

Einleitung

3

2

Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs 11 2.1 Zum Begriff des Intellektuellen 11 2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus 22 2.3 Michel Foucaults Diskursbegriff und die Historische Diskursanalyse

34

3

Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg 43 3.1 Die Voraussetzungen für Kästners Nachkriegskarriere 44 3.1.1 Die (Kultur‐)Politik der Besatzungsmächte 45 54 3.1.2 Kästners berufliche Laufbahn vor 1945 3.1.3 Zwischenfazit 79 3.2 Kästners Positionen im kulturellen Feld 80 82 3.2.1 Kästner als Journalist 3.2.2 Kästner als Kabarettautor 102 3.2.3 Kästner als Kinderbuch- und Drehbuchautor 119 3.2.4 Kästners Publikationen für Erwachsene 137 166 3.2.5 Kästner als PEN-Präsident 3.2.6 Zwischenfazit 191 194 4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg 4.1 Kästner und der Schulddiskurs 195 4.1.1 Über Nebelkrähen und Mordgrossisten ‒ Kästners Stellungnahme zum Nürnberger Prozess gegen die 206 Hauptkriegsverbrecher 4.1.2 Über Splitter und Balken – Kästner und die Kollektivschuldthese 217 4.1.3 Über alte Verbrechen und neue Dummheiten ‒ Kästners Betrachtungsweisen der Siegermächte 231 4.1.4 Über Goldplomben und sehr kleine Schuhe ‒ 238 Kästners Blick auf die Verbrechen in den Konzentrationslagern 4.1.5 Zwischenfazit 247

VIII

Inhalt

4.2 4.2.1

4.2.2 4.2.3

4.2.4 4.2.5

4.2.6 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3

4.3.4 4.3.5 5

Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS249 Regimes Über Briefe und Stimmzettel ‒ Kästners Beanstandung gesellschaftlicher Umgangsweisen mit dem politischen Systemwechsel 256 Über doppelseitige Charaktere und Gesinnungsakrobaten ‒ 268 Kästner und die personellen Kontinuitäten im kulturellen Feld Über Trojanische Pferde und Jahrmarktschwindeleien ‒ Kästners Protest gegen das Gesetz über die Verbreitung 290 jugendgefährdender Schriften Über alte Anliegen und chronische Aktualitäten ‒ 308 Kästners Theaterstück Die Schule der Diktatoren Über Flammen und Schneebälle ‒ Kästners Reaktionen auf zwei Bücherverbrennungen im zwanzigsten 325 Jahrhundert Zwischenfazit 348 351 Kästners Einsatz für den Frieden Über Konferenzen und Grenzen ‒ Kästners Kritik am Scheitern der internationalen Friedenspolitik 362 Über Atompilze und Exerzierobst ‒ 381 Kästners pazifistische Stellungnahmen in der [K]leine[n] Freiheit Über Zauberlehrlinge und Freidenker ‒ Kästners Partizipation an der Bewegung gegen die atomare Bewaffnung 400 der Bundesrepublik Über gesunden Menschenverstand und den Weg auf die Straße ‒ Kästner und die Ostermarsch-Bewegung 415 Zwischenfazit 429

Fazit

432

Literaturverzeichnis Personenregister

439 465

Register der Werke Erich Kästners

473

Prolog In einer unveröffentlicht gebliebenen Glosse, die er zu Beginn des Jahres 1966 entwarf, plante Erich Kästner, seine Leser¹ auf eine ungewöhnliche Zugfahrt mitzunehmen. »Angenommen«, notierte er, ich möchte, obwohl ich nichts vom Eisenbahnwesen verstehe, nach Frankfurt am Main reisen, klettere in München am richtigen Bahnsteig in den richtigen Zug, der ziemlich pünktlich abfährt, und merke, schon nach zehn Minuten, daß sich der Lokomotivführer geirrt haben muß. Denn ich kenne die Landschaft vorm Fenster. Ich kenne die Himmelsrichtungen. Und dann lerne ich die Mitreisenden kennen. »Natürlich fahren wir nach Frankfurt,« sagen sie. »Haben Sie denn nicht das Schild am Waggon gelesen? Haben Sie den Lautsprecher nicht gehört?« Sie dösen und essen weiter. Dann kommt ein Mann von der Mitropa mit einem Rollwagen und verkauft Bier und warme Würstchen. »Wohin fahren wir eigentlich?« frage ich. »Nach Frankfurt«, sagt er. »Sind Sie im falschen Zug?« »Wenn er nach Frankfurt fährt, sitz ich im richtigen.« »Na also,« antwortet er. Und ich erwerbe eine Flasche Bier. Im Allgäu, mit schönstem Blick auf Berge und Kühe, frage ich den Coupéschaffner. »Zeigen Sie Ihre Fahrkarte!« Ich zeige sie. »Na also,« sagt er, »nach Frankfurt, es stimmt ja.« Er schaut auf die Uhr. »Drei Minuten Verspätung. Die holen wir wieder ein.« Doch nun sind zwei weitere Mitreisende nervös geworden, und einer der beiden sagt: »Wir wollen den Zugführer sprechen!« Die übrigen Reisenden mustern uns giftig. Einer von ihnen flüstert dem Nachbarn ins Ohr: »Typische Intellektuelle. Wollen alles besser wissen. Störenfriede. Nichts weiter.« Der Nachbar nickt. Später taucht der Zugführer auf. Er wurde schon in anderen Abteilen und von ähnlichen Miesmachern mit Fragen belästigt und ist ungehalten. »Wir fahren selbstverständlich nach Frankfurt. Falls Ihnen aber die Richtung nicht paßt, können Sie aussteigen.« Als ich die Notbremse betrachte, wird er noch schneidiger. »Diese Methode möchte ich nicht empfehlen.« Er geht. Der Zug fährt. Und? Und als er hält, sind wir nicht in Frankfurt am Main, sondern in Lindau am Bodensee! Wenn es solche Irreführungen im Eisenbahnwesen gäbe, wären dann mitreisende Nichtfachleute ungeeignet und unberechtigt, sich einzumischen und zu beschweren? Wären Sie dazu unfähig, nur weil sie nicht wüßten, wie man Lokomotiven baut, Fahrpläne ausarbeitet, Stellwerke bedient, unrentable Strecken stilllegt und Karten knipst? Bei der Deutschen Bundesbahn würde unser Beschwerderecht anerkannt, wenn nicht gar unsere Beschwerdepflicht gefordert. Nun, die Deutsche Bundesbahn transportiert uns nicht nach Lindau, wenn wir im Zug nach Frankfurt sitzen. Dieses Kunststück blieb der großen Politik vorbehalten.²

1 Die vorliegende Studie verwendet zum Zweck einer einheitlichen Lesbarkeit das generische Maskulinum, welches jedoch inklusiv zu verstehen ist und ausdrücklich alle Geschlechter einschließt. 2 Kästner, Erich: Anschließend an Notiz »Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff«. Datiert auf »Anfang 1966«. Typoskript. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 31. HS.1998.0003. https://doi.org/10.1515/9783111112169-002

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Prolog

Spätestens am Ende dieses Ausschnitts aus dem im Nachlass des Autors erhaltenen Typoskript wird deutlich, dass Kästner nicht im Sinn hatte, seine Rezipienten über die Widrigkeiten des bundesdeutschen Bahnverkehrs aufzuklären. Vielmehr beanstandete er eine Politik, die sich seiner Ansicht nach in eine gänzlich andere Richtung bewegte, als sie es vorgab. Dass der Schriftsteller Anfang 1966 gerade Frankfurt am Main und Lindau am Bodensee als planmäßig angefahrenen und letztlich erreichten Zielort der Reise gegenüberstellte, dürfte nicht dem Zufall geschuldet sein: Während in Frankfurt seit dem 14. Dezember des Vorjahres der zweite Prozess gegen das Personal des Konzentrationslagers Auschwitz geführt wurde, war Lindau keineswegs als Ort der Vergangenheitsaufarbeitung präsent. Schon vor ihrer Machtübernahme im Januar 1933 hatte die NSDAP in der süddeutschen Kleinstadt große Wahlerfolge für sich verbuchen können; in den Folgejahren wurden sämtliche jüdischen Einwohner der Stadt systematisch vertrieben, inhaftiert oder ermordet.³ Liest man den zuvor zitierten Text vor diesem Hintergrund, dann kann man ihn durchaus als kritischen Seitenhieb auf eine letztlich nur vorgetäuschte Auseinandersetzung der bundesdeutschen Politik mit den Verbrechen des NS-Regimes deuten. Die von Kästner erdachte Zugreise lässt sich aber zugleich auch als Allegorie auf das gesellschaftlich diffamierte Eingreifen Intellektueller betrachten: Der Autor erzählt von Fahrgästen, die nichts vom Eisenbahnwesen verstehen und dennoch, vor den Augen und Ohren ihrer Mitreisenden, gegenüber dem Zugpersonal die Fahrtrichtung hinterfragen. Er porträtiert folglich Menschen, die sich in einer bestimmten Situation außerhalb ihrer eigentlichen Profession öffentlich zu Wort melden und einen von ihnen wahrgenommenen Missstand gegenüber den Verantwortlichen bemängeln. Zu jenen »typische[n] Intellektuelle[n]« respektive »Störenfriede[n]«, die laut dem Urteil ihrer Mitbürger »alles besser wissen [wollen]«, zählt sich in seinem Textentwurf auch Kästner – wie diese Studie aufzeigen will: zu Recht.

3 Vgl. weiterführend etwa Schweizer, Karl: Skizzen und Dokumente zum NS-Faschismus in Lindau 1933 – 1945. http://www.edition-inseltor-lindau.de/Skizzen%20NS-Zeit.pdf [letzter Zugriff: 7.9. 2017].

1 Einleitung Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Schriftsteller in Deutschland, mit den Worten Georg Jägers, »als Sinnvermittler in einer Situation gefragt, in der es um ›Vergangenheitsbewältigung‹, eine neue Standortbestimmung und Identitätsfindung ging.«¹ So sahen sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und den darauf folgenden Jahrzehnten zahlreiche Literaten veranlasst, eine moralische Sprecherrolle einzunehmen und die politische, gesellschaftliche und kulturelle Lage zu kommentieren und kritisch zu beleuchten, um Impulse für einen demokratischen Neubeginn zu geben. Überblickt man das (west)deutsche literarische Feld nach 1945, fällt schnell eine ganze Reihe von Autoren ins Auge, die auf diese Weise agierten und sich dadurch ihren Ruf als Intellektuelle erwarben – man denke etwa an Walter Dirks, Hans Werner Richter, Heinrich Böll, Günter Grass oder Hans Magnus Enzensberger. Der Name Erich Kästner mag in einer solchen Aufzählung indes zunächst Irritation auslösen: Allzu präsent ist in der deutschsprachigen Öffentlichkeit nach wie vor das diesem Literaten anhaftende Image des ›charmanten Plauderers‹ und ›liebenswürdigen Geschichtenerzählers‹ für Kinder.² Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass der 1899 in Dresden geborene Schriftsteller vor allem mit seinem kinderliterarischen Werk und den filmischen Adaptionen seiner Kinder- und Unterhaltungsromane die größten Publikumserfolge feierte. Gleichwohl gab es nach dem Zweiten Weltkrieg noch einen ›anderen‹ Kästner, der weit weniger im Gedächtnis verankert ist als der ›nette Kinderbuchautor‹. ›Dieser‹ Kästner avancierte nur wenige Monate nach Kriegsende zum Feuilletonchef der von den amerikanischen Besatzern herausgegebenen Neue[n] Zeitung und übernahm bald darauf die Herausgabe der Reeducation-Jugendzeitschrift Pinguin. Er war als Autor unter anderem für die politisch-literarischen Kabaretts Die Schaubude und Die kleine Freiheit tätig, verfasste das kontrovers diskutierte Theaterstück Die Schule der Diktatoren, veröffentlichte sein Kriegstagebuch und wurde zum Präsidenten des zunächst gesamt- und später westdeut-

1 Jäger, Georg: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek, Therese Hörnigk und Christine Malende. Tübingen 2000, S. 1 – 28, hier S. 17. 2 Dieses Bild stellten bereits Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz dem ›politischen Schriftsteller‹ Kästner gegenüber.Vgl. Görtz, Franz Josef und Hans Sarkowicz: Nachwort. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd. VI: Splitter und Balken. Publizistik. Hg. von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München/Wien 1998, S. 671 – 718, hier S. 716 f. Sämtliche Zitate aus den Bänden der genannten Werkausgabe werden im Weiteren mit der Sigle EKW I–IX kenntlich gemacht.

https://doi.org/10.1515/9783111112169-003

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1 Einleitung

schen PEN-Zentrums gewählt. Das Ansehen, das seine mannigfaltigen Positionen im kulturellen Feld der unmittelbaren Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik mit sich brachten, nutzte er, um sich auf verschiedenen Wegen politisch zu positionieren – sei es in Form literarischer oder journalistischer Texte, sei es in Interviews, offenen Briefen, Reden oder durch die Teilnahme an öffentlichen Protestveranstaltungen. Er setzte sich mit der NS-Vergangenheit und ihren personellen wie ideologischen ›Hinterlassenschaften‹ auseinander, verteidigte die neu entstehende Demokratie und kämpfte für die Bewahrung des Friedens. ›Diesem‹ Kästner, der bis in seine letzten Lebensjahre hinein³ politisch Stellung bezog, wendet sich die vorliegende Studie zu. Sie setzt es sich zum Ziel, seine Rolle als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg zu beleuchten und evident zu machen. In Anbetracht dieses Vorhabens ergeben sich zahlreiche Fragen: Wie gelang es Kästner, sich ab 1945 in die genannten Positionen des kulturellen Feldes zu begeben? Innerhalb welcher öffentlichen Diskussionen und Kontroversen meldete er sich zu Wort? Woran übte er zu welchen Zeitpunkten Kritik? Und wofür machte er sich im Gegensatz dazu stark? Welche Werte vertrat er? Welche Interventionsstrategien wendete er an? Und inwiefern entwickelten sich diese Strategien im Laufe der gut zweieinhalb Jahrzehnte, in denen er sich nach dem Ende der NS-Zeit öffentlich zu Wort meldete, weiter? Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung richtet sich außerdem darauf, dem Stellenwert der Kästner’schen Positionierungen innerhalb ihrer diskursiven Zusammenhänge nachzuspüren: Wie verhielten sich seine Ansichten in bestimmten Situationen zu denen seiner Mitbürger und zu denen der politischen Machthaber? Wie reagierte die Öffentlichkeit auf seine Stellungnahmen? Und warum ist er heute – im Gegensatz zu den anderen eingangs genannten Literaten – kaum mehr als Intellektueller präsent? Mit der Bearbeitung der genannten Fragen wird einem von der Forschung bislang noch unzureichend akzentuierten Aspekt des Kästner’schen Wirkens nachgegangen. Während über seine kinderliterarischen Publikationen und seine erste große Werkphase vor 1933 zahlreiche einschlägige Studien vorliegen,⁴ wurde sein Schaf-

3 Kästner verstarb 1974, war jedoch schon seit den frühen 1960er Jahren immer wieder stark gesundheitlich beeinträchtigt. In seinen letzten Lebensjahren zog er sich nach und nach aus der Öffentlichkeit zurück und meldete sich nur noch selten in politischen Fragen zu Wort. 4 Exemplarisch sei an dieser Stelle verwiesen auf die Monographien von Beutler, Kurt: Erich Kästner. Eine literaturpädagogische Untersuchung. Weinheim/München 1967; Haywood, Susanne: Kinderliteratur als Zeitdokument. Alltagsnormalität in der Weimarer Republik in Erich Kästners Kinderromanen. Frankfurt a. M. 1998; Walter, Dirk: Zeitkritik und Idyllensehnsucht. Erich Kästners Frühwerk (1928 – 1933) als Beispiel linksbürgerlicher Literatur in der Weimarer Republik. Heidelberg 1977 und Zonneveld, Johan: Erich Kästner als Rezensent 1923 – 1933. Frankfurt a. M. 1991.

1 Einleitung

5

fen nach dem Zweiten Weltkrieg – wie im Übrigen auch seine literarische Betätigung zwischen 1933 und 1945⁵ – bisher nur marginal beleuchtet. Zwar widmeten zahlreiche Biographen seinen Lebensstationen nach dem Ende des NS-Regimes einige Kapitel.⁶ Jedoch wurden, neben diversen Aufsätzen, die sich mit einzelnen Werken oder Facetten seiner literarischen wie journalistischen Tätigkeit ab 1945 beschäftigen,⁷ bislang nur zwei Monographien veröffentlicht, die sich explizit auf Kästners letzte Schaffensphase konzentrieren. Neben der pädagogischen Untersuchung Birgit Ebberts, die Kästner als Herausgeber des Pinguin im (Um‐)Erziehungsgefüge der Nachkriegszeit verortet,⁸ ist die bereits 1988 vorgelegte literaturwissenschaftliche Dissertation Nicola Leibinger-Kammüllers zu nennen, die sich mit Kästners ›Spätwerk‹ der Jahre 1945 bis 1967 beschäftigt.⁹ In ihrer Schlussbetrachtung hebt die Forscherin zwar hervor, dass der Schriftsteller nach Kriegsende »einen unverzichtbaren Beitrag zur freiheitlichen Neuorientierung des deutschen Volkes«¹⁰ geleistet habe. Worin genau dieser Beitrag bestand, wird allerdings nicht argumentativ belegt. Ein grundsätzliches Problem der in weiten Teilen deskriptiven Studie besteht darin, dass sich Leibinger-Kammüller fast ausschließlich auf die

5 Der Untersuchung der Kästner’schen Kinder- und Unterhaltungsromane dieser Jahre verschreibt sich die Monographie von Mank, Dieter: Erich Kästner im nationalsozialistischen Deutschland 1933 – 1945: Zeit ohne Werk? Frankfurt a. M. 1981. Mit den Theaterstücken, die der Schriftsteller in der NSZeit – wie man heute weiß – unter wechselnden Pseudonymen (mit)verfasste, befasst sich Neuhaus, Stefan: Das verschwiegene Werk. Erich Kästners Mitarbeit an Theaterstücken unter Pseudonym. Würzburg 2000. 6 Man denke beispielsweise an die mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Kästner-Biographie von Klaus Kordon und die allesamt rund um Kästners 100. Geburtstag erschienenen Biographien von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz, Sven Hanuschek sowie Isa Schikorsky. Siehe Kordon, Klaus: Die Zeit ist kaputt. Die Lebensgeschichte des Erich Kästner. Weinheim/Basel 1998; Görtz, Franz Josef und Hans Sarkowicz: Erich Kästner. Eine Biographie. München 1998; Hanuschek, Sven: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München 2003 [EA 1999] und Schikorsky, Isa: Erich Kästner. München 1998. 7 Erwähnt seien etwa folgende Beiträge aus dem von Manfred Wegner herausgegebenen Jubiläumsband: Barnouw, Dagmar: Erich Kästner und die Neue Zeitung. Inländische Differenzierungen. In: »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Hg. von Manfred Wegner. Berlin 1999, S. 143 – 162.; Hanuschek, Sven: »Eine Kreuzung aus Eier- und Schleiertanz«. Erich Kästner als Funktionär des PEN: 1946 – 1962. In: »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Hg. von Manfred Wegner. Berlin 1999, S. 182 – 192 und Wagner, Meike: Satire in Trümmern. Erich Kästner und die Schaubude. In: »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Hg. von Manfred Wegner. Berlin 1999, S. 153 – 162. 8 Siehe Ebbert, Birgit: Erziehung zu Menschlichkeit und Demokratie. Erich Kästner und seine Zeitschrift ›Pinguin‹ im Erziehungsgefüge der Nachkriegszeit. Frankfurt a. M. 1994. 9 Siehe Leibinger-Kammüller, Nicola: Aufbruch und Resignation. Erich Kästners Spätwerk 1945 – 1967. Zürich 1988. 10 Ebd., S. 148.

6

1 Einleitung

Betrachtung der literarischen Texte des Autors beschränkt. Seinen öffentlichen Ansprachen, Interviewäußerungen oder Teilnahmen an Demonstrationen und Mahnwachen wird keine, seinen journalistischen Arbeiten allenfalls eine beiläufige Beachtung zuteil.¹¹ Um ein umfassendes und differenziertes Gesamtbild von Kästners Wirken ab 1945 zu erhalten, ist es indes notwendig, sämtliche Äußerungsformen, derer er sich bediente, einzubeziehen. Die nachfolgende Untersuchung wird sich vor diesem Hintergrund nicht allein mit den literarischen und journalistischen Veröffentlichungen des Schriftstellers auseinandersetzen. Sie beleuchtet auch unveröffentlichte und von der Wissenschaft bislang außer Acht gelassene Typoskripte, Korrespondenzen und Dokumente aus seinem Nachlass.¹² Zudem geht sie auf seine Präsenz in den zeitgenössischen Medien der mittleren 1940er bis frühen 1970er Jahre ein. Nur auf der Grundlage eines solchen Blicks über die literarischen Publikationen des Autors hinaus können letztlich adäquate Aussagen über seine Rolle als Intellektueller getroffen werden. Dass Kästner diese Rolle nach dem Zweiten Weltkrieg einnahm, wurde in der Forschung freilich schon manches Mal – am nachdrücklichsten von Sven Hanuschek – behauptet.¹³ Eine systematische Analyse, die diese Behauptung belegt, liegt allerdings noch nicht vor. Diesem Desiderat will die vorliegende Studie nachkommen. Wichtige Ausgangspunkte dafür liefern, neben den Forschungsbeiträgen und der auf Basis des Kästner’schen Nachlasses verfassten Autoren-Biographie von Hanuschek, vor allem die Ausführungen Klaus Doderers. Dieser benannte in seinen

11 Zwar wird Kästners Position als Feuilletonredakteur der Neue[n] Zeitung in einem Kapitel der Studie thematisiert. Die politisch-kritischen Artikel, deren Stoßrichtungen Leibinger-Kammüller unter den Überschriften »Vergangenheitsbewältigung und Nachkriegsprobleme« (ebd., S. 42) sowie »Einsetzende Restauration« (ebd., S. 60) zusammenfasst, werden aber lediglich auf insgesamt kaum neun Seiten besprochen. 12 Kästners Nachlass wurde in großen Teilen im Jahr 1998 durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach erworben und ist seit seiner Erschließung öffentlich zugängig. Zuvor veröffentlichte Studien über den Autor konnten folglich auf zahlreiche Quellen, mit denen die vorliegende Untersuchung arbeitet, noch nicht zurückgreifen. Doch auch das Gros der jüngeren Forschungsbeiträge über Kästner verzichtete bislang weitgehend darauf, das umfangreiche Archivmaterial einzubeziehen. 13 Vgl. etwa Hanuschek (2003), S. 401 und Hanuschek, Sven: »Wie läßt sich Geist in Tat verwandeln?« Zu Erich Kästners Politikbegriff. In: Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Tagungsband. Hg. von Sebastian Schmideler. Marburg 2012 (Erich Kästner Studien, Bd. 1), S. 87– 99, hier S. 98. Während Hanuschek die oben genannte Zuschreibung im Zusammenhang mit Kästners Engagement innerhalb der sozialen Protestbewegungen der späten 1950er und 1960er Jahre macht, fällt sie in Gerhard Fischers Einleitung zum Kästner-Jahrbuch aus dem Jahr 2004 eher beiläufig. Vgl. Fischer, Gerhard: Einleitung. Kästner-Debatte oder Kästner-Diskurse? Zum Sydney German Studies Symposion 2002. In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 4. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 9 – 13, hier S. 10.

1 Einleitung

7

Publikationen mehrfach Kästners »politisches Engagement«¹⁴ nach dem Ende der NS-Diktatur und bezeichnete den Autor »als ›Schulmeister‹ eines republikanischen Bewusstseins«,¹⁵ der sich »wiederholt […] für die freie Meinungsäußerung, […] den friedvollen Diskurs […] und eine Gesellschaft ohne nationale Vorurteile«¹⁶ eingesetzt habe. Darüber hinaus thematisierte der Literaturwissenschaftler bereits den interdisziplinären Mehrwert, den eine kontextualisierende Auseinandersetzung mit dem politischen Eingreifen des Schriftstellers mit sich bringen könne. So hob er hervor, wie »außerordentlich interessant« es für »zeitgeschichtliche Studien über die Nachkriegsjahre [sein] dürfte, […] die vielen Kontroversen und Attacken genau nachzuzeichnen, auf die sich Kästner […] damals einließ.«¹⁷ Anders als Doderer spricht Andreas Drouve Kästner den Status eines »politischen Autor[s]« und »konstruktive[n] Zeitkritikers« in seiner werkphasenübergreifenden Dissertation rigoros ab.¹⁸ Nach eigener Angabe intendiert der Verfasser, einem ideologiekritischen Ansatz folgend, die Texte Kästners an dessen selbst erhobenen moralischen Ansprüchen zu messen.¹⁹ Wie bereits Remo Hug konstatierte, kommt seine Publikation jedoch einer »polemische[n] Pauschalverurteilung« des Schriftstellers gleich, »die den grundlegendsten literaturwissenschaftlichen Gepflogenheiten nicht genügt.«²⁰ Neben Drouves moralisierendem Gestus und seiner Tendenz, Kästner’sche Zitate zur Untermauerung seiner Thesen – oftmals sinnentstellend – aus ihren textinternen Zusammenhängen zu entkoppeln,²¹ weist seine Studie noch eine andere Schwäche auf, die auch Leibinger-Kammüllers Arbeit inhärent ist: Sie betrachtet die politischen Stellungnahmen des Autors weitgehend losgelöst von ihren historischen und diskursiven Kontexten. Die Frage, inwiefern seine Positionierungen verglichen mit gesellschaftlich vorherrschenden Denk- und Wahrnehmungsweisen in spezifischen Situationen symptomatisch oder innovativ waren, wird so konsequent übergangen. Gerade weil die nachfolgende Untersuchung jene Kontexte dezidiert einbeziehen wird, kann sie nicht nur neue Erkenntnisse für die Kästner-Forschung of-

14 Siehe Doderer, Klaus: Erich Kästner. Lebensphasen – politisches Engagement – literarisches Wirken. Weinheim/München 2002. 15 Doderer, Klaus: Erich Kästners »Silberne Zeit«. In: Erich Kästner Jahrbuch 1999. Hg. von Klaus Doderer und Volker Ladenthin. Eitorf 2000, S. 141 – 160 hier S. 142. 16 Doderer (2002), S. 123. 17 Doderer (2000), S. 149. 18 Drouve, Andreas: Erich Kästner: Moralist mit doppeltem Boden. Marburg 1993, S. 248. 19 Vgl. ebd., S. 15. 20 Hug, Remo: Gedichte zum Gebrauch. Die Lyrik Erich Kästners: Besichtigung, Beschreibung, Bewertung. Würzburg 2006, S. 15. 21 Diese Problematik wird in den Kapiteln 4.2.4 und 4.2.5 dieser Studie anhand spezifischer Beispiele noch konkreter verdeutlicht.

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1 Einleitung

ferieren. Sie soll zugleich einen Beitrag zur Forschung über das literarische Feld der unmittelbaren Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik leisten und die Perspektive auf die (bundes)deutsche Intellektuellengeschichte dieser Ära erweitern. Da sie exemplarisch auch unmittelbare Reaktionen auf Kästners Zeitdiagnosen und politische Interventionen (die sich etwa in Pressebeiträgen und Leserbriefen an den Autor manifestierten) einbezieht, wird sie zudem Rückschlüsse auf die Wahrnehmungs-, Denk- und Argumentationsstrukturen zulassen, die in der (west‐) deutschen²² Nachkriegsgesellschaft verbreitet waren. Damit die Untersuchung zu adäquaten und differenzierungsfähigen Ergebnissen gelangen kann, ist es unerlässlich, einen analytischen Bezugsrahmen festzulegen, der dieser interdisziplinären Ausrichtung gerecht wird. So gilt es zunächst, den Intellektuellen-Begriff näher zu bestimmen, von dem ausgegangen wird. Zwischen »Intelligenz« und »Intellektuellen« unterscheidend, erfasst diese Studie den Intellektuellenbegriff nicht als sozioprofessionelle Kategorie, sondern als Rolle, die, zumeist von Mitgliedern der Intelligenz, für einen gewissen Zeitraum eingenommen wird.²³ Darin folgt sie zentralen Erkenntnissen der deutschen wie französischen Intellektuellensoziologie. Eine maßgebliche Folie für die Betrachtung der Intellektuellenrolle Kästners bietet das Profil des ›allgemeinen‹ Intellektuellen, das etwa Joseph A. Schumpeter, M. Rainer Lepsius, Jürgen Habermas und Jean-Paul Sartre durch ihre Definitionsversuche generieren.²⁴ Sie alle beschreiben einen Intellektuellen-Typus, der bei seinen politischen Interventionen als Vertreter universeller Werte auftritt und sich (wie die empörten Reisenden in Kästners eingangs zitierter Glosse)²⁵ außerhalb seiner eigentlichen Profession äußert. In die Untersuchung werden jedoch auch die Intellektuellenprofile einbezogen, die Michel Foucault und Pierre Bourdieu in Abgrenzung dazu entwerfen: Während Foucault einen ›spezifischen‹ Intellektuellen definiert, der als ›Experte‹ auftritt und zu Problemfällen Stellung bezieht, bei denen er seine originäre berufliche Kompetenz

22 Auf der Bundesrepublik liegt zumindest für den Zeitraum ab 1949 der primäre Fokus der Untersuchung; im Rahmen der Betrachtung ausgewählter Diskurse wird jedoch vergleichend auch auf Reaktionen aus der DDR eingegangen. 23 Vgl. zu dieser Differenzierung auch Gilcher-Holtey, Ingrid: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Weilerswist 2007, S. 9. 24 Siehe etwa die Beiträge von Schumpeter, Joseph A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Bern 1950; Lepsius, M. Rainer: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen 1990, S. 270 – 285.; Sartre, Jean-Paul: Der Intellektuelle und die Revolution. Neuwied/Berlin 1971 und Habermas, Jürgen: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas. In: ders.: Kleine politische Schriften XI. Frankfurt a. M. 2008, S. 77– 95. 25 Vgl. den Prolog dieser Studie.

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einbringen kann,²⁶ lanciert Bourdieu einen Intellektuellen-Typus, der gezielt als Vertreter seines eigenen kulturellen Produktionsfeldes agiert, dessen Autonomie er unter Berufung auf universelle Werte verteidigt.²⁷ Gemein ist diesen drei prominenten Definitionsversuchen die Annahme, dass die Reichweite und die Erfolgschancen der Intervention eines Intellektuellen maßgeblich von dem Ansehen abhängen, das er innerhalb seiner eigentlichen Profession gewonnen hat. Dieser Prämisse folgend, wird die vorliegende Studie sich nicht allein auf die Untersuchung der politischen Positionierungen Kästners beschränken, sondern auch seine Stellung im Kulturbetrieb der Nachkriegszeit in den Blick nehmen. Die theoretische Grundlage für letzteres Vorhaben schaffen Bourdieus Ausführungen über die Strukturprinzipien und Dynamiken gesellschaftlicher Handlungsbereiche respektive Felder.²⁸ Sie ermöglichen es, Kästners Nachkriegskarriere in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu erfassen, so dass herausgestellt werden kann, warum der Schriftsteller die von ihm eingenommenen Positionen im kulturellen Feld ab 1945 besetzen konnte und wie er in ihnen agierte, um sein öffentliches Ansehen zu erhöhen. Für die Untersuchung der politischen Stellungnahmen, die Kästner auf Basis dieses Ansehens verlautbaren konnte, gibt indes die Historische Diskursanalyse entscheidende methodische Impulse. Gestützt auf die Erkenntnisse Foucaults²⁹ erlaubt sie es nicht nur, verschiedenste schriftliche, mündliche und symbolische Aussagen des Autors gleichberechtigt heranziehen und untersuchen zu können. Sie ist zudem konstitutiv darauf ausgerichtet, die historischen wie diskursiven Kontexte der Aussagen miteinzubeziehen. Ihre Anwendung ermöglicht es folglich auch, aufzuzeigen, inwiefern Kästners politische Positionierungen charakteristisch oder ungewöhnlich für ihre Zeit waren. Einer vertiefenden Darlegung der soeben benannten theoretisch-methodischen Grundlagen, die den analytischen Bezugsrahmen der Untersuchung bilden, widmet sich das nachfolgende Kapitel dieser Studie. Daraufhin soll in Kapitel 3 Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg rekonstruiert werden. Um die Voraussetzungen für seine Nachkriegskarriere zu klären, werden darin zunächst die (kultur)politischen Maßnahmen der Alliierten und die berufli-

26 Vgl. dazu etwa Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 44 – 47. 27 Vgl. dazu etwa Bourdieu, Pierre: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Berlin 1989, S. 22 sowie Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg 1995, S. 138. 28 Siehe etwa Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999. 29 Siehe etwa Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981.

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che Laufbahn des Schriftstellers vor 1945 skizziert (Kap. 3.1). Auf Basis der dabei gewonnenen Erkenntnisse gilt es im Anschluss, die unterschiedlichen Positionen zu beleuchten, die Kästner im kulturellen Feld der unmittelbaren Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik einnahm (Kap. 3.2). Betrachtet werden in diesem Zuge seine Stellungen als Journalist, als Kabarett-, Kinderbuch- und Drehbuchautor sowie seine Publikationen für Erwachsene und seine Rolle als Präsident des (west)deutschen PEN-Zentrums. Wie Kästner das Prestige, das er in diesen Tätigkeitsbereichen gewinnen konnte, nutzte, um sich politisch zu positionieren, wird in Kapitel 4 aufgezeigt. Es legt den Fokus auf drei Diskurse, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaftszeit präsent wurden und die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich prägten. So untersucht es nacheinander die Kästner’schen Stellungnahmen zur deutschen Schuldfrage (Kap. 4.1), zu personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes (Kap. 4.2) und zur Bewahrung des Friedens (Kap. 4.3). Dabei berücksichtigt es stets die politischen wie gesellschaftlichen Denk- und Argumentationsweisen mit, die für die jeweiligen Diskurse in bestimmten historischen Phasen konstitutiv waren, und gleicht sie mit denen des Schriftstellers ab. Der Untersuchungszeitraum, der in den genannten Unterkapiteln überblickt wird, orientiert sich an den Positionierungen Kästners: Während seine Auseinandersetzung mit der Schuldfrage sich primär in den unmittelbaren Nachkriegsjahren vollzog, griff er seine nicht minder früh geäußerte Kritik an den personellen und ideologischen ›Hinterlassenschaften‹ der NSZeit bis in die frühen 1970er Jahre hinein immer wieder auf. Seine Ablehnung des Krieges und jeglicher Form des Militarismus, die er bereits vor 1933 in zahlreichen literarischen Texten zum Ausdruck gebracht hatte, setzte sich in seinen öffentlichen Stellungnahmen ab 1945 ebenfalls bis in seine letzten Lebensjahre hinein fort. Was sich realiter zeitlich überlagerte und um der Analyse willen zunächst getrennt wird, soll schließlich in Kapitel 5 wieder zusammengefügt werden: Hier liegt das Augenmerk darauf, die zentralen Erkenntnisse, die in den einzelnen Untersuchungsschritten über Kästners Nachkriegskarriere und seine politischen Positionierungen als Intellektueller gewonnen werden konnten, zu bündeln und nach thematischen wie chronologischen Gesichtspunkten zu rekapitulieren.

2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs Bevor die Untersuchung sich der Betrachtung des Kästner’schen Wirkens ab 1945 zuwenden kann, gilt es, den analytischen Bezugsrahmen vertiefend zu beleuchten, mit dem sie operiert. So wird im Folgenden als Erstes näher bestimmt, worüber in den späteren Kapiteln gesprochen wird, wenn von einem Intellektuellen die Rede ist. Um Kästners politische Positionierungen vor dem Hintergrund seiner Positionen im kulturellen Feld der Nachkriegszeit und unter konsequenter Einbindung ihrer diskursiven Kontexte beleuchten zu können, werden hiernach die beiden weiteren zentralen theoretischen respektive methodischen Bezugspunkte dargelegt: die Feldtheorie Bourdieus und die auf den Diskurstheorien Foucaults basierende Historische Diskursanalyse. In ihrem Zusammenspiel sollen die interdisziplinären Annahmen über den Intellektuellen, das Feld und den Diskurs, die nachfolgend rekapituliert werden, es ermöglichen, zu umfassenden Erkenntnissen über Kästners Intellektuellenrolle ab 1945 zu gelangen.

2.1 Zum Begriff des Intellektuellen Gemäß dem Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung ist es notwendig, zunächst die Begriffsbestimmungen des Intellektuellen einzugrenzen, von denen im Weiteren ausgegangen wird – eine einheitliche und ultimativ gültige Definition des Begriffs hat es nämlich zu keinem historischen Zeitpunkt gegeben.¹ Seit der Ausdruck am Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit der Intervention Émile Zolas in der so genannten Dreyfus-Affäre² weltweit verbreitet wurde, zeichnen Kontroversen darüber, wer ein ›wahrer‹ Intellektueller ist, die Geschichte der Intellektuellen wie

1 Vgl. Schlich, Jutta: Geschichte(n) des Begriffs ›Intellektuelle‹. In: Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Hg. von Jutta Schlich. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 11. Tübingen 2000, S. 1 – 114, hier S. 5 f.; vgl. dazu auch Gilcher-Holtey (2007), S. 10. 2 Der jüdische Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus (1859 – 1935) wurde 1894 in Paris wegen angeblichen Landesverrates verurteilt; allerdings basierte dieses Urteil auf einem Justizirrtum. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens setzten sich für Dreyfus ein und versuchten, einen Freispruch zu erwirken, wurden jedoch von monarchistischen und antisemitischen Zeitungen und Politikern erbittert bekämpft. Der Begriff des Intellektuellen wurde ursprünglich von ebendiesen Gegnern der in der Affäre engagierten Künstler, Wissenschaftler und Literaten als Beleidigung gebraucht. Schließlich nahmen ihn die Beschimpften jedoch selbst auf und besetzten ihn positiv um. Vgl. Gilcher-Holtey (2007), S. 11. https://doi.org/10.1515/9783111112169-004

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

auch die Begriffsgeschichte aus. Diese Kontroversen waren und sind stets eng mit den jeweils vorherrschenden politischen Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Strukturen verknüpft. Weil es in der Regel Intellektuelle sind, die versuchen, Intellektuelle zu definieren, kommen diese Definitionen in gewissem Maße immer auch dem Versuch von Selbstdarstellungen und -entwürfen gleich.³ Vor diesem Hintergrund wurde der Begriff im Laufe der Zeit auf verschiedene Weisen situationsspezifisch entfaltet. Der Intellektuelle ist also vor allem eins: ein diskursives Phänomen.⁴ Im Folgenden werden drei zum Teil konkurrierende Definitionsversuche vorgestellt, die in der heutigen Intellektuellenforschung präsent sind. Diese Profile sollen im weiteren Verlauf der Untersuchung allerdings nicht als starre Konstrukte verstanden werden, von denen ein und derselbe Intellektuelle nur eines verkörpern kann. Vielmehr werden die unterschiedlichen Ansätze als zugespitzte Idealvorstellungen begriffen: Sie beschreiben Rollen, die bestimmte Personen innerhalb von bestimmten Situationen beziehungsweise gesellschaftlichen oder politischen Diskursen für einen gewissen Zeitraum einnehmen können. Bei der späteren Betrachtung von Kästners politischen Positionierungen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und der jungen Bundesrepublik werden sehr verschiedene politische, gesellschaftliche und kulturelle Ausgangssituationen und Problemlagen zum Tragen kommen, so dass im Rahmen der Untersuchung der jeweiligen Diskurse festgestellt werden muss, ob und inwiefern – das heißt also auch: unter welchen definitorischen Prämissen – Kästner als Intellektueller agierte, sprich: welche Rolle(n) er einnahm. Im Weiteren soll nun zunächst auf den ›allgemeinen‹ oder auch ›universellen‹ Intellektuellen eingegangen werden, wie er in der deutschen und französischen Kultursoziologie und Philosophie etwa von Joseph A. Schumpeter, M. Rainer Lepsius, Jürgen Habermas und Jean-Paul Sartre beschrieben wurde. Darauf folgen eine Skizze des ›spezifischen Intellektuellen‹ im Sinne Michel Foucaults und des von Pierre Bourdieu definierten Intellektuellen, der als Vertreter seines kulturellen Produktionsfeldes agiert.⁵ In Abgrenzung zu diesen Profilen soll danach das nicht

3 Vgl. Jäger (2000), S. 2. 4 Vgl. ebd., S. 1. 5 Eine weitere prominente Bestimmung des Intellektuellen wird in dieser Studie nicht vertiefend behandelt, da sich ihre Anwendung auf Kästner als weniger erkenntnisfördernd erweist, als es die im Folgenden nachgezeichneten Ansätze tun. Die Rede ist vom ›öffentlichen‹ Intellektuellen, der qua seiner Definition durch Ralf Dahrendorf nicht für eine Sache Partei ergreift, sondern stets ein ›engagierter Beobachter‹ bleibt, der mit aus unterschiedlichen Werten entstehenden Widersprüchen und gesellschaftlicher Stimmenvielfalt zu leben weiß. (Vgl. Dahrendorf, Ralf:Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. 2. Auflage. München 2006, S. 68 – 71 u. 86; vgl.

2.1 Zum Begriff des Intellektuellen

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unproblematische, jedoch in zahlreichen Definitionsansätzen auftretende Bild des Intellektuellen als ›Moralist‹ und ›Gewissen der Nation‹ thematisiert werden. Im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum dieser Studie werden die vorgestellten Rollenzuschreibungen abschließend, in Anlehnung an Dietz Bering, durch eine Rekapitulation des Umgangs mit dem Begriff des Intellektuellen nach 1945 ergänzt.

2.1.1 Der ›allgemeine‹ Intellektuelle als Vertreter universeller Werte Sämtlichen Ansätzen, die den ›allgemeinen‹ oder auch ›universellen‹ Intellektuellen beschreiben,⁶ ist die Erkenntnis gemein, dass sich Intellektuelle weder über ihre soziale Herkunft, noch über ihren Besitz oder ihre berufliche Zugehörigkeit eindeutig bestimmen lassen. Ebenso wenig kann man sie aber im Sinne Alfred Webers oder Karl Mannheims als ›relativ klassenlose Schicht‹ charakterisieren, die ›sozial freischwebend‹ agiert.⁷ Zwar bilden sie mit Schumpeters Worten nicht einfach »die Gesamtsumme aller Menschen, die eine höhere Bildung genossen haben«, doch »ist jeder, der sie genossen hat – und abgesehen von Ausnahmefällen niemand, der sie nicht genossen hat – ein potentieller Intellektueller.«⁸ Folglich sind es in der Regel Intelligenzberufe, aus denen sich Intellektuelle rekrutieren.⁹ Da ihr ›Handeln‹ in erster Linie in der Hauptbetätigung des Redens und Schreibens besteht,¹⁰ sie also gleichsam »die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes handhaben«,¹¹ zeichnen sich ihre Beiträge für gewöhnlich »durch ein hohes Niveau der Argu-

dazu auch Gilcher-Holtey, Ingrid: Prolog. In: Eingreifende Denkerinnen. Weibliche Intellektuelle im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. von Ingrid Gilcher-Holtey. Tübingen 2015, S. 1 – 16, hier S. 6 f.) Obgleich Dahrendorf den besagten Intellektuellen-Typus explizit in Deutschland verortet, ist es problematisch, zentrale der von ihm geltend gemachten Merkmale auf Kästner zu beziehen: Wie im Laufe der Untersuchung verdeutlicht wird, war dieser vor dem Hintergrund seines Verbleibs im nationalsozialistisch regierten Deutschland persönlich respektive biographisch viel zu sehr in die in dieser Studie untersuchten Diskurse der Nachkriegszeit involviert, um von einem neutralen Beobachtungsstandpunkt aus sprechen zu können. 6 Diese beiden Begriffe werden, so Gilcher-Holtey (2015, S. 3), »in der Intellektuellensoziologie zur Kennzeichnung des klassischen Typus des Intellektuellen in der Tradition von Voltaire verwandt.« In der vorliegenden Studie werden sie synonym gebraucht. 7 Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen von Lepsius (1990), S. 272 f. Vgl. auch Jäger (2000), S. 3 f. sowie Carrier, Martin: Engagement und Expertise: Die Intellektuellen im Umbruch. In: Wandel oder Niedergang? Die Rolle des Intellektuellen in der Wissensgesellschaft. Hg. von Martin Carrier und Johannes Roggenhofer. Bielefeld 2007, S. 13 – 32, hier S. 23. 8 Schumpeter (1950), S. 236. 9 Vgl. Lepsius (1990), S. 283. 10 Vgl. Sartre (1971), S. 5. 11 Schumpeter (1950), S. 237.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

mentation und Begründung oder durch rhetorische Brillanz«¹² aus. Klassischerweise sind es Schriftsteller, Publizisten, Journalisten oder Philosophen, die den allgemeinen Intellektuellen repräsentieren und an denen sich der historische Diskurs um den Begriff ausrichtete. Als ›Prototypen‹ gelten dabei, beginnend mit Voltaire, die Literaten und Philosophen der Aufklärung.¹³ Tatsächlich zum Intellektuellen wird ein potentieller Intellektueller allerdings erst dann, wenn er sich in einer Angelegenheit von öffentlicher Bedeutung zu Wort meldet, sich in (gesellschafts)politische Prozesse einmischt, auf Missstände im Gemeinwesen aufmerksam macht, Kritik übt und Verhaltensalternativen aufzeigt. Wie Habermas betont, geschieht dies häufig zu einem Zeitpunkt kritischer Entwicklungen, an dem »andere noch beim business as usual sind.«¹⁴ Bei seinen Interventionen bedient sich der allgemeine Intellektuelle, um Öffentlichkeit herzustellen, der Medien und setzt dabei typischerweise Mittel wie offene Briefe, Appelle, Erklärungen oder Resolutionen ein.¹⁵ Ein weiteres entscheidendes Definitionskriterium besteht darin, dass seine Ansprüche überpersönlicher Art sind. Obgleich er in den jeweiligen Debatten Partei für etwas ergreift, sind seine Beiträge nicht parteigebunden oder ausschließlich in spezifischen Einzelinteressen begründet.¹⁶ Stattdessen bringt der allgemeine Intellektuelle seine Argumente stets unter Berufung auf abstrakte universelle Werte wie Wahrheit, Vernunft, Gerechtigkeit oder auf die republikanischen Grundwerte vor.¹⁷ Somit stellt er aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse und Situationen in den Horizont übergreifender Normen und beurteilt »das Besondere immer in Bezug zum Allgemeinen«.¹⁸ Seine Autorität rekurriert dabei nicht etwa auf eine politische Machtposition, sondern auf das Ansehen und Prestige, das er innerhalb seiner eigentlichen Profession – etwa als Journalist oder Schriftsteller – gewonnen hat. Die ihm zuerkannte Kompetenz in seinem Beruf und seinen Ruhm nutzt der Intellektuelle gezielt, um die Öffentlichkeit oder politische Machthaber zu beeinflussen.¹⁹

12 Carrier (2007), S. 24. 13 Vgl. Jäger (2000), S. 13 und Carrier (2007), S. 17. 14 Habermas (2008), S. 84. Soweit nicht anders angegeben, werden in der vorliegenden Studie Kursivschreibungen sowie Majuskeln aus dem Original übernommen. 15 Vgl. Jäger (2000), S. 15. 16 Vgl. Carrier (2007), S. 23. 17 Vgl. dazu Habermas (2008), S. 80, Sartre (1971), S. 15, Carrier (2007), S. 14, Jäger (2000), S. 15 sowie Sartre, Jean-Paul: Plädoyer für die Intellektuellen. In: ders.: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Briefe 1950 – 1973. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 90 – 148, hier S. 91 und Gilcher-Holtey, Ingrid: Prolog. In: Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Hg. von Ingrid Gilcher-Holtey. Berlin 2006, S. 9 – 21, hier S. 10. 18 Sartre (1971), S. 17. 19 Vgl. dazu Sartre (1995), S. 92.

2.1 Zum Begriff des Intellektuellen

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Im Gegensatz zu einem Experten, der insofern ›kompetente‹ Kritik übt, als er sich als Angehöriger einer Profession im Rahmen ebendieser Profession äußert, redet oder schreibt der allgemeine Intellektuelle folglich über Dinge, die sich seiner originären beruflichen Zuständigkeit entziehen: Er kümmert sich, wie Sartre es lakonisch auf den Punkt bringt, »um Dinge […], die ihn nichts angehen.«²⁰ Aus diesem Grund haben seine Äußerungen weder per se den Anspruch auf fachliche Geltung, noch trägt er die direkte Verantwortlichkeit für die praktische Umsetzung seiner Vorschläge. Seine kritischen Interventionen sind also nicht sozial definiert und geschützt, sondern, so Lepsius, »formal […] inkompetent«.²¹ Auch wenn dies keinesfalls heißen muss, dass sie keine Gültigkeit haben oder nicht legitim sind, befindet sich der allgemeine Intellektuelle in einer prekären Stellung, denn seine Kritik steht im »dauernden Kampf um ihre Legitimität«.²² Ob seine Äußerungen letztlich als legitim bewertet werden und es ihm gelingt, tatsächlichen Einfluss auf eine politische oder gesellschaftliche Situation auszuüben, hängt maßgeblich davon ab, »inwieweit in einer Gesellschaft über bestimmte allgemeine Werte Konsens besteht.«²³ Entscheidend für die Frage, ob jemand als Intellektueller betrachtet werden kann oder nicht, ist allerdings nicht das bloße Resultat seiner Interventionen, das stark variieren kann.²⁴ Vielmehr geht es um seine öffentlich preisgegebene kritische Haltung als solche: Laut Schumpeter liegen die größten Erfolgschancen des Intellektuellen in seinem Wert als »Störungsfaktor«,²⁵ der den üblichen Ablauf der Dinge durchbricht.

2.1.2 Der ›spezifische‹ Intellektuelle als Experte Mit dem ›spezifischen‹ Intellektuellen²⁶ entwirft Foucault in den 1970er Jahren ein klares Gegenkonzept zum Intellektuellen als Vertreter universeller Werte. Während für jene, die den allgemeinen Intellektuellen definieren, die Genealogie der Intellektuellen in ihrer Grundkonstellation mit der Dreyfus-Affäre abgeschlossen ist, d. h. alle als wesentlich erachteten Momente intellektuellen Eingreifens bereits in den Interventionen Zolas im neunzehnten Jahrhundert gesehen werden,²⁷ be-

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Sartre (1995), S. 91. Lepsius (1990), S. 282. Ebd. Ebd. Vgl. Schumpeter (1950), S. 249. Ebd. S. 237. Vgl. Foucault (1978), S. 45. Vgl. Schwingel (1995), S. 135.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

obachtet Foucault explizit die Entwicklung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein neuer Intellektuellentypus herausgebildet hat, der sich vom klassischen Bild des Intellektuellen maßgeblich dadurch unterscheidet, dass er auf dessen universellen Anspruch verzichtet. So ergreift der ›neue‹, spezifische Intellektuelle, den Foucault nach 1945 etwa in der Person des Atomphysikers Robert Oppenheimer ausmacht,²⁸ nicht mehr als »Träger der Wahrheit und Gerechtigkeit« das Wort; er verkauft sich weder als »Repräsentant der Allgemeinheit« noch als »das Bewusstsein aller«.²⁹ Stattdessen reiht er sich in die Tradition des Wissenschaftlers als Experten ein.³⁰ Dies impliziert, dass der spezifische Intellektuelle seine politischen Ambitionen auf jene Problemfälle beschränkt, bei denen er seine originäre berufliche Kompetenz einbringen kann.³¹ Seine Arbeit ist laut Foucault folglich »nicht mehr im ›Allgemeinen‹ und ›Exemplarischen‹, in dem, was für alle ›wahr‹ und ›gerecht‹ ist, anzusiedeln, sondern in bestimmten Bereichen und an spezifischen Punkten, kurz dort, wo [seine] Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen sind.«³² Somit sind die Kämpfe des spezifischen Intellektuellen lokal und umständebedingt und seine Forderungen oft sektorenbezogen;³³ er erhebt nicht den Anspruch, aus einer distanzierten Position heraus Kritik zu üben, sondern versucht »dort gegen Formen einer Macht zu kämpfen, wo er zugleich Gegenstand und Instrument dieser Macht ist: in der Ordnung des ,Wissens‹, des ›Bewusstseins‹ und des ›Diskurses‹.«³⁴ Die Probleme, die er anspricht, unterscheiden sich zwar häufig von denen der Masse, sind aber insofern ›wirklichkeitsnah‹, als sie sich gegen dieselben Gegner wie die des Proletariats wenden.³⁵ Anders als der allgemeine Intellektuelle

28 Oppenheimer (1904 – 1967) warnte nach dem Zweiten Weltkrieg vehement vor der atomaren Bedrohung der Menschheit. Laut Foucault war dies »das erste Mal […], daß der Intellektuelle nicht wegen des allgemeinen Diskurses, den er hielt, von der politischen Macht verfolgt wurde, sondern wegen seines speziellen Wissens, dessen Träger er war.« Foucault (1978), S. 46 f. 29 Ebd., S. 44. 30 Vgl. ebd., S. 47 sowie Gilcher-Holtey (2006), S. 12. Jenen Wandel hin zum ›Experten‹-Intellektuellen sieht auch Carrier; dieser betont aber, dass der universelle Intellektuelle nicht vollständig vom Experten abgelöst worden sei, sondern nichtsdestotrotz seinen Platz in der Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts behalten habe. Vgl. Carrier (2007), S. 20. 31 Vgl. Schwingel (1995), S. 135. 32 Foucault (1978), S. 44. 33 Vgl. Foucault (1978), S. 88 und Gilcher-Holtey (2007), S. 14. 34 Foucault, Michel: Die Intellektuellen und die Macht. In: ders.: Schriften. Bd. 2: 1970 – 1975. Hg. von Daniel Defert. Frankfurt a. M. 2002, S. 382 – 393, hier S. 384. Auf den Foucault’schen Diskursbegriff wird Kapitel 2.3 dieser Untersuchung noch ausführlich eingehen. 35 Vgl. Foucault (1978), S. 47.

2.1 Zum Begriff des Intellektuellen

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versucht der spezifische Intellektuelle nicht, der Gesellschaft etwas aufzuzeigen, was ihr nicht bewusst war, oder in ihrem Namen das Wort zu ergreifen: Foucaults Idealvorstellung zufolge macht der Intellektuelle stattdessen Unsagbares sagbar³⁶ und mischt sich ein, um andere »zum Sprechen, zur Ergreifung des Wortes anzuregen«.³⁷ Die »Gestalt, in der sich die Funktion und das Prestige dieses neuen Intellektuellen konzentrieren«, ist für Foucault »nicht mehr der ›geniale Schriftsteller‹, sondern der ›absolute Wissenschaftler‹.«³⁸ Doch obgleich er Literaten nicht mehr als »das aktive Zentrum«³⁹ des Intellektuellendiskurses nach dem Zweiten Weltkrieg begreift, sondern in erster Linie an Naturwissenschaftler, Soziologen und Juristen denkt,⁴⁰ ist das von ihm beschriebene Rollenprofil für die vorliegende Untersuchung nicht unerheblich. So wird im späteren Verlauf der Studie etwa zu überprüfen sein, ob und, wenn ja, inwiefern sich Kästner im Zuge seiner politischen Positionierungen auf ›spezifische‹ Intellektuelle und deren Fachwissen berief.

2.1.3 Der Intellektuelle als Vertreter seines kulturellen Produktionsfeldes Der von Bourdieu definierte Intellektuelle lässt sich seiner Rolle, Aufgabe und Funktion nach weder dem Typus des allgemeinen noch dem des spezifischen Intellektuellen eindeutig zuordnen. Wie sich mit Markus Schwingel resümieren lässt, zieht der französische Soziologe auf konzeptioneller Ebene vielmehr eine Synthese aus den beiden zuvor skizzierten Intellektuellentypen, »indem er Universalität der ethisch-politischen Ansprüche mit spezifischer Kompetenz zusammenzubringen versucht.«⁴¹ Die Basis für Bourdieus Intellektuellenforschung bilden seine Erkenntnisse über die Entstehung und Struktur der kulturellen Produktionsfelder,⁴² die er mit der Ausbildung der Rolle des Intellektuellen unmittelbar verknüpft sieht. Ihm zufolge ist der Intellektuelle auf dreifache Weise gesellschaftlich situiert: innerhalb des Raumes der sozialen Klassen, innerhalb der Felder kultureller Produktion und innerhalb des Feldes der politischen Auseinandersetzungen.⁴³ Im

36 Vgl. Foucault (2002), S. 390. 37 Gilcher-Holtey (2006), S. 13. 38 Foucault (1978), S. 49. 39 Ebd., S. 46. 40 Vgl. Foucault (1978), S. 45, vgl. dazu auch Schwingel (1995), S. 135. 41 Schwingel (1995), S. 136. 42 Einer näheren Betrachtung dieser Bourdieu’schen Erkenntnisse widmet sich das nachfolgende Kapitel dieser Untersuchung. 43 Vgl. ebd., S. 141.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

Raum der sozialen Klassen sieht Bourdieu Intellektuelle zwar als Zugehörige der herrschenden Klasse an, betont jedoch, dass sie »Herrschende in beherrschter Stellung«⁴⁴ sind. Sie verfügen über kulturelles und symbolisches Kapital, werden aber von den über ökonomisches Kapital verfügenden Besitzklassen dominiert und stehen mit ihnen im ständigen Kampf »um die Durchsetzung der spezifischen Machtformen.«⁴⁵ In den Auseinandersetzungen zwischen den gesellschaftlichen Machtfeldern stellt der Intellektuelle mit Bourdieus Worten ein »bi-dimensionales Wesen«⁴⁶ dar; er erfüllt zwei Voraussetzungen: Zum einen muss er Teil eines autonomen, »d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen […] Mächten unabhängigen«⁴⁷ kulturellen Produktionsfeldes sein, dessen spezifische Gesetzmäßigkeiten er akzeptiert. Auf der Kompetenz, die er in diesem ihm eigenen Tätigkeitsfeld errungen hat, basiert seine spezifische Autorität.⁴⁸ Doch erst, »wenn (und nur wenn)« er »diese spezifische Autorität in politischen Auseinandersetzungen geltend mach[t]«,⁴⁹ wird er tatsächlich zum Intellektuellen. Die Interessen, die Intellektuelle in einem solchen Moment des Eingreifens verfolgen, sind Bourdieus Ansatz nach eng mit ihrer Stellung in ihrem jeweiligen kulturellen Produktionsfeld verbunden, denn die Leitideen ihres politischen Engagements »sind als ideale Normen dem Feld der kulturellen Produktion […] inhärent.«⁵⁰ So liegt ein vorrangiges Ziel intellektueller Interventionen darin, die Autonomie der kulturellen Felder zu bewahren und zu verteidigen, sofern diese durch äußere (politische, kirchliche oder wirtschaftliche) oder innere (feldinterne) Kräfte bedroht wird. Gerade die Autonomie stellt nämlich »eine unabdingbare Voraussetzung […] für alle weiteren, über die Verteidigung der Autonomie hinausgehenden politischen Aktionen der Intellektuellen auf nationaler wie auf internationaler Ebene dar.«⁵¹ Greift der Intellektuelle, gestützt durch die Position in seinem kulturellen Produktionsfeld, in das politische Feld ein, tut er dies laut Bourdieu also »nicht nach Art des Politikers […], sondern eben als Intellektueller, mit intellektueller Autorität«, die er »zum Teil der Tatsache verdankt, daß er nicht Politik treibt, sondern […] transzendente Werte hat […]. Er wird zum Anwalt des Allgemeinen.«⁵² Trotz der engen Bindung an die eigenen kulturellen Produktions-

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Bourdieu (1989), S. 31. Ebd., S. 30. Bourdieu, Pierre: Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg 1991, S. 42. Ebd. Vgl. ebd., S. 18. Bourdieu (1999), S. 524. Gilcher-Holtey (2007), S. 12. Schwingel (1995), S. 138. Bourdieu (1989), S. 22.

2.1 Zum Begriff des Intellektuellen

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felder, die der Soziologe den Intellektuellen zuschreibt, hält er also an ihrem politisch-moralischen Universalanspruch fest.⁵³ Unter diesen Voraussetzungen wird der Intellektuelle gleichsam zur »Form der Gesellschaftskritik«⁵⁴. Steigern kann er seine Wirkungsmacht, indem er als »kollektiver Intellektueller« agiert, der sich bei seinen Interventionen mit anderen Intellektuellen seines eigenen Feldes oder anderer Felder vernetzt.⁵⁵ Jene Wirkungsmacht ist – versteht man Politik im Sinne Bourdieus als einen Kampf um Leitideen⁵⁶ – vorrangig als symbolische Macht anzusehen: Intellektuelle versuchen mit ihren Äußerungen eine Herrschaft über »die Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien von Welt« zu erlangen, über »die Definition dessen, was wesentlich und was unwesentlich ist, was wichtig ist, repräsentiert, dargestellt zu werden, und was nicht.«⁵⁷ Durch ihre Wertsetzungen und Deutungen, ihre Situationsanalysen und kritische Interventionen wirken sie somit an der Definition und Durchsetzung einer ›legitimen‹ Weltsicht mit.⁵⁸

2.1.4 Der Intellektuelle als ›Sinnstifter‹, ›Moralist‹ und ›Gewissen der Nation‹ Die drei vorangegangenen Definitionsversuche heben, wie sich zusammenfassen lässt, primär die strukturellen sozialen Voraussetzungen des Intellektuellen sowie die Bedingungen, Merkmale und Funktionen seiner politischen Interventionen hervor. Gleichwohl gab und gibt es – zum Teil auch in Verknüpfung mit den vorgestellten Ansätzen – immer wieder Versuche, den Intellektuellen als Person mit ganz bestimmten Einstellungen, Lebenshaltungen und Charaktereigenschaften zu erfassen.⁵⁹ Im Laufe der Geschichte wurde etwa postuliert, er solle als ›Moralist‹, ›Sinnstifter‹, ›Prophet‹ und ›Gewissen der Nation‹ fungieren. ›Mutig‹, ›phantasie-

53 Vgl. Schwingel (1995), S. 142. 54 Gilcher-Holtey (2006), S. 14. 55 Vgl. dazu ebd., S. 14 f. Spezifischer als dieser Ansatz Bourdieus, aber ebenfalls auf die wirkmächtige Vernetzung Intellektueller abzielend, ist Ron Eyermans Definitionsversuch des »Bewegungsintellektuellen«: Vor dem Hintergrund seiner Studien über die Neue Linke und die transnationale 68er-Bewegung entwirft Eyerman das Profil eines Intellektuellen, der vermittelt über Organisationen und Kommunikationsnetze, die konkret aus sozialen Bewegungen hervorgegangen sind, über Gesellschaft spricht. Siehe weiterführend Eyerman, Ron: Between Culture and Politics. Intellectuals in Modern Society. Cambridge 1994.Vgl. zu Eyermans Ansatz auch Gilcher-Holtey (2015), S. 7. 56 Vgl. Gilcher-Holtey (2006), S. 15. 57 Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt a. M. 1992, S. 165. 58 Vgl. Gilcher-Holtey (2007), S. 7. 59 Vgl. dazu Lepsius (1990), S. 274.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

voll‹ und ›radikal‹ in seinem Auftreten und seinen Ansichten müsse er sein und dabei jede politische Macht ablehnen. Zudem habe er über einen ›avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen‹ zu verfügen und bei seinen Interventionen sein Ansehen oder gar seine gesamte Existenz aufs Spiel zu setzen, um ein ›wirklicher‹ Intellektueller zu sein.⁶⁰ Das Zustandekommen solcher Kriterien verwundert insofern nicht, als Intellektuellen-Definitionen ohnehin stets mit normativen Stellungnahmen verbunden sind und auch von diesen her begriffen werden müssen.⁶¹ Da der Intellektuelle bei seinen Interventionen als Person in Erscheinung tritt, nehmen moralische Kategorien schnell einen zentralen Stellenwert im Diskurs um ihn ein. Daraus ergibt sich, dass die Überzeugungskraft eines Intellektuellen stets eng mit seiner persönlichen Bewährung verknüpft ist: Seine Aussagen werden häufig dann als ›bewahrheitet‹ akzeptiert, wenn er für die Authentizität des von ihm Gesagten einsteht und für die »Werte, auf die er sich bezieht, selbst handelnd eintritt, sie verkörpert, vorlebt und in diesem Sinne repräsentiert.«⁶² Gerade dadurch, dass oftmals anhand solcher Kriterien versucht wird, auszumachen, wer ein ›wahrer‹ Intellektueller ist und als solcher sprechen darf, schlagen Auseinandersetzungen um diese Bezeichnung nicht selten ins Persönliche um.⁶³ Wie Lepsius betont, ist es jedoch äußerst problematisch, eine Geisteshaltung zu einem wissenschaftlichen Untersuchungskriterium für die Intellektuellenforschung machen zu wollen, zumal es sich beim Intellektuellen eben nicht um einen ganz bestimmten ›Menschentyp‹ mit spezifischen persönlichen Einstellungen und Charakterzügen handelt.⁶⁴ Und doch ist es für die Untersuchung der Rolle(n), die ein Intellektueller potentiell einnimmt, zentral, im Blick zu behalten, dass diese Definitionskriterien in Intellektuellendiskursen häufig angewandt wurden und werden. So wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung nicht zuletzt zu überprüfen sein, inwiefern Selbst- und Fremdbestimmungen Kästners als Intellektueller von diesen Zuschreibungen geprägt sind.

60 Vgl. etwa Habermas (2008) S. 77 u. 83 f., Sartre (1971), S. 14 und Hein, Christoph: »Ich hielte gern Friede und Ruhe, aber der Narr will nicht«. Über Politik und Intellektuelle. In: ders.: Aber der Narr will nicht. Essays. Frankfurt a. M. 2004, S. 127– 136, hier S. 128 f. Vgl. zu diesen Zuschreibungen auch die kritischen Ausführungen von Jäger (2000), S. 8 f. und Lepsius (1990), S. 275 f. 61 Vgl. Schwingel (1995), S. 132. 62 Jäger (2000), S. 9. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. Lepsius (1990), S. 275 f. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, sich vor Augen zu führen, dass etwa Personen mit vollkommen unterschiedlichen ideologischen Positionen gleichermaßen zum Intellektuellen werden können. Vgl. dazu Jäger (2000), S. 10.

2.1 Zum Begriff des Intellektuellen

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2.1.5 Das Intellektuellenbild nach dem Zweiten Weltkrieg Für die Betrachtung der politischen Stellungnahmen Kästners ist es nicht allein unerlässlich, die soeben nachgezeichneten Intellektuellen-Profile im Blick zu behalten. Es gilt auch zu überprüfen, ob und, wenn ja, wie sich der Schriftsteller zu dem nach 1945 vorherrschenden Intellektuellenbild positionierte. So rege der Versuch zahlreicher Akteure des Kulturbetriebes, sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes an einer geistig-kulturellen Neukonstitution Deutschlands zu beteiligen, auch war, so wenig sprach man unmittelbar nach dem Krieg von »Intellektuellen«,⁶⁵ wenn man, wie etwa Peter Suhrkamp dies tat, von den Kulturschaffenden forderte, »wieder ein moralisch menschliches Klima zu schaffen«.⁶⁶ Bereits in der Weimarer Republik war der Terminus oftmals als Schimpfwort gebraucht worden; einen Höhepunkt der negativen Auslegung erfuhr er aber in der NS-Zeit. Präzise Definitionen legten die Nationalsozialisten, wie Bering in seiner umfassenden Begriffsgeschichte aufzeigt, zwar nicht fest. Jedoch verwendeten sie »intellektuell« derart häufig negativ konnotiert, dass die wenigen neutralen Nennungen nicht ins Gewicht fielen.⁶⁷ Beispielsweise galt der Intellektuelle als ›charakterlos‹, ›verbildet‹ und ›zersetzend‹; er war als gefährlicher ›Neinsager‹ verschrien und in zahlreichen nationalsozialistischen Äußerungen wurden die Begriffe »intellektuell« und »jüdisch« mit großer Selbstverständlichkeit nebeneinander gesetzt.⁶⁸ Auf diese Weise wurde die Bezeichnung »Intellektueller« in der Sprache der NS-Diktatur zu »eine[r] ›universelle[n]‹ Waffe gegen jedermann – mochte er nun wirklich Gegner sein oder sollte er auch nur in den Verdacht der Unbotmäßigkeit gebracht werden.«⁶⁹ Wegen seiner negativen Prägung wurde der Begriff unmittelbar nach 1945 zunächst noch mit großer Scheu behandelt – wollte man sich positiv über Intellektuelle äußern, wurde in der Regel vom »Geist«, »Geistigen« oder »geistigen Menschen« gesprochen.⁷⁰ Erst in den nachfolgenden Jahren begannen Zeitschriften wie Der Ruf, die Frankfurter Hefte und Der Monat allmählich damit, den Ausdruck erneut zu verwenden und nunmehr positiv zu besetzen. Wie Bering aufzeigt, sollte der Intellektuelle – der zeitgenössischen Vorstellung solcher Blätter gemäß – kritisch und angriffswillig der politischen Wirklichkeit zugewandt, jedoch frei von

65 Vgl. dazu Bering, Dietz: Die Epoche der Intellektuellen 1898 – 2001. Geburt – Begriff – Grabmal. 2. Auflage. Berlin 2011, S. 273. 66 Suhrkamp, Peter zit. n. Jäger (2000), S. 17. 67 Vgl. Bering (2011), S. 123. 68 Vgl. ebd., S. 99 u. 105 f. Bering zieht zum Beleg dieser Thesen insbesondere die Reden von Adolf Hitler und Joseph Goebbels sowie Artikel aus dem Völkischen Beobachter heran. 69 Ebd., S. 128 f. 70 Vgl. ebd., S. 260 f., vgl. dazu auch Jäger (2000), S. 2.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

parteipolitischen Dogmen sein.⁷¹ Als grundlegende Ziele, die er vor Augen haben müsse, wurden Gerechtigkeit und Freiheit postuliert. Ebenfalls vorausgesetzt wurde sein Misstrauen gegenüber ›falschen‹ Kontinuitäten und sein Versuch, dem von vielen als restaurativ empfundenen Charakter der jungen Bundesrepublik entgegenzuwirken, um auf diese Weise ein »Kontrastprogramm zur Wiederaufbauund Sicherheitsmentalität der breiten Bevölkerung«⁷² und der Regierung zu schaffen.⁷³ Wesentlich ist zudem, dass diese Forderungen – die primär an Schriftsteller und Publizisten gestellt wurden – typischerweise explizit mit dem Intellektuellen in der Tradition der Aufklärung in Verbindung gebracht wurden.⁷⁴

2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus Rekapituliert man die verschiedenen Definitionsversuche, die im vorangegangenen Kapitel vorgestellt worden sind, dann fällt auf, dass sämtlichen Ansätzen, die sich für die strukturellen Bedingungen intellektueller Intervention interessieren, eine zentrale Annahme gemein ist: Zum Intellektuellen kann nur jemand werden, der in seinem eigenen Tätigkeitsbereich ein gewisses Prestige erlangt hat, das wiederum Einfluss auf die Wirkungschancen seiner Eingriffe in die Politik ausübt. Dieser Erkenntnis folgend wird die vorliegende Studie nicht allein die politischen Stellungnahmen Kästners ab 1945 in den Blick nehmen, sondern vorab die erfolgreiche Reetablierung des Schriftstellers und Journalisten im Kulturbetrieb der Nachkriegszeit rekonstruieren, die es ihm überhaupt erst ermöglichte, sich in die Rolle eines Intellektuellen zu begeben. Um diesen zentralen Untersuchungsschritt durchführen zu können, wird auf die feldtheoretischen Erkenntnisse Pierre Bourdieus zurückgegriffen, die zwar nicht ohne Kritik vonseiten der Literaturwissenschaften geblieben sind,⁷⁵ aber in-

71 Vgl. Bering (2011), S. 301. Mit der Forderung der parteipolitischen Loslösung des Intellektuellen wandte man sich im Übrigen nicht nur gegen eine Vereinnahmung der ›Geistigen‹ durch die Politik, wie sie in der NS-Zeit stattgefunden hatte, sondern zunehmend auch gegen die dem Marxismus zugewandten Kulturschaffenden in der sowjetischen Besatzungszone respektive der DDR, die oftmals nicht als anders konstruierte Intellektuellentypen, sondern als ›scheinintellektuell‹ abgewertet wurden. Zu den unterschiedlich verlaufenden Intellektuellendiskursen in der DDR und BRD siehe weiterführend auch Jäger (2000), S. 17– 23. 72 Habermas, Jürgen: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: ders.: Kleine politische Schriften VI. Frankfurt a. M. 1987, S. 27– 54, hier S. 47. 73 Vgl. Bering (2011), S. 304 f. 74 Vgl. ebd., S. 310. 75 In der Regel wurden Einwände primär an der mangelnden Präzision einzelner von Bourdieu verwendeter Begriffe oder an vermuteten Brüchen im Gesamtgebäude seiner Theorie (etwa in

2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus

23

sofern entscheidende Impulse für diese Studie aufbieten, als sie es ermöglichen, die Karriere eines Schriftstellers und seine Werke in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit neu zu verorten. So hob Bourdieus kultursoziologisches ›Unternehmen‹⁷⁶ unter anderem darauf ab, an der Herstellung kultureller Werke beteiligte Akteure nicht als schöpferische Individuen zu betrachten, sondern konsequent die Anforderungen und Bedingungen der sozialen Räume (respektive Felder) in Rechnung zu stellen, in die sie sich eingeordnet finden.⁷⁷ Um zu verdeutlichen, inwiefern seine Annahmen für die Betrachtung der beruflichen Laufbahn Kästners und seines (untrennbar damit verbundenen) Eingreifens als Intellektueller zentrale Anknüpfungspunkte offerieren, sollen im Folgenden zunächst die für die vorliegende Untersuchung relevantesten Momente der Gesellschafts- respektive Feldtheorie des Soziologen resümiert werden. Im Anschluss daran erfolgt eine vertiefende Betrachtung der Bourdieu’schen Erkenntnisse, die sich konkret auf das literarische Feld beziehen, dem – als primären gesellschaftlichen Handlungsfeld des Schriftstellers Kästner – eine besondere Bedeutung in den nachfolgenden Kapiteln zukommen wird.

2.2.1 Bourdieus Grundlagen: Habitus, Feld und Kapital Bei der Erforschung der gesellschaftlichen Praxis operiert Bourdieu nicht nur mit dem bereits ins Spiel gebrachten Feld-Begriff, sondern auch mit einer zweiten zentralen Theoriekomponente: dem Habitus. Beide Komponenten, die ihm zufolge stets zusammengedacht werden müssen, sollen die – in seinem Sinne nur scheinbare – Opposition von Individuum und Gesellschaft überwinden.⁷⁸ Im Habitus-

Bezug auf eine widerspruchsfreie Verbindung zwischen Habitus- und Feldkonzept) festgemacht.Vgl. dazu weiterführend Dörner, Andreas und Ludgera Vogt: Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätsgeschichte – Zivilisationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. 3. Auflage. Göttingen 2005, S. 134 – 158, hier S. 151 f. 76 Vgl. zu Bourdieus Betitelung seiner Forschungen als »Unternehmen« auch Gilcher-Holtey, Ingrid: Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu. In: Kulturgeschichte Heute. Hg. von Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1996, S. 111 – 130, hier S. 113 f. 77 Vgl. Bourdieu, Pierre: Das literarische Feld. In: Streifzüge durch das literarische Feld. Texte von Pierre Bourdieu, Christophe Charle, Mouloud Mammeri, Jean-Michel Péru, Michael Pollack, AnneMarie Thiesse. Hg. von Louis Pinto und Franz Schultheis. Konstanz 1997, S. 33 – 147, hier S. 33.Vgl. dazu auch Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995, S. 74. 78 Vgl. Schwingel (1995), S. 81. Die von Bourdieu angestrebte Auflösung tradierter Trennungen (wie etwa: Individuum und Gesellschaft) zeigt sich auch auf theoretisch-methodologischer Ebene: So integrierte er, »nicht nur sehr unterschiedliche Theorietraditionen (Marxsche Sozialökonomie und

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

konzept kommen die soziologisch relevanten Eigentümlichkeiten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder in ihrer Funktion als soziale Akteure zum Tragen: Verstanden als eine erworbene Matrix von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, stellt der Habitus ein System von Dispositionen dar, das sich in der sozialen Praxis Einzelner oder auch ganzer gesellschaftlicher Gruppen objektiviert.⁷⁹ Bedingt ist er durch die Erfahrungshorizonte, die sich den jeweiligen Akteuren von Kindheit an, etwa innerhalb ihres familiären Lebens, innerhalb ihrer Stellung in der Klassen- und Sozialstruktur, aber auch innerhalb ihrer sozialen Laufbahn, eröffnen.⁸⁰ Auf diese Weise geprägt, gibt es für jeden Einzelnen, wenn auch unbewusst, bestimmte Grenzen im Denken und Handeln, die er nicht überschreiten kann: »[W]er den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß«, wie Bourdieu ausführt, »intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist.«⁸¹ Die gesellschaftliche Praxis sozialer Akteure wird jedoch nicht nur durch solche ›inneren‹, habituell bedingten Begrenzungen gesteuert, sondern auch durch externe Strukturen des sozialen Raums. Um verschiedene Ebenen dieses Raums, die sich in der sozialen Realität überlagern und miteinander verwoben sind, differenziert deuten und Machtstrukturen sichtbar machen zu können, konstruiert Bourdieu das Modell der sozialen Felder. Diese lassen sich als relativ autonome Handlungsbereiche erfassen, die sich in modernen Gesellschaften entwickelt haben und sich durch jeweils eigene Strukturbedingungen auszeichnen.⁸² Analog zu den inneren habituellen Zwängen legen die im jeweiligen (etwa ökonomischen, religiösen, politischen, wissenschaftlichen oder literarischen) Feld vorherrschenden Strukturen den dort agierenden Akteuren äußere Zwänge auf, die deren spezifische

Webers Kulturanalyse, symbolischer Interaktionismus, Strukturalismus und Systemtheorie), sondern auch qualitative und quantitative Verfahren empirischer Sozialforschung zu einem neuen Ansatz«. Dörner und Vogt (2005), S. 135. 79 Vgl. Dörner und Vogt (2005), S. 138 sowie Gilcher-Holtey (1996), S. 115. 80 Aufgrund der neuen Erfahrungen, die jede Person innerhalb ihres Sozialisationsprozesses macht, kann es Bourdieu zufolge allerdings zu Modifikationen der ursprünglichen gesellschaftlichen und familiären Prägung kommen; der Habitus einer Person ist also durchaus wandelbar. Vgl. dazu Schwingel (1995), S. 66. 81 Bourdieu, Pierre: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Berlin 1989, S. 26. Eine ähnliche Funktion wie dem Habitus in Bourdieus Konzept kommt innerhalb der diachron-geschichtswissenschaftlichen Analyse dem Begriff der Mentalität zu: »Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die jeweilige Struktur kollektiv geteilter Vorstellungen, Wertmuster und emotionaler Einstellungen, die das Handeln der Individuen und ihre Reaktionen auf elementare Lebenssituationen […] in bestimmter Weise programmiert. Als kulturelle Möglichkeiten stecken Mentalitäten gleichsam den Horizont des Möglichen ab, gefaßt in Dispositionen, mit denen Menschen einer Situation begegnen und diese selbst wieder gestalten«. Dörner und Vogt (2005), S. 139. 82 Vgl. ebd., S. 138.

2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus

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Handlungsspielräume definieren und eingrenzen.⁸³ Um diesen Umstand zu verdeutlichen, nutzt Bourdieu in zahlreichen seiner Schriften den Vergleich der Felder mit ›Spiel-Räumen‹,⁸⁴ in denen jeweils spezielle Regeln gelten, die festlegen, welche Spielzüge in einem bestimmten Stadium des Spiels im Bereich des Machbaren beziehungsweise Erlaubten liegen. Entscheidend ist hierbei allerdings nicht, dass diese Regeln explizit formuliert sind, sondern dass sie in der Praxis befolgt werden. Für die ›Spieler‹ (d. h. die sozialen Akteure) stellen sie zugleich Begrenzungen und Möglichkeitsbedingungen dar. Wer die Regeln beherrscht und innerhalb des Regelsystems strategisch sinnvolle Züge ausführt,⁸⁵ hat die Chance, eine dominierende Position im Feld zu besetzen; wer sie nicht akzeptiert oder versucht, sich ihnen zu entziehen, bringt nicht die nötigen Voraussetzungen mit, um am Wettstreit teilzunehmen.⁸⁶ Die »illusio im Sinne eines Sich-Investierens, Sich-Einbringens in das Spiel« ist dabei für Bourdieu zugleich sowohl die notwendige Prämisse für das Funktionieren des Spiels als auch, »zumindest partiell, […] sein Ergebnis.«⁸⁷ Innerhalb der stetigen Konkurrenzkämpfe in den jeweiligen Feldern kann der Glaube an das Spiel beziehungsweise an das, was auf dem Spiel steht, sogar der einzige Konsens zwischen gegnerischen Positionen sein.⁸⁸ Neben der Kenntnis und der Beherrschung der Regeln und dem Willen, ›mitzuspielen‹, sind aber auch die möglichen Spieleinsätze der Akteure von großer Wichtigkeit für den Verlauf des Wettstreits. Die Einsätze, die in den einzelnen sozialen Feldern in unterschiedlicher Verteilung als Ressourcen zur Verfügung stehen, bezeichnet Bourdieu als Kapital. Er differenziert in seinen Untersuchungen vier Formen, in denen es maßgeblich zutage tritt: als ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Diese vier Arten von Einsätzen stellen den Grund für die Bildung der Macht- und Einflussbeziehungen zwischen einzelnen Akteuren respektive Positionen im Feld dar: Sie stehen auf dem Spiel, wenn um die Wahrung oder Veränderung von Kräfteverhältnissen gerungen wird; sie sind es, um die die

83 Vgl. Schwingel (1995), S. 83. 84 Vgl. etwa Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon. Frankfurt a. M. 1985. S. 27. 85 Eingesetzte Strategien im Sinne von Handlungen, die sich objektiv auf Ziele richten und die mit der immanenten Logik des Spiels verknüpft sind, können, je nach Position eines Akteurs im Feld und seinem Gespür für Platzierungen, zwar bewusst mit einer expliziten Vorstellung vom Weitergang des Spiels verbunden sein, müssen dies allerdings nicht zwangsläufig. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999. S. 361 u. 430; vgl. dazu auch Schwingel (1995), S. 97. 86 Vgl. ebd., S. 83. 87 Bourdieu (1999), S. 360. 88 Vgl. dazu Schwingel (1995), S. 99.

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Akteure kämpfen.⁸⁹ Aufgrund solcher permanenter Kämpfe kann man über die gesellschaftlichen Felder auch nicht wie über statische Gebilde sprechen. Sie sind, ganz im Gegenteil, als im ständigen Wandel begriffene Orte dynamischer Prozesse und Auseinandersetzungen zu begreifen. Die Struktur eines bestimmten Feldes zu einem spezifischen Zeitpunkt gibt demnach nichts anderes als den aktuellen »Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder, bzw., wenn man so will, den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals«.⁹⁰ Feld und Kapital definieren sich somit wechselseitig und gehören notwendig zusammen.⁹¹ Zum ökonomischen Kapital zählt Bourdieu alle Formen des materiellen Reichtums (etwa den Besitz von Geld, Produktionsmitteln, Wertgegenständen oder Grundbesitz).⁹² Zwar kann auch das kulturelle Kapital im objektivierten Zustand in Form von Wertgegenständen wie Büchern, Gemälden und anderen Kunstwerken auftreten, weswegen die Grenze zum ökonomischen Kapital bisweilen fließend verläuft. Es verfügt jedoch über eine andere Eigenlogik und kann sich auch im institutionalisierten Zustand (beispielsweise in Form von Bildungstiteln wie Schuloder Universitätsabschlüssen) oder im inkorporierten Zustand zeigen. Dieser schließt »sämtliche kulturelle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen [ein], die man durch ›Bildung‹ – freilich in einem sehr allgemeinen, nicht nur im schulisch-akademischen Sinne – erwerben kann«.⁹³ In inkorporierter Form ist das kulturelle Kapital nicht delegierbar, sondern an spezifische soziale Akteure gebunden: Es ist »ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ›Person‹, zum Habitus geworden ist«.⁹⁴ Auch das soziale Kapital ist an die gesellschaftlichen Akteure selbst gebunden, stellt es doch deren Ressourcen dar, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Auf ihre Beziehungen gegenseitiger Anerkennung, wie sie etwa in Familien, Freundeskreisen, Clubs oder auch politischen Parteien auftreten, können Akteure zurückgreifen, wenn sie Unterstützung von anderen Akteuren oder Gruppen benötigen. Zugleich kann der Besitz von sozialem Kapital die Profitchancen bei der Reproduktion von ökonomischem und kulturellem Kapital vergrößern; es übt, wenn es bei den Kämpfen innerhalb der Felder eingesetzt wird, potentiell einen ›Multiplikatoreneffekt‹ auf die anderen Kapitalarten aus.⁹⁵ Die letzte Form des Kapitals, mit der sich Bourdieu eingehender auseinandersetzt, ist

89 90 91 92 93 94 95

Vgl. Bourdieu (1985), S. 74. Bourdieu, Pierre: Soziale Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 108. Vgl. Schwingel (1995), S. 85. Vgl. dazu ebd., S. 88 f.; vgl. auch Dörner und Vogt (2005), S. 138. Schwingel (1995), S. 89. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1992, S. 56. Vgl. Schwingel (1995), S. 92 und Bourdieu (1992), S. 63.

2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus

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das symbolische Kapital. Es kommt durch gesellschaftliche Anerkennung zustande, die den einzelnen Akteuren beziehungsweise Gruppen einen Kredit an Prestige und Ansehen einräumt und auf diese Weise ihre ›Herrschaftsverhältnisse‹ legitimiert.⁹⁶ Zwar ist es, seiner Konstitutionslogik nach, unabhängig von anderen Kapitalformen, allerdings trifft man es faktisch üblicherweise nur in Zusammenhang mit diesen an.⁹⁷ Wesentlich ist, dass das symbolische Kapital nach Bourdieu in der Regel spezifisch für ein bestimmtes Feld »und nicht mit demjenigen eines anderen Feldes konvertierbar [ist]. Das im politischen Feld erworbene symbolische Kapital etwa ist nicht unmittelbar im literarischen Feld wirkkräftig.«⁹⁸ Generell können Rangfolge und Verteilung der Kapitalarten von Feld zu Feld recht unterschiedlich sein: »Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Profitchancen im entsprechenden Feld (faktisch korrespondiert jedem Feld oder Teilfeld die Kapitalsorte, die in ihm als Machtmittel und Einsatz im Spiel ist).«⁹⁹ Die Macht- und Einflussbeziehungen, die sich durch die Kämpfe um die spezifischen Kapitalarten zwischen den Akteuren der verschiedenen Felder bilden, sind laut Bourdieu ähnlich wie die Linien in Magnetfeldern zu begreifen; analog zur Physik spricht er aus diesem Grund auch von ›Kraftfeldern‹.¹⁰⁰

2.2.2 Das literarische Feld Auch das literarische Feld, das es im Folgenden näher zu betrachten gilt, ist Bourdieu zufolge ein solches Feld von Kräften, die sich auf die in ihm wirkenden Akteure (wie Schriftsteller, Verleger, Kritiker, Literaturwissenschaftler und Publikum) in unterschiedlicher Weise auswirken.¹⁰¹ Diese Erkenntnis legt es nah, bei der Untersuchung literarischer Produktion den Schriftsteller nicht als isoliertes schöpferisches Individuum zu betrachten, sondern seine Position innerhalb der Beziehungsgeflechte seines Produktionsfeldes zu spezifischen Zeitpunkten zu berücksichtigen. In seiner Anfang der 1990er Jahre veröffentlichten Schrift Die Regeln der Kunst setzt Bourdieu, in Anbetracht seiner bis dahin gesammelten Erkennt-

96 Vgl. Schwingel (1995), S. 94. 97 Vgl. ebd., S. 93. Das soziale Kapital bewegt sich beispielsweise so ausschließlich in den Logiken von gegenseitiger Anerkennung, dass es stets zugleich als symbolisches Kapital fungiert. 98 Jurt (1995), S. 85. 99 Bourdieu (1989), S. 10. Vgl. dazu auch Jurt (1995), S. 78. 100 Vgl. Bourdieu (1985), S. 74, Jurt (1995), S. 77 sowie Dörner und Vogt (2005), S. 138. 101 Vgl. Bourdieu (1997), S. 34.

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nisse, drei zentrale Schritte als Grundlage für die wissenschaftliche Untersuchung literarischer Werke respektive deren Produktion voraus. Diese bestehen (1.) in der »Untersuchung der Position des literarischen […] Feldes innerhalb des Feldes der Macht«,¹⁰² (2.) in der Analyse »der inneren Struktur des literarischen […] Feldes«, d. h. der »objektiven Beziehungen zwischen den Positionen, die voneinander um die Legitimität konkurrierenden Individuen oder Gruppe eingenommen werden«¹⁰³ und schließlich (3.) in der »Untersuchung der Genese des Habitus der Inhaber dieser Positionen«, mit anderen Worten in der »Untersuchung der Dispositionen, die als Ergebnisse eines gesellschaftlichen Werdegangs und einer Position innerhalb des literarischen […] Feldes in dieser Position eine mehr oder weniger günstige Gelegenheit ihrer Aktualisierung finden«.¹⁰⁴ Im Weiteren werden zunächst die zentralen Erkenntnisse, die für Bourdieu in Zusammenhang mit diesen drei Untersuchungsaspekten stehen, resümiert, um daran anknüpfend zu verdeutlichen, welche wichtigen Impulse sie für die nachfolgende Untersuchung über die Laufbahn und das literarische Wirken Kästners liefern. (1) Das literarische Feld und das Feld der Macht Die Relation zwischen dem literarischen Feld und dem Feld der Macht in seiner Gesamtheit zu beachten, ist im Sinne Bourdieus unerlässlich für die Forschungspraxis, weil sich zahlreiche Verhaltensweisen von Schriftstellern nur durch die Bezugnahme auf das Feld der Macht erklären lassen.¹⁰⁵ Es ist definierbar als »Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren und Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Positionen in den unterschiedlichen Feldern […] zu besetzen.«¹⁰⁶ Innerhalb dieses Gesamtraumes nimmt das literarische Feld aufgrund der dort vorherrschenden hierarchischen Beziehungen zwischen den unterschiedenen Kapitalarten und ihren Besitzern eine beherrschte Position ein. Obgleich etwa politische und ökonomische Interferenzen nach der eigenen Logik des literarischen Feldes reinterpretiert werden, sie dort also keine unmittelbare, sondern eine

102 103 104 105 106

Bourdieu (1999), S. 340. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 341. Ebd., S. 342.

2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus

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›vermittelte‹ Wirkung ausüben, sind sie dennoch fortwährend im literarischen Feld präsent und prägen es.¹⁰⁷ Aus diesem Grund ist die Autonomie des literarischen Feldes nie total und ein für alle Mal erreicht, sondern stets nur relativ. Das im Laufe der Geschichte beträchtlich variierende Ausmaß dieser relativen Autonomie lässt sich an verschiedenen Kriterien erkennen. Je autonomer das Feld ist, desto mehr Reflexion findet beispielsweise für gewöhnlich über seine eigenen Grundlagen und Voraussetzungen statt.¹⁰⁸ Je größer die Autonomie, desto günstiger sind Bourdieu zufolge außerdem die Bedingungen für Literaturproduzenten, die von der Nachfrage unabhängig sind: »[W]ie in einem Spiel, in dem der Verlierer gewinnt«,¹⁰⁹ werden die grundlegenden Prinzipien des Feldes der Macht und des ökonomischen Feldes ins Gegenteil verkehrt, so dass kommerzielle Erfolge und weltliche Ehrungen gerade nicht als das wichtigste Kapital angesehen werden, sondern als verpönt gelten.¹¹⁰ Das Prinzip externer Hierarchisierung (als Kriterium des ›weltlichen‹, kommerziellen Erfolges und des Bekanntheitsgrades eines Schriftstellers) ist in diesem Fall dem internen Hierarchisierungsprinzip (dem Kriterium der feldspezifischen Anerkennung durch andere Schriftsteller) untergeordnet.¹¹¹ Je nach Grad der Unabhängigkeit des literarischen Feldes variiert auch das Kräfteverhältnis zwischen zwei weiteren Prinzipien, die in seinem Inneren vorherrschen und seine Struktur stets prägen: dem autonomen Prinzip, das jedes Streben nach ›weltlichen‹ (kommerziellen, politischen) Erfolgen ablehnt, und dem Prinzip der Heteronomie, die sich Bourdieu zufolge im Feld ›einnisten‹ kann und die diejenigen begünstigt, die das Feld ökonomisch und politisch beherrschen.¹¹² Je größer die Autonomie des literarischen Feldes, desto strenger sind auch die negativen Sanktionen, die »heteronome Praktiken wie direkte Unterordnung unter politische Direktiven oder selbst unter ästhetische oder ethische Auflagen treffen«.¹¹³ Und auch

107 Vgl. dazu Jurt (1995), S. 88 f., vgl. auch Bourdieu (1997), S.38. Insbesondere Schriftsteller sind diesen externen Einwirkungen ausgesetzt, die »von politischen, konservativen wie fortschrittlichen, oder von ökonomischen Mächten ausgeübt und […] über den Erfolg beim Publikum oder der Presse wirksam werden«. Bourdieu (1999), S. 351. 108 Vgl. ebd., S. 384. 109 Bourdieu (1997), S. 39. 110 Damit einher geht die Verwerfung zwischen zwei Polen des Feldes, nämlich zwischen dem Unterfeld der eingeschränkten Produktion (in dem die Kundschaft der Produzenten aus anderen Produzenten besteht) und dem Unterfeld der Großproduktion (d. h. der Produktion für die ›breite Masse‹). Vgl. dazu Bourdieu (1997), S. 39. 111 Vgl. Bourdieu (1999), S. 345. Wirtschaftliche Erfolge derer, denen feldspezifische Anerkennung zuteilwird, sind dabei allerdings nicht ausgeschlossen; sie werden nur nicht als primäres Ziel, sondern als Folgeerscheinung des symbolischen Kapitals akzeptiert. Vgl. Jurt (1995), S. 92. 112 Vgl. Bourdieu (1999), S. 344 u. 350. 113 Ebd., S. 349.

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»die Stärke der positiven Anreize zum Widerstand, ja zum offenen Kampf gegen die herrschenden Mächte«¹¹⁴ ist bedingt vom Autonomiegrad des Feldes. Wie stark die Tendenz zur Machtkritik zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeprägt ist, hängt außerdem davon ab, wie viel symbolisches Kapital im Laufe früherer Zeiten akkumuliert wurde, das heißt welcher Wert dem Handeln vorheriger Generationen von Schriftstellern in einer Gesellschaft zugesprochen wurde. Im Namen eines solchen kollektiv gesammelten Kapitals fühlen sich Schriftsteller nach Bourdieu »berechtigt und verpflichtet, Ansprüche und Forderungen weltlicher Mächte zu übergehen, ja, sie im Namen ihrer eigenen Grundsätze und Werte zu bekämpfen.«¹¹⁵ (2) Die innere Struktur des literarischen Feldes Die innere Struktur des literarischen Feldes ist (nicht anders als die anderer sozialer Felder) stets von Konkurrenzkämpfen um die Bewahrung oder Veränderung von Kräfteverhältnissen geprägt.¹¹⁶ Einen zentralen Stellenwert innerhalb dieser internen Kämpfe nimmt der Streit um das Monopol literarischer Legitimität ein, »das heißt unter anderem das Monopol darauf, aus eigener Machtvollkommenheit festzulegen, wer sich Schriftsteller […] nennen darf.«¹¹⁷ Bei diesen Definitionsbeziehungsweise Klassifizierungskämpfen geht es nicht nur um die Bildung von Hierarchien, sondern immer auch darum, die im ständigen Wandel begriffenen Grenzen des literarischen Feldes auszuloten: »Grenzen festlegen, sie verteidigen, den Zugang kontrollieren heißt«, so Bourdieu, »die in einem Feld bestehende Ordnung verteidigen.«¹¹⁸ Entscheidende Veränderungen in einer solchen Ordnung ergeben sich in der Regel durch das Eintreten von ›Neulingen‹, die beispielsweise innovative Produktionstechniken einführen oder das literarische Feld selbst einer neuen Betrachtungsweise unterziehen.¹¹⁹ Die Akteure, die das Feld bis zum besagten Zeitpunkt beherrschen, sind durch diese (bewussten oder unbewussten) Interventionen gezwungen, ihre etablierten Regeln gegenüber den ›Neuen‹ zu verteidigen. Die Position zwischen diesen beiden Polen des Feldes – dem der Herrschenden und dem der Beherrschten – bestimmt folglich die Handlungsstra-

114 Ebd. 115 Ebd., S. 350. 116 Vgl. ebd., S. 368. 117 Ebd., S. 354. Diese Streitigkeiten finden beispielsweise zwischen Anhängern der ›reinen Kunst‹ und der bürgerlichen respektive kommerziellen Kunst statt, wenn von Ersteren versucht wird, den kommerziellen Künstlern die Bezeichnung des Schriftstellers abzusprechen. Vgl. ebd., S. 353 und Bourdieu (1997), S. 56 f. 118 Bourdieu (1999), S. 357. 119 Vgl. ebd. und Bourdieu (1997), S. 60.

2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus

31

tegien der Akteure, die entweder auf die Erhaltung der Feldstruktur oder auf die Erneuerung derselben abzielen.¹²⁰ Weil das literarische Feld, sofern es relativ autonom ist, nur über einen sehr geringen Kodifizierungs- und Institutionalisierungsgrad verfügt, ist es eines der ›unsichersten‹ Felder des sozialen Raums. Den in ihm handelnden Akteuren bietet es für gewöhnlich nur sehr vage Positionen und ungewisse Zukunftsaussichten; es ist gewissermaßen ein Spielfeld ohne institutionalisierte Schiedsrichterrolle, das heißt ohne Instanz, die bei Autoritätskonflikten über die Verteidigung oder Eroberung dominanter Positionen im Feld entscheidet.¹²¹ Aus diesem Grund werden Kämpfe innerhalb des Feldes letzten Endes oftmals nicht durch interne, sondern durch externe Faktoren (wie etwa Veränderungen im politischen Feld oder im Feld der Macht in seiner Gesamtheit) entschieden.¹²² Ein weiterer Gesichtspunkt, der essentiell für die Beleuchtung der inneren Struktur des literarischen Feldes ist, liegt in der Relation von Positionen (oder auch Stellungen) und Positionierungen (oder auch Stellungnahmen):¹²³ Jede von den aktuellen Kräfteverhältnissen abhängige Position der Akteure im Feld steht in objektiver Beziehung (das heißt beispielsweise im Verhältnis von Herrschaft oder Unterordnung, Entsprechung oder Antagonismus) zu anderen Positionen.¹²⁴ Jeder der einnehmbaren Positionen entsprechen wiederum bestimmte Positionierungen, die sich in Form von literarischen Werken, aber auch in Form von politischen Handlungen oder Reden der Inhaber der Positionen manifestieren können. Aktualisierte Positionierungen definieren sich laut Bourdieu nicht nur wechselseitig, sondern ebenso über ihren Bezug zum Raum des Möglichen, als einem

120 Mit Bourdieu lässt sich diese Dynamik, auf Max Webers Religionssoziologie rekurrierend, auch als Kampf zwischen ›Orthodoxen‹ und ›Häretikern‹ betiteln. Vgl. dazu Jurt (1995), S. 85. 121 Vgl. Bourdieu (1997), S. 17; vgl. Jurt (1995), S. 88. Aufgrund der minimalen Kodifizierung ihres Berufes und ihrer Funktion üben Schriftsteller häufig einen zweiten Beruf aus. Dieser Doppelstatus bringt seinem Inhaber oftmals subjektive Profite ein: Tätigkeiten in Verlagen, im journalistischen Bereich oder beim Rundfunk können etwa aufgrund der geknüpften Beziehungen das spezifische Kapital der Einzelnen vermehren und dazu beitragen, ihre Inhaber im Kern des ›Milieus‹ zu platzieren. Vgl. Bourdieu (1999), S. 359. 122 Vgl. ebd., S. 400. 123 Bourdieu spricht im Französischen von ›positions‹ und ›prises de position‹, die in den deutschen Übersetzungen seiner Werke und in der deutschsprachigen Forschungsliteratur mal mit »Positionen« und »Positionierungen«, mal mit »Stellungen« und »Stellungnahmen« bezeichnet werden. Die Begriffe »Positionen« und »Stellungen« respektive »Positionierungen« und »Stellungnahmen« werden daher in dieser Studie synonym verwendet. 124 Vgl. Bourdieu (1999), S. 365.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

Raum, der von Positionierungen strukturiert und ausgefüllt ist, die sich als objektive Möglichkeiten, als ›machbar‹ abzeichnen: ›Bewegungen‹, die man ins Leben rufen, Zeitschriften, die man gründen, Gegner, die man bekämpfen, Positionierungen, die man hinter sich lassen kann usw.¹²⁵

Durch symbolisches Kapital, das den einzelnen Akteuren in Abhängigkeit von ihren Positionen zugestanden wird, können sich die legitimen Möglichkeiten, die ein Einzelner zur Verfügung hat, vergrößern, womit sich auch der Raum der Möglichen in seiner Gesamtheit verändert und neu definiert. Daher geschieht es bisweilen, dass sich der Sinn und Wert ein und derselben Positionierung durch das, was zu verschiedenen historischen Zeitpunkten als machbar gilt, komplett verändert. Die Motive für feldinterne (literarische), aber auch für externe (etwa politische) Positionierungen sind stets in den Interessen zu suchen, die mit den spezifischen Positionen innerhalb des Feldes verbunden sind, weshalb von einer Strukturhomologie zwischen Positionen und Positionierungen gesprochen werden kann.¹²⁶ Die Geschichte der Positionierungen und die Geschichte der Kämpfe zwischen den Akteuren gleichermaßen zu berücksichtigen und im Zusammenhang zu betrachten, sollte daher, wie Bourdieu fordert, auch den Gegenstand einer Wissenschaft von literarischen Werken ausmachen.¹²⁷ (3) Der Habitus der Akteure im literarischen Feld Der dritte grundlegende Untersuchungsschritt, den Bourdieu hinsichtlich der Analyse literarischer Produktion beschreibt, hebt auf den Habitus der Inhaber der Positionen im literarischen Feld ab, mit anderen Worten: auf das System der Dispositionen, die sich in den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der Akteure aktualisieren. Die Schemata steuern die Sichtweise der Akteure auf das ›Spiel‹ respektive auf die Kämpfe innerhalb des Feldes; sie entscheiden gleichermaßen, welche Positionen den Akteuren als erstrebenswert oder als unannehmbar erscheinen.¹²⁸ Diese Erkenntnis impliziert mithin, dass spezifische Positionen eines Feldes nur dann entstehen können, wenn es Akteure gibt, die über Dispositionen verfügen, die zur Besetzung ebenjener Positionen vonnöten sind. Konfrontiert wird

125 Ebd., S. 371. 126 Vgl. ebd., S.365 f. und Jurt (1995), S. 93. In seiner Schrift Die Regeln der Kunst arbeitet Bourdieu diese These konkret anhand von Beispielen aus der französischen Literaturgeschichte (insbesondere am Exempel Baudelaires und Flauberts) heraus. 127 Vgl. Bourdieu (1999), S. 369 und Bourdieu (1989), S. 21. Für die wissenschaftliche Forschung sind ästhetische und formale Aspekte der Positionierungen dabei nach Bourdieu nicht irrelevant; er geht jedoch nicht von ihnen aus, sondern versucht sie von der Struktur des Feldes und der Position der Produzenten im Feld aus zu erklären. Vgl. dazu Jurt (1995), S. 96. 128 Vgl. Bourdieu (1999), S. 374.

2.2 Die Feldtheorie Pierre Bourdieus

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das Streben der Akteure, die von ihnen eingenommenen Positionen gemäß ihrem Habitus zu gestalten, allerdings mit der Notwendigkeit, sich von ihnen, gemäß der Struktur des Feldes, gestalten zu lassen. ¹²⁹ Eingebrachte Dispositionen neuer Akteure im Feld können das System der Positionen verändern, wenn diese zugleich über ein bedeutsames Kapital verfügen. Das entsprechende Kapital kann, in Kombination mit den entsprechenden Dispositionen, jedoch auch umgekehrt die Bereitschaft eines Akteurs, sich neuen Positionen zuzuwenden, erhöhen.¹³⁰ Welche Dispositionen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt eine Aktualisierung finden können, wird außerdem vom Raum des Möglichen mitbestimmt, der in dieser Hinsicht auch als Indikator für die vorhandenen Dispositionen der Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen werden kann. Der starken Korrespondenz zwischen den Positionen und den jeweiligen Dispositionen ihrer Inhaber kann man im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen also nur dann gerecht werden, wenn man »in Rechnung stellt, was der Raum des Möglichen zum jeweiligen Zeitpunkt […] an Möglichkeiten bietet.«¹³¹ In Verbindung damit muss auch berücksichtigt werden, wie sich der Raum des Möglichen während der kritischen Phasen der Laufbahn respektive Karriere eines Akteurs entwickelte und welche Dispositionen daraus hervorgegangen sind.¹³² Um zu überzeugenden Untersuchungsergebnissen zu gelangen, sollte man es, im Sinne Bourdieus, folglich nicht dabei belassen, im Allgemeinen »zu fragen, wie ein bestimmter Schriftsteller zu dem wurde, was er war«.¹³³ Vielmehr muss berücksichtigt werden, wie er vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Herkunft und der ihm zugewachsenen gesellschaftlich hervorgebrachten Eigenschaften die in einem bestimmten Zustand des lite-

129 Vgl. ebd., S. 426. An dieser Stelle treffen also die inneren, habituellen Begrenzungen auf die äußeren Begrenzungen des sozialen Raumes und beide üben gleichzeitig Einfluss auf die soziale Praxis der Akteure aus. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die regelmäßig auftretende Korrespondenz zwischen den Positionen im Feld und den Eigenschaften derer, die sie innehaben.Vgl. ebd. 130 Vgl. Bourdieu (1999), S. 414 und Jurt (1995), S. 95. 131 Bourdieu (1999), S. 375. 132 Die gesellschaftliche Laufbahn, die sich als »Serie nacheinander von demselben Akteur oder denselben Akteuren in verschiedenen Räumen nacheinander bezogenen Positionen« (ebd., S. 409) definieren lässt, ist nach Bourdieu maßgeblich durch die Dispositionen des jeweiligen Habitus der Akteure geprägt. Der Sinn und der soziale Stellenwert biographischer Ereignisse (verstanden als Platznahmen oder Platzwechsel in den sozialen Feldern) werden dabei stets durch die Strukturen der Felder mitbestimmt. (Vgl. ebd., S. 409 und Bourdieu 1997, S. 126) Eine auf diese Weise verstandene Untersuchung der Laufbahn (respektive Karriere) eines Schriftstellers kann schließlich auch zum Verständnis der Prinzipien führen, denen die Entwicklung seines Werks im Laufe der Zeit unterlag. Vgl. Bourdieu (1999), S. 410 f. 133 Bourdieu (1997), S. 36.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

rarischen […] Feldes angebotenen, bereits entstandenen oder entstehenden Stellungen besetzen oder, in bestimmten Fällen, neue schaffen konnte.¹³⁴

Für die vorliegende Untersuchung lassen die soeben rekapitulierten Erkenntnisse verschiedene forschungspraktische Rückschlüsse zu. Um zu adäquaten Ergebnissen hinsichtlich Kästners Reetablierung im Kulturbetrieb ab 1945 und seinem dadurch ermöglichten Agieren als Intellektueller gelangen zu können, wird gezielt zu beleuchten sein, in welchem Verhältnis das literarische Feld nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Feld der Macht stand, wie es strukturiert war und wie sich diese Strukturen in den Folgejahren weiterentwickelten. Damit einhergehend gilt es zu überprüfen, wie sich Kästner innerhalb der Machtbeziehungen und Konkurrenzkämpfe seines Feldes positionierte. Über welches Kapital verfügte er nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und wie spielte er es, im Bourdieu’schen Sinne, aus, um dominante Positionen im Feld besetzen zu können? Wann kämpfte er für die Bewahrung und wann für die Veränderung feldinterner Regeln? Trugen seine Positionierungen zur Erlangung eines größeren Maßes an Autonomie des literarischen Feldes bei? Zu welchen politischen Stellungnahmen gelangte er vor dem Hintergrund seiner sozialen Laufbahn und der Positionen, die er in seinem Feld einnahm? Und welche Positionierungen waren ihm nach dem Zweiten Weltkrieg als legitime Möglichkeiten überhaupt gegeben?

2.3 Michel Foucaults Diskursbegriff und die Historische Diskursanalyse Zwar liefern die feldtheoretischen Erkenntnisse Bourdieus zahlreiche Anstöße und analytische Bezugspunkte dafür, Kästners Nachkriegskarriere und seine politischen Positionierungen in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit erfassen zu können. Gleichwohl ist ihnen keine konkret festgeschriebene Methodologie inhärent, auf die bei der detaillierten Analyse unterschiedlicher Positionierungsformen (wie etwa verschieden gearteter schriftlicher und mündlicher Beiträge und symbolischer Handlungen) des Schriftstellers zurückgegriffen werden kann. Aus diesem Grund wird ergänzend die Historische Diskursanalyse herangezogen, die unter einigen Gesichtspunkten von ähnlichen Prämissen ausgeht wie die Studien Bourdieus. Den zentralen Bezugspunkt für jene Methode stellen die Arbeiten Michel Foucaults dar. Freilich können die komplexen (und in ihrer inhaltlichen Akzentuierung durchaus

134 Ebd.

2.3 Michel Foucaults Diskursbegriff und die Historische Diskursanalyse

35

variierenden)¹³⁵ Foucault’schen Ausführungen zum Diskurs im Rahmen dieser Untersuchung nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden. Daher sollen im Folgenden primär jene seiner Annahmen und Erkenntnisse rekapituliert werden, die für die an späterer Stelle erfolgende Beleuchtung der politischen Positionierungen Kästners zentrale Anknüpfungsmöglichkeiten offerieren. Obgleich der Begriff »discours«, der im Französischen ›Rede‹ im weitesten Sinne meint, schon vor 1969 in Studien Foucaults auftaucht, avancierte er erst in der Archäologie des Wissens zum Schlüsselbegriff seines Werks.¹³⁶ In der genannten Schrift grenzt der Philosoph sich nicht nur von der traditionellen wissenschaftlichen Verfahrensweise der Ideengeschichte ab, sondern versucht zugleich systematisch, seinen eigenen methodologischen Standort zu bestimmen.¹³⁷ In Anbetracht seiner Überzeugung, dass ›Wissen‹ nicht »auf die Beziehung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt reduzierbar [ist], sondern […] aus der Gesamtheit der Elemente, die eine ›diskursive Praxis‹ ausmachen, [besteht]«,¹³⁸ definiert er als »Diskurs […] eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«.¹³⁹ Als »Aussagen« wiederum lassen sich in seinem Sinne all jene »schriftlichen, mündlichen, bildlichen oder sonstigen zeichenhaften Hervorbringungen und Praktiken« beschreiben, »die das Thema des Diskurses in irgendeiner Weise behandeln oder auch nur nebenher streifen.«¹⁴⁰ Obgleich sie sich »nicht nur in sprachlichem Gewand [konkretisieren]«, ist allerdings nicht zu leugnen, dass »die Sprache als bedeutendstes Zeichensystem sicherlich die zentrale Form [ist], in der sich Aussagen präsentieren.«¹⁴¹

135 Vgl. dazu etwa Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. 2. Auflage. Tübingen 2004, S. 76 sowie Parr, Rolf: »Diskurs«. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von ders., Clemens Kammler, und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 233 – 237, hier S. 233. 136 Vgl. Kammler, Clemens: »Archäologie des Wissens«. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Paar und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 51 – 62, hier S. 54. Die »wilde Benutzung« des Terminus in seinen früheren Schriften räumte Foucault im Übrigen selbst ein. Vgl. Foucault (1981), S. 48. Vgl. dazu auch Paar (2008), S. 233. 137 Vgl. Kammler (2008), S. 51. 138 Ebd. 139 Foucault (1981), S. 156. 140 Landwehr (2004), S. 106. 141 Ebd., S. 98. In der Archäologie des Wissens vertrat Foucault zwar noch die Auffassung, dass sich »Aussagen« nicht als Einheiten sprachlich-logischen Typs, die mit Propositionen, Sätzen oder Sprechakten gleichzusetzen sind, begreifen lassen. Die strikte Abgrenzung des Diskurses vom performativen ›Sprechakt‹ nahm er allerdings in den späten 1970er Jahren in einem Briefwechsel mit dem Sprechakttheoretiker John Searle zurück. Vgl. dazu Kammler (2008), S. 57 sowie Vogl, Joseph: »Aussage« In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Paar und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 225 – 227, hier S. 225 f.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

Darüber hinaus muss unterstrichen werden, dass Aussagen nicht als frei schwebende Singularitäten auftauchen, sondern immer in bestimmte Zusammenhänge eingebettet sind.¹⁴² Anders als individuelle Äußerungen, die von einer Person an einem Ort zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt formuliert werden, zeichnen sie sich durch ihr regelmäßiges und wiederholtes Auftauchen aus und können von verschiedenen Individuen gemacht werden.¹⁴³ Einen zentralen Stellenwert hat vor diesem Hintergrund die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen, denen das Zustandekommen von Aussagen unterliegt – geht Foucault doch davon aus, dass »das Feld diskursiver Ereignisse immer nur eine begrenzte und zu einer bestimmten Zeit endliche Menge an Aussagen [zulässt]«.¹⁴⁴ Dieser Annahme nach ist es also kein Zufall, dass zu bestimmten Zeiten bestimmte Aussagen und keine anderen auftauchten.¹⁴⁵ Vielmehr definiert gerade die »Differenz […] zwischen dem, was jemand zu einer bestimmten Zeit nach den Regeln der Grammatik und Logik korrekterweise sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt worden ist«,¹⁴⁶ den Diskurs. Mithilfe der von ihm als »Archäologie« bezeichneten Diskurs- respektive Aussagenanalyse will Foucault wohlgemerkt nicht in hermeneutischer Manier nach einem ›tieferen‹ oder ›eigentlichen‹ Sinn der Aussagen suchen.¹⁴⁷ Davon ausgehend, dass Diskurse – als Praktiken – »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«,¹⁴⁸ erscheint es ihm keineswegs sinnvoll, »die gesagten Dinge […] nach dem [zu fragen], was sie verbergen«.¹⁴⁹ Stattdessen geht es ihm darum, herauszufinden, »auf welche Weise sie existieren, was es für sie heißt, manifestiert worden zu sein, Spuren hinterlassen zu haben und vielleicht für eine eventuelle Wiederverwendung zu verbleiben«.¹⁵⁰ Der ›Sinn‹ einer Aussage ist für ihn folglich »nicht das Resultat subjektiver Sinnstiftung, sondern der bloße Effekt ihres materiellen und diskursiven Umfeldes«.¹⁵¹ Als Aufgabe des Forschers sieht Foucault es daher an, den »Formationsregeln«¹⁵² nachzugehen, die die Entstehung eines Diskurses – als

142 Vgl. Landwehr (2004), S. 82. 143 Vgl. ebd. sowie Kammler (2008), S. 56. 144 Landwehr (2004), S. 81. 145 Vgl. ebd., S. 80. 146 Ebd., S. 80. Landwehr bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Foucault, Michel: Politics and the study of discourse. In: The Foucault effect. Studies and governmentality. Hg. von Graham Burchell, Colin Gordon und Peter Miller. London 1991, S. 53 – 72. 147 Vgl. dazu auch Bogdal, Klaus-Michael: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Opladen/Wiesbaden 1999, S. 21 f. 148 Foucault (1981), S. 74. Hervorhebung d. Verf. 149 Ebd., S. 159. 150 Ebd. 151 Kammler (2008), S. 57. 152 Foucault (1981), S. 61.

2.3 Michel Foucaults Diskursbegriff und die Historische Diskursanalyse

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begrenzte Menge tatsächlich formulierter Aussagen – ermöglichen. Diese Regeln bestimmen die Anordnung »der Gegenstände, die in einem Diskurs zur Sprache kommen, der Subjektpositionen, die in ihm eingenommen werden können, der Begriffe, die in ihm verwendet werden und der Theorien bzw. ›Strategien‹, die ihn prägen.«¹⁵³ Um erfassen zu können, auf welche Art und Weise Wissen produziert wird, gilt es somit nicht nur zu berücksichtigen, in welchen sozialen und institutionellen Zusammenhängen Aussagen auftauchen, welche Instanzen für die Abgrenzung respektive Benennung eines Diskurses verantwortlich sind und nach welchen Spezifikationsmustern Elemente des Diskurses differenziert werden können.¹⁵⁴ Es ist auch die Frage nach dem Subjekt¹⁵⁵ zu stellen, das die Aussage macht. So muss untersucht werden, wer die Möglichkeit hat, sich zu einem Diskursgegenstand zu äußern, aus welchen institutionellen Zusammenhängen das Subjekt spricht und welches Verhältnis seine Positionen zu den Diskursgegenständen einnehmen.¹⁵⁶ Zum Gegenstand der Analyse werden zudem Formen der Abfolge und der Koexistenz von Aussagen wie auch Prozeduren der Intervention, die die Umgruppierung von Aussagen in einem Diskurs gestatten.¹⁵⁷ Außerdem lassen sich Strategien ausmachen, die sich in der Wahl der Themen und Theorien ausdrücken, die getroffen wird. In diesem Zusammenhang ist zu überprüfen, ob es Brüche innerhalb eines

153 Kammler, Clemens: Historische Diskursanalyse (Michel Foucault). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. 3. Auflage. Göttingen 2005, S. 32 – 56, hier S. 39. 154 Vgl. Landwehr (2004), S. 78 f.; siehe auch Foucault (1981), S. 61 – 74. 155 Das Subjekt einer Aussage ist laut Foucault »nicht […] mit dem Autor der Formulierung identisch […], weder subjektiv noch funktional.« (Foucault 1981, S. 138) Vielmehr setzt er die Position des Subjekts mit einem »determinierte[n] und leere[n] Platz« gleich, der unter bestimmten kontextuellen Bedingungen von bestimmten Personen eingenommen werden kann. (Vgl. ebd., S. 139, vgl. dazu auch Kammler 2008, S. 58) Wenngleich das Subjekt in diesem Sinne nicht autonom, sondern überindividuell gedacht wird, wäre es, wie sich mit Landwehr zusammenfassen lässt, jedoch ein Missverständnis, davon auszugehen, dass es bei Foucault »gänzlich verschwände«: Trotz der Organisation seiner Wahrnehmungen und Erfahrungen durch diskursive Ordnungen und Strukturen stellen diese nämlich »kein undurchdringliches Gefängnis [dar], sondern weisen zahlreiche Brüche und Diskontinuitäten auf. Durch das Nebeneinander verschiedener symbolischer Strukturen, durch die Konkurrenz und die Verknüpfungsmöglichkeiten von Diskursen ergeben sich zahlreiche individuelle Positionierungsmöglichkeiten, die je eigene Formen der Aussage und Wahrnehmung zulassen.« Landwehr (2004), S. 99; vgl. dazu auch Sarasin, Philipp: Michael Foucault zur Einführung. Hamburg 2005, S. 160. 156 Vgl. Landwehr (2004), S. 80, vgl. weiterführend Foucault (1981), S. 75 – 82. 157 Vgl. Kammler (2008), S. 55 f., vgl. weiterführend Foucault (1981), S. 83 – 93.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

Diskurses gibt und in welchem Verhältnis er zu benachbarten Diskursen und nichtdiskursiven Praktiken steht.¹⁵⁸ Der in der Archäologie des Wissens definierte Diskursbegriff, dem diese methodologischen Überlegungen folgen, erfuhr zu Beginn der 1970er Jahre eine maßgebliche Ergänzung durch Foucault selbst, denn der Philosoph machte im Rahmen seiner Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France auf eine untrennbare Verknüpfung des Diskurses mit der Macht aufmerksam.¹⁵⁹ Damit einhergehend betonte er zugleich dezidierter als zuvor die Einbettung des Diskurses im Beziehungsgeflecht der Gesellschaft.¹⁶⁰ Gerade diese neue Akzentuierung, die die Attraktivität des diskursanalytischen Ansatzes für die Kultur- und Sozialwissenschaften ungemein erhöhte,¹⁶¹ liefert auch für die vorliegende Studie entscheidende Bezugsmöglichkeiten. Den Ausgangspunkt für Foucaults Überlegungen bildete nunmehr die Hypothese, dass die Produktion des Diskurses in jeder Gesellschaft […] zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.¹⁶²

Foucaults Hauptaugenmerk liegt seit den frühen 1970er Jahren folglich nicht länger primär auf internen Kontrollmechanismen, die regeln, »wer innerhalb des jeweiligen Diskurses spricht und was das sprechende Subjekt sagen kann«,¹⁶³ sondern verstärkt auf externen Prozeduren, die auf die Grenzen des Diskurses einwirken. »[W]as sagbar ist, was gesagt werden muss und was nicht gesagt werden kann«,¹⁶⁴ wird maßgeblich durch Strategien der Verknappung und Ausschließung der sprechenden Subjekte von außen (mit)bestimmt respektive reguliert.¹⁶⁵ Während eine Verknappung der zum Sprechen Berechtigten etwa über formale Qualifikationen 158 Vgl. Kammler (2008), S. 56 und Landwehr (2004), S. 79; vgl. weiterführend auch Foucault (1981), S. 94 – 103. Exemplarisch verweist Foucault in diesem Kontext auf die Rolle, die die allgemeine Grammatik in der pädagogischen Praxis gespielt hat, und die Auswirkung ökonomischer Theorien auf politische Entscheidungen und gesellschaftliche Kämpfe. Vgl. ebd., S. 99. 159 Vgl. Landwehr (2004), S. 83 und Sellhoff, Michael: »Die Ordnung des Diskurses«. In: FoucaultHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Paar und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 62 – 68, hier S. 63. 160 Vgl. Kammler (2005), S. 45. 161 Vgl. dazu etwa Landwehr (2004), S. 83 und Kammler (2008), S. 52. 162 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1993, S. 10 f. 163 Sellhoff (2008), S. 64. 164 Parr (2008), S. 235. 165 Vgl. ebd.

2.3 Michel Foucaults Diskursbegriff und die Historische Diskursanalyse

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oder Rituale erfolgen kann, entsteht Ausschließung »durch die Entgegensetzungen von Erlaubtem und Verbotenem, von Vernunft und Wahnsinn, von Wahrem und Falschem.«¹⁶⁶ Insbesondere der letztgenannten Dichotomie zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹ kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, denn Foucault gemäß befindet man sich, auch wenn man die Wahrheit sagt, nur dann ›im Wahren‹, wenn man den Regeln des Diskurses gehorcht.¹⁶⁷ Folglich definieren Diskurse Wahrheit und produzieren damit gesellschaftliche Macht – allerdings setzen sie zugleich auch Macht voraus und leben von der Macht derer, die sich ihrer bedienen, so dass sich konstatieren lässt, dass sich Diskurs und Macht stets gegenseitig bedingen und beeinflussen.¹⁶⁸ Aus diesem Grund sind die Regeln, die innerhalb eines Diskurses herrschen, nicht statisch, sondern aktualisieren sich permanent.¹⁶⁹ Wenngleich Foucaults Arbeiten von methodischen Impulsen und Reflexionen durchzogen sind, legt er weder in der Archäologie des Wissens noch in der Ordnung des Diskurses eine klar abgesteckte Methodologie diskursanalytischen Vorgehens fest. Allerdings stellten Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen im Rückgriff auf seine Erkenntnisse weiterführende methodische Überlegungen an. In der Literaturwissenschaft erlangten vor allem der von Jürgen Link und Ursula LinkHeer entwickelte Ansatz einer Interdiskursanalyse ¹⁷⁰ und Klaus-Michael Bogdals Studien über eine Historische Diskursanalyse der Literatur Bekanntheit. Letztere geben für die vorliegende Untersuchung insofern wichtige Impulse, als sie die Historische Diskursanalyse als Forschungsrichtung ausweisen, »die programma-

166 Sellhoff (2008), S. 64. 167 Vgl. Foucault (1993), S. 25, Sellhoff (2008), S. 64 und Landwehr (2004), S. 84. Foucault untermauerte diese These in seinem Vortrag, indem er auf die Vererbungslehre Gregor Mendels verwies. Diese war zwar wahr, wurde aber von den Biologen des neunzehnten Jahrhunderts nicht anerkannt – sie befand sich also nicht ›im Wahren‹ des biologischen Diskurses seiner Epoche. Vgl. Foucault (1993), S. 25. 168 Vgl. Landwehr (2004), S. 84 und Sarasin (2005), S. 115. 169 Vgl. Landwehr (2004), S. 84. 170 Siehe dazu etwa Geisenhanslüke, Achim: »Diskursanalyse und Literaturwissenschaft«. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Paar und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 331 – 340, hier S. 335 f. Link und Link-Heer geht es – grob skizziert – vor allem darum, spezifische diskursive Gesetze der Literatur herauszuarbeiten, indem sie zwischen ›Spezial‹- und ›Interdiskursen‹ differenzieren. Die Literatur wird dabei als Interdiskurs bestimmt, der Verbindungen zwischen (bspw. naturwissenschaftlichen oder ökonomischen) Spezialdiskursen herstellen und eine vermittelnde Rolle einnehmen kann. (Vgl. dazu ebd.) Für die vorliegende Untersuchung, die nicht im Schwerpunkt ein Korpus literarischer Texte, sondern verschiedenste Formen politischer Positionierungen eines Literaten in den Blick nehmen will, erscheint es jedoch sinnvoller, auf einen Ansatz zurückzugreifen, der die diskursanalytischen Überlegungen Foucaults dezidierter mit Verfahrensweisen zur Untersuchung einzelner literarischer wie nicht-literarischer Texte verknüpft.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

tisch die textnahe Untersuchung literarischer Werke mit historischer Darstellung zu verbinden sucht«.¹⁷¹ Über Foucault hinausgehend, der nicht intendierte, einzelne Texte zum Gegenstand seiner Diskursanalyse zu machen, versucht Bogdal somit, philologische Erkenntnis und Diskursanalyse miteinander zu verbinden.¹⁷² Für die Literaturwissenschaft eröffnet sich dadurch »die Möglichkeit, auf ›Kontexte‹ zurückgreifen zu können, ohne die Werke sogleich in eine zeitlich und bedeutungskonstitutiv nachgeordnete Position zu rücken.«¹⁷³ Die »sukzessive Beschreibung komplexer historischer Diskursformationen, der Referenten der Aussage, der Aussagen selbst, der in ihnen eingenommenen Subjektpositionen und der ihnen eigenen Materialität und Medialität« erlaube es zudem, »eine Epoche (und ihre Transformation) in ihrer Besonderheit zu erfassen.«¹⁷⁴ Für die Geschichtswissenschaft arbeitete der Historiker Achim Landwehr, der wie Bogdal den Nutzen philologischer Vorgehensweisen für die Analyse von Diskursen betont,¹⁷⁵ einen konkreten »methodische[n] Vorschlag« dazu aus, »wie sich historische Diskursanalysen empirisch durchführen lassen«.¹⁷⁶ Da im Fokus der vorliegenden Studie keineswegs allein Kästners literarische Texte stehen, sondern diese nur einen Teil des zu untersuchenden Korpus bilden, orientiert sich die weitere Untersuchung maßgeblich an diesem, nicht allein auf die Literatur zugespitzten, ›Vorschlag‹ Landwehrs. Er bezieht, neben den Erkenntnissen Foucaults, auch Hinweise Bourdieus auf eine soziale Fundierung sprachlich etablierter Wahrnehmungsschemata der Wirklichkeit als relevanten theoretischen Kontext mit ein.¹⁷⁷

171 Bogdal (1999), S. 7. 172 Vgl. Geisenhanslüke (2008), S. 336 f. 173 Bogdal (1999), S. 8. 174 Ebd. 175 Vgl. Landwehr (2004), S. 105. 176 Ebd., S. 8. 177 Wie Landwehr (2004, S. 98) hervorhebt, spielen Foucaults Annahmen über die kommunikative Konstruiertheit von Wissen und Macht, die situationsspezifischen Möglichkeitsbedingungen und beständigen Veränderungen unterworfen ist, auch in Bourdieus Untersuchungen eine entscheidende Rolle. Zwar nutzte der Soziologe den Diskursbegriff nicht explizit als Analysekategorie, jedoch betrachtete auch er »die Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen«, als »[s]ymbolische Macht« (Bourdieu 1992, S. 153) und ging zudem davon aus, dass die Durchsetzung einer legitimen Definition von Wirklichkeit den Kern gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bildet. (Vgl. dazu auch Landwehr 2004, S. 92). Allerdings leitet sich die ›symbolische Macht‹ für ihn nicht konstitutiv aus der diskursiven Praxis ab, sondern aus den in einem spezifischen Zeitraum bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Als Voraussetzung, um die Wirksamkeit von Sprache und Diskursen erklärbar machen zu können, betrachtete er folglich zuvörderst die Rekonstruktion des sozialen Raums. Vgl. weiterführend auch Landwehr (2004), S. 89 – 97 sowie Bublitz, Hannelore: »Pierre Bourdieu«. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Paar und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 210 – 213.

2.3 Michel Foucaults Diskursbegriff und die Historische Diskursanalyse

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Um eine »angemessene Analyse von historischen Diskursen zu ermöglichen«,¹⁷⁸ mittels derer sich »Wahrnehmungen von Wirklichkeit« sowie der »Wandel sozialer Realitätsauffassungen« untersuchen lassen¹⁷⁹ und festgestellt werden kann, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ›sagbar‹ war,¹⁸⁰ gilt es zunächst, jenes Material zusammenzustellen, das für die jeweils aufgeworfene Fragestellung von Relevanz ist. Foucaults Annahmen über die Eigenschaften von Aussagen folgend, fungiert dabei als zentrales Auswahlkriterium »die Wiederholung und die Gleichförmigkeit von immer wieder ähnlich Gesagtem oder Geschriebenen«.¹⁸¹ Da sich Aussagen in unterschiedlichsten Formen manifestieren können, muss sich die Korpusbildung nicht auf eine Zusammenstellung von Texten (oder gar bestimmten Textarten) beschränken, sondern kann beispielsweise auch Bilder oder symbolische Handlungen einbeziehen. Entscheidend ist, dass sich die gewählten Quellen »als möglichst repräsentativ für den Diskurs erweisen, in ausreichender Anzahl vorhanden [sind] und sich seriell über einen gewissen Zeitraum erstrecken.«¹⁸² In einem nächsten Untersuchungsschritt ist das Material in seine jeweiligen situativen, medialen, institutionellen und historischen Kontexte einzubetten.¹⁸³ Um die für einen Diskurs konstitutiven Aussagen näher bestimmen zu können, ist es unerlässlich, den Fokus auf die einzelnen Quellen weiter zu verengen und detaillierte Analysen vorzunehmen. Hat man es mit einem Text zu tun, so gilt es etwa, dessen Makro- und Mikrostruktur in den Blick zu nehmen.¹⁸⁴ Es lässt sich allerdings, angesichts der Möglichkeits- respektive Machtbedingtheit von Aussagen, auch immer danach fragen, was nicht im Text steht und warum Bestimmtes nicht aufgenommen wurde.¹⁸⁵ Unterzieht man die einzelnen Bestandteile des eingangs gebildeten Korpus diachronisch solchen Analysen und setzt die hervorstechenden Merkmale (wie etwa »bestimmte Argumentationen, Unterscheidungen, Differenzierungen, Konzepte,

178 Landwehr (2004), S. 105. 179 Vgl. ebd. 180 Vgl. ebd., S. 7. 181 Vgl. ebd., S. 106. 182 Ebd., S. 107. 183 Vgl. ebd., S. 109 – 111. 184 Zur makrostrukturellen Untersuchungsebene zählt Landwehr etwa die Erfassung des in einem Text behandelten, über einzelne Sätze und Abschnitte hinausgehenden Themas und die Untersuchung des Textaufbaus. Zudem kann beispielsweise überprüft werden, in welcher Form der oder die Schreibende im Text auftaucht, in welchem Verhältnis Mündlichkeit und Schriftlichkeit zueinanderstehen und welche Haltung gegenüber den Rezipienten eingenommen wird. Die Mikrostruktur des Textes lässt sich indes erfassen, indem beleuchtet wird, welche argumentativen, stilistischen und rhetorischen Elemente seinem Handlungscharakter dienen. Vgl. ebd., S. 115 – 117. 185 Vgl. ebd., S. 116.

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2 Analytischer Bezugsrahmen: Der Intellektuelle, das Feld und der Diskurs

Worte etc.«¹⁸⁶), die dabei eruiert werden konnten, in Bezug zueinander, so lassen sich Aussagen identifizieren, die für den untersuchten Diskurs konstitutiv sind.¹⁸⁷ Unter Einbeziehung der zuvor ermittelten Kontexte wird schließlich herausgestellt, wann und unter welchen Bedingungen bestimmte Aussagen auftauchen und wegfallen, zugelassen oder unterdrückt beziehungsweise mit widerstreitenden Aussagen konfrontiert werden. Auf diese Weise können letztlich Angaben über die den Diskurs charakterisierenden intra- wie interdiskursiven Zusammenhänge, Verbindungen und Abgrenzungen – und damit auch: über die Etablierung und historische Veränderung von Wahrnehmungskategorien und Bedeutungskonstruktionen – gemacht werden.¹⁸⁸ Unter Anwendung dieses Landwehr’schen ›Vorschlags‹ zur Durchführung der Historischen Diskursanalyse und unter Rückbezug auf die ihr zugrunde liegenden theoretischen Prämissen soll im Verlauf dieser Studie das Korpus der schriftlichen, mündlichen und symbolischen Hervorbringungen respektive Praktiken, mittels derer Kästner nach dem Zweiten Weltkrieg Stellung zur politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lage bezog, eingehend untersucht werden. In Abgrenzung zu jenen bislang vorgelegten Studien, die die Kontexte der Kästner’schen Positionierungen gar nicht oder nur am Rande einbezogen haben, werden dabei konsequent die historischen, sozialen und diskursiven Zusammenhänge, in denen sich der Schriftsteller bewegte und zu Wort meldete, erfasst und berücksichtigt. Den Erkenntnissen Foucaults wie Bourdieus folgend, wird dabei insbesondere zu eruieren sein, welche Positionierungsmöglichkeiten dem Schriftsteller nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in bestimmten Situationen gegeben waren. Vor dem Hintergrund der erkenntnisleitenden Frage danach, auf welche Weise(n) Kästner die Rolle eines Intellektuellen einnahm, soll in diesem Zuge dezidiert überprüft werden, inwiefern seine Aussagen typisch oder gar konstitutiv für bestimmte Diskurse waren oder ihnen, umgekehrt, zuwiderliefen. In welchen Formen und mit welchen Strategien versuchte er, Einfluss auf die Etablierung einer ›legitimen Weltsicht‹ zu nehmen? Auf welche Werte bezogen argumentierte er? In welchen Situationen bestärkte oder bekämpfte er bereits vorhandene Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen anderer? Welche Kontinuitäten und Brüche zeigen sich bei diachroner Betrachtung seiner Aussagen? Und wann beachtete, prägte oder erweiterte er die situationsspezifisch vorherrschenden Grenzen des Sagbaren? Bevor all diesen Fragen nachgegangen werden kann, gilt es jedoch zunächst, unter Bezugnahme auf die Bourdieu’sche Feldtheorie, Kästners Karriereverlauf und seine Positionen im kulturellen Feld einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

186 Ebd., S. 131. 187 Vgl. ebd. 188 Vgl. ebd., S. 131 – 133.

3 Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der vollständigen Besetzung des Reichsgebietes durch die Alliierten endeten im Mai 1945 sowohl der Zweite Weltkrieg als auch die nationalsozialistische Herrschaftszeit. Vorangegangen waren zwölf Jahre, in denen die Nationalsozialisten nicht nur einen Millionen von Opfern fordernden Krieg geführt, sondern auch eine Diktatur etabliert hatten, in der politisch Andersdenkende und all jene, die der NS-Ideologie zufolge einer ›falschen Rasse‹ respektive Religion angehörten, systematisch verfolgt, inhaftiert und ermordet worden waren. Während für viele Menschen mit dem Kriegsende die Stunde der Befreiung gekommen war, herrschte unter jenen Deutschen, die bis zuletzt an ein ›Tausendjähriges Reich‹, an die Allmacht ihres ›Führers‹ Adolf Hitler und an eine germanisch-deutsche Überlegenheit über andere Völker und ›Rassen‹ geglaubt hatten, Orientierungslosigkeit und Ernüchterung.¹ Die unmittelbare Zeit nach der Kapitulation sollte in späteren wissenschaftlichen Darstellungen nicht selten als ›Tiefpunkt‹ der neueren deutschen Geschichte charakterisiert werden:² Staat und Parteiapparat brachen zusammen, nahezu ein Drittel der deutschen Wohnungen war durch den Bombenkrieg zerstört worden und die Versorgungslage der Bevölkerung war, nicht zuletzt aufgrund des Zustroms der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten, überaus kritisch.³ Gleichwohl wurden bereits in den ersten Nachkriegsmonaten die Grundlagen für das Wiederaufblühen des Kulturbetriebes geschaffen. Erich Kästner befand sich zum Zeitpunkt des Kriegsendes nicht in Berlin, wo er seit 1927 gelebt und über lange Zeit gearbeitet hatte, sondern in Mayrhofen, Tirol. Unter dem Vorwand, einen Film zur Stärkung des Durchhaltewillens der deutschen Bevölkerung drehen zu wollen, hatte der UFA-Mitarbeiter Eberhard Schmidt sich bereits im März 1945 mit einer Gruppe von Filmleuten in das Zillertal abgesetzt und ihn als Drehbuchautor in sein Team eingeschleust.⁴ Der von der Reichskulturkammer genehmigte Film, der Kästners Angaben zufolge den – angesichts der politischen Lage nahezu persiflagehaften – Titel Das verlorene Gesicht tragen sollte, ist

1 Vgl. Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart 2003, S. 62. 2 Vgl. dazu Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949. München 2003, S. 941. 3 Vgl. ebd., S. 941 – 943. 4 Vgl. dazu Hanuschek (2003), S. 306. https://doi.org/10.1515/9783111112169-005

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3 Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg

realiter jedoch nie gedreht worden.⁵ Anstatt noch in den letzten Wochen der NSDiktatur wertvolles Filmmaterial zu vergeuden, fokussierte man ausschließlich, der Gefahrenzone der deutschen Reichshauptstadt zu entkommen.⁶ Erst im Sommer 1945 kehrte Kästner aus Tirol zurück – um in den Folgemonaten und -jahren, nunmehr in München lebend, zahlreiche dominierende Positionen im kulturellen Feld einzunehmen und sich innerhalb verschiedener (kultur)politischer Debatten als Intellektueller zu positionieren. Davon ausgehend, dass die Reichweite und die Erfolgschancen eines Intellektuellen maßgeblich von dem Ansehen (respektive symbolischen Kapital) mitbestimmt werden, das er in seinem eigentlichen Tätigkeitsbereich gewonnen hat, nehmen die folgenden Unterkapitel Kästners Reetablierung als Journalist und Schriftsteller nach dem Kriegsende in den Blick und zeigen auf, wie es ihm gelang, seine gesellschaftliche Bekanntheit und sein Prestige zurückzugewinnen und auszubauen.

3.1 Die Voraussetzungen für Kästners Nachkriegskarriere Bevor die einzelnen Positionen, die Kästner im kulturellen Feld der unmittelbaren Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik innehatte, einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, ist es zunächst notwendig zu rekonstruieren, unter welchen Voraussetzungen er diese Positionen überhaupt einnehmen konnte. Daher soll als Erstes ein kurzer Einblick in die (kultur)politischen Programme und Ziele der Siegermächte gegeben werden, der neben der politischen Neuordnung Deutschlands vor allem die Entnazifizierungs- und Reeducation-Maßnahmen der Besatzer akzentuiert. Daran anknüpfend wird herauszustellen sein, welche Bedeutung diese Maßnahmen für den Neuaufbau der verschiedenen Teilbereiche des kulturellen Feldes hatten. In Anlehnung an Bourdieu gilt es dabei vor allem zu berücksichtigen, über welches Kapital die Akteure verfügen mussten, um Chancen auf eine erfolgreiche Reetablierung zu haben. Vor dem Hintergrund der in diesem Untersuchungsschritt gewonnenen Erkenntnisse soll schließlich überprüft werden, welche kulturellen, sozialen und symbolischen Ressourcen Kästner nach dem Ende der NS-Herrschaft besaß und inwiefern er damit die Karrierebedingungen, die die Besatzer statuiert hatten, erfüllen konnte.

5 Zwar feierte im November 1948 ein deutsch-österreichischer Spielfilm unter dem von Kästner in Notabene 45 genannten Titel seine Premiere; Stab und Besetzung weisen allerdings keine Gemeinsamkeiten mit der Crew, die gut dreieinhalb Jahre zuvor nach Mayrhofen reiste, auf. 6 Vgl. Kordon (1998), S. 216.

3.1 Die Voraussetzungen für Kästners Nachkriegskarriere

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3.1.1 Die (Kultur‐)Politik der Besatzungsmächte Schon lange vor der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die künftigen Siegermächte darüber diskutiert, wie nach dem Ende des Krieges mit Deutschland umzugehen sei. Auf den Konferenzen von Teheran und Jalta im November 1943 und im Februar 1945 fassten Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin erste gemeinsame Beschlüsse über die militärische Besatzung Deutschlands und den Umgang mit den deutschen Kriegsverbrechern. Diese differenzierte und bekräftigte man schließlich zwischen dem 17. Juli und dem 2. August 1945 auf der Potsdamer Konferenz, die erneut von Großbritannien, den (nach dem Tod Roosevelts durch Harry S. Truman vertretenen) USA und der Sowjetunion initiiert wurde.⁷ Der französische Regierungschef Charles de Gaulle schloss sich den politischen Vereinbarungen am 4. August 1945 an.⁸ Zwar war das im Zweiten Weltkrieg entstandene Zweckbündnis der Alliierten schon zu dieser Zeit von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnet und der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus.⁹ Dennoch standen die Beschlüsse offiziell unter keiner geringeren gemeinsamen Zielsetzung, als der Sicherung des Weltfriedens zu dienen, der von Deutschland innerhalb von nicht einmal drei Jahrzehnten bereits zum zweiten Mal massiv bedroht worden war.¹⁰ Um eine neuerliche deutsche Aggression langfristig zu verhindern, genügte es nach Annahme der Siegermächte nicht, allein die NS-Elite durch ein internationales Militärtribunal anzuklagen und zu verurteilen, wie es im

7 Churchill, dessen Partei im britischen Wahlkampf eine herbe Niederlage erlitten hatte, wurde wiederum noch während der Konferenz, am 28. Juli 1945, von Clement Richard Attlee, dem neuen Premierminister von der Labour-Partei, abgelöst. Vgl. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2007, S. 26. 8 An den vorherigen Verhandlungen war Frankreich noch nicht beteiligt, da es erst im letzten Kriegsjahr in den Kreis der Alliierten aufgenommen worden war. Von den so genannten ›Großen Drei‹ wurde es jedoch weiterhin nur als Siegermacht von geringerem Status anerkannt. Vgl. ebd. 9 Aufgrund des eigenmächtigen Umgangs Stalins mit den deutschen Ostgebieten war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu vehementen Unstimmigkeiten zwischen der UdSSR und den Westmächten gekommen. Kurz vor Beginn der Verhandlungen in Potsdam erfuhr Truman zudem, dass auf dem US-Testgelände in New Mexico am 16. Juli 1945 erfolgreich die erste Atombombe gezündet worden war, wodurch die USA zum mächtigsten Land der Welt avancierten. Auf Anordnung des amerikanischen Präsidenten erfolgten schließlich am 6. und 9. August 1945 die – bis heute höchst umstrittenen – Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die Japan zur Kapitulation bewegten und ein rasches Ende des noch bestehenden Krieges in Asien bewirkten. Vgl. dazu Wolfrum (2007), S. 24 f. 10 Vgl. Meyer, Dennis: »Reeducation«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 19 – 21, hier S. 19. Im Weiteren als Meyer (2007b).

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3 Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg

Rahmen des ersten Nürnberger Prozesses vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 geschah.¹¹ Vielmehr schien ihnen eine komplette Umwandlung der institutionellen Strukturen des Landes und der dort vorherrschenden Wertementalität vonnöten, um Faschismus und Militarismus sowohl aus dem politischen, ökonomischen und kulturellen Leben als auch aus dem Bewusstsein der Bevölkerung zu vertreiben.¹² Im Zuge der angestrebten Entnazifizierung des Landes veranlassten die Besatzer die Auflösung der NSDAP und sämtlicher angeschlossenen Organisationen und verbaten zudem alle nationalsozialistischen Symbole und Schriften. Darüber hinaus zielten ihre Pläne auf die völlige Abrüstung und Entmilitarisierung des Landes und die Ausschaltung der gesamten für die Kriegsproduktion geeigneten Industrie ab.Verhaftet werden sollten vor diesem Hintergrund nicht nur höhere NSFunktionäre und Parteimitglieder aus zentralen Bereichen der Wirtschaft, sondern auch alle weiteren mutmaßlichen Kriegsverbrecher.¹³ Die konkrete Umsetzung der Entnazifizierungsmaßnahmen, für die die jeweiligen Oberbefehlshaber der vier Siegermächte die Verantwortung trugen, ging in den verschiedenen Besatzungszonen allerdings sehr unterschiedlich vonstatten. In der sowjetischen Zone war das Vorgehen maßgeblich von strukturellen Veränderungen geprägt, die auf die Entmachtung der ›Monopolherren‹ und eine Systemveränderung in Richtung einer kommunistischen Parteiherrschaft abzielten: Man beließ es nicht dabei, ehemalige Nationalsozialisten aus der öffentlichen Verwaltung und der Industrie zu entfernen, sondern enteignete auch die Industriebetriebe und die landwirtschaftlichen Unternehmen als solche.¹⁴ In den drei westlichen Zonen wurde die Entnazifizierung indes als Bestandteil der Demokratisierung der deutschen Bevölkerung aufgefasst.¹⁵ Besonders die Amerikaner gingen bei ihrem Versuch einer politischen ›Massensäuberung‹ zunächst sehr entschieden vor. In ihrem Besatzungsgebiet wurden – nicht zuletzt aufgrund des ›automatischen Arrests‹, der die präventive Verhaftung bestimmter Personengruppen ohne Einzelüberprüfung vorsah – weit-

11 Siehe dazu Meyer, Dennis: »Nürnberger Prozess«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 21 – 22. Im Weiteren als Meyer (2007c). 12 Vgl. Meyer (2007b), S. 19 sowie Gehring, Hansjörg: Amerikanische Literaturpolitik in Deutschland 1945 – 1953. Ein Aspekt des Re-Education-Programms. Stuttgart 1976, S. 17. 13 Vgl. Meyer, Dennis: »Entnazifizierung«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 18 – 19, hier S. 18. Im Weiteren als Meyer (2007a). 14 Vgl. dazu Wolfrum (2007), S. 27. 15 Vgl. Meyer (2007a), S. 18.

3.1 Die Voraussetzungen für Kästners Nachkriegskarriere

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aus mehr Kriegsgefangene genommen als in den anderen westlichen Zonen.¹⁶ Zudem musste jeder über 18jährige Deutsche ab dem 7. Juli 1945 einen Bogen mit 131 Fragen zur Überprüfung seiner politischen Vergangenheit ausfüllen. Zur Abwicklung der Verfahren hatte die Militärregierung Spruchkammern eingerichtet und mit – nach ihrem Ermessen – politisch ›unbelasteten‹ Deutschen besetzt.Von diesen Spruchkammern wurden die Überprüften schließlich in eine von fünf BelastungsKategorien (Hauptschuldiger, Belasteter, Minderbelasteter, Mitläufer oder Entlasteter) eingestuft.¹⁷ Das Spektrum der Strafmaßnahmen für alle, die nicht als ›entlastet‹ deklariert wurden, war breit gefächert: die Sanktionen reichten von Geldstrafen und dem Verlust von Rentenansprüchen über fünf- bis zehnjährige Berufsverbote bis hin zum Arbeitslager und zu Gefängnisstrafen.¹⁸ Als durchweg geglückte Entnazifizierungsstrategie lässt sich die Errichtung des Spruchkammerwesens aus heutiger Sicht jedoch nicht bezeichnen: Zum einen ließen sich zahlreiche Belastete, die ihre Unschuld nachweisen mussten, von Freunden, Bekannten und Nachbarn Entlastungsschreiben (so genannte ›Persilscheine‹) erstellen und wurden rehabilitiert, wodurch sich die Spruchkammern zunehmend zu ›Mitläuferfabriken‹ und ›Reinwaschungsanstalten‹ entwickelten.¹⁹ Zum anderen entschieden die Kammern in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in der Regel zunächst über die ›leichteren Fälle‹, das heißt über Mitläufer und Minderbelastete. Als man die Entnazifizierungsmaßnahmen nach der Verschärfung der Konflikte zwischen den USA und der Sowjetunion zu Beginn der 1950er Jahre abrupt abbrach, wurden noch ausstehende Verfahren gegen zahlreiche Deutsche, die in der NS-Zeit leitende Positionen innegehabt hatten, nicht weiterverfolgt.²⁰ Darüber hinaus hatte sich vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts bereits ab 1948 ein Richtungswechsel in der Politik der Amerikaner vollzogen: Da man Deutschland als Bündnispartner benötigte, wurden Verwaltung, Wirtschaft und Justiz zunehmend mithilfe der alten NS-Eliten wiederaufgebaut.²¹ Aufgrund dieser Entwicklungen geriet

16 ›Automatisch‹ (qua ihrer Funktion) inhaftiert wurden bspw. Beamte, Mitglieder des Reichssicherheitsdienstes, der Gestapo und SS- wie SA-Angehörige. Vgl. ebd. sowie Wehler (2003), S. 957. 17 Vgl. Meyer (2007a), S. 18. 18 Vgl. Wolfrum (2007), S. 27 und Wehler (2003), S. 958. 19 Vgl. Wehler (2003), S. 959. 20 Vgl. Wolfrum (2007), S. 27. 21 Vgl. Meyer (2007a), S. 19. Erwähnenswert ist, dass solche personellen Kontinuitäten auch in der sowjetischen Besatzungszone respektive der DDR bestanden. Dort wurde ab dem 11. November 1949 allen Personen, die nach dem Krieg zu weniger als einem Jahr Gefängnis verurteilt worden waren, das Wahlrecht wieder zugänglich gemacht und sie durften erneut ihre alten Berufe ergreifen, sofern sie zwischen 1933 und 1945 keine Positionen in der Verwaltung oder der Justiz des NS-Staates bekleidet hatten. Vgl. ebd.

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3 Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg

die anfangs noch rigoros betriebene Entnazifizierung – vom symbolischen Wert exemplarischer Verurteilungen abgesehen – immer mehr zur Farce.²² Nichtsdestotrotz setzte das politische Programm der Alliierten in den Westzonen insofern zentrale Impulse für die Überwindung des faschistischen und die Etablierung eines demokratischen Systems, als auch die »Reeducation«, die ›Umerziehung‹,²³ dazugehörte. Diese »Komplementärstrategie zur Entnazifizierung«²⁴ zielte darauf ab, »das politisch-kulturelle Wertesystem und -bewusstsein und die ideologischen Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu verändern«.²⁵ Von den USA nach dem Leitbild ihrer Gesellschaftsform entworfen und von den britischen und französischen Besatzungsmächten in modifizierter Form übernommen,²⁶ sah das Konzept einerseits vor, die Deutschen mit der Wahrheit über das Ausmaß der NS-Verbrechen zu konfrontieren. Dadurch versuchte man sie dazu zu bringen, Verantwortung für ihre Vergangenheit zu übernehmen und ihre (Mit‐)Schuld zu akzeptieren. Andererseits sollten sie durch Schulung, Bildung und Erziehung dazu befähigt werden, demokratische Grundwerte wie Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Gleichheit und Achtung vor der Menschenwürde anzuerkennen, um diese künftig bewahren und verteidigen zu können.²⁷ Für das Projekt, die Bevölkerung mit diesen Werten vertraut zu machen, spielte nicht nur die grundlegende Veränderung des Bildungswesens eine entscheidende Rolle,²⁸ sondern auch die komplette Neuausrichtung des Kulturbetriebes. In den vorangegangenen zwölf Jahren hatten Presse, Rundfunk, Literatur, Theater, Film, bildende Kunst und Musik der vollständigen Überwachung und propagandistischen Steuerung durch die Nationalsozialisten unterlegen und waren dadurch weitgehend

22 Vgl. ebd., S. 18. 23 In den zeitgenössischen Diskussionen war der Begriff der Umerziehung, mit dem »Reeducation« in der Regel übersetzt wurde, negativ konnotiert, da er von vielen Deutschen mit einer Bevormundung durch die Besatzer assoziiert wurde. Synonym wurden und werden häufig auch »Demokratisierung« und »Reorientierung« gebraucht. Vgl. Meyer (2007b), S. 19 f. 24 Wehler (2003), S. 959. 25 Schnell (2003), S. 77. 26 Vgl. dazu Meyer (2007b), S. 19. 27 Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 66 – 69. 28 Gerade in den Schulen wollte man von nun an demokratische Ideale anstelle von Unterordnung vermitteln. Die westlichen Besatzer legten nicht nur Lehrmittel- und Schulgeldfreiheit sowie die neunjährige Schulpflicht fest, sondern strebten zunächst auch maßgebliche personelle Veränderungen im Schulwesen an. In der US-Zone wurden mancherorts 90 % der Lehrer, die während der NS-Zeit unterrichtet hatten, entlassen; allerdings wurden die meisten dieser Entlassungen bereits nach kurzer Zeit rückgängig gemacht. Vgl. dazu Wehler (2003), S. 960 sowie Meyer (2007b), S. 20.

3.1 Die Voraussetzungen für Kästners Nachkriegskarriere

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von internationalen Einflüssen abgeschottet gewesen.²⁹ Unter der Ägide der Besatzer blühten die kulturellen Produktionsfelder alsbald wieder auf. Doch obgleich die drei Westmächte eine Erziehung der Bevölkerung zur Demokratiefähigkeit fokussierten, war der ›neue‹ Kulturbetrieb zu Beginn keineswegs nach demokratischen Prinzipien organisiert: Welche Akteure sich in diesem gesellschaftlichen Handlungsbereich positionieren durften, bestimmten nun nicht mehr die Nationalsozialisten, sondern – freilich unter vollkommen veränderten politischen Vorzeichen – die Siegermächte. In der amerikanischen Zone, die im Folgenden näher betrachtet wird, da Kästner sich nach dem Kriegsende dort niederließ, waren die Militärdienststellen dafür verantwortlich, kulturpolitische Richtlinien auszuführen, die das US-Außenministerium festgelegt hatte. In diesem Zuge wurde die Information Control Division, die sämtliche kulturellen Aktivitäten überwachte, zur entscheidenden Dienststelle.³⁰ Nach einer Phase der strikten Zensur nationalsozialistischer und militaristischer Kulturgüter sollte sie der Bevölkerung ein kulturelles Angebot offerieren, das die erstrebten demokratischen Werthaltungen transportierte. Einen zentralen Stellenwert innerhalb dieser ›kulturellen Umerziehung‹ hatte das Pressewesen. Dass man Mitglieder der deutschen Bevölkerung in die künftige journalistische Arbeit involvieren könne, war von den Amerikanern während des Krieges zwar noch vehement in Frage gestellt worden.³¹ Der Aufbau einer ausschließlich von Vertretern der Besatzungsmächte redigierten Presse erwies sich jedoch als praktisch nicht durchführbar, weil ihnen in dem besetzten Land schlichtweg zu wenig Fachpersonal zur Verfügung stand.³² Vor diesem Hintergrund zeichneten sich in den Nachkriegsmonaten zwei Phasen der Pressepolitik ab:³³

29 Wolfrum (2007, S. 36) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »kulturelle[n] Ödnis des Dritten Reichs«. 30 Vgl. Schnell (2003), S. 79 f. 31 Unter dem Einfluss des ›Morgenthau-Plans‹ war die amerikanische Konzeptionsphase der deutschen Pressepolitik vor Kriegsende nicht unberührt von dem Gedanken geblieben, dass dem deutschen Volk aufgrund seiner Verantwortlichkeit für die Machtübernahme Hitlers und für die begangenen Kriegsverbrechen prinzipiell zu misstrauen sei und man sie bestrafen statt beteiligen müsse. Insbesondere der Eindruck, dass die deutschen Journalisten nicht belehrbar seien, hatte sich bis zum Kriegende gehalten: Noch am 27. April 1945 war etwa die wichtigste Tageszeitung des ›Dritten Reichs‹, der Völkische Beobachter, erschienen und hatte, ungeachtet der bereits bestehenden Besetzung der Vororte Berlins durch die Rote Armee, Durchhalteparolen und eine noch immer mögliche ›Wende des Kriegsglücks‹ postuliert. Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 34 u. 52. 32 Vgl. ebd., S. 28. 33 Vgl. Wiedenhorn-Schnell, Dagmar: Medien an der Longe. Deutsche Lizenzpresse in München 1945 – 1949. In: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945 – 1949. Hg. von Friedrich Prinz. München 1984, S. 252 – 260, hier S. 252 f.

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3 Kästners Reetablierung im kulturellen Feld nach dem Zweiten Weltkrieg

Zunächst betätigten sich die Siegermächte selbst als Herausgeber von Zeitungen, wobei sie oftmals mit emigrierten deutschen Autoren zusammenarbeiteten, die mit ihnen als Militärs nach Deutschland zurückkehrten. In einer zweiten Phase wurden Lizenzen an Deutsche vergeben, die selbst neue Presseorgane gründen oder zuvor gegründete Zeitungen übernehmen sollten. Als Lizenznehmer kamen dabei ausschließlich politisch ›unbelastete‹ Personen infrage, die während der NS-Zeit nicht veröffentlicht hatten oder vor Kriegsende noch überhaupt nicht publizistisch tätig geworden waren. Dieselben Bedingungen galten auch für die Zeitschriftenproduktion, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren regelrecht ›boomte‹. Da die Gründung von BuchVerlagen sich in den Anfängen der Besatzungszeit nicht kurzfristig realisieren ließ, übernahmen Zeitschriften unter anderem die Aufgabe, das fehlende literarische Angebot zu ersetzen.³⁴ Bis 1946/1947 wurden in den westlichen Zonen über 200 deutsche Magazine gegründet, die mit unterschiedlichsten Themenschwerpunkten (von Literatur über Politik und Religion bis hin zur Unterhaltung) aufwarteten; im Zuge der Währungsreform mussten allerdings zahlreiche Hefte ihr Erscheinen wieder einstellen.³⁵ Den politischen Zeitschriften in ihrem Besatzungsgebiet³⁶ gestanden die Amerikaner, die von den westlichen Siegermächten die strengste Lizenzierungspolitik verfolgten, zwar ein gewisses Maß an kritischem Journalismus zu, behielten sich jedoch – wie im prominenten Fall des Ruf ³⁷ – den Entzug von

34 Vgl. Ebbert (1994), S. 49. 35 Vgl. ebd., S. 37. 36 Genannt seien an dieser Stelle exemplarisch Die Wandlung (1945 – 1949) unter Karl Jaspers’ und Dolf Sternbergers Leitung und die Frankfurter Hefte (1946 – 1984) von Eugen Kogon und Walter Dirks, die bewusst kulturelle und politische Themen vereinten. Als Pendant zu diesen Zeitschriften im Westen lässt sich in Bezug auf die sowjetische Zone das kulturpolitische Magazin Aufbau (1945 – 1958) nennen, das nach anfänglicher Überparteilichkeit aber recht bald zum kommunistischen Sprachrohr wurde. Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 40. 37 Das ab 1946 von Alfred Andersch und Hans Werner Richter in Nachfolge der gleichnamigen amerikanischen Kriegsgefangenenzeitschrift herausgegebene Heft Der Ruf lässt sich als wichtigstes Publikationsorgan der ›Jungen Generation‹ begreifen. Nach 1945 setzten es sich die Autoren zum Ziel, radikal für einen geistigen und literarischen Neubeginn einzutreten. Da die Zeitschrift dezidierte Kritik an den politischen Maßnahmen der Besatzer übte und für eine sozialistische Ökonomie warb, entstanden aber alsbald Konflikte mit den amerikanischen Lizenzgebern. Bereits im April 1947 wurden Richter und Andersch entlassen und durch Erich Kuby ersetzt. Erst danach durfte Der Ruf erneut erscheinen. Andersch und Richter gründeten bald darauf die Gruppe 47 mit. Vgl. Fischer, Torben und Anne-Kathrin Herrmann: »Junge Generation«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 54 – 56; vgl. auch Schnell (2003), S. 79.

3.1 Die Voraussetzungen für Kästners Nachkriegskarriere

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Lizenzen vor, sofern sich die Artikel allzu weit von ihren eigenen politischen Vorstellungen entfernten. Neben dem Zeitungs- und Zeitschriftenwesen kam auch dem Rundfunk eine wichtige Rolle bei dem Versuch einer ›Umerziehung‹ durch Kultur zu. Da in der amerikanischen Zone die Technik schon bald nach dem Kriegsende wieder funktionsfähig war, konnte der erste neue Sender, Radio Stuttgart, bereits am 3. Juni 1945 mit seinen Ausstrahlungen beginnen; in den Folgemonaten wurden weitere Rundfunksender auf Länderebene eingerichtet.³⁸ Die Radio-Beiträge repräsentierten, ebenso wie die Berichterstattungen in der Presse, vor allem die politische Haltung der Besatzer, versuchten jedoch auch neue Einflüsse in das kulturelle Leben zu bringen. Beispielsweise wurden durch die von den Amerikanern etablierten beziehungsweise lizenzierten Sender Swing, Blues, Jazz und später auch Rock ’n’ Roll in Deutschland populär.³⁹ Neben den musikalischen Beiträgen umfasste das amerikanische Radioprogramm »Wortsendungen über aktuelle Fragen, kulturelle Themen und Sportereignisse[,] Berichte über Amerika, Suchmeldungen, Zielgruppenprogramme für Kinder, Jugendliche und Frauen [sowie] Schulfunksendungen«.⁴⁰ Darüber hinaus begannen alsbald zahlreiche deutsche Schriftsteller die Präsenz und die Möglichkeiten des Rundfunks zu nutzen, indem sie ihn mit Hörspielen belieferten.⁴¹ Aber nicht nur Presse und Hörfunk wurden unter den neuen politischen Vorzeichen wieder in den Alltag der deutschen Bevölkerung integriert: Bereits in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten konnten zahlreiche Kinos, die unzerstört geblieben waren, nach ihrer Prüfung durch die Besatzungsbehörden wiedereröffnet werden. Welche Filme gezeigt wurden, bestimmten die jeweiligen Vorschriften der Besatzer; ein einheitliches Kinoprogramm der vier Zonen existierte nicht. In der Regel wurden jedoch Unterhaltungsfilme aus dem Land der entsprechenden Sie-

38 Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion bauten dagegen jeweils nur eine Rundfunkanstalt in ihren Zonen auf. Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 45 und Meyer (2007b), S. 20. 39 Über die musikalischen Beiträge im Rundfunk hinaus war die Musik weniger gezielt in das Reeducation-Programm eingebunden als andere künstlerische Sparten. In der Regel begnügten sich die Besatzer damit, Lizenzen für die Gründung von Orchestern oder für die Veranstaltung von Konzerten zu erteilen, wobei sie prinzipiell die Aufführung ausländischer oder zwischen 1933 und 1945 verbotener Komponisten empfahlen. Vgl. Ebbert (1994), S. 50 f. 40 Ebd., S. 45. 41 Neben explizit als Hörspiel verfassten Texten kamen manches Mal auch andere literarische Formate im Radio zu ihrer Uraufführung. Beispielsweise war Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer-Stück Draußen vor der Tür, das nach seiner Theaterpremiere in Hamburg im November 1947 zu einem der meistgespielten Dramen auf den westdeutschen Nachkriegsbühnen avancierte, auf Anregung von Ernst Schnabel bereits im Februar des Jahres im Nordwestdeutschen Rundfunk als Hörspiel gesendet worden. Vgl. Schnell (2003), S. 98.

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germacht sowie alte ›unbelastete‹ deutsche Filme vorgeführt.⁴² Darüber hinaus installierte man bereits im Mai 1945 die Wochenschau in den Kinos neu. Durch die amerikanisch-britische Produktion Welt im Film und ihr französisches Pendant Blick in die Welt wurde das Kino dezidiert in das Reeducation-Programm einbezogen, indem die ausgestrahlten Nachrichten unter anderem die Bedeutung der Alliierten als Befreier⁴³ und das Ausmaß der NS-Verbrechen betonten. In der amerikanischen Besatzungszone wurde für kurze Zeit sogar die radikale Maßnahme ergriffen, Zwangsbesuche der Kinos anzuordnen, bei denen sich die deutschen Zuschauer den Dokumentarfilm Die Todesmühlen ansehen mussten, der Aufnahmen von verschiedenen Konzentrationslagern und Tötungsstätten zeigte.⁴⁴ Zugleich entwickelte sich in den ›Trümmerjahren‹ ein regelrechter ›Theaterrausch‹.⁴⁵ Im Gegensatz zu Presse, Rundfunk und Kino wies das Theater in den westlichen Besatzungsgebieten weniger zonenspezifische Unterschiede auf, was unter anderem auf eine große Anzahl von Tourneetheatern zurückzuführen ist, die gezielt eingerichtet wurden, um mit ihren Inszenierungen innerhalb der Zonen umherzureisen.⁴⁶ Besonders große Bühnenerfolge konnten zudem zahlreiche neu gegründete Kabaretts für sich verbuchen, die die aktuellen Ereignisse des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Alltags nach dem Krieg kommentierten.⁴⁷ Auch diese Kleinkunstbühnen waren eng an die Pläne und Vorstellungen der Alliierten gebunden: Im Hinblick auf die dort zur Aufführung gebrachten Texte wurde großer Wert auf eine kritische Behandlung der NS-Vergangenheit und eine positive Darstellung der Besatzungsmächte gelegt und es kam nicht selten zu Schwierigkeiten zwischen Kabaretts und den Kontrollbehörden.⁴⁸ Ebenfalls eng an das Reeducation-Programm angebunden war das Ausstellungswesen, das die Deutschen ab 1945 primär mit Kunstwerken vertraut machen sollte, die im NS-Regime als ›entartet‹ gegolten hatten. Durch die Begegnung mit zuvor verfemten Spielarten der Moderne sollte der Bevölkerung Gelegenheit gegeben werden, »die für die Demokratie nötige Toleranz und Diskussionsfähigkeit zu

42 Vgl. Ebbert (1994), S. 46. 43 Vgl. ebd., S. 47. 44 Vgl. Meyer (2007b), S. 20. 45 Neben deutschen Klassikern wie Lessings (im NS-Regime verbotenes) Drama Nathan der Weise oder Hofmannsthals Jedermann wurden oftmals zeitgenössische Bühnenstücke von internationalen Autoren wie Jean-Paul Sartre, Thornton Wilder oder John Steinbeck aufgeführt. Auch deutsche Exilautoren wie Bertolt Brecht oder Carl Zuckmayer wurden wieder gespielt. Dramen zeitgenössischer deutscher Literaten, die während der NS-Zeit aufgeführt worden waren, waren indes weiterhin verboten. Vgl. dazu weiterführend Schnell (2003), S. 96 – 105. 46 Vgl. Ebbert (1994), S. 47. 47 Vgl. Schnell (2003), S. 97. 48 Vgl. Ebbert (1994), S. 49.

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schulen.«⁴⁹ Als Forum für solche Diskussionen dienten nicht nur Kunstzeitschriften, sondern auch Vortragsabende und Gesprächskreise. Verglichen mit Presse, Rundfunk, Theater, Kino und bildender Kunst fand der deutsche Literaturbetrieb nach dem Zweiten Weltkrieg weitaus langsamer seinen Neubeginn: Nach zwölf Jahren, in denen Bücher primär nach ihrem propagandistischen Wert als ›publizistische Führungsmittel‹ bemessen worden waren⁵⁰ und die Literaturpolitik sich aus »Maßnahmen wie Vor-, Nach-, Präventivzensur, Überwachung der Autoren, Lenkung der Verlage, Papierzuteilung nach politischen Gesichtspunkten und Steuerung des Buchhandels«⁵¹ konstituiert hatte, bestand das Angebot der unzerstört gebliebenen Bibliotheken und Buchhandlungen zu großen Teilen aus nationalsozialistischen, rassistischen und kriegsverherrlichenden Titeln.⁵² Auf eine ›korrektive‹ Phase der alliierten Literaturpolitik, während der jene Restbestände konfisziert wurden und ein generelles Publikationsverbot herrschte, folgte eine ›konstruktive‹ Phase, in der dem deutschen Publikum Literatur zugängig gemacht wurde, die den ›Umerziehungs‹-Zielen nicht widersprach.⁵³ Die Amerikaner richteten zu diesem Zweck rollende Leihbibliotheken und ›US-InformationCenter‹ ein, in denen primär amerikanische Literatur in Übersetzung verbreitet wurde. Aber auch Werke deutscher Autoren, die während der NS-Zeit verboten, emigriert oder umgekommen waren, wurden der Bevölkerung auf diesem Wege (wieder) zugänglich gemacht.⁵⁴ Das Verlagswesen als solches konnte sich dagegen nur weitaus langsamer erneuern, denn trotz zahlreicher Anträge⁵⁵ wurden Lizenzen an Deutsche in diesem Bereich nur zögerlich vergeben. Für die ersten Verlage, die sich ab 1945 (re)etablieren konnten,⁵⁶ ergaben sich außerdem Probleme aus der Papierknappheit, aufgrund derer weitaus weniger neue oder nachzudruckende Manuskripte ›unbe-

49 Ebd., S. 51. 50 Vgl. Gehring (1976), S. 11. 51 Ebd. 52 Vgl. Ebbert (1994), S. 49. 53 Vgl. Schnell (2003), S. 80. 54 Die neuen Bestände wurden dabei mithilfe von Sondermitteln aus den USA gekauft. Zahlreiche Emigrantenverlage, die oftmals noch Vorräte an nach 1933 verbotenen Werken besaßen, beteiligten sich außerdem mit Buchspenden an diesen Projekten. Vgl. Ebbert (1994), S. 49. 55 In der amerikanischen Zone hatten allein innerhalb des ersten Nachkriegsjahres 300 Verleger versucht, eine Lizenz zu beantragen. Vgl. Gehring (1967), S. 39. 56 In Bezug auf die amerikanische Zone ist dabei etwa an den Insel-Verlag, den Ernst Klett-Verlag und den Piper-Verlag zu denken. Unter den übrigen Besatzungsmächten konnten zum Beispiel Suhrkamp, Bertelsmann und Rowohlt (in der britischen Zone), Rainer Wunderlich und Hatje Cantz (in der französischen Zone) und der Aufbau-Verlag sowie Reclam (in der sowjetischen Zone) innerhalb der ersten Nachkriegsjahre Lizenzen erlangen.

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lasteter‹ Autoren veröffentlicht werden konnten, als vorgelegen hätten: Von 1945 bis 1947 erschienen in den westlichen Besatzungszonen lediglich 5000 neue Bücher.⁵⁷ Besonders große Chancen auf eine Veröffentlichung hatten jene Werke, die als unmittelbare Beiträge zur Reeducation angesehen wurden. Noch bis in das dritte Nachkriegsjahr hinein unterlagen sämtliche literarischen Publikationen der Kontrolle durch die Besatzer. Erst mit dem Ende der Entnazifizierungsmaßnahmen gelangten der Literaturbetrieb und die anderen kulturellen Teilbereiche respektive Informationsmedien nach und nach wieder gänzlich in die Hände deutscher Kulturschaffender.⁵⁸ Wie der vorangegangene Überblick gezeigt hat, spielte die Kultur innerhalb des politischen Programms der Besatzungsmächte eine entscheidende Rolle. Folglich wurde das kulturelle Feld in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, im Sinne Bourdieus, maßgeblich heteronom durch das politische Feld gesteuert. Das Kapital, das die deutschen Akteure notwendigerweise mitbringen mussten, wenn sie dominante Positionen in den kulturellen Teilfeldern einnehmen wollten, war überaus klar definiert: Nur wer während der NS-Zeit emigriert oder nach dem Befund der Spruchkammern ›unbelastet‹ geblieben war und sich bereit zeigte, die politischen Ideale der Sieger zu unterstützen, hatte unmittelbar nach Kriegsende die Chance, den Neuaufbau des kulturellen Lebens in Deutschland mitzugestalten. Inwiefern gerade Kästner über diese – und entscheidende weitere – Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reetablierung im kulturellen Feld verfügte, soll im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden.

3.1.2 Kästners berufliche Laufbahn vor 1945 Um begreiflich zu machen, warum die kulturpolitische Situation nach dem Kriegsende eine solch günstige Ausgangslage für Kästner darstellte, ist es unumgänglich, seine berufliche Laufbahn vor der Zäsur des Jahres 1945 in den Blick zu nehmen. Aus diesem Grund werden im Weiteren zunächst sein Karriereverlauf in der Weimarer Republik und seine politischen Positionierungen jener Jahre vor 1933 einer näheren Betrachtung unterzogen, bevor anschließend Kästners Position während der nationalsozialistischen Herrschaftszeit rekapituliert wird.

57 Vgl. Ebbert (1994), S. 50. 58 Vgl. Gehring (1976), S. 35 und Schnell (2003), S. 78.

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3.1.2.1 Kästner in der Weimarer Republik Die erste große Kästner’sche Schaffensphase, die sich auf die Jahre 1927 bis 1933 eingrenzen lässt, wird in der Forschungsliteratur gemeinhin zugleich als Höhepunkt seines Schaffens charakterisiert. Hermann Kurzke prägte in diesem Zusammenhang das Bild von Kästners »goldene[m] Zeitalter«.⁵⁹ Im Hinblick auf die Frage, welches kulturelle und soziale Kapital der Schriftsteller vor der nationalsozialistischen Machtübernahme akkumulieren konnte, lohnt es jedoch, auch den Zeitraum vor 1927 – sprich: vor Kästners Übersiedlung nach Berlin – in die Untersuchung einzubeziehen. Denn der in Dresden geborene Autor hatte bereits in jungen Jahren einen hervorragenden Einblick in die Entwicklung des deutschen Kulturbetriebes: 1919 nahm der damals 20jährige sein Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie, Zeitungskunde und Theaterwissenschaften in einer der größten Verlagsstädte der Weimarer Republik, nämlich in Leipzig, auf.⁶⁰ Kästner zeigte zu dieser Zeit großes Interesse an Ausstellungen moderner Kunst; mehr noch faszinierte ihn aber das Theaterleben und er beabsichtigte zunächst, Regisseur zu werden.⁶¹ Seine ersten Erfolge feierte er letztlich allerdings nicht im Theaterbereich, sondern als Journalist: 1924 erhielt er, noch zu Studienzeiten, eine Anstellung als Redakteur bei der Neue[n] Leipziger Zeitung, die bereits im Vorjahr seine Geldentwertungs-Glosse Max und sein Frack als Lokalspitze gedruckt hatte. Von dieser Zeit an veröffentlichte er Reportagen, Theater- und Kunstkritiken, politische Glossen und satirische Gedichte. Als er 1925 mit seiner Studie Friedrich der Große und die deutsche Literatur promoviert wurde,⁶² bediente Kästner mit seinen Artikeln neben der Leipziger Presse bereits verschiedene Zeitungen in anderen Städten, so etwa die Dresdner Neueste[n] Nachrichten, das Prager Tageblatt sowie die Plauener und die Zwickauer Volkszeitung. Außerdem verfasste er regelmäßig Beiträge für die Kinderzeitung von Klaus und Kläre, eine Beilage der Illustrierten Beyers für Alle. Schon bald fanden sich erste Anknüpfungsmöglichkeiten in Berlin, wo die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt, der Montag Morgen, Der Querschnitt, Das Deutsche Buch und Die Weltbühne Kästner’sche Arbeiten druckten. 1927 siedelte er

59 Kurzke, Hermann: Nachwort. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd. II: Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München/Wien 1998, S. 413 – 419, hier S. 413. 60 Vgl. Hanuschek (2003), S. 68. 1921 studierte Kästner zudem, für jeweils ein Semester, in Rostock und Berlin. 61 Vgl. dazu ebd., S. 70 – 72. 62 Darin setzte Kästner sich mit der Schrift De la littérature allemande Friedrichs des Großen auseinander. Veröffentlicht wurde seine Arbeit allerdings erst 1972.

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schließlich ganz in die Hauptstadt über,⁶³ von wo aus er zunehmend weitere namhafte Zeitungen und Zeitschriften mit seinen Texten belieferte. Neben den bereits genannten Blättern kamen beispielsweise Das blaue Heft, Die Literarische Welt und der Simplicissimus hinzu. Insbesondere machte sich Kästner, der seinem Interesse an der Bühnenwelt zumindest als Rezensent treu geblieben war, durch seine Theaterkritiken einen Namen; er war, unter anderem, einer der ersten, die das Innovationspotential Erwin Piscators erkannten.⁶⁴ Aber auch die Berichterstattung über die ›neuen Medien‹ Film und Hörfunk bediente er souverän.⁶⁵ Görtz und Sarkowicz zufolge zählte er bereits in dieser Zeit »zu den bedeutendsten Journalisten und Kritikern der Weimarer Republik.«⁶⁶ Zugleich erlangte Kästner zusehends Bekanntheit als Lyriker: Im Frühjahr 1928 erschien sein erster Gedichtband Herz auf Taille; in den kommenden Jahren folgten die Anthologien Lärm im Spiegel (1929), Ein Mann gibt Auskunft (1930) und Gesang zwischen den Stühlen (1932). Alle vier Bände erreichten hohe Auflagenzahlen und ab 1930 warb die Deutsche Verlagsanstalt sogar mit dem Slogan: »Seit Kästner liest man wieder Gedichte.«⁶⁷ Dieser Erfolg ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Schriftsteller den Funktionalisierungsanspruch, den die neusachliche Strömung der Weimarer Republik an Literatur stellte, auf die lyrische Gattung übertrug.⁶⁸ So 63 Zuvor war ihm als Redakteur der Neue[n] Leipziger Zeitung vonseiten der Verlagsleitung gekündigt worden, nachdem das rechtsgerichtete Konkurrenzblatt Neueste Leipziger Nachrichten sein in der Plauener Volkszeitung abgedrucktes Gedicht Nachtgesang des Kammervirtuosen zum Anlass genommen hatte, Kästner öffentlich zu diskreditieren. Der in Beethovens 100. Todesjahr veröffentlichte Text beginnt mit den Versen: »Du meine neunte Sinfonie! / Wenn du das Hemd anhast mit rosa Streifen…/ Komm wie ein Cello zwischen meine Knie, / Und laß mich zart in deine Seiten greifen!« (EKW I, S. 33) Kästner und Erich Ohser, der das Gedicht für die damalige Zeit recht freizügig illustriert hatte, wurde der Vorwurf gemacht, Sitte und Anstand verletzt und das Andenken Beethovens verunglimpft zu haben. (Vgl. dazu Kordon 1998, S. 81 f.) Als freier Mitarbeiter blieb Kästner der Neue[n] Leipziger Zeitung allerdings noch bis 1933 verbunden. Vgl. Görtz, Franz Josef und Hans Sarkowicz: Nachwort. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd.VI: Splitter und Balken. Publizistik. Hg. von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München/Wien 1998, S. 671 – 718, hier S. 682. Im Weiteren als Görtz und Sarkowicz (1998a). 64 Vgl. Hanuschek (2003), S. 134. 65 Vgl. ebd., S. 121. 66 Görtz und Sarkowicz (1998a), S. 671. 67 Deutsche Verlagsanstalt zit. n. Kordon (1998), S. 101. Die ersten beiden Gedichtbände Kästners waren zunächst im Verlag Curt Weller erschienen. Als Weller seinen Verlag aufgab und begann, für die Deutsche Verlagsanstalt zu arbeiten, entschied sich Kästner dazu, weiterhin bei ihm zu publizieren, obgleich er mittlerweile verschiedene andere Angebote, etwa von Kiepenheuer, hatte. Vgl. Hanuschek (2003), S. 150. 68 Vgl. dazu Becker, Sabina: »Sachliche Generation« und »neue Bewegung«. Erich Kästner und die literarische Moderne der zwanziger Jahre. In: Erich Kästner Jahrbuch. Bd. 4. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 115 – 126, hier S. 115.

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setzte er es sich zum Ziel, »seelisch verwendbar[e]«⁶⁹ Verse, mithin eine ›Gebrauchslyrik‹ zu verfassen, die durch ihre ästhetische Komposition nicht ausschließlich einem intellektuellen Rezipientenkreis vorbehalten, sondern massenwirksam sein sollte.⁷⁰ Thematisch griffen die Gedichte die Alltagsrealität ihrer zeitgenössischen Leser unmittelbar auf: Sie erzählten von politischen und ökonomischen Strukturen, von den Sorgen des Kleinbürgertums, vom Leben in der Großstadt, von der Arbeitswelt, von Erotik und von (oftmals scheiternder) Liebe und machten ihren Verfasser, Hermann Kestens Urteil gemäß, zum »lyrische[n] Reporter seines Zeitalters«.⁷¹ Zum endgültigen Durchbruch als Literat verhalf Kästner jedoch keiner seiner Gedichtbände, sondern ein 1929 veröffentlichter Kinderroman: Emil und die Detektive. Die in Berlin angesiedelte Geschichte eines Jungen, dem es mit Hilfe einer Kinderbande gelingt, einen Dieb aufzuspüren und zu stellen, wurde, neben Wolf Durians Kai aus der Kiste von 1925, zu dem Ereignis in der Kinderliteratur der Weimarer Republik und avancierte langfristig sogar zum erfolgreichsten deutschen Kinderbuch des zwanzigsten Jahrhunderts.⁷² Kästner wartete in seinem Roman nicht mit der heilen Märchenwelt auf, die zahlreiche nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte kinderliterarische Werke transportierten.⁷³ Stattdessen präsentierte er als Helden moderne Kinder der Großstadt: »Was sich in ›Emil und die Detektive‹ ereignete«, resümierte retrospektiv etwa Marcel Reich-Ranicki, passierte vor allem auf den Straßen und in den Höfen Berlins. Kästner zeigte uns Milieus, die wir auf Anhieb wiedererkannten, die uns längst vertraut waren. […] Er hat, wie keiner vor ihm, die Alltagssprache der Großstadtkinder […] belauscht und fixiert. […] Kurz und gut: »Emil und die Detektive« – das ist der Kinderroman der »Neuen Sachlichkeit«.⁷⁴

69 Kästner, Erich: Prosaische Zwischenbemerkung [1929]. In: EKW I, S. 87 f., hier S. 88. 70 Kästners lyrische Texte zeichnen sich sowohl durch ihre Alltagssprachlichkeit, als auch durch ihre eingängige Bauform aus; wie Hug (2006, S. 131) darlegt, bestehen sie vornehmlich aus »solche[n] Strophen, Vers- und Reimformen, die dank ihrer Kompaktheit, Popularität und Eingängigkeit am ehesten Gewähr dafür bieten, dass die Zeilen über das Gehör den Weg ins Bewusstsein finden und vielleicht sogar im Gedächtnis haften bleiben«. 71 Kesten, Hermann: Erich Kästner. In: ders.: Meine Freunde, die Poeten. Frankfurt a. M./Hamburg 1970, S. 115 – 141, hier S. 119. 72 Vgl. Schikorsky, Isa: Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Köln 2012, S. 104. 73 Zur Kinderliteratur der Weimarer Republik siehe weiterführend auch Karrenbrock, Helga: Weimarer Republik. In: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Hg. von Reiner Wild. Stuttgart/Weimar 2008, S. 241 – 259. 74 Reich-Ranicki, Marcel: Eine Liebeserklärung. In: Erich Kästner 1899 – 1989. Hg. von Margot Wiesner. Frankfurt a. M. 1989, S. 19 – 25, hier S. 19 f.

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In der Tat wurden der alltagsnahe Erzählton und die Fokussierung auf die Großstadt als »Produktionsort von spezifisch modernen, urbanen Wahrnehmungsweisen, Erfahrungen und Abenteuern des Alltags«,⁷⁵ aber auch Kästners narrative Strategie, auf Augenhöhe mit seinen jungen Lesern zu sprechen, zum Erfolgsgaranten. Allein in den ersten beiden Jahren nach der Veröffentlichung verkauften sich 50 000 Exemplare des Buches, Übersetzungen in zahlreiche andere Sprachen wurden auf den Weg gebracht und die 1930 in Berlin uraufgeführte Dramatisierung des Stoffes trat alsbald einen »Siegeszug […] durch das ganze Land«⁷⁶ an. Über seinen Jugendfreund Werner Buhre knüpfte Kästner derweil Kontakte zur UFA, welche nur ein Jahr darauf die erste Verfilmung des Emil präsentierte. Diese brachte dem Schriftsteller schließlich »endgültig Weltruhm«⁷⁷ ein und gilt noch heute als eines der bedeutendsten Werke der frühen Tonfilmzeit.⁷⁸ Signifikant ist, dass der Film nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien und den USA mit großem Erfolg ausgestrahlt wurde;⁷⁹ er machte Kästner folglich in den Ländern der späteren Besatzungsmächte schon vor Beginn der NS-Zeit zum Begriff. Vom deutschen Publikum wurden derweil, über seinen ersten Kinderroman und dessen Adaptionen hinaus, auch seine nachfolgenden Bücher für junge Leser – Arthur mit dem langen Arm, Pünktchen und Anton, Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (jeweils 1931) sowie Das verhexte Telefon (1932) – begeistert aufgenommen. Parallel zu seiner Karriere als Kinderbuchautor setzte Kästner seine literarische Betätigung für erwachsene Rezipienten fort. Bereits mit 30 Jahren war ihm eine ›ehrende Erwähnung‹ beim Kleistpreis zuteil geworden;⁸⁰ er absolvierte Lesereisen nach Hamburg, Breslau, München, Braunschweig, Prag, Königsberg, Danzig und Leipzig, bekam Rundfunkaufträge und schrieb für das Kabarett. Hanuschek zufolge war er, »[g]etragen vom eigenen Erfolg, […] in diesen Berliner Jahren geradezu hyperaktiv. Er schrieb mehr als in den 70 Jahren seines übrigen Lebens zusammen«.⁸¹ Zudem gelang es ihm, seinen eigenen Namen als Markenzeichen zu etablieren: Ob er sich als Erzähler in seinen Kinderromanen selbst als »Herr Kästner« fiktionalisierte oder im Titel eines Gedichts die Frage Und wo bleibt das

75 Karrenbrock (2008), S. 249. 76 Hanuschek (2003), S. 163. 77 Ebd., S. 174. 78 Vgl. Karrenbrock (2008), S. 247. 79 Vgl. Hanuschek (2003), S. 174. Bereits 1935 feierte schließlich auch das erste britische Remake des später noch oftmals adaptierten Stoffes seine Premiere. 80 Vgl. ebd., S. 148. 81 Ebd., S. 150.

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Positive, Herr Kästner? ⁸² aufwarf – er betrieb »Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache« wie ein »vielseitiger und geschäftstüchtiger Unternehmer«.⁸³ Sein aus literaturhistorischer Sicht wohl bedeutendstes Werk für Erwachsene, der neusachliche Zeitroman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, wurde 1931 veröffentlicht. Der Leser begleitet darin den zweiunddreißigjährigen Titelhelden, der als promovierter Germanist zur Untermiete in Berlin lebt und seinen Lebensunterhalt als Werbetexter verdient, durch die Cafés, Kabaretts und Nachtclubs der von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Großstadt. Obwohl der Untertitel des Romans Fabian als Moralisten präsentiert, scheinen moralische Prinzipien lediglich in den Wunschvorstellungen des Protagonisten zu existieren; in seiner Umwelt werden sie »täglich durch die historischen Witterungsverhältnisse […] widerlegt.«⁸⁴ Im Verlauf der Handlung verliert der junge Mann nicht nur seine Anstellung, sondern auch seinen besten Freund und seine Liebespartnerin. Schlussendlich kehrt er Berlin den Rücken und kommt bald darauf bei dem Versuch, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, ums Leben – laut Peter J. Brenner ein Bild für die Unfähigkeit des Moralisten, im »Strom der zeitgenössischen Amoral und Inhumanität mitzuschwimmen.«⁸⁵ Obgleich der Roman von der rechtskonservativen Presse ob seiner pessimistischen Grundhaltung und sexuellen Freizügigkeit vehement kritisiert wurde, fiel das Gros der zeitgenössischen Rezensionen überaus positiv aus. Namhafte Schriftsteller und Journalisten wie Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Hans Fallada, Hermann Hesse, Stefan Zweig, Hermann Kesten, Monty Jacobs, Kurt Pinthus, Rudolf Arnheim und Robert Neumann reagierten begeistert auf das Werk ihres Kollegen.⁸⁶ Viele der Genannten hatte Kästner vor dem Erscheinen des Fabian bereits persönlich getroffen; Hanuscheks Ausführungen nach dürfte er zu dieser Zeit »mit fast allen bedeutenden Autorinnen und Autoren der Weimarer Republik bekannt gewesen sein, nicht nur mit der ›Berliner Szene‹«.⁸⁷

82 Siehe Kästner, Erich: Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner? [1930] In: EKW I, S. 170 f. 83 Fischer, Gerhard: Ich-Performanz und Selbst-Spiegelung im Werk Erich Kästners (1929/35, 1940, 1948). In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 4. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 27– 39, hier S. 30 f. Wie Fischer weiter ausführt, sind in Kästners Vorgehen deutliche Parallelen zu Bertolt Brecht erkennbar, stellten doch beide ihre Namen innerhalb ihrer Werke »bewusst und vielleicht auch provokant heraus, um dessen Marktwert zu sichern.« Ebd. 84 Pinkerneil, Beate: Fabian oder Der hellsichtige Melancholiker. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd. III: Möblierte Herren. Romane I. Hg. von Beate Pinkerneil. München/Wien 1998, S. 371 – 384, hier S. 374. 85 Brenner, Peter J.: »Erich Kästner: Fabian«. In: Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 9. Ka–La. Hg. von Walter Jens. München 1990, S. 19 – 20, hier S. 20. 86 Vgl. Hanuschek (2003), S. 209 sowie Pinkerneil (1998), S. 387 f. 87 Hanuschek (2003), S. 135.

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Noch während seines Studiums in Leipzig hatte Kästner beispielsweise den Verleger Friedrich Michael und den Lyriker Ossip Kalenter kennengelernt; zudem entwickelte sich eine Freundschaft zu dem Illustrator Erich Ohser und, über diesen, zu dem Redakteur Erich Knauf. Eine Vielzahl von neuen Kontakten entstand zudem im Rahmen verschiedener Tätigkeiten während Kästners ersten Jahren in Berlin. Durch seine Arbeit als Kabarett-Rezensent und -Texter schloss er unter anderem Bekanntschaft mit Walter Mehring und Max Hansen; über das Schreiben für den Rundfunk lernte er den Komponisten Edmund Nick kennen, mit dem er das Hörspiel Leben in dieser Zeit verfasste. Vielfältige Kontakte knüpfte er darüber hinaus als Mitarbeiter der Weltbühne. Neben Mehring und Hans Natonek, den Kästner bereits als Feuilletonchef der Neue[n] Leipziger Zeitung kennengelernt hatte, gehörten Autoren wie Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Ernst Toller, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Alfred Polgar, Rudolf Arnheim, Walter Victor und Hermann Kesten zum Mitarbeiterkreis der radikaldemokratischen Wochenzeitschrift. Die Liste derer, die Kästner in der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme kennenlernte, ließe sich noch lange fortsetzen – exemplarisch erwähnt seien zumindest noch Peter de Mendelssohn, Thomas Mann, Carl Zuckmayer und Bertolt Brecht, die im weiteren Verlauf dieser Studie noch eine Rolle spielen werden. Eine erste Zwischenbilanz ziehend lässt sich konstatieren, dass Kästner vor 1933 in seinen Positionen als Journalist, Lyriker, Kabarettist, Roman- und Kinderbuchautor nicht nur ein mannigfaltiges kulturelles, sondern auch ein breit gefächertes soziales Kapital akkumuliert hatte. Seine literarischen Werke waren über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt und wurden – was im Kontext dieser Untersuchung nicht unerheblich ist – auch in den Ländern der späteren westlichen Besatzungsmächte rege rezipiert. Zugleich ist hervorzuheben, dass Kästner innerhalb des kulturellen Feldes der Weimarer Republik mit vielen Akteuren vernetzt war, die ab 1933 von den Nationalsozialisten abgelehnt respektive verfolgt wurden. Einige von ihnen (man denke an Ohser, Knauf, von Ossietzky oder Toller) wurden letztlich direkt oder indirekt zu Opfern des Regimes.⁸⁸ Die meisten der Genannten, insbesondere zahlreiche der Weltbühnen-Mitarbeiter, die den Nationalsozialismus vor 1933 vehement bekämpft hatten, überlebten die NS-Herrschaft jedoch in der

88 Von Ossietzky wurde schon 1933 verhaftet und war bis zu seinem Tod in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert; Toller nahm sich nach seiner Emigration das Leben. Ohser und Knauf, die in Deutschland blieben, konnten ihre Abneigung gegen die nationalsozialistische Diktatur nicht langfristig verbergen und wurden 1944 von einem Nachbarn wegen ›defätistischer Äußerungen‹ bei der Gestapo denunziert. Während Knauf von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde – hierauf rekurriert Kästners am 14. Januar 1946 in der Neuen Zeitung veröffentlichter Artikel Eine unbezahlte Rechnung (EKW II, S. 26 f.) –, beging Ohser bereits vor Prozessbeginn in seiner Gefängniszelle Suizid. Vgl. dazu auch Kordon (1998), S. 205 f.

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Emigration.⁸⁹ Durch seine frühen Verbindungen zu diesen Literaten, die als intellektuelle Gegner des NS-Regimes bekannt beziehungsweise in Erinnerung bleiben sollten, verfügte Kästner gleichsam über ein soziales respektive symbolisches Kapital, das ihm nach 1945 noch überaus nützlich sein sollte. Wie jedoch lässt sich seine eigene politische Haltung vor der nationalsozialistischen Machtübernahme beschreiben? Mitglied einer Partei war er nicht und sollte es auch zeitlebens nicht werden; im Fragebogen der Amerikaner gab er 1945 an, vor Beginn der NS-Diktatur die SPD gewählt zu haben.⁹⁰ Görtz und Sarkowicz konstatieren in diesem Zusammenhang, dass der »unbedingte Pazifismus und das gesellschaftliche Engagement« als Konstanten des Kästner’schen Denkens »am ehesten […] der sozialistischen Tradition«⁹¹ entsprochen haben. Von explizit kommunistischen Vorstellungen davon, auf welchem Wege sich ein gesellschaftlicher Idealzustand realisieren ließe, hoben sich seine Überlegungen allerdings ab. Zeitweise sympathisierte er mit der von Herbert George Wells propagierten Idee einer ›Revolution von oben‹.⁹² Angesichts der drohenden Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sah Kästner jedoch letztlich »[a]ls einziges nicht-utopisches Mittel, ein totalitäres Regime […] zu verhindern, […] die Demokratie an, deren Schwächen er zwar benannte, die er aber als einzig mögliche Regierungsform der Weimarer Republik akzeptierte.«⁹³ In seinen literarischen und journalistischen Texten nahmen seine politischen Ansichten vor 1933 rein quantitativ bei weitem nicht so viel Raum ein, wie es nach 1945 der Fall war. Entgegen der Stimmen, die dem literarischen Frühwerk des Autors eine resignative Tendenz unterstellen,⁹⁴ muss allerdings hervorgehoben wer89 Während etwa Natonek, Feuchtwanger, und Arnheim dauerhaft in den USA blieben, kehrten Autoren wie Brecht, Mehring,Victor, Kesten und Arnold Zweig nach dem Ende des NS-Regimes nach Deutschland beziehungsweise Europa zurück. Wie im Weiteren noch herausgearbeitet wird, lebte Kästners Kontakt zu vielen derer, die das ›Dritte Reich‹ im Exil überstanden hatten, nach 1945 wieder auf. 90 Vgl. Hanuschek (2003), S. 212. 91 Görtz und Sarkowicz (1998a), S. 688. 92 Vgl. ebd., S. 691. Vgl. weiterführend auch Hanuschek, Sven: »Wie läßt sich Geist in Tat verwandeln?« Zu Erich Kästners Politikbegriff. In: Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Tagungsband. Hg. von Sebastian Schmideler. Marburg 2012 (Erich Kästner Studien, Bd. 1), S. 87– 99. Wie Hanuschek zusammenfasst, rekurrierte Kästner vor 1933 sowohl in einigen publizistischen Artikeln als auch im Fabian auf die jüngst in den Texten des britischen Autors lancierte Idee der politischen Lenkung und Gründung einer ›Weltrepublik‹ durch eine »kleine mächtige Elite«. Ebd., S. 91 93 Görtz und Sarkowicz (1998a), S. 691. 94 Vgl. etwa Schikorsky (1998), S. 56. Tatsächlich erwecken zahlreiche der vor 1933 entstandenen Texte auf den ersten Blick einen resignativen Eindruck – man denke etwa an die zwischen 1929 und 1931 publizierten Gedichte Misanthropologie (EKW I, S. 147 f.), Und wo bleibt das Positive, Herr

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den, dass Kästner sich bereits in der Weimarer Republik durchaus emphatisch über eine mögliche Beeinflussung des politischen Feldes durch die Literatur äußerte. Nachdem er die Dramen Revolte im Erziehungsheim von Martin Lampel und Cyankali von Friedrich Wolf gesehen hatte, die jeweils öffentliche Kontroversen nach sich zogen,⁹⁵ schrieb er beispielsweise am 14. September 1929 in der Neue[n] Leipziger Zeitung: Das Theater vermag es also, die Gesetzgebung und die innere Politik zu beeinflussen! Es gibt also Beispiele, daß die Literatur ins Leben und seine staatlichen Organisationen bessernd eingreift! Der Schriftsteller ist nicht ausschließlich dazu verurteilt, Unterhaltung zu liefern und nicht ernst genommen zu werden! Diese Erkenntnis ist geeignet, die mutlos gewordenen Literaten zu ermutigen und tief zu erschüttern.⁹⁶

Auch Kästner selbst versuchte ein ums andere Mal, ›bessernd einzugreifen‹ und lehnte sich, wenngleich nicht in Dramen, so doch in seinen Gedichten, laut Doderer nicht selten »weit zum politischen Fenster [hinaus]«.⁹⁷ Obschon er einigen seiner Zeitgenossen nicht radikal beziehungsweise politisch nicht eindeutig genug war – man denke etwa an die viel zitierte Linke Melancholie,⁹⁸ die Walter Benjamin ihm attestierte – ist nicht zu übersehen, dass er jegliche Form des Militarismus, Nationalismus und Untertanengeistes bereits vor 1933 mit großer Vehemenz anpran-

Kästner? (EKW I, S. 170 f.), Das letzte Kapitel (EKW I, S. 171 f.) oder die kulturpessimistische Entwicklung der Menschheit (EKW I, S. 175 f ). Hanuschek (2012, S. 88) zufolge müssen die »fatalistischen Aussagen« in der frühen Kästner’schen Lyrik allerdings »im Kontext der Wirkungsästhetik der Neuen Sachlichkeit« betrachtet werden und sind daher zugleich als »Aufrufe zur Veränderung« zu verstehen: Sie sollen »Widerspruch erzeugen, sie sollen appellieren«. 95 Insbesondere das Drama von Wolf hatte Kästner beeindruckt, da es seiner Einschätzung nach das Potential barg, eine öffentliche Debatte über den Abtreibungsparagraphen 218 StGB zu initiieren. Obgleich das Stück heftige Debatten auslöste, konnte es letztlich aber keine Veränderung der Gesetzeslage bewirken. Vgl. Hanuschek (2003), S. 166 f. sowie Görtz und Sarkowicz (1998a), S. 769 f. 96 Kästner, Erich: § 218 [1929]. In: EKW VI, S. 211 – 213, hier S. 211. 97 Doderer (2000), S. 143. 98 Siehe Benjamin, Walter: Linke Melancholie. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1972, S. 279 – 283. In seiner Kritik aus dem Jahr 1931 machte Benjamin Kästners Gedichten unter anderem ihren kleinbürgerlichen Einschlag zum Vorwurf. Und auch Kurt Tucholsky hätte sich, bei aller grundsätzlichen Sympathie für Kästner, eine offensichtlichere Oppositionsbereitschaft in dessen Lyrik gewünscht. Im Rahmen seiner Rezension des dritten Kästner’schen Gedichtbandes Ein Mann gibt Auskunft konstatierte er: »Da pfeift einer, im Sturm, bei Windstärke 11 ein Liedchen.« Tucholsky, Kurt zit. n. Hanuschek (2003), S. 161.

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gerte.⁹⁹ In Anspielung auf Goethes Figur Mignon charakterisierte er Deutschland etwa als »Land, wo die Kanonen blühn«;¹⁰⁰ einen aus nationalistischer Sicht noch eklatanteren Affront beging er mit dem Gedicht Die andre Möglichkeit. ¹⁰¹ Der erstmals 1929 publizierte Text, mit dem sich Kästner, Hanuscheks Einschätzung nach, »wohl die meisten Feinde gemacht hat«,¹⁰² beginnt mit den Worten: Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, mit Wogenprall und Sturmgebraus, dann wäre Deutschland nicht zu retten und gliche einem Irrenhaus.¹⁰³

Nachdem der lyrische Sprecher in sieben weiteren, im Konjunktiv formulierten Strophen die Dystopie eines militaristischen deutschen Staates nach einem siegreichen Ausgang des Ersten Weltkrieges entfaltet hat, schließt er mit dem Fazit: Dann läge die Vernunft in Ketten. Und stünde stündlich vor Gericht. Und Kriege gäb’s wie Operetten. Wenn wir den Krieg gewonnen hätten – zum Glück gewannen wir ihn nicht!¹⁰⁴

Gerade der letzte Vers wurde von vielen Deutschen, die unter dem Kriegsausgang litten und sich in ihrem Nationalstolz verletzt sahen, als unverzeihliche Provokation aufgefasst. Ihn zitierte vor den Reichstagswahlen im Januar 1933 schließlich auch die NSDAP auf einem Hetzblatt, das verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens fotografisch abbildete und anprangerte.¹⁰⁵ Wohlgemerkt war dies bei weitem nicht der einzige öffentliche Angriff vonseiten der Nationalsozialisten, der Kästner vor deren Machtübernahme zuteilwurde: Bereits seit den späten 1920er Jahren war er in der rechten Presse als zersetzender »Kulturbolschewist« und »Asphaltliterat« verfemt worden, dem man

99 Siehe etwa Kästner, Erich: Die Tretmühle [1926], Stimmen aus dem Massengrab [1927], Sergeant Waurich [1929], Primaner in Uniform [1929] und Verdun, viele Jahre später [1931]. In: EKW I, S. 21, S. 61 f., S. 65, S. 139 f. u. 217 f. 100 Kästner, Erich: Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? [1927]. In: EKW I, S. 26. 101 Siehe Kästner, Erich: Die andre Möglichkeit [1929]. In: EKW I, S. 121 f. 102 Hanuschek (2003), S. 160. 103 EKW I, S. 121. 104 Ebd., S. 122. 105 Vgl. die Abbildung des Plakates »Wir klagen an!« in: Barbian, Jan-Pieter: »…nur passiv geblieben«? Zur Rolle von Erich Kästner im »Dritten Reich«. In: »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Hg. von Manfred Wegner. Berlin 1999, S. 119 – 142, hier S. 120.

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»Überheblichkeit« wie auch »Hemmungs- und Schamlosigkeit« vorwarf.¹⁰⁶ Besonders scharfer Wind blies seinem Fabian entgegen, der von den Nationalsozialisten unter anderem als »gedruckter Dreck« und »Sudelgeschichte« diskreditiert wurde.¹⁰⁷ Dass sich Vertreter des rechten Spektrums von Kästners Zeitroman provoziert fühlten, dürfte nicht nur auf dessen erotische Freizügigkeit und antimilitaristische Grundhaltung, sondern ebenfalls darauf zurückzuführen sein, dass der Autor seinen Titelhelden im sechsten Kapitel in eine Schießerei zwischen einem Kommunisten und einem ›Nazi‹ geraten ließ – ein Handlungsstrang, der augenfällig das Erstarken der politischen Extreme kritisiert und die Vertreter beider Parteien gezielt der Lächerlichkeit preisgibt.¹⁰⁸ Deutlicher noch als im Fabian trat Kästners ablehnende Haltung gegenüber den Nationalsozialisten allerdings in seiner Lyrik zutage: Sowohl sein 1930 veröffentlichter Brief an den Weihnachtsmann, in dem er anregt, Hitler den ›Germanenhintern‹ zu versohlen,¹⁰⁹ als auch die zwischen 1930 und 1932 entstandenen Gedichte Das Führerproblem, genetisch betrachtet, Marschliedchen und Ganz rechts zu singen ¹¹⁰ dokumentieren, ebenso wie der 1932 erschienene Brief aus Paris, anno 1935,¹¹¹ mit Nachdruck seine antifaschistische Haltung.

106 [anonym:] Die Saat der Zwietracht. In: Deutsche Zeitung Berlin, 13.7.1929, [anonym:] »Literatur«. In: Deutscher Vorwärts, 23.11.1930 sowie Christian Jensen: Erich Kästner. In: Börsen Zeitung Berlin, 25.6.1932. 107 Völkischer Beobachter vom 15./16.11.1931 zit. n. Hanuschek (2003), S. 209. 108 Vgl. Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten [1931]. In: EKW III, S. 7– 199, hier S. 51 – 57. Die These, dass Kästner in diesem Zuge keine Unterschiede zwischen der rechts- und der linksradikalen Partei macht (vgl. Hanuschek 2003, S. 158), ist freilich in Zweifel zu ziehen: Zwar prognostiziert sein Protagonist dem kommunistischen Krawallmacher, dass »die Ideale der Menschheit im Verborgenen sitzen und weiterweinen« würden, wenn dessen Partei an die Macht käme, da die Menschen nicht »gut und klug« (EKW III, S. 56) genug für die Umsetzung des Kommunismus seien. Gleichwohl lässt Kästner Fabian seinem Gesprächspartner gegenüber ebenso betonen: »[I]ch bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe.« (Ebd.) Dass dieser gemeinsame Feind nicht nur in der Ungerechtigkeit selbst, sondern auch konkret in den Nationalsozialisten zu sehen ist, liegt angesichts der zuvor geschilderten gewalttätigen Ausschreitung im Roman nahe. 109 Vgl. Kästner, Erich: Brief an den Weihnachtsmann [1930]. In: EKW II, S. 339 f. 110 Siehe Kästner, Erich: Das Führerproblem, genetisch betrachtet [1931], Marschliedchen [1932] und Ganz rechts zu singen [1930]. In: EKW I, S. 186, S. 220 f. u. 248 f. Alle drei Gedichte wurden erstmals in der Weltbühne beziehungsweise im Simplicissimus veröffentlicht; die beiden erstgenannten nahm Kästner zudem in seinen vierten Lyrikband Gesang zwischen den Stühlen auf. 111 Siehe Kästner, Erich: Brief aus Paris, anno 1935 [1932]. In: EKW VI, S. 287– 289. In diesem Weltbühnen-Beitrag kreiert Kästner den nationalsozialistischen Briefschreiber Bodo, der nach einer vollzogenen Machtübernahme der NSDAP im Offiziersjargon über deutsche Emigranten in Frankreich höhnt, die ihres Heimatlandes verwiesen wurden. Vgl. dazu auch Doderer, Klaus: »Ich bin ein

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Kästner erhob allerdings nicht allein innerhalb seiner literarischen Werke seine Stimme gegen Hitlers Partei. 1932 unterzeichnete er, gemeinsam mit Albert Einstein, Heinrich Mann, Ernst Toller, Käthe Kollwitz, Arnold Zweig und 27 weiteren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, einen vielerorts plakatierten Appell des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes, der den Zusammenschluss von SPD und KPD für den Wahlkampf forderte, um eine Machtübernahme der Nationalsozialisten zu verhindern.¹¹² Bekanntlich sollte diese kollektive intellektuelle Intervention jedoch keinen langfristigen Erfolg nach sich ziehen: Kaum sieben Monate später, am 30. Januar 1933, wurde der ›Führer‹ der Nationalsozialisten vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und die Regierungsgewalt auf die NSDAP und ihre nationalkonservativen Koalitionspartner übertragen. 3.1.2.2 Kästner im NS-Staat »Hitler kam an die Macht, und Goebbels verbrannte meine Bücher. Mit der literarischen Laufbahn war es Essig. Das war 1933. Zwölf Jahre Berufsverbot folgten.«¹¹³ Mit diesen Worten fasste Kästner seine Position innerhalb des NS-Staates in seinem im Februar 1946 erschienenen Pinguin-Artikel Die Chinesische Mauer zusammen. In der Juli-Ausgabe des Heftes konstatierte er erneut, er habe »zwölf Jahre lang auf den Tag gewartet«, an dem man zu ihm sagen würde: »So, nun dürfen Sie wieder schreiben!«¹¹⁴ In älteren Biographien und Forschungsarbeiten über den Schriftsteller wurden solche und ähnliche Äußerungen, die explizit oder implizit auf ein komplettes Publikationsverbot zwischen 1933 und 1945 rekurrieren, häufig als Zugang zu seinem Leben und Wirken während der NS-Zeit gewählt. Die Problematik an diesem Vorgehen besteht, wie bereits Jan-Pieter Barbian ausführte, darin, dass »die unterschiedlichen Erinnerungsangebote […] weder unter quellenkritischen Gesichtspunkten noch im Hinblick auf ihre inhaltliche Wahrheit hinterfragt [wurden].«¹¹⁵ Aus diesem Grund hat sich über lange Zeit das Image des zwölf Jahre zum Schweigen verdammten Schriftstellers gehalten. Dieses »geglättet[e] Bild«, an dem Kästner selbst »nicht unbeteiligt war« wurde, einer Formulierung Hanuscheks gemäß, erst durch den Tod der Kästner’schen Lebensgefährtin Luiselotte Enderle Deutscher aus Dresden in Sachsen«. Erich Kästner als Zeitzeuge des letzten Jahrhunderts. In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 4. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 17– 25, hier S. 17. 112 Vgl. Hanuschek (2003), S. 212 sowie Bruendel, Steffen: Käthe Kollwitz als eingreifende Künstlerin – Aufrufe und Manifeste 1911 bis 1933. In: Eingreifende Denkerinnen. Weibliche Intellektuelle im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. von Ingrid Gilcher-Holtey. Tübingen 2015, S. 17– 35 hier S. 32 f. 113 Kästner, Erich: Die Chinesische Mauer [Pinguin, Februar 1946]. In: EKW II, S. 55 – 59, hier S. 58. 114 Kästner, Erich: Der tägliche Kram [Pinguin, Juli 1946]. In: EKW II, S. 80 – 82, hier S. 81. 115 Barbian (1999), S. 121.

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und der damit verbundenen Öffnung seines Nachlasses in den 1990er Jahren »rissig«.¹¹⁶ Zur Illustration dieser ›Risse‹ soll im Folgenden zunächst der gegenwärtige Forschungsstand über Kästner in der NS-Zeit rekapituliert werden. Zur Sprache kommen dabei sowohl die Phasen der Schreibverbote und -erlaubnisse, denen er unterlag, als auch die von ihm genannten Gründe, nicht zu emigrieren, seine mittlerweile bekannten Versuche, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, und die Debatten um seine während der NS-Diktatur entstandenen Texte. Darüber hinaus soll in den Blick genommen werden, wie der Verbleib und die Position des Schriftstellers im nationalsozialistisch regierten Deutschland von seinen Zeitgenossen – allen voran seinen emigrierten Kollegen – wahrgenommen und beurteilt wurde. Dass Kästner seine Karriere nach der Machtübernahme der NSDAP nicht ungehindert fortsetzen konnte, liegt angesichts des Umstands, dass er schon vor dem 30. Januar 1933 zur massiven Zielscheibe der nationalsozialistischen Kritik geworden war, auf der Hand. Nur wenige Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde sein Name auf die ›Schwarzen Listen‹ gesetzt, welche in der Folgezeit als Grundlage für die Beschlagnahmungen und Verbote ›schädlichen und unerwünschten Schrifttums‹ dienten. Neben Kollegen wie Heinrich Mann und Ernst Glaeser war Kästner darüber hinaus einer der ersten Autoren, deren Werke bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 mit den Worten »Gegen Dekadenz und moralischen Verfall / Für Zucht und Ordnung in Familie und Staat«¹¹⁷ den Flammen übergeben wurden. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits aus dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller ausgeschlossen worden. Im November desselben Jahres wurden alle deutschen Verlage, bei denen Kästner’sche Werke erschienen waren,¹¹⁸ durch den gleichgeschalteten Börsenverein des Deutschen Buchhandels aufgefordert, sämtliche seiner Bücher mit Ausnahme des Kinderromans Emil und die Detektive ¹¹⁹ aus dem Verkauf zu nehmen. Das Publikationsverbot, das dem Schrift-

116 Hanuschek, Sven zit. n. Fannrich, Isabel: Der andere Kästner. Die politische Seite des Autors Erich Kästner. http://www.deutschlandfunk.de/der-andere-kaestner.1148.de.html?dram:article_id= 180876 [letzter Zugriff: 14.04. 2017]. 117 So lautete der ›Feuerspruch‹, der im Rundschreiben der Deutschen Studentenschaft vom 9. Mai 1933 festgelegt worden war. Zit. n. Barbian (1999), S. 124. 118 Dies waren namentlich die Deutsche Verlags-Anstalt, Williams & Co, Chronos und Weller & Co. 119 Kordon vermutet, dass die Nationalsozialisten das überaus beliebte Kinderbuch in Erwartung allzu großer Proteste vorerst nicht verboten. (Vgl. Kordon 1998, S. 158) Fest steht, dass das Werk nach seinem Erscheinen – im Gegensatz zu Kästners Publikationen für Erwachsene – von Zeitungen des gesamten politischen Spektrums, auch von der rechtsstehenden Presse, gelobt worden war. (Vgl. Hanuschek 2003, S. 144) Die ideologiekritische These, dass dem Roman ein militaristischer Sprachgebrauch inhärent sei und er deshalb zunächst weiterhin verkauft werden durfte (die Kin-

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steller auferlegt worden war, galt in den 1930er Jahren allerdings (noch) nicht für das Ausland, so dass er bis zu seinem späteren ›Totalverbot‹ eine Reihe von Unterhaltungs- und Kinderromanen außerhalb Deutschlands veröffentlichen konnte. Doch auch in zahlreichen deutschen Buchhandlungen waren seine älteren Werke nach heutigem Forschungsstand noch bis etwa Ende 1935 erhältlich; erst dann griff die nationalsozialistische Kulturpolitik in punkto Kästner härter durch und ließ sämtliche Restbestände der Bücher aus den Läden und Verlagen entfernen.¹²⁰ Ab Anfang 1936 war schließlich auch der Emil von dieser Maßnahme betroffen. In der gleichgeschalteten Presse ›würdigte‹ man Kästner in diesen Jahren als »Kulturträger, den wir aus unserer Gemeinschaft ohne Tränen verloren haben«¹²¹ und feierte sich dafür, den – oftmals als »jüdisch«¹²² eingeordneten – »Hetzer«¹²³ mit seiner »volksfremde[n] Kritik«¹²⁴ überwunden zu haben. »Kein artbewußter Deutscher« habe es, wie die Essener Nationalzeitung betonte, »bedauert, daß Namen wie [seiner] […] aus dem deutschen Schrifttum verschwanden«.¹²⁵ Zweimal – 1933 und 1937 – kam es zu mehrstündigen Verhören durch die Gestapo, welche jedoch nicht zur Inhaftierung Kästners führten. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges, für den man ihn aufgrund seines Herzleidens¹²⁶ nicht einzog, stellte, auch in finanzieller Hinsicht, den bisherigen Tiefpunkt seiner schriftstellerischen Karriere dar, da sich nun auch die Absatzmöglichkeiten für seine Werke im Ausland einengten.¹²⁷ 1941 kam ihm schließlich seine Bekanntschaft zu dem UFA-Produktionsleiter Eberhardt Schmidt zugute: Dieser versuchte über Fritz Hippler, den Leiter der

derbande hält »Kriegsrat« ab, ruft »Parolen« aus und organisiert »Verstärkung«), hat bereits Hanuschek entkräftet. Dieser gibt zu bedenken, dass im Emil »Kinder sprechen. Sie machen nach, was sie bei den Erwachsenen sehen, und durch diesen verzerrten Gebrauch des Militärjargons wirkt er fast parodistisch.« Ebd., S. 173. 120 Vgl. Barbian (1999), S. 127 f. Auch die bald nach der Machtübernahme veröffentlichten Romane Das fliegende Klassenzimmer und Drei Männer im Schnee waren in manchen deutschen Buchläden zunächst erhältlich. 121 [anonym]: o. T. In: Das Schwarze Korps, 20. 2.1936. 122 Siehe etwa [anonym]: Boykottiert die Bücher jüdischer Hetzer. In: Fränkisches Volk (Nürnberg). 7.4.1933, [anonym]: Wider den undeutschen Geist. In: Morgenzeitung (Linz), 14.1.1934 und Sluitermann v. Langeweyde, Wolf: Lasst den Deutschen Humor nicht sterben! In: Essener Nationalzeitung, 28. 8.1935 123 [anonym]: Boykottiert die Bücher jüdischer Hetzer. In: Fränkisches Volk (Nürnberg). 7.4.1933. 124 Kurt Müller: Wertleute am Bau des Reichs. Die kämpferische Dichtung der Jungen Front. In: Leipziger Tageszeitung, 26. 3.1936. 125 Sluitermann v. Langeweyde (1935). 126 Herzprobleme plagten Kästner seit seiner Offiziersanwärter-Ausbildung während des Ersten Weltkriegs; er rekurriert beispielsweise in seinem 1929 publizierten Gedicht Sergeant Waurich (EKW I, S. 65 f.) darauf. 127 Vgl. Kordon (1998), S. 135.

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Filmabteilung im Propagandaministerium und späteren Reichsfilmminister, das Anliegen, Kästner beim Film zu beschäftigen, an Joseph Goebbels heranzutragen. Unter der Bedingung, ›selbst von nichts wissen zu wollen‹, ging der Reichspropagandaminister auf die Anfrage ein.¹²⁸ Auf diese Weise wurde Kästner unter der Auflage, ein Pseudonym zu nutzen, zum Drehbuchautor des im Folgejahr unter der Regie von Josef von Báky gedrehten UFA-Jubiläumsfilms Münchhausen. Da Goebbels’ Zustimmung zwar der Reichskulturkammer, nicht aber der Reichsschrifttumskammer kommuniziert wurde, fühlte letztere sich kurzzeitig in ihrer Entscheidungsmacht übergangen.¹²⁹ Angesichts der persönlichen Entscheidung des Propagandaministers, der bereit war, Kästner »trotz aller politischen Vorbehalte die kontrollierte Chance zur Arbeit im und für den nationalsozialistischen Staat zu geben«,¹³⁰ stellte die Reichsschrifttumskammer ihm schließlich eine jederzeit widerrufliche Sondergenehmigung zur Berufsausübung aus. Unter dem Münchhausen-Pseudonym Berthold Bürger verfasste der Schriftsteller 1942 auch das Drehbuch Der kleine Grenzverkehr, eine Adaption seines 1938 in der Schweiz veröffentlichten Unterhaltungsromans Georg und die Zwischenfälle. Zur Umsetzung seines dritten Filmprojekts Das große Geheimnis ¹³¹ kam es hingegen nicht mehr: Schon bevor Münchhausen ¹³² und Der kleine Grenzverkehr ¹³³ im Frühjahr 1943 ihre Premieren feierten, war Kästners ›Sondererlaubnis‹ widerrufen worden; ihm war nunmehr ein ›komplettes‹, das heißt für In- und Ausland geltendes, Schreibverbot auferlegt.¹³⁴ Eberhard Schmidts geglückter Versuch, Kästner

128 Vgl. ebd., S. 136, vgl. auch Hanuschek (2003), S. 296. 129 Vgl. zum genauen zeitlichen Verlauf weiterführend Barbian (1999), S. 137 sowie Zonneveld (2011), S. 712 f. 130 Barbian (1999), S. 137. 131 Das Filmtreatment, das Kästner verfasst hatte, arbeitete er nach 1945 sowohl zum Kinderroman als auch zum Drehbuch aus. Es entstand Das doppelte Lottchen, das 1949 von Josef von Báky verfilmt wurde. Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.3. 132 Siehe Münchhausen. Regie: Josef von Báky. Drehbuch: Berthold Bürger (d. i. Erich Kästner). UFA, Deutschland 1943. 133 Siehe Der kleine Grenzverkehr. Regie: Hans Deppe. Drehbuch: Berthold Bürger (d. i. Erich Kästner). UFA, Deutschland 1943. 134 Verantwortlich zeichnete in dieser Angelegenheit laut Barbian Hitler selbst, der »im Dezember 1942 angeordnet hatte, daß sowohl Kästner als auch Arnolt Bronnen und Ernst Glaeser jede weitere Betätigung auf dem Gebiet der Literatur und des Films im nationalsozialistischen Deutschland zu untersagen war« (Barbian 1999, S. 138). Bei der Uraufführung des Münchhausen wurde nicht einmal das Pseudonym Berthold Bürger im Vorspann eingeblendet, obgleich Kästners Mitarbeit – zumindest innerhalb des nationalsozialistischen Kulturapparates – ohnehin einem ›offenen Geheimnis‹ glich: So war es sämtlichen Journalisten durch den Zeitschriften-Dienst des ›Dritten Reichs‹ vor der Filmpremiere explizit untersagt worden, den Namen Erich Kästner im

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kurz vor dem Kriegsende als ›Drehbuchautor‹ in sein Filmteam einzuschleusen, damit dieser die Gefahrenzone der deutschen Reichshauptstadt verlassen und mit nach Mayrhofen reisen konnte, stellte demnach ein durchaus riskantes Unterfangen dar. Biographen und Kästner-Forscher, die sich mit der Position des Schriftstellers im NS-Regime auseinandergesetzt haben, konzentrierten sich über lange Zeit auf die Frage, warum Kästner nach der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht wie zahlreiche seiner Kollegen emigrierte. Für gewöhnlich wird dabei auf Gründe für den Verbleib in Deutschland rekurriert, die zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Gewichtungen mehrheitlich vom Autor selbst oder von Enderle genannt wurden.¹³⁵ So wird etwa postuliert, Kästner habe ›Augenzeuge‹ sein wollen, um später über das ›Dritte Reich‹ berichten zu können beziehungsweise keine Möglichkeit gesehen, vom Ausland aus auf die innerdeutsche Entwicklung Einfluss zu nehmen. Auch heißt es, dass er das Land nicht verlassen habe, weil seine Verwurzelung in der Heimat zu groß gewesen sei und er seine Mutter nicht in Deutschland zurücklassen wollte. Darüber hinaus wird gemutmaßt, er habe die Nationalsozialisten – oder zumindest die Dauer ihrer Herrschaftszeit – schlichtweg unterschätzt.¹³⁶ Die unterschiedlichen Ansätze ein weiteres Mal auf ihren Wahrheitsgehalt hin abzuwägen, erscheint nicht nur insofern müßig, als eine monokausale Erklärung für Kästners Nicht-Emigration unwahrscheinlich sein dürfte. In Anbetracht der heutigen Quellenlage und im Hinblick auf seinen Lebens- respektive Karriereabschnitt zwischen 1933 und 1945 griffe es auch zu kurz, es bei diesen Überlegungen zu belassen. Gerade die in älteren Forschungstexten noch vorzufindende Einordnung des Schriftstellers als ›innerer Emigrant‹ ist zumindest dann nicht unproblematisch, wenn man mit dieser Bezeichnung auf Literaten abhebt, die sich jeglicher Mitarbeit im nationalsozialistischen Kulturbetrieb konsequent entzogen haben.¹³⁷ Einer sol-

Zusammenhang mit dem Drehbuchautor des Münchhausen-Films zu erwähnen. Vgl. Hanuschek (2003), S. 296. 135 Vgl. Neuhaus (2000), S. 7. 136 Vgl. weiterführend ebd., S. 7 f., Kordon (1998), S. 145 – 150, Hanuschek (2003), S. 212 f., LeibingerKammüller (1988), S. 26 f. sowie Kiesel, Helmuth: Heitere Romane in dunkler Zeit. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd. IV: Junggesellen auf Reisen. Romane II. Hg. von Helmuth Kiesel in Zusammenarbeit mit Sabine Franke und Roman Luckscheiter. München/ Wien 1998, S. 433 – 443, hier S. 424 f. 137 Wie Ralf Schnell nachzeichnet, wurde der Begriff der ›Inneren Emigration‹ als Ausdruck einer politisch-literarischen Oppositionshaltung zum ›Dritten Reich‹ nach dessen Ende durchaus kontrovers definiert und diskutiert, wobei Selbst- und Fremdwahrnehmung der in Deutschland verbliebenen Literaten nicht selten divergierten: Die Spannweite derer, die sich nach 1945 mit der besagten Bezeichnung versahen oder von anderen damit versehen wurden, reichte von Schrift-

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chen Zuschreibung widerspräche zum einen die Tatsache, dass Kästner zeitweise für die gleichgeschaltete UFA¹³⁸ arbeitete. Zum anderen lässt sich in diesem Zusammenhang ein 1936 einsetzender Briefwechsel diskutieren, der mit der Öffnung seines Nachlasses publik geworden ist. Wie heute bekannt ist, nahm Kästner schon bald nach dem Erlass des Publikationsverbotes für Emil und die Detektive Kontakt zur Reichsschrifttumskammer auf. Obgleich das Schreiben »taktisch motiviert und mit seinen Anwälten abgestimmt gewesen sein dürfte, befremdet den heutigen Leser«, so Barbian, »die darin zum Ausdruck kommende […] deutsch-nationale Grundhaltung«.¹³⁹ In der Tat bediente sich der Autor, um gegen das Verbot seines erfolgreichsten Kinderromans anzukämpfen, einer nationalistischen Diktion, denn er bewarb seinen Emil als »ausgesprochen deutsches Buch«,¹⁴⁰ das »in über 30 fremde Sprachen übersetzt wurde, um den Kindern anderer Länder eine Vorstellung vom Kameradschaftsgeist und dem Familiensinn des deutschen Kindes zu vermitteln«.¹⁴¹ Auch nutzte er die Tatsache, dass er (anders als viele seiner Kollegen) nicht emigriert war, als zweckgerichtete Argumentationsstrategie, indem er die Frage aufwarf, warum die Reichsschrifttumskammer ihm den Umstand, dass er seit der ›Machtergreifung‹ ohne Unterbrechung in Deutschland gelebt habe und noch immer lebe, mit der Beschlagnahmung des letzten seiner Bücher ›vergelte‹.¹⁴² Gut zweieinhalb Jahre nach diesem – vergeblichen – Versuch bemühte sich Kästner mit Hilfe des Anwalts Achim Friese ein weiteres Mal darum, wieder in Deutschland veröffentlichen zu dürfen, indem er die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer beantragte. In einem Brief vom 16. Dezember 1938 an den Leiter der Abteilung Schrifttum im Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda bezieht sich Friese auf die vor 1933 erschienene Lyrik Kästners, die Anstoß zur nationalsozialistischen Kritik gegeben hatte. Sein Mandant bestreite, wie er ausführt, nicht, vor Jahren Gedichte verfasst zu haben, die »negativ zu be-

stellern, die aktiv versucht hatten, dem Regime Widerstand zu leisten, bis hin zu solchen, die in jenen Jahren politisch unverbindliche Werke veröffentlicht hatten.Vgl. weiterführend Schnell, Ralf: Literarische Innere Emigration 1933 – 1945. Stuttgart 1976, S. 1 – 15. 138 Bereits seit der Gründung des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und der Filmkreditbank GmbH kontrollierte der NS-Staat die gesamte deutsche Filmproduktion. 1942 wurde die Gleichschaltung mit der Gründung der UFA Film GmbH (in der UFA, Tobis, Terra, Bavaria und Wien Film zu einem einzigen Konzern verschmolzen) endgültig abgeschlossen.Vgl. UFA: Faszination einer großen Geschichte. https://www.ufa.de/die-ufa/historie [letzter Zugriff: 12.11. 2017]. 139 Barbian (1999), S. 129. 140 Kästner, Erich an die Reichsschrifttumskammer. Brief vom 11. 2.1936. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 57. 141 Ebd., S. 58. 142 Ebd., S. 57.

3.1 Die Voraussetzungen für Kästners Nachkriegskarriere

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urteilen sind. Im Übrigen würde er sie auch heute nicht mehr schreiben.«¹⁴³ Im Weiteren verteidigt Friese den Tonfall der in den zwanziger Jahren entstandenen Texte mit Rückbezug auf das »Erlebnis des verlorenen Krieges und einer destruktiven Revolution«, die auf Kästner, wie auf »unzählig[e] andere junge Menschen, […] verwirrend und deprimierend gewirkt« habe.¹⁴⁴ Der Anwalt sei sich aber sicher, dass »die Persönlichkeit und das gesamte Schaffen Kästners« Gewähr dafür böten, dass er sich »in den Rahmen nationalsozialistischer Kunst und Kulturpolitik einfügen«¹⁴⁵ könne. Darüber hinaus sei es »nicht richtig, Kästner nur weil er auch wie viele andere Schriftsteller u. a. an der Zeitschrift ›Die Weltbühne‹ mitgearbeitet hat, mit Tucholsky und anderen jüdischen Literaten zu vergleichen.«¹⁴⁶ Erfolg zeigten diese Bemühungen Kästners und Frieses freilich nicht. Vielmehr demonstriert der Antwortbrief aus der Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums die Bedrohungssituation, welcher der Autor ausgesetzt war. In dem Schreiben heißt es unter anderem, Kästner könne »von Glück sagen, daß man im Jahre 1933 aus irgendeinem Grund vergessen« habe, »ihn auf eine Reihe von Jahren in ein Konzentrationslager zu sperren und ihm so Gelegenheit zu geben, durch seiner Hände Arbeit sich sein Leben zu verdienen«.¹⁴⁷ Abgesehen von den oben genannten Korrespondenzen existieren nach heutigem Forschungsstand keine weiteren Hinweise darauf, dass Kästner selbst oder sein Anwalt versucht haben, dem nationalsozialistischen Kulturapparat rhetorisch ›entgegenzukommen‹, um dem Schriftsteller die Möglichkeit zu verschaffen, wieder in Deutschland publizieren zu können.¹⁴⁸ Ein anderes in Kästners Nachlass erhaltenes Dokument, das bei der Betrachtung seines Lebens und Wirkens in der NS-Zeit nicht unerwähnt bleiben darf, ist indes das Kriegstagebuch,¹⁴⁹ das er sporadisch in 143 Friese, Achim an den Leiter der Abteilung Schrifttum im Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Brief vom 16.12.1938 (Abschrift). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Reichsschrifttumskammer. HS.2002.0154. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 Berndt, Alfred-Ingemar an Achim Friese. Brief vom 19.1.1929 zit. n. Hanuschek (2003), S. 234. 148 Die vorliegende Untersuchung beruft sich auf die im Nachlass Kästners vorzufindenden Dokumente der Jahre 1933 – 1945; dass die erhaltenen Quellen aus dieser Zeit rar gesät sind, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sämtliche Unterlagen, die der Schriftsteller nicht bei sich trug, zerstört wurden, als seine Berliner Wohnung im Februar 1944 bei einem Bombenangriff ausbrannte. Zudem ist nicht auszuschließen, dass Kästner oder Enderle selbst ihre Schriftstücke nach 1945 durchgesehen und gegebenenfalls aussortiert haben. Vgl. auch Hanuschek (2003), S. 11. 149 Die vorliegende Studie greift auf folgende – inzwischen vergriffene – Ausgabe des besagten Kriegstagebuchs zurück: Kästner, Erich: Das Blaue Buch. Kriegstagebuch und Roman-Notizen. Hg. von Ulrich von Bülow und Sabina Becker. Aus der Gabelsberger’schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Marbach am Neckar 2006 (Marbacher Magazin 111/112). Mittlerweile ist im Atrium

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den Jahren 1941, 1943 und, am ausführlichsten, 1945 in Gabelsberger Kurzschrift führte und das er während der Bombenangriffe stets bei sich trug. Eine ausführliche Beschreibung seiner Lebensumstände oder eingehende Positionierungen zum NS-Regime enthält dieses Schriftstück freilich nicht: Hauptsächlich widmen sich die Einträge der Kriegsberichterstattung. Allerdings notierte der Autor riskanterweise auch ›Flüsterwitze‹, die im Umlauf waren, hielt kleine Erfolge des Widerstands fest und erwähnte Deportationen und ihm zu Ohren gekommene Berichte über die Verbrechen in den Vernichtungslagern. Auffällig ist dabei der überaus distanzierte Tonfall, der das Gros der Notizen auszeichnet.¹⁵⁰ Laut Hanuschek erinnern sie in ihrer Perspektiv- und Meinungslosigkeit »unwillkürlich an einen Jakob Fabian im ›Dritten Reich‹, der sieht, notiert, notiert und sieht – und sonst nichts.«¹⁵¹ Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Entdeckung des Tagebuchs durch die Nationalsozialisten im Falle explizit regimekritischer Bemerkungen dem Schriftstellers zum Verhängnis hätte werden können, was die ›Sachlichkeit‹ seiner Notizen erklärbar macht.¹⁵² Es bleibt der Blick auf Kästners Werke der Jahre 1933 bis 1945. Vor seinem ›totalen‹ Publikationsverbot veröffentlichte er beim Atrium-Verlag in Zürich die humoristischen Unterhaltungsromane Drei Männer im Schnee (1934), Die ver-

Verlag eine von Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker herausgegebene Neuausgabe erschienen, die den vollständigen Text, die Kommentare und das Nachwort aus dem genannten Band übernimmt; jedoch wurden die Kommentare von Hanuschek neu strukturiert, deutlich erweitert und an einigen Stellen, dem aktuellen Forschungsstand entsprechend, berichtigt. (Vgl. dazu Hanuschek, Sven: Kästners Kriegstagebücher: Eine Einführung. In: Kästner, Erich: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941 – 1945. Hg. von Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. Aus der Gabelsberger’schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Zürich 2018, S. 7– 41, hier S. 41) Das 1999 im Nachlass Enderles wiederaufgefundene OriginalTagebuch, das den genannten Veröffentlichungen zugrunde liegt, ist nicht mit der nach Kriegsende von Kästner überarbeiteten und 1961 unter dem Titel Notabene 45 publizierten Version zu verwechseln, auf die in Kapitel 3.2.4 dieser Untersuchung näher eingegangen wird. 150 Wie sich mit Ulrich von Bülow festhalten lässt, gab Kästner die Rolle des neutralen Beobachters allenfalls dann auf, wenn geschilderte Ereignisse unmittelbar sein eigenes Schicksal oder das von Angehörigen betrafen – so berichtete er 1941 etwa durchaus anteilnehmend in der Wir-Form über das Kriegsgeschehen. Vgl. Bülow, Ulrich von: Nachwort. In: Kästner, Erich: Das Blaue Buch. Kriegstagebuch und Roman-Notizen. Hg. von Ulrich von Bülow und Sabina Becker. Aus der Gabelsberger’schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Marbach am Neckar 2006 (Marbacher Magazin 111/112), S. 291 – 311, hier S. 299. 151 Hanuschek (2003), S. 274. 152 In seinem Vorwort der Neuausgabe des [B]laue[n] Buch[s] vermerkt Hanuschek (2018, S. 11) darüber hinaus, die Einträge seien »Mitschriften, Tagesbeobachtungen eben; was der Verfasser davon hielt, wusste er ohnehin und sah keine Veranlassung, die eigenen Notizen auch noch moralisierend oder anders zu interpretieren.«

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schwundene Miniatur (1936) und Georg und die Zwischenfälle (1938) wie auch die Kinderbücher Emil und die drei Zwillinge (1934) und Till Eulenspiegel (1938) und den Gedichtband Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke (1936).¹⁵³ Von einem »auffälligen Rückgang in der Produktion«¹⁵⁴ des Schriftstellers, wie ihn die Biographin Helga Bemmann behauptete, lässt sich in Bezug auf die 1930er Jahre folglich nur bedingt sprechen. Weniger noch ist indes die These Dieter Manks zu bejahen, der versuchte, die während der NS-Zeit entstandenen und in der Schweiz publizierten Kästner’schen Texte als dessen »eigentliches Hauptwerk«¹⁵⁵ zu proklamieren. Vor allem die Unterhaltungsromane wertete er dabei als Manifestation von Kästners idealistischem Moralismus, seinen Harmoniewünschen und kleinbürgerlichen Aufstiegsträumen, die sich für die Protagonisten in seinen früheren Texten nicht realisiert hätten.¹⁵⁶ Manks Behauptung wurde schon oftmals zu Recht widersprochen. Wie sich etwa mit Helmuth Kiesel dagegenhalten lässt, ist »kaum vorstellbar, daß Kästner ohne die einschneidende und von Einschüchterungen begleitete Reduktion seiner Schreib- und Publikationsfreiheit so weit, wie es unter der Kontrolle der Nazis geschah, von seinem kritisch-satirischen Schreiben abgewichen wäre.«¹⁵⁷ Neben den oben genannten Werken und den Filmdrehbüchern Münchhausen und Der kleine Grenzverkehr (jeweils 1942) hat man mittlerweile von verschiedenen

153 Die Anthologie vereint unpolitische Gedichte der ersten vier Lyrikbände, die vor 1933 erschienen waren. Nur wenige der enthaltenen Aphorismen – unter anderem die berühmte Moral (»Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es.« EKW I, S. 277) – sind nachweislich nach 1933 entstanden. 154 Bemmann, Helga: Humor auf Taille. Erich Kästner – Leben und Werk. Berlin (Ost) 1983, S. 287. 155 Mank (1981), S. 216. 156 Vgl. ebd. 157 Kiesel (1998), S. 438. Untermauern lässt sich diese Einschätzung exemplarisch anhand der ursprünglichen Anlage der Verwechslungskomödie Drei Männer im Schnee: In der ersten Fassung des Stoffs – der 1927 veröffentlichten Erzählung Inferno im Hotel – nimmt sich Kästners Protagonist, ein mittelloser Arbeiter namens Sturz, der eine Reise in ein Luxushotel gewinnt, das Leben, nachdem er vom Hotelpersonal und reichen Gästen schikaniert worden ist. Als Kästner den Stoff während der NS-Herrschaft wieder aufgriff, veränderte er ihn maßgeblich: Auch in Drei Männer im Schnee gewinnt ein mitteloser Protagonist, diesmal Hagedorn genannt, eine Hotelreise. Zum Opfer der Attacken von Hotelpersonal und -gästen wird jedoch der als ›armer Schlucker‹ verkleidete Millionär Tobler. Hagedorn indes gelangt am Ende der Handlung tatsächlich zu Reichtum, da er eine Stelle in Toblers Konzern und dessen Tochter Hilde zur Frau bekommt. Dass diese harmlos-heitere Romanfassung ebenso wie Die verschwundene Miniatur »infolge ernster Zeiten entstanden« sei und er sich, da er »unter Kontrolle« schrieb, »als harmlos heiterer Erzähler« versuchte, betonte Kästner selbst in seiner Werkausgabe letzter Hand: Kästner, Erich: Gesammelte Schriften für Erwachsene. 8 Bde., Bd. 3: Romane II. München 1969, S. 7. Vgl. dazu auch Hanuschek (2003), S. 249 – 256. Sämtliche Zitate aus den Bänden der zuvor genannten Werkausgabe Kästners werden im Weiteren mit der Sigle GSE 1 – 8 kenntlich gemacht.

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Theaterstücken Kenntnis, an denen Kästner unter wechselnden Pseudonymen arbeitete respektive beteiligt war und die teilweise recht erfolgreich in Deutschland gespielt wurden.¹⁵⁸ In diesem Zusammenhang ist vor allem auf Das lebenslängliche Kind (1934), eine Adaption des Stoffes Drei Männer im Schnee, zu verweisen.¹⁵⁹ Wenngleich das Stück noch im Jahr seiner Uraufführung aufgrund der bekannt gewordenen Verbindung zu Kästner und seinem Roman aus den deutschen Spielplänen entfernt wurde, gestattete man seine Aufführung nur fünf Jahre später, 1939, erneut; es wurde zu einer der meistgespielten Boulevardkomödien in der NS-Zeit. Nicht minder groß war der Erfolg des Münchhausen-Films, der anlässlich des 25jährigen UFA-Jubiläums als das Prestigeobjekt des deutschen Staates gehandhabt wurde.¹⁶⁰ Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Hanuschek die Frage in den Raum stellen, inwieweit der Autor mit seinem Drehbuch das nationalsozialistische Bestreben unterstützte, inmitten des Zweiten Weltkrieges den ›schönen Schein‹ zu wahren und den Durchhaltewillen der Bevölkerung zu stärken.¹⁶¹ Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang, dass innerhalb der Forschung durchaus kontroverse Sichtweisen in Bezug auf eine vermeintlich politische Ausrichtung des Münchhausen bestehen. Während Mank dem Drehbuch 1981 noch bescheinigte, »an keiner Stelle nationalsozialistische Ideologie transportiert oder unterstützt«¹⁶² zu haben, versuchte Alfons Maria Arns in einem Beitrag aus dem Jahr 2011 zwar nicht, das Werk »zu den explizit antisemitischen Filmen«¹⁶³ zu zählen; er betrachtet es aber als Beispiel antisemitischer Codierung und nazistischer Anspielungen innerhalb der Unterhaltungsindustrie.¹⁶⁴ Dem gegenüber stehen diverse Forschungstexte, die

158 Die Forschung weiß beispielweise von dem Stück Willkommen im Mergenthal (1935), das Kästner unter Martin Kessels Pseudonym Hans Brühl schrieb, sowie von den in Zusammenarbeit mit Eberhard Keindorff unter dem Pseudonym Eberhard Foerster verfassten Stücken Verwandte sind auch Menschen (1937), Frau nach Maß (1938), Das goldenen Dach (1939) und Seine Majestät Gustav Krause (1940). Wie groß der Anteil Kästners an den letztgenannten Arbeiten war, muss jedoch dahingestellt bleiben. Vgl. Neuhaus (2000), S. 148. 159 Über die Urheberfrage besteht bei diesem Stück bislang keine Einigkeit in der Forschung: Während Hanuschek (2003, S. 258) vermutet, dass Werner Buhre Das lebenslängliche Kind in Absprache mit seinem langjährigen Freund Kästner geschrieben hat, vertritt Neuhaus (2000, S. 33 f.) die These, dass sich hinter dem Pseudonym Robert Neuner Kästner selbst verstecke und lediglich die offiziellen Rechte bei Buhre lagen. 160 Vgl. dazu Barbian (1999), S. 136. 161 Vgl. Hanuschek (2003), S. 299. 162 Mank (1981), S. 158. 163 Arns, Alfons Maria: Lügen für Deutschland – Antisemitismus und NS-Wirklichkeit in Erich Kästners und Josef von Bákys »Münchhausen«. In: Antisemitismus im Film. Laupheimer Gespräche 2008. Hg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Heidelberg 2011, S. 127– 148, hier S. 129. 164 Diese These macht Arns in erster Linie an der Filmfigur des Grafen Cagliostro fest, der »mit seinem politischen Machtwillen, seiner magischen Verführungs- und Zauberkraft und der Gier nach

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darauf abzielen, in Passagen oder einzelnen Sätzen des Drehbuchs heimliche Widerstandsakte auszumachen.¹⁶⁵ Zwar erscheinen die in diesem Kontext vorgebrachten Argumente im Einzelnen plausibel; ob das damalige Kinopublikum dem Film die in den Beiträgen geltend gemachten politisch-kritischen Anspielungen tatsächlich entnehmen konnte, muss allerdings dahingestellt bleiben. »Der Vorhang zu, und alle Fragen offen? Nicht alle, aber viele.«¹⁶⁶ Diese Worte, mit denen Stefan Neuhaus seine Studie über Kästners unter Pseudonym verfasste Theaterstücke in der NS-Zeit in Anspielung auf Brecht ausklingen lässt, spiegeln auch den allgemeinen Forschungsstand hinsichtlich Kästners Leben und literarischem Wirken im NS-Staat noch immer recht treffend wider. Ohne Zweifel kann es auf Basis der heutigen Quellenlage als haltlos betrachtet werden, dem Schriftsteller eine Affinität zum Nationalsozialismus respektive Antisemitismus zuschreiben zu wollen. Einige Ungewissheiten bleiben dennoch bestehen: Wie konnte ein Autor, der Gold, Geld und Frauen« (ebd.) das Bild des ›ewigen Juden‹ verkörpere. Hinzu komme Arns zufolge die Tatsache, dass die Rolle im Film mit Ferdinand Marian besetzt wurde, der nach seiner Rolle in Veit Harlans Jud Süß (1940) erneut zur »antisemitischen Projektionsfigur« geworden sei, als wäre er »in seiner Rolle des Hofjuden Joseph Süß Oppenheimer […] unmittelbar in den Film ›Münchhausen‹ gesprungen«. (Ebd.) Hanuschek hingegen wertet den Einsatz der Figur Cagliostro, ganz im Gegenteil, als Hitler-Karikatur. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die in einer der Szenen zur Sprache kommenden Kriegspläne des Grafen, welche unter anderem beinhalten, Polen anzugreifen, woraufhin Münchhausen Cagliostro vorwirft, den Krieg zu missbrauchen. (Vgl. Hanuschek 2003, S. 300) Die Besetzung der Figur mit Marian beurteilt Hanuschek, konträr zu Arns, als »besondere Pointe dieser deutlich regimekritischen Szene«. Ebd. 165 Als »zersetzende Bemerkungen« (Kordon 1998, S. 193) über die nationalsozialistische Politik werden beispielsweise die Aussagen der Casanova-Figur in der Venedig-Episode des Drehbuchs ausgelegt, die sich auf die Staatsinquisition beziehen: Diese habe, so Casanova, »zehntausend Augen und Arme und […] die Macht, Recht und Unrecht zu tun, ganz wie es ihr beliebt.« (EKW V, S. 259) Das wohl am häufigsten angeführte Argument für eine regimekritische Ausrichtung des Drehbuchs bezieht sich allerdings auf die Sequenz des Films, die auf dem Mond angesiedelt ist. Dort äußert Münchhausens Diener angesichts der verwirrenden Zustände auf dem Planeten: »Entweder Ihre Uhr ist kaputt, Herr Baron, oder – oder die Zeit selber.«, woraufhin Münchhausen lakonisch feststellt: »Die Zeit ist kaputt, Christian.« (EKW V, S. 301) Vgl. dazu etwa Kordon (1998), S. 193, Bemmann (1983), S. 324 und Detering, Heinrich: Gescheit und trotzdem tapfer. Erich Kästner wird hundert. In: Erich Kästner Jahrbuch 1999. Hg. von Klaus Doderer und Volker Ladenthin. Eitorf 2000, S. 15 – 25, hier S. 21. Dass auch weitere – auf den ersten Blick unpolitische – Kästner’sche Werke jener Jahre Passagen enthalten, die sich als »subversive Kritik« (Neuhaus 2000, S. 148) am Nationalsozialismus lesen lassen, wurde bislang allenfalls vereinzelt geltend gemacht. Vgl. hierzu etwa Neuhaus, Stefan: Erich Kästner und der Nationalsozialismus. Am Beispiel des bisher unbekannten Theaterstücks Gestern, heute und morgen (1936) und des Romans Drei Männer im Schnee (1934). In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 49 (1999), S. 372 – 387 sowie PlutoProndzinski, Thomas von: »Kein Buch ohne Vorwort«. Erich Kästners Paratexte als Medien eines demokratischen Literaturverständnisses. Marburg 2016 (Erich Kästner Studien, Bd. 4), S. 207. 166 Neuhaus (2000), S. 152.

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sich vor 1933 so deutlich gegen die Nationalsozialisten positioniert hatte, die NSDiktatur nicht nur unbeschadet überstehen, sondern innerhalb dieser Diktatur sogar große (monetäre) Erfolge – seine beiden Drehbücher waren der UFA ganze 115 000 Reichsmark wert¹⁶⁷ – verbuchen? Hatte er einfach ›Glück‹? Ging er mit seinen Versuchen, sich rhetorisch »an den Geschmack der Zeit an[zubiedern]«,¹⁶⁸ um seinen Beruf ausüben zu können, weiter als der ab 1936 erfolgte Briefwechsel mit der Reichsschrifttumskammer dokumentiert? Oder war er schlichtweg ein erfolgreicher Stratege, der den nationalsozialistischen Kulturbetrieb durchschaute und für sich zu (be)nutzen wusste?¹⁶⁹ Die noch bestehenden ›Rätsel‹, die Kästner der Forschung bezüglich der Jahre 1933 bis 1945 aufgibt, können auch in dieser Studie nicht ›gelöst‹ werden. Entscheidend ist für die nachfolgende Untersuchung allerdings auch weniger, wie sich seine Rolle im ›Dritten Reich‹ realiter gestaltete. Hinsichtlich seiner Reetablierung nach Kriegsende ist vielmehr von Belang, wie sie – insbesondere außerhalb Deutschlands – wahrgenommen wurde. Zum »singuläre[n] Fall«¹⁷⁰ macht Kästner nämlich nicht nur die Art und Weise, wie er die NS-Herrschaft in Deutschland überstand, sondern auch die Tatsache, dass seine Karriere außerhalb seines Heimatlandes nicht beendet war – ganz im Gegenteil: Seine in der Schweiz veröffentlichten Unterhaltungsromane verkauften sich in zahlreiche andere Länder weiter; die Verwechslungskomödie Drei Männer im Schnee avancierte sogar, trotz des Publikationsverbotes in Deutschland, zum Welterfolg.¹⁷¹ Allein bis zum Ende des Krieges wurden, teilweise in hohen Auflagen, neun Übersetzungen herausgebracht und der Stoff wurde fünfmal – unter anderem in den Ländern der späteren Besatzungsmächte Frankreich und den USA – verfilmt. Kästners Lyrische Hausapotheke war im Ausland ebenfalls recht erfolgreich; selbst im Warschauer Getto kursierten, wie nach 1945 vor allem durch die Schilderungen Reich-Ranickis publik wurde, einige heimlich per Hand abgeschriebene Exemplare.¹⁷² Doch auch Kästners vor 1933 verfasste politische Texte überdauerten auf unterschiedlichen Wegen das ›Dritte Reich‹: Seine antimilitaristische Lyrik wurde sowohl in New York nachgedruckt als auch von der französischen Widerstandsbewegung in den Éditions de Minuit innerhalb einer deutsch-französischen Gedichtanthologie publiziert, die außerdem Arbeiten Brechts, Tucholskys und Tollers

167 Vgl. Hanuschek (2003), S. 304. 168 So deutet Barbian (1999, S. 129) die Ausdrucksweise in Kästners Briefwechsel mit der Reichsschrifttumskammer. 169 Vgl. Hanuschek, Sven zit. n. Fannrich (2011). 170 Hanuschek, Sven zit. n. ebd. 171 Vgl. Hanuschek (2003), S. 253. 172 Vgl. ebd., S. 241.

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enthielt.¹⁷³ Kordons Kästner-Biographie zufolge verkauften sich die frühen Gedichtbände in Berlin zum Schwarzmarktpreis von achtzig Mark pro Band, eine deutsche Luftwaffeneinheit wagte es, die pazifistischen Verse im Fliegerhorst auf Leinwände zu projizieren und an der Front wurden Gedichte wie Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? und Stimmen aus dem Massengrab gegen Zigaretten getauscht.¹⁷⁴ Retrospektiv betonten vielen Zeitgenossen Kästners den hohen Stellenwert, den seine Werke während des Zweiten Weltkriegs für sie eingenommen hatten. Beispielsweise konstatierte der Philosoph, Journalist und spätere DDR-Intellektuelle Wolfgang Harich im Jahr 1949, die Gedichte hätten unter den jungen Soldaten das Bewusstsein und das Gewissen [geweckt], die abzustumpfen drohten. Kästner schärfte den Verstand. Und das war viel, sehr viel wert. Wenn wir den Krieg gewonnen hätten…, Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn… – wer das las und dann nicht Vernunft annahm und den Schwindel der Herrschenden durchschaute, dem war nicht zu helfen.¹⁷⁵

Folgt man dem Erinnerungsangebot, das ein Leserbrief macht, der Kästner 1967 erreichte, dann avancierten seine Texte zwischen jenen, die die NS-Herrschaft ablehnten, sogar zum »Gesinnungssymbol«:¹⁷⁶ Und wie war es in der Nazizeit? Man lernte irgend jemanden kennen, der sympathisch war. Man wusste nicht: kann man ihm trauen? Da ließ man dann so ganz nebenbei in irgend einen Satz einige Kästner-Zitate einfließen wie z. B. […] »…mit einem Helm statt einem Kopf…« oder »…wenn’s doch Mode würde, völlig zu verblöden«. Aus der Reaktion des Gesprächspartners war dann zu schließen, wohin man ihn einordnen konnte. ¹⁷⁷

Gewiss muss dahingestellt bleiben, für wie viele Landsleute Kästner und seine frühen Texte während der NS-Zeit tatsächlich als solche Projektionsfläche für eine antifaschistische Einstellung fungierten. Zahlreiche seiner emigrierten Kollegen

173 Vgl. Kästner, Erich an eine Studentin. Brief vom 31.10.1959. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 369. 174 Vgl. Kordon (1998), S. 187. 175 Harich, Wolfgang zit. n. Kordon (1998), S. 188. 176 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 9.12.1967. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Glückwünsche zum 60. Geburtstag. HS.1998.0003. Sämtliche Zitate aus Briefen von Privatpersonen, deren aktuelle Urheberrechtsinhaber nicht ermittelt werden konnten, werden in dieser Studie in anonymisierter Form wiedergegeben. 177 Ebd. Die im Brief genannten Verweise rekurrieren auf Kästners Gedichte Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? (EKW I, S. 26) aus dem Jahr 1927 und Sogenannte Klassefrauen (EKW I, S. 141) aus dem Jahr 1930.

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assoziierten ihn nach 1933 allerdings nachweislich mit dieser Haltung und betrachteten ihn als Vertreter des ›anderen Deutschlands‹.¹⁷⁸ Zwar lassen sich vereinzelt kritische Stimmen finden, die es Kästner zur Last legten, in Deutschland geblieben zu sein und sich an die politischen Verhältnisse ›angepasst‹ zu haben.¹⁷⁹ Die Sichtung der nach Kriegsende an ihn gerichteten Zuschriften macht jedoch evident, mit welcher Selbstverständlichkeit er von den meisten Emigranten wie gehabt als politisch Gleichgesinnter – wenn nicht gar, wie Reich-Ranicki es später formulieren sollte, als »Deutschlands Exilschriftsteller honoris causa«¹⁸⁰ – empfunden wurde. »Ich habe niemanden in Deutschland,« schrieb etwa Rudolf Arnheim im August 1946 aus New York an Kästner, von dem ich mir einbilde, dass er mir in seinem Fühlen und Denken so ähnlich wäre wie Sie, und so waren Sie mir eine Art Stellvertreter drüben und ich dachte oft unruhig an Sie […] und warte nun sehr darauf, von Ihnen zu hören.¹⁸¹

Dass Kästner unter der NS-Diktatur massives Leid erfahren haben müsse, wurde von seinen emigrierten Kollegen ebenfalls als Tatsache vorausgesetzt. Nach dem Kriegsende verband beispielsweise Erich Franzen die Ankündigung, seinem früheren Weltbühnen-Kollegen ein Care-Paket aus den USA zukommen zu lassen, explizit mit der Aufforderung, es »als Entgelt für alles« zu betrachten, »was Leute wie [er] in dem armen, verwüsteten und vielleicht verlorenen Land dort drüben aus-

178 Vgl. zum prominenten Bild des ›anderen Deutschlands‹, das trotz der faschistischen Herrschaft demokratische und humanistische Ideale aus der Weimarer Republik ›herübergerettet‹ habe, weiterführend Schnell (1976), S. 2 u. 6 – 8. 179 Diese Position vertrat im niederländischen Exil Klaus Mann, der nach der Veröffentlichung der Drei Männer im Schnee Kästners literarische Entwicklung zum Humoristen beanstandete und angesichts der Tatsache, dass der in der Schweiz publizierte Roman anfänglich noch in deutschen Buchhandlungen zu bekommen war, argwöhnte, die Nationalsozialisten hätten »dem sächsischen Schlingel seine Sturm und Drangperiode verziehen«. (Mann, Klaus zit. n. Hanuschek 2003, S. 236). Auch Franz Schoenberger, der vor seiner Emigration der letzte Chefredakteur des Simplicissimus gewesen war und in den späten 1930er Jahren an Manns Exil-Zeitschrift Die Sammlung mitarbeitete, schloss sich dieser Kritik an und ging sogar soweit, Kästner in einem Brief an Hermann Kesten aus dem Jahr 1940 in der Gruppe von Schriftstellern zu verorten, die seiner Ansicht nach »alle mehr oder weniger Nazis geworden« waren. Schoenberger, Franz zit. n. Kettler, David: Ausgebrannt im Exil? Erste Briefe zweier »verbrannter« Dichter. Die Korrespondenzen Kesten – Kästner und Graf – Hartung. In: Erste Briefe/First Letters aus dem Exil 1945 – 1950. (Un)mögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils. Hg. von Primus-Heinz Kucher, Johannes F. Evelein und Helga Schreckenberger. München 2011, S. 63 – 81, hier S. 66. 180 Reich-Ranicki (1989), S. 20 f. 181 Arnheim, Rudolf an Erich Kästner. Brief vom 14. 8.1946. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003.

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gestanden«¹⁸² hätten. Und auch Walter Victor konstatierte, in Erinnerung an die letzte persönliche Begegnung, die er vor seiner Emigration im Jahr 1934 mit Kästner hatte: Was Sie in der Zeit seitdem durchgemacht haben, kann ich nur ahnen. Dass Sie es durchgemacht haben, ist Grund genug, dies zu tippen, waehrend ich mich sozusagen ›von den Sitzen erhebe‹, [um] Ihnen über den Ocean hinweg meine bruederliche Hochachtung, meinen Glueckwunsch auszusprechen. ¹⁸³

Kästner galt im Kreis seiner emigrierten Kollegen aber nicht allein als politisch ›unbelasteter‹ Leidtragender des NS-Regimes, sondern wurde auch als kultureller ›Hoffnungsträger‹ für die Nachkriegszeit betrachtet. Dies demonstriert besonders eindrücklich ein Dossier, das der Exilliterat Carl Zuckmayer in den Jahren 1943/1944 für den amerikanischen Geheimdienst verfasste und in dem er sich über verschiedene nach 1933 in Deutschland verbliebene Persönlichkeiten des kulturellen Feldes der Weimarer Republik äußerte. Zuckmayer ordnet seinen alten Bekannten in seinem Geheimreport zunächst in die Gruppe »[v]om Nazi-Einfluss unberührt[er], widerstrebend[er], zuverlässig[er] Autoren«¹⁸⁴ ein, um an späterer Stelle dezidiert festzuhalten, Kästner gehöre zu den wenigen deutschen Nichtnazis von Ruf und Rang, die die heutigen Verhältnisse innerhalb Deutschlands genau kennen und diese Kenntnis durch alle Phasen der Hitlerherrschaft, ihres Aufstiegs und Niedergangs hindurch, erweitert haben. Wenn er überlebt, mag er einer der wichtigen Männer für die Nachkriegsperiode werden.¹⁸⁵

3.1.3 Zwischenfazit Bemüht man Bourdieus Vergleich feldinterner Machtkämpfe mit einem Kartenspiel,¹⁸⁶ dann lässt sich festhalten, dass Kästner zum Zeitpunkt des Kriegsendes eine ganze Reihe von ›Trümpfen‹ in der Hand hatte, die seine Möglichkeiten einer er-

182 Franzen, Erich an Erich Kästner. Brief vom 22.11.1946. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Leider ist es der Verfasserin trotz großer Bemühungen nicht gelungen, die aktuellen Urheberrechtsinhaber Erich Franzens ausfindig zu machen. Selbstverständlich werden sämtliche Rechte auf das genannte Zitat respektiert. 183 Victor, Walter an Erich Kästner. Brief vom 15.5.1946. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 184 Zuckmayer, Carl: Geheimreport. Hg. von Gunther Nickel und Johanna Schrön. Göttingen 2002, S. 15. 185 Ebd., S. 104. 186 Vgl. Bourdieu (1989), S. 10.

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folgreichen beruflichen Reetablierung in der Folgezeit ungemein erhöhten. An vorderster Stelle stand dabei sein symbolisches Kapital, das sich nach dem Ende der NS-Zeit primär darüber definierte, dass er innerhalb Deutschlands – zumindest offiziell – zwölf Jahre lang kein hohes Ansehen genossen hatte. Sein Ruf als ›verbotener‹ und ›unbelasteter‹ Autor eilte dem schriftlichen Bescheid, der Kästner 1946 mitteilte, dass er »von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus […] nicht betroffen«¹⁸⁷ sei, weit voraus. Dadurch, dass er sich bereits vor 1933 öffentlich gegen die Nationalsozialisten positioniert hatte, wurde er, insbesondere außerhalb seines Heimatlandes, als NS-Gegner und Repräsentant des ›anderen Deutschlands‹ verortet. Zuträglich war diesem symbolischen Kapital auch sein in Zeiten der Weimarer Republik akkumuliertes soziales Kapital. Wie aufgezeigt, hatte er mit zahlreichen späteren Emigranten und Opfern der NS-Diktatur in Verbindung gestanden. Viele der Überlebenden fühlten sich Kästner daher trotz seines Verbleibs in Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verbunden und man setzte große Hoffnungen für die Nachkriegszeit in ihn. Darüber hinaus war er auch als begabter Schriftsteller nicht in Vergessenheit geraten. Gerade in den westlichen Besatzungsländern hatte sich sein Bekanntheitsgrad nicht verringert, sondern sogar vermehrt: Da sowohl seine frühen Publikationen für Kinder als auch seine nach 1933 in der Schweiz veröffentlichten Werke außerhalb Deutschlands präsent waren und ihre Adaptionen zum Teil große Erfolge feierten, konnte ihm die Phase der Publikationsverbote sein kulturelles und symbolisches Kapital als Autor auf internationaler Ebene nicht endgültigen nehmen. Von einer Beteiligung Kästners am kulturellen Neuaufbau Deutschlands konnten sich die Besatzungsmächte folglich nicht nur einen politisch ›zuverlässig‹ erscheinenden, sondern zugleich auch einen in verschiedenen journalistischen und literarischen Bereichen als talentiert und fähig bekannten Mitarbeiter versprechen. Kurzum, er hätte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kaum bessere Voraussetzungen haben können, um an seine Karriere vor 1933 anzuknüpfen – und Kästner verstand es, wie im Folgenden aufgezeigt wird, diese günstige Ausgangssituation überaus erfolgreich zu nutzen.

3.2 Kästners Positionen im kulturellen Feld Etwa anderthalb Monate nachdem Kästner und Enderle mit der Filmgruppe um Eberhard Schmidt nach Mayrhofen gelangt waren, trafen dort am 5. Mai 1945 die ersten US-Soldaten ein. Für den Schriftsteller brach damit eine Zeit an, die sowohl

187 Zit. n. Hanuschek (2003), S. 322.

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von ersten Befragungen durch die Besatzer als auch vom Wiedersehen mit alten Freunden und Bekannten geprägt war. Als im Juli des Jahres Gerüchte darüber aufkamen, dass die Amerikaner Mayrhofen verlassen würden und stattdessen französische Besatzungstruppen nachrücken sollten, entschied sich Kästner, wie zahlreiche andere Mitglieder der UFA-Gruppe, nach München weiterzuziehen.¹⁸⁸ Bereits bei ersten Tagesausflügen in die Großstadt, die das US-Militär zum Hauptquartier und kulturellen Zentrum seiner Besatzungszone machen wollte,¹⁸⁹ war er begeistert von der dort vorherrschenden Aufbruchstimmung.¹⁹⁰ Nach einer mehrwöchigen Zwischenstation in Schliersee kam er schließlich gemeinsam mit Enderle in München an, wo er, obgleich es an Stellenangeboten aus anderen Teilen Deutschlands nicht mangelte,¹⁹¹ bis zu seinem Tod im Juli 1974 sesshaft bleiben sollte. In der bayerischen Hauptstadt wurde Kästner, mit Thomas Betz gesprochen, »sofort zu einer zentralen Figur«¹⁹² des kulturellen Lebens. Er avancierte zum Feuilletonleiter der von den Amerikanern ins Leben gerufenen Neue[n] Zeitung und zu einem der Haupttexter des Kabaretts Die Schaubude; in den folgenden Jahren gab er die Jugendzeitschrift Pinguin heraus, tat sich durch Wieder- und Neuveröffentlichungen von Büchern für Kinder und Erwachsene hervor, schrieb für das Kabarett Die kleine Freiheit, verfasste Drehbücher und wurde zum Präsidenten des gesamtdeutschen und, ab 1951, des bundesdeutschen PEN-Zentrums gewählt. Folglich agierte er auf vielfältige Weisen in einem kulturellen Feld, das sich ab 1945 – zumindest in den westlichen Besatzungsgebieten – in einem enormen Wandlungsprozess von seiner heteronomen Steuerung durch die Siegermächte hin zu autonomeren Strukturen bewegen sollte. Zugleich handelte es sich aber um ein Feld, das nach Kriegsende von erbitterten Kontroversen durchzogen war. So manifestierte sich nicht nur eine Spaltung zwischen den nach 1933 in Deutschland verbliebenen Literaten und den Vertretern des Exils, sondern, spätestens mit der Teilung Deutschlands, auch eine Trennung zwischen den Kulturschaffenden in Ost und

188 Vgl. Hanuschek (2003), S. 311. 189 Vgl. dazu Hay, Gerhard: Literarische Positionen im München der Nachkriegszeit. In: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945 – 1949. Hg. von Friedrich Prinz. München 1984, S. 209 – 219, hier S. 209. 190 So legte Kästner es zumindest retrospektiv in seinem überarbeiteten Kriegstagebuch dar. Siehe Kästner, Erich: Notabene 45. Ein Tagebuch [1961]. In: EKW VI, S. 301 – 480, hier S. 444 f. 191 Beispielsweise hätte Kästner die Möglichkeiten gehabt, den Wiederaufbau des Hamburger Rundfunks zu unterstützen oder Generalintendant des Staatstheaters in Dresden zu werden. Vgl. Hanuschek (2003), S. 323. 192 Betz, Thomas: Neues von gestern. Ein zeitgenössischer Klassiker im Nachkriegsmünchen. In: »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Hg. von Manfred Wegner. Berlin 1999, S. 163 – 174, hier S. 163.

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West. Im Folgenden sollen die einzelnen Positionen, die Kästner als Journalist und Schriftsteller in jenen spannungsgeladenen Jahren innehatte, näher beleuchtet werden. Dabei wird nicht nur nachzuzeichnen sein, für wen und mit wem er an welchen Projekten arbeitete und worüber er schrieb.¹⁹³ In Anlehnung an Bourdieu soll insbesondere herausgearbeitet werden, auf welche Weisen er sein vor 1945 akkumuliertes Kapital ›zum Einsatz brachte‹ und wie er es in seinen unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen vermehren konnte.

3.2.1 Kästner als Journalist Einer der ersten Schwerpunkte seines Wirkens vor 1933, den Kästner nach dem Ende des Krieges wiederaufnehmen konnte, war seine Tätigkeit für die Presse. Angesichts seiner politischen ›Unbescholtenheit‹ und seiner journalistischen Karriere in Zeiten der Weimarer Republik waren die (zum Teil remigrierten) Vertreter der westlichen Besatzungsmächte in hohem Maße daran interessiert, ihn in den Neuaufbau eines demokratischen Zeitungswesens zu integrieren. Und auch für die Gründer der etwas später zugelassenen Lizenzzeitungen respektive -zeitschriften war es attraktiv, ihn als Mitarbeiter zu gewinnen. Die exponierten Positionen, die Kästner vor diesem Hintergrund bei der amerikanischen Neue[n] Zeitung und der Stuttgarter Jugendzeitschrift Pinguin einnehmen konnte, gilt es nun einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. 3.2.1.1 Kästner und Die Neue Zeitung Als der schwedische Journalist Lennart Göthberg im ersten Nachkriegsjahr konstatierte, dass Kästners »Einfluß auf die kulturellen Auseinandersetzungen […] [i]m heutigen Deutschland […] größer als irgendein anderer«¹⁹⁴ sei, bezog er sich explizit auf die Stellung als leitender Feuilletonredakteur, die der Schriftsteller bei der Neue[n] Zeitung (kurz: NZ) innehatte. In der Tat war diese Position nicht nur eine der ersten, sondern zugleich auch eine der wirkungsmächtigsten, die Kästner nach dem Zweiten Weltkrieg im kulturellen Feld einnahm. Bereits im Juni 1945 hatte der

193 Die Themen zu benennen, mit denen sich Kästner in seinen journalistischen und literarischen Beiträgen auseinandersetzte, ist schwerlich möglich, ohne zugleich erste Einblicke in seine politischen Positionierungen zu geben. In den folgenden Unterkapiteln soll dies allerdings lediglich überblicksartig geschehen. Vertiefende Analysen verschiedener, im Folgenden schon genannter Texte werden in Kapitel 4 dieser Untersuchung durchgeführt. 194 Göthberg, Lennart: Begegnung mit Erich Kästner. Übersetzt von E. Stieve, o.D. [1946] (Abschrift). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 4. HS.1998.0003.

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zum britischen Presseoffizier ernannte Emigrant Peter de Mendelssohn¹⁹⁵ ihm bei einem Treffen in Mayrhofen das Angebot unterbreitet, an einer noch zu gründenden Zeitung in München mitzuarbeiten. Kästner lehnte dies jedoch vorerst ab, da er seine beruflichen Entscheidungen davon abhängig machen wollte, wo in Deutschland er sich langfristig niederlassen würde.¹⁹⁶ Nachdem er schließlich tatsächlich in die bayerische Hauptstadt gezogen war, bot ihm der österreichisch-ungarische Schriftsteller und Journalist Hans Habe, der sieben Jahre nach seiner Emigration als US-Offizier nach Deutschland gekommen war,¹⁹⁷ an, die Feuilletonleitung der NZ zu übernehmen. Kästners Zusage, die im Oktober 1945 vertraglich festgehalten wurde, erwies sich als entscheidender Schritt zu seiner erfolgreichen Reetablierung als Journalist – avancierte das noch im selben Monat erstmals veröffentlichte Blatt doch zum bedeutendsten Presseorgan der ersten Nachkriegsjahre.¹⁹⁸ Als [e]ine amerikanische Zeitung für die Deutsche Bevölkerung – so ihr Untertitel – sollte die NZ den US-Besatzern als Sprachrohr dienen und ihre Umerziehungsund Demokratisierungsziele transportieren. Wie das in der Erstausgabe vom 18. Oktober 1945 veröffentlichte Geleitwort des späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower verdeutlichte, beabsichtigten die Amerikaner durch »objektive Berichterstattung, bedingungslose Wahrheitsliebe und ein hohes journalistisches Niveau«¹⁹⁹ ein Exempel für eine künftige freie und unabhängige deutsche Presse zu statuieren. Dem lag die Idee zugrunde, dass nur ein solches Pressewesen langfristig in der Lage sein würde, das Aufkommen restaurativer Tendenzen zu verhindern und das aufzubauende demokratische System zu stützen.²⁰⁰ Da der Besitz von Informationen als notwendige Voraussetzung für die Mündigkeit jedes Staatsbürgers innerhalb der Demokratie angesehen wurde, strebte man insbesondere an, mithilfe

195 Der wie Kästner aus Dresden stammende Schriftsteller war neben Klaus Mann und Robert Neumann einer der wenigen Emigranten gewesen, denen es während der NS-Zeit gelungen war, in englischer Sprache schreibend Fuß zu fassen. Im ersten Nachkriegssommer hatte er Mayrhofen in Begleitung des amerikanischen Filmoffiziers Bill Kennedy besucht, welcher Kästner schon zuvor Arbeit beim Film in Aussicht gestellt hatte. Kurz nachdem Mendelssohn Kästner sein Angebot unterbreitet hatte, verließ er Tirol, da er als britischer Korrespondent zur Potsdamer Konferenz befohlen wurde. Später war er unter anderem an der Gründung der Tageszeitung Die Welt in der britischen Besatzungszone beteiligt. Vgl. Hanuschek (2003), S. 310 f. und Kordon (1998), S. 234. 196 Vgl. Hanuschek (2003), S. 311. 197 Habe fungierte nach Kriegsende nicht allein als Chefredakteur der NZ, sondern gründete insgesamt 16 deutschsprachige Zeitungen, unter anderem den Kölnischen Kurier, die Ruhr-Zeitung in Essen und die Allgemeine Zeitung in Berlin. 198 Vgl. etwa Görtz und Sarkowicz (1998), S. 263. 199 Eisenhower, Dwight D.: Geleitwort vom 18.10.1945. In: »Als der Krieg zu Ende war«. Literarischpolitische Publizistik 1945 – 1950. Hg. von Bernhard Zeller. Stuttgart 1973, S. 25 – 27, hier S. 26. 200 Vgl. Wiedenhorn-Schnell (1984), S. 252 u. 259.

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des Blattes das über zwölf Jahre hinweg von der NS-Politik verengte Blickfeld der Rezipienten zu erweitern. Die NZ sollte sowohl nationale und internationale Ereignisse behandeln als auch zuvor unterdrücktes Wissen über die Gräueltaten im ›Dritten Reich‹ publik machen, um den Lesern die Notwendigkeit der Entnazifizierungs- und Entmilitarisierungsmaßnahmen bewusst zu machen.²⁰¹ Dass die Zeitung in den ehemaligen Gebäuden des Völkischen Beobachters hergestellt wurde, kam nicht nur einem Symbol für den Sieg der Alliierten über den Nationalsozialismus gleich,²⁰² sondern war auch von praktischem Nutzen: Da die Druckerei des Hauptpresseorgans der NS-Bewegung nahezu unbeschädigt geblieben war, konnte man das Blatt hier von Beginn an in einer hohen Auflage produzieren. Im Gegensatz zu ihrer regionalen ›Vorläuferin‹, der Münchner Zeitung, die zum Oktober 1945 ihr Erscheinen einstellte, war die NZ in der gesamten amerikanischen Zone inklusive des amerikanischen Sektors in Berlin erhältlich. Nachdem anfangs zweimal wöchentlich je 500.000 Exemplare erschienen waren, stieg die Auflagenhöhe innerhalb von nur zwei Monaten auf das Dreifache an; der letztendliche Rezipientenkreis war in dieser Zeit allerdings noch wesentlich größer. So hatte, zeitgenössischen Umfragen zufolge, jedes der letztlich 1,5 Millionen Exemplare durchschnittlich fünf Leser, und für potentielle Abonnenten existierten lange Wartelisten.²⁰³ Unter den übrigen von den Alliierten herausgegebenen Zeitungen – man denke vor allem an Die Welt in der britischen, die Nouvelles de France in der französischen und die Tägliche Rundschau in der sowjetischen Zone – galt das amerikanische Blatt in seinen ersten Erscheinungsjahren als das attraktivste und über die Zonengrenzen hinaus bekannteste.²⁰⁴ Bis zur Währungsreform 1948 konnte es sich außerdem problemlos gegen die größten der nach und nach zugelassenen Lizenzzeitungen wie Die Zeit, die Frankfurter Rundschau oder die Süddeutsche Zeitung ²⁰⁵ behaupten.²⁰⁶ Dieser Erfolg ist nicht zuletzt mit dem enormen ökonomischen Kapital der Neue[n] Zeitung in Verbindung zu bringen, das sich unter

201 Vgl. ebd. sowie Hanuschek (2003), S. 324 und Rollberg, Sabine: Von der Wiederauferstehung des deutschen Geistes. Eine Analyse des Feuilletons der Neuen Zeitung 1945 – 1949. Bonn 1981, S. 12. 202 Vgl. auch Habe, Hans zit. n. Hanuschek (2003), S. 323. 203 Vgl. Wiedenhorn-Schnell (1984), S. 259 sowie Benz, Wolfgang: Deutschland 1945 – 1949. Überarbeitete Neuauflage 2005. Informationen zur politischen Bildung 259 (2005), S. 39. 204 Vgl. Benz (2005), S. 39. 205 Die Frankfurter Rundschau und die Süddeutsche Zeitung erschienen unter amerikanischer, Die Zeit unter britischer Lizenz. Bekannte Lizenzzeitungen in der französischen Zone waren etwa das Badener Tageblatt oder der Südkurier in Konstanz; in der sowjetischen Zone wurden unter anderem die Berliner Zeitung und das Neue Deutschland lizenziert. 206 Vgl. Wiedenhorn-Schnell (1984), S. 259 f. Bis 1948 erreichte die NZ sogar eine Auflagenhöhe von 2,5 Millionen Exemplaren; zu dieser Zeit wurde bereits eine eigenständige Berliner Ausgabe des Blattes herausgebracht. Vgl. Rollberg (1981), S. 29.

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anderem aus den in den USA erhobenen Steuern konstituierte. Selbst auf dem Höhepunkt der Papierknappheit im Sommer 1947 hatte die NZ monatlich noch 650 Tonnen Papier zu Verfügung, während die 58 zu diesem Zeitpunkt in der amerikanischen Zone lizenzierten Zeitungen sich mit einer Papierzuteilung von insgesamt 1050 Tonnen zu begnügen hatten.²⁰⁷ Zuvörderst waren jedoch inhaltliche Gründe dafür verantwortlich, dass die Zeitung bei der deutschen Bevölkerung solch enormen Anklang fand. In der Forschungsliteratur wird in diesem Zusammenhang nicht selten auf die Vorgehensweise des ersten Chefredakteurs Habe verwiesen, der sich während seines Mitwirkens beim Neuaufbau der Presse keineswegs stringent an die Vorgaben der Militärregierung hielt. Er vermarktete die NZ nämlich nicht primär in Eisenhowers Sinne als »offizielles Organ der amerikanischen Behörden«,²⁰⁸ sondern wollte sie dezidiert als Vermittlungsinstanz zwischen den Besatzern und der deutschen Bevölkerung etablieren.²⁰⁹ Aus diesem Grund war bereits die äußere Aufmachung der Zeitung stärker an der deutschen als an der amerikanischen Pressetradition orientiert.²¹⁰ Zudem bekamen Leserbriefe aus der deutschen Bevölkerung redaktionell ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und wurden bei der Zusammenstellung neuer Themenbereiche berücksichtigt. Außerdem besetzte Habe von Anfang an wichtige Ressorts gezielt mit deutschen Journalisten, die bereits ab Dezember 1945 gleichberechtigt mit ihren amerikanischen Kollegen an Redaktionskonferenzen teilnehmen durften.²¹¹ Und auch was die Berichterstattung als solche anging, räumte er seinen Mitarbeitern ungewöhnlich große Freiheiten ein, da er die von ihnen eingereichten Artikel vor ihrer Veröffentlichung zwar stilistisch prüfte, jedoch nicht inhaltlich redigierte.²¹² Habes redaktionelle Konzeption wurde grundsätzlich auch von seinem im Frühjahr 1946 antretenden Nachfolger Hans Wallenberg beibehalten, wenngleich dieser bemüht war, die amerikanischen Interessen stärker zu betonen, als sein

207 Vgl. ebd. 208 Eisenhower (1973), S. 26. 209 Vgl. Wiedenhorn-Schnell (1984), S. 260. 210 Nach Rollberg (1981, S. 28) lassen sich etwa die Aufteilung der Sparten und ihre Gruppierungen unter festen Ressortüberschriften als Zugeständnisse an die schon vor Kriegsende übliche Aufmachung von Zeitungen in Deutschland begreifen. 211 Neben Kästner in der Feuilletonleitung sind in diesem Kontext noch Stefan Heym und, ab November 1945, Hans Lehmann als leitende Redakteure der Sparte Außenpolitik zu erwähnen; Robert Lembke fungierte als Ressortleiter der Innenpolitik. Vgl. ebd., S. 28. 212 In Anbetracht dessen verwundert es kaum, dass etwa die von den Amerikanern eingeforderte Trennung von Information und Meinung, die im deutschen Journalismus historisch nicht etabliert war, in den Beiträgen nicht immer eingehalten wurde. Vgl. dazu auch Wiedenhorn-Schnell (1984), S. 260.

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Vorgänger dies getan hatte.²¹³ Ein »fundamentaler Richtungswechsel«²¹⁴ trat erst ein, als der Amerikaner Jack M. Fleischer die Position Wallenbergs im Februar 1948 übernahm. Sabine Rollberg zufolge lässt sich der im Laufe jenes Jahres einsetzende Rückgang der Verkaufszahlen nicht allein mit der Währungsreform, sondern ebenso damit in Verbindung bringen, dass sich das Blatt unter der neuen Leitung alsbald durch einen ausgestellten Amerikanismus und die strenge Zensur jedweder Beiträge auszeichnete, die nicht konsequent mit der offiziellen US-Politik übereinstimmten.²¹⁵ Nur zwei Monate nach dem Antritt Fleischers legte Kästner seine Position bei der NZ nieder; in den zweieinhalb Vorjahren hatte er jedoch maßgeblich zum Erfolg der Zeitung beigetragen. Inwiefern gerade das von ihm aufgebaute Feuilleton »literarisch und kulturpolitisch hoch einzuschätzende Vermittlungsarbeit«²¹⁶ leistete, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Zu diesem Zweck lohnt es, die Konzeption des Ressorts zu betrachten, das »weit über die Nachkriegszeit, ja, die Erscheinungsdauer der Zeitung hinaus, durch [sein] hohes Niveau beispielhaft [war]«.²¹⁷ Außerdem gilt es zu überprüfen, welche Akteure des kulturellen beziehungsweise literarischen Feldes unter Kästners Feuilletonleitung zu Wort kamen. Bereits der Blick auf die Einteilung der Rubriken in der NZ verdeutlicht, dass dem Schriftsteller von Beginn seiner redaktionellen Tätigkeit an großzügige Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt wurden:Von den insgesamt sechs Seiten, die eine Ausgabe des Blattes in der Regel umfasste, waren stets zwei – und damit ein Drittel der gesamten Zeitung – der Feuilleton- und Kunstbeilage vorbehalten.²¹⁸ Diese folgte gemeinhin einem festen Aufbau: Auf der ersten Seite wurde in der Regel ein Gemälde, eine Zeichnung, eine Skulptur oder Karikatur abgebildet und mit kurzen 213 Vgl. ebd. Der in Deutschland geborene Journalist Wallenberg war wie sein Vorgänger emigriert und nach dem Zweiten Weltkrieg als US-Offizier nach Deutschland zurückgekehrt. Er löste Habe ab, nachdem dieser infolge von Konflikten mit der Militärregierung zurückgetreten war, die sich aus seinem Vorgehen bei der Leitung der NZ und seinen zunehmend kritischen Äußerungen über die amerikanischen Besatzer ergeben hatten. In den Folgejahren war Habe unter anderem noch als Chefredakteur der Münchener Illustrierten und des Echos der Woche tätig. Nach dem Ende der Besatzungszeit vertrat er in seinen journalistischen Beiträgen zunehmend eine rechtskonservative Haltung. Vgl. dazu auch Rollberg (1981), S. 21 f. und Hanuschek (2003), S. 354 f. 214 Wiedenhorn-Schnell (1984), S. 260. 215 Vgl. dazu Rollberg (1981), S. 23 f. Bis zur endgültigen Einstellung des zuletzt bereits nur noch in Berlin erschienenen Blattes im Jahr 1955 erfolgten noch mehrere weitere Wechsel in der Besetzung der Chefredaktion, die an dieser Stelle jedoch nicht genauer in den Blick genommen werden, da sie Kästner nach seiner Kündigung als Feuilletonredakteur nicht mehr unmittelbar betrafen. 216 Betz (1999), S. 164. 217 Hanuschek (2003), S. 325. Vergleichbar äußert sich auch Wiedenhorn-Schnell (1984, S. 260) über den Stellenwert des Feuilletons unter Kästner. 218 Vgl. Rollberg (1981), S. 26 u. 36.

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Informationen zu Werk und Urheber versehen, wobei man zumeist auf Künstler zurückgriff, die in der NS-Zeit als ›entartet‹ verfemt worden waren.²¹⁹ Um den jeweiligen Abdruck herum fanden sich wahlweise Essays, Gedichte, Erzählungen oder Dramen- beziehungsweise Romanauszüge wieder. Die zweite Feuilletonseite widmete sich schließlich aktuellen Themen. Hier hatten Besprechungen von Kunstausstellungen, Theateraufführungen, Filmvorführungen und Buchrezensionen ihren Platz.²²⁰ Zur Sprache kamen überdies Neugründungen von Theatern und Verlagen, Resultate der Entnazifizierungsprozesse um bekannte Kulturschaffende oder die Rückkehr von emigrierten Künstlern und Literaten nach Deutschland.²²¹ Unter dem Motto Jeder lernt Englisch enthielt die Seite außerdem einen Sprachkurs in Fortsetzungen, der den Lesern in der amerikanischen Zone die Kommunikation mit den Besatzern erleichtern sollte. Hervorzuheben ist, wie überaus breit das Spektrum an Texten respektive Autoren gefächert war, die sich im Feuilleton der NZ wiederfanden. In einem Brief an seinen Freund und Kollegen Hermann Kesten bezeichnete Kästner es im Oktober 1946 als eines seiner größten Anliegen, den Lesern der Zeitung, die von der NSPresse »auch auf belletristischem Gebiet völlig vernachlässigt worden« seien, »literarischen Nachhilfeunterricht zu erteilen«.²²² Noch über zwanzig Jahre später sollte er, auf seine redaktionelle Tätigkeit zurückblickend, betonen, dass er es »wirklich als Auftrag und faszinierende Aufgabe« empfunden habe, »all die verlorenen Zusammenhänge mit der Kultur ausserhalb Deutschlands wiederherzustellen«.²²³ In Anbetracht dieser Zielsetzung galt sein besonderes Augenmerk der Pu-

219 So fanden beispielsweise Werke von Marc Chagall, Max Beckmann, Paul Klee oder Käthe Kollwitz ihren Abdruck. Vgl. ebd., S. 36 sowie Kordon (1998), S. 241. 220 Wie bereits Rollberg (1981, S. 38) konstatierte, handelte es sich in der Tat eher um Besprechungen als um scharfe Kritiken: »Im Rahmen der Reeducation wurde den Deutschen Kunst vorgesetzt, die vorher als zersetzend gegolten hatte. Wenn man diese nun wiederum zersetzte, sprich kritisierte, wäre dafür niemals eine Anhängerschaft zu gewinnen gewesen.« 221 Vgl. ebd. 222 Kästner, Erich an Hermann Kesten. Brief vom 24.10.1946 zit. n. Benson, Renate: Erich Kästner. Studien zu seinem Werk. 2. Auflage. Bonn 1976, S. 93. Obgleich es Kästner besonders an der Literatur und der bildenden Kunst gelegen war, klammerte sein Feuilleton andere Disziplinen dennoch nicht gänzlich aus. Es wurden sowohl Texte von Naturwissenschaftlern und Mathematikern (etwa Albert Einstein, Max Planck, Julian Huxley oder Bertrand Russell) als auch von europäischen Historikern (Johan Huizinga und Benedetto Croce) und zeitgenössischen demokratischen Politikern (Kurt Schumacher, Theodor Heuss und Ludwig Erhard) gedruckt. Zudem wurde die in der NS-Zeit unterdrückte Psychoanalyse in Beiträgen Erich Fromms und Alexander Mitscherlichs vorgestellt. Vgl. Hanuschek (2003), S. 326. 223 Dies äußerte Kästner, als er in den späten 1960er Jahren gefragt wurde, ob es einen Auftrag aus seiner Zeit als Journalist gebe, der ihm in lebhafter Erinnerung geblieben sei. Siehe Münch, Paul: In

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blikation internationaler Literatur²²⁴ und belletristischer wie essayistischer Beiträge deutscher Exilautoren. Zwar druckte Kästner auch vor der NS-Zeit in Deutschland entstandene Texte²²⁵ und aktuelle Beiträge als ›unbelastet‹ eingestufter Literaten ab, die sich – wie er selbst – nicht zur Emigration entschlossen hatten.²²⁶ Allerdings fällt auf, dass die ›inneren Emigranten‹ rein quantitativ weitaus weniger im Feuilleton der NZ präsent waren, als diejenigen, die das Land während der Diktatur verlassen hatten.²²⁷ Wie bereits dargelegt, waren Kästner zahlreiche der namhaftesten Exilschriftsteller noch aus den Jahren vor 1933 persönlich bekannt²²⁸ und er nutzte seine exponierte Stellung konsequent, um seine alten Kontakte wiederherzustellen und den Emigranten erste Wiederveröffentlichungen in Deutschland zu ermöglichen. Als die am häufigsten mit essayistischen respektive belletristischen Beiträgen in seinem Feuilleton vertretenen Repräsentanten dieser Gruppe sind Alfred Kerr²²⁹ und Thomas Mann²³⁰ zu nennen; doch auch sein

die Zange genommen: Erich Kästner. »Ich bin Schulmeister und stehe dazu«. In: Femina (Zürich), 15.12.67, S. 40 – 42, hier S. 42. 224 Neben Klassikern der Weltliteratur wie bspw. Charles Baudelaire, Percy Bysshe Shelley, Michel de Montaigne, Mark Twain oder Walt Whitman wurden zahlreiche Texte zeitgenössischer amerikanischer und britischer Autoren und Autorinnen wie z. B. Pearl S. Buck, Ernest Hemingway, Sinclair Lewis, William Somerset Maugham, William Saroyan, Thornton Wilder und John Steinbeck gedruckt. Kästner räumte jedoch auch Texten französischer Autoren – wie etwa Albert Camus, André Gide, Jean Giraudoux, Jean-Paul Sartre und Paul Valéry – einen Raum im Feuilleton ein. Beiträge italienischer, spanischer, russischer oder skandinavischer Autoren waren dagegen nur sporadisch vertreten. Zudem stellte die »eigentliche frühe Moderne«, wie Hanuschek (2003, S. 333) festhielt, einen »blinde[n] Fleck« dar: »Kästner hat keinerlei Literatur gedruckt, in denen die Themen die Sprache beeinflusst, ›deformiert‹ hätten. Kein Faulkner, Dos Passos, Proust, von Joyce gibt es ein kaum repräsentatives frühes Achtzeilengedicht, von Virginia Woolf einen Aufsatz über Montaigne. Ausnahmen bleiben Paul Valéry und Thomas Wolfe.« 225 Neben Texten noch lebender Autoren druckte die NZ »ein breites Spektrum deutscher Lyrik, von Gryphius bis Rilke, Liliencron und Trakl« (Hanuschek 2003, S. 326); außerdem wurden mehrfach Texte verstorbener Literaten und Journalisten publiziert, die im Nationalsozialismus dezidiert verfemt worden waren, wie z. B. Kurt Tucholsky, Maximilian Harden oder Stefan Zweig. Vgl. ebd. und Rollberg (1981), S. 38. 226 Mehrmals gedruckt wurden bspw. Werner Bergengruen, Axel Eggebrecht, Werner Finck, Albrecht Goes, Manfred Hausmann, Ricarda Huch, Martin Kessel, Walter Kiaulehn, Horst Lange, Ernst Penzoldt, Oda Schaefer, Fritz Usinger und Ernst Wiechert. Zumindest mit jeweils ein bis zwei Beiträgen waren zudem etwa Gerhart Hauptmann, Hermann Kasack, Marie-Luise Kaschnitz, Hans Erich Nossack und Dolf Sternberger vertreten. Vgl. Hanuschek (2003), S. 332. 227 Vgl. ebd. 228 Vgl. Kapitel 3.1.2. 229 Alfred Kerr, der während der NS-Zeit über Prag und Zürich nach England emigrierte, war einer der berühmtesten Journalisten und Theaterkritiker der Weimarer Republik gewesen und fungierte von 1941 bis 1946 als Präsident des deutschen PEN-Zentrums im Exil. Nach Kriegsende sandte er

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›Lieblingskonkurrent‹ der Weimarer Republik, Bertolt Brecht,²³¹ wurde oftmals gedruckt.²³² Darüber hinaus publizierte Kästner – unter anderem – Texte von Rudolf Arnheim, Johannes R. Becher, Max Brod, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Erich Franzen, Manfred George, Hermann Kesten, Max Krell, Anette Kolb, Heinrich Mann, Ludwig Marcuse, Kurt Pinthus, Alfred Polgar, Erich Maria Remarque, Anna Seghers, Berthold Viertel, Franz Carl Weiskopf und Carl Zuckmayer. Einige der Genannten waren nicht nur an einer regelmäßigen Korrespondenz mit Kästner interessiert, sondern sandten ihm und seiner Lebensgefährtin Enderle, die ab Oktober 1946 offiziell als seine Stellvertreterin in der Feuilletonleitung fungierte, zudem Care-Pakete in die Redaktion. Diese Geste, derer sich etwa Arnheim, Franzen, Kesten, Weiskopf sowie Brecht und seine Frau Helene Weigel bedienten,²³³ war nicht zuletzt von Kästners symbolischem Kapital als ›verbotenem Autor‹ und Leidtragendem des NS-Regimes beeinflusst.²³⁴ Wie sehr man seine Erfahrungen im NS- und Nachkriegsdeutschland im Ausland zu hören begehrte, zeigen insbesondere zwei Zuschriften Arnheims und Manfred Georges: Während Arnheim, der sich im US-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb etabliert hatte, ihn dazu einlud, einen Vortrag am Sarah Lawrence College zu halten,²³⁵ trug George als Chefredakteur des Aufbau die Bitte an ihn heran, in der New Yorker Exilzeitung

unter anderem regelmäßig Auszüge aus seinem Londoner Tagebuch an die NZ. Vgl. dazu auch Rollberg (1981), S. 39 f. 230 Darauf, dass der seit 1938 in den USA lebende Autor und Nobelpreisträger so häufig seinen Abdruck in der NZ fand, wird in Kapitel 4.1 der Untersuchung noch ein besonderes Augenmerk zu legen sein – wurde Kästner doch in literaturgeschichtlichen Darstellungen gerade deshalb nicht selten mit der ›Frontenbildung‹ zwischen der ›Inneren Emigration‹ und dem Exil in Verbindung gebracht, weil er sich in seinem 1946 veröffentlichten Artikel Betrachtungen eines Unpolitischen (EKW VI, S. 516 – 519) höchst polemisch über Manns Weigerung, nach Deutschland zurückzukehren, geäußert hatte. 231 Vgl. Hanuschek (2003), S. 329. Brecht, der wie Thomas Mann zum Zeitpunkt des Kriegsendes in den USA lebte, kehrte, nach einem einjährigen Aufenthalt in Zürich, 1948 nach Deutschland zurück und ließ sich im sowjetischen Sektor Berlins nieder. In der NZ wurden den Lesern regelmäßig Ausschnitte aus seinen jüngeren Dramen wie Furcht und Elend des Dritten Reiches, Der gute Mensch von Sezuan, Galileo Galilei oder Der kaukasische Kreidekreis dargeboten. Während eines mehrwöchigen Aufenthalts Kästners in Zürich sahen sich die beiden Literaten erstmals nach dem Krieg wieder, pflegten später jedoch keinen intensiven Kontakt mehr. 232 Vgl. ebd., S. 329 f. 233 Vgl. ebd., S. 341. 234 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen über Kästners Wahrnehmung vonseiten Arnheims und Franzens in Kapitel 3.1.2. 235 Vgl. Arnheim, Rudolf an Erich Kästner. Brief vom 14. 8.1946. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003.

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über die Lage Deutschlands zu berichten.²³⁶ Wenngleich es letztlich nicht zu einer Realisierung dieser Ideen kam,²³⁷ verdeutlichen die Vorschläge, dass man Kästner als verlässlichen Zeitzeugen und Berichterstatter betrachtete. Durch die Korrespondenzen mit seinen emigrierten Kollegen konnte der Schriftsteller zudem Einblicke in das Leben im Exil und in literarische Entwicklungen außerhalb Deutschlands gewinnen und er nahm Angebote, ihm internationale Belletristik und Zeitschriften zu schicken, dankbar an.²³⁸ Umgekehrt profitierten jedoch auch seine Briefpartner, über die Veröffentlichung ihrer Texte in der NZ hinaus, von ihrem Kontakt zu Kästner. Aufgrund seines sozialen Kapitals, das sich in der breit gefächerten Vernetzung mit verschiedensten Akteuren des literarischen Feldes außerhalb und innerhalb Deutschlands manifestierte, avancierte er gleichsam zur Anlaufstelle und »Nachrichtenbörse«²³⁹ für zahlreiche Schriftsteller, die bei ihm Informationen über den Verbleib und die Kontaktdaten anderer Kollegen erfragten. Einige der regelmäßigen Korrespondenzen, die sich während Kästners Feuilletonzeit etablierten, dauerten weit über seine Tätigkeit für die NZ hinaus an, und sein Engagement beschränkte sich nicht darauf, den Emigranten Auskünfte über deutsche Verlage und weitere Publikationsorgane zu übermitteln, die an Textbeiträgen interessiert sein könnten.²⁴⁰ Er versuchte manches Mal auch explizit, sie zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen. Zum Beispiel schrieb er Erich Franzen vor dessen Reise in sein Heimatland im Februar 1949: Ich würde mich ausserordentlich freuen, Sie in diesem Frühjahr in München sehen und sprechen zu können. Und ich würde mich, im Interesse der deutschen Publizistik, noch mehr

236 Vgl. George, Manfred/Aufbau an Erich Kästner. Brief vom 29.4.1946. DLA Marbach/Nachlass Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Leider ist es der Verfasserin trotz großer Bemühungen nicht gelungen, die aktuellen Urheberrechtsinhaber Manfred Georges ausfindig zu machen. Selbstverständlich werden sämtliche Rechte auf den genannten inhaltlichen Verweis respektiert. 237 An eine Reise in die USA war für Kästner in den unmittelbaren Nachkriegsjahren schon aufgrund des Ausreiseverbotes nicht zu denken und auch den Aufbau belieferte er zunächst nicht mit Beiträgen. Zwei Beiträge, die er George im Jahr 1949, auf dessen erneute Nachfrage hin, schickte (vgl. Kästner, Erich an Rudolf Arnheim. Brief vom 23.1.1947. In: Kästner [2003], S. 108 f.), nahm dieser letztlich nicht in die Zeitung auf. 238 Vgl. etwa Kästner, Erich an Rudolf Arnheim. Brief vom 23.1.1947. In: Kästner (2003), S. 108. 239 Hanuschek (2003), S. 341. 240 Exemplarisch sei in diesem Kontext auf Kästners Hilfsbereitschaft gegenüber Hans Natonek verwiesen, dem er 1950 eine Liste mit den aus seiner Sicht wichtigsten deutschen Zeitungen und Zeitschriften zukommen ließ und ihm dezidiert dazu riet, sich bei Anfragen nach Veröffentlichungsmöglichkeiten auf ihn zu berufen. Vgl. Kästner, Erich an Hans Natonek. Brief vom 23. 5.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003.

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freuen, wenn es gelänge, Sie in Deutschland zu behalten. Wir könnten Sie dringend brauchen. Es gibt zu wenige vernünftige Leute in den entscheidenden Positionen.²⁴¹

Welch große Hoffnungen Kästner nach Kriegsende in die Heimkehr seiner Kollegen aus dem Exil legte, dokumentiert auch sein bereits am 28. Oktober 1945 veröffentlichter NZ-Beitrag Besuch aus Zürich, der auf ein kurz zuvor stattgefundenes Treffen mit dem 1934 in die Schweiz geflohenen Schauspieler und Regisseur Wolfgang Langhoff²⁴² rekurriert: »Das Schönste, was […] Langhoff berichtete«, sei laut Kästner gewesen, dass »[u]nter denen, die zu Beginn des Dritten Reiches in die Verbannung gingen,« viele seien, »die ungeduldig darauf warten, dass man sie in die zerstörte, kranke Heimat zurückkehren läßt.«²⁴³ In diesem Zusammenhang legte er den in Deutschland gebliebenen Kulturschaffenden zugleich seine Vision eines gemeinsamen kulturellen Neuanfangs ›innerer‹ und ›äußerer‹ Emigranten dar: Die Gefallenen, die Erschlagenen, die Verbrannten und die sich selbst verzweifelt ein Ende setzten, sie können uns nicht mehr helfen. Aber viele der überlebenden Emigranten können es! Sie sind wie wir, die das Ende der Barbarei in Deutschland überdauerten, entschlossen, die restlichen Jahre unserer Existenz, unserer Talente und unseres Wesens an das eine, große, gemeinsame Ziel dranzusetzen: an den kulturellen Wiederaufbau unserer Heimat.²⁴⁴

Zu ergänzen ist, dass Kästner den vom ihm fokussierten »Wiederaufbau« keineswegs allein in Händen seiner eigenen Generation sah. Immerhin galt sein Engagement als Feuilletonredakteur, neben den Exilliteraten und den ›inneren Emigranten‹, auch einer Reihe von jüngeren Autoren. Er bemühte sich etwa um den Schweizer Max Frisch²⁴⁵ und veröffentlichte an deutschen Nachwuchsautoren, 241 Kästner, Erich an Erich Franzen. Brief vom 2. 2.1949 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Als Franzen sich vier Jahre später tatsächlich in München niederließ, unterstützte Kästner ihn tatkräftig bei organisatorischen Schritten bis hin zur Zimmersuche. Vgl. dazu auch Kästner, Erich an Erich Franzen. Briefe vom 25.1. und 28.1.1953 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 242 Langhoff (1901 – 1966) war, als Kommunist, vor seiner Flucht ins Ausland für eineinhalb Jahre in den Konzentrationslagern Börgermoor und Lichtenburg inhaftiert gewesen; in ersterem entstand, in Überarbeitung eines Textes von Johann Esser, auch das später berühmte Lied Die Moorsoldaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelte er, nach einer kurzen Intendanz am Düsseldorfer Schauspielhaus, in die sowjetische Zone über, wo er von 1946 bis 1963 das Deutsche Theater leitete. Vgl. dazu auch Hanuschek (2003), S. 330. 243 Kästner, Erich: Besuch aus Zürich. In: Die Neue Zeitung, 29.10.1945. 244 Ebd. 245 Kästner hatte den damals Mitte dreißigjährigen Frisch persönlich kennengelernt, als dieser im April und Mai 1946 für einige Wochen zu Besuch in München war. In der NZ fand nicht nur Frischs erstes Bühnenstück Nun singen sie wieder, das 1945 in Zürich uraufgeführt und im Dezember 1946 schließlich auch in München gespielt wurde, Erwähnung. Kästner machte dem jungen Literaten

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neben Wolfgang Borchert, auch einige spätere Ruf-Mitarbeiter und Mitglieder der Gruppe 47 wie Wolfgang Bächler, Wolfdietrich Schnurre und Nicolaus Sombart. Walter Kolbenhoff, der unter den ›47ern‹ die meisten Publikationen im Feuilleton der Neue[n] Zeitung für sich verbuchen konnte, war zeitweilig festes Redaktionsmitglied des Blattes.²⁴⁶ Als auf lange Sicht bekanntester Akteur der ›Jungen Generation‹, der für die NZ arbeitete, ist jedoch Alfred Andersch einzustufen: Der nach Kriegsende Anfang Dreißigjährige war 1946 als Kästners Assistent in der Feuilletonredaktion tätig und gründete noch im selben Jahr gemeinsam mit Hans Werner Richter den Ruf. Auf jene Zeit zurückblickend, unterstrich Andersch Jahrzehnte später nicht nur, dass er seine Stelle bei der amerikanischen Zeitung zur Vorbereitung seiner eigenen Zeitschrift benutzt habe. Er hob auch hervor, dass er das ›Zeitungmachen‹ bei Kästner gelernt und zahlreiche wertvolle Ratschläge von dem berühmten Schriftsteller bekommen habe.²⁴⁷ Großzügig gegenüber den Nachwuchsliteraten war Kästner, wie bereits Hanuschek nachwies, freilich nicht nur in ideeller, sondern auch in materieller Hinsicht. So schenkte er etwa Wolfdietrich Schnurre, nachdem er über Walter Kolbenhoff erfahren hatte, dass dieser nach dem Krieg nur noch eine Hose besaß, eines seiner eigenen Kleidungsstücke.²⁴⁸ Auch ließ er dem jungen serbisch-österreichischen Schriftsteller Milo Dor fünfzig Mark zukommen, um ihm zu ermöglichen, zu einer Tagung der Gruppe 47 zu fahren, deren Potential Kästner offenbar schon früh wahrnahm.²⁴⁹

auch Überarbeitungsvorschläge für das Drama, fragte nach neuen Werken und hätte Frisch gerne für eine regelmäßige Mitarbeit bei der NZ gewonnen, was sich jedoch für diesen nicht realisieren ließ.Vgl. Frisch, Max an Erich Kästner. Brief vom 31.12.1946 sowie Kästner, Erich an Max Frisch. Brief vom 29.1.1947. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 96 f. und 110 f. 246 Vgl. Hanuschek (2003), S. 326 sowie Betz (1999), S. 164. 247 Vgl. Andersch. Alfred: Der Seesack. Aus einer Autobiographie. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Bd. 5: Erzählungen 2. Autobiographische Berichte. Hg. von Dieter Lamping. Zürich 2004. S. 415 – 439, hier S. 436. Dass Andersch in besagtem Text betonte, Kästner »zwar verehr[t]«, sich aber nicht in dessen »geistige[r] Gefolgschaft« (ebd.) gesehen zu haben, lässt sich aus der Erfolgsgeschichte der Gruppe 47 und dem (politischen) Selbstverständnis ihrer Mitglieder heraus erklären, die selbst nach ihrer Trennung immer wieder ihren Abstand zur älteren Generation betonten. Während sich Andersch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren sehr wohl euphorisch über Kästners Wichtigkeit für den Kulturbetrieb und die Bedeutung seiner Werke geäußert hatte (vgl. weiterführend auch Kapitel 3.2.4), schwächte er seine Begeisterung im Nachhinein merklich ab. So stufte er Kästner etwa als »linke[n] Geist« ein, der »zu jener Spielart von Intellektuellen« gehört habe, »die schon resigniert, bevor sie beginnt, zu schreiben.« Andersch (2004), S. 435 f. 248 Vgl. Hanuschek (2003), S. 327. 249 Vgl. ebd.

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Dass er sich solche Freigiebigkeiten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren leisten konnte, ist nicht zuletzt auf das für die damalige Zeit beträchtliche Gehalt zurückzuführen, das seine Anstellung bei der NZ mit sich brachte: Gemäß eines im Nachlass erhaltenen Vertrages verdiente er monatlich 2200 Reichsmark und erhielt weitere 300 Reichsmark für Betriebsausgaben; für seine eigenen journalistischen Beiträge bezog er zusätzliche Honorare.²⁵⁰ Über dieses ökonomische Kapital hinaus brachte seine Position bei dem amerikanischen Blatt allerdings auch noch zahlreiche weitere Privilegien mit sich: Bereits in der Zeit ohne allgemeine Post-, Telefon- und Verkehrsverbindungen verfügte er über ein Büro, ein Sekretariat und ein Telefon; er durfte Fahrzeuge des US-Militärs nutzen und musste sich nicht an die für die deutsche Bevölkerung geltenden Ausgangssperren halten.²⁵¹ Auf seinem von Habe unterzeichneten Presseausweis wurden sämtliche Militärdienststellen zudem explizit ersucht, ihn »bei der Erfüllung seiner […] Aufträge nach besten Kräften zu unterstützen.«²⁵² Des Weiteren war es ihm bereits wenige Monate nach Kriegsende möglich, für die Berichterstattung über kulturelle Ereignisse wie Theater- oder Filmpremieren innerhalb der westlichen Besatzungsgebiete zu reisen; etwa ein Jahr später, im September 1946, erhielt er schließlich auch eine Einreiseerlaubnis für die sowjetische Zone.²⁵³ Vor allem aber konnte sich Kästner nun wieder, so oft er wollte, mit eigenen Artikeln zu Wort melden und eine große Leserschaft erreichen: Zwischen 1945 und 1953 wurden insgesamt 89 Beiträge von ihm in der NZ gedruckt.²⁵⁴ Den Auftakt bildete sein in der Eröffnungsausgabe des Blattes publizierter Münchener Theaterbrief, in dem er enthusiastisch über das einsetzende Wiederaufblühen des Kulturbetriebes berichtete und die Aussicht auf »die Freiheit der Meinung und der Kunst« feierte, die »nach zwölf Jahren geistiger Fesselung und Bedrohung […] endlich wieder wink[e]«.²⁵⁵ Nicht von ungefähr war in derselben Ausgabe der NZ eine Selbstvorstellung Kästners enthalten, die zum einen darauf abzielte, den Verbleib in seinem Heimatland nach 1933 mit dem Vorsatz zu legitimieren, eines Tages dessen »Krankengeschichte niederzuschreiben.«²⁵⁶ Zum anderen ließ der

250 Vgl. ebd., S. 324 f. 251 Vgl. Betz (1999), S. 288 und Hanuschek (2003), S. 325. 252 Presseausweis der Neuen Zeitung für Erich Kästner, o.D. [Oktober 1945]. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Neue Zeitung. HS.2002.0154. 253 Schon zuvor hatte Kästner mehrfach vergeblich versucht, in die sowjetische Besatzungszone zu reisen, um seine Eltern in Dresden zu besuchen. Dauerhaft in die sowjetische Zone überzusiedeln, kam für ihn allerdings nicht infrage. 254 Vgl. Hanuschek (2003), S. 325. 255 Kästner, Erich: Münchener Theaterbrief [NZ, 18.10.1945]. In: EKW VI, S. 483 – 487, S. 483. 256 Kästner, Erich zit. n. Hanuschek (2003), S. 334.

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frisch angetretene Feuilletonchef darin verlauten, dass ihm das Publizieren »im Laufe der letzten zwölf Jahre elfeinhalb Jahre verboten«²⁵⁷ gewesen sei. Wie bereits aufgezeigt, lässt sich die letztgenannte Behauptung nach heutigem Forschungsstand nicht aufrecht halten.²⁵⁸ Zur Reetablierung im kulturellen Feld der Nachkriegszeit dürfte Kästner diese Selbstinszenierung allerdings überaus hilfreich gewesen sein, trieb sie doch die Steigerung seines symbolischen Kapitals als Leidtragender des ›Naziregimes‹ entscheidend voran. In den folgenden zweieinhalb Jahren knüpfte Kästner mit zahlreichen Theaterkritiken und Reportagen über Entwicklungen innerhalb des Kulturbetriebes²⁵⁹ an seine journalistische Karriere der Weimarer Republik an. Er lieferte aber auch eine Vielzahl von – im späteren Verlauf dieser Studie näher zu betrachtenden – Beiträgen, die sich dezidiert mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzten und die politische und gesellschaftliche Lage Deutschlands nach dem Zusammenbruch des ›Dritten Reiches‹ kritisch kommentierten.²⁶⁰ Dass es sich bei diesen Arbeiten keineswegs um »journalistisch[e] Eintagsfliegen«²⁶¹ handelte, erkannte Bruno E. Werner²⁶² bereits zur Zeit ihrer Veröffentlichung: Der Germanist und Journalist lobte nicht nur Kästners »klar[en], lebensnah[en], unepigonienhaft[en]« Sprachstil, sondern hob auch hervor, »daß der Verfasser Kernprobleme der deutschen und der Zeitsituation anpackt, die zum mindesten (und leider) auf Jahre hinaus Gültigkeit haben.«²⁶³ Man lese, so Werner, »ein Kapitel Zeitgeschichte und zugleich mehr.«²⁶⁴ Dass Kästner die Feuilletonleitung im April 1948 trotz der großen Erfolge, die er in dieser Position für sich verbuchen konnte, niederlegte, hatte zwei Hauptgründe. Neben den bereits skizzierten Veränderungen, die die NZ unter der Chefredaktion 257 Kästner, Erich zit. n. ebd. Diese Selbstvorstellung wurde in spätere Werkausgaben nicht aufgenommen – wohl auch, weil sich Kästners Vorsatz, ein größeres literarisches Werk über Deutschland unter der NS-Diktatur niederzuschreiben, nicht realisiert hatte. 258 Vgl. Kapitel 3.2.1. 259 Siehe etwa die Artikel Darmstädter Theaterfrühling (EKW VI, S. 530 – 525) und Eurydike in Heidelberg (EKW VI, S. 547– 553) aus dem Jahr 1946 sowie Reise in die Gegenwart (EKW VI, S. 582 – 587) aus dem Jahr 1947. 260 Siehe etwa die Artikel Streiflichter aus Nürnberg (EKW VI, S. 493 – 500), Die Schuld und die Schulden (EKW VI, S. 500 – 505) und Unser Weihnachtsgeschenk (EKW VI, S. S. 512 – 515) aus dem Jahr 1945 sowie Gespräch mit Zwergen (EKW VI, S. 524 – 525) aus dem Jahr 1946. 261 Werner, Bruno E. zit. n. Zeller (1973), S. 122. 262 Werner, der in der Weimarer Republik unter anderem die Feuilletonleitung der Deutschen Allgemeinen Zeitung und die Herausgabe der Kunstzeitschrift die neue Linie übernommen hatte, war nach dem Kriegsende zunächst als Leiter der Abteilung Wort bei Radio Hamburg tätig. 1947 zog er nach München, wo er im Folgejahr zum Feuilletonleiter der Neue[n] Zeitung avancierte, nachdem diese Position zwischenzeitlich von Kästner auf seine Lebensgefährtin Enderle übergegangen war. 263 Werner, Bruno E. zit. n. Zeller (1973), S. 122. 264 Werner, Bruno E. zit. n. ebd.

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Fleischers durchlief, ist seine berufliche Veränderung auch damit zu erklären, dass er schon seit Längerem plante, sich wieder stärker eigenen literarischen Projekten zu widmen. Bereits im Mai 1946 hatte er in einem Interview mit der Zeitschrift Standpunkt betont, dass er die Gestaltung des Feuilletons als »fruchtbares Betätigungsfeld«²⁶⁵ betrachte, jedoch »in absehbarer Zeit wieder aus dem Büro heraus und dann nur noch schreiben, schreiben, schreiben«²⁶⁶ wolle. Dennoch stellte Kästner nach seiner Kündigung weder seine journalistische Tätigkeit als solche endgültig ein, noch riss seine Verbindung zur NZ vollends ab: Noch bis 1953 verfasste er Artikel für das amerikanische Blatt und es bestanden weiterhin enge Verbindungen zu einigen Redaktionsmitgliedern.²⁶⁷ Darüber hinaus belieferte er fortan »Tages- und Wochenzeitungen, Magazin[e] und Zeitschriften fast aller Größe und Couleurs«²⁶⁸ mit seinen Arbeiten, deren thematisches Spektrum von reinen Unterhaltungstexten bis hin zu kritischen Artikeln und offenen Briefen reichte, die sich, wie schon das Gros seiner Beiträge in der NZ, mit der kulturellen und politischen Lage (West‐)Deutschlands auseinandersetzten. 3.2.1.2 Kästner und der Pinguin Dass Kästner erst nach seiner Kündigung als Feuilletonleiter der Neue[n] Zeitung damit begann, in anderen Blättern zu publizieren, hatte einen konkreten Grund: Sein Vertrag mit der NZ schloss eine Mitarbeit an anderen Zeitungen und zeitungsähnlichen Publikationsorganen dezidiert aus. Die einzige Ausnahmeregelung wurde für eine in Stuttgart bei Rowohlt erscheinende Zeitschrift [f ]ür junge Leute ²⁶⁹ getroffen: den Pinguin.²⁷⁰ Die Planungsgespräche für das monatlich erscheinende Heft, dessen Zielgruppe die in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsenen Jugendlichen und jungen Erwachsen waren,²⁷¹ begannen bereits im Spätsommer

265 Kästner, Erich zit. n. Brühl, Helmuth: Ein Gespräch mit Erich Kästner. In: Der Standpunkt. Deutsche Zeitschrift für die Gegenwart 5 (1946), S. 17. 266 Kästner, Erich zit. n. ebd. 267 Neben Enderle, die das Blatt im Herbst 1949 endgültig verließ, war auch Kästners guter Freund Werner Buhre für die NZ tätig, ihm oblag bis 1953 die Gestaltung der Jugendseite. Vgl. Hanuschek (2003), S. 354. 268 Görtz und Sarkowicz (1998a), S. 716. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Süddeutsche Zeitung, die Münchener Illustrierte, Der Merkur, Die Wandlung, Die Abendzeitung und Die Weltwoche genannt. 269 So der Untertitel des Pinguin. 270 Vgl. Hanuschek (2003), S. 325. 271 Der Pinguin richtete sich somit (wie auch andere unmittelbar nach 1945 unter der Bezeichnung »Jugendzeitschrift« herausgegebene Blätter) an einen weitaus älteren Adressatenkreis als heutige Jugendmagazine. Vgl. dazu Hussong, Martin: Jugendzeitschriften von 1945 bis 1960. Phasen, Typen,

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1945. Im Januar 1946 erschien schließlich, in einer Auflage von 50 000 Exemplaren, die erste Ausgabe, von der an Kästner, der von Heinrich Maria Ledig-Rowohlt angeworben worden war, als Herausgeber fungierte. Wie die NZ stand auch der von den Amerikanern subventionierte Pinguin gänzlich im Zeichen der Reeducation. Laut Birgit Ebbert, die die Zeitschrift in ihrer Dissertation im (Um‐)Erziehungsgefüge der Nachkriegszeit verortet,²⁷² wollte das Blatt seine Rezipienten nicht nur bei der (Neu‐)Entwicklung ihrer persönlichen und nationalen Identität unterstützen, sondern sie auch über die NS-Vergangenheit aufklären und Reflexionsangebote liefern. Zivilcourage, kritisches Urteilsvermögen und Verantwortungsbewusstsein sollten ebenso gefördert werden wie Menschlichkeit, Toleranz und Respekt. Zudem machte der Pinguin die Demokratie als Lebens- und Regierungsform stark und appellierte dezidiert für die Bewahrung des Friedens.²⁷³ Auf dem Cover der Erstausgabe begrüßte die Titelfigur – ein von Leo von Malachowsky entworfener Pinguin mit Fliege, Spazierstock und Zylinder – die jungen Leser mit den programmatischen Worten: Pinguin ist mein Name! Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich lache, wie es mir gefällt. Ich will mich anfreunden mit all denen, die jung sind und sich jung fühlen. Ich liebe das Leben und alles, was lebendig ist. Ich hasse das Abgelebte und Verstaubte, den Spießbürger und Schnüffler. Ich freue mich an der Schönheit der weiten Welt, an den Wundern der Natur und den Schöpfungen der großen Künstler. Ich habe ein offenes Ohr für die Klagen der Bedrückten, und mein Herz schlägt mit Allen, die guten Willens sind. Ich will euch begeistern für all das, was wir tun können, um uns selbst ein besseres Leben zu schaffen.²⁷⁴

Fortan geleitete der befrackte Südpolbewohner, der sich mit Ute Harbusch als Reminiszenz an die Menschheitssatire Die Insel der Pinguine von Anatole France begreifen lässt,²⁷⁵ die Rezipienten als Moderator durch die in der Regel 36 Seiten umfassenden Hefte.²⁷⁶ Der Leserschaft vor Augen zu führen, was ›abgelebt und verstaubt‹ sei und wie »ein besseres Leben« erlangt werden könne, bedeutete dabei

Tendenzen. In: Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945 – 1960. Hg. von Klaus Doderer. Weinheim/Basel 1988, S. 521 – 586, hier S. 524 u. 531. 272 Siehe Ebbert, Birgit: Erziehung zu Menschlichkeit und Demokratie. Erich Kästner und seine Zeitschrift ›Pinguin‹ im Erziehungsgefüge der Nachkriegszeit. Frankfurt a. M. 1994. 273 Vgl. ebd., S. 234 – 305. 274 Pinguin 1 (1946), Cover zit. n. Ebbert (1994), S. 137. 275 Der verkleidete Pinguin kann in diesem Sinne als Figur gedeutet werden, die ihren Zeitgenossen auf humoreske und zugleich kritische Weise gesellschaftliche Wahrheiten spiegelt und vor Augen führt. Vgl. Harbusch, Ute: Frieden, Schokolade und Geschichten: Was brauchen Kinder? In: dies.: Emil, Lottchen und der kleine Mann. Erich Kästners Kinderwelt. (Marbacher Magazin 86/ 1999), S. 67– 75, hier S. 71. 276 Vgl. Ebbert (1994), S. 137.

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primär, sie mit der Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands zu konfrontieren. In diesem Sinne nahmen sowohl kritische Rückblicke auf die NS-Zeit²⁷⁷ als auch Berichterstattungen über aktuelle politische Entwicklungen, über das Alltagsleben in der Nachkriegszeit und über die Nöte der Bevölkerung ihren Platz in der Zeitschrift ein.²⁷⁸ Zudem brachte der Pinguin Porträts deutscher Städte vor und nach dem Krieg heraus und förderte in Form von Reportagen über die Geographie, Geschichte und Traditionen anderer Länder die Erweiterung des Blickfeldes seiner Rezipienten. Es wurde aber auch über naturwissenschaftliche Themen, Sportereignisse und international bekannte Künstler, Wissenschaftler und Politiker berichtet.²⁷⁹ Darüber hinaus fanden sich Essays, Kurzgeschichten, Gedichte, Dramen- und Romanauszüge²⁸⁰ sowie Literatur-, Film-, Theater-, Musik- und Kunstkritiken in dem Magazin wieder. Neben der stets enthaltenen Rätselseite, der Witz- und Cartoonseite und dem Forum für Leserbriefe und Umfrageergebnisse (»Pinguins Tribüne«) wurden einige regelmäßige Kolumnen dargeboten, die dezidiert ›umerzieherischen‹ Charakter hatten. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang etwa die (gesellschafts)politische Kurzmeldungen bringende Rubrik »Was meinst du dazu?«²⁸¹ und die Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft postulierende Serie »Gute 277 Laut Hussong (1988, S. 542) ging die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit – sowohl im Pinguin als auch in anderen Jugendzeitschriften der Reeducation-Phase – allerdings in der Regel nicht allzu weit. So ist der Holocaust noch längst kein Thema und »Ansätze zu einer theoretischen Reflexion über die Wurzeln und Wirkungen des Nationalismus bleiben vereinzelt.« Ebd. 278 Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 170 – 173 u. 180 – 186. 279 Vgl. dazu ebd., S. 139. 280 Abgedruckt respektive nachgedruckt wurden, neben Klassikern wie Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist, auch zeitgenössische, teils (r)emigrierte, teils in Deutschland gebliebene Autoren und Journalisten wie Wolfgang Borchert, Mascha Kaléko, Carl Zuckmayer, Hans Habe oder Wilhelm Emanuel Süskind. Außerdem veröffentlichte die Zeitschrift mehrmals Texte von Opfern des NS-Regimes, wie etwa die Moabiter Sonette des von der SS ermordeten Universitätsprofessors Albrecht Haushofer oder Beiträge des ehemaligen KZ-Häftlings und späteren Ulenspiegel-Redakteurs Karl Schnog. Zuvörderst intendierte man allerdings, die Leser mit internationaler Literatur bekannt zu machen. Dabei fand primär eine Konzentration auf klassische wie zeitgenössische amerikanische und britische Autoren wie William Saroyan, Pearl S. Buck, Jack London, Mark Twain, George Eliot und William Somerset Maugham statt – Literaten also, die fast alle auch im Feuilleton der NZ abgedruckt wurden. Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 227 f. und Kordon (1998), S. 245. 281 In der besagten Rubrik wurden, wie schon Ebbert darlegte, unter den Überschriften »Hört, hört!« und »Bravo, bravo!« Collagen aus aktuellen (und zumeist nicht mit Quellenangaben versehenen) Zeitungsausschnitten zusammengestellt. Diese griffen nationale wie internationale Begebenheiten auf, die – gemessen an den politischen Idealen der westlichen Besatzungsmächte – entweder kritisch zu betrachten waren oder lobenswert erschienen. In der ersten Sparte fanden sich etwa Meldungen wieder, die ein fehlendes Demokratieverständnis, die Kontinuität mentaler Haltungen aus der NS-Zeit oder die wachsende Jugendkriminalität demonstrierten beziehungsweise

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Taten«.²⁸² Unter dem Titel »Dokumente zur Demokratie« wurden außerdem von der ersten Ausgabe an die Verfassungen der westlichen Alliierten und anderer demokratischer Länder vorgestellt.²⁸³ Zwar unterschied sich das Heft in seiner Themenwahl nicht merklich von anderen, zeitgleich erschienenen Reeducation-Zeitschriften für junge Leser. Qualitativ hob es sich aber, wie sich mit Martin Hussong konstatieren lässt, merklich von seinen Konkurrenzmagazinen ab:²⁸⁴ Verglichen mit anderen auflagenstarken Jugendheften wie dem Horizont, dem Start, dem Neue[n] Leben, dem benjamin, der Junge[n] Welt, der Jugend oder der Zukunft,²⁸⁵ zeichnete sich der Pinguin durch seine bewusst feuilletonistische Gestaltung aus und vermied – bei allem pädagogischen Impetus – einen »allzu aufdringlichen Appellstil«.²⁸⁶ Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass an ihm, verglichen mit den übrigen genannten Magazinen, im Durchschnitt die ältesten Mitarbeiter und die meisten Berufsjourna-

thematisierten. In der Sparte »Bravo, bravo!« konnten die Leser dagegen oftmals Nachrichten über erste deutsche Versuche, demokratisch zu leben, entdecken. Auch kurze Berichte, die einen menschenfreundlichen Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland, die Abschaffung des Schulgeldes durch die Alliierten oder (internationale) Bestrebungen zur Völkerverständigung thematisierten, waren hier zu lesen. Trotz der Offenheit suggerierenden Überschrift »Was meinst du dazu?« wiesen die Überschriften der Sparten sowie die Zeichnungen eines wahlweise weinenden oder applaudierenden Pinguins den Rezipienten die Richtung, wie das Gelesene zu beurteilen sei.Vgl. Ebbert (1994), S. 158 – 166. 282 In der erstmals im März 1947 erschienenen Rubrik wurden etwa öffentliche Hilfsaktionen für die deutsche Bevölkerung thematisiert oder private Situationen geschildert, in denen Menschen für andere, die zum Teil noch kurz zuvor Feinde waren, Opfer brachten. Die Berichte, die sowohl hoffnungsvoll stimmen als auch Verhaltensalternativen zu den unmenschlichen Handlungen während der NS-Zeit aufzeigen sollten, stammten nicht nur von Mitarbeitern des Pinguin und des Rowohlt-Verlages. Auf einen Aufruf der Jugendzeitschrift hin sandten auch zahlreiche Leser selbstverfasste Texte oder Artikel aus in- und ausländischen Zeitungen ein, die über vergleichbare ›gute Taten‹ berichteten. Vgl. ebd., S. 141 f. 283 Dabei standen, beginnend mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung im Heft 1 (1946), zunächst die Verfassungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs im Mittelpunkt; in den folgenden Ausgaben wurde zudem auf Länder wie Belgien, Norwegen und die Schweiz eingegangen. Auch die Sowjetunion wurde im ersten Nachkriegsjahr noch in dieser Reihe berücksichtigt. Mit dem Voranschreiten des Ost-West-Konflikts zeichnete sich jedoch eine zunehmende Distanzierung des Pinguin von der UdSSR ab; in späteren Ausgaben der Zeitschrift wurde häufig über Verstöße gegen demokratische Prinzipien in der sowjetischen Besatzungszone berichtet. Vgl. Hussong (1988), S. 545. 284 Vgl. dazu ebd., S. 540 f. 285 Während der Horizont wie der Pinguin von den Amerikanern lizenziert wurde, erschienen Start, Neues Leben und Junge Welt unter sowjetischer, Jugend und benjamin unter britischer und Zukunft unter französischer Lizenz. Vgl. ebd., S. 530 f. 286 Ebd.

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listen mitwirkten.²⁸⁷ Wie bereits Winfried Kaminski herausstellte, tritt bei der näheren Betrachtung des Mitarbeiterstabs der Lizenzzeitschrift eine beachtliche Diskrepanz zur Gruppe der Literaten und Journalisten zu Tage, die für die Beiträge in der Neue[n] Zeitung verantwortlich zeichnete.²⁸⁸ Für den Pinguin waren im Vergleich nicht nur weitaus mehr Kulturschaffende tätig, die nach 1933 in Deutschland geblieben waren: Einige von ihnen konnten auch auf beachtliche Karrieren in der NS-Zeit zurückblicken. Anders als die zu jener Zeit verbotenen oder sogar verfolgten Autoren, die das Team bestückten,²⁸⁹ hatten beispielsweise Hilmar Pabel und Heinrich Benedikt (alias Benno Wundshammer) als Pressefotografen während der Diktatur große Bekanntheit erlangt und aktiv an der Kriegsund antisemitischen Propaganda mitgewirkt; der Illustrator Manfred Schmidt war für die Armeezeitung Panzer voraus tätig gewesen und der Politikwissenschaftler und Staatsrechtler Theodor Eschenburg, der im Pinguin juristische Fakten erläuterte, hatte sich aktiv für die Liquidierung sämtlicher ›nichtarischer‹ Betriebe eingesetzt.²⁹⁰ In diesem Kontext ist erwähnenswert, dass die Urheber der einzelnen im Pinguin abgedruckten Beiträge in den ersten Erscheinungsmonaten nicht gesondert im Impressum der Zeitschrift vermerkt wurden. Die Öffentlichkeit assoziierte das Heft somit von Beginn an primär mit Kästner, der auf dem Titelblatt als Herausgeber ausgewiesen war und so als Anziehungspunkt für zahlreiche junge Rezipienten fungierte.²⁹¹ Das kulturelle und symbolische Kapital, das er durch diese Position akkumulierte, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich keineswegs so intensiv am ›Alltagsgeschäft‹ der Reeducation-Zeitschrift beteiligte, wie dies bei der NZ der Fall war: Zwar dürfte er, Hanuscheks Mutmaßung gemäß, an 287 Vgl. ebd., S. 534. Als ›alterfahrene‹ Kulturschaffende, die regelmäßig für den Pinguin schrieben, sind neben Kästner etwa Peter Amadeus (alias Günther Schwill), Annemarie Czettritz-Lohmüller, Hermann Mostar (alias Gerhart Hermann) und, ab 1947, Eva Noack-Mosse und Fritz Zielesch zu benennen. Alle anderen der oben genannten Zeitschriften legten, wie Hussong (ebd., S. 532 – 534) ausführt, indes ausdrücklichen Wert auf einen möglichst jungen Stab an Mitarbeitern. In der von den Franzosen lizenzierten Zukunft wurde etwa explizit betont, dass keiner der Schriftleiter älter als 32 Jahre sei; zudem wurden hier, wie auch im Horizont, häufig Beiträge jugendlicher Leser abgedruckt. 288 Siehe Kaminski, Winfried: Wege zu Toleranz und Menschenwürde? Erich Kästners »Pinguin. Zeitschrift für junge Leute«. Vortrag anlässlich der Tagung »Erich Kästner und die Kinderliteratur der fünfziger und sechziger Jahre« an der TU Chemnitz vom 6.10.–8.10. 2016. Für die Zurverfügungstellung des Vortragsmanuskripts sei dem Verfasser herzlich gedankt. 289 Man denke etwa an Hermann Mostar oder Eva Noack-Mosse. 290 Vgl. Kaminski (2016) sowie Hussong (1988), S. 534. Auf die immense Präsenz solcher personeller Kontinuitäten im kulturellen Feld nach 1945 und Kästners Umgangsweise mit ihnen geht Kapitel 4.2.2 dieser Untersuchung weiterführend ein. 291 Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 226.

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der Konzeption des Pinguin beteiligt gewesen sein; aufgrund seiner zeit- und arbeitsintensiven Tätigkeit in München überließ er die alltägliche Arbeit in Stuttgart jedoch Ledig-Rowohlt und der Chefredakteurin Claire With.²⁹² Nichtsdestotrotz prägte Kästner, der bereits vor 1933 nicht ausschließlich Texte für erwachsene Zeitungsleser publiziert hatte,²⁹³ den (um)erzieherischen Charakter des Heftes maßgeblich durch die von ihm verfassten Artikel. So veröffentlichte er während der dreieinhalb Jahre seiner Herausgeberschaft in mehr als jeder zweiten Ausgabe eigene Beiträge.²⁹⁴ In Artikeln wie Gescheit, und trotzdem tapfer, Der tägliche Kram oder Der Abgrund als Basis blickte er kritisch auf das ›Dritte Reich‹ zurück, beleuchtete die politischen Entwicklungen nach dem Krieg und betonte die Notwendigkeit, beim Wiederaufbau des Landes ›anzupacken‹.²⁹⁵ Außerdem widmete er sich gezielt (kultur)pädagogischen Fragen und setzte sich mit der Situation und den spezifischen Nöten der in der NS-Zeit Herangewachsenen auseinander.²⁹⁶ Obgleich sich seine Positionierungen inhaltlich nicht signifikant von den in der Neue[n] Zeitung publik gemachten unterschieden, wurde in der Forschung schon mehrfach zu Recht betont, dass Kästner im Pinguin oftmals mit einem anderen Tonfall aufwartete. In der Jugendzeitschrift gab er sich als Idealist, der den jungen Rezipienten Verständnis und Verständigungsbereitschaft signalisierend entgegentrat,²⁹⁷ während seine Beiträge für die NZ-Leser »gedämpfter, realistisch zögernder, weniger hoffnungsvoll«²⁹⁸ aufbereitet waren. Motivierende Kästner’sche Ausrufe wie »Wir wollen Deutschland neu aufbauen und bei unserem Charakter beginnen!«²⁹⁹ hätte man, wie schon Görtz und Sarkowicz festhielten, in der NZ wohl kaum gelesen.³⁰⁰

292 Vgl. Hanuschek (2003), S. 339. 293 Man denke etwa an seine Arbeiten für die Kinderbeilage der Familienzeitschrift Beyers für alle. Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.2. 294 In den 42 zwischen Januar 1946 und Juni 1949 erschienenen Ausgaben sind insgesamt 25 von Kästner verfasste Artikel enthalten. Vgl. Hanuschek (2003), S. 339. 295 Siehe Kästner, Erich: Gescheit, und trotzdem tapfer [Pinguin, Januar 1946], Der tägliche Kram [Pinguin, Juli 1946] und Der Abgrund als Basis [Pinguin, Juni 1946]. In: EKW II, S. 22 – 25, 80 – 82 u. 131 – 133. 296 Siehe etwa Kästner, Erich: Über das Auswandern [Pinguin, Januar 1947] und Die These von der verlorenen Generation [Pinguin, Juli 1948]. In: EKW II, S. 99 – 101 u. 171 – 176. 297 Vgl. Görtz und Sarkowicz (1998), S. 265. 298 Barnouw, Dagmar: Erich Kästner und die Neue Zeitung. Inländische Differenzierungen. In: »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Hg. von Manfred Wegner. Berlin 1999, S. 143 – 162, hier S. 146. 299 Mit diesen Worten endet Kästners in der Eröffnungsausgabe des Pinguin veröffentlichter Artikel Gescheit, und trotzdem tapfer (EKW II, S. 22 – 25, hier S. 25). 300 Vgl. Görtz und Sarkowicz (1998), S. 267.

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Neben der Publikation seiner eigenen Artikel lag Kästner eine vom Pinguin ins Leben gerufene Suchaktion mit dem Titel »Verlorene Kinder« besonders am Herzen. Im Rahmen dieser Kampagne veröffentlichte das Heft im ersten Nachkriegsjahr in Kooperation mit dem Bayerischen Roten Kreuz Fotografien von Kindern, die in den Kriegswirren von ihren Eltern getrennt worden waren. Sofern bekannt, wurden die Fotos um Namen, Geburtsdaten und Schicksale der ›Verlorenen‹ ergänzt.³⁰¹ Diese kleinen Bildberichte, die man wenig später auch um Gesuche von Eltern, die ihre Kinder vermissten, ergänzte, wurden von der Redaktion zusätzlich auf Plakate gedruckt und verbreitet.³⁰² Kästner betonte nicht nur privatim, wie viel Freude es ihm bereite, »[d]a zu helfen«.³⁰³ Er nutzte auch seine Stellung bei der Neue[n] Zeitung, um im dortigen Feuilleton über die Aktion zu berichten und ihren Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung zu erhöhen.³⁰⁴ Und tatsächlich konnten von insgesamt 660 Kindern, die 1946 im Pinguin und auf den Plakaten abgebildet wurden, immerhin 170 mit überlebenden Familienmitgliedern zusammengeführt oder an Adoptiveltern vermittelt werden.³⁰⁵ Dass bereits ab der Pinguin-Ausgabe 4/1948 neben Kästner auch Claire With als Herausgeberin im Impressum verzeichnet wurde,³⁰⁶ lässt vermuten, dass der Schriftsteller schon zu dieser Zeit allmählich damit begann, sich aus seiner Tätigkeit für das Heft zurückzuziehen. Seinen offiziellen und endgültigen Ausstieg, der im Juni 1949 erfolgte, begründete Kästner in einem Brief an Hansjürg Beck rückblickend damit, dass die Zeitschrift in besagtem Jahr »in andere Hände [nämlich von Rowohlt zum Verlag Gustav E. Schwab, Anm. d. Verf.] übergegangen« sei und sich »deren Charakter verändert« habe.³⁰⁷ Letztere Aussage stimmt freilich mit späteren Forschungspositionen zur Entwicklung des Pinguin überein – zeigten doch Ebbert und Hussong auf, dass sich das (noch bis 1951 erschienene) Heft mit jenem Ver-

301 Die Aktion wurde bis einschließlich Oktober 1946 durchgeführt; danach wurden jedoch in unregelmäßigen Abständen weiter Berichte veröffentlicht, die sich mit der besagten Thematik auseinandersetzten. Vgl. dazu Ebbert (1994), S. 156 f. 302 Die Idee des Bildreporters Hilmar Pabel, neben Daten auch Fotografien zur Identifizierung Vermisster zu verwenden, kam nicht nur bei dieser Aktion zum Einsatz, sondern bildete auch den Ausgangspunkt für die systematisch angelegten Vermisstenlisten des Deutschen Roten Kreuzes. Vgl. Ebbert (1994), S. 156 f. und Harbusch (1999), S. 70 f. 303 Kästner, Erich an Ida Kästner. Brief vom 28.6.1946. In: Kästner, Erich: Mein liebes gutes Muttchen, Du! Briefe und Postkarten aus 30 Jahren. Ausgewählt und eingeleitet von Luiselotte Enderle. Hamburg 1981, S. 286. 304 Siehe Kästner, Erich: Kinder suchen ihre Eltern [NZ, 17.6.1946]. In: EKW VI, S. 553 – 558. 305 Vgl. Harbusch (1999), S. 70. 306 Vgl. Hussong (1988), S. 550. 307 Kästner, Erich an Hansjürg Beck. Brief vom 20. 2.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003.

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lagswechsel merklich hin zum Unterhaltungsmagazin mit eskapistischen Tendenzen wandelte.³⁰⁸ In seinen ersten Erscheinungsjahren hatte der Pinguin jedoch, wie sich zusammenfassen lässt, unübersehbare Züge Kästners journalistischer Handschrift getragen. Nicht weniger prägend als für das Jugendmagazin und Die Neue Zeitung war der Literat, wie im Folgenden aufgezeigt werden wird, auch für die Kabaretts, denen in den Nachkriegsjahren sein Engagement als Texter galt.

3.2.2 Kästner als Kabarettautor Durch Kästner hat das Kabarett der Nachkriegszeit ganz entscheidende Impulse erhalten; die Form des modernen literarisch-politischen Sketches hat er beispielhaft entwickelt, schmerzliche Ironie, melancholische Einsicht in das Wesen des fast Unabänderlichen, entschiedener Wille, das Wörtchen »fast« ganz eisern ernst zu nehmen und darum mit einem »Dennoch!« immer anzugehen gegen das Verabscheuungswürdige, kennzeichnen seine Arbeit.³⁰⁹

Mit diesen Worten blickte Ludwig Emanuel Reindl im Südkurier Konstanz bereits 1957 auf den Stellenwert der kabarettistischen Arbeiten Kästners in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und der jungen Bundesrepublik zurück. Und auch heute noch herrscht in der Forschung Konsens darüber, dass der Schriftsteller mit den Chansons und Szenen, die er für die Münchner Kleinkunstbühnen Die Schaubude und Die kleine Freiheit verfasste, »mehrfach Meisterliches geschaffen« habe.³¹⁰ Kästner selbst betonte retrospektiv in einem Interview, das Betätigungsfeld, durch das er die Menschen am wirksamsten anzusprechen vermeine, sei »[z]weifellos […] das Kabarett«.³¹¹ In der Tat bot die Kleinkunst nach dem Zusammenbruch

308 Vgl. Hussong (1988), S. 525 u. 550 sowie Ebbert (1994) S. 135 f. Dass sich der Pinguin letztlich – wie viele andere Reeducation-Zeitschriften – nicht mehr halten konnte, ist sowohl mit der wachsenden Konkurrenz der zahlreichen Unterhaltungsmagazine als auch mit den ab 1949 ausbleibenden Subventionen durch die amerikanische Besatzungsmacht zu erklären. Vgl. ebd. 309 Dieses Resümee der Kästner’schen Arbeiten für das Kabarett zog Reindl anlässlich der Premiere der Schule der Diktatoren in der Schweiz. Siehe Reindl, Ludwig Emanuel: Die Schule der Diktatoren. Erich Kästners politische Satire als Gastspiel in Zürich. In: Südkurier (Konstanz), 19.4. 1957. 310 Wittenberg, Andreas: Erich Kästner und das Kabarett – ein Forschungsbericht. In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 3. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 67– 114, hier S. 78. 311 Kästner, Erich zit. n. Rachinger, H. P.: Erich Kästner. In: Der Giselaner. Zeitschrift der Gisela-ORS 4 (1959), S. 3 – 5, hier S. 4. Durchgängig war das Vertrauen in diese Wirkkraft freilich nicht vorhanden. Bereits 1947 konstatierte Kästner in Bezug auf Die Schaubude: »Die Münchner gehen fleißig hinein. Ob’s Zweck hat, weiß der Himmel. Manchmal hat man Hoffnungen, manchmal nicht.« Kästner, Erich an Pony Bouché (alias Margot Schönlank). Brief von Anfang März 1947. In: Kästner,

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des NS-Regimes einen vielversprechenden Rahmen, um an ein großes Publikum zu appellieren, da sie sich innerhalb des zu jener Zeit aufkommenden ›Theaterrausches‹ einer besonderen Beliebtheit erfreute. Während »in der Prosa die lakonisch reduzierte Form der short story der Kurzatmigkeit dieser Jahre entgegenkam und ihr zugleich Ausdruck gab«, war es Ralf Schnell zufolge im dramatischen Genre die aggressiv-pointierte [Form] der kleinen Szenen und Songs, der Sketches, Couplets und Typenmonologe. Nicht etwa harrte ein großes Ideengebäude seiner opulenten szenischen Entfaltung, sondern die konkreten, alltäglichen Ereignisse des politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Lebens bedurften einer pointierten Kommentierung.³¹²

Eine solch ›pointiert kommentierende‹ Funktion übernahmen ohne Frage beide Kabaretts, für die Kästner als Texter tätig war. Im Folgenden soll seine Mitarbeit in der bereits im ersten Nachkriegssommer gegründeten Schaubude und der gut fünf Jahre später ins Leben gerufenen [K]leine[n] Freiheit in den Blick genommen werden, die neben dem Düsseldorfer Kom(m)ödchen, den Kieler Amnestierten, dem Berliner Ulenspiegel und den ebenfalls dort beheimateten Stachelschweine[n] bis heute als wichtigste (west)deutsche literarisch-politische Kabaretts der Nachkriegszeit gelten.³¹³ 3.2.2.1 Kästner und Die Schaubude Kästners Kontakt zur Schaubude entstand bereits in deren Gründungsphase, die noch vor seiner festen Niederlassung in München begann. Im Juni 1945 traf er während einer seiner ersten Tagesreisen in die bayerische Hauptstadt im Hof der Kammerspiele auf Rudolf Schündler und Arthur Maria Rabenalt, die hier die Eröffnung eines literarischen Kabaretts vorbereiteten und ihn als Mitarbeiter gewinnen wollten.³¹⁴ Tatsächlich nahm Kästner das Angebot nach kurzer Bedenkzeit an; Schündler, der künstlerische Leiter der Schaubude,³¹⁵ war es schließlich auch,

Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 106. 312 Schnell (2003), S. 97. 313 In der sowjetischen Besatzungszone respektive der DDR nahm etwa das Leipziger Literarische Kabarett (ab 1947: Die Rampe) eine vergleichbare Stellung ein. 314 Vgl. dazu Kästners Tagebucheintrag vom 20.6.1945 in Kästner (2006), S. 154 f. 315 Rudolf Schündler, der als Bühnen- und Filmschauspieler ab 1930 in der Berliner Katakombe bekannt geworden war, avancierte 1945 neben Otto Osthoff zum Lizenzträger der Schaubude. Rabenalt schied dagegen noch vor der Premiere des ersten Programms aus dem Projekt aus. Eberhardt Schmidt, der UFA-Mitarbeiter, der Kästner im letzten Kriegsjahr innerhalb seines Filmteams nach Mayrhofen geschleust hatte, beteiligte sich in der Folgezeit finanziell an dem Kabarettprojekt und übernahm eine verwaltende Funktion. Vgl. Wagner (1999), S. 153 u. 285.

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der ihm am 20. August 1945 seine erste Arbeitsbestätigung nach dem Krieg ausstellte, die es ihm zugleich ermöglichte, München zu seinem dauerhaften Wohnsitz zu machen.³¹⁶ Neben Kästner waren hauptsächlich Herbert Witt und Axel von Ambesser als Autoren für das Kabarett tätig; einige Texte steuerte auch Hellmuth Krüger bei, der jedoch in erste Linie als Conférencier mitwirkte.³¹⁷ Zum Ensemble gehörten unter anderem Ursula Herking, Karl Schönböck, Bum Krüger, Otto Osthoff, Inge Bartsch, Margarethe Haagen, Oliver Hassencamp, Karl John und Eva Immermann. Edmund Nick, mit dem Kästner bereits 1929 an dem Hörspiel Leben in dieser Zeit gearbeitet hatte, wurde die musikalischen Leitung übertragen; er verfasste die meisten der aufgeführten Kompositionen. Mit den Worten Meike Wagners liest sich die Mitarbeiterliste der Schaubude »wie ein Besetzungszettel aus alten Berliner Blütezeiten des Kabaretts zwischen den Weltkriegen«:³¹⁸ Sowohl Schündler und Kästner als auch Nick, Herking und Bartsch waren in den 1920er und frühen 1930er Jahren etwa für die von Werner Finck geleitete Katakombe tätig gewesen, während Hellmuth Krüger im Berliner Schall und Rauch II und im Kabarett der Komiker mitgewirkt hatte. Der erste Schritt, das Eröffnungsprogramm der Schaubude, das bereits am 15. August 1945 in den noch notdürftig bespielbaren Kammerspielen seine Premiere feierte, war allerdings noch nicht mit den typischen Programmen der literarischpolitischen Berliner Kabarettszene der Weimarer Republik vergleichbar. Treffender lässt sich von einer »bunte[n] Abfolge von satirischen Nummern«³¹⁹ sprechen. Zwischen Musik- und Tanzeinlagen wurden zum Beispiel Gedichte von Ringelnatz, Tucholsky und Matthias Claudius rezitiert. Wie Wagner konstatiert, näherte man sich mit dem überwiegend unterhaltsamen Charakter des Eröffnungsprogramms zunächst »sachte und vorsichtig der tiefer gehenden Satire«³²⁰ an, was nicht zuletzt an der Auswahl der Kästner’schen Beiträge zu erkennen ist. Obgleich der Schriftsteller zunächst angeboten hatte, sein antimilitaristisches Gedicht Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? zur Verfügung zu stellen,³²¹ entschied man sich

316 Vgl. Hanuschek (2003), S. 342. 317 In späteren Jahren entstand im Schaubuden-Team der Wunsch, die jüngere Autorengeneration einzubeziehen, um dem Kabarett neue Impulse zu geben. Gegen Ende des Jahres 1947 bestanden etwa Bestrebungen, der frisch gegründeten Gruppe 47 ein regelmäßiges Forum für eigene Programme zu bieten. Obgleich Hans Werner Richter sich auf eine diesbezügliche Besprechung mit dem Schaubuden-Mitarbeiter Paul Verhoeven einließ, kam die Kooperation letztlich aber nicht zustande. Vgl. Wagner (1999), S. 161. 318 Ebd., S. 155. 319 Ebd., S. 154. 320 Ebd. 321 Vgl. EKW VI, S. 447.

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letztlich, drei andere seiner vor 1933 entstandenen lyrischen Texte – Wiegenlied, Gespräch an der Haustür und Elegie mit Ei ³²² – in das Programm zu integrieren. Während das Wiegenlied und das Gespräch an der Haustür die im Umbruch begriffenen Geschlechterrollen in den ›Goldenen Zwanzigern‹ und die damit einhergehenden (Beziehungs‐)Nöte der ›kleinen Leute‹ thematisieren, hat die als Eröffnungsnummer dargebotene Elegie mit Ei eine dezidiert politische Ausrichtung. In dem 1927 verfassten Gedicht porträtiert Kästner seine Generation, in der viele Männer bereits als Jugendliche in den Ersten Weltkrieg eingezogen wurden oder zumindest unter dessen Folgen zu leiden hatten. Der Text charakterisiert die Betroffenen als »Jugend, die an nichts mehr glaubt / und trotzdem Mut zur Arbeit hat«;³²³ in der vierten Strophe heißt es: Wir werden später jung als unsre Väter. Und das was früher war, fällt uns zur Last. Wir sind die kleinen Erben großer Übeltäter. Sie luden uns bei unsrer Schuld zu Gast.³²⁴

Offenbar versuchte man durch die Wahl dieses Gedichts, das mit der Aufforderung endet, trotz der offenen Fragen (»Beginnt ein Anfang? Stehen wir am Ende?«³²⁵) ›in die Hände zu spucken‹ und sich von der desillusionierten Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg nicht unterkriegen zu lassen,³²⁶ eine Brücke zu den Gegebenheiten im Jahr 1945 zu schlagen. Tatsächlich vermerkte etwa die Münchner Zeitung, die das Eröffnungsprogramm der Schaubude als »vielverheißenden Anfang«³²⁷ des Münchner Theaterlebens feierte, es sei verblüffend, »wie treffend Kästners Gedichte aus den Jahren nach dem ersten Weltkrieg die Situation von heute charakterisieren.«³²⁸ Gleichwohl wirkt der suggerierte Bezug zur Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, wie bereits Wagner anmerkte, aus heutiger Perspektive »schief«: »Das Kaiserreich bestand nicht mehr; der Rückzug der Demokratie von Weimar und der Aufstieg des Nationalsozialismus konnte nicht mehr nur als Sache der Väter be-

322 Genau wie Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? waren die drei oben genannten Texte bereits 1928 in dem Lyrikband Herz auf Taille abgedruckt worden. Siehe EKW I, S. 14, 26, 45 f. u. 60 f. 323 Kästner, Erich: Elegie mit Ei [1927]. In: EKW I, S. 61 f., hier S. 60. 324 Ebd., S. 60. 325 Ebd., S. 61. 326 Vgl. ebd. 327 [anonym]: »Die Schaubude«. In: Münchner Zeitung, 18.8.1945. Gelobt wurde unter anderem, dass Die Schaubude einerseits an »die Tradition des Münchner ›Überbrettels‹« anknüpfe, andererseits aber »mit beiden Füßen in der Gegenwart« stehe (ebd.). 328 Ebd.

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trachtet werden.«³²⁹ Trotz – oder möglicherweise gerade aufgrund – der indirekten Schuldabwehr, die der Vortrag des Gedichts nach dem Ende des NS-Regimes implizierte,³³⁰ wurde die Nummer, wie auch generell das erste Programm der Schaubude, zu einem fulminanten Publikumserfolg. Die Vorführungen, die wegen der Sperrstunde nicht abends, sondern spätnachmittags stattfanden, waren fast immer ausverkauft.³³¹ Die Schaubude diente ihren Mitwirkenden – im Sinne Bourdieus – aber nicht allein dazu, ihr vor 1945 akkumuliertes kulturelles Kapital zu nutzen und zu maximieren. Sie bot auch den perfekten Rahmen, um das soziale Kapital der Beteiligten zu mehren, denn aufgrund der vielen in den Kammerspielen arbeitenden Berühmtheiten³³² wurde das Theater alsbald zum Treffpunkt für verschiedenste Kulturschaffende. Kästner selbst beschrieb, wie Schauspieler, Dichter, Maler, Regisseure, Journalisten, Sänger und Filmleute dort erstmals nach Kriegsende wieder zusammentrafen, Todesnachrichten austauschten, über die (kulturelle) Zukunft Deutschlands diskutierten und neue Pläne schmiedeten.³³³ Obgleich er argwöhnte, dass es »bald mehr Kabaretts und Theater als unzerstörte Häuser«³³⁴ gäbe, wenn sich alle Pläne jener Tage verwirklichen würden, hatte die Schaubude keine Mühe, ihrer Konkurrenz innerhalb Münchens³³⁵ standzuhalten. Aufgrund der Lizenzierungspolitik der Besatzer wurden nämlich bei Weitem nicht alle der angedachten Projekte realisiert. Auch Schündler erhielt nach einer Probevorstellung vor den amerikanischen Offizieren zunächst lediglich eine einfache Sondergenehmigung für die Aufführung des ersten Programms und musste sich für das geplante Folgeprogramm beim Theater Control Office um eine offizielle Lizenz für das Theaterunternehmen bemühen. Da er und Otto Osthoff, der mittlerweile als sein Partner in der Leitung fungierte, im Rahmen der Entnazifizierungsprozesse als politisch ›unbelastet‹ eingestuft worden waren, wurde ihrem Antrag – im Gegensatz zu den

329 Wagner (1999), S. 153. 330 Auf den nachkriegsdeutschen Schulddiskurs und die für ihn charakteristischen exkulpierenden Strategien geht Kapitel 4.1 dieser Untersuchung vertiefend ein. 331 Vgl. Wagner (1999), S. 154. 332 Neben dem Team der Schaubude gastierte dort in den Nachkriegsmonaten auch Wilhelm Holsboers Volkstheater-Ensemble, das Bruno Franks Sturm im Wasserglas spielte. Vgl. ebd., S. 155. 333 Vgl. Kästner, Erich: Kleine Chronologie statt eines Vorworts [1948]. In: EKW II, S. 9 – 14, hier S. 12. 334 Ebd. Das Interesse daran, Kabaretts zu eröffnen, war nicht nur im Münchner Raum, den Kästner überblickte, immens: Dem Berliner Magistrat lagen in derselben Zeit über tausend Gesuche um Spielerlaubnis für diese Art des Theaters vor. Vgl. Schnell (2003), S. 97. 335 Nennenswert sind in diesem Zusammenhang etwa das schon früher als Simpl bekannt gewesene Neue Simpl oder das Kabarett der Humoristen. Vgl. dazu Schnog, Karl: Viermal Kabarett in Westdeutschland. In: Die Weltbühne, 14. 5.1952, S. 631 – 634.

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Gesuchen vieler anderer, die sich um Neugründungen von Spielstätten bemühten – jedoch letztlich problemlos stattgegeben.³³⁶ Die Premiere des ab dem 12. April 1946 dargebotenen Programms Bilderbogen für Erwachsene kann schließlich, mit Kordon, als »wahre Geburt«³³⁷ der Schaubude bezeichnet werden. Mittlerweile gastierte das Team nicht mehr in den Räumen der Kammerspiele, sondern im eigenen, immerhin 600 Zuschauer fassenden Haus in der Münchner Reitmorstraße. Mit der Aufführung ihres neuen Programms ließen Schündler und seine Mitarbeiter nicht nur die alte Spielstätte hinter sich: Auch ›alte‹ (sprich: vor 1933 entstandene) Gedichte und Chansons wurden nunmehr nur noch selten dargeboten. Stattdessen forcierte man »eine Form des scenisch-literarischen Kabaretts, das sich auf bester Ebene mit den Problemen der Zeit und den Sorgen des Tages auseinandersetz[en]«³³⁸ sollte. Im Gegensatz zu den stringent durch das Reeducation-Programm gerahmten Themen, mit denen sich das Feuilleton der amerikanischen Neue[n] Zeitung befasste, lag der inhaltliche Fokus der lizenzierten Schaubude nicht primär auf der Aufklärung über die NS-Vergangenheit oder der Verständigung zwischen Besatzern und Besetzten. Stattdessen widmete man sich künstlerisch vorrangig den Lebensumständen und Nachkriegsnöten der deutschen Bevölkerung. So griffen die Texte der Schaubuden-Autoren vorrangig aktuelle Gegebenheiten wie die Wohnungsnot, die von den Amerikanern verhängte Sperrstunde, das Schwarzmarktwesen, die Kriegsgefangenschaft oder auch die Flüchtlingsproblematik auf. Darüber hinaus wurden große Themen des Kabaretts der Weimarer Republik – wie etwa die Kritik an Militarismus, Krieg und politischem Extremismus – wieder aufgenommen und im Hinblick auf die Situation nach 1945 modifiziert. Anklänge an die dramaturgischen Höhepunkte des Kabaretts vor 1933 schuf man zudem durch den Einsatz des Conférenciers Hellmuth Krüger, der die verschiedenen Nummern durch improvisierte Moderationen, welche oftmals tagesaktuelle Anspielungen enthielten, verband. Durch die unterschiedlichen stilistischen Präferenzen der Hauptautoren standen sowohl im Bilderbogen für

336 Vgl. dazu Wagner (1999), S. 155 f. Wenngleich alle Antragsteller einer politischen Prüfung durch die amerikanische Militärregierung unterzogen wurden, waren nur die Theaterleiter dem Lizenzierungsverfahren unterworfen. Erhielten sie die Lizenz, waren sie im Weiteren für die politische Unbescholtenheit ihrer Mitarbeiter verantwortlich, die nur eine einfache Registrierung benötigten, um in den Spielstätten tätig zu werden. Aus diesem Grund waren im Kabarett-Bereich durchaus häufig Kulturschaffende aktiv, die bereits auf den und für die Bühnen des ›Dritten Reiches‹ gewirkt hatten. 337 Kordon (1998), S. 238. 338 So formulierte es Otto Osthoff am 27. 3.1946 in einem Brief an den Münchner Oberbürgermeister. Zit. n. Wagner (1999), S. 154.

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Erwachsene als auch in den Folgeprogrammen³³⁹ unterhaltsame Kalauer, satirischangreifende und elegisch-poetische Beiträge gleichberechtigt nebeneinander, was sich als stilbildend für viele nachfolgende Kabaretts erweisen sollte.³⁴⁰ Vonseiten der Kritiker und Zuschauer wurde dem Kleinkunstunternehmen, das als »(g)änzlich kompromisslos und kämpferisch bis an die Grenze des Skandals«³⁴¹ galt, eine enorme Anerkennung zuteil, die weit über die Grenzen der bayerischen Hauptstadt hinausging: »[W]er nach München kam, aus den Zonen oder aus dem Ausland, der musste«, folgt man Edmund Nicks Erinnerung, »die Schaubude gesehen haben.«³⁴² Aufgrund seiner künstlerischen Qualität und der daraus resultierenden Anziehungskraft für ein überregionales Publikum bevorzugte die Regierung der Stadt das Kabarett gegenüber anderen Unterhaltungsstätten sogar durch Ermäßigungen und Erlass der Vergnügungssteuer.³⁴³ Ein ums andere Mal waren die Programme, die während ihrer zumeist dreimonatigen Aufführungszeit von jeweils bis zu 50 000 Menschen besucht wurden,³⁴⁴ zudem als Gastspiele außerhalb der Landesgrenzen, beispielsweise in der Schweiz, zu sehen.³⁴⁵ Das enorme Prestige, das der Schaubude zuteilwurde, kann auf verschiedenen Ebenen mit der Mitarbeit Kästners in Verbindung gebracht werden: Dieser nutzte unter anderem seine nahezu zeitgleich eingenommene Position bei der Neue[n] Zeitung strategisch, um den Erfolg des Kabaretts – und damit zugleich seinen eigenen Erfolg – voranzutreiben. Unter der Redaktionsadresse des Blattes nahm er Autorenbeiträge und Zuschriften an die Schaubude entgegen; außerdem bewarb er das Unternehmen im von ihm geleiteten Feuilleton. Bereits in seinem ersten in der NZ publizierten Artikel, dem Münchener Theaterbrief vom 18. Oktober 1945, kündigte er zum Beispiel den Umzug und die kommende Neueröffnung des »reizenden 339 Bis zu ihrer Schließung im März 1949 präsentierte Die Schaubude noch insgesamt sieben weitere Programme: Gestern – Heute – Übermorgen (1946), Für Erwachsene verboten! (1946), Vorwiegend heiter – leichte Niederschläge (1947), Wir warnen Neugierige (1947), Das fängt ja gut an (1948), Bitte recht friedlich! (1948) und Das Ministerium ist beleidigt (1948). 340 Vgl. Wagner (1999), S. 162. 341 Schnog, Karl zit. n. Hanuschek (2003), S. 343. Diese drastische Wirkung kann nicht zuletzt damit erklärt werden, dass die Zuschauer die öffentliche Darbietung kritischer Sichtweisen auf die (politische) Gegenwart nach der zwölfjährigen NS-Herrschaft nicht (mehr) gewohnt waren. Vgl. dazu ebd. sowie Wagner (1999), S. 156. 342 Nick, Edmund: Adieu »Schaubude«. Freundliche Nachrede auf ein Kabarett. In: Münchner Merkur, 28. 3.1949. 343 Vgl. dazu Kraus, Marita: Provinzialität und Weltbürgertum – Münchner städtische Kulturpolitik 1945 – 1949. In: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945 – 1949. Hg. von Friedrich Prinz. München 1984, S. 21 – 38, hier S. 33. 344 So lautete zumindest die Einschätzung, die Kästner in seinem Auswahlband Der tägliche Kram. Chansons und Prosa 1945 – 1948 darlegte. Vgl. EKW II, S. 34. 345 Vgl. Wagner (1999), S. 162.

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Theater[s] für sechshundert Personen«³⁴⁶ in der Reitmorstraße an, an dessen zweitem Programm er selbst, gemeinsam mit Witt und von Ambesser, seit Wochen arbeite. Allem voran aber trugen Kästners Kabaretttexte als solche, die schon manches Mal treffend als Fortsetzung seiner frühen ›Gebrauchslyrik‹ charakterisiert wurden,³⁴⁷ zur schnell wachsenden Berühmtheit der Schaubude bei. Bereits zeitgenössische Rezensenten attestierten der Kleinkunstbühne, »weitestgehend den Stempel des Kästnerschen Geistes«³⁴⁸ zu tragen; 1949 rekapitulierte Nick, sein Kollege sei »der Primus inter pares des kleinen Autorenkreises« gewesen und habe der Schaubude »mit seinen Manuskripten die Richtung [gegeben]«.³⁴⁹ Auch vonseiten der (Kabarett‐)Forschung wird Kästner bis heute – im quantitativen wie qualitativen Sinne – als wichtigster Textlieferant des Unternehmens betrachtet.³⁵⁰ Auffällig ist, dass sich der Themenkreis seiner Arbeiten gegenüber seinen vor 1933 verfassten Chansontexten und Gedichten deutlich verengte. Beispielsweise waren zwischenmenschliche Beziehungen, die innerhalb seines Frühwerks einen verhältnismäßig großen Raum eingenommen hatten, nur noch gelegentlich Thema für ihn; stattdessen widmete er sich fast ausschließlich dem Ende und den Folgeerscheinungen des NS-Regimes respektive des Krieges.³⁵¹ Gleich der erste neue Text, den Kästner für das zweite Programm der Schaubude verfasste, avancierte zu seinem erfolgreichsten Kabarettbeitrag nach Kriegsende:³⁵² das Marschlied 1945. ³⁵³ Wolfgang Viktor Ruttkowski zufolge kann das von

346 Kästner, Erich: Münchener Theaterbrief [NZ, 18.10.1945]. In: EKW VI, S. 483 – 487, S. hier 484. 347 Vgl. etwa Wagner (1999), S. 156 und Walter (1977), S. 277. Wie Walter in diesem Zusammenhang aufzeigt, wies bereits ein beachtlicher Anteil der vor 1933 entstandenen Kästner-Gedichte eine Nähe zum Kabarett als Raum auf, in dem sich gesellschaftlich definierte Figurentypen in Chansons und Szenen selbst porträtieren. Zahlreiche der frühen Texte lassen sich mit ihm unter dem Schlagwort »Rollenlyrik« erfassen; in ihnen treten »[a]n die Stelle des Autor-Ich […] scheinbare Selbstporträts sozial repräsentativer Figuren oder ganzer soziologisch fixierbarer Gruppen und Gruppierungen.« (Ebd., S. 221). Daher verwundert es nicht, dass die Lyrik Kästners bereits in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren häufig auf Kabarettbühnen wie etwa dem Berliner Kabarett der Komiker oder der Musenschaukel ihre Verwendung fand. Siehe zum Forschungsstand bezüglich der Aufführung Kästner’scher Texte im Kabarett vor 1933 weiterführend auch Wittenberg (2004) S. 72 – 75. 348 Hoeter, B.W.: Kleiner Münchner Brief. In: Rhein Seclio, Düsseldorf. 20.1.1948. Kästners Position »an der Spitze« der Schaubuden-Autoren betont auch der Beitrag loh.: »Wir brauchen das für unsere Nerven!« Die Münchner Schaubude im Großen Bühnensaal. In: Badener Tageblatt, 25.11.1948. 349 Nick (1949). 350 Vgl. etwa Kühn, Volker: Kleinkunststücke – Kabarett-Bibliothek in fünf Bänden (1900 – 2000). Bd. 4: Wir sind so frei – Kabarett in Restdeutschland 1945 – 1970. Weinheim/Berlin 1993, S. 18; vgl. auch Wittenberg (2004), S. 76. 351 Vgl. dazu auch Leibinger-Kammüller (1988), S. 65 f. 352 Vgl. Wagner (1999), S. 156 f.

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Nick vertonte Porträt einer Flüchtlingsfrau als »vielleicht eindrucksvollste[s] Reportagechanson der Nachkriegszeit«³⁵⁴ betrachtet werden. Vor dem Bühnenprospekt einer Landstraße besingt die »in Männerhosen und altem Mantel, mit Rucksack und zerbeultem Koffer«³⁵⁵ ausgestattete, heimatlos gewordene Figur ihre Lebensumstände. Dabei offenbart sie den Zuhörern zwar, bereits seit dreißig Wochen unterwegs zu sein und nur noch das zu besitzen, was sie am Leibe trage.³⁵⁶ Nichtsdestotrotz herrschen bei ihr, wie die letzten Strophen des Chansons zeigen, Erleichterung über das Ende der Diktatur und Aufbruchswille vor: Tausend Jahre sind vergangen samt der Schnurrbart-Majestät. Und nun heißt’s: Von vorn anfangen! Vorwärts marsch! Sonst wird’s zu spät! Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – Vorwärts marsch, von der Memel bis zur Pfalz! Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei – Denn wir hab’n ja den Kopf, denn wir hab’n ja den Kopf noch fest auf dem Hals!³⁵⁷

Folgt man den Erinnerungen der Beteiligten, so müssen die Publikumsreaktionen auf die Nummer in hohem Maße emotional gewesen sein: »Als ich den letzten Ton des ›Marschlieds‹ gesungen hatte,« erinnerte sich etwa dessen damalige Interpretin Ursula Herking, sprangen die Menschen von den Sitzen auf, umarmten sich, schrien, manche weinten, eine kaum geglaubte ›Erlösung‹ hatte da stattgefunden. […] [E]s war einfach das richtige Lied, richtig formuliert, richtig gebracht, im richtigen Moment.³⁵⁸

Und auch Nick berichtete noch fast zwei Jahrzehnte später in einem Rundfunkinterview:

353 Siehe Kästner, Erich: Marschlied 1945 [1946]. In: EKW II, S. 52 – 54. 354 Ruttkowski, Wolfgang Viktor: Das literarische Chanson in Deutschland. Berlin/München 1966, S. 136. 355 So Kästners Regieanweisung. EKW II, S. 52. 356 Dies sind unter anderem »Schuhe ohne Sohlen«; ihr »Rucksack ist [ihr] Schrank« (ebd.). 357 Ebd., S. 53 f. 358 Herking, Ursula: Danke für die Blumen. Damals – Gestern – Heute. München/Gütersloh/Wien 1973, S. 118.

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[D]ie Leute lachten und weinten geradezu durcheinander: daß es das wieder gab, daß man so was jetzt sagen durfte von Adolf dem Katastrophalen, der Schnurrbart-Majestät mit dem Tropfenfänger-Bärtchen, und wie Kästner den Leuten wieder Mut machte, weil wir ja den Kopf noch fest auf dem Hals hatten.³⁵⁹

Die Wirkungsmacht des Kabaretts, die sich in den Reaktionen auf das Marschlied 1945 offenbart, lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass das Chanson eine Zeitstimmung aufgriff und dem Publikum »eine Ausdrucksform für alltägliche Erfahrungen, wie sie viele gemacht hatten«,³⁶⁰ offerierte. Diesem Prinzip folgen auch die meisten der übrigen Texte, die Kästner in der Folgezeit für die Schaubude schrieb – ob nun von der Hoffnung auf eine Heimkehr verschollener oder in Kriegsgefangenschaft geratener Anverwandter die Rede ist³⁶¹ oder vom Zwang, sich innerhalb der Hungerkrise durch Prostitution³⁶² oder mit Hilfe des schwarzen Marktes³⁶³ ›durchzuschlagen‹. Trotz seiner Empathie für die Sorgen der Bevölkerung scheute Kästner aber – wie im späteren Verlauf dieser Untersuchung noch genauer beleuchtet wird – nicht davor zurück, Kritik an verbreiteten Sicht- und Verhaltensweisen der Deutschen zu üben. So beanstandete er etwa ihre kontinuierliche Neigung, sich blindlings Autoritäten zu unterwerfen,³⁶⁴ und bemängelte die seiner Einschätzung nach noch immer leicht entflammbare Kriegsbegeisterung seiner Mitmenschen.³⁶⁵ Ein ganzes Spektrum an (Nachkriegs‐)Themen verarbeitete er zudem in seinem Deutsche[n] Ringelspiel 1947 – dem Kabarettbeitrag, dem nach dem Marschlied 1945 die wohl größte öffentliche Beachtung zuteilwurde und der nach seiner Erstaufführung in der Schaubude auch auf verschiedenen anderen deutschen Bühnen dargeboten wurde.³⁶⁶ In dem abermals von Nick vertonten Chanson ließ Kästner acht repräsentative Typen der Nachkriegszeit – mit seinen Worten: »bezeichnende Figuren unserer Tage«³⁶⁷ – auftreten: eine im ›Eiswinter‹ 1947 frierende Flüchtlingsfrau, einen Geschäftemacher, der sich an der Armut seiner Mitmenschen bereichert, einen heimkehrenden Kriegsgefangenen, der realisiert, dass er sein Haus

359 Nick, Edmund zit. n. Hanuschek (2003), S. 343. 360 Wagner (1999), S. 157. 361 Siehe etwa Kästner, Erich: Lied einer alten Frau am Briefkasten [1946]. In: EKW II, S. 44 f. und Kästner, Erich: Das Lied vom Warten [1947]. In: EKW II, S. 199 – 121. 362 Siehe Kästner, Erich: Die lustige Witwe [1948]. In: EKW II, S. 163 f. 363 Siehe Kästner, Erich: Auf dem Nachhauseweg [1946]. In: EKW II, S. 372 f. 364 Siehe Kästner, Erich: Das Leben ohne Zeitverlust [1946]. In: EKW II, S. 34 – 37. 365 Siehe Kästner, Erich: Das Spielzeuglied [1946]. In: EKW II, S. 96 – 98. 366 Vgl. dazu etwa [anonym]: Ganz Deutschland ist ein Wartesaal. Bettleroper dieser Zeit. In: Der Spiegel 44 (1947), S. 19 sowie kra.: »Literarisches Kabarett«. In: Volksstimme (Saarbrücken), 17.12.1947. 367 Kästner, Erich: Deutsches Ringelspiel 1947 [1947]. In: EKW II, S. 108 – 114, hier S. 108.

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und seine Familie verloren hat, eine Prostituierte, einen warnenden Dichter,³⁶⁸ ein junges Mädchen (die »arme Jugend«³⁶⁹), einen werbenden Parteipolitiker, eine kriminelle »Halbwüchsig[e]«³⁷⁰ und einen »Widersache[r]«,³⁷¹ der sich daran erfreut, wie leicht das Volk zur Durchführung immer neuer Kriege zu verlocken ist. Kommentiert werden die Vorträge dieser unterschiedlichen sozialen Typen von einer »allegorische[n] Figur«,³⁷² nämlich der Zeit, die, »wie Justitia eine Binde vor den Augen [tragend]«,³⁷³ darlegt, dass sie weder »die Gut und Bösen«³⁷⁴ kenne, noch Hass oder Mitleid empfinde. Stattdessen weist sie die übrigen Figuren, angesichts ihrer Endlichkeit, in die Schranken.³⁷⁵ Die öffentlichen Reaktionen auf den Beitrag fielen ambivalent aus: Die Rezension Gunter Grolls in der Süddeutschen Zeitung verortete die Nummer als »bisher beste Leistung« der Schaubude und hob den »echten Zeitkontakt« des Beitrags hervor; das dichterische Kabarett erreiche in diesem Text durch »Diagnose und Warnung […] seinen höchsten Punkt.«³⁷⁶ Andere Kritiker empfanden das Ringelspiel in seiner Gesamtdauer von 20 Minuten hingegen als »nicht mehr dem Kabarett zugehörig« oder beklagten grundsätzlich das »Übergewicht an elegischen Beiträgen«, welches das Programm Vorwiegend heiter – leichte Niederschläge, in dessen Rahmen die Nummer dargeboten wurde, auszeichne. ³⁷⁷ Eine solche Tendenz, »von Hunger und Elend, Wohnungsnot und schwarzem Markt nichts mehr hören [zu wollen]«,³⁷⁸ wurde in der Folgezeit zunehmend charakteristisch für das Kabarettpublikum. Gewiss hatte auch diese, spätestens mit dem Anbruch der ›Wirtschaftswunderepoche‹ manifestierte, Stimmungslage Einfluss darauf, dass die Währungsreform zahlreiche Kleinkunstbühnen zu Fall bringen konnte und schließlich auch nicht vor der Schaubude Halt machte.³⁷⁹ Wie viele andere Privattheater musste Schündlers Unternehmen nach 368 Dieser wird erkennbar in der Rolle des Intellektuellen präsentiert, der es den Deutschen in prophetischem Gestus zum Vorwurf macht, die Bedeutung der »schwarzumwehten Stunde« des Kriegsendes zu verkennen und »das Volk [zu sein], das nie auf seine Dichter hört«. Ebd., S. 111. 369 Ebd. 370 Ebd. 371 Ebd., S. 113. 372 Ebd., S. 108. 373 So Kästners Regieanweisung. Ebd., S. 113. 374 Ebd., S. 114. 375 Ihr Vortrag endet mit den Worten: »Ihr seid ein Stäubchen am Gewand der Zeit, – / laßt euren Streit! / Klein wie ein Punkt ist der Planet, / der sich samt euch im Weltall dreht. / Mikroben pflegen nicht zu schrein. / Und wollt ihr schon nicht weise sein, / könnt ihr zumindest leise sein! / Schweigt vor dem Ticken der Unendlichkeit! / Hört auf die Zeit!« Ebd., S. 114. 376 Groll, Gunter: Die neue Schaubude oder was ist Kabarett? In: Süddeutsche Zeitung, 4. 3.1947, S. 3. 377 So die Zusammenfassung der negativen Kritiken durch Wagner (1999), S. 159. 378 Görtz und Sarkowicz (1998), S. 271. 379 Vgl. ebd.

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dem 20. August 1948 immer stärker mit schwindenden Besucherzahlen kämpfen. Zwar konnte das Kabarett mit seinem nur wenige Tage später angespielten Programm Bitte recht friedlich!, das unter anderem Kästners Beiträge Die große Zeit und Das letzte Kapitel enthielt,³⁸⁰ noch einmal positive Kritikerreaktionen für sich verbuchen. Gleichwohl geriet Schündler mehr und mehr in Zahlungsschwierigkeiten gegenüber seinen Mitarbeitern und Vermietern und musste – obwohl Die Schaubude bis zuletzt als renommiertestes literarisches Kabarett Deutschlands galt³⁸¹ – im März 1949 Konkurs anmelden. Dass Kästner sich noch vor ihrer endgültigen Schließung aus der Mitarbeit an der Schaubude zurückgezogen hatte, lässt vermuten, dass er dieses Ende schon länger hatte kommen sehen; am letzten, ab Dezember 1948 nur noch für wenige Wochen gespielten Programm Das Ministerium ist beleidigt war er bereits nicht mehr mit Texten beteiligt.³⁸² 3.2.2.2 Kästner und Die kleine Freiheit Wenngleich er bereits seit Längerem mit dem Gedanken spielte, sich neuen literarischen Herausforderungen zu stellen,³⁸³ gab Kästner seine Position als Kabarettautor nach der Schließung der Schaubude (noch) nicht endgültig auf. 1950 avancierte er zum Texter der [K]leine[n] Freiheit, die von der aus dem englischen Exil zurückgekehrten Trude Kolman ins Leben gerufen wurde. Abermals war Kästner hier ein ›alter‹ Kontakt von Nutzen, denn die Schauspielerin und Kabarettistin war ihm noch aus seiner Berliner Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme bekannt.³⁸⁴ Das Kabarett residierte ab Januar 1951 zunächst im obersten Stockwerk eines Mietshauses in der Münchner Elisenstraße. Nach ungefähr einem Jahr erfolgte ein Umzug in den Keller des Café Bristol an der Maximi-

380 Siehe Kästner, Erich: Die große Zeit. In: EKW II, S. 385 f. und Kästner, Erich: Das letzte Kapitel. In: EKW I, S.171 f. Sowohl Die große Zeit, eine Neubearbeitung des gleichnamigen, bereits am 1. Januar 1933 im Simplicissimus publizierten Gedichts, als auch Das letzte Kapitel, das erstmals im Lyrikband Ein Mann gibt Auskunft [1932] erschienen war, üben Kritik am deutschen Hang zum Größenwahn und zur Kriegsverherrlichung. 381 Vgl. Wagner (1999), S. 162. 382 Vgl. Görtz und Sarkowicz (1998), S. 267. 383 Bereits im März 1947 stellte Kästner etwa fest, dass »Stücke […] genauso nötig wären« wie »Zeitung, Zeitschrift, Kabarett« und war sich unsicher, wie lange er letzteres noch ›machen müsse‹. Kästner, Erich an Pony Bouché (alias Margot Schönlank). Brief von Anfang März 1947. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 106. 384 Kolman – eigentlich: Gertrud Kohlmann – war in den frühen 1930er Jahren in den Berliner Kabaretts Larifari und Katakombe aufgetreten und hatte zudem gemeinsam mit Günther Lüders das Tingeltangel geleitet. Vgl. dazu Hanuschek (2003), S. 370 sowie Görtz und Sarkowicz (1998), S. 273.

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lianstraße; im Vergleich zur Schaubude blieb es mit seinen 120 Plätzen allerdings bei einem verhältnismäßig kleinen Theater. Nichtsdestotrotz wurde Die kleine Freiheit, dem Urteil Klaus Budzinskis zufolge, zum »besten[n] Kabarett Münchens zwischen 1951 und 1955, sowohl was die Qualität der Texte wie der Darsteller, der Ausstattung und ihrer Regie anbetraf.«³⁸⁵ Bereits kurze Zeit nach ihrer Eröffnung trafen zahlreiche Textanfragen und Zuschriften aus allen Teilen Deutschlands und dem Ausland ein.³⁸⁶ Auch zeitgenössische Kritiken lobten die »mutige[n], bissige[n]«³⁸⁷ Aussagen des Ensembles und attestierten den Mitwirkenden, bewiesen zu haben, »daß ein gutes Kabarett möglich ist und daß es gute Themen dafür gibt.«³⁸⁸ Neben dem Düsseldorfer Kom(m)ödchen unter der Leitung von Kay und Lore Lorentz sowie Günter Neumanns Ulenspiegel in Berlin wurde Die kleine Freiheit alsbald als eines der renommiertesten westdeutschen Kabaretts gehandelt; ihre Programme waren nicht nur in München zu sehen, sondern gastierten auch mehrmals in Österreich, der Schweiz und verschiedenen westdeutschen Großstädten.³⁸⁹ Immer wieder feierte man das Kleinkunstunternehmen überdies als Nachfolgerin der Schaubude ³⁹⁰ – unter anderem »deshalb, weil […] Kästner zu den Autoren gehört[e].«³⁹¹ Aber auch zahlreiche weitere Akteure, die bereits in der Schaubude mitgewirkt hatten, waren Teil des Ensembles.³⁹² Unter einigen Gesichtspunkten unterschieden sich die Programme der [K]leine[n] Freiheit jedoch durchaus von denen ihrer berühmten Münchner Vorläuferin.

385 Budzinski, Klaus: Das Kabarett. 100 Jahre literarische Zeitkritik – gesprochen – gesungen – gespielt. Düsseldorf 1985, S. 139. 386 Vgl. dazu ck.: Der 125. Tag der »Kleinen Freiheit«. In: Abendzeitung, 23. 5.1950. 387 At.: Das Cabaret »Kleine Freiheit« im Bernhard Theater. In: Neue Zürcher Zeitung, 23. 8.1952. 388 Feiler, Max Christian: Theater der »Kleinen Freiheit«: Man tut den Affen Unrecht. In: Münchner Merkur, 14.9.1951. 389 Vgl. etwa At. (1952) sowie Schnog, Karl: Viermal Kabarett in Westdeutschland. Weltbühne, 14. 5. 1952, S. 631 – 634. 390 Vgl. etwa: Bauer, Arnold: Kabarettistischer April. »Kleine Freiheit« mit neuem Programm. In: Die Neue Zeitung, 12.4.1951 sowie m.g.: Kästners neues Kabarett. In: Neue Zürcher Zeitung, 25. 2.1951 und Schnog (1952), S. 633. 391 Ebd. 392 Genannt seien etwa Ursula Herking, Per Schwenzen, Bum Krüger und Karl Schönböck, der neben Oliver Hassencamp zum Mitdirektor des Kabaretts avancieren sollte. Weitere Darsteller, die hinzustießen, waren unter anderem Bruni Löbel, Eva Maria Meinecke, Pamela Wedekind, Charles Regnier und Hans Quest. Neben Kästner waren Schwenzen und Hassencamp sowie Martin Morlock, Robert Gilbert und später auch Curt Bry und Werner Wollenberger als Hauptautoren tätig; die musikalische Leitung hatte Jochen Breuer. Weitere Chansonvertonungen steuerten Karl von Feilitzsch, Robert Gilbert und auch der frühere musikalische Leiter der Schaubude, Edmund Nick, bei. Vgl. Görtz und Sarkowicz (1998), S. 273 f. und Hanuschek (2003), S. 370 f.

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Laut Hanuschek waren sie »weniger frivol, weniger spontan«.³⁹³ Beispielsweise gab es keinen Conférencier mehr, sondern man arbeitete mit vorab formulierten Zwischentexten und Rahmenprogrammen. Vor allem aber schlug sich die veränderte Stimmungslage, die die inzwischen vonstattengegangenen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bei den Kulturschaffenden ausgelöst hatten, im Tenor der Darbietungen nieder: Die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik waren gegründet, der Ost-West-Konflikt vorangeschritten, die Remilitarisierung Westdeutschlands ins Auge gefasst und die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit noch stärker als bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren einer Atmosphäre der Verdrängung gewichen. Die optimistische Aufbruchsstimmung, die sich in vielen Beiträgen der Schaubude widergespiegelt hatte, war angesichts der Enttäuschung über die als restaurativ empfundenen politischen Tendenzen und die verbreitete Flucht der Westdeutschen ins ›Wirtschaftswunder‹ in den Hintergrund getreten. Der Wille der Mitwirkenden, Kritik an der politischen wie gesellschaftlichen Lage zu üben, war dafür umso größer. An die Atmosphäre zur Zeit der Gründung der [K]leine[n] Freiheit erinnert sich Kästner in seinem gleichnamigen Auswahlband von 1952 wie folgt: [A]ls wir schließlich […] eines schönen Tages einigermaßen satt, in einem ziemlich warmen Zimmer, auf einem beinahe stuhlähnlichen Gegenstande sitzend, mit sauber gewaschenem Hals, denn auch Seife gab’s ja wieder, aus unserer Lethargie erwachten und das eben erworbene Radio andrehten, staunten wir nicht schlecht. Wir waren in der Zwischenzeit an die Vergangenheit verkauft worden! Wir besaßen allerdings, bis auf Widerruf, die im Grundgesetz verbriefte ›kleine Freiheit‹, darüber zu murren und zu schimpfen. Und ein Kabarett gleichen Namens zu gründen. Das war nicht viel. Aber es war besser als gar nichts.³⁹⁴

Der auf diese Weise artikulierte Unmut des Schriftstellers über die Entwicklungen in der jungen Bundesrepublik und sein gleichzeitiger – in der Kästner-Forschung oftmals übersehener³⁹⁵ – Elan, innerhalb der Handlungsspielräume des grundgesetzlichen Rahmens kritisch zu agieren, offenbarte sich bereits in seinem programmatischen Beitrag Der Titel des Programms. Mit dem von Robert Gilbert vertonten Text wurde Die Kleine Freiheit am 24. Januar 1951 eröffnet; in geringfügigen Variationen sang man ihn auch danach am Ende jeder Vorstellung, solange das

393 Ebd., S. 370. 394 Kästner, Erich: Nachträgliche Vorbemerkungen [1952]. In: EKW II, S. 190 – 193, hier S. 190 f. 395 Vgl. etwa Leibinger-Kammüller (1998, S. 74) und Kordon (1998, S. 269), die lediglich Kästners resignative Haltung gegenüber der politischen Entwicklung betonten, die sich in dem Text zeige.

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Kabarett existierte.³⁹⁶ Dass die Kleinkunstbühne, ihrem Selbstverständnis entsprechend, unmittelbar auf die (gesellschafts)politischen Verhältnisse der Gegenwart reagierte, machen bereits die ersten Verse deutlich: Darin wird proklamiert, dass nicht das beteiligte Autorenteam, sondern »die Zeit« den Titel des Programms – Die kleine Freiheit – geschrieben habe.³⁹⁷ Die zweite Strophe lässt sich vor diesem Hintergrund als Resümee zum Status quo der jungen Bundesrepublik begreifen. Sie lautet: Die große Freiheit ist es nicht geworden. Es hat beim besten Willen nicht gereicht. Aus Traum und Sehnsucht ist Verzicht geworden. Aus Sternenglanz ist Neonlicht geworden. Die Angst ist erste Bürgerpflicht geworden. Die große Freiheit ist es nicht geworden, die kleine Freiheit – vielleicht!³⁹⁸

Im weiteren Verlauf des Textes spielt Kästner nicht nur spöttisch auf die ›Betäubung‹ der Menschen durch das ›Wirtschaftswunder‹ an (»Wir dürfen staunend vor Geschäften stehn. / Wir dürfen atmen, lachen, vegetieren.«³⁹⁹) und rekurriert auf das im Grundgesetz garantierte Recht zur freien Meinungsäußerung (»Wir dürfen schimpfen und den Kopf verlieren«⁴⁰⁰). Er verweist auch auf die sich anbahnende Wiederbewaffnung Westdeutschlands (»Wir dürfen, wenn’s so weitergeht, marschieren.«⁴⁰¹). Gerade die letztgenannte Kritik an wiederaufkeimenden militaristischen Tendenzen in der jungen Bundesrepublik entwickelte sich in den Folgeprogrammen zu einem Hauptanliegen der [K]leine[n] Freiheit. Vor allem in den Kästner’schen Beiträgen, die in der zeitgenössischen Feuilletonlandschaft besondere Beachtung fanden,⁴⁰² ist die Warnung, nicht von der »Suppe der Aufrüstung, Remilitarisierung

396 Während man bei Hanuschek (2003, S. 371) liest, dass das Kabarett sogar nach diesem Kästner’schen Text benannt worden sei, mutmaßen die meisten anderen Forscher, dass Kästner die Nummer erst auf die Namensgebung hin geschrieben habe. Vgl. dazu Wittenberg (2004), S. 77. 397 Vgl. Kästner, Erich: Der Titel des Programms [1951]. In: EKW II, S. 189. 398 Ebd. 399 Ebd. 400 Ebd. 401 Ebd. 402 So etwa die in Kapitel 4.3.2 näher zu betrachtenden Beiträge Die Maulwürfe (EKW II, S. 309 – 311), Die Kantate »De minoribus« (EKW II, S. 205 – 210) und Solo mit unsichtbarem Chor (EKW II, S. 224 – 229) aus dem Jahr 1951.

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und Kriegspropaganda [zu essen]«,⁴⁰³ stets präsent. Während sich einige Feuilletonisten am moralisierenden Tonfall der Texte stießen,⁴⁰⁴ wurde Kästners »kritische[s] Zeitgefühl«⁴⁰⁵ mehrheitlich gelobt. Von seiner »gestochenen Präzision«⁴⁰⁶ wurde ebenso gesprochen wie von »dichterisch eindrucksvollen Szenen«,⁴⁰⁷ die er geschaffen habe. Die Süddeutsche Zeitung ging sogar so weit, ihn zum »alleroberste[n] Olympier«⁴⁰⁸ des deutschen Kabaretts zu ernennen. Beim Blick auf die Kritiken fällt zudem auf, dass Kästners Name mindestens ebenso eng mit der [K]leine[n] Freiheit verknüpft wurde wie der Trude Kolmans. Als »berühmte[n] Mentor«⁴⁰⁹ nannte man ihn häufig im selben Atemzug mit der Leiterin der Kleinkunstbühne; manches Mal wurde sogar explizit von »Kästners Kabarett«⁴¹⁰ gesprochen, während Kolman allenfalls beiläufig erwähnt wurde.⁴¹¹ Gleichwohl prägte der Schriftsteller Die kleine Freiheit langfristig keineswegs in gleichem Maße wie Die Schaubude: Während er im Eröffnungsjahr 1951 noch zahlreiche Beiträge beisteuerte, verfasste er schon 1952 nur noch je einen neuen Text pro Programm.⁴¹² In den letzten fünf Jahren vor der 1958 vollzogenen Umwandlung des Kabaretts in ein Boulevardtheater wirkte er bereits nicht mehr als Autor mit.⁴¹³ Dieser – nunmehr endgültige – Rückzug aus der Kabarettmitarbeit ist

403 Dies äußerte ein Kritiker in Anspielung auf den Titel des ab dem 11. September 1952 gespielten Programms, das, in Anlehnung an die Figur des Suppenkaspers aus Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter, den Titel Nein, eure Suppe ess ich nicht trug. Siehe [anonym]: Kleine Freiheit – ganz groß. Münchens neues Kabarett. In: Düsseldorfer Nachrichten, 27.9.1952. 404 Beispielsweise monierte Kurt Preis im Münchner Merkur: »Offene Wunden gibt es in unserer Zeit gar viele, auf die das Kabarett mit ironischem Lächeln den Finger legen kann. Aber es sollte dann doch mit diesem Finger etwas weniger drohend vor den Nasen der Zuschauer herumfuchteln – wie es Erich Kästner mit besonderer Vorliebe tut.« Preis, Kurt: Die »Kleine Freiheit« im neuen Haus: »Achtung, Kurve! – Eine Dezember Wies’n«. In: Münchner Merkur, 19.12.1951. 405 Paulette: »Die kleine Freiheit«. Kabarett-Revue im Atelier-Theater. In: Abendzeitung, 25.1.1951. 406 Ebd. 407 Arnold (1951). 408 Groll, Gunter: Die »Kleine Freiheit« hat Geburtstag. In: Süddeutsche Zeitung, 28.1.1953. 409 A.B.: Die einjährige »Kleine Freiheit«. In: Die Neue Zeitung, 30.1.1952. 410 m.g.: Kästners neues Kabarett. In: Neue Zürcher Zeitung, 25. 2.1951. Vgl. auch W.F.: Die kleine Frechheit. Kästners Kabarett »Die kleine Freiheit«. In: Der Tag, 18.9.1951 sowie h.p.: »Das faule Ei des Columbus«. Münchner Kabarett im Studio. In: Tagesspiegel, 12.9.1951. 411 In diesem Zusammenhang ist außerdem erwähnenswert, dass der Schriftsteller Kolman zur Verbesserung der finanziellen Situation des Kabaretts gestattete, an Wochenend-Nachmittagen seine Theaterfassung des Kinderromans Pünktchen und Anton aufzuführen. (Vgl. Hanuschek 2003, S. 371) Vor diesem Hintergrund besuchte folglich ein noch größerer Rezipientenkreis die Spielstätte explizit, um die Aufführung eines Kästner’schen Werks zu sehen. 412 Vgl. ebd. 413 Somit fiel die Kästner’sche Distanzierung von Kolmans Unternehmen mit der von vielen Beobachtern konstatierten »Krise des deutschen Kabaretts« zusammen. (Vgl. dazu Wittenberg 2004,

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einerseits mit dem bereits dargelegten Wunsch Kästners zu erklären, sich neuen literarischen Projekten zu widmen. Er dürfte jedoch auch darauf zurückzuführen sein, dass Kolman bereits ab dem Frühjahr 1952 das zeitkritische Kabarett zugunsten anderer, vergnüglich-unterhaltsamer Spielformen zu vernachlässigen begann.⁴¹⁴ Obschon Kästner neben seinen dezidiert politischen Beiträgen einige Male selbst ›Unterhaltungsnummern‹ eingebracht hatte, entfernten sich die Programme ab 1953 offenbar zu weit von seinen eigenen Vorstellungen und Zielsetzungen: Das Frühjahrprogramm des Jahres 1953 kommentierte er in einem Brief an Helga Veith bereits als »sehr hübsch und ebenso belanglos«.⁴¹⁵ Wenngleich Kästner die Position des Kabarettautors ab 1945 folglich nur über wenige Jahre hinweg einnahm, muss sie dennoch als ein zentraler Faktor für das Erlangen seiner dominanten Position im literarischen Feld der unmittelbaren Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik begriffen werden. In Anbetracht seiner Berliner Erfolge vor 1933 und des Aufsehens, das seine neuen Texte erregten, lässt sich Kästner mit Ralf Schnell in die Reihe jener namhaften Autoren einordnen, die innerhalb des ›Kabarettbooms‹ nach dem Zweiten Weltkrieg »Tradition und Neubeginn zugleich verkörperten«.⁴¹⁶ Die Schaubude und Die kleine Freiheit profitierten sowohl von seiner schon vorab bestehenden Bekanntheit, als auch von der Schaffenskraft und dem strategischen Geschick, das er nach dem Ende des NS-Regimes an den Tag legte. Umgekehrt zog Kästner in den Nachkriegsjahren einen Vorteil aus dem Rahmen, den die Kleinkunstunternehmen ihm für seine Reetablierung im literarischen Feld und seine politischen Positionierungen boten, so dass letztlich von einer gleichsam symbiotischen Beförderung kulturellen und symbolischen Kapitals zwischen den Kabaretts und dem Kabarettautor gesprochen werden kann. Anders als sein Engagement im Bereich der Kleinkunst lässt sich seine im Folgenden näher zu betrachtende Betätigung in einem anderen Bereich der Literatur indes als eine der großen Konstanten innerhalb des Kästner’schen Schaffens bezeichnen.

S. 78) Kolman selbst äußerte retrospektiv, die Zeit des politischen Kabaretts sei für sie in den späten 1950er Jahren vorbei gewesen, da man nicht mehr glaubte, politisch noch etwas verändern zu können. Vgl. Kolman, Trude zit. n. Lütgenhorst, Manfred: Theaterprinzipalin Trude Kolmann gestorben. Die Neuberin der Maximilianstraße. In: AZ, 2.1.1970. 414 Vgl. Görtz und Sarkowicz (1998), S. 274. 415 Kästner, Erich an Helga Veith. Brief vom 30. 3.1953 zit. n. Hanuschek (2003), S. 373. 416 Schnell (2003), S. 98.

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3.2.3 Kästner als Kinderbuch- und Drehbuchautor »Für viele ist der Kinder-Kästner der eigentliche Kästner«⁴¹⁷ schrieb Helmut Böttiger 1999 in der Frankfurter Rundschau – und tatsächlich ist die Position im literarischen Feld, in der Kästner sich ab 1945 am erfolgreichsten und nachhaltigsten reetablieren konnte und der er seine bis heute andauernde öffentliche Bekanntheit primär verdankt, ohne Frage die des Schriftstellers für Kinder. Bereits seit der Veröffentlichung von Emil und die Detektive im Jahr 1929 betätigte er sich auf diesem Gebiet der Literatur »konstanter als in jeder anderen der zahlreichen Gattungen, die er bediente«,⁴¹⁸ und wurde »schon zu Lebzeiten zum Klassiker«.⁴¹⁹ Neben seinem internationalen Erfolg beim Publikum ist auch sein literarischer Einfluss auf andere Kinderbuchautoren von der Weimarer Republik bis in die heutige Zeit unbestritten:⁴²⁰ »Wer für Kinder schreibt,« postulierte etwa Andreas Steinhöfel, »der schreibt immer auch, ganz automatisch, in der Kästnerschen Tradition.«⁴²¹ Im Folgenden soll nicht nur ein Überblick über Kästners kinderliterarische Wieder- und Neuveröffentlichungen nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben, sondern auch untersucht werden, inwiefern sowohl seine Bücher als auch deren intermediale Vermarktung ihn zum populärsten deutschen Kinderbuchautor des zwanzigsten Jahrhunderts⁴²² machten. Entscheidenden Einfluss auf diese dominierende Position im literarischen Feld hatten nach 1945, wie dieses Kapitel aufzeigen wird, insbesondere die zum Teil auf Grundlage seiner eigenen Drehbücher entstandenen Verfilmungen seiner Werke.

417 Böttiger, Helmut zit. n. Hübner, Klaus: Mehr als der übliche Rummel. Erich Kästners 100. Geburtstag im Spiegel der deutschen Presse. In: Erich Kästner Jahrbuch 1999. Hg, von Klaus Doderer und Volker Ladenthin. Eitorf 2000, S. 33 – 52, hier S. 49. 418 Hanuschek (2003), S. 145. 419 Detering (2000), S. 18. 420 Vgl. dazu bspw. Karrenbrock (2008), S. 256 f. und Steinlein, Rüdiger: Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende. In: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Hg. von Reiner Wild. Stuttgart/Weimar 2008, S. 312 – 342, hier S. 317, S. 323 u. 331 sowie Schikorsky, Isa: Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Köln 2012, S. 105. 421 Steinhöfel, Andreas:Vorlesungen. In: Andreas Steinhöfel. Bielefelder Poet in Residence 2014. Hg. von Petra Josting. München 2015, S. 134 – 213, hier S. 205. 422 Vgl. Schikorsky (2012), S. 105.

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3.2.3.1 Kästners kinderliterarische Wieder- und Neuveröffentlichungen Bereits im Februar 1946 teilte sein langjähriger Verleger Kurt Maschler⁴²³ Kästner in einem Brief aus London mit, dass er plane, all dessen »vergriffen[e] Bücher […] sofort nachdrucken [zu] lassen.«⁴²⁴ Noch im selben Jahr legte Maschler im AtriumVerlag, als erstes Kästner’sches Buch nach dem Krieg, den Kinderroman Das fliegende Klassenzimmer von 1933 neu auf. Und auch Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton sowie Der 35. Mai waren im Laufe der nächsten zwei Jahre wieder in Deutschland erhältlich. Innerhalb des nur langsam seinen Neubeginn findenden Produktionsfeldes der Kinder- und Jugendliteratur,⁴²⁵ das sich in den Nachkriegsjahren primär durch seinen pädagogischen und ästhetischen Konservatismus auszeichnete,⁴²⁶ hob sich Kästner mit diesen Wiederveröffentlichungen von den Pu-

423 Kurt Maschler hatte Kästners Kinder- und Unterhaltungsromane sowie den (unpolitischen) Gedichtband Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke ab 1935 im von ihm gegründeten AtriumVerlag in der Schweiz herausgebracht, den er zunächst von Deutschland aus leitete. Angesichts seiner jüdischen Abstammung entschied er sich 1937 zu emigrieren und ließ sich (nach Aufenthalten in Wien und Amsterdam) in London nieder. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg lagen sämtliche Rechte an Kästners Werken bei Atrium, es wurden jedoch Publikationslizenzen nach Deutschland vergeben; die Kinderbücher erschienen hier im Cecilie Dressler Verlag.Vgl. Hanuscheks Anmerkung in Kästner (2003), S. 49. 424 Maschler, Kurt an Erich Kästner. Brief vom 19. 2.1946 zit. n. Zonneveld, Johan: Neues von Erich Kästner. Ein Nachlass mit Überraschungen. In: Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Tagungsband. Hg. von Sebastian Schmideler. Marburg 2012 (Erich Kästner Studien, Bd. 1), S. 259 – 301, hier S. 275. 425 Nicht weniger als im Bereich der Literatur für Erwachsene waren die Publikationsmöglichkeiten für kinder- und jugendliterarische Texte aufgrund der Papierknappheit und der Kontroll- wie Zensurmaßnahmen der Alliierten zunächst eingeschränkt. Vgl. Schikorsky (2012), S. 116. 426 Diese Entwicklung wurde nicht zuletzt von zahlreichen Schriftstellern der NS-Zeit mitgetragen, denn eine ›Stunde Null‹ lässt sich für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur ebenso wenig festhalten wie für das literarische Feld als Ganzes. Neben bereits vor 1933 hervorgetretenen Kinderund Jugendbuchautoren ohne dezidiert weltanschauliche Tendenz wie Wilhelm Matthießen, Hertha von Gebhardt oder auch Wolf Durian (der sich in der DDR reetablieren sollte), waren zahlreiche NSSchriftsteller kontinuierlich oder nach nur kurzzeitigen Unterbrechungen (wieder) kinderliterarisch aktiv. Exemplarisch sei an dieser Stelle verwiesen auf Karl Aloys Schenzinger (Autor des Romans Hitlerjunge Quex von 1932), Hans Baumann (Verfasser zahlreicher HJ-Lieder), Alfred Weidemann (Urheber der zwischen 1936 und 1938 publizierten Trilogie Jungen im Dienst) und Fritz Steuben, dessen in der NS-Zeit publizierte Indianerromane nach der Tilgung allzu augenfälliger deutschtümlich-rassistischer Passagen wiederveröffentlicht wurden, obgleich sie weiterhin Ideologien wie Kampfgeist und Führer- respektive Gefolgschaftstreue postulierten. Darüber hinaus wurden nach 1945 zahlreiche Klassiker des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts (wie bspw. Robert Louis Stevensons Schatzinsel, Karl Mays Winnetou, Emmy von Rhodens Trotzkopf und Johanna Spyris Heidi) wiederaufgelegt. Deutschsprachige Kinderbuchautoren des Exils waren in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dagegen praktisch nicht präsent. Vgl. Steinlein (2008), S. 314 f. und Schikorsky (2012), S. 116, 119 f. und 125 f.

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blikationen der meisten übrigen Autoren ab. Hatte das kinderliterarische Werk des Schriftstellers mit seiner konsequenten Hinwendung zur Alltagsrealität und -sprache der jungen Rezipienten und seinem Bestreben, auf Augenhöhe mit ihnen zu agieren, schon in der Weimarer Republik zu einem regelrechten Paradigmenwechsel in der Kinderliteratur beigetragen,⁴²⁷ so wurde es nach dem Ende des NSRegimes aufs Neue als innovativ wahrgenommen. Nunmehr divergierte die Ästhetik der viel verkauften Bücher deutlich von der ideologischen Prägung der zwischen 1933 und 1945 publizierten Werke für Kinder: Im Vergleich zum indoktrinierenden sprachlichen Gestus des ›Dritten Reichs‹, der »noch nach 1945 selbst in Re-Education-Texten zu finden [war], war das knappe, klare Deutsch, das Kästner schrieb,« laut Sybil Gräfin Schönfeldt, gerade für die in der Diktatur geborenen Heranwachsenden »ein Gegenpol, eine Gegensprache, etwas vollkommen Neues und vollkommen anderes.«⁴²⁸ Zur Veröffentlichung originär neuer Kästner’scher Kinderbücher kam es zwar erst vier Jahre nach dem Kriegsende. Gleichwohl partizipierte der Schriftsteller schon zuvor, parallel zu seiner Arbeit für den Pinguin, an einem Projekt, das seine dominierende Position als Kinderbuchautor über das kulturelle wie symbolische Kapital hinaus festigte, welches ihm seine literarischen und journalistischen Publikationen einbrachten. Die Rede ist von der Mitbegründung der bis heute größten Bibliothek für Kinder- und Jugendliteratur der Welt: der Internationalen Jugendbibliothek in München.⁴²⁹ Der Plan, eine solche Institution ins Leben zu rufen, ging auf die deutsch-jüdische Journalistin und Kinderbuchautorin Jella Lepman zurück, die 1936 zuerst nach Florenz und schließlich nach London emigriert war und ab 1945 als Beraterin für Frauen- und Jugendfragen im amerikanischen Hauptquartier in Bad Homburg arbeitete. Bereits im Jahr ihrer Rückkehr nach Deutschland schlug sie der Militärregierung vor, eine Ausstellung der besten Kinder- und Jugendbücher verschiedener Nationen zu konzipieren, um dem nachkriegsbedingten Mangel an

427 Helga Karrenbrock spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Entmythisierung von Kindheit«, die aus »Märchenkindern Zeitgenossen macht[e]«. Karrenbrock (2008), S. 253 und 256.Vgl. zum »innovativen Realitätshabitus« der Kästner’schen respektive neusachlichen Kinderliteratur auch Weinkauff, Gina und Gabriele von Glasenapp: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn 2010, S. 81 f. 428 Schönfeldt, Sybil Gräfin: Nachwort. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd. IX: Maskenspiele. Nacherzählungen. Hg. von Sybil Gräfin Schönfeldt. München/Wien 1998, S. 175 – 194, hier S. 178. 429 Vgl. Internationale Jugendbibliothek: Über uns. http://www.ijb.de/ueber-uns.html [letzter Zugriff: 19.07. 2017].

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geistiger Anregung, der keineswegs allein die Erwachsenen betraf, entgegenzuwirken.⁴³⁰ Nachdem sich, Lepmans Aufrufen folgend, Verlage aus insgesamt 14 Ländern mit Buchspenden beteiligt hatten, umfasste die Internationale Jugendbuchausstellung, die am 3. Juli 1946 im Haus der Kunst in München eröffnet wurde und in den Folgemonaten in Stuttgart, Frankfurt am Main und Berlin zu sehen war, über 4 000 Exponate. Kästner, der sich bereits anlässlich der Ausstellungseröffnung im Feuilleton der Neue[n] Zeitung begeistert über das Projekt geäußert hatte, steuerte im Dezember 1946 ein ›literarisches Weihnachtsgeschenk‹ in Form seiner Übersetzung des berühmten Clement Clarke Moore-Gedichts A visit from St. Nicholas bei, das den Ausstellungsbesuchern überreicht wurde.⁴³¹ Vor allem aber ließ er sich, nachdem er Lepman persönlich kennen gelernt hatte, schnell für die Idee gewinnen, auf Grundlage der Bestände aus der Ausstellung eine Jugendbibliothek aufzubauen, um die Idee einer internationalen Verständigung durch Kinder- und Jugendliteratur langfristig weiterzutragen.⁴³² 1948 war er, neben Luiselotte Enderle, Hildegard Brücher und dem Leiter der Münchner Stadtbibliothek, Hans Ludwig Held, an der Gründung des Trägervereins Vereinigung der Freunde der IJB beteiligt, der unter anderem von der Stadt München, der Rockefeller Foundation und der UNESCO gefördert wurde. Als die Internationale Jugendbibliothek nach Überwindung zahlreicher, nicht zuletzt bürokratischer, Hindernisse⁴³³ schließlich am 14. September 1949 eröffnet wurde, publizierte Kästner im Münchner Merkur einen offenen Brief an alle Kinder der Welt, in dem sich sein Verständnis der Bibliothek als Instrument zur Völkerverständigung explizit ausdrückte. So teilte er seinen jungen Adressaten mit, sie besäßen nunmehr ein Haus: Es gehört euch, das heißt: allen Kindern. Nicht nur den Schwabinger Kindern, nicht nur den Münchner Kindern, nicht nur den bayerischen, deutschen oder europäischen Kindern, nein, allen. Und wenn es einen kleinen Indianer oder Eskimo nach München verschlüge, so wäre es nicht weniger sein Haus, als es das eure ist und sein wird.⁴³⁴

Das Angebot, das die Internationale Jugendbibliothek ihren Besuchern zur Verfügung stellte, ging angesichts ihrer erzieherischen und politischen Ansprüche weit über die Ausstellung und Leihgabe von Büchern hinaus: Es wurden Autorenle430 Vgl. Hanuschek (2003), S. 360 und Bode, Andreas: Erich Kästner, Jella Lepmann und die Internationale Jugendbibliothek München. In: Erich Kästner Jahrbuch 1999. Hg. von Klaus Doderer und Volker Ladenthin. Eitorf 2000, S. 126 – 140, hier S. 127. 431 Vgl. ebd., S. 128. 432 Vgl. ebd. 433 Vgl. ebd., S. 129. 434 Kästner, Erich: Ein Brief an alle Kinder der Welt. In: Münchner Merkur, 14.9.1949.

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sungen, pädagogische Vortragsabende und Fremdsprachenkurse veranstaltet sowie kunstpädagogische Seminare für Kinder angeboten; zudem gründete man eine Jugendtheatergruppe, die ab 1950 unter Kästners persönlicher Leitung probte. Bereits 1946 hatte der Schriftsteller in der Neue[n] Zeitung (vergeblich) eine staatlich subventionierte »Errichtung ständiger Kindertheater«⁴³⁵ gefordert. Gemäß seiner Annahme, »nicht gegen, sondern nur für etwas erziehen« zu können, versprach er sich von einer »musische[n] Erziehung«, bei der Kinder mit pädagogischer Unterstützung selbst Stücke entwickeln und zur Aufführung bringen sollten, eine Überwindung des »Militaristischen im Kind«.⁴³⁶ Darüber hinaus sah er hierin eine wichtige Ergänzung zur »Bildung des Körpers im Sport und des Verstandes in der Schule« und prognostizierte, eine »musisch erzogene Generation« könne »älter werdend, unzweifelhaft den Weg zu einem höheren Niveau des Theaters, der Literatur und der Kunst überhaupt« beschreiten.⁴³⁷ Während Kästner die Leitung seiner Theatergruppe aus zeitlichen Gründen letztlich nur bis 1952 ausüben konnte, hielt er den Kontakt zur Internationalen Jugendbibliothek als solcher bis fast an sein Lebensende. Er veranstaltete in ihren Räumlichkeiten nicht nur Lesenachmittage, sondern nahm auch an Diskussionsrunden teil. Außerdem trat er im Rahmen zahlreicher Kinder- und Jugendliteratur-Konferenzen und -Tagungen, die Jella Lepman organisierte, als Redner oder Diskussionsleiter auf und lernte dabei international renommierte Kolleginnen und Kollegen wie Astrid Lindgren, Bettina Hürlimann und Fritz Brunner kennen.⁴³⁸ Die Leiterin der Internationalen Jugendbibliothek war es im Übrigen auch, die bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren einen direkten Einfluss auf das literarische Schaffen Kästners ausgeübt hatte, indem sie ihn zu seiner Veröffentlichung Die Konferenz der Tiere inspirierte. Schon am 17. März 1947 teilte der Schriftsteller seinem während der NS-Zeit nach London emigrierten Illustrator Walter Trier mit, Lepman habe »einen Einfall von internationaler Tragweite« gehabt – es handle sich »um ein Bilderbuch, das sehr schnell und möglichst in allen

435 Kästner, Erich: Die Klassiker stehen Pate. Ein Projekt zur Errichtung ständiger Kindertheater. [NZ, 21.10.1946] In: EKW II, S. 83 – 87, hier S. 84. Erwähnenswert ist, dass Kästners eigenes, bereits um 1930 auf Grundlage seines ersten Kinderromans verfasstes Theaterstück Emil und die Detektive zu jener Zeit bereits wieder von deutschen Theatern (nämlich dem Theater der Jungen Welt in Leipzig und den Städtischen Bühnen Nürnberg) aufgeführt wurde. Vgl. dazu Taube, Gerd: Kästners Kinderromane auf der Bühne. Zur Dramatik für Kinder in der Nachkriegszeit. In: Kinder und Jugendliteraturforschung 1998/99. Hg. von Hans-Heino Ewers, Ulrich Nassen, Karin Richter und Rüdiger Steinlein. Stuttgart/Weimar 1999, S. 88 – 106, hier S. 98. 436 EKW II, S. 84. 437 Ebd. 438 Vgl. dazu weiterführend Bode (2000), S. 133 – 139.

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Sprachen erscheinen« müsse.⁴³⁹ Als Reaktion auf die zahlreichen fehlgeschlagenen politischen Konferenzen in der Zeit des Kalten Krieges⁴⁴⁰ konzipierten Kästner und Lepman gemeinsam mit Luiselotte Enderle noch im selben Jahr die Handlung der – im späteren Verlauf dieser Studie näher zu betrachtenden⁴⁴¹ – Erzählung, in der sich die Tiere aus allen Ländern der Welt aus Sorge um die Zukunft der Menschenkinder zu einem Bündnis zusammenschließen und schließlich mit einer List den Weltfrieden erzwingen. Obwohl die Ausarbeitung des Textes, für die Kästner allein verantwortlich zeichnete, bereits im Winter 1947/1948 erfolgte, dauerte es noch fast zwei Jahre, bis das Buch tatsächlich im Europa-Verlag in Zürich erscheinen konnte.⁴⁴² Damit kam Die Konferenz der Tiere zum Leidwesen ihres Verfassers nahezu zeitgleich mit jenem thematisch vollkommen anders gelagerten Werk für Kinder heraus, das zu seinem größten Bucherfolg nach Emil und die Detektive avancieren sollte: dem Roman Das doppelte Lottchen. ⁴⁴³ Die Idee für den Plot der Zwillingsgeschichte hatte Kästner schon 1943 in seinem Film-Treatment Das große Geheimnis festgehalten, welches aufgrund des endgültigen Publikationsverbotes, das ihm von den Nationalsozialisten auferlegt wurde, jedoch bis auf Weiteres nicht realisiert werden konnte.⁴⁴⁴ Noch vor der

439 Kästner, Erich an Walter Trier. Brief vom 17. 3.1949 zit. n. Bode (2000), S. 129. 440 Vgl. Hanuschek (2003), S. 361. 441 Siehe Kapitel 4.3.1. 442 Diese Verzögerung hatte vor allem mit den Illustrationen der Konferenz zu tun: Die Anfrage, das Buch zu illustrieren, erreichte Trier mitten in seiner Übersiedlung von London nach Kanada und der Illustrator wollte sich gerade für dieses große Projekt genügend Zeit lassen. Nachdem er schließlich über 100 zum Teil farbige Illustrationen geschaffen hatte, zögerte der Verleger Emil Oprecht wegen der hohen Herstellungskosten den Druck über lange Zeit hinaus. Vgl. Hanuschek (2003), S. 363. 443 Schon im Vorlauf hatte Kästner in einem Brief an Trier Bedenken geäußert, dass die beiden Bücher »sich ein bisschen auf den Zehen herumtreten« könnten. (Kästner, Erich an Walter Trier. Brief vom 4.4.1949 zit. n. ebd., S. 363.) Das doppelte Lottchen erschien letztlich im Oktober 1949, Die Konferenz der Tiere folgte nur zwei Monate später. Zur Förderung des Absatzes brachte Kästner in Fortsetzungen einen Weihnachts-Abdruck des pazifistischen Textes in der Neue[n] Zeitung auf den Weg. Vgl. ebd. 444 Vgl. auch Kapitel 3.1.2. Kästners erste Überlegungen für eine entsprechende Geschichte reichen sogar schon auf das Jahr 1937 zurück: Unter der Überschrift »Zum Verwechseln ähnlich« bot er der US-amerikanischen Filmproduktionsfirma 20th Century Fox ein entsprechendes Exposé an, das er als mögliche Grundlage für einen Doppelrollen-Film mit dem damals neunjährigen HollywoodKinderstar Shirley Temple anpries. Da dieser Vorschlag nicht realisiert wurde, nahm Kästner seine Idee, nachdem die Reichsschrifttumskammer ihm für seine Tätigkeit als Drehbuchautor der UFA eine Sondergenehmigung zur Berufsausübung erteilt hatte (vgl. Kapitel 3.1.2), wieder auf und verlagerte die Handlung in den deutschsprachigen Raum. Zum Weihnachtsfest 1942 schenkte er seiner Mutter den Anfang einer Filmnovelle mit der besagten Zwillingsgeschichte; zu ihrem Geburtstag im Folgejahr erhielt sie das oben genannte Treatment des Films, das der späteren Romanfassung des

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letztgültigen Drehbuchfassung schrieb er ab dem Sommer 1948 eine Romanfassung des Stoffes nieder, nachdem er sich aus der Redaktionstätigkeit für Die Neue Zeitung zurückgezogen hatte. Das doppelte Lottchen erzählt von den Zwillingsschwestern Luise und Lotte, die aufgrund der Scheidung ihrer Eltern kurz nach ihrer Geburt getrennt werden und sich neun Jahre später zufällig in einem Ferienheim wiedersehen. Nachdem sie begriffen haben, dass sie Geschwister sind, gelingt es ihnen, durch einen Rollentausch die entzweiten Eltern wieder zusammenzubringen. Mit den Unterhaltungsromanen, die Kästner in der NS-Zeit verfasste, hat der Plot nicht nur das eingesetzte Verwechslungsmotiv⁴⁴⁵ gemein, sondern ebenso die Tatsache, dass er fast gänzlich ahistorisch angelegt ist. Im Gegensatz zu Kästners frühen Werken Emil und die Detektive und Pünktchen und Anton, deren Handlung, dem Aktualitätsanspruch der Neuen Sachlichkeit entsprechend, unverkennbar im Berlin der Weimarer Republik angesiedelt ist, spiegeln sich im [D]oppelte[n] Lottchen – wie in den meisten Kinderbüchern der unmittelbaren Nachkriegszeit⁴⁴⁶ – weder die (sozial)politischen Verhältnisse des NS-Regimes noch die der Besatzungsjahre wider.⁴⁴⁷ Obgleich nicht in Abrede zu stellen ist, dass Kästner mit der Darstellung des Leids, das eine Trennung der Eltern für Heranwachsende mit sich bringen kann, durchaus ein für die damalige Kinderliteratur innovatives Anliegen vertrat⁴⁴⁸ und Stoffes bereits sehr ähnelt.Vgl. Harbusch, Ute: Zum Verwechseln ähnlich: Lottchen in Film und Buch. In: dies.: Emil, Lottchen und der kleine Mann. Erich Kästners Kinderwelt. (Marbacher Magazin 86/ 1999), S. 45 – 58, hier S. 49 und Hanuschek (2003), S. 357 f. 445 Das besagte Motiv lässt sich in verschiedenen Variationen sowohl in den nach 1933 herausgebrachten Romanen Drei Männer im Schnee, Die verschwundene Miniatur und Georg und die Zwischenfälle als auch in den ebenfalls während der NS-Zeit entstandenen Romanfragmenten Der Zauberlehrling und Die Doppelgänger wiederfinden. 446 Das Prinzip, Kinder- und Jugendliteratur ohne jeglichen Bezug auf die allerjüngste Vergangenheit zu verfassen, war nach dem Ende des NS-Regimes laut Steinlein (2008, S. 316) »weit verbreitet und über seine Anwendung herrschte stillschweigender Konsens. So kreierte man mehrheitlich Kinderfiguren in einer Umgebung, die auf eine falsche, unglaubwürdige und heute mehr denn je verlogen wirkende Weise ›zeitlos‹ war«. Ausnahmen bildeten etwa die Kinderromane Die Aufbaubande (1948) von Walther Pollatschek und Die Trümmerkolonne (1949) von Willi Reschke, die die deutsche Nachkriegsrealität explizit zum Thema machen. 447 Ruth Klüger führte hierzu aus, die Handlung spiele zwar in München und Wien, »aber zu einem unergründlichen Zeitpunkt. Handelt es sich nämlich um die Gegenwart, so müßte es ja Besatzungstruppen geben, und während der zehnjährigen Trennung der Eltern, auf die sich die Geschichte unentwegt bezieht, war vermutlich ein Krieg. Handelt es sich indes um einen ›historischen‹ Roman, also um eine Geschichte, die in den 30er Jahren spielt, dann liegen Krieg und Besatzung noch vor dieser Familie, und das Happy-End wird hinfällig.« Klüger, Ruth: Korrupte Moral: Erich Kästners Kinderbücher. In: dies.: Frauen lesen anders. 2. Auflage. München 1997, S. 63 – 82, hier S. 65. 448 Das Tabu der realitätsnahen Darstellung zerstörter Familien, innerfamiliärer Konflikte sowie alleinerziehender, berufstätiger Eltern wurde erst ab den späten 1960er Jahren mit dem großen Paradigmenwechsel hin zur sogenannten »Zweiten Moderne« der Kinder- und Jugendliteratur

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ihm aufgrund dieser Themenwahl von der konservativen zeitgenössischen Pädagogenwelt manches Mal sogar ein zu großes Maß an Realismus vorgeworfen wurde,⁴⁴⁹ entsprach das Buch in gesellschaftspolitischer Hinsicht, mit den Worten Ruth Klügers, »genau der Vogel-Strauß-Mentalität der 50er Jahre, die sich an nichts erinnern und das Familienleben verkrampft glücklich haben wollte«.⁴⁵⁰ Lediglich ein einziger Kommentar des auktorialen Erzählers lässt sich als zaghafter Hinweis auf die politisch noch längst nicht entspannte Lage nach dem Ende des Krieges lesen. So sinniert dieser nach einem anfänglichen Streit zwischen den Zwillingen: Besaß der Waffenstillstand zwischen den zweien Wert und Dauer? Obwohl er ohne Verhandlungen und Worte geschlossen worden war? Ich möcht’s schon glauben. Aber vom Waffenstillstand zum Frieden ist ein weiter Weg. Auch bei Kindern.⁴⁵¹

Einen vollkommen anderen Eindruck hätte Das doppelte Lottchen mutmaßlich hinterlassen, wenn Kästner dem Roman sein ursprünglich geplantes Vorwort vorangestellt hätte, das deutliche Anleihen an die Trümmerliteratur der frühen Nachkriegsjahre aufweist.⁴⁵² Darin ließ er seinen Erzähler durch eine der vom Luftkrieg hinterlassenen Ruinenlandschaften schlendern. Inmitten der Trümmer trifft dieser auf eine Gruppe (zum Teil kriegsversehrter) Kinder, von denen ihm eines auf Nachfrage erklärt, was sie gerade spielen: Der Bruder ist eben aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Ich spiele die ältere Schwester. Die Eltern sind tot. Luftangriff, verstehen Sie. Nun ist Georg aber wieder da. Drei Jahre lang hatten wir gedacht, er sei vermißt oder erfroren. Oder sonst etwas. Er hat aber bloß Wasser in den Füßen, und zwei Finger sind weg. Da ist er vom Bahnhof zu unserem alten Haus gehumpelt. Aber das Haus war nicht mehr da. Jemand aus der Nachbarschaft hat ihm erzählt,

endgültig gebrochen. (Vgl. dazu etwa Weinkauff und Glasenapp 2010, S. 83 f.) Obwohl sich Kästners Zwillingsroman mit seinem fulminanten ›Happy End‹ weiterhin in der Tradition eines gleichsam idealisierten Kinderalltags bewegt, kann er, was seine Thematisierung der Scheidung und deren Einfluss auf das Wohlbefinden von Kindern angeht, durchaus als Vorläufer der problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur der späten 1960er und 1970er Jahre betrachtet werden. 449 Vgl. dazu Leibinger-Kammüller (1988), S. 111 sowie Kordon (1998), S. 282. 450 Klüger (1997), S. 65 f. Vergleichbar äußerte sich auch Marianne Bäumler, die dem [D]oppelte[n] Lottchen aufgrund seiner Hinwendung zum Familienidyll eine »entpolitisierte Problemverlagerung« attestierte und erklärte, das darin gezeigte Gesellschaftsbild habe »zur Verdrängung des deutschen Faschismus« beigetragen. Bäumler, Marianne: Die aufgeräumte Wirklichkeit des Erich Kästner. Köln 1984, S. 91 u. 99. 451 Kästner, Erich: Das doppelte Lottchen. Ein Roman für Kinder [1949]. In: EKW VIII, S. 161 – 255, hier S. 171. 452 Vgl. dazu auch Pluto-Prondzinski (2016), S. 288.

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wo wir jetzt wohnen. In einem Keller, mit einem Stückchen Haus darüber und einem Schornstein, aus dem es raucht.⁴⁵³

Weitere Spiele aus dem Repertoire der Jungen und Mädchen, von denen der Erzähler erfährt und in denen sich letztlich nichts anderes als authentische Erfahrungen und Erlebnisse des Nachkriegsalltags der deutschen Bevölkerung widerspiegeln, heißen: »Mutter und Kind auf der Flucht«, »Weihnachten in einer Baracke«, »Hungerstreik im Flüchtlingslager« und »Schwarzhändler geben ein Fest«.⁴⁵⁴ Dass das entworfene Vorwort nicht in die publizierte Fassung des Kinderromans aufgenommen wurde, bringt Hanuschek damit in Verbindung, dass es »so düster ausgefallen«⁴⁵⁵ sei; eine diesbezügliche Verlagskorrespondenz existiert nach heutigen Forschungsstand nicht. In der Überschrift des Typoskriptes hatte Kästner vermerkt, dass es sich bei dem »traurige[n] Kapitel[,] das mit den anderen Kapiteln dieses Buches glücklicherweise nur am Rande zu tun« habe, »im Grunde um eine Einleitung« handle, »die allerdings nicht überflüssig« sei.⁴⁵⁶ In der Tat ist zu vermuten, dass sich die Rezeption des Werkes durch den ursprünglich intendierten Kontrast zwischen der realitäts- und zeitnahen Handlung des Vorwortes und der nahezu zeitenthobenen Romanhandlung maßgeblich verändert hätte: Zwar hätte sich die Flucht ins Familienidyll, die Kästner von seinen Kritikern vorgeworfen wurde, nichtsdestotrotz vollzogen. Allerdings wäre sie durch den vorangestellten Paratext, wenigstens implizit, als solche gekennzeichnet worden, wodurch der Roman freilich nicht mehr in Reinkultur jener von Klüger beanstandeten ›VogelStrauß-Mentalität‹ entsprochen hätte. Der fehlende Bezug zu den aktuellen Gegebenheiten, der die letztlich publizierte Fassung des Romans fast durchgängig auszeichnet, lässt sich auch für eine ganze Reihe nachfolgender kinderliterarischer Veröffentlichungen Kästners konstatieren. So machte sich der Schriftsteller in den nächsten Jahren geschäftsträchtiger Weise mehrfach humoristische literarische Stoffe zunutze, die bereits ohne sein eigenes Zutun seit Langem erprobt und ausgefeilt waren:⁴⁵⁷ Schon 1938 hatte er 453 Kästner, Erich: Vorwort zu »Das doppelte Lottchen«. In: Pluto-Prondzinski, Thomas von: »Kein Buch ohne Vorwort«. Erich Kästners Paratexte als Medien eines demokratischen Literaturverständnisses. Marburg 2016 (Erich Kästner Studien, Bd. 4), S. 339 – 340, hier S. 340. 454 Ebd. Dass Kästner plante, seinen Erzähler die Geschichte des [D]oppelte[n] Lottchen[s] an jene Kindergruppe richten zu lassen, lässt sich allenfalls vermuten, denn der wahrscheinlich fragmentarische Text endet ohne Satzschlusszeichen und der ursprünglich angedachte Begleit- und sein Folgetext stehen inhaltlich in keinem intratextuellen Verhältnis. Vgl. dazu Pluto-Prondzinski (2016), S. 151 – 153. 455 Hanuschek (2003), S. 356. 456 Kästner (2016), S. 339. 457 Vgl. Hanuschek (2003), S. 363.

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bei Atrium in der Schweiz eine eigene, kindgemäße Version des Volksbuches Till Eulenspiegel herausgebracht; nach dem Krieg setzte er diese Strategie mit fünf weiteren satirischen »Nacherzählungen« (welt)literarischer Klassiker fort, mit denen er sich vermutlich bereits in den letzten Jahren der NS-Diktatur beschäftigt hatte. So erschienen zwischen 1950 und 1961 Der gestiefelte Kater, Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer zu Wasser und zu Lande, Die Schildbürger, Leben und Taten des scharfsinnigen Ritters Don Quichotte sowie Gullivers Reisen. Zudem veröffentlichte Kästner 1951 eine Übersetzung von J. M. Barries 1904 entstandenem Bühnenstück Peter Pan, or The Boy Who Would Not Grow Up. Das kinderliterarische Erzählen eines nicht-phantastischen Stoffes nahm er erst 1957 in seinem autobiographischen Buch Als ich ein kleiner Junge war ⁴⁵⁸ wieder auf – einem »persönliche[n] Zeitgemälde«,⁴⁵⁹ in dem Kästner auf seine Kindheit in Dresden zurückblickt, die er, symbolträchtig, mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges enden lässt. Drei Jahre nach dieser Veröffentlichung wurde er als dritter Preisträger nach Eleanor Farjeon und Astrid Lindgren mit dem so genannten ›kleinen Nobelpreis‹, der Hans-Christian-Andersen-Medaille, ausgezeichnet und war damit um ein gewichtiges symbolisches Kapital – nämlich um die renommierteste internationale Auszeichnung auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur – reicher.⁴⁶⁰ Seine letzten Neuveröffentlichungen⁴⁶¹ für Kinder, Der kleine Mann und dessen Fortsetzungsband Der kleine Mann und die kleine Miss aus den Jahren 1963 und 1967, lassen sich schließlich wieder dem phantastischen Genre zuordnen: Die Romane erzählen von den Abenteuern des nur fünf Zentimeter großen Artistensohnes Mäxchen Pichelsteiner, der nach dem Tod seiner Eltern von einem Zauberer namens Jokus von Pokus adoptiert wird. Figureninventar und Handlung der beiden Publikationen entsprachen durchaus einem der zentralen zeitgenössischen Trends in der westdeutschen Kinderliteratur. Mit Literaten wie Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende hatte sich ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine junge

458 Von internationalen Verlagen wurden Kästners Kindheitserinnerungen schon vor ihrem Erscheinen neugierig erwartet. So bat etwa Astrid Lindgren, zu jener Zeit Lektorin im schwedischen Verlag Ráben & Sjörgen, Kästner bereits vor der Veröffentlichung des Buches in Deutschland um sein Manuskript. Vgl. Lindgren, Astrid an Erich Kästner. Brief vom 11.10.1957. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 325. 459 Betz (1999), S. 172. 460 Bode (2000, S. 137) vermutet, dass insbesondere Jella Lepman, die von 1956 bis 1970 Mitglied der Andersen-Jury war, die Entscheidung für Kästner vorangetrieben hat. 461 Das zwischenzeitlich veröffentlichte Kinderbuch Das Schwein beim Friseur (1961) umfasst lediglich eine Auswahl an Geschichten und Gedichten, die Kästner bereits vor 1933 in den Kinderbeilagen verschiedener Zeitungen und Zeitschriften publiziert hatte.

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Autorengeneration erfolgreich im Feld positioniert, durch die sich ein neues, phantasiebetontes Profil einer »Literatur der Kindheitsautonomie« herausbildete, das sich dezidiert von einer hierarchisch-autoritären Pädagogik abgrenzte.⁴⁶² Inspiration für diese Entwicklung hatten nicht nur internationale Neuveröffentlichungen wie insbesondere Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf-Reihe (1945 – 1948, dt. 1949 – 1951) geliefert, sondern ebenso Kästners eigene phantastische Kinderbücher wie Der 35. Mai und Die Konferenz der Tiere. ⁴⁶³ Wenngleich sich auch Der kleine Mann und sein Nachfolgeband noch gewinnbringend verkauften und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden,⁴⁶⁴ konnten sie langfristig nicht an den Ruhm der früheren Kästner’schen Werke für Kinder heranreichen – der größte literarische Nachkriegserfolg des Schriftstellers war und blieb Das doppelte Lottchen. ⁴⁶⁵ 3.2.3.2 Die filmischen Adaptionen der Kinder- und Unterhaltungsromane Dass gerade Kästners berühmte Zwillingsgeschichte wie auch Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton und Das fliegende Klassenzimmer bis in die heutige Zeit besonders populär geblieben sind und nach wie vor rege adaptiert werden,⁴⁶⁶ ist nicht allein auf die Romanfassungen der Stoffe zurückzuführen. Eine wichtige Rolle spielte auch die intermediale Vermarktung durch ihren Verfasser. Bereits vor 1933 hatte Kästner seine ersten Kinderbücher zu Theaterstücken umgeschrieben und für Emil und die Detektive darüber hinaus noch die Filmrechte verkauft, die erste

462 Vgl. dazu Steinlein (2008), S. 326 – 333 sowie Weinkauff und Glasenapp (2010), S. 82 u. 110. 463 So weist etwa der Erzählzyklus Die glücklichen Inseln hinter dem Winde (1958) von James Krüss eine bewusste Nähe zu beiden genannten Büchern auf. Krüss, der Kästner explizit als sein Vorbild bezeichnete, war es auch, der in den Jahren 1955 und 1967 erst den 35. Mai und dann Die Konferenz der Tiere für den Hörfunk adaptierte und zudem 1961 eine theatrale Bearbeitung des Romans Emil und die drei Zwillinge verfasste. Zur Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in den 1950er und frühen 1960er Jahren vgl. weiterführend etwa Steinlein (2008), S. 328 – 333 sowie Schikorsky (2012), S. 118 f. und 125 – 127. 464 Der kleine Mann konnte insgesamt 23 Übersetzungen für sich verbuchen, Der kleine Mann und die kleine Miss fand seinen Weg immerhin noch in 14 Sprachen. Vgl. Bode (2000), S. 136. 465 Vgl. Kordon (1998), S. 282. 466 So sind etwa, als deutsche Verfilmungen der letzten Jahrzehnte, Joseph Vilsmaiers Charlie & Louise – Das doppelte Lottchen (1993), Caroline Links Pünktchen und Anton (1998), Franziska Buchs Emil und die Detektive (2001), Tomy Wigands Das fliegende Klassenzimmer (2003) sowie Holger Tappes und Reinhard Klooss’ Animationsfilm Konferenz der Tiere (2010) zu nennen. Einen Überblick über die zahlreichen Verfilmungen der Kästner’schen Stoffe gibt Zonneveld, Johan: Bibliographie Erich Kästner. Bd. III. Sekundärliteratur, Teil II; Filmographie; Dokumente; Korrespondenz. Bielefeld 2011, S. 20 – 38.

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Drehbuchfassung miterarbeitet und die Bearbeitung zum Hörspiel geplant.⁴⁶⁷ Diese Strategie einer »Mehrfachverwertung«⁴⁶⁸ der von ihm erdachten Geschichten, mit der er seine dominierende Position als Kinderbuchautor maßgeblich untermauerte, griff er in der Nachkriegszeit erneut auf. Die wohl wichtigste Rolle spielte dabei der Film. Im Sommer 1950, kaum ein dreiviertel Jahr nach der Publikation seines Lottchen-Romans, verfasste er etwa das Drehbuch für dessen Verfilmung, die – wie es bereits für das in der NS-Zeit entstandene Treatment angedacht gewesen war – unter der Leitung des Münchhausen-Regisseurs Josef von Báky durchgeführt wurde. Schon lange vor der Premiere trieb das Produktionsteam den Presserummel um den Film voran: Die weiblichen Hauptdarstellerinnen wurden über Aufrufe in verschiedenen westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften gesucht⁴⁶⁹ und Journalisten begleiteten sowohl das gemeinsam von Kästner und dem Regisseur durchgeführte Casting der Zwillinge als auch die anschließenden Dreharbeiten, bei denen der Schriftsteller häufig zugegen war.⁴⁷⁰ Durch diese dezidierte Werbung für den Film machte man nicht nur die unter 120 Zwillingspaaren ausgewählten Luise und Lotte-Darstellerinnen Isa und Jutta Günther zu ›Medienstars‹, noch bevor sie auf der Leinwand zu sehen waren. Auch Kästner wurde prestigeträchtiger Weise in sämtlichen Berichterstattungen erwähnt und häufig auch abgebildet. Nach der Uraufführung im Dezember 1950⁴⁷¹ avancierte der Film schließlich endgültig zum »Medienereignis des Jahres«.⁴⁷² In den westdeutschen Kinos rissen die Besucherströme über Wochen nicht ab, Kritiker sprachen vom »herzanrührendste[n] Film seit vielen Jahren«,⁴⁷³ und sogar Merchandising-Produkte wie ein mit Kästner’schem Grußwort versehenes Lottchen-Sammelbilderalbum der MargarineUnion fanden ihren Weg in die Öffentlichkeit. Im Mai 1951 wurden der Schriftsteller

467 Vgl. Anz, Thomas: Nachwort. Erich Kästner zwischen den Medien. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd.V: Trojanische Esel. Theater, Hörspiel, Film. Hg. von Thomas Anz in Zusammenarbeit mit Matthias Springer und Stefan Neuhaus. München/Wien 1998, S. 775 – 788, hier S. 778. Vgl. auch Kapitel 3.1.2. 468 Anz (1998), S. 778. 469 Vgl. [anonym]: Zwillinge können ihr Glück machen! In: Constanze 5 (1950), S. 52 f. 470 Vgl. etwa ebd., vgl. auch [anonym]: Zwillinge gesucht. In: Münchener Illustrierte, 8.7.1950, Hamos: Jutta + Isa = Erich Kästners »Doppeltes Lottchen«. In: Stuttgarter Nachrichten, 27.10.1950 sowie [anonym]: »So was gab es bisher nicht einmal in Hollywood!« In: Die Tat, 5.11.1950. 471 Die oftmals vorzufindende Datierung auf den Januar 1951 bezieht sich auf die bundesdeutsche Premiere des Films; in Österreich war Das doppelte Lottchen jedoch bereits einen Monat früher zu sehen. Vgl. Zonneveld, Johan: Bibliographie Erich Kästner. Bd. I. Primärliteratur und Zeittafel. Bielefeld 2011, S. 738 f. 472 Betz (1999), S. 170. 473 So Hans Hellmuth Kirst im Münchner Merkur vom 24.1.1951 zit. n. Görtz und Sarkowicz (1998), S. 304.

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und von Báky mit dem in jenem Jahr erstmals vergebenen Bundesfilmpreis in den Kategorien »Bestes Drehbuch«, »Beste Regie« und »Bester programmfüllender Spielfilm« ausgezeichnet; vier Monate später zeigte man Das doppelte Lottchen auf der Biennale in Venedig. Kästner stand nicht nur bei der Entgegennahme der entsprechenden Ehrungen vor laufenden Kameras – auch in seinem preisgekrönten Film, der alsbald internationale Remakes nach sich zog,⁴⁷⁴ ist er zu sehen. Direkt am Ende des Vorspanns wird zu einer Nahaufnahme des Schriftstellers übergeblendet, der im weiteren Verlauf als Erzähler durch die Handlung führt.⁴⁷⁵ Wie bereits Sebastian Schmideler erkannte, kommt der Tatsache, dass Kästner nicht nur als Erzählstimme fungiert, sondern sich dem Publikum zu Beginn des Films auch auf der Großleinwand zeigt, durchaus ein symbolischer Charakter zu: Nachdrücklicher ließ sich kaum demonstrieren, dass der Autor, der während der NS-Diktatur über ein Jahrzehnt lang ›versteckt‹ arbeiten musste, nunmehr in die Öffentlichkeit zurückgekehrt war.⁴⁷⁶ Zugleich lässt sich diese Form der Inszenierung als geschickte Positionierungsstrategie innerhalb des kulturellen Feldes begreifen. Immerhin machte Kästner sich durch seinen Filmauftritt gleichsam selbst zum ›Gesicht‹ der nachkriegsdeutschen Kinderliteratur – eine Taktik, auf die er wenige Jahre später bei der Verfilmung seines [F]liegende[n] Klassenzimmer[s] ein weiteres Mal zurückgriff. Erneut verfasste er hier auf Grundlage seines Kinderromans das Drehbuch und wählte 1954 gemeinsam mit dem Regisseur (nunmehr: Kurt Hoffmann) die jungen Darsteller aus. Diesmal trat er jedoch nicht allein als ›Erzähler‹, sondern, wie schon in der Romanvorlage,⁴⁷⁷ ganz konkret als Autorfigur Kästner auf, die am Anfang des Films auf einer Almwiese sitzend damit beginnt, ein Kinderbuch zu schreiben und das fertige Produkt am Ende des Filmhandlung einer der von ihr erdachten Figuren – dem Internatsschüler Johnny Trotz – übergibt.⁴⁷⁸

474 Allein zu Kästners Lebzeiten wurden eine japanische, eine britische und eine amerikanische Version des [D]oppelte[n] Lottchen[s] gedreht: Hibari no komori-uta (1952), Twice Upon a Time (1953) und The Parent Trap (1960/61). Vgl. Tornow, Ingo: Erich Kästner und der Film. München 1998, S. 68 f. 475 Siehe Das doppelte Lottchen. Nach dem gleichnamigen Kinderbuch. Regie: Josef von Báky. Drehbuch: Erich Kästner. Carlton-Film (Günther Stapenhorst), BRD 1950. 476 Vgl. Schmideler, Sebastian: Ein Markenzeichen der Demokratie – Erich Kästner in den fünfziger Jahren. In: Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek (kjl&m) 3 (2013), S. 67– 71, hier S. 67. 477 Vgl. Kästner, Erich: Das fliegende Klassenzimmer. Ein Roman für Kinder [1933]. In: EKW VIII, S. 41 – 159, hier S. 43 – 51 u. 156 – 159. 478 Siehe Das fliegende Klassenzimmer. Nach dem gleichnamigen Kinderbuch. Regie: Kurt Hoffmann. Drehbuch: Erich Kästner. Carlton-Film (Günther Stapenhorst), BRD 1954. Die Rolle des Erzählers übernahm Kästner im Jahr 1963 noch ein weiteres Mal in Kurt Vethakes Hörspielbearbeitung des Romans Pünktchen und Anton.

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Auch Das fliegende Klassenzimmer entwickelte sich zu einem der populärsten deutschen Kinderfilme der Nachkriegszeit; selbiges gilt für das im gleichen Jahr uraufgeführte Remake des bereits 1931 erstmals verfilmten Kästner-Romans Emil und die Detektive ⁴⁷⁹ und die ein Jahr zuvor in den Kinos angelaufene Pünktchen und Anton-Verfilmung.⁴⁸⁰ Die beiden letztgenannten Produktionen waren zwar ohne das unmittelbare Zutun des Schriftstellers entstanden,⁴⁸¹ trugen jedoch, ebenso wie zahlreiche vorangegangene und noch folgende Bühnenadaptionen und Hörspielbearbeitungen seiner kinderliterarischen Werke,⁴⁸² maßgeblich dazu bei, sein symbolisches Kapital zu mehren. Den Weg auf die Kinoleinwände fanden in den 1950er Jahren allerdings nicht allein Kästners Bücher für Kinder: Auch seine während der NS-Zeit entstandenen Unterhaltungsromane für Erwachsene wurden auf Basis von ihm verfasster Drehbücher verfilmt. Während Die verschwundene Miniatur ⁴⁸³ unter der Regie von CarlHeinz Schroth aus dem Jahr 1954 keine großen Erfolge für sich verbuchen konnte,⁴⁸⁴ wurden die Filme Drei Männer im Schnee (1955)⁴⁸⁵ und Salzburger Geschichten (1956),⁴⁸⁶ bei denen erneut Kurt Hoffmann Regie führte, zu erklärten ›Publikums-

479 Siehe Emil und die Detektive. Nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner und einem Entwurf von Billy Wilder. Regie und Drehbuch: Robert A. Stemmle. Berilona-Film GmbH, BRD 1954. 480 Siehe Pünktchen und Anton. Nach dem gleichnamigen Roman und Theaterstück von Erich Kästner. Regie: Thomas Engel. Drehbuch: Maria von der Osten-Sacken und Thomas Engel. RhombusFilm GmbH, Ring-Film, BRD/ Österreich 1953. 481 Emil-Regisseur Robert A. Stemmle orientierte sich in weiten Teilen an Billy Wilders Drehbuch der ersten Verfilmung des Stoffes aus dem Jahr 1931. Für den Pünktchen und Anton-Film hatte Kästner eine anfängliche Fassung des Drehbuchs selbst geschrieben, die der Regisseur Thomas Engel jedoch nicht nutzte. Das von ihm und Maria von der Osten-Sacken verfasste neue Drehbuch entfernte sich zum Missfallen Kästners in einigen Handlungssträngen sehr weit von dessen Romanvorlage. Dass sich der Autor keineswegs positiv über den Film äußerte, tat dem Erfolg beim Publikum allerdings keinen Abbruch. Vgl. Tornow (1998), S. 36 und 42 f., vgl. auch Kästner, Erich an Bruno E. Werner. Brief vom 13.10.1953. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 217 f. 482 Einen umfassenden Überblick gibt Band III der Bibliographie von Zonneveld (2011). 483 Siehe Die verschwundene Miniatur. Nach dem gleichnamigen Roman. Regie: Carl-Heinz Schroth. Drehbuch: Erich Kästner. Carlton-Film (Günther Stapenhorst), BRD 1954. 484 Vgl. Hanuschek (2003), S. 384. Wie ebd. ausgeführt, gab Kästner nachträglich dem Regisseur die Schuld am Misslingen des Filmes. 485 Siehe Drei Männer im Schnee. Nach dem gleichnamigen Roman. Regie: Kurt Hoffmann. Drehbuch: Erich Kästner. Ring-Film, Österreich 1955. 486 Siehe Salzburger Geschichten. Regie: Kurt Hoffmann. Drehbuch: Erich Kästner. Georg Witt-Film GmbH, BRD 1956. Bei dem Spielfilm handelt es sich um ein Remake des bereits 1943 unter dem Titel Der kleine Grenzverkehr verfilmten Kästner-Romans Georg und die Zwischenfälle von 1938. Für die Fassung von 1943 hatte der Schriftsteller das Drehbuch noch unter seinem Münchhausen-Pseudonym Berthold Bürger verfasst. Vgl. auch Kapitel 3.1.2.

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lieblingen‹.⁴⁸⁷ Einen vergleichbaren Stellenwert nahm im Übrigen auch der Münchhausen-Film von 1943⁴⁸⁸ ein, der in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig zu Silvester oder Neujahr im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt und in der Presse – anders als in der NS-Zeit – dezidiert mit Kästners Namen beworben wurde. Betrachtet man die zeitgenössischen Ankündigungen des Films, die dessen Entstehungsgeschichte⁴⁸⁹ miterwähnen, dann fällt auf, wie sehr sich die Verfasser bemühten, keinerlei Zweifel an der politischen Integrität Kästners oder der des Filmunternehmens aufkommen zu lassen. So berichtete etwa Monica Maurer im Münchner Merkur vom 31. Dezember 1969, die UFA habe sich anlässlich ihres Jubiläums im Jahr 1943 entschlossen, »allerhöchste Ungnade zu riskieren«,⁴⁹⁰ indem sie Kästner beschäftigte. »Als dann der Film ein riesiger Erfolg wurde«, habe Kästner »obwohl seine Autorenschaft verschwiegen wurde, den Druck der Reichsschrifttumskammer zu spüren [bekommen]«.⁴⁹¹ Auch habe »Hitler selbst«, als er bei der Sichtung von Probeaufnahmen »begeistert nach dem Autor fragend […] über die Identität desselben aufgeklärt wurde«, zunächst veranlassen wollen, »die Dreharbeiten sofort abzubrechen«, was letztendlich vor allem aus finanziellen Gründen nicht erfolgt sei.⁴⁹² Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass Kästner bei der Ausführung seines Drehbuchauftrags qua offizieller Schreibgenehmigung für die gleichgeschaltete UFA (sprich: für den nationalsozialistischen Kulturbetrieb) tätig gewesen war, fand nicht statt.

487 Insbesondere die mit Paul Dahlke, Günther Lüders und Claus Biederstaedt besetzte Verwechslungskomödie Drei Männer im Schnee, die, ausgehend von Kästners Roman von 1934, während der NS-Zeit bereits mehrmals im Ausland verfilmt worden war (vgl. auch Kapitel 3.1.2), avancierte zum Klassiker, der bis heute regelmäßig um die Weihnachtszeit im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird. 1963 wurde die Reihe Hoffmann’scher Kästner-Verfilmungen noch um die Beziehungskomödie Liebe will gelernt sein ergänzt, die im Gegensatz zu den Filmen aus den 1950er Jahren jedoch nicht zu einem größeren Erfolg geworden ist. Grundlage für Kästners Drehbuchfassung war diesmal das bereits 1943 niedergeschriebene, jedoch erst im September 1949 unter dem Autorenpseudonym Melchior Kurtz am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführte Lustspiel Zu treuen Händen. 488 Siehe Münchhausen. Regie: Josef von Báky. Drehbuch: Berthold Bürger (d. i. Erich Kästner). UFA, Deutschland 1943. 489 Siehe Kapitel 3.1.2. 490 Maurer, Monica: Niemand durfte wissen, wer der Autor war. Das III. zeigt Erich Kästners UFAJubiläumsfilm »Münchhausen«. In: Münchner Merkur, 31.12.1969. Vgl. in diesem Kontext auch Paul, Wolfgang: Vor dem Fernsehschirm: WEST: Münchhausen. In: Tagesspiegel, 8. 2.1966. 491 Maurer (1969). 492 Ebd.

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Eine reine Auftragsarbeit für die Filmbranche nahm Kästner nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz verschiedener Angebote, die er gehabt hätte,⁴⁹³ nur noch ein einziges Mal, im Jahr 1951, an, als er die deutsche Synchronfassung zu Joseph L. Mankiewicz’ siebenfach oscarprämierten Hollywood-Film All about Eve niederschrieb. Obgleich seine Mitarbeit anlässlich des Filmstarts in Westdeutschland in den Medienberichterstattungen explizit hervorgehoben wurde und die Kritik sich durchweg begeistert von seiner pointierten Übersetzung zeigte,⁴⁹⁴ schlug er weitere Angebote, Synchronfassungen zu schreiben, aus, da ihm die langwierige Arbeit missfallen hatte und er sich gänzlich der Vermarktung seiner eigenen Stoffe widmen wollte.⁴⁹⁵ Überblickt man das filmische Œuvre, mit dem Kästner dem (bundes)deutschen Kino- und Fernsehpublikum nach dem Ende der NS-Zeit präsent war, dann kommt man kaum umhin, sich dem Eindruck Ingo Tornows anzuschließen, der festhielt: »Es sind vorzügliche Filme darunter, aber samt und sonders sind sie auch Teil eines harmlos-heiteren, eskapistischen Kinos, das den ›Urlaub von der Geschichte‹ angetreten hat, und diesmal ohne den schweren Druck einer Diktatur.«⁴⁹⁶ Wie dankbar ein großer Teil der Bevölkerung das Angebot, dem Alltag zu entfliehen und sich gänzlich ›unpolitisch‹ unterhalten zu lassen, in den 1950er Jahren entgegennahm, demonstriert der Blick auf die westdeutschen Kritiker- und Zuschauerreaktionen. Beispielsweise charakterisierte die FAZ den Film Drei Männer im Schnee als »ein Lustspiel, das uns not tut [sic] in dieser nur dem brutalen Ernst des Lebens zugewandten deutschen Wunderzeit«.⁴⁹⁷ Und auf die Vorführung des [D]oppelte[n] Lottchens hin erreichten Kästner, neben etlichen begeisterten Kinderbriefen, auch zahlreiche Zuschriften erwachsener Kinobesucher, die stets eine ähnliche Essenz erkennen lassen: Dem Schriftsteller wird dafür gedankt, dass sein Film die Zuschauer »fuer ein paar Stunden aus der haesslichen Gegenwart herausgehoben«⁴⁹⁸ habe. Zeitgenössische Kritik daran, dass »gerade […] der Satiriker, der Zeitkritiker, der unbequeme Mahner eine solch gewichtige Rolle für das unpolitische, ver493 Kästner hätte etwa die Möglichkeit gehabt, die deutschsprachige Synchronfassung für Charlie Chaplins schwarze Komödie Monsieur Verdoux von 1947 und für Stanley Kramers Kammerspiel The Four Poster von 1952 zu verfassen, beides lehnte er ab. Vgl. Hanuschek (2003), S. 377 f. 494 Vgl. Tornow (1998), S. 12. Die Programmheftreihe Illustrierte Film-Bühne druckte Kästners Namen in der Berichterstattung sogar größer als den des Regisseurs. Vgl. ebd. 495 Vgl. ebd. und Hanuschek, S. 377 f. 496 Tornow (1998), S. 121. 497 MS: Von den Geistern des Humors gesegnet. In: FAZ, 6. 8.1955 zit. n. Görtz und Sarkowicz (1998), S. 304 f. 498 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 19.1.1951. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. Archiv. Konvolut: Ordner 8. HS.1998.0003.

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drängungsfreudige Kino der Adenauer-Ära spielt[e]«,⁴⁹⁹ ist dagegen nur vereinzelt vorzufinden. Nennenswert ist in diesem Zusammenhang etwa ein Artikel der BZ am Abend, dessen Verfasser am 8. Dezember 1952 nach der Vorführung des LottchenFilms in der DDR festhielt, Kästner habe sich »eine sanft und kaum merklich getönte rosa Brille« zugelegt und flüchte mit der »heiteren Kinder-Idylle« vor dem Tagesgeschehen.⁵⁰⁰ Daran anknüpfend hinterfragte er, in Anbetracht der politischen Spaltung des Landes, ob »es nicht […] Kinderschicksale [gebe], deren Gestaltung mehr aussagen könnte, als nur Privat-Originelles«.⁵⁰¹ Seine Filmkritik mündete in dem Wunsch, »daß sich der Dichter auch einmal mit einem aktuelleren, tiefergehenden Thema auseinandersetzen möge.«⁵⁰² Eine vergleichbare Stoßrichtung verfolgte in der anderen Hälfte Deutschlands zwei Jahre später auch der Journalist Michael Lentz, der in den Norddeutsche[n] Nachrichten konstatierte: Heute ist es soweit, daß das Publikum wenigstens einmal im Jahr seinen Kästner-Film haben möchte. Kästner-Filme sind die »große Masche« geworden. Genauso wie einmal die Heimatund die Heidefilme und die Militärschwänke, die sicher bald wiederkommen, »große Masche« waren. […] Warum schreibt Kästner nicht einmal ein Drehbuch, dem eine eindeutig sozial- und gesellschaftskritische Idee zugrunde liegt? Es gibt doch so viel »Faules« bei uns, und es gibt so wenige, die in diesem Zusammenhang ihre Meinung sagen, schon gar nicht im Bereich des Films.⁵⁰³

In Anspielung auf das bekannte Gedicht Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?, in dem der Schriftsteller sich 1930 mit Versen wie »Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.«⁵⁰⁴ als politisch-kritischer Autor verortete, endet der Lentz’sche Artikel mit den provokativen Fragen: »Wo bleibt der Kästner, der einmal den ›Fabian‹ schrieb? Wo bleibt das ›Negative‹, Herr Kästner?«⁵⁰⁵ In der Tat sollte das ›Negative‹, ergo die kritische Auseinandersetzung mit (gesellschafts)politischen Problemlagen, innerhalb der Kästner’schen Filmwelt zu Lebzeiten des Schriftstellers nur einmal und erst wesentlich später zum Tragen kommen – nämlich in der Verfilmung der Konferenz der Tiere. ⁵⁰⁶ Zwar hatte 499 Tornow (1998), S. 121. 500 [anonym]: Eine köstliche Zwillingsgeschichte. In: BZ am Abend, 8.12.1952. 501 Ebd. 502 Ebd. 503 Lentz, Michael: …und wo bleibt das Negative, Herr Kästner? In: Norddeutsche Nachrichten, 20./ 21.11.1954. 504 Kästner, Erich: Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner? [1930] In: EKW I, S. 170 f., hier S. 170. 505 Lentz (1954). 506 Siehe Die Konferenz der Tiere. Nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Erich Kästner. Regie und Drehbuch: Curt Linda. Linda-Film-Produktion, BRD 1969. Bearbeitungen des Stoffes zum Hörspiel waren indes schon früher vorgenommen worden: Bereits 1950 hatte sich der Bayerische

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Kästner schon bald nach der Veröffentlichung des Buches die Idee, den Stoff in Form eines Zeichentrickfilms vermarkten zu lassen; die technischen und künstlerischen Voraussetzungen in Deutschland schienen ihm für diesen Zweck jedoch (noch) nicht reif zu sein. Wenngleich sein Illustrator Trier bezweifelte, dass Walt Disney »der Mann [sei], an so eine pazifistische Idee heranzugehen«⁵⁰⁷, konsultierte der Autor den amerikanischen Zeichentrick- und Filmproduzenten, als dieser sich Anfang der 1950er Jahre in München aufhielt, persönlich, um ihm die Adaption seines Werkes anzubieten. »Wie wenig, aber auch warum er nicht wollte«, artikulierte Disney, folgt man Kästners Erinnerung, mit direkten Worten […]. Er stand in seinem Zimmer in den »Vierjahreszeiten«, […] kaute lässig an einem Zahnstocher und erklärte: »No, Eric. No politics and no religion!« Das war deutlich.⁵⁰⁸

Nicht von ungefähr fand sich erst 1969 – nachdem sich sowohl die technischen Möglichkeiten als auch die politische Stimmungslage in der Bundesrepublik maßgeblich weiterentwickelt respektive verändert hatten – in Curt Linda ein Produzent, Regisseur und Drehbuchautor, der sich der Adaption des Werkes annahm und damit zugleich eine cineastische Pionierleistung vollbrachte: Seine Konferenz der Tiere wurde zum ersten abendfüllenden westdeutschen Trickfilm in Farbe.⁵⁰⁹ Weitere Kinderbücher politisch-kritischer Ausrichtung oder Drehbuchadaptionen seiner entsprechenden Werke für Erwachsene verfasste Kästner dagegen zeitlebens nicht: Er nutzte weder das Potential, das eine Verfilmung des Fabian in dieser Hinsicht geboten hätte,⁵¹⁰ noch partizipierte er mit literarischen Werken an der um 1960 beginnenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Kinder- und Jugendliteratur.⁵¹¹ Folglich bleibt festzuhalten, dass der Schriftsteller ausgerechnet die künstlerischen Produkte, die ihm innerhalb seiner Positionen im kulturellen Feld langfristig das meiste kulturelle, symbolische und nicht zuletzt

Rundfunk des Kinderbuches angenommen; 1967 adaptierte James Krüss den Stoff für den Hörfunk aufs Neue. 507 Trier, Walter an Erich Kästner. Brief vom 12.1.1950 zit. n. Hanuschek (2003), S. 363. 508 Kästner, Erich: Affen führen keine Kriege. In: Abendzeitung, 24.12.1969. 509 Vgl. Tornow (1998), S. 71. 510 Um 1970 aufkommende Bestrebungen, den Roman in einer in die Gegenwart verlagerten Fassung zu verfilmen, lehnte Kästner ab. Erst 1980, also sechs Jahre nach dem Tod des Autors, wurde Fabian schließlich von Wolfgang Gremm zum ersten Mal verfilmt – allerdings, wie Tornow zu Recht anmerkt, unter maßgeblicher »Verdünnung des zeitkritischen Gehalts«. Tornow (1998), S. 76 u. 81. Letzteres gilt im Übrigen auch für die unlängst erschienene Neuverfilmung Fabian oder Der Gang vor die Hunde (2021) von Dominik Graf, die den Schwerpunkt vor allem auf die Ausschmückung der (kurzen) Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten und Cornelia Battenberg legt. 511 Vgl. dazu weiterführend Steinlein (2008), S. 335 – 339.

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ökonomische⁵¹² Kapital einbrachten, mit Ausnahme der Konferenz der Tiere nicht zum ›Sprachrohr‹ seiner politischen Positionierungen machte: Der ›Kinderbuchund-Film-Kästner‹, als der er der breiten Öffentlichkeit primär in Erinnerung geblieben ist, ist ein (nahezu) unpolitischer. Ob und inwiefern Kästner die Bekanntheit, die ihm als Kinderliterat zuteilwurde, zu Lebzeiten nichtsdestotrotz für seine politischen Stellungnahmen zu nutzen vermochte, soll im späteren Verlauf der Untersuchung überprüft werden.

3.2.4 Kästners Publikationen für Erwachsene Verglichen mit seiner Nachkriegskarriere als Schriftsteller für Kinder lässt sich die Reetablierung des ›Erwachsenenliteraten‹ Kästner nach 1945 nicht als ungebrochene Erfolgsgeschichte nachzeichnen. Wie bereits Stefan Neuhaus nachwies, findet »der Kästner der Nachkriegszeit« in literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen des zwanzigsten Jahrhunderts, anders als mit seinem Werk der Weimarer Republik, »in der Regel keine Erwähnung«.⁵¹³ Um besagte Entwicklung begreiflich zu machen, werden im Folgenden zunächst die verschiedenen Kästner’schen Veröffentlichungen vorgestellt, die sich in den späten 1940er bis 1960er Jahren gezielt an ein erwachsenes Publikum richteten. Im weiteren Verlauf des Kapitels soll darüber hinaus aufgezeigt werden, inwiefern sowohl das Scheitern seines Projekts, einen ›großen Roman‹ über das ›Dritte Reich‹ zu verfassen, als auch die strukturellen Veränderungen und Konkurrenzkämpfe innerhalb des literarischen Feldes der jungen Bundesrepublik zu einem langfristigen Verlust der dominierenden Position Kästners als Autor für Erwachsene beigetragen haben. 3.2.4.1 Kästners Wieder- und Neuveröffentlichungen für Erwachsene Auf publikationsstrategischer Ebene kann eine Parallele zu Kästners Reetablierung als Kinderbuchautor für die unmittelbare Nachkriegszeit zunächst in der Hinsicht gezogen werden, dass der Schriftsteller auch bei seinen Veröffentlichungen für Erwachsene vorerst aus dem Fundus seiner bereits vor 1933 entstandenen Werke schöpfte. Signifikant ist, dass und auf welche Weise er jene – zunächst wohlgemerkt 512 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Kästners Brief an Friedrich Michael, in dem er lakonisch festhält, dass Enderle und er »ohne den Nutzen aus den Kinderbüchern« nicht »so gemütlich mit eigener Wiese, eigenem Garten und eigenem Bach ›vegetieren‹ könnten«. Kästner, Erich an Friedrich Michael. Brief vom 11.6.1970. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 504. 513 Vgl. Neuhaus, Stefan: Kästner und der Kanon. In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 4. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 89 – 101, hier S. 95.

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überaus erfolgreichen – Wiederveröffentlichungen nutzte, um sein symbolisches Kapital als Leidtragender und Gegner des NS-Regimes wie auch als ›innerer Emigrant‹ auszuspielen. Einer näheren Betrachtung wert ist in diesem Zusammenhang bereits seine erste literarische Publikation für Erwachsene nach Kriegsende: Die 1946 erschienene Lyrikanthologie Bei Durchsicht meiner Bücher. Wie der Verfasser selbst im Vorwort des Bandes verdeutlicht, bildet seine Auswahl aus vier Versbänden ⁵¹⁴ gleichsam das politische Pendant zur unpolitischen Lyrische[n] Hausapotheke, die er 1936 in der Schweiz veröffentlichte. Enthielt letztere laut Kästner »Gedichte, die sich mit den privaten Gefühlen des heutigen Großstadtmenschen beschäftigen«, so versammelte die ein Jahr nach Kriegsende erschienene Anthologie, »im Gegensatz dazu, Gedichte vorwiegend sozialen, politischen, gesellschaftskritischen Charakters.«⁵¹⁵ Nicht von ungefähr platzierte der Autor darin ebenjene lyrischen Arbeiten, an denen die Nationalsozialisten schon vor ihrer Machtübernahme besonders großen Anstoß genommen hatten. Unter anderem fanden in der Sammlung die antimilitaristischen ›Skandal-Gedichte‹ Die andre Möglichkeit, Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? und Stimmen aus dem Massengrab ihren erneuten Abdruck. Doch auch Das Führerproblem, genetisch betrachtet, Ganz rechts zu singen und Marschliedchen, in denen Kästner Hitler und seine Partei unmittelbar angegriffen hatte, wurden den Lesern nun erneut zugänglich gemacht. Bereits die Textauswahl als solche festigte Kästners symbolisches Kapital nach 1945 folglich insofern, als sie seine frühe Kriegsgegnerschaft und antifaschistische Haltung belegte. Er begnügte sich jedoch nicht damit, seine alten Gedichte ›für sich sprechen‹ zu lassen, sondern setzte auch das Vorwort des Bandes dezidiert dazu ein, den öffentlichen Blick auf seine Person und sein Verhältnis zum NS-Regime zu lenken. Direkt zu Beginn des Paratextes kommt Kästner auf die Verbrennung seiner Bücher auf dem Berliner Opernplatz im Mai 1933 zu sprechen. Seine tiefe Abneigung gegenüber den Nationalsozialisten verdeutlicht bereits seine Wortwahl: Die Studenten, die der Bücherverbrennung in SA-Uniform beiwohnten, charakterisiert er höhnisch als »Blüten der Nation« und Goebbels’ Reden als »schmalzige Tiraden« eines »kleinen abgefeimten Lügners«.⁵¹⁶ Auch daran, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte, lässt Kästner nicht den geringsten Zweifel aufkommen – unterstreicht er doch metaphorisch, dass die Etablierung der Diktatur nichts an-

514 Als Einzelausgaben wurden die Gedichtbände aus den Jahren vor 1933 erst wesentlich später wieder im deutschsprachigen Raum neu aufgelegt: Den Anfang machte der Atrium-Verlag 1959 mit der Wiederveröffentlichung von Herz auf Taille, 1960 folgte Ein Mann gibt Auskunft, 1961 Gesang zwischen den Stühlen und 1963 schließlich Lärm im Spiegel. 515 Kästner, Erich: Vorwort zu Bei Durchsicht meiner Bücher [1946]. In: EKW I, S. 370 f., hier S. 371. 516 Ebd., S. 370.

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deres als den ›Tod‹ seiner schriftstellerischen Karriere bedeutete: Während am Tag des Autodafés »Begräbniswetter über der Stadt«⁵¹⁷ gehangen habe, sei seine Existenz als Literat in den Folgejahren der eines »lebendige[n] Leichnam[s]«⁵¹⁸ gleichgekommen.⁵¹⁹ Im Zusammenhang mit dieser Selbstdarstellung als Opfer des NS-Regimes⁵²⁰ fällt auch ein weiterer Abschnitt des Vorworts ins Auge: Kästner betont, der Bücherverbrennung als einziger der »[v]ierundzwanzig deutsche[n] Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten«,⁵²¹ persönlich beigewohnt zu haben. Zum einen manifestiert sich an dieser Stelle eine Solidarisierung mit anderen von den Nationalsozialisten ›verbrannten Autoren‹, welcher auch dadurch Vorschub geleistet wird, dass Kästner in der 1. Person Plural von »unseren Bücher[n]« spricht, die er »in die zuckenden Flammen fliegen [sah]«.⁵²² Zum anderen akzentuiert er, was ihn von Literaten wie Kurt Tucholsky, Alfred Kerr, Heinrich und Thomas Mann oder Bertolt Brecht abhob – seine Rolle als Augenzeuge und wacher Beobachter der NS-Diktatur, mit der er nach Kriegsende ein ums andere Mal rechtfertigte, warum er nach 1933 nicht ins Exil gegangen war.⁵²³ Zusätzliche Anerkennung für seinen Verbleib im NS-Deutschland nötigt Kästner seinen Lesern im betrachteten Paratext darüber hinaus dadurch ab, dass er sie auf die Gefahr aufmerksam macht, der er sich allein schon durch die bloße Beobachtung der Bücherverbrennung aussetzte. So schildert er, wie eine junge Frau ihn während des Autodafés in der Menschenmenge entdeckt und »Dort steht ja Kästner!«⁵²⁴ geschrien habe. Dass daraufhin »nichts« geschah, weist er als bloßen Zufall aus, indem er zynisch untertreibend betont, dass in diesen Tagen eigentlich »gerade sehr viel zu ›geschehen‹ pflegte.«⁵²⁵ Neben seinen Positionen als ›innerer Emigrant‹ und Gegner wie Leidtragender des NS-Regimes hebt Kästner in seinem Vorwort aber auch eine weitere Rolle

517 Ebd. 518 Ebd., S. 371. 519 Wie bereits aufgezeigt (vgl. Kapitel 3.1.2), war Kästner freilich keineswegs zwölf Jahre lang ein komplett »verbotener Schriftsteller« gewesen, wie sein Vorwort dies suggeriert. Dass es entgegen seiner Aussagen darüber hinaus nicht der Wirklichkeit entspricht, dass seine Bücher in Deutschland von Beginn der Diktatur an »nie mehr in den Regalen und Schaufenstern der Buchläden zu sehen [waren]« (EKW I, S. 370), wies bereits Barbian (1999, S. 127 f.) nach. 520 Vgl. dazu auch Pluto-Prondzinski (2016), S. 222. 521 EKW I, 370. 522 Ebd. Hervorhebung d. Verf. Vgl. auch Pluto-Prondzinski (2016), S. 221. 523 Vgl. etwa Kästners Äußerungen in seinem überarbeiteten Kriegstagebuch Notabene 45 (EKW VI, S. 439). 524 EKW I, S. 370. 525 Ebd.

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hervor, die er bereits vor 1933 eingenommen hatte, nämlich die des »junge[n] Mann[es]«, der in seinen Versen »durch Ironie, Kritik, Anklage, Hohn und Gelächter zu warnen versuchte«.⁵²⁶ Dieses Selbstverständnis als politischer Mahner und Warner, das Kästner in der Anthologie seinem Wirken als »Satiriker« zuordnet,⁵²⁷ gleicht durchaus gängigen Zuschreibungen an Intellektuelle.⁵²⁸ Von dem prophetischen Gestus, der ihnen nachgesagt wird, grenzt er sich dagegen nonchalant ab. Er resümiert, es habe zwölf Jahre gedauert, bis das Dritte Reich am Ende war. Zwölf kurze Jahre haben genügt, Deutschland zugrunde zu richten. Und man war kein Prophet, wenn man, in satirischen Strophen, diese und ähnliche Ereignisse voraussagte.⁵²⁹

Wie in der Forschung bereits zu Recht erwähnt worden ist,⁵³⁰ waren die Kästner’schen Texte, die der 1946 publizierte Auswahlband enthält, von einer tatsächlichen ›Voraussage‹ der nationalsozialistischen Herrschaftsdimension allerdings wesentlich weiter entfernt, als der Autor es hier suggeriert. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel des wiederveröffentlichten Marschliedchen[s] aus dem Jahr 1932 verdeutlichen. In dem Gedicht stellt der lyrische Sprecher jegliche politische Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit der NSDAP-Mitglieder gezielt in Abrede. Die Nationalsozialisten direkt adressierend verhöhnt er über sechs Strophen hinweg ihre Affinität zu Militarismus⁵³¹ und Gewalt⁵³² und resümiert anschließend: Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen. Denn ihr seid dumm, und seid nicht auserwählt. Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt: Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!⁵³³

526 Ebd., S. 371. 527 Ebd. 528 Vgl. auch Kapitel 2.1. 529 EKW I, S. 371. Hervorhebung d. Verf. 530 Vgl. dazu Pluto-Prondzinski (2016), S. 223 f. 531 In diesem Zuge nimmt Kästner insbesondere die Aufmärsche der Nationalsozialisten aufs Korn; in der dritten Strophe wirft er ihnen etwa vor, »nur als Parade« zu existieren, und rekapituliert süffisant: »Es heißt ja: Was man nicht im Kopfe hat, / hat man gerechterweise in den Beinen.« Kästner, Erich: Marschliedchen [1932]. In: EKW I, S. 220 f., hier S. 221. 532 Am eindrücklichsten zeigt sich dies in der vierten Strophe, in der Kästner auf die berühmte Hobbes’sche, Formel, der Mensch sei des Menschen Wolf, anspielt: »Ihr liebt den Hass und wollt die Welt dran messen. / Ihr werft dem Tier im Menschen Futter hin, / damit es wächst das Tier tief in euch drin! / Das Tier im Menschen soll den Menschen fressen.« Ebd. 533 Ebd.

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Der in diesem Fall tatsächlich ›prophetisch‹ gefärbte Sprachgestus, mit dem Kästner aufwartet, kann bei näherer Betrachtung nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gedicht durchaus nicht frei von Fehlannahmen über die Adressierten ist. Obschon sich seine frühe Wahrnehmung der Kriegs- und Gewaltbereitschaft der Partei nach deren Machtübernahme als mehr als berechtigt erweisen sollte, ist schwerlich abzustreiten, dass Kästner ihre Mitglieder unterschätzte, als er sie auf die von ihm attestierte »Dummheit«⁵³⁴ reduzierte. Und auch seiner Einordnung des Nationalsozialismus als restaurativer Bewegung hin zur alten Sozialordnung lässt sich rückblickend nicht zustimmen. Im Gegensatz zu zahlreichen nationalistischen Parteien der Weimarer Republik forcierte die NSDAP weder primär »die Uhrenzeiger rückwärts [zu] drehen«, noch sehnte sie sich »heim zur alten Dynastie«,⁵³⁵ wie es im Gedicht heißt. Solche und ähnliche ›Ungenauigkeiten‹ in Kästners Einschätzungen der politischen Lage vor 1933 sollten nach 1945 jedoch weder dem Erfolg seines Gedichtbandes noch der Festigung seines Ansehens einen Abbruch tun. Zeitgenössische Rezensenten lobten die ›Aktualität‹ der (im Durchschnitt immerhin fünfzehn Jahre alten) Texte⁵³⁶ und feierten Kästner – seiner eigener Zurückweisung der Prophetenrolle zum Trotz – dafür, »wie prophetisch [er] gewarnt«⁵³⁷ und wie »unglaublich genau [er] Zeit und Zukunft erkann[t] und kenntlich [gemacht]« habe.⁵³⁸ Die Sammlung Bei Durchsicht meiner Bücher blieb nicht die einzige Publikation, die Kästner 1946 strategisch zur Akkumulation und Festigung seines symbolischen Kapitals nutzte. Hatte er sich bereits bei seiner Schilderung des Abends auf dem Berliner Opernplatz in der Gruppe der von den Nationalsozialisten ›verbrannten Autoren‹ verortet, so setzte er noch im selben Nachkriegsjahr ein nicht minder deutliches Zeichen, indem er bei Rowohlt eine Auswahl von Texten Tucholskys herausgab. Im Nachwort des Bandes Gruß nach vorn ⁵³⁹ würdigt er das Werk und die politisch-moralische Integrität seines Kollegen, der bereits 1935 im Göteborger Exil verstorben war, emphatisch: Tucholsky habe an der Schreibmaschine »Florettstiche […], Säbelhiebe, Faustschläge« gegen die »Männer des Dritten Reiches« und »die Herren der Reichswehr und der Schwerindustrie« ausgeteilt, die schon vor 1933 »recht vernehmlich an Deutschlands Tür [klopften].« ⁵⁴⁰ Er sei zudem bereit ge-

534 Ebd., S. 220. 535 Ebd., S. 221. 536 Vgl. dazu Betz (1999), S. 167. 537 Schulte, Gerd: Erich Kästner. In: Hannoversche Presse, 10.9.1946. 538 Brachvogel, H. H.: Dreimal Erich Kästner. In: Telegraf (Berlin), 25.9.1949. 539 Unter dem Titel Begegnung mit Tucho war der Text bereits am 6. Juni 1946 in der Berliner Zeitung erschienen. Siehe auch Kästner, Erich: Begegnung mit Tucho [1946]. In: EKW VI, S. 597– 599. 540 Ebd., S. 598 f.

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wesen, »dem arbeitendem Volk und dem Sozialismus von Herzen alles hinzugeben, nur eines niemals: die eigene Meinung.«⁵⁴¹ Schon durch diese Würdigung seines Kollegen und die Herausgabe als solche positioniert sich Kästner fernab der Nationalsozialisten, die in Tucholsky gleichsam den Prototypen eines ›zersetzenden, jüdischen Intellektuellen‹ gesehen hatten. Außerdem nutzt er das Nachwort dazu, sich selbst gezielt im persönlichen Umfeld des früheren Weltbühnen-Herausgebers zu verorten: Der Paratext erinnert zunächst an die (wenigen) Begegnungen, die Kästner als Mitarbeiter des linksdemokratischen Wochenblattes mit Tucholsky hatte. Anschließend nimmt er auf einen zweiwöchigen Urlaub in Brissago Bezug, den die beiden Literaten 1930 zufällig im selben Hotel verbrachten.⁵⁴² Mit »Tucho«⁵⁴³, wie Kästner ihn – das vertraute Verhältnis unterstreichend – nennt, habe er in der besagten Zeit regelmäßig »über den Parteienwirrwarr, über die wachsende Arbeitslosigkeit, über die düstere Zukunft Europas, über die ›Weltbühne‹ natürlich, über neue Bücher, über seine Reisen«⁵⁴⁴ gesprochen. Gerade durch die Hervorhebung der gemeinsamen politischen Kommunikationsebene ordnete sich Kästner nach dem Kriegsende nachdrücklich an der Seite des frühen Nazigegners und Antimilitaristen ein. Dass es ihm auf diese Weise gelang, das soziale Kapital, das die frühere persönliche Bekanntschaft zu Tucholsky darstellte, in ein symbolisches Kapital zu verwandeln, beweist die zeitgenössische Rezeption der Anthologie: Kästner wurde die Herausgabe nicht allein als »literarisches, politisches, nationales und menschliches Verdienst«⁵⁴⁵ zu Gute gehalten. Er wurde nach dem Erscheinen der Sammlung auch ein ums andere Mal im selben Atemzug wie ›Tucho‹ in der Rolle des warnenden Intellektuellen der frühen 1930er Jahre verortet. »Hätten wir mehr auf unsere politischen Dichter gehört«, konstatierte etwa die Sächsische Zeitung auf Tucholsky wie auf Kästner Bezug nehmend, »dann wäre bestimmt manches Elend abzuwenden gewesen.«⁵⁴⁶ Als dritte nennenswerte Publikation des ersten Nachkriegsjahres, in der Kästner sich auf paratextueller Ebene augenfällig selbst inszenierte und positionierte, ist sein erstmals 1931 veröffentlichter Zeitroman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten zu nennen. Ab 1946 war das Buch in Deutschland wieder lieferbar und

541 Ebd., S. 599. 542 Während Kästner den Urlaub zeitlich in das Jahr 1931 oder 1932 einordnet, fand er realiter im August 1930 statt. Vgl. Hanuscheks Kommentar in Kästner (2003), S. 35. 543 EKW VI, S. 597. 544 Ebd., S. 599. 545 Burgmüller, Herbert: Rückkehr der schönen Literatur. In: Freiheit, 15. 2.1947. 546 Stg.: Majakowskij, Tucholsky, Kästner. Zwei Abende des Kulturbundes. In: Sächsische Zeitung, 16.4.1947.

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wurde von seinem Verfasser um ein Vorwort ergänzt, in dem er, auf die Erstausgabe zurückblickend, postuliert: Der ursprüngliche Titel, den […] der Erstverleger für untragbar hielt, lautete ›Der Gang vor die Hunde‹. Damit sollte, schon auf dem Einband, deutlich werden, daß der Roman einen Zweck verfolgte. Er wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrunde warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten. Er wollte mit angemessenen, und das konnte in diesem Fall nur bedeuten, mit allen Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen. […] Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende seelische Depression, die Sucht sich zu betäuben, die Aktivität bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise.⁵⁴⁷

Dass das Bild des »Abgrunde[s] […], dem sich Deutschland und damit Europa näherten«, auf die NS-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg abhob, wird im weiteren Verlauf des Textes unterstrichen. Denn Kästner hält fest, dass die Mehrheit der Deutschen, anstatt sich der Krise entgegenzustellen, auf »Jahrmarktschreie[r] und Trommle[r]« gehört habe und ihnen »hinein in den Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind«, nachgelaufen sei.⁵⁴⁸ Gewiss finden sich die nachträglich als »Sturmzeichen der Krise«⁵⁴⁹ klassifizierten Momente der Zwischenkriegszeit im Fabian wieder. Und doch geht eine retrospektive Umdeutung

547 Kästner, Erich: Vorwort zur Neuauflage [1946]. In: ders.: Der Gang vor die Hunde. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2013, S. 239 f. Wie Hanuschek im Nachwort der von ihm herausgegebenen Urfassung des Fabian anmerkt, ist der von Kästner genannte Titelvorschlag (im Gegensatz zu Vorschlägen wie Saustall, Jugend im Vacuum oder Sodom & Gomorrha) aus der Zeit selbst nicht belegt. Gleichwohl kann Der Gang vor die Hunde nicht ohne Weiteres als Teil der nachträglichen Selbstinszenierung Kästners bezeichnet werden. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass Dokumente, in denen man diese Titelidee Anfang der 1930er Jahre festgehalten hatte, während des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden, als sowohl das Verlagsarchiv der DVA als auch Kästners Berliner Wohnung zerstört wurden. Vgl. Hanuschek, Sven: Nachwort des Herausgebers. Der Gang vor die Hunde – die Urfassung des Fabian. In: Kästner, Erich: Der Gang vor die Hunde. Hg. von Sven Hanuschek. 5. Auflage. Zürich 2013, S. 275 – 310, hier S. 285. 548 Kästner (2013), S. 240. Anlässlich einer Neuauflage im Jahr 1950 erweiterte und modifizierte Kästner sein Vorwort noch einmal. In dieser späteren Version des Paratextes werden die Nationalsozialisten zudem als »Rattenfänger« bezeichnet. Darüber hinaus wirft der Autor in besagter Auflage bereits einen kritischeren Blick auf die mangelnde Bereitschaft der deutschen Bevölkerung zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. So ist die Rede vom »Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind und uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen.« Kästner, Erich: Vorwort des Verfassers zur Neuauflage dieses Buches [1950]. In: Kästner, Erich: Der Gang vor die Hunde. 5. Auflage. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2013, S. 241 – 243, hier S. 242. 549 Kästner (2013), S. 240.

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vonstatten,⁵⁵⁰ wenn Kästner suggeriert, der Roman habe »mit allen Mitteln« vor der NS-Herrschaft und ihren Folgen gewarnt. Wie bereits dargelegt,⁵⁵¹ positionierte sich der Schriftsteller in seinem Zeitroman realiter weitaus verhaltener gegen die Nationalsozialisten als in einigen seiner lyrischen Texte. Die im Fabian dargestellte Schießerei zwischen einem Kommunisten und einem Nationalsozialisten und die gewalttätigen Ausschreitungen, zu denen es in einem Alptraum des Titelhelden kommt, lassen sich, Hanuschek und Walter folgend, eher als Warnung vor einem Bürgerkrieg, denn als Voraussage eines Weltkrieges deuten.⁵⁵² Von einer »prophetischen Kraft des Romans«⁵⁵³ zu sprechen, wie Beate Pinkerneil dies noch in den 1990er Jahren tut, erscheint vor diesem Hintergrund kaum angemessen – ahnt Kästners Protagonist doch, mit Heinz-Peter Preußer gesprochen, »das Grauen der KZs sowenig wie das Trauma der Luftangriffe; Prophetie ist wirklich nicht sein Genre.«⁵⁵⁴ Erwähnenswert ist, dass der Roman nach seiner Wiederveröffentlichung nicht allein die von Kästner angestoßene Umdeutung erfuhr. Innerhalb des literarischen Feldes fand der Text auch deshalb aufs Neue große Anerkennung, weil er als »Geschichte eines jungen Mannes nach dem Ersten Weltkrieg«⁵⁵⁵ eine zentrale Projektions- und Identifikationsfläche für zahlreiche Leser darstellte. So konstatierte etwa Alfred Andersch im Namen der ›Jungen Generation‹, die sich selbst über ihre Nicht-Verantwortlichkeit für die Etablierung der NS-Diktatur definierte und für einen radikalen politischen und kulturellen Neubeginn eintreten wollte:⁵⁵⁶ Wir haben durchaus Anlaß, uns in diesem Fabian [sic] gespiegelt zu sehen, in seiner Illusionslosigkeit, in seiner Notwendigkeit, zu allem und jedem nein zu sagen, weil alles, was er sieht und erlebt, schmutzig und gemein ist.⁵⁵⁷

550 Vgl. Preußer, Heinz-Peter: Wie baut man sich ein zweites Ich? Erich Kästner als Überlebender des Dritten Reiches und sein Notabene 45. In: Autobiografie und historische Krisenerfahrung. Hg. von Heinz-Peter Preußer und Helmut Schmitz. Heidelberg 2010, S. 81 – 92, hier S. 88. 551 Vgl. Kapitel 3.1.2. 552 Vgl. Hanuschek (2013), S. 293 f. und Walter (1977), S. 254. 553 Pinkerneil (1998), S. 374. 554 Preußer (2010), S. 88. 555 Andersch, Alfred: Fabian wird positiv. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Bd. 8: Essayistische Schriften 1. Hg. von Dieter Lamping. Zürich 2004, S. 43 – 46, hier S. 45. 556 Vgl. Fischer, Torben und Anne-Kathrin Herrmann: »Junge Generation«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 54 – 56, hier S. 54 f. 557 Andersch (2004), S. 45.

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Mit dieser Übertragung überging Andersch freilich, dass Kästner seinen Protagonisten durchaus nicht als Identifikationsfigur angelegt hatte: Fabian ist keineswegs als rebellischer ›Nein-Sager‹ konzipiert, sondern tritt dem Rezipienten vielmehr als passiver Beobachter entgegen, der weit davon entfernt ist, sich mit Nachdruck für seine Überzeugungen einzusetzen. »Ich sehe zu und warte«, lässt Kästner ihn bei einem nächtlichen Spaziergang zu Cornelia Battenberg sagen, »Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.«⁵⁵⁸ Dass der Verfasser dieser passiven Grundhaltung alles andere als affirmativ gegenüberstand, verdeutlicht sich spätestens am Ende der Handlung, als der Titelheld ertrinkt. Die Worte »Lernt schwimmen!«,⁵⁵⁹ die sich in der Überschrift des letzten Kapitels wiederfinden, können in diesem Zusammenhang mit Hanuschek als Distanzierungssignal begriffen werden, als »eine Anweisung, die die Erzählfiktion durchbricht und sich direkt ans Publikum wendet. Fabian ist keine recht lebensfähige Figur, sollte das heißen; macht’s anders, lebt anders als er!«⁵⁶⁰ Dessen ungeachtet trieben die Identifikationsbestrebungen der ›Jungen Generation‹ mit dem Romanhelden und Kästners eigene Umdeutung des Textes hin zur Warnschrift vor dem Nationalsozialismus den erneuten Erfolg des Fabian unbestreitbar voran. Die zeitgenössische Presse präsentierte Auszüge des Buches als »Hauptwerk« eines im NS-Regime »zum Schweigen verurteilt[en]«⁵⁶¹ Literaten und die Nachfrage nach weiteren (Wieder‐)Veröffentlichungen wuchs enorm. Laut einer Umfrage durch Rowohlt war Kästner beispielsweise einer der vom Publikum am häufigsten gewünschten Autoren, deren Werke man in der (damals noch auf Zeitungspapier gedruckten) Reihe »Rowohlts Rotations Romane« lesen wollte.⁵⁶² In Anbetracht des Erfolges der drei bislang betrachteten Publikationen aus dem Jahr 1946 bleibt festzuhalten, dass es Kästner nach Kriegsende zunächst problemlos gelang, als Literat für Erwachsene von sich reden zu machen, ohne bereits durch ein längeres, originär neues literarisches Werk auf den Plan zu treten. Dies sollte sich bis auf Weiteres auch nicht ändern. Mit Der tägliche Kram erschien dreieinhalb Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ein Auswahlband, in dem Kästner verschiedene Arbeiten, die zwischen 1945 und 1948 für Die Schaubude, Die Neue Zeitung und den Pinguin entstanden waren, zusammenstellte. Er selbst wollte das

558 Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten [1931]. In: EKW III, S. 7– 199 hier S. 85. 559 Ebd., S. 195. 560 Hanuschek (2013), S. 292. 561 Theek, Peter: »Verbotene« Bücher: Erich Kästner – Satiriker mit Herz. In: Für Dich (Berlin), 12.10.1947. 562 Vgl. Chv: Erfahrungen mit Ro-Ro-Ro. Der Rowohlt Verlag berichtet. Tausende Leserbriefe wurden ausgewertet. In: Telegraf (Berlin), 25.10.1947.

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Buch von seinen Zeitgenossen als »eine bunte«, aber »keine willkürliche Sammlung« verstanden wissen: Sie könnte, im Abglanz, widerspiegeln, was uns in den drei Jahren nach Deutschlands Zusammenbruch bewegte. Worüber man nachdachte. Worüber man lächelte. Was uns erschütterte. Was uns zerstreute.⁵⁶³

Auf diese Weise hob Kästner zum einen den historisch-dokumentarischen Stellenwert des Bandes hervor; zum anderen untermauerte er erneut seine eigene Position als Beobachter und Kommentator seiner Zeit. Tatsächlich empfanden insbesondere Rezipienten, die sich nach dem Kriegsende außerhalb Deutschlands befunden hatten, seine literarischen und journalistischen Zeitdiagnosen retrospektiv als Möglichkeit, einen verlässlichen Einblick in die innerdeutschen Entwicklungen nach 1945 zu gewinnen. So ließ zum Beispiel die 1949 remigrierte Kadidja Wedekind Kästner nachträglich wissen, dass sie seine Anthologie »verschlungen« habe: »Das ist doch alles die Zeit, in der ich in Amerika war und in der weltwichtige Dinge in Deutschland geschahen.«⁵⁶⁴ Auch von seinen Verkaufszahlen her wurde der Auswahlband zur Zufriedenheit seines Verfassers äußerst positiv aufgenommen. Nachdem er ihn im Herbst 1948 im Rahmen einer Lesung in Zürich vorgestellt hatte, bei der unter anderem Bertolt Brecht und Berthold Viertel zugegen waren, notierte Kästner: »Der ›Tägl. Kram‹ geht sehr gut. Ich muß das ausnützen. Die einmalige Chance, aufzurücken.«⁵⁶⁵ ›Aufzurücken‹ – sprich: eine dominierende Position im literarischen Feld (zurück) zu erlangen – forcierte er in den Folgemonaten nicht zuletzt durch eine Reihe weiterer Lesungen in Deutschland und der Schweiz.⁵⁶⁶ Drei Jahre später griff Kästner schließlich erneut auf das erfolgsträchtige Konzept des Bandes zurück, indem er für die nach dem gleichnamigen Kabarett benannte Anthologie Die kleine Freiheit (die er explizit als Nachfolgeband des Tägliche[n] Kram[s] einordnete)⁵⁶⁷ erneut »Chansons, Gedichte, Szenen, Epigramme, Glossen, Feuilletons und Aufsätze[,] [d]iesmal aus den Jahren 1949 bis 1952«⁵⁶⁸ auswählte. Die kleine Freiheit wies ihren Verfasser nicht nur ein weiteres Mal als vielseitigen Journalisten und Schriftsteller aus. Sie bildete zugleich die wiedererlangte Breite seines Wirkungs563 Kästner, Erich: Kleine Chronologie statt eines Vorworts [1948]. In: EKW II, S. 9 – 14, hier S. 14. 564 Wedekind, Kadidja an Erich Kästner. Brief vom 1.1.1957. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 565 Kästner, Erich an Luiselotte Enderle. Brief vom 3.10.1948 zit. n. Hanuschek (2003), S. 347. 566 Vgl. Hanuschek (2003), S. 347. 567 In seinen Nachträgliche[n] Vorbemerkungen wies Kästner den Tägliche[n] Kram explizit als »Vorgänger« (EKW II, S. 193) der 1952 erschienenen Sammlung aus. 568 Ebd.

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bereichs ab – waren darin doch neben Texten, die der Neue[n] Zeitung, dem Pinguin und den Kabarettprogrammen entstammten, auch Beiträge versammelt, die Kästner für Zeitungen und Zeitschriften wie die Münchener Illustrierte, die Süddeutsche Zeitung, die Abendzeitung und Die Weltwoche verfasst hatte.⁵⁶⁹ Durch seine Nachträgliche[n] Vorbemerkungen und die kurzen Kommentare, die er den einzelnen Texten voranstellte, nahm der Autor eine historische Kontextualisierung der Arbeiten vor, rekapitulierte politische Entwicklungen und verwies erneut auf seine Rolle als kritischer Beobachter.⁵⁷⁰ Solche Erläuterungen und Positionierungen fehlen in den Paratexten der Lyriksammlungen Kurz und bündig und Die 13 Monate, die Kästner in den Jahren 1948 und 1955 herausbrachte, gänzlich. Wie bereits Thomas von Pluto-Prondzinski festhielt, sind es nach dem Krieg zugleich »die einzigen Bücher für Erwachsene«, in denen der Verfasser »im […] Vorwort nicht auf den Nationalsozialismus eingeht.«⁵⁷¹ In seinem Bändchen Kurz und bündig stellte Kästner eine Auswahl von Epigrammen zusammen, die größtenteils im Laufe der NS-Zeit entstanden waren; eine erweiterte Fassung, die einige neuere, zum Teil bereits in der Neue[n] Zeitung abgedruckte, Texte enthielt, erschien 1950. Zwar finden sich in der Sammlung sehr wohl Epigramme, die sich durch konkrete Zeitbezüge auszeichnen.⁵⁷² Das Gros der Texte vermittelt jedoch allgemeine, gleichsam zeitlose An- und Einsichten. Nach eigener Aussage verfolgte Kästner mit der bereits seit März 1943 geplanten Publikation die Absicht, »Epigramme aus zwei Jahrzehnten […] zu bündeln« und »die Leser, wenn nicht gar die Schriftsteller, an eine Kunstform [zu] erinnern, die verschollen ist«.⁵⁷³ Das Interesse an der knappen Gedichtform entsprach ohne Frage seiner Neigung zur Pointe und zur Lakonie;⁵⁷⁴ sein Wunsch zu einer Wiederbelebung der traditionellen epigrammatischen Dichtung beizutragen,⁵⁷⁵ erfüllte sich allerdings nicht:

569 Vgl. Pluto-Prondzinski (2016), S. 231. 570 Vgl. ebd., S. 233. 571 Ebd., S. 291. Die Strategie, seine Paratexte mit der Selbstdarstellung seiner Position im und zum NS-Regime zu verbinden, setzte Kästner auch in seinen Vorworten zu den späten Neuauflagen von Herz auf Taille und Ein Mann gibt Auskunft aus den Jahren 1959 und 1960 und in der englischsprachigen Anthologie Let’s face it aus dem Jahr 1963 fort. Vgl. dazu ebd., S. 265 u. 293 f. 572 Siehe etwa die erstmals 1950 veröffentlichten Epigramme Deutsche Gedenktafel 1938 (EKW I, S. 280), Abendgebet 1943 (EKW I, S. 281) und Deutschland 1948. Adresse an die Großmächte (EKW I, S. 281). 573 Kästner, Erich: Kurz und bündig. Epigramme [1950]. In: EKW I, S. 267– 296, hier S. 270. In diesem Zusammenhang ging Kästner in seinem Vorwort des Bandes, orientiert an Lessing und Martial, auch auf die Poetik des Epigramms ein. Vgl. ebd., S. 269 f. 574 Vgl. Hanuschek (2003), S. 287. 575 So konstatierte Kästner, der Zweck des Buches wäre erreicht, »wenn es das Bedürfnis […], die alten Epigramme wieder zu lesen, und die Lust, neue zu schreiben, [belebte].« EKW I, S. 270.

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Gerade die jüngeren Akteure des literarischen Feldes suchten zu ebenjener Zeit, ganz im Gegenteil, eine eigene, innovative lyrische Sprache, um mit konventionellen Mustern zu brechen.⁵⁷⁶ Mit seinem letzten ›neuen‹ Lyrikband⁵⁷⁷ Die dreizehn Monate, den er 1955 veröffentlichte, legte Kästner schließlich zum ersten und einzigen Mal einen geschlossenen Gedichtzyklus vor. Ab Dezember 1952 hatte er ein Jahr lang alle vier Wochen ein ›Kalendergedicht‹ für die Schweizer Illustrierte Zeitung verfasst, das mit dem Namen des jeweils folgenden Monats betitelt war. Ergänzt um einen weiteren Text über einen dreizehnten »Schaltmonat«,⁵⁷⁸ erschienen die Auftragsarbeiten, die vorab bereits in der Süddeutschen Zeitung nachgedruckt worden waren, 1955 in Buchform. Die Naturgedichte, von denen ihr Verfasser erklärte, sie als »Großstädter für Großstädter«⁵⁷⁹ geschrieben zu haben, können durchaus als »kunstfertige Idyllen«⁵⁸⁰ beschrieben werden. Mit Kästners ›Gebrauchslyrik‹ der Jahre vor 1933 und seinen zeitkritischen Kabaretttexten der unmittelbaren Nachkriegsjahre lassen sie sich inhaltlich jedoch kaum mehr vergleichen.⁵⁸¹ Auch fanden sie in der zeitgenössischen Rezeption und der Forschung niemals die Beachtung, die den früheren Gedichten des Autors zuteilwurde.⁵⁸² Generell stellte das Verfassen von Lyrik nach 1945 nicht länger einen solch eindeutigen Schwerpunkt des Kästner’schen Schaffens dar wie vor der national-

576 Man denke etwa an die Gedichte Ernst Meisters, Christoph Meckels, Günter Grass’, Hans Magnus Enzensbergers oder Ingeborg Bachmanns. Vgl. dazu auch Schnell (2003), S. 152 f. 577 Zu Kästners Lebzeiten folgten, neben der Wiederveröffentlichung seiner ersten vier Lyrikbände, zwar noch verschiedene Auswahlbände; in diesen präsentierte er jedoch erneut größtenteils seine vor 1933 verfassten Gedichte und nach 1945 entstandene Kabaretttexte in neuen Zusammenstellungen. 578 Kästner, Erich: Die dreizehn Monate [1955]. In: EKW I, S. 297– 314, hier S. 313. 579 Ebd., S. 299. 580 Hanuschek (2003), S. 380. 581 Zu diesem Ergebnis kommt auch Leibinger-Kammüller (1988, S. 86), die Die dreizehn Monate und den dort vollzogenen »Rückzug in den Zauber der Natur« aber darüber hinaus als Beleg dafür ansieht, dass Kästner »von der politischen Entwicklung zutiefst enttäuscht und des ewigen Kämpfens, dessen Nutzen er stark anzweifelte, müde geworden« sei (ebd.). Dieses Urteil übergeht freilich, dass der Autor sich in den Folgejahren sehr wohl noch vielfach dezidiert politisch positionierte. Tatsächlich nutzte er in diesen späteren Lebensjahren allerdings nicht länger die Lyrik als Sprachrohr für seine politischen Stellungnahmen. 582 Wie die von Kästner vorgenommene Zusammenstellung seiner Gedichte in den Gesamtausgaben von 1959 und 1969 zu erkennen gibt, wollte auch er selbst die Arbeiten aus seinen Bänden der Weimarer Republik als seine zentrale lyrische Leistung verstanden wissen. Vgl. Hartung, Harald: Der sachliche Romantiker. Erich Kästners Lyrik – wiedergelesen. In: Kästner, Erich: Werke. Gesamtausgabe in neun Bänden. Bd. I: Zeitgenossen, haufenweise. Hg. von Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann. München/Wien 1998, S. 377– 400, hier S. 399.

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sozialistischen Machtübernahme. Ungleich größer waren indes seine Ambitionen, sich in der jungen Bundesrepublik als Dramatiker zu beweisen. Bereits in seinen frühen Berliner Jahren hatte er davon geträumt, in dieser Gattung zu Ruhm zu gelangen; Alfred Andersch gegenüber betonte er 1949, dass ihm »das Schreiben von Theaterstücken seit Anbeginn als reizvollste Aufgabe vorgeschwebt« habe.⁵⁸³ Über seine frühen Bühnenstücke für Kinder hinaus hatte Kästner schon während der NSZeit Lustspiele unter verschiedenen Pseudonymen verfasst.⁵⁸⁴ Ein bis dahin unaufgeführtes ›Schubladenwerk‹ jener Jahre, nämlich die 1943 abgeschlossene Komödie Zu treuen Händen, wurde im Herbst 1949 im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt.⁵⁸⁵ Obwohl die Posse um einen jungen Schriftsteller zwischen zwei Frauen unter dem Autornamen Melchior Kurtz auf die Bühne gebracht wurde, vermutete man, wie zeitgenössische Theaterkritiken belegen, hinter dem unbekannten Verfasser schon bald zu Recht Kästner.⁵⁸⁶ Das wenig später auch im Hamburger Thalia Theater aufgeführte Lustspiel unter einem Pseudonym veröffentlicht zu haben, begründete der Schriftsteller im Nachhinein damit, dass er »den eigenen Namen für sein eigentliches Theaterdebüt […] aufsparen wollte«⁵⁸⁷ – gemeint war: Die Schule der Diktatoren. Mit der Konzeption dieses Stückes hatte Kästner bereits in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre begonnen, allerdings kämpfte er bis Mitte der 1950er Jahre mit seiner Fertigstellung. Letztlich erschien es 1956 in Buchform bei Atrium und feierte im Folgejahr an den Münchner Kammerspielen Premiere. »[W]ollte man es etikettieren,« sei es, Kästners Angaben nach, »eine Haupt- und Staatsaktion. Eine blutig burleske Diktatur wird durch eine tugendhafte Rebellion beseitigt. Dann wird der Rebell ermordet, und die nächste Diktatur etabliert sich.«⁵⁸⁸ Zwar war das im späteren Verlauf der Untersuchung näher zu betrachtende Bühnenwerk definitiv kein solcher Misserfolg, wie die Forschung über

583 Siehe etwa Kästner, Erich an Alfred Andersch. Brief vom 3. 5.1949. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 139 f., hier S. 139. 584 Vgl. auch Kapitel 3.1.2. 585 Vgl. Hanuschek (2003), S. 341. 586 Vgl. etwa Jacobi, Johannes: Alles um Liebe. Unbekannter Lustspiel-Dichter. In: Die Zeit, 29.10. 1949 sowie Frisé, Adolf: Alle Pointen im dritten Akt. Hamburger Erstaufführung von Melchior Kurtz’ »Zu treuen Händen« im Thalia-Theater. In: Hamburger Allgemeine Zeitung, 1.10.1949. 587 EKW V, S. 812. Wie sich mit Hanuschek (2003, S. 282) hervorheben lässt, vermag diese Erklärung angesichts der bereits zuvor unter Kästners Namen aufgeführten (Kinder‐)Theaterstücke zwar nicht recht zu überzeugen. Sie demonstriert jedoch, mit welch hohen Erwartungen der Schriftsteller Die Schule der Diktatoren befrachtete. 588 So Kästner in der Buchausgabe des Stückes. Siehe Kästner, Erich: Die Schule der Diktatoren. Eine Komödie [1956]. In: EKW V, S. 459 – 539, hier S. 461.

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lange Zeit suggerierte;⁵⁸⁹ zu einem späten Durchbruch als Dramatiker verhalf es Kästner allerdings ebenso wenig. Anders als in der Schule der Diktatoren, die – den Ambitionen ihres Verfassers nach – nicht ausschließlich als Kommentar zum nationalsozialistischen Regime fungieren, sondern das Wesen von Diktaturen als solchen erfassen sollte,⁵⁹⁰ stellte Kästner mit seinem überarbeiteten Kriegstagebuch Notabene 45 einen expliziten autobiographischen Bezug zur NS-Zeit (oder vielmehr deren Ende) her. Als Grundlage des 1961 publizierten Textes, der im selben Jahr in Auszügen in der Zeit vorveröffentlicht worden war, nutzte er seine Tagebuchnotizen aus dem letzten Kriegsjahr. Das Original-Tagebuch, das Kästner nach dem Krieg als »blaues Buch« oder auch »Blaubuch« zu betiteln pflegte,⁵⁹¹ war von ihm nicht von Anfang an zur Veröffentlichung vorgesehen gewesen. Stattdessen sollte es eigentlich als Stoffsammlung für eine literarische Verarbeitung des ›Dritten Reichs‹ dienen. Obgleich seine ursprünglichen Einträge verschiedene Stadien der NS-Herrschaft und des Krieges zwischen 1941 und 1945 akzentuierten,⁵⁹² bezog er in seine Publikation lediglich jene Notizen ein, die zwischen dem 7. Februar und dem 2. August 1945 entstanden waren. Diese ergänzte Kästner um eine Chronik der politischen Ereignisse, ein Vorwort und ein Postskriptum. In seinen Vorbemerkungen legt er den Rezipienten sein Vorgehen bei der Aufbereitung des Textes für die Veröffentlichung dar. Seine Aufgabe sei es gewesen, die Original-Notizen behutsam auseinanderzufalten. Ich mußte nicht nur die Stenographie, sondern auch die unsichtbare Schrift leserlich machen. Ich mußte dechiffrieren. Ich mußte das Original angreifen, ohne dessen Authentizität anzutasten. […] Ich habe den Text geändert, doch am Inhalt kein

589 Vgl. weiterführend Kapitel 4.2.4. dieser Studie sowie Zinkernagel, Sarah: »Es gibt chronische Aktualitäten!« Dialektische Konzeptionen in Erich Kästners Theaterstück Die Schule der Diktatoren. In: Kästner im Spiegel. Beiträge der Forschung zum 40. Todestag. Hg. von Sebastian Schmideler und Johan Zonneveld. Marburg 2014 (Erich Kästner Studien, Bd. 3), S. 301 – 329, hier S. 317. 590 Vgl. dazu auch Hanuschek (2003), S. 390 f. 591 Vgl. Kästner, Erich: Notabene 45. Ein Tagebuch [1961]. In: EKW VI, S. 301 – 480, hier S. 303. Die letztgenannte Bezeichnung rekurriert nicht allein auf den farbigen Einband des Blindbandes, den Kästner für die Niederschrift seine Tagebucheinträge und Roman-Ideen nutzte. Wie bereits Ulrich von Bülow ausführte, rückte Kästner sein Werk mit dieser Betitelung »in die Nähe der mit Farben bezeichneten Bücher, die – bekannt sind vor allem die ›Braunbücher‹ über das Dritte Reich – in anklagender Absicht die Wahrheit über einen Staat enthüllen.« (Bülow 2006, S. 298) Im weiteren Verlauf dieser Studie wird das Original-Tagebuch, entsprechend der Titelgebung seiner späteren Veröffentlichungen in den Jahren 2006 und 2018 (vgl. dazu Kapitel 3.1.2), als Das Blaue Buch bezeichnet. 592 Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.2.

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Jota. Deshalb ist das vorliegende Buch, was sonst es auch sein oder nicht sein mag, nach wie vor ein Dokument.⁵⁹³

Wie bereits in Bezug auf mehrere Werke Kästners aufgezeigt, folgte die zeitgenössische Rezeption auch in ihrer Reaktion auf Notabene 45 unkritisch den Äußerungen des Autors und lobte das »penibel authentisch gehaltene Tagebuch«.⁵⁹⁴ Selbst die Kästner-Forschung postulierte über lange Zeit, der Schriftsteller habe bewusst auf die künstlerische Gestaltung seiner Eindrücke verzichtet.⁵⁹⁵ Erst im Jahr 1999 konnte diese Überzeugung mit der Wiederentdeckung des Kästner’schen Originaltagebuchs endgültig revidiert werden. Wie sowohl Hanuschek als auch Ulrich von Bülow anhand ihres Vergleichs des [B]laue[n] Buch[s] mit Notabene 45 nachwiesen, waren bei der Bearbeitung des Textes durchaus massive Eingriffe vorgenommen worden: Kästner hatte allzu Privates oder Nebensächliches gestrichen, Namen von Orten und noch lebenden Personen verändert, den Sprachstil bearbeitet und aus kompositorischen Gründen Textpassagen umgestellt.⁵⁹⁶ Die entscheidendste Veränderung bestand jedoch darin, dass er die fünfzehn Jahre zuvor notierten Fakten vor dem Hintergrund seines inzwischen angereicherten Wissens über die NS-Zeit nachträglich interpretiert und eine Reflexionsebene eingezogen hatte, die in dieser Form im Original-Tagebuch kaum wiederzufinden ist.⁵⁹⁷ So hatte er etwa am 21. April 1945 realiter notiert: Um Leipzig und Dresden wird gleicherweise gekämpft; dort sind’s die Amerikaner, hier die Russen.Vor zehn Tagen schickte Muttchen noch Post ab, und nun? – Bei Berlin sind die Russen in Mahlsdorf, in Buchholz usw., haben ringsherum die Strecken aus der Luft zerstört. Gestern war also Hitlers Geburtstag.⁵⁹⁸

In Notabene 45 heißt es dagegen unter demselben Datum: Die Amerikaner stehen vor Leipzig, die Russen vor Dresden, und Berlin ist isoliert, denn das Eisenbahnnetz wird aus der Luft laufend unterbrochen. Die Panzer vom Typ T 34 halten in Mahlsdorf und Buchholz, und unsere Tischler, Schlosser, Beleuchter und Requisiteure sitzen düster in den Tiroler Schenken. Sie haben Angst um ihre Angehörigen. Die letzte Post, die Mama zum Briefkasten am Neustädter Bahnhof getragen hat, ist vom 11. April datiert. Die

593 EKW VI, S. 304 f. 594 Schönfeld, Sybil Gräfin: Nicht mehr und noch nicht. Erich Kästners Tagebuch aus dem Jahre 0. In: Die Zeit, 23.6.1961. 595 Vgl. etwa Leibinger-Kammüller (1988), S. 142. 596 Vgl. Bülow (2006), S. 306. 597 Vgl. ebd. und Hanuschek (2003), S. 312. 598 Kästner (2006), S. 119.

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letzte Post? Die letzte Post vor Kriegsende. Gestern war Hitlers 56. Geburtstag. Der letzte Geburtstag? Der letzte Geburtstag.⁵⁹⁹

Vergleichbare Beispiele, die belegen, dass Kästner seine ursprünglichen Notizen sowohl stilistisch bearbeitet als auch um zusätzliche Fakten, Bilder und Kommentare ergänzt hat, die ihm ein (Vor‐)Wissen zu attestieren scheinen, über das er so de facto nicht verfügte, lassen sich bei näherer Betrachtung der beiden Texte zuhauf finden.⁶⁰⁰ Signifikante Ausschmückungen betreffen zudem, einmal mehr, die Darstellung seiner eigenen Position als Leidtragender des NS-Regimes. Beispielsweise flocht Kästner Erinnerungen an seine frühen Verhöre durch die Gestapo in seine Publikation ein⁶⁰¹ und ließ die Gefährdung seiner Person während der Filmexpedition nach Mayrhofen noch größer erscheinen, als sie es mutmaßlich war.⁶⁰² Ein besonderes Augenmerk legte er zudem auf die – im Original wesentlich kürzer abgehandelte – Befragung durch die Amerikaner, der er sich nach dem Kriegsende stellen musste.⁶⁰³ Seine Rechtfertigung, Deutschland nach 1933 nicht verlassen zu haben, um Augenzeuge der Geschehnisse zu bleiben, wird in Notabene 45 ebenso reproduziert wie die Betonung seiner politischen ›Unbescholtenheit‹. Diese verbildlichte er etwa, indem er darlegte, dass der amerikanische Leutnant bei der Befragung an ihm »herum[gebohrt]« habe »wie ein Dentist an einem gesunden Zahn. Er suchte eine kariöse Stelle und ärgerte sich, daß er keine fand.«⁶⁰⁴ Kurzum setzte Kästner seine schon bald nach 1945 etablierte und in diesem Kapitel mehrfach nachgewiesene Strategie, seine Publikationen für erwachsene Leser (auch) dafür zu nutzen, ein politisch-moralisch integres Bild seiner eigenen Person zu zeichnen, bis in die 1960er Jahre hinein fort. Und auch zu diesem Zeitpunkt ging sie noch auf, wurde Notabene 45 doch, wie Hanuschek zusammenfasst, »von der zeitgenössischen Kritik als ›prophetisch‹ angenommen […], als Beispiel dafür, was die ›guten Deutschen‹ schon vor Kriegsende haben wissen können.«⁶⁰⁵ Im Laufe der 1960er Jahre ließ Kästners Produktivität als Schriftsteller schließlich, parallel zu seiner gesundheitlichen Verfassung, drastisch nach. An literarischen Texten erschienen, abgesehen von seinen letzten Kinderbüchern und verschiedenen Auswahlbänden aus seinen Werken, noch seine Gesammelten Schriften für Erwachsene (1969) als Ausgabe letzter Hand. Zu jener Zeit galt seine

599 600 601 602 603 604 605

EKW VI, S. 372. Vgl. zu diesem »Schema der Ergänzung« auch Hanuschek (2003), S. 314 f. Vgl. EKW VI, S. 416 f. Vgl. dazu Hanuschek (2003), S. 316 f. Siehe EKW VI, S. 438 – 441 und Kästner (2006), S. 152 f. EKW VI, S. 439. Im [B]laue[n] Buch ist diese Aussage nicht vorzufinden. Hanuschek (2003), S. 312.

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hauptsächliche Betätigung als Literat ansonsten bereits dem Verfassen von Vorworten für Werke befreundeter Kollegen und für Fotobände über Kinder oder Katzen.⁶⁰⁶ Sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch erschien 1972 und stellt bezeichnenderweise zugleich Kästners letzten Rückgriff auf altes – in diesem Fall aber nicht literarisches, sondern literaturwissenschaftliches – Material dar: Es handelte sich um seine Dissertation Friedrich der Große und die Deutsche Literatur, mit der er 1925 promoviert worden war. 3.2.4.2 Ein gescheitertes Projekt: Der ›große Roman‹ über das ›Dritte Reich‹ Könnte man den Erfolg eines Schriftstellers allein an den öffentlichen Ehrungen ablesen, die ihm zuteilwerden, dann müsste man zu dem Ergebnis gelangen, dass Kästner etwa zu jener Zeit, als er sein überarbeitetes Kriegstagebuch veröffentlichte, auf dem Zenit seiner literarischen Karriere angekommen war: In den Vorjahren war er sowohl mit dem Literaturpreis der Stadt München (1956) und dem renommierten Georg-Büchner-Preis (1957) als auch mit dem Großen Bundesverdienstkreuz (1959) und der Hans-Christian-Andersen-Medaille (1960) ausgezeichnet worden.⁶⁰⁷ Ab 1964 war eine vom Goethe-Institut in München konzipierte Wanderausstellung über sein Leben und Werk in der Bundesrepublik, den skandinavischen Ländern, in Großbritannien und in Japan zu sehen.⁶⁰⁸ Sogar für den Erhalt des Literaturnobelpreises wurde Kästner, zeitgenössischen Feuilletonberichten zufolge, in den frühen 1960er Jahren mehrmals vorgeschlagen. Doch obwohl diese Vorschläge von vielen Seiten begrüßt,⁶⁰⁹ wenn nicht gar vehement unterstützt wurden,⁶¹⁰ meldeten sich innerhalb der Feuilletonlandschaft auch kritische Stimmen zu Wort. Diese brachten das grundlegende Problem der letzten Schaffensphase des Schriftstellers unmissverständlich auf den Punkt: »[E]in Stück Literatur von […]

606 Vgl. ebd., S. 423. 607 Der Einschätzung von Drouve (1993, S. 22 f.) zufolge haben vor allem die Verleihung des Büchner-Preises und die zwei Jahre später erfolgende Herausgabe der Gesammelten Schriften Kästners dazu beigetragen, dass allmählich auch die Literaturwissenschaft in Deutschland begann, sich mit dem Autor auseinanderzusetzen, nachdem in den USA bereits 1953 mit Johan Winkelmanns Social Criticism in the Early Works of Erich Kästner eine erste Dissertation über seine vor 1933 entstandenen Gedichte und den Fabian erschienen war. 608 Vgl. etwa Stankiewitz, Wilhelm: Ein lebender Dichter wird schon zur Legende. Goethe-Institut schickt Ausstellung über Erich Kästner ins Ausland. In: Westdeutsche Allgemeine, 4.9.1964. 609 Vgl. etwa Nöhbauer, Hans F.: Wer erhält den begehrten Literaturpreis? Nobel-Rätselraten. In: Abendzeitung, 3.10.1964 und Weyer, Walter: »Negationsrat« mit Herz. Zum Vorschlag, Erich Kästner den Nobelpreis zuzuerkennen. In: Spandauer Volksblatt, 24. 8.1961. 610 Vgl. etwa Leonhardt, Rudolf Walter: Ein deutscher Kandidat für den Nobelpreis. Literarisches Leben oder Literaturbetrieb: es fängt wieder an, sich zu regen. In: Die Zeit, 11.9.1964.

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Weltrang«⁶¹¹ zu schaffen, war ihm nach 1945 nicht mehr geglückt. Zwar wurden seine einzelnen Publikationen nach ihrem Erscheinen durchaus positiv rezensiert. Zu bahnbrechenden Erfolgen, die ihren Eingang in die Literaturgeschichtsschreibung gefunden hätten, avancierten sie allerdings nicht.⁶¹² Auch Kästners Strategie der Wiederveröffentlichung alten Materials wurde mit der Zeit so augenfällig, dass bereits in den 1950er Jahren ein ums andere Mal Kritik daran erhoben wurde, dass er hinsichtlich seiner Publikationen für Erwachsene »vorwiegend vom alten Bestand […] [,] [g]enauer: von der Aufarbeitung seines alten Bestandes«⁶¹³ lebe. Wie Hanuschek nachwies, hatte der Kabarettist Günter Neumann ihm, in Anspielung auf den Titel der Lyrikanthologie Bei Durchsicht meiner Bücher sogar schon 1949 ein neues Werk angedichtet: »Bei nochmaliger Durchsicht meiner Schubladen«.⁶¹⁴ Dem Umstand, dass Kästner nach dem Ende der NS-Diktatur zunächst kein umfangreiches neues literarisches Werk für Erwachsene herausbrachte, wurde nicht von ungefähr große Aufmerksamkeit gewidmet – denn er selbst hatte über mehrere Jahre hinweg gänzlich andere Erwartungen geweckt. Bereits ein Brief, den er 1944 an den Schriftsteller und Verleger Friedrich Michael schrieb, lässt sich als implizite Ankündigung künftiger kritischer Werke über das NS-Regime lesen: Kästner beschreibt darin, dass er während der Bombenangriffe stets eine Mappe mit seinen zuletzt entstandenen Manuskripten bei sich trage, um dann, nahezu verschwörerisch, zu ergänzen: »Die Pläne für die besseren Sachen transportiere ich im Kopf, da trägt sich’s leichter.«⁶¹⁵ Als er ein Jahr nach dem Ende des Krieges in einem Interview von Helmuth Brühl nach seinen schriftstellerischen Plänen für die nahe Zukunft gefragt wurde, verkündete Kästner schließlich, es läge ihm »[b]esonders […] ein großer Roman am Herzen«: Ein »umfangreiches« Werk, »das sich mit den zwölf letzten Jahren befasst«,⁶¹⁶ solle es werden. Auch in zahlreichen persönlichen Begegnungen tat er dieses Vorhaben kund und nutzte es in Verbin-

611 Klein, Otto: Nobelpreis für Erich Kästner. Tagebuchblätter und Weltliteratur / Eine vielleicht ketzerische Bemerkung. In: Das deutsche Wort, 1.9.1961. 612 Vgl. dazu Neuhaus (2004), S. 95. 613 Lentz, Michael: …und wo bleibt das Negative, Her Kästner? In: Norddeutsche Nachrichten, 20./ 21.11.1954. 614 Neumann, Günter zit. n. Hanuschek (2003), S. 341. 615 Kästner, Erich an Friedrich Michael. Weihnachten 1944. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 85. Explizit spricht Kästner ebd. von »zwei Komödien, einem Film, einem halbfertigen Reimepigrammeband [und] einem begonnenen Roman«, die er bei sich gehabt habe. Wie man heute weiß, befand sich auch sein Kriegstagebuch während der Angriffe stets in dieser Mappe.Vgl. Bülow (2006), S. 297. 616 So Kästner im Interview mit Brühl, Helmuth: Ein Gespräch mit Erich Kästner. In: Der Standpunkt: deutsche Zeitschrift für die Gegenwart 5 (1946), S. 17.

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dung mit seiner immer wieder vollzogenen Selbstdarstellung als Augenzeuge des NS-Regimes zugleich als Rechtfertigung dafür, Deutschland nach 1933 nicht verlassen zu haben. So erinnerte sich etwa Peter de Mendelssohn wie folgt an seine erste Begegnung mit Kästner nach dem Krieg zurück: Wir feierten ein Wiedersehen und ich fragte ihn sofort: Erich, wie war denn das nun? Warum bist du eigentlich dageblieben? Hättst doch schließlich rausgehen können, dir diesen ganzen Ärger ersparen können. Sagt er: Ja, ich bin dageblieben, weil ich mir gesagt habe: einer muß das von Anfang bis zum Ende miterleben, und zwar nicht irgendeiner, sondern einer, der es dann nachher auch schildern kann. […] Ich sag, du, das ist überhaupt das Wichtigste, was du als Schriftsteller jetzt machen kannst, du mußt dieses Buch über die 12 Jahre Hitlerdeutschland schreiben. Das kann außer dir niemand, du mußt es machen, versprich mir, daß du das machen wirst.⁶¹⁷

Und Mendelssohn war bei Weitem nicht der Einzige, der nach 1945 in Bezug auf die literarische Verarbeitung der NS-Zeit Großes von Kästner erwartete: Aufgrund seines von ihm selbst immer wieder untermauerten Rufes als ›verbotener Autor‹ des ›Dritten Reichs‹ und Vertreter des ›anderen Deutschlands‹ bekundeten nicht nur zahlreiche Emigranten und Vertreter der ausländischen Presse ihr Interesse an neuen (beziehungsweise potentiell zwischen 1933 und 1945 heimlich verfassten) Kästner’schen Werken.⁶¹⁸ Auch Vertreter der ›Jungen Generation‹ setzten auf ein unmittelbares Anknüpfen des Schriftstellers an seinen literarischen Erfolgskurs der Weimarer Republik. Alfred Andersch ließ seine Begeisterung für Kästners Frühwerk etwa in der Forderung nach »eine[m] neue[n] Fabian« oder zumindest »irgendein[em] neue[n] und runde[n] Werk« des Autors kulminieren – die »auf den Hund gekommene Literatur« in Deutschland brauche, so resümierte der spätere Mitbegründer der Gruppe 47, »ihren Erich Kästner«.⁶¹⁹ Verfolgt man die divergierenden Strategien des Schriftstellers im Umgang mit den an ihn gerichteten Fragen nach baldigen Neuveröffentlichungen, dann wird erahnbar, wie sehr sich Kästner im Laufe der Jahre zunehmend von den in ihn gesetzten – und nicht zuletzt selbst provozierten – Erwartungen unter Druck gesetzt gefühlt haben muss: Unmittelbar nach dem Ende des Krieges war er – insbesondere

617 Mendelssohn, Peter de zit. n. Hanuschek (2003), S. 318. 618 Vgl. etwa Fischel, P. an Erich Kästner. Brief vom 23.11.1946 sowie Steinthal, Herbert an Erich Kästner. Brief vom 13.12.1947. Jeweils: DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Leider ist es der Verfasserin trotz großer Bemühungen nicht gelungen, die aktuellen Urheberrechtsinhaber P. Fischels und Herbert Steinthals ausfindig zu machen. Selbstverständlich werden sämtliche Rechte der Betreffenden respektiert. 619 Andersch, Alfred: Fabian wird positiv. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Bd. 8: Essayistische Schriften 1. Hg. von Dieter Lamping. Zürich 2004, S. 43 – 46, hier S. 46.

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im Kontakt mit Kulturschaffenden, die das ›Dritte Reich‹ nicht ›von innen‹ erlebt hatten – zunächst sichtlich bestrebt, die Gefahren des Schreibens in den Jahren der NS-Diktatur zu verdeutlichen und auf diese Weise die »Sage« der »vollen Schreibtischschubladen […] deutsche[r] Schriftsteller«⁶²⁰ aus dem Weg zu räumen. Während seiner Tätigkeit für Die Neue Zeitung, den Pinguin und Die Schaubude verwies er die Nachfragenden, wie die Betrachtung seiner Briefwechsel belegt, gemeinhin auf einen (nie genauer bestimmten) späteren Zeitpunkt. Zwar verlieh er oftmals dem Wunsch Ausdruck, sich bald ›größeren Arbeiten‹ widmen zu können,⁶²¹ und gab bisweilen auch an, angefangene Romane zu besitzen.⁶²² Er unterstrich dabei aber stets, dass es ihm, vor allem aufgrund seiner journalistischen Verpflichtungen, an Zeit fehle, um (neue) Bücher fertig zu stellen.⁶²³ Die Betonung der politischen Notwendigkeit dieses »Tages-Dienst[es]«⁶²⁴ findet sich auch in seinem Pinguin-Artikel Der tägliche Kram aus dem Jahr 1946 wieder. Darin legt Kästner zunächst dar, dass er nach dem Ende des Krieges neben seinen Kabarett- und Feuilletontexten »noch nicht eine Zeile geschrieben«⁶²⁵ habe, um im Anschluss daran zu postulieren: Davon, daß jetzt die Dichter dicke Kriegsromane schreiben, haben wir nichts. Die Bücher werden in zwei Jahren, falls dann Papier vorhanden ist, gedruckt und gelesen werden, und bis dahin […] kann der Globus samt Europa, in dessen Mitte bekanntlich Deutschland liegt, längst zerplatzt und zu Haschee geworden sein. Wer jetzt beiseite steht, statt zuzupacken, hat offensichtlich stärkere Nerven als ich. Wer jetzt an seine Gesammelten Werke denkt statt ans

620 Kästner, Erich zit. n. Göthberg (1946). 621 Vgl. etwa Kästner, Erich an Max Krell. Brief vom 2. 8.1946 (Durchschlag) und Kästner, Erich an Gunter Groll. Brief vom 9.9.1948 (Durchschlag). Jeweils: DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 622 Vgl. etwa Kästner, Erich an P. Fischel. Brief vom 21.1.1947. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Tatsächlich existierten zwei Romanfragmente – Die Doppelgänger und Der Zauberlehrling – die in den 1930er Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme entstanden waren und auszugsweise erstmals 1958 veröffentlicht wurden. Beide Texte spielen mit dem Motiv des Doppelgängers. Als Romanentwürfe, die das ›Dritte Reich‹ explizit thematisieren, lassen sie sich allerdings nicht lesen, zeichnen sich doch beide, ihren Entstehungsumständen geschuldet, durch ihren Mangel an Gegenwartsbezügen aus.Vgl. dazu Bülow (2006), S. 293 – 269 und Hanuschek (2003), S. 236 f. 623 Vgl. etwa Kästner, Erich an Max Krell. Brief vom 2. 8.1946, Kästner, Erich an P. Fischel. Brief vom 21.1.1947 (Durchschlag) und Kästner, Erich an Johann Hendrik Schouten. Brief vom 14.6.1946 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 624 Kästner, Erich an Pony Bouché. Brief vom 30.10.1946. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 92 – 94, hier S. 94. 625 Kästner, Erich: Der tägliche Kram [Pinguin, Juli 1946]. In: EKW II, S. 80 – 82, hier S. 81.

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tägliche Pensum, soll es mit seinem Gewissen ausmachen. Wer jetzt Luftschlösser baut, statt Schutt wegzuräumen, gehört vom Schicksal übers Knie gelegt.⁶²⁶

Gewiss lässt sich die Textpassage als entschlossenes Plädoyer für das politische Engagement als Aufgabe des Schriftstellers – und damit zugleich als implizite Selbstverortung als Intellektueller – betrachten. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Kästner hier darüber hinaus aus der Not (also der Tatsache, dass er selbst nicht dabei war, einen »dicke[n] Kriegsroma[n]« zu schreiben⁶²⁷) eine Tugend machte, indem er die Priorisierung der literarischen Betätigung gegenüber dem »tägliche[n] Pensum« der journalistisch-politischen Tätigkeit explizit zur Gewissensfrage erklärte. Solche Strategien im Umgang mit der ihm entgegengebrachten Erwartungshaltung erwiesen sich bis in die späten 1940er Jahre hinein durchaus als hilfreich; allerdings ließen sie sich nicht auf unbegrenzte Zeit hin nutzen. Nach der Beendigung seiner Zeitungs- und Kabarettmitarbeit versuchte Kästner zunehmend, jedweden Fragen nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung seines ›großen Romans‹ auszuweichen – sei es in persönlichen Begegnungen,⁶²⁸ sei es in Form der [U]nliterarische[n] Antwort, mit der er seine 1952 veröffentlichte Chanson- und Kurzprosa-Sammlung Die kleine Freiheit enden ließ: »Woran arbeiten Sie?« fragt ihr. »An einem Roman?« An mir. ⁶²⁹

626 Ebd., S. 82. 627 Wie mittlerweile bekannt ist, machte sich Kästner nach Kriegsende durchaus Notizen, die darauf hindeuten, dass er einen Gesellschafts- respektive Sittenroman plante, der ein breites Spektrum von Reaktionen der Deutschen auf das NS-Regime nachzeichnen sollte. Es finden sich in seinem Kriegstagebuch und weiteren Aufzeichnungen aus dem Nachlass Stichworte über mögliche Charaktere und zahlreiche Anekdoten über die NS-Zeit sowie historische Daten und Ereignisse. Wie bereits von Bülow darlegte, folgten die Notizen jedoch keinem stringenten Prinzip; dem Autor gelang es offensichtlich nicht, den Stoff zu seiner Zufriedenheit zu organisieren und das Material zu bewältigen. Zu einem konkreten Manuskript kam es, nach heutigem Forschungsstand, nie.Vgl. dazu Bülow (2006), S. 301 – 304. Siehe auch Kästner (2006), S. 173 – 183 u. 233 – 289. 628 Zum Beispiel erinnerte sich der Schauspieler Ullrich Haupt innerhalb eines Fernsehinterviews im Jahre 1986 daran, dass Kästner eine in den 1950er Jahren stattgefundene Begegnung mit ihm vor dem Hintergrund seiner frühen Versprechungen »offensichtlich sehr peinlich« war: »Ich sagte: ›Sagen Sie mal, Sie erinnern sich doch noch an unsere vielen Gespräche, und da haben Sie doch gesagt, […] dass Sie das Buch dieser Zeit schreiben wollten, den Augenzeugenbericht, den möcht’ ich gern haben.‹ Das war ihm ganz schrecklich, und da sagte er: ›Das ist leider nicht geschrieben worden, und es tut mir furchtbar leid, und ich muß jetzt gehen‹ und weg war er.« Haupt, Ullrich zit. n. Hanuschek (2003), S. 318 f. 629 Kästner, Erich: Eine unliterarische Antwort [1952]. In: EKW II, S. 329.

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Zu Beginn der 1960er Jahre begrub Kästner sein nicht realisiertes Romanprojekt schließlich offiziell: Im Vorwort zu Notabene 45 legte er dar, dass seine TagebuchNotizen ursprünglich als »Zündstoff fürs eigene Gedächtnis«⁶³⁰ gedacht waren und als »Material für ein bengalisches Feuerwerk«⁶³¹ in Romanform dienen sollten. »Ich kapitulierte aus zwei Gründen.« erläuterte er. »Ich merkte, daß ich es nicht konnte. Und ich merkte, daß ich’s nicht wollte. Wer daraus schlösse, ich hätte es nicht gewollt, nur weil ich es nicht konnte, der würde sich’s leichter machen, als ich es mir gemacht habe.«⁶³² Im weiteren Verlauf des Vorworts beließ Kästner es jedoch nicht bei diesem persönlichen Eingeständnis, sondern stellte letzten Endes grundsätzlich in Frage, dass ein solcher Text über die Jahre 1933 bis 1945, wie er ihm ehemals vorgeschwebt hatte, »überhaupt zu schreiben«⁶³³ sei: Das Tausendjährige Reich hat nicht das Zeug zum großen Roman. […] Man kann eine zwölf Jahre lang anschwellende Millionenliste von Opfern und Henkern architektonisch nicht gliedern. Man kann Statistik nicht komponieren. Wer es unternähme, brächte keinen großen Roman zustande, sondern ein unter künstlerischen Gesichtspunkten angeordnetes, also deformiertes blutiges Adreßbuch, voll erfundener Adressen und falscher Namen. Meine Skepsis gilt dem umfassenden Versuch, dem kolossalen Zeitgemälde, nicht dem epischen oder dramatischen Segment, den kleinen Bildern aus dem großen Bild. Sie sind möglich, und es gibt sie. Doch auch hier steht Kunst, die sich breitmacht, dem Ziel im Weg. Das Ziel liegt hinter unserem Rücken, wie Sodom und Gomorrha, als Lots Weib sich umwandte. Wir müssen zurückblicken, ohne zu erstarren. Wir müssen der Vergangenheit ins Gesicht sehen. Es ist ein Medusengesicht, und wir sind ein vergeßliches Volk. Kunst? Medusen schminkt man nicht.⁶³⁴

Kästners Aussagen lassen unvermittelt an den Diskurs um Theodor W. Adornos zehn Jahre zuvor publiziertes Diktum über die künstlerische Darstellbarkeit der NSVerbrechen denken. Doch ebenso wie dem Philosophen für seine (oftmals missverstandene) Aussage, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch,⁶³⁵ nachdrückliche Kritik aus dem literarischen Feld entgegengebracht wurde,⁶³⁶ erfuhr auch Kästner Widerspruch. Obgleich das Gros der zeitgenössischen Feuilletonbesprechungen von Notabene 45 positiv ausfiel und Kästner sogar für seinen

630 Kästner, Erich: Notabene 45. Ein Tagebuch [1961]. In: EKW VI, S. 301 – 480, hier S. 305. 631 Ebd. 632 Ebd. 633 Ebd., S. 305 f. 634 Ebd., S. 306. 635 Vgl. Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Hg. von Petra Kiedaisch. Stuttgart 2012, S. 28 – 49, hier S. 49. 636 Eine repräsentative Auswahl an zeitgenössischen Reaktionen auf Adornos (später revidierte) These offeriert der Sammelband von Kiedaisch (2012).

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»große[n] Verzicht«⁶³⁷ auf den ursprünglich geplanten Roman gelobt wurde, meldeten andere Literaten an der Plausibilität der oben zitierten Behauptungen alsbald Zweifel an. Trotz seiner grundsätzlichen Begeisterung für die Veröffentlichung betonte etwa Hermann Kesten, eine 1933 geführte Diskussion mit Heinrich und Thomas Mann rekapitulierend, dass Kästner irre, wenn er glaube, man könne das ›Dritte Reich‹ nicht literarisch verarbeiten: Jede Epoche der Menschheit, sagte ich damals und wiederhole es heute, war ungeheuerlich und schien aller Beschreibungen zu spotten, durch Romane oder Dramen, durch Tagebücher oder Geschichtsbücher. […] Jedes literarische Werk ist unangemessen seinem Stoff.⁶³⁸

Und auch Peter de Mendelssohn ließ sich durch das Vorwort seines Kollegen nicht von der Unmöglichkeit eines solchen Werkes überzeugen – schrieb er Kästner doch nach der Lektüre des überarbeiteten Tagebuchs, man spüre hinter dem Text »recht haeufig zumindest die Moeglichkeit zu dem grossen Zeitroman, von dem Sie sagen, dass er sich nicht schreiben lasse. Potentiell ist er die ganze Zeit da: Fabian im Dritten Reich.«⁶³⁹ In der Kästner-Forschung wurde schon oftmals der Versuch unternommen, Gründe für die Nicht-Verwirklichung des Romanprojekts ausfindig zu machen: Von Schuldgefühlen und Verdrängung (sowohl der Gräuel der NS-Zeit als auch der eigenen uneingelösten Zielsetzung des Autors) ist dabei besonders häufig die Rede.⁶⁴⁰ Auch das allgemeine Nachlassen der Kästner’schen Arbeits- und Schaffenskraft in den Nachkriegsjahrzehnten wird in diesem Kontext nicht selten thematisiert.⁶⁴¹ Und selbst die These, dass seine künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten einem solchen Projekt schlichtweg nicht gewachsen waren, lässt sich wiederfinden.⁶⁴² Wollte man diese Spekulationen weitertreiben, dann ließe sich ergänzen, dass das Verfassen eines großen Epochenromans insofern eine ›Barriere‹ für Kästner dargestellt haben mag, als es nicht seiner ursprünglichen Profession des neusachlichen Schreibens entsprochen hätte – lag doch seine große Stärke unübersehbar in der unmittelbaren Kommentierung aktueller Ereignisse und Zeit-

637 Buhl, Wolfgang: Erich Kästners großer Verzicht. »Tagebuch 45«, das eigentlich als Notizensammlung für einen Roman dienen sollte. In: Nürnberger Nachrichten, 23./24.9.1961, S. 10. 638 Kesten, Hermann: Das Tagebuch des Erich Kästner. In: Süddeutsche Zeitung, 22./23.7.1961. 639 Mendelssohn, Peter de an Erich Kästner. Brief vom 28. 3.1961. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003 640 Vgl. Kiesel, Helmuth: Erich Kästner. München 1981, S. 52 und Pinkerneil (1998), S. 377. 641 Vgl. Hartung (1998), S. 398 und Schleier, Inge: Botschaften aus dem poetischen Narrenschiff – schwebend: Neue Befunde zur literarischen Standortbestimmung Kästners. In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 4. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 155 – 168, hier S. 167. 642 Vgl. Kurzke (1998), S. 416 f. und Mank (1981), S. 203.

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umstände.⁶⁴³ Auch hätte er für eine verschiedenste Segmente des ›Dritten Reichs‹ ausleuchtende Darstellung nur bis zu einem gewissen Grad aus eigenen Erfahrungen respektive direkter Augenzeugenschaft schöpfen können. Zwar informierte er sich nach 1945 eingehend über jene Dimensionen des Nationalsozialismus, die die »Millionenliste von Opfern« hervorgebracht hatten.⁶⁴⁴ Er hatte sie aber nicht ›am eigenen Leib‹ miterlebt: Kästner war weder an der Front gewesen, noch hatte er unmittelbare Erfahrung mit den Konzentrationslagern machen müssen. Endgültig klären lassen wird sich die Frage, wann und warum genau der Schriftsteller seine Romanpläne letztendlich aufgegeben hat, wohl kaum. Umso mehr verwundert es, dass den Spekulationen über die Gründe für den nicht geschriebenen Roman in der Forschung bis heute wesentlich mehr Raum gegeben wurde, als der Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Kästner’schen Behauptung, der ›große Roman‹ sei überhaupt nicht zu schreiben. Lediglich seine Einschätzung, »eine zwölf Jahre lang anschwellende Millionenliste von Opfern und Henkern« sei künstlerisch nicht zu bewältigen, wurde mehrfach zum Anlass genommen, auf die dokumentarischen Schreibweisen in den 1960er Jahren zu verweisen, die »die Darstellung des zuvor nicht Darstellbaren«⁶⁴⁵ ermöglichten. Leibinger-Kammüller rekurriert in diesem Zusammenhang etwa mit Helmuth Kiesel auf Primo Levis Erinnerungen an Auschwitz (1961) und Christabel Bielenbergs Aufzeichnungen Als ich Deutsche war (1969).⁶⁴⁶ Hinsichtlich prominenter literarischer Verarbeitungen der Verbrechen in den Konzentrationslagern wäre neben Peter Weiss’ Dokumentartheaterstück Die Ermittlung von 1965 beispielsweise auch der bereits 1958 in der DDR erschienene Roman Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz anzuführen. Ob Kästner sich beim Verfassen seines Vorworts tatsächlich so konkret auf die Darstellbarkeit der ›Massenvernichtung‹ bezog, wie diese Überlegungen suggerieren, muss allerdings dahingestellt bleiben.

643 Zum Aktualitätsanspruch als zentraler ästhetischer Dimension der neusachlichen Strömung siehe etwa Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920 – 1933). Köln 2000, S. 138 – 154. 644 Wie Hanuschek (2003, S. 312) ausführt, hatte Kästner nach 1945 »einigermaßen systematisch« Darstellungen des ›Dritten Reichs‹ gelesen. 645 Ebd., S. 320. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Hanuschek Notabene 45 im Vorwort der Neuausgabe des Blauen Buchs »durchaus als Vorläufer« der Dokumentarliteratur der 1960er Jahre bewertet, habe Kästner doch »mit der Veröffentlichung eines Tagebuchs einen höheren Grad von Realismus und Beschreibungsgenauigkeit zu erreichen [beansprucht] als zuvor.« (Hanuschek 2018, S. 38) Anders als jüngere Kollegen wie Peter Weiss oder Heinar Kipphardt habe er der dokumentarischen Ästhetik jedoch »noch nicht so vertraut […], indem er sein vorliegendes (und ja auch von ihm selbst ›hergestelltes‹) Material stark bearbeitet hat.« Ebd., S. 40. 646 Vgl. Leibinger-Kammüller (1988), S. 136 f.

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Erstaunlich ist indes, dass die Beiläufigkeit, mit der der Schriftsteller im Kontrast zu der Idee des »kolossalen Zeitgemälde[s]« die Möglichkeit und Existenz der »kleinen Bilder aus dem großen Bild« einräumte, vonseiten der Forschung bisher übergangen wurde. In der Tat waren 1961 bereits zahlreiche Romane veröffentlicht worden, die keinen »umfassenden Versuch« unternahmen, die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur in all ihren Facetten zu erfassen, sondern ausschnitthafte Blicke generierten. Kästner erwähnt jedoch nicht den außerordentlichen Erfolg, den einzelne dieser Romane hatten. So wurden etwa Billard um halb zehn von Heinrich Böll und Die Blechtrommel von Günter Grass bereits seit ihrem Erscheinen im Jahr 1959 von zahlreichen Kritikern als geglückte (wenn nicht gar wegweisende) literarische Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit gefeiert. Zusammen mit Uwe Johnsons im selben Jahr publizierten Mutmassungen über Jakob erhob die Literaturwissenschaft sie über lange Zeit sogar zum Vehikel eines literarischen »Wendepunkt[es]«.⁶⁴⁷ Durch diese drei Werke, so hieß es, habe der deutsche Roman nicht allein seine weltliterarische Bedeutung wiedererlangt, sondern auch den Anschluss an die Moderne gefunden.⁶⁴⁸ Wenngleich dieser Mythos des ›Romanjahrs 1959‹ mittlerweile zu Recht hinterfragt und – insbesondere in Bezug auf eine vermeintlich gemeinsame Ästhetik der Texte hin – problematisiert worden ist,⁶⁴⁹ kann schwerlich abgestritten werden, dass die Werke von Böll und Grass inhaltlich tatsächlich eine neue Dimension innerhalb der literarischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit eröffneten: Im Gegensatz zu zahlreichen zuvor erschienenen Romanen, die sich primär auf die Verarbeitung des militärischen Geschehens oder auf die Darstellung von Zeitschicksalen im Krieg konzentrierten,⁶⁵⁰ unternahmen sie den Schritt, die Alltäg-

647 Mayer, Hans zit. n. Knapp, Ursula: Der Roman der fünfziger Jahre. Zur Entwicklung der Romanästhetik in Westdeutschland. Würzburg 2002, S. 7. 648 Vgl. ebd. 649 Vgl. dazu ebd., S. 7 f., vgl. auch Lorenz, Matthias N. und Maurizio Pirro: Einleitung. Wendejahr 1959? Eine deutsch-italienische Arbeitsgemeinschaft zu Kontinuitäten und Brüchen in der deutschsprachigen Literatur der 50er Jahre. In: Wendejahr 1959. Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen. Hg. von Matthias N. Lorenz und Maurizio Pirro. Bielefeld 2011, S. 9 – 20, hier S. 10. 650 Man denke etwa an die Romane Gerd Ledigs oder die Berichte Hans Erich Nossacks, die den Luftkrieg respektive das Leben in den zerbombten Städten thematisierten, oder die frühen Erzählungen und Romane Heinrich Bölls oder Hans Werner Richters, die sich typischen Zeitschicksalen in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit zuwandten. Als Beispiele für berühmte, außerhalb der westlichen Besatzungszonen entstandene Romane, die sich der Darstellung des NSRegimes unter verschiedenen Schwerpunkten schon in den späten 1940er Jahren gewidmet hatten, sind etwa Thomas Manns Doktor Faustus, Anna Seghers’ Die Toten bleiben jung oder Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein zu nennen. Die beiden letztgenannten Werke zeichnen sich Ralf Schnells

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lichkeit des Faschismus zu porträtieren und den Blick auf die Deutschen als Täter und Mitläufer zu lenken.⁶⁵¹ Gerade vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass es sich für Kästners literarische Karriere auf lange Sicht tatsächlich rentiert hätte, den Typus des passiven, ›zuschauenden‹ Protagonisten seines ersten Romans noch einmal aufleben zu lassen – den Stoff für einen ›Fabian im Dritten Reich‹, wie Mendelssohn ihn imaginierte, hätte er im wahrsten Sinne des Wortes ›in der Tasche gehabt‹. Dass Kästner seine dominierende Stellung als Autor für Erwachsene im literarischen Feld der Bundesrepublik allmählich einzubüßen begann, lässt sich allerdings nicht allein mit einem fehlenden Innovationspotential seiner literarischen Veröffentlichungen oder mit der besagten ›Nicht-Veröffentlichung‹ in Verbindung bringen. Entsprechend der Erkenntnisse über die Mechanismen innerhalb der sozialen Felder empfiehlt es sich, die strukturellen Veränderungen und Positionskämpfe, die sich im literarischen Feld der 1950er Jahre vollzogen, in die Überlegungen hinsichtlich seines langfristigen Bedeutungsverlustes einzubeziehen. In diesem Zusammenhang fällt nicht nur die »doppelte Spaltung«⁶⁵² des literarischen Feldes ins Auge, die sich nach 1945 einerseits durch die Kontroversen zwischen den ›inneren Emigranten‹ und Exilliteraten und andererseits durch die Entstehung zweier literarischer Märkte in der Ost- und den Westzonen ihren Weg gebahnt hatte.⁶⁵³ An den Konkurrenzkämpfen um die Vormachtstellung im Feld waren im Laufe der ersten Nachkriegsjahrzehnte noch zahlreiche andere Akteure respektive Akteursgruppen direkt oder indirekt beteiligt. Neben der ›Jungen Generation‹, deren Vertreter sich zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes zur Gruppe 47 formierten, ist in diesem Kontext auch an literarische ›Einzelgänger‹ wie Wolfgang Koeppen, Hans Henny Jahnn, Hans Erich Nossack und Arno Schmidt sowie an die jungen deutschsprachigen Autoren aus dem Ausland, allen voran an die Schweizer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, zu denken. Darüber hinaus trugen ältere Autoren wie Thomas Mann, Hermann Kasack und Alfred Döblin weiterhin zur Vielschichtigkeit der Literatur jener Jahre bei.⁶⁵⁴ Urteil zufolge allerdings durch augenfällige (konzeptionelle) Schwächen aus und schafften es nicht, die Erlebniswirklichkeit der NS-Zeit überzeugend zu transportieren.Vgl. dazu Schnell (2003), S. 88 f., S. 94 u. 201 f. 651 Vgl. dazu etwa Weyer, Anselm: »Man kann sich modern geben«. Wie innovativ ist der Bestseller Die Blechtrommel? In: Wendejahr 1959. Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen. Hg. von Matthias N. Lorenz und Maurizio Pirro. Bielefeld 2011, S. 115 – 130, hier S. 125 f. 652 Gilcher-Holtey, Ingrid: »Askese schreiben, schreib: Askese«. Zur Rolle der Gruppe 47 in der politischen Kultur der Nachkriegszeit. In: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Hg. von Ingrid Gilcher-Holtey. Weilerswist 2007, S. 125 – 162, hier S. 137. 653 Vgl. ebd. 654 Vgl. Lorenz und Pirro (2011), S. 12.

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Letztlich war es jedoch die Gruppe 47, die spätestens mit dem ›Romanjahr 1959‹ die feldinternen Machtkämpfe für sich entscheiden konnte und nach und nach zur »einflussreichsten Formation im westdeutschen Kulturbetrieb«⁶⁵⁵ avancierte, wie etwa der Beginn eines Artikels illustriert, in dem sich Rudolf Walter Leonhardt 1962 in der Zeit mit dem Status quo der deutschen Literatur auseinandersetzte: Wir haben keine deutsche Literatur, sagte Hugo von Hofmannsthal, wir haben Goethe und Ansätze. Wir haben keine deutsche Kritik, variierte Ernst Robert Curtius, wir haben Friedrich Schlegel und Ansätze. Wir haben kein literarisches Leben in Deutschland, so ließe sich diese Form der Zuspitzung noch einmal drehen, wir haben die Gruppe 47 und Ansätze.⁶⁵⁶

Bereits 1959, also zwei Jahre nachdem Kästner den renommierten Büchner-Preis erhalten hatte, wurde diese Ehrung als erstem ›47er‹ Günter Eich zuteil; in den 1960er Jahren gehörte schließlich mehr als jeder zweite Preisträger zur Gruppe 47 oder war zumindest einmal als Gast bei deren Tagungen dabei gewesen.⁶⁵⁷ Geht man der Frage nach, warum Kästner seine herausgehobene Stellung als Autor für Erwachsene im Laufe der 1950er und 1960er Jahre nach und nach einzubüßen begann, ist es sinnvoll, einen Blick auf die Strategien jener Akteure zu werfen, die zeitgleich dominierende Positionen innerhalb des Feldes erlangten. Auch über den Erfolg der Gruppe 47 entschieden nämlich keineswegs ausschließlich die literarischen Veröffentlichungen ihrer Mitglieder: Nach eigenem Bekenntnis sahen sich die Schriftsteller in ihrem Zusammenschluss sowohl durch ihre Zugehörigkeit zur ›Jungen Generation‹ als auch durch das gemeinsame Ziel geeint, eine Wiederholung der nationalsozialistischen Vergangenheit zu verhindern.⁶⁵⁸ Während Kästner den antifaschistischen Konsens der Gruppenmitglieder bedingungslos teilte, gereichte ihm die von den ›47ern‹ postulierte (und bei genauerer Betrachtung

655 Braese, Stephan: »Gruppe 47«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 110 – 113, hier S. 111. 656 Leonhardt, Rudolf Walter: Die sechs Gruppen der deutschen Literatur. Was gilt die deutsche Literatur im Inland? (II). In: Die Zeit, 2.11.1962. Obgleich Leonhardt in seinem Artikel eigentlich intendierte, den Blick der Leser auf die Problematik zu lenken, die die Kategorisierung in literarische Gruppierungen für den deutschen Literaturbetrieb mit sich brachte, traf er mit diesen Worten die dominante Position, die die Gruppe 47 im literarischen Feld einnahm, recht genau. 657 So sind nach Eich Paul Celan (1960), Hans Magnus Enzensberger (1963), Ingeborg Bachmann (1964), Günter Grass (1965), Wolfgang Hildesheimer (1966), Heinrich Böll (1967) und Helmut Heißenbüttel (1969) von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem entsprechenden Preis geehrt worden. 658 Vgl. Gilcher-Holtey (2007), S. 130 und Braese (2007), S. 110.

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durchaus fragwürdige⁶⁵⁹) Generationentrennung zum Nachteil. Innerhalb des wirkungsmächtigen Rasters, in dem sich die Gruppenmitglieder selbst als ›Junge Generation‹ verortet hatten, gehörte er aufgrund seines Alters und seiner schriftstellerischen Karriere vor 1933 zu jenen Autoren, die ihre Verantwortlichkeit ›für Hitler‹ nicht allein qua Geburtsjahr ablehnen konnten.⁶⁶⁰ Außerdem fehlte ihm das unmittelbare Kriegserlebnis als Soldat, das die meisten Schriftsteller der Gruppe gemein hatten. Wie im späteren Verlauf der Untersuchung noch aufgezeigt werden wird, blieb Kästner, der in seiner Position als Feuilletonchef der Neue[n] Zeitung durchaus als Förderer der ›Jungen Generation‹ aufgetreten war,⁶⁶¹ in den 1950er und 1960er Jahren für einzelne der ›47er‹ als Ansprechpartner und Mitstreiter im Rahmen (kultur)politischer Interventionen durchaus präsent.⁶⁶² Als Schriftsteller wurde er aber mit wachsendem Erfolg der Formation zusehends als einer der ›Väter‹ wahrgenommen, die die neue Autorengeneration hinter sich lassen und von der sie sich (literarisch) abgrenzen wollte.⁶⁶³ Eine Strategie, die den Erfolg der Gruppe maßgeblich vorantrieb und die zahlreiche andere Akteure wie Kästner gleichsam exkludierte, ist in ihrer Praxis der zunächst halbjährlich und ab 1955 jährlich stattfindenden Treffen zu sehen, »die eine literarische Öffentlichkeit (bestehend aus Autoren, Kritikern, Verlegern und Journalisten) konstituierten.«⁶⁶⁴ Dadurch, dass in die Zusammenkünfte, bei denen die Schriftsteller vor geladenen Gästen ihre Texte vortrugen und zur Diskussion stellten, nach und nach sämtliche relevanten Akteursgruppen des literarischen Feldes integriert wurden, konnte sich die Formation, zumindest partiell, von den ›großen Strukturen‹ des deutschen Literaturbetriebes emanzipieren – sie gene659 Während die Gruppe offiziell postulierte, nur Mitglieder aufzunehmen, die sich nach 1945 erstmals als Schriftsteller hervortaten, gab es in der Praxis einige Abweichungen – man denke etwa an Walter Kolbenhoff oder (den nur fünf Jahre nach Kästner geborenen) Wolfgang Weyrauch. Auch das mit der Generationentrennung verknüpfte Bild der ›unbescholtenen‹ Flakhelfer ist angesichts der späteren Enthüllungen über die Verstrickung verschiedener Gruppenmitglieder in das NSSystem (vgl. dazu Lorenz/Pirro 2011, S. 13) freilich nicht weniger problematisierbar als das über lange Zeit etablierte Bild eines gänzlich ›passiven Kästner‹. 660 Dennoch unterschied er sich freilich eklatant von Literaten wie Ernst Jünger, Gottfried Benn oder Gerd Gaiser, die aufgrund ihrer literarischen Karrieren im NS-Regime beziehungsweise ihrer zeitweiligen NS-Affinität von den Gruppenmitgliedern mit großem Vorbehalt betrachtet wurden. 661 Vgl. Kapitel 3.2.1. 662 Vgl. weiterführend Kapitel 4.3.3 und 4.3.4. 663 Hanuschek (1999, S. 192) macht diese Abgrenzung bereits für die späten 1940er Jahre geltend und rekurriert dabei etwa auf einen Brief Heinz Friedrichs an Hans Werner Richter, in dem der Verfasser Kästner als »Literaturpapst in München« verhöhnt. Siehe auch Friedrich, Heinz an Hans Werner Richter. Brief vom 4. 8.1947. In: Richter, Hans Werner: Briefe. Hg. von Sabine Cofalla. München/Wien 1997, S. 18 – 19, hier S. 19. 664 Gilcher-Holtey (2007), S. 144.

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rierte laut Gilcher-Holtey, »wenn man so will, ein Feld im Feld.«⁶⁶⁵ Zur Akkumulation kulturellen und symbolischen Kapitals trug neben ihrer vielfältigen (Selbst‐) Dokumentation in der Presse⁶⁶⁶ auch der ab 1950 in unregelmäßigen Abständen verliehene Preis der Gruppe 47 bei, durch dessen Vergabe sich die Mitglieder selbst zur literarischen Legitimationsinstanz erhoben.⁶⁶⁷ Zudem verstanden es die Literaten, die Möglichkeiten, die die Lockerung der alliierten Lizenzierungspolitik nach 1948 mit sich brachte, effektiv für sich zu nutzen. Im Zuge der Reetablierung des deutschen Buchmarktes und der damit verbundenen Entstehung neuer literarischer Reihen wurde das verlegerische Interesse, das nach dem Krieg primär amerikanischen und französischen Schriftstellern gegolten hatte, zunehmend auf neue deutsche Autoren und Texte gelenkt.⁶⁶⁸ Durch die gezielte Einladung von Vertretern großer Verlagsanstalten zu den Tagungen steigerten die Gruppenmitglieder ihre Publikationschancen enorm: Nicht selten kam es vor, dass »ein von der Gruppenkritik gelobter Autor noch am selben Tage einen [Vertrag] in der Tasche hat[te].«⁶⁶⁹ Daneben trug auch die Entstehung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten maßgeblich zur Wirkungsmacht der Formation bei. Gruppenmitglieder wie Alfred Andersch und Ernst Schnabel übernahmen Leitungs- und Gestaltungsfunktionen bei verschiedenen Radiosendern und verpflichteten Gruppenmitglieder zu Lesungen; seit 1950 war der Rundfunk zudem auf den Tagungen präsent und übertrug zahlreiche Diskussionen, wodurch sich der Bekanntheitsgrad der Gruppe und das Interesse vieler Jungautoren an einer Mitgliedschaft immens erhöhte.⁶⁷⁰

665 Ebd., S. 151. 666 Da es jedem Gruppenmitglied gestattet war, über die Tagungen zu berichten, wurden die Ereignisse jedes Treffens in regionalen und überregionalen Zeitungen dokumentiert. Die öffentliche Sichtbarkeit der Gruppe wurde zudem durch die publizistische Tätigkeit einzelner Mitglieder als (Mit‐)Herausgeber und Redakteure literarischer Zeitschriften (wie etwa Texte und Zeichen, Dokumente, Frankfurter Hefte und Akzente) verstärkt. Vgl. ebd. S. 146 f. 667 Die Preiswürdigkeit der Literaten wurde wiederum durch die professionelle Literaturkritik innerhalb der Gruppe unterstrichen: Während in den Anfangsjahren die kritische Diskussion der Texte durch die anwesenden Autoren im Vordergrund stand, übernahmen in den 1950er Jahren nach und nach Literaturwissenschaftler und Feuilletonredakteure angesehener Zeitungen (wie Walter Höllerer, Walter Jens, Hans Mayer, Joachim Kaiser, Marcel Reich-Ranicki und später auch Fritz J. Raddatz und Hellmuth Karasek) diese Aufgabe. Durch den zumeist von Radiosendern und Verlegern gestifteten, intern vergebenen Preis, der implizit auch die Unabhängigkeit der Gruppe von institutionalisierten Konsekrationsinstanzen unterstrich, wurden sowohl die Prominenz der Gruppe 47 als auch ihr gesellschaftliches Prestige gesteigert. Vgl. ebd., S. 148 – 150 und Braese (2007), S. 111. 668 Vgl. Gilcher-Holtey (2007), S. 148. 669 Linz, Gertraud: Literarische Prominenz in der Bundesrepublik. Olten 1965, S. 96. 670 Vgl. Gilcher-Holtey (2007), S. 147 f.

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Kästners langfristigen Bedeutungsverlust als Autor für Erwachsene nicht nur darauf zurückzuführen, was er nach 1945 (nicht) publizierte, sondern ihn auch damit zu begründen, dass er kein Mitglied der Gruppe 47 war, wäre nicht nur plakativ – es wäre in Anbetracht der Tatsache, dass andere ›Nicht-47er‹ wie Wolfgang Koeppen oder Arno Schmidt bis heute als zentrale Nachkriegsautoren gelten, auch wenig plausibel. Vielmehr demonstrieren die Erkenntnisse über die Gründe für den Erfolg der Gruppe, dass die wachsende Autonomie des literarischen Feldes und die Vielfalt der literarischen Gruppierungen ab den 1950er Jahren neue Positionierungsstrategien von den Akteuren erforderten, die sich innerhalb der feldinternen Konkurrenzkämpfe behaupten wollten. Während in den unmittelbaren Nachkriegsjahren nur wenige deutsche Schriftsteller die Voraussetzungen, die für eine erfolgreiche (Re‐)Etablierung innerhalb des Rahmens der alliierten Kulturpolitik vonnöten waren, so passgenau erfüllen konnten wie Kästner, hatte in der jungen Bundesrepublik ein weitaus größerer Kreis von Literaten prinzipiell günstige Chancen, sich erfolgreich im literarischen Feld zu positionieren. Und gerade die Tatsache, dass ›Neulinge‹ wie die Akteure der Gruppe 47 die zunehmend autonomeren Strukturen des literarischen Feldes so effektiv zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden, wurde langfristig zum Nachteil für vormals erfolgreiche Autoren wie Kästner. Freilich war er in den 1950er und 1960er Jahren in der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung keineswegs weniger präsent als beispielsweise ein Böll oder Grass.⁶⁷¹ Allerdings wird er als wacher Beobachter des Literaturbetriebes, wie schon Kordon mutmaßte, selbst gewusst haben, dass die ihm verliehenen Preise und Ehrungen bereits »mehr der Legende und moralischen Institution Kästner als dem aktuellen Autor [galten].«⁶⁷²

3.2.5 Kästner als PEN-Präsident Wurden im Hinblick auf Kästners Reetablierung im kulturellen Feld der Nachkriegszeit bislang seine verschiedenen journalistischen und literarischen Tätigkeitsbereiche beleuchtet, so gilt es abschließend, eine entscheidende öffentlich-

671 So wiesen beispielsweise die Ergebnisse einer 1966 in Augsburg durchgeführten Umfrage, deren Teilnehmer möglichst viele zeitgenössische Autoren nennen sollten, Kästner als bekanntesten (noch lebenden) Schriftsteller aus. Weitaus weniger Befragten waren Böll, Grass oder auch der seit seinem Debüt Der Stellvertreter (1963) international erfolgreiche Rolf Hochhuth präsent. Vgl. Emmerich, Elisabeth: Umfrage in Augsburg. Drei lebende Dichter – auf Anhieb genannt. In: Augsburger Allgemeine Zeitung, 17. 8.1966. 672 Kordon (1998), S. 294.

3.2 Kästners Positionen im kulturellen Feld

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keitswirksame Position zu betrachten, auf die Ludwig Marcuse im Aufbau vom 1. Mai 1959 humoristisch mit folgenden Zeilen Bezug nahm: »Und Kästner?« »Repräsentiert«. »Wen?« »Die deutschen Schriftsteller im PEN-Club«. »Was macht er da?« »Einen guten Eindruck«.⁶⁷³

Schon lange bevor Marcuse diesen (angeblich mit seinen amerikanischen Studierenden geführten) Dialog niederschrieb, waren die deutschen Zeitungsleser mit einer der aus zeitgenössischer Sicht wohl bedeutsamsten kulturellen Meldungen nach Kriegsende konfrontiert worden. Bereits am 22. November 1948 hieß es in zahlreichen Blättern des Landes: »Deutsche Sektion des PEN-Clubs gegründet«⁶⁷⁴ – eine potentiell irreführende Schlagzeile, handelte es sich doch streng genommen nicht um eine Neugründung, sondern um die Wiedergründung eines Zentrums der internationalen Schriftstellervereinigung in Deutschland. Bereits 1924 hatte sich hier erstmals eine Sektion von Literaten konstituiert, die sich dem gut drei Jahre zuvor in London ins Leben gerufenen Club anschloss.⁶⁷⁵ Gemäß dem Anliegen der Schriftstellerin und PEN-Gründerin Catherine Amy Dawson Scott sollte die Vereinigung, deren Kürzel für Poets, Essayists, Novellists steht, es ermöglichen, Autorinnen und Autoren aus aller Welt zu vernetzen und so zur Völkerverständigung beizutragen.⁶⁷⁶ Dieses Ideal wurde von der deutschen Sektion des PEN jedoch nicht allzu lange unterstützt: Nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten

673 Marcuse, Ludwig: Errick [sic] in Amerika. In: Zeitgeist. Halbmonatsbeilage des Aufbau, 1.5.1959. 674 Siehe etwa Th.H.: Deutsche Sektion des PEN-Clubs gegründet. In: Neue Presse, Frankfurt. 22.11. 1948. 675 Unterstützt wurden die Gründungsmitglieder dabei von Hermon Ould, dem späteren Generalsekretär des Internationalen PEN. Dieser war bereits im Herbst des Jahres 1922 erstmals nach Deutschland gereist, um die Gründung anzustoßen und vorzubereiten. Vgl. dazu Fischer, Ernst: Das Zentrum in der Weimarer Republik. Von der Gründung bis zur Auflösung unter nationalsozialistischer Herrschaft. (1923 – 1933). In: Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Hg. von Dorothée Bores und Sven Hanuschek. Berlin/Boston 2014, S. 71 – 132, hier S. 72 f. 676 Siehe dazu weiterführend Bores, Dorothée: Der Internationale PEN. Gründungsgeschichte und Struktur einer Schriftstellervereinigung. In: Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Hg. von Dorothée Bores und Sven Hanuschek. Berlin/Boston 2014, S. 19 – 35.

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erfolgte der Austritt der Gruppe aus dem internationalen Club.⁶⁷⁷ Allerdings beantragten noch im selben Jahr die emigrierten Literaten Rudolf Olden, Lion Feuchtwanger, Max Hermann-Neiße und Ernst Toller die Anerkennung einer autonomen PEN-Sektion im Exil lebender deutscher Schriftsteller, die im Juni 1934 durch den Internationalen PEN offiziell bestätigt wurde. Die Gruppe, die nach mehrmaliger Umbenennung als »PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland« ihren Sitz in London einnahm, fand während der NS-Herrschaft als Stimme des ›anderen Deutschlands‹ weltöffentliche Anerkennung.⁶⁷⁸ Bis die Erlaubnis zur Wiedergründung einer innerdeutschen Sektion erteilt wurde, galt es für die daran interessierten Literaten nach 1945 indes, zahlreiche Hürden zu überwinden. Im Folgenden soll zunächst beleuchtet werden, welche Rolle Kästner bei dieser Wiedergründung spielte. Daran anknüpfend wird untersucht, wie er seine Position als Präsident des (freilich nur kurzzeitig existierenden) gesamtdeutschen und, ab 1951, des bundesdeutschen PEN-Zentrums ausfüllte. Im Wesentlichen wird dabei zu betrachten sein, wie sich Kästner innerhalb zahlreicher clubinterner Konflikte positionierte, die zugleich repräsentativ für Konfliktlinien innerhalb des literarischen Feldes der späten 1940er bis 1960er Jahre waren.⁶⁷⁹ 677 Bereits im März 1933 wurde der alte Vorstand der deutschen PEN-Sektion im Zuge der kulturellen ›Säuberungsmaßnahmen‹ der NS-Machthaber durch einen nunmehr nationalsozialistisch eingestellten Vorstand ersetzt, der noch im selben Monat den Ausschluss sämtlicher kommunistischen Mitglieder veranlasste. Als sie auf der Exekutivsitzung des Internationalen PEN für dieses Vorgehen zur Rede gestellt wurde, erklärte die mittlerweile vollends gleichgeschaltete deutsche Gruppe im November 1933 ihre Zusammenarbeit mit der Vereinigung für beendet. Vgl. dazu weiterführend Fischer (2014), S. 120 f. sowie Peitsch, Helmut: Versuchte Gleichschaltung durch das NSRegime, die Auflösung und Flucht ins Exil (1933 – 1945). In: Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Hg. von Dorothée Bores und Sven Hanuschek. Berlin/Boston 2014, S. 133 – 167, hier S. 136. 678 Vgl. dazu Fischer (2014), S. 123 f. Als Präsidenten des Clubs fungierten in jenen Jahren Heinrich Mann (von 1934 – 1940) und Alfred Kerr (von 1941 – 1947). 679 Die folgenden Ausführungen über die Geschichte der deutschen PEN-Zentren greifen primär auf die fundierten Beiträge Sven Hanuscheks und Christine Malendes im 2014 erschienenen Handbuch PEN zurück. Siehe Malende, Christine: Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Wiederbegründung und Teilung des deutschen PEN als Folge des Kalten Krieges (1946 – 1951). In: Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Hg. von Dorothée Bores und Sven Hanuschek. Berlin/Boston 2014, S. 168 – 222 sowie Hanuschek, Sven: Vom ›Wohnzimmerverein‹ zur politischen Institution. Zur Geschichte des bundesdeutschen PEN bis 1989. In: Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Hg. von Dorothée Bores und Sven Hanuschek. Berlin/Boston 2014, S. 302 – 361. Ergänzend wird zudem ein älterer, bereits auf Kästners Rolle im PEN zugespitzter Beitrag Hanuscheks herangezogen: Hanuschek, Sven: »Eine Kreuzung aus Eier- und Schleiertanz«. Erich Kästner als Funktionär des PEN: 1946 – 1962. In: Manfred Wegner (Hg.): »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Berlin 1999. S. 182 –

3.2 Kästners Positionen im kulturellen Feld

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3.2.5.1 Kästner und das PEN-Zentrum Deutschland Die Frage nach der Reetablierung eines PEN-Zentrums in Deutschland wurde öffentlich erstmalig auf dem ersten internationalen PEN-Kongress nach Kriegsende aufgeworfen, der im Juni 1946 in Stockholm abgehalten wurde. Auch Kästner war zu diesem Anlass geladen, konnte letztlich aber aufgrund des noch bestehenden Ausreiseverbots aus Deutschland nicht teilnehmen.⁶⁸⁰ Im Rahmen des Kongresses thematisierte der emigrierte Literaturwissenschaftler Walter A. Berendsohn im Namen der deutschen PEN-Sektion in London die Möglichkeit, durch eine Wiedereinrichtung der Gruppe in Deutschland die Einfuhr demokratischer Literatur in das besetzte Land zu unterstützen.⁶⁸¹ Dies ging zwar – in Erwartung allzu großer Widerstände durch die Delegierten anderer Länder – zunächst nicht mit einer konkreten Antragstellung an das Exekutivkomitee des Internationalen PEN einher. Gleichwohl zog Berendsohns Beitrag Bemühungen vieler nach 1933 in Deutschland verbliebener Literaten nach sich.⁶⁸² So fanden sich nach dem Stockholmer Kongress sowohl in München als auch in Hamburg und Berlin politisch ›unbelastete‹ Schriftsteller zusammen und richteten Briefe, die die Wiedergründung einer deutschen PEN-Sektion thematisierten, an den Generalsekretär des Internationalen PEN, Hermon Ould. Kästners Name tauchte dabei in den Korrespondenzen mehrerer Gruppierungen auf: Er trat nicht nur gemeinsam mit anderen in München lebenden Schriftstellern wie Ernst Penzoldt, Rudolf Schneider-Schelde und Johannes Tralow für die Wiedererrichtung des Zentrums ein. Auch der Remigrant Johannes R. Becher, der sich in der sowjetischen Zone niedergelassen, Kästner jedoch höchstwahrscheinlich im Mai 1946 in München getroffen hatte, setzte ihn in seinem Brief an Ould auf die Liste der Autoren, in deren Namen er konstatierte, dass »im Interesse […] aller Völker eine internationale Verbindung des Schrifttums wieder

192. Einen detaillierten Blick auf die Geschichte der PEN-Zentren in der BRD und der DDR werfen darüber hinaus die umfangreichen Studien von Hanuschek und Dorothée Bores: Hanuschek, Sven: Geschichte des bundesdeutschen PEN-Zentrums von 1951 bis 1990. Tübingen 2004 sowie Bores, Dorothée: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum 1951 – 1988. Ein Werkzeug der Diktatur? Berlin/New York 2010. 680 Vgl. dazu auch Kästner, Erich an Pony Bouché. Brief vom 30.10.1946. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 92 – 94, hier S. 93. 681 Vgl. Malende (2014), S. 168. 682 Ihre Motivation unterschied sich deutlich von der der Exilautoren: Während letztere wahlweise ihre Remigration planten oder zumindest ein Forum im literarischen Leben ihres Heimatlandes zurückgewinnen wollten, dürften sich die ›inneren Emigranten‹ von einer erneuten PEN-Mitgliedschaft, neben der Wiedererlangung ihres einstigen Ansehens, nicht zuletzt ein Nachlassen des Rechtfertigungsdrucks für ihren Verbleib im NS-Deutschland versprochen haben. Vgl. Hanuschek (1999), S. 183.

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angebahnt werden«⁶⁸³ müsse. Infolge dieser nachdrücklichen Bestrebungen beschloss das Exekutivkomitee des Internationalen PEN, zur nächsten Jahrestagung, die im Juni 1947 in Zürich stattfinden sollte, neben Becher und Ernst Wiechert auch Kästner als Beobachter einzuladen.⁶⁸⁴ Schon vor Beginn des Kongresses hatte Ould die deutschen Schriftsteller beratend darauf hingewiesen, dass die PEN-Zugehörigkeit vor 1933 keine Ansprüche auf eine erneute Mitgliedschaft begründen könne, sondern man sich durch die Auswahl der Gründungsmitglieder für die übrigen Zentren als vertrauenswürdig erweisen müsse.⁶⁸⁵ Dass es angesichts der jüngsten deutschen Vergangenheit zu diesem Zeitpunkt an besagtem Vertrauen mangelte, wurde in Zürich tatsächlich nur allzu offensichtlich, denn zahlreiche Delegierte⁶⁸⁶ sprachen sich vehement gegen die Bewilligung einer deutschen Sektion aus. Erst nach längeren Debatten, in denen sich unter anderem der als Ehrengast anwesende Thomas Mann mit Nachdruck für die Wiedergründung einsetzte,⁶⁸⁷ einigten sich die stimmberechtigten Kongressteilnehmer darauf, eine international zusammengesetzte Garantiekommission einzurichten, die die antinazistische Integrität einer potentiellen deutschen Gründergruppe überprüfen sollte.⁶⁸⁸ Dass Kästner als Vertreter der nach 1933 in Deutschland gebliebenen Schriftsteller in besagte Kommission aufgenommen wurde, kam einer internationalen Bestätigung und Erhöhung seines symbolischen Kapitals als politisch unbelastetem Nicht-Emigranten gleich. Dennoch war er selbst

683 Becher, Johannes R. an Hermon Ould. Brief vom 26.7.1946 zit. n. Malende (2014), S. 219. Dass Kästner innerhalb der besagten Korrespondenz in einer Reihe mit Herbert Eulenberg, Ilse Langer, Rudolf Pechel, Theodor Plievier, Günther Weisenborn und Ernst Wiechert genannt wird, führt Malende (2014, S. 169) auf ein potentiell vorangegangenes Gespräch zurück, dass Becher während seines München-Aufenthalts mit Kästner geführt haben könnte. 684 Während Kästner von seinem symbolischen Kapital als politisch unbescholtener Nicht-Emigrant profitierte, genoss der zu jener Zeit noch stark rezipierte Wiechert ein hohes Ansehen aufgrund seiner Widerstandshaltung und seiner zeitweiligen KZ-Haft während der NS-Zeit; Becher war hingegen primär aufgrund seiner Rolle als prominenter Remigrant und Vertreter des Kommunismus geladen. Vgl. ebd., S. 170. 685 Vgl. ebd., S. 169. 686 Vorbehalte äußerten vor allem Mitglieder des Clubs, die aus Ländern kamen, die im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten besetzt worden waren. 687 Mann zeigte zwar Verständnis für die in der Diskussion geäußerten Bedenken, ergriff aber das Wort für die »erhebliche Minorität«, die »unter der Abgeschnittenheit von der übrigen Welt« leide (Mann, Thomas zit. n. Malende 2014, S. 170) – ein Plädoyer, das Kästner in seiner Berichterstattung über den Kongress dankbar aufgriff. Siehe: Kästner, Erich: Reise in die Gegenwart [NZ, 23.6.1947]. In: EKW VI, S. 582 – 587, hier S. 586. 688 In der Kommission waren neben Ould als internationalem Generalsekretär und Friedmann als Vertreter der Exilliteraten zudem drei der ehemals besetzten Länder – nämlich Polen, Dänemark und die Niederlande – vertreten. Vgl. Malende (2014), S. 171.

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zunächst unzufrieden mit dem Resultat des Kongresses. In seinem NZ-Artikel Reise in die Gegenwart, in dem er ausführlich über seinen ersten Auslandsaufenthalt nach dem Krieg berichtete, äußerte er sich am 23. Juni 1947 zwar erfreut über die »bedingungslose Kameradschaft aller deutschen Emigranten«,⁶⁸⁹ die er in Zürich empfunden hatte. Zugleich machte er allerdings deutlich, dass er sich zur Bestärkung derer, »die am Aufbau Deutschlands mitzuhelfen trachten«, anstelle einer »umständlichen Kontrollkommission« eine »Geste des Vertrauens«⁶⁹⁰ vonseiten der anderen Länder gewünscht hätte. Betroffen reagierte er vor allem auf die Kollektivschuldzuweisungen während der dem Beschluss vorangegangenen Diskussion, die seinen Worten nach allenfalls dem Temperament, keineswegs aber dem Niveau der Teilnehmer Genüge tat. […] Man sperrte sich, als habe das ganze deutsche Volk, samt den Wächtern der Konzentrationslager, den Antrag gestellt, in den PEN-Club aufgenommen zu werden, während es doch, am Beispiel Ernst Wiecherts, der im Saale saß, offenkundig genug, um Schriftsteller ging, die im und unterm Dritten Reich nicht weniger gelitten hatten als andere europäische Kollegen.⁶⁹¹

Zeigte sich Kästner bereits zu diesem Zeitpunkt gekränkt von dem Misstrauen vieler Delegierter, das er auf die nach wie vor bestehende »faktische und geistige Quarantäne Deutschlands«⁶⁹² zurückführte, so bewegten anhaltende Proteste des polnischen und jiddischen Zentrums gegen einen deutschen PEN ihn im Folgejahr 1948 sogar dazu, nicht zum internationalen Jahreskongress nach Kopenhagen zu reisen.⁶⁹³ Gerade im Rahmen dieser Zusammenkunft, an der als einziger Autor aus Deutschland Johannes R. Becher teilnahm,⁶⁹⁴ wurde der Wiedereinrichtung eines innerdeutschen Zentrums jedoch letztlich zugestimmt. Damit einhergehend bestä689 EKW VI, S. 585. 690 Ebd. 691 Ebd., S. 584. 692 Ebd., S. 586. In diesem Kontext kritisierte Kästner vor allem die noch immer erschwerten Einund Ausreisebedingungen: »Schon in Zürich, eine Stunde jenseits der Grenze, hat man eigentlich keine Ahnung, wie es bei uns aussieht. Und wir wissen unsererseits nicht, was draußen vorgeht. Der Zeitungsdienst internationaler Nachrichtenagenturen kann den Augenschein und die persönliche Kommunikation nicht ersetzen.« Ebd. 693 Dies schrieb Kästner am 3. Mai 1948 wenigstens Ould; später gab er hinsichtlich seiner Abwesenheit auf dem Kongress an, die Reisepapiere nicht rechtzeitig erhalten zu haben. Vgl. Zonneveld, Johan: Bibliographie Erich Kästner. Bd. I. Primärliteratur und Zeittafel. Bielefeld 2011, S. 734 f. 694 Dass ausgerechnet Bechers engagierte und Vertrauen erweckende Reden dazu beitrugen, dass der Wiedereinrichtung eines innerdeutschen Zentrums nach langem Vorlauf zugestimmt wurde, ist vor allem vor dem Hintergrund der bald darauf einsetzenden Konflikte innerhalb der deutschen PEN-Gruppe beachtlich, die sich primär an seiner Person entzündeten. Nicht zuletzt seine Verdienste um die Neugründung der Gruppe machten die spätere Situation so heikel. Vgl. Hanuschek (1999), S. 184.

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tigte man zudem eine Resolution über die Gruppengründung, die unter anderem die Bedingung enthielt, dauerhaft keine Literaten aufzunehmen, die »zu irgendeiner Zeit in der Nazi-Propaganda-Organisation, insbesondere in einem der vormals von Deutschland besetzten Länder«⁶⁹⁵ beschäftigt gewesen waren. Und tatsächlich sollten sich sämtliche Mitglieder des innerdeutschen PEN, ungeachtet der kommenden Zerwürfnisse, die der Kalte Krieg und die Spaltung Deutschlands nach sich zogen,⁶⁹⁶ in diesem Punkt dauerhaft einig bleiben. Das erste Treffen, bei dem sich die nunmehr bestätigte Gründergruppe⁶⁹⁷ als »PEN-Zentrum Deutschland« offiziell konstituierte, fand vom 18. bis 21. November 1948 in Göttingen statt. Im Rahmen der Versammlung wählten die Anwesenden ihren Vorstand, der sich als Dreiergremium aus Hermann Friedmann (als geschäftsführendem Präsidenten), Ernst Penzoldt (als Vertreter für die westlichen Besatzungsgebiete) und Johannes R. Becher (als Vertreter für die Ostzone) zusammensetzte. Kästner und Rudolf Schneider-Schelde teilten sich bis auf Weiteres die Position des Generalsekretärs. Darüber hinaus unterzeichneten alle Beteiligten die PEN-Charta und verpflichteten sich damit nicht nur, »für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in einer einigen Welt in Frieden lebenden Menschheit«⁶⁹⁸ einzutreten. Sie gelobten auch, »jeder Art von Unterdrückung der Äusserungsfreiheit, in ihrem Lande oder in der Gemeinschaft, in der sie leben,«⁶⁹⁹ entgegenzuwirken. In Ergänzung zu den genannten Punkten der Charta versicherten die Autoren in ihrer Präambel zudem,

695 Resolution über die Gründung einer innerdeutschen PEN-Gruppe zit. n. Malende (2014), S. 219 f. 696 Auf die Hintergründe des Kalten Krieges und die mit ihm einhergehende Entstehung einer dezidiert antikommunistischen Stimmungslage in den westlichen Besatzungszonen respektive der Bundesrepublik geht Kapitel 4.3 dieser Studie vertiefend ein. 697 Die während des Kopenhagener Kongresses genehmigte Gründerliste umfasste Johannes R. Becher, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Herbert Eulenberg, Hans Henny Jahnn, Erich Kästner, Hermann Kasack, Elisabeth Langgässer, Ernst Penzoldt, Theodor Plievier, Ludwig Renn, Reinold Schneider, Rudolf Schneider-Schelde, Anna Seghers, Dolf Sternberger, Johannes Tralow, Günther Weisenborn, Paul Wiegler, Friedrich Wolf und, als Ehrenmitglied, Hermann Friedmann. Damit waren sechs Remigranten (nämlich Becher, Jahnn, Plievier, Renn, Seghers und Wolf ) unter den Gründungsmitgliedern. Das Spektrum der übrigen Autoren, die während der NS-Diktatur in Deutschland geblieben waren, reichte von Schriftstellern, die wie Kästner auf unverbindliche Unterhaltungsliteratur ausgewichen waren, bis hin zu aktiven Widerstandskämpfern wie Günther Weisenborn. Der Entschluss, den Emigranten Friedmann in die innerdeutsche Gruppe zu wählen, ging auf einen Vorschlag der Münchner Gruppe um Kästner zurück: Man erhoffte sich, auf diese Weise stets über die PEN-Vorgänge in London informiert zu sein. Vgl. Malende (2014), S. 173 sowie Hanuschek (1999), S. 184. 698 Anlage zum stenographischen Protokoll der Tagung des P.E.N.-Zentrums Deutschland am Freitag, dem 19. November 1948 zit. n. Malende (2014), S. 220. 699 Ebd.

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den Antisemitismus sowie die »Neigung zur Zerstörung menschlichen und kreatürlichen Lebens« im »Zeitalter der Atombombe« zu bekämpfen.⁷⁰⁰ Auf dem folgenden internationalen PEN-Kongress in Venedig, bei dem Friedmann und Kästner im September 1949 als Delegierte vertreten waren, wurde die Souveränität des deutschen Zentrums schließlich offiziell bestätigt. Gleichwohl waren die Vorbehalte gegen die Gruppe, Kästners Wahrnehmung nach, wie gehabt vorhanden und blieben es bis auf Weiteres auch.⁷⁰¹ Die nächste innerdeutsche Jahresversammlung in München⁷⁰² brachte zwei Monate später zum einen eine leichte Verschiebung in der Besetzung des Vorstandes mit sich. So wurde Kästner, neben Friedmann und Becher, zum Präsidenten gewählt, während man Penzoldt das Generalsekretariat übertrug und Tralow zum Schatzmeister bestimmte. Zum anderen wurden 42 neue Mitglieder aufgenommen; das Zentrum, das bis zu diesem Zeitpunkt auf 52 Schriftsteller angewachsen war, umfasste nun insgesamt 114 Mitglieder, von denen die meisten bereits vor 1933 publiziert hatten.⁷⁰³ Diese Mitglieder-Zuwahl war allerdings bereits die letzte vor der Teilung der Sektion im Jahr 1951, welche sich als schleichender Prozess, der sich über zwei Jahre erstreckte, beschreiben lässt.⁷⁰⁴ Wie schon Christine Malende festhielt, waren die Mitglieder den Veränderungen der politischen Situation letztlich nicht gewachsen.⁷⁰⁵ Bereits die Wiedereinrichtungsphase des innerdeutschen PEN war von den anwachsenden Spannungen zwischen den Westmächten und der

700 Ebd. 701 Vgl. Malende (2014), S. 179. Siehe in diesem Zusammenhang auch [anonym]: »Diplomat wider Willen«. Erich Kästner von Edinburgh und Amsterdam zurück. In: Die Abendzeitung, 20.9.1950. 702 Nach der Zusammenkunft in Göttingen hatten im April und Juni 1949 noch zwei kleinere Mitgliederversammlungen in Hamburg und Bielefeld stattgefunden, auf denen organisatorische Angelegenheiten besprochen und Zuwahlvorschläge gesammelt wurden; Kästner war allerdings nur zum ersten der beiden Treffen angereist. Vgl. ebd., S. 178. 703 Erwähnenswert ist, wie grundlegend sich die Mengenverhältnisse bezüglich der beiden feldinternen ›Fronten‹ zwischen der ›inneren‹ und ›äußeren‹ Emigration sowie den Autoren aus der östlichen und den westlichen Besatzungszonen seit der Gründung des Zentrums verschoben hatten: Während sich der Anteil an Remigranten enorm erhöht hatte (das Verhältnis zwischen ihnen und den Daheimgebliebenen lag nunmehr bei 49:65), waren die im Osten Deutschlands lebenden Mitglieder gegenüber ihren Kollegen aus dem Westen mittlerweile deutlich in der Unterzahl. Nur 14 der 114 Mitglieder waren Einwohner der kurz zuvor gegründeten DDR. Dass auf dem Kongress in München kein einziges Mitglied aus dem Osten anwesend war, führt Malende (ebd., S. 179 f.) auf die Aus- und Einreisemodalitäten zurück, die kurz nach der Gründung der DDR ungeklärt gewesen sein dürften. 704 Vgl. Hanuschek (1999), S. 185. 705 Vgl. Malende (2014), S. 211 f.

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Sowjetunion nicht gänzlich unbeeinflusst geblieben.⁷⁰⁶ Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 und insbesondere mit der seit 1950 zunehmend forcierten Stalinisierung der DDR manifestierten sich schließlich zunehmend auch Spaltungstendenzen zwischen PEN-Mitgliedern im Osten und Westen Deutschlands.⁷⁰⁷ Als eines der ersten Anzeichen dieser Spaltungstendenzen lässt sich ein Brief Rudolf Pechels, Theodor Plieviers und Günther Birkenfelds betrachten, der den Vorstand der zu diesem Zeitpunkt noch gesamtdeutschen Sektion zur Jahresversammlung im Dezember 1950 erreichte. In ihrem Schreiben forderten die drei Autoren, sämtliche DDR-Literaten, allen voran Johannes R. Becher, aus dem Zentrum auszuschließen. Begründet wurde der Antrag damit, dass die Genannten »als Wortführer eines Systems der kulturellen Unfreiheit und Unterdrückung, beständig und öffentlich im schroffen Widerspruch zu der von ihnen unterschriebenen PENCHARTA«⁷⁰⁸ agieren würden.⁷⁰⁹ Da keiner der Briefschreiber persönlich zur Versammlung erschien, wurde eine Diskussion des Antrags im Plenum vermieden: Offenbar wollten die Anwesenden – der politisch-ideologischen Teilung des Landes zum Trotz – den Zusammenhalt der Schriftsteller aus Ost und West zu diesem Zeitpunkt noch klar bestärken. Immerhin bestätigte auch die Wiederwahl des alten Vorstandes⁷¹⁰ nicht zuletzt Becher in seiner Position als Präsident. Letzteres zog allerdings nicht nur den Austritt Pechels, Plieviers und Birkenfelds aus dem Club,

706 Schon auf dem 1. Deutschen Schriftstellerkongress, der vom 4. bis 8. Oktober 1947 in Berlin stattfand, waren beispielsweise nicht nur Spannungen zwischen den ehemaligen Alliierten, sondern auch zwischen den westlich und östlich orientierten deutschen Gegnern der NS-Diktatur erkennbar gewesen, was für den dort anwesenden Hermon Ould den Ausschlag gab, in der Folgezeit enger mit den Münchner Literaten um Kästner als mit den Berlinern um Becher zusammenarbeiten zu wollen. Vgl. Malende (2014), S. 171. Vgl. weiterführend auch ebd., S. 172 – 176. 707 Vgl. ebd., S. 186 und Hanuschek (2014), S. 303. 708 Pechel, Rudolf, Theodor Plievier und Günther Birkenfeld an das Präsidium des PEN-Zentrums Deutschland. Brief vom 20.11.1950 zit. n. Malende (2014), S. 221. 709 Dass gemäß dem Willen Pechels, Plieviers und Birkenfelds gerade Becher, der sich in den Vorjahren dezidiert für die Neugründung des Clubs engagiert hatte, aus diesem ausgeschlossen werden sollte, hatte seinen Anlass primär in einer Rede, die der Literat im Juli 1950 auf dem 2. Deutschen Schriftstellerkongress in Ostberlin gehalten hatte. Dieser war als Gegenveranstaltung zum kurz zuvor abgehaltenen Kongress für kulturelle Freiheit angelegt, auf dem etwa James Burnham die atomare Aufrüstung des Westens ausdrücklich befürwortet hatte. In seiner Ansprache bezeichnete Becher die Autoren, die an der – zumindest in Teilen – explizit antisowjetischen Veranstaltung teilgenommen hatten (und zu denen auch Birkenfeld und Pechel gehörten) unter anderem als »Handlanger der Kriegshetzer« und »literarisch getarnte Gangster«. Becher, Johannes R. zit. n. Hanuschek (2014), S. 304. Vgl. dazu auch Malende (2014), S. 183 f. 710 Einzig die Position des Generalsekretärs wurde nunmehr neu, nämlich mit Kasimir Edschmid, besetzt.

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sondern auch vehemente Proteste seitens der westdeutschen Presse nach sich – zumal Becher zur selben Zeit noch durch andere Negativschlagzeilen von sich reden machte: Einem westdeutschen Journalisten gegenüber soll er bei seinem Aufenthalt in der Bundesrepublik die Existenz von Konzentrationslagern in der DDR bejaht und dabei betont haben, dass dort »nur Kriegshetzer und Feinde der Sache des Friedens«⁷¹¹ inhaftiert seien. Schon während der Versammlung hatte Friedmann dafür plädiert, das Exekutivkomitee in London über den eingereichten Antrag auf Ausschluss der DDRAutoren zu informieren. Letztlich war es Kästner, der die Vermittlerrolle einnahm und sich am 8. Januar 1951 in Form eines nichtöffentlichen Briefes an Hermon Ould wendete, um zu bestätigen, dass es »leider wahr« sei, dass es »neuerdings Gerüchte über Schwierigkeiten im deutschen PEN-Zentrum« gebe.⁷¹² Der weitere Verlauf des Schreibens offenbart deutlich, dass der Autor versuchte, anhaltende Konflikte innerhalb des Clubs zu verhindern, indem er die Entscheidung über das weitere Vorgehen an den Internationalen PEN übertrug: Die deutschen Mitglieder seien, »in Anbetracht der Tatsache, daß ja in allen PEN-Zentren kommunistische Schriftsteller Mitglieder sind, ja ganze PEN-Zentren in Ländern existieren, die volksdemokratisch regiert werden«, der Auffassung, dass »ein einzelnes PEN-Zentrum, mögen die Reibungsflächen dort auch besonders groß sein, überhaupt nicht befugt ist, einen solchen Antrag zu diskutierten und darüber abzustimmen.«⁷¹³ Parallel dazu suchten Kästner und der amtierende Generalsekretär des deutschen Zentrums, Kasimir Edschmid, den Rat Wilhelm Sternfelds und Richard Friedenthals, die Mitglieder des Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland waren. Beide verdeutlichten, dass ein Ausschluss kommunistischer Autoren nicht im Sinne des Internationalen PEN sei, regten aber dazu an, statt Becher einen »weniger exponierten Repräsentanten der Ostzone«⁷¹⁴ in das Präsidium zu wählen. Nachdem das internationale Exekutivkomitee am 5. April 1951 entschieden hatte, sich nicht in die internen Angelegenheiten des PEN-Zentrums Deutschland einzumischen, plädierte Kästner dafür, eine erneute Mitgliederversammlung einzuberufen; Edschmid schlug indes eine schriftliche Abstimmung aller Mitglieder über die Zusammensetzung des Präsidiums vor, die jedoch nicht zustande kam.⁷¹⁵ Daraufhin entwickelte Kästner ge-

711 [dpa]: Geist und Macht. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 284/1950 zit. n. Malende (2014), S. 185. Auf eine diesbezügliche Nachfrage Edschmids hin dementierte Becher im Januar 1951 gereizt, dass es in der DDR Konzentrationslager gebe; er bestätigte lediglich, sich Journalisten gegenüber über die Verwahrung von ›Kriegshetzern‹ geäußert zu haben. Vgl. Malende (2014), S. 188 f. 712 Kästner, Erich an Hermon Ould. Brief vom 8.1.1950 [recte 1951] zit. n. Hanuschek (1999), S. 185. 713 Ebd. 714 Friedenthal, Richard an Kasimir Edschmid. Brief vom 8.1.1951 zit. n. Malende (2014), S. 190. 715 Vgl. Malende (2014), S. 190 f.

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meinsam mit Friedmann, Tralow und Penzoldt den Plan, Becher »auf mehr oder weniger gütlichem Wege zum Rücktritt aus dem Vorstand zu bewegen«.⁷¹⁶ Hierzu zeigte sich dieser aber auch nach mehreren folgenden Gesprächen mit den WestAutoren nicht bereit.⁷¹⁷ Die über lange Zeit wahrnehmbare Vermittlerhaltung, die Kästner innerhalb des Konflikts angenommen hatte, fand letztlich auf dem nächsten internationalen PEN-Kongress in Lausanne ihr Ende, an dem er und Friedmann im Juli 1951 als Delegierte des deutschen Zentrums teilnahmen.⁷¹⁸ Auf der Versammlung hatten Becher und Stephan Hermlin, die gemeinsam mit Arnold Zweig angereist waren, die amerikanischen Delegierten Ben Lucien Burman und Marc Connelly dafür gewonnen, die Verabschiedung einer von ihnen formulierten Friedensresolution vorzuschlagen, wozu sie selbst als Gäste nicht befugt waren. Wenngleich die Erklärung an sich harmlos war,⁷¹⁹ befürchteten einige der Kongressteilnehmer, dass deren Annahme international als Affirmation der sowjetischen Propaganda durch den PEN aufgefasst werden könnte. Aus diesem Grund beantragte Friedenthal, die Resolution zuerst den Zentren aller einzelnen Länder zur Abstimmung vorzulegen, bevor der internationale Kongress darüber entscheiden könne. Für diese Verschiebung, die letztlich einer Ablehnung der Resolution gleichkam und mit knapper Stimmenmehrheit von 16:15 angenommen wurde, war nicht zuletzt die Stimme Kästners, der als Tagungsleiter fungierte, verantwortlich.⁷²⁰ Als erklärter Pazifist⁷²¹

716 Kästner, Erich an Kasimir Edschmid. Brief vom 14. 5.1951 zit. n. Malende (2014), S. 191. 717 Vgl. dazu auch Malende (2014), S. 196. 718 Vgl. ebd., S. 197. Die Spannungen innerhalb des literarischen Feldes hatten sich bis dahin insofern noch mehr verstärkt, als das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen unter der Leitung von Jakob Kaiser zwei Monate zuvor versucht hatte, die Sonderrolle, die der offiziell noch geeinte deutsche PEN zwischen den Fronten des Kalten Kriegen einnahm, ins Wanken zu bringen. Unter dem Titel Die Freiheit fordert klare Entscheidungen. Johannes R. Becher und der P.E.N.-Club hatte Kaiser (wohlgemerkt ohne die Verfasser um Erlaubnis zu fragen) eine Broschüre mit Zeitungsartikeln, die die Debatten um Becher betrafen, herausgegeben, Hierin sahen viele westdeutsche Literaten, nicht zuletzt Kästner, einen politischen Übergriff auf den PEN. Eine ostdeutsche ›Antwort‹ folgte wenig später in Form einer Gegenbroschüre des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Vgl. Hanuschek (2014), S. 304 f. sowie Hanuschek (1999), S. 185. 719 Die Lausanner Friedensresolution findet sich abgedruckt bei Malende (2014), S. 222. Darin wird eingangs betont, wie der PEN demonstriert habe, »dass Menschen aller möglichen politischen Überzeugungen und Ideologien sich an einen Beratungstisch setzen, über ihre Meinungsverschiedenheiten und eine Lösung ihrer Probleme verhandeln können[,] ohne Gewalt anzuwenden.« Auf dieser Grundlage richtet der Text »einen dringenden Appell an die Regierungen aller Länder […], den gleichen Geist der Duldsamkeit wie ihre Schriftsteller zu zeigen und jede ihnen mögliche Anstrengung zu machen[,] um den Weltfrieden zu bewahren.« Ebd. 720 Vgl. Malende (2014), S. 196 f.

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war er jedoch äußerst verärgert über die zustande gekommene Situation, in der er nicht für die Verabschiedung einer Friedensresolution stimmen konnte, ohne sich potentiell für eine weitere Verhärtung des Konflikts zwischen den ost- und westdeutschen Schriftstellern verantwortlich zu machen.⁷²² In der Debatte verdeutlichte er, dass er als »Einzelperson und Schriftsteller […] natürlich für den Frieden als Punkt der Charter« sei, sich aber »als Delegierter […] außerstande« sehe, ohne Kenntnis der Meinung seiner Kollegen abzustimmen, da »[s]onst […] dabei heraus[käme], dass das deutsche PEN-Zentrum zerbricht.«⁷²³ Daraufhin verließ Kästner demonstrativ den Tagungsraum – laut Hanuschek ein »für PEN-Verhältnisse sensationeller Auftritt«.⁷²⁴ Zur endgültigen Spaltung des gesamtdeutschen PEN kam es schließlich nur wenige Monate später auf der Jahresversammlung der deutschen Sektion, die vom 23. bis 24. Oktober in Düsseldorf stattfand.⁷²⁵ In der Bundesrepublik hatten sich die Töne des Kalten Krieges mittlerweile immer mehr verschärft, wie etwa die im selben Monat veröffentlichte Kampfschrift Über Toleranz und Geistesfreiheit von Karl Friedrich Borée demonstriert.⁷²⁶ Zwar bildete der darin vollzogene Angriff auf die Ost-Autoren bei der Versammlung nicht den eigentlichen Auftakt zum Eklat. Allerdings entwickelte sich unter Borées Beteiligung eine Debatte über Frieden und Freiheit als fundamentale und untrennbar verknüpfte Punkte der PEN-Charta. In diesem Zusammenhang trug Friedmann die Frage an Becher heran, ob in seiner Sphäre Dinge geschähen, die dem Freiheitsbegriff der Charta entgegenstünden, was dieser vehement zurückwies.⁷²⁷ Nachdem der DDR-Literat bei der anschließend vollzogenen Vorstandswahl erneut (nunmehr neben Tralow und Weisenborn) zum

721 Den dezidiert pazifistischen Stellungnahmen, die Kästner während des Ost-West-Konflikts in anderen situativen Kontexten abgab, widmet sich das Kapitel 4.3 dieser Untersuchung. 722 Hinzu kam auch der Umstand, dass das internationale Exekutivkomitee seinem Vorstandskollegen Friedmann unmittelbar vor Kongressbeginn noch dazu angehalten hatte, es nicht zum Bruch zwischen den beiden Fraktionen kommen zu lassen. Vgl. dazu Malende (2014), S. 195 – 197. 723 Kästner, Erich zit. n. Malende (2014), S. 197. 724 Hanuschek (1999), S. 186. Persönlich und außerhalb der offiziellen Debatten scheinen sich die deutschen Delegierten aus Ost und West allerdings durchaus verstanden zu haben. So sollen etwa Becher und Kästner in Seitengesprächen einvernehmlich darüber diskutiert haben, ob man nicht doch besser zwei separate deutsche Zentren eröffnen sollte. Vgl. ebd. 725 Schon zuvor hatte insbesondere Edschmid dafür plädiert, zwei Zentren zu bilden, wenn es nicht gelinge, ein homogen westliches Präsidium des Zentrums zu wählen.Vgl. Malende (2014), S. 199. 726 Vgl. Hanuschek (2014), S. 305. Die Broschüre versammelt unter anderem in einer Art ›Schwarzen Liste‹ Kurzbiographien prominenter in der DDR lebender Schriftsteller, welche äußert polemisch und in antisowjetischem Tonfall kommentiert werden. 727 Vgl. Malende (2014), S. 207.

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Präsidenten der deutschen PEN-Sektion gewählt wurde,⁷²⁸ kündigten dreizehn der Westmitglieder⁷²⁹ auf einer separaten Pressekonferenz an, »eine selbstständige Gruppe innerhalb des internationalen PEN bilden« zu wollen, »[u]m die geistig schon längst bestehende Trennung zum Ausdruck zu bringen«.⁷³⁰ Eine Verständigung über den Begriff »Freiheit« sei, wie die Diskussion ergeben habe, nicht möglich.⁷³¹ Zu den Unterzeichnenden gehörte – in Abwesenheit – auch Kästner. Obwohl der Schriftsteller krankheitsbedingt⁷³² nicht persönlich an der Versammlung teilgenommen hatte, dürfte er, wie Hanuschek vermutet, von Edschmid telefonisch über deren Verlauf informiert worden sein.⁷³³ Freilich wurde der Entschluss der dreizehn Autoren, eine Teilung des innerdeutschen Zentrums einzuleiten, nicht von allen der übrigen Mitglieder begrüßt.⁷³⁴ Nichtsdestotrotz fand nur wenige Wochen später – vom 3. bis 4. Dezember 1951 – in Darmstadt die Gründungsversammlung des »Deutschen P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik« statt; am 10. Dezember beriefen wiederum Becher und Tralow in Berlin eine Versammlung ein, auf der

728 Hinsichtlich des Wahlergebnisses ist zu betonen, dass auf der Versammlung neben acht PENMitgliedern aus der DDR lediglich 15 Mitglieder aus der BRD zugegen waren. Bei der Wahl des zweiten Präsidenten entfielen 9 Stimmen auf Becher und je 6 und 5 auf Kästner und Edschmid. Wie bereits Malende (ebd., S. 208) konstatierte, hätten die auf Becher entfallenen Stimmen somit nicht für dessen Wiederwahl gereicht, wenn Kästner und Edschmid nicht beide zur Wahl aufgestellt worden wären. Der Internationale PEN wertete das Ergebnis primär als Armutszeugnis für die zahlreichen nicht erschienenen Literaten aus der BRD, deren Anwesenheit das Ergebnis entschieden hätte beeinflussen können. Vgl. dazu auch Hanuschek (1999), S. 186. 729 Neben Kästner handelte es sich um Friedmann, Edschmid, Emil Barth, Walter Bauer, Martin Beheim-Schwarzbach, Karl Friedrich Borée, Hanns Braun, Hans Hennecke, Hermann Kasack, Wilhelm Lehmann, Martha Saalfeld und Georg von der Vring. 730 So die den Journalisten übergebene Erklärung zit. n. Malende (2014), S. 210. 731 Vgl. ebd. 732 Richard Friedenthal wertete die Absage Kästners als Ausdruck von dessen Konfliktscheue – nach Hanuschek (1999, S. 186) »in dieser Angelegenheit wohl zu Unrecht: Im Nachlaß Edschmid finden sich Belege dafür, daß, wenn auch nicht Kästner, so doch seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle schwer erkrankt war.« 733 Vgl. ebd. 734 So trat etwa Weisenborn, der eine weiter bestehende Einheit des PEN befürwortet hätte, von seinem Amt als Präsident zurück und Eggebrecht nahm die ebenfalls in Düsseldorf vollzogene Wahl zum Schatzmeister nicht an. Zudem versuchten beide Autoren gemeinsam mit anderen Hamburger PEN-Mitgliedern (nämlich Nossack, Beheim-Schwarzbach und Jahnn) noch einmal, Becher in einem persönlichen Brief zugunsten der Erhaltung des gesamtdeutschen Zentrums zum Rücktritt von seiner Position im Präsidium zu bewegen, aber auch dieser letzte ›Rettungsversuch‹ scheiterte. Vgl. dazu Malende (2014), S. 210 f.

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zahlreiche der Autoren zusammentrafen, die im Folgenden das »Deutsche P.E.N.Zentrum Ost und West« konstituierten.⁷³⁵ Betrachtet man die ersten, noch gesamtdeutschen Jahre des Zentrums bis zu dieser Spaltung, dann bleibt festzuhalten, dass die Mitglieder inmitten ihrer internen Konflikte das gemeinsame politische Interventionspotential, das die Clubstruktur hätte bieten können, beinahe gänzlich ungenutzt ließen. Eine dezidierte Formierung von (West‐)Autoren zum ›kollektiven Intellektuellen‹ im Sinne Bourdieus lässt sich lediglich im Kontext der Zensurbestrebungen ausmachen, die sich Kästners Auffassung nach in der Planung eines Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in der jungen Bundesrepublik manifestierten. Tatsächlich gelang es ihm mit Unterstützung seiner Club-Kollegen, eine öffentliche Kampagne gegen das geplante Gesetz in Gang zu bringen.⁷³⁶ Mit den Herausforderungen, die der Ost-West-Konflikt für Kästner und die gesamte Autorengemeinschaft mit sich brachte, trat das kollektive politische Engagement jedoch alsbald hinter die Streitigkeiten innerhalb des Zentrums zurück.⁷³⁷ Wie die folgende Betrachtung der Entwicklung des bundesdeutschen PEN unter Kästners Präsidentschaft aufzeigen wird, blieb ebendiese Tendenz, sich primär auf interne Probleme und Angelegenheiten des Clubs zu konzentrieren, auch in den kommenden Jahren vorherrschend. 3.2.5.2 Kästner und das PEN-Zentrum der Bundesrepublik Auf der Gründungsversammlung des bundesdeutschen Zentrums im Dezember 1951 wurde Kästner, vorbehaltlich der späteren Anerkennung der Sektion durch den Internationalen PEN,⁷³⁸ zum (alleinigen) Präsidenten gewählt – eine prestigeträchtige Position, die der Schriftsteller insgesamt elf Jahre lang innehatte. Das Amt des Generalsekretärs übertrug man bei dieser Wahl Kasimir Edschmid, der die Funktion bereits in den letzten Jahren des gesamtdeutschen Zentrums innegehabt hatte, und Hermann Friedmann fungierte als Ehrenpräsident. Die Anzahl der Clubmitglieder lag in der Zeit der Kästner’schen Präsidentschaft relativ konstant bei etwa 120 Literaten, von denen die meisten Deutschland nach 1933 nicht verlassen

735 Die Sektion, in die man im Rahmen der Versammlung sowohl Schriftsteller aus der DDR als auch aus der BRD aufnahm, wurde erst 1967 zum »P.E.N.-Zentrum Deutsche Demokratische Republik« umbenannt. Eine detaillierte Beleuchtung der Geschichte des Zentrums, auf die in dieser Untersuchung nicht ausführlich eingegangen werden kann, liefert die Untersuchung von Bores (2010). 736 Diese politische Intervention wird in Kapitel 4.2.3 noch ausführlich beleuchtet. 737 Vgl. dazu auch Malende (2014), S. 212. 738 Die Spaltung des innerdeutschen PEN und die daraus resultierende Existenz zweier Zentren wurde offiziell erst im März 1952 vom Exekutivkomitee des internationalen PEN anerkannt.

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hatten; Remigranten und jüngere Schriftsteller waren im westdeutschen PEN dagegen nur spärlich vertreten.⁷³⁹ Die Frequenz der Zusammenkünfte von Mitgliedern des Zentrums war in den 1950er Jahren äußerst gering. Über die nationalen wie internationalen Jahresversammlungen hinaus korrespondierten vor allem die Vorstandsmitglieder miteinander; lediglich zwei regionale ›PEN-Stammtische‹ bildeten sich um Kästner in München und Edschmid in Darmstadt.⁷⁴⁰ Generell kann man sich das soziale Leben des Zentrums, so Hanuschek, »wohl kaum klein genug«⁷⁴¹ vorstellen: Der erste Generalsekretär Edschmid und sein Nachfolger Walter Schmiele (der dieses Amt ab 1956 bekleidete) hatten ihre ›Büros‹ in ihren Privatwohnungen und empfingen PEN-Gäste im Wohnzimmer. Wichtige Entscheidungen wurden primär auf den Vorstands- beziehungsweise Exekutivsitzungen gefällt, während die Literaten auf den oftmals nur dürftig besuchten Jahresversammlungen⁷⁴² eher selten diskutierten oder stritten; und auch die internationalen Kongresse nahm man zuvörderst als gesellschaftliche Ereignisse wahr.⁷⁴³ Trotz seiner geringen Aktivität genoss der Club innerhalb der bundesdeutschen Öffentlichkeit jedoch ein hohes Ansehen: Die PEN-Autoren galten in den 1950er Jahren »als die bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart, sie wurden gelesen, von der Tagespresse wahrgenommen, in Taschenbuchreihen veröffentlicht.«⁷⁴⁴ Wohl nicht zuletzt aufgrund dieses kulturellen wie symbolischen Kapitals wuchs das Selbstbewusstsein, mit dem die Sektion dem internationalen PEN und den Zentren anderer Länder gegenüber agierte, merklich. Beispielsweise boykottierte Kästner 1954 gemeinsam mit seinen Vorstandskollegen den internationalen PEN-Kongress

739 An Autoren, die angesichts der nationalsozialistischen Machtübernahme emigriert waren, sind neben Friedmann etwa Wilhelm Sternfeld und Richard Friedenthal zu nennen, die nicht zuletzt die kommunikative Verbindung zum Internationalen PEN sicherten. Weitaus mehr der (ehemaligen) Exilliteraten partizipierten jedoch im PEN-Zentrum Ost und West, da ihre Literatur im Osten generell ein höheres Ansehen als im Westen Deutschlands genoss. Als relativ frühe ›junge‹ Mitglieder des PEN-Zentrums der BRD sind neben Hans Werner Richter und Wolfgang Hildesheimer etwa Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger und Günter Eich zu nennen; gerade die Letztgenannten traten im Clubleben der 1950er Jahre laut Hanuschek (1999, S. 191) allerdings »nie in Erscheinung« und »die Freundes- und Förderstruktur des PEN ließ sie […] unbeachtet.« 740 Die Besetzung dieser Stammtische variierte; in einem Brief an Edschmid im Frühjahr 1958 erwähnt Kästner bspw. Richard Friedenthal, Georg Goyert, Wolfgang Koeppen, Horst Lange, Marianne Langewiesche, Klaus Piper, Oda Schaefer, Hans Schweikart, Georg von der Vring und Heinrich Wild, die zugegen waren. Vgl. ebd., S. 291. 741 Hanuschek (2014), S. 307. 742 Meistens waren hierbei nicht mehr als 30 Teilnehmer anwesend. Vgl. Hanuschek (1999), S. 188. 743 Vgl. Hanuschek (2014), S. 307. 744 Hanuschek (1999), S. 191. Einen vergleichbaren Stellenwert erlangte die Gruppe 47 erst nach 1959. Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.4.

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in Amsterdam,⁷⁴⁵ nachdem es in den Niederlanden zu deutschlandfeindlichen Plakatierungen gekommen war⁷⁴⁶ und der niederländische PEN-Präsidenten Victor Emanuel van Vriesland anlässlich der Verleihung des Prix de la Résistance eine Rede gehalten hatte, die der westdeutsche PEN als Angriff auffasste. In seiner Ansprache hatte der Literat »von ›unversöhnlichen Gefühlen‹ gegenüber dem Nationalsozialismus und seinem Gedankengut gesprochen […], das in Deutschland noch immer lebendig sei.«⁷⁴⁷ Wie Kästner Nicolaas Anthonie Donkersloot, dem Generalsekretär des niederländischen PEN, mitteilte, hatte er Van Vriesland, auch im Namen seiner Kollegen, »um Aufklärung« über die besagte Rede gebeten, die seinen Worten nach »antinationalsozialistisch gemeint war, aber, im gegenwärtigen Stadium, als antideutsch empfunden wurde«,⁷⁴⁸ – Und Van Vriesland schrieb mir, wir würden ihm doch wohl sein Recht, sich als Privatmann zu äußern, nicht bestreiten, und er hoffe, daß auch wir, gleich ihm, antinationalsozialistisch dächten und empfänden. Nun, lieber Donkersloot, das war keine Antwort an einen Mann wie Friedenthal, der in die Emigration gegangen war. Und eigentlich auch keine Antwort an mich, der zweimal, wenn auch beide Male nur kurz, von der Gestapo verhaftet worden war und der elf von zwölf Jahren in Deutschland Schreibverbot hatte. Es war auch keine Antwort an unsre Mitglieder, in deren Namen wir fragten. […] Es war schließlich keine Antwort an ein PENZentrum, dessen Zusammensetzung, am Maßstabe unserer Charter gemessen, ganz gewiß nicht bagatellisiert werden kann.⁷⁴⁹

745 Auf ein Rundschreiben des Präsidiums hin sagten schließlich auch alle weiteren bundesdeutschen PEN-Mitglieder, deren Teilnahme am Kongress zugesagt war, aus ›privaten Gründen‹ ab. Um nicht vollständig auf dem Kongress zu fehlen, sandte man jedoch Ludwig Bergsträsser als Delegierten nach Amsterdam. Vgl. dazu ebd., S. 120 f. 746 Dass im Frühjahr 1954 auf Werbungen des niederländischen Fremdenverkehrsvereins hin ca. 250 000 Deutsche mit Reisebussen Amsterdam besuchten, verletzte die Gefühle vieler Einwohner des vormals von den Nationalsozialisten besetzten Landes, deren Verwandte oder Freunde von Deutschen getötet worden waren. In den Nächten zum 1. und zum 23. Mai 1954 wurden daraufhin in Amsterdam zahlreiche Zettel und Plakate mit der Aufschrift »Deutsche nicht erwünscht« platziert. Anstoß erregt hatte bei den bundesdeutschen PEN-Mitgliedern zudem ein etwa zeitgleich in den P.E.N.-News des englischen Zentrums publizierter Artikel, in dem die Verfasserin Noel Streatfeild unter anderem auf die deutschen Kriegsverbrechen in den Niederlanden zurückblickte. Vgl. dazu Hanuschek (2004), S. 117– 119. 747 So eine Zusammenfassung Ossip Kalenters zit. n. Hanuschek (2004), S. 118. 748 Kästner, Erich an Nicolaas Anthonie Donkersloot. Brief vom 15. Juni 1954. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 229 – 232, hier S. 230. 749 Ebd., S. 230 f. Nicht zu übersehen ist, dass Kästner, um deutlich zu machen, wie wenig Van Vrieslands Aussagen auf ihn zutreffen, erneut auf seine – in dieser Ausschließlichkeit nicht zutreffende – Behauptung eines elfjährigen Schreibverbots, dem er während der NS-Zeit unterlegen hätte, zurückgreift.

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Hatte Kästner bereits den internationalen PEN-Kongress im Jahr 1948 aufgrund der Kollektivschuld-Vorwürfe vonseiten anderer Länder gemieden, so lässt sich in Anbetracht dieser Äußerungen aufs Neue eine klare Abwehrreaktion des Schriftstellers angesichts der Vorbehalte gegenüber den Deutschen konstatieren, von denen er sich und seine PEN-Kollegen eingeschlossen sah. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Van Vrieslands Aussagen über das ›noch immer lebendige‹ rechte Gedankengut in Deutschland scheint innerhalb der Kommunikation der Vorstandsmitglieder indes nicht erfolgt zu sein. Aussagekräftig ist in diesem Kontext ein Brief, den Kästner am 6. Juli 1954, kurz nach dem boykottierten Amsterdamer Kongress, an seinen Kollegen Edschmid schrieb und in dem er die Sinnhaftigkeit der gemeinsamen Entscheidung zum Boykott der Versammlung noch einmal bekräftigte. In dem Schreiben setzte er das erneute Ressentiment gegenüber den Deutschen weder mit der NS-Vergangenheit noch mit der – von ihm selbst öffentlich oftmals beanstandeten – defizitären Aufarbeitung dieser Vergangenheit durch seine Landsleute in Zusammenhang.⁷⁵⁰ Stattdessen führte er es gegenüber Edschmid darauf zurück, dass die übrigen Länder nicht mit den wirtschaftlichen und sportlichen Erfolgen, durch die sich die Bundesrepublik neun Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes hervortat, umgehen könnten. Die Woge des Nationalstolzes, die zahlreiche Bundesbürger nach der nur wenige Tage zuvor in Bern gewonnenen Fußball-Weltmeisterschaft ergriffen hatte, machte offenbar auch vor Kästner keinen Halt, denn er prognostizierte im Hinblick auf den nächsten internationalen PEN-Kongress, der im Folgejahr in Wien stattfinden sollte, ungewohnt patriotisch: Bis dahin werden uns die Österreicher verziehen haben, daß unsere Fußballer die ihren [im Halbfinale der WM, Anm. d.Verf.] 6:1 geschlagen haben. Umso eher, als wir ja auch im Endspiel die Ungarn schafften. Immerhin, – Mercedes gewann den Grandprix; der »Volkswagen« hat den europäischen Markt erobert; die deutschen Reise-Omnibusse sind überall zu sehen; Frankreich laviert sich in die Schmoll-Ecke, – unsere Beliebtheit sinkt wieder einmal rapide. Das war ja auch der psychologische Hintergrund der PEN-Vorgänge, so traurig das ist. Solange wir klein und häßlich waren, klopfte man uns gönnerhaft auf die magere Schulter. Die neue notwendige Einstellung fand man nicht. Unsere Reaktion war deshalb unvermeidlich. Wollen wir hoffen, daß sie, in aller Stille, das Verhalten uns gegenüber auszubalancieren hilft! Wir wollen ja nicht mehr, als »Gleiche unter Gleichen« zu werden.⁷⁵¹

750 Auf die Diskrepanz zwischen Kästners Forderungen an seine Landsleute, sich kritisch mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, und seinen Ressentiments gegenüber anderen Ländern, die den Deutschen ebenjene Vergangenheit zum Vorwurf machten, geht Kapitel 4.1.2 dieser Untersuchung vertiefend ein. 751 Kästner, Erich an Kasimir Edschmid. Brief vom 6.7.1954. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 235 f., hier S. 235.

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Zumindest der Anspruch, von den PEN-Sektionen anderer Länder als »Gleiche unter Gleichen« angesehen zu werden, sollte sich im Laufe der Folgejahre zunehmend erfüllen. Einen nicht unerheblichen Einfluss darauf dürfte eine federführend von Kästner ins Leben gerufene Gedenkfeier gehabt haben, die der bundesdeutsche PEN im Mai 1958 anlässlich der 25 Jahre zuvor vonstattengegangenen Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten initiierte. Im Rahmen dieser Veranstaltung hielt der Schriftsteller seine vielfach nachgedruckte und international beachtete⁷⁵² Rede Über das Verbrennen von Büchern, in der er, wie bereits im Vorwort seiner Anthologie Bei Durchsicht meiner Bücher, unter anderem auf seine eigene Rolle als Augenzeuge des Autodafés zu sprechen kam.⁷⁵³ Ein Jahr nach diesem wohl bedeutendsten öffentlichen Beitrag Kästners als PEN-Präsident⁷⁵⁴ durfte seine Sektion schließlich den internationalen PEN-Kongress ausrichten, was angesichts der langjährigen Vorbehalte vonseiten anderer Sektionen einem diplomatischen und kulturpolitischen Triumph gleichkam.⁷⁵⁵ Für Kästner wurde die in Frankfurt am Main abgehaltene Versammlung mit dem Thema »Schöne Literatur im Zeitalter der Wissenschaft« gleich in zweifacher Hinsicht zum Erfolg: Das Zentrum hatte unter seiner Präsidentschaft nicht nur die internationale Anerkennung erlangt, die sich in der Erlaubnis, die Versammlung auszurichten, offenbarte. Er selbst wurde bei diesem Anlass auch zu einem der Vizepräsidenten des Internationalen PEN gewählt.⁷⁵⁶ Während die Bundesrepublik und ihre PEN-Sektion spätestens zum oben genannten Zeitpunkt in der internationalen Staatengemeinschaft angekommen waren,⁷⁵⁷ gestaltete sich die Beziehung der Clubmitglieder zum Deutschen PEN-Zentrum Ost und West weiterhin schwierig. Freilich versuchte man, den Kontakt zu den Mitgliedern des anderen Clubs nicht gänzlich abreißen zu lassen und bemühte sich im direkten Umgang um freundliche Distanz.⁷⁵⁸ Allerdings war die Kommunikation über die Kollegen aus dem Osten, so sehr das Gros der bundesdeutschen Schrift-

752 Vgl. dazu Pfanner, Helmut F.: Erich Kästners Verhältnis zu anderen Autoren im Spiegel seines Briefwechsels. In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 4. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 65 – 73, hier S. 70. 753 Siehe Kästner, Erich: Über das Verbrennen von Büchern [1958]. In: EKW VI, S. 638 – 647. Eine nähere Betrachtung der Ansprache erfolgt in Kapitel 4.2.5. 754 Vgl. Hanuschek (1999), S. 189. 755 Vgl. dazu Hanuschek (2014), S. 310 f. 756 Die im Oktober desselben Jahres folgende Jahresversammlung des bundesdeutschen Zentrums in Konstanz wurde dagegen, zu Kästners Missfallen, zum Reinfall: Waren die bundesdeutschen Mitglieder bereits in Frankfurt eher spärlich präsent, erschienen zu diesem Anlass lediglich zehn der Clubmitglieder persönlich. Vgl. ebd., S. 311. 757 Vgl. ebd. 758 Vgl. ebd., S. 308.

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steller auch versuchte, sich nicht vom Kalten Krieg vereinnahmen zu lassen, realiter unverkennbar von dessen spannungsgeladener Atmosphäre geprägt. Welch hohes Konfliktpotential divergierende Haltungen zu den Ost-Autoren innerhalb des westdeutschen Zentrums bargen und welche Herausforderungen dieser Umstand für Kästner als Präsidenten mit sich brachte, lässt sich exemplarisch anhand eines Briefes verdeutlichen, den Kästner im Februar 1957 an Hermann Kesten verfasste. Zuvor hatte Harry Buckwitz als Generalintendant der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main den Vorschlag an Walter Schmiele herangetragen, im Rahmen der baldigen Jahresversammlung des westdeutschen PEN ein Stück des kurz zuvor verstorbenen Bertolt Brecht zur Aufführung zu bringen.⁷⁵⁹ Schmiele, der den Vorschlag nach Absprache mit Kästner annehmen wollte, hatte auf seine Ankündigung des Programmpunktes hin einen erzürnten Brief von Kesten erhalten. Dieser monierte, dass es die Prinzipien des bundesdeutschen PEN und seiner Mitglieder verkenne, »uns den Nachlass eines Autors aus dem Nachlass von Stalin […] anzubieten« – schließlich sei Brecht »der rabiateste und devoteste Propagandist einer dehumanisierten Diktatur«⁷⁶⁰ gewesen. Kästner, dem eine Kopie dieses Schreibens zugegangen war, teilte Kestens antikommunistischen Affekt zwar nicht,⁷⁶¹ war aber augenfällig darum bemüht, weitere clubinterne Dispute in dieser Angelegenheit von vorneherein zu verhindern. So gab er sich Kesten gegenüber angesichts seiner eigenen ursprünglichen Befürwortung von Schmieles Planung gleichsam naiv: Er habe nichts dabei gefunden – schließlich sei »Brecht bis zu seinem Tode Präsident des Ostdeutschen Zentrums gewesen«.⁷⁶² Im Weiteren untermauerte Kästner jedoch einlenkend, dass er 759 Buckwitz war einer der größten Förderer der Werke Brechts in der jungen Bundesrepublik. Welches Stück des Autors er anlässlich der PEN-Versammlung im Auge hatte, wird in der Korrespondenz nicht explizit benannt; laut Hanuschek (2004, S. 166) muss es sich um Mutter Courage und ihre Kinder gehandelt haben, ein Drama, das Brecht bereits 1938/1939 verfasst hatte. 760 Kesten, Hermann an Walter Schmiele. Brief vom 6. 2.1957 zit n. Hanuschek (2004), S. 166. Mit dieser Auffassung stand Kesten in den 1950er Jahren alles andere als allein da: Zwar wurden Brechts dramatische Werke in der jungen Bundesrepublik durchaus nicht selten zur Aufführung gebracht. Allerdings kam es angesichts der antikommunistischen Stimmungslage, die der Kalte Krieg mit sich brachte, mehrmals zu Versuchen, seine Stücke zu boykottieren, wobei man sich gemeinhin weniger auf die eigentlichen Texte als auf die kommunistische Haltung, die man ihrem Verfasser zusprach, bezog. Zu den Maßnahmen gegen die Brecht-Aufführungen siehe weiterführend auch Buchloh, Stephan: »Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich«. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Frankfurt a. M. 2002, S. 141 – 182. 761 Vgl. Hanuschek in Kästner (2003), S. 300. Auch in seinem am selben Tag verfassten Brief an Schmiele verdeutlichte Kästner, dass er selbst »wesentlich toleranter über den Fall denke«. Kästner, Erich an Walter Schmiele. Brief vom 12. 2.1957 zit. n. Hanuschek (2004), S. 167. 762 Kästner, Erich an Hermann Kesten. Brief vom 12. 2.1957. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003,

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von dieser anfänglichen Haltung abgekommen sei, nachdem sich neben Kesten auch der Verleger Joseph Witsch gegen Schmieles Plan ausgesprochen hatte: Da ich nun keineswegs glaube – nach diesem Auftakte – daß es mit Euren zwei Stimmen gegen den Plan sein Bewenden haben wird, habe ich soeben Schmiele brieflich geraten, diese Aufführungen von unserem offiziellen Programm abzusetzen. […] Ich bin also dafür, daß wir den Kasus im Keime ersticken; denn unsere Frankfurter Tagung soll ja wieder eine kameradschaftliche und herzliche Begegnung werden. Es ist ein Glück, daß Schmiele diesen Programmpunkt schon jetzt angekündigt hat. Denn auf der Tagung selber wäre es für eine gütliche Klärung zu spät gewesen.⁷⁶³

Durch seine Konfliktvermeidungsstrategie konnte Kästner in dieser Situation zwar einen größeren Eklat innerhalb des bundesdeutschen PEN, den die Aufführung Brechts potentiell nach sich gezogen hätte, verhindern.⁷⁶⁴ Das Verhältnis zu den Mitgliedern des anderen deutschen Clubs stellte ihn und seine Kollegen in den Folgejahren aber noch vor mannigfaltige weitere Herausforderungen. Beispielhaft demonstriert dies eine Kette von Ereignissen aus den Jahren 1960/1961, die mit Jens Thiel »in den Kontext des von Abstoßung und Annäherung, von Konfrontation und Kooperation gekennzeichneten Kalten Kulturkrieges«⁷⁶⁵ eingeordnet werden kann. In der besagten Zeit begann das PEN-Zentrum Ost und West, das sich im Laufe der 1950er Jahre zusehends zu einer staatlich beeinflussten Gruppe von Ost-Autoren entwickelt hatte,⁷⁶⁶ systematisch, jene bundesdeutschen Mitglieder, die nach wie vor Teil der Sektion waren, auszugrenzen. Dies offenbarte sich etwa in der Einladungspolitik, die der ostdeutsch besetzte Vorstand des Zentrums betrieb, nachdem er beschlossen hatte, seine Generalversammlung im Dezember 1960 in Hamburg

S. 298 – 301, hier S. 298. Dass das deutsche PEN-Zentrum Ost und West von Kästner hier bereits als »Ostdeutsche[s] Zentrum« klassifiziert wurde, ist gleichsam repräsentativ für die Korrespondenzen der Mitglieder des bundesdeutschen PEN in jener Zeit. 763 Kästner, Erich an Hermann Kesten. Brief vom 12. 2.1957. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 298 – 301, hier S. 299. 764 Schmiele gegenüber plädierte Kästner dafür, Buckwitz vorzuschlagen, anlässlich der Tagung eine andere Inszenierung zu präsentieren. Letztendlich wurde Carl Zuckmayers Schinderhannes aufgeführt. Vgl. Hanuschek (2004), S. 167. 765 Thiel, Jens: Einleitung. Vom »Hamburger Spectaculum« des PEN-Zentrums Ost und West zum »Hamburger Streitgespräch« der ZEIT – Ein Lehrstück aus dem Kalten Kulturkrieg in zwei Akten (1960/61). In: ders.: Ja-Sager oder Nein-Sager. Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West 1961. Eine Dokumentation. Berlin 2011, S. 7– 31, hier S. 23. 766 Ebd., S. 9.

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abzuhalten.⁷⁶⁷ Über die geplante Veranstaltung wurden nicht nur die verbliebenen westdeutschen Mitglieder des Clubs⁷⁶⁸ wahlweise gar nicht oder erst enorm spät informiert. Auch den Internationalen PEN und das PEN-Zentrum der Bundesrepublik überging man im Vorlauf weitgehend.⁷⁶⁹ In Anbetracht dieser Entwicklung plädierte Kästner im Namen des bundesdeutschen Zentrums gegenüber David Carver, dem Generalsekretär des Internationalen PEN, nachdrücklich dafür, dem anderen Club seinen »irreführenden Titel«,⁷⁷⁰ der Ost und West einschloss, abzuerkennen. Damit einhergehend bemängelte er auch die konspirative Atmosphäre, mit der sich das andere Zentrum seiner Wahrnehmung nach umgab: Wir wissen bis heute, trotz jahrelanger Ermahnungen, auch des Internationalen Generalsekretariats, noch immer nicht, wer Mitglied der ostdeutschen Gruppe ist. Vor allem lässt man uns und auch Sie absichtlich nach wie vor im unklaren, welche westdeutschen Schriftsteller und Journalisten im ostdeutschen PEN sind.⁷⁷¹

Hinsichtlich der erbetenen Umbenennung waren Kästners Bemühungen bis auf Weiteres nicht von Erfolg gekrönt: Erst 1967 wurde das PEN Zentrum Ost und West offiziell zum »PEN-Zentrum der DDR«. Zu einer reibungslosen Durchführung der Generalversammlung des anderen Clubs, deren Vorlauf die Verärgerung des bundesdeutschen PEN-Vorstands erzeugt hatte, war es allerdings ebenso wenig gekommen. Nachdem die Universität Hamburg ihre ursprüngliche Zusage, die Räume für die Tagung bereitzustellen, kurzfristig zurückgezogen hatte,⁷⁷² lud das Präsidium des PEN-Zentrums Ost und West die in Hamburg ansässigen Presseagenturen für den 8. Dezember zu einer improvisierten Konferenz in das Tagungshotel Hospiz Baseler Hof ein. Die Versammlung wurde jedoch nach nur fünfzehn Minuten von 767 Dies geschah in Abstimmung mit dem Kulturministerium und der Abteilung Kultur des ZK der SED; die Vorbereitung übernahm federführend die Generalsekretärin der Sektion, Ingeburg Kretzschmar. Mit der Wahl Hamburgs als Tagungsort widersprach das Zentrum wohlgemerkt seinem eigenen, auf der Generalversammlung 1958 explizit festgehaltenen, Beschluss, alle künftigen Versammlungen in Ost- oder West-Berlin abzuhalten. Vgl. ebd., S. 13 f. 768 Erwähnt seien exemplarisch etwa Heinrich Christian Meier, Günter Weisenborn, Karlludwig Opitz und Max Sidow. 769 Erst wenige Tage vor Beginn der für den 7. bis 9. Dezember geplanten Versammlung erhielt der Vorstand des bundesdeutschen PEN eine Einladung, in der die Schriftsteller gebeten wurden, der Veranstaltung als ›Ehrengäste‹ beizuwohnen – was aus ihrer Sicht einem zusätzlichen Affront vonseiten der Literaten aus dem Osten gleichkam. Vgl. Thiel (2011), S. 13. 770 Kästner, Erich an den Internationalen PEN-Club, Generalsekretär David Carver. Brief vom 19.12. 1960 zit. n. Thiel (2011), S. 100. 771 Ebd. 772 Vgl. dazu weiterführend ebd., S. 14 f.

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einem anwesenden Hauptmann des Landeskriminalamtes unter Androhung einer polizeilichen Räumung beendet: Da die Gruppe als kommunistische ›Tarnorganisation‹ auf den Listen des Verfassungsschutzes vermerkt war, galt die Veranstaltung als illegal.⁷⁷³ »Daß es, gelinde gesagt, ungeschickt war, die Pressekonferenz des ostdeutschen PEN aufzulösen und damit Stoff für Kommentare in Ostdeutschland zu liefern,« stand für Kästner, wie er gegenüber dem Internationalen PEN betonte, »außer Zweifel.«⁷⁷⁴ In der Tat nutzte die DDR-Propaganda das Ereignis als ›Steilvorlage‹ für ihre Kritik am Westen,⁷⁷⁵ womit »dem Internationalen PEN und den verschiedenen deutschen PEN-Zentren«, wie Kästner treffend zusammenfasste, »nicht geholfen [war].«⁷⁷⁶ In der Bundesrepublik wiederum fielen die Medienreaktionen höchst ambivalent aus: Während die Springer-Presse das ›Hamburger Spectaculum‹ hämisch und mit vielfachen antikommunistischen Seitenhieben kommentierte, reagierten nicht wenige andere Blätter bestürzt oder zumindest nachdenklich auf die Geschehnisse.⁷⁷⁷ Der Herausgeber der in Hamburg erscheinenden Zeit, Gerd Bucerius, nahm die Vorgänge sogar zum Anlass, eine öffentliche Diskussion zwischen Autoren aus beiden Teilen Deutschlands zu initiieren, um eine Entspannung der Ost-West-Beziehungen zu erwirken.⁷⁷⁸ Zu der Debatte, die von der Zeit-Journalistin Marion Gräfin Dönhoff und der Generalsekretärin des PEN-Zentrums Ost und West, Ingeburg Kretzschmar, geplant wurde, lud man allerdings erneut weder ein Vorstandsmitglied des bundesdeutschen PEN noch ein westdeutsches Mitglied des Zentrums Ost und West ein – ein Vorgehen, das das westdeutsche Zentrum als erneuten Affront aus dem Osten ansah. Öffentlich bewahrte Kästner angesichts der Mitgliedschaft beider innerdeutscher Zentren im Internationalen PEN wie so oft die Contenance. Wie verärgert er mittlerweile persönlich über das Geschehen war, belegt hingegen eine Notiz, die er am Vortag des ›Hamburger Streitgesprächs‹, das

773 Vgl. ebd., S. 15. 774 Kästner, Erich an den Internationalen PEN-Club, Generalsekretär David Carver. Brief vom 19.12. 1960 zit. n. Thiel (2011), S. 100. 775 Der Empörung im Osten wurde durch Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehberichte größtmögliches Gewicht verliehen; zudem hatten die Abteilung Kultur des ZK der SED und der Presserat des Ministerrates der DDR für den 13. Dezember eine Pressekonferenz einberufen, auf der unter anderem die Journalisten aus dem Westen aufgefordert wurden, ihre Meinung zu den Vorgängen publik zu machen. Vgl. Thiel (2011), S. 16. 776 Ebd. Zu den Pressereaktionen siehe auch ebd. 777 Vgl. dazu ebd., S. 16 f. 778 Vgl. ebd. Hierbei waren die Teilnehmer dazu angehalten, über die Rolle des Literaten, der Literatur und des PEN im geteilten Deutschland zu diskutieren und sich der Frage zu widmen, »ob Schriftsteller ihrem Staat jeweils als Ja-Sager oder als Nein-Sager gegenüberstehen sollten«. Ebd., S. 20.

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für den 7. bis 8. April 1961 angesetzt war, an das Sekretariat des westdeutschen PEN richtete. Er monierte, für seine Verhältnisse außergewöhnlich unverblümt: Diese Ost-Brüder rechnen immer damit, daß wir nobler sind als sie selber, und behalten jedes Mal recht. Denn natürlich können wir ihre Unfairness nicht an die große Glocke hängen, dem Intern. PEN zuliebe. Außer die Hamburger Tage verlaufen sehr vorlaut. Dann möchte man ihnen doch wohl eins aufs Maul hauen.⁷⁷⁹

Tatsächlich entwickelte sich in Hamburg eine hitzige Debatte über die Rolle des Schriftstellers in Ost und West,⁷⁸⁰ die erwartungsgemäß ein großes und kontroverses Medienecho nach sich zog.⁷⁸¹ Zu offenen Auseinandersetzungen zwischen den beiden deutschen PEN-Zentren kam es danach jedoch nicht. Stattdessen mussten sich Kästner und die westdeutschen PEN-Mitglieder in ihrer Beziehung zu den Literaten aus dem Osten nur wenige Monate später einer erneuten – und zweifelsohne weitaus größeren – Herausforderung stellen: der Positionierung zum Bau der Berliner Mauer. Nachdem zunächst keine öffentliche Stellungnahme des PEN-Zentrums der BRD auf den am 13. August 1961 begonnenen Mauerbau erfolgt war,⁷⁸² sich aber zeigte, dass dieser von verschiedenen DDR-Literaten explizit bejaht wurde,⁷⁸³

779 Kästner, Erich an Marianne Wächter, Sekretariat des Deutschen PEN-Zentrums der Bundesrepublik. Brief vom 6.4.1961 zit. n. Thiel (2011), S. 190. 780 Hierüber diskutierten am zweiten Veranstaltungsabend unter der Leitung des Zeit-Feuilletonchefs Rudolf Walter Leonhardt letztendlich Martin Beheim-Schwarzbach, Marcel Reich-Ranicki und Hans Magnus Enzensberger als Vertreter des Westens mit Arnold Zweig, Hans Mayer und (dem eigentlich in München lebenden) Carl August Weber als Vertreter des Ostens. Besonderes Aufsehen erregten dabei Reich-Ranickis Kritik an der Verfolgung von Schriftstellern im Osten und Arnold Zweigs unerwartet deutliches Bekenntnis zur DDR. Ein Protokoll des Streitgesprächs findet sich abgedruckt bei Thiel (2011), S. 249 – 299. 781 Vgl. dazu ebd., S. 20 – 22. 782 Diese Tendenz zur politischen Zurückhaltung des westdeutschen PEN-Clubs hatte sich vor dem Mauerbau beispielsweise bereits 1956 nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch sowjetische Truppen offenbart. Zwar reihte sich der bundesdeutsche PEN in die internationalen Proteste angesichts der Verurteilung ungarischer Schriftsteller bei Kádár ein; rein quantitativ war das Engagement der Clubmitglieder jedoch geringfügig: Eine vom Internationalen PEN initiierte ›Patenschaft‹, bei der die Literaten je einen ungarischen Schriftsteller-Kollegen durch Pakete mit Lebensmitteln und Textilien unmittelbar unterstützen konnten, übernahmen nur vier Mitglieder des bundesdeutschen PEN, nämlich Heinrich Böll, Erhart Kästner, Klaus Piper und Walter Schmiele. Vgl. Hanuschek (2014), S. 309 sowie Hanuschek (2004), S. 164 – 166. 783 Bruno Apitz, Stephan Hermlin, Erwin Strittmatter und Bodo Uhse hatten den Mauerbau bspw. dezidiert verteidigt, nachdem sie und die übrigen Mitglieder des DDR-Schriftstellerverbandes in einem offenen Brief von Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass zum Protest aufgefordert worden waren. Vgl. Hanuschek (2014), S. 314.

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brachte Wolfdietrich Schnurre in einem Brief an den Vorstand des Zentrums seine Beunruhigung über dessen Schweigen zum Ausdruck. Unter Berufung auf die PENCharta forderte er Kästner und seine Kollegen auf, eine Resolution zu verfassen, die sich »gegen das menschenunwürdige Verhalten der ostdeutschen Schriftsteller«⁷⁸⁴ aussprechen sollte, deren Einverständnis mit dem Bau der Mauer für ihn einer Befürwortung der Unterdrückung von Meinungsfreiheit in der DDR gleichkam. Zur Verärgerung Schnurres, der daraufhin demonstrativ aus dem Zentrum austrat, ging der Vorstand jedoch nicht auf sein Anliegen ein. Zwar gab Kästner eine Presseerklärung heraus, in der er seine Überzeugung verlauten ließ, dass die Mitglieder des bundesdeutschen PEN die Vorgänge um den Mauerbau »ablehnen und mit äußerster Sorge beobachten«⁷⁸⁵ würden. Zugleich verwies er allerdings erneut auf die Mitgliedschaft beider innerdeutscher PEN-Sektionen im Internationalen PEN, der es »nach wie vor als eine wichtige Aufgabe« ansehe, den Kontakt zwischen West- und Ost-Autoren »trotz aller Spannungen nicht zu unterbrechen.«⁷⁸⁶ Darüber hinaus verkündete Kästner, dass die Entscheidung über das weitere Vorgehen durch einen internationalen Mehrheitsbeschluss getroffen werde, der »den Spielregeln der Demokratie gemäß« freilich nicht die Meinung des westdeutschen Zentrums wiedergeben müsse.⁷⁸⁷ Hanuschek spricht Kästner in Bezug auf diese öffentliche Positionierung zum Mauerbau ein Selbstverständnis als »Geheimdiplomat« zu, »der die Gesprächsbasis des Clubs auch für Schriftsteller aus dem Ostblock erhalten wollte und daher auf großartige öffentliche Resolutionen verzichtete«.⁷⁸⁸ Ob diese Einschätzung zutrifft oder ob der Schriftsteller es primär vermeiden wollte, sich selbst durch eine eindeutigere Stellungnahme zum Mittelpunkt weiterer, erneut zu regelnder Konflikte 784 Schnurre, Wolfdietrich an Kasimir Edschmid. Brief vom 13.9.1961 zit. n. Hanuschek (2014), S. 315. 785 Kästner, Erich zit. n. Hanuschek (2014), S. 316. 786 Kästner, Erich zit. n. ebd. 787 Kästner, Erich zit. n. ebd. Realiter lief die Strategie, die Entscheidung über den weiteren Umgang mit der heiklen Situation dem Internationalen PEN zu überlassen, zunächst ins Leere, denn das internationale Exekutivkomitee lehnte es auf seiner Sitzung im November 1961 ab, sich in die als innerdeutsch betrachtete Angelegenheit einzumischen. Auf der nächsten Exekutivsitzung, die im Mai 1962 (und somit nach Kästners Rücktritt von seiner Präsidentschaft) erfolgte, wurde schließlich beschlossen, ein Treffen der beiden deutschen PEN-Präsidien außerhalb Deutschlands zu organisieren. Obschon man die ›Gesprächskrise‹ der beiden Zentren auf diese Weise vordergründig überwinden konnte, dauerte es noch lange, bis die beiden Clubs mehr als nur ›formale‹ Kontakte zueinander pflegten. Erst 1964 wurde auf Veranlassung des Internationalen PEN ein (nur wenige Jahre bestehender) Verbindungsausschuss beider Gruppen gegründet, der durch die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen ein engeres Zusammenwirken der Ost- und West-Literaten anbahnen sollte. Vgl. dazu Hanuschek (2014), S. 317– 324. 788 Hanuschek (2003), S. 369.

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zu machen, ist letzten Endes schwerlich zu beurteilen. Für die zweite Möglichkeit spräche potentiell die von Hanuschek selbst konstatierte ›Amtsmüdigkeit‹, die Kästner zu jener Zeit bereits auszeichnete: Schon nach der Ausrichtung der internationalen PEN-Tagung 1959 hatte er erwogen, von seiner Position als Präsident zurückzutreten, und sich im Laufe der Folgejahre innerlich immer mehr von seinen Aufgaben zurückgezogen.⁷⁸⁹ Im April 1962 legte er seine Präsidentschaft schließlich tatsächlich nieder; die letzten Monate seiner Amtszeit hatte er krankheitsbedingt in einem Sanatorium in Agra (Tessin) verbracht,⁷⁹⁰ wo er bereits nur noch gelegentlich von seinem Vorstandskollegen Walter Schmiele über die aktuellen Vorgänge im PEN unterrichtet worden war.⁷⁹¹ Nach seinem Rücktritt blieb er dem bundesdeutschen Zentrum aber als Ehrenpräsident erhalten. Signifikant ist, dass nach der allmählichen Ablösung Kästners und der alten Vorstandsgarde aus den 1950er Jahren nach und nach eine deutliche Vergrößerung, Verjüngung und Politisierung des Zentrums einsetzen sollte,⁷⁹² das zuvor, mit Hanuschek gesprochen, als politische Institution »nur bedingt tauglich«⁷⁹³ gewesen war. Obgleich der bundesdeutsche PEN sich unter Kästners Präsidentschaft mehr durch Repräsentativität denn durch gemeinsame (politische) Aktivität auszeichnete, ist nicht außer Acht zu lassen, wie enorm das soziale und symbolische Kapital war, das der Schriftsteller in seiner Position insbesondere im Laufe der 1950er Jahre akkumulieren konnte. Inwieweit er das Prestige, das er als langjähriger Repräsentant der deutschen Schriftsteller erlangt hatte, zwar nicht primär für kollektive, aber doch für eigene Positionierungen innerhalb politischer Diskurse zu nutzen

789 Vgl. Hanuschek (2014), S. 316. Zudem kam es in den frühen 1960er Jahren vermehrt zu internen Streitigkeiten Kästners und Walter Schmieles mit Kasimir Edschmid und Hermann Kasack. Letztlich trat Schmiele gemeinsam mit Kästner in der Wahlperiode 1962 zurück. Vgl. hierzu auch Pfanner (2004), S. 71. 790 Nachdem Kästner im Oktober 1961 einen Ischias-Anfall erlitten hatte, wurde bei einer der anschließenden Untersuchungen eine offene Lungentuberkulose diagnostiziert, in deren Folge der Schriftsteller mehrere Klinikaufenthalte und schließlich, ab Januar 1962, einen fast anderthalbjährigen Sanatoriums-Aufenthalt in Agra (Tessin) absolvieren musste. 791 Vgl. Hanuschek (1999), S. 189 – 191. Die Position des Präsidenten hatte nach Kästners Rücktritt 1962 zunächst Bruno E. Werner inne, der jedoch bereits zwei Jahre später verstarb. Ihm folgten in dem besagten Amt zu Kästners Lebzeiten noch Dolf Sternberger (von 1964 – 1970), Heinrich Böll (von 1970 – 1971) und, als erster Emigrant in dieser Position, Hermann Kesten (von 1971 – 1976). 792 In diesem Zusammenhang ist insbesondere die kurze Amtszeit Heinrich Bölls hervorzuheben, der 1971 zum Präsidenten des Internationalen PEN gewählt wurde und daher nicht erneut für den bundesdeutschen PEN kandidierte. Bölls Engagement, das deutlich im Zeichen von Willy Brandts neuer Ostpolitik stand, galt etwa dem Einsatz für die verfolgten Schriftsteller in Osteuropa.Vgl. dazu weiterführend Hanuschek (2014), S. 328 f. Einen detaillierten Einblick in den weiteren Verlauf der Clubgeschichte bis in die 1990er Jahre gibt Hanuschek (2004), S. 297– 502. 793 Hanuschek (1999), S. 192.

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vermochte, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung aufzuzeigen sein. Vorab sei aber, auf Grundlage der bisher gewonnenen Erkenntnisse, eine Bilanz zu Kästners Reetablierung nach dem Ende des NS-Regimes und seine Stellung im kulturellen beziehungsweise literarischen Feld der Nachkriegszeit gezogen.

3.2.6 Zwischenfazit »Endlich enden der Krieg und die Diktatur des Dritten Reiches, und Kästner ist wieder frei und der Alte.«⁷⁹⁴ konstatierte Hermann Kesten über die Situation seines langjährigen Freundes und Kollegen nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und dem damit einhergegangenen Zusammenbruch des NS-Regimes. Auch Hermann Kurzke bescheinigte dem Schriftsteller ein gelungenes Anknüpfen an seine Arbeiten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme: Die Jahre von 1945 bis 1952 seien »ein zweiter Höhepunkt seines Schaffens, das silberne Zeitalter nach dem goldenen von 1927 bis 1933«⁷⁹⁵ gewesen. In der Tat lässt sich die unter anderem von Klaus Doderer übernommene These über die ›silberne Schaffenszeit‹⁷⁹⁶ Kästners in Anbetracht der vorangegangenen Untersuchungsergebnisse bestätigen. Betrachtet man die Positionen, die Kästner nach dem 8. Mai 1945 im kulturellen Feld einnahm, im Zusammenhang, dann kommt man nicht umhin, ihm (zumindest bis in die 1950er Jahre hinein) eine äußerst erfolgreiche Reetablierung als Journalist und Literat zu bescheinigen: In dieser Zeit war er in sämtlichen seiner zuvor beleuchteten Tätigkeitsbereiche aktiv und konnte einen immens großen und breit gefächerten Rezipientenkreis erreichen. Sowohl die journalistischen Publikationsorgane als auch die Kabaretts, für die er tätig war, gehörten im Nachkriegsdeutschland über einige Jahre hinweg zu den erfolgreichsten ihrer Art. Zwischen ihrem und dem Kästner’schen Bekanntheitsgrad bestand, wie aufgezeigt, eine gleichsam symbiotische Beziehung. Insbesondere seine Stellung als Feuilletonleiter der Neue[n] Zeitung wusste Kästner strategisch einzusetzen, um für seine anderen Schaffensbereiche zu ›werben‹. Wurden seine Publikationen für Erwachsene nach ihrem Erscheinen größtenteils überaus positiv aufgenommen, so entwickelte sich um seine Kinderbücher und Filme sogar ein regelrechter ›Boom‹. Sein nationales wie internationales Prestige als Schriftsteller wurde darüber hinaus durch seine mehrmalige Wahl zum PEN-Präsidenten bestätigt und erhöht.

794 Kesten (1970), S. 131. 795 Kurzke (1998), S. 413. 796 Vgl. Doderer (1999), S. 141.

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Augenfällig ist, wie gewinnbringend es Kästner in den unmittelbaren Nachkriegsjahren gelang, sich das kulturelle, soziale und symbolische Kapital zu Nutzen zu machen, das er in seiner ersten Schaffensphase und während der nationalsozialistischen Herrschaftszeit akkumuliert hatte. So konnte er bereits durch die bloße Wiederveröffentlichung seiner über viele Jahre innerhalb Deutschlands verbotenen Werke erste Erfolge für sich verbuchen und sich auf diese Weise in seinem Heimatland als Autor für Kinder und Erwachsene in Erinnerung rufen. Seine Berühmtheit als Journalist und Literat der Weimarer Republik und seine zahlreichen frühen Freund- und Bekanntschaften zu anderen Akteuren des kulturellen Feldes verhalfen ihm dazu, seine verschiedenen prestigeträchtigen Positionen nach 1945 einnehmen zu können. Vor allem seine exponierten Stellungen bei der NZ und innerhalb des PEN konnte er nutzen, um weitere alte Kontakte aufleben zu lassen und neue zu knüpfen. Kurzum, er verfügte nach dem Ende der NS-Diktatur über ein enormes und kontinuierlich wachsendes soziales Kapital und war mit verschiedenen Akteuren und Gruppierungen des literarischen Feldes (von den Exilschriftstellern und den ›inneren Emigranten‹ über die Literaten in West- und Ostdeutschland bis hin zur ›Jungen Generation‹) vernetzt, wobei er unter anderem als Unterstützer, Informationsvermittler, Beschwichtiger in Konfliktsituationen oder auch als Förderer auftrat. Von größter Bedeutung für seine unmittelbare Nachkriegskarriere war allerdings sein symbolisches Kapital als politisch ›unbelasteter‹ Nicht-Emigrant, das er innerhalb seiner verschiedenen Arbeitsbereiche immer wieder ›ausspielte‹ und zum Grundstein seiner Selbstdarstellung nach dem Zweiten Weltkrieg machte: In journalistischen wie literarischen Publikationen, Interviews und Reden präsentierte er sich nahezu konsequent in der Rolle des im ›Dritten Reich‹ verbotenen Autors, der bereits vor 1933 vor den Nationalsozialisten gewarnt hatte. Dass Kästner in seinen äußerst produktiven Schaffensjahren nach dem Ende der Diktatur eine dominierende Position im kulturellen Feld erlangte und damit günstige Ausgangsmöglichkeiten hatte, um sich innerhalb politischer Diskurse zu positionieren, steht, wie sich zusammenfassen lässt, außer Frage. Bereits der kursorische Einblick in die Inhalte seiner journalistischen und literarischen Projekte hat gezeigt, dass er diese Möglichkeiten oftmals dezidiert wahrnahm. Zwar produzierte Kästner auch nach dem Ende des NS-Regimes mit großem Erfolg Unterhaltungstexte. Jedoch lässt sich, verglichen mit dem breiten Themenspektrum seiner ersten großen Schaffensphase vor 1933, vor allem innerhalb seiner Arbeiten für Erwachsene eine deutliche Schwerpunktverschiebung hin zur Behandlung politischer Themen erkennen. Hervorzuheben ist, dass selbst Kästners im Laufe der späten 1950er Jahre schleichend einsetzender Bedeutungsverlust als ›ErwachsenenSchriftsteller‹ seinen Wirkungschancen als Intellektueller keinen Abbruch tat. Gewiss gelang es ihm nach 1945 nicht mehr, neue literarische Werke für Erwachsene

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zu verfassen, denen eine langfristige literaturhistorische Bedeutung zugesprochen werden sollte. Auch konnte er die autonomeren Strukturen des literarischen Feldes in der jungen Bundesrepublik nicht so gewinnbringend zur Beförderung seiner Karriere nutzen, wie manch andere Autoren dies vermochten. Gleichwohl blieb er aufgrund seiner früheren literarischen Verdienste, der zahlreichen Besprechungen seiner Wieder- und Neuveröffentlichungen, der anhaltenden Erfolge als Kinderbuch- und Filmautor, der prestigeträchtigen Position als Vertreter der (west)deutschen Schriftsteller im PEN und der Vielzahl ihm verliehener Preise eine vielbeachtete Person der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Wie Kästner seine Positionen und die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit bis in seine späten Lebensjahre hinein nutzte, um sich in (kultur)politische Debatten einzumischen, Kritik zu üben und Verhaltensalternativen anzumahnen, soll nun aufgezeigt werden.

4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg Obgleich Kästner sich selbst erst in den frühen 1950er Jahren expressis verbis als Intellektueller bezeichnen sollte,¹ inszenierte er sich, wie im vorherigen Teil der Untersuchung aufgezeigt werden konnte, bereits in verschiedenen Publikationen der unmittelbaren Nachkriegsjahre dezidiert in der Rolle des politischen Mahners und Warners. In die Reihe dieser (noch) impliziten Selbstverortungen als Intellektueller fügt sich auch eine der meistzitierten Reden ein, die der Autor 1948 vor dem Zürcher PEN-Club hielt: Kästner über Kästner. ² In dieser Ansprache betonte er nicht nur, »kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister«³ zu sein. Er beschrieb sich auch als »Moralist«, »Rationalist« und »Urenkel der deutschen Aufklärung«.⁴ Letztere Selbstaussage ausschließlich als poetologische Standortbestimmung einzuordnen, griffe freilich zu kurz: Immerhin verweist sie zugleich auf eine Epoche, deren Orientierung an der Vernunft den ideologischen Denkmustern des zwanzigsten Jahrhunderts diametral entgegengesetzt war und deren Vertreter nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs laut Bering als ›Prototypen‹ des Intellektuellen (beziehungsweise ›Geistigen‹) gehandelt wurden.⁵ Der Umstand, dass sich Kästner selber nach 1945 nicht selten mit (zeit)typischen Zuschreibungen über Intellektuelle versah, kann jedoch schwerlich als Beleg dafür herangezogen werden, dass er jene Rolle auch tatsächlich einnahm. Um letzteres evident zu machen, gilt es stattdessen, in Anlehnung an die Kriterien der eingangs 1 Auf diese Selbstzuschreibung, die Kästner im Rahmen der Proteste des westdeutschen PENZentrums gegen die Verabschiedung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vollzog, geht Kapitel 4.2.3 näher ein. 2 Siehe Kästner, Erich: Kästner über Kästner [1948]. In: EKW II, S. 323 – 328. 3 Ebd., S. 326. 4 Ebd. 5 Vgl. dazu Bering (2011), S. 260 f. und 310 f. Expliziter als auf die von Kästner benannte deutsche Aufklärung bezog man sich dabei üblicherweise auf die französischen Denker. Dass Kästners Verehrung durchaus der gesamten Epoche galt, verdeutlicht sich bei der Betrachtung eines Briefes, den er wenige Jahre nach seiner Ansprache an den Literaturwissenschaftler und späteren Feuilletonredakteur Hansres Jacobi verfasste. Auf dessen Frage hin, ob er sich in seinem Wirken auch vom ›französischen Geist‹ beeinflusst sehe, legte er dar, dass ihn »[d]ie großen Gestalten und das Zeitalter der Aufklärung […] schon vor [s]einer Studienzeit brennend interessiert und bewegt [haben]«: »Nicht zuletzt aus meiner Bewunderung für Voltaire, Lessing usw. und für die eminente Bedeutung der ganzen Epoche und aus meiner skeptischen und agressiven [sic] Einstellung gegen den falschen Tiefsinn, der in Deutschland seit je so viel gegolten hat, ist meine Entwicklung, die ja im Grunde ›gut aufklärerisch‹ eine pädagogische ist, entstanden.« Kästner, Erich an Hansres Jacobi. Brief vom 5.1. 1952 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. https://doi.org/10.1515/9783111112169-006

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vorgestellten Intellektuellendefinitionen,⁶ die strukturellen Bedingungen und Merkmale seiner politischen Positionierungen⁷ detailliert zu beleuchten. Überblickt man das Korpus sämtlicher schriftlichen, mündlichen und symbolischen Beiträge, mit denen Kästner ab 1945 Stellung zur politischen und gesellschaftlichen Lage bezog, dann kristallisieren sich drei große Diskurse heraus, die prägend für die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren und denen sich nahezu sämtliche seiner Aussagen zuordnen lassen: Regelmäßig und über längere Zeiträume widmete sich der Autor immer wieder der Reflexion der deutschen Schuldfrage, der Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes sowie dem Einsatz für die Bewahrung des Friedens. In welchen thematischen wie situativen Kontexten Kästner sich innerhalb dieser Diskurse auf welche Art und Weise positionierte und so als Intellektueller agierte, untersuchen die nachfolgenden Unterkapitel.

4.1 Kästner und der Schulddiskurs Am 8. Mai 1945 sendete der zu diesem Zeitpunkt bereits seit sieben Jahren in den USA lebende Thomas Mann via Rundfunk eine Ansprache an die Deutschen, die nur wenig später in zahlreichen von den Alliierten herausgegebenen Nachrichtenblättern abgedruckt wurde. Darin ließ er die noch jungen Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern Revue passieren – Bilder, die »an Scheußlichkeit alles [überträfen], was Menschen sich vorstellen können« und einer offen liegenden »Schmach« des deutschen Volkes gleichkämen.⁸ »Denn«, so konstatierte Mann, alles Deutsche, alles was deutsch spricht, deutsch schreibt, auf deutsch gelebt hat, ist von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen. Es war nicht eine kleine Zahl von Verbrechern, es waren Hunderttausende einer so genannten deutschen Elite, Männer, Jungen und entmenschte Weiber, die unter dem Einfluß verrückter Lehren in kranker Lust diese Untaten begangen haben.⁹

6 Vgl. Kapitel 2.1. 7 Nicht zufällig wird hier zunächst von »politischen Positionierungen« respektive »Stellungnahmen«, statt von »Interventionen« gesprochen: Der Begriff der Intervention kann zwar für zahlreiche politische ›Einmischungen‹ Kästners in der jungen Bundesrepublik geltend gemacht werden. Ihn auch auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre zu beziehen, könnte jedoch zu Missverständnissen führen: Immerhin agierte Kästner zu jener Zeit, wie die folgenden Kapitel nachweisen werden, oftmals dezidiert im Sinne der ›Reeducation‹-Pläne der westlichen Besatzungsmächte und unterstützte deren Politik, statt in diese ›einzugreifen‹. 8 Mann, Thomas: Die Lager. In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 12: Reden und Aufsätze 4. Frankfurt a. M. 1974, S. 951 – 953, hier S. 951. 9 Ebd.

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Auf diese Botschaft Manns reagierten Walter von Molo, Frank Thiess und im Laufe des Jahres auch viele weitere nach 1933 in Deutschland gebliebene Schriftsteller¹⁰ mit offenen Briefen und Zeitungsartikeln.¹¹ Obgleich man anfänglich noch versuchte, den schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme emigrierten Nobelpreisträger zur Rückkehr in seine Heimat zu bewegen,¹² war es den (Brief‐)Schreibern von Beginn an nicht minder daran gelegen, die Mann’sche Schuldzuweisung zu entkräften – dementierten sie doch auf vielfachen Wegen jegliche Gleichsetzung des deutschen Volkes mit den NS-Verbrechern.¹³ In einem im September 1945 veröffentlichten offenen Antwortbrief ¹⁴ setzte Mann seine Kollegen in Deutschland schließlich nicht nur öffentlich davon in Kenntnis, dass er keinesfalls in sein früheres Heimatland zurückkehren wolle, da es ihm während der NS-Diktatur »recht fremd geworden«¹⁵ sei. Er äußerte sich auch abwertend über ihre in den Vorjahren entstandenen Publikationen, indem er herausstellte, dass »Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten« in seinen Augen »weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen« seien – es hafte ihnen »[e]in Geruch von Blut und Schande« an.¹⁶ Insbesondere dieses apodiktische Urteil zog zahlreiche schriftliche Angriffe auf Mann nach sich und

10 Man denke etwa an Edwin Redslob, Wilhelm Hausenstein, Otto Flake oder Manfred Hausmann, die sich im Laufe des Jahres 1945 mit Beiträgen zu Wort meldeten. 11 Der schon oftmals nachgezeichnete Verlauf der Debatte soll an dieser Stelle kein weiteres Mal im Detail rekonstruiert werden. Verwiesen sei stattdessen auf den pointierten Beitrag von Gut, Philipp: »Ein Geruch von Blut und Schande«. Die Kontroverse um Thomas Mann und die ›innere Emigration‹. In: Thomas Mann (1875 – 1955). Hg. von Walter Delabar und Bodo Plachta. Berlin 2005, S. 203 – 228. 12 Hierbei ist insbesondere Walter von Molos Offener Brief an Thomas Mann zu erwähnen, der am 13. August 1945 in der Münchner Zeitung erschien. Wie Torben Fischer konstatiert, wurde dieser Beitrag vonseiten der Forschung – fälschlicherweise – über lange Zeit als Ausgangspunkt der nachfolgenden Debatte betrachtet. Allerdings war Von Molos Schreiben, Fischer folgend, »keineswegs der gut gemeinte Brückenschlag zwischen den Lagern der ›inneren‹ und ›äußeren‹ Emigration, als der er oft gelesen wird« (Fischer 2007, S. 48), sondern muss als genuine Reaktion auf die vorherigen Schuldzuweisungen in der Ansprache Manns betrachtet werden. 13 Vgl. dazu auch Fischer, Torben: »Exildebatte«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 48 – 50, hier S. 48 f. 14 Der unter dem Titel Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe erschienene Beitrag wurde zunächst am 28. September 1945 in der deutsch-jüdischen New Yorker Exil-Zeitung Aufbau veröffentlicht und im Folgemonat in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen, beispielsweise der Neue[n] Schweizer Rundschau und dem Augsburger Anzeiger, nachgedruckt. Siehe auch Mann, Thomas: Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe. In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 12: Reden und Aufsätze 4. Frankfurt a. M. 1974, S. 953 – 962. 15 Ebd., S. 957. 16 Ebd.

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trieb die Zuspitzung der Debatte, die als ›Große Kontroverse‹ zwischen dem Exil und der ›Inneren Emigration‹ in die Literaturgeschichte eingehen sollte, maßgeblich voran.¹⁷ In das öffentliche Streitgespräch, dessen impliziter Dreh- und Angelpunkt stets die Frage blieb, welche Gruppierung der deutschen Literaten sich angesichts der nationalsozialistischen Machtübernahme moralisch richtig(er) verhalten hatte, schuldlos geblieben sei und nunmehr das Recht habe, über Deutschland zu sprechen, mischte sich schließlich, am 14. Januar 1946, auch Kästner ein. In einem NZArtikel, den er – nicht von ungefähr – mit dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen ¹⁸ versah, hielt der Schriftsteller in polemischem Gestus fest, dass »[j]ene Deutschen, die den Krieg und Hitler nicht gewollt hatten, die beides aber auch, trotz allem Bemühen und aller Pein, nicht hatten verhindern können,«¹⁹ eine »Torheit«²⁰ begangen hätten, indem sie Mann um seine Rückkehr baten. Immerhin sei dieser »ein alter Herr« und müsse »noch manches für ihn und uns wichtige Buch schreiben«, was er inmitten der deutschen Nöte wohl kaum könne.²¹ Folglich solle man nicht »ungerecht sein«: Daß wir in diesen grauen Tagen einen großen deutschen Dichter zu wenig haben, einen, der sich nicht hätte rufen lassen, sondern der ungerufen, vom Nachhauserennen noch ganz außer Atem, zwischen uns getreten wäre – daß wir diesen Mann nicht haben, dürfen wir dem anderen, dem Thomas Mann, nicht übel nehmen. Er wird und soll in Amerika bleiben. Zum Ersatz-Mann wäre er wahrhaftig zu schade.²²

Auf den ersten Blick verwundert es kaum, dass Kästner angesichts dieses provokativen Angriffs auf Mann in literaturgeschichtlichen Darstellungen nicht selten mit der Herabsetzung der Exilliteraten durch die in Deutschland gebliebenen Autoren in Verbindung gebracht worden ist.²³ Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Zuschreibung jedoch als unhaltbar. Zum einen trat er im Rahmen seiner redaktionellen Tätigkeit für Die Neue Zeitung dezidiert für einen gemeinsamen kulturellen

17 Vgl. dazu etwa Gut (2005), S. 220 – 222. 18 Die von Kästner gewählte Überschrift ist deckungsgleich mit dem Titel des bis heute umstrittensten Werks Thomas Manns, das dieser zwischen 1915 und 1918 verfasste. Zu dieser Zeit verteidigte Mann den Ersten Weltkrieg noch vehement und sprach sich zudem gegen eine Demokratisierung Deutschlands aus. Siehe Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt a. M. 2015. 19 Kästner, Erich: Betrachtungen eines Unpolitischen [NZ, 14.1.1946]. In: EKW VI, S. 516 – 519, hier S. 517. 20 Ebd., S. 519. 21 Ebd. 22 Ebd. Eine ausführliche Betrachtung des Artikels findet sich bei Hanuschek (2003), S. 330 – 332. 23 Vgl. dazu ebd., S. 328.

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Neubeginn ›innerer‹ und ›äußerer‹ Emigranten ein.²⁴ Zum anderen ging sein Artikel keineswegs mit einem pauschalen Überlegenheitspostulat gegenüber dem Exil einher, wie dies etwa für den begriffsprägenden Beitrag Die innere Emigration von Frank Thiess festzuhalten ist.²⁵ Gleichwohl scheint auch Kästner nicht allein den Beschluss des von ihm zuvor stets bewunderten Autors, nicht nach Deutschland zurückzukehren, »als persönliche Kränkung«²⁶ aufgefasst zu haben: Indem er »[j]ene Deutschen« in den Fokus rückte, »die den Krieg und Hitler nicht gewollt hatten«,²⁷ betonte er zugleich die Unschuld vieler seiner Landsleute und reagierte damit ähnlich sensibel auf die Vorwürfe Manns wie seine nicht-emigrierten Kollegen. Wie bereits bei der Betrachtung der Kästner’schen Position als gesamt- respektive westdeutscher PEN-Präsident deutlich gemacht wurde,²⁸ kam diese ›Sensibilität‹ in den Folgejahren noch mehrfach zum Tragen. Seine Weigerung, 1948 und 1954 an den internationalen PEN-Kongressen in Kopenhagen und Amsterdam teilzunehmen, lag schließlich jeweils darin begründet, dass im Vorlauf kollektive Schuldzuweisungen an die Deutschen beziehungsweise die in Deutschland gebliebenen Literaten vorgebracht worden waren. Allerdings bezog Kästner keineswegs nur gegenüber anderen Akteuren des literarischen Feldes Stellung, sobald die Rede auf eine etwaige Schuld der Deutschen kam. Vielmehr verfasste er ab 1945 eine ganze Reihe von Texten, an denen sich aufzeigen lässt, dass und wie er versuchte, die öffentliche Meinung innerhalb der damaligen Debatten zu beeinflussen. Damit geklärt werden kann, ob und inwiefern seine Aussagen ungewöhnlich oder repräsentativ beziehungsweise konstitutiv für den nachkriegsdeutschen Schulddiskurs waren, gilt es zunächst, zentrale Momente dieses Diskurses unabhängig von Kästners Person zu rekapitulieren. Um sich der politischen und gesellschaftlichen Reichweite und Brisanz, die die Schuldfrage nach dem Zweiten Weltkrieg hatte, anzunähern, ist es unumgänglich, sich als Erstes vor Augen zu führen, dass sich Deutschland und seine Bevölkerung 24 Siehe auch Kapitel 3.2.1. 25 Thiess wertete sich selbst und andere »innerdeutsche Emigranten« in seinem Artikel auf, indem er den Anspruch erhob, der »deutschen Tragödie« nicht »von den Logen und Parterreplätzen des Auslandes« zugeschaut zu haben: Es sei »nun einmal zweierlei, ob ich den Brand meines Hauses selber erlebe oder ihn in der Wochenschau sehe, ob ich selber hungere oder vom Hunger in Zeitungen lese, ob ich den Bombenhagel auf deutsche Städte lebend überstehe oder mir davon berichten lasse«. Thiess, Frank: Die innere Emigration. In: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891 – 1955. Hg. von Klaus Schröter. Frankfurt a. M. 2000, S. 336 – 338, hier S. 337. 26 In dieser Weise deutet Hanuschek (2003, S. 332) die heftige Reaktion Kästners auf Manns Absage. 27 EKW VI, S. 517. 28 Vgl. dazu Kapitel 3.2.5.

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ab dem 8. Mai 1945 in einer gänzlich anderen Situation befanden als nach dem Ersten Weltkrieg. Am Ende des Zweiten Weltkrieges stand kein Friedensvertrag, sondern die bedingungslose Kapitulation. Darüber hinaus war der vorangegangene Angriffskrieg nicht allein auf militärische Aktionen beschränkt geblieben, sondern mit dem wahnhaften Projekt der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und anderer entrechteter Minderheiten einhergegangen.²⁹ Vor diesem Hintergrund standen sich, mit Aleida Assmann gesprochen, nun »erstmals nicht mehr nur Sieger und Besiegte gegenüber, sondern auch Täter und Opfer.«³⁰ Diese neue Dimension in der Betrachtungsweise der am Krieg Beteiligten fand ihren Ausdruck am 20. November 1945 in der Eröffnung des ersten Nürnberger Prozesses: Im Rahmen der juristischen Verhandlung richteten die Alliierten in der Stadt der nationalsozialistischen »Rassengesetze« und Reichsparteitage ein internationales Militärtribunal ein, um die NS-Elite (genauer: 24 Hauptkriegsverbrecher und sechs NSOrganisationen) anzuklagen und öffentlich zu verurteilen. Neben »Kriegsverbrechen« und »Verbrechen gegen den Frieden« sollten hierbei auch die – zum ersten Mal in der Geschichte als Straftatbestand formulierten – »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« geahndet werden, die in den vergangenen Jahren begangen worden waren.³¹ Der Intention der Siegermächte entsprechend machte der Prozess nicht nur die Ausmaße der Gräueltaten (welt)öffentlich, sondern fungierte zugleich als sichtbarstes Zeichen der fokussierten Entnazifizierung.³² Davon, alle Deutschen anzuklagen, nahmen die Initiatoren des Prozesses allerdings ausdrücklich Abstand. Zwar war während des Krieges und unmittelbar nach seinem Ende in der ausländischen Öffentlichkeit durchaus die These einer deutschen ›Kollektivschuld‹ in Umlauf gewesen, die die Verantwortung für die verübten Verbrechen nicht allein der nationalsozialistischen Führungselite, son-

29 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 72. 30 Ebd. Assmanns Erkenntnissen über die historischen Bedingungen, psychischen Mechanismen und politischen Strategien von Gedächtniskonstruktionen folgend lässt sich das nationale Gedächtnis der Deutschen vor diesem Hintergrund nicht allein als »Verlierergedächtnis« beschreiben. Über den Umgang mit der Kriegsniederlage hinaus musste die Dimension des ›Täterseins‹ in die Erinnerungsprozesse und das Selbstbild der Nation integriert werden. Vgl. Assmann (2006), S. 66 f. 31 Während man zu den »Kriegsverbrechen« jene Taten zählte, die gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 und die Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 verstießen, fiel unter die Kategorie der »Verbrechen gegen den Frieden« die Planung, Einleitung und Durchführung des vorangegangenen Angriffskrieges. Als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« wurden Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, Deportationen und Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen sowie andere unmenschliche Handlungen an Zivilisten vor oder während des Krieges klassifiziert. Vgl. Meyer (2007c), S. 21. 32 Vgl. ebd. sowie Wolfrum (2007), S. 26 f.

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dern jedem einzelnen Mitglied des Volkes zusprach.³³ In Anbetracht ihrer ›umerzieherischen‹ Absichten distanzierten sich die Alliierten jedoch alsbald von diesem Gedanken. So stellte der amerikanische Hauptanklagevertreter Robert H. Jackson bereits am ersten Verhandlungstag öffentlich klar, dass man nicht beabsichtige, das ganze deutsche Volk zu beschuldigen.³⁴ Nichtsdestotrotz blieb die Diskussion über Schuld respektive Unschuld der Deutschen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterhin ein brisantes Thema in der (bundes)deutschen Öffentlichkeit.³⁵ Obgleich sowohl der Nürnberger Prozess und seine Nachfolgeprozesse³⁶ als auch die massenhafte Prüfung von Einzelfällen im Rahmen der Entnazifizierung demonstriert hatten, dass es den Alliierten um die Ahndung individueller Schuld ging, verhielt und äußerte man sich, Norbert Frei zufolge, auf deutscher Seite oftmals so, als stünde die Kollektivschuldthese noch offiziell im Raum.³⁷ Beispielsweise leitete der Philosoph Karl Jaspers seine im Frühjahr 1946 publizierte Schrift Die Schuldfrage mit der Fest-

33 Die Schuld eines Einzelnen bestimmt sich diesem Gedanken nach nicht zwangsläufig durch dessen explizite Täterschaft, sondern bereits durch die alleinige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, in diesem Fall: zum deutschen Volk.Vgl. Klaska, Frauke: »Kollektivschuldthese«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 43 f.; vgl. dazu auch Assmann (2006), S. 84. 34 Siehe Jackson, Robert H.: Opening Statement before the International Military Tribunal. https:// www.roberthjackson.org/speech-and-writing/opening-statement-before-the-international-militarytribunal/ [letzter Zugriff: 17.06. 2016]. Vgl. dazu auch Zürrlein, Hans: Die Frage der Kollektivschuld aus dem Blickwinkel deutscher Literaten und Publizisten. In: Zur literarischen Situation 1945 – 1949. Hg. von Gerhard Hay. Kronberg 1977, S. 15 – 35, hier S. 16. 35 Nicht von ungefähr bezogen nach Kriegsende zahlreiche Philosophen, Historiker, Schriftsteller und Publizisten Stellung zu »Ursachen, Zusammenhänge[n] und Schuldanteilen der jüngsten Vergangenheit« – erschienen doch allein im Jahr 1946 die Schriften Die Schuldfrage von Karl Jaspers, Die deutsche Katastrophe von Friedrich Meinecke, Der SS-Staat von Eugen Kogon, Abschied von der bisherigen Geschichte von Alfred Weber und Hitler in uns von Max Picard. Vgl. Schnell (2003), S. 62 f. 36 Vom Dezember 1946 bis zum April 1949 wurde der Nürnberger Prozess, dessen Verhandlungen am 30. September 1946 abgeschlossen wurden, durch zwölf von den USA ausgerichtete Nachfolgeprozesse ergänzt, die sich gegen die Funktionseliten des NS-Staates (wie etwa Juristen, Mediziner und Wirtschaftsmanager) richteten. Vgl. dazu weiterführend Ahrend, Roland: »Nürnberger Nachfolgeprozesse«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 22 – 24. 37 Mit Frei lassen sich die reflexartige Antizipation des Kollektivschuldvorwurfs und dessen anhaltende Präsenz im deutschen Nachkriegsbewusstsein als Ausdruck fortbestehender ›volksgemeinschaftlicher‹ Solidarisierungsbedürfnisse deuten, die aufgrund eines durchaus verbreiteten (wenn auch nicht eingestandenen) Gefühls persönlicher Verstrickung entstanden.Vgl. Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München 2005, S. 32 u. 147.

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stellung ein, dass »[f ]ast die gesamte Welt […] Anklage gegen Deutschland und gegen die Deutschen« erhebe, deren Schuld »mit Empörung, mit Grauen, mit Hass, mit Verachtung« erörtert werde.³⁸ Und auch Verhaltensweisen innerhalb der Bevölkerung zeugten, Freis Erkenntnissen folgend, von einer solchen Antizipation der Vorwürfe. Dass die Siegermächte zahlreiche Einwohner des von ihnen besetzten Landes dazu verpflichteten, Tötungsstätten und Konzentrationslager zu besichtigen oder sich fotografisches und filmisches Dokumentarmaterial über diese Orte anzusehen, wurde zeitgenössischen empirischen Studien zufolge von vielen Deutschen als Bestätigung vermeintlich fortbestehender Anklagen des Kollektivs gedeutet. Statt sich, den ›Umerziehungsplänen‹ der Alliierten entsprechend, damit auseinanderzusetzen, was in ihrer aller Namen geschehen war, reagierten sie mehrheitlich abwehrend auf die Konfrontation mit dem Ausmaß der Verbrechen.³⁹ Gewiss sind solche und vergleichbare ›Abwehrreaktionen‹ nicht allein für die Deutschen nach 1945 charakteristisch, sondern kommen laut Assmann immer wieder zum Zuge […], wo es gilt, sich selbst oder anderen gegenüber das Gesicht zu wahren, ein positives Selbstbild zu erhalten oder schmerzhafte, beschämende und verstörende Erfahrungen von sich abzuspalten und fernzuhalten.⁴⁰

Gleichwohl lassen sich verschiedene argumentative Entschuldungs- und Entlastungsstrategien herausstellen, die speziell für den Schulddiskurs der (bundes‐) deutschen Nachkriegsgesellschaft konstitutiv waren. So kam etwa der Rede vom ›Einzeltäter Hitler‹ beziehungsweise von der Täterschaft der engeren NS-Führung unter Mithilfe der SS eine entscheidende Rolle zu.⁴¹ Dieser Externalisierung⁴² von

38 Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Heidelberg 1946, S. 29. Im weiteren Verlauf der Schrift setzt sich Jaspers mit der Schuld des deutschen Volkes am Nationalsozialismus auseinander, indem er diese in vier Dimensionen – nämlich in kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld – unterteilt. Obgleich die Ausführungen aus heutiger Sicht durchaus exkulpierende Momente enthalten, stießen sich nach der Veröffentlichung zahlreiche Deutsche daran, dass der Philosoph sie überhaupt in der moralischen Pflicht sah, sich mit der Schuldfrage auseinanderzusetzen. Vgl. dazu Hermann, Anne-Kathrin: »Karl Jaspers: Die Schuldfrage.« In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, Bielefeld 2007, S. 44 f. 39 Vgl. Frei (2005), S. 147 f. 40 Assmann (2006), S. 169. 41 Vgl. dazu Frei (2005), S. 150, Assmann (2006), S. 172 f. und Moeller, Robert G.: Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen. Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte: Opferausgleich als Identitätspolitik. In: Nachkrieg in Deutschland. Hg. von Klaus Naumann. Hamburg 2001, S. 29 – 58, hier S. 33 – 36. Wie Moeller ebd. aufzeigt, waren unter anderem die frühen Bundestagsreden Konrad Adenauers maßgeblich von diesem Gedanken geprägt. Auf rhetorischer Ebene arbeitete Adenauer charakteristischerweise mit Passivkonstruktionen, die die Frage nach individuellen Schuldzuweisungen

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Schuld korrespondierte die Selbstwahrnehmung und -darstellung eines Großteils der Deutschen als Leidtragende, die von den Machthabern des ›Dritten Reichs‹ verführt, getäuscht und für deren Zwecke missbraucht worden seien. Im Zuge solcher Rechtfertigungsversuche beriefen sich viele zudem auf den Befehlsnotstand oder führten an, nichts von den verübten Gräueltaten geahnt oder gar gewusst zu haben.⁴³ Diese »Opfer-Identität«,⁴⁴ die das Gros der Bevölkerung mit der Grenzziehung zwischen sich (als ›Unschuldigen‹) und »den Nazis« (als ›Schuldigen‹) ausbildete, schloss nicht nur die Ablehnung der (Mit‐)Verantwortung für Verbrechen des NSRegimes ein. Sie ging häufig auch mit einer Beanstandung der Behandlung durch die Alliierten einher: Man sah sich als Opfer von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, als Opfer der Praxis der Internierung und als Opfer der Entnazifizierungsmaßnahmen im Allgemeinen.⁴⁵ Dies zog einerseits zunehmende nationale Ressentiments gegen eine angebliche »Siegerjustiz« nach sich, die innerhalb der bundesdeutschen Debatten der frühen 1950er Jahre oftmals in eine vehementen Kritik an den Vorgehensweisen der Besatzungsmächte mündete.⁴⁶ Andererseits drängte man durch die Fokussierung des eigenen Leides zunehmend all jene aus dem Blickfeld, die zwischen 1933 und 1945 zu Opfern der Deutschen geworden waren. Die Besatzungsmächte versuchten im Zuge der Reeducation zwar bewusst zu verhindern, dass die Bevölkerung sich der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der jüngsten Vergangenheit verweigerte. In der jungen Bundesrepublik kulminierte das

offenließen – beispielsweise indem der erste Bundeskanzler postulierte, in der Vergangenheit seien »[i]m Namen des deutschen Volkes […] unsagbare Verbrechen begangen worden«. Adenauer, Konrad [Eröffnungsrede vor dem deutschen Bundestag im September 1949] zit. n. Moeller (2001), S. 36. Hervorhebung d. Verf. 42 In Anlehnung an Rainer M. Lepsius, der mit »Externalisierung« den Vorgang beschreibt, aktiv Schuld von sich abzuspalten und anderen zuzurechnen, weitet Assmann den Terminus auf psychische Phänomene aus. Vgl. Assmann (2006), S. 170 f. 43 Vgl. ebd., S. 172. Die Grenzziehung zwischen ›anständigen‹ und ›schuldigen‹ Deutschen, die dieser exkulpierenden Argumentation inhärent ist, hatte nicht nur in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Bestand, sondern geriet erst in den letzten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig ins Wanken. Eine entscheidende Rolle dabei spielte die Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht, die in den 1990er Jahren gezeigt wurde; auf Seiten der Nachgeborenen zog sie erste Versuche der Anerkennung und freiwilligen Auseinandersetzung mit deutscher Schuld nach sich. Vgl. ebd., S. 173. 44 Vgl. Moeller (2001), S. 32. 45 Vgl. Frei (2005), S. 68 und Moeller (2001), S. 32 f. 46 Vgl. dazu Frei (2005), S. 11 u. 32. Kritische Reaktionen auf die Vorgehensweisen der Besatzungsmächte gab es im Osten Deutschlands zwar durchaus auch – sie wurden vonseiten des Regimes jedoch strikt auf die Kriegsführung der Briten und Amerikaner, insbesondere auf deren massiven Luftangriff auf Dresden im Februar 1945, begrenzt. Vgl. ebd., S. 11.

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gesellschaftliche Bedürfnis, sich nicht länger mit den begangenen Taten und der Frage nach der eigenen (Mit‐)Schuld konfrontieren zu müssen, aber zusehends in der Forderung nach einem ›Schlussstrich‹, der unter die Entnazifizierungspolitik und die Vergangenheit als solche zu ziehen sei.⁴⁷ Damit einhergehend wurde insbesondere der Holocaust – als Zentralverbrechen der NS-Zeit – über lange Zeit aus der gesellschaftlichen Erinnerung ausgeblendet. Assmann folgend lässt sich dieser Umstand nicht zuletzt auf den Fortbestand der tradierten antisemitischen Vorurteile zurückführen, die während der NSZeit zur Ideologie gesteigert worden waren und den Wahrnehmungshorizont breiter Bevölkerungsteile weiterhin einschränkten.⁴⁸ So war eine Vielzahl der Deutschen auch nach 1945 zunächst nicht fähig, Empathie für das Leid zu entwickeln, das den deutschen und europäischen Juden zugefügt worden war: »Was Gegenstand der Kritik, der Empörung, des Abscheus, der Trauer, ja, des Traumas hätte sein müssen, wurde aus der Wahrnehmung ausgegrenzt und aus dem Bewusstsein verbannt.«⁴⁹ Das aus diesem Verdrängungsmechanismus resultierende Schweigen der Gesellschaft über den Holocaust sollte in den 1950er Jahren wohlgemerkt in deutlicher Diskrepanz zur öffentlichen Übernahme der politischen Verantwortung durch die bundesdeutsche Regierung stehen, die sich unter anderem in den Wiedergutmachungszahlungen an den Staat Israel ausdrückte.⁵⁰ Doch auch in Situationen, in denen Politiker über die deutsche Vergangenheit sprachen, etablierten sich alsbald diskursive Strategien, die regulierten, was gesagt werden konnte beziehungsweise durfte. Affirmative Bezüge auf den Antisemitismus wur-

47 Vgl. ebd., S. 30 und Assmann (2006), S. 101. 48 Vgl. ebd., S. 174. 49 Ebd. Erst durch die Festigung demokratischer Strukturen und Einstellungen wurde es schließlich möglich, zur Sprache zu bringen, was zuvor nicht artikulierbar gewesen war. (Vgl. dazu Bergmann, Werner: Kommunikationslatenz und Vergangenheitsbewältigung. In: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Hg. von Helmut König, Michael Kohlstruck und Andreas Wöll. Opladen/Wiesbaden 1998 [Leviathan Sonderheft 18/1998], S. 393 – 408, hier S. 397) Einen zentralen Stellenwert für die Ende der 1950er Jahre zaghaft beginnende Auseinandersetzung der Deutschen mit den Verbrechen an den Juden und anderen entrechteten Minoritäten hatte der Frankfurter Auschwitzprozess, der sich mit Norbert Frei als gesellschaftlicher Wendepunkt markieren lässt. (Vgl. Frei 2005, S. 36) Eine wirkliche, emotionale Betroffenheit der Nation sollte jedoch, wie Frei aufzeigt, erst durch eine 1979 ausgestrahlte amerikanische Fernsehserie ausgelöst werden, die die Geschichte einer (fiktiven) jüdischen Familie erzählt und deren Titel – Holocaust – in den 1980ern im öffentlichen Diskurs alsbald an die Stelle der Metapher »Auschwitz« trat. Vgl. ebd., S. 37. 50 Vgl. Assmann (2006), S. 171 u. 181. Vgl. dazu auch Holz, Klaus: Die Paradoxie der Normalisierung. Drei Gegensatzpaare des Antisemitismus vor und nach Auschwitz. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. von Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz und Matthias N. Lorenz. Stuttgart/Weimar 2007, S. 37– 57, hier S. 51.

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den dabei oftmals in die Latenz abgedrängt.⁵¹ Beispielweise fanden in frühen Bundestagsansprachen die Opfer der Deutschen durchaus Erwähnung – dies geschah jedoch für gewöhnlich nicht, ohne dass mindestens in gleichem Maße die deutschen Opfer zur Sprache gebracht wurden.⁵² Infolgedessen kam es auf rhetorischer Ebene nicht nur zu einer Selbstverortung der Deutschen als imagined community von Leidtragenden (welcher Juden und andere Opfer der Deutschen nicht angehörten),⁵³ sondern ebenfalls zur Aufrechnung des erlittenen Leides bis hin zur Umkehr von Tätern und Opfern.⁵⁴ Wie man einräumte, »hatten zwar Juden und auch andere außerordentliche Verluste erlitten, aber eben auch die Deutschen.«⁵⁵ Gerade diese Gegenüberstellung zweier Opfervergangenheiten war Robert G. Moeller zufolge »ein gewichtiger Faktor […], der es den Westdeutschen ermöglichte, im Gefolge des Nationalsozialismus legitime politische Identitäten herzustellen.«⁵⁶ Fasst man die zuvor rekapitulierten Forschungserkenntnisse zusammen, dann lässt sich festhalten, dass der deutsche Schulddiskurs ab 1945 maßgeblich von exkulpierenden Argumentationsmustern wie der Externalisierung, dem Ausblenden, dem Verschweigen und dem Aufrechnen von Schuld geprägt war.⁵⁷ Wie Kästner innerhalb dieses Diskurses Stellung bezog und ob – und, wenn ja, inwiefern – seine Stellungnahmen von den dargelegten Mustern geprägt waren oder sich von ihnen abgrenzten, gilt es im Weiteren anhand repräsentativer Beiträge des Autors zu untersuchen. Um zu einem möglichst umfassenden Bild zu gelangen, genügt es freilich nicht, allein die Kästner’schen Reaktionen auf vermeintliche wie tatsächliche Kollektivschuldvorwürfe, die aus dem Ausland an die Deutschen herangetragen wurden, nachzuzeichnen. Stattdessen soll differenziert beleuchtet werden, wie er sich nach dem Kriegsende (1.) gegenüber der NS-Elite, (2.) gegenüber der

51 Vgl. ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Werner Bergmanns, der in Anlehnung an Niklas Luhmann ebenfalls von einer »Kommunikationslatenz« in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit spricht. Vgl. Bergmann (1998), S. 397. 52 Vgl. dazu Moeller (2001), S. 29 u. 34. 53 Vgl. zur Modifizierung von Benedict Andersons Konzept der Nation als ›vorgestellter Gemeinschaft‹ (imagined community) im Hinblick auf die deutsche Nachkriegszeit weiterführend Moeller (2001), S. 32 – 42. 54 Vgl. zur Täter-Opfer-Umkehr als semantischem Grundmuster des Antisemitismus nach Auschwitz Holz (2007), S. 39 f. 55 So die Zusammenfassung von Moeller (2001), S. 34. 56 Ebd., S. 32. 57 Assmann fügt diesen Komponenten der Schuldabwehr in ihrer Studie noch eine weitere, nämlich das »Umfälschen« der Vergangenheit innerhalb familiärer Sphären hinzu. (Vgl. Assmann 2006, 180 f ) Da es sich dabei um eine nicht-öffentliche exkulpierende Strategie handelt, soll diese hier jedoch nicht vertiefend behandelt werden.

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deutschen Bevölkerung, (3.) gegenüber den Alliierten und (4.) gegenüber den Opfern der NS-Verbrechen positionierte und ob sich seine öffentliche(n) Haltung(en) gegenüber diesen Gruppen im Laufe der Folgejahre veränderten. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht insbesondere die journalistischen Beiträge, die Kästner ab 1945 verfasste. Aber auch einige seiner in den Nachkriegsjahren entstandenen Kabaretttexte können als Positionierungen zum Schulddiskurs erfasst werden. Ausblicke auf die Weiterentwicklung seiner Sichtweisen in den 1950er und 1960er Jahren lassen sich unter anderem anhand der Beleuchtung seines überarbeiteten Kriegstagebuches Notabene 45 und seines Vorwortes zu Clara Asscher-Pinkhofs Buch Sternkinder aus dem Jahr 1961 geben. Allerdings lag auf der Schuldfrage als solcher – so viel sei vorweggenommen – zu jener Zeit bereits nicht mehr das Hauptaugenmerk der politischen Äußerungen Kästners. Den Auftakt der folgenden Untersuchung soll die Betrachtung eines journalistischen Beitrags bilden, der sich als eine der ersten öffentlichen Positionierungen des Autors innerhalb des Schulddiskurses begreifen lässt. Die Rede ist von der Reportage Streiflichter aus Nürnberg,⁵⁸ die Kästner unmittelbar nach der Eröffnung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher verfasste. Als Berichterstatter für Die Neue Zeitung war er – neben international renommierten Kollegen und Kolleginnen wie John Steinbeck, Erika Mann, John Dos Passos, Alfred Kerr und Peter de Mendelssohn – am 20. November 1945 beim Beginn der Verhandlungen zugegen.⁵⁹ Wie er sich zu dem Prozess, in den nicht nur die Alliierten, sondern auch zahlreiche deutsche Intellektuelle große Hoffnungen setzten,⁶⁰ positionierte, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.

58 Siehe Kästner, Erich: Streiflichter aus Nürnberg [NZ, 23.11.1945]. In: EKW VI, S. 493 – 500. 59 Damit nahm Kästner einen von nur 22 Plätzen im Gerichtssaal ein, die zum Verhandlungsauftakt für Vertreter der zu diesem Zeitpunkt in Deutschland erschienenen Zeitungen reserviert waren; die übrigen 218 Plätze für Pressevertreter verteilten sich auf Reporter und Kommentatoren, die für über 20 weitere Nationen vom Prozessbeginn berichteten. Den gesamten Prozess bis zur Urteilsverkündung am 1. Oktober 1946 verfolgten allerdings nur wenige der am 20. November 1945 Anwesenden mit, sodass das Pressekorps im Laufe der Verhandlungszeit in ständigem Wechsel war. Vgl. Radlmaier, Steffen: Vorwort. In: Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern. Hg. von Steffen Radlmaier. Frankfurt a. M. 2001, S. 9 – 17, hier S. 12 f. 60 Wie Zürrlein (1977, S. 16) zusammenfasst, glaubte etwa Karl Jaspers, der Krieg könne durch den Prozess zum ersten Mal und für alle Zukunft zum Verbrechen erklärt werden und auch Alfred Döblin sah in den Verhandlungen »so etwas wie ein vorweggenommenes Weltgericht«.

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4.1.1 Über Nebelkrähen und Mordgrossisten ‒ Kästners Stellungnahme zum Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher Wenn es heißt, dass jemand ein Streiflicht auf etwas wirft, so ist damit dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zufolge für gewöhnlich gemeint, dass er »einen (historischen) zusammenhang blitzartig sichtbar mach[t]«.⁶¹ In seiner »sinnlichen bedeutung« wird der Begriff zudem gebraucht, um eine bestimmte Wirkung »des wechsels von licht und schatten, von hell und dunkel zum ausdruck zu bringen«: Fällt ein Streiflicht auf ein Objekt, dann wird dieses »nicht frontal, sondern seitlich […] berührt und so nur zu einem teile erhellt«.⁶² Auf Kästners am 23. November 1945 publizierte Reportage Streiflichter aus Nürnberg lassen sich beide Begriffsverwendungen beziehen: Der Autor rekapituliert angesichts der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit die Tragweite des Prozessauftaktes gegen die Hauptkriegsverbrecher, verzichtet aber darauf, den Verhandlungsbeginn minutiös nachzuzeichnen. Vielmehr bekommt der Rezipient es mit einer Vielzahl flüchtiger Impressionen und Reflexionen zu tun, die um das Militärtribunal kreisen. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang zunächst der Aufbau seines Textes, der nicht bei der eigentlichen Eröffnung des Gerichtsverfahrens ansetzt, sondern mit der Schilderung seiner Anreise beginnt. Satz für Satz verdeutlicht sich hier, wie omnipräsent die Folgeerscheinungen des NS-Regimes gut ein halbes Jahr nach dessen Ende sind. Nicht zufällig hält der Schriftsteller direkt am Anfang fest, dass er sich über die – bekanntlich auf Weisung Hitlers errichtete – »Autobahn München-Nürnberg«⁶³ auf sein Ziel zubewegt; sämtliche der Beobachtungen durch das Autofenster, die daraufhin wiedergegeben werden, machen die Nachwirkungen des verlorenen Krieges erkennbar. Gerade weil am Straßenrand ausschließlich weibliche und minderjährige Mitglieder der deutschen Bevölkerung in Erscheinung treten,⁶⁴ rückt die Abwesenheit der gefallenen oder in Kriegsgefangenschaft genommenen Männer ins Bewusstsein. Dass sein Heimatland mittlerweile von den Siegermächten regiert wird, macht Kästner nicht allein durch die Erwähnung eines amerikanischen Militärlastwagens⁶⁵ kenntlich. Insbesondere sein – augenfällig exotisierender – Hinweis auf »[e]in[en] Neger«,⁶⁶ der am Rande der Autobahn

61 Grimm, Jacob und Wilhelm: »Streiflicht«. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 19. Sp.1290 – 1294. http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernet zung&lemid=GS51835#XGS51835 [letzter Zugriff: 13.1. 2017]. 62 Ebd. 63 EKW VI, S. 493. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. ebd. 66 Ebd.

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Kistenholz in ein Feuer wirft, an dem sich Frauen und Kinder wärmen, demonstriert (obschon der US-Besatzer in keiner feindlichen Rolle präsentiert wird) nachdrücklich die eingetretene Fremdbestimmung. Wie schwer Deutschland an der Last der in den Vorjahren begangenen NS-Verbrechen zu tragen hat, deutet sich zudem in der Beschreibung eines »mit Dung beladenen Ochsenkarren[s]« an, der über das Feld »stolpert«.⁶⁷ Und auch in der vorüberziehenden Landschaft selbst, allem voran in den »kahlen, toten Äckern«,⁶⁸ spiegeln sich das Sterben und die Leere wider, die das ›Dritte Reich‹ mit sich gebracht beziehungsweise nach sich gezogen hat. Gleichzeitig lassen sich die von Kästner eingesetzten Motive als Verweise auf den bevorstehenden Prozess und die Präsenz der mit ihm verbundenen juristischen wie moralischen Fragen deuten. So liegt es etwa auf der Hand, den beschriebenen Herbstnebel⁶⁹ als Hinweis auf die Ungewissheit des Verlaufs und Ausgangs der kommenden Verhandlungen zu betrachten. Die »vage am Himmel wie hinter einer Milchglasscheibe«⁷⁰ schimmernde Sonne scheint in diesem Sinne eine – vorab allenfalls zaghaft artikulierte – Hoffnung auf die Erhellung der zu klärenden Schuldfragen und mithin auf die Herstellung von Gerechtigkeit zu symbolisieren. Auch die auf den Äckern hockenden Krähen⁷¹ und die »kahlen, hohen Hopfenstangen«, die laut Kästner den Eindruck erwecken, es seien »Galgen zu einer Vertreterversammlung zusammengekommen«,⁷² rekurrieren unmissverständlich auf den Prozess und seine Inhalte, verweisen sie doch auf Gerichtsbarkeit und Todesgegenwart – und damit zugleich auf die potentiell zu erwartenden Bestrafungen der Angeklagten wie auch auf die Opfer, die ihr Regime zu verantworten hat. Allen Themen, die durch diese Naturmotive implizit aufgeworfen werden, nähert sich Kästner auch durch explizite Reflexionen an, die die ersten Abschnitte seiner Reportage durchziehen. Beispielsweise beleuchtet er das lang gehegte und für ihn paradoxe Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis der Menschen in Bezug auf die Legitimität des Tötens im Krieg. Er erinnert sich seines eigenen Schulunterrichts und der dort vehement vorangetriebenen Glorifizierung »von Kriegen und Siegern« und kommt vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, Menschen seien »unheimliche Leute«:⁷³

67 68 69 70 71 72 73

Ebd., S. 494. Ebd., S. 493. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 494. Ebd., S. 493.

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Wer seine Schwiegermutter totschlägt, wird geköpft. […] Wer aber Hunderttausende umbringt, erhält ein Denkmal. Straßen werden nach ihm benannt. Und die Schulkinder müssen auswendig lernen, wann er geboren wurde und wann er friedlich die gütigen Augen für immer schloß…⁷⁴

Außerdem stellt Kästner angesichts der bevorstehenden Anklageerhebung die Frage in den Raum, warum »die Völker dieser Erde solche Prozesse nicht schon vor tausend Jahren geführt«⁷⁵ haben. All diesen Äußerungen inhärent und gemeinsam ist die Kritik an der historischen Kontinuität der Kriegsverherrlichung. Die anfängliche Rückschau auf die eigene Schulzeit ist allerdings noch unter einem anderen Gesichtspunkt von Bedeutung, denn der Autor nutzt sie, um den Blick auf die Schuldfrage als solche zu lenken. Dabei setzt er ein über viele Literaturepochen hinweg etabliertes Bild für Gewissensplagen von Kriegsverantwortlichen⁷⁶ ein, indem er Revue passieren lässt, dass er sich als Kind fragte, wie es möglich war, dass »Usurpatoren, Feldherren und dergleichen« nachts in den Schlaf finden konnten: »Ich sah, wie sie sich ruhelos auf ihren Lagern wälzten. Ich hörte sie im Traum und Halbschlaf stöhnen. Die Reihen der Gefallenen zogen blutig durch ihre Schlösser und Purpurzelte…«⁷⁷ Kästner verwendet dieses Bild jedoch nur, um dessen Wahrheitsgehalt im nächsten Atemzug zu negieren, denn den tatsächlichen Schlaf der »Mordgrossisten« vergleicht er im Weiteren mit dem von Murmeltieren.⁷⁸ Das von ihm attestierte mangelnde Verantwortungsgefühl der historischen Kriegsherren überträgt er auf die NS-Elite und prognostiziert, dass sie vor Gericht jegliche Schuld unter Berufung auf die Unkenntnis der moralischen Dimension ihrer Verbrechen von sich weisen werde: Einen einzigen Menschen umbringen und hunderttausend Menschen umbringen, ist also nicht dasselbe? […] Nein, es ist nicht dasselbe. Es ist genau hunderttausendmal schrecklicher! – Nun werden die vierundzwanzig Angeklagten sagen, sie hätten die neue, aparte Spielregel nicht gekannt. Als sie ihnen später mitgeteilt wurde, sei es zu spät gewesen. Da hätten sie nicht

74 Ebd., S. 493 f. 75 Ebd., S. 493. 76 Bereits gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts wurde das Motiv der Getöteten, die den Schlaf ihres Mörders stören, durch Shakespeares Historiendrama Richard III. populär; einer der prominentesten deutschen Texte, in dem es etwa zweihundert Jahre später seinen Einsatz fand, dürfte das (Kästner vor dem Hintergrund seines Dissertationsthemas fraglos gut bekannte) Kriegslied von Matthias Claudius sein. In der zweiten Strophe des Kriegsschuld und Kriegsleid thematisierenden Gedichts heißt es: »Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen / Und blutig, bleich und blaß, / Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen, / Und vor mir weinten, was?« Claudius, Matthias: Kriegslied. In: ders.: Sämtliche Werke. 7. Auflage. Darmstadt 1989, S. 236. 77 EKW VI, S. 493. 78 Vgl. ebd.

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aufhören können. Da hätten sie wohl oder übel noch ein paar Millionen Menschen über die Klippe springen lassen müssen…⁷⁹

Der sarkastische Tonfall dieser Mutmaßung setzt sich in der Beiläufigkeit der Bemerkung, es seien »übrigens nicht mehr vierundzwanzig Angeklagte«,⁸⁰ fort. Die Ausführungen über den Selbstmord Robert Leys und die (vermeintlich) im Sterben liegenden Angeklagten Gustav Krupp und Ernst Kaltenbrunner⁸¹ kommen vor diesem Hintergrund einem moralischen Vorwurf an die Beteiligten gleich, sich dem Militärtribunal und damit ihrer Verantwortung entzogen zu haben. Noch offensichtlicher wird diese Anschuldigung angesichts der Bemerkungen über Martin Bormann, der – noch lange über die Nürnberger Prozesse hinaus – als verschollen galt:⁸² »Ist er«, fragt Kästner, »auf dem Weg von Berlin nach Flensburg umgekommen? Oder hat er sich, irgendwo im deutschen Tannenwald, einen Bart wachsen lassen und denkt, während er die Zeitungen liest: ›Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn‹?«⁸³ Die hämische Haltung, die der Schriftsteller auf Hitlers engen Vertrauten projiziert, wird insbesondere durch den Bormann angedichteten spätmittelalterlichen Phraseologismus über die Nürnberger Gerichtsbarkeit⁸⁴ auf

79 Ebd., S. 494. Tatsächlich sollte sich Kästners Vermutung im Laufe des Prozesses in gewisser Weise bewahrheiten: Alle der in Nürnberg Angeklagten erklärten sich für »nicht schuldig« im Sinne der Anklage und beriefen sich in ihren Schlussplädoyers wiederholt auf ihre Vaterlandsliebe und die Unausweichlichkeit von Pflichterfüllung und Gehorsam. Vgl. dazu Meyer (2007c), S. 21 f. 80 EKW VI, S. 494. 81 Vgl. ebd. Der nach mehreren Schlaganfällen bettlägerige Krupp von Bohlen und Halbach war in der Tat für prozessunfähig erklärt worden, er verstarb jedoch erst im Januar 1950; Kaltenbrunner hatte vor Prozessbeginn ebenfalls einen Schlaganfall erlitten, nahm jedoch ab dem dritten Verhandlungstag am Prozess teil. 82 Der frühere Parteikanzleileiter und Parteisekretär Bormann war, wie sich später herausstellte, bereits am 2. Mai 1945 auf der Eisenbahnbrücke der Invalidenstraße in Berlin umgekommen. Obwohl er schon 1954 amtlich für tot erklärt worden war, hielten sich in Ermangelung des Fundes seiner Leiche noch über Jahrzehnte hinweg Spekulationen hinsichtlich einer vermeintlich geglückten Flucht. Erst 1972 stießen Bauarbeiter auf seine sterblichen Überreste, die 1998 per DNAVergleich mit einer Nachfahrin identifiziert werden konnten. Vgl. Maxwill, Peter: Jagd auf Hitlers Handlanger. Die vielen Leben des Martin Bormann (Der Spiegel, 6.12. 2012). https://www.spiegel.de/ge schichte/nazi-verbrecher-martin-bormann-auf-der-jagd-nach-hitlers-handlanger-a-947831.html [letzter Zugriff: 8.1. 2017]. 83 EKW VI, S. 494. 84 Das Sprichwort rekurriert auf eine fränkische Legende, der zufolge der Raubritter Eppellein von Gailing im vierzehnten Jahrhundert seiner Hinrichtung am Galgen entkommen und über die Nürnberger Stadtmauer fliehen konnte; der Ausspruch wurde bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein verwendet, um wahlweise die Justiz der Stadt zu verspotten oder die Hoffnung auszudrücken, einer angedrohten Strafe zu entgehen. Vgl. Schultheiß, Werner, »Gailing, Eppelein« (Neue Deutsche Biographie 6/1964). http://www.deutsche-biographie.de/ppn118530593.html [letzter Zugriff:

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die Spitze getrieben. Mit ihm verurteilt Kästner nicht nur die (von ihm wie von breiten Teilen der Öffentlichkeit für möglich gehaltene) Flucht des Nationalsozialisten. Er unterstreicht implizit auch die Notwendigkeit eines nunmehr konsequenten Durchgreifens der Justiz, bei dem keine weiteren Schuldigen ›entkommen‹ dürfen, wenn sich der Umgang mit den Tätern und den von ihnen begangenen Verbrechen nicht zu einer Farce entwickeln soll. Dass nicht nur er selbst den Prozess als hochrelevantes und zugleich hochsensibles historisches Ereignis betrachtet, verdeutlicht Kästner schließlich, als er sich dem Tag der Anklageerhebung zuwendet. Der Rezipient erfährt in diesem Abschnitt zunächst, dass das »Nürnberger Justizgebäude […] in weitem Umkreis von amerikanischer Militärpolizei abgesperrt [ist]«⁸⁵ und dass es Spezialausweisen und mehrfacher »scharfe[r] Kontrolle[n]«⁸⁶ bedarf, um den Gerichtssaal betreten zu dürfen. Die Benennung der zahlreichen angereisten Nationen und der vertretenen Berufsgruppen – vom juristischen über den militärischen bis hin zum journalistischen Kontext – hebt hervor, dass die Verhandlungen (obgleich nicht für jeden Schaulustigen persönlich zugänglich) vor den Augen der Weltöffentlichkeit geführt werden. Zugleich manifestiert sich bereits in diesem Zuge eine Charakterisierung des Prozesses als internationales ›Medienspektakel‹, die auch im späteren Verlauf der Reportage erkennbar bleibt. Bei seiner nachfolgenden Beschreibung des Gerichtssaals bedient sich Kästner eines narrativen Kunstgriffs: Er imaginiert, wie ein alter Museumsführer Jahrhunderte später einer Touristengruppe von der historischen Bedeutung des Raumes berichtet. In der folgenden, aus der Perspektive ebenjener fiktiven Figur formulierten Ansprache werden der Saal als solcher und die räumliche Position der Kläger, der Angeklagten, ihrer Anwälte und der Vertreter der Presse und des Rundfunks skizziert. Darüber hinaus dient diese Passage des Artikels dem Ausdruck der Hoffnungen auf eine dauerhafte Sicherung des Friedens, die von zahlreichen Menschen in den Prozess gesetzt wurden. Den fiktiven Zuhörern der Nachwelt muss nämlich nicht nur erläutert werden, welche Funktion ein (in dem Gedankenspiel als Ausstellungsobjekt zu besichtigender) Stahlhelm hatte, sondern auch, was man im zwanzigsten Jahrhundert unter dem Begriff »Krieg« verstand.⁸⁷ Diese Zukunftsperspektive beendet Kästner mit den Worten »Ja, so ähnlich wird der alte Mann

17.12. 2016] sowie [anonym]: »Die Nürnberger hängen keinen…« In: Das Wörterbuch der Idiome. http://idiomedeacademic.com/2019/Nürnberg [letzter Zugriff: 17.12. 2016]. 85 EKW VI, S. 494. 86 Ebd., S. 495. 87 Vgl. ebd.

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dann reden.«, markiert aber mit dem hintangestellten Adverb »Hoffentlich.«⁸⁸, dass er selbst die Realisierung dieser Utopie keineswegs für gewiss hält. Bei der anschließenden Schilderung des eigentlichen Verhandlungsauftaktes verengt sich der Fokus der Betrachtung des Gerichtsaals nahezu kameraartig immer weiter und ruht letzten Endes auf den Angeklagten, auf die im »fast still[en]« Saal »alle Augen«⁸⁹ gerichtet sind. Der Beachtung wert ist, auf welche Weise Kästner über die NS-Elite schreibt: Die Hauptkriegsverbrecher werden, ihrer Sitzordnung auf der Anklagebank folgend,⁹⁰ nicht allein namentlich erwähnt, sondern auch präzise in ihrem äußeren Erscheinungsbild erfasst. Wie dezidiert dabei der Verlust ihrer einstmaligen politischen beziehungsweise militärischen Machtpositionen unterstrichen wird, ist kaum zu übersehen. Der Leser erfährt etwa, dass die Abzeichen und Orden von Görings grauer Jacke und das Gold von Dönitz’ und Raeders blauen Jacken »verschwunden«⁹¹ sind. Des Weiteren legt Kästner dar, dass Göring und Keitel »schmaler geworden«⁹² seien, und auch Fritzsche charakterisiert er als »[b]laß« und »[s]chmal«.⁹³ Der Kopf von Heß erscheine nunmehr »halb so klein«⁹⁴ und von Ribbentrop sehe aus »wie ein alter Mann«;⁹⁵ einzig Rosenbergs Hautfarbe wirke unverändert »kränklich«.⁹⁶ Bei der Beschreibung einiger der Angeklagten spiegelt sich der Wegfall ihrer Macht zudem deutlich in Gestik und Mimik wider, die wahlweise weit von einem autoritären und stolzen Gebaren entfernt sind oder diesen Anschein nur unter größter Anstrengung aufrecht zu erhalten versuchen: Von Ribbentrop »[h]ält das Kinn hoch, als koste es ihn Mühe«.⁹⁷ Rosenbergs Hand, mit der er sich an der Krawatte zupft und über das Gesicht fährt, »verrät seine Nervosität«.⁹⁸ »[N]ervös« zucken ebenfalls Streichers (wohlgemerkt: »rechter«) Mundwinkel und sein Auge.⁹⁹ Von Schirach ist laut Kästner »bleich und bedrückt« und »wirkt wie ein schlecht vorbereiteter Abiturient im Examen« und Seyß-Inquart präsentiert sich »fahrig« und »[u]nsicher«.¹⁰⁰ Dagegen wird in Bezug auf mehrere

88 Ebd. 89 Ebd. 90 Einzig der Angeklagte Albert Speer wird, obgleich er am Tag des Prozessauftaktes zugegen war, unerklärlicherweise nicht in dem Artikel erwähnt. 91 EKW VI, S. 496 f. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 498. 94 Ebd., S. 496. 95 Ebd., S. 497. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 498.

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der Angeklagten – nämlich Göring, Dönitz, Raeder, von Papen und von Neurath – explizit betont, dass sie sich, gänzlich oder zumeist, »ruhig«¹⁰¹ verhalten. Im Kontrast zu der gedrückten und angespannten Grundatmosphäre auf der Anklagebank, die auf diese Weise kreiert wird, wirken andere Gesichtspunkte der Beschreibung umso provokanter – so beispielsweise das lächelnde Kopfschütteln Görings auf die Feststellung des Anklägers hin, er sei General der SS gewesen.¹⁰² Gleichermaßen aus dem Rahmen fallen Fricks »überraschende Energie« und Franks »zynisches, stummes Lachen«.¹⁰³ Die Unangemessenheit, die er dem letztgenannten Mienenspiel zuspricht, betont Kästner gesondert, indem er anmerkt: »Die Zuschauer kennen keinen Grund, den er hier zum Lachen hätte.«¹⁰⁴ Über diese Kritik am selbstgefälligem Auftreten einiger Anwesender hinaus wird mit der Erwähnung von Fricks »braungebrannt[em]«¹⁰⁵ Gesicht und Sauckels »Schnurrbart […], wie ihn sein Führer trug«,¹⁰⁶ zudem ein Hinweis auf die Kontinuität der politisch-ideologischen Haltung der Beschriebenen in den Raum gestellt. In einigen Fällen lässt sich Kästner allerdings auch zu unverschleierten Beleidigungen hinreißen: So skizziert er Funk als »[k]lein, molluskenhaft, mit seinem blassen, hässlichen Froschgesicht«¹⁰⁷, Sauckel stellt er als »kleine[n] rundköpfigen Spießer«¹⁰⁸ vor und Fritzsche als »de[n] öligen Rundfunkprediger des Dritten Reiches«.¹⁰⁹ Doch obgleich er alle Angeklagten durch die jeweilige Art ihrer Beschreibung spöttisch beurteilt bis vehement abwertet, fällt auf, dass sich die Vorahnung des Schreckens, die Kästner mit den nahezu gespenstischen Naturmotiven zu Beginn seines Artikels evoziert hat, beim bloßen Anblick der NS-Elite mitnichten realisiert. Einzig Heß’ Äußeres wird als »unheimlich«¹¹⁰ charakterisiert; in der Frage »Sollte es in diesem Kopf nicht mehr richtig zugehen?«¹¹¹ klingt aber an, dass die Prozessteilnehmer es keinesfalls mit einem von jeher Wahnsinnigen zu tun haben.¹¹² Ins Auge fallen in diesem Zusammenhang auch die Vergleiche der Angeklagten mit keineswegs bedrohlich oder machtvoll konnotierten Tieren und Berufsgruppen:

101 Ebd., S. 496 ff. 102 Vgl. ebd., S. 496. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 496. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 498. 107 Ebd., S. 497. 108 Ebd., S. 498. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 496. 111 Ebd., S. 497. Hervorhebung d. Verf. 112 Heß behauptete in Nürnberg anfangs in der Tat, unter Gedächtnisschwund zu leiden, gab aber später zu, dies aus taktischen Gründen vorgetäuscht zu haben.

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

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Weder die Gleichsetzung der Heß’schen Kopfbewegungen mit denen eines Vogels noch die Assoziation von Weichtieren respektive Fröschen, die Funks Äußeres bei ihm hervorruft,¹¹³ wirken furchteinflößend. Und auch die Vergleiche Görings und Keitels mit einem Chauffeur und einem Forstmeister¹¹⁴ betonen keine Gefahr, die die Genannten verkörpern – vielmehr belegen sie deren erfolgte Degradierung.¹¹⁵ Signifikant ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass »der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter« in Kästners Reportage nicht durch die degradierten Hauptkriegsverbrecher personifiziert werden: Sie sitzen in dem von ihm erschaffenen Bild »[r]iesengroß und unsichtbar […] neben den angeklagten Menschen.«¹¹⁶ Die Diskrepanz zwischen den ungeheuerlichen Tatbeständen und den offensichtlich nicht als Ungeheuer daherkommenden Tätern, die auf diese Weise hervorgehoben wird, lässt an den Bericht von der Banalität des Bösen denken, den Hannah Arendt 18 Jahre später nach dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem verfassen sollte. Auch bei ihr bekommt der Rezipient den NS-Täter nicht als seelenloses ›Monster‹ präsentiert; in stetigem Kontrast zur Dimension seiner Verbrechen wird Eichmann, ähnlich wie die nationalsozialistische Elite im vorliegenden Artikel, so dargestellt, als könne man ihn schwerlich ernst nehmen.¹¹⁷ Diesem Prinzip der ›Entdämonisierung‹, dem Kästner in seiner Reportage schon wenige Monate nach dem Ende des NS-Regimes folgt, wird auch dadurch Vorschub geleistet, dass er die Straftaten, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit deren Benennung und

113 Vgl. EKW VI, S. 496 f. 114 Vgl. ebd. 115 Diese literarische Strategie hat Kästners Text im Übrigen mit den ebenfalls nach Prozessbeginn veröffentlichten Berichterstattungen von John Dos Passos und Peter de Mendelssohn gemein. In seinem Beitrag für das US-Magazin Life verglich Dos Passos unter anderem Ribbentrop mit einem »beim Schwindeln ertappte[n] Bankkassierer« und Funks Blick mit dem »eines geprügelten Hundes«. (Dos Passos, John: Nürnberger Tagebuch. In: Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern. Hg. von Steffen Radlmaier. Frankfurt a. M. 2001, S. 48 – 63, hier S. 53) Mendelssohn berichtete indes den Lesern der Nation, dass Göring »an einen Platzanweiser im Kino« und Dönitz und Raeder »an zwei arbeitslose Straßenbahnschaffner« erinnert hätten. Mendelssohn, Peter de: Zweimal Nürnberg. In: Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern. Hg. von Steffen Radlmaier. Frankfurt a. M. 2001, S. 111 – 115, hier S. 114. 116 EKW VI, S. 500. Hervorhebung d. Verf. 117 Siehe Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. 7. Auflage. München 1997. Im Gegensatz zu Kästner zog Arendt aus ihrer Beobachtung allerdings einen konkreten Schluss: Sie vertrat die Ansicht, dass man – gerade, weil man in einem TerrorSystem keineswegs einer ›dunklen Macht‹, sondern gewöhnlichen Menschen ausgeliefert ist – etwas gegen den Terror tun kann und muss. Eine solche, normative Erkenntnis wird von Kästner nicht postuliert, was auf seine Ablehnung einer deutschen Kollektivschuld, auf die im Folgekapitel noch einzugehen ist, zurückzuführen sein dürfte.

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Beschreibung darlegt. Der Leser bekommt sie erst im nachfolgenden Abschnitt des Textes vor Augen geführt, in welchem die Anklagepunkte, die der französische Hauptankläger verliest, auszugsweise wiedergegeben werden. Der so erzeugte Gegensatz zwischen Tätereindruck und Tatbeständen ist für den Beitrag ebenso konstitutiv wie der Kontrast zwischen Prozessinhalt und Prozessalltag, der wenig später nachgezeichnet wird. Abrupt folgt den Hyperbeln für die zuvor aufgezählten Verbrechen (»Ein Meer von Tränen…«, »Eine Hölle des Grauens…«¹¹⁸) die lakonische Feststellung: »Um zwölf ist Mittagspause.«¹¹⁹ Wie Kästner anhand seines Dialogs mit einem Kollegen exemplifiziert, gehen sämtliche Pressevertreter ihrer Arbeit von jetzt auf gleich unter einem anderen Gesichtspunkt nach und erkundigen sich beieinander nach den übrigen (prominenten) Gästen.¹²⁰ Die Schilderung des Getümmels auf den Gängen nutzt Kästner erneut, um dem Leser das jähe Nebeneinander der Grausamkeit der zu ahndenden NS-Verbrechen und des Medienspektakels, dem die Prozesseröffnung gleichkommt, vor Augen zu führen: Den Anklagepunkten Mord an Kriegsgefangenen, Mord an Geiseln, Raub, Deportation, Sterilisation, Massenerschießungen mit Musikbegleitung, Folterungen, Nahrungsentzug, künstliche Krebsübertragungen, Vergasung, Vereisung bei lebendigem Leibe, maschinelle Knochenverrenkung, Weiterverwendung der menschlichen Überreste zur Dünger- und Seifengewinnung…¹²¹

lässt er nur wenige Zeilen später das fröhlich konnotierte Bild des »Jahrmarktstreiben[s]«¹²² folgen. Angesichts all dieser Diskrepanzen manifestiert sich bei der Lektüre der Reportage zusehends der Eindruck einer Kluft zwischen den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit und der Nachkriegsgegenwart, die diese (juristisch) zu erfassen versucht. Die Tatsache, dass nach der Pause noch zwei weitere Nationen – die Sowjetunion und Großbritannien – ihre Anklagepunkte verlesen, verdeutlicht zwar noch einmal mehr die Dimension der Verbrechen. Gleichwohl wird die Konfrontation mit den Gräueltaten gerade durch ihre Repetition (»Wieder eine Hölle… Wieder ein Abgrund…«¹²³) zur (Prozess‐)Routine. Wenn über die NS-Täter vermerkt

118 EKW VI, S. 498. 119 Ebd. 120 Nahezu beiläufig wird an dieser Stelle durch die Erwähnung der Präsenz John Dos Passos’, Erika Manns, Peter de Mendelssohns, Howard Smiths und William Shirers sowie der jeweiligen britischen und amerikanischen Medien, für die sie arbeiten, noch einmal das internationale Aufsehen, das der Prozess erregt, betont. Vgl. ebd., S. 498 f. 121 Ebd., S. 498. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 499.

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wird, dass sie bei der letzten Anklageverlesung wahlweise »gelassen« zuhören oder »die Kopfhörer beiseite gelegt [haben] und […] trübe oder gleichgültig vor sich hin[starren]«,¹²⁴ vermag der Rezipient kaum einzuordnen, ob allein von der eingangs prognostizierten Schuldabwehr der Hauptkriegsverbrecher oder von ihrer Ermattung ob des langen Prozesstages die Rede ist. Auch Kästner selbst präsentiert sich am Ende der Sitzung in mehrfacher Hinsicht als mitgenommen: Dem Bekenntnis seiner tiefen emotionalen Betroffenheit über das Erfahrene lässt er sogleich ein Resümee über seine aktuelle physische Befindlichkeit folgen: »Das Herz tut mir weh, nach allem, was ich gehört habe…Und die Ohren tun mir auch weh. Die Kopfhörer hatten eine zu kleine Hutnummer.«¹²⁵ Ob der Schriftsteller hiermit demonstrieren will, dass die Konfrontation mit den NSVerbrechen so unerträglich ist, dass sie gleichsam in einer ›Übersprungshandlung‹ (in Form einer Konzentration auf Alltägliches) münden muss, oder ob die kuriose Parallelisierung darauf hinweisen soll, dass eine gleichsam ›passende‹ Form, mit der Vergangenheit umzugehen, noch nicht gefunden wurde, bleibt offen. Festzustehen scheint für ihn hingegen, dass die Ungewissheiten und offenen Fragen, die vor dem Beginn des Prozesses bestanden, sich nach dem ersten Verhandlungstag eher vermehrt denn aufgeklärt haben – nicht von ungefähr ist der Nebel auf der Heimfahrt »noch dicker geworden«.¹²⁶ Hat bereits die Feststellung »Morgen ist auch noch ein Tag…«,¹²⁷ die Kästner tätigt, als die Angeklagten den Saal durch die (selbstredend: »braune«¹²⁸) Tür verlassen, einen Bruch zu der hoffnungsvoll aufgeladenen Stimmung vor Verhandlungsbeginn gekennzeichnet, so tut seine Bemerkung, der Wagen müsse nun »Schritt fahren«¹²⁹ ihr Übriges: Mit einem schnellen Abschluss des Verfahrens ist ebenso wenig zu rechnen wie mit einer prompten Klärung der dort verhandelten Schuldfragen. Nichtsdestotrotz bleibt die Notwendigkeit, »die Verantwortlichen zur Verantwortung [zu] ziehen«¹³⁰ für Kästner bestehen. Sein abschließender Appell, es dürfe »nicht nur diesmal gelingen, sondern in jedem künftigen Falle«¹³¹ offenbart allerdings, wie das Erleben des

124 Ebd. 125 Ebd., S. 499 f. 126 Ebd., S. 500. In Anbetracht der eigenen Ratlosigkeit, die Kästner offen legt, wenn er angibt, vor lauter Nebel »nichts sehen« zu können, ließe sich der Titel der Reportage auch dahingehend begreifen, dass dem Verfasser eine abschließende ›Durchleuchtung‹ der juristischen und ethischen Fragen, die mit der Verhandlung aufgeworfen werden, (noch) nicht möglich ist – es reicht allenfalls für Streiflichter, die das Dunkel lediglich partiell und flüchtig zu erhellen vermögen. 127 Ebd., S. 499. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 500. 130 Ebd. 131 Ebd.

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Verhandlungsauftaktes die schon zuvor als ungewiss ausgewiesene Vorstellung, allein dieser Prozess könne den Krieg und die Verbrechen zum ›Museumsobjekt‹ machen, noch stärker ins Wanken gebracht hat. Folgte man Hanuschek, der die Streiflichter aus Nürnberg in seiner KästnerBiographie erwähnt, dann müsste man den Artikel als einen jener Texte des Schriftstellers einordnen, die »eher wie Selbstverständigungen [wirken], als daß sie entschiedene Meinungen vortrügen.«¹³² Hinsichtlich Kästners Bewertung des internationalen Militärtribunals bedarf dieses Urteil freilich der Differenzierung: Immerhin lässt sich die Reportage nicht nur als dezidierte Befürwortung des Prozesses und als Appell für die langfristige Sicherung des von den Alliierten erlangten Friedens lesen, sondern auch als klares Plädoyer für die Ahndung der NS-Verbrechen. Die Bedeutung dieser Positionierung kann im Kontext des nachkriegsdeutschen Schulddiskurses kaum genug hervorgehoben werden, denn in ihr spiegelte sich im November 1945 mitnichten eine weit verbreitete Ansicht der deutschen Bevölkerung wider, die dem Prozess zunächst größtenteils kritisch gegenüberstand und ihn als »Siegerjustiz« abwertete.¹³³ Dieser öffentlichen Wahrnehmung stellte sich Kästner vehement entgegen – und agierte damit nicht zuletzt im Sinne des Reeducation-Anspruchs der Neue[n] Zeitung, für die er schrieb. Seinen Beitrag als bloßes Indiz einer affirmativen Haltung gegenüber den Siegermächten zu deuten, griffe jedoch zu kurz: Dass Kästner von der Erfordernis, die NS-Täter zu bestrafen, auch nach dem Ende der Besatzungszeit überzeugt blieb, belegt ein Blick in den Sammelband Verjährung?, der 1965 von dem österreichischjüdischen Holocaustüberlebenden Simon Wiesenthal herausgegeben wurde.¹³⁴ Darin sind Äußerungen von über 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens veröffentlicht, die sich gegen die zu jener Zeit von vielen Deutschen fokussierte

132 Hanuschek (2003), S. 334. 133 Durch die konsequente Einhaltung der rechtsstaatlichen Vorgehensweise, die der Bevölkerung in den täglichen Rundfunkübertragungen des Prozesses vor Augen geführt wurde, konnten diese Vorurteile zwar zum Teil abgebaut werden. Und auch das Dokumentarmaterial, das die Alliierten in den Prozess einbrachten und das viele Aussagen der Angeklagten als bloße Ausflüchte demaskierte, sprach für sich. Trotz des anfänglichen Schocks, den die Information über das tatsächliche Ausmaß der NS-Verbrechen bei vielen Deutschen auslöste, erlahmte das öffentliche Interesse bald. Analog zur zunehmenden Abgrenzung von den Vorgehensweisen der Besatzungsmächte, die nach der Gründung der Bundesrepublik um sich griff, wuchs auch die Distanzierung von dem internationalen Militärtribunal erneut. So gaben im Jahr 1950, einer zeitgenössischen amerikanischen Studie zufolge, nur 38 Prozent der befragten Deutschen an, den ersten Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher retrospektiv als »fair« zu empfinden. Vgl. Weinke, Anette: Die Nürnberger Prozesse. München 2006, S. 99 f. sowie Meyer (2007c), S. 22 und Wolfrum (2007), S. 26. 134 Siehe Wiesenthal, Simon (Hg.):Verjährung? 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sagen nein. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M. 1965.

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Verjährung von Straftaten wandten, die während der NS-Zeit verübt worden waren. Unter den protestierenden Beiträgern findet sich auch Kästner, der – nunmehr 66jährig – schriftlich erklärte, dass es »kaum einer Versicherung« bedürfe, dass er mit Wiesenthals ablehnenden Gedanken zur geplanten Verjährungserklärung »ein und derselben Meinung« sei und dessen Publikation von Gegenstimmen für »außerordentlich notwendig« halte.¹³⁵

4.1.2 Über Splitter und Balken – Kästner und die Kollektivschuldthese Im vorangegangenen Kapitel wurde nachgezeichnet, worüber Kästner im Zuge seiner Berichterstattung über die Eröffnung des Nürnberger Prozesses sprach und in welche Richtung er die Einstellung der deutschen Bevölkerung zu beeinflussen versuchte. Aussagekräftig ist, im Foucault’schen Sinne, allerdings auch, worüber er in dem Beitrag nicht sprach – nämlich über die Rolle, die besagte Bevölkerung bei der Entstehung und zwölfjährigen Erhaltung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gespielt hatte. Dass Kästner die Verantwortung für die während der Diktatur verübten Verbrechen in seiner Reportage gänzlich bei der angeklagten NSElite beließ, kann bereits als erste, hier noch implizite Ablehnung einer Kollektivschuld der Deutschen betrachtet werden. Explizit sollte er diesen Standpunkt im Laufe der Folgemonate nicht nur innerhalb der bereits erwähnten ›Großen Kontroverse‹ zwischen dem Exil und der ›Inneren Emigration‹, sondern auch in zahlreichen weiteren journalistischen Arbeiten vertreten. Dass Kästner es auf persönlicher wie beruflicher Ebene als existentiell notwendig empfunden haben muss, eine Kollektivschuld des deutschen Volkes – die selbstredend auch ihn eingeschlossen hätte – zu negieren, legen einerseits die bisherigen Erkenntnisse über sein Selbstverständnis als Gegner und Opfer des NSRegimes nah.¹³⁶ Andererseits lässt sich seine vehemente Abgrenzung mit dem Status quo des literarischen Feldes nach Kriegsende in Verbindung bringen. Aufgrund der heteronomen Steuerung des Kulturbetriebes durch die Besatzungsmächte erhielten, wie schon aufgezeigt, zunächst nur jene in Deutschland gebliebenen Schriftsteller Publikationsgenehmigungen, die offiziell als politisch unbelastet eingestuft wurden. Öffentlich eine (Mit‐)Schuld aller Deutschen an den NS-Verbrechen einzugestehen, hätte für Kästner somit potentiell bedeutet, sich selbst und zahlreichen seiner Kollegen die Chance auf eine erfolgreiche berufliche

135 Kästner, Erich an Simon Wiesenthal. Brief vom 29.11.1964 zit. n. Wiesenthal (1965), S. 82. 136 Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen zur Kästner’schen Selbstdarstellung in seinen nach 1945 verfassten Vor- und Nachworten in Kapitel 3.2.4.

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Reetablierung zu nehmen. Und auch die ab 1946 von ihm fokussierte Wiedergründung eines innerdeutschen PEN-Zentrums wäre unter dieser Voraussetzung kaum denkbar gewesen. Der Umstand, dass Kästner die Kollektivschuldthese ablehnte, ist vonseiten der Forschung freilich schon mehrfach festgehalten und belegt worden.¹³⁷ Eine detaillierte Beleuchtung der argumentativen Strukturen, auf die der Schriftsteller dabei zurückgriff, blieb bislang aber aus. Um diesem Desiderat nachzukommen, sollen im Folgenden zwei Feuilletonartikel einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, die im Zusammenhang mit der Kästner’schen Positionierung zur (Kollektiv‐)Schuldfrage besonders häufig Erwähnung finden: Die Schuld und die Schulden und Splitter und Balken. Der erste der genannten Texte, den Die Neue Zeitung am 3. Dezember 1945 abdruckte, beginnt anekdotisch: Am Ende eines Besuches in London sei der Autor 1938 von seinem englischen Übersetzer mit der Bitte verabschiedet worden, Adolf Hitler – respektive: »[seinen] Verrückten«¹³⁸ – totzuschießen, wenn er zurück in Berlin sei. Nicht ohne zuvor seine eigene, seit langem gehegte Abneigung gegen den ›Führer‹ der NSDAP zu akzentuieren,¹³⁹ konstatiert Kästner lakonisch: »Ich fuhr zurück und schoß ihn bekanntlich nicht tot.«¹⁴⁰ Sein eigenes Nichteingreifen vergleicht er mit der Passivität ausländischer Diplomaten und Journalisten, die den Diktator ebenfalls nicht töteten, obgleich sie, wie der Artikel suggeriert, sehr wohl die Gelegenheit dazu gehabt hätten – durften sie Hitler doch »besuchen und mit ihm sprechen«.¹⁴¹ Im Anschluss daran generalisiert Kästner die Zurückhaltung davor, diktatorische Herrscher umzubringen, und verlagert sie auf die Menschheit als solche. Diese bestehe zum größeren Teil aus Leuten, die ›ihre Verrückten‹ nicht totschießen. Oder erst, nachdem einige Millionen anderer Menschen und die meisten von ihnen selber totgeschossen, totgestochen, totgeschlagen oder sonst wie zu Tode gebracht worden sind. Das ist zweifellos ein Fehler der Menschen. Ihr folgenschwerster Fehler. Ihre größte Schuld. Sie geben sich immer wieder dazu her, im Kriege Zeitgenossen zu töten, die sie nicht kennen und die ihnen nicht das geringste [sic] getan haben. Aber ihre ›Verrückten‹, die sie kennen und die ihnen so viel antun, die schießen sie nicht tot.¹⁴²

137 Vgl. etwa Doderer (2000), S. 156, Kiesel (1981), S. 146 und Leibinger-Kammüller (1988), S. 47. 138 Kästner, Erich: Die Schuld und die Schulden [NZ, 3.12.1945]. In: EKW VI, S. 500 – 505, hier S. 500. 139 Kästner führt in diesem Zusammenhang aus, dass er während des besagten Aufenthalts wiederholt mit deutschen Emigranten, amerikanischen Kaufleuten und Engländern – bis hin zu Churchills Privatsekretär Brendan Bracken – zusammen gesessen habe und in der Runde »nur eine [offenkundig negative, Anm. d. Verf.] Meinung« (EKW VI, S. 500) über Hitler geherrscht habe. 140 Ebd. 141 Ebd., S. 501. 142 Ebd.

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Bereits die bis hierhin rekapitulierte Eingangspassage des Artikels weist verschiedene exkulpierende Strategien auf, die der Abschwächung potentieller Schuldzuweisungen an die deutsche Bevölkerung dienlich sind. Von Vorneherein findet eine Externalisierung der Verantwortung für die verübten NS-Verbrechen auf die Person Hitlers statt. Die Ausführungen implizieren, dass die Gräueltaten mit dem Tod des Diktators ein Ende gefunden hätten, ergo: nicht originär auf den Willen der Deutschen zurückgingen. Die damit noch keineswegs ausgeräumte Verantwortung dafür, Hitler nicht ›beseitigt‹ zu haben, verlagert Kästner behelfsweise in den internationalen Raum, um sie schließlich mit dem menschlichen Verhalten als solchem gegenüber Diktatoren abzugleichen. Folglich wird die konkrete Schuld, die man ihm und seinen Landsleuten in der gegebenen Situation zur Last legen könnte, argumentativ umgelenkt und zu einer universellen, gleichsam in den menschlichen Handlungsdispositionen angelegten Schuld ausgeweitet. Diesen ersten Zurückweisungen einer deutschen Kollektivschuld lässt der Schriftsteller im weiteren Verlauf seines Textes ein klassisches Autoritätsargument folgen, indem er auf Robert H. Jacksons Eröffnungsrede vor dem Internationalen Militärtribunal rekurriert: »Wir wollen klarstellen«, zitiert Kästner den amerikanischen Juristen, »daß wir nicht beabsichtigen, das ganze deutsche Volk zu beschuldigen. Wir wissen, daß die Nazipartei nicht aufgrund einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen zur Macht kam.« Und er [Jackson, Anm. d. Verf.] sagte noch, daß ja keine Sturmkolonnen, keine Konzentrationslager und keine Gestapo hätten erfunden werden müssen, wenn die Deutschen insgesamt und die Nationalsozialisten ein und dasselbe gewesen wären.¹⁴³

Beachtung verdient, in welcher Weise Kästner auf die Erleichterung der deutschen Bevölkerung eingeht, die der Verlautbarung Jacksons gefolgt sei. Er hält fest, »durch die Reihen von Millionen seelisch und körperlich abgewrackter, bettelarmer, zu

143 Ebd. Tatsächlich bleibt Kästner mit dieser Zusammenfassung recht nah am Wortlaut Jacksons; in der Originalfassung der Rede des US-Amerikaners heißt es: »We would also make clear that we have no purpose to incriminate the whole German people. We know that the Nazi Party was not put in power by a majority of the German vote. We know it came to power by an evil alliance between the most extreme of the Nazi revolutionists, the most unrestrained of the German reactionaries, and the most aggressive of the German militarists. If the German populace had willingly accepted the Nazi program, no Storm-troopers would have been needed in the early days of the Party and there would have been no need for concentration camps or the Gestapo, both of which institutions were inaugurated as soon as the Nazis gained control of the German State. Only after these lawless innovations proved successful at home were they taken abroad.« Jackson, Robert H.: Opening Statement before the International Military Tribunal. https://www.roberthjackson.org/speech-and-wri ting/opening-statement-before-the-international-military-tribunal/ [letzter Zugriff: 17.06. 2016].

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Zigeunern gewordener Deutscher« sei »ein leises Aufatmen gegangen«.¹⁴⁴ Unübersehbar wird hier das Bild eines Kollektivs bemitleidenswerter, heimatloser Opfer gezeichnet, das sich fortsetzt, wenn kurz darauf von »Reihen mit Trauer, Not und Sorge Beladener«¹⁴⁵ die Rede ist. Gleichzeitig inszeniert Kästner Jackson in der Rolle eines mächtigen Helfers, der den Deutschen als »gerecht denkender Mann eine übrige Last abnahm, von der sie empfanden, daß sie ihnen zu Unrecht aufgepackt worden war.«¹⁴⁶ Eine vollständige Tilgung des Leides der Bevölkerung scheint dadurch zwar nicht erfolgt zu sein (es heißt, ihr Rucksack sei »noch immer schwer genug«¹⁴⁷). Dennoch erlaubt die Hoffnung, die der Jurist geweckt hat, es im Sinne Kästners offenbar, den Blick von der persönlichen Schuldfrage hin zur Übernahme politischer Verantwortung zu lenken. Er resümiert: Was hat sich geändert? Wenig und alles. – Wenn ich einen Bruder hätte, der jemanden beraubte, und man käme und sagte, ich sei schuld, so wäre das ungerecht. Wenn man aber sagte, ich solle, da der Dieb mein Bruder sei, mitarbeiten, daß der Bestohlene sein Gut oder dessen Gegenwert zurückerhalte, so würde ich ohne Zögern antworten: »Das will ich tun.« Die Schuld müßte ich ablehnen. Die Schulden würde ich anerkennen.¹⁴⁸

Mit dieser gleichnishaften Differenzierung zwischen Schuld und Schulden, die in der Überschrift des Artikels aufgegriffen wird, bringt Kästner schon früh ein Denkmuster auf eine Formel, das für den weiteren (bundes)deutschen Schulddiskurs konstitutiv war: die strikte Trennung zwischen moralischem Schuldeingeständnis und politischer Wiedergutmachungsbereitschaft. Ebendiese Unterscheidung findet sich in ähnlicher Form beispielsweise nicht nur in den moralphilosophischen Erwägungen von Jaspers wieder.¹⁴⁹ Sie tritt, wie bereits aufgezeigt,¹⁵⁰ auch im späteren Umgang des jungen Bundestages mit der deutschen Vergangenheit zu Tage. Eine Tilgung der »Schulden« in Form von staatlichen Zahlungen (wie sie die Bundesrepublik Jahre später in der Tat an den Staat Israel leisten sollte) erscheint Kästner in der unmittelbaren Nachkriegssituation allerdings noch

144 EKW VI, S. 501. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 502. 149 Jaspers grenzt in seiner bereits erwähnten Schrift Die Schuldfrage politische Schuld dezidiert von krimineller und moralischer Schuld ab: Seinen Ausführungen nach impliziert »politische Schuld zwar Haftung aller Staatsbürger für die Folgen staatlicher Handlungen, nicht aber kriminelle und moralische Schuld jedes einzelnen Staatsbürgers in bezug [sic] auf die Verbrechen, die im Namen des Staates begangen wurden.« Jaspers (1946), S. 32. Vgl. dazu auch Hermann (2007), S. 44 f. 150 Vgl. Kapitel 4.1.

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nicht realisierbar.¹⁵¹ Stattdessen skizziert er die Idee, dass politisch unbelastete deutsche Kulturschaffende im Ausland Vorträge, Lesungen, Ausstellungen, Gastspiele und Konzerte darbieten und deren Erlös »einem Reparationsfonds«¹⁵² zur Verfügung stellen könnten. Anders als Kästner annahm, war an die Umsetzung eines solchen Plans – der nicht zuletzt die internationale Reetablierung der ›inneren Emigranten‹ mit im Blick gehabt haben dürfte – kaum ein Dreivierteljahr nach Kriegsende realiter nicht zu denken.¹⁵³ Gleichwohl macht sein Vorschlag deutlich, dass er die Deutschen durchaus in der Pflicht sah, sich ihrer politischen Verantwortung für die Verbrechen der vergangenen zwölf Jahre nicht nur durch Worte, sondern ebenso durch konkrete symbolische Handlungen zu stellen. Auffällig ist, dass die entscheidende Positionierung Jacksons, die Kästner zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, nicht nur im Zentrum des soeben betrachteten Beitrags steht: Sie findet auch in seinem gut zwei Monate später veröffentlichten Artikel Splitter und Balken ¹⁵⁴ Niederschlag; in diesem Text wird sie jedoch zur Abwehr einer tatsächlich vorgebrachten These über die Kollektivschuld der deutschen Bevölkerung genutzt. Der genannte Beitrag fungiert als Replik auf ein Interview mit Carl Gustav Jung, das nur wenige Tage nach Kriegsende in der Züricher Weltwoche erschien¹⁵⁵ und in dessen Fokus die Äußerung stand, dass aus psychologischer Sicht kein »gesinnungsmäßige[r] Unterschied zwischen Nazis und Gegnern des Regimes«¹⁵⁶ gemacht werden dürfe. Wie Kästner Revue passieren lässt, sah es der Schweizer Psychiater, wörtlich, als »recht naiv« an, zwischen »anständige[n] und unanständige[n] Deutsche[n]« zu differenzieren, da sämtliche Mitglieder des Volkes »bewusst oder unbewusst, aktiv oder passiv« an den Gräueltaten des NS-Regimes beteiligt gewesen seien.¹⁵⁷ 151 Vgl. dazu EKW VI, S. 502 f. 152 Ebd., S. 504. Der von Kästner gewählten Formulierung gemäß ist seine Vorstellung von finanziellen Wiedergutmachungen zu diesem Zeitpunkt noch von der Erinnerung an die Reparationszahlungen geprägt, die Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aufgrund des Kriegsschuldartikels im Versailler Vertrag leisten musste. 153 So wurden den Deutschen zu Beginn der Besatzungsherrschaft Reisegenehmigungen für das Ausland zunächst gar nicht und auch danach noch über lange Zeit höchst selten erteilt. Besuche anderer europäischer Länder waren Kästner und seinen Kollegen vor diesem Hintergrund vorerst nicht möglich. Es sollte bis zum Internationalen PEN-Kongress im Sommer 1947 dauern, bis der Schriftsteller sein Heimatland zum ersten Mal nach Kriegsende wieder verlassen durfte. Vgl. auch Kapitel 3.2.5. 154 Siehe Kästner, Erich: Splitter und Balken [NZ, 8. 2.1946]. In: EKW VI, S. 520 – 524. 155 Siehe Jung, C. G.: Werden die Seelen Frieden finden? In: Die Weltwoche. Friedens*Nummer. 13. Jg., Nr. 600, 11.5.1945, S. 3. Die Zitate Jungs, die Kästner in seinem Artikel anführt, wurden von ihm allesamt wörtlich aus dem Interview übernommen. 156 EKW VI, S. 520. 157 Ebd.

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Jungs Sicht auf die Deutschen als Tätervolk stellt Kästner erneut das Bild einer (nunmehr enttäuschten) deutschen Opfergruppe gegenüber, die »zwölf Jahre lang seelisch dem Ärgsten widerstanden« und nach dem Ende des »Martyrium[s] […] auf ein klein wenig Trost und Hilfe, Zuspruch und Mitleid gerechnet« habe.¹⁵⁸ Zwischen dieser Gruppe von »armen, erschöpften Gegnern des Regimes«¹⁵⁹ und den Nationalsozialisten vollzieht der Schriftsteller in seinem Beitrag mit Nachdruck exakt jene ›gesinnungsmäßige‹ Trennung, die im Zentrum der Kritik des Psychiaters stand. So konstatiert Kästner, als Reaktion auf Jungs Feststellung über die Suggestibilität, dank derer sich die Deutschen den »Dämonen« gegenüber als »spezifisch schwach« erwiesen hätten,¹⁶⁰ sarkastisch, dass besagte Regimegegner »den Dschingiskhan vom Inn und seine goldbraune Horde«¹⁶¹ freilich nicht bewältigen konnten: »Sie hatten, soweit sie es überlebt hatten, den Dämonen der Folter und Sippenrache, den Drachen der Gaskammern und Krematorien, den Vipern der Belauerung, Erpressung und Enteignung allenfalls standzuhalten versucht.«¹⁶² Dass Kästner zur Verbildlichung der genannten Verbrechen, die er der NS-Führung und ihren Gefolgsleuten anlastet, nicht nur die von Jung erwähnten Dämonen aufgreift, sondern mit der Benennung von Drachen und Vipern zwei weitere Arten von Schreckensgestalten hinzufügt, lässt sich durchaus als ein karikierender Seitenhieb auf die bildreiche Archetypenlehre¹⁶³ des Psychiaters begreifen. Zugleich versucht er, die von Jung vertretene Kollektivschuldthese zu dementieren, indem er ins Feld führt, dass es Deutsche gab, für die das Leben im NS-Regime eine durchgängige, existentielle Gefahr darstellte. Welche und wie viele Menschen die Gruppe dieser

158 Ebd. 159 Ebd., S. 521. 160 Ebd. Anders als Kästners Artikel suggeriert, sind die von Jung genannten »Dämonen«, dem Verständnis des Psychiaters nach, allerdings nicht mit den Nationalsozialisten respektive dem Nationalsozialismus als solchem gleichzusetzen. In dem genannten Interview erläutert Jung vielmehr, dass die Natur für den primitiven Menschen voller Dämonen gewesen sei, bei denen es sich um »aus dem Innern des Menschen herausprojiziert[e] inner[e] Mächte« gehandelt habe. Nach der Entdämonisierung der Natur durch das Christentum und die moderne Wissenschaft habe »der Europäer […] die dämonischen Mächte konsequent aus der Welt in sich selbst zurückgenommen und damit das Unbewusste in steigender Weise beschwert.« Jung (1945), S. 3. 161 EKW VI, S. 521. 162 Ebd. 163 Als Archetypen werden in der von Jung begründeten analytischen Psychologie Strukturprinzipien menschlicher Vorstellungsmuster begriffen, die im kollektiven Unbewussten verankert sind. In Mythen, Märchen, Sagen oder auch Träumen können sich Archetypen auf vielfältige Weise in Form von Bildern respektive Symbolen manifestieren. Siehe weiterführend Jung, C. G.: Der Mensch und seine Symbole. 8. Auflage/1. Auflage der Sonderausgabe. Olten 1979.

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

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»Gegner des Regimes« konstituierten, legt Kästner in diesem Zusammenhang allerdings (noch) nicht dar. Stattdessen greift er im Weiteren auf drei Ausschlussstrategien zurück, mit denen er Jung auf höchst polemische Weise das Recht abspricht, innerhalb des Schulddiskurses überhaupt als Intellektueller zu agieren und Stellung zu beziehen: Als Erstes markiert Kästner es als indiskutabel, dass jemand, der zwischen 1933 und 1945 im Ausland lebte und seine eigene moralische Integrität gegenüber der NSDiktatur nicht unmittelbar unter Beweis stellen musste, sich wertend über das Verhalten der Deutschen äußert. »Nicht jeder«, bemerkt er in ironischem Tonfall, »konnte so tapfer, so gewaltig und so unsuggestibel sein, wie der Seelenforscher Prof. Dr. C. G. Jung es ganz gewiss […] gewesen wäre, wenn er nicht in der Schweiz gelebt hätte.«¹⁶⁴ Mit einem zweiten Argument rüttelt Kästner an der Glaubwürdigkeit der Jung’schen Schuldthese, indem er diese zu ihren Ungunsten gegen das juristische (und damit, wie der Text suggeriert, legitimere) Urteil Jacksons ausspielt. Er rekapituliert, dass der Psychiater »der ganzen Welt seine fachmännische Meinung« mitgeteilt habe, um postwendend hinzuzufügen: Die Welt richtete sich nicht nach diesem Richter, sondern nach einem anderen, nach dem amerikanischen Oberrichter Jackson. […] Und die Welt glaubte ihm, obwohl er kein berühmter Seelenforscher war, sondern der amerikanische Hauptankläger in Nürnberg.¹⁶⁵

In seinem dritten und wirkmächtigsten Argumentationsschritt versucht Kästner schließlich, den vorgebrachten Schuldvorwurf auf Jung selbst zurückzulenken, indem er auf dessen eigene – anfänglich affirmative – Haltung zur antisemitischen Dimension der NS-Ideologie zu sprechen kommt. Zu diesem Zweck rekurriert er, in Anlehnung an einen harschen Artikel des emigrierten deutsch-jüdischen Psychiaters Wladimir G. Eliasberg,¹⁶⁶ auf Jungs Aufsatz Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie aus dem Jahr 1934.¹⁶⁷ Wie Kästner wörtlich wiedergibt, hatte Jung hierin vehemente Kritik an der » bisherigen medizinischen Psychologie« geübt, der er den »schweren Fehler« anlastete, »jüdische Kategorien unbesehen auf den

164 EKW VI, S. 521. 165 Ebd. 166 Der 1938 in die USA emigrierte Psychiater war vor der nationalsozialistischen Machtübernahme unter anderem Herausgeber des Zentralblattes für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete gewesen – eine Position, die ab März 1933 von Jung eingenommen wurde. Innerhalb eines höchst kritischen Artikels, den Eliasberg im Dezember 1945 im New Yorker Aufbau publizierte, druckte er einen Auszug aus dem besagten Aufsatz Jungs ab, auf den sich wiederum Kästner in seinem Beitrag bezieht. Siehe Eliasberg, Wladimir G.: Die Wandlungen des Herrn C. G. Jung. In: Aufbau 50 (1945), S. 3. 167 Siehe Jung, C. G.: Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie. In: ders.: Zivilisation im Übergang. Olten 1974, S. 181 – 199.

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christlichen Germanen« angewendet und »damit […] das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund, als kindisch banalen Sumpf erklärt« zu haben.¹⁶⁸ In diesem Zusammenhang grenzte sich Jung, wie das von Kästner abgedruckte Zitat aufzeigt, nicht nur dezidiert von den Erkenntnissen seines früheren Lehrers Sigmund Freud ab, dem er attestierte, die germanische Seele als Jude nicht gekannt zu haben.¹⁶⁹ Er sprach auch überaus erwartungsvoll von einer »gewaltige[n] Erscheinung des Nationalsozialismus«.¹⁷⁰ Äußerungen wie diese zu einem Zeitpunkt getätigt zu haben, an dem »schon Zehntausende […] aus Deutschland in die Schweiz geflohen« seien und »die Gestapo […] schon viele Tausende ihrer engeren germanischen Landsleute« getötet habe,¹⁷¹ legt Kästner Jung im weiteren Verlauf seines Artikels nachdrücklich zur Last. Zudem greift er dessen nach Kriegsende postulierte These über die aktive oder passive Partizipation der Deutschen an den begangenen Verbrechen noch einmal auf und räumt am Beispiel des 1933 ermordeten Schauspielers Hans Otto auf zynische Weise ein, dass zahlreiche Regimegegner als Opfer durchaus an den zurückliegenden Gewalttaten beteiligt waren. ¹⁷² Auf dem Zenit seiner Polemik angekommen, regt Kästner im Namen eines zunächst nicht näher definierten Kollektivs¹⁷³ dazu an, dem Psychiater »zum Zei-

168 EKW VI, S. 522. Siehe auch Jung (1974), S. 191. 169 Vgl. ebd. 170 Ebd. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass Kästner und der von ihm erwähnte Psychiater Eliasberg bei Weitem nicht die einzigen waren, die an Jungs früheren Äußerungen Anstoß nahmen. Nach dem Ende der NS-Diktatur wurde dem Begründer der analytischen Psychologie neben seinen oben erwähnten Aussagen häufig zur Last gelegt, sich bereits im Geleitwort des erstmals im März 1933 von ihm herausgegebenen Heftes des Zentralblattes für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete für eine Unterscheidung zwischen germanischer und jüdischer Psychologie ausgesprochen zu haben. Und auch in einem Interview, das er seinem ehemaligen Schüler Adolf Weizsäcker im Juni 1933 im Berliner Rundfunk gegeben hatte, ließ sich der Psychiater in einer Art und Weise auf die ihm gestellten Fragen ein, die während und nach der NS-Zeit von zahlreichen Rezipienten als Befürwortung der nationalsozialistischen Weltanschauung aufgefasst wurde. Vgl. weiterführend etwa Wehr, Gerhard: Carl Gustav Jung. Leben, Werk, Wirkung. München 1985, S. 273 – 295. 171 EKW VI, S. 523. 172 Vgl. ebd. Otto, ein früherer Schulkamerad Kästners, war aufgrund seiner KPD-Mitgliedschaft im November 1933 von der SA verhaftet und schwer misshandelt worden. Während eines Verhörs in der Berliner Voßstraße stürzte man ihn aus dem dritten Stock auf die Straße, um einen Suizid vorzutäuschen. Kästner zeichnet Otto in seinem Text gleichsam als Märtyrer, der, noch als man ihn »schon dreiviertels [sic] totgeschlagen hatte«, tapfer lächelnd gesagt haben soll: »Das ist meine beste Rolle.« Ebd. 173 Jenes Kollektiv taucht zuvor bereits in der ersten Passage des Artikels auf, in der Kästner unter anderem resümiert, dass »wir« das Interview mit Jung lasen und erschraken. Vgl. ebd., S. 520.

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chen, wie sehr wir [ihn] schätzen«, einige seiner jüngsten Interviewäußerungen »ins Poesiealbum [zu] schreiben«.¹⁷⁴ Einer der in diesem Zusammenhang wiederholten Jung’schen Sätze lautet: »Wir lieben den Verbrecher und interessieren uns brennend für ihn, weil der Teufel in uns, in der Betrachtung des Splitters, den Balken im eigenen Auge vergessen läßt.«¹⁷⁵ Diesen auf den Bibelvers Matthäus 7,3¹⁷⁶ rekurrierenden Ausspruch über das Ausblenden eigener Schuld, das sich im Zuge der Beschuldigung anderer vollzieht, macht Kästner schließlich zur Grundlage eines letzten spöttischen Angriffs, mit dem er seinen Artikel enden lässt: Schade, daß Jung seinen Balken nicht mit einem Sondergüterzug nach Deutschland geschickt hat. Der Balken hätte in diesem Winter vielen Gegnern des Regimes und ihren fröstelnden Familien auf Monate zu einem warmen Ofen verholfen. Aber leider gehört Jung ja zu denen, die zwischen den Gegnern und den Nazis »nicht jenen beliebten gesinnungsmäßigen Unterschied« machen. Und so hat er uns seinen Balken nicht gegönnt.¹⁷⁷

Betrachtet man diese letzte Passage des Textes, dann fällt auf, dass sie weit mehr als nur die Rückgabe des Schuldvorwurfs an den berühmten Psychiater enthält: Betont werden nicht allein die anhaltenden Entbehrungen der hier noch einmal erwähnten »Gegner des Regimes«. Es findet auch eine Gleichsetzung dieser »Gegner« mit dem zuvor ins Spiel gebrachten Kollektiv (dem »Wir«, als dessen Vertreter Kästner spricht) statt. Gewiss ließe sich der Autor hier als Anwalt einer eng begrenzten Gruppe Deutscher erfassen, deren persönliche und berufliche Freiheit gezielt und elementar vom NS-Staat bedroht und beschnitten wurde, wie es bei ihm selbst zu Zeiten seines Berufsverbotes und seiner Verhöre durch die Gestapo der Fall war. Geht man aber davon aus, dass er mit der Formulierung über den Balken, den Jung »uns […] nicht gegönnt«¹⁷⁸ hat, auf sich selbst und die Adressaten seines Artikels abhebt, und führt man sich vor Augen, dass diese – dem Untertitel der Neue[n] Zeitung gemäß – in der deutsche[n] Bevölkerung bestanden, so lässt sich der Artikel zugleich als rhetorisch höchst geschickt aufbereitete Rehabilitierung eben jener breiten Masse lesen: Während die ersten Abschnitte des Beitrags es nahe legen, bei der Rede von »Regimegegnern« an Menschen zu denken, die während der NS-Zeit verfolgt und ermordet wurden (oder zumindest explizit von Verfolgung und Ermordung bedroht waren), erlaubt sein Ende es nahezu jedem deutschen Leser, der

174 Ebd., S. 523. 175 Ebd. Siehe auch Jung (1945). 176 Dieser lautet: »Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?« Siehe Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1972, Matthäus 7,3. 177 EKW VI, S. 523 f. 178 Ebd., S. 524. Hervorhebung d. Verf.

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nach eigenem Ermessen nicht zu Hitlers engsten Gefolgsleuten zählte, sich im Kollektiv der »Gegner des Regimes« zu verorten. Dieser Lesart folgend leistete Kästners Artikel genau jener Unterscheidung zwischen Regime und Regimegegnern respektive schuldigen Nazis und unschuldigen Deutschen, die Jung in seinem Interview beanstandet hatte, deutlichen Vorschub. Zentrale exkulpierende Argumentationsstrategien, die den Feuilletonartikeln Die Schuld und die Schulden und Splitter und Balken inhärent sind, treten auch in zahlreichen weiteren Texten zutage, die Kästner in der unmittelbaren Nachkriegszeit schrieb. Insbesondere die zeit- beziehungsweise diskurstypische Externalisierung der Schuld auf die NS-Führung kommt vielfach zum Tragen. Ob der Schriftsteller seinem Heimatland die Rolle des »am längsten von den Nazis besetzte[n] und unterdrückte[n] Land[es]«¹⁷⁹ zuwies, ob er darlegte, dass das deutsche Volk von den Politikern des ›Dritten Reichs‹ in einen Abgrund gestürzt worden sei,¹⁸⁰ oder ob er auf die Reichspogromnacht zurückblickend illustrierte, wie Polizisten die Zivilbevölkerung daran gehindert hätten, in die gewaltsame Zerstörung jüdischer Geschäfte einzugreifen¹⁸¹ – immer wieder finden sich in seinen Beiträgen Aussagen, die die Sichtweise nahe legen, dass die deutsche Bevölkerung den Machenschaften der NS-Regierung und ihrer Gefolgsleute hilflos ausgeliefert war. Den Opferstatus, den er den Deutschen auf solche Weisen zuerkannte, ließ Kästner für die österreichische Bevölkerung, die diesen nach Kriegsende ebenso für sich in Anspruch nahm,¹⁸² wohlgemerkt nicht gelten: Bereits am Tag der Kapitu-

179 Dies notierte Kästner am 8. Mai 1945 in sein Kriegstagebuch. Siehe Kästner (2006), S. 140. 180 Vgl. Kästner, Erich: Ist Politik eine Kunst? [NZ, 21.12.1945] In: EKW VI, S. 508 – 511, hier S. 509. Erwähnenswert ist, dass Kästner im Verlauf der darin entwickelten Argumentation »nicht nur Deutschland, sondern de[n] gesamten Kontinent« (ebd.) in diesem Abgrund verortet, wodurch die deutsche Bevölkerung und die Europäer gleichsam zu einer Gemeinschaft von Opfern des NS-Regimes solidarisiert werden. Ebendieses Bild greift der Schriftsteller in dem Vorwort, das er 1946 für die Neuauflage seines Romans Fabian verfasst, erneut auf. Darin schreibt er den Deutschen jedoch eine aktivere Rolle zu, seien diese den »Jahrmarktschreiern und Trommlern« doch in den Abgrund nachgelaufen. Vgl. Kästner (2013), S. 240. Vgl. auch Kapitel 3.2.4. 181 Vgl. Kästner, Erich: Unser Weihnachtsgeschenk [NZ, 24.12.1945]. In: EKW VI, S. 512 – 515, hier S. 512 f. In diesem Beitrag betont Kästner zunächst seine Augenzeugenschaft indem er darlegt, wie er selbst in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 polizeilich daran gehindert worden sei, aus seinem Taxi auszusteigen und sich den von ihm wahrgenommenen Zerstörungsakten zu nähern. Daraufhin fasst er zusammen: »Die Regierung hatte ein gemeines Verbrechen angeordnet. Die Polizei hatte die kommandierten Verbrecher während der Tat geschützt. Sie hätte jeden braven Bürger, der die Ausführung des Verbrechens zu hindern gesucht hätte, festgenommen. Und am nächsten Tag log die Regierung das Verbrechen in eine überraschende Volksaktion um.« Ebd., S. 513. 182 Wie Assmann ausführt, unterschieden sich die psychischen Mechanismen und Strategien der Schuldabwehr der Österreicher nach dem Ende des NS-Regimes tatsächlich nicht grundlegend von

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

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lation Deutschlands echauffierte er sich in seinem Kriegstagebuch über eine Sendung des Radios Vorarlberg, in der, seiner Zusammenfassung gemäß, mitgeteilt wurde, »dass Österreich völlig unschuldig sei und dass sie [die Österreicher, Anm. d. Verf.] das Schicksal des Altreichs in keiner Weise interessiere.«¹⁸³ Die »Überheblichkeit und Unaufrichtigkeit«,¹⁸⁴ die er den Einwohnern des Nachbarlandes in diesem Kontext attestierte, machte er ihnen im Folgejahr auch öffentlich zum Vorwurf. In seinem in der Schaubude uraufgeführten Chanson O du mein Österreich ¹⁸⁵ ließ er laut Regieanweisung »[v]ier Buam in Krachledernen[,] [m]it Hitlerbärtchen«¹⁸⁶ auftreten, die überschwänglich ihr Verhältnis zum ›Führer‹ resümieren: Wir wollten niemals heim ins Reich, sondern höchstens reich ins Heim. Wenn’s auch manchmal anders schien, wir war’n immer gegen ihn! […] Was hat uns der Märchenerzähler aus Braunau nicht alles erzählt! Wir machten nur einen Fehler: (leise, präzis) Wir ham ihn trotzdem gewählt.¹⁸⁷

Mit diesem vorgeführten Dementi der Parole »Heim ins Reich«, die während der NSZeit zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich auffordern sollte, kritisierte Kästner exakt jene schuldabweisende Grundhaltung, die auch das Gros der deutschen Bevölkerung nach 1945 in Bezug auf die NS-Vergangenheit einnahm. Überdies fällt auf, dass er die Unterstützung Hitlers durch dessen Wahl beanstandete – ein Faktum, das er den Deutschen in seinen öffentlichen Positionierungen zur selben

denen der Deutschen. So wies sich Österreich als »erstes Opfer Hitlers« aus, was »als Formel nationaler Selbstbeschreibung sicherlich zu kurz greift.« (Assmann 2006, 113) Allerdings waren die Rahmenbedingungen der Gedächtnisbildung in beiden Ländern grundverschieden, da Österreich nach Kriegsende im Gegensatz zu Deutschland eine selbstbestimmte nationale Erinnerungspolitik entwickeln konnte. Erst im Rahmen der Waldheim-Affäre in den 1980er Jahren stand das Land unter dem weltöffentlichen Druck, ein Tätergedächtnis auszubilden und seine ›Opferdoktrin‹ abzulegen. Vgl. ebd., vgl. dazu auch König (1998), S. 372. 183 Kästner (2006), S. 139. Den genannten Passus nahm Kästner in Notabene 45 nicht auf. 184 Ebd. 185 Siehe Kästner, Erich: O du mein Österreich [1946]. In: EKW II, S. 365 – 368. Die Uraufführung erfolgte im Rahmen der Eröffnung des zweiten Programms der Schaubude am 12. April 1946. 186 Ebd., S. 365. 187 Ebd., S. 366.

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Zeit keineswegs in solch unmissverständlichen Worten zum Vorwurf machte. Aufschlussreich im Hinblick auf Kästners persönliche Meinung ist in diesem Kontext allerdings ein Schreiben, das er im Januar 1947 an einen Wiener Stadtrat richtete, der ihn in einem vorangegangenen Brief auf den besagten Chansontext angesprochen hatte. Obgleich der Antwortbrief des Schriftstellers die anklagende Haltung gegenüber der österreichischen Schuldabwehr nicht zurücknahm, sondern vielmehr unterstrich, räumte er dennoch – beiläufig – ein, wie viele seiner eigenen Landsleute zwischen 1933 und 1945 realiter hinter der NS-Regierung gestanden hatten. So betonte Kästner, es habe »nicht den geringsten Sinn«, ihm »weismachen zu wollen, daß ein grosser Teil der Österreicher nicht genausolche Nazis gewesen wären, wie ein grosser Teil der Reichsdeutschen.«¹⁸⁸ Auch in einigen Kästner’schen Feuilletontexten, die grundsätzlich um eine Rehabilitierung der Deutschen bemüht waren, lassen sich bei näherem Hinsehen Andeutungen darüber ausmachen, wie viele Deutsche während der zwölfjährigen Diktatur tatsächlich im Sinne der NS-Führung agierten. Der Betrachtung wert ist in diesem Kontext insbesondere ein Gedankengang, den Kästner in seinem NZ-Beitrag Unser Weihnachtsgeschenk vom 24. Dezember 1945 darlegt. Hierin lastet er dem NSStaat rückblickend an, es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, das dem Menschen eingeborene Gewissen und Rechtsempfinden innerhalb der Landesgrenzen radikal auszurotten. Wer ein schlechter Kerl war oder wurde, konnte es weit bringen. Wer auf die Stimme in seinem Innern hörte, kam vor Gericht und wurde als Verbrecher – als »Staatsfeind« – verurteilt. […] Gut und böse, unwandelbare Maßstäbe des menschlichen Herzens, wurden durch Gesetze und Verordnungen ausgetauscht. Der Milchhändler, der einem unterernährten »artfremden« Kind eine Flasche Milch zusteckte, wurde eingesperrt, und die Frau, die ihn angezeigt hatte, bekam das Verdienstkreuz. Wer unschuldige Menschen umbrachte, wurde befördert. Wer seine menschliche oder christliche Meinung sagte, wurde geköpft oder gehängt.¹⁸⁹

188 Kästner, Erich an einen Wiener Stadtrat. Brief vom 9.1.1947. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 101 f., hier S. 101. Hervorhebung d. Verf. 189 Kästner, Erich: Unser Weihnachtsgeschenk [NZ, 24.12.1945]. In: EKW VI, S. 512 – 515, hier S. 514. Ganz ähnlich äußert sich Kästner nahezu zeitgleich in seinem Pinguin-Artikel Gescheit, und trotzdem tapfer. Allerdings spricht er gegenüber seinen jungen Adressaten, denen aufgrund ihres Alters keine Verantwortung für das Zustandekommen und den Erhalt des NS-Systems angelastet werden kann, nicht von »Gewissen«. Stattdessen postuliert er, auf die NS-Zeit Bezug nehmend: »Das interessanteste und traurigste Buch, das über das Dritte Reich geschrieben werden muß, wird sich mit der Verderbung des deutschen Charakters zu beschäftigen haben. Niemals in unserer Geschichte hat ein solcher Generalangriff auf die menschlichen Tugenden stattgefunden. Nie zuvor sind Eigenschaften wie Zivilcourage, Ehrlichkeit, Gesinnungstreue, Mitleid und Frömmigkeit so grausam und teuflisch bestraft, nie zuvor sind Laster wie Rohheit, Unterwürfigkeit, Käuflichkeit, Verrat und

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

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Diese Reflexion Kästners – die im Kern bereits Assmanns Jahrzehnte später vorgelegter Erkenntnis über eine »systematischen Anästhesierung des moralischen Gefühls«¹⁹⁰ im Nationalsozialismus nahe kommt¹⁹¹ – liefert durchaus den Anstoß für ein differenzierteres und zugleich ambivalenteres Bild der deutschen Bevölkerung als seine zuvor beleuchteten Artikel. Der Autor konstatiert im Rahmen seiner Überlegung nämlich nicht nur, dass die »Umkehrung des menschlichen und staatsbürgerlichen Gewissens« geplant war, sondern auch, dass sie »tausendfach erziel[t]«¹⁹² wurde: »Man lebte immer weniger mit seinem Gewissen im Einklang. Viele wurden unsicher und schwach.«¹⁹³ Gänzlich bleibt der Hinweis auf deutsche Opfer des Regimes zwar auch in diesem Zusammenhang nicht aus, kommt Kästner doch anschließend auf jene Deutschen zu sprechen, die, »die alten Wahrheiten wie Beschwörungen hinausschreiend, ins Verderben und unter den Galgen [rannten].«¹⁹⁴ Dennoch geht es ihm in jenem Artikel offenbar nicht vorrangig darum, ein Kollektiv von Regimegegnern zu porträtieren. Vielmehr versucht er zu vermitteln, dass es der Bevölkerung schwerlich möglich war, die NS-Zeit lebend und ohne Gewissensqualen zu überstehen. Die »Ratlosigkeit des Gewissens«,¹⁹⁵ die bei den Deutschen vorgeherrscht habe, stellt er damit einhergehend als »morastige[s] Labyrinth« dar, »in das der Staat ein Volk hineingetrieben hatte und an dessen Ausgängen die Henker standen.«¹⁹⁶ Dieses Bild nimmt er, kombiniert mit dem bekannten Bibelvers Johannes 8,7, zum Anlass, um ein weiteres Mal¹⁹⁷ zu verdeutlichen, für wie leichtfertig er es

Dummheit so maßlos und so öffentlich belohnt worden.« Kästner, Erich: Gescheit, und trotzdem tapfer [Pinguin, Januar 1946]. In: EKW II, S. 22 – 25, hier S. 24. 190 Assmann (2006), S. 83. 191 In diesem Kontext führt Assmann – nuancierter als Kästner dies unmittelbar nach dem Ende des NS-Regimes vermag – aus, dass »[d]as Mitgefühl […] im NS so programmiert [war], dass es abrupt an der Grenze der Wir-Gruppe Halt machte. Die sekundären Tugenden der Pflichterfüllung und Selbstaufgabe, der fanatische Kollektivegoismus und die hohe soziale Bestätigung und Anerkennung trugen dazu bei, nach und nach jegliches Unrechtsempfinden auszulöschen.« Ebd. 192 EKW VI, S. 513 f. 193 Ebd., S. 515. 194 Ebd. 195 Ebd. 196 Ebd. 197 Eine ähnliche Argumentation ist in wesentlich polemischerer Aufmachung auch Kästners kurz darauf publizierter Kritik an C. G. Jung inhärent. Als weiterer Text, der sich gegen die Kollektivschuldvorwürfe aus anderen Ländern ausspricht, lässt sich Das Märchen von den kleinen Dingen (EKW II, S. 153 – 155) anführen, das im Januar 1948 in der Schaubude präsentiert, von seinem Verfasser vermutlich jedoch bereits im Vorjahr im Rahmen der PEN-Tagung in Zürich vorgetragen wurde. (Vgl. ebd., S. 444) Darin versucht Kästner, all jene, die zwischen 1933 und 1945 nicht in Deutschland waren, davon zu überzeugen, dass Vorwürfe Außenstehender dem Neuanfang der

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erachtet, von ›außen‹ Schuldurteile an die Deutschen heranzutragen: »Wer es nicht erlebt hat, wer nicht verzweifelnd in diesem Labyrinth herumgeirrt ist, der hat es zu leicht, den ersten Stein auf dieses Volk zu werfen.«¹⁹⁸ Die Ablehnung jeglicher moralischen Beurteilung der Deutschen durch ›Außenstehende‹ behielt Kästner auch über die unmittelbaren Nachkriegsjahre hinaus bei.¹⁹⁹ Gleichwohl muss festgehalten werden, dass sich seine Sicht auf das Verhalten seiner Landsleute im ›Dritten Reich‹ in seinen späteren Äußerungen manches Mal durchaus kritischer gestaltete. Dies lässt sich etwa am Beispiel seines überarbeiteten Kriegstagebuchs Notabene 45 aus dem Jahr 1961 aufzeigen. Gewiss betont Kästner auch hier die Qualen der Deutschen, indem er verlauten lässt, dass sie gegen die NS-Führung so wenig tun konnten »wie ein Gefesselter, der zusehen muss, wie seine Frau und seine Kinder gequält werden«.²⁰⁰ Jedoch räumt er – anders als in der Originalfassung seines Tagebuchs – ein, dass zugleich auch der Vorwurf im Hinblick auf das Versagen der deutschen Gegner der Diktatur stimme.²⁰¹ Dieses Eingeständnis verbindet er mit einer (schon in zahlreichen seiner frühen Gedichte vorgebrachten)²⁰² Kritik an der Obrigkeitshörigkeit der Deutschen, von der er sich selbst nicht ausschließt: Wir bleiben untertänige Untertanen, auch wenn uns größenwahnsinnige Massenmörder regieren. Und was uns an der Empörung hindert, sind nicht nur die Fesseln. Was uns lähmt, ist nicht nur die nackte Furcht. Wir sind bereit, zu Hunderttausenden zu sterben, sogar für eine

Deutschen und dem Wiederaufbau ihres Landes schwerlich nutzen können. Er erzählt in Anspielung auf die deutsche Situation nach Kriegsende von einem Land, dessen Einwohner »ziemlich traurig« wurden, »denn erstens fehlten ihnen alle […] kleinen Dinge, die das Leben bekanntlich versüßen und vergolden. Zweitens wussten sie, daß sie selber daran schuld waren. Und drittens kamen immer Leute aus anderen Ländern und erzählten ihnen, daß sie daran schuld wären.« (EKW II, S. 153) Wie der Leser erfährt, wird der anfängliche Arbeitswille jener Menschen durch die wiederholten Vorwürfe von außen zum Erliegen gebracht und sie verfallen in Lethargie. Auffällig ist, dass Kästner seinem fiktiven Volk durchaus ein Schuldbewusstsein zuschreibt – dieses wird allerdings durch die materiellen Nachwirkungen des Krieges auf den Plan gerufen und bezieht sich nicht auf etwaig begangene Verbrechen an anderen Menschen. 198 EKW VI, S. 515. 199 Man denke etwa an seinen in Kapitel 3.2.5 nachgezeichneten Boykott des internationalen PENKongresses 1954, auf den bezogen bereits Hanuschek unterstrich, dass Kästner »nur den Deutschen selbst die Definitionsmacht zubilligte über das, was unter Nationalismus und Nationalsozialismus zu verstehen sei.« Hanuschek (1999), S. 187. 200 Kästner, Erich: Notabene 45. Ein Tagebuch [1961]. In: EKW VI, S. 301 – 480, hier S. 468. 201 Vgl. ebd. 202 Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.2.

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schlechte Sache, doch immer auf höheren Befehl. […] Wir sind keine Attentäter, auch für die edelste Sache nicht, gerade hierfür nicht.²⁰³

Zudem zieht Kästner in den frühen 1960ern im Vergleich zum Gros seiner früheren Notizen und Artikel eine wesentlich schärfere Trennlinie zwischen der deutschen Gesamtbevölkerung und jenen Deutschen, die die NS-Führung ablehnten: Während er im [B]laue[n] Buch noch mit großer Selbstverständlichkeit niederschrieb, dass die Deutschen »antifaschistisch« waren und Deutschland das »am längsten von den Nazis besetzte und unterdrückte Land«²⁰⁴ gewesen sei, spricht er letztere Rolle in Notabene 45 explizit dem »andere[n] Deutschland«²⁰⁵ zu und schwächt damit die ursprünglich auf das gesamte Volk beziehbare Exkulpation ab. Außerdem schreibt er über die deutschen Opfer des Regimes nunmehr als »Deutsche, die von Deutschen umgebracht worden sind.«²⁰⁶ Aber nicht nur Kästners öffentliche Positionierungen im Hinblick auf die Schuld seiner Landsleute wurden im Laufe der ersten sechzehn Nachkriegsjahre ambivalenter: Wie im Folgenden aufgezeigt werden wird, veränderte sich auch seine Beurteilung der Siegermächte in entscheidendem Maße.

4.1.3 Über alte Verbrechen und neue Dummheiten ‒ Kästners Betrachtungsweisen der Siegermächte Darauf, dass Kästner den Alliierten unmittelbar nach Kriegsende grundsätzlich positiv gegenüberstand, lässt bereits die Tatsache schließen, dass er sich im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit aus freien Stücken in den Dienst ihrer Reeduca-

203 EKW VI, S. 468. Diese Textpassage fehlt im [B]laue[n] Buch komplett. Einen vergleichbaren Vorwurf hatte Kästner vor der Publikation von Notabene 45 jedoch bereits in seiner Rede Von der deutschen Vergeßlichkeit (EKW VI, S. 612 – 614) erhoben, die er am 13. Mai 1954 in den Münchner Kammerspielen zum Gedenken an das Attentat vom 20. Juli 1944 hielt. Darin postulierte er: »Wir stehen vor jeder Autorität stramm. Auch vor dem Größenwahn, auch vor der Brutalität, auch vor der Dummheit – es genügt, daß sie sich Autorität anmaßen. Unser Gehorsam wird blind. Unser Gewissen wir taub. […] Wir haben gehorcht und sind es nicht gewesen. Der Mut, bar des Gefühls der Verantwortung und ohne jede Phantasie, ist unser Laster.« (Ebd., S. 612) Diese Haltung, die er dem Gros der Deutschen attestierte, grenzte er im weiteren Verlauf der Ansprache dezidiert von der Courage der »Frauen und Männer des deutschen Widerstands« (ebd.) ab, die er mit Nachdruck als Vorbilder für die Jugend auswies. Vgl. ebd, S. 613 f. 204 Kästner (2006), S. 140. 205 EKW VI, S. 406. Hervorhebung d. Verf. 206 Ebd. Hervorhebung d. Verf.

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tion-Pläne stellte.²⁰⁷ Während zahlreiche seiner Landsleute sich als Opfer der Nationalsozialisten und der Alliierten empfanden,²⁰⁸ ließ er nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass das NS-Regime seiner Ansicht nach ungleich größere Übel für die Deutschen mit sich gebracht hatte als das militärische Vorgehen der Großmächte und deren Sieg. Beispielsweise merkte Kästner gegen Ende seines Artikels Unser Weihnachtsgeschenk an, dass die unter den Nationalsozialisten erfahrene »Ratlosigkeit des Gewissens« eine Qual gewesen sei, »an der gemessen die Ängste während der schwersten Bombenangriffe auf unsere unverteidigten Städte Kindereien waren.«²⁰⁹ Und auch das juristische Vorgehen der Sieger gegen die NSElite befürwortete er mit Nachdruck. Gleichwohl stand der Schriftsteller den Besatzungsmächten bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren keineswegs völlig affirmativ gegenüber. So warf er mehrfach einen kritischen Blick auf die ausgeübte Zonenpolitik und den dahinterstehenden Bürokratismus. Als er im Juni 1946 in der NZ über die vom Pinguin ins Leben gerufene Suchaktion »Verlorene Kinder« berichtete,²¹⁰ beanstandete er, dass »die Aufteilung Deutschlands in vier Zonen […] nicht nur die Lösung wirtschaftlicher und politischer Probleme«²¹¹ erschwere. Sie hemme »automatisch auch die Beantwortung der brennendsten Frage unserer fragwürdigen Tage: die Frage Tausender von Kindern nach ihren Eltern!«²¹² Am Beispiel eines aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Mannes, der seinen evakuierten Nachwuchs nicht unmittelbar zu sich holen durfte, weil man ihm die Zugangsgenehmigung in das entsprechende Besatzungsgebiet verweigerte,²¹³ verdeutlichte Kästner eindringlich, welches menschliche Leid die bürokratischen Bestimmungen der Besatzer seiner Auffassung nach verursachten.²¹⁴ Analog zu den Spannungen zwischen den West-

207 Wie in Kapitel 3.2.1 aufgezeigt, konnte Kästner seine Ansichten in seinen journalistischen Beiträgen für die NZ sowohl unter der Chefredaktion Habes als auch unter der Wallenbergs recht frei vertreten, ohne von der amerikanischen Militärregierung unmittelbar kontrolliert oder unter Druck gesetzt zu werden. Dieser Hintergrund erklärt nicht nur, warum er (bis zu einem gewissen Grad) kritische Stellungnahmen ohne Restriktionen veröffentlichen konnte. Er gibt auch Anlass dazu, davon auszugehen, dass dezidiert positive Äußerungen über die Alliierten tatsächlich Kästners eigenen Ansichten entsprachen. 208 Vgl. auch Kapitel 4.1. 209 Kästner, Erich: Unser Weihnachtsgeschenk [NZ, 24.12.1945]. In: EKW VI, S. 512 – 515, hier S. 515. 210 Siehe Kästner, Erich: Kinder suchen ihre Eltern [NZ, 17.6.1946]. In: EKW VI, S. 553 – 558.Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.1. 211 Ebd., S. 555. 212 Ebd. 213 Vgl. ebd., S. 557. 214 Den Bürokratismus als solchen, der Kästner schon vor 1933 zuwider gewesen war, kritisierte er im Übrigen auch in anderen nach 1945 entstandenen Texten. Verwiesen sei in diesem Zusammen-

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mächten und der Sowjetunion²¹⁵ wuchs auch sein Unmut über die genannten Facetten der Besatzungspolitik: Schon während seines ersten Nachkriegsaufenthalts in Berlin im September 1946 plädierte er dafür, dass die Zonengrenzen »bald fallen müßten«;²¹⁶ zu Beginn des Folgejahres konstatierte er vor dem Hintergrund weiterer jüngster Reiseerfahrungen,²¹⁷ dass »der noch immer unterbrochene Kontakt zwischen den Bewohnern der verschiedenen Zonen […] zu einer fortschreitenden, nein, zu einer galoppierenden Entfremdung innerhalb Deutschlands geführt«²¹⁸ habe. Dass sich diese Entwicklung nicht nur im »Zonendeutschtum«²¹⁹ zeige, sondern auch Folgen für das literarische Feld mit sich gebracht habe, beanstandete Kästner, indem er auf den Umstand hinwies, dass sich zahlreiche Exilliteraten in der Ostzone niedergelassen hatten, während »in den Westzonen […] der entsprechende Wertzuwachs ausgeblieben«²²⁰ sei. Im Jahr 1947 übte er zudem vehemente Kritik daran, dass sich noch immer Millionen deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft der Besatzungsmächte befanden und griff damit ein Thema auf, das beide deutschen Gesellschaften während des gesamten ersten Nachkriegsjahrzehnts enorm beschäftigen und prägen sollte.²²¹ Für Die Schaubude verfasste er unter dem Titel Das Lied vom Warten einen Beitrag, in dem sich eine vor dem Bühnenprospekt einer Bahnhofshalle agierende

hang etwa auf den im November 1947 in der Schaubude uraufgeführten Einakter Die Schildbürger. Lehrstück mit Gesang (EKW II, S. 134 – 147). 215 Kästners dezidierte Ablehnung des aus diesen Spannungen resultierenden Kalten Krieges wird in Kapitel 4.3 dieser Untersuchung noch gesondert beleuchtet. 216 Kästner, Erich: Mein Wiedersehen mit Berlin [NZ, 20.9.1946]. In: EKW VI, S.566 – 571, hier S. 569. 217 So war es Kästner aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit unter anderem möglich gewesen, neben Berlin auch seine Heimatstadt Dresden zu besuchen. Siehe dazu auch Kästner, Erich: Reisender aus Deutschland [NZ, 12. 5.1947]. In: EKW VI, S. 576 – 582. 218 Ebd., S. 578. 219 Ebd., S. 581. 220 Ebd., S. 580. In seinem drei Jahre später verfassten Aufsatz Die literarische Provinz brachte er schließlich – nicht zu Unrecht – auf den Punkt, dass die Zonenpolitik und die ihr folgende politische Spaltung West- und Ostdeutschlands eine »zerstückelte Literatur« nach sich gezogen habe. Kästner, Erich: Die literarische Provinz [1950]. In: EKW II, S. 248 – 252, hier S. 252. 221 Vgl. Biess, Frank: »Russenknechte« und »Westagenten«. Kriegsheimkehrer und die (De)legitimierung von Kriegsgefangenschaftserfahrungen in Ost- und Westdeutschland nach 1945. In: Nachkrieg in Deutschland. Hg. von Klaus Naumann. Hamburg 2001, S. 59 – 89, hier S. 59. Während die westlichen Siegermächte die deutschen Soldaten, die sie während des Krieges gefangen genommen hatten, in den späten 1940er Jahren freiließen, kehrten die die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion erst 1956 in ihr Heimatland zurück. Zuvor hatte die sowjetische Besatzungsmacht es über Jahre verweigert, verlässliche Angaben über die Anzahl der Deutschen zu machen, die sich noch in ihrer Gewalt befanden, wodurch das Schicksal vieler Soldaten für ihre Angehörigen im Unklaren blieb. Vgl. ebd. sowie Moeller (2001), S. 30 u. 48 – 50.

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Frau verzweifelt die Rückkehr ihres Mannes aus der Gefangenschaft herbeisehnt.²²² Während die von Kästner erdachte Figur vergeblich versucht, von anderen Heimkehrern etwas über den Verbleib ihres Gatten in Erfahrung zu bringen, betont sie, dass es ihr wie etlichen anderen ergehe: »[G]anz Deutschland« sei »ein Wartesaal / mit Millionen Frauen.«²²³ Hervorzuheben ist, dass das von den Alliierten erzwungene Ende des Krieges die lyrische Sprecherin, trotz der Zerstörung der deutschen Städte, zwei Jahre zuvor noch mit Hoffnung erfüllte und sie auch die Gefangennahme ihres Mannes zunächst zu akzeptieren schien, resümiert sie doch eingangs, auch im Namen ihrer Leidensgenossinnen: Wir traten vor das halbe Haus und sahen nur: Der Krieg war aus. Und sahen nichts als Scherben. Doch auf dem Rest vom Kirchturm sang die Amsel voller Überschwang, und der Flieder, der blühte im Garten. Die Bäume rauschten bis ins Blut. Die Hoffnung sprach: »Es werde gut! Geduld, mein Herz, Geduld, mein Herz, dein bißchen Glück muß warten!«²²⁴

Knapp zwei Jahre später ist der Zustand des Wartens zu einem regelrechten Martyrium geworden, was sich nicht zuletzt in der Darstellung des jahreszeitlichen Wandels widerspiegelt. Sämtliche Naturmotive werden nunmehr als trostlos wahrgenommen: Die Amsel schluchzt, die Blumen blühn, das Korn wird gelb, die Stare ziehn,

222 Siehe Kästner, Erich: Das Lied vom Warten [1947]. In: EKW II, S. 119 – 121. Wie schon das Marschlied 1945 wurde das von Edmund Nick vertonte und im Februar 1947 uraufgeführte Chanson von Ursula Herking vorgetragen. Es bescherte der Darstellerin erneut einen bedeutenden Soloerfolg. Vgl. Wagner (1999), S. 159. 223 EKW II, S. 120. Das Bild des Wartesaals hatte Kästner bereits 1931 in seinem Roman Fabian genutzt, um einen aus den politischen Verhältnissen resultierenden Zustand der Ungewissheit zu markieren. Dort ließ er den Protagonisten, auf die politische Lage vor dem Ersten Weltkrieg zurückblickend, folgende Aussage treffen: »Ich saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. […] Und jetzt [zu Beginn der 1930er Jahre, Anm. d.Verf.] sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!« Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten [1931]. In: EKW III, S. 7– 199, hier S. 52. 224 EKW II, S. 119.

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und der Winter rupft Federn im Garten. Ein Mond wird schmal, ein andrer naht, und rings ums Herz starrt Stacheldraht. Geduld, mein Herz! Geduld, mein Schmerz! Wir leben nicht, – wir warten! ²²⁵

Hatten die Besatzungsmächte der deutschen Bevölkerung mit ihrem Sieg, der das NS-Regime beendete, zunächst Lebensmut und Hoffnung zurückgebracht, so trugen sie – dieser Darstellungsweise nach – zwei Jahre später entscheidend zu ihrem Leid bei. Dass der Weg der Deutschen zurück in ein normales Leben maßgeblich davon abhänge, dass die Alliierten die (durch den Stacheldraht symbolisierte) Kriegsgefangenschaft der nach wie vor internierten Soldaten beenden, wird am Ende des Beitrags noch einmal mit Nachdruck unterstrichen. Hier spricht die Frau einen flehentlichen Appell aus, der offenkundig an die verantwortlichen Besatzungsmächte gerichtet ist: »Wir warten stumm, / daß sich die Welt unsrer erbarme./ Schickt sie doch heim./ Schickt sie doch endlich heim in unsre Arme!«²²⁶ So wie Kästners Kritik am Zonenwesen hatte auch dieser Appell einen provokativen Charakter, denn er betraf eindeutig einen Bereich der Besatzungspolitik, zu dem sich die Siegermächte deutsche Wortmeldungen verbaten.²²⁷ Tatsächlich nahm die Information Control Division das kritische Potential des Lied[s] vom Warten, wie bereits Meike Wagner nachweisen konnte, durchaus wahr: In einer behördeninternen Notiz der Amerikaner wurde explizit vermerkt, dass das Chanson »sichtlich politisch demonstrativen […] Beifall«²²⁸ erhalten habe, was einerseits auf seinen Verfasser, andererseits auf die Tendenz des Textes, die Kriegsgefangenen heimzuschicken, zurückzuführen sei.²²⁹ Zu offiziellen Eingriffen der Kontrollbehörde in das Kabarettprogramm kam es jedoch ebenso wenig wie zu Einmischungen in Kästners zur gleichen Zeit ausgeübte journalistische Tätigkeit.²³⁰ 225 Ebd., S. 120 f. 226 Ebd., S. 121. 227 Vgl. dazu auch Wagner (1999), S. 161. 228 [anonym]: Reaktion auf das neue Programm der »Schaubude« in München zit. n. ebd. 229 Vgl. ebd. 230 Dies bedeutet wohlgemerkt nicht, dass Kästner völlig frei agieren und größere Projekte eigenständig initiieren durfte. Wie Hanuschek (2003, S. 338 f.) nachwies, konnte der Schriftsteller etwa ein von ihm bei der Information Control Division beantragtes Buchprojekt, das den Titel 100 Geschichten aus 1000 Jahren hätte tragen sollen, nicht realisieren: Kästner hatte geplant, die Leserschaft der NZ dazu aufzufordern, Erlebnisse und Anekdoten aus der Zeit des ›Dritten Reiches‹ niederzuschreiben und die besten Geschichten zu veröffentlichen. Ein Dokument über die Gründe der Ablehnung des Projekts durch die amerikanische Kontrollbehörde ist nicht erhalten. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass die Besatzer den Deutschen eine solch immense Deutungsmacht über die vergangenen Jahre nicht zubilligen wollten.

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Nichtsdestotrotz veröffentlichte der Schriftsteller seinen bis dahin profundesten Angriff auf die Besatzer erst nach der Gründung der Bundesrepublik – und damit zugleich nach dem Ende seiner festen Mitarbeit an der Neue[n] Zeitung. ²³¹ Die Rede ist von seinem Epigramm Deutschland 1948, das sich in der erweiterten Ausgabe seiner Anthologie Kurz und bündig aus dem Jahr 1950 wiederfindet und mit dem Untertitel Adresse an die Großmächte versehen ist. Es lautet wie folgt: Man kann ganz ruhig darüber sprechen: Auch wenn ihr die Kausalitäten verehrt und wenn ihr der krassen Gerechtigkeit huldigt, – neue Dummheiten werden durch alte Verbrechen höchstens erklärt, bestimmt nicht entschuldigt.²³²

Der kurze Text birgt insofern ein enormes Provokationspotential, als Kästner die seit dem Ende der NS-Zeit auf die Deutschen projizierte Schuldfrage explizit auf seine Adressaten umlenkt. Das von ihnen als Reaktion auf frühere Verbrechen gerahmte Verhalten wird als unentschuldbar markiert. Allerdings transportiert das Epigramm mit seiner Differenzierung zwischen »Dummheiten« und »Verbrechen« noch eine weitere entscheidende Sichtweise seines Verfassers: Zwar brüskiert Kästner die Siegermächte mit seinem Vorwurf, der mit großer Wahrscheinlichkeit auf seine zuvor nachgezeichneten Kritikpunkte an der Besatzungspolitik abgehoben haben dürfte. Jedoch setzt er ihr Vorgehen – im Gegensatz zu manchen seiner prominenten Zeitgenossen²³³ – keineswegs mit den Gräueltaten des NS-Regimes 231 Zumindest konnte vonseiten der Kästner-Forschung für das im Folgenden behandelte Epigramm bislang kein früherer Erstdruck ermittelt werden. Auch der konkrete Entstehungszeitpunkt des Textes lässt sich bis dato nicht nachweisen. 232 Kästner, Erich: Deutschland 1948. Adresse an die Großmächte [1950]. In: EKW I, S. 281. 233 So postulierte etwa Alfred Andersch bereits im ersten Nachkriegsjahr, »[d]ie grundsätzliche Kriegsschuld der deutschen Führung und die von ihr begangenen Verbrechen« erführen »ihre Kompensation nicht durch wohlüberlegte Vergeltungsakte […], sondern durch die Fülle der Leiden, die, scheinbar als natürliche Folge einer so totalen Schuld, über Deutschland hereinbrechen. Hierher gehört die psychische und physische Wirkung der Bombenangriffe, die Austreibung von zehn Millionen Deutschen aus ihren Wohnstätten im Osten, die Ernährungslage und der Schwarzmarkt, die Kälte, die um sich greifenden Krankheiten, die babylonische Gefangenschaft von Millionen früherer Soldaten, die Zerstörung oder die Lähmung der Industrie.« (Andersch, Alfred: Grundlagen einer deutschen Opposition. In: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 8 [1946], S. 1 f. Hervorhebung d. Verf.) Als weiteres Beispiel lässt sich, mit Joachim Perels, die Karfreitagspredigt Helmut Thielickes aus dem Jahr 1947 heranziehen. Darin billigte der prominente Theologe den Nationalsozialisten mehr Aufrichtigkeit zu als den Alliierten, denn die »verflossenen Machthaber« seien ihm zufolge immerhin so ehrlich gewesen, »nicht das Bild des Gekreuzigten, sondern die ›blonde Bestie‹ als ›Aushängeschild‹ zu benutzen.« Thielicke, Helmut zit. n. Perels,

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gleich. Was er bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren verdeutlichte, behielt für ihn folglich, trotz seiner mittlerweile vermehrten Vorbehalte, auch zu Beginn der 1950er Jahre (noch) seine Gültigkeit: Nichts, was die Großmächte ab 1945 taten, war für ihn mit den »alten Verbrechen«, die im ›Dritten Reich‹ verübt worden waren, auf eine Stufe zu stellen. Eine eklatante Veränderung in Kästners öffentlichen Stellungnahmen zu den Alliierten und der Schuldfrage zeigt sich indes bei der Betrachtung von Notabene 45, das gut ein Jahrzehnt später – und damit nach dem Inkrafttreten der Pariser Verträge, die das Besatzungsstatut in Westdeutschland beendeten – erschien.²³⁴ Unter dem Datum »8. Mai 1945« enthält das überarbeitete Kriegstagebuch einen Passus, der dem [B]laue[n] Buch nicht inhärent ist. Während der Schriftsteller in seinem Original-Tagebuch lediglich notiert hatte, die Großmächte würden den Deutschen im Zuge ihres Sieges vorwerfen, die Nazis geduldet zu haben,²³⁵ ergänzte er in der überarbeiteten Version des Textes, dies sei ein zweideutiger Vorwurf. Er enthält nur die halbe Wahrheit. Sie verschweigen die andere Hälfte. Sie ignorieren ihre Mitschuld. […] Die Sieger, die uns auf die Anklagebank verweisen, müssen sich neben uns setzen. Es ist noch Platz. Wer hat denn, als längst der Henker bei uns öffentlich umging, mit Hitler paktiert? Das waren nicht wir. Wer hat denn Konkordate abgeschlossen? Handelsverträge unterzeichnet? Diplomaten zur Gratulationscour und Athleten zur Olympiade nach Berlin geschickt? Wer hat denn den Verbrechern die Hand gedrückt statt den Opfern? Wir nicht, meine Herren Pharisäer!²³⁶

Dieser neu hinzugefügte Abschnitt, der zum Teil erst nach dem ursprünglichen Eintrag erworbenes Hintergrundwissen integriert haben dürfte, strahlt ein Selbstbewusstsein im Umgang mit den Siegermächten aus, das Kästner während der Besatzungszeit in dieser Form nicht an den Tag legte. Trennte er die Schuldfrage in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch strikt von seiner Kritik an der Besatzungspolitik der Großmächte, wird diesen nun wörtlich eine »Mitschuld« zugesprochen. Selbst die von Kästner zum wiederholten Male eingestandene Passivität der meisten Deutschen gegenüber den führenden Nationalsozialisten scheint seiner Darstellung nach keineswegs schwerer zu wiegen als der Vorwurf, den er den Al-

Joachim: Die Zerstörung von Erinnerung als Herrschaftstechnik. Adornos Analysen zur Blockierung der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. In: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Hg. von Helmuth König, Michael Kohlstruck und Andreas Wöll. Opladen/Wiesbaden 1998 (Leviathan Sonderheft 18/1998), S. 53 – 68, hier S. 64. 234 Die Souveränität, die die Bundesrepublik dadurch erlangte, war jedoch noch bis 1991, also über die deutsche Wiedervereinigung hinaus, durch alliierte Vorbehaltsrechte eingeschränkt. 235 Vgl. Kästner (2006), S. 140. 236 Kästner, Erich: Notabene 45. Ein Tagebuch [1961]. In: EKW VI, S. 301 – 480, hier S. 405 f.

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liierten retrospektiv macht. So negiert er – in Anspielung auf den schon in früheren Texten genutzten Bibelvers Johannes 8,7 – jegliche moralische Überlegenheit der Siegermächte, wobei er diese direkt adressiert: »Sie werfen uns vor, daß wir nicht zu Attentaten taugen? […] Sie haben recht. Doch das Recht, den ersten Stein gegen uns aufzuheben, das haben Sie nicht!«²³⁷ Wenngleich Kästner den Großmächten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen nie eine »Siegerjustiz« vorgeworfen hatte, waren seine später geäußerten Vorbehalte gegen ihr Verhalten in den ersten Jahren der NS-Diktatur folglich umso massiver.

4.1.4 Über Goldplomben und sehr kleine Schuhe ‒ Kästners Blick auf die Verbrechen in den Konzentrationslagern Bislang konnte aufgezeigt werden, wie sich Kästner innerhalb des Schulddiskurses gegenüber der NS-Elite, seinen Landsleuten und den Alliierten positionierte. Abschließend soll nun beleuchtet werden, wie er in seinen öffentlichen Stellungnahmen mit dem eigentlichen Hauptgegenstand der Schuld umging – den Gewaltverbrechen, in deren Kern der Zivilisationsbruch des Völkermordes an den deutschen und europäischen Juden stand. Nach 1945 trug die Dominanz der eigenen Leiderfahrung, die in der deutschen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit vorherrschte, Klaus Holz zufolge maßgeblich dazu bei, eine Reflexion jener im Namen Deutschlands und von Deutschen verübten Verbrechen zu verhindern.²³⁸ Doch obgleich Kästner in zahlreichen Artikeln das Leid der deutschen Bevölkerung explizit hervorhob, ging seine oftmals exkulpierende Haltung nicht mit diesem konsequenten Ausblenden der jüngst begangenen, inkommensurablen Gräueltaten einher. Wie seine Tagebuchaufzeichnungen belegen, erfuhr er bereits wenige Wochen nach dem Ende des Krieges Einzelheiten über die Verbrechen, die in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten verübt worden waren. Über einen amerikanischen Sergeanten, mit dem er sich während seines Aufenthalts in Schliersee angefreundet hatte, lernte er den ehemaligen KZ-Häftling Männe Kratz²³⁹ kennen. Dieser berichtete ihm über die Selektionen und Vergasungen, über sadistisches Lagerpersonal, Funktionshäftlinge, Versuchsreihen der SS-Ärzte und über

237 Ebd., S. 406. 238 Vgl. Holz (2007), S. 50. 239 Im [B]laue[n] Buch benannte Kästner den jüdischen Zahntechniker, der am 21. Dezember 1964 als Zeuge im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess aussagen sollte, als »Kratz« (Kästner 2006, S. 165), in Notabene 45 sprach er indes anonymisierend von »eine[m] gewissen Kr.« (EKW VI, S. 472), der unter anderem in den Lagern Auschwitz, Melk und Ebensee inhaftiert gewesen sei.

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die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen die Gefangenen lebten.²⁴⁰ Das detaillierte Wissen über die begangenen Verbrechen, zu dem Kästner auf diese Weise gelangte, sollte sich während seiner Teilnahme an der Eröffnung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher noch erweitern. Bereits in seiner Reportage über den Verhandlungsbeginn scheute er nicht davor zurück, die Gewalttaten – in Form der zitierten Anklagepunkte – konkret zu benennen.²⁴¹ Wie bestrebt er war, sich mit dem Ausmaß der Verbrechen auseinanderzusetzen, und dass er seine Leser dazu bringen wollte, es ihm gleichzutun, zeigt auch sein Artikel Wert und Unwert des Menschen, in dem er für Die Neue Zeitung über den amerikanischen Dokumentarfilm Die Todesmühlen ²⁴² berichtete. Darüber, dass die im Film zusammengestellten Aufnahmen verschiedener Tötungsstätten und Konzentrationslager ihm den Schlaf raubten, ließ Kästner seine Rezipienten ebenso wenig in Zweifel wie darüber, dass er das Gesehene als ›dunkelsten Punkt‹ der deutschen Geschichte bewertete. Jeder der insgesamt sechs Abschnitte seines am 4. Februar 1946 veröffentlichten Beitrags beginnt mit dem symbolträchtigen Satz: »Es ist Nacht.«²⁴³ Einer stringenten Argumentation folgt der Text allerdings nicht: Er bringe »es nicht fertig, über diesen unausdenkbaren, infernalischen Wahnsinn einen zusammenhängenden Artikel zu schreiben«,²⁴⁴ legt Kästner dar. Vielmehr gibt er unterschiedliche Emotionen und Gedankengänge wieder, welche die im Film gezeigten Aufnahmen aus den Konzentrationslagern in ihm angestoßen haben. Dabei markiert er explizit, dass er an die Grenzen des bis dahin Sagbaren stößt: »Was in den Lagern geschah« sei »so fürchterlich, daß man darüber nicht schweigen darf und nicht sprechen kann.«²⁴⁵ Dennoch findet Kästner

240 Vgl. Kästners Tagebucheintrag vom 29. Juli 1945 in Kästner (2006), S. 165 – 168. Einen besonderen Stellenwert räumt Hanuschek dieser Begegnung Kästners mit dem Auschwitzüberlebenden auch im Hinblick auf das letztlich aufgegebene Projekt des ›großen Romans‹ über die NS-Zeit (vgl. Kapitel 3.2.4) ein: Wie er im Vorwort der Neuausgabe des Blauen Buches vermutet, dürfte Kästner schon mit dem letzten, die Aussagen von Kratz aufgreifenden, Eintrag in seinem Kriegstagebuch »selbst klar geworden« sein, »dass sein Roman-Konzept mit dem profilierten ›sittengeschichtlichen‹ Schwerpunkt der beschriebenen Zeit nicht angemessen gewesen wäre – der Holocaust setzt eine Schwelle, nach der alles anders ist als zuvor.« Hanuschek (2018), S. 37. 241 Vgl. Kapitel 4.1.1. 242 Die Dokumentation mit dem englischen Originaltitel Death Mills war von den Besatzern als Beitrag zur Reeducation gedacht und sollte die breite Bevölkerung in Deutschland mit jenen Verbrechen konfrontieren, die über Jahre in ihrem Namen begangen worden waren. Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.1. 243 Kästner, Erich: Wert und Unwert des Menschen [NZ, 4. 2.1946]. In: EKW II, S. 67– 71. 244 Ebd., S. 67. 245 Ebd.

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letztlich sehr präzise Worte, um wiederzugeben, was die Amerikaner bei ihrer Befreiung der KZs sahen und filmten, [a]ls ihnen ein paar hundert hohlwangige, irre lächelnde, überlebende Skelette entgegenwankten. Als gekrümmte, verkohlte Kadaver noch in den elektrisch geladenen Drahtzäunen hingen. Als noch Hallen, Lastautos und Güterzüge mit geschichteten Leichen aus Haut und Knochen vollgestopft waren. Als auf den Wiesen lange hölzerne Reihen durch Genickschuß »Erledigter« in horizontaler Parade besichtigt werden konnten. Als vor den Gaskammern die armseligen Kleidungsstücke der letzten Mordserie noch auf der Leine hingen. Als sich in den Verladekanälen, die aus den Krematorien wie Rutschbahnen herausführten, die letzten Zentner Menschenknochen stauten.²⁴⁶

Auch über die erfolgte »Weiterverwertung« respektive -verarbeitung der Körper und der Kleidung der Opfer schweigt Kästner nicht.²⁴⁷ Stattdessen nimmt er die Tatsache, dass sie »nicht nur ermordet, sondern auch bis zum letzten Gran und Gramm wirtschaftlich ›erfaßt‹ [wurden]«²⁴⁸ zum Anlass, eine höchst zynische Reflexion zu vollziehen. In Erinnerung an eine statistische Berechnung, nach der die chemischen Bestandteile des menschlichen Körpers 1,87 Reichsmark wert seien, hält er fest: Man taxiert, daß zwanzig Millionen²⁴⁹ Menschen umkamen. Aber sonst hat man wahrhaftig nichts umkommen lassen…1,87 RM pro Person. Und die Kleider und Goldplomben und Ohrringe und Schuhe extra. Kleine Schuhe darunter, sehr kleine Schuhe. In Theresienstadt, schrieb mir neulich jemand, führten dreißig Kinder mein Stück »Emil und die Detektive« auf. Von den dreißig Kindern leben noch drei. Siebenundzwanzig Paar Kinderschuhe konnten verhökert werden. Auf daß nichts umkomme.²⁵⁰

Dieser bittere Abschnitt des Artikels lässt mehr als nur die tiefe Betroffenheit und die emotionale Nähe zu den kindlichen Opfern anklingen, die Kästner empfunden haben muss, als er erfuhr, dass sie kurz vor ihrer Ermordung ausgerechnet seine

246 Ebd. 247 In diesem Zusammenhang ergänzt Kästner die Filmbilder mit Informationen, die er von »einem ehemaligen Häftling« (ebd., S. 68) erhalten habe. Gemeint ist Kratz, dem Kästner in Schliersee begegnet war und dessen Ausführungen über seine Tätigkeit für Willy Frank, den leitenden Zahnarzt in Auschwitz, er in seinem Tagebuch festgehalten hatte: Unter anderem sei der Häftling dafür verantwortlich gewesen, »aus den Gebissresten der Vergasten das Gold und Platin heraus[zu]schmelzen, das dann kilogrammweise nach Berlin geschickt wurde.« Kästner (2006), S. 168. 248 EKW II, S. 68. 249 Wie bereits Kurzke anmerkte, dürfte Kästner die Information über die Anzahl der Opfer dem Film entnommen haben. (Vgl. Kurzkes Kommentar in EKW II, S. 434) Heutige Schätzungen gehen von rund 6 Millionen Opfern des Holocaust aus. 250 EKW II, S. 68.

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

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Emil-Geschichte nachgespielt hatten. Gerade durch die Betonung des materiellen Wertes, den der NS-Staat durch die industrielle ›Massenvernichtung‹ selbst jüngster Kinder gewann, wird den Lesern die unsägliche Diskrepanz zum ideellen Wert jener ausgelöschten Menschenleben bewusstgemacht, die in der Sprache des Nationalsozialismus als »unwert« bezeichnet wurden – eine Kluft, auf die auch die Überschrift des Beitrags abhebt. Der Hinwendung zu den Opfern folgt im Weiteren Kästners Blick auf die Täter, die in seinem Beitrag durch eine im Film gezeigte Gruppe von KZ-Wärterinnen repräsentiert werden. Was jene »Frauen und Mädchen, die doch einmal Kinder, […] Schwestern, […], Liebende, Umarmende, Bräute« waren, dazu gebracht hat, »halbverhungerte Menschen [auszupeitschen]« oder »kleine Kinder in Gaskammern [zu treiben]«, bleibt ihm »unerklärlich« und »unverständlich«.²⁵¹ Selbst die bisherigen Hervorbringungen der Wissenschaft und Literatur vermögen es seiner Auffassung nach nicht, diese Verstehenslücke zu schließen. Ihm zufolge ist weder Gustave Le Bons Psychologie der Massen der Größenordnung der Verbrechen gewachsen,²⁵² noch vermögen die Worte über den Terror, die Ignazio Silone seiner Figur Thomas in der Satire Die Schule der Diktatoren in den Mund legt,²⁵³ deren Dimension zu greifen. Hervorzuheben ist, dass Kästners Art und Weise, sich mit den in den Lagern begangenen Verbrechen und ihrem Ausmaß auseinanderzusetzen, keineswegs typisch für den zeitgenössischen Schulddiskurs war, der sich maßgeblich durch das Beschweigen respektive Verdrängen dieser Gräueltaten auszeichnete. Ebendiesen Haltungen stellt sich der Schriftsteller im betrachteten Artikel nicht nur durch die explizite Benennung der Verbrechen entgegen. Er übt zudem Kritik an den Publikumsreaktionen auf Die Todesmühlen, die er beim Gros jener Mitbürger beobachtet hat, die den Dokumentarfilm auf Geheiß der Amerikaner ansehen mussten. Seine

251 Ebd., S. 69. 252 Wie Kästner resümiert, legen die 1895 verfassten Ausführungen Le Bons dar, »welch ungeahnte teuflische Gewalten sich im Menschen entwickeln können, wenn ihn der abgründige Rausch, wenn ihn die seelische Epidemie packt.« (EKW II, S. 69) Warum »[r]uhige, harmlose Menschen […] plötzlich zu Mördern [werden] und […] stolz auf ihre Taten [sind]«, bleibt ihm jenseits der Theorie trotzdem »unverständlich«. Ebd. 253 Silones Thomas hält, wie Kästner wiedergibt, unter anderem fest: »Der Terror kennt weder Gesetze noch Gebot. Er ist die nackte Gewalt; stets nur darauf aus, Entsetzen zu verbreiten. Er hat es weniger darauf abgesehen, eine gewisse Anzahl Gegner körperlich zu vernichten, als darauf, die größtmögliche Zahl derselben seelisch zu zermürben, irrsinnig, blöde, feige zu machen, sie jedes Restes menschlicher Würde zu berauben.« (Silone, Ignazio zit. n. EKW II, S. 70) Kästner wirft darauf in ironischem Tonfall ein, Silone werde sein 1938 erschienenes Buch »in der nächsten Auflage leicht überarbeiten müssen. Zwanzig Millionen ›körperlich vernichteter‹ Gegner sind eine ganz nette Summe. Auch darauf scheint es dem Terror anzukommen.« Ebd.

242

4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Ausführungen demonstrieren aus heutiger Perspektive, dass die Strategie der Besatzungsmacht, den Film als Beitrag zur Reeducation einzusetzen, nur begrenzt erfolgreich war: Einer großen Anzahl von Menschen, die mit Sprachlosigkeit reagierten,²⁵⁴ stellt Kästner andere gegenüber, die beim Verlassen des Kinosaals ad hoc begannen, dass Gesehene von sich abzuspalten, indem sie ihre Gespräche auf banale, alltägliche Themen lenkten.²⁵⁵ Besonderes Unverständnis des Autors gilt jedoch einer dritten Gruppe von Deutschen, die den Film als »[a]merikanische Propaganda«²⁵⁶ verortete: Sich betont naiv gebend, wirft er die (rhetorische) Frage auf, was die Besagten mit einer solchen Bemerkung meinen könnten: Daß es sich um Propagandalügen handelt, werden sie damit doch kaum ausdrücken wollen. Was sie gesehen haben, ist immerhin fotografiert worden. Daß die amerikanischen Truppen mehrere Geleitzüge mit Leichen über den Ozean gebracht haben, um sie in den deutschen Konzentrationslagern zu filmen, werden sie nicht gut annehmen. Also meinen sie: Propaganda auf Wahrheit beruhender Tatsachen? Wenn sie aber das meinen, warum klingt ihre Stimme so vorwurfsvoll, wenn sie »Propaganda« sagen? Hätte man ihnen die Wahrheit nicht zeigen sollen? Wollten sie die Wahrheit nicht wissen? Wollen sie die Köpfe lieber wegdrehen, wie einige der Männer in Nürnberg, als man ihnen diesen Film vorführte?²⁵⁷

In Anbetracht der mittlerweile weitgehend gesicherten Erkenntnis, dass »eine Ahnung von den Massenverbrechen, allen Geheimhaltungsbemühungen des Regimes zum Trotz, auch bei den Durchschnittsdeutschen schon während des Krieges vielfach vorhanden war,« ordnet Norbert Frei die von Kästner aufgeworfenen Fragen als »eine eher defensive Kritik« ein.²⁵⁸ Wie der Historiker ausführt, ging es aus heutiger Sicht faktisch »wohl weniger um ein Nichtwissenwollen als um ein Nichtertragenkönnen, was man – wie ungenau auch immer – oft längst gewußt oder doch vermutet hatte.«²⁵⁹ Nichtsdestotrotz verdient die Tatsache Beachtung, dass Kästner die zeitgenössischen Besucherreaktionen auf den Film, die gleichsam symptomatisch für den frühen Umgang der meisten Deutschen mit der NS-Vergangenheit waren,²⁶⁰ nicht nur aufmerksam erfasste, sondern sie auch öffentlich kritisierte.²⁶¹

254 Vgl. EKW II, S. 69. 255 So schreibt Kästner: »Andere treten blaß [aus dem Kino, Anm. d. Verf.] heraus, blicken zum Himmel und sagen: ›Schau, es schneit.‹« Ebd. 256 Ebd. 257 Ebd., S. 69 f. 258 Frei (2005), S. 149. 259 Ebd. 260 Vgl. dazu auch ebd., S. 148 f.

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

243

Doch wenngleich der Autor versuchte, die Denk- und Wahrnehmungsweisen der deutschen Bevölkerung hin zur Annahme des Faktums der ›Massenvernichtung‹ zu verändern, verzichtete er auch in diesem Beitrag nicht darauf, seine Landsleute ein weiteres Mal gegenüber dem Ausland zu verteidigen.²⁶² So liest sich der letzte Abschnitt seines Artikels nahezu wie ein Zusammenschnitt verschiedener exkulpierender Strategien, auf die er auch in anderen Beiträgen zurückgriff: Kästner resümiert, der französische Politiker Georges Clemenceau²⁶³ habe einmal gesagt, es würde nichts ausmachen, wenn es zwanzig Millionen Deutsche weniger gäbe. Hitler und Himmler haben das mißverstanden. Sie glaubten, zwanzig Millionen Europäer. Und sie haben es nicht nur gesagt! Nun, wir Deutsche werden gewiß nicht vergessen, wieviel Menschen man in diesen Lagern umgebracht hat. Und die übrige Welt sollte sich zuweilen daran erinnern, wieviel Deutsche darin umgebracht wurden.²⁶⁴

Signifikant an dieser Textpassage ist zum einen die abermalige Externalisierung der Schuld auf die – in diesem Fall durch Hitler und Himmler repräsentierte – NSFührung. Zum anderen sticht hervor, dass Kästner Wert darauf legt, zu akzentuieren, dass die Deutschen der Opfer der Verbrechen gedenken, dies jedoch nicht mit dem Eingeständnis einer (Mit‐)Schuld seines Volkes verbindet: Ein Indefinitpronomen wählend, spricht er von Menschen, die »man […] umgebracht hat«. Darüber hinaus fällt sein erneuter Verweis auf die deutschen Opfer ins Auge, an die sich das Ausland zu erinnern habe. Obgleich das oben wiedergegebene Ende des Artikels Wert und Unwert des Menschen in der Forschung schon mehrfach erwähnt respektive zitiert worden ist,²⁶⁵ hielt bislang nur Hanuschek explizit eine weitere Auffälligkeit fest, indem er anmerkte, dass Kästner »nicht erwähnt, daß die überwältigende Mehrzahl der Ermordeten Juden waren«.²⁶⁶ In der Tat bleibt die antisemitische Dimension der

261 Kästner selbst gibt in seinem Beitrag im Übrigen einer vierten Gruppe von Besuchern recht, die beanstande, dass man den Film schon vor Monaten hätte zeigen sollen; er unterstreicht jedoch, dass es »immer noch besser [sei], die Wahrheit verspätet, als nicht zu zeigen oder zu sehen«. EKW II, S. 70. 262 Vgl. Hanuschek (2003), S. 335. 263 Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau (1841 – 1929) war vor, während und vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Vertreter einer harten Politik gegenüber Deutschland. 264 EKW II, S. 71. 265 Siehe etwa Benson (1976), S. 95 f. und Leibinger-Kammüller (1988), S. 45. Während Benson an der genannten Stelle nur betont, dass Kästner seinen Zeitgenossen durch den Hinweis auf die deutschen Gegner des Regimes »beim psychologischen Wiederaufbau« behilflich sein wollte, hält LeibingerKammüller lediglich fest, es sei »[b]ezeichnend für Kästner«, dass er seine »Anklage der im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen« mit jenem »bitteren Hinweis« schließe. 266 Hanuschek (2003), S. 335.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

›Massenvernichtung‹ durch die im Text konstruierte Dichotomie zwischen Europäern und Deutschen unausgesprochen. Die jüdischen Opfer werden stattdessen, folgt man einer Terminologie von Klaus Holz, zu ungenannten ›Dritten‹: Laut den Erkenntnissen des Antisemitismusforschers wurde zur Bestärkung der nationalen Identität sowohl vor als auch nach 1945 häufig zwischen einer Wir-Gruppe (wie den Deutschen) und einer Fremdgruppe (wie anderen Völkern oder Nationen) unterschieden. Juden betrachtete man dabei oftmals nicht als eigenständige Nation (und damit weder als Teil der Wir- noch der Fremdgruppe); sie wurden stattdessen als »Nicht-Identität« konstruiert.²⁶⁷ Kästner wählt in seinem Artikel folglich eine Rhetorik, die bei heutiger Lektüre großes Befremden hervorruft, aber durchaus charakteristisch für den zeitgenössischen Diskurs war: Obwohl die europäischen Juden realiter im Zentrum des in der NS-Zeit begangenen Zivilisationsbruchs standen, wurde ihr Status als Opfer des Völkermordes (noch) weitestgehend beschwiegen. Als Privatmann verfolgte Kästner die Aufarbeitung des Holocaust zwar überaus wachsam und besorgte sich, Hanuscheks Recherchen gemäß, »sozusagen jedes Buch […], das [zu dem] Thema erschienen war«.²⁶⁸ Und er erweiterte die Grenzen dessen, was öffentlich über die Verbrechen in den Konzentrationslagern sagbar war, auch durchaus durch deren konkrete Benennung. Zugleich aber ›gehorchte‹ er den Regeln des nachkriegsdeutschen Schulddiskurses insofern, als er die jüdischen Opfer durch seine Aussagen nicht öffentlich in den Vordergrund der Betrachtung rückte. Eine diskursive Außenseiterrolle einzunehmen, in die er sich als ›Anwalt‹ der ermordeten Juden potentiell begeben hätte, riskierte Kästner in den frühen Nachkriegsjahren nicht. Auch in seiner Ansprache Resignation ist kein Gesichtspunkt, die er 1953 in der Internationalen Jugendbibliothek hielt, blieb die explizite Benennung der Shoah aus: Anlässlich einer Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Israel betonte der Schriftsteller, dass es mit dieser »Leihgabe […] eine ernstere und feierlichere Bewandtnis« habe als mit Kinderzeichnungen aus anderen Ländern und fügte hinzu: »Die untilgbare Schuld, die das Dritte Reich auf sich lud, läßt sich nicht in tilgbare Schulden konvertieren. Wo etwas nicht wiedergutzumachen ist, bleibt die ›Wiedergutmachung‹ allenfalls eine allegorische Geste.«²⁶⁹ Dass die »untilgbare Schuld«,

267 Vgl. Holz 2007, S. 45 f. Obgleich der Kästner’sche Text die von Holz nachgezeichnete Verdrängung der Juden aus der Opfer-Position aufweist, verortete sein Verfasser das jüdische Volk wohlgemerkt nie in einer Täter-Position. Latent antisemitische Argumentationsmuster wie die Beanstandung mangelnder Versöhnungsbereitschaft der Juden mit den Deutschen oder die Kritik an der fortgesetzten Thematisierung des Holocaust (vgl. ebd., S. 52 f.) lassen sich in den Aussagen, die Kästner ab 1945 traf, an keiner Stelle ausmachen. 268 Hanuschek (2012), S. 97. 269 Kästner, Erich: Resignation ist kein Gesichtspunkt [1953]. In: EKW VI, S. 600 – 602, hier S. 601.

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

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die Kästner benannte, im Genozid an den Juden bestand, dürfte zwar jedem der damaligen Zuhörer klar gewesen sein – ausgesprochen wurde es von ihm aber nicht. Expressis verbis nahm Kästner erst 1961 auf die jüdische Opfergruppe Bezug – also zu einer Zeit, in der die explizite Thematisierung des Holocaust durch Intellektuelle und die noch jungen Disziplin der Zeitgeschichte innerhalb der Bundesrepublik bereits zugenommen hatte. Zugleich waren die Forderungen nach einer ›Bewältigung‹ der NS-Vergangenheit lauter geworden und hatten einen anwachsenden Gegendiskurs formiert, der sich den vorherigen Verdrängungsmechanismen widersetzte.²⁷⁰ In besagten Diskurs reihte sich Kästner besonders nachdrücklich ein, als er das Vorwort für die deutsche Ausgabe von Clara AsscherPinkhofs Werk Sternkinder verfasste – einen der ersten in der BRD erschienenen Titel der Kinder- und Jugendliteratur, der die Verfolgung der Juden sowie deren Leben und Sterben im Getto und im Konzentrationslager konkret zum Thema machte.²⁷¹ Rüdiger Steinlein zufolge war der deutsche Erfolg des autobiographisch geprägten und in der niederländischen Originalfassung bereits 1946 publizierten Buches untrennbar mit Kästners Paratext verbunden.²⁷² Direkt zu Beginn seines Vorworts wandte sich der Autor gegen jedwede Leugnung der Shoah, indem er die Authentizität der von Asscher-Pinkhof geschilderten Schicksale jüdischer Kinder dezidiert unterstrich: ›Sternkinder‹, der Titel klingt nach Märchenbuch. […] Doch die Sternkinder, von denen in diesem Buch berichtet wird, sind keine Märchenfiguren, sondern kleine holländische Mädchen und Jungen mit Hitlers Judenstern auf dem Schulkleid und der Spielschürze. Es gibt grausame,

270 Dass die Problematik der ›unbewältigten‹ deutschen Vergangenheit gerade zu dieser Zeit vermehrt ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken begann, lässt sich sowohl mit einer im Winter 1959/1960 neu aufkommenden Antisemitismuswelle in Deutschland als auch mit dem 1961 abgehaltenen Eichmann-Prozess in Jerusalem in Verbindung bringen. Ein etwas später folgender Meilenstein in dieser neuen Phase des Umgangs mit der NS-Vergangenheit war der von 1963 bis 1965 laufende Frankfurter Auschwitz-Prozess, auf den hin sich zunehmend mehr Politiker, Juristen und Intellektuelle den aus den 1950er Jahren stammenden Forderungen nach einem ›Schlussstrich‹ entgegenstellten. Vgl. dazu Frei (2001), S. 35 f. 271 Im selben Jahr wie Sternkinder erschien etwa Hans Peter Richters episodische Erzählung Damals war es Friedrich, die sich der Diskriminierung und Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland widmet. Der bis heute als Schullektüre populäre Text wurde jedoch immer wieder zu Recht im Hinblick auf die ihm inhärente Reproduktion antisemitischer Stereotype kritisiert. Siehe dazu etwa Schrader, Ulrike: Immer wieder Friedrich? Anmerkungen zu dem Schulbuchklassiker von Hans Peter Richter. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14. Hg. von Wolfgang Benz. Berlin 2005, S. 323 – 344. 272 Vgl. Steinlein (2008), S. 336.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

entsetzliche Märchen, aber die Grausamkeit und das Entsetzen in diesem Buch sind nicht erfunden, sondern echt. Von Phantasie ist nicht die Rede. Was erzählt wird, sind Tatsachen.²⁷³

Die Durchführung der im Buch zur Sprache kommenden Verbrechen schrieb Kästner freilich (wie in manch früheren Texten) uneingeschränkt den Nationalsozialisten zu.²⁷⁴ Jedoch stellte er nun erstmals wörtlich in den Vordergrund, dass es »jüdische Familien« waren, die man »vor rund 20 Jahren […] im Theater ›Die Schauburg‹ zusammen[trieb], wie Lumpen sortiert[e], auseinander[riss], bündelt[e] und, mit pünktlichem Fahrplan, in den Tod schickt[e]«.²⁷⁵ Im Anschluss daran machte er deutlich, dass er Sternkinder, dessen Erschütterungspotential er mit dem des Tagebuch[s] der Anne Frank verglich, nicht nur als Pflichtlektüre für Erwachsene und Jugendliche ansehe. Er plädierte dafür, dass auch »die Schulkinder, wenigsten die älteren«,²⁷⁶ von den begangenen Verbrechen erfahren sollten. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Kästner gegenüber dem Historiker, Holocaust-Überlebenden und Korrespondenten der New Yorker Jewish Telegraphic Agency Joseph Wulf bekundet, dass er »die Auseinandersetzung mit der Hitler-Zeit […], nicht zuletzt in den Schulen«, für »zweifellos ungenügend« halte.²⁷⁷ Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass das Ende seines Sternkinder-Vorwortes einem Appell an Lehrer und Eltern gleichkommt, die Heranwachsenden über die deutsche Vergangenheit aufzuklären: Die Aufgabe ist schwer. Aber sie ist unabwendbar. Den Abgrund der Vergangenheit zu verdecken, hieße, den Weg in die Zukunft gefährden. Wer die Schuld aus jenen Jahren unterschlüge, wäre kein Patriot, sondern ein Defraudant. Wer aus der schuldlosen Jugend eine ahnungslose Jugend zu machen versuchte, der fügte neue Schuld zur alten.²⁷⁸

Ungeachtet dessen, dass Kästner die ›alte‹ Schuld zeitlebens nicht uneingeschränkt als kollektive Schuld der Deutschen verstanden wissen wollte, war er – im Einklang mit den für jene Zeit diskurstypischen Forderungen nach einer ›Vergangenheitsbewältigung‹ – folglich überaus bestrebt, gegen ein Vergessen und Verdrängen der zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen anzugehen. Nicht von ungefähr

273 Kästner, Erich: Ein Vorwort. In: Clara Asscher-Pinkhof: Sternkinder. Berlin 1961, S. 5 – 6, hier S. 5. 274 Diese bezeichnet er, eine Formulierung Asscher-Pinkhofs aufnehmend, in Anspielung auf die Uniformen der deutschen Ordnungspolizisten in den besetzten Niederlanden lediglich als die »Grünen«. Kästner (1961), S. 6. 275 Kästner (1961), S. 6. Hervorhebung d. Verf. 276 Ebd. 277 Kästner, Erich an Joseph Wulf. Brief vom 14. 3.1959 (Durchschlag). DLA-Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 278 Kästner (1961), S. 6.

4.1 Kästner und der Schulddiskurs

247

nahm er im selben Jahr, in dem er das Vorwort für Asscher-Pinkhofs Sternkinder niederschrieb, seine im [B]laue[n] Buch festgehaltene Begegnung mit dem ehemaligen KZ-Häftling Männe Kratz in die überarbeitete Fassung seines Kriegstagebuchs auf.²⁷⁹ Durch diese Publikation über das Ende der NS-Zeit, mit der Kästner sich gezielt in den aktuellen Debatten verortete,²⁸⁰ fanden schließlich auch die Auskünfte dieses Holocaust-Überlebenden über die unmenschlichen Gräueltaten in den Konzentrationslagern noch ihren Weg in die Öffentlichkeit.

4.1.5 Zwischenfazit Überblickt man die zahlreichen journalistischen und literarischen Beiträge, mit deren Niederschrift Kästner innerhalb des nachkriegsdeutschen Schulddiskurses die Rolle eines Intellektuellen einnahm und öffentlich Stellung bezog, dann bleiben verschiedene zentrale Erkenntnisse festzuhalten. Zunächst fällt auf, dass sein Versuch, die Denk- und Wahrnehmungsweisen seiner Rezipienten zu beeinflussen respektive zu verändern, nicht allein einer einzigen Adressatengruppe galt. Vielmehr wandte er sich mit seinen Positionierungen, je nach Anlass in unterschiedlicher Gewichtung, sowohl an die deutsche Bevölkerung als auch an die deutschen Exilschriftsteller, an Intellektuelle aus dem Ausland und nicht zuletzt auch an die Siegermächte. Insbesondere in den unmittelbaren Nachkriegsjahren lag ein Schwerpunkt seines Engagements auf der Abwehr tatsächlicher wie antizipierter Kollektivschuldvorwürfe an das deutsche Volk, was sowohl mit Kästners persönlichem Selbstbild als Opfer des NS-Regimes in Verbindung gebracht werden kann, als auch den feldinternen Interessen des Schriftstellers geschuldet gewesen sein dürfte. Vergleicht man die Stoßrichtungen seiner Zeitungsartikel und Kabaretttexte mit den Erkenntnissen, die Forscherinnen und Forscher wie Assmann, Frei, Moeller oder Holz über die zentralen Momente des Schulddiskurses nach 1945 zusammengetragen haben, kommt man kaum umhin zu bemerken, dass Kästners Aus-

279 Siehe Kästner, Erich: Notabene 45. Ein Tagebuch [1961]. In: EKW VI, S. 301 – 480, hier S. 472 – 475. Wie viele andere seiner Einträge überarbeitete Kästner allerdings auch jenen speziellen Tagebuchtext, versah ihn mit einem neuen Aufbau und ergänzte die Beschreibungen der Verbrechen um Details. Eine im [B]laue[n] Buch vermerkte Erzählung des ehemaligen KZ-Häftlings darüber, wie Juden für die Transporte ins KZ »geneigt gemacht wurden«, indem man ihnen von einer polnischen Stadt erzählte, »wohin sie alle Habe mitnehmen konnten« (Kästner 2006, S. 166) hat dagegen keinen Eingang in Notabene 45 gefunden. Ob Kästner der Schilderung in diesem Punkt misstraute oder vor der Brisanz des Themas zurückschreckte, ist schwerlich einzuschätzen. 280 Vgl. Hanuschek (2018), S. 40.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

sagen in mehrfacher Hinsicht repräsentativ und zugleich konstitutiv für diesen Diskurs waren. Das gilt vor allem für die exkulpierenden Strategien, mit deren Hilfe der Schriftsteller die Deutschen gegen jegliche Kollektivschuldzuweisungen verteidigte. So sah er sein Volk zwar zur Übernahme politischer Verantwortung für die während der NS-Zeit begangenen Verbrechen verpflichtet und plädierte für materielle und symbolische Gesten, in denen sich die Anerkennung dieser Verantwortung ausdrücken sollte. Die moralische Verantwortung für die bis zum Zivilisationsbruch reichenden Gewalttaten verlagerte er jedoch immer wieder auf die nationalsozialistische Führung und deren nahe Gefolgsleute sowie, in einzelnen Äußerungen, auch auf die internationale Ebene. Zudem sprach er ›Außenstehenden‹, die die NS-Zeit nicht in Deutschland verlebt hatten, mithilfe verschiedener diskursiver Ausschlussstrategien die Legitimation ab, sich moralisch urteilend über seine Landsleute zu äußern. Die einzige Schuld der Deutschen, die Kästner mehrfach explizit anerkannte, bezog sich nicht unmittelbar auf die Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945, sondern auf die Tatsache, Hitler und seine engsten Mitarbeiter nicht durch Attentate ›beseitigt‹ zu haben. Doch auch jenes unterlassene Eingreifen markierte er als erklärbar, indem er auf die Ohnmacht der Bevölkerung innerhalb der totalitären Strukturen verwies, die das Regime etabliert hatte. Gerade durch diese diskursiven Strategien versuchte er nicht nur jene zu beeinflussen, die das ›Dritte Reich‹ nicht ›von innen‹ erlebt hatten. Er gestaltete zugleich ein wirkmächtiges nationales Selbstbild mit, das es den Deutschen erlaubte, nach dem Ende der NS-Diktatur eine neue politische Identität auszubilden, ohne sich dabei als Täterkollektiv zu begreifen. Allerdings – und dies unterscheidet ihn maßgeblich von den meisten seiner Zeitgenossen – fungierte Kästner seinen Landsleuten gegenüber keineswegs allein als empathischer Unterstützer, sondern wirkte zugleich als ›Störungsfaktor‹ im Sinne Schumpeters.²⁸¹ So stellte er sich bald nach dem Krieg dem weit verbreiteten Diktum über eine vermeintliche ›Siegerjustiz‹ der Besatzungsmächte entgegen, indem er sowohl die Durchführung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher als auch die damit verbundene systematische Ahndung der NSVerbrechen dezidiert bejahte. Zudem wandte er sich gegen das virulente Ausblenden,Verschweigen und Vergessen jener Verbrechen. Obgleich er die jüdischen Opfer parallel zu vielen anderen Intellektuellen erst zu Beginn der 1960er Jahre gezielt in das öffentliche Blickfeld rückte, erweiterte er mit seinen Feuilletonbeiträgen schon früh nach dem Ende der Diktatur die Grenze dessen, was über die industrielle ›Massenvernichtung‹ in den Konzentrationslagern sagbar war. Dass er sich mit dem Gros seiner Positionierungen in den Dienst der von den Siegermächten fokussierten

281 Vgl. zu dieser Zuschreibung an Intellektuelle auch Kapitel 2.1.

4.2 Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes

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Reeducation stellte,²⁸² bedeutet keineswegs, dass er den Besatzern völlig affirmativ gegenüberstand – erklärte er sich doch bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren weder mit deren Zonenpolitik noch mit ihrem Umgang mit den deutschen Kriegsgefangenen einverstanden. Als Indiz dafür, dass Kästners frühe Positionierungen im Sinne der ›Umerziehung‹ der Deutschen tatsächlich seinen eigenen politisch-moralischen Einstellungen und Werten entsprachen, kann zudem die Tatsache herangezogen werden, dass er seine unmittelbar nach Kriegsende eingenommenen Standpunkte zur Bestrafung der NS-Elite und zur Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch nach dem Ende der Besatzungszeit konsequent beibehielt. Kritischer als zuvor beurteilte er in den frühen 1960er Jahren hingegen die Alliierten, denen er retrospektiv eine Mitverantwortung für die Verbrechen im ›Dritten Reich‹ zuwies. Und auch seine Sichtweise auf die Schuld seiner eigenen Landsleute gestaltete sich ambivalenter, als seine Veröffentlichungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre dies erahnen lassen. Inwiefern diese Veränderung nicht zuletzt mit seiner kritischen Haltung gegenüber den Denk- und Verhaltensweisen zu tun gehabt haben dürfte, die das Gros der Bevölkerung nach dem Ende des NS-Regimes an den Tag legte, soll im folgenden Teil der Untersuchung verdeutlicht werden.

4.2 Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes Am 15. September 1945 beanstandet Kästner in einer Theaterkritik, dass das Münchner Volkstheater seine erste Spielzeit nach dem Ende des Krieges mit Hans Wolfgang Hillers’ Hammelkomödie eröffnet – und damit auf ein Bühnenstück zurückgreift, das es seinem Publikum bereits am Ende der NS-Zeit dargeboten hat.²⁸³ Gut zwei Jahre später kritisiert er in der Neue[n] Zeitung, dass »[e]ine Journalistin, die seinerzeit in die Aktion der Geschwister Scholl²⁸⁴ verwickelt […] war«, auf einem

282 Mit Lepsius ließe sich in diesem Zusammenhang von »quasi-kompetenten« Positionierungen Kästners sprechen, da dieser sich zwar nicht als Politiker oder Jurist, dafür aber als Journalist für Die Neue Zeitung zu jenen Dimensionen der Schuldfrage äußerte und somit einen gewissen Grad an »Professionsschutz« genoss. Vgl. weiterführend Lepsius (2009), S. 280 f. 283 Vgl. Kästner, Erich: Die Hammelkomödie. In: Münchner Zeitung, 15.9.1945. 284 Hans und Sophie Scholl hatten als Mitglieder der Weißen Rose vom Juni 1942 bis zum Februar 1943 auf insgesamt sechs Flugblättern, die sie in München und anderen Städten des Deutschen Reiches verbreiteten, zum Widerstand gegen die NS-Diktatur aufgerufen. Nach ihrer Verhaftung im Februar 1943 wurden die Geschwister und vier weitere Mitglieder der Gruppe vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz Roland Freislers zum Tode verurteilt; entferntere Helfer und Mitwisser wurden

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

nach Kriegsende erhaltenen Führungszeugnis einen Vermerk über ihre 1943 erfolgte Verurteilung wegen »Unterlassung einer Verbrecheranzeige« vorgefunden habe.²⁸⁵ Anderthalb weitere Jahre darauf bietet er den Feuilletonlesern in einer seiner wohl pointiertesten Glossen laut Überschrift ein Wahres Geschichtchen ²⁸⁶ dar. In dem Text, dessen Handlung mutmaßlich auf einer Schilderung der Schauspielerin Brigitte Horney basiert,²⁸⁷ ist von Filmdreharbeiten in einem Tiroler Bergdorf die Rede. Da der Plot im ›Dritten Reich‹ angesiedelt ist, benötigt man eine Vielzahl von Akteuren zur Darstellung von SS-Männern und greift letztlich, mangels genügend »echte[r] Schauspieler«,²⁸⁸ auf acht Einwohner des Drehortes zurück. In einer Pause ziehen besagte Dorfbewohner in ihren SS-Kostümen durch den Ort und halten mit den Worten »Da samma wieder!«²⁸⁹ einen Autobus an. Während sie die Fahrgäste dazu nötigen, auszusteigen und sich auszuweisen, werden sie vom zufällig vorbeikommenden Regisseur des Films entdeckt und weiter in ein Wirtshaus geschickt. Daraufhin entschuldigt sich der Filmemacher »zirka tausendmal bei den blaßgewordenen Reisenden«²⁹⁰ – insbesondere bei einem alten, kränklichen Herrn, der vor Angst nicht in der Lage gewesen ist, den Bus zu verlassen. Diesem erklärt er, die zuvor erlebte Szene habe »weder mit dem Film noch mit der Wirklichkeit etwas zu tun«, sondern sei eine »Lausbüberei« gewesen; es handle sich lediglich um »harmlose, muntere Skilehrer und Hirten aus dem Dorf hier«.²⁹¹ Der alte Herr bleibt unbeschwichtigt: Er habe »in dieser Gegend mit der SS öfter zu tun gehabt« und der Regisseur habe »gut ausgewählt« – es seien »dieselben!«²⁹²

in den Folgemonaten mit Freiheitsstrafen belangt. Siehe weiterführend etwa Bald, Detlef: Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand. Berlin 2003. 285 Kästner, Erich: Stoffproben [NZ, 4.1.1947]. In: GSE 8, S. 146 – 148, hier S. 146. Auf welche ›Mitwisserin‹ der Weißen Rose sich Kästner hier konkret bezog, ist nicht bekannt. 286 Siehe Kästner, Erich: Wahres Geschichtchen [NZ, 28. 8.1848]. In: EKW II, S. 182 – 184. 287 Kästner gibt lediglich an, dass er der Erzählung einer »bekannte[n] Schauspielerin« (EKW II, S. 182) folgt, lässt aber unerwähnt, auf welche Person und welchen Filmdreh genau er sich bezieht. Wie bereits Kurzke nachwies, wurden 1948 in Tirol zwei Filme produziert, die in der NS-Zeit spielen: Die Frau am Weg, der unter der Regie Eduard von Borsodys in Thiersee und Umgebung gedreht wurde, und Die Söhne des Herrn Gaspary, den Rolf Meyer im Kleinen Walsertal drehte. (Vgl. Kurzkes Kommentar in EKW II, S. 447) Da im ersten der genannten Filme Brigitte Horney mitwirkte, die Kästner seit seiner UFA-Mitarbeit persönlich bekannt war, ist zu vermuten, dass der Schriftsteller sich im Wahre[n] Geschichtchen auf ihre Erzählung bezog. 288 EKW II, S. 182. 289 Ebd., S. 183. 290 Ebd. 291 Ebd., S. 183 f. 292 Ebd., S. 184. Die mit dieser überraschenden Pointe endende Glosse lässt sich durchaus auch als Fortsetzung der Kästner’schen Kritik an der zu jener Zeit noch vielfach negierten Verstrickung der Österreicher in die NS-Vergangenheit begreifen. (Vgl. auch Kapitel 4.1.2.) Dass es nicht nur in den

4.2 Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes

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Wie Kästner am 4. Januar 1947 in seinem NZ-Artikel Stoffproben konstatierte, gibt es »Kleinigkeiten«, die »beim näheren Zusehen keine bloßen Details, sondern Symptome« sind: Sie lassen sich, was ihre Bedeutung anlangt, mit Stoffproben vergleichen, wie die Schneider sie aushändigen. Man kann, obgleich sie nur Flicken zu sein scheinen, an ihnen Muster, Qualität, Webart und Preiswürdigkeit ganzer Stoffballen ablesen. Der Stoff, den wir an den symptomatischen Kleinigkeiten des Alltags abzuschätzen vermögen, ist unsere Gegenwart.²⁹³

In dem von Kästner beschriebenen Sinne machen alle drei der zuvor erwähnten Feuilletontexte ein zentrales »Symptom« der Nachkriegsgegenwart erkennbar: die Existenz verschieden gearteter Kontinuitäten, die das NS-Regime nach sich gezogen hatte und die teilweise noch bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein fortlebten. Auf welche Weise der Schriftsteller jenen ›Hinterlassenschaften‹ der Jahre 1933 bis 1945 in seinen journalistischen und literarischen Zeitdiagnosen begegnete, wird in den nachfolgenden Unterkapiteln untersucht. Wie aber konnte es überhaupt dazu kommen, dass Personen, Strukturen und Gesinnungen, die den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat geprägt und gestützt hatten, das Ende der NS-Zeit überdauerten? Von Kontinuitäten zu sprechen, ohne zugleich auf die mit dem Kriegsende einhergegangenen Brüche zu verweisen, wäre freilich defizitär,²⁹⁴ denn mit ihrem Sieg und ihrer anschließenden Entnazifizierungspolitik hatten die Alliierten eine unübersehbare Zäsur gesetzt. Nach dem 8. Mai 1945 stand nicht nur die politische Führung des ›Dritten Reiches‹ vor dem Aus: Die Besatzer bekundeten auch unmissverständlich »ihren Willen […], dem Nationalsozialismus in Deutschland keine Zukunft zu gestatten – und niemandem, der dazu weiterhin sich zu bekennen die Absicht hatte.«²⁹⁵ Tatsächlich distanzierte sich das Gros der Deutschen im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren von der politischen Bewegung, die mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zwölf Jahre zuvor an die Macht gekommen war. Wenngleich diese kollektive Reaktion von

Tiroler Bergen, sondern auch in seinem eigenen Heimatland oftmals ›dieselben‹ Personen waren, denen man (wenn auch ohne SS-Uniform) in Positionen wieder begegnete, die sie schon vor 1945 eingenommen hatten, war Kästner, wie im Weiteren aufgezeigt wird, jedoch nur allzu bewusst. 293 Kästner, Erich: Stoffproben. In: GSE 8, S. 146 – 148, hier S. 146. 294 Auf die Koexistenz der Brüche und Kontinuitäten in der Nachkriegszeit, die in der heutigen Forschung oftmals im selben Atemzug genannten werden, verweist etwa Hobuß, Steffi: »Mythos Stunde Null«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 42 – 43, hier S. 42. 295 Frei, Norbert: Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt a. M. 2001, S. 307.

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»offenbarer Lüge und massenhaftem Selbstbetrug«²⁹⁶ in Bezug auf die Vergangenheit geprägt war, demonstriert sie laut Frei, dass die ›Säuberungsmaßnahmen‹ der Besatzungsmächte ihren Hauptzweck durchaus erfüllen konnten: Immerhin hatten sie eine »klare, normative Abgrenzung vom Nationalsozialismus« ausgelöst, »hinter der es kein Zurück mehr gab.«²⁹⁷ Trotz dieses offensichtlichen Bruches und des zugleich von den drei westlichen Siegermächten angestoßenen politischen Systemwechsels zur Demokratie²⁹⁸ wäre es verfehlt, sich der ab 1945 oftmals vollzogenen Gleichsetzung des Kriegsendes mit einem »völligen Neuanfang« oder seiner Charakterisierung als »Stunde Null« anzuschließen.²⁹⁹ Während die Führungsriege der NSDAP nach dem Sieg der Alliierten de facto keine Chance mehr bekommen sollte, ihre berufliche Laufbahn fortzusetzen, gab es für die Funktionseliten des NS-Regimes nämlich sehr wohl eine Zukunft: Hunderttausende Unternehmer, Mediziner, Juristen, Militärs, Wissenschaftler, Berufsbeamte und Journalisten konnten im Laufe der Nachkriegszeit an ihre früheren Karrieren anknüpfen.³⁰⁰ Vielen der Betreffenden wurde schon bald nach dem Ende der Diktatur auf der Grundlage von ›Persilscheinen‹ oder eigenen Falschaussagen politische Unbedenklichkeit attestiert. Anderen sollten die großen politischen Entwicklungen der Folgejahre zugutekommen: Hatten die westlichen Besatzungsmächte im Zuge der Verschärfung des Ost-West-Konflikts schon in den späten 1940er Jahren von ihren anfangs noch rigoros umgesetzten ›Säuberungsmaßnahmen‹ abgelassen, so steuerte die Regierung der jungen Bundesrepublik zu Beginn der 1950er Jahre die endgültige »Liquidation« der Entnazifizierung an. Bereits 1951 wurde mit der Verabschiedung des sogenannten ›131er‹-Gesetzes die Versorgung und Wiedereinstellung praktisch aller 1945 entlassenen Beamten und ehemaligen Berufssoldaten auf den Weg gebracht.³⁰¹ »[W]er die Zäsur der politischen Säube-

296 Frei (2001), S. 309. 297 Ebd. 298 Nicht zu unterschlagen ist, dass mit jenem Systemwechsel keineswegs die erste deutsche ›Demokratisierungswelle‹ des zwanzigsten Jahrhunderts aufbrandete, wurde doch bereits die konstitutionelle Monarchie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wenn auch unter vollkommen anderen politischen Rahmenbedingungen, durch eine republikanische Staatsform ersetzt. Mit Helmut König lässt sich folglich von einem »neue[n] Anlauf« der Demokratie nach ihrem »völligen Scheitern […] in den Zwischenkriegsjahren« sprechen. Siehe König, Helmut: Von der Diktatur zur Demokratie oder Was ist Vergangenheitsbewältigung? In: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Hg. von Helmut König, Michael Kohlstruck und Andreas Wöll. Opladen/ Wiesbaden 1998 (Leviathan Sonderheft 18/1998), S. 371 – 392, hier S. 375. 299 Vgl. zu diesen Schlagworten auch Hobuß (2007), S. 42 f. 300 Vgl. etwa Frei (2001), S. 304 f. und Wehler (2003), S. 974. 301 Vgl. Frei (2005), S. 31. Der Auftrag an den Bundesgesetzgeber, die Rechtsverhältnisse der entsprechenden Personen zu regeln, erging in Artikel 131 des Grundgesetzes.

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rung betont,« der kommt folglich, mit Frei gesprochen, »an der Feststellung nicht vorbei, dass sie zwar nicht in ihrer Normierungswirkung, wohl aber in ihren individuellen Folgen für die Betroffenen, in weitestem Umfang zurückgenommen wurde«.³⁰² Die deutsche Nachkriegsgesellschaft zeichnete sich allerdings nicht nur durch die ihr inhärenten personellen³⁰³ und die daraus erwachsenen strukturellen³⁰⁴ Kontinuitäten aus: Auch Denk- und Wahrnehmungsmuster, die über zwölf Jahre hinweg von den politischen Machthabern bestärkt worden waren, verschwanden mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands nicht ad hoc aus den Köpfen der Bevölkerung. Gewiss konnte man in der Phase der rigorosen Entnazifizierungspolitik aufgrund des weit verbreiteten Opportunismus gegenüber den Besatzern bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck erhalten, dass »die Bereitschaft der Deutschen, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren, […] fast so groß [war] wie die Zustimmung, die er bis weit in den Krieg hinein gefunden hatte«.³⁰⁵ Jedoch sollte sich nach und nach immer deutlicher zeigen, dass weite Teile der Bevölkerung die Zäsur des Jahres 1945 nicht in ihrem vollen Ausmaß verinnerlicht hatten. Welch hoher Stellenwert dem Gedankengut des NS-Regimes nach wie vor zukam, demonstrieren etwa die Resultate zeitgenössischer Erhebungen aus den 1950er Jahren, denen zufolge ungefähr die Hälfte der Deutschen die Ansicht vertrat, die Idee des Nationalsozialismus sei eigentlich gut und nur ihre Ausführung sei schlecht gewesen.³⁰⁶ Außerdem ergaben Meinungsumfragen, dass Hitlers Politik in den ersten sechs (Friedens‐)Jahren seiner Herrschaftszeit noch immer auf Anerkennung stieß: »Im Sommer 1952 etwa hielt ihn ein Drittel der Befragten für einen ›großen Staatsmann‹, ein weiteres Viertel besaß eine ›gute Meinung‹ von ihm. Auch 1955 glaubte immerhin fast die Hälfte (48 %), daß Hitler ohne den Krieg als einer ›der großen deutschen Staatsmänner‹ dagestanden hätte.«³⁰⁷ Darüber hinaus gaben in

302 Frei (2001), S. 311. 303 Der in dieser Untersuchung mehrfach verwendete Terminus der personellen Kontinuitäten soll nicht suggerieren, dass den Akteuren des NS-Regimes in allen Fällen ein ›lückenloses‹ Anknüpfen an ihre früheren Karrieren möglich war, sondern schließt den Umstand ein, dass es innerhalb der Entnazifizierungsphase zu kurzzeitigen ›Unterbrechungen‹ kam, bevor eine Fortsetzung der beruflichen Laufbahn möglich wurde. 304 Exemplarisch sei hier auf die Rechtsprechung der Nachkriegszeit verwiesen, die sich etwa im Falle der von Kästner erwähnten Journalistin und ›Mitwisserin‹ der Weißen Rose weiterhin an den Urteilen des nationalsozialistischen Volksgerichtshofes orientierte. 305 Frei (2001), S. 309. 306 Vgl. ebd. 307 Wehler (2003), S. 982. Selbst 1967 hielten im Übrigen noch 32 % der Befragten an diesem positiven Urteil fest. Vgl. ebd.

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einer weiteren Erhebung aus dem Jahr 1952 34 % aller Befragten unumwunden an, antisemitisch eingestellt zu sein.³⁰⁸ In Anbetracht dieser Ergebnisse verwundert es kaum, dass so gut wie kein gesellschaftlicher Widerspruch aufkam, als frühere Nationalsozialisten unter der ersten bundesdeutschen Regierung wieder zu Amt und Würden kamen. Die meisten Bundesbürger stießen sich öffentlich beispielsweise keineswegs daran, dass Hans Globke als Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze unter Adenauer zunächst Ministerialdirektor und schließlich, ab 1953, Chef des Bundeskanzleramtes werden konnte.³⁰⁹ Und auch die Tatsache, dass der erste deutsche Bundeskanzler selbst frei heraus die Forderung stellte, »mit der Nazi-Riecherei Schluss zu machen«,³¹⁰ löste keinen nennenswerten Widerspruch aus. Es waren aber nicht nur solche diskursiven Verknappungsstrategien, die der Nachkriegsmentalität der meisten Deutschen entgegenkamen und für ein mehrheitliches Beschweigen der vorhandenen Kontinuitäten und ein hohes Maß an gesellschaftlicher Zufriedenheit mit der Regierung sorgten. Der unerwartete Wohlstand, den das so genannte ›Wirtschaftswunder‹ mit sich brachte, hatte ebenfalls seinen Anteil daran, dass sich die Bevölkerung weitgehend widerspruchslos im politischen Klima der Adenauer-Ära einrichtete und letztlich auch die zunehmende Abgrenzung gegenüber den ›Ostblockstaaten‹, einschließlich der DDR, mittrug.³¹¹ Intellektuelle, die ihr Unbehagen über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zum Ausdruck brachten, indem sie – wie Walters Dirks und Eugen Kogon – von »Restauration«³¹² sprachen, wurden dagegen ignoriert oder gerieten ins gesellschaftliche Abseits.³¹³ In diesem Kontext bemerkt Ralf Schnell:

308 Vgl. Holz (2007), S. 50. 309 Die Karriere Globkes ist freilich nur eines von vielen Beispielen für personelle Kontinuitäten im politischen Feld der jungen Bundesrepublik, die sich hier anführen ließen. Laut Bundesdrucksache 17/8134 vom 14. Dezember 2011 waren 27 Regierungsmitglieder – genauer: 25 Bundesminister, ein Bundespräsident (Walter Scheel) und ein Bundeskanzler (Kurt Georg Kiesinger) – vor 1945 Mitglieder der NSDAP gewesen. 310 Adenauer, Konrad zit. n. Perels (1998), S. 60. 311 Vgl. Schnell (2003), S. 123. 312 Der Publizist und der Sozialwissenschaftler hatten die Formel der »Restauration« bereits in den Anfängen ihrer 1946 gegründeten Frankfurter Hefte, einer politischen Zeitung linksliberaler Ausrichtung, geprägt. (Vgl. dazu auch Wehler 2003, S. 973) Wenngleich zahlreiche zeitgenössische Intellektuelle und insbesondere in den 1970er Jahren auch die Geschichtswissenschaft das Schlagwort vermehrt aufgreifen sollten, hat die »Restaurationsthese« in der heutigen Forschung, wie sich mit Wolfrum (2007, S. 14) rekapitulieren lässt, »keine ernsthaften Anhänger mehr«: Allenfalls werde in Bezug auf die Gründerjahre der Bundesrepublik von einer »autoritären Demokratie« gesprochen. 313 Vgl. Schnell (2003), S. 123.

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Anders als etwa in der politischen Kultur Frankreichs, welche die Radikalität des Fragens und Antwortens von Publizisten und Künstlern als selbstverständlichen Bestandteil des politischen und geistigen Lebens akzeptiert, standen in der Bundesrepublik solche Äußerungsformen von Anfang an in der Gefahr, öffentlich diffamiert zu werden.³¹⁴

Nichtsdestotrotz nahmen die kritischen Stimmen insbesondere gegen Ende der 1950er Jahre, als in Westdeutschland eine neue Antisemitismuswelle aufbrandete,³¹⁵ in ihrer Quantität und Schärfe zu. Beanstandet wurde immer vehementer die unzureichende ›Vergangenheitsbewältigung‹, in deren Kern der defizitäre Umgang der Deutschen mit ihrer belastenden Geschichte und den nicht mehr zu übersehenden ideologischen Kontinuitäten der NS-Zeit stand.³¹⁶ So postulierte etwa Theodor W. Adorno in seinem berühmten Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit im Jahr 1959, dass »insgeheim, unbewußt schwelend und darum besonders mächtig, jene Identifikationen [mit dem NS-Regime, Anm. d. Verf.] und der kollektive Narzißmus gar nicht zerstört wurden, sondern fortbestehen.«³¹⁷ Und auch Mitglieder der oppositionellen SPD erhoben in diesem Zusammenhang ihre Stimme. Beispielsweise hielt der Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid fest: Solange bei uns in der Absicht zu exkulpieren darüber diskutiert werden kann, ob sechs oder ›nur‹ drei Millionen Juden ermordet worden sind, solange nicht jedes Kind belehrt worden ist und begriffen hat, daß das Problem nicht ist, ob sechs oder drei Millionen, sondern null oder einer ermordet worden sind, solange haben wir – auch jene in unserem Volk, die in der verruchten Zeit saubere Hände behielten – versagt.³¹⁸

Der anschwellende und durch solche Aussagen charakterisierte Gegendiskurs, der dem Beschweigen der NS-Vergangenheit und ihrer Kontinuitäten zuwiderlief, führte schließlich dazu, dass die »moralische Meßlatte«³¹⁹ in der »lernenden De-

314 Ebd., S. 123 f. 315 Im Winter 1959/1960 ereigneten sich in der BRD hunderte antisemitische Straftaten wie etwa Grabschändungen auf jüdischen Friedhöfen und öffentliche Hakenkreuzschmierereien sowie die Schändung der Kölner Synagoge. Vgl. dazu auch Lorenz und Pirro (2011), S. 10 und Wolfrum (2007), S. 180. 316 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von König (1998, S. 375), der unter dem Begriff der Vergangenheitsbewältigung die Gesamtheit jener Handlungen und jenes Wissens versteht, mit der sich neue demokratische Systeme zu ihren nichtdemokratischen Vorgängerstaaten verhalten. 317 Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977, S. 555 – 573, hier S. 564. 318 Schmid, Carlo zit. n. Wolfrum (2007), S. 180. 319 Frei (2001), S. 335.

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mokratie«³²⁰ höher gehängt wurde: Allmählich fanden rechtes Gedankengut und die Karrierefortläufe bekannter ›Altnazis‹ immer weniger gesamtgesellschaftliche Duldung.³²¹ Wie Kästner sich innerhalb dieses ›Lernprozesses‹ positionierte und inwiefern seine Kritik an personellen wie ideologischen Kontinuitäten den »Erfolgsweg«³²² der Demokratie mitprägten, soll im Weiteren herausgestellt werden. Zu diesem Zweck wird in den folgenden beiden Unterkapiteln zunächst beleuchtet, wie der Schriftsteller sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren über den gesellschaftlichen Umgang mit dem politischen Systemwechsel und über personelle Kontinuitäten im kulturellen Feld äußerte. Die drei darauf folgenden Abschnitte der Untersuchung widmen sich schließlich seinen kritischen Positionierungen in der jungen Bundesrepublik, mit denen er auf verschiedenen Wegen an seine früheren Stellungnahmen anknüpfte. Im Zentrum der Betrachtung stehen hierbei sein Engagement im Rahmen der so genannten ›Schmutz und Schund‹-Debatten der frühen 1950er Jahre, sein bis heute kontrovers diskutiertes Theaterstück Die Schule der Diktatoren aus dem Jahr 1956 und seine Reaktionen auf die von einer christlichen Jugendgruppe inszenierte Bücherverbrennung am Rheinufer im Jahr 1965. Das Augenmerk soll in jenen Kapiteln aber nicht allein auf der inhaltlichen Beleuchtung der Kästner’schen Positionierungen und ihrem Abgleich mit verbreiteten gesellschaftlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata liegen. Es wird auch aufgezeigt werden, dass und inwiefern die Interventionsformen, auf die der Schriftsteller zurückgriff, sich im Laufe der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte veränderten respektive weiterentwickelten.

4.2.1 Über Briefe und Stimmzettel ‒ Kästners Beanstandung gesellschaftlicher Umgangsweisen mit dem politischen Systemwechsel Seinen Leitartikel Gescheit, und trotzdem tapfer, den er im Januar 1946 in der Erstausgabe des Pinguin veröffentlichte, ließ Kästner mit folgenden Worten enden:

320 Wolfrum (2007), S. 184. 321 Dass es vor diesem Hintergrund langfristig zu einem politischen Stimmungswandel kam, demonstriert laut Frei beispielhaft Beate Klarsfelds berühmte Ohrfeige für den deutschen Kanzler und ehemaligen NSDAP-Angehörigen Kurt Georg Kiesinger im Ausklang der westdeutschen Achtundsechziger-Bewegung: »Wer mit braunen Flecken auf der Weste Politik zu machen versuchte, der musste [mittlerweile, Anm. d. Verf.] mit dem ›Widerstand‹ der kritischen Jugend und linker Intellektueller rechnen«. Frei (2001), S. 334 f. 322 Wolfrum (2007), S. 13.

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Nun also, ich bin zwölf Jahre lang Zeuge gewesen. Ich habe erlebt, wie schwer es den Deutschen gemacht wurde, ihre menschlichen Tugenden zu bewahren, und wie leicht es manchen fiel, sie aufzugeben. Aber ich weiß auch, daß die nicht recht haben, die sich heute hinstellen und sagen, wir seien endgültig unfähig geworden, menschlich zu empfinden und »demokratisch« zu handeln. Wir wollen ihnen beweisen, daß sie unrecht haben! Wir wollen Deutschland neu aufbauen und bei unserem Charakter beginnen!³²³

Diese Zeilen demonstrieren ohne Umschweife die Entschlossenheit ihres Verfassers, das Vorhaben der westlichen Besatzer, aus Deutschland langfristig (wieder) eine Demokratie zu machen, nach Kräften zu unterstützen. Darüber hinaus geht aus dem am Ende artikulierten Ausruf hervor, dass Kästner den fokussierten ›Neuaufbau‹ zwingend mit einer umfassenden Veränderung der inneren Einstellung seiner Mitmenschen verknüpft sah. Den Umstand, dass große Teile der Bevölkerung sich einem solchen Charakter- respektive Gesinnungswandel verweigerten oder durch ihre Anpassung an die Erwartungen der Siegermächte lediglich vorgaben, ihn durchlaufen zu haben, machte der Autor nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema zahlreicher Publikationen. Welche Verhaltensweisen der Deutschen ihn im Besonderen kritisch stimmten und wofür er sich, konträr dazu, einsetzte, soll im Folgenden anhand der Betrachtung einiger repräsentativer Zeitungs-, Zeitschriftenund Kabarettbeiträge der unmittelbaren Nachkriegsjahre verdeutlicht werden. Ein zentrales Gut der Demokratie, das Kästner nach der zwölfjährigen Diktaturerfahrung stets verteidigte und dessen Wertschätzung er seinen Rezipienten wiederholt nahebrachte, war die Meinungsfreiheit. Am 8. November 1945 berichtete er etwa in der Neue[n] Zeitung über ein zufällig mitgehörtes Gespräch zweier Kinobesucher, die zuvor, wie er selbst, die amerikanische Filmkomödie Tom, Dick und Harry gesehen hatten. In diesem Zuge hob er hervor, dass der eine der beiden jungen Männer sich nicht nur lautstark über den Film als solchen echauffiert, sondern sich zugleich damit gebrüstet hatte, »daß er ›neulich schon‹ – anlässlich eines anderen aus den USA importierten Films – ›mächtig aufrührerische Reden geschwungen‹ habe.«³²⁴ Sowohl diese Alltagsbeobachtung als auch eine Zeitungsmeldung darüber, dass es bereits bei anderen Filmvorführungen zu Pfiffen aus dem Publikum gekommen sei,³²⁵ registrierte Kästner mit Wohlwollen als Indiz dafür, dass die deutsche Bevölkerung beginne, »von den in Aussicht gestellten demokratischen Rechten und Pflichten mit gespitztem Mund Gebrauch zu machen«.³²⁶

323 Kästner, Erich: Gescheit, und trotzdem tapfer [Pinguin, Januar 1946]. In: EKW II, S. 22 – 25, hier S. 25. 324 Kästner, Erich: Pfiffe im Kino [NZ, 8.11.1945]. In: EKW VI, S. 487– 489, hier S. 487 f. 325 Vgl. ebd., S. 488. 326 Ebd.

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Eine ähnliche Erfahrung machte er auch im Redaktionsbüro der Neue[n] Zeitung, wo er in seiner Position als Feuilletonchef fortlaufend Leserbriefe erhielt, die ihm aufschlussreiche Einblicke in die Sichtweisen seiner Landsleute ermöglichten. Dass die Rezipienten der NZ durchaus kontrovers auf die in dem amerikanischen Blatt gedruckten Artikel reagierten, nahm er grundsätzlich zufrieden zur Kenntnis, hielt er doch fest: Die einen ärgern sich begreiflicherweise über das, was der Zeitungsmann geschrieben hat. Die anderen teilen ihm […] ihr Einverständnis, wenn nicht gar ihr lebhaftes Wohlgefallen mit. […] Der Idealzustand zwischen Zeitung und Lesern, die offene Aussprache, ist erreicht.³²⁷

Gleichwohl wurde Kästner bei der Lektüre zahlreicher Zuschriften mit Haltungen konfrontiert, mit denen er sich alles andere als einverstanden erklärte und an denen seine am 11. März 1946 erschienene Glosse Gespräch mit Zwergen Kritik erhebt. Darin entführt der Autor seine Leser in ein märchenhaft-skurriles Setting, denn er berichtet, dass er, um die Flut an Briefen, die es »regnet, hagelt und schneit«, bewältigen zu können, mehrere »Mitarbeiter« engagiert habe: fünf der aus Schneewittchen bekannten sieben Zwerge.³²⁸ Lediglich der sechste und siebente Zwerg konnten, wie er in satirischer Anspielung auf die noch laufenden Lizenzierungs- und Entnazifizierungsverfahren einwirft, bislang nicht angestellt werden – während der eine noch auf seine »Briefleselizenz« warte, solle der andere »in der NS-Zwergenschaft eine gewisse Rolle gespielt haben«.³²⁹ Mit den übrigen fünf Zwergen, die sich in seiner kleinen Wohnung tummeln, führt Kästner, der sich wie so oft als autofiktionale Figur in seinen Text integriert, eine Unterhaltung über die »Weltlage«.³³⁰ Das Gespräch mündet letztlich in eine Diskussion über die Deutschen und ihren Umgang mit dem nunmehr fast ein Jahr zurückliegenden politischen Systemwechsel.Vieren der kleinwüchsigen Mitarbeiter (namentlich: »Rudi Zwerger«, »Professor Enoch Kleiner«, »Giselher Winzig« und

327 Kästner, Erich: Gespräch mit Zwergen [NZ, 11. 3.1946]. In: EKW VI, S. 524 – 530, hier S. 524. 328 Ebd., S. 524 f. 329 Ebd., S. 526. 330 EKW VI, S. 527. Ähnlich wie zu Beginn des ersten Kapitels seines Zeitromans Fabian (vgl. EKW III, S. 9) arbeitet Kästner hier mit einer schlagzeilenartigen Aufzählung von Themen, die unterschiedliche tagesaktuelle welt-, lokal- und kulturpolitische Ereignisse des Frühjahrs 1946 versammelt. So plaudert sein autofiktionales Ich mit den Zwergen über »das Entnazifizierungsgesetz und Franco und den Streik bei General Motors und die deutsche Währung und die Studenten von Kairo, Erlangen und Kalkutta, über das europäische Ernährungsproblem und Picasso und die arabische Frage und die sozialistischen Parteien und Dr. Heinzelmanns Briefleselizenz und die politische Staatskunst, nun ja, eben über das, was die Menschen, die Riesen und nicht zuletzt die Zwerge heutzutage bewegt.« EKW VI, S. 527.

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»Gustav Knäbchen«)³³¹ legt Kästner dabei politische Ansichten in den Mund, die offenbar seine eigenen Positionen widerspiegeln. So kommen die Zwerge – in impliziter Abgrenzung von Nietzsches populärer Charakterisierung der Juden als »merkwürdigste[m] Volk der Weltgeschichte«³³² – etwa zu dem Ergebnis, dass die Deutschen »[d]as merkwürdigste Volk sind und bleiben«.³³³ Besagte ›Merkwürdigkeit‹ finde einerseits im ungebrochenen, wenn auch unbegründeten Nationalstolz vieler Landsleute ihren Ausdruck.³³⁴ Sie zeige sich andererseits aber auch daran, dass das Volk immer erst in krisenhaften Situationen und nach dem kompletten Versagen anderer politischer Systeme – der Monarchie vor 1918 und der Diktatur vor 1945 – versuche, eine Demokratie zu etablieren.³³⁵ »Dadurch«, lässt Kästner den von ihm erdachten Rudi Zwerger schlussfolgern, haben sich viele daran gewöhnt, die erwachsenden Schwierigkeiten nicht, wie sie müßten, dem kritischen Zeitpunkt, sondern der demokratischen Staatsform selber in die Schuhe zu schieben. Wenn sich die Deutschen doch ein einziges Mal entschließen könnten, im Wohlstand Demokraten zu werden!³³⁶

Dass dies nicht zu gelingen vermag, wird von den übrigen Zwergen im Laufe des Gesprächs darauf zurückgeführt, dass stets »reaktionär[e] Recken, ausgeruht und mit frischer Blechmusik in die Arena der Weltgeschichte marschiert«³³⁷ kommen

331 Vgl. ebd. Auf die Namensgebung der Zwerge und die ihr inhärenten Anspielungen auf die Namen realer Persönlichkeiten wird in Kapitel 4.2.2 dieser Untersuchung gesondert eingegangen. 332 Dieser Ausspruch entstammt dem vierten Kapitel des 1888 verfassten Werkes Der Antichrist. Darin formuliert Nietzsche: »Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie, vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen Bewußtheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser Preis war die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt so gut als der äußeren.« Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Collo und Mazzino Montinari. Bd. 6. München 1999, S. 165 – 254, hier S. 191. 333 EKW VI, S. 527. 334 In diesem Zusammenhang hält etwa der Zwerg Enoch Kleiner, recht vereinfachend, fest: »Daß ein Generalstab zweimal hintereinander mit Pauken und Trompeten denselben Krieg verliert, ist doch kein Grund zur Eitelkeit.« (EKW VI, S. 527) Dass Kästner schon vor 1933 versucht hatte, am Nationalstolz der Deutschen zu rütteln, belegt etwa sein von nationalistischer wie nationalsozialistischer Seite häufig attackiertes Gedicht Die andre Möglichkeit. Vgl. auch Kapitel 3.1.2. 335 Vgl. EKW VI, S. 528. 336 Ebd., S. 528. Diesen Gedankengang sollte Kästner zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt erneut aufgreifen. In seinem 1966 verfassten Artikel Die Einbahnstraße als Sackgasse urteilt er, ein weiteres Märchenbild bemühend, die Demokratie sei, »ob nun 1918 oder 1945, […] das Aschenputtel der Jahre Null« gewesen. Kästner, Erich: Die Einbahnstraße als Sackgasse [1966]. In: EKW VI, S. 590 – 593, hier S. 592. 337 Ebd., S. 528.

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und sich über die Demokratie lustig machen, sobald sich das Volk »auch nur einigermaßen aus dem Dreck herausgebuddelt«³³⁸ habe. Der fiktiven Unterhaltung sind folglich die Kästner’schen Thesen zu entnehmen, dass sowohl die herausfordernde wirtschaftliche Ausgangslage als auch jene Deutschen, die veraltete politische wie militärische Werte weiterbeschwören, dafür sorgen, dass es das demokratische System so schwer hat, in Deutschland Fuß zu fassen und nachhaltige Anerkennung zu finden.³³⁹ Vor dem Hintergrund dieser Annahmen lenkt die Glosse den Fokus schließlich zurück auf die Briefe der Zeitungsleser. Der Zwerg Enoch Kleiner rekapituliert, dass zahlreiche Verfasser in ihren Zuschriften an die NZ bekunden, »keine Militaristen und Reaktionäre« zu sein und den Kästner’schen Forderungen nach einer »Abkehr von unecht gewordenen Idealen« und einer »Revision historischer Werturteile« prinzipiell zuzustimmen.³⁴⁰ Gleichwohl werde von den Briefschreibern immer wieder beanstandet, dass der Autor diese Forderungen »gerade jetzt«, also zu einem Zeitpunkt stelle, an dem die Deutschen »ohnedies besiegt und missachtet« seien.³⁴¹ Als der bis dahin schweigsame fünfte Zwerg, »Doktor Daum«, die Kritik der Leser mit Nachdruck unterstützt, reagiert Kästners autofiktionales Ego aufgebracht. Seine Antwort an den Zwerg ist gleichermaßen als Antwort und Appell an all jene seiner Landsleute zu verstehen, die die zeitgenössische (Besatzungs‐)Situation in erster Linie als ›Ausnahmezustand‹ empfanden und sie nicht, wie er selbst, als Beginn eines umfassenden Neuanfangs begriffen. Den Blick auf die Zukunft Deutschlands und das mit ihr verbundene Schicksal der heranwachsenden Generation lenkend postuliert er: Warum gerade jetzt? […] Ja, um alles in der Welt […], wann denn sonst, wenn nicht jetzt? Unser Land liegt auch geistig in Trümmern. Sollen die Baumeister der deutschen Zukunft auf erschütterten Fundamenten, auf Häuserstümpfen und nach veralteten Plänen Neues aufbauen? Wann, wenn nicht eben jetzt, ist die Gelegenheit da, endlich die Grundlagen selber zu erneuern? […] Soll die deutsche Jugend in diesem menschenmörderischen Jahrhundert noch ein drittes Mal belogen und für eine neue, wiederum sinnlose und entsetzliche Reaktion geistig

338 Ebd. 339 Einen Einfluss der wirtschaftlichen Situation auf die Wahrnehmung des neuen politischen Systems machte Kästner zur Zeit seiner NZ-Feuilletonleitung auch im Interview mit dem schwedischen Journalisten Lennart Göthberg geltend. Ihm gegenüber benannte er allerdings auch noch ein weiteres Problem, das er in dieser Klarheit nicht in der von der amerikanischen Besatzungsmacht ins Leben gerufenen Zeitung niederschrieb: Auf die gesellschaftlichen Vorbehalte gegen die demokratische Staatsform Bezug nehmend, konstatierte er, die Amerikaner hätten den Fehler gemacht, »dass sie von Anfang an von Demokratie sprachen. Nun glauben die Leute, alles was sie jetzt sehen, sei schon Demokratie.« Kästner, Erich zit. n. Göthberg (1946). 340 EKW VI, S. 528. 341 Ebd.

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herangemästet werden? Nein? Das wollen Sie nicht? Nun, wann sonst soll das verhütet werden, wenn nicht bei der Grundsteinlegung unserer Zweiten Republik?³⁴²

Kästners Stellungnahme liest sich nicht allein wie ein engagiertes Plädoyer für die Chancen, die die zu (re)etablierende Demokratie³⁴³ für alle an ihr Partizipierenden bergen könnte. Sie macht auch einmal mehr deutlich, dass ein tatsächlicher politischer Neubeginn im Sinne des Autors notwendigerweise mit einem konsequenten Abrücken von allen noch nicht ad acta gelegten antidemokratischen Denk- und Wahrnehmungsmustern einhergehen muss, aus denen sich die ›geistigen Trümmer‹ Deutschlands konstituieren. Um zu unterstreichen, wie begründet seine – der Nachkriegsmentalität der meisten Deutschen diametral entgegengesetzte – Forderung ist, bedient sich Kästner abschließend der Montagetechnik und flicht ein reales Dokument in die fiktive Handlung ein, das die latente Idealisierung der NSDiktatur durch die Bevölkerung zum Thema macht. So zitiert er aus der Zuschrift eines Zeitungslesers aus dem Taunus, die, wie er im Postskriptum seiner Glosse süffisant betont, im Gegensatz zu dem »natürlich erfunden[en]« Gespräch mit den Zwergen, »natürlich nicht erfunden« sei:³⁴⁴ Er [der Leser, Anm. d.Verf.] schrieb: »Vor einiger Zeit fuhr ich mit der Eisenbahn. Da sagte eine junge Frau im Abteil: ›Man kann ja über die Nazis denken wie man will – aber eines muß man ihnen lassen, für Ruhe und Frieden haben sie jedenfalls gesorgt!‹ […] So grotesk es klingt, ich war der einzige, der lachte.«³⁴⁵

Die ungebrochene Befürwortung der nationalsozialistischen Führung, die sich – exemplarisch für weite Teile der Bevölkerung – im Verhalten der Fahrgäste offenbart, erscheint Kästner angesichts der alles andere als ›ruhigen‹ und ›friedlichen‹ politischen Vergangenheit offenkundig ebenso paradox wie dem Verfasser des Briefes. Auffällig ist, dass der Schriftsteller solchen Anzeichen nicht erfolgten Umdenkens nach Kriegsende mindestens ebenso kritisch gegenüberstand wie Gesinnungswechseln, die nicht das Resultat tatsächlichen Umdenkens waren. Dies belegt bereits ein Eintrag, den er am 5. Juni 1945, während seines Aufenthalts in Mayrhofen, im [B]laue[n] Buch niederschrieb:

342 Ebd., S. 529. 343 Auf die hier gewählte Umschreibung der »Zweite[n] Republik« wird Kästner 1966 in seinem Artikel Die Einbahnstraße als Sackgasse noch einmal zurückkommen. Vgl. EKW VI, S. 591. 344 Ebd., S. 530. 345 Ebd.

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Auch hier im Ort scheint keiner den Nazis nahe gestanden zu haben – obwohl sie fast alle in der Partei waren – und jeder tischt irgendwelche Geschichten auf, mit denen er seine integre Haltung zu beweisen sucht. Der eine hat Rassenschande getrieben und war deswegen verfolgt. Der andere hat seine geschiedene jüdische Frau immer unterstützt. Der Dritte war, obgleich er das Parteiabzeichen getragen hatte, nur Parteianwärter gewesen und hatte alles versucht, nicht Mitglied zu werden.³⁴⁶

Bemängelte Kästner in dieser Tagebuchnotiz die allzu plötzlich erscheinende Abwendung seiner Mitmenschen vom Nationalsozialismus und seinen Wertvorstellungen, so widmete er sich bei anderen Gelegenheiten ihrer nicht minder plötzlich erfolgten Anpassung an die Ideale der neuen politischen Machthaber. Exemplarisch sei in diesem Kontext auf ein Kabarettchanson verwiesen, das im Juli 1946 in der Schaubude uraufgeführt wurde. Der dreistrophige Text, den Kästner zunächst mit dem Titel Liebe und Treue versah und anlässlich seiner späteren Veröffentlichung in der Weltbühne in Das Leben ohne Zeitverlust umbenannte, soll laut Regieanweisung von einer »sehr elegant und ebenso offenherzig gekleideten Chansonette« dargeboten werden; die Haltung der Vortragenden erbittet sich der Verfasser »blasiert bis zum Zynismus«.³⁴⁷ Von Tangorhythmen begleitet,³⁴⁸ geht die mondän inszenierte Figur zunächst auf die erotischen Präferenzen »[m]anche[r] Fraue[n]« ein, die wahlweise »kranke, blasse Dichter«, »rote Mordgesichter«, »junge Männer« oder »kalte Kenner« bevorzugen, um hiernach zu verkünden, sie selbst habe ihr »Leben lang / nur einen Mann geliebt«.³⁴⁹ Mit der Erwartung der Rezipienten, nun ein spezifisches ›Objekt der Begierde‹ genannt zu bekommen, wird in den darauf folgenden Versen allerdings radikal gebrochen. Dort heißt es: Ihm bin ich zugetan, ob es Tag oder Nacht ist. Ich liebe stets den Mann, der gerad an der Macht ist! Ob er nun Staatsmann ist, ob Börsenheld, ob Krieger, – ich liebe den Sieger! Drum kann geschehn, was will: Ich liege immer richtig!

346 Kästner (2006), S. 149. Die hier wiedergegebene Notiz, die Kästner im [B]laue[n] Buch vermerkte, griff er 1961 in Notabene 45 auf und baute die genannten Äußerungen der Bewohner des Ortes zu ausführlichen Plädoyers aus. Vgl. Kästner, Erich: Notabene 45. Ein Tagebuch [1961]. In: EKW VI, S. 301 – 480, hier S. 426 f. 347 Kästner, Erich: Das Leben ohne Zeitverlust [1946]. In: EKW II, S. 34 – 37, hier S. 34. 348 Vgl. ebd. 349 Ebd.

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Und bei der Liebe ist das besonders wichtig!³⁵⁰

Gegen den Vorwurf, lediglich »das Neue« zu lieben, verwehrt sich die lyrische Sprecherin in den folgenden Versen mit Nachdruck, denn sie betont, »nur die Macht« zu lieben und dieser treu zu sein.³⁵¹ Der immensen Anziehung, die der jeweilige Mächtige – ganz gleich ob er »schön«, »schwer«, »kahl«, »[b]ös« oder »wild« ist³⁵² – auf sie ausübt, widmet sich die zweite Strophe, an deren Ende sie freimütig zugibt, »keine Reue« für ihr Verhalten zu kennen.³⁵³ Wer aber die Macht verliere, solle ihrethalben »untergehen«, »zitternd um Erbarmen flehen«, »Memoiren schreiben / oder sich erschießen oder leben bleiben«.³⁵⁴ Dass sie jene Art zu ›lieben‹ dauerhaft beibehalten will, da diese es ihr eines Tages sogar ermöglichen wird, sich mit dem eigenen Ableben zu arrangieren, verdeutlicht die letzte Strophe des Chansons. Hier unterstreicht die laszive Figur, den Tod personifizierend, dass er derjenige sei, »welcher stets an der Macht ist«, um dann mit »kalter, fast zu Bewunderung nötigender Ehrlichkeit«³⁵⁵ zu resümieren: Und auf dem Stein soll stehn: »Nun liegt sie wieder richtig! In dieser Lage ist das besonders wichtig! Es war nicht angebracht, daß sie etwas bereute. Sie liebte nichts als die Macht und tut es noch heute!«³⁵⁶

Kreierte Kästner in früheren Texten vergleichbar mondäne Frauentypen,³⁵⁷ dann war es ihm gemeinhin primär daran gelegen, Aussagen über das Verhältnis der Geschlechter oder das zeitgenössische Beziehungs- respektive Sexualverhalten als solches zu treffen. Mit der Inszenierung der ›Femme fatale‹ im betrachteten Chanson verfolgt er jedoch offenbar ein anderes Ziel. Sie lässt sich durchaus als

350 Ebd., S. 34 f. 351 Ebd., S. 35. 352 Ebd. 353 Ebd., S. 36. 354 Ebd. 355 So eine weitere Regieanweisung Kästners. Ebd., S. 34. 356 Ebd., S. 36 f. 357 Man denke etwa an die laszive ›Neue Frau‹ Irene Moll, die mit dem Titelhelden des Romans Fabian anzubändeln versucht, oder die Damen Casparius und Mallebré, die den Protagonisten Hagedorn im Unterhaltungsroman Drei Männer im Schnee verführen wollen.

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allegorischer Verweis auf jene Mitglieder der deutschen Bevölkerung deuten, die sich nach dem 8. Mai 1945 ad hoc mit derselben ›Leidenschaft‹ den allliierten Machthabern unterwarfen, mit der sie zuvor die NS-Führung verehrt hatten. Ein derart opportunistisches Verhalten ohne Gewissensbisse bis in den Tod hinein zum übergeordneten Handlungsprinzip zu erheben, führt Kästner dem Publikum der Schaubude durch die laszive Ausgestaltung der Figur im übertragenen Sinne als ›hurenhaft‹ vor Augen. Wie kritisch er der willkürlichen politischen Anpassungsbereitschaft vieler seiner Mitmenschen gegenüberstand, zeigt auch sein im Juni 1946 veröffentlichter Pinguin-Artikel Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers. ³⁵⁸ Am Anfang des Textes rückt der Autor die Bedeutung der jüngsten politischen Entwicklungen für die deutsche Jugend in den Vordergrund. Ausgehend von der Feststellung, dass die Reformierung des Schulunterrichts nach dem Ende des NS-Regimes zu einer der »schwierigsten und dringlichsten Aufgaben«³⁵⁹ gehöre, gibt er zu bedenken, dass es »nicht nur an intakt gebliebenen Schulgebäuden, sondern auch an intakt gebliebenen Lehrern«³⁶⁰ fehle. Im Weiteren lenkt er den Blick auf jene Vertreter des Berufszweiges, die 1933, mit der Machtübernahme Hitlers, ihre bisherigen Anschauungen ohne großes Federlesen auf den Müll warfen. […] Heute behaupten sie […], sie hätten damals, ob sie wollten oder nicht, Parteimitglieder werden müssen. Dabei steht fest, daß sie das nicht werden mußten. Feststeht nur, daß sie nicht feststanden. Daß sie umfielen, bevor man sie anblies.³⁶¹

Dass Kästner die (Um‐)Erziehung der Heranwachsenden bei solchen Lehrkräften nicht in den richtigen Händen sieht, ist offensichtlich. Allerdings belässt er es nicht bei dieser bloßen Vorwurfshaltung, sondern sucht nach Ursachen für das von ihm kritisierte Verhalten. Das Ergebnis seiner Überlegung liefert er den Lesern in pointierter Form: »Die Lehrer haben im Dritten Reich versagt, weil, vor 1933, die Lehrerausbildung versagt hat.«³⁶² Um diese Behauptung zu untermauern, blickt er auf die von ihm selbst erfahrenen repressiven Ausbildungsverhältnisse in den ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts³⁶³ zurück. Die Erziehung in den

358 Siehe Kästner, Erich: Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers [Pinguin, Juni 1946]. In: EKW II, S. 75 – 77. 359 Ebd., S. 75. 360 Ebd. 361 Ebd., S. 75 f. 362 Ebd., S. 76. 363 Kästner selbst hatte, im Anschluss an die Volksschule, das Freiherrlich von Fletchersche Lehrerseminar in Dresden besucht, sich letztlich aber dagegen entschieden, diese Laufbahn fortzusetzen. Vgl. dazu weiterführend Hanuschek (2003), S. 47– 60.

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Lehrerseminaren habe sich, wie er ausführt, »auf der Ebene der Unteroffiziersschulen« bewegt: »Hauptsache war: Es entstand der gefügige, staatsfromme Beamte, der sich nicht traute, selbstständig zu denken, geschweige zu handeln.«³⁶⁴ Dass diese bereits in ihrer Ausbildung »zu Gehorsamkeitsautomaten gedrillt[en]«³⁶⁵ Lehrkörper den Befehlsstrukturen des ›Dritten Reichs‹ nichts entgegenzusetzen hatten, erscheint Kästner nicht verwunderlich. Der Autor sah in der von langer Hand anerzogenen Obrigkeits- beziehungsweise Autoritätshörigkeit, die keineswegs allein die deutsche Beamtenschaft auszeichnete, jedoch nicht nur eine Ursache für das Funktionieren der nationalsozialistischen Diktatur.³⁶⁶ Er begriff sie auch als eine weiterexistierende, latente Bedrohung für die Demokratie. Deshalb legte er immensen Wert darauf, die Deutschen – und insbesondere die deutsche Jugend – zu eigenständigem Denken zu ermutigen.³⁶⁷ Als einen damit einhergehenden demokratischen Grundpfeiler, an dem es nach 1945 vielen im NS-Regime sozialisierten Heranwachsenden mangelte, betrachtete Kästner die Fähigkeit zur Toleranz. Besonders deutlich kommt dies in einem NZ-Artikel zum Ausdruck, in dem er sich mit den Besucherreaktionen auf eine Kunstausstellung auseinandersetzte, die knapp ein Dreivierteljahr nach Kriegsende im Augsburger Schaezlerpalais eröffnet wurde. Auf Anregung der amerikanischen Militärregierung zeigte man unter dem schlichten Titel Maler der Gegenwart Bilder von insgesamt 36 Künstlern, die in der NS-Zeit als »entartet« diskreditiert worden waren.³⁶⁸ Im Zuge dieser kulturpolitischen Maßnahme wur-

364 EKW II, S. 77. 365 Ebd. 366 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen über Kästners ›Analyse des Übels‹ von Doderer (1999), S. 151 – 153. 367 Dies zeigt beispielsweise Kästners 1950 verfasste Ansprache zum Schulbeginn (EKW II, S. 194 – 197), die weit mehr als nur die berühmte Sentenz »Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!« (ebd., S. 195) enthält. Vielmehr gab der Schriftsteller den Schulanwärtern darin einige dringliche ›Ratschläge‹. Er postulierte etwa: »Haltet das Katheder weder für einen Thron noch für eine Kanzel! Der Lehrer sitzt nicht etwa deshalb höher, damit ihr ihn anbetet, sondern damit ihr einander besser sehen könnt. Der Lehrer ist kein Schulwebel und kein lieber Gott. Er weiß nicht alles, und er kann nicht alles wissen. Wenn er trotzdem allwissend tut, so seht es ihm nach, aber glaubt es ihm nicht! […] Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind.« Ebd., S. 195 u. 196 f. 368 Die von insgesamt etwa viertausend Gästen besuchte Ausstellung, in die unter anderem Werke von Ernst Aigner, Karl Blocherer, Fritz Burkhardt, Otto Geigenberger, Ernst Geitlinger, Anton Lamprecht, Rudolf Schlichter und Hugo Tröndle aufgenommen worden waren, stellte den Auftakt einer insgesamt dreiteiligen Ausstellungsreihe dar: 1946 folgte Maler der Gegenwart II und im Jahr darauf Maler der Gegenwart III: Extreme Malerei.Vgl. Kurzkes Kommentar in EKW II, S. 429. Zur Bedeutung

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den den Besuchern der Ausstellung »Stimmzettel« überreicht, auf denen man sie um eine Rückmeldung zu den Exponaten und um Anregungen für künftige Ausstellungen bat. Auf die Ergebnisse jener Evaluation geht Kästner in seiner am 7. Januar 1946 veröffentlichten Augsburger Diagnose ³⁶⁹ ein. »[E]rwartungsgemäß« offenbarten die Stimmzettel, wie er darlegt, dass die meisten ihrer Verfasser sich insbesondere mit den im ›Dritten Reich‹ unterdrückten Spielarten der Moderne schwer taten und nach »realistische[n] Darstellungen« verlangten.³⁷⁰ Während »[u]nter denen, die an verschiedenen Malern und Bildern Kritik [übten],« laut Kästner »erfreulicherweise viele [waren], welche Maß [hielten]«,³⁷¹ fällten andere Besucher Urteile, deren wörtliche Wiedergabe in der NZ er für »unerläßlich«³⁷² hält. Wie der Schriftsteller zitiert, las man auf den Stimmzetteln etwa: Diese Bilder »sind unmöglich und verhöhnen die deutsche Kunst!!!« […] »Künstler wie Schlichter, Geitlinger und Blocherer müssen raus!!« »Geitlinger und ähnliche Schmierereien müssen verschwinden.« »So etwas ist eine Schweinerei!« »Keine entartete Kunst mehr!« »… völlige Ausmerzung solcher Bilder!« […] Einer wünscht sich die Bilder der Ausstellung »alle, um sie einzuheizen«. […] Und ein anderer fordert: »Die Künstler beseitige man restlos. Kz.«³⁷³

Die Übereinstimmung dieser Anfeindungen mit Werturteilen und Forderungen, die während der nationalsozialistischen Herrschaftszeit gang und gäbe waren, veranlasst Kästner zunächst zu einer sarkastischen Reaktion. Er hält fest: »Etliche der Maler in Auschwitz zu verbrennen oder aus ihrer Haut Lampenschirme fürs traute Heim zu schneidern, hat erstaunlicherweise niemand verlangt. Aber die Ausstellung ist ja noch ein paar Tage geöffnet.«³⁷⁴ Im weiteren Verlauf seines Artikels verzichtet er jedoch weitgehend auf solche für ihn charakteristischen Sarkasmen. Stattdessen setzt er sich explizit mit der Erkenntnis auseinander, dass »die intolerantesten, die dümmsten und niederträchtigsten Bemerkungen fast ohne Ausnahme von Schülern, Studenten, Studen-

des Ausstellungswesens innerhalb der Kultur- und Reeducationpolitik der westlichen Besatzungsmächte siehe auch Kapitel 3.1.1. 369 Siehe Kästner, Erich: Die Augsburger Diagnose. Kunst und deutsche Jugend [NZ, 7.1.1946]. In: EKW II, S. 28 – 33. 370 Ebd., S. 29. 371 Ebd. 372 Ebd., S. 30. Wie dem Artikel zu entnehmen ist, beziehen sich die Anfechtungen primär auf die ausgestellten Werke Ernst Geitlingers und somit, so Kästner, auf »sieben die Perspektive verleugnende, auch in der Zeichnung künstlich naive, an Paul Klee erinnernde Bilder von hohem farblichen Reiz.« Ebd., S. 29. 373 Ebd., S. 30. 374 Ebd.

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tinnen und anderen jungen Menschen«³⁷⁵ stammten – also von jenen Ausstellungsbesuchern, die »1933 kleine Kinder [waren]«.³⁷⁶ Angesichts der Tatsache, dass der Kunstgeschmack jener jungen Deutschen maßgeblich durch die NS-Politik geformt wurde und sie in völliger »Unkenntnis ausländischer Leistungen [aufwuchsen]«,³⁷⁷ stellt Kästner die auf den Stimmzetteln ersichtlichen Reaktionen gleichsam als logische Konsequenz der nationalsozialistischen Erziehung heraus: Nun sind diese Kinder Studenten geworden. Die Kunst ist wieder frei. Die Studenten spucken, wie sie es gelernt haben, auf alles, was sie nicht verstehen. Weil alles, was nicht alle verstehen, von 1933 bis 1945 Dreck war. Sie haben es nicht anders gelernt.³⁷⁸

Bei dieser Erklärung lässt Kästner es allerdings nicht bewenden: Gerade weil er die ›Augsburger Diagnose‹ als repräsentativ für die gesamtgesellschaftliche Stimmungslage erachtet,³⁷⁹ fordert er mit Nachdruck, dass etwas »geschehen«³⁸⁰ müsse. Die »Kunsterziehung«,³⁸¹ die er im Folgenden als mögliche Strategie der Einflussnahme auf die Denk- und Verhaltensmuster der Jugend geltend macht, stimmt in ihrer Stoßrichtung abermals mit den Demokratisierungsmaßnahmen der westlichen Besatzungsmächte überein. So plädiert er dafür, in Universitäten,Volksschulen und im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen »durch berufene Fachleute«³⁸² das für das Verständnis von Kunstwerken notwendige Fachwissen zu vermitteln. Dabei verdeutlicht er, in Erinnerung an eine gelungene Lehrveranstaltungsreihe während seiner eigenen Gymnasialzeit,³⁸³ wie wichtig es sei, der im ›Dritten Reich‹ aufgewachsenen Jugend beizubringen, was einst ihm vermittelt wurde, nämlich daß auch Kunst, die man nicht versteht, trotz allem als Dame behandelt werden sollte. Man kann, auch als junger Mann, nicht alle Damen lieben. Es muß einem nicht jede gefallen. Nur folgt daraus nicht, daß sie niemandem sonst gefallen dürfte oder gar, daß man das Recht hätte, ihr mitten ins Gesicht zu spucken.³⁸⁴

375 Ebd. Dies gehe, wie Kästner in dem besagten Kontext erörtert,»[a]us den Unterschriften auf den Stimmzetteln […] hervor«. Ebd. 376 Ebd., S. 31. 377 Ebd. 378 Ebd., S. 32. 379 Vgl. ebd., S. 31. 380 Ebd., S. 32. 381 Ebd. 382 Ebd., S. 33. 383 Konkret verweist Kästner auf die »Kunsterziehungsabende« für Schüler und Studenten, die an dem von ihm besuchten König Georg-Gymnasium in Dresden vom damaligen Kapellmeister der Staatsoper veranstaltet wurden. Vgl. ebd. 384 Ebd.

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Dezidiert wirbt Kästner mit diesem Vergleich für eine ästhetische Erziehung hin zu einer Haltung der Toleranz, die für ihn einen zentralen Bestandteil der Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft darstellt. Signifikant ist, dass er in jenem Kontext nicht allein als ›allgemeiner‹ Intellektueller auftritt, der, einen universellen Wert verteidigend, die Stimme erhebt. Er agiert, im Sinne Bourdieus, zugleich vor dem Hintergrund der auf lange Sicht hin erhofften Autonomie seines eigenen kulturellen Feldes: Nicht von ungefähr akzentuiert er abschießend die Dringlichkeit der Umsetzung seines Vorschlages, indem er vermerkt, dass es sowohl »um Deutschlands Jugend« als auch »um den Wert und um die Geltung der deutschen Kunst« gehe.³⁸⁵ Auf welchen Wegen und auf welche Anlässe hin sich Kästner in den nachfolgenden Jahrzehnten noch für eine höhere Achtung vor der Kunst (und damit stets einhergehend: gegen weiterexistierende Bewertungsschemata der NS-Zeit) aussprechen sollte, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zu beleuchten sein. Zuvor soll das Augenmerk jedoch von der Kunst als solcher hin zu jenen Künstlern gelenkt werden, die zwischen 1933 und 1945, im Gegensatz zu den 36 in Augsburg ausgestellten Malern, ein hohes Ansehen genossen und große Erfolge für sich verbuchen konnten. Wie der Schriftsteller damit umging, dass viele von ihnen nach dem Ende der NS-Zeit nahtlos versuchten, an ihre früheren Karrieren anzuknüpfen, untersucht das folgende Kapitel.

4.2.2 Über doppelseitige Charaktere und Gesinnungsakrobaten ‒ Kästner und die personellen Kontinuitäten im kulturellen Feld In seinem im Herbst 1948 publizierten Auswahlband Der tägliche Kram beurteilte Kästner den Versuch, das deutsche Volk zu entnazifizieren, lakonisch als »in großen Teilen mißglück[t]«: »Unlösbare Aufgaben« seien »unlösbar«.³⁸⁶

385 Ebd. In der Tat wurden Gesprächskreise und Vortragsabende über Kunst, wie Kästner sie hier fordert, nach Kriegsende vielfach in das kulturpolitische Programm der Besatzungsmächte integriert. Vgl. auch Kapitel 3.1.1. 386 EKW II, S. 177. Dieses Urteil fällt Kästner in der kurzen Hinführung zu seinem Artikel Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann (EKW II, S. 177– 181), welcher 1948 in der Oktober-Ausgabe des Pinguin erschienen war. Der satirische Beitrag hebt maßgeblich darauf ab, die ›Verbürokratisierung‹ der Entnazifizierung als absurd und am Ziel vorbeigehend zu kennzeichnen. Im Text setzen sich drei arbeitslose Kneipenbesucher mit den »Finessen der Gerechtigkeit« (ebd., 180) auseinander. Anlass ist ein fiktives behördliches Formblatt, das die Frage aufwirft, ob »ein Minderbelasteter als Bezirksschornsteinfeger tätig sein [darf ].« (Ebd., S. 177) Die Männer bringen in ihrer Diskussion unter anderem die Argumente ins Spiel, dass die Antwort auf die Frage von der Auslegung des Begriffes »Bezirksschornstein« abhänge und zudem eine Rolle spiele, ob der betreffende Schornsteinfeger »nach § 27, Absatz 1 der Verordnung über das Schornsteinfegerwesen vom 28.7.1937«

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Dass nicht nur Falschaussagen vieler seiner Landsleute, sondern auch das um sich greifende ›Persilscheinwesen‹ zu jener ›Unlösbarkeit‹ beitrugen, hatte der Schriftsteller in den vorangegangenen Jahren keineswegs nur aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters heraus erlebt. Nicht zu Unrecht erkannten zahlreiche seiner Berufskollegen nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, dass Kästners Name ›viel bedeutete‹:³⁸⁷ Vom Ende des Krieges an erhielt er bis in die 1950er Jahre hinein immer neue Aufforderungen, entlastende Schreiben für in Deutschland gebliebene Kulturschaffende zu verfassen.³⁸⁸ Diesen ging er freilich nicht in jedem Fall nach: Wenn er die entsprechenden Personen nicht persönlich kannte, lehnte er die an ihn gerichteten Bitten durchaus ab.³⁸⁹ Seiner dezidierten Unterstützung konnten sich etwa Eberhard Keindorff und Werner Buhre versichern, die ihn bei seinen inoffiziellen literarischen Betätigungen während der nationalsozialistischen Herrschaftszeit unterstützt hatten.³⁹⁰ Doch auch dem ehemaligen NS-Filmintendanten Fritz Hippler stellte Kästner auf dessen Anfrage hin ein Entlastungsschreiben aus, in welchem er Hipplers Zutun bei seiner vorüberge-

zugleich auch »Feuerstättenbeschauer« gewesen sei. (Vgl. ebd., S. 177 f.) Über die rein definitorische Ebene kommt die Auseinandersetzung der Figuren mit ihren Tätigkeiten der Vorjahre, wie Kästner vorführt, jedoch nicht hinaus. 387 Letztere Formulierung findet sich in einem Brief Gunter Grolls an Kästner. Groll (1914 – 1981), seines Zeichens Schriftsteller, Kulturjournalist und einer der einflussreichsten Filmkritiker der Nachkriegszeit, bat Kästner im Zuge jener Feststellung darum, sich einer Unbedenklichkeitserklärung für den nach Kriegsende aus dem Universitätsdienst entlassenen Literatur- und Theaterwissenschaftler Artur Kutscher anzuschließen. Er betonte in diesem Zuge, dass Kästner mit seiner Unterschrift nicht nur Kutscher »einen Dienst erweisen« würde, »sondern auch der Münchener Universität und – alles in allem – der Gerechtigkeit, die auch hier einmal wieder nicht so recht funktionieren will.« Groll, Gunter an Erich Kästner. Brief vom 9.12.1946. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 388 Vgl. Hanuschek (2003), S. 352. Parallel dazu baten ihn verschiedene Emigranten, Gutachten für die Entschädigungsstellen aufzusetzen, um wenigstens einen kleinen Teil ihres verlorenen Vermögens erstattet zu bekommen; diese Bitte erfüllte Kästner beispielsweise Rudolf Arnheim, Richard Huelsenbeck, Hans Sahl, Helene Trier und Kadidja Wedekind. Vgl. ebd. 389 So teilte er etwa Groll als Antwort auf dessen Bitte, sich seinem Entlastungsschreiben für Artur Kutscher anzuschließen, mit, dass er Kutscher »gar nicht« kenne und es ihm daher »leider auch nicht möglich« sei, Grolls »Bittschrift [s]einen Namen zu geben.« Kästner, Erich an Gunter Groll. Brief vom 9.7.1947 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Nichtsdestotrotz führte Grolls Erklärung zum Erfolg und Kutschers Amtsenthebung wurde rückgängig gemacht. 390 Vgl. Hanuschek (2003), S. 353. Wie bereits dargelegt (vgl. Kapitel 3.1.2), hatte Kästner in jener Zeit unter Pseudonym gemeinsam mit dem Theaterschauspieler und Drehbuchautor Keindorff mehrere Theaterstücke verfasst; durch das Zutun des Publizisten Buhre konnte zudem, ebenfalls unter Pseudonym, die Theaterfassung des Unterhaltungsromans Drei Männer im Schnee herausgebracht werden.

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henden Einstellung als Drehbuchautor der UFA im Jahr 1942 bestätigte.³⁹¹ Darin heißt es: Ohne daß mir die damaligen Vorgänge, die schliesslich zu der Sondergenehmigung führten, näher bekannt sind, scheint in der Tat festzustehen, daß Dr. Hippler daran entscheidend teilhatte. Als Ende 1942 Hitler diese Erlaubnis widerrief und die beiden Filme »Münchhausen« und »Der kleine Grenzverkehr«, deren Autor ich bin, ohne jede Autorenangabe erschienen, war Dr. Hipplers Position dadurch – ich kann natürlich nicht beurteilen, ob dadurch allein – erschüttert.³⁹²

Ohne Frage ist Kästners 1947 verfasstes Schreiben von einem emphatischen Plädoyer für Hippler weit entfernt. Gleichwohl ist nicht in Abrede zu stellen, dass seine ›Unbedenklichkeitserklärung‹ einem Mann galt, der schon als 18-jähriger der NSDAP beigetreten war, ab 1936 im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gearbeitet hatte und drei Jahre später von Goebbels zum Leiter der Filmabteilung ernannt worden war, bevor er vom Februar 1942 bis zum Juni 1943 die Position des Reichsfilmintendanten innehatte.³⁹³ Dass Kästners Bereitschaft, die Erklärung zu verfassen, von Beginn an auf strategische Erwägungen hinsichtlich seiner eigenen Karriere zurückging, ist nicht auszuschließen. Denn auch er ließ sich, wenige Jahre später, vice versa von Hippler bestätigen, dass er nie die Mitgliedschaft in einer der Einzelkammern der Reichskulturkammer erworben hatte und lediglich im Falle der beiden genannten Filmprojekte, unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen, Drehbuchaufträge erhalten habe.³⁹⁴ Hipplers NS-Karriere ist wohlgemerkt nicht die einzige, die Kästner in seinen öffentlichen Äußerungen nach 1945 nicht beanstandete. Auch die Fortsetzung der beruflichen Lauf-

391 Siehe auch Kapitel 3.1.2. 392 Kästner, Erich: Unbedenklichkeitserklärung für Fritz Hippler vom 25. 3.1947. DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Darüber, ob tatsächlich Kästners Einstellung als Drehbuchautor oder Hipplers Alkoholsucht zu dessen schlussendlicher Entlassung aus seiner Position als Filmintendant geführt hatten, ist die Forschung geteilter Meinung. Vgl. dazu Zonneveld (2012), S. 279. 393 Vgl. ebd. 394 Hipplers Schreiben vom 16. November 1953 fügte Kästners Anwalt Christoph Breithaupt dem im Januar 1954 gestellten Antrag des Schriftstellers auf Wiedergutmachungszahlungen bei. Besagter Antrag machte Kästner vor dem Hintergrund seines Berufsverbotes in der NS-Zeit als Verfolgten des Regimes geltend. Siehe Breithaupt, Christoph: Antrag auf Zuerkennung von Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen. Schreiben vom 29.1.1954. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich / Wiedergutmachung. HS.2002.0154.

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bahnen manch anderer Kulturschaffender in seinem engeren Arbeitsumfeld – man denke etwa an den Mitarbeiterstab des Pinguin³⁹⁵ – ließ er unkommentiert. Es finden sich allerdings auch einige Texte, in denen der Schriftsteller sein Wissen über die personellen Kontinuitäten im Kulturbetrieb nach 1945 – mehr oder weniger explizit – zum Ausdruck brachte. In diesem Zusammenhang lohnt es etwa, noch einmal auf die bereits im vorherigen Kapitel betrachtete Glosse Gespräch mit Zwergen zurückzukommen und die hierin dargestellte Zwergenschar einer näheren Betrachtung zu unterziehen – repräsentiert sie doch die Gruppe jener Akteure, die am Wiederaufbau des kulturellen Feldes und damit zugleich an der von den westlichen Besatzern fokussierten Demokratisierung Deutschlands mitarbeiteten. Schon Görtz und Sarkowicz merkten im Band ihrer Kästner’schen Werkausgabe, in dem der entsprechende Beitrag abgedruckt ist, an, dass der Zwerg »Professor Enoch Kleiner« den 1933 emigrierten Dr. Kurt Enoch als Namensvorbild gehabt haben könne – einen deutsch-jüdischen Verleger, der in der Weimarer Republik das Erstlingswerk Klaus Manns herausgebracht hatte und mit dem Kästner Ende der 1920er Jahre in Vertragsverhandlungen stand.³⁹⁶ Indes blieb die Kommentierung der übrigen Zwergen-Namen vonseiten der beiden Herausgeber aus. Dabei legt die nähere Betrachtung des Textes die Vermutung nahe, dass Kästner mit jeder einzelnen seiner märchenhaften Figuren auf prominente Persönlichkeiten seiner Zeit anspielte. So lässt der Name »Giselher Winzig«³⁹⁷ an den von Goebbels verehrten Autor und Journalisten Giselher Wirsing denken, der während der NS-Zeit sowohl zum Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten als auch zum Hauptsturmführer der SS avanciert war.³⁹⁸ Hinter »Gustav Knäbchen«³⁹⁹ könnte sich eine 395 Vgl. Kapitel 3.2.1. Exemplarisch sei zudem noch auf den Stab der Verfilmungen seiner Werke in den 1950er Jahren verwiesen, der ebenfalls von personellen Kontinuitäten durchzogen war. Schauspieler wie Paul Dahlke oder Paul Klinger, die jeweils gleich in zwei Kästner-Filmen agierten, hatten beispielsweise wenige Jahre zuvor in verschiedenen NS-ideologisch gefärbten beziehungsweise propagandistischen Filmen mitgewirkt: Dahlke, der im [F]liegende[n] Klassenzimmer (1954) und in Drei Männer im Schnee (1955) Hauptrollen übernahm, war vor 1945 unter anderem in Filmen wie Verräter (1936), …reitet für Deutschland (1941) und Venus vor Gericht (1941) zu sehen gewesen. Klinger, der nach Kriegsende in Pünktchen und Anton (1953) und im [F]liegende[n] Klassenzimmer (1954) agierte, hatte in der NS-Zeit unter anderem eine Sprecherrolle in dem dokumentarischen Propagandastreifen Ewiger Wald (1936) und Hauptrollen in den Veit-Harlan-Filmen Die goldene Stadt (1942) und Immensee (1943) übernommen. 396 Vgl. Görtz und Sarkowicz in EKW VI, S. 527. 397 Kästner, Erich: Gespräch mit Zwergen [NZ, 11. 3.1946]. In: EKW VI, S. 524 – 530, hier S. 527. 398 1948, also zwei Jahre nachdem Kästner seine Glosse verfasste, sollte Wirsing im Rahmen der Entnazifizierungsprozesse als ›Mitläufer‹ eingestuft werden und die populäre evangelisch-konservative Wochenzeitung Christ und Welt gründen. 399 EKW VI, S. 527.

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Anspielung auf den nach 1945 von Kästner kritisierten Psychiater Carl Gustav Jung verbergen.⁴⁰⁰ »Rudi Zwerger[s]«⁴⁰¹ Name erinnert augenfällig an den des NS›Reichsgeologen‹ Rudolf von Zwerger⁴⁰² und die Namensgebung »Doktor Daum[s]«⁴⁰³ lässt sich als Rekurs auf den NS-Lagerarzt Reinhold Daum deuten, der ab 1941 als Leiter des Gauamtes für Volksgesundheit Koblenz / Trier fungierte.⁴⁰⁴ Selbiges Muster zeichnet sich im Übrigen auch im Hinblick auf die beiden ferner erwähnten Zwerge ab, die noch keine Arbeitserlaubnis erhalten haben: Hinter dem Namen »Dr. Erwin Heinzelmann«⁴⁰⁵ verbirgt sich mutmaßlich der evangelische Theologe Gerhard Heinzelmann (während der NS-Zeit: Lehrstuhlinhaber an der Universität Halle und ›Förderndes Mitglied‹ der SS), während die Benennung des siebten Zwerges, »Friedrich Wilhelm Gnom«⁴⁰⁶ auf den Autor und Journalisten Friedrich Wilhelm Hymmen rekurrieren könnte, der ab 1937 stellvertretender Hauptschriftleiter der von Baldur von Schirach herausgegebenen Zeitschrift Wille und Macht war.⁴⁰⁷ Folgt man jenen Mutmaßungen über die potentiellen Namensvorbilder der Zwergenschar, dann fällt auf, dass Kästner sich nicht nur vorrangig an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens orientierte, deren Namen als solche eine wortspielerische Verfremdung hin zum Zwergen-Namen begünstigten.⁴⁰⁸ Er wählte – 400 Vgl. auch Kapitel 4.1.2. 401 EKW VI, S. 527. 402 Von Zwerger, der im letzten Kriegsjahr verstarb, hatte sich 1934 als Mitarbeiter der Preußischen Geologischen Landesanstalt an der geophysikalischen ›Reichsaufnahme‹ beteiligt. Im Zweiten Weltkrieg war er als Geophysiker unter anderem in Polen, Russland, Österreich, Ungarn und auf dem Balkan tätig. 403 EKW VI, S. 528. 404 Daum, der im KZ Osthofen als Arzt tätig war und sich vermutlich 1945 das Leben nahm, war bereits in der Anfangszeit der NS-Diktatur Abgeordneter des hessischen Landtags gewesen und 1939 zum SS-Obersturmbannführer befördert worden. 405 EKW VI, S. 526. 406 Ebd. 407 Nach dem Ende der NS-Zeit war Heinzelmann weiterhin in seiner bisherigen Position an der Universität Halle tätig; Hymmen, der 1942 aufgrund einer Augenverletzung aus dem Kriegsdienst entlassen worden war, betätigte sich, auch über die bedingungslose Kapitulation Deutschlands hinaus, als freier Schriftsteller und avancierte zum Pressereferenten des Bundes der Kriegsblinden. 408 Wohlgemerkt gehen seine Anspielungen nicht dezidiert über die Namensebene hinaus, denn die Mehrzahl der betreffenden Zwerge scheint mit keinen weiteren Charakteristika versehen zu sein, die explizit an die entsprechenden realen Personen erinnern. Einzig die Bemerkung, Giselher Winzig habe »eine unglückliche Liebe zur Allegorie« (EKW VI, S. 527) lässt sich mutmaßlich als Seitenhieb auf den literarischen Stil Wirsings begreifen. Gleichwohl dürfte es nicht dem Zufall geschuldet sein, dass ausgerechnet Doktor Daum, dessen vermutliches Namensvorbild unmittelbar an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt war, die Rolle des ›reaktionären‹ Zwerges einnimmt. Ebenso wenig erstaunt es, dass Kästner das engste Verhältnis zu dem auf den Namen eines

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mit Ausnahme Kurt Enochs – auch durchweg Akteure, die entweder für eine gewisse Zeit eine affirmative Haltung zu spezifischen Aspekten des Nationalsozialismus eingenommen oder sich gar in gehobenen Positionen innerhalb des NS-Staates befunden hatten. Dass er jene ›Größen‹, die der zeitgenössischen Leserschaft der Neue[n] Zeitung namentlich bekannt gewesen sein dürften, auf semantischer Ebene in Zwerge verwandelt, lässt sich durchaus als persiflierende Anspielung auf die mit dem erfolgten Systemwechsel einhergegangene ›Degradierung‹ zahlreicher Akteure des ›Dritten Reiches‹ erfassen. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass die von Kästner kreierten Figuren in seiner Glosse nichtsdestotrotz mehrheitlich eine Anstellung gefunden haben. Abzüglich der beiden Zwerge, die noch auf ihre Arbeitserlaubnis warten, setzt sich der fiktive Mitarbeiterstab, der dem Journalisten zugeteilt wurde, somit – im übertragenen Sinne – aus einem jüdischen Emigranten und vier (mindestens zeitweilig) NS-affinen Akteuren zusammen.⁴⁰⁹ Dieser Lesart folgend entpuppt sich der Feuilletonbeitrag, über seine bereits herausgestellte Stoßrichtung als Plädoyer für die strikte Abkehr von antidemokratischen Denk- und Bewertungsmustern hinaus, als scharfsinnige Satire auf den Kulturbetrieb der Nachkriegszeit und die Vielzahl von ihm inhärenten personellen Kontinuitäten. An einigen Akteuren des kulturellen Feldes, die nach Kriegsende an ihre früheren Erfolge anknüpfen konnten oder dies zumindest vehement versuchten, übte Kästner indes auch ohne jedwede Namensverschleierung Kritik. Der Betrachtung wert ist in diesem Kontext beispielsweise sein bereits im November 1945 verfasster journalistischer Angriff auf den Schriftsteller und Anwalt Erich Ebermayer, der sich in der Weimarer Republik durch expressionistische Dramen und Novellen einen Namen gemacht hatte und dessen frühe Werke nach der Machtübernahme Hitlers großteils verboten worden waren. Gleichwohl hatte sich der Literat stets des Schutzes der Kanzlei des Führers gewiss sein können, als deren Leiter sein Cousin

Emigranten rekurrierenden Mitarbeiter Enoch Kleiner pflegt. Dieser bringt ihm in der vorliegenden Glosse nicht nur seine ›Bettlektüre‹ in Form des zitierten Leserbriefes; Kästner lässt ihn auch in seinem wenige Monate später veröffentlichten Feuilletonbeitrag Mein Wiedersehen mit Berlin erneut als seinen Begleiter und Gesprächspartner auftreten. Siehe Kästner, Erich: Mein Wiedersehen mit Berlin [NZ, 20.9.1946]. In: EKW VI, S. 566 – 571. 409 Ins Auge sticht angesichts dieser Deutung auch, dass sich die Mehrheit der für Kästner arbeitenden Zwerge durchaus im Sinne der Demokratisierungsbestrebungen der westlichen Besatzungsmächte positioniert. Mit Ausnahme Doktor Daums, der sich indirekt gegen einen radikalen Gesinnungswandel ausspricht, indem er beanstandet, dass der Schriftsteller »auf den erschütterten Idealen und zerbrochenen Träumen so vieler Landsleute auch noch herumtrampel[t]« (EKW VI, S. 528), lässt keine der Figuren auch nur den geringsten Verdacht daran aufkommen, jemals eine andere politische Ansicht als die nunmehr bekräftigte vertreten zu haben. Auf diese Weise gelesen, lässt sich die Glosse folglich auch als weiteres Beispiel für die Kästner’sche Kritik am Opportunismus vieler seiner Zeitgenossen gegenüber der Militärregierung begreifen.

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Philipp Bouhler fungierte. Neben Romanen und Theaterstücken hatte Ebermayer ab 1933 vor allem Filmdrehbücher verfasst und auf diesem Gebiet bei Goebbels hohes Ansehen genossen.⁴¹⁰ In der Neue[n] Zeitung charakterisierte Kästner seinen Kollegen, der sich nach 1945 selbst in der Reihe der ›inneren Emigranten‹ verortete,⁴¹¹ abwertend als »doppelseitige[n] Charakte[r]«.⁴¹² Wie er seinen Lesern verdeutlichte, hatte Ebermayer zwar »gelegentlich Schwierigkeiten« bei Buchveröffentlichungen gehabt, »jahrelang, manches riskierend, eine jüdische Sekretärin [beschäftigt]« und in den bald nach Kriegsende veröffentlichten Vorabdrucken seiner Tagebücher aus den Jahren 1932 bis 1939 geschildert, dass ihn die Bücherverbrennung mit tiefem Abscheu erfüllt habe.⁴¹³ Nichtsdestotrotz hatte er sich während des ›Dritten Reichs‹ durchaus auf seine Kontakte zur NS-Elite berufen, wenn es ihm und seiner Karriere zupass kam. Um dies zu belegen, griff Kästner auf eine Strategie zurück, die bereits bei der Betrachtung seiner Erwiderung auf C. G. Jungs Kollektivschuldvorwurf ins Auge gefallen ist: Er ließ ein Originaldokument aus der NS-Zeit für sich sprechen.⁴¹⁴ So druckte er einen der NZ-Redaktion zugegangenen Brief Ebermayers aus dem Jahr 1942 ab,⁴¹⁵ mit dem der Literat auf einen in der Krakauer Zeitung publizierten Verriss seines Romans Unter anderem Himmel (1940) reagiert

410 Vgl. weiterführend Baron, Bernhard M./Bayerische Staatsbibliothek: »Erich Ebermayer.« https:// www.literaturportal-bayern.de/autorenlexikon?task=lpbauthor.default&pnd=118528599 [letzter Zugriff: 11.11. 2016]. 411 Vgl. ebd. 412 Kästner, Erich: Ein Brief Erich Ebermayers. Ein politisches und sittliches Dokument. In: Die Neue Zeitung, 8.11.1945. Im Folgenden zitiert als Kästner (1945a). 413 Ebd. 414 Vgl. Kapitel 4.2.1. Ganz ähnlich verfuhr Kästner im Übrigen auch in seinem am 5. August 1946 publizierten NZ-Artikel Briefe in die Röhrchenstraße (EKW VI, S. 558 – 563), in dem er auf die Auflösung, Umbenennung und Gleichschaltung des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller zurückblickte. Hierin gab er unter anderem die Stellungnahmen verschiedener deutscher Literaten wieder, die in den Anfängen des ›Dritten Reichs‹ auf einen Aufruf des damaligen Leiters des Zentralverlag[s] der NSDAP, Gustav Christian Rassy, reagiert hatten. Dieser hatte, der Zusammenfassung Kästners zufolge, im Oktober 1933 »um gefällige Rückäußerung zu dem im Ausland kursierenden Gerücht [gebeten], daß im Neuen Deutschland die Freiheit des Geistes erschlagen worden sei und die Dichter, wenn auch nur bildlich gesprochen, mit einem Maulkorb herumliefen.« (Ebd., S. 558) Wie Kästner mit Hilfe der Antwortschreiben Ludwig Finkhs, Paul Oscar Höckers, Werner Jansens, Max Jungnickels und Hanns Johsts nachwies, bestätigten alle Genannten emphatisch die Geistesfreiheit, die im NS-Regime herrsche. Während Höcker, Jungnickel und Jansen das Ende des ›Dritten Reichs‹ nicht mehr erlebten, sollten sich Finkh und Jost auch im Nachhinein nicht kritisch mit ihrer Vergangenheit im NS-Deutschland auseinandersetzen – beiden gelang es allerdings auch nicht mehr, erfolgreich an ihre früheren Karrieren anzuknüpfen. 415 Auf welchem Weg der Brief an die Redaktion gelangte, ist nicht bekannt. Die Weiterleitung des Dokuments an diesen Adressatenkreis dürfte jedoch dadurch motiviert gewesen sein, dass die NZ zuvor Texte Ebermayers abgedruckt hatte.

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hatte. In besagtem Schreiben klärte Ebermayer Anton Schnack,⁴¹⁶ den Verfasser der Kritik, darüber auf, dass seinem Buch »im Hause des Reichsmarschalls, des Ministers Dr. Goebbels,« und »des Reichsleiters Bouhler, [s]eines Vetters, [….] freudigst zugestimmt« worden sei.⁴¹⁷ Auch ließ er nicht unerwähnt, dass er »zuweilen einen großen und wichtigen Film im Auftrag des Ministers« schreibe.⁴¹⁸ Zum Ende seines mit »Heil Hitler!« unterzeichneten Schreibens betonte Ebermayer schließlich, dass es ihn freuen würde, wenn seine Zeilen ihren Adressaten »nachdenklicher und verantwortungsvoller gegenüber [seinem] Handwerk machen könnten.«⁴¹⁹ Dieser unmissverständlichen Einschüchterungsgeste begegnete Kästner vor dem Hintergrund der jüngsten Tagebuch-Veröffentlichungen Ebermayers mit besonderer Ablehnung: Er resümierte, man könne sich zahllose Menschen vorstellen, welche die Bücherverbrennung angewidert hat, und leider auch andere, die imstande gewesen wären, einen ähnlichen Brief zu schreiben, wie den, den wir faksimilieren. Aber sich jemanden, der beides fertig bringt, vorzustellen, das ist ein Kunststück. Solche Wendigkeit verletzt nicht nur unser sittliches Empfinden, sondern attackiert auch den guten Geschmack!⁴²⁰

Dass sich die Empörung der Allgemeinheit über die von Kästner öffentlich gemachte ›Wendigkeit‹ des Literaten in Grenzen hielt, demonstriert beispiellos dessen Karriereverlauf in den folgenden Jahrzehnten: Nach Kriegsende war Ebermayer nicht nur als Anwalt im Rahmen der Entnazifizierungsprozesse tätig, sondern zum Teil auf frappierend ähnliche Weisen wie Kästner literarisch aktiv: Seine Tagebücher aus der NS-Zeit verkauften sich erfolgreich, er brachte Neuauflagen seiner vor 1933 erschienenen literarischen Werke heraus und verfasste Drehbücher für populäre Filme wie Canaris (1954), Die Mädels vom Immenhof (1955) oder Der blaue Nachtfalter (1959).

416 In dem Brief wird dieser lediglich als »Herr Schnack« adressiert; aufgrund des Publikationsortes ist aber davon auszugehen, dass von dem Schriftsteller Anton Schnack (1892 – 1973) die Rede ist, der in der NS-Zeit mehr als 50 Artikel für das ab 1939 von den Nationalsozialisten herausgegebene Blatt verfasste, sich nach dem Ende des NS-Regimes aber, genau wie Ebermayer, als ›innerer Emigrant‹ verstand. Vgl. dazu auch Kohlhepp, Björn: Walter Bloem und die Brüder Schnack: Rienecks Dichter und die Nazis (Mainpost, 12.10. 2011). https://www.mainpost.de/regional/main-spessart/wal ter-bloem-und-die-brueder-schnack-rienecks-dichter-und-die-nazis-art-6371574 [letzter Zugriff: 11.11. 2016]. 417 Ebermayer, Erich an »Herrn Schnack«. Brief vom 6. 5.1942 zit. n. Kästner (1945a). 418 Ebermayer, Erich zit. n. ebd. 419 Ebermayer, Erich zit. n. ebd. 420 Ebd.

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Langfristigere Bekanntheit als die Kritik an Ebermayer erlangte eine andere Kästner’sche Attacke, die am 29. Dezember 1949 unter dem Titel Marktanalyse in der Stuttgarter Zeitung publiziert wurde und nur wenige Sätze umfasst: Der Kunde zur Gemüsefrau: »Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger?« Die Gemüsefrau zum Kunden: »Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.«⁴²¹

Die Pointe dieses viel zitierten, in seiner Aufmachung an einen Witz erinnernden Textes beruht nicht allein darauf, dass Kästner den als Überschrift verwendeten ökonomischen Terminus wörtlich nimmt, indem er eine den literarischen Markt betreffende Beurteilung an einen Gemüsestand verlagert. Er lässt die Verkäuferin auch mit einem bildungsbürgerlichen Impetus sprechen, der mitnichten an den üblichen Jargon auf einem Wochenmarkt erinnert, sondern an gehobene ›Salongespräche‹ über Literatur – Gespräche, wie Kästner selbst sie nur allzu gut kannte. Dass ausgerechnet Benn und Jünger Gegenstand des Dialogs sind, dürfte in mehrfacher Hinsicht nicht dem Zufall geschuldet sein. Betrachtet man die Stellungen der Autoren im literarischen Feld der jungen Bundesrepublik, dann zeigt sich, dass beide Ende der 1940er Jahre einen enormen Aufschwung ihrer Karrieren erlebten. Benn hatte allein im Laufe des Jahres 1949 vier literarische und essayistische Werke (Drei alte Männer, Der Ptolemäer, Ausdruckswelt und Trunkene Flut) herausgebracht. Jünger veröffentlichte im selben Jahr seinen utopischen Roman Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt und sein Kriegstagebuch Strahlungen. Jeder der beiden fand zu dieser Zeit eine immense Beachtung in den Feuilletons – und nicht von ungefähr legt Kästner seiner Marktfrau, neben einer Anspielung auf die Erzählsprache Jüngers,⁴²² mindestens einen expliziten Verweis auf die zeitgenössische Rezeption Benns in den Mund: Im Juli 1949, und somit nur wenige Monate vor der Veröffentlichung der Marktanalyse, war der Autor in der Neuen Zürcher Zeitung von Ferdinand Lion wörtlich zum »kalten, zerebralen Magier« ernannt worden, »in [dem] Berlin […] seine Stimme [erhebe]«.⁴²³

421 Kästner, Erich: Marktanalyse [1949]. In: EKW II, S. 247. 422 Kästners Formulierung greift explizit das Vokabular des Jünger’schen Romans Heliopolis auf, in dem unter anderem in bedeutungsschwerem Ton von »Kräfte[n] des Demos, des Goldes, des luziden Wissens« und »kristallinisch[en]« Mustern auf einer Tischplatte aus Vulkangestein die Rede ist. Jünger, Ernst: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt. Tübingen 1949, S. 314 u. 436. 423 Lion, Ferdinand zit. n. Dyck, Joachim: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929 – 1949. Göttingen 2006, S. 404. Ein direkter Rekurs auf eine zeitgenössische Jünger-Besprechung konnte bislang nicht nachgewiesen werden, was aber nicht ausschließt, dass auch die dem Autor zugeschriebene prätentiöse »kristallinische Luzidität« nicht nur seinem jüngsten Roman, sondern auch einer Feuilletonrezension aus dem besagten Jahr entlehnt sein könnte.

4.2 Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes

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Kästners Text lässt sich folglich ohne Weiteres als Kritik an der lobenden Fokussierung der kulturellen Öffentlichkeit auf die beiden Literaten lesen.⁴²⁴ Seine Distanzierung allein darauf zurückzuführen, dass er den literarischen Ästhetiken Benns und Jüngers angesichts seiner eigenen neusachlich geprägten Ideale massenund gegenwartsbezogenen Schreibens wenig abgewinnen konnte, griffe jedoch zu kurz.Vielmehr scheinen auch die Position und Rezeption der Autoren in der NS-Zeit bei seiner Auswahl eine Rolle gespielt zu haben. Bereits in seinem Artikel Die Schuld und die Schulden aus dem Jahr 1945 hatte Kästner sich als in Deutschland gebliebener Beobachter und Kenner des nationalsozialistischen Kulturbetriebes ausgewiesen, indem er betonte, »naturgemäß einiges« von seinen »engeren Berufskollegen und von den deutschen Künstlern überhaupt« zu verstehen: »Ich weiß etliches über ihre Schuld und ihre Schuldlosigkeit im Dritten Reich.«⁴²⁵ Mit diesem Habitus des ›Wissenden‹ urteilte er auch über die Karriereverläufe Benns und Jüngers. Obgleich beide Schriftsteller sich im Laufe der NS-Zeit nachweislich vom Nationalsozialismus distanziert hatten, war Kästner durchaus präsent, in welchem Maße Jünger für sein grundsätzlich kriegsaffines und in großen Teilen anti-demokratisches Werk In Stahlgewittern (1920) von der rechten Presse und der NS-Elite verehrt worden war.⁴²⁶ Auch war ihm wohlbekannt, dass Benn kurz nach der Machtübernahme Hitlers den kommissarischen Vorsitz der Sektion für Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste eingenommen und eine Loyalitätsbekundung zum ›Dritten Reich‹ verfasst hatte, die die Mitglieder der Sektion unter Androhung ihres Ausschlusses unterschreiben sollten. Zudem hatte sich Benn 1933 im Rundfunk öffentlich gegen seine emigrierten Kollegen und für 424 Diese Facette seiner Kritik griff Kästner in seinem im Folgejahr publizierten Aufsatz Die literarische Provinz (EKW II, S. 248 – 252) noch einmal auf. Darin konstatierte er, das allgemeine Desinteresse an den Werken der Exilliteraten bemängelnd: »Während man, und zwar seit Monaten, keine Zeitung aufschlagen kann, ohne die mindestens dreispaltige Elefantiasis unserer Redakteure, die Ernst Jüngerei, zu bestaunen, werden bedeutende Bücher aus der Emigration meist am Rande ›erledigt‹.« EKW II, S. 250. 425 Kästner, Erich: Die Schuld und die Schulden [NZ, 3.12.1945]. In: EKW VI, S. 500 – 505, hier S. 503. Vgl. dazu auch Kapitel 4.1.2. 426 Goebbels hatte sich bereits 1929 in seinen Tagebüchern begeistert über das Werk, in das Jünger seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg einfließen ließ, geäußert und auch Hitler galt als großer Bewunderer der Stahlgewitter. Allerdings wahrte Jünger eine gewisse Distanz zum Nationalsozialismus und lehnte etwa den ihm 1933 angebotenen Sitz in der Abteilung für Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste ab. Sein Roman Auf den Marmorklippen (1939) wurde vonseiten der Forschung sogar manches Mal als Dokument des Widerstandes gedeutet: In der Darstellungsweise der dort auftretenden Figur des Oberförsters machte man eine polemische Anspielung auf Hitler aus. Nichtsdestotrotz wurde nach 1945 intensiv (und mit unterschiedlichen Ergebnissen) diskutiert, ob man Jünger als intellektuellen Wegbereiter des NS-Regimes begreifen müsse. Vgl. dazu weiterführend Amos, Thomas: Ernst Jünger. Reinbek bei Hamburg 2011, S. 90 – 118.

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den NS-Staat ausgesprochen.⁴²⁷ Welch großen Anstoß Kästner daran nahm, dass die Mehrheit der Literaturkritiker nach 1945 genau wie er über dieses Wissen verfügte und die beiden Schriftsteller trotzdem feierte, lässt sich anhand eines Briefes belegen, den er nur wenige Wochen vor der Veröffentlichung seiner Marktanalyse schrieb. Darin berichtete er dem zehn Jahre zuvor in die USA emigrierten Kritiker und Essayisten Erich Franzen mit folgenden Worten von den zeitgenössischen Entwicklungen des Literaturbetriebes in seinem Heimatland: Wenn Sie hier wären und den Rummel erlebten, der um so Leute wie Ernst Jünger, Gottfried Benn und Hans Carossa⁴²⁸ gemacht wird, könnten wir die Köpfe im Duett schütteln. Hermann Kesten und Alfred Polgar, die gerade in München sind, haben mit mir des langen und breiten über solche Dinge geredet und Kopf geschüttelt. Die Hintergründe dieser Angelegenheiten mögen verschiedenster Art sein, bestimmt spielen Snobismus und tierischer Ernst mit. Auch das eigene schlechte Gewissen über das Versagen im Dritten Reich wirkt mit. Denn wenn man den Militaristen Jünger, der nun einen neuen Gott sucht, und Gottfried Benn, der die Intellektuellen beschimpft und die Barbaren gepriesen hat, heute lobt, so entlastet und denazifiziert man eben sein eigenes Gewissen mit.⁴²⁹

Liest man die Marktanalyse vor dem Hintergrund dieser Zeilen, dann fügt sie sich – wenn auch implizit – in die Reihe jener Texte ein, in denen der Schriftsteller Kulturschaffende an den Pranger stellte, deren Karriereweg sich durch verschieden-

427 Zudem fungierte Benn ab Januar 1934 als Vizepräsident der Union nationaler Schriftsteller, in die sich die ehemalige deutsche Sektion des PEN-Clubs nach ihrem Austritt aus dem internationalen PEN umbenannt hatte. (Vgl. auch Kapitel 3.2.5.) Aufgrund der modernen Ästhetik seiner Werke wurde er aber alsbald von der NS-Presse angegriffen und distanzierte sich, beginnend mit dem Röhm-Putsch im Juni 1934, zunehmend vom Nationalsozialismus. Vgl. dazu weiterführend Emmerich, Wolfgang: Gottfried Benn. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 81 – 111. 428 Auch der Schriftsteller Hans Carossa (1878 – 1956), den Kästner hier in eine Reihe mit Benn und Jünger stellt, erfreute sich in den ersten Nachkriegsjahren großer Popularität. Zuvor hatte er das NSRegime, trotz seiner prinzipiellen Distanz gegenüber dessen Ideologie, dezidiert für sich zu nutzen gewusst: Er war einer der meistgeförderten Autoren des ›Dritten Reiches‹ gewesen und von Hitler als einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller bezeichnet worden. Siehe weiterführend auch Sarkowicz, Hans und Alfred Mentzer: »Carossa, Hans«. In: Literatur in Nazideutschland. Ein biografisches Lexikon. 2. Auflage. Hamburg 2002, S. 131 – 135. 429 Kästner, Erich an Erich Franzen, 12.11.1949. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 148 f. Nichtöffentliche Kästner’sche Äußerungen dieser Art lassen sich, wie bereits Pfanner aufzeigte, auch den PEN-Korrespondenzen entnehmen. So plädierte Kästner etwa angesichts der Laufbahnen Gerd Gaisers und Bernard von Brentanos im NS-Deutschland gegen deren Aufnahme in den PEN und machte aus demselben Grund seine Ablehnung gegenüber Arnolt Bronnen deutlich. Vgl. Pfanner (2004), S. 69.

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artige Kontinuitäten auszeichnete und die, dessen ungeachtet, große Unterstützung innerhalb des kulturellen Feldes erfuhren. Auffällig ist, dass sich Kästner nicht nur über einige seiner engeren Berufskollegen echauffierte. Anlässlich eines Auftrittes der Regensburger Domspatzen im September 1946⁴³⁰ nahm er beispielsweise Anstoß an der Laufbahn Theobald Schrems’. Der bayerische Domkapellmeister, der bereits seit 1924 als Leiter des bekannten Knabenchores fungiert hatte, sei, so urteilte Kästner polemisch in der NZ, »in jeder Beziehung der geeignete Mann, eines Tages die ›Geschichte der Domspatzen‹ zu schreiben«.⁴³¹ »[B]esonders interessant zu werden«⁴³² verspräche das Kapitel, das sich mit den Geschicken des Chores im ›Dritten Reich‹ befassen würde. Wie Kästner – wahrheitsgemäß – skizziert, hatte Schrems in jenen Jahren, unterstützt durch Hitler, nicht nur Chorreisen nach Argentinien und Brasilien sowie eine »Balkantournee« unternehmen können, um »für die ›ganze Größe der nationalen Bewegung‹ zu werben«.⁴³³ Im Jahr 1938 hatte er zudem den Aufsatz Der Chordirigent als Führungspersönlichkeit verfasst, in welchem er das von ihm verherrlichte ›Führerprinzip‹ auf das Gebiet der Musik übertrug.⁴³⁴ Von der öffentlichen Darbietung religiöser Chorstücke war der Domkapellmeister indes, auf Wunsch einflussreicher Nationalsozialisten, mehrfach widerstandslos abgerückt.⁴³⁵ Sich selbst abermals in der überlegenen Position des in Deutschland gebliebenen Beobachters inszenierend, signalisiert Kästner auch in diesem Arti-

430 Wie Kästner ausführt, war der Chor in jenem Monat anlässlich der Aufführung des amerikanischen Films Going my way (1944) in München aufgetreten. In besagtem Film hatte Bing Crosby die Rolle eines katholischen Priesters gespielt. Vgl. Kästner, Erich: Spatzen und höhere Tiere [NZ, 9.9. 1946]. In: EKW VI, S. 563 – 565, hier S. 563. 431 Ebd. 432 Ebd., S. 563 f. 433 Ebd., S. 564 u. 565. Der heutigen Quellenlage gemäß war Schrems bereits 1933 erstmals mit seinem Chor vor dem ›Führer‹ der NSDAP aufgetreten und hatte den »Wach auf«-Chor aus der Oper Die Meistersinger von Nürnberg des von Hitler verehrten Komponisten Richard Wagner dargeboten. Schon vor diesem Auftritt hatte er in einem Brief an den damaligen Oberbürgermeister der Stadt Regensburg zum Ausdruck gebracht, dass der Chor seine innere Verbundenheit mit dem ›Führer‹ nach außen tragen wolle. Neben den von Kästner erwähnten Auslandstourneen waren die Regensburger Domspatzen unter anderem 1938 auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg und ein Jahr darauf in Veit Harlans Film Das unsterbliche Herz aufgetreten. Vgl. Werner, Robert: Die Regensburger Domspatzen. Hitlers liebster Knabenchor (Regensburg digital, 22.10. 2012). http://www. regensburg-digital.de/hitlers-liebster-knabenchor/22102012/ [letzter Zugriff: 9.11. 2016]. 434 Vgl. EKW VI, S. 564 f. 435 Vgl. ebd., S. 565. Schrems, der trotz seiner Verehrung für Hitler kein Parteimitglied gewesen war, wollte den Umstand, dass der Domchor in der NS-Zeit auch religiöse Lieder dargeboten hatte, nach Kriegsende als versteckte Widerstandshandlung verstanden wissen. Für seine Arbeit erntete er weiterhin Anerkennung. Vgl. Werner (2016).

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kel, genau über die Vorgänge im Kulturbetrieb des NS-Regimes Bescheid zu wissen: Nachdem er die obigen Fakten über Schrems dargelegt hat, resümiert er, nahezu verschwörerisch, »[e]s ließe sich noch manches erzählen« – er wolle »dem berufenen Chronisten« jedoch »nicht vorgreifen«.⁴³⁶ Betonte der Schriftsteller im Falle Schrems’ noch süffisant, sich eines »auffallend milden und gemäßigten Tons befleißigt« zu haben, da man nach »Spatzen nicht mit Kanonenkugeln schießen« solle,⁴³⁷ so galten zwei weitere seiner Angriffe auf Kulturschaffende, die nun eingehender betrachtet werden sollen, alles andere als ›kleinen Tieren‹. In beiden Fällen handelte es sich um überaus prominente Akteure der Filmbranche – also jenes Bereichs des nationalsozialistischen Kulturapparats, in den Kästner vor dem Hintergrund seiner zeitweiligen Tätigkeit für die UFA besonders intensive Einblicke gehabt hatte⁴³⁸ und der sich nach 1945 durch einen besonders hohen Grad an personellen Kontinuitäten auszeichnete.⁴³⁹ Der erste der Texte, Politik und Liebe, erschien in der NZ vom 12. November 1945 und setzt sich mit der Regisseurin und Schauspielerin Leni Riefenstahl auseinander. Im Gegensatz zu vielen anderen Akteuren des kulturellen Feldes konnte sich Riefenstahl nach Kriegsende nicht ohne weiteres vom Nationalsozialismus distanzieren, da sie im Inund Ausland viel zu stark mit dem Regime identifiziert wurde: Zum einen hatte sie mit ihrer ›Reichsparteitagstrilogie‹⁴⁴⁰ (1933 – 1935) und ihrer Dokumentation Olympia (1938) überaus bedeutende und bekannte Propagandafilme des ›Dritten Reiches‹ vorgelegt. Zum anderen war sie während der vergangenen zwölf Jahre (nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen öffentlichen Sympathiebekundungen) als glühende Verehrerin und persönliche Freundin Hitlers wahrgenommen worden.⁴⁴¹ Vor diesem Hintergrund musste sich die Filmemacherin ab 1945 zahlreichen Fragen zu ihrer Vergangenheit stellen; jeglichen Vorwurf, zur ideologischen Stärkung des Systems beigetragen zu haben, wies sie jedoch zeitlebens zurück.⁴⁴² Kästners Artikel, der in polemischem Grundton den Wahrheitsgehalt verschiedener Interviewäußerungen in Frage stellt, die Riefenstahl im ersten Nachkriegssommer abgab, setzt nicht unmittelbar bei der Haltung der Regisseurin zur

436 EKW VI, S. 565. 437 Ebd. 438 Vgl. auch Kapitel 3.1.2. 439 Vgl. dazu auch Wolfrum (2007), S. 160. 440 Diese umfasste die Filme Sieg des Glaubens (1933), Triumph des Willens (1934) sowie Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht (1935), die die Regisseurin jeweils während der Reichsparteitage der NSDAP in Nürnberg drehte. 441 Vgl. Trimborn, Jürgen: Riefenstahl. Eine deutsche Karriere. Berlin 2003. S. 381 u. 406. 442 Vgl. ebd., S. 405.

4.2 Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes

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NS-Politik an. Zum Aufhänger seiner Kritik wird stattdessen ihre öffentliche Erklärung, »nie die Geliebte Hitlers« gewesen zu sein.⁴⁴³ In den ersten zwei Dritteln seines Artikels beschränkt Kästner sich gänzlich darauf, diese Aussage (und damit verbunden auch Riefenstahls berufliche Fähigkeiten) auf verschiedene Weisen der Lächerlichkeit preiszugeben. Zum Beispiel stellt er die Frage in den Raum, warum die Filmemacherin, obschon nach ihren Angaben mit Hitler ›nichts gewesen sei‹, als »Regieanfängerin […] zum Filmdiktator während der Olympiade 1936«⁴⁴⁴ gemacht wurde. In diesem Zusammenhang hinterfragt er zudem, warum sie »fünf geschlagene Jahre« lang an ihrem letzten (zu jener Zeit noch unvollendeten) Filmprojekt Tiefland ⁴⁴⁵ drehen durfte: Frau Riefenstahl ging zu Außenaufnahmen nach Spanien; sie ging nach Tirol; sie ging ins Sanatorium; sie kam wieder und drehte weiter. Wenn das Dritte Reich wirklich tausend Jahre gedauert hätte, der Film ›Tiefland‹, das kann man ohne Übertreibung versichern, hätte bestimmt noch ein paar Jahre länger gedauert!⁴⁴⁶

Eine pauschale Distanzierung davon, dass es überhaupt erstrebenswert war, mit Unterstützung oder zumindest Billigung des NS-Regimes Filme zu produzieren, vollzieht Kästner in diesem Zusammenhang beachtlicherweise nicht. Er beanstandet nämlich auch, dass Riefenstahl »jahrelang im Ufagelände in Babelsberg die

443 Kästner, Erich: Politik und Liebe [NZ, 12.11.1945]. In: EKW VI, S. 489 – 493, hier S. 490. Wenngleich das spezifische Interview Riefenstahls mit einem Vertreter der Agence France-Presse, von dem Kästner in seinem Beitrag spricht, nicht ausfindig gemacht werden konnte, ist davon auszugehen, dass der Schriftsteller bei den Aussagen, die er der Regisseurin zuschreibt, nicht übertreibt. Immerhin decken sich diese augenfällig mit Trimborns Ausführungen über Riefenstahls retrospektive Stellungnahmen über Hitler und das NS-Regime. Vgl. dazu etwa Trimborn (2003), S. 384 u. 411. 444 EKW VI, S. 490. Hinsichtlich Kästners Zuschreibung der »Regieanfängerin« ist anzumerken, dass Riefenstahl bereits 1932 durch ihr Debüt Das blaue Licht große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Jörn Glasenapp zufolge lässt sich dieser Erstling als bedeutendster deutscher Bergfilm verorten. Vgl. Glasenapp, Jörn: »Riefenstahl-Renaissance«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 214 – 215, hier S. 214. 445 In der Tat erstreckte sich die Zeitspanne, in der Riefenstahl an verschiedenen Drehorten in Deutschland und in Prag Aufnahmen für ihre Verfilmung von Eugen d’Alberts gleichnamiger Oper machte, über die Jahre 1940 – 1944. Das ungeschnittene Filmmaterial wurde nach Kriegsende von der französischen Besatzungsmacht bis 1953 unter Verschluss gehalten. Nach seiner Freigabe konnte es jedoch von der Regisseurin weiterbearbeitet und schließlich 1954 (ergo: neun Jahre, nachdem Kästner seinen Artikel verfasst hatte) zur Uraufführung gebracht werden. Riefenstahl war bis dahin im Rahmen von insgesamt vier Spruchkammerverfahren dreimal als ›nicht belastet‹ und einmal als ›Mitläuferin‹ eingestuft worden. Vgl. dazu weiterführend Trimborn (2003), S. 318 – 361 sowie S. 399 – 404. 446 EKW VI, S. 490.

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große Mittelhalle [blockierte] […] und die anderen Regisseure, deren Filme in Monaten abgedreht werden mußten, […] samt dem Produktionschef sehen [konnten], wo sie blieben.«⁴⁴⁷ Dieser empathische Kommentar über die erschwerten Arbeitsbedingungen Filmschaffender, die nicht dieselbe Sonderstellung wie Riefenstahl genossen, bestätigt implizit, was schon Hanuschek über Kästners Umgang mit seiner eigenen Tätigkeit für die gleichgeschaltete UFA feststellte – zeigte der Schriftsteller nach 1945 doch kein Problembewusstsein dafür, selbst an einem zentralen Prestigeprojekt der NS-Filmindustrie partizipiert zu haben.⁴⁴⁸ Die Aporie zwischen überzeugungsmäßiger Regime-Gegnerschaft und künstlerischer Betätigung für das Regime blieb gleichsam ein ›blinder Fleck‹ in Kästners öffentlichen Selbstdarstellungen und seinen nachträglichen Aussagen über den nationalsozialistischen Kulturapparat. Bei den »anderen Regisseure[n]« verweilt der Artikel denn auch nicht länger, sondern widmet sich belächelnd der »weißhaarige[n] Mama« Riefenstahls, die der Presse gegenüber bestätigte, dass ihre Tochter keine »Beziehungen zu Hitler unterhalten habe« und zudem zu bedenken gab, dass der ›Führer‹ der NSDAP zehn Jahre lang »Eva Braun, die Sekretärin des Fotografen Hoffmann, als Freundin und später als Frau hatte.«⁴⁴⁹ Damit sei der Pressevertreter, wie Kästner – auf dem Zenit seiner Ironie angelangt – polemisiert, mundtot gemacht gewesen: »Denn wenn ein Mann zehn Jahre lang die Sekretärin eines Fotografen ›als Freundin und später als Frau‹ hat, scheidet er natürlich im freien Wettbewerb aus. Das sieht ein Kind ein.«⁴⁵⁰ Liest man den Beitrag lediglich bis zu diesem Abschnitt, dann könnte man fast zu dem Ergebnis gelangen, dass Kästner sich in die Riege jener ›Enthüllungsjournalisten‹ einreiht, die Riefenstahl nach dem Ende des Krieges erotische Beziehungen zu Hitler oder anderen NS-Funktionären nachsagten.⁴⁵¹ In der Tat wurden Berichterstattungen dieser Art damals weltweit gedruckt und auch von den deutschen Lesern rege rezipiert – so wenig man sich mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinandersetzen wollte, so sehr kultivierte man das Interesse an intimen Details über die ehemalige Führungsspitze des Landes.

447 Ebd. 448 Vgl. dazu Hanuschek (2003), S. 304. 449 EKW VI, S. 491. 450 Ebd. Aussagen Bertha Ida Riefenstahls über die Schüchternheit des »Führer[s]« (ebd.) gegenüber Frauen nimmt der Schriftsteller in diesem Zusammenhang zum Anlass, in zotigem Ton über etwaigen ›Aufklärungsunterricht‹ zu spekulieren, den der Reichsbildberichterstatter Heinrich Hoffmann Hitler anhand von Aktmalereien und Plastiken der von ihm bewunderten Künstler Adolf Ziegler und Josef Thorak gegeben haben könnte. Vgl. ebd. 451 Vgl. dazu Trimborn (2003), S. 411.

4.2 Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes

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An dieses ›Skandalreportertum‹, auf dessen Behauptungen Riefenstahl ebenso empfindlich reagierte wie auf die intimen Unterstellungen, die ihr 1948 in den gefälschten Eva-Braun-Tagebüchern gemacht werden sollten,⁴⁵² lehnt sich Kästner in seinem Artikel jedoch nur vordergründig an. Letzten Endes dienen ihm die verheißungsvolle Überschrift Politik und Liebe und die Spekulationen in den ersten Abschnitten des Textes vielmehr als Aufhänger, um das Interesse der Leser zu erregen und ihre Aufmerksamkeit danach auf ein in seinen Augen offenkundig fundamentaleres Thema zu lenken: Riefenstahls Distanzierung von jeglicher persönlichen Verstrickung in die NS-Ideologie. Im Anschluss an seine Polemik über die »Nicht-Geliebt[e]«⁴⁵³ Hitlers leitet der Schriftsteller zu der Bemerkung über, diese sei »nicht nur moralisch, sondern auch politisch ohne Makel«.⁴⁵⁴ In jenem Zusammenhang kommentiert er zunächst das Riefenstahl’sche Dementi, jemals Mitglied der NSDAP gewesen zu sein oder sich auch nur für Politik interessiert zu haben (»Warum denn auch? […] Er [Hitler, Anm. d.Verf.] schenkte ihr den deutschen Film. Das war ihm Glücks genug. Und ihr auch.«⁴⁵⁵). Nicht minder süffisant geht er schließlich mit der Behauptung der Regisseurin um, »nichts von den Greueln [sic] und Grausamkeiten«⁴⁵⁶ der NS-Zeit gewusst zu haben. So kommentiert er – in offenkundiger Unkenntnis der tatsächlichen Produktionshintergründe des TieflandProjektes⁴⁵⁷ – lakonisch: »Naja, wenn man fünf Jahre an einem einzigen Film dreht

452 Der Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Luis Trenker (1892 – 1990), einstiger Filmpartner und Geliebter Riefenstahls, hatte 1948 angebliche Tagebücher Eva Brauns veröffentlicht, die sich aber als Fälschung entpuppten. Auf den deutschen Vorabdruck des Textes hin erhob Brauns Familie Klage gegen dessen weitere Verbreitung. In dem folgenden Prozess trat Riefenstahl als Nebenklägerin auf, denn ihr wurde in dem fingierten Dokument unter anderem nachgesagt, nackt vor Hitler getanzt zu haben. Obgleich das Landgericht München die Fälschung erkannte, hielt sich das darin kreierte Bild von Riefenstahl in den Köpfen der deutschen Bevölkerung, die die angeblichen Tagebucheinträge ebenso begierig aufgenommen hatte wie die übrigen ›Enthüllungsberichte‹ über Hitlers Privatleben. Vgl. Trimborn (2003), S. 411 f. 453 EKW VI, S. 490. 454 Ebd., S. 492. 455 Ebd. 456 Ebd. 457 Anders als Kästner annahm, konnte der Film in den letzten Kriegsjahren eben nicht in Spanien gedreht werden. Da das Filmteam dennoch nicht auf ein südländisches ›Flair‹ verzichten wollte, besetzte man Statistenrollen mit Sinti und Roma aus den Zwangslagern Salzburg-Maxglan und Berlin-Marzahn, die nach Abschluss der Dreharbeiten nach Auschwitz deportiert und größtenteils ermordet wurden. Nachdem die Illustrierte Revue im Mai 1949 auf jene Entstehungsbedingungen des Films aufmerksam gemacht hatte, erhob Riefenstahl Klage wegen Rufmordes. Im Rahmen der nachfolgenden Gerichtsverhandlung, bei der bezeichnenderweise ein Großteil des deutschen Publikums auf der Seite der Filmemacherin stand, wies diese jegliche Schuld von sich. Da nicht alle in der Revue aufgestellten Behauptungen bewiesen werden konnten, wurde der damalige Verleger des

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und dabei bis nach Spanien kommt – woher soll man’s denn auch wissen. Es sagt einem ja keiner was!«⁴⁵⁸ Die letzte Interview-Äußerung, an der Kästner sich stößt und die ihn gar in die fiktive Ohnmacht treibt, betrifft schließlich Riefenstahls ungebrochene Selbstverortung als Künstlerin, die mit dem öffentlich postulierten (und neun Jahre später tatsächlich realisierten) Wunsch einherging, die Arbeit an dem Projekt Tiefland wiederaufnehmen zu können.⁴⁵⁹ Nicht allein die von der Filmemacherin in Anspruch genommene Trennung zwischen der NS-Politik und ihrer Kunst war dem Schriftsteller unerträglich. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der Riefenstahl ihr Vorhaben, an ihre vor 1945 begonnene Tätigkeit anzuknüpfen, kundtat, störte ihn zutiefst. Er resümierte: »Sie hat sich wirklich nie für Politik interessiert. Sonst wäre ihr gelegentlich aufgefallen, daß das Dritte Reich vorbei ist.«⁴⁶⁰ Gerade mit diesem letzten Satz seines Artikels grenzt sich Kästner dezidiert von jener Verhaltensweise ab, die nicht nur für die einstige ›Starregisseurin‹, sondern auch für zahllose weitere Deutsche nach 1945 gang und gäbe war – nämlich so zu agieren, als habe das Kriegsende keine unwiderrufliche und umfassende Zäsur dargestellt und als sei es demzufolge nicht weiter ungewöhnlich, die eigene im ›Dritten Reich‹ gefestigte Karriere so bald wie möglich fortsetzen zu wollen. Allerdings war Riefenstahl, wie öffentlich bekannt, weit mehr als nur ein »kleines Rädchen im [NS]-Getriebe«⁴⁶¹ gewesen. Und insbesondere der Umstand, dass sie die von Kästner kritisierte Haltung auch über die unmittelbaren Nachkriegsjahre hinaus konsequent beibehielt und sich zeitlebens davor verschloss, die Verbrechen der Vergangenheit zu reflektieren und Mitverantwortung für sie zu übernehmen, sorgte letzten Endes dafür, dass sie im bundesdeutschen Kulturbetrieb eine weitgehend ›Ausgestoßene‹ blieb.⁴⁶² Mit Jürgen Trimborn zusammengefasst, avancierte sie im Laufe der Jahre sogar »zur nationalen Symbolfigur dafür, wie man mit seiner Vergangenheit nicht umgehen dürfe«⁴⁶³ – ein Bild, dem Käst-

Blattes, Helmut Kindler, zu einer Geldstrafe wegen übler Nachrede verurteilt. Die Verbrechen an den Tiefland-Komparsen sollten im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte noch zum Gegenstand mehrerer Prozesse werden, bei denen die Regisseurin stets abstritt, von den Deportationen und Ermordungen gewusst zu haben. Vgl. dazu Trimborn (2003), S. 333 – 341. 458 EKW VI, S. 492. 459 Vgl. ebd. 460 Ebd. 461 Trimborn (2003), S. 406. 462 Vgl. ebd., S. 408. Während Riefenstahls Person und ihr Œuvre in Deutschland stets umstritten blieben, setzte in den 1970er Jahren insbesondere in den USA eine größtenteils unkritische Würdigung und Wiederentdeckung der ästhetischen Qualitäten ihrer Arbeiten ein. Vgl. dazu weiterführend Glasenapp (2007). 463 Trimborn (2003), S. 406.

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ners Artikel schon früh nach dem Zusammenbruch des ›Dritten Reiches‹ Vorschub geleistet hatte. Fast ebenso früh erhob der Schriftsteller Kritik an einem anderen ›Schwergewicht‹ der nationalsozialistischen Filmbranche, dem es, anders als Riefenstahl, schon wenige Jahre später gelingen sollte, seine künstlerische Tätigkeit fortzusetzen: Veit Harlan. Kästners erster journalistischer Angriff auf den Regisseur, der unter anderem den antisemitischen Hetzfilm Jud Süß (1940) und den propagandistischen ›Durchhaltefilm‹ Kolberg (1945) gedreht hatte, erschien gut zwei Wochen nach der Polemik auf Riefenstahl in der Neue[n] Zeitung. Die Überschrift des Beitrags – Harlan oder die weiße Mütze ⁴⁶⁴ – rekurriert auf die in den frühen 1940er Jahren erfolgte Ernennung des Regisseurs zum Ehrenstudenten der schwedischen Universität Uppsala.⁴⁶⁵ Nicht zufällig liest sie sich zugleich wie eine Parodie auf die sprichwörtliche »weiße Weste«, die der Filmemacher sich selbst nach Kriegsende in einem von Kästner erwähnten Interview mit einem schwedischen Reporter zusprach.⁴⁶⁶ Kästner kreiert in seinem Artikel das Szenario eines Seziertisches, auf dem allerdings nicht Harlans Körper, sondern dessen Charakter auseinandergenommen wird. Wie er trocken anmerkt, habe der Kulturschaffende »sich dazu gedrängt, aufgeschnitten zu werden«, »[n]achdem und weil er aufgeschnitten hat«.⁴⁶⁷ Bei der Betrachtung des Harlan’schen ›Innenlebens‹ offenbaren sich mithin jene Argumente, die der Regisseur, dem eine kaum zu unterschätzende Bedeutung für den NS-Propagandaapparat zugekommen war, nach dem Kriegsende heranzog, um seine (angeblich stets gehegte) Distanz zum NS-Regime geltend zu machen: Er sei ein religiöser Mensch und nie in die Partei eingetreten, habe jüdischen und halbjüdischen Kollegen zu helfen versucht und sich vergeblich zweimal als Kriegsfreiwilliger gemeldet, um nicht länger Propagandafilme drehen zu müssen.⁴⁶⁸

464 Siehe Kästner, Erich: Harlan oder die weiße Mütze. In: Die Neue Zeitung, 30.11.1945. Im Folgenden zitiert als Kästner (1945b). 465 Wie Kästner ebd. ausführt, wurde Harlan und seiner schwedischen Ehefrau Kristina Söderbaum (die als Schauspielerin an Jud Süß und zahlreichen anderen Filmprojekten ihres Mannes beteiligt war) die Würdigung zuteil, nachdem der Regisseur vor Ort Vorträge über seine künftigen Filmvorhaben gehalten hatte. Die in der Überschrift genannte Kopfbedeckung verweist vor diesem Hintergrund auf die schwedischen Studentenmützen. 466 Der journalistische Beitrag des Schweden, dessen Namen Kästner unerwähnt lässt, konnte nicht ausfindig gemacht werden. Die im Weiteren von ihm angesprochenen Aussagen Harlans finden sich inhaltlich jedoch auch in dessen unmittelbar im Mai 1945 verfasster Verteidigungsschrift Wie ich zum Nationalsozialismus stand. Vgl. dazu etwa Suchsland, Rüdiger: Des Teufels Regisseur (Telepolis, 23.4. 2009). https://www.heise.de/tp/features/Des-Teufels-Regisseur-3380942.html [letzter Zugriff: 12.11. 2016]. 467 Kästner (1945b). 468 Vgl. ebd.

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Die genannten Selbstaussagen Harlans ergänzt Kästner mit beißender Ironie und lässt dabei weiterführende Informationen einfließen, zu denen er vermutlich durch seine Kontakte zu Mitarbeitern der UFA gelangt war: Während der schweren Luftangriffe auf Berlin wohnte unser religiöser, weißbemützter Beinahe-Kriegsfreiwilliger sicherheitshalber auf einem entlegenen Schloß bei Guben und fuhr täglich zwischen Babelsberg und Guben hin und her. Wahrscheinlich um durch den starken Benzinverbrauch das Dritte Reich zu sabotieren, wie? Es ist ihm für seinen Bericht nicht eingefallen. Ich schenke es ihm für den Nachtragband.⁴⁶⁹

Ungehaltener noch als dem »Lügengewebe« des »Gesinnungsakrobat[en]«⁴⁷⁰ Harlan begegnet der Artikel jedoch jenen Akteuren des kulturellen Feldes, die nach 1945 hinter dem Filmemacher standen und ihn verteidigten – so etwa dem schwedischen Journalisten, der das von Kästner eingangs erwähnte Interview mit dem Regisseur führte. Dieser habe Harlan mit Michelangelo verglichen, der jene Päpste, für die er seine »Wunderwerke« schuf, »keineswegs liebte«.⁴⁷¹ Von Filmleuten, die in den vergangenen zwölf Jahren ›unterirdisch‹ gelebt und die Kunst des Filmschaffens vergessen hätten, habe man, wie von besagtem Schweden postuliert worden sei, dagegen »heute keinen sehr großen Nutzen«.⁴⁷² Für eine solche Sichtweise hat Kästner nurmehr blanken Zynismus übrig. Er resümiert, sämtliche positiven Selbstund Fremdzuschreibungen Harlans noch einmal bündelnd: Es wird das Beste sein, die Regisseure, die […] eingesperrt und verfolgt waren, rasch wieder zu verhaften. […] Und nun lasst uns den Professor Ehrenstudenten Veit Michelangelo zum Filmdiktator ausrufen! Er hat seine künstlerischen Fähigkeiten getummelt, und seinen Charakter hat er wahrlich auch fleißig trainiert. Er kann sofort religiöse und demokratische Meisterwerke schaffen. Er ist noch richtig in Schwung.⁴⁷³

Mit wie viel ›Schwung‹ Harlan und seine breit gefächerte Anhängerschar tatsächlich noch aufwarten sollte, ahnte Kästner zu diesem Zeitpunkt wohl kaum. Anders als er es in seinem im November 1945 publizierten Artikel anriet, schickte man den Filmemacher realiter keineswegs zu dem ihm wohlgesonnenen Interviewer nach Schweden.⁴⁷⁴ Stattdessen sprach man ihn knapp dreieinhalb Jahre später, am 23. April 1949, vor dem Hamburger Schwurgericht von der Anklage frei, mit seinen

469 470 471 472 473 474

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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Filmen Beihilfe zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit geleistet zu haben.⁴⁷⁵ Unmittelbar nachdem das Urteil im Rahmen eines Revisionsprozesses im April 1950 bestätigt worden war,⁴⁷⁶ erhielt der Regisseur einen Vertrag bei der DominikFilmproduktion und konnte mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Nachkriegsfilm Unsterbliche Geliebte beginnen. Gleichwohl zogen die Verhandlungen gegen Harlan eine ganze Reihe von öffentlichen Protesten nach sich. So rief etwa Erich Lüth, der Leiter der Staatlichen Pressestelle Hamburg, die bundesdeutschen Kinobesitzer dazu auf, den neuen Film des Regisseurs nicht in ihr Programm aufzunehmen. Nachdem Lüth von der Dominik-Filmproduktion und vom Herzog-Filmverleih erfolgreich für diese Aktion verklagt worden war⁴⁷⁷ und der Film wie geplant in den Kinos anlief, kam es in mehreren Städten zu scharfen Protesten und zum Teil sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrantengruppen, die gegen die Vorführung der Unsterbliche[n] Geliebte[n] Stellung bezogen.⁴⁷⁸ In Freiburg zum Beispiel gingen im Januar 1952 sowohl Schutz- als auch Kriminalpolizei zur ›Auflösung der Versammlung‹ mit Gummiknüppeln gegen etwa 200 demonstrierende

475 Vgl. Raap, Maike: »Veit Harlan-Prozess«. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 96 – 98, hier S. 96. Der Strafantrag gegen Harlan war von der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes und der Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen gestellt worden, nachdem im Januar 1948 bekannt geworden war, dass der Regisseur im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren als »unbelastet« eingestuft werden sollte. Der Anklage folgte ein sieben Wochen andauernder Prozess, der zum Präzedenzfall für die juristische Beurteilung der geistigen Mittäterschaft von Künstlern und Kulturschaffenden im ›Dritten Reich‹ avancierte. Im Rahmen der Verhandlung zeigte der Regisseur weder Schuld- noch Verantwortungsbewusstsein, sondern berief sich auf seinen ›Befehlsnotstand‹, indem er bekundete, die Regiearbeiten einzig aus Angst vor Sanktionen durch Goebbels angenommen zu haben. Schauspieler, Filmschaffende und Produzenten wie Gustaf Gründgens, Werner Krauß, Willy Forst und auch der zwei Jahre zuvor von Kästner für politisch ›unbedenklich‹ erklärte Fritz Hippler traten hierbei als Zeugen auf und bestätigten die Aussagen des Angeklagten. Den schließlich erfolgten Freispruch feierte Harlan letztlich nicht weniger als seine Anhänger, die ihn auf ihren Schultern aus dem Gerichtssaal trugen. Vgl. ebd., S. 96 f. 476 Nach dem ersten Urteilsspruch versuchte die Staatsanwaltschaft vergeblich geltend zu machen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Film Jud Süß und der Judenverfolgung hergestellt werden könne, was bereits in der vorherigen Urteilsbegründung negiert worden war. Vgl. ebd., S. 97. 477 Lüth, gegen dessen Boykottforderung eine einstweilige Verfügung erwirkt worden war, kämpfte noch über lange Zeit gegen das ihn betreffende Urteil an und bekam schließlich am 15. Januar 1958 vor dem Bundesverfassungsgericht Recht, das die freie Meinungsäußerung höher einstufte als die Geschäftsinteressen der Filmgesellschaften. Mit seinem eigentlichen Anliegen, Harlans wiederermöglichte Karriere zu stoppen, war er jedoch gescheitert. Vgl. ebd., S. 98. 478 Vgl. ebd.

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Studenten vor.⁴⁷⁹ An dieser Stelle kommt nun erneut Kästner ins Spiel, der, vom Allgemeinen Studentenausschuss der Freiburger Universität um eine Stellungnahme gebeten, einen offenen Brief an die Freiburger Studenten verfasste.⁴⁸⁰ Bereits im Dezember des Vorjahres war der Schriftsteller während eines Berlin-Aufenthalts Zeuge polizeilicher Übergriffe auf Demonstranten gewesen. Letztere hatten auf dem Kurfürstendamm gegen ein bevorstehendes Gastspiel des Wiener Burgtheaters protestiert, bei dem Werner Krauß auftreten sollte, der in Jud Süß die Figur des Rabbi Löw verkörpert hatte.⁴⁸¹ Gewiss nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser eigenen Beobachtungen solidarisierte Kästner sich nachdrücklich mit all jenen, die gegen die Vorführung des Harlan-Films auf die Straße gegangen waren. In seinem offenen Brief ließ er die jüngst vorangegangenen Ereignisse Revue passieren: Das Hamburger Gericht sprach Herrn Harlan frei. Nicht einmal zu einem befristeten Berufsverbot reichte das »objektive« Finden des Rechts aus. Also waren die Filmproduktion und der Filmverleih im Recht, Herrn Harlan umgehend zu beschäftigen. Also sind die Kinobesitzer im Recht, seine Filme vorzuführen. Also ist die Polizei im Recht, gegen Demonstranten einzuschreiten. Also sind die einzigen Menschen, die im Unrecht sind, diejenigen, die ihr Gewissen aufruft, im Namen der Menschlichkeit gegen eine derartige Gerechtigkeit und ihre sichtbaren, wie unabsehbaren Folgen zu protestieren. Wäre der Fall Harlan ein Einzelfall, ginge es noch eben an. Aber er ist ein Symptom. Und so bleibt all denen, die das Wesen der Demokratie lieben und eine demokratische Heimat wünschen, seien sie nun Atheisten, Lutheraner oder Katholiken, nichts übrig, als »Protestanten« zu werden.⁴⁸²

Vergleicht man diese 1952 vorgebrachte Stellungnahme mit den in den unmittelbaren Nachkriegsjahren verfassten Positionierungen Kästners, die sich auf personelle Kontinuitäten des NS-Regimes beziehungsweise auf den öffentlichen Umgang mit ihnen bezogen, dann fällt Verschiedenes auf: Zum einen greift der Schriftsteller nun, in der jungen Bundesrepublik, auf eine andere Interventionsform zurück, indem er keinen Feuilletonartikel, sondern einen offenen Brief verfasst. Zum an479 Vgl. [anonym]: Sind wir noch einmal davongekommen? In: Freiburger Studentenzeitung. Herausgegeben vom Freiburger Studentenausschuss. Sondernummer Ende Januar 1952, S. 1 f. sowie [anonym]: Wer ist schuld? Die Frage der Verantwortung für die Zwischenfälle. In: Badische Zeitung, 19./20.1.1952. 480 Kästner, Erich: Brief an die Freiburger Studenten. In: Freiburger Studentenzeitung. Herausgegeben vom Freiburger Studentenausschuss. Sondernummer Ende Januar 1952, S. 8 f. Kästner nahm seinen Brief wenig später zudem in seinem Auswahlband Die kleine Freiheit auf. Siehe EKW II, S. 223. 481 Kästner erwähnt »den Krauß-Krawall« in seinem Brief an Friedhilde Siebert vom 9.12.1950. Siehe Kästner (2003), S. 171. 482 EKW II, S. 223.

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deren lässt er es nicht bei einer bloßen Polemik gegen die Person Harlan bewenden. Vielmehr macht er sich am Beispiel des »Symptom[s]« Harlan für die öffentliche Demonstration als legitime politische Protestform zum Schutz der Demokratie stark. Dabei beruft er sich, ganz in der Tradition des ›allgemeinen‹ Intellektuellen, auf universelle Grundwerte – verweist er doch auf »Menschlichkeit« und »Gerechtigkeit«, die er dem in der Bundesrepublik geltenden »Recht«, das den Freispruch des Regisseurs ermöglichte, gegenüberstellt. Signifikant ist, dass er in seinem offenen Brief nicht nur zwischen Recht und Gerechtigkeit, sondern auch zwischen zwei Demokratieverständnissen unterscheidet. So postuliert er: Wenn die Anhänger der echten und insofern die Gegner einer nur formalen Demokratie nicht scharf aufpassen, wird die noch sehr junge und ganz und gar nicht gesunde Bundesrepublik solange mit dem Schwert der Gerechtigkeit herumfuchteln, bis sie auf diese Weise, obzwar versehentlich, Selbstmord begeht.⁴⁸³

Kästners Plädoyer ist deutlich: Solange die (von strukturellen Kontinuitäten geprägte) Rechtsprechung nur in Anführungszeichen »objektiv« und die junge Demokratie lediglich eine »formale« und keine »echte« – nämlich auf Menschlichkeit und ›wahrer‹ Gerechtigkeit basierende – ist, sind Wachsamkeit und Widerspruchsbereitschaft geboten. Welche über den »Fall Harlan« und seine Hintergründe hinausgehenden Erfahrungen den Schriftsteller dazu gebracht hatten, die »noch sehr junge […] Bundesrepublik« bereits zu diesem Zeitpunkt als »ganz und gar nicht gesun[d]« zu charakterisieren, wird im folgenden Kapitel verdeutlicht werden. Es lenkt den Blick auf Kästners Positionierungen innerhalb der so genannten »Schmutz und Schund«Debatten zu Beginn der 1950er Jahre⁴⁸⁴ – und damit zugleich auf die gesellschaftliche und politische Stimmungslage jener Ära, die der Autor in einem viel zitierten Ausspruch als Epoche des »[m]otorisierten Biedermeier«⁴⁸⁵ charakterisieren sollte.

483 Ebd. 484 Die schon früh einsetzenden Bestrebungen zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, die nicht minder zu Kästners Unmut beitrugen, werden gesondert in Kapitel 4.3 dieser Studie beleuchtet. 485 Kästner, Erich: Heinrich Heine und wir [1956]. In: GSE 8, S. 237– 239, hier S. 238.

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4.2.3 Über Trojanische Pferde und Jahrmarktschwindeleien ‒ Kästners Protest gegen das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften Im Jahr 1950, knapp zwanzig Jahre nachdem die Nationalsozialisten damit begonnen hatten, Kästners Zeitroman Fabian als »gedruckten Dreck« und »Sudelgeschichte« zu diskreditieren,⁴⁸⁶ unterzieht der Autor das ›späte‹ Vorwort, das er seinem Werk unmittelbar nach Kriegsende hinzugefügt hat,⁴⁸⁷ einer Überarbeitung. Nach eigenen Angaben hegt er zu diesem Zeitpunkt keine Hoffnung, dass man seine Geschichte eines Moralisten inzwischen »besser verstehen«⁴⁸⁸ werde, als dies nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 1931 oftmals der Fall gewesen war. Stattdessen prognostiziert er, es werde »heute weniger als damals begriffen werden, daß der Fabian keineswegs ein ›unmoralisches‹, sondern ein ausgesprochen moralisches Buch«⁴⁸⁹ sei. Den Grund für diese Annahme sieht Kästner nicht nur in den Nachwirkungen der umfassenden Steuerung und Überwachung des Kulturbetriebes durch die nationalsozialistischen Machthaber. Er macht ihn auch an einer ganz konkreten gegenwärtigen politischen Entwicklung fest, indem er postuliert: Daß im Dritten Reich die Geschmacksurteile verstaatlicht, in Phrasen geliefert und millionenfach geschluckt wurden, hat Geschmack und Urteil breiter Kreise bis in unsere Tage verdorben. Und heute sind, noch ehe sie sich regenerieren konnten, bereits neue, genauer, sehr alte Mächte fanatisch dabei, wiederum standardisierte Meinungen – gar nicht so verschieden von den vorherigen – durch Massenimpfung zu verbreiten. Noch wissen viele nicht, viele nicht mehr, daß man sich Urteile selber bilden kann und sollte. Soweit sie sich drum bemühen, wissen sie nicht, wie man’s anfängt. Und schon sind, angeblich zum Schutze der Jugend, Kuratelgesetze gegen moderne Kunst und Literatur in Vorbereitung.⁴⁹⁰

Die angebahnten rechtlichen Bestimmungen, denen Kästner mit einer solch ablehnenden Haltung gegenüberstand, sollten drei Jahre später, am 9. Juni 1953, als »Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften« in der Bundesrepublik in Kraft treten. Allerdings gingen der Verabschiedung der entsprechenden Paragraphen lange und erbitterte Debatten voraus. Diese lassen sich, Stephan Buchloh folgend, insofern als »Brennspiegel des gesellschaftlichen Klimas in der Ära Adenauer«⁴⁹¹ betrachten, als sie den Grad der Wertschätzung offenbaren, die die Grundrechte der Meinungs-, Informations- und Kunstfreiheit bei der Bundesre-

486 487 488 489 490 491

Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.2. Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.4. Vgl. Kästner, Erich: Vorwort des Verfassers [1950]. In: EKW III, S. 439. Ebd., S. 440. Ebd., S. 439 f. Buchloh (2002), S. 290.

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gierung und in der bundesdeutschen Gesellschaft genossen. »[A]us heutiger Sicht betrachtet« war man zu jener Zeit, wie auch Helmut Frielinghaus festhält, »[v]on demokratischem Denken […] und Toleranz […] weit entfernt«.⁴⁹² Seinen Erkenntnissen zufolge lassen sich gerade die vehementen Zensurbestrebungen in der jungen Bundesrepublik als Indiz dafür deuten, dass »die Sprache der – nicht bewältigten – Vergangenheit und das alte Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft nach streng geregelter Ordnung, nach Sittlichkeit und Moral in der deutschen Nachkriegsgesellschaft fortlebten.«⁴⁹³ Diese These scheint sich bereits beim Blick auf die Vorbereitungsphase des von Kästner kritisierten Gesetzes zu verifizieren. Schon im Oktober 1949 hatte die Fraktion der CDU/CSU im Bundestag einen Antrag gestellt, in welchem sie die noch junge Bundesregierung wörtlich um die Ausarbeitung eines »Bundesgesetztes gegen Schmutz und Schund« ersuchte.⁴⁹⁴ In ihrem Sinne sollte das geforderte Gesetz dazu verhelfen, dem freizügigen Angebot an Aktfotos und Erotikzeitschriften entgegenzuwirken, das an deutschen Kiosken offeriert wurde. Die Unionsparteien sahen in jenen Bild- und Schriftwerken nicht nur ein ›öffentliches Ärgernis‹, sondern sprachen ihnen auch das Potential zu, die Zerstörung seelischer, geistiger und religiöser Werte zu bewirken und damit zur Verrohung und Kriminalisierung der Jugend beizutragen.⁴⁹⁵ Beachtung verdient, dass dieser dezidierte Wunsch nach einer gesetzlichen Handhabe zum Eingriff in die Verbreitung von Inhalten, die den Sittlichkeitsvorstellungen der konservativen Antragssteller widersprachen, nur wenige Monate nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes laut wurde. Immerhin war in der am 23. Mai 1949 in Kraft getretenen Verfassung explizit garantiert worden, dass in der Bundesrepublik Deutschland keine Zensur stattfinde. Geprägt von den Erfahrungen der lückenlosen Kommunikationskontrolle während der NS-Zeit hatte der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee das Recht auf eine freie Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild unmittelbar in Artikel 5 der – allen anderen Artikeln übergeordneten – Grundrechte angesiedelt, die unter besonderem Schutz des Staates

492 Frielinghaus, Helmut: Günter Grass und die Zensur. In: Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. von York-Gothart Mix. Berlin/Boston 2014, S. 250 – 260, hier S. 250. Frielinghaus bezieht diese und die nachfolgend zitierte Feststellung wohlgemerkt nicht nur auf die Regierungszeit Adenauers, sondern auch auf die Ludwig Erhards. 493 Ebd. 494 Vgl. Buchloh (2002), S. 91 sowie Lorenz, Matthias N.: Literatur und Zensur in der Demokratie. Die Bundesrepublik und die Freiheit der Kunst. Göttingen 2009, S. 67. 495 Vgl. ebd. und Buchloh (2002), S. 91 f. Rigoros argumentierte in dieser Angelegenheit insbesondere der CSU-Abgeordnete Emil Kemmer, der unter anderem von einem »widerlichen Zustand« und einer »giftigen Atmosphäre« sprach, die ›bereinigt‹ werden müsse. Kemmer, Emil zit. n. ebd.

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stehen und in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen.⁴⁹⁶ Ungeachtet einer etwaigen Unvereinbarkeit des geforderten »Schmutz- und Schundgesetzes« mit der im Grundgesetz garantierten Meinungs- und Zensurfreiheit wurde der Antrag der CDU/CSU zunächst fraktionsübergreifend mit großer Mehrheit vom Bundestag befürwortet und fand auch in der deutschen Bevölkerung, insbesondere in kirchlichen Kreisen, enorme Zustimmung.⁴⁹⁷ Heftige Kritik an der Forderung ging hingegen von vielen Akteuren des kulturellen Feldes aus, unter denen Kästner alsbald eine federführende Rolle einnahm. Wie er innerhalb der Debatten um das geplante Gesetz als Intellektueller agierte, wird im Folgenden aufgezeigt. Schon einmal, knapp ein Vierteljahrhundert bevor die Unionsparteien ihren Antrag im Bundestag stellten, hatte Kästner sich vergeblich gegen zeitgenössische Zensurbestrebungen ausgesprochen. Denn auch in der Weimarer Republik war die Freiheit der Kunst stets Angriffen ausgesetzt gewesen, obgleich das Recht jedes Deutschen auf freie Meinungsäußerung in Artikel 118 der Reichsverfassung vom 11. August 1919 verankert war. Nachdem sich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zwischen den Links- und den Mitte-Rechts-Parteien eine hartnäckige Debatte über die Zulässigkeit zensorischer Maßnahmen entsponnen hatte, wurde 1926 ein »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« erlassen.⁴⁹⁸ Wie bereits Fabian Beer aufzeigte, attackierte Kästner das »Schmutz- und Schundgesetz« der Weimarer Republik schon in seiner Entstehungsphase »kontinuierlich mit in andere kulturpolitische Zusammenhänge eingestreuten Spitzen«.⁴⁹⁹ Nach seinem Inkrafttreten warf er ihm schließlich vor, »[d]ie Jugend als Vorwand«⁵⁰⁰ heranzuziehen, um in die Gedankenfreiheit und den kulturellen Fortschritt einzugreifen. Nur wenige Jahre später machte Kästner schließlich seine ganz persönlichen Er-

496 Vgl. Art. 19 Abs. 2 GG; vgl. dazu auch Lorenz (2009), S. 9 f. Schranken findet die Meinungsfreiheit laut Art. 5 Abs. 2 GG dann, wenn sich eine Kollision mit den allgemeinen Gesetzen, dem Jugendschutz und dem Recht der persönlichen Ehre ergibt. Vgl. weiterführend ebd., S. 60. 497 Vgl. ebd., S. 64 und Buchloh (2002), S. 121. 498 Vgl. Lorenz (2009), S. 43. Der Verabschiedung des Gesetzes folgte bald darauf die Einrichtung zweier Prüfstellen in Berlin und München, die legitimiert waren, als ›Gefahr für die Jugend‹ angesehene Werke zu indizieren. Zu jener Zeit war es allerdings noch gesetzlich verankert, dass Schriften nicht aufgrund in ihnen geäußerter politischer Meinungen verboten werden durften, was sich im NS-Regime grundlegend verändern sollte. 499 Beer, Fabian: Die Jugend als Vorwand. Erich Kästners Philippiken wider die Schmutz- und Schundgesetze der Weimarer Republik und der frühen BRD. In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur 22 (2012), S. 31 – 35, hier S. 32. 500 So lautete zugleich die Überschrift eines kritischen Artikels, den Kästner im Jahr 1927 veröffentlichte. Siehe Kästner, Erich: Die Jugend als Vorwand [Neue Leipziger Zeitung, 5. 2.1927]. In: EKW VI, S. 61 – 64. Vgl. dazu auch Beer (2012), S. 32.

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fahrungen mit den Praktiken der Zensur, als er sich unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers auf den ›Schwarzen Listen‹ der NSDAP wiederfand. Angesichts der Tatsache, dass seine Werke bald darauf der Bücherverbrennung zum Opfer fielen und ihm ein innerdeutsches und letztlich ein ›totales‹ Publikationsverbot auferlegt wurden,⁵⁰¹ verwundert es nicht, dass er den Forderungen nach einem neuen »Schmutz- und Schundgesetz« in der jungen Bundesrepublik mit größter Skepsis begegnete. Wie sehr Kästner den langfristigen politischen Missbrauch eines solchen Gesetzes befürchtete, verdeutlichte er, noch entschlossener als im aktualisierten Vorwort des Fabian, in seinem Artikel Der Trojanische Wallach, der am 4. Februar 1950 in der Münchener Illustrierten erschien. Darin verteidigt er explizit die Autonomie des kulturellen Feldes gegenüber dem politischen Feld, indem er fordert, dass »[d]ie freien Künste […] nicht zum staatlich betriebenen Flohzirkus werden«⁵⁰² dürften. Dass ein Inkrafttreten der angebahnten Verordnung einer erneuten Unterdrückung der Kunst- und letztlich auch der Meinungsfreiheit Vorschub leisten werde, steht für ihn in Anbetracht der Entwicklungen nach dem Erlass des »Schmutz- und Schundgesetzes« von 1926 außer Frage. So gibt er zu bedenken, dass es »zwischen Inflation und Hitlerei« gelungen sei, durch ein ähnliches Gesetz mit dem gleichen ungezogenen Titel, das Ansehen der freien Künste in den Augen der Bevölkerung so herabzusetzen, daß es etliche Jahre später keiner sonderlichen Anstrengungen bedurfte, angesichts von Bücherverbrennungen und Ausstellungen »entarteter« Kunst das erforderliche Quantum Begeisterung zu entfachen.⁵⁰³

Signifikanterweise macht der Artikel für die Durchsetzung jenes Gesetzes in der Weimarer Republik »fast die gleichen Leute« verantwortlich wie jene, die es nunmehr ›jucke‹, »aus der Wiege unserer Verfassung das schönste Patengeschenk, die Freiheit, wegzuzaubern«.⁵⁰⁴ Mit dieser metaphorisch formulierten Anschuldigung nimmt Kästner nicht nur seine zuvor schon in zahlreichen anderen Kontexten geltend gemachte Kritik an personellen respektive ideologischen Kontinuitäten ein weiteres Mal auf. Er legt den Initiatoren des neuen Gesetzes zugleich nichts Geringeres als ein verfassungsfeindliches Vorgehen zur Last. Seine Einschätzung, dass es den Politikern nicht allein um Fragen der Sittlichkeit, sondern primär um die

501 Vgl. auch Kapitel 3.1.2. 502 Kästner, Erich: Der Trojanische Wallach [Münchener Illustrierte, 4. 2.1950]. In: EKW II, S. 198 – 201, hier S. 199. 503 Ebd. 504 Ebd.

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»Entmündigung moderner Menschen«⁵⁰⁵ gehe, unterstreicht er überdies durch den Einsatz literarischer und mythologischer Reminiszenzen: Zum einen charakterisiert er das Gesetz, wortspielerisch auf Molières berühmten religiösen Heuchler und Betrüger rekurrierend, als »Tartüfftelei«.⁵⁰⁶ Zum anderen bezeichnet er es, die (seiner Ansicht nach vorgeschobene) Sexualmoral der Gesetzesbefürworter karikierend, als »Trojanisches Pferd«,⁵⁰⁷ aus dem man »züchtig gesenkten Blicks« einen »Trojanischen Wallach« gemacht habe.⁵⁰⁸ Um seine Rezipienten über diese intertextuellen Warnungen hinaus von der Überflüssigkeit des geplanten Unterfangens zu überzeugen, bekräftigt Kästner zudem, dass »[z]ur Bekämpfung des Vertriebes eindeutiger Zweideutigkeiten […] die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches«⁵⁰⁹ genügen würden. Des Weiteren brandmarkt er das Engagement der Politiker in dieser Angelegenheit implizit als Strategie der Herrschaftssicherung, indem er darlegt, dass in Bonn neben den »Reaktionäre[n]« auch »sogenannt[e] Dünnbrettbohrer«⁵¹⁰ am Werk seien. Wie sich zeigt, hebt die letztgenannte Formulierung auf jene Akteure des politischen Feldes ab, denen der Autor vorwirft, sich mit der Durchsetzung des Gesetzes lediglich profilieren und von ihrem Versagen im Hinblick auf wesentlich größere politischer Schieflagen ablenken zu wollen. Denn weiterführend hält er in ironischem Tonfall fest: Wenn’s schon nicht gelingt, die tatsächlichen Probleme zu lösen, die Arbeitslosigkeit, die Flüchtlingsfrage, den Lastenausgleich, das Wohnungsbauprogramm, den Heimkehrerkomplex, die Steuerreform, dann löst man geschwind ein Scheinproblem. Das geht wie geschmiert. Hokuspokus – endlich ein Gesetz! Endlich ist die Jugend gerettet!⁵¹¹

505 Ebd. 506 Ebd. In der Molière’schen Komödie Tartuffe oder Der Betrüger aus den 1760er Jahren wird der Titelheld, der sich als frommer Mann ausgibt, zusehends zur Belastung für jene Familie, die ihn vertrauensvoll bei sich aufgenommen hat. (Siehe Molière: Tartuffe oder Der Betrüger. Komödie in fünf Auszügen. Übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorf. Stuttgart 1986) Der intertextuelle Verweis Kästners auf das Bühnenstück lässt sich zugleich als Seitenhieb auf die klerikalen Kreise in der jungen BRD lesen, die die Forderungen nach einem »Schmutz- und Schundgesetz« nachdrücklich befürworteten. 507 In der Odyssee wird berichtet, wie den Griechen die Eroberung der Stadt Troja durch die List gelingt, sich im Inneren eines hölzernen Pferdes in die Stadt einschleusen zu lassen. Siehe auch Homer: Illias/Odyssee. Übersetzt von Johann Heinrich Voss. Essen 2004, S. 47. 508 EKW II, S. 200. 509 Ebd., S. 199. Kästner dürfte hier primär auf Art. 5 Abs. 2 GG sowie auf den von ihm bei späteren Gelegenheiten explizit benannten Paragraphen 184 StGB abgehoben haben, der sich auf die Verbreitung pornographischer Schriften bezieht. Vgl. dazu auch Buchloh (2002), S. 82. 510 EKW II, S. 200. 511 Ebd.

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Dass eine reale Gefährdung der Heranwachsenden Kästners Ansicht nach keineswegs von Aktfotos und Magazinen ausgeht, sondern von den eklatanten wirtschaftlichen wie sozialen Missständen begünstigt wird, unter denen sie nach dem Kriegsende aufwachsen, ist offensichtlich. Der Schriftsteller nutzt seinen Beitrag in der Münchener Illustrierten jedoch zugleich, um der Öffentlichkeit den Einfluss vor Augen führen, den sie auf die Politik ausübt, wenn sie die gegen das Gesetz intervenierenden Kulturschaffenden ignoriert. Provokativ resümiert er: Ein paar tausend Maler, Schauspieler, Schriftsteller, Bildhauer und Musiker, die […] protestieren, braucht man nicht sonderlich ernst zu nehmen. Das Volk der Dichter und Denker hat seine Dichter und Denker nie ernst genommen. Warum sollten’s die Volksvertreter tun?⁵¹²

Kästners Artikel angefügt ist nicht ohne Grund eine Resolution, die der zu jener Zeit noch gesamtdeutsche PEN-Club bereits auf seiner Münchner Jahresversammlung am 18. November 1949 verabschiedet hatte.⁵¹³ Der Text, der unmittelbar auf die ersten Rufe der politischen Akteure nach einem neuen Gesetz reagierte, lautet wie folgt: Das PEN-Zentrum Deutschland wendet sich mit Entschiedenheit gegen Maßnahmen und Tendenzen in allen Teilen Deutschlands, die das freie literarische Schaffen beeinträchtigen. Die direkte oder indirekte Zensur widerspricht der internationalen PEN-Charta. Wir protestieren auch heute schon gegen die Einführung eines sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes, weil wir seine mißbräuchliche Anwendung fürchten. ⁵¹⁴

Nahezu zeitgleich mit jenem Abdruck unter seinem Artikel bat Kästner – in seiner Position als Vorstandsmitglied des PEN-Zentrums – auch diverse weitere westdeutsche Zeitungen und Presseagenturen um die Veröffentlichung der besagten Zeilen.⁵¹⁵ In diesem Zuge versuchte er zugleich, die Vertreter des Journalismus zur Partizipation an dem Protest gegen das Gesetz zu bewegen, indem er betonte, dass es der sich abzeichnende »Kulturkampf« nicht zuletzt auch der Presse zur Aufgabe mache, für die bedrohte Freiheit einzutreten.⁵¹⁶

512 Ebd., S. 201. 513 Bei der besagten Zusammenkunft, die kurz nach der Gründung der DDR erfolgte, war keines der Ost-Mitglieder der Sektion anwesend. (Vgl. auch Kapitel 3.2.5.) Die Resolution ging somit exklusiv von den westdeutschen PEN-Autoren aus. 514 EKW II, S. 201. 515 So schrieb er – unter anderem – an die Deutsche Presse-Agentur, die Süddeutsche Zeitung, den Weser Kurier und auch an Die Neue Zeitung, für die er in den Vorjahren tätig gewesen war. 516 Vgl. etwa Kästner, Erich an die Deutsche Presse-Agentur. Brief vom 4. 2.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003.

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Kästner beließ es jedoch nicht dabei, auf die Unterstützung von Zeitungen und Zeitungsmachern zu bauen. Er intendierte, noch wesentlich mehr Institutionen und Akteure des kulturellen Feldes in die »gründliche Kampagne gegen das Gesetz«⁵¹⁷ einzubeziehen, die er sich, laut einem Schreiben an Rudolf Alexander Schröder, erhoffte. Gemäß seiner Überzeugung, dass »[d]ie Flucht in die Öffentlichkeit […] immer noch das Wirksamste«⁵¹⁸ sei, hatten er und die übrigen Vorstandsmitglieder des PEN bereits im Vorlauf versucht, »zahlreich[e] Akademien, Kunstschulen, Schutzverbände, Bühnenvereine usw.«⁵¹⁹ zur Unterzeichnung der Resolution zu bewegen, damit »die Protestadresse ihre kompakte Wirkung nicht verfehle«.⁵²⁰ Ganz im Sinne des ›kollektiven Intellektuellen‹, den Bourdieu beschreibt, wählten die Autoren folglich eine Aktionsform, die die Wirkungsmacht ihrer öffentlichen Intervention über eine Vernetzung mit anderen Akteuren respektive Intellektuellen steigern sollte. Und nicht von ungefähr verortete Kästner sich und seine Mitstreiter im Rahmen der Kampagne nun zum ersten Mal auch expressis verbis in dieser Rolle. Er äußerte, auf die Intervention des PEN Bezug nehmend, gegenüber dem Spiegel: »Wir wollen zeigen, daß wir Intellektuellen uns doch nicht so leicht überfahren lassen«.⁵²¹ Tatsächlich schloss sich, primär im Laufe der ersten drei Monate des Jahres 1950, eine beachtliche Anzahl von Akteuren und Institutionen der Resolution an.⁵²² Zugleich erhielten das deutsche PEN-Zentrum und speziell Kästner viele dezidiert bestärkende Rückmeldungen zu der Aktion. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt verlautbarte etwa, er habe Kästners Veröffentlichungen und Proteste zum Schmutzund Schundgesetz als Verleger Sartres mit Interesse und »(v)oller Genugtuung« 517 Kästner, Erich an Rudolf Alexander Schröder. Brief vom 17.1.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 518 Ebd. 519 Kästner, Erich an Friedrich Ahlers-Hestermann. Brief vom 17.1.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner /PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. AhlersHestermann war zu jener Zeit Direktor der Hamburger Landeskunstschule. 520 Ebd. 521 Kästner, Erich zit. n. [anonym]: Personalien/Erich Kästner. In: Der Spiegel 6 (1950), S. 33. 522 Die Liste der an der Protestschrift Partizipierenden ist lang; exemplarisch seien an dieser Stelle genannt: der Börsenverein Deutscher Verleger- und Buchhändlerverbände, der Deutsche Komponistenrat, der Berufsverband Bildender Künstler München, der Westdeutsche Autorenverband e.V. Nordrhein-Westfalen, der Berufsverband Deutscher Komponisten, die Landeskunstschule Hamburg, die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, die Folkwangschule der Stadt Essen, die Presseagentur abc-press Metzingen, der Schutzverband deutscher Autoren Nordwest, die Staatliche Hochschule für Musik in Freiburg und die Fränkische Bibliophilengesellschaft. Hinzu kamen, neben weiteren Vereinen und Verbänden sowie den PEN-Mitgliedern, noch zahlreiche Einzelpersonen wie etwa Kunsthistoriker, Intendanten, Buchhändler, Verleger, Journalisten und bildende Künstler.

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verfolgt,⁵²³ und der Journalist E. F. Regius bedankte sich »im Namen aller freiheitsliebenden Schaffenden« für den vom PEN initiierten Kampf gegen das Gesetz.⁵²⁴ Jenseits seiner öffentlichen Positionierungen wurde Kästner aber noch auf anderen Wegen aktiv. Er tauschte sich mit seinen PEN-Kollegen über die kulturpolitische Entwicklung aus und nahm außerdem an einem von der Bayerischen Akademie der Künste initiierten Treffen teil, bei dem neben den Akademie-Mitgliedern auch Vertreter des Bayerischen Innenministeriums, Justizministeriums und Kultusministeriums über das geplante Gesetz diskutierten. Wie sich einer Aktennotiz entnehmen lässt, die Kästner für die von ihm vertretene Schriftstellervereinigung anfertigte, bekräftigten dabei insbesondere die Vertreter des Kultusministeriums den Standpunkt, dass ein »freiwilliger Verzicht auf einen Teil unserer Freiheiten im Interesse der Gesundung unserer Jugend notwendig sei«.⁵²⁵ Er selbst habe indes »die intransigente Haltung des PEN« vertreten und über dessen »Münchner November-Resolution« berichtet.⁵²⁶ Noch vor der Beteiligung an dieser laut Kästner »für alle Beteiligten keineswegs uninteressanten Unterhaltung«⁵²⁷ hatte er allerdings noch eine andere, in der Forschung bislang gänzlich unerwähnte Strategie gewählt, um über das geplante Gesetz in Austausch zu gelangen und Unterstützung von prominenter Seite zu gewinnen: Bereits um die Jahreswende 1949/1950 herum war er schriftlich in Kontakt zu zwei hochrangigen Akteuren des politischen respektive bürokratischen Feldes

523 Vgl. Ledig-Rowohlt, Heinrich Maria an Erich Kästner/PEN. Brief vom 3. 2.1950. DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 524 Regius, E. F. an Erich Kästner/PEN. Brief vom 7. 3.1950. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner /PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. Leider konnten die Urheberrechtsinhaber von E. F. Regius trotz großer Bemühungen nicht ausfindig gemacht werden. Selbstverständlich werden sämtliche Rechte respektiert. 525 Kästner, Erich: Akten-Notiz vom 1. Februar 1949. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 526 Ebd. Kästner nutzte die Debatte offenbar nicht zuletzt, um die Anwesenden auf die Förderungswürdigkeit von Kulturprojekten für Heranwachsende aufmerksam zu machen, die er zum Teil selbst mit angestoßen hatte: Seinen Notizen gemäß erlaubte er sich, »gegen Schluß […] darauf zu verweisen, daß in Hinblick auf die Jugend Maßnahmen gegen etwas viel unangebrachter seien als positive Maßnahmen: z. B. die staatliche Unterstützung vorbildlicher Verleger von Jugendzeitschriften, die gerade jetzt in den grössesten [sic] finanziellen Schwierigkeiten seien«. Vergleichbar lohnenswerte Maßnahmen sah er – nicht von ungefähr – auch »in der energischen Unterstützung einer Unternehmung wie der Internationalen Jugendbibliothek und der Kinder-Theaterpläne.« Ebd. Zu Kästners Einsatz für die Gründung der Internationalen Jugendbibliothek und die Etablierung staatlich geförderter Kindertheater siehe auch Kapitel 3.2.3. 527 Kästner, Erich: Akten-Notiz vom 1. Februar 1949. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003.

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getreten, die sich durch ihre publizistischen Tätigkeiten zugleich im kulturellen Feld positioniert hatten: Theodor Heuss und Carlo Schmid. Wie sein Antwortbrief belegt, reagierte der erste deutsche Bundespräsident und FDP-Vorsitzende über alle Maßen zurückhaltend auf Kästners Appell, »die Bundesrepublik vor einem derart folgenschweren Schritte der Bundesregierung zu bewahren«.⁵²⁸ So beteuerte Heuss, ihm selber sei »nur aus Pressenotizen bekannt, dass das Problem des sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes auf die Tagesordnung von Kabinett oder Bundestag kommen wird.«⁵²⁹ Zudem machte er unmissverständlich deutlich, dass er es – »auch für die Schriftsteller« – »für richtig halten [würde], […] einmal abzuwarten, wie der Inhalt und was die Form dieser Gesetzesvorlage sein wird.«⁵³⁰ Während der Austausch mit Heuss nach dieser (für Kästner mutmaßlich recht unbefriedigenden) Reaktion beendet war, kam zwischen ihm und dem SPD-Politiker und Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid eine ausführlichere Korrespondenz zustande, die im Hinblick auf das weitere Vorgehen des Schriftstellers in der »Schmutz- und Schund«-Debatte sehr aufschlussreich ist. In seinem ersten Brief vom 28. Dezember 1949 hatte er Schmid, der als Mitglied des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee maßgeblich an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mitgewirkt hatte, nicht nur darum gebeten, ihm seine persönliche Meinung zu »Gesetzen dieser Art«⁵³¹ mitzuteilen. Er hatte auch versucht, in Erfahrung zu bringen, ob die »SPD als Ganzes«⁵³² gegen das geplante Gesetz Stellung beziehen werde. In diesem Zuge gab Kästner, der Schmids Partei zwar schon vor 1933 gewählt,⁵³³ ihr jedoch nie vollkommen unkritisch gegenübergestanden hatte, zu bedenken, dass die Kulturpolitik »immer ein Schmerzenskind« der SPD gewesen sei und es »hier manches gutzumachen« gäbe.⁵³⁴ In seiner nur wenige Tage später verfassten Antwort bekundete Schmid dezidiert, dass »[s]eine Sorge wegen des sich überall geltend machenden heiligen Eifers in Sachen der Reinhaltung unseres Schrifttums […] nicht geringer«⁵³⁵ sei als die Kästners. Darüber hinaus verlieh er seiner Überzeugung

528 Kästner, Erich mit Ernst Penzoldt an Theodor Heuss. Brief vom 3.1.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 529 Heuss, Theodor an Erich Kästner. Brief vom 13.1.1950. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 530 Ebd. 531 Kästner, Erich an Carlo Schmid. Brief vom 28.12.1949 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 532 Ebd. 533 Vgl. auch Kapitel 3.1.2. 534 Kästner, Erich an Carlo Schmid. Brief vom 28.12.1949 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 535 Schmid, Carlo an Erich Kästner. Brief vom 4.1.1950. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003.

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Ausdruck, dass die SPD-Fraktion, die zu jenem Zeitpunkt noch nicht geschlossen Stellung zu dem angebahnten Gesetz bezogen hatte, in dieser Sache nicht anders denke als er. ⁵³⁶ Der Beachtung wert ist, dass Kästner den Politiker, von dessen Weltgewandtheit und internationalem Prestige er offenbar überaus beeindruckt war,⁵³⁷ in seinem Schreiben auch um persönliche Ratschläge hinsichtlich weiterer möglicher Interventionsstrategien für den deutschen PEN gebeten hatte. Natürlich könne »jeder einzelne« laut Kästner »Artikel dagegen schreiben, natürlich können wir eine noch schärfere Resolution fassen, – aber mir schweben direktere, praktischere Maßnahmen vor, ohne daß ich bereits imstande bin, sie deutlich zu skizzieren.«⁵³⁸ Schmid rückte daraufhin die Einflussmöglichkeit durch eine persönliche Kontaktaufnahme zur Bevölkerung der Bundesrepublik in den Vordergrund. Er glaube, so teilte er Kästner mit, »dass nächst der Presse der Versammlungsraum der wirksamste Kampfplatz sein könnte.«⁵³⁹ In diesem Zusammenhang führte er aus: Ich erinnere mich aus meiner Jugend, wie die namhaftesten Schriftsteller und Künstler Deutschlands in jeder Stadt auf das Podium stiegen, um die Lex Heinze⁵⁴⁰ zu Fall zu bringen.

536 Vgl. ebd. 537 So konstatierte Kästner in seinem ersten Brief an Schmid: »Wenn ich mich nun heute gerade an Sie wende, so hat das mehrere Gründe: Sie sind ein Schriftsteller, Sie sind ein urbaner Mann und Sie genießen als profilierter Vertreter der SPD beileibe nicht nur in ihrer Partei, sondern im In- und Auslande überhaupt beträchtliches Ansehen.« Kästner, Erich an Carlo Schmid. Brief vom 28.12.1949 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 538 Ebd. 539 Schmid, Carlo an Erich Kästner. Brief vom 4.1.1950. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 540 Der Titel des im Jahr 1900 vorgelegten Gesetzesentwurfes rekurriert auf den Namen des zu jener Zeit wegen Mordes an einem jungen Mädchen angeklagten Berliner Zuhälters Gotthilf Heinze. Der Prozess gegen ihn stieß in der Wilhelminischen Gesellschaft Bestrebungen an, gesetzlich gegen Zuhälterei und Prostitution vorzugehen, und darüber hinaus auch ›Aufreizungen zur Unzucht‹ zu einem Straftatbestand zu machen. Der erste vor diesem Hintergrund erstellte Entwurf einer »Lex Heinze« enthielt unter anderem einen »Kunst- und Schaufenster-« sowie einen »Theaterparagraphen«. Diesen gemäß wären Schriften, Bilder und jegliche Vorführungen zu ahnden gewesen, die – auch ohne »grob unzüchtig« zu sein – das öffentliche Scham- und Sittlichkeitsempfinden verletzen könnten. Auf entschiedene öffentliche Proteste Intellektueller und der SPD-Fraktion hin wurden jene Paragraphen letztlich gestrichen. Nichtsdestotrotz hatte auch die abgemilderte Version des Gesetzes, wie Lorenz zusammenfasst, »weitreichende Folgen«, denn mit der Lex Heinze wurde »jener (juristisch betrachtet überaus schwammige) Straftatbestand geschaffen, der heutzutage bestimmend für die allermeisten Indizierungen und Verbote von Literatur ist: das sittliche Empfinden.« Lorenz (2009), S. 41 f.

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Die Bemühung des Künstlers um ihn erfreut den Bürger, und für die Geistesfreiheit ohne größere Unkosten einstehen zu dürfen, tut auch heute noch manchem recht wohl.⁵⁴¹

Bezeichnenderweise ergriff Kästner am 17. März 1950, also nur wenige Wochen nachdem er Schmids Brief erhalten hatte, tatsächlich die Gelegenheit, vor einem 500-köpfigen Auditorium einen Vortrag im Münchner Goethesaal zu halten.⁵⁴² Den Veranstaltungsrahmen für die im Folgenden näher zu betrachtende – und mutmaßlich von den Ausführungen Schmids inspirierte – Ansprache bildete ein Diskussionsabend, zu dem die Gesellschaft für bürgerliche Freiheiten die Bevölkerung mit der Absicht eingeladen hatte, »zu einer echten Meinungsbildung beizutragen«.⁵⁴³ Bei diesem Anlass kam Kästner ausdrücklich auf den im Brief des Bundestagsvizepräsidenten erwähnten Gesetzesentwurf aus dem Jahr 1900 zu sprechen, der durch die Intervention Intellektueller zu Fall gebracht werden konnte. Wie das erhaltene Vortragstyposkript offenbart, charakterisierte der Schriftsteller die Debatte um die Kunstfreiheit direkt zu Beginn als »alte Fehde, die jede Generation von neuem austrägt und austragen muß. […] Die Anlässe, die Gründe und die Methode der Auseinandersetzung« seien, »mindestens seit der Lex Heinze […] immer die gleichen«.⁵⁴⁴ Dass mithilfe von Gesetzen stets aufs Neue versucht werde, die »Gasse der Geistesfreiheit […] bleibend zu blockieren«,⁵⁴⁵ sah Kästner in der politischen Wirkmächtigkeit künstlerischer und wissenschaftlicher Hervorbringungen begründet, auf die auch heutige Studien verweisen, die sich mit der diskursiven Funktion von Zensur auseinandersetzen. So erörtert etwa Matthias N. Lorenz in Anlehnung an Foucault, dass Literatur »[a]ls Ort eines von bürgerlichen Nützlichkeitsüberlegungen freigestellten Diskurses« dazu vorherbestimmt sei, »die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmodi einer Gesellschaft zu hinterfragen und auch ihre Veränderung anzustoßen.«⁵⁴⁶ Diese Funktion prädestiniere sie »zugleich dafür,

541 Schmid, Carlo an Erich Kästner. Brief vom 4.1.1950. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 542 Diese Besucherzahl ist in einer Broschüre der Gesellschaft für bürgerliche Freiheiten vermerkt. Vgl. Curschmann, Fritz Heinrich: Schmutz- und Schundgesetz – ja oder nein? Gesetzesmaterial und Stimmen zur Schmutz- und Schund-Gesetzgebung aus Anlass des 3. Diskussionsabends der Gesellschaft für bürgerliche Freiheiten in München am 17. März 1950. München 1950, S. 23. 543 Ebd. 544 Kästner, Erich: Referat Erich Kästner zum Schmutz- und Schundgesetz (veranstaltet v. d. Gesellschaft für Bürgerliche Freiheiten, München, im Goethesaal, 17. 3.1950). Typoskript. DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. Im Weiteren zitiert als Kästner (1950). 545 Ebd. 546 Lorenz (2009), S. 26.

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in Konflikt mit Instanzen zu geraten, denen nicht an einer Veränderung gelegen ist.«⁵⁴⁷ Von einer ähnlichen Annahme scheint bereits in den frühen 1950er Jahren auch Kästner ausgegangen zu sein, postulierte er doch in seinem Vortrag: »Je ungehinderter Kunst, Literatur und Forschung ihren Weg weitergehen, umso mehr sinkt der Einfluß der konservativen Kräfte.«⁵⁴⁸ Darüber hinaus lenkte der Schriftsteller die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die – seiner Beobachtung nach stets gleichbleibenden – diskursiven Strategien, die die Befürworter von Zensurbestrebungen zur Diffamierung ihrer Gegner nutzen: »Sie sagten – und sagen auch heute –: Wer gegen ein Schmutz- und Schundgesetz ist, ist für Schmutz und Schund. Wer gegen das Gesetz ist, dem ist es einerlei, was aus der Jugend wird.« ⁵⁴⁹ Allerdings sei »[d]iese Parole […] ein Jahrmarktschwindel, wo und von wem er auch angewandt wird.«⁵⁵⁰ Dass die Verfechter der Kunstfreiheit den von den jeweiligen Gesetzgebern ausgerufenen ›Schutz der Jugend‹ schon immer als Vorwand zur Unterdrückung der Geistesfreiheit betrachteten, versuchte Kästner seinem Auditorium schließlich anhand eines »kurzen historischen Überblick[s]«⁵⁵¹ vor Augen zu führen: Er verwies sowohl auf die erfolgreichen Proteste gegen die Lex Heinze und gegen erneute Zensurbestrebungen vor Beginn des Ersten Weltkrieges⁵⁵² als auch auf den (letztlich erfolglosen) Kampf gegen das »Schmutz- und Schundgesetz« im Jahr 1926. In diesem Kontext verlas er unter anderem Zitate aus Ansprachen Ludwig Fuldas, Immanuel Heyns und der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, die sich im Rahmen der verschiedenen Kontroversen gegen die jeweils angebahnte Zensurmaßnahme zur Wehr gesetzt hatten.⁵⁵³ Implizit verlieh Kästner seinem eigenen Vortrag folglich

547 Ebd. 548 Kästner (1950). 549 Ebd. 550 Ebd. 551 Ebd. 552 Zu jener Zeit versuchte man erneut, gesetzliche Maßnahmen gegen die sittliche Gefährdung der Jugend durch Schriften und Kunstwerke zu ergreifen. Diese Zensurbestrebungen sollten sich mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges noch einmal verschärfen, da man sämtliche ›Wehrkraft zersetzende‹ Äußerungen pazifistischer Autoren unterbinden wollte. Vgl. dazu Lorenz (2009), S. 41. 553 Der Schriftsteller Fulda und der Pfarrer und Reichstagsabgeordnete Heyn hatten, wie Kästner wiedergibt, 1914 auf einer Protestversammlung des Goethebundes gefordert, jede »Maßregel [abzuschaffen], die Kunst, Wissenschaft und Literatur zusammen mit dem Schmutz und Schund auf die Anklagebank zieht« und sich dafür ausgesprochen, dass die Freiheit der Künste »nicht […] verstümmelt werden« dürfe. (Fulda, Ludwig und Immanuel Heyn zit. n. Kästner 1950) Die ebenfalls im Vortrag zitierte Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste kritisierte im Jahr 1926, dass das zu jener Zeit geplante Schmutz- und Schundgesetz »sich des Namens der Jugend« bediene, realiter jedoch auf eine »Bevormundung aller Lebensalter« abziele. Zit. n. Kästner (1950).

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Nachdruck, indem er ihn in die Tradition einer schon lange vor der Gründung der Bundesrepublik etablierten Widerspruchskultur stellte. Zugleich erinnerte er seine Zuhörer an die Folgen, die das Scheitern jenes Widerspruchs nach 1926 nach sich gezogen hatte. Immerhin war das letztlich erlassene »Schmutz- und Schundgesetz« nach der nationalsozialistischen Machtübernahme durch das Postulat, »nicht nur die Jugend, sondern das ganze Volk gegen schädliche Schriften jeder Art zu schützen«,⁵⁵⁴ von Goebbels nur allzu leicht zu erweitern gewesen. Seine bereits im Artikel Der Trojanische Wallach zum Ausdruck gebrachte Befürchtung, dass es auch in der gegenwärtigen Situation allenfalls vordergründig um Fragen der ›Jugendfürsorge‹ gehe, unterstrich Kästner im weiteren Verlauf seiner Ansprache, indem er auszugsweise verschiedene Artikel aus zwei aktuellen Ausgaben des Würzburger Katholische[n] Sonntagsblatt[es] verlas. Kaum übersehbar zeugen die Ausführungen jener kirchlichen Wochenzeitung sowohl von einer antidemokratischen Haltung als auch von einer latenten Verteidigung des NS-Regimes: Den von Kästner gewählten Zitaten gemäß, hatten die Mitarbeiter des Blattes die »Schuld« für die ›unsittlichen‹ Zustände explizit »nicht [in den] Nachwirkungen der nazistischen Weltanschauung« gesucht, sondern diese primär mit einem »falsche[n] Freiheitsbegriff« in Zusammenhang gebracht, der den Deutschen »vom Westen importiert und aufgezwungen« worden sei.⁵⁵⁵ Zudem hatten sie die Haltung vertreten, dass die gegenwärtige »sittliche Zügellosigkeit […] mehr dem Teufel in die Hände [spiele], als es selbst ein Hitler vermochte«.⁵⁵⁶ Die Nationalsozialisten wurden indes von den Verfassern der Artikel dafür gelobt, »zersetzende Literatur […] auf den Scheiterhaufen geworfen und in den ganzen 12 Jahren ihres Reiches dafür gesorgt« zu haben, »daß sich die Unsittlichkeit wenigstens nicht so ungescheut wie heute an die Öffentlichkeit wagen durfte.«⁵⁵⁷ Den Umstand, dass »[k]eine kirchliche Instanz […] diesen Ungeheuerlichkeiten widersprochen« habe, begriff Kästner als Beweis für die Berechtigung seines Argwohns gegen die Befürworter des angebahnten Gesetzes: »Die Katze ist aus dem Sack. Man träumt von Scheiterhaufen. Man meint nicht die Kioske, sondern die Freiheit.«⁵⁵⁸ Von »[d]iese[n] Leuten«⁵⁵⁹ grenzte der Schriftsteller den deutschen PEN und alle weiteren Verbände und Persönlichkeiten, die das geplante Gesetz

554 555 556 557 558 559

Goebbels, Joseph zit. n. Kästner (1950). Würzburger Katholisches Sonntagsblatt vom 29.1.1950 zit. n. Kästner (1950). Würzburger Katholisches Sonntagsblatt vom 29.1.1950, zit. n. ebd. Würzburger Katholisches Sonntagsblatt vom 12. 2.1950 zit. n. ebd. Ebd. Ebd.

4.2 Kästners Kritik an personellen und ideologischen Kontinuitäten des NS-Regimes

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ablehnten,⁵⁶⁰ entschlossen ab. An all jene, »denen ihre christliche Moral unter Hitler besser gewahrt erschien als heute«,⁵⁶¹ richtete er am Ende seiner Ansprache nicht von ungefähr ein Selbstzitat aus seinem Marschliedchen, mit dem er 1932 die Mitglieder der NSDAP adressiert hatte: Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärtsdrehen und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf? Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf! Nur – eure Uhr wird nicht mehr richtiggehen.⁵⁶²

In den Kontext des Jahres 1950 verlagert, galt Kästners Vorwurf nun also nicht länger der politischen ›Rückwärtsgewandtheit‹, die er den Nationalsozialisten vor ihrer Machtübernahme attestiert hatte. Er betraf stattdessen die Rückwendung zum Nationalsozialismus respektive den ihm inhärenten Werthaltungen, die seiner Auffassung nach von jenen Deutschen ausging, die nicht sehen wollten, was ›die Stunde geschlagen hatte‹ und über die Zäsur des Jahres 1945 hinaus versuchten, an einer dezidierten Reglementierung der Künste durch den Staat festzuhalten. Um einer solchen Tendenz im Rahmen der aktuellen »Schmutz- und Schund«Debatte noch mehr entgegenzusetzen, unternahm Kästner in den Folgemonaten einen weiteren nennenswerten Schritt. Er beließ es nämlich nicht bei seinen Versuchen, die bundesdeutsche Bevölkerung, die Akteure des kulturellen Feldes und einzelne politische Akteure für seine Ansicht zu gewinnen. Stattdessen trug er die Idee an Carlo Schmid heran, die PEN-Resolution samt der bis dahin verzeichneten Unterschriften zu vervielfältigen und sie jedem einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages zukommen zu lassen.⁵⁶³ Schmid befürwortete Kästners Idee ausdrücklich, brachte aber zugleich seine Befürchtung zum Ausdruck, dass »gewisse Gruppen der Mitte und der Rechten so festgefahren« seien, dass Kästner

560 In diesem Zusammenhang benannte er neben allen, die sich der Resolution des PEN bislang angeschlossen hatten, auch Instanzen und Akteure wie das bayerische Justizministerium, den kulturpolitischen Ausschuss des württembergisch-badischen Landtags, den Staatsanwalt Heinz Neudeck und den einschlägigen Sachverständigen bei der Staatsanwaltschaft München, Hans Luxemburger, die unabhängig von der Protestaktion des Schriftstellerverbandes Bedenken gegen das Gesetz geäußert hatten. Vgl. ebd. 561 Ebd. 562 Kästner (1950). In der publizierten Fassung des Gedichts fehlt lediglich der Gedankenstrich im vierten Vers, mit dem Kästner seine Botschaft im betrachteten Vortrag offenbar noch gezielter hervorheben wollte. Siehe Kästner, Erich: Marschliedchen [1932]. In: EKW I, S. 220 f. hier 221. Vgl. auch Kapitel 3.2.4. 563 Vgl. Kästner, Erich an Carlo Schmid. Brief vom 3. 5.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003.

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»kaum etwas bei ihnen erreichen« dürfte.⁵⁶⁴ Dennoch beriet er ihn hinsichtlich der erforderlichen Anzahl an Kopien des Schriftstückes,⁵⁶⁵ die der Schriftsteller schließlich, exakt ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, mit der Bitte um Verteilung an sämtliche Bundestagsmitglieder und die Bundesratsbevollmächtigten an die Pressestelle der SPD sandte.⁵⁶⁶ Aufgrund seines hartnäckigen Einsatzes in dieser Angelegenheit lud man Kästner in seiner Funktion als PEN-Präsident wenige Monate später tatsächlich zu einer Sitzung des Bundestagsausschusses für Fragen der Jugendfürsorge nach Bonn ein. Hier erhielt er, ebenso wie der Schriftsteller Stefan Andres,⁵⁶⁷ die Möglichkeit, persönlich zu dem inzwischen von der Bundesregierung vorgelegten »Entwurf eines Gesetzes über den Vertrieb jugendgefährdender Schriften« Stellung zu beziehen. Wohlweislich vermied dieser Entwurf den begrifflichen Rekurs auf den historisch vorbelasteten »Schmutz- und Schund«-Terminus und bezog sich stattdessen auf Schriften, »die geeignet sind, Jugendliche zu gefährden«.⁵⁶⁸ Kästner nutzte die Gelegenheit, die sich ihm am 9. November 1950 bot, um von dem Diskussionsabend der Gesellschaft für bürgerliche Freiheiten zu berichten und seinen Vortrag vom 17. März in leicht überarbeiteter Form ein weiteres Mal zu halten.⁵⁶⁹ Auch in der darauf folgenden offenen Diskussion mit den Ausschussmitgliedern vertrat er konsequent die Ansicht, dass das geplante Gesetz überflüssig, abwegig und gefährlich sei.⁵⁷⁰ So konstatierte er erneut, dass die bereits bestehenden Paragraphen

564 Schmid, Carlo an Erich Kästner. Brief vom 9. 5.1950. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 565 Vgl. ebd. 566 Vgl. Kästner, Erich an den Bundestag/Pressestelle der SPD-Fraktion. Brief vom 23. 5.1950 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. 567 Auch Andres, der sich im Rahmen der Ausschusssitzung wie Kästner gegen den Gesetzesentwurf aussprach, hatte die Bestrebungen der Bundesregierung bereits im Vorlauf heftig kritisiert. Siehe weiterführend Andres, Stefan: Die düsteren Perspektiven. In: Das literarische Deutschland. Zeitung der deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst, 5.12.1950, S. 2. 568 Vgl. dazu auch Beer (2012), S. 33 f. 569 Darauf, dass Kästner über kleinere stilistische Veränderungen hinaus keine entscheidenden inhaltlichen Modifikationen vorgenommen hatte, deutet ein Abdruck von Auszügen der Ansprache hin, der sich in der Ausgabe der Zeitung Das literarische Deutschland vom 5.12.1950 wiederfindet. Siehe Kästner, Erich: Das drohende Schmutz- und Schundgesetz. Ein paar Beispiele? Bitte sehr! In: Das literarische Deutschland. Zeitung der deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst, 5.12. 1950, S. 2. 570 Vgl. [anonym]: Das drohende Schmutz- und Schundgesetz. Vier Gesichtspunkte. In: Das literarische Deutschland. Zeitung der deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst, 5.12.1950, S. 2. Der Verfasser referiert im genannten Artikel die zentralen Argumente, die Kästner in die Diskussion einbrachte.

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des Strafgesetzbuches genügen würden, um jugendgefährdende Schriften zu bekämpfen und dass die ›Jugendnot‹ in Deutschland kein pädagogisches, sondern ein wirtschaftliches Problem sei.⁵⁷¹ Darüber hinaus beanstandete er, dass das Gesetz »mit Begriffen arbeiten [müsse], die sich nicht definieren, dafür aber umso weitgehender interpretieren ließen«.⁵⁷² Kaum verwunderlich ist, dass primär seine Behauptung, »[d]as geplante Gesetz laufe dem Grundgesetz zuwider«, da es »einen eklatanten Einbruch in die im Artikel 5 garantierten und ebendort eingeschränkten Freiheiten« bedeute,⁵⁷³ zu Widerspruch in der Diskussion führte – schließlich sahen die Befürworter des Entwurfs diesen keineswegs als verfassungswidrig an.⁵⁷⁴ Trotz der ›schweren Geschütze‹⁵⁷⁵ die er gegenüber den Politikern aufgefahren hatte, bewertete Kästner selbst das Resultat seiner Teilnahme an der Ausschusssitzung im Rahmen der darauf folgenden Jahresversammlung des deutschen PENClubs in Wiesbaden als »nicht befriedigend«: Bonn meine es »offenbar gut«, begreife aber nicht, »warum der PEN sich wehrt.«⁵⁷⁶ Und tatsächlich konnten letzten Endes weder die öffentliche Kampagne, die Kästner als Vorstand der Schriftstellervereinigung erfolgreich auf den Weg gebracht hatte, noch die übrigen Interventionsversuche, auf die er zurückgegriffen hatte, die Verabschiedung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften verhindern. Nach 571 Vgl. ebd. 572 Ebd. 573 Ebd. 574 Auf die komplexe Frage, ob (und falls ja: in welcher Hinsicht) Kästners Unterstellung, die Einführung von Zensurmaßnahmen zum Schutz der Jugend sei nicht verfassungskonform, eine Berechtigung hatte, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht in aller Ausführlichkeit eingegangen werden. Es sei jedoch auf Buchloh verwiesen, der diese Problematik in seiner Studie aufgreift und verdeutlicht, welch zentrale Rolle die Auslegung des Begriffes »Zensur« beziehungsweise »Nachzensur« in diesem Zusammenhang spielt: Begreift man Zensur als eine systematische Überwachung der Presse und des Literaturbetriebes, die mit der Möglichkeit einhergeht, Texte bereits vor ihrer Veröffentlichung zu indizieren, so trifft die Zuschreibung schwerlich auf das betreffende Gesetz zu. Sieht man indes auch die Möglichkeit einer nachträglichen Überprüfung von Meinungsäußerungen durch den Staat als Zensur an, ist der Fall offensichtlich anders gelagert.Vgl. dazu Buchloh (2002), S. 86 – 90. 575 Auf diese Weise beurteilt Beer (2012, S. 33) die von Kästner erhobenen Vorwürfe an die Befürworter des geplanten Gesetzes. 576 Kästner, Erich zit. n. Bores (2010), S. 85. Von diesem Zeitpunkt an sollte es keine vergleichbaren öffentlichkeitswirksamen Interventionen des PEN gegen das Gesetz mehr geben. Mit der SPD fand dennoch weiterhin ein sporadischer Austausch über die nachfolgenden Entwicklungen in dieser Angelegenheit statt. Die wachsende öffentliche Zurückhaltung der Schriftstellervereinigung dürfte nicht nur Kästners mangelnder Zuversicht hinsichtlich einer doch noch erfolgenden Meinungsänderung der Politiker geschuldet gewesen sein. Sie ist mutmaßlich auch auf die mannigfaltigen clubinternen Probleme zurückzuführen, denen sich die Mitglieder und der Vorstand der wenig später offiziell entzweiten PEN-Sektion stellen mussten. Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.5.

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zahlreichen weiteren Ausschusssitzungen stimmte der Deutsche Bundestag am 17. September 1952 mehrheitlich für den Gesetzesentwurf, der nach letzten kleinen Veränderungen schließlich im Folgejahr in Kraft treten sollte⁵⁷⁷ – wohlgemerkt: gegen das Votum der SPD.⁵⁷⁸ Erwähnenswert ist, dass die Hauptrednerin der Sozialdemokraten, Irma Keilhack, bei der Abstimmungssitzung verschiedene Argumente gegen das Gesetz vorbrachte, die in den Vorjahren auch Kästner geltend gemacht hatte: Genau wie er postulierte sie etwa, dass das Gesetz überflüssig und in mehrerer Hinsicht gefährlich sei, wobei sie ebenfalls beanstandete, dass die Formulierungen, mit denen der Entwurf arbeite, zu viele Auslegungsmöglichkeiten bieten würden.⁵⁷⁹ Ungeachtet der Übereinstimmung seiner Haltung mit den Sichtweisen der Oppositionspartei, leistete der schlussendliche Ausgang der »Schmutz- und Schund«Debatten Kästners wachsender Enttäuschung über die politische Entwicklung in seinem Land massiven Vorschub. Seine missbilligende Stimmungslage kommt beispielhaft in dem Artikel Ein politischer Eilbrief zum Ausdruck, den er im November 1954 verfasste.⁵⁸⁰ In diesem Beitrag, der sich, mit Hanuschek gesprochen, als »Rundumschlag über die Parteien der Bundesrepublik«⁵⁸¹ liest, wirft der Schriftsteller zunächst der bayerischen Landes- und hiernach der Bundesregierung vor, sich in ihren (Wahl‐)Programmen auf »außenpolitisch[e] Argumente und Slogans«⁵⁸² fokussiert zu haben. Damit einhergehend legt er den Politikern zur Last, »alle brennenden innen- und sozialpolitischen Fragen« beiseite zu sprechen, wobei er noch einmal auf das (von ihm noch immer so betitelte) »Schmutz- und Schundgesetz«⁵⁸³ rekurriert. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen greift er zunächst Adenauer für dessen Westintegrationspolitik – respektive sein »wildes Anschmie-

577 Das Gesetz, dem 1954 die Gründung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften folgte, trat erst im Jahr 2002 außer Kraft; wesentliche seiner Bestandteile wurden aber, gemeinsam mit Bestandteilen des Gesetzes zum Schutz der Jugend, in das neue Jugendschutzgesetz übernommen. Vgl. dazu weiterführend Lorenz (2009), S. 69 u. 70 – 76. 578 Auch die KPD hatte die Gesetzesvorlage abgelehnt, während sich in der FDP Befürworter und Gegner die Waage hielten und die Unionsparteien geschlossen für das Gesetz stimmten.Vgl. Buchloh (2002), S. 81. 579 Vgl. Keilhack, Irma zit. n. Buchloh (2002), S. 115. 580 Siehe Kästner, Erich: Ein politischer Eilbrief [1954]. In: EKW VI, S. 615 – 617. Der Erstdruck des später in verschiedenen Kästner-Anthologien abgedruckten Textes ist nicht ermittelt. 581 Hanuschek (2012), S. 97. 582 EKW VI, S. 615. Augenfällig hebt Kästner hier auf die politischen Positionierungen der Bundesregierung innerhalb des Ost-West-Konfliktes ab, auf die im Kapitel 4.3 dieser Studie näher eingegangen wird. 583 Ebd.

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gen an den großen Bruder überm großen Teich«⁵⁸⁴ – an. Hiernach kritisiert er jedoch auch die SPD, der er vorwirft, »kein Konzept, geschweige eine Konzeption« zu haben, die »klar und deutlich wäre«: »Die Opposition übt sich im Regieren, für den Fall, daß sie eines Tages die Majorität bekäme. Statt sich dadurch, daß sie echt opponiert, die Majorität zu erkämpfen.«⁵⁸⁵ Die Spannweite zwischen den »zwei Flügeln« der FDP sei indes »so groß, daß niemand, wohl auch sie selber nicht«, wisse, »wohin sie fliegen wird.«⁵⁸⁶ Bereits Hanuschek betonte das Selbstbewusstsein, das in diesem – in der Tat »nur gelegentlich argumentationsgestützten«⁵⁸⁷ – Beitrag zum Ausdruck kommt, indem er festhielt, dass der Schriftsteller »sich hier offenbar in einer Position [fühlt], die selbst machtvoll, auch medial gesichert ist«.⁵⁸⁸ Was Hanuschek als Ankunft Kästners »in der kulturellen Elite«⁵⁸⁹ charakterisiert, lässt sich gleichermaßen als Ankunft in einem gefestigten und nonchalant nach Außen getragenen Selbstverständnis als ›allgemeiner‹ Intellektueller beschreiben. Immerhin scheute Kästner – im Sinne Lepsius’⁵⁹⁰ – nicht davor zurück, aus seiner ›formal inkompetenten‹ Position heraus massive Kritik an den politischen Machthabern zu üben. Erwähnenswert ist, dass Hanuschek den Habitus, den er dem [P]olitische[n] Eilbrief zuschreibt, gezielt auf Kästners Prägung durch seine in jungen Jahren erfolgte Auseinandersetzung mit den intellektuell-elitären Theorien von H.G. Wells zurückführt.⁵⁹¹ Nicht weniger naheliegend erscheint es freilich, die selbstbewusste Haltung des Autors mit dessen jüngst gemachten Erfahrungen innerhalb der »Schmutz- und Schund«-Debatten in Verbindung zu bringen: Zwar war sein Eintreten gegen das geplante Gesetz letztendlich nicht von Erfolg gekrönt. Gleichwohl hatte Kästner es für sich verbuchen können, als Präsident des PEN-Clubs zahlreiche Akteure des kulturellen Feldes zu einem kollektiven Protest gegen ein politisches

584 Ebd. 585 Ebd., S. 616. 586 Ebd. 587 Hanuschek (2012), S. 97. Tatsächlich begründet Kästner seine Vorwürfe allenfalls vage. So führt er etwa aus, dass die SPD »beim Thema ›Konfessions- oder Gemeinschaftsschule‹ […] geradezu [kapituliert]«. (EKW VI, S. 616) Die ganz konkreten politischen Postulate und Entscheidungen der Parteien, auf die er abhebt, bleiben jedoch unbenannt. Auch die mit den USA übereinstimmende antikommunistische Haltung der Adenauer-Regierung wird von ihm nur angedeutet. 588 Hanuschek (2012), S. 97. 589 Ebd. 590 Vgl. auch Kapitel 2.1. 591 Vgl. dazu Hanuschek (2012), S. 89 f. Wie bereits in Kapitel 3.1.2 zusammengefasst, verankerte der britische Autor in seinen Schriften der 1920er Jahre die Idee, dass eine kleine, mächtige Elite bestehend aus Wissenschaftlern, ›geistigen Arbeitern‹ und Politikern die politische Lenkung übernehmen und eine ›Weltrepublik‹ errichten könne.

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Vorhaben bewegt zu haben und für die Autonomie seines Feldes und das hohe demokratische Gut der Meinungsfreiheit eingetreten zu sein. Darüber hinaus hatte er neue Interventionsstrategien für sich erprobt, indem er seine Stimme nicht länger allein in Form journalistischer und literarischer Texte erhob, sondern in unmittelbaren Kontakt zu seinen Mitbürgern, ihren gewählten Repräsentanten und den Regierenden seines Landes getreten war. Inwiefern Kästner in den Folgejahren, ungeachtet dieses neuen ›Erfahrungsschatzes‹, noch einmal versuchen sollte, den latent ›rückwärtsgewandten‹ und antidemokratischen Denk- und Verhaltensmustern vieler Deutscher mithilfe eines literarischen Beitrags entgegenzutreten, wird im folgenden Kapitel beleuchtet.

4.2.4 Über alte Anliegen und chronische Aktualitäten ‒ Kästners Theaterstück Die Schule der Diktatoren Als er gegen Ende der 1950er Jahre von den jungen Reportern einer Schülerzeitung gefragt wurde, welches seiner eigenen Werke er für sein bestes halte, nannte Kästner neben dem Fabian und »einige[n] Gedichten« auch sein Theaterstück Die Schule der Diktatoren, das 1956 als Buch erschienen und im Folgejahr unter der Regie Hans Schweikarts an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt worden war.⁵⁹² Obgleich sich deutsche Theater nicht gern an das Stück heranwagen würden, glaube er an eine gute Arbeit.⁵⁹³ Dass bei weitem nicht jeder Rezipient seine Meinung über die Qualität des Werkes teilte, war Kästner bereits kurz nach der Premiere der Schweikart’schen Inszenierung bewusst geworden, hatte er doch in einem Brief an seine frühere Geliebte Pony Bouché (alias Margot Schönlank) festgehalten: Die Kritiken, die über das Stück in ganz Westdeutschland erschienen sind, zeichnen sich durch einen beachtlichen Umfang und eine gewisse Ratlosigkeit aus. Daß das Stück die Leute hier an

592 Vgl. Rachinger, H. P.: Erich Kästner. In: Der Giselaner. Zeitschrift der Gisela-Oberrealschule München 4 (1959), S. 3 – 5, hier S. 4. 593 Vgl. ebd. In der Tat hatten die deutschen (respektive deutschsprachigen) Bühnen, mit Ausnahme der Münchner Kammerspiele, kein Interesse an der Inszenierung des Stoffes gezeigt. Wie Thomas Anz nachwies, hatte Kästner nach der Fertigstellung des Textes vergeblich versucht, sein Stück an Theatern in Hamburg, Frankfurt a. M., Düsseldorf, Stuttgart, Wien und Zürich unterzubringen. Während das Gros der angefragten Spielstätten ästhetische Gründe für die Ablehnung des Stoffes nannte, begründete das Württembergische Staatstheater seine Absage mit »dem politischen Klima Stuttgarts, in dem wir uns nicht trauen, Ihre Komödie zu spielen«. (Württembergisches Staatstheater an Erich Kästner. Brief vom 21.4.1956 zit. n. EKW V, S. 829) Eine nähere Erläuterung zu den erwarteten Schwierigkeiten blieb das Theater in besagtem Brief allerdings schuldig.

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Zeiten erinnert, die sie gerne vergäßen, ist dem spontanen Beifall nicht unbedingt zuträglich.⁵⁹⁴

Die Grundidee für den Stoff der Komödie⁵⁹⁵ war dem Autor, wie er im Vorwort der Buchausgabe darlegt, schon während der NS-Zeit gekommen:⁵⁹⁶ Damals sei am deutschen Beispiel deutlich geworden, »daß sich der Mensch, unter Beibehaltung seiner fotografischen Ähnlichkeit, bis zur Unkenntlichkeit verunstalten läßt.«⁵⁹⁷

594 Kästner, Erich an Pony M. Bouché. Brief vom 7.3.57. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 302 f., hier S. 302. 595 So lautete zumindest die in der Buchausgabe vollzogene Einordnung des Stückes, die in der zeitgenössischen Rezeption aber alsbald durch andere Zuschreibungen ausgetauscht wurde. Beispielsweise hielt Der Spiegel kurz nach der Uraufführung des Werkes fest: »Die Buchausgabe nennt ›Die Schule der Diktatoren‹ eine Komödie, die Kritik nennt sie eine Satire, im Theater gilt sie als Tragikomödie.« (anonym: Kästner Premiere: Papageien im Gehrock. In: Der Spiegel 10 (1957), S. 52 f., hier S. 52) Auch Kurt Beutler sprach sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Stück gegen dessen Klassifizierung als Komödie aus und plädierte stattdessen dafür, Die Schule der Diktatoren als »Groteske« einzuordnen. (Vgl. Beutler, Kurt: Das Theaterstück »Die Schule der Diktatoren«. In: Erich Kästner: Werk und Wirkung. Hg. von Rudolph Wolff. Bonn 1983, S. 95 – 103, hier S. 97) Die jüngere Kästner-Forschung wandte sich der Gattungsbestimmung, die das Stück in der Buchausgabe erfuhr, hingegen wieder zu und zeigte deren Nähe zum Komödienverständnis Friedrich Dürrenmatts auf – hielt der Schweizer Dramatiker doch 1954 fest, dass die Komödie die einzig gegenwärtig noch mögliche dramatische Form sei, um das Tragische darzustellen. Vgl. Dürrenmatt, Friedrich: Theaterprobleme. In: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. 7: Essays, Gedichte. Zürich 1996, S. 28 – 69. Vgl. dazu auch Zinkernagel (2014), S. 313 sowie Pluto-Prondzinski (2016), S. 239 f. 596 Obgleich sich die Ausarbeitung des Textes letztlich bis weit in die 1950er Jahre hineinzog (vgl. auch Kapitel 3.2.4), sei der Plan zu dem Stück laut Kästner »zwanzig Jahre alt« (EKW V, S 461). Nimmt man diese Zeitangabe wörtlich, dann entwickelte er die Idee 1936 – und damit zwei Jahre bevor der Diskussionsroman La scuola dei dittatori von Ignazio Silone unter dem deutschen Titel Die Schule der Diktatoren in der Schweiz erschien. Darin setzt sich der italienischstämmige Autor mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus auseinander, indem er drei fiktive Figuren (den künftigen amerikanischen Präsidenten, dessen Propagandaminister und den Zyniker Thomas) miteinander debattieren lässt. Evident ist, dass Kästner der genannte literarische Text bekannt war, denn er findet nach Kriegsende in seinem bereits betrachteten Artikel Wert und Unwert des Menschen Erwähnung. (Vgl. EKW VI, S. 70, vgl. auch Kapitel 4.1.4.) Wie Hanuschek (2003, S. 389) aufzeigt, dürften Kästners erste Ideen für sein eigenes Stück zwar tatsächlich noch vor der Veröffentlichung von Silones gleichnamigem Werk entstanden sein. Allerdings lassen sich, Anz folgend, durchaus Parallelen zur Scuola dei dittatori ausmachen, die darauf hindeuten, dass der Schriftsteller sich bei der Niederschrift von der Arbeit seines Kollegen inspirieren ließ. Zu benennen sind in diesem Kontext etwa die in beiden Werken zum Tragen kommende Idee der Inszenierbarkeit von Diktaturen, die dargestellten Mechanismen der Machtdurchsetzung und die Thematik des Staatsstreichs. Vgl. Anz’ Kommentar in EKW V, S. 825. 597 Kästner, Erich: Die Schule der Diktatoren. Eine Komödie [1956]. In: EKW V, S. 459 – 539, hier S. 461.

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Diesen, »seine Würde und sein Gewissen apportierende[n]«, Menschen, »der sein Zerrbild eingeholt« habe, beschreibe sein Stück »ohne Übertreibung«.⁵⁹⁸ Daran, dass er Die Schule der Diktatoren in der Tradition des politischen Theaters sah, ließ Kästner in besagtem Vorwort keine Zweifel aufkommen, denn er konstatierte: Dieses Buch ist ein Theaterstück und hat ein Anliegen. Der Plan ist zwanzig Jahre alt, das Anliegen älter und das Thema, leider, nicht veraltet. Es gibt chronische Aktualitäten.⁵⁹⁹

Bereits dieser erste Hinweis auf die (an genannter Stelle noch nicht näher definierten) »chronische[n] Aktualitäten« lässt erahnen, dass es dem Schriftsteller keineswegs allein an einem Rückblick auf die NS-Vergangenheit gelegen war. Inwiefern das erst in der Mitte der 1950er Jahre fertiggestellte Stück zugleich als Teil der Kästner’schen Kritik an den personellen und ideologischen Kontinuitäten in der Nachkriegszeit betrachtet werden muss – und in der zeitgenössischen Rezeption durchaus auch betrachtet wurde –, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Der Betonung wert ist in diesem Kontext zunächst, dass die Handlung des in neun Bilder untergliederten Dramentextes keineswegs in Deutschland verortet, sondern in einem namentlich und geographisch nicht näher gekennzeichneten Staat angesiedelt ist. Dieser scheint nach außen hin von einem diktatorischen Machthaber (dem »Präsidenten«) beherrscht zu sein. Als eigentliche ›Strippenzieher‹ der Diktatur fungieren aber, wie bereits in den ersten Szenen deutlich wird, dessen Leibarzt, ein Professor sowie der Kriegs- und der Premierminister des Landes, die den Erhalt des Regimes mithilfe einer perfiden Täuschung gewährleisten: In einem von den Augen der Öffentlichkeit abgeschirmten Rokokoschlösschen schulen sie eine Reihe nahezu identisch aussehender Männer darauf, die Rolle des amtierenden Präsidenten perfekt zu imitieren. Fällt dieser einem Attentat zum Opfer oder erscheint er den ›wahren‹ Machthabern politisch nicht mehr tragbar, wird er heimlich durch einen der ausgebildeten Doppelgänger ersetzt. In die Gruppe jener marionettenhaften Diktatoren-Duplikate hat sich allerdings ein Dissident (symbolträchtig: der »Siebente«) eingeschlichen, dem es mithilfe einiger Verbündeter gelingt, einen Staatsstreich durchzuführen. Schlussendlich erweist sich der Rebell, wie Kästner bereits im Vorwort der Buchausgabe zusammenfasst,

598 Ebd. Mit dem Bild des »Zerrspiegels« rekurriert Kästner augenfällig auf sein Vorwort zur Neuauflage des Fabian: Während der Schriftsteller seinen ersten Roman als Satire beschrieb, in der er »seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel« (EKW III, S. 440) vorhalte, wollte er Die Schule der Diktatoren trotz der Vielzahl an ihr inhärenten Überzeichnungen hingegen nicht als Satire verstanden wissen: Das Zerrbild des Menschen, den er zeige, sei, so Kästner, sein Porträt. Vgl. EKW V, S. 461. Vgl. dazu auch Pluto-Prondzinski (2016), S. 240. 599 EKW V, S. 462.

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jedoch nur als »Trojanische[r] Esel«⁶⁰⁰ einer neuen Gewaltherrschaft: Bevor er das politische System des Landes nachhaltig verändern kann, wird er von seinen ehemaligen Mitstreitern ermordet und eine neue Diktatur etabliert sich. Wie in der Forschung schon mehrfach festgehalten wurde, ist die Figurenzeichnung des Stückes augenfällig darauf ausgerichtet, den Individualitäts- und Identitätsverlust des Einzelnen in der Diktatur aufzuzeigen.⁶⁰¹ Dies kommt etwa dadurch zum Ausdruck, dass Kästner bei der Bezeichnung der Rollen fast vollständig auf den Einsatz von Eigennamen verzichtet. Stattdessen werden die potentiellen Diktatoren allein durch Ordnungsnummern unterschieden, die (nach dem Tod der ersten drei Präsidenten) vom »Vierten« bis zum »Vierzehnten« reichen. Die übrigen Handlungsträger sind hingegen über ihre Berufe respektive Funktionen im Staatsapparat definiert; eine Ausnahme bilden allein drei Frauengestalten (Pauline, Doris und Stella), die sich in der ›Diktatorenschule‹ als Prostituierte verdingen. Besonders Stella hebt sich augenfällig von den übrigen Figuren des Stückes ab. Sie wird, mit Neuhaus gesprochen, »als Individuum vorgestellt« und »mit einer persönlichen Leidensgeschichte versehen«,⁶⁰² an der sich der Schrecken des Systems nachdrücklich offenbart. Wie der Rezipient erfährt, hat sie sich von den amtierenden Machthabern anwerben lassen, weil sie hofft, über den Kontakt zum Präsidenten eine Freilassung ihres aus politischen Gründen inhaftierten Vaters erwirken zu können.⁶⁰³ Nachdem Pauline und Doris sie darüber aufgeklärt haben, dass der ursprüngliche Präsident längst tot ist und stattdessen »[a]ufgezogene Automaten«⁶⁰⁴ die Reden halten und Todesurteile sprechen, gerät sie in Verzweiflung und wird schließlich, nach einem missglückten Suizidversuch, zusehends wahnsinnig. Als rücksichtslosester Peiniger Stellas wird der Professor präsentiert,⁶⁰⁵ der primär für die Ausbildung der Diktatoren zuständig ist und davon träumt, den Menschen »[z]ur ferngesteuerten Maschine« weiterzuentwickeln, »die exakt funk-

600 EKW V, S. 461. 601 Vgl. etwa Leibinger-Kammüller (1988), S. 119 und Zinkernagel (2014), S. 304. Kiesel (1981, S. 135) verortet Die Schule der Diktatoren vor diesem Hintergrund in der Nähe des »expressionistischen Typendrama[s], in dem die Individuen gegenüber den Institutionen, Systemen und geschichtlichen Prozessen bedeutungslos sind«. 602 Neuhaus, Stefan: Erich Kästner: Die Schule der Diktatoren. In: ders.: Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002, S. 98 – 104, hier S. 101. 603 Vgl. EKW V, S. 481. 604 Ebd. 605 Im Verlauf des Stückes wird die junge Frau immer wieder zum Opfer der derben Anzüglichkeiten und menschenverachtenden Kommentare des Wissenschaftlers. Nach dem Sturz der Diktatur ist es letzten Endes nicht der Siebente, sondern sie, die den Professor tötet, indem sie ihn zu Tode beißt »wie ein Löwe ein Zebra«. EKW V, S. 516.

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tioniert und paarweise neue Maschinen liefert«.⁶⁰⁶ Das von dem totalitären Regime unterdrückte Volk scheint sich bereits merklich in die von ihm vorgesehene Richtung entwickelt zu haben, denn schon in der Eingangsszene des Stückes wird es durch »Sprechchöre« repräsentiert, die während einer Rede des (realiter: dritten) Präsidenten »mechanische, einstudierte Begeisterung«⁶⁰⁷ kundtun. Ob und inwiefern Kästners Darstellung des fiktiven Regimes auf das ›Dritte Reich‹ rekurriert, ist in der Forschung mindestens ebenso kontrovers diskutiert worden wie die literarische Qualität des Stückes. Während Hanuschek Die Schule der Diktatoren als »Parabel« begreift, »die fast durchgängig auf konkrete historische Anspielungen verzichtet«,⁶⁰⁸ postuliert Neuhaus, das Stück spiele »erkennbar auf die NS-Diktatur [an]«.⁶⁰⁹ Fest steht, dass Kästner eine ausschließlich auf die nationalsozialistische Vergangenheit hin ausgerichtete Umsetzung und Rezeption seines Textes verhindern wollte. Dem ersten Bild des Stückes stellte er ausdrücklich den »[n]ötigen Hinweis« voran, dass »Haar- und Barttracht [des Präsidenten, Anm. d. Verf.] […], um von Sache und Sinn nicht abzulenken, keinesfalls Erinnerungen an Figuren der neueren Geschichte wachrufen [dürfen].«⁶¹⁰ Zudem ließ er vor der Veröffentlichung der Buchausgabe die Bitte an seinen Illustratoren Chaval weiterleiten, eine Zeichnung abzuändern, die die auf dem Boden liegende Leiche des Siebenten in Form eines Hakenkreuzes darstellte: Hierdurch würde »eine viel zu eindeutige Sinngebung des Stückes und des Opfertodes erweckt«.⁶¹¹ Nichtsdestotrotz zeichnet sich Die Schule der Diktatoren, wie sich mit Sarah Zinkernagel konstatieren lässt, gerade durch die Gleichzeitigkeit von Zeitenthobenheit und Zeitgebundenheit aus.⁶¹² So lassen sich zahlreiche Textpassagen prinzipiell auf das Wesen beliebiger totalitärer Herrschaften beziehen, aber auch als Rekurse auf die NS-Zeit und die unmittelbaren Nachkriegsjahre lesen. Zum Beispiel begründet der Präsident die vollzogene Ausdehnung der Grenzen des fiktiven Staates direkt im ersten Bild expressis verbis mit dem Ziel, »abgesprengte Teile

606 EKW V, S. 490. 607 So die Regieanweisung Kästners – es folgen die (auf den berühmten Ausspruch »L’état c’est moi« König Ludwigs des XIV. von Frankreich und damit auf die absolutistische Herrschaftsform anspielenden) Worte: »Präsident – sag Ja! Präsident – sag Ja! Der Staat – bist du! Der Staat – bist du!« EKW V, S. 466. 608 Hanuschek (2003), S. 391. 609 Neuhaus (2002), S. 99. 610 EKW V, S. 465. Vgl. dazu auch Neuhaus (2002), S. 100. 611 Kästner, Erich an den Agenten Chaval. Brief von 31.5.1956. In: Kästner, Erich: Dieses Naja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 276 f., hier S. 276. Vgl. dazu auch Zinkernagel (2014), S. 304. 612 Vgl. ebd. S. 315.

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unseres Volkes heimzuholen«.⁶¹³ Weniger eindeutig, aber doch auffällig ist zudem die kurz darauf fallende Bemerkung, der Präsident habe »die Angewohnheit, die Attentäter zu überleben«⁶¹⁴ – eine Aussage, die sowohl auf den ›Clou‹ der Bühnenfiktion anspielt als auch an die zahlreichen missglückten Anschläge von Gruppen und Einzelpersonen auf das Leben Hitlers denken lässt. Die in den späteren Bildern präsentierten Reaktionen der fiktiven Machthaber auf den Sturz ihres Regimes fügen sich ebenfalls in diese mögliche Lesart ein, rufen sie doch Erinnerungen an die Verhaltensweisen führender NS-Politiker wach: Während der Premierminister (wie Kästner es einst Martin Bormann unterstellte) versucht, im Schutz einer neuen Identität ›unterzutauchen‹,⁶¹⁵ wird dem Professor bei seiner Verhaftung ausgerechnet eine Zyankalikapsel abgenommen. Die Feststellung des Majors, »ein Volk zur Sau [zu] machen und dann an einem Praliné [zu] sterben,« habe »keine Proportion«,⁶¹⁶ kann vor diesem Hintergrund durchaus als Kästner’sches Resümee über den mithilfe genau jenes Gifts begangenen Suizid von NaziGrößen wie Göring oder Goebbels verstanden werden.⁶¹⁷ Die Schule der Diktatoren birgt jedoch nicht allein Reminiszenzen an die nationalsozialistische Herrschaftszeit und deren Ende, sondern wartet, wie im Weiteren aufgezeigt werden soll, auch mit mannigfaltigen Sequenzen auf, die sich als Anspielungen auf die deutsche Nachkriegszeit begreifen lassen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das – in bisherigen Untersuchungen stets nur beiläufig erwähnte – achte Bild des Theaterstückes einer näheren Betrachtung wert. Es ist unmittelbar nach dem Staatsstreich des Rebellen und seiner Verbündeten (und somit: in der kurzen Zeitspanne zwischen den beiden vorgeführten Diktaturen) angesiedelt. Kästner verortet es in einer Kneipe, in der die Bevölkerung, repräsentiert durch eine Wirtin und ihre Gäste,⁶¹⁸ einer Rundfunkansprache des Siebenten lauscht. In dieser Szene greift der Autor verschiedene Eindrücke und The-

613 EKW V, S. 466.Vgl. auch Zinkernagel (2014), S. 303. Angesichts der kritischen Haltung, die Kästner nach 1945 gegenüber der ›Unschuldsdoktrin‹ Österreichs einnahm (vgl. Kapitel 4.1.2), überrascht es nicht, dass er in der Schule der Diktatoren erneut jene Parole aufgreift, die sich, zumindest zu Beginn ihres Gebrauchs, auf den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich bezog. 614 EKW V, S. 468. 615 Vgl. die Ausführungen über Kästners Spekulationen zum Verbleib Bormanns in Kapitel 4.1.1. In seinem Theaterstück überzeichnet der Schriftsteller den Versuch des Premierministers, unterzutauchen, ebenfalls auf groteske Weise: Im Rahmen einer Rundfunksendung wird berichtet, dass der ehemalige Staatsmann verhaftet wurde, »als er in Frauenkleidung die englische Botschaft betreten wollte.« EKW V, S. 526. 616 Ebd., S. 512. 617 So auch die Einschätzung von Zinkernagel (2014), S. 304. 618 Zunächst halten sich ein Matrose, ein Buchhalter, ein Hausierer und ein ›Halbwüchsiger‹ in der Kneipe auf. Vgl. EKW V, S. 517.

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men auf, die seine Landsleute und ihn in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten und -jahren bewegten. Beispielsweise bahnt sich in besagter Gaststätte, kaum dass ihre Besucher das Ende der Diktatur realisiert haben, das Schwarzmarktwesen seinen Weg.⁶¹⁹ Darüber hinaus erinnern Momente der gesendeten Ansprache des Siebenten an gängige Aussagen, die für den nachkriegsdeutschen Schulddiskurs konstitutiv waren und die zum Teil auch Kästner getroffen hatte. Von besonderer Relevanz sind in diesem Zusammenhang die folgenden Worte, die der Gegner des gestürzten Regimes an das Volk richtet: Die Mörder sind nicht mehr eure Richter. Die Strafe trifft wieder den, der sie verdient. Gesetz und Gerechtigkeit erkennen sich wieder. Sie wollen sein, was sie waren: Geschwister. Das schlechte Gewissen, diese letzte und schlimmste Plage der Unschuldigen, kehrt endlich dorthin zurück, woher sie kam: zu denen, die schuld sind.⁶²⁰

Zwar vertrat Kästner die Annahme, die der Siebente über die Gewissensbisse der ehemaligen Machthaber hegt, in Bezug auf die NS-Elite zu keinem Zeitpunkt.⁶²¹ Allerdings stimmen die Schuldzuweisung an die politische Führungsriege, das Plädoyer für deren Bestrafung und die Ausführung über die Gewissensnöte der Beherrschten augenfällig mit seinen eigenen Stellungnahmen unmittelbar nach Kriegsende überein.⁶²² Hervorzuheben sind in diesem Kontext zudem die in der Szene zum Tragen kommenden Reaktionen der Bevölkerung auf das herbeigeführte Ende der Diktatur. Als der Siebente in seiner Ansprache versucht, der Öffentlichkeit die Wahrheit über die Machenschaften der gestürzten Regierung zu erörtern, kontert etwa der Buchhalter lakonisch: »Wer’s glaubt, wird selig«.⁶²³ Damit lässt Kästner seine Figur ebenso ignorant reagieren, wie er es 1946 einem Großteil der Deutschen zum Vorwurf machte, die durch den Dokumentarfilm Die Todesmühlen mit den NSVerbrechen konfrontiert worden waren.⁶²⁴ Dezidierte Gegenspieler findet der

619 Die beginnenden Tauschgeschäfte werden von Kästner auf gleichsam humoreske wie groteske Weise dargestellt: Während ein Buchhalter Schnürsenkel gegen schwarze Halbschuhe tauschen möchte, fordert ein hereinplatzender Soldat »[s]echs Bier für [s]einen Panzer«. EKW V, S. 519. 620 Ebd., S. 517 f. 621 Der Optimismus der Figur erweist sich im weiteren Verlauf der Bühnenhandlung denn auch als unberechtigt: Keiner der ehemaligen ›Drahtzieher‹ der Diktatur zeichnet sich im Folgenden durch ein reumütiges Verhalten aus. 622 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 4.1.1. und 4.1.2. 623 EKW V, S. 517. 624 Siehe Kästner, Erich: Wert und Unwert des Menschen [NZ, 4. 2.1946]. In: EKW II, S. 67– 71. Vgl. dazu auch Kapitel 4.1.4.

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Buchhalter in einem Matrosen, der den Redner als vertrauenswürdig erachtet,⁶²⁵ und in einem Hausierer, der nach Aussage eines jungen Kneipengastes »irgend was in irgendeiner Partei gewesen sein [soll]« und »[d]ann […] zwei Jahre im Lager [war].«⁶²⁶ Dieser Hausierer, der seine Meinung entsprechend seiner Berufsbezeichnung nicht für sich zu behalten vermag, ist zugleich der einzige der Anwesenden, der explizit auf die Opfer des zu Fall gebrachten Regimes zu sprechen kommt, als der neue Machthaber in seiner Rede auf bereits entworfene Wahl- und Entschädigungsgesetze eingeht. Den politischen Plänen des Siebenten – die sich durchaus als Rekurs auf die bundesdeutsche Nachkriegspolitik lesen lassen – fügt er zynisch einen weiteren hinzu, der die Unwiederbringlichkeit der in der Diktatur ausgelöschten Leben ins Bewusstsein rückt: »Und die Toten kriegen hübsche neue Köpfe.«⁶²⁷ Alle übrigen Kneipenbesucher reagieren indes verhältnismäßig desinteressiert⁶²⁸ bis opportunistisch⁶²⁹ auf den erfolgten Machtwechsel. In diese Stimmungslage hinein betreten zwei der geschulten Doppelgänger des Präsidenten die Szenerie, unter ihnen ›der Vierte‹, der qua seiner Rangnummer als nächster Präsident an der Reihe gewesen wäre. Ad hoc beginnt er, mit seiner von langer Hand vorbereiteten Rolle zu kokettieren. Als er dazu ansetzt, eine der politischen Reden zu halten, die er für seinen potentiellen Einsatz als Diktator einüben musste, nehmen alle der Anwesenden außer dem Hausierer und dem Matrosen amüsiert die Rollen der Staatsräte und des Volkes ein.⁶³⁰ Was folgt, ist ein nahezu selbstvergessenes ›Spiel im Spiel‹, unter dessen Deckmantel die Figuren jene politischen Parolen

625 Besagter Matrose hat den Siebenten offenbar über einen ›Feindsender‹ gehört, als dieser sich vor seiner Zeit in der Diktatorenschule noch im Ausland versteckte, denn er hält fest: »Ich erkenn seine Stimme. Er sprach früher aus London.« EKW V, S. 517. 626 EKW V, S. 526. Der Hausierer ist wohlgemerkt nicht die einzige Figur des Stückes, von deren Internierung der Rezipient erfährt. Auch die Prostituierte Doris berichtet, sie sei drei Jahre im Lager gewesen: »Vierzig Frauen in einer Zelle. Hunger, Krankheit, Prügel, Krätze, Dreck und Gestank.« (EKW V, S. 506) Der Zuschauer wird folglich immer wieder an die grausamen Machtinstrumente erinnert, die (auch) das NS-Regime sich zunutze machte. 627 EKW V, S. 518. 628 Als der Siebente verkündet, dass politische Gefangene ab sofort frei seien, nimmt etwa der »Halbwüchsige« nur kurz verblüfft zur Kenntnis, dass nun auch sein Vater »rauskommt« und vergnügt sich dann, als sei nichts geschehen, weiter an einem Spielautomaten – eine Sequenz, die sich im Übrigen als Anspielung auf die »Halbstarkenkultur« der 1950er Jahre verstehen lässt. Siehe hierzu weiterführend Faulstich, Werner: Die neue Jugendkultur: Teenager und das Halbstarkenproblem. In: Die Kultur der fünfziger Jahre. Hg. von Werner Faulstich. Paderborn 2002, S. 277– 290. 629 Beispielsweise überlegt die Wirtin taktierend, dass sie das hinter der Theke hängende Bild des Präsidenten abnehmen wird, sobald sich in der Zeitung bestätigt, dass die Diktatur vorüber ist. Vgl. EKW V, S. 518. 630 Vgl. ebd., S. 523.

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und Haltungen, die in den Vorjahren Bestand hatten, fortlaufend reproduzieren. So heißt es etwa: Vierter in Positur und Gehabe des Präsidenten: Die Freunde achten uns. Die Feinde fürchten uns. Das ist in unserm verfehlten Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit mehr. Nicht in den Staaten. Nicht zwischen den Staaten. Halbwüchsiger: Hoch, Hoch! Hoch! Vierter: Wir haben unsere Grenzen ausgedehnt. Nicht etwa, um unsere Macht zu beweisen. Wirkliche Macht hält keine Manöver ab. Buchhalter: Es lebe der Präsident! Junges Mädchen fällt ein Es lebe der Präsident!⁶³¹

Die Selbstverständlichkeit, mit der die alten Begeisterungsrufe wiederholt werden, demonstriert nachdrücklich, dass die fiktive Bevölkerung ihre affirmative Haltung gegenüber dem früheren Herrscher noch längst nicht ad acta gelegt hat. Zugleich scheint sie den Schrecken, den die gerade erst gestürzte Diktatur verbreitete, nicht weniger schnell ausgeblendet zu haben, als Kästner es dem Gros seiner Landsleute schon bald nach dem Ende der NS-Zeit vorwarf.⁶³² In diesem Sinne lässt sich das achte Bild gleichsam als Repetition der Kritik des Autors an den ideologischen Kontinuitäten begreifen, die innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft vorherrschten. Nicht minder selbstreferentiell setzt Kästner die Bühnenhandlung im neunten und letzten Bild seines Stückes fort: Nachdem das Treiben der Kneipengäste durch die Verhaftung der beiden Präsidenten-Doppelgänger jäh beendet worden ist, wird dem Rezipienten erneut das Geschehen im Inneren des Palastes präsentiert. Dort hat unter anderem der »Inspektor« seinen Auftritt – ein Staatsdiener, der in seiner offen zur Schau gestellten Anpassungsbereitschaft an die neuen politischen Verhältnisse eindeutige Parallelen zu jenem opportunistischen Menschentypus aufweist, den Kästner bereits 1946 in seinem Kabarett-Chanson Das Leben ohne Zeitverlust porträtiert und kritisiert hatte.⁶³³ Nicht von ungefähr erläutert die besagte Figur dem Stadtkommandanten, Treue und Dummheit seien »nicht dasselbe. […] Ich diene dem, der die Macht hat. Das ist meine Pflicht. Seine Pflicht ist es, an der Macht zu bleiben. Büßt er sie ein, so bricht er die Treue.«⁶³⁴ Dass derartige Opportunisten und Karrieristen wie der Inspektor, der nach eigenen Angaben bereits drei ver-

631 Ebd. 632 Eine Ausnahme bildet, für einen kurzen Moment, die Wirtin: Als der Präsident sich im weiteren Verlauf seiner Ansprache auf die »Widersacher« und »Neinsager« bezieht, die bald »in der Falle« säßen, verlautbart sie: »Ich krieg schon wieder Angst.« Ebd. 633 Siehe Kästner, Erich: Das Leben ohne Zeitverlust [1946]. In: EKW II, S. 34 – 37. Vgl. dazu auch Kapitel 4.2.1. 634 EKW V, S. 527.

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schiedenen politischen Systemen gedient hat, Teil der neuen Regierung werden, versucht der Siebente dezidiert zu verhindern. Als der zuvor noch auf seiner Seite stehende Major und der Stadtkommandant ihn dazu bringen wollen, sein Kabinett mit militärischen Größen der Vorjahre zu besetzen, reagiert er empört: »Solche Leute wagen Sie mir, im Dutzend, als Minister anzubieten? Generäle, Luftmarschälle und Vizeadmirale, die jedem treu sind, der sie befördert?«⁶³⁵ Aufgrund seiner politischen Erneuerungsbestrebungen wehrt sich der ehemalige Dissident aber nicht allein gegen die Etablierung personeller Kontinuitäten, wie sie auf den ihm überreichten Namenslisten zu Tage treten und wie sie innerhalb der im Erscheinungsjahr des Stückes aufgestellten Bundeswehr zuhauf existierten.⁶³⁶ Er weigert sich zudem, Todesurteile über die übrigen Doppelgänger des Präsidenten zu verhängen, obwohl diese vom Stadtkommandanten als »hauptschuldig«⁶³⁷ bezeichnet werden – eine Meinungsverschiedenheit, die sich als Rekurs auf die Belastungskategorien und Herausforderungen der Entnazifizierungsphase deuten lässt. Ein weiterer Streitpunkt zwischen dem Siebenten und seinen früheren Mitstreitern wird manifest, als der Rebell sich für jene ehemaligen Landsleute stark macht, die unter der letzten Regierung ins Exil geflohenen sind. Analog zu Kästner, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Schriftsteller und Journalisten der Emigration in den kulturellen Neubeginn einbinden wollte,⁶³⁸ setzt sich seine Hauptfigur für die Einbeziehung ihrer nunmehr im Ausland lebenden Freunde in das neue Regierungssystem ein: »Diese Männer«, hält der Siebente dem Major entgegen, »nahmen, damals auf der Flucht, mehr Vaterland an den Schuhsohlen mit, als in euren Kasernenhöfen zurückblieb!«⁶³⁹ All seine Argumente nützen dem Siebenten jedoch nichts mehr, denn seine ehemaligen Verbündeten haben sich längst gegen ihn verschworen. Als er seine Lage realisiert und versucht, im Rahmen einer Radioansprache einen Hilferuf an die Bevölkerung zu senden und sie über den an ihm und an ihr begangenen Verrat aufzuklären, werden die Tonbänder sogleich vernichtet. Stattdessen täuscht der Stadtkommandant dem Volk via Rundfunkdurchsage vor, dass »[d]er Mann, dem 635 Ebd., S. 530. 636 Vgl. dazu etwa Frei (2001), S. 316 – 319. Im Dezember 1955, und damit einen Monat bevor Kästner die Arbeit an seinem Stück beendete, hatten in Bonn die ersten Soldaten ihre Ernennungsurkunden entgegengenommen; der Wiederbewaffnungsbeschluss als solcher war allerdings schon Monate zuvor gefallen, worauf in Kapitel 4.3 dieser Untersuchung noch vertiefend eingegangen wird. Eine personelle Kontinuität in der Verwaltung und im Militär bestand in Deutschland freilich nicht nur nach 1945. Bereits in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges baute die Reichsregierung um Friedrich Ebert in diesen Bereichen auf ›altgediente‹ Akteure. 637 EKW V, S. 532. 638 Vgl. auch Kapitel 3.2.1. 639 EKW V, S. 530.

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wir den Sieg der gerechten Sache an erster Stelle zu verdanken haben […] beim Betreten des Palastes hinterrücks erschossen« worden sei.⁶⁴⁰ Ein Versuch, die Bevölkerung vom Balkon des Palastes aus darauf aufmerksam zu machen, dass er noch lebt, ist es schließlich, der den totgesagten Siebenten wirklich das Leben kostet: Während seines Hilferufs wird er vom Inspektor über die Brüstung auf den inzwischen für die Öffentlichkeit gesperrten Platz hinunter gestoßen. Angesichts des skizzierten Handlungsverlaufs plädiert Leibinger-Kammüller dafür, Die Schule der Diktatoren nicht allein als »Darstellung der menschenverachtenden Unterdrückungsmechanismen«⁶⁴¹ einer modernen Diktatur aufzufassen: Kästner sei es ihr zufolge zugleich »darum [gegangen], festzuschreiben, daß Widerstand in einem totalitären Staat unmöglich und von vorneherein zum Scheitern verurteilt«⁶⁴² sei. Drouve ordnet indes das gesamte Stück als Kästner’sche »Selbstrechtfertigung seines Handelns beziehungsweise Nicht-Handelns zu Zeiten der NS-Herrschaft«⁶⁴³ ein. Beide Forscher übergehen dabei aber eine andere, zentrale Aussage des Textes. Denn immerhin gelingt es dem Siebenten zunächst sehr wohl, das totalitäre Regime, das zu Beginn der Bühnenhandlung an der Macht ist, mithilfe seiner Verbündeten zu Fall zu bringen. Sein eigentliches Scheitern vollzieht sich vielmehr, als er nach dem Sturz der Diktatur versucht, die politischen Strukturen, die zuvor Bestand hatten, grundlegend zu verändern.⁶⁴⁴

640 Ebd., S. 535. Dass sich diese Sequenz der Szene als Kritik an der Manipulationsmacht durch moderne Medien auffassen lässt, derer sich Diktaturen im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend bedienten, wird auch in Kästners Vorwort zur Buchausgabe des Stückes deutlich. Hier hält der Schriftsteller fest: »Sprach früher ein Tribun zu fünftausend Männern, so sprach er zu fünftausend Männern. Spricht er heute zu zehn Millionen, so spricht er entweder zu zehn Millionen, oder, wenn in der Tonkabine an einem Knopf gedreht wird, zu niemandem. Er ist besiegt und weiß es nicht. Er glaubt zu leben und ist tot. Die Technik des Staatsstreichs hat mit dem Staatsstreich der Technik zu rechnen.« (EKW V, S. 462) Vgl. zur Rolle des Rundfunks als Machtmittel in der Schule der Diktatoren auch Zinkernagel (2014), S. 308. 641 Leibinger-Kammüller (1988), S. 120. 642 Ebd. Die genannte Deutung dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass Kästner – allerdings: ein Jahr nach der Uraufführung seines Stückes – in seiner im Folgekapitel näher zu betrachtenden Rede Über das Verbrennen von Büchern tatsächlich explizit postulieren sollte, drohende Diktaturen ließen »sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.« EKW VI, S. 646 f. 643 Drouve (1993), S. 165. 644 Wie in der Forschung schon mehrfach betont, werden die politischen Ziele des Siebenten im Stück freilich nur unscharf umrissen: In seiner ersten Rundfunkansprache postuliert er, bevor er die Gegner des gestürzten Regimes um ihre Unterstützung bittet, er wolle »das Vernünftige mit den Vernünftigen« (EKW V, S. 519) erreichen. Auch definiert er es als zentrale Aufgabe, »Freiheit und Ordnung wieder ins Gleichgewicht zu bringen« (ebd.). Als er realisiert, dass er von seinen Verbündeten verraten wurde, resümiert er: »Was habe ich gewollt und was will ich noch? Ein bisschen Glück für die meisten. Ein wenig Ruhe. Ein Eckchen Freiheit.« (Ebd., S. 534) Jene Unschärfe der

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Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass der einstige Dissident die Verantwortung für die Entstehung der neuen Diktatur nicht nur seinen illoyalen Mitstreitern zuspricht.⁶⁴⁵ Sein Vorwurf gilt auch dem Volk, das im entscheidenden Moment des politischen Neubeginns nicht hinter ihm steht oder zumindest wachsam beobachtet, was vor sich geht. Unmittelbar bevor er über die Brüstung des Balkons gestürzt wird, hört man ihn rufen: »Ich lebe noch! […] Warum laßt ihr mich so allein?«⁶⁴⁶ Nach der Ermordung des Siebenten erklingt seine letzte, nunmehr im Präteritum formulierte Frage »aus der Balkonrichtung, von weither«⁶⁴⁷ erneut, ohne jedoch von den neuen Machthabern gehört zu werden. Ein drittes Mal wird sie aufgegriffen, nachdem sämtliche Figuren von der Bühne abgegangen sind: Bevor der Vorhang fällt, ertönt ein letztes – nunmehr laut Regieanweisung »zornig« artikuliertes – »Warum?«⁶⁴⁸ Dass jene Klage des Toten in der Forschung schon mehrfach als Kästner’scher Appell an das (zeitgenössische) Publikum seines Stückes bewertet wurde,⁶⁴⁹ ist nicht weiter verwunderlich. So liegt es nah, das Schicksal und die letzten Worte des Siebenten als Mahnruf aufzufassen, politische Entwicklungen nach dem Ende einer Diktatur nicht nur wachsam im Blick zu behalten, sondern jenen Menschen, die sich fortlebenden beziehungsweise erneut aufbrandenden totalitären Tendenzen entgegenstellen, konsequent den Rücken zu stärken. Diese Deutung lässt sich auch durch einen Rückgriff auf das viel zitierte vierte Bild des Stückes bekräftigen, in dem Kästner weitaus expliziter als am Ende die Bühnenfiktion durchbricht.⁶⁵⁰ Während der Professor, der Leibarzt, der Kriegs- und der Premierminister eine Besprechung abhalten, wird die Illusion einer ›vierten Wand‹ kurzzeitig aufgehoben, als die Figuren das Publikum erblicken: professor: Vorsicht! zeigt auf den Zuschauerraum Man hört uns zu. die drei anderen mustern die Zuschauer. Überrascht, aber kaltblütig.

Formulierungen hat in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Stück nicht von ungefähr zu durchaus kontroversen Charakterisierungen des Siebenten geführt. Während Neuhaus (2002, S. 99) schlussfolgert, der Rebell wolle »den Staat in ein demokratisches Gemeinwesen umwandeln«, gibt Hanuschek (2003, S. 391) nicht zu Unrecht zu bedenken, es sei »gar nicht gesagt, daß der Revolutionär nicht ebenso tyrannisch wird wie seine Vorgängerclique.« 645 Vgl. EKW V, S. 533. 646 Ebd., S. 536. Dass sich in diesem Moment niemand vor dem Palast aufhält, ist zwar auf die Sperrung des Platzes durch seine Verräter zurückzuführen. Allerdings deutet sich bereits im achten Bild an, dass die Bevölkerung mehrheitlich überhaupt kein Interesse daran hegt, zum Palast zu kommen und sich für einen politischen Neubeginn zu engagieren. 647 EKW V, S. 539. 648 Ebd. 649 Vgl. etwa Neuhaus (2002), S. 101, Hanuschek (2003), S. 392 und Zinkernagel (2014), S. 314. 650 Vgl. dazu Neuhaus (2002), S. 103 und Zinkernagel (2014), S. 314.

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kriegsminister: Die Leute sehen aus, als seien sie lange nicht eingesperrt gewesen. Vollgefressen und unverschämt. premier taxiert: Zehn Lastwagen genügten. kriegsminister: Ein paar Baracken. Elektrisch geladener Stacheldraht. Eine Latrine. Ein paar Scheinwerfer. Ein paar Maschinengewehre. premier: Staatlich gelenkte Sterblichkeit. leibarzt: Die Herrschaften wissen noch nicht, wie fidel es sich ohne Rückgrat lebt.⁶⁵¹

Bezieht man das Gespräch der fiktiven Machthaber auf das reale Theaterpublikum der Adenauer-Ära, so kommt es einer äußerst provokativen Erinnerung der Zuschauer an die deutsche Vergangenheit gleich. Immerhin war die »[s]taatlich gelenkte Sterblichkeit« in den Konzentrationslagern noch wenige Jahre zuvor erfahrbare Realität gewesen.⁶⁵² Vor diesem Hintergrund kann der Dialog zum einen als Kritik an jenen Bundesbürgern verstanden werden, die die NS-Diktatur tatsächlich widerstandslos (mithin: »ohne Rückgrat«) duldeten – ein Verhalten, das Kästner zwar für erklärbar hielt, aber dennoch als »größte Schuld« der Menschen beschrieb.⁶⁵³ Zum anderen lässt sich die Textpassage als harsche Beanstandung der ›Verdrängungsfreude‹ begreifen, die in der ›Wirtschaftswundergesellschaft‹ ihren Höhepunkt fand. Ebenso wie das achte und neunte Bild des Stückes ist sie als Warnung an die Zuschauer lesbar, durch das Ausblenden der Vergangenheit, durch politisches Desinteresse oder durch pure Bequemlichkeit zu riskieren, dass antidemokratische Tendenzen erneut erstarken und zu einer ›Aktualisierung‹ der Vergangenheit führen könnten.⁶⁵⁴ Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels festgehalten, lassen sich sämtliche der zuvor betrachteten Sequenzen des Stückes, die auf die deutsche Nachkriegszeit und -gesellschaft bezogen werden können, prinzipiell auch auf andere postdiktatorische Gesellschaften und historische Situationen übertragen. Laut Zinkernagel dürfte Kästner den Plan verfolgt haben, dass sich die im Stück ausgesprochenen Warnungen »mit jeder neuen Aufführung und Lektüre – der jeweiligen Zeit entsprechend – aktualisieren«.⁶⁵⁵ Offensichtlich trug aber gerade dieser Umstand dazu bei, dass die zahlreichen Kritiken, die anlässlich der Buchveröffentlichung und der Inszenierung des Stoffes durch Schweikart in Westdeutschland und der Schweiz

651 EKW V, S. 486. 652 Vgl. Zinkernagel (2014), S. 315. 653 Vgl. Kapitel 4.1.2. 654 Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangen – konkret auf den Dialog im vierten Bild bezogen – auch Neuhaus (2002), S. 103 und Zinkernagel (2014), S. 315. 655 Zinkernagel (2014), S. 315.

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erschienen,⁶⁵⁶ in ihren Deutungen und Bewertungen höchst ambivalent ausfielen. Während die einen postulierten, das Stück könne »irgendwie, irgendwo, irgendwann«⁶⁵⁷ spielen, bezogen es andere mit großer Selbstverständlichkeit auf die deutsche Geschichte.⁶⁵⁸ Wieder andere assoziierten es, entsprechend der antikommunistischen Stimmungslage, die sich während des Kalten Krieges auch in Westdeutschland ihren Weg gebahnt hatte, mit dem Stalinismus.⁶⁵⁹ Insbesondere diejenigen, die die Offenheit des Stoffes für verschiedene historisch-geographische Auslegungen hervorhoben, bewerteten Die Schule der Diktatoren auf vollkommen unterschiedliche Art: Von einem Teil der Kritiker wurde Kästner dezidiert für die Allgemeingültigkeit, die man seiner Darstellung zusprach, gefeiert. Hermann Kesten etwa hielt emphatisch fest, dass sein Freund und Kollege »das Personal moderner Diktaturen begriffen« habe und es ihm gelinge, die »burleske und tragische Posse aller Diktatoren« vorzuführen.⁶⁶⁰ Die Verarbeitung der

656 Unter der Regie Schweikarts wurde Die Schule der Diktatoren an den Münchner Kammerspielen über 30 Mal gespielt; zudem reiste das Ensemble zu Gastspielen nach Zürich und Berlin. In der DDR wurde das Stück von Friedrich M. Reifferscheidt besprochen, der sich in der (nach Kriegsende zum Parteiblatt avancierten) Weltbühne zwar positiv über Kästners Stil und seine Beobachtungsgabe äußerte. Er beanstandete aber, der politischen Ausrichtung der Zeitschrift entsprechend, die Realitätsferne des von Kästner erdachten Staates, in dem es »weder Gewerkschaften noch überhaupt Arbeiterschaft« gebe und das Volk »nur Furcht und offenbar überhaupt kein Bewusstsein« habe. (Reifferscheidt, Friedrich M.: Kästners »Schule der Diktatoren«. In: Die Weltbühne 13 (1957), S. 394 – 398, hier S. 396) Veröffentlicht wurde das Stück in der DDR letztlich erst 1978 in dem von Jochen Ziller herausgegebenen Sammelband Die Schule der Diktatoren und noch mehr Theater. Im Vorwort des Bandes hob Ziller den politischen Stellenwert der Komödie hervor, bemängelte aber zugleich, dass Kästner kein konkretes politisches Ziel in Form einer sozialistischen Lösung angeboten habe. Vgl. Ziller, Jochen: Vorwort. In: ders. (Hg.): Die Schule der Diktatoren und noch mehr Theater. Berlin (Ost) 1978, S. 5 – 23, hier S. 20 f., vgl. auch Zinkernagel (2014), S. 316 f. u. 319. 657 Brendler, Barbara: Erich Kästners »Die Schule der Diktatoren«. Uraufführung in den Münchner Kammerspielen. In: Die Kultur, 1. 3.1957. 658 Siehe etwa: Braun, Hanns: Albtraum eines Moralisten. Erich Kästners »Schule der Diktatoren« in München. In: Rheinischer Merkur, 15. 3.1957. 659 Bereits nach der Veröffentlichung der Buchausgabe hatte Fred Hepp in der Süddeutschen Zeitung diese Verbindungslinie gezogen. Er schrieb: »Als Stalin starb, glaubten manche Leute, daß er schon längst tot war, als er starb. Sie sprachen von mehreren Doubles, die ihn gemimt hatten, um das Volk in Furcht zu halten. Das war ein Märchen. Aber Märchen sind wahr, obwohl sie im Leben nicht vorkommen. Wer unter einer Diktatur lebt, weiß, daß das Unwahrscheinliche zum Nächstliegenden wird.« (Hepp, Fred: Diktatoren reihenweise. In: Süddeutsche Zeitung, 28.10.1956) Doch auch in späteren Besprechungen der Schweikart’schen Inszenierung des Stoffes kam der Gedanke an den Stalinismus vor. Vgl. etwa Seidl, Wolf: »Die Schule der Diktatoren«. Erich-Kästner-Uraufführung in München. In: Tagesanzeiger Zürich, 3. 3.1957. 660 Kesten, Hermann: Die Schule der Diktatoren. In: Welt der Arbeit, 21.12.1956. Hervorhebung d. Verf. Vgl. auch Zinkernagel (2014), S. 318.

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deutschen Geschichte innerhalb der Abstraktion hob Barbara Brendler in der Zeitschrift Die Kultur hervor. Sie urteilte, das Stück zeige »die Essenz des Totalitären in einer […] bestechenden Kongruenz mit unserer Erfahrung von ihm«.⁶⁶¹ Zudem wurde Kästner in der Hersfelder Zeitung explizit dafür gelobt, »keine billige HitlerSatire«⁶⁶² verfasst zu haben. Von anderen Seiten wurden seine Abstraktionsbestrebungen jedoch, vor allem in Hinblick auf die bundesdeutsche Gegenwart, moniert. Ähnlich wie Erich PfeifferBelli, der in der Welt beklagte, dass »[d]as Draußen, unser politischer und sozialer Alltag […] nicht gültig auf die Bretter«⁶⁶³ gekommen sei, konstatierte ein Kritiker der Basler National-Zeitung: Ein paar bittere Wahrheiten in Richtung Vergangenheit, pessimistisches Achselzucken in Richtung Zukunft, der Mensch als Schwein, Widerstand als hoffnungslose Donquichotterie, dazu etwas Bordell und etwas Kabarett – das genügt nicht, um die Probleme unserer Zeit auszuleuchten.⁶⁶⁴

Neben einem handfesteren Gegenwartsbezug fehlte es der (bis heute nur selten wiederaufgeführten)⁶⁶⁵ Komödie nach Meinung zahlreicher Rezensenten allerdings auch an literarischer Qualität: Vergleichsweise gemäßigt reagierte Der Spiegel, der beanstandete, dass »die skurrile Handlung des Stückes […] einem schnellen Verständnis der Kästnerschen Absichten entgegen[gewirkt]«⁶⁶⁶ habe. Im Südkurier Konstanz vermerkte Ludwig Emanuel Reindl, dass die zahlreichen »Automaten« das Drama lähmen würden, weshalb »Kästners Szenen ihr Publikum nicht ergreifen« könnten, »obwohl sie auf’s Tiefste interessieren«.⁶⁶⁷ Und auch Wilhelm Emanuel Süskind lobte in der Deutsche[n] Zeitung und Wirtschaftszeitung zwar die »prägnante […] Idee« Kästners, sah in deren Ausarbeitung aber kein »aufrüttelnde[s]

661 Brendler (1957). 662 Auf diese Weise äußerte sich das Blatt anlässlich Kästners 60. Geburtstag im Rückblick auf das Stück. Siehe [anonym]: Moralist mit Herz. Unverbesserlicher Weltverbesserer. Zum 60. Geburtstag Erich Kästners. In: Hersfelder Zeitung, 25. 2.1959. 663 Pfeiffer-Belli, Erich: Hilfsschule für Diktatoren. Eine Kästner-Uraufführung. In: Die Welt, 1. 3. 1957. 664 [anonym]: Kästner lebt von den Zinsen. Ein Gastspiel in Zürich. In: National-Zeitung (Basel), 18.4.1957. 665 Vgl. etwa Neuhaus (2002), S. 99. Beispiele für vereinzelte spätere Inszenierungen des Stückes finden sich bei Zinkernagel (2014), S. 316 u. 322. 666 [anonym]: Kästner Premiere: Papageien im Gehrock. In: Der Spiegel 10 (1957), S. 52 f., hier S. 52. 667 Reindl, L.E.: Die Schule der Diktatoren. Erich Kästners politische Satire als Gastspiel in Zürich. In: Südkurier (Konstanz), 19.4.1957.

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Zeitstück«.⁶⁶⁸ Andere Blätter sprachen, wesentlich spitzzüngiger, von einem »Kabarett, das nicht aufhören will«,⁶⁶⁹ charakterisierten das Werk als »blutleer, synthetisch und konstruiert«⁶⁷⁰ oder bezeichneten es gar als »dramatisch fast völlig misslungenes Gebilde«.⁶⁷¹ Dass in der Kästner-Forschung über lange Zeit nahezu ausschließlich⁶⁷² Kritiken wie letztere herangezogen wurden, um die Rezeption der Schule der Diktatoren zu beleuchten, führte zu manch vorschnellem Urteil wie etwa dem Heinz-Peter Preußers, der behauptet, der Autor habe sich mit seinem Stück »als moralisierender Schulmeister lächerlich [gemacht]«.⁶⁷³ Ein solches Resümee übergeht freilich ein Faktum, dass im Rahmen dieser Studie kaum genug in den Vordergrund gestellt werden kann: Bei gründlicher Sichtung der zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse fällt nämlich auf, dass eine beträchtliche Anzahl von Kritikern die in und mit dem Bühnenstück vollzogenen politischen Positionierungen, ungeachtet ihres literaturkritischen Urteils,⁶⁷⁴ durchaus akzentuierten und befürworteten. So postulierte beispielsweise die FAZ, Gesinnung allein sei »nicht bühnenwirksam, und ein kabarettistischer Einfall, in einer Sketchserie ausgebreitet,« ergebe »kein Drama«⁶⁷⁵ – allerdings verdiene es »mehr als Premierenbeifall«, die vorhandenen »chronische[n] Aktualitäten« auszusprechen.⁶⁷⁶ Auch hoben viele zeitgenössische Rezen668 Süskind, Wilhelm Emanuel: Die Schule der Diktatoren. Erich-Kästner-Uraufführung in München. In: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 2. 3.1957. 669 Schön, Gerhard: Blauer Brief für Erich Kästner. Uraufführung in München: »Die Schule der Diktatoren«. In: Aachener Nachrichten, 4. 3.1957. 670 Stankiewitz, Karl: Marionettenspiel für Große. Erich Kästners »Schule der Diktatoren« uraufgeführt. In: Der Tag (Berlin), 6. 3.1957. 671 [anonym]: Kästner lebt von den Zinsen. Ein Gastspiel in Zürich. National-Zeitung (Basel), 18.4. 1957. 672 Eine Ausnahme bildet Zinkernagel, die eine erste differenziertere Beleuchtung der zeitgenössischen Kritiken vorlegte (vgl. Zinkernagel 2014, S. 316 – 322), welche sich auf Grundlage der zahlreichen, hier ergänzend einbezogenen Feuilletonbeiträge eindeutig untermauern lässt. 673 Preußer (2010), S. 86. 674 Tatsächlich hoben negative Kritiken weniger auf die Inszenierung der Münchner Kammerspiele, sondern vielmehr auf Kästners Textvorlage ab. Die Zürcher Woche ließ etwa verlauten, die »phänomenale Aufführung der Kammerspiele München« habe »wohl das genaue Maximum dessen, was sich mit dem Stück machen lässt« geboten. (P.Sd.: Ein Nachwort: zu Kästners Diktatorenschule. In: Zürcher Woche, 17.4.1957) Auch die Hamburger Ausgabe der Andere[n] Zeitung lobte das »erstklassig[e]« Ensemble und betonte, Schweikart habe »in die handlungsarme Szenerie so viel Leben und Bewegung wie nur irgend möglich« gebracht. Danler, Karl-Robert: Kästner war noch nie so aggressiv. In: Die Andere Zeitung, 7. 3.1957. 675 Drews, Wolfgang: Kästners politische Hausapotheke. »Die Schule der Diktatoren« in den Münchner Kammerspielen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 2.1957. 676 Ebd. Vergleichbar reagierte auch der Münchner Merkur, der beanstandete, dass Die Schule der Diktatoren »stark zu kabarettistischen Wirkungen« neige und »auf weite Strecken hin dramatischer

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senten den »Appell des Verfassers an sein Publikum«,⁶⁷⁷ der dem Stück innewohnt, positiv hervor. Hanns Braun etwa begrüßte im Rheinischen Merkur explizit Kästners Intention, »uns […] [zu] schrecken und […] vor der Möglichkeit [zu warnen], daß die Diktatur, wie gehabt, noch einmal bei uns Schule machen könnte.«⁶⁷⁸ Dass jener ›Schreck‹ gelungen sei, schloss ein Berichterstatter der Zeit aus der »bedrückte[n], dumpfen Atmosphäre«, die im Premierenpublikum geherrscht habe: »[M]an spürte nicht allein das schon einmal Erlebte, glücklicherweise fast Vergessene; man fühlte auch das Unerledigte dieses Erlebens und damit die Unstatthaftigkeit des Vergessens.«⁶⁷⁹ Als Ausnahme »[v]on der Flucht in die Unverbindlichkeit«, die »unser literarisches wie politisches Leben bestimmt«,⁶⁸⁰ betrachtete Rudolf Gottschalk das Stück in der Zeitschrift Panorama. In den Fränkischen Nachrichten plädierte Rudolf Goldschmidt-Jenter dafür, aus dem Gesehenen zu schließen, dass »Revolutionen, die nicht durch den Geist-Wandel bestimmt werden, […] nur Gewalt-Wechsel«⁶⁸¹ seien. Darüber hinaus urteilte die Zürcher Weltwoche, »[e]ine solche Aufführung und ein solches Werk« seien »für die Freiheit eines Volkes und zur Wacherhaltung des Freiheitswillens heute unentbehrlich.«⁶⁸² Der Ergänzung wert ist in diesem Kontext auch, dass viele, die Kästners unpolitischen ›Familienfilmen‹ der Vorjahre⁶⁸³ kritisch gegenübergestanden hatten, nun wohlwollend registrierten, dass der Schriftsteller »die politische Arena«⁶⁸⁴ wieder betreten habe und »noch nie so aggressiv«⁶⁸⁵ gewesen sei. Karl Stankiewitz urteilte in diesem Zusammenhang, das Stück komme aus dem »heiteren Himmel unbeschwerter Filmerei […] wie ein Blitzschlag […] [,] dessen Knall vergessen läßt, was uns Kästner so lange schuldig geblieben.«⁶⁸⁶ Wenngleich Die Schule der Diktatoren ihrem Verfasser, entgegen seiner Ambitionen und Hoffnungen, gewiss keine späte Karriere als Dramatiker mehr ebnen Dialog durch aphoristisches Geplänkel ersetzt« werde. Trotzdem müsse man »Kästner akzeptieren, wie er ist«, denn sein Stück komme »zu einer Zeit, in der die Geschichtsschreiber bereits beginnen, den Diktatoren unseres Jahrhunderts überhöhte Plätze anzuweisen«. Es komme »also zur rechten Zeit.« Feiler, Max Christian: Uraufführung in den Münchner Kammerspielen: Die Schule der Diktatoren. In: Münchner Merkur, 27. 2.1957. 677 Holm, Alfred: Unfreundliche Bemerkungen zur Zeit. Zu zwei neuen Büchern von Erich Kästner und Horace McCoy. In: Deutsche Volkszeitung, 24.11.1956. 678 Braun (1957). 679 A-th: Schule der Diktatoren. Erich Kästner Uraufführung. In: Die Zeit, 7. 3.1957. 680 Gottschalk, Rudolf: Rückzug in den Konformismus. In: Panorama 5 (1957), S. 3. 681 Goldschmidt-Jenter, Rudolf: Der bittere Erich Kästner. Schule der Diktatoren in München. In: Fränkische Nachrichten, 3. 3.1957. 682 P-Sd.: Ein Nachwort: zu Kästners Diktatorenschule. In: Zürcher Woche, 17.4.1957. 683 Siehe auch Kapitel 3.2.3. 684 [anonym]: Kästner wieder in der politischen Arena. In: Erlanger Tageblatt, 29.9.1957. 685 Danler (1957). 686 Stankiewitz (1957).

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konnte, bleibt folglich festzuhalten, dass sie als Stellungnahme des Intellektuellen Kästner sehr wohl von vielen wahrgenommen und gewürdigt wurde. Dass es Zuschauer gab, die seine Warnung nicht nur wahr-, sondern auch überaus ernst nahmen, demonstriert etwa die Rezension Karl Schumanns in der Süddeutschen Zeitung – schloss der Kritiker doch aus dem Umstand, dass »[d]er älter gewordene Kästner […] wieder der alte Kästner geworden« sei, »daß die Zeiten wieder anfangen, fragwürdig zu werden«.⁶⁸⁷

4.2.5 Über Flammen und Schneebälle ‒ Kästners Reaktionen auf zwei Bücherverbrennungen im zwanzigsten Jahrhundert Am 10. Mai 1958, gut ein Jahr nach der Uraufführung der Schule der Diktatoren, hielt Kästner bei einer von ihm initiierten Gedenkveranstaltung im Rahmen der Jahresversammlung des bundesdeutschen PEN-Clubs in Hamburg seine »wohl berühmteste Rede«.⁶⁸⁸ Anders als in seinem um Abstraktion bemühten Bühnenstück widmete er sich hierin ganz konkret der deutschen Vergangenheit, indem er an ein politisches ›Großereignis‹ der NS-Zeit erinnerte, das sich genau an diesem Tag zum fünfundzwanzigsten Mal jährte: die in verschiedenen deutschen Universitätsstädten vollzogenen Bücherverbrennungen.⁶⁸⁹ Mit dem einleitenden Satz »[S]eit Bücher geschrieben werden, werden Bücher verbrannt.«⁶⁹⁰ kam Kästner zunächst auf die weder zeitlich noch räumlich gebundene Konstanz der Vernichtung politisch unerwünschter Literatur zu sprechen.⁶⁹¹ Um eine Überleitung zu den Ereignissen im zwanzigsten Jahrhundert zu schaffen, griff er im Anschluss daran auf ein Zitat Heinrich Heines zurück, der zu Lebzeiten selbst in scharfem Konflikt mit den zeitgenössischen Zensurbehörden gestanden hatte: »Dort, wo man die Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen«.⁶⁹² Diesen Ausspruch, den der

687 Schumann, Karl: Uraufführung in den Kammerspielen: Kästners Schule der Diktatoren. In: Süddeutsche Zeitung, 27. 2.1957. 688 Glötzner, Johannes: »Ich wollte kein Held sein oder werden«. In: Erich Kästner Jahrbuch. Band 3. Hg. von Volker Ladenthin. Würzburg 2004, S. 57– 66, hier S. 63. 689 Siehe Kästner, Erich: Über das Verbrennen von Büchern [1958]. In: EKW VI, S. 638 – 647. Die Ansprache wurde sowohl in der Süddeutschen Zeitung und dem Hamburger Echo als auch in Auszügen in der Welt abgedruckt und erschien noch im selben Jahr als Sonderdruck im Cecilie DresslerVerlag. 690 EKW VI, S. 638. 691 Vgl. ebd., S. 639. 692 Heine, Heinrich zit. n. ebd., S. 640.

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von ihm verehrte Literat⁶⁹³ 135 Jahre zuvor seiner Bühnenfigur Hassan in der Tragödie Almansor in den Mund gelegt hatte,⁶⁹⁴ erhob Kästner angesichts der Bücherverbrennungen und der ihnen folgenden Kapitalverbrechen des NS-Regimes zur »Prophezeiung«.⁶⁹⁵ Wie schon im Vorwort seiner Anthologie Bei Durchsicht meiner Bücher ⁶⁹⁶ erinnerte er seine Zuhörer im Weiteren unmittelbar an jene Nacht im Mai 1933, in der die Werke zahlreicher verfemter Autoren ›den Flammen übergeben‹ wurden. Damit einhergehend betonte Kästner erneut seine Rolle als Augenzeuge, der der Vernichtung seiner eigenen Werke auf dem Berliner Opernplatz beigewohnt hatte. Anders als kurz nach dem Ende der Diktatur teilte er aber nicht allein seine persönlichen Erinnerungen und seine noch immer andauernde emotionale Betroffenheit⁶⁹⁷ mit seinen Adressaten. Er kam auch auf sein eigenes Nichteingreifen in das Autodafé zu sprechen, indem er gestand, »nur passiv geblieben« zu sein: »Ich hatte angesichts des Scheiterhaufens nicht aufgeschrien. Ich hatte nicht mit der Faust gedroht. Ich hatte sie nur in der Tasche geballt.«⁶⁹⁸ Diese viel zitierte Passage der Ansprache wollte Kästner allerdings nicht allein als öffentliches Selbstbekenntnis verstanden wissen – er erzähle davon, »[w]eil, immer wenn von der Vergangenheit gesprochen wird, auch von der Zukunft die Rede« sei.⁶⁹⁹ Aus seinem eigenen Verhalten kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zog er für kommende Zeiten den Schluss, dass »niemand die Mutfrage beantworten kann,

693 Kästner wies Heine nach 1945 in verschiedenen Interviews als einen der für ihn wichtigsten Schriftsteller aus und setzte sich dezidiert dafür ein, das Ansehen des in der NS-Zeit in Vergessenheit geratenen Autors wiederzubeleben. Als PEN-Präsident engagierte er sich in den 1950er Jahren etwa hartnäckig für die Aufstellung eines Heine-Denkmals in München, das – nach jahrelangen bürokratischen Debatten – 1962 eingeweiht wurde. Vgl. dazu auch Pfanner (2004), S. 69 und Hanuschek (2003), S. 403. 694 In Heines 1823 veröffentlichtem Bühnenstück äußert sich der frühere Diener der Familie des Titelhelden mit diesen Worten über die spanischen Autodafés des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts. Siehe Heine, Heinrich: Almansor. Eine Tragödie. 4. Auflage, Berlin 2015, S. 11. 695 EKW VI, S. 640. 696 Vgl. dazu Kapitel 3.2.4. Ein weiterer öffentlicher Anlass für Kästner, die Verbrennung seiner Bücher im Jahr 1933 zu thematisieren, war im Übrigen die Verleihung des Georg Büchner-Preises an ihn gewesen. In seiner Dankesrede hob er 1957 unter anderem auf seine Rolle als »unerwünschte[r] und politisch unzuverlässige[r]« Schriftsteller in der NS-Zeit ab und betonte, »unter den vierundzwanzig Namen, mit denen der Minister für literarische Feuerbestattung seinen Haß artikulierte«, sei auch der seine gewesen. Kästner, Erich: Rede zur Verleihung des Georg Büchner-Preises 1957. In: EKW VI, S. 620 – 633, hier S. 622. 697 Kästner offenbarte etwa, er habe »Gefährlicheres erlebt, Tödlicheres – aber Gemeineres nicht!« EKW VI, S. 643. 698 Ebd., S. 646. 699 Ebd.

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bevor die Zumutung an ihn herantritt«.⁷⁰⁰ Somit dürfe »[k]ein Volk und keine Elite […] die Hände in den Schoß legen und darauf hoffen, daß im Ernstfall, im ernstesten Falle, genügend Helden zur Stelle sein werden«.⁷⁰¹ Lässt bereits diese Feststellung die Möglichkeit, eine schon bestehende Diktatur noch ›von innen heraus‹ zu Fall bringen zu können, mehr als vage erscheinen, so stellte der weitere Argumentationsgang es als schier unmöglich dar. Denn Kästner fuhr fort: Und auch wenn sie sich zu Worte und Tat meldeten, die Einzelhelden zu Tausenden – sie kämen zu spät. Im modernen undemokratischen Staat wird der Held zum Anachronismus. Der Held ohne Mikrophone und ohne Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst. Seine menschliche Größe, so unbezweifelbar sie sein mag, hat keine politischen Folgen. Er wird zum Märtyrer.⁷⁰²

Aus dieser Anschauung, die unvermittelt an das tödliche Schicksal des verratenen Siebenten in der Schule der Diktatoren denken lässt,⁷⁰³ folgerte der Schriftsteller, dass man »[d]ie Ereignisse von 1933 bis 1945 […] spätestens 1928« hätte bekämpfen müssen: »Später« sei es hierfür »zu spät« gewesen.⁷⁰⁴ Letztere Behauptung lässt sich zwar durchaus als Fortsetzung der exkulpierenden Stellungnahmen betrachten, die Kästner in den unmittelbaren Nachkriegsjahren vertreten hatte – denn immerhin entbindet sie die Deutschen, wenigstens implizit, von dem Vorwurf, nicht hartnäckig(er) versucht zu haben, das NS-Regime nach dessen Etablierung zu Fall zu bringen. In der Rede Über das Verbrennen von Büchern fungiert sie allerdings – anders als etwa Drouve dies suggeriert⁷⁰⁵ – keineswegs als Höhepunkt, sondern vielmehr als Ausgangspunkt eines politischen Plädoyers, dessen Kernaussage sich bereits für Kästners im Vorjahr uraufgeführtes Theaterstück geltend machen ließ. Aus seinen eigenen Erfahrungen in und mit der NS-Diktatur leitete der Autor ab, dass sofortiger Widerstand geboten sei, sobald sich in einer Gesellschaft demokratiefeindliche Tendenzen ihren Weg bahnen:

700 Ebd. 701 Ebd. 702 Ebd. 703 Vgl. dazu auch Zinkernagel (2014), S. 309 sowie Drouve (1993), S. 166, der seine kritische Sichtweise auf das Theaterstück unter Bezugnahme auf den oben zitierten Ausschnitt aus Kästners Ansprache zu untermauern versuchte. 704 EKW VI, S. 646. 705 Drouve übergeht bei seiner Erwähnung der Rede den weiteren Verlauf der Kästner’schen Argumentation komplett. Diese bedeutungsentstellende Ausblendung führt ihn zu einem (in besagtem Kontext jeglicher Plausibilität entbehrenden) Vergleich des Schriftstellers mit dessen Romanhelden Fabian, der zu dem Ergebnis gelangt, dass es kein System gebe, in dem er funktionieren kann. Vgl. Drouve (1993), S. 167.

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Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr. Das ist der Schluß, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen […].⁷⁰⁶

Um zu verdeutlichen, auf welche Weise Kästner noch lange über seine Ansprache hinaus selbst versuchte, diesen Appell in die Tat umzusetzen, lohnt es, seine Reaktionen auf ein gut sieben Jahre später vonstattengegangenes Ereignis zu beleuchten, das in Biographien und Forschungsarbeiten über den Schriftsteller bereits mehrfach erwähnt, bislang jedoch keiner ausführlicheren Betrachtung unterzogen worden ist.⁷⁰⁷ Die Rede ist von einer öffentlichen Aktion, die am Nachmittag des 3. Oktober 1965 von zwanzig Mitgliedern des Evangelischen Jugendbundes für entschiedenes Christentum (kurz: E.C.) in Düsseldorf durchgeführt wurde. In Begleitung zweier Diakonissen und eines evangelischen Pressefotografen hatten sich die Heranwachsenden zum Rheinufer begeben und, nebst einer größeren Menge an ›Groschenheften‹, Werke renommierter Autoren verbrannt, in denen Sexualität und zum Teil auch Religionskritik eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Im Feuer landeten dabei die allesamt in den 1950er Jahren veröffentlichten Romane Der Fall von Albert Camus, In einem Monat, in einem Jahr von Françoise Sagan, Lolita von Vladimir Nabokov und Die Blechtrommel von Günter Grass. Aber auch Kästners 1928 erschienener Gedichtband Herz auf Taille, der bereits der Bücherverbrennung im Jahr 1933 zum Opfer gefallen war, ging erneut in Flammen auf.⁷⁰⁸ Zum Gegenstand einer wahren Flut von Berichterstattungen in den Medien wurde das Autodafé der jungen Christen, als wenige Tage nach seiner Durchführung bekannt wurde, dass es bereits fünf Wochen zuvor offiziell vom Ordnungsamt der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt genehmigt worden war. Zwar hatte die Behörde sich aufgrund des möglichen Funkenfluges gegen das Entzünden eines Feuers auf dem von der Jugendgruppe favorisiertem Düsseldorfer Karlsplatz ausgesprochen; dagegen, die beantragte »Verbrennung von Schundliteratur« am

706 EKW VI, S. 646. 707 Mit mehr als nur wenigen Sätzen wird das im Folgenden beleuchtete Geschehen in den Monographien von Renate Benson und Klaus Kordon bedacht – allerdings erschöpfen sich ihre Ausführungen primär in der Paraphrasierung des Kästner’schen Artikels Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff (EKW VI, S. 587– 590). Vgl. Benson (1976), S. 100 f., Kordon (1998), S. 297 f. 708 Vgl. Einstein, Siegfried: Und da nun alles wieder ähnlich ist…SS marschiert und Bücher brennen. In: Die Andere Zeitung, 21.10.1965.

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Rheinufer durchzuführen, hatte sie allerdings keine Einwände vorgebracht.⁷⁰⁹ Wie sich dem zeitgenössischen Pressespiegel entnehmen lässt, war in den nachträglichen Stellungnahmen der öffentlichen Vertreter des E.C., ungeachtet der langfristigen Vorbereitung der Aktion, von einem »spontane[n] Entschluss«⁷¹⁰ zur Verbrennung der Bücher die Rede. Den Ausschlag für das Handeln der Jugendlichen habe die Erkenntnis gegeben, dass die »Sucht […] nach sexueller Überreizung die persönliche Lebensverbindung mit Christus«⁷¹¹ zerreiße. Aus diesem Grund habe die Gruppe den Entschluss gefällt, sich öffentlich von Schrifttum zu trennen, »das jedem persönlich zur Gefahr und zu dem geworden war, was die Bibel Sünde nennt.«⁷¹² Inspirationsquelle für das Autodafé sei der Brief des Apostels Paulus über die Verbrennung heidnischer Bücher gewesen.⁷¹³ Dass die Aktion, die lediglich einen Akt der »freie[n] Meinungsäußerung« dargestellt habe, »beschämende Erinnerungen an die NS-Zeit wecken musste« hätten die Heranwachsenden, dem Hauptvorstand des evangelischen Jugendbundes zufolge, »nicht bedacht«.⁷¹⁴ Wie nun reagierte Kästner auf die Aktion der jungen Christen, deren behördliche Genehmigung und die anschließenden Stellungnahmen des E.C.? Zufällig führte den Schriftsteller eine von langer Hand geplante Lesereise nur eine Woche nachdem die Jugendgruppe ihr Feuer am Rheinufer entfacht hatte in die nordrheinwestfälische Landeshauptstadt. Dort kam es, auf Initiative des Kabarettistenpaares

709 Vgl. [anonym]: Ungeheuerlich! Genehmigte Düsseldorfer Polizei Bücherverbrennung? In: Der Abend, 7.10.1965 und Diederichs, Werner: Flammende Bekenntnis. Mit Feuer-Eifer gegen Schund und Literatur. In: Christ und Welt, 15.10.1965, S. 13. Wie es Wochen später hieß, habe das Amt darauf vertraut, »daß es sich um eine Aktion im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit handele.« [anonym]: Stadtverwaltung will künftig Bücherverbrennungen verhindern. Oberbürgermeister Becker: Wir missbilligen solche Methoden. In: Rheinische Post, 15.11.1965. 710 Evangelischer Jugendbund für entschiedenes Christentum zit. n. [anonym]: Choral am Scheiterhaufen. In: Der Mittag. Zeitung für Rhein und Ruhr, 17.10.1965. 711 Evangelischer Jugendbund für entschiedenes Christentum zit. n. ebd. 712 Evangelischer Jugendbund für entschiedenes Christentum zit. n. ebd. 713 Vgl. Ihlefeld, Heli: Nach dem Feuer kam ein Donnerwetter. In: Abendzeitung, 9./10.10.1965, S. 6. Konkret bezog sich die Gruppe auf die Apostelgeschichte 19, Vers 19; dort heißt es: »Viele aber, die da vorwitzige Kunst getrieben hatten, brachten die Bücher zusammen und verbrannten sie öffentlich und überrechneten, was sie wert waren, und fanden des Geldes fünfzigtausend Groschen.« Vgl. ebd. 714 Hauptvorstand des Evangelischen Jugendbundes für entschiedenes Christentum zit. n. [anonym]: Feuer und Haß sind nicht richtig. Düsseldorfer Bücherverbrennung als Akt der Notwehr bezeichnet. In: Düsseldorfer Nachrichten, 11.10.1965. Sowohl die Jugendlichen selbst als auch die beiden (ebenfalls noch jungen) Diakonissen versicherten im Übrigen, »in der Schule kaum etwas über die Geschichte des Dritten Reiches oder gar über Bücherverbrennungen erfahren« und daher nicht geahnt zu haben, dass die Aktion in diesen Kontext gesetzt werden könne. Zit. n. Ranft, Ferdinand. Ein Licht ins dunkle deutsche Land. Die Bücherverbrennung des Jugendbundes für »Entschiedenes Christentum«. In: Die Zeit, 15.10.1965.

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Kay und Lore Lorentz,⁷¹⁵ noch vor der am Abend des 12. Oktober angesetzten Lesung zu einem Treffen mit dem damaligen Oberbürgermeister Düsseldorfs, dem SPDPolitiker Willi Becker.⁷¹⁶ Da offiziell geplant worden war, dass Kästner sich im ›goldenen Buch‹ der Stadt verewigen sollte,⁷¹⁷ war Alfred Müller-Gast als regionaler Pressevertreter bei der Zusammenkunft zugegen. Bereits vor dem Antritt seines Besuchs im Rathaus empörte sich der Autor im Gespräch mit dem Journalisten über die ersten, inzwischen publik gewordenen Stellungnahmen des E.C. Als besonders »verlogen« empfand er es, Müller-Gasts Berichterstattung zufolge, dass trotz des schon Wochen zuvor gestellten Antrags beim Ordnungsamt von einer »spontanen Aktion« gesprochen wurde.⁷¹⁸ In Anbetracht der Tatsache, dass die Bücherverbrennung »auf einem städtischen Gelände mit Erlaubnis geschehen« war, beanstandete Kästner bei seiner anschließenden Begegnung mit dem Oberbürgermeister, dass bislang keine städtische Instanz verlautbart habe, »daß der Vorgang eine Schweinerei gewesen sei, daß man rückblickend die Genehmigung nie gegeben hätte und daß man in Zukunft besser aufpassen werde«.⁷¹⁹ Obgleich er offenbar mit Nachdruck versuchte, den Politiker zu einer öffentlichen, »auch im Ausland hörbar[en]«⁷²⁰ Distanzierung von dem durch das Ordnungsamt seiner Stadt bewilligten Autodafé zu bewegen,⁷²¹ erklärte dieser sich hierfür nicht zuständig.⁷²² Stattdessen klassifizierte Becker die Bücherverbrennung als »Dummejungenstreich«⁷²³ und

715 Das Ehepaar Kay Lorentz und Lore Lorentz hatte 1947 in Düsseldorf das literarisch-politische Kabarett Kom(m)ödchen gegründet, welches zu einer der renommiertesten (west)deutschen Kleinkunstbühnen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts avancierte. Vgl. auch Kapitel 3.2.2. 716 Becker war von 1961 bis 1964 Bürgermeister der Stadt gewesen, bis er, ein Jahr vor der Bücherverbrennung am Rheinufer, zum Oberbürgermeister gewählt wurde; er hatte das Amt bis 1974 inne. 717 Vgl. dazu die Ausführungen von Lore Lorentz in Neumann, Friedrich H.: Kom(m)ödchenspiel auf dem Vulkan. Kai [sic] und Lore Lorentz über deutsche Zustände. In: Christ und Welt, 29.10.1965, S. 38. 718 Kästner, Erich zit. n. Müller-Gast, Alfred: Der Spötter spottet nicht mehr. NRZ-Gespräch mit dem Schriftsteller Erich Kästner. In: Neue Ruhr-Zeitung, 13.10.1965. Im Folgenden zitiert als Müller-Gast (1965a). 719 Kästner, Erich zit. n. ebd. 720 Kästner, Erich zit. n. ebd. 721 Vgl. ebd., vgl. dazu auch Lore Lorentz zit. n. Neumann (1965). 722 Vgl. ebd. 723 Becker, Willi zit. n. Müller-Gast, Alfred: Satiriker leben immer noch gefährlich. Ein Gespräch zwischen OB Becker, Erich Kästner, Kay und Lore Lorentz. In: Neue Rhein-Zeitung, 13.10.1965. Im Folgenden zitiert als Müller-Gast (1965b).

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»Bagatellsache»:⁷²⁴ Da es sich nicht um eine »gelenkte Aktion« gehandelt habe, wolle er »nichts hochspielen, was des Hochspielens nicht wert« sei.⁷²⁵ Beachtung verdient, mit welchen Argumenten Kästner und das ebenfalls anwesende Künstlerpaar Lorentz versuchten, den Oberbürgermeister doch noch von der Relevanz einer öffentlichen Abstandnahme zu überzeugen. Denn sie stellten die amtlich genehmigte Verbrennung von Büchern bekannter Schriftsteller in den Kontext einer Reihe von Ereignissen, die sich in den vorangegangenen Monaten in der Bundesrepublik zugetragen hatten.⁷²⁶ Dabei brachten sie zuvörderst einige kurz zuvor getätigte Äußerungen des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard ins Spiel. Im Zuge seines Amtsantritts hatte der CDU-Politiker »die schöpferischen Menschen in der Bundesrepublik« zwei Jahre zuvor noch dezidiert »zur Mitarbeit in diesem Staate« aufgerufen.⁷²⁷ Nachdem in den Folgejahren immer mehr Schriftsteller begonnen hatten, für einen Regierungswechsel einzutreten,⁷²⁸ war es jedoch nicht bei seiner positiven Haltung gegenüber dem politischen Engagement Intellektueller geblieben: Im Mai des Wahljahres 1965 hatte Erhard auf dem Landesparteitag der baden-württembergischen CDU, in Anspielung auf das Engagement von Günter Grass im Wahlkampf der Oppositionspartei SPD, nicht nur festgehalten, dass seine Partei darauf verzichten werde, »die Blechtrommel zu rühren«.⁷²⁹ Er hatte zudem verkündet, dass er »die unappetitlichen Entartungserscheinungen der modernen Kunst nicht mehr ertragen« könne.⁷³⁰ Nur einen Monat darauf rekurrierte er vor dem Wirtschaftstag der CDU/CSU in Düsseldorf auf eine kurz zuvor

724 Becker, Willi zit. n. Müller-Gast, Alfred: Ein Moralist mit Herz und Verstand. Erich Kästner las und sprach über die Gefahren der Intoleranz. In: Neue Rhein-Zeitung, 14.10.1965. Im Folgenden zitiert als Müller-Gast (1965c). 725 Becker, Willi zit. n. Müller-Gast (1965a). 726 Vgl. etwa Kassebeer, Friedrich: Da konnte Lore Lorentz nicht mehr schweigen…Die Kabarettistin berichtete von den Drohbriefen, als sie mit Erich Kästner beim Bürgermeister war. In: Die Welt, 15.10.1965. Vgl. dazu auch Kästner, Erich: Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff [1965]. In: EKW VI, S. 587– 590, hier S. 589. 727 Erhard, Ludwig zit. n. [anonym]: Erhard: Im Stil der Zeit. In: Der Spiegel 30 (1965), S. 17– 18, hier S. 17. 728 So hatten beispielsweise die Autoren Rolf Hochhuth und Peter Weiss eine dezidiert kritische Haltung gegenüber Erhard und den Zuständen in Bonn eingenommen, Günter Grass engagierte sich entschlossen im Wahlkampf der SPD und 24 weitere deutsche Schriftsteller und Journalisten, unter ihnen etwa Paul Schallück, Peter Rühmkorf, Walter Jens und Siegfried Lenz, porträtierten in dem von Hans Werner Richter herausgegebenen ro-ro-ro-Band Plädoyer für eine neue Regierung [1965] die »Regierungsmannschaft« Willy Brandts. Vgl. ebd. 729 Erhard, Ludwig zit. n. [anonym]: Die Worte des Kanzlers. Eine Zitatensammlung zum Thema: Der Staat und die Intellektuellen (Die Zeit, 30.7.1965). http://www.zeit.de/1965/31/die-worte-des-kanz lers [letzter Zugriff: 17. 2. 2017]. 730 Erhard, Ludwig zit. n. ebd. Hervorhebung d. Verf.

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publizierte Kritik Rolf Hochhuths an seiner Regierungsweise.⁷³¹ In diesem Kontext führte der so genannte ›Vater des Wirtschaftswunders‹ aus, neuerdings sei es ja Mode, daß die Dichter unter die Sozialpolitiker und die Sozialkritiker gegangen sind. Wenn sie das tun, das ist natürlich ihr gutes demokratisches Recht, dann müssen sie sich aber auch gefallen lassen, so angesprochen zu werden, wie sie es verdienen, nämlich als Banausen und Nichtskönner, die über Dinge urteilen, von denen sie einfach nichts verstehen. […] Sie begeben sich auf die Ebene, auf die parterreste Ebene eines kleinen Parteifunktionärs und wollen doch mit dem hohen Grad eines Dichters ernst genommen werden. Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an.⁷³²

Freilich wurde Erhard für diese Diskreditierungen und den ihnen innewohnenden nazistisch gefärbten Sprachgestus aus dem Lager der Intellektuellen, deren politischen Positionierungen er (im Sinne von Lepsius) jegliche ›formale Kompetenz‹ absprach, heftig kritisiert.⁷³³ Nichtsdestotrotz nahm er auch im Nachhinein keinen Abstand von seinem Urteil. Kästner und das Ehepaar Lorentz brachten gegenüber Becker allerdings nicht allein das Verhalten des amtierenden Bundeskanzlers zur Sprache. Sie verwiesen ebenso darauf, dass Unbekannte wenige Wochen vorher die Haustür von Günter Grass in West-Berlin in Brand gesetzt hatten.⁷³⁴ Zudem gestand Lore Lorentz im

731 Hochhuth hatte bereits drei Jahre zuvor mit seinem Drama Der Stellvertreter [1962], das die Untätigkeit des Vatikans angesichts des Holocaust problematisierte, einen der größten Literaturskandale der Bundesrepublik ausgelöst. In seinem im Mai 1965 im Spiegel veröffentlichten Artikel Der Klassenkampf ist nicht zu Ende hob er überaus kritisch auf die Sozialpolitik Erhards ab. Zudem legte er seine Auffassung über die politische Verantwortung von Schriftstellern dar. Siehe Hochhuth, Rolf: Der Klassenkampf ist nicht zu Ende. Rolf Hochhuth über die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik. In: Der Spiegel 22 (1965), S. 28 – 44. 732 Erhard, Ludwig zit. n. [anonym]: Die Worte des Kanzlers. Eine Zitatensammlung zum Thema: Der Staat und die Intellektuellen (Die Zeit, 30.7.1965). http://www.zeit.de/1965/31/die-worte-des-kanz lers [letzter Zugriff: 17. 2. 2017]. 733 So merkte etwa Grass an, »[h]eute von entarteter Kunst zu sprechen«, hieße »allen, die während der Nazizeit litten, abermals ins Gesicht zu schlagen« (Grass, Günter zit. n. ebd.) und auch Böll empfand den Tonfall der Diffamierungsversuche des Kanzlers »als äußerst peinlich« (Böll, Heinrich zit. n. ebd.). 734 Vgl. Lorentz, Lore, zit. n. Kassebeer (1965). Dies geschah, nachdem Grass sich im Zuge seiner Wahlkampfreise für die SPD für die offizielle Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ausgesprochen hatte. Ob Kästner und dem Ehepaar Lorentz dieser spezifische Hintergrund bekannt war, ist jedoch nicht erwiesen. Die Straftat, die am 16. September 1965 begangen wurde, entpuppte sich letztlich als Teil einer Serie von Brandstiftungen, bei der die Täter im Laufe des Jahres 1965 wiederholt ölgetränkte Lappen an Haustüren entzündeten. Neben Grass waren unter anderem der SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Schulz und der Journalist Karl Silex betroffen. Beide hatten sich zuvor in der Oder-Neiße-Frage ähnlich wie Grass positioniert. Siehe dazu auch Nette, Wolfgang: Morgens

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Gespräch mit Becker, dass ihrem Mann und ihr in den vergangenen Monaten mehrere Briefe mit Morddrohungen zugegangen waren. Zuvor hatten sie in das Programm ihres Kabaretts Kom(m)ödchen eine Nummer aufgenommen, die NS-affine Kommentare des Bundesverkehrsministers Hans-Christoph Seebohm über den rechtlichen Status des Sudetenlandes persiflierte.⁷³⁵ Obgleich Becker jegliche Verbindung zwischen der Bücherverbrennung am Rheinufer und den von seinen drei Gästen zur Sprache gebrachten Ereignissen negierte,⁷³⁶ beharrte Kästner gegenüber ihm und der Presse auf seinem Standpunkt hinsichtlich eines übergreifenden Zusammenhangs der Vorgänge. Eine Gemeinsamkeit sah er sowohl in der faschistischen Färbung der Taten als auch in der in ihnen zum Ausdruck kommenden Intellektuellenfeindlichkeit. In diesem Zusammenhang postulierte er: »Die Abneigung gegen die Intelligenz braucht hierzulande gar nicht gepflegt zu werden, sie ist ja da. Und wird doch noch gepflegt.«⁷³⁷ Seine Sichtweise bekräftigte Kästner noch am selben Abend in aller Öffentlichkeit: Im voll besetzten Robert-Schumann-Saal wies er die Besucher seiner Lesung »auf eine sich entwickelnde Intoleranz« in der Bundesrepublik hin, die damit begonnen habe, »daß Professor Erhard sich außerordentlich abfällig über die engagierten Literaten geäußert hat.«⁷³⁸ Außerdem nutzte er die Veranstaltung, um den Anwesenden vom Verlauf seines wenige Stunden zuvor erfolgten Besuchs beim Oberbürgermeister der Stadt zu berichten und dabei gezielte Kritik an Beckers Charakterisierung der durchgeführten Bücherverbrennung als »Bagatellsache« zu üben.⁷³⁹ In Abgrenzung davon hielt Kästner fest, man müsse »hoffen, daß es bei 20 jungen Christen bleibt, und sich nicht etwas entwickelt, was man Kleriko-Faschismus nennt.«⁷⁴⁰ Angesichts jener Befürchtung schlug er schließlich eine Brücke zu ein Uhr in Berlin. Die Polizei sucht Brandstifter und Hakenkreuzschmierer (Die Zeit, 26.11.1965). http://www.zeit.de/1965/48/morgens-um-ein-uhr-in-berlin [letzter Zugriff: 1. 3. 2017]. 735 Vgl. dazu Müller-Gast (1965b) und Kassebeer (1965). Seebohm (1903 – 1967), der in der NS-Zeit unter anderem als Vorstand der zur Übernahme »arisierten« Eigentums gegründeten Egerländer Bergbau AG fungierte, war von 1949 bis zu seinem Tod Mitglied des Deutschen Bundestages. Er galt als entschiedener Fürsprecher der Vertriebenenverbände und war ab 1950 Vorstandsmitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Die Kabarettnummer des Kom(m)ödchens bezog sich auf eine im Vorjahr öffentlich artikulierte Forderung des CDU-Politikers nach einer »Rückgabe der geraubten sudetendeutschen Heimatgebiete an das sudetendeutsche Heimatvolk«, von der sich die Bundesregierung ausdrücklich distanzierte. Siehe auch [anonym]: Seebohm. Einfach mitgegangen. In: Der Spiegel 44 (1946), S. 30 – 32, hier S. 30. Hervorhebung d. Verf. 736 Vgl. Kassebeer (1965), vgl. auch Kästner, Erich: Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff [1965]. In: EKW VI, S. 587– 590, hier S. 589. 737 Kästner, Erich zit. n. Müller-Gast (1965a). 738 Kästner, Erich zit. n. Müller-Gast (1965c). 739 Vgl. ebd. 740 Kästner, Erich zit. n. ebd.

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den Geschehnissen in der NS-Zeit, indem er Passagen aus Notabene 45 und der zu Beginn dieses Kapitels betrachteten Rede Über das Verbrennen von Büchern verlas. Seine auf diese Weise noch einmal zu Gehör gebrachte Aufforderung, den Anfängen antidemokratischer Tendenzen zu wehren und »den rollenden Schneeball [zu] zertreten«,⁷⁴¹ verband er mit einer Äußerung, die Müller-Gast in seinem Artikel, wohl nicht zu Unrecht, als »eine[n] der Kernsätze«⁷⁴² des Abends auswies. Kästner konstatierte: »Wenn die Demokratie sich richtig versteht, wird sie einmal intolerant sein müssen, nämlich gegen die Intoleranten.«⁷⁴³ In den nachfolgenden Wochen brachte der Schriftsteller seine Einstellung zum Autodafé der ›entschiedenen Christen‹ und zu den übergreifenden Zusammenhängen, in denen er die Aktion verortete, noch in verschiedenen Interviews zum Ausdruck.⁷⁴⁴ Zugleich nahm er die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das Ereignis in Düsseldorf in den Blick, indem er akribisch die divergierenden Meinungsäußerungen über die Bücherverbrennung in der Presse verfolgte.⁷⁴⁵ Eine Beleuchtung dieser Kontroverse ist nicht nur insofern aufschlussreich, als sie sichtbar macht, in welchem Maß die Ansichten Kästners von anderen aufgegriffen und geteilt beziehungsweise abgelehnt wurden. Sie offeriert auch einen Einblick in das gesellschaftliche Klima des Jahres 1965, das geprägt war von den sich verhärtenden Fronten zwischen denen, die einen endgültigen Bruch mit den Denk- und Handlungsmustern des ›Dritten Reichs‹ einforderten, und denen, die ebendiese Muster selbstbewusst weitertrugen. Bei der Betrachtung des zeitgenössischen Pressespiegels lassen sich einerseits zahlreiche Stellungnahmen finden, in denen eine zutiefst erschrockene und ablehnende Haltung gegenüber dem Autodafé und seiner amtlichen Genehmigung zum Ausdruck kommt. Von parteipolitischer Seite meldete sich die SPD zu Wort, deren Pressedienst die Meldung herausgab, dass »[d]iese barbarische Art, mit unliebsamen Büchern fertig werden zu wollen, […] zu den schrecklichen Bildern [gehört], die die Erinnerung an jede Art von Totalitarismus wach werden lässt«.⁷⁴⁶ 741 Kästner, Erich: Über das Verbrennen von Büchern [1958]. In: EKW VI, S. 638 – 647, hier S. 646. 742 Müller-Gast (1965c). 743 Kästner, Erich zit. n. ebd. 744 Vgl. dazu Kästner, Erich an Detlev Rosenbach/Fackelträger Verlag. Brief vom 22.10.1965 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003. 745 In Kästners Nachlass befinden sich ganze vier Mappen mit Zeitungsartikeln, die die Düsseldorfer Bücherverbrennung vom 3. Oktober 1965 thematisieren. Siehe DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Mappe 36 – 39 zum Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003. 746 Sozialdemokratischer Pressedienst zit. n. Ihlefeld (1965), S. 6. Die Stellungnahme zeigt zugleich, dass die Position Beckers nicht repräsentativ für die Haltung seiner Partei war.

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Ganz konkret als faschistische Aktion stufte das linkssozialistische Wochenblatt Die andere Zeitung die Bücherverbrennung ein.⁷⁴⁷ Und auch Michael Jürgs konstatierte in der Münchener Abendzeitung, der Rauch des Feuers am Rheinufer sei »braun«⁷⁴⁸ gewesen, während Jochen Schmidt im Mittag provokativ die Frage in den Raum stellte, wen man morgen verbrennen werde.⁷⁴⁹ In der Zeit wiederum plädierte Marcel Reich-Ranicki zwar dafür, zwischen der staatlich gelenkten Bücherverbrennung von 1933 und der Aktion der Jugendlichen zu differenzieren; gleichwohl nahm auch er die bis dahin nicht vonstattengegangene Distanzierung der Bundesbehörden und Länderregierungen zum Anlass, festzuhalten, dass es sich nicht um »Anfäng[e]« handle, derer man sich erwehren müsse, sondern um »eine Fortsetzung«.⁷⁵⁰ Über die genannten Akteure des kulturellen Feldes hinaus meldeten sich auch zahlreiche deutsche Zeitungsleser zu Wort, die die Düsseldorfer Bücherverbrennung und den behördlichen Umgang mit ihr als Ausdruck eines »gewisse[n] latente[n] Nazismus in der Bundesrepublik«⁷⁵¹ und als Zeichen dafür bewerteten, dass »bei uns wirklich und wahrhaftig nichts gelernt wird.«⁷⁵² Bemerkenswert ist, wie viele der Artikel und Kommentare, die sich ablehnend über das Autodafé äußerten, Kästners Einordnung der Aktion in größere Zusammenhänge wahlweise wörtlich wiedergaben oder zumindest implizit aufgriffen:⁷⁵³ Neben Reich-Ranicki, der Kästners kritische Sicht auf die diffamierenden Positionierungen Erhards teilte und sich dem Appell, »nicht [zu] warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden« sei, explizit anschloss,⁷⁵⁴ kamen beispielsweise auch Werner Hofmann in der Westfälische[n] Rundschau, Horst Wetterling im Stern sowie Rudolf Gottschalk und Siegfried Einstein in der Andere[n] Zeitung in unter747 Vgl. etwa Gottschalk, Rudolf: Auschwitzspiel und Scheiterhaufen…Giftattentat und Brandstiftung, »Banausen« und »entartete Kunst«: Es wird ernst. In: Die andere Zeitung, 21.10.1965 sowie Einstein, Siegfried: Bagatellen, Bagatellen, Bagatellen. In: Die Andere Zeitung, 28.10.1965. 748 Jürgs, Michael: Kulturimpressionen zwischen Düsseldorf und München. Feuer am deutschen Rhein. In: Die Abendzeitung, 14.10.1965. 749 Schmidt, Jochen: Und morgen? In: Der Mittag. Zeitung für Rhein und Ruhr, 17.10.1965. 750 Reich-Ranicki, Marcel: Kennst du das Land, wo erst die Bücher brennen? In: Die Zeit, 15.10.1965, S. 19 f. 751 Ries, Gerhardt: [Leserbrief ]. In: Die Welt, 19.10.1965. 752 Lorenz, Arthur: [Leserbrief ]. In: Frankfurter Rundschau, 20.10.1965. 753 Dies gilt im Übrigen nicht ausschließlich für die bundesrepublikanische Debatte: Auch mehrere in der DDR erschienene, kritisch bis propagandistisch gefärbte Artikel über die Bücherverbrennung integrierten die Stellungnahmen, die Kästner bei seinem Besuch in Düsseldorf abgegeben hatte. Siehe etwa [anonym]: Wann Entschuldigung für Bücherverbrennung? Erich Kästner: Provokation war wochenlang beim Ordnungsamt angemeldet. In: National-Zeitung (Berlin-Ost), 14.10.1965 sowie [anonym]: Bonn droht mit Mord, Gift und Justizterror. Anschlag auf Düsseldorfer Künstlerpaar. In: Berliner Zeitung (Berlin-Ost), 14.10.1965. 754 Vgl. Reich-Ranicki (1965), S. 20.

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schiedlicher Gewichtung auf Erhard, die Brandstiftung bei Grass und die Drohbriefe an Kay und Lore Lorentz zu sprechen.⁷⁵⁵ Reich-Ranicki, Hofmann und Wetterling betonten zudem die stetigen Angriffe auf moderne Kunst und Literatur durch weltliche und kirchliche Instanzen, die sich bereits seit der Gründung der Bundesrepublik ihren Weg gebahnt hätten.⁷⁵⁶ Und auch das – inzwischen durch Dolf Sternberger vertretene – PEN-Zentrum der BRD verfasste eine öffentlichen Stellungnahme, in der es »jeden Gewaltakt gegenüber literarischen Erzeugnissen, gleich welchen Ranges und Gehaltes, als untaugliches Mittel der Kritik«⁷⁵⁷ verurteilte. Eine solche Haltung vertraten jedoch bei Weitem nicht alle Einwohner der Bundesrepublik: Viele prominente Akteure des religiösen wie kulturellen Feldes und Privatpersonen unterstrichen, entgegengesetzt, wie gerechtfertigt die ›Kritik‹ der Jugendlichen und, mitunter auch, wie legitim das von ihnen gewählte ›Mittel‹ sei. Überblickt man die Wortmeldungen derer, die dem Düsseldorfer Autodafé nicht mit dezidierter Ablehnung gegenüberstanden, dann fällt zunächst auf, dass in ihnen durchweg jene Denk- und Bewertungsmuster über Literatur zum Ausdruck kommen, an denen Kästner bereits im Rahmen der »Schmutz und Schund«-Debatten Kritik erhoben hatte.⁷⁵⁸ So sind die entsprechenden Kommentare von verschiedenen Aussagen durchzogen, die den Diskurs über die Grenzen der Kunstfreiheit bereits seit den späten 1940er Jahren bestimmt hatten. Zum Beispiel begrüßte es der

755 Die Genannten führten die von Kästner und dem Künstlerpaar angestoßene Überlegung freilich in verschiedene Richtungen fort: Gottschalk und Einstein erweiterten die Zusammenhänge dahingehend, dass sie sie um die Benennung jüngster NS-affiner Taten ergänzten: Während Einstein darauf zu sprechen kam, dass einige Gäste zum Auftakt der XIV. Internationalen Dokumentarfilmtage in Mannheim NS-Orden getragen hatten (vgl. Einstein 1965), führte Gottschalk an, dass ein Lehrer des Büsumer Nordsee-Gymnasiums kurz zuvor versucht habe, den Schülern im Chemieunterricht zu ›beweisen‹, dass die Berichte über die im ›Dritten Reich‹ vollzogene Verarbeitung menschlicher Körper zu Seifen eine Lüge sei (vgl. Gottschalk 1965). Reich-Ranicki, Hofmann und Wetterling unterfütterten Kästners These hingegen im Hinblick auf die sich abzeichnende ›Abneigung gegen die Intelligenz‹. So brachten der Soziologe, der Literaturkritiker und der Pädagoge unabhängig voneinander Positionierungen des Chefredakteurs der Welt, Hans Zehrer, ins Spiel, der Intellektuelle in seinen Artikeln – dem NS-Jargon entsprechend – als ›zersetzend‹ charakterisiert und postuliert hatte, dass ihre Positionierungen dem ›gesunden Volksempfinden‹ entgegenstehen würden. Vgl. dazu Reich-Ranicki (1965) sowie Hofmann, Werner: Intelligenz und Gesellschaft. In: Westfälische Rundschau, 6.11.1965 und Wetterling, Horst: Ich kann die Bücherverbrenner gut verstehen. In: Stern 46 (1965), S. 160 – 163. 756 Vgl. Reich-Ranicki (1965), Hofmann (1965) und Wetterling (1965). 757 Zit. n. [anonym]: PEN-Zentrum verurteilt Bücherverbrennung. In: Frankfurter Rundschau, 13.10.1965. 758 Vgl. Kapitel 4.2.3.

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evangelische Bischof Otto Dibelius⁷⁵⁹ in seiner Stellungnahme zur jüngst vollzogenen Bücherverbrennung ausdrücklich, »daß auf diese Weise ein kleines Protestzeichen gegen eine gewisse Literatur deutlich geworden ist, mit der wir heute überschwemmt werden«.⁷⁶⁰ Im Anschluss daran betonte er exemplarisch, dass auch er Die Blechtrommel von Grass für ein »unappetitliches Buch« halte und seinen Kindern und Enkelkindern »andere Lektüre« wünsche.⁷⁶¹ Ins gleiche Horn stieß auch der rechtskonservative Publizist Armin Mohler,⁷⁶² der in der Welt postulierte, Buch sei nicht gleich Buch: »Bei gewissen Extremformen der Pornographie« werde »selbst der von jeder Prüderie freie Bürger zugeben müssen, dass sich die Gesellschaft ihrer zu erwehren« habe.⁷⁶³ Welch enormen Rückhalt Sichtweisen wie diese in der bundesdeutschen Gesellschaft genossen, demonstriert der Blick in die zeitgenössischen Ressorts der Leserbriefe. Hier wurde etwa gefordert, dass »[m]an […] sich freuen [sollte], daß endlich einmal öffentlich und grade von jungen Menschen […], gegen diese widerwärtige Flut von Unsauberkeit und Schmutz, die sich über unser Land ergießt, [protestiert]«⁷⁶⁴ werde. Des Weiteren wurde ins Feld geführt, dass »die Väter des Grundgesetzes« bei der Verabschiedung des Artikel 5 »nicht

759 In Anbetracht der Biographie von Dibelius (1880 – 1967) überrascht dessen ausbleibende Kritik an der Bücherverbrennung kaum – hatte der Bischof Berlin-Brandenburgs und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 doch dezidiert positiv gegenübergestanden und auch den von der SA initiierten Boykott jüdischer Geschäfte unterstützt. Vgl. dazu auch Frielinghaus (2014), S. 254. 760 Dibelius, Otto zit. n. [anonym]: Man muss Mut beweisen. Bischof Dibelius zur Düsseldorfer Bücherverbrennung. In: Der Spiegel 46 (1965), S. 61. 761 Ebd. 762 Mohler (1920 – 2003), der als einer der Vordenker der Neuen Rechten gilt, hatte die Schweiz, in der er geboren und aufgewachsen war, 1942 verlassen, um sich in Deutschland der Waffen-SS anzuschließen, war jedoch noch im selben Jahr in sein Heimatland zurückgekehrt. Nach 1945 legte er seine Dissertation Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932 vor und arbeitete zeitweilig als Privatsekretär Ernst Jüngers. Als Journalist war er hauptsächlich für Die Welt und die kirchliche Wochenzeitschrift Christ und Welt tätig; unter Pseudonym verfasste er allerdings auch Artikel für die rechtsextreme Deutsche National-Zeitung und Soldaten-Zeitung. Vgl. weiterführend Weiß, Volker: Armin Mohler. Er forderte die Revolution von rechts (Die Zeit, 21.7. 2016). http://www. zeit.de/2016/29/armin-mohler-neue-rechte-afd [letzter Zugriff: 25. 2. 2017]. 763 Mohler, Armin: Darf man Bücher verbrennen? Ein Vorschlag, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. In: Die Welt, 30.10.1965. Eben dieser Meinung waren auch 196 Vertreter des CVJM, die die Düsseldorfer Bücherverbrennung im Zuge ihres jährlichen Delegiertentages zum Akt »christlicher Jugend in Notwehr« erklärten. Zit. n. [anonym]: Feuer und Haß sind nicht richtig. Düsseldorfer Bücherverbrennung als Akt der Notwehr bezeichnet. In: Düsseldorfer Nachrichten, 11.10. 1965. 764 Hagen, M. v. dem: [Leserbrief ]. In: Die Welt, 17./18.11.1965.

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voraussehen [konnten], daß nach diesem Freibrief nun für die Zukunft auch jede Sudelei gestattet war, sofern man sie nur als ›Kunst‹ bezeichnete.«⁷⁶⁵ Eine vollkommen andere, aber ebenfalls mit dem 5. Artikel des Grundgesetzes operierende Diskursstrategie – die, wie eingangs dargelegt, auch der Hauptvorstand des E.C. für sich in Anspruch genommen hatte – bestand indes darin, die Düsseldorfer Bücherverbrennung als »Akt der freien Meinungsäußerung« zu legitimieren.⁷⁶⁶ Während Personen, die sich über das Autodafé empörten, die gewählte »Art von Demonstration des Missfallens an der modernen Literatur«⁷⁶⁷ keineswegs in Einklang mit den Werten der Demokratie bringen konnten,⁷⁶⁸ versuchten die Verteidiger der Aktion, die Bücherverbrennung, umgekehrt, unter Bezugnahme auf die demokratische Verfassung zu rechtfertigen. Beispielsweise konstatierte ein Leser der Zeit: Wenn man auf der einen Seite für das Gedankengut von Kästner und Grass eintritt, dann darf man als Demokrat nicht anderen mit der Hilfe der Obrigkeit zu verwehren trachten, ihre gegenteilige Einstellung zu bekunden. Oder wünschen die Verfasser Formvorschriften für die Meinungsäußerung […]?⁷⁶⁹

Symptomatisch für das Stadium der ›Vergangenheitsbewältigung‹, in dem sich dieser implizite Kampf um die Deutungshoheit von Begriffen wie »Toleranz« und »(Meinungs‐)Freiheit« abspielte, ist die Vehemenz mit der viele, die das Wort ergriffen, sich dagegen wehrten, dass ihre ›Gegner‹ die Aktion in Düsseldorf mit der Bücherverbrennung von 1933 in Verbindung brachten. In diesem Kontext wurde nicht nur wiederholt die Frage laut, was das »Beschwören der Nazizeit«⁷⁷⁰ solle. Der Rekurs auf das NS-Regime wurde, im Sinne einer diskursiven Verknappung, auch als unzulässige Argumentationsstrategie gebrandmarkt. In einem Leserbrief, den Die Welt abdruckte, hieß es etwa:

765 Neufehrt, E.: [Leserbrief ]. In: Die Welt, 19.10.1965. Der Ergänzung wert ist, dass solche Leserkommentare durchaus nicht nur in der betont konservativen Welt vorzufinden waren. Beispielsweise zählte sich auch Egbert Daum, als Leser der linksliberal ausgerichteten Zeit, ganz konkret zu den Menschen, »die beim Lesen sogenannter moderner Literatur tiefen Ekel empfinden« würden, und betonte, die »jungen Bücherverbrenner« seien ihm »sympathisch, da sie in ganz entschiedener Manier traditionsbewusstes Christentum zeigten.« Daum, Egbert: [Leserbrief ]. In: Die Zeit, 29.10. 1965. 766 Vgl. Düsseldorfer Nachrichten (1965); vgl. auch Mohler (1965) sowie Philbert, Bernhard: [Leserbrief ]. In: Die Welt, 17./18.11.1965. 767 Röhrkohl, Birgit: [Leserbrief ]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.1965. 768 Vgl. ebd. 769 Quambusch, Erwin: [Leserbrief ]. In: Die Zeit, 29.10.1965. 770 Siehe etwa Hagen, M. v. dem [Leserbrief ]. In: Die Welt, 17./18.11.1965.

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Man bringe irgendwelche Regungen einer Meinungsäußerung, die von der verordneten abweicht, einfach in Verbindung mit Ereignissen aus dem Dritten Reich – und schon sind die Verfechter eigenen Denkens abgestempelt.⁷⁷¹

Signifikant ist, dass sich gerade in den Stellungnahmen, die den von der ›Gegenseite‹ beanstandeten ›latenten Nazismus‹ unverschleiert weitertrugen, oftmals jene Intellektuellenfeindlichkeit offenbarte, die Kästner und seine Befürworter zur Sprache gebracht hatten. Zum Beispiel forderte Mohler in seinem bereits erwähnten Artikel, die deutsche Intelligenz müsse endlich lernen, dass sie nicht ständig ›mit Hitler leben‹ kann – oder zum mindesten [sic] nicht auf solch eingleisige Weise. In jeder Lebenslage das Gegenteil von dem zu tun, was Hitler tat, kann keine Lebensregel sein. […] Ganz abgesehen davon, daß es eine übermenschliche Leistung Hitlers gewesen wäre, 24 Stunden am Tag nur Böses und Falsches zu tun – zwischendurch musste ja auch mal etwas Richtiges durchrutschen. Hitler mit allem und jedem in Beziehung zu setzen, ist ein Beziehungswahn, der denkunfähig macht.⁷⁷²

Noch unverhohlener wandte sich Carl-Werner Simons in der rechtsextremen Deutschen National-Zeitung und Soldaten-Zeitung gegen die »törichten Reden« der von ihm als »Gegner des entschiedenen Christentums« subsumierten Intellektuellen und verkündete mit Bedauern: »Wir sind den größten Feldherrn aller Zeiten nur losgeworden, um den größten Schwätzern aller Zeiten überantwortet zu werden.«⁷⁷³ Positionierungen wie diese, die erkennbar machen, was 1965 nach einer langen Phase (nahezu) kollektiven Schweigens über die NS-Vergangenheit wieder öffentlich sagbar war und noch immer von einem großen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft mitgetragen wurde, empörten Kästner nachweislich. So versah er etwa die beiden zuletzt zitierten Artikel, die sich in seinem Besitz befanden, mit kurzen handschriftlichen Kommentaren: Während er auf dem Beitrag Mohlers die Worte »geradezu unglaublich!« notierte, wies er die rechtsextremen und intellektuellenfeindlichen Aussprüche Simons’ alarmiert als »sehr wichtig!« aus.⁷⁷⁴ Zeitgleich widmete er sich der Beantwortung diverser an ihn persönlich gerichteter Zuschriften, in denen Privatpersonen und Kulturschaffende ihm ihre Empörung über die (erneute) Verbrennung seiner und anderer Werke mitteilten. Besondere Be-

771 Neufert, E.: [Leserbrief ]. In: Die Welt, 19.10.1965. 772 Mohler (1965). 773 Simons, Carl-Werner: Die Bücherverbrennung von Düsseldorf. In: Deutsche National-Zeitung und Soldaten-Zeitung, 29.10.1965. 774 Siehe die Exemplare von Mohler (1965) und Simons (1965) im DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv/Mappe 38 zum Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003.

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achtung verdient, dass Kästner in jenen Briefen – anders als in seinen öffentlichen Stellungnahmen – keineswegs die vonstattengegangene Bücherverbrennung als solche skandalisierte. Stattdessen stellte er die Notwendigkeit in den Vordergrund, das Ereignis zum langfristigen Schutz der Demokratie kritisch zu kommentieren. Zum Beispiel teilte er einer Schulklasse des deutschen Fénelon-Gymnasiums in Lille, die ihm schriftlich ihre Entrüstung und Besorgnis über die Tat der Jugendlichen bekundet hatte, beschwichtigend mit, dass »es sich in Düsseldorf um eine wirklich sehr kleine Gruppe«⁷⁷⁵ gehandelt habe, um dann zu ergänzen: Aber es erschien allen, die in Deutschland liberal gesonnen sind, also auch mir, notwendig, den Vorfall weiterhin bekanntzumachen und zu verurteilen. Die Demokratie ist die auf Toleranz basierende Staatsform. Doch diese Toleranz darf in einem Falle nicht geübt werden: gegenüber der Intoleranz der anderen.⁷⁷⁶

Das letztgenannte Diktum, das er bereits am Abend seiner Lesung in Düsseldorf verlautbart hatte, griff Kästner auch im Antwortbrief an Detlev Rosenbach, den Leiter des Fackelträger Verlags, noch einmal auf: Ihm schrieb er, es sei »nützlich, die Angelegenheit notfalls ernster zu nehmen, als sie gemeint war«, da man »Intolerantem gegenüber die Toleranz nicht zu weit treiben« dürfe.⁷⁷⁷ Und dem Mitarbeiter der Hannoverschen Presse Theo Klein teilte er privatim ebenfalls seine Ansicht mit, dass »nichts […] verfehlter« wäre, als der Behandlung des Vorgangs als »Bagatellsache« öffentlich zuzustimmen – könne doch »[d]er Effekt […] möglicherweise darin bestehen, daß sich weitere ›Christenmenschen‹ bemüßigt fühlten, ähnliche Feuerchen zu entfachen.«⁷⁷⁸ Im November 1965 erhielt Kästner neben den empathischen Empörungsbekundungen aber noch eine andere Zuschrift, die insofern von Relevanz ist, als sie einen – zumindest partiellen – Erfolg seiner Interventionen in Sachen »Bücherverbrennung« evident macht. Karl Ruhrberg, der als Leiter der Arbeitsgemeinschaft kultureller Organisationen die Kästner’sche Lesung im Schumann-Saal organisiert hatte, sandte ihm zwei der Düsseldorfer Lokalpresse entnommene Artikel mit einer Meldung, die der Autor den überregionalen Zeitungen bis dahin nicht hatte ent775 Kästner, Erich an die Primanerinnen des Fénelon-Gymnasiums Lille/Frl. Carpentier. Brief vom 12.11.1965 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003. 776 Ebd. 777 Kästner, Erich an Detlev Rosenbach/Fackelträger Verlag. Brief vom 22.10.1965 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003. 778 Kästner, Erich an Theo G. Klein/Hannoversche Presse. Brief vom 22.10.1965 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003.

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nehmen können: Auf der Ratssitzung am 4. des Monats hatte sich Willi Becker nun doch von der in seiner Stadt durchgeführten Bücherverbrennung distanziert. Während er zunächst geneigt gewesen sei, »die Sache als Dummejungenstreich zu betrachten«, habe das »Echo auf die Aktion« ihm das Gegenteil gezeigt: Gewiss könne man »in unserer Demokratie seine Meinung sagen«, allerdings sei »diese Methode wohl kaum richtig« gewesen und er »missbillige sie auf das schärfste.«⁷⁷⁹ An die Distanzierung Beckers anknüpfend, hatte der Düsseldorfer Oberstadtdirektor Gilbert Just vor dem Rat erklärt, dass er dem Ordnungsamt die Anordnung erteilt habe, Anträge auf Genehmigung von offenen Feuern künftig abzulehnen, wenn erkennbar sei, »daß hierbei demonstrativ Erzeugnisse der Kunst[,] der Literatur oder der Wissenschaft verbrannt werden sollen.«⁷⁸⁰ Wohl nicht zu Unrecht führte Ruhrberg die veränderte Haltung des Düsseldorfer Politikers in seinem den Artikeln beigelegten Brief maßgeblich auf die wiederholte und unnachgiebige Kästner’sche Kritik an der Bücherverbrennung, ihrer amtlichen Genehmigung und Beckers diesbezüglichem Schweigen zurück. So konstatierte er anerkennend: »Immerhin zeigt die Reaktion des Oberbürgermeisters, daß das Aushalten auf dem verlorenen Posten hin und wieder doch seinen Sinn hat.«⁷⁸¹ Wie nicht anders zu erwarten, reagierte Kästner äußerst befriedigt auf die Neuigkeiten und befürwortete sowohl Beckers Distanzierung als auch die erfolgte ›Vorsorgemaßnahme‹ für künftige Anträge. Gleichwohl hielt er in seinem Antwortbrief an Ruhrberg fest: »Wenn die Herrschaften diese angemessene Position beizeiten, d. h., unmittelbar nach der Verbrennung oder wenigstens nach der Unterhaltung mit uns bezogen hätten, wäre es besser und nicht nötig gewesen, sie öffentlich anzugreifen.«⁷⁸² In seinem wenig später verfassten Artikel Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff ⁷⁸³ ließ der Schriftsteller das Autodafé vom 3. Oktober, sein Gespräch mit dem Oberbür-

779 Becker, Willi zit. n. la: OB Becker verurteilte Bücherverbrennung. Schärfste Missbilligung im Rat ausgesprochen. In: Neue Ruhr-Zeitung, 5.11.1965. 780 Just, Gilbert zit. n. ebd. Siehe außerdem [anonym]: Kein Buch mehr ins Feuer. Düsseldorf wird in Zukunft die Erlaubnis zu Verbrennungen verweigern. In: Der Mittag. Zeitung für Rhein und Ruhr, 5.11.1965. 781 Ruhrberg, Karl an Erich Kästner. Brief vom 5.11.1965. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 782 Kästner, Erich an Karl Ruhrberg. Brief vom 12.11.1965 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 11. HS.1998.0003. Kästners Einschätzung, dass es »besser« gewesen wäre, die Düsseldorfer Politiker nicht angreifen zu müssen, lässt sich mutmaßlich darauf zurückführen, dass es sich um Mitglieder der von ihm nicht wenig kritisierten, aber gegenüber der CDU eindeutig präferierten Oppositionspartei handelte. 783 Siehe Kästner, Erich: Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff [1965]. In: EKW VI, S. 587– 590. Der Erstdruck des Textes ist nicht ermittelt. Nachweislich sollte Kästner ihn im Folgejahr im Rahmen ver-

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germeister, dessen nachfolgende Distanzierung und die Anweisung, die in diesem Zuge an das Ordnungsamt ergangen war, schließlich noch einmal Revue passieren. Dabei kehrte er zu dem für ihn charakteristischen, satirisch gefärbten Tonfall zurück, auf den er in seinen mündlichen Stellungnahmen gänzlich verzichtet hatte. Er resümierte, jedermann habe das Recht, Literatur, die er mißbilligt, im Ofen oder auf dem Hinterhof zu verbrennen. Aber ein öffentliches Feuerwerk veranstalten, das darf er nicht. Auch nicht, wenn er ein entschiedener Christ ist. Auch nicht, wenn es die Polizei erlaubt. Auch nicht, wenn der Oberbürgermeister nichts dabei findet. Und nicht einmal, wenn der Oberbürgermeister Sozialdemokrat ist.⁷⁸⁴

Über diese letzte Spitze gegen Becker hinaus stellte Kästner noch zwei weitere Kritikpunkte in den Fokus seines Beitrags. Zum einen monierte er, dass die Bücherverbrennung vonseiten der ›Entschiedenen Christen‹ nach wie vor »lebhaft gebilligt«⁷⁸⁵ werde, zum anderen bemängelte er, dass die Distanzierung Beckers, über ihre Erwähnung in der Düsseldorfer Lokalpresse hinaus, keinen Eingang in die bundesdeutsche Berichterstattung gefunden hatte: Anfang Oktober hatte sich die öffentliche Meinung an den brennenden Büchern entzündet. Und was ist nun? Der Oberbürgermeister hat seinen Fehler korrigiert, und die spontanen Christen haben ihre Schuld verdoppelt. Aber es hat sich nicht herumgesprochen.⁷⁸⁶

In der Tat war die anfänglich so erbittert geführte öffentliche Diskussion über das Autodafé im Laufe der ersten Novemberwochen fast vollständig abgeebbt und sollte auch durch die nachträgliche Abstandnahme des Düsseldorfer Politikers keinen erneuten Auftrieb gewinnen. In mehrfacher Hinsicht aufschlussreich ist allerdings eine der letzten ›Nachwehen‹ der Debatte, die sich in Form eines offenen Briefes artikulierte, den Matthias Walden im Dezember 1965 unter der Überschrift Sind wir schon wieder soweit? in der Zeitschrift Quick an Kästner adressierte. Der konservative Journalist hob in seinem Schreiben noch einmal unmittelbar auf die größeren Zusammenhänge ab, in denen der Schriftsteller die Bücherverbrennung am Rheinufer verortet hatte. Dabei ließ er Kästner wissen, dass er dessen »Verallgemeinerungen« im Hinblick auf einen latenten Faschismus nicht folgen könne: Was in Düsseldorf geschah, sei »ein hässliches Kuriosum«, aber »kein Symptom dafür

schiedener öffentlicher Lesungen vortragen. Siehe etwa Mölter, Veit: Gewissen ist drehbar. In: Abendzeitung, 25. 5.1966 sowie H.K.: Um die Hetz betrogen. Kästner-Matinee im Theater an der Wien. In: Wiener Zeitung, 20.9.1966. 784 EKW VI, S. 590. 785 Ebd. 786 Ebd.

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[gewesen], daß wir ›in Deutschland schon wieder soweit sind.‹«⁷⁸⁷ Des Weiteren negierte Walden jegliche übergreifende Verbindung zwischen dem Autodafé, den Äußerungen des Bundeskanzlers, der Brandstiftung bei Grass und den Drohbriefen an das Kabarettistenpaar Lorentz. In diesem Zuge griff er jene Akteure des kulturellen Feldes, die Kästners kritische Einschätzungen geteilt oder seine Überlegungen im Hinblick auf einen erneuten Rechtsruck fortgeführt hatten, mit an, indem er behauptete, »[v]iele ernste Dichter und reimende Possenreißer« in der Bundesrepublik seien »überreizt«: Sie sehen sich wie in einer Treibjagd umstellt von den Regierenden und nun manchmal auch schon – da die Regierenden bei uns vom Volk gewählt werden – von den Massen enttäuscht. Sie zeigen in ihrem schweren, fiebernden Alp auf Tabus, die es gar nicht gibt. Aber wenn ihnen energisch widersprochen wird, reagieren sie, als seien sie selbst tabu.⁷⁸⁸

Mehr als deutlich wird in Anbetracht dieser Worte, dass Walden nicht auf die von Kästner zur Sprache gebrachte öffentliche ›Abneigung gegen die Intelligenz‹ einging, sondern, ganz im Gegenteil, an ihr partizipierte. Die Intellektuellenfeindlichkeit, die seinen Aussagen inhärent ist, und die er im folgenden Jahrzehnt mit seiner öffentlichen Diffamierung Heinrich Bölls im Rahmen der Terrorismusdebatte auf die Spitze treiben sollte,⁷⁸⁹ setzt sich auch in den nachfolgenden Abschnitten seines offenen Briefes fort. Entsprechend der antikommunistischen Stimmungslage, die sein Heimatland zur Zeit des Ost-West-Konflikts beherrschte,⁷⁹⁰ wies Walden es als

787 Walden, Matthias: Sind wir schon wieder soweit? Matthias Walden schreibt an Erich Kästner. In: Quick, 12.12. 1965, S. 112 f. hier S. 112. 788 Ebd., S. 113. 789 Am 21. November 1974 bezichtigte Walden Böll in einem ARD-Tagesschau-Kommentar, als Intellektueller moralisch verantwortlich für die Ermordung des Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann durch die »Bewegung 2. Juni« zu sein. Um diesen Vorwurf zu untermauern, wies er den Literaten als Sympathisanten aus, der mit seinen politischen Positionierungen einen Nährboden für die terroristische Gewalt bereitet habe. Allerdings gab der Journalist die (angeblichen) Zitate Bölls, auf die er seine Behauptung stützte, teils falsch, teils ungenau wieder und entriss sie ihren eigentlichen Bedeutungskontexten. Der Schriftsteller erhob daraufhin Klage gegen Walden und den Sender Freies Berlin. Nach einem insgesamt sieben Jahre andauernden und verschiedene gerichtliche Instanzen durchlaufenden Prozess wurde Böll schließlich, im Dezember 1981, vor dem Bundesgerichtshof Recht zugesprochen. Aufgrund der Verletzung von Bölls Persönlichkeitsrecht verurteilte man Walden zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 40 000 DM. Siehe weiterführend Ibrügger, Angelika: Protest im Namen der Menschenwürde. Heinrich Böll zwischen Literatur und Politik. In: Der Deutschunterricht 1 (2008), S. 21 – 32. 790 Auf Hintergründe und politische Zusammenhänge dieser gesellschaftlichen Tendenz geht das Folgekapitel der vorliegenden Studie, im Zusammenhang mit Kästners pazifistischen Positionierungen, näher ein.

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Gefahr für die Bundesrepublik aus, die Öffentlichkeit auf eine Abwehr der Bedrohungen von rechts- statt von linkspolitischer Seite einzuschwören, wie er es Kästner und seinen Mitstreitern zur Last legte. Exemplarisch brachte er seinen Vorwurf in Anspielung auf Peter Weiss und dessen Dokumentardrama Die Ermittlung zum Ausdruck. Analog zur harschen Kritik aus konservativen Kreisen, denen das kurz zuvor uraufgeführte Stück ausgesetzt war,⁷⁹¹ beanstandete Walden, dass »ein feuerköpfiger Dramatiker im linken Winkel der offenen Bühne das Thema Auschwitz für kommunistische Propaganda [missbrauche]«,⁷⁹² während »wir« damit beschäftigt seien, »uns schaudernd über die verkohlte Türschwelle [von Grass, Anm. d. Verf.]« zu beugen oder einen »dreckigen Drohbrief [an das Ehepaar Lorentz, Anm. d.Verf.]« zu entziffern.⁷⁹³ Zum Schluss trug er, seinen antikommunistischen Impetus fortführend, die Frage an Kästner heran, warum es »Brauch und Privileg so vieler Denker und Dichter« geworden sei, »den alten, morschen, braunen Splitter im Auge der Demokratie auszubrennen und den roten Balken, der unseren Landsleuten auf den Kehlen liegt, zu übersehen oder ihn weiß zu malen«.⁷⁹⁴ Kästner war der offene Brief Waldens, der demonstriert, welche Herausforderungen kritische Positionierungen wie seine für das konservative Lager darstellten, zwar nachweislich bekannt.⁷⁹⁵ Er reagierte aber nicht in Form einer expliziten öffentlichen Antwort auf die Provokationen des Journalisten. Gleichwohl dürfte es kein Zufall sein, dass er, kurz nachdem Waldens offener Brief erschienen war, seine im Prolog dieser Studie zitierte Glosse über den öffentlichen Umgang mit Intellektuellen verfasste, die er explizit mit der Arbeitsüberschrift Anschließend an Notiz »Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff« versah. Darüber hinaus konzentrierte Kästner sich in den Folgemonaten noch entschlossener als zuvor auf die Beanstandung der von Walden zum »braunen Splitter« degradierten post- respektive neofaschistischen Tendenzen. Diese offenbarten sich,

791 In seinem am 19. Oktober 1965 uraufgeführten Stück, das langfristig einen zentralen Beitrag dazu leistete, das Sprechen über die Verbrechen in den Konzentrationslagern zu enttabuisieren, arbeitete Weiss mit Protokollauszügen aus dem ersten Frankfurter Auschwitzprozess. Angesichts der im Stück zum Ausdruck kommenden Kapitalismuskritik des Autors sowie seiner offenen Bekenntnisse zum Sozialismus wurde Die Ermittlung in der Bundesrepublik zunächst nicht selten als kommunistisches Propagandastück bekrittelt. Vgl. dazu auch Ueding, Cornelie: Auf einmal war das Sprechen über Auschwitz kein Tabu mehr (Deutschlandfunk, 19.10. 2015). http://www.deutschland funk.de/die-ermittlung-von-peter-weiss-auf-einmal-war-sprechen.871.de.html?dram:article_id= 334276 [letzter Zugriff: 3. 3. 2017]. 792 Walden (1965), S. 113. 793 Ebd. 794 Ebd. 795 Siehe das Exemplar von Walden (1965) im DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich / Archiv /Mappe 38 zum Konvolut Ordner 11. HS.1998.0003.

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seiner Auffassung nach, etwa im Zuge der im März 1966 abgehaltenen Kommunalwahlen in Bayern. Zum genannten Zeitpunkt erhielt die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) in einigen fränkischen Gemeinden bis zu 10,5 Prozent der Wählerstimmen.⁷⁹⁶ In seinem Artikel Die Einbahnstraße als Sackgasse,⁷⁹⁷ der unmittelbar auf das besagte Wahlergebnis reagierte, charakterisierte Kästner die NPD nicht nur als direkte Nachfolgepartei der NSDAP,⁷⁹⁸ sondern warnte zugleich davor, ihren Erfolgskurs in Städten wie Nürnberg, Bayreuth, Bamberg und Ansbach als »regionale Abnormität«⁷⁹⁹ zu bewerten. In diesem Zusammenhang hielt er fest, dass die Partei nun »statistisch nachprüfbar« zweierlei wisse: Erstens: Die öffentliche Unzufriedenheit wächst. Und zweitens: Sie läßt sich, zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, wieder mit alten Phrasen anheizen und gängeln. Man braucht nicht mehr zu fordern, daß die Mängel unserer Demokratie beseitigt werden. Man kann mit wachsender Zustimmung rechnen, wenn man fordert, daß die Demokratie selber abgeschafft wird.⁸⁰⁰

Liest man den Beitrag weiter, dann fällt ins Auge, dass Kästner den alarmierten Tonfall, den er in der soeben zitierten Passage anschlug, dezidiert fortführte. Er unterstrich etwa ausdrücklich, dass »die Unzufriedenen […] sich schon [formieren]« würden und Drohbriefe »an der Tagesordnung« seien, während »[n]achts […] Haustüren in Brand gesteckt« würden.⁸⁰¹ Signifikanterweise griff er genau in diesem Zusammenhang jene Formulierung auf, die Walden ihm und anderen Intel-

796 Dieses Ergebnis war wohlgemerkt nicht repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik, denn die Partei hatte bei der Bundestagswahl im Vorjahr 1965 lediglich 2,0 Prozent der Stimmen für sich verbuchen können. Auch vier Jahre später scheiterte ihr Einzug in den Bundestag, wenn auch nur knapp, an der Fünf-Prozent-Hürde. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Bundestagswahlen 1949 – 2009. http://www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahlen/62559/bundestagswahlen-1949-2009 [letzter Zugriff: 16. 3. 2017]. 797 Siehe Kästner, Erich: Die Einbahnstraße als Sackgasse [1966]. In: EKW VI, S. 590 – 593. Der Erstdruck des nach dem 13. März 1966 entstandenen Textes ist nicht ermittelt. Kästner nahm ihn noch im selben Jahr in seine Anthologie Kästner für Erwachsene auf und trug ihn zudem bei seinen in jenem Jahr abgehaltenen Lesungen vor. Siehe etwa Lang, Rolf: Notabene eines Unbestechlichen. Erich Kästner las im Theater an der Wien. In: Express, 19.9.1966. 798 So konstatierte er: »Man braucht die drei Buchstaben nur umzustellen und durch zwei weitere, nämlich durch SA, zu ergänzen – und die neue Firma erinnert uns, ganz gewiß mit Absicht, an eine ältere«. EKW VI, S. 591. 799 Ebd. 800 Ebd., S. 592. 801 Ebd.

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lektuellen als nervöse Grundhaltung in den Mund gelegt hatte, denn er proklamierte wörtlich: »Es ist fast wieder so weit.«⁸⁰² Angesichts der Untätigkeit, die er der CDU-Regierung in Bezug auf demokratiefeindliche Tendenzen zuschrieb,⁸⁰³ folgerte Kästner, »der bekannte Marsch in die Einbahnstraße, die eine Sackgasse ist«, könne »demnächst ungestört beginnen.«⁸⁰⁴ Auffällig ist ein Irritationsmoment, das der Autor innerhalb seiner Skandalisierung der Situation gleich an mehreren Stellen zum Einsatz brachte: er unterbrach sich selbst mit der – Widerspruch antizipierenden – Frage »Ich sehe zu schwarz?«⁸⁰⁵ Ihr ließ er am Ende seines Beitrags eine Antwort folgen, die sich durchaus als implizite Erwiderung auf die Kritik an der angeblichen ›Überreiztheit‹ Intellektueller deuten lässt, die Kästner aus dem konservativen Lager entgegengeschlagen war. Er schloss seinen Warnruf mit der Feststellung: »Nun, ich möchte in dieser Sache, eines hoffentlich schönen Tages, tausendmal lieber als Schwarzseher getadelt denn als Hellseher gelobt werden.«⁸⁰⁶ ›Schwarz‹ sah Kästner zu dieser Zeit im Übrigen auch in Bezug auf die bereits seit Mitte / Ende der 1950er Jahre geplanten Notstandsgesetze. Die Vorstellung, dass die Bundesregierung das Recht erhalten könne, im Falle eines Notstands Notverordnungen zu erlassen und Grundrechte außer Kraft zu setzen, war für ihn, wie für zahlreiche andere Intellektuelle, ungeheuerlich – fühlte man sich doch an die alte Ermächtigungsgesetzgebung erinnert, die der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur 1933 den Boden bereitet hatte.⁸⁰⁷ Im Mai 1966 unterschrieb Kästner, gemeinsam mit mehr als 100 weiteren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Bayern, einen Appell, der den Deutschen Gewerkschaftsbund dazu aufforderte, »die

802 Ebd. 803 In diesem Kontext führte er (höhnisch auf die seit den 1950er Jahren bestehenden Spannungen zwischen den beiden christlichen Konfessionen in der BRD Bezug nehmend) aus, die Politiker hätten »seit längerem mit der Wahl des CDU-Vorsitzenden zu tun. Vier bis fünf Stellvertreter soll er kriegen. Hübsch proportioniert. Nicht zu viele Protestanten. Nicht zu viele Katholiken.« Ebd., S. 592 f. 804 Ebd., S. 593. 805 Ebd., S. 592 u. 593. 806 Ebd., S. 593. Ausgerechnet diese Pointe des Textes lässt Drouve bei seiner Betrachtung der Einbahnstraße als Sackgasse unerwähnt und übergeht damit konsequent die Stoßrichtung, die der Text verfolgt. Stattdessen postuliert er (wohl im Hinblick auf das letztliche Ausbleiben eines neuen faschistischen Systems) polemisch, dass Kästners Wahrnehmung der »noch nicht einmal gesamtgesellschaftlich repräsentativen Strömungen […] längst nicht zu einer allgemeinen Analyse und einem politischen Weitblick reicht.« Drouve (1993), S. 172. 807 Das am 24. März 1933 verkündete »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« schuf die Grundlage zur Aufhebung der Gewaltenteilung und ermöglichte es, dass die gesetzgebende Gewalt vollständig an Adolf Hitler überging.

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Notstandsgesetze als Ganzes abzulehnen«: Die »uneingeschränkte Geltung und Verwirklichung des Grundgesetzes« zu bewahren, sei eine »unabdingbare Aufgabe aller konsequenten Demokraten«.⁸⁰⁸ Im selben Monat brachten er und die übrigen Mitglieder des westdeutschen PEN-Zentrums anlässlich der »öffentlichen Debatte über die Notstandsgesetzgebung […] nachdrücklich den Artikel 5 des Grundgesetzes in Erinnerung, der die Meinungsfreiheit als ein Grundrecht der Demokratie verbürgt.«⁸⁰⁹ Gut ein Vierteljahr später trat Kästner schließlich – neben Schriftstellern wie Heinrich Böll und Hans Magnus Enzensberger und Professoren wie Max Born und Helmut Gollwitzer – dem Kuratorium Notstand der Demokratie bei, das sich entschlossen gegen die geplante Grundgesetzänderung zur Wehr setzte und schwere Anschuldigungen gegen die Bundesregierung erhob, der es nichts geringeres als eine »Abkehr von der parlamentarischen Demokratie« vorwarf.⁸¹⁰ Wie die Berichterstattungen über Kästners Lesereisen im Jahr 1966 belegen, scheute der Schriftsteller nicht davor zurück, seine politischen Ansichten und Befürchtungen auch persönlich an sein Publikum heranzutragen und es »eher nachdenklich als vergnügt«⁸¹¹ zu entlassen. Ins Zentrum seiner Lesungen stellte er seine hier zuletzt betrachteten politischen Texte⁸¹² und beklagte sowohl antidemokratische Tendenzen in der Bundesrepublik als auch den Umstand, dass die »Bewältigung der Vergangenheit […] meist in untauglicher Form [geschehe].«⁸¹³ Somit setzte er exakt jene Strategie um, die er bereits in seiner Rede Über das Verbrennen von Büchern und in seinen privaten Korrespondenzen über das Düsseldorfer Autodafé im Oktober 1965 zum Ausdruck gebracht hatte – nämlich, angesichts der zwischen 1933 und 1945 gemachten Diktaturerfahrung lieber zu früh als zu spät und lieber einmal zu viel als gar nicht das Wort zu ergreifen, um die Demokratie zu verteidigen. Die Entscheidung, sich auf diesem Wege ›einzumischen‹, dankte ihm die Öffentlichkeit bezeichnenderweise nicht immer: Reporter aus verschiedenen Städten berichteten von enttäuschten Reaktionen des Publikums, das

808 Zit. n. Spoo, Eloo: Beschwörende Appelle an den DGB. Neue Warnungen vor Notstandsgesetzen. In: Frankfurter Rundschau, 7. 5.1966. 809 So die offizielle Erklärung, die das Zentrum anlässlich seiner Generalversammlung in Darmstadt Ende April 1966 abgab. Zit. n. [anonym]: Notstandsgesetzgebung. PEN-Tagung in Darmstadt – Neuer Generalsekretär: Janheinz Jahn. In: Darmstädter Echo, 2. 5.1966. 810 So Helmut Ridder, der zu den Initiatoren des Kuratoriums zählte. Zit. n. [anonym]: Demonstration gegen Notstandsgesetze. Kuratorium »Notstand der Demokratie« in Frankfurt gegründet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.9.1966. 811 Trost, Ernst: Unbequemer Vormittag mit Erich Kästner. In: Kronen Zeitung, 19.9.1966. 812 Vgl. etwa Lang (1966) und Mölter (1966). 813 [anonym]: Kästner »blickte zurück im Zorn«. »Vergangenheitsbewältigung« statt Heiterkeit – Wiener Theaterbesucher waren enttäuscht. In: Dill-Zeitung, 6.10.1966.

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sich beim Besuch der Lesungen den »Kästner der heiteren Muse«⁸¹⁴ beziehungsweise »einen mehr ›literarischen‹ Kästner«⁸¹⁵ gewünscht hatte. Stattdessen sei der Schriftsteller seinen Zuhörern zu deren Bedauern »pessimistisch und politisch«⁸¹⁶ gekommen – man habe mit »Vergangenheitsbewältigung statt Heiterkeit«⁸¹⁷ Vorlieb nehmen müssen.

4.2.6 Zwischenfazit Betrachtet man die Kästner’schen Positionierungen, die in den vorangegangenen Kapiteln untersucht worden sind, in ihrer Gesamtheit, dann fällt zunächst auf, dass der Schriftsteller die politische und gesellschaftliche Tragweite einiger wirkmächtiger Kontinuitäten der NS-Zeit nicht nur früh nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erkannte. Er benannte sie auch bereits unumwunden als Problem, als sie noch längst nicht im Zentrum eines breit gefächerten öffentlichen Diskurses standen, der sich der gesellschaftlich verankerten Akzeptanz der personellen und ideologischen ›Hinterlassenschaften‹ der NS-Zeit entgegenstellte. Während sich Kästners Aussagen zur deutschen Schuldfrage überwiegend auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre erstreckten, blieben die Kontinuitäten des nationalsozialistischen Regimes bis in seine späten Lebensjahre hinein Thema seiner öffentlichen Stellungnahmen. Was er ab 1945 über sie sagte – respektive sagbar machte –, war in der Regel konstitutiv von seinen eigenen Erfahrungen in der Diktatur und zum Teil auch von spezifischen Informationen geprägt, zu denen er durch seinen Verbleib im NS-Deutschland gelangt war. So konnte belegt werden, dass sich seine kritischen Kommentare hinsichtlich personeller Kontinuitäten primär auf Akteure seines eigenen, kulturellen Produktionsfeldes bezogen. Häufig inszenierte er sich im Zuge dieser verbalen Angriffe in der Rolle des ›Dagebliebenen‹, der auf süffisante Weise mit seinem Wissen über die Betätigungen und die Erfolge einzelner Personen des öffentlichen Lebens nach 1933 spielte. Kästner be-

814 Ebd. 815 Mölter (1966). 816 Dill-Zeitung (1966). 817 Ebd. Vergleichbares berichtet auch der Beitrag: H.K.: Um die ›Hetz‹ betrogen. Kästner-Matinee im Theater an der Wien. In: Wiener Zeitung, 20.9.1966. Der Journalist Roland Hill ging angesichts der Tatsache, dass Kästner den Wunschvorstellungen der Zuhörer bei einer Lesung im Deutschen Kulturinstitut in London aufgrund seiner politischen Textauswahl nicht entsprach, sogar so weit, ihn als »unverlässlichsten [sic] Kenner seines eigenen Werkes« zu charakterisieren. Siehe Hill, Roland: Erich Kästner in London. Ausstellung im deutschen Literaturinstitut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.10.1966. Vgl. dazu auch Pasuch (2014), S. 218 f.

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anstandete nach Kriegsende jedoch nicht nur die Unaufrichtigkeit, mit der prominente Kulturschaffende ihre NS-Vergangenheit behandelten. Er kritisierte auch vehement die Selbstverständlichkeit mit der sie, ungeachtet des erfolgten politischen Umbruchs, an ihre früheren Karrieren anzuknüpfen versuchten. Die Erfahrungen, die er im und mit dem nationalsozialistischen Kulturapparat gemacht hatte, beeinflussten allerdings auch, was er über personelle Kontinuitäten nicht sagte. Eine grundsätzliche Kritik daran, unter Genehmigung des Regimes künstlerisch tätig gewesen zu sein, erhob er – wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen zeitweiligen Schreiberlaubnis – an keiner Stelle. Auch hatte die Frage, zu wem er persönliche Kontakte gepflegt und wer ihn bei seinen offiziellen wie inoffiziellen Betätigungen während der NS-Zeit unterstützt hatte, durchaus einen Einfluss darauf, wem er ›Unbedenklichkeitserklärungen‹ ausstellte und wessen Karriereverläufe er öffentlich unkommentiert ließ.⁸¹⁸ Wesentlich stringenter und häufiger beanstandete Kästner indes die weitreichenden ideologischen Kontinuitäten, die das ›Dritte Reich‹ überdauert hatten. Schon wenige Monate nach der bedingungslosen Kapitulation betonte er, dass die politische Zäsur nur dann einen tatsächlichen Neubeginn nach sich ziehen könne, wenn sie mit einer radikalen mentalen Zäsur einhergehe. Seine daraus resultierende – und dem Habitus der meisten Deutschen diametral entgegengesetzte – Forderung, konsequent von den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern der NS-Zeit abzurücken, verlor für ihn auch in der jungen Bundesrepublik nicht ihre Dringlichkeit. Zugleich kritisierte er aber auch immer wieder Verhaltensweisen und Einstellungen, die seiner Einschätzung nach schon lange vor 1933 präsent gewesen waren und der NS-Diktatur den Boden bereitet hatten. Insbesondere war ihm der von langer Hand anerzogene ›Untertanengeist‹ und der Opportunismus, den er den Deutschen attestierte, ein Dorn im Auge. Dass auch die Achtung vor den Meinungen anderer schon lange vor der Etablierung des NS-Regimes oftmals fehlte, hob der Schriftsteller nach 1945 vor allem in Situationen hervor, in denen sich zeigte, dass es im Verhältnis der Gesellschaft zur Kunst und Literatur ebenfalls keine ›Stunde Null‹ gegeben hatte. Die unterschiedlichen Facetten der Kritik an ideologischen Kontinuitäten gingen bei Kästner stets untrennbar mit einer Bestärkung demokratischer Grundwerte und -rechte einher. So setzte er sich nach dem Ende des Krieges immer wieder für Toleranz, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und die Bewahrung der Meinungsfreiheit ein und bejahte und stützte auf diese Weise zugleich die demokratische Staatsform

818 Damit soll keineswegs pauschal unterstellt werden, dass Kästner sein Wissen über regimekritische Haltungen einzelner Akteure nicht zum Maßstab seiner positiven Beurteilung machte. Im Falle Fritz Hipplers ist dies jedoch schwerlich geltend zu machen.

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als solche. Als zentrale Voraussetzung für die ›echte‹, von den genannten Werten lebende Demokratie, die ihm vorschwebte, sah er, ganz im Sinne der westlichen Besatzungspolitik, insbesondere die (Um‐)Erziehung der zwischen 1933 und 1945 geborenen beziehungsweise aufgewachsene Generation an. Kamen seine Positionierungen in den ersten Nachkriegsjahren oftmals einer emphatischen ›Werbung‹ für das anvisierte demokratische System gleich, so ging Kästner in der jungen Bundesrepublik recht bald zu einer Verteidigung der (nunmehr im Grundgesetz verankerten) Demokratie über. Diese war seines Erachtens, gerade wegen der von den meisten Westdeutschen akzeptierten beziehungsweise kultivierten Kontinuitäten, latenten Bedrohungen ausgesetzt, denen man, wie er unterstrich, exklusiverweise nicht mit Toleranz begegnen dürfe. Zeitgleich zu den Beanstandungen des Schriftstellers nahm der öffentliche Diskurs, der sich dem Beschweigen der NS-Vergangenheit und ihrer ›Hinterlassenschaften‹ in der BRD entgegenstellte, eine immer entschiedenere und wirkmächtigere Gestalt an. Je mehr sich die allgemeine Skepsis gegenüber den politischen Entwicklungen und der bundesdeutschen Regierung verstärkte, desto nachdrücklicher und vielfältiger wurden wiederum Kästners politische Interventionen. Während er sich vom Kriegsende bis in die späten 1940er Jahre hinein primär mit journalistischen und literarischen Beiträgen zu Wort gemeldet hatte, verfasste er nun, darüber hinaus, offene Briefe, brachte eine Resolution in Umlauf, unterschrieb Appelle und suchte immer selbstbewusster und unmittelbarer den Kontakt zu denjenigen, deren Denk- und Handlungsweisen er beeinflussen wollte. Er kontaktierte Akteure des politischen Feldes, vertrat seine politischen Ansichten in öffentlichen Ansprachen und nutzte schließlich auch seine Lesungen als Forum, um die Öffentlichkeit dazu aufzufordern, die Demokratie zu schützen. Dabei agierte er in der Regel als ›allgemeiner‹ Intellektueller, nahm jedoch situationsspezifisch auch andere Rollen ein. Immer dann, wenn er ideologische Kontinuitäten im Hinblick auf den Umgang mit Kunst und Literatur bemängelte, verband er die Verteidigung republikanischer Werte, im Sinne Bourdieus, dezidiert mit der Verteidigung der Autonomie seines eigenen Produktionsfeldes. Im Rahmen der ›Schmutz und Schund‹-Debatte und der Debatte gegen die Notstandsgesetze verbündete er sich darüber hinaus mit zahlreichen anderen Kulturschaffenden und trat als kollektiver Intellektueller auf den Plan. Kästner agierte aber nicht nur immer selbstbewusster in der Rolle des Intellektuellen, sondern betonte auch immer dezidierter den Stellenwert von intellektuellen Interventionen als solchen für die Bewahrung der Demokratie. Damit einhergehend problematisierte er schon früh die erneut zunehmende Intellektuellenfeindlichkeit, die sich der erstarkenden Widerspruchskultur in der Bundesrepublik entgegenstellte. Freilich wurde eine fundamentale und in Kästners Stellungnahmen fast durchweg präsente Kontinuität bislang weitgehend ausgeklammert, um sie geson-

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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dert zu beleuchten: Die im Laufe der Nachkriegszeit allmählich wieder zum Vorschein kommende Bereitschaft vieler Staatsleute, politisch-ideologische Differenzen auf militärischem Wege auszutragen. Auf welche Weise der Schriftsteller ab 1945 für eine Bewahrung des Friedens eintrat, wird im folgenden Teil der Untersuchung aufgezeigt.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden Wenn es in der deutschen Bevölkerung unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs »einen unstrittigen Grundkonsens gab, dann war es«, mit Hans-Ulrich Wehlers Worten, »die Überzeugung, daß kein Deutscher je wieder Soldat werden wollte, daß Aufrüstung, geschweige denn Kriegseinsatz nie wieder bejaht werden würde.«⁸¹⁹ Die komplette Entwaffnung und Entmilitarisierung des Landes, die der Alliierte Kontrollratsbeschluss vom 2. August 1945 anordnete, deckte sich folglich durchaus mit der »Aversion gegen alles Militärische«, die »die Stimmung in allen Besatzungszonen bestimmte«.⁸²⁰ Dass Kästner an dieser grundsätzlichen Aversion partizipierte, legt bereits der Blick auf seine erste große Schaffensphase nah: In Gedichten wie Stimmen aus dem Massengrab, Primaner in Uniform, Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? oder Verdun, viele Jahre später hatte er sich bereits in den 1920er und frühen 1930er Jahren kompromisslos gegen Krieg und jegliche Form des Militarismus ausgesprochen.⁸²¹ Das Vertrauen, das viele seiner Landsleute nach der bedingungslosen Kapitulation im Jahr 1945 in eine friedliche Zukunft setzten, teilte er allerdings nicht. Seine Zweifel brachte er bereits bei der Berichterstattung über die Eröffnung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher zur Sprache, indem er es als höchst unwahrscheinlich auswies, dass Stahlhelme eines Tages zu ›Museumsobjekten‹ avancieren würden und die Menschheit darüber den Kopf schütteln könnte, »daß es einmal etwas gab, was ›Krieg‹ genannt wurde«.⁸²² Die in jener Reportage ebenfalls vorgebrachte Kritik an der konsequenten Verherrlichung von Kriegen im Schulunterricht⁸²³ griff Kästner am 1. Februar 1946 in seinem NZ-Artikel

819 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990. München 2008, S. 17. 820 Ebd., S. 303. 821 Vgl. dazu Kapitel 3.1.2. 822 Kästner, Erich: Streiflichter aus Nürnberg [NZ, 23.11.1945]. In: EKW VI, S. 493 – 500, hier S. 496. Vgl. auch Kapitel 4.1.1. 823 Vgl. ebd.

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Gedanken eines Kinderfreundes noch einmal auf. Darin postulierte er, wie sich die deutsche Zukunft gestalte, hänge nicht zuletzt davon ab, wie wir die Kinder lehren werden, die Vergangenheit zu sehen. Gibt es denn nur im Kriege Tapferkeit? Werden denn die Völker nur durch Schlachten groß? Oder klein? Man hat uns in der Schule die falsche Tapferkeit gelehrt […]. Man hat die falschen Ideale ausposaunt, und die wahren hat man verschwiegen.⁸²⁴

Seine Besorgnis hinsichtlich der Latenz »falscher Ideale« und nur allzu leicht wiederentflammbarer militaristischer Tendenzen verlieh Kästner auch in der Schaubude Ausdruck: In seinem populären Deutsche[n] Ringelspiel 1947 ⁸²⁵ ließ er die Figur des »Widersachers« auftreten, einen laut Regieanweisung mit »[a]lten Breeches und schwarze[n] Reitstiefeln« ausgestatteten Oberst, der sich hämisch daran erfreut, dass das Volk »den Schrott und Schund« erben muss, den der vorangegangene Weltkrieg hinterlassen habe.⁸²⁶ Als Vertreter eines – offenkundig alle Zeiten überdauernden – militaristischen Bewusstseins, das laut Regieanweisung lediglich durch weit entferntes Lachen repräsentiert wird,⁸²⁷ lässt er die deutsche Bevölkerung respektive das Publikum wissen: Wir richten Deutschland jedes Mal zugrund – Und dann kommt ihr und dürft es retten. […] Dann schau’n wir zu und schimpfen euch Verräter und spotten all der Fehler, die ihr macht. Habt ihr das Land dann wieder hochgebracht, entsenden wir die ersten Attentäter und werben für die nächste Völkerschlacht! Soviel für heute, alles andre – später!⁸²⁸

Daran, dass Deutschland allzu bald einen weiteren Krieg initiieren könnte, war 1947, als Kästner seinen »Widersacher« entwarf, realiter zwar nicht zu denken. Gleichwohl verging nach dem Ende der NS-Herrschaft zum Entsetzen vieler kaum mehr als ein Jahrzehnt, bis in den beiden neu gegründeten deutschen Staaten wieder Armeen aufgestellt wurden. Auf welche Weise sich der Autor gegen diese und

824 Kästner, Erich: Gedanken eines Kinderfreundes [NZ, 1. 2.1946]. In: EKW II, S. 38 – 43, hier S. 42. 825 Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.2. 826 Kästner, Erich: Deutsches Ringelspiel 1947 [1947]. In: EKW II, S. 108 – 114, hier S. 113. Auf den Ursprung der von Kästner gewählten Bezeichnung des Widersachers, die in der Bibel auf Satan rekurriert, verwies bereits Kiesel (1981), S. 142. 827 Vgl. EKW II, S. 113. 828 Ebd.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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weitere militärpolitische Entwicklungen nach 1945 aussprach, wird in den folgenden Unterkapiteln beleuchtet. Um seine Stellungnahmen erneut in ihren historischen und diskursiven Zusammenhängen verorten zu können, sollen aber zunächst die – genuin mit dem Ost-West-Konflikt verknüpften – Wegmarken rekapituliert werden, die der 1955/1956 vollzogenen Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Vorschub leisteten. Darüber hinaus werden die Debatten skizziert, die nur wenig später über eine Beteiligung der Bundeswehr an der atomaren Bewaffnung der westlichen Großmächte geführt wurden. Ein besonderes Augenmerk verdienen dabei die sozialen Bewegungen,⁸²⁹ in denen der Protest zahlreicher gesellschaftlicher Akteure, die die politischen Bestrebungen zur Remilitarisierung und Atombewaffnung ablehnten, seinen Ausdruck fand. Um sich zu vergegenwärtigen, warum es nur eine Dekade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt zur Remilitarisierung in West- wie Ostdeutschland kommen konnte, ist es unerlässlich, den Blick noch einmal auf das Jahr 1945 zu lenken. Ungeachtet der gemeinsamen Beschlüsse, die die Siegermächte während der Potsdamer Konferenz fällten, war ihr Zweckbündnis zur Vernichtung des NS-Regimes zu diesem Zeitpunkt bereits labil geworden und es herrschte profundes Misstrauen unter den ehemaligen Partnern.⁸³⁰ Zugleich avancierten die USA zur weltweit ersten atomaren Macht und erzwangen durch ihre Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki die Kapitulation Japans.⁸³¹ Mit Wolfrum gesprochen hingen bereits zu dieser Zeit »die ersten dunklen Wolken des aufziehenden Kalten Krieges in der Luft«, mittels dessen »die USA und die Sowjetunion ihre gegensätzlichen politischen Vorstellungen und die daraus resultierenden Machtansprüche« wenig später »auf der ganzen Welt« austragen sollten.⁸³²

829 Von einer »sozialen Bewegung« spricht die vorliegende Untersuchung – der Definition von Roland Roth und Dieter Rucht folgend – dann, »wenn ein Netzwerk von Gruppen und Organisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens sichert, das mit dem Anspruch auf Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels verknüpft ist, also mehr darstellt als bloßes Neinsagen.« Die Richtung, in welche die intendierte Einflussnahme sozialer Bewegungen zielt, ist »keineswegs progressiv festgelegt«, denn sie kann sich »fördernd oder bremsend, revolutionär, reformerisch oder restaurativ« gestalten. Da soziale Bewegungen den »normalen Gang der Dinge« stören, ist ihnen jedoch gemein, stets »auf andere Akteure, Institutionen, Herrschaftsverhältnisse, Gegenbewegungen etc.« zu stoßen, »die ihre Anliegen unterstützen, ignorieren oder bekämpfen.« Roth, Roland und Dieter Rucht: Einleitung. In: Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Hg. von Roland Roth und Dieter Rucht. Frankfurt a. M./New York 2008, S. 9 – 36, hier S. 13 u. 16. 830 Vgl. Wolfrum (2007), S. 25 f. Vgl. auch Kapitel 3.1.1. 831 Vgl. Wolfrum (2007), S. 26. 832 Ebd., S. 24 u. 97.

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Besonders augenfällig traten die Konfliktlinien im Rahmen der im September 1945 einsetzenden Außenministerkonferenzen der Siegermächte zu Tage. Zentrale Aufgabe dieser Zusammenkünfte hätte es nach den Potsdamer Vereinbarungen eigentlich sein sollen, einen Friedensvertrag mit Deutschland vorzubereiten. Zu einer gemeinschaftlichen Umsetzung dieses Plans zeigten sich die hierfür zuständigen Außenminister jedoch nicht in der Lage.⁸³³ Die Diskrepanzen zwischen den Vorstellungen der Sowjetunion und denen der Westmächte, die sich während der Konferenzen zeigten, wurden stattdessen immer größer. Schließlich leitete Harry S. Truman am 12. März 1947, parallel zur fünften Außenministerkonferenz, die in Moskau tagte, eine neue Phase der amerikanischen Außenpolitik ein. In seiner berühmten Doktrin besiegelte der US-Präsident unmissverständlich die Zielsetzung seines Staates, den Kommunismus mit aller Macht einzudämmen – verdeutlichte er doch, dass sich jede Nation zwischen freier westlicher Demokratie und kommunistischer Diktatur entscheiden müsse.⁸³⁴ Nicht einmal anderthalb Jahre nach diesem öffentlichen ›Einläuten‹ des Kalten Krieges kam es zur Berlin-Blockade, die die zentrale Bedeutung des besetzten Deutschlands als Nahtstelle des Ost-WestKonflikts deutlich machte.⁸³⁵ Und auch die Beziehung der beiden 1949 gegründeten deutschen Staaten zueinander war unmittelbar von den Diskrepanzen geprägt, die zwischen den Großmächten herrschten.⁸³⁶ Dass Konrad Adenauer eine enge Zusammenarbeit mit den Westmächten fokussierte, kam bereits in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 zum Ausdruck, als er postulierte, dass die Bundesrepublik nach ihrer Herkunft und Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehöre.⁸³⁷ Im Petersberger Abkommen, das zwei Monate später zwischen der Bundesregierung und den Hochkommissaren der westlichen Siegermächte geschlossen wurde, bekräftigten schließlich alle Beteiligten ihren Willen zur Förderung der Beziehungen zwischen der (noch längst nicht souveränen) Bundesrepublik und den westlichen Staaten. Damit einhergehend wurde der BRD unter anderem das Recht eingeräumt, Handelsbeziehungen zu anderen Ländern aufzunehmen. Zudem milderten die westlichen Großmächte den

833 Vgl. Benz (2005), S. 42. Wie sich abzeichnete, waren die Vertreter der vier Siegermächte primär mit ihren eigenen staatlichen Interessen befasst: Während die Sowjetunion dezidiert auf die Durchsetzung ihrer Reparationsforderungen an die Besiegten pochte, forderte Frankreich die Abtrennung des Ruhr- und Saargebietes von Deutschland. Aufgrund der Uneinigkeit in diesen und weiteren daraus resultierenden wirtschaftlichen wie territorialen Fragen erschöpften sich die Versammlungen immer wieder in ergebnislosen Debatten. Vgl. ebd. 834 Vgl. Wolfrum (2007), S. 37. 835 Vgl. ebd., S. 38 f. 836 Ebd., S. 97. 837 Vgl. Adenauer, Konrad zit. n. ebd., S. 101.

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durch die Demontagen verursachten Druck auf das Land ab, was eine zentrale Voraussetzung für dessen allmähliche wirtschaftliche ›Gesundung‹ war.⁸³⁸ Die Bundesregierung wiederum untermauerte in besagtem Abkommen sowohl ihren Willen, nach demokratischen Grundsätzen zu handeln, als auch ihre »feste Entschlossenheit, die Entmilitarisierung des Bundesgebiets aufrechtzuerhalten und mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln die Neubildung irgendwelcher Streitkräfte zu verhindern«.⁸³⁹ Erwiesenermaßen entsprach dieser Vorsatz der Meinung der meisten Bundesbürger.⁸⁴⁰ Gleichwohl setzte sich Adenauer schon zu jener Zeit mit der Frage eines westdeutschen Militärbeitrags und eines potentiellen Beitritts in die kurz zuvor gegründete NATO auseinander, um langfristig eine Souveränität seines Landes zu erreichen.⁸⁴¹ Da der Kalte Krieg die Konfrontation zwischen den kommunistischen und den demokratischen Staaten zusehends verschärfte, fassten auch der amerikanische und der englische Außenminister Dean Acheson und Ernest Bevin alsbald eine Militarisierung der Bundesrepublik ins Auge.⁸⁴² In anderen westeuropäischen Ländern stieß der Gedanke an eine westdeutsche Armee in Anbetracht der NS-Vergangenheit dagegen zunächst auf Empörung.⁸⁴³ Letztlich war es der im Juni 1950 vollzogene Einmarsch von Truppen des kommunistisch regierten Nordkorea in das zur US-amerikanischen Einflusssphäre zählende Südkorea, der einer offenen Planung zur Aufrüstung der Bundesrepublik Vorschub leistete. Denn spätestens mit Beginn dieses asiatischen ›Stellvertreterkrieges‹ ging es in Washington und London nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie der westdeutschen Wiederbewaffnung.⁸⁴⁴ Zeitgenössischen Umfragen gemäß hielten zu jener Zeit 48 % der Bundesbürger den baldigen Ausbruch eines dritten Weltkrieges für möglich; weitere 35 % glaubten

838 Vgl. Wolfrum (2007), S. 104. 839 Zit. n. Wehler (2008), S. 17. 840 Vgl. ebd. 841 Vgl. ebd. sowie Narr, Wolf-Dieter: »Der CDU-Staat (1949 – 1966)«. In: Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Hg. von Roland Roth und Dieter Rucht. Frankfurt a. M./New York 2008, S. 51 – 70, hier S. 55. 842 Vgl. Wehler (2008), S. 304. Einen gewichtigen Einfluss auf diese Entwicklung hatte der Umstand, dass die USA im August 1949 ihr Atomwaffenmonopol verloren hatte, als die Sowjetunion auf dem Testgelände Semipalatinsk erfolgreich ihre erste Atombombe zündete. Darüber hinaus steigerte der Sieg Mao Tse-tungs im chinesischen Bürgerkrieg die Befürchtung der Westmächte, dass die ›freie Welt‹ einer zunehmenden Bedrohung durch den Kommunismus ausgesetzt sei. Vgl. dazu auch Wolfrum (2007), S. 108. 843 Vgl. ebd. 844 Vgl. ebd. und Wehler (2008), S. 304.

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sogar, er sei sehr wahrscheinlich.⁸⁴⁵ Die Ängste der Bevölkerung wurden in den Folgejahren – insbesondere nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 – noch weiter verstärkt. Freilich bewirkte der an diesem Tag von sowjetischen Truppen niedergeschlagene Massenprotest von DDR-Bürgern gegen die SED-Regierung in Westdeutschland »eine emotionale Verbundenheit mit den aufständischen Ostdeutschen […], wie man sie seit Kriegsende nicht mehr gekannt hatte.«⁸⁴⁶ Die dadurch erstarkenden Rufe nach einer Wiedervereinigung des geteilten Landes, die Adenauers Westintegrationskurs zuwiderliefen, nahmen jedoch alsbald wieder ab, da die CDU/ CSU die Furcht der Bundesbürger vor militärischen Angriffen vonseiten des ›Ostblocks‹ in ihrem Wahlkampf gezielt unterfütterte.⁸⁴⁷ Vor diesem Hintergrund festigte sich in der westdeutschen Gesellschaft zunehmend ein antikommunistischer Grundkonsens.⁸⁴⁸ Trotz der so gearteten Stimmungslage und des großen Wahlerfolges, den die Unionsparteien im Jahr 1953 für sich verbuchen konnten,⁸⁴⁹ stießen ihre Pläne, eine westdeutsche Armee zu bilden, keineswegs auf vorbehaltlosen Zuspruch in der Bevölkerung.Vielmehr war die Bereitschaft zum eigenen militärischen Engagement relativ gering – was dem heutigen Forschungsstand zufolge allerdings nur bedingt auf genuin pazifistische Überzeugungen zurückgeführt werden kann:⁸⁵⁰ Neben den noch präsenten Schrecken des Zweiten Weltkrieges spielte vor allem der verletzte Nationalstolz eine Rolle, den viele Bundesbürger angesichts der intendierten militärischen Westbindung empfanden.⁸⁵¹ Zudem sahen große Teile der Bevölkerung in dem angestrebten Beitritt der BRD zur NATO den endgültigen »Beginn eines politischen Weges«, der »weg von der erhofften Wiedervereinigung« führte.⁸⁵² Die aus 845 Vgl. Wolfrum (2007), S. 182. 846 Ebd., S. 128. 847 Vgl. ebd. Dezidierte Unterstützung erhielten die Unionsparteien dabei aus den Vereinigten Staaten. Wie Wolfrum zusammenfasst, sprach etwa der US-Außenminister John Foster Dulles »öffentlich davon, daß eine Niederlage Konrad Adenauers und seiner Union katastrophale Folgen für Deutschland und die Sache der Freiheit haben würde.« Ebd. 848 Vgl. ebd., S. 129. 849 Die CDU/CSU brachte es bei der Bundestagswahl in jenem Jahr auf 45,2 % der Wählerstimmen, während auf die SPD lediglich 28,8 % entfielen und die KPD mit nur 2,2 % zur Splitterpartei wurde. Vgl. ebd., S. 128 f. 850 Vgl. Buro, Andreas: »Friedensbewegung«. In: Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Hg. von Roland Roth und Dieter Rucht. Frankfurt a. M./New York 2008, S. 267– 291, hier S. 272. 851 Vgl. ebd. und Pfahl-Traughber, Armin: Bereicherung oder Gefahr für die Demokratie? Protestbewegungen in Deutschland nach 1949. In: Eine normale Republik? Geschichte – Politik – Gesellschaft im vereinigten Deutschland. Hg. von Eckhard Jesse. Baden-Baden 2012, S. 185 – 206, hier S. 190. 852 Ebd.

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solch heterogenen Motiven erwachsene »Ohne mich«-Stimmung, mit der sowohl konservative als auch liberale und linke Teile der Gesellschaft auf die Wiederbewaffnungsbestrebungen reagierten, mündete schließlich in der »erste[n] bedeutende[n] sozialen Bewegung im Nachkriegsdeutschland«.⁸⁵³ Zahlreiche Aktionsformen, die oft mit den großen Protestbewegungen seit den späten 1960er Jahren in Verbindung gebracht werden,⁸⁵⁴ wurden in ihr bereits vorweggenommen. So fand das Engagement der Remilitarisierungsgegner seinen Ausdruck etwa in öffentlichen Appellen, Petitionskampagnen, Demonstrationen und Großkundgebungen.⁸⁵⁵ Zu den wichtigsten organisatorischen Trägern des Protests zählte die SPD; aber auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Rat der Evangelischen Kirche sprachen sich dezidiert gegen einen Militärbeitrag Westdeutschlands aus.⁸⁵⁶ Obwohl die Bewegung gegen die Wiederbewaffnung durchaus auf Zuspruch aus der Bevölkerung stieß und bei den größten Demonstrationszügen bis zu 20 000 Menschen auf die Straße gingen,⁸⁵⁷ vermochte sie den politischen Kurs der Regierung nicht abzuändern:⁸⁵⁸ Die Pariser Verträge, die am 5. Mai 1955 in Kraft traten, hoben nicht nur das Besatzungsstatut für die Bundesrepublik auf und verliehen ihr, abgesehen von einigen wichtigen Vorbehalten hinsichtlich der Notstandsgesetze, Souveränität.⁸⁵⁹ Sie ermöglichten auch die Remilitarisierung des Landes, seinen Beitritt zum transatlantischen Bündnissystem und seine Integration in die Westeuropäische Union, die die deutschen Rüstungsbeschränkungen überwachen sollte.⁸⁶⁰ Im November 1955 nahmen schließlich in Bonn die ersten 101 Soldaten ihre Ernennungsurkunden entgegen; bereits am Ende des folgenden Aufstellungsjahres

853 Ebd., S. 189. Vgl. dazu auch Buro (2008) S. 272. 854 Vgl. Pfahl-Traughber (2012), S. 190. Man denke beispielsweise an die 68er-Bewegung, die Frauenbewegung und die Anti-Atomkraft-Bewegung. 855 Vgl. ebd. Siehe weiterführend auch Dietzfelbinger, Eckart: Die westdeutsche Friedensbewegung 1948 bis 1955. Die Protestaktionen gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1984. 856 Vgl. Wolfrum (2007), S. 112 und Pfahl-Traughber (2012), S. 190. Eine marginale Rolle kam innerhalb der Bewegung zudem pazifistischen Verbänden wie der Deutsche[n] Friedensgesellschaft oder der Internationale der Kriegsdienstgegner zu. Vgl. ebd. sowie Dietzfelbinger (1984), S. 184. 857 Vgl. Wolfrum (2007), S. 131. 858 Buro (2008, S. 282) führt dies auf die unterschiedlichen Motive der Remilitarisierungsgegner zurück, die zwar eine große Resonanzbreite befördert, aber ein gemeinsames Handeln der Akteure unmöglich gemacht habe. 859 Vgl. dazu Wolfrum (2007), S. 130. 860 Unter anderem musste die BRD, den Beschlüssen gemäß, auf die Produktion von atomaren, chemischen sowie biologischen Waffen verzichten. Vgl. ebd.

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umfasste die Bundeswehr rund 66 000 Mann und vergrößerte sich in der Folgezeit beständig.⁸⁶¹ Wenngleich die öffentlichen Proteste nach der Durchsetzung der Remilitarisierung recht schnell abflauten,⁸⁶² entstand in den Folgejahren eine weitere soziale Bewegung, die sich mit Pfahl-Traughber insofern als Fortsetzung der »Ohne mich«Bewegung charakterisieren lässt, als sie erneut auf die militärpolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik abhob.⁸⁶³ Explizit stellte sie sich der von der CDU/CSU-Regierung postulierten Absicht einer atomaren Ausrüstung der Bundeswehr entgegen, die den US-amerikanischen Plänen zur Stationierung taktischer Nuklearwaffen in Europa folgte.⁸⁶⁴ Sowohl Adenauer als auch sein Verteidigungsminister Franz Josef Strauß bekannten sich ab März 1957 überaus engagiert zu diesem Vorhaben: Während Strauß, dem antikommunistischen Diskurs entsprechend, betonte, dass man aufgrund der sowjetischen Bedrohung nicht auf die Atombewaffnung verzichten könne,⁸⁶⁵ charakterisierte der erste Bundeskanzler die taktischen Nuklearwaffen bagatellisierend als »Weiterentwicklung der Artillerie«,⁸⁶⁶ an der die Bundeswehr teilhaben müsse. Im Deutschen Bundestag kam es daraufhin zu erbitterten Debatten zwischen der Regierung und der SPD wie der FDP, die als Oppositionsparteien nachdrücklich gegen den fokussierten militärischen Schritt Stellung bezogen.⁸⁶⁷ Als bedeutendster Ausgangspunkt des außerparlamentarischen Protests gegen das Vorhaben der Unionsparteien wird gemeinhin die öffentliche Intervention achtzehn bundesdeutscher Atomwissenschaftler gewertet.⁸⁶⁸ Analog zu den international anschwellenden Protestwellen gegen das ›Wettrüsten‹ der Großmächte⁸⁶⁹ 861 Vgl. dazu ebd., S. 130 u. 132. Ebenso wie bei der Gründung der Nationalen Volksarmee der DDR im Januar 1956 wurde bei der Besetzung der Führungsränge der Bundeswehr gezielt auf das ehemalige Führungspersonal der Wehrmacht zurückgegriffen. Die personellen Kontinuitäten des NSRegimes bahnten sich, wenngleich später als in anderen gesellschaftlichen Feldern, also auch im militärischen Bereich ihren Weg. Dennoch trug die zehnjährige Karenz unbestreitbar zu einer dauerhaften Festigung des Primats der Politik gegenüber dem Militär bei. Vgl. weiterführend Frei (2001), S. 316 – 319. 862 Vgl. Wehler (2008), S. 18. 863 Vgl. Pfahl-Traughber (2012), S. 190. 864 Vgl. Wolfrum (2007), S. 139. 865 Vgl. ebd. 866 Adenauer, Konrad zit. n. ebd. 867 Vgl. ebd., S. 141 sowie Pfahl-Traughber (2012), S. 191. 868 Vgl. ebd., S. 190. Der Gruppe der »Göttinger Achtzehn« gehörten unter anderem Carl Friedrich von Weizsäcker, Walter Gerlach und die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg an. 869 Da die USA und die Sowjetunion ihre Atomwaffentests beständig fortsetzten und im Jahr 1957 schließlich auch Großbritannien über dem Pazifik versuchsweise seine erste Wasserstoffbombe

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sprachen sich die renommierten Forscher vehement gegen die Verharmlosung der taktischen Atomwaffen aus und lehnten jegliche Mitwirkung an ihrer Herstellung ab.⁸⁷⁰ Im Foucault’schen Sinne als ›Experten‹ agierend, postulierten sie in ihrer Erklärung vom 12. April 1957, dass ein kleines Land wie die Bundesrepublik […] sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.⁸⁷¹

Ebenso wie jene Wissenschaftler, deren Stellungnahme auf ein großes gesellschaftliches Echo stieß, setzten sich in den Folgemonaten diverse Oppositionspolitiker, Gewerkschafter, Kirchenvertreter und Kulturschaffende gegen die Pläne der Regierung ein. Unter dem Motto »Kampf dem Atomtod« riefen sie eine Kampagne ins Leben, in der der kollektive Protest organisiert wurde: Man verfasste Aufrufe, initiierte Massenkundgebungen und veranstaltete Demonstrationen, für die man vor allem die Arbeiter, Studierenden und Jugendlichen zu gewinnen versuchte.⁸⁷² Auch gründeten sich in verschiedenen Bundesländern Komitees, die gezielt gegen die Atombewaffnung ankämpften. Nichtsdestotrotz wurde die atomare Ausrüstung der Bundeswehr am 25. März 1958 im Bundestag via Mehrheitsentscheid der CDU/ CSU und der rechtsgerichteten Deutschen Partei beschlossen. Zwar war es zu jener Zeit undenkbar, dass die Bundesrepublik eine eigene nationale Verfügung über Nuklearwaffen erhielt. Jedoch wurde die Bundeswehr in den Folgejahren mit modernen Trägerwaffen ausgerüstet, die nukleare Sprengköpfe transportieren konnten. Die Sprengköpfe selbst verblieben dabei, ebenso wie die Entscheidungsgewalt über ihren Einsatz, in den USA.⁸⁷³ Zeitgleich mit dem Bundestagsentscheid erreichten die Aktivitäten der »Kampf dem Atomtod«-Bewegung ihren Höhepunkt. Als Reaktion auf das Ergebnis der politischen Abstimmung regte die überstimmte SPD eine Volksbefragung zur atomaren Bewaffnung an. Zwar wurde deren Durchführung, zeitgenössischen Umfragen zufolge, von zwei Dritteln der Bundesbürger befürwortet, von denen sich wiederum

zündete, bildeten sich weltweit immer mehr Anti-Atom-Bewegungen heraus. Die stärkste Protestwelle brandete vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe im Zweiten Weltkrieg in Japan auf. Doch auch in Großbritannien wurde vehemente Kritik an jener militärischen Entwicklung laut. Vgl. Wolfrum (2007), S. 140. 870 Vgl. Pfahl-Traughber (2012), S. 190 und Wolfrum (2007), S. 139 f. 871 Göttinger Erklärung zit. n. Schnell (2003), S. 122. 872 Vgl. dazu Wolfrum (2007), S. 141 f., Buro (2008), S. 272 f. und Pfahl-Traughber (2012), S. 191. Den Höhepunkt der Großveranstaltungen bildete ein Demonstrationszug in Hamburg, an dem im April 1957 etwa 150 000 Menschen teilnahmen. 873 Vgl. Wolfrum (2007), S. 141 f.

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ein Großteil gegen die Atomrüstung ausgesprochen hätte.⁸⁷⁴ Die Initiative der Oppositionspartei traf allerdings auf entschiedenen Widerspruch der CDU/CSU und wurde am 30. Juli 1958 vom Bundesverfassungsgericht »als verfassungswidrig verboten, weil Verteidigungsangelegenheiten der alleinigen Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterlagen«.⁸⁷⁵ Dass die Protestwelle in Westdeutschland wenig später fast vollständig abebbte, ist zum einen damit zu erklären, dass der Beschluss des Bundestages nach diesem Urteil nicht mehr rückgängig zu machen war.⁸⁷⁶ Zum anderen spielte der Umstand, dass sich neben der Gewerkschaftsführung auch die SPD aus der (maßgeblich von ihr mitorganisierten und -finanzierten) sozialen Bewegung zurückzog, eine gewichtige Rolle. Diese Distanzierung der Oppositionspartei lässt sich bereits als Vorzeichen ihrer politischen Kursänderung begreifen, denn nur ein Jahr darauf wandelte sich die SPD gemäß dem Godesberger Programm offiziell zur ›Volkspartei‹, die sich zu einer großen Koalition bereit zeigte. »Kampf dem Atomtod« passte, mit Andreas Buro zusammengefasst, »nicht mehr in diese neue Strategie«.⁸⁷⁷ Darüber hinaus gelang es der CDU/CSU zunehmend, »die antikommunistischen Ängste der Bevölkerungsmehrheit gegen die Atomgegner zu mobilisieren«,⁸⁷⁸ was nicht zuletzt dadurch begünstigt wurde, dass die DDR-Regierung die öffentliche Protestwelle in der BRD propagandistisch für sich nutzte. Die Tatsache, dass sich die Bewegung »gegen die Rüstungspolitik in West und Ost wandte«, überging die SED dabei laut Wolfrum »geflissentlich«.⁸⁷⁹ Als ›Nachfolgerin‹ der Bewegung gegen die Atombewaffnung lässt sich schließlich die Ostermarschbewegung erfassen, die sich ab 1960 konstituierte. Sie übernahm die zwei Jahre zuvor von britischen Atomgegnern ins Leben gerufene Tradition, die Ablehnung nuklearer Waffen und des internationalen ›Wettrüstens‹ an den Ostertagen in Form von Demonstrationszügen und Großkundgebungen zum Ausdruck zu bringen.⁸⁸⁰ Als westdeutsche Initiatoren fungierten anfangs primär jene christlichen und pazifistischen Gruppen und Intellektuelle, die bereits in der vorangegangenen Bewegung aktiv geworden waren. Nach und nach sammelte sich in ihr jedoch »nahezu das gesamte Spektrum der außerparlamentarischen Lin-

874 Vgl. Geyer, Michael: Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen. In: Nachkrieg in Deutschland. Hg. von Klaus Naumann. Hamburg 2001, S. 267– 318, hier S. 305. 875 Wolfrum (2007), S. 143. 876 Vgl. ebd., S. 142. 877 Buro (2008), S. 273. 878 Wolfrum (2007), S. 142. 879 Ebd., Hervorhebung d. Verf. 880 Vgl. Pfahl-Traughber (2012), S. 191.

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ken«.⁸⁸¹ Nicht von ungefähr handelte es sich zugleich um die erste soziale Bewegung in der Bundesrepublik, die sich selbst als »außerparlamentarische Opposition« definierte.⁸⁸² Während die Ostermarsch-Bewegung zunächst weitgehend die Forderungen der Kampagne Kampf dem Atomtod aufgriff, wandelte sie sich im Laufe der 1960er Jahre allmählich »zu einer antimilitaristischen und pazifistischen Bewegung, die immer weitere Bereiche der Demokratisierung in ihre Arbeit einbezog.«⁸⁸³ Zu einem zentralen Gegenstand ihres Protests machte sie etwa die US-amerikanischen Kriegshandlungen in Vietnam. Die öffentliche Kritik am Vorgehen der Amerikaner, die gleichermaßen von der 68er-Bewegung vertreten wurde, lässt sich als wichtiger Teil der weltweiten Proteste erfassen, die letzten Endes zum 1973 erfolgten Rückzug der US-Truppen aus Vietnam beitrugen.⁸⁸⁴ Ihre politischen Ziele hinsichtlich der atomaren Abrüstung vermochte die Ostermarsch-Bewegung hingegen nicht durchzusetzen.⁸⁸⁵ Gleichwohl gelang es ihr, in der Bundesrepublik eine breite öffentliche Diskussion zu entfalten und zahlreiche Bürger dazu zu ermutigen, »öffentlich für ihre friedenspolitische Haltung einzustehen«.⁸⁸⁶ Aus diesem Grund lässt sich Buro zufolge »durchaus von einer erheblichen Mobilisierung und sozialen Lernprozessen«⁸⁸⁷ sprechen, die sie erwirken konnte.

881 Ebd., S. 192. 882 Vgl. Buro (2008), S. 273. Im Gegensatz zu den sozialen Bewegungen der 1950er Jahre, die »stark von Parteien, Gewerkschaften und anderen Verbänden geprägt« waren, »weil diese Ressourcen und Mobilisierungskontexte bereitstellten«, entstand mit der Ostermarsch-Bewegung laut Roth und Rucht erstmals in der BRD »eine weitgehend selbsttragende Infrastruktur […], die der Bewegungspolitik ein gewisses Maß an Autonomie sicherte«. Roth und Rucht (2008), S. 25. 883 Buro (2008), S. 273. Diese Veränderung spiegelte sich auch in der Selbstbezeichnung der Bewegung wider: Während sie sich zunächst den Namen »Ostermarsch der Atomwaffengegner gegen Atomwaffen in Ost und West« gab, nannte sie sich ab 1968 »Kampagne für Demokratie und Abrüstung«. Vgl. ebd. 884 Vgl. ebd. Nach Buro kann »[d]ie Bedeutung des Vietnam-Krieges für die Politisierung der Friedensbewegung […] gar nicht überschätzt werden, wurde doch durch ihn das für Demokratie und Menschenrechte stehende Vorbild der USA zutiefst in Frage gestellt.« (Ebd.) Vor diesem Hintergrund wiesen die Gegner der Bewegung deren Akteure nicht selten als antiamerikanisch, freiheitsfeindlich und kommunistisch aus, um sie gesellschaftlich zu isolieren. Vgl. dazu auch ebd., S. 271. 885 Nach Beendigung des Vietnam-Krieges beschäftigten die Bundesbürger ökologische und soziale Probleme mehr als die (vermeintlich entschärfte) Bedrohung durch Atomwaffen, sodass die Bewegung zugunsten anderer Protestaktivitäten laut Buro (2008, 274) gleichsam »in einen Dornröschenschlaf« versank. 886 Ebd., S. 283. 887 Ebd. Roth und Rucht (2008, S. 28) folgend ließe sich in diesem Fall, gemessen an den Zielen der Bewegung, von einem »erfolgreichen Scheitern« sprechen.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Inwiefern Kästner an den diskursiven Einwirkungsmöglichkeiten der vorgestellten sozialen Bewegungen, die sich allesamt als Etappen der bundesdeutschen Friedensbewegung begreifen lassen, partizipierte und mit seinen Positionierungen zu ihrer kognitiven Konstitution beitrug,⁸⁸⁸ wird im späteren Verlauf dieses Kapitels aufgezeigt. Zu diesem Zweck werden sowohl Ansprachen, Appelle und Interviewäußerungen als auch symbolische Protestformen, derer er sich bediente, untersucht. Zuvor soll jedoch in den Blick genommen werden, wie der Schriftsteller in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren in feuilletonistischen und literarischen Texten auf die fehlgeschlagenen Außenministerkonferenzen der Siegermächte, die Anfänge des Kalten Krieges und, damit einhergehend, das atomare ›Wettrüsten‹ reagierte. Vor diesem Hintergrund beleuchten die nachfolgenden beiden Unterkapitel, neben verschiedenen Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen Kästners, vertiefend seine politische Parabel Die Konferenz der Tiere sowie eine Auswahl an Kabaretttexten, die er für Die kleine Freiheit verfasste.

4.3.1 Über Konferenzen und Grenzen ‒ Kästners Kritik am Scheitern der internationalen Friedenspolitik In Grimm’scher Manier beginnt mit den Worten »Es war einmal«⁸⁸⁹ ein Beitrag, den Kästner am 14. März 1948 in der Neue[n] Zeitung veröffentlichte: Das Märchen von der Vernunft. Bereits der Titel impliziert ein (literaturhistorisches) Spannungsverhältnis, treffen in ihm doch eine der populärsten Textsorten der Romantik und das höchste Gut der Aufklärung jäh aufeinander. Das so erzeugte Irritationsmoment setzt sich bei der weiteren Lektüre fort, denn nach seinem formelhaften Einstieg wartet der Erzähler keineswegs mit märchentypischem Figureninventar auf. Stattdessen stellt er einen »nette[n] alte[n] Herr[n]« ins Zentrum, der »die Unart [hat], sich ab und zu vernünftige Dinge auszudenken« und sie »Fachleuten vorzutragen«.⁸⁹⁰ Auch die Begebenheit, von der daran anknüpfend erzählt wird, ist auf gänzlich andere Weise ›wundersam‹ als man es angesichts traditioneller Genre-

888 Die kognitive Konstitution sozialer Bewegungen wird, mit Gilcher-Holtey gesprochen, »in der Regel bestimmt durch Ordnungsentwürfe von Intellektuellen, die es ermöglichen, Ergebnisse und Strukturprobleme zu deuten, Protestursachen zu definieren sowie Unzufriedenheit und Unbehagen zu lenken, auf Ziele zu orientieren.« Dem kommt insofern eine entscheidende Bedeutung zu, als eine Mobilisierung sozialen Handelns erst dann eintritt, wenn dieses Handeln »auf bestimmte Orientierungsmuster und Zielvorstellungen gerichtet wird«. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA. München 2001, S. 11. 889 Kästner, Erich: Das Märchen von der Vernunft [NZ, 14. 3.1948]. In: EKW II, S. 160 – 162, hier S. 160. 890 Ebd.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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merkmale des Märchens annehmen könnte. So taucht der alte Herr bei einer Sitzung auf, »an der die wichtigsten Staatsmänner der Erde teil[nehmen], um, wie verlautete, die irdischen Zwiste und Nöte aus der Welt zu schaffen.«⁸⁹¹ Zwar gibt es für die Anwesenden »keine ärgere Qual als die, […] einem vernünftigen Vorschlag zu lauschen«, da »die Vernunft […] das Schwierige in einer Weise [vereinfacht], die den Männern vom Fach nicht geheuer und somit ungeheuerlich erscheinen muß.«⁸⁹² Dennoch hören sie dem Alten, da er »reich und […] angesehen« ist, »gequält lächelnd« zu.⁸⁹³ In seiner Ansprache offenbart er, eine Lösung für das von ihnen postulierte Anliegen gefunden zu haben, den »Völkern Ruhe und Frieden zu sichern« und damit zur »Zufriedenheit aller Erdbewohner« beizutragen.⁸⁹⁴ Seinem Ansatz gemäß sollen alle der zahlreich vertretenen Staaten, geschlüsselt nach ihrem Vermögen, einen Geldbetrag zur Verfügung stellen.Von der auf diesem Weg zusammengetragenen Summe gelte es nicht nur, jede Familie in jedem Land zu beschenken. Es sei auch »in jedem Ort der Erde, der mehr als fünftausend Einwohner zählt, eine neue Schule und ein modernes Krankenhaus [zu] bauen«.⁸⁹⁵ In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass der Held des Textes von einem weit gefassten Friedensbegriff ausgeht, der es nicht bei der bloßen Forderung nach der Überwindung von Kriegen belässt. Vielmehr denkt er potentielle Ursachen gewaltsamer Konflikte wie soziale Ungerechtigkeit mit.⁸⁹⁶ So betont er, dass er »vernünftig genug« sei, »um einzusehen, daß der Frieden zwischen den Völkern zuerst von der äußeren Zufriedenheit der Menschen abhängt.«⁸⁹⁷ Märchenuntypisch endet die ›Bewährungsprobe‹, auf die der alte Herr sich in Form seines Gesprächs mit den Staatshäuptern eingelassen hat, nicht mit seiner Belohnung, geschweige denn mit dem Sieg des Guten: Als die ohnehin schon unwilligen Politiker erfahren, dass sich die Gesamtkosten zur Umsetzung des Vorschlags auf eine Billion Dollar belaufen würden, reagieren sie zunächst ungehalten, um schließlich in »Höllengelächter« zu verfallen, nachdem der Alte verteidigend darlegt hat, dass der letzte Krieg ebenso viel gekostet habe: »Ein Krieg«, so teilen sie ihm mit, sei »doch etwas ganz anderes!«⁸⁹⁸ Die Kritikpunkte, die Kästners Märchen erhebt, sind offensichtlich: Ausgerechnet jene Staatsleute, die offiziell mit der Friedenssicherung betraut sind, lassen

891 892 893 894 895 896 897 898

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 161. Vgl. zu dieser Art des Friedensbegriffs auch Buro (2008), S. 268. EKW II, S. 161. Ebd., S. 162.

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sich nicht – im aufklärerischen Sinne – von der Vernunft als oberster Handlungsmaxime leiten, sondern zeigen sich durch monetäre Erwägungen korrumpiert. Ihr primäres Interesse gilt weder der Prävention von Kriegen noch der Zufriedenheit der Menschheit, für die sie sich, ihrer öffentlichen Stellung entsprechend, verantwortlich fühlen sollten. Wenngleich Kästner im Nachsatz seines Textes angibt, Figuren und Handlung – im Gegensatz zu den Kosten des letzten Krieges – »völlig frei erfunden« zu haben,⁸⁹⁹ liegt der Bezug zur internationalen Friedenspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Hand. Auf den ersten Blick könnte man in diesem Zusammenhang an die fehlgeschlagenen Außenministerkonferenzen der Siegermächte denken. Das Märchen von der Vernunft lässt allerdings auch noch eine andere Assoziation zu. Immerhin existierte zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung bereits eine Weltorganisation, die sich qua ihrer Charta der Sicherung des Friedens und der internationalen Sicherheit verschrieben hatte und noch heute verschreibt. Die Rede ist von den Vereinten Nationen – auch United Nations (UN) beziehungsweise United Nations Organization (UNO) –, die 1945 ins Leben gerufen wurden, nachdem der 1920 gegründete Völkerbund »praktisch bedeutungslos«⁹⁰⁰ geworden war. Dass das anfängliche Friedensverständnis der Organisation von den Weltkriegserfahrungen und den vorherrschenden Weltordnungsvorstellungen der Nachkriegsära geprägt war, zeigt sich unter anderem daran, dass man einen Sicherheitsrat etablierte, der den Frieden wie ein ›Weltpolizist‹ behüten und – notfalls mit Gewalt – verteidigen sollte.⁹⁰¹ Besonders dieses Hauptorgan der UNO, in dem die ehemaligen Alliierten eine entscheidende Machtposition innehatten und bis heute haben,⁹⁰² wurde durch den spätestens 1947 manifest gewordenen OstWest-Konflikt auf eine harte Probe gestellt. Die politischen und ideologischen

899 Kästner gibt an, diese (aus heutiger Sicht zu geringe) Schätzung einer amerikanischen Statistik entnommen zu haben, die in der Frankfurter Neue[n] Presse abgedruckt worden sei. Vgl. ebd. 900 Unser, Günther und Michaela Wimmer: Die Vereinten Nationen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Bonn 1995, S. 27. 901 Vgl. Harfensteller, Julia: Der Wandel der UN im Spiegel eines neuen Friedensverständnisses. In: Vereinte Nationen. Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen 2 (2012), S. 71 – 76, hier S. 72. Während die am 24. Oktober 1945 in Kraft getretene UN-Charta Strategien der friedlichen Streitbeilegung und militärischen wie wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahmen zur Friedenssicherung zwei ausführliche Kapitel widmete, deuteten sich präventive Maßnahmen zur Konflikteinhegung darin allenfalls an. Die zweigleisige Friedensstrategie der Nachkriegszeit wurde bis in die heutige Zeit zu einem weitaus komplexeren, auf fünf Säulen beruhenden Modell der Friedenswahrung ausgebaut, das zwischen Konfliktprävention, Friedensschaffung, Friedenssicherung, Friedenserzwingung und Friedenskonsolidierung differenziert. Vgl. ebd., S. 76. 902 So ernannten sich die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, die Sowjetunion und China zu ständigen Mitgliedsstaaten, während zunächst sechs und ab 1966 zehn nichtständige Mitglieder von der UN-Generalversammlung jeweils für zwei Jahre gewählt werden sollten.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Auseinandersetzungen zwischen den beiden Blöcken beeinflussten alsbald sämtliche Debatten und Verhandlungen zwischen den Mitgliedern und machten ein konstruktives Arbeiten im Sinne der Charta immens schwierig.⁹⁰³ Während die Vereinten Nationen in Arbeitsbereichen, die keine direkten partikularen Interessen der Großmächte betrafen, durchaus Erfolge erzielen und – vor allem mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – kaum zu unterschätzende politische Weichenstellungen vornehmen konnten,⁹⁰⁴ kam ihre friedenssichernde Funktion während des Kalten Krieges »praktisch zum Erliegen«.⁹⁰⁵ Aus diesem Grund war die Organisation schon im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt.⁹⁰⁶ Der Verdacht, dass Kästner die Vorbehalte gegen die UNO teilte und auch sein 1948 publiziertes Märchen von der Vernunft als Seitenhieb auf ihre Arbeit zu verstehen ist, erhärtet sich bei der Betrachtung einer Glosse, die der Schriftsteller zu Beginn des Folgejahres im Pinguin veröffentlichte. Unter der Überschrift Stimmen von der Galerie ⁹⁰⁷ nimmt der Text Bezug auf eine öffentliche Protestaktion des gebürtigen US-Amerikaners und Friedensaktivisten Garry Davis. Wie viele seiner Zeitgenossen ging der ehemalige Bomberpilot davon aus, dass die Existenz von Nationalstaaten einen Weltfrieden dauerhaft unmöglich machen würde.⁹⁰⁸ Aufgrund dieser Annahme hatte er bereits im Frühjahr 1948 die amerikanische Botschaft in Paris aufgesucht, um seinen Pass – und mit ihm: seine Staatsbürgerschaft – ab- respektive aufzugeben. Wenige Monate später kampierte er auf dem UN-Gelände der französischen Hauptstadt und erklärte sich Journalisten gegenüber zum

903 Vgl. dazu Unser und Wimmer (1995), S. 37– 43. 904 Vgl. ebd., S. 41. 905 Ebd., S. 37. Die in der UN-Charta angelegten Friedenssicherungsmechanismen versagten, sobald sie dem Interesse einer der Großmächte im Sicherheitsrat zuwiderliefen. Insbesondere die Sowjetunion machte allein zwischen 1946 und 1949 ganze 47 Mal von ihrem Vetorecht Gebrauch, sodass es nicht zu friedenssichernden Maßnahmen kommen konnte. Vgl. ebd., S. 39. 906 Wie Hans Riesser im Jahr 1956 zusammenfasst, wurde die UNO in der jungen Bundesrepublik etwa als »Diplomatenklub«, »Debattierklub«, »Resolutionsfabrik« und »Propagandaforum« verhöhnt. Siehe Riesser, Hans: Die Vereinten Nationen als Friedensinstrument. In: 10 Jahre Vereinte Nationen von 1945 bis 1955. Deutschland und die Vereinten Nationen. Hg. von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen Frankfurt a. M. 1956, S. 278 – 284, hier S. 279. 907 Kästner, Erich: Stimmen von der Galerie [Pinguin, Januar 1949]. In: EKW II, S. 202 – 204. 908 Dass Ideen wie diese nach 1945 nicht unpopulär waren, zeigt auch Kästners am 25. Februar 1946 veröffentlichter NZ-Beitrag Der Mond auf der Schulbank (EKW II, S. 60 – 66). Bereits darin erwähnt der Autor, dass »einige Menschengruppen« dabei seien, »einen Weltstaat mit einer einzigen, einer Weltregierung zu fordern«. (Ebd., S. 65) Im selben Kontext wies er sarkastisch darauf hin, dass dem menschlichen »Verlangen, fremde Staaten zu zerstören« (ebd., S. 64), im Falle der Realisierung dieses Plans wohl nur noch durch »Staatenzerstörung auf anderen bewohnten Sternen« (ebd., S. 65) beizukommen sei.

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ersten staatenlosen ›Weltbürger‹. Mit einer Reihe von Anhängern seiner Idee versuchte er schließlich am 19. November 1948, von der Zuschauergalerie aus, die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot zu unterbrechen. Davis’ Plan, vor den UN-Delegierten und laufenden Kameras die Gründung einer pazifistischen ›Weltregierung‹ zu fordern, wurde jedoch vereitelt: Mit Polizeigewalt entfernte man ihn und seine Mitstreiter aus dem Saal.⁹⁰⁹ Betrachtet man Kästners Glosse, die auf diesen gescheiterten Interventionsversuch rekurriert, dann sticht zunächst der Blickwinkel ins Auge, aus dem das Ereignis geschildert wird. Der Sprecher nimmt nämlich zunächst – ironisierend – eine ebenso despektierliche Haltung gegenüber ›Störenfrieden‹ der UN-Konferenz ein, wie Kästner sie den fiktiven Staatshäuptern gegenüber dem vernünftigen alten Herrn in seinem Märchen von der Vernunft angedeihen ließ. So wird von der Protestaktion als einem »seltsamen Zwischenfall« berichtet, der von »einigen Tribünenbesuchern […] [,] [a]lso von nichtsnutzigen Müßiggängern« angezettelt wurde, »die von der Galerie aus den weisen Baumeistern des Weltstaates zusahen und zuhörten und die dann […] gegen alle Regeln der Geschäftsordnung in die Debatte eingriffen.«⁹¹⁰ »Merkwürdig an dem Vorfall« sei »natürlich nicht« die Tatsache, dass Davis und die übrigen »Weltfriedensstörer« verhaftet und abgeführt wurden: »Wer demonstriert, stört. Wer stört, wird von den Hütern der Ordnung ein bißchen eingesperrt. Es gehört zu den Spielregeln.«⁹¹¹ Vielmehr weist der Sprecher es als »[m]erkwürdig« aus, dass »in dem Saale, in dem über Weltstaat, Weltfrieden und Weltpolizei diskutiert wurde, Menschen demonstrieren, die genau den gleichen Zielen entgegeneifern.«⁹¹² An diesem Punkt nimmt der Beitrag eine entscheidende Wendung, denn Kästner kommt nun auf seine eigentliche Überzeugung zu sprechen. Dabei geht er zu einer Verteidigung von Davis und seinen Mitstreitern über, indem er den Motiven nachspürt, aus denen heraus sie sich in die Konferenz eingemischt haben. In

909 Gerade dieser Interventionsversuch in Paris brachte Davis gleichwohl eine internationale Medienresonanz und regen Zuspruch vonseiten Intellektueller ein. In der Folgezeit stellten sich prominente Persönlichkeiten wie Albert Camus, André Breton, Albert Schweitzer und Albert Einstein öffentlich hinter den Aktivisten und seine Weltbürger-Idee. Vgl. weiterführend Schlag, Gabi und Benno Wenz: Schafft den Nationalstaat ab! Wie Weltkriegspilot Garry Davis nach 1945 die Weltbürgerbewegung erfand. [Manuskript des Rundfunkbeitrags vom 30.11. 2016] http://www. deutschlandfunkkultur.de/weltbuergerbewegung-schafft-den-nationalstaat-ab.976.de.html?dram:ar tic le_id=372644 [Stand: 18.05. 2017]. Vgl. auch [anonym]: Im Namen der Völker (Der Spiegel 14/1949). https://www.spiegel.de/politik/im-namen-der-voelker-a-a743422c-0002-0001-0000-000044436042 [letzter Zugriff: 3. 2. 2017]. 910 EKW II, S. 202. 911 Ebd., S. 202 f. 912 Ebd., S. 203.

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diesem Zuge betont er, es sei den Intervenierenden nicht um »die Ziele«, sondern um »die Methoden« der UNO gegangen: »Es ist ein Skandal, wie hier gearbeitet wird!« schrien sie, und dachten dabei an die krampfhaften Anstrengungen der Diplomaten, die Souveränität ihrer Staaten zu erhalten, statt sie im Interesse der »Vereinten Nationen« schrittweise aufzugeben. Sie dachten an das spitzfindige Getue um die Atombombe. Sie dachten an die Friedensschalmeien auf den Konferenzen und die Wiederaufrüstung in den Ländern. […] Sie dachten an das chinesische Volk. Sie dachten an die Berliner Bevölkerung.⁹¹³

Neben dem kosmopolitischen Ideal der selbsternannten ›Weltbürger‹ stellt Kästner folglich politisch-militärische Wegmarken des Ost-West-Konflikts wie die atomare Bewaffnung, den Chinesischen Bürgerkrieg und die Berlin-Blockade in den Raum, die die UN – vor dem Hintergrund der unterschiedlichen ideologischen beziehungsweise nationalstaatlichen Interessen ihrer Mitglieder – bis zu diesem Zeitpunkt nicht verhindert respektive gestoppt hatte.⁹¹⁴ Zum Ende seiner Glosse hin lenkt der Schriftsteller den Fokus schließlich auf die wachsende Anhängerschar Davis’ und berichtet, dass sich auch in Deutschland erste Gruppierungen von ›Weltbürgern‹ bilden, die sich für den Fall sämtlicher Staatsgrenzen einsetzen.⁹¹⁵ »Noch werden die Rufer«, so resümiert er, »als Demonstranten verhaftet und als Sektierer belächelt. Das müsste nicht so bleiben. Die Zahl der Stimmen entscheidet.«⁹¹⁶ Diesen idealistisch anmutenden Zeilen folgt allerdings unversehens eine nahezu melancholisch daherkommende Bemerkung, denn Kästner ergänzt:

913 Ebd. 914 Anders als Kästner es zu diesem Zeitpunkt wissen konnte, dienten die Vereinten Nationen den zerstrittenen Großmächten während der Berlin-Krise 1948/1949 realiter sehr wohl als Verhandlungsforum für jene geheimen Gespräche, die letztlich zur Auflösung der Blockade beitrugen. 915 Vgl. ebd., S. 203 f. Tatsächlich stießen Davis’ Ideen in den späten 1940er Jahren auf eine immense Resonanz, weshalb der Friedensaktivist im Januar 1949 in Paris die Registry of World Citizens gründete, bei der sich bis 1951 mehr als 750 000 Menschen aus 150 Ländern als ›Weltbürger‹ registrieren ließen. Obwohl die Bewegung mit der zunehmenden Verschärfung des Ost-West-Konflikts deutlich abebbte, verfolgte Davis seine Idee eines Weltstaates mit Weltbürgern weiter. 1954 gründete er die World Service Authority, eine zentrale Anlaufstelle zur Ausstellung von Weltbürgerpässen, die bis heute jedoch nur in wenigen Ländern der Welt akzeptiert werden. Nichtsdestotrotz stand Davis bis zu seinem Tod im Jahr 2013 hinter der von ihm initiierten Bewegung; noch in seinem letzten Lebensjahr ließ er einen Weltbürgerpass an den ›Whistleblower‹ Edward Snowden ausstellen. Vgl. Schlag und Wenz (2016). 916 EKW II, S. 204.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Viele Millionen Bewohner eines Landes, das uns sehr am Herzen liegt, könnten sich zum Weltbürgertum bekennen. Sie brauchten nicht einmal ihre Pässe zu zerreißen. Sie haben nämlich keine.⁹¹⁷

Mit diesem Ende steht die Glosse beispielhaft für eine Diskrepanz, die bereits Doderer hervorhob, indem er Kästners Befürwortung eines »One-World-Gesellschaftskonstrukt[es]« seiner »emotionalen Bindung an die Idee […] der Zusammengehörigkeit aller guten Menschen aus Deutschland« gegenüberstellte.⁹¹⁸ Der Autor erklärte sich, trotz seiner grundsätzlichen Sympathien für die Davis’sche Vision, nicht zum Weltbürger. Innerhalb der Fiktion hatte Kästner die Idee einer Welt ohne Nationalstaaten zu diesem Zeitpunkt allerdings längst Wirklichkeit werden lassen – nämlich in einem bereits im Winter 1947/1948 verfassten (wenn auch erst Ende 1949 publizierten) Text, der ebenfalls von kritischen Anspielungen auf die Arbeitsweise der Vereinten Nationen⁹¹⁹ und auf die scheiternden Verhandlungen zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs durchzogen ist. Gemeint ist jene berühmte Erzählung, die Kästner auf Anregung und unter Mitarbeit von Jella Lepman konzipiert hatte:⁹²⁰ Die Konferenz der Tiere. Mit seiner »Thematisierung von Krieg bzw. ›Nie wieder Krieg!‹« beging das im Folgenden näher zu betrachtende Werk laut Hermann Schnorbach einen Tabubruch und war der allgemeinen Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur seiner Zeit weit voraus.⁹²¹ Zudem unterschied es sich deutlich von allen zuvor entstandenen Kinderromanen des Autors: Während die jungen Protagonisten dort »eine humanere Gesellschaft im Kleinen bzw. Privaten erwirken«, artikuliert sich in Kästners Geschichte über ein internationales Bündnis von Tieren, das den Weltfrieden erwirkt, »eine politisch-gesamtgesellschaftliche Idee«.⁹²²

917 Ebd. 918 Doderer (2000), S. 155. 919 Diese Lesart folgt einer weiteren These Doderers. Der Literaturwissenschaftler merkte bereits in den 1990er Jahren an, dass Kästner in seiner Konferenz der Tiere »eine verfehlte UNO-Politik als Folie« benutzt habe. Doderer (2000), S. 154. 920 Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.3. 921 Schnorbach, Hermann: Jella Lepman oder: deutsche Vergesslichkeiten. 50 Jahre Konferenz der Tiere. In: Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW: Beiträge Jugendliteratur und Medien 4 (2001), S. 252 – 258, hier S. 255. 922 Müller, Sonja: Erich Kästners Die Konferenz der Tiere und ihre Verfilmungen: Aspekte der Adressierung, Modernisierung und Kommerzialisierung. In: Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten. Adaption – Hybridisierung – Intermedialität – Konvergenz. Hg. von Gina Weinkauff, Ute Dettmar, Thomas Möbius und Ingrid Tomkowiak. Frankfurt a. M. 2014, S. 91 – 109, hier S. 92.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Die Sonderstellung der Konferenz konstituiert sich allerdings auch durch ihre durchgängige Doppeladressierung:⁹²³ Zwar vermittelt das Buch, das sein Verfasser selbst rückblickend eine »als Märchen verkleidet[e], […] politische Satire«⁹²⁴ nannte, ein zielgruppenunabhängiges politisches Ideal. Gleichwohl lässt es sich von verschiedenen Alterskohorten auf gänzlich unterschiedliche Art und Weise rezipieren. Wie Sonja Müller zusammenfasst, bekommen kindliche Leser eine ansprechend bebilderte Tiergeschichte mit vielen situationskomischen Handlungselementen und einem altersgerechten ›Happy End‹ geboten.⁹²⁵ Zugleich wartet die Erzählung jedoch mit zahlreichen politischen Anspielungen auf, die den Verstehenshorizont von Kindern deutlich übersteigen.⁹²⁶ Erwähnenswert ist, dass Kästner diese Doppeladressierung bereits im Untertitel ankündigt, indem er Die Konferenz der Tiere als Buch »für Kinder und Kenner« ausweist – und damit »vier Worte« wählt, die er nach eigener Angabe »ohne Gewissensbisse« von Johann Wolfgang von Goethe übernommen habe.⁹²⁷ Von allzu geringerem Selbstbewusstsein zeugt diese »Zueignung«⁹²⁸ freilich nicht, denn Goethe nutzte die Formulierung in seinem Tagebuch, um der Begeisterung für Christoph Martin Wielands Oberon Ausdruck zu verleihen. Am 26. Juli 1779 notierte er über das Versepos seines Zeitgenossen: Es ist ein schätzbar Werk für Kinder und Kenner, so was macht ihm niemand nach. Es ist große Kunst in dem Ganzen soweit ichs gehört habe und im einzelnen. Es setzt eine unsägliche Übung voraus, und ist mit einem großen Dichterverstand, Wahrheit der Charaktere, der Empfindungen, der Beschreibungen, der Folge der Dinge und Lüge der Formen, Begebenheiten, Märgen, Fratzen, und Plattheiten zusammen gewoben, daß es nicht an ihm liegt wenn es nicht unterhält und vergnügt. Nur wehe dem Stück, wenns einer außer Laune und Lage, oder einer der für dies Wesen taub ist hört […].⁹²⁹

923 Vgl. zum Begriff der Doppeladressierung respektive »Doppeltadressiertheit« von Kinder- und Jugendliteratur weiterführend Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder- und Jugendliche. Eine Einführung. Paderborn 2008, S. 103 f. 924 Diese Einordnung traf Kästner anlässlich der Verfilmung des Werks durch Curt Linda. Siehe Kästner, Erich: Affen führen keine Kriege. In: Abendzeitung, 24.12.1969. Im Weiteren zitiert als Kästner (1969). 925 Vgl. Müller (2014), S. 93. 926 Vgl. ebd. sowie Schipperges, Ines: Utopien des Eigenen und Fremden. Interkulturelle Aspekte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. Saarbrücken 2008, S. 89. Von LeibingerKammüller (1988, S. 102) und Hanuschek (2003, S. 413) wurde Die Konferenz der Tiere gerade aufgrund dieser politischen Verweise als nicht beziehungsweise nur bedingt kindgemäß eingestuft. 927 Kästner (1969). 928 Ebd. 929 Goethe, Johann Wolfgang zit. n. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771 – 1789. Tübingen 2001, S. 293. Ähnlich wie Kästners phantastische Tierfiguren nimmt der Elfenkönig Oberon bei Wieland die Menschen als solche zwar nicht sonderlich ernst, hält seine schützende Hand aber dennoch über den jungen Ritter Hüon, sobald dieser

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Bei Kästner sind es wohlgemerkt nicht zuvörderst literaturästhetische Kenntnisse, die die erwachsenen Leser seines Buches benötigen, um dessen ›Wesen‹ zu begreifen: Vielmehr wollte der Autor die Erwachsenen offenbar als ›Kenner‹ jener (militär)politischen Entwicklungen ansprechen, die der Veröffentlichung seiner Konferenz vorausgingen; sie waren es, denen er aufgrund ihres Weltwissens zutraute, seine Anspielungen zu durchschauen und ihre Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Schon das erste der handlungsstrukturierenden und gänzlich in Minuskeln gedruckten »telegramm[e] an alle welt«,⁹³⁰ das dem eigentlichen Beginn der Geschichte vorausgeht, liefert Stoff für ebensolche Schlüsse, denn in ihm verbergen sich deutliche Reminiszenzen an die gescheiterten Verhandlungen der Großmächte in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. So rekurriert es unmittelbar auf jene britische Hauptstadt, in der die alliierten Außenminister im September 1945 anlässlich ihrer ersten Konferenz zusammentrafen und in der nur vier Monate später die erste Generalversammlung der Vereinten Nationen abgehalten wurde. Jedwede konstruktive Zusammenarbeit der (nicht näher benannten) Versammlungsteilnehmer stellt das besagte Telegramm direkt in Abrede, indem es verlautbart: -..– konferenz in london beendet -..– verhandlungen ergebnislos -..– bildung von vier internationalen kommissionen -..– nächste konferenz beschlossen -..– wegen tagungsort noch meinungsverschiedenheiten -..–⁹³¹

Unmittelbar im Anschluss an diesen einführenden Verweis treten drei der – in der Traditionslinie der Fabel anthropomorphisierten⁹³² – Protagonisten der Erzählung auf den Plan: Der Löwe Alois, der Elefant Oskar und die Giraffe Leopold treffen am afrikanischen Tschadsee aufeinander, um sich über die Menschheit zu ereifern, die all ihre Fähigkeiten lediglich in destruktive Handlungen umzusetzen scheint. In diesem Zusammenhang bemängelt Leopold, die Menschen seien »[s]chreckliche Leute! Und sie könnten’s so hübsch haben! Sie tauchen wie die Fische, sie laufen wie wir, sie segeln wie die Enten, sie klettern wie die Gemsen und fliegen wie die Adler, und was bringen sie mit ihrer Tüchtigkeit zustande?«»Kriege!« knurrte der Löwe Alois. »Kriege

in ›brenzlige‹ Situationen gerät. Vgl. weiterführend auch Spreckelsen, Tilman: Christoph Martin Wieland: Oberon. Küsse, Bisse und vier Backenzähne des Sultans (FAZ, 18.1. 2013). https://www.faz. net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/christoph-martin-wieland-oberon-kuessebisse-risse-und-vier-backenzaehne-des-sultans-12029883.html [letzter Zugriff: 15.4. 2017]. 930 Kästner, Erich: Die Konferenz der Tiere. Ein Buch für Kinder und Kenner nach einer Idee von Jella Lepman [1949]. In: EKW VIII, S. 255 – 316, hier S. 257. 931 Ebd. 932 Die Ausstattung der Tiere mit menschlichen Zügen und Verhaltensweisen zeigt sich im Übrigen nicht nur in Kästners Text, sondern auch in Walter Triers Illustrationen. Vgl. dazu auch Müller (2014), S. 93.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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bringen sie zustande. Und Revolutionen. Und Streiks. Und Hungersnöte. Und neue Krankheiten.«⁹³³

Im weiteren Verlauf der Handlung werden es – und darauf beruht, so Ines Schipperges, »das Paradoxon dieser Konstellation«⁹³⁴ – denn auch die Tiere sein, die im Gegensatz zu den Menschen »Menschlichkeit und den so genannten gesunden Menschenverstand« beweisen.⁹³⁵ Allerdings vollziehen Alois, Oskar und Leopold in ihrem Gespräch eine rigide Trennung zwischen den erwachsenen Vertretern der menschlichen Gattung und deren Kindern, die »die Kriege und die Revolutionen und die Streiks mitmachen [müssen]«.⁹³⁶ Ganz im Sinne Kästners, der stets alarmiert reagierte, wenn er die Befürchtung hegte, dass ›die Jugend als Vorwand‹ für heikle politische Entscheidungen missbraucht werde,⁹³⁷ echauffieren sich seine Helden insbesondere über die diskursiven Strategien der »Großen«, die ihr Handeln mit der Formulierung rechtfertigen, »alles nur [zu tun], damit es den Kindern später einmal besser ginge.«⁹³⁸ Dass die phantastischen Figuren sich in ihrer Diskussion auf die reale Lebenswelt der zeitgenössischen Rezipienten beziehen, wird bei der Lektüre alsbald deutlich. Beispielsweise erwähnt Alois gegenüber seinen Freunden die Schrecken der Bombardements »während des letzten Weltkriegs«, von denen ihm der in einem deutschen Zirkus engagierte Vetter seiner Frau erzählt habe.⁹³⁹ Und auch die Zeitungsmeldungen, die der Elefant, der Löwe und die Giraffe ihren eigenen Kindern vor dem Zubettgehen vorlesen, konstituieren sich aus vergleichbar expliziten zeitgeschichtlichen Verweisen. So wissen die »Neu[e] Sahara-Illustriert[e]«, der »Täglich[e] Sahara-Bot[e]« und der »Allgemein[e] Sahara-Anzeiger«, den realen

933 Ebd., S. 258. 934 Schipperges (2008), S. 88. 935 Ebd. 936 Ebd. Wie in der Forschung schon mehrfach resümiert wurde, lehnt sich die strikte Unterscheidung zwischen den (unschuldigen) Kindern und den »Menschen« (respektive Erwachsenen) augenfällig an den romantischen Kindheitsmythos und die Rousseau’sche Zivilisationskritik an, denen zufolge das Kind noch ›naturrein‹ und nicht durch Erziehung ›verdorben‹ ist. (Vgl. etwa Schipperges 2008, S. 89 und Steinlein 2008, S. 321) Die ebenfalls als »unverdorbene Naturwesen« präsentierten Tiere in Kästners Erzählung können, in diesem Sinne, laut Schmideler als »natürlich[e] Verbündet[e] der Kinder« betrachtet werden. Schmideler, Sebastian: »Vom Zweibeiner bis zum Tausendfüßler«. Tierdarstellungen im Werk Erich Kästners. Ein Bestiarium. In: Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Tagungsband. Hg. von Sebastian Schmideler. Marburg 2012 (Erich Kästner Studien, Bd. 1), S. 205 – 243, hier S. 241. 937 Vgl. auch Kapitel 4.2.3. 938 EKW VIII, S. 258. 939 Vgl. ebd., S. 258 f.

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Gegebenheiten im Jahr 1949 entsprechend, nicht allein davon zu berichten, dass »vier Jahre nach dem Krieg […] in Europa immer noch viele tausende von Kindern […] nicht wissen, wo ihre Eltern sind«.⁹⁴⁰ Die fiktiven Blätter verweisen auch auf die horrenden Flüchtlingszahlen in Westdeutschland⁹⁴¹ und den Ost-Westkonflikt respektive die »kursieren[den] […] Gerüchte von einem neuen Krieg, der sich heimlich vorbereite«.⁹⁴² In einem aufgeregten Gespräch mit seiner Frau bezieht sich der Elefant Oskar darüber hinaus noch auf weitere internationale Problemlagen wie die nukleare Bewaffnung, den Indochinakrieg, den Palästinakrieg und die Diktatur Francisco Francos,⁹⁴³ bevor die Meldung über eine erneute ergebnislose Friedensversammlung der Menschen seine Empörung final auf die Spitze treibt. Jenes zweite »telegramm an alle welt« greift die gescheiterte dritte Außenministerkonferenz in Paris auf, welche sich – inklusive vierwöchiger Unterbrechung – über den Zeitraum von April bis Juli 1946 erstreckte.⁹⁴⁴ Es lautet: -..– konferenz der außenminister in paris abgebrochen -..– keine resultate -..– verstimmung in den hauptstädten -..– wiederaufnahme der konferenz donnerstag in vier wochen -..– überall geheime kabinettssitzungen anberaumt -..–⁹⁴⁵

Waren der Dickhäuter und seine Freunde schon bei ihrem abendlichen Zusammentreffen übereingekommen, dass »etwas geschehen«⁹⁴⁶ müsse, um dem Tun der Menschen Einhalt zu gebieten, so liefert ihnen die oben genannte Meldung den

940 Ebd., S. 259. Die hier getätigte Zeitangabe, die die Handlung im Jahr 1949 ansiedelt, wurde mutmaßlich dem Erscheinungsdatum des bereits zwei Jahre zuvor konzipierten Buches angepasst. Die Meldungen selbst orientieren sich jedoch primär an den Problemlagen, die Kästner in den ersten beiden Nachkriegsjahren in den Vordergrund stellte. Vgl. auch Kapitel 3.2.1 – 3.2.3. 941 Vgl. EKW VIII, S. 260. 942 Ebd. Im Zuge dieser ungewöhnlichen Gute-Nacht-Lektüren greift Kästner die offenbar von ihm antizipierte Kritik daran auf, Kindern solche politischen Themen zuzumuten, wie er es mit ebendieser Veröffentlichung tut. So werden die Tierväter von ihren Frauen jeweils am Weiterlesen gehindert, die den Vorwurf erheben, dass »das« nichts für kleine Elefanten, Giraffen und Löwen sei. Vgl. EKW VIII, S. 260. 943 Der Elefant erwähnt unter anderem »die Atombombe«, »den Krieg in Vietnam«, »die Unruhen in Palästina« und »die Gefängnisse in Spanien«. Ebd., S. 261. 944 Wie sich mit Benz (2005, 41 f.) zusammenfassen lässt, erschöpften sich die Verhandlungen in Paris in ergebnislosen Debatten zwischen den Mächten: Während der US-Außenminister James F. Byrnes auf eine Realisierung der Potsdamer Vereinbarungen und einen wirtschaftlichen Zusammenschluss der deutschen Besatzungszonen drängte, beharrte der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow auf den Reparationsforderungen der UdSSR und einer Ausdehnung der Demontagepraxis. 945 EKW VIII, S. 261. 946 Ebd., S. 259.

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entscheidenden Impuls, zum festgelegten Zeitpunkt in vier Wochen selbst eine internationale Konferenz anzuberaumen. In der Folgezeit bereiten sich die Tiere auf allen Kontinenten mit größter politischer Ernsthaftigkeit auf ihre Versammlung vor. Die Parallelen zum Zusammenschluss der Vereinten Nationen und der Ernst der Lage sind dabei gleichermaßen nicht zu übersehen – wählt doch »jede Art und Gattung […][,] fast wie damals vor der großen Sintflut«, einen Delegierten.⁹⁴⁷ Betrachtet man die ausführliche Schilderung der bald darauf erfolgenden ›Anreisen‹ zum Versammlungsort (dem »Hochhaus der Tiere«⁹⁴⁸), dann fällt bereits hierbei eine höchst negative Darstellung politischer Grenzen ins Auge. Jene Tiere, die nicht fliegen oder schwimmen können, sondern mit der Eisenbahn fahren, haben es, wie der Erzähler berichtet, nämlich am schwersten, ihr Ziel zu erreichen: Denn die Erde und die Kontinente sind ja bekanntlich in viele, viele Reiche und Länder eingeteilt, und überall waren Schranken heruntergelassen, und überall standen uniformierte Beamte und machten böse Gesichter. »Was haben Sie zu verzollen?« fragten die uniformierten Beamten. »Zeigen Sie sofort Ihre Pässe!« sagten sie. »Haben Sie ein Ausreisevisum?« »Haben Sie ein Einreisevisum?«⁹⁴⁹

Erstaunlich ist, dass dem Tagungsort, den die tierischen Abgeordneten letztlich erreichen, in der Forschung bislang keine größere Beachtung zuteilwurde. Dabei lässt sich seine Darstellung durchaus als Spitze gegen die Repräsentation der Vereinten Nationen begreifen, die sich in den späten 1940er Jahren unter anderem im medialen Rummel manifestierte, der um den Bau ihres Hauptquartiers in New York betrieben wurde. Während der (nach langer und aufwendiger Planung) zur Veröffentlichungszeit der Erzählung entstehende UN-Sitz als »einer der modernsten Gebäudekomplexe der Welt«⁹⁵⁰ beworben wurde, führt Kästner das »Hochhaus der

947 Ebd., S. 270. Als Inspiration für dieses friedliche und konstruktive Miteinander der Tiere diente der Ideengeberin der Erzählung, Jella Lepman, wie diese später ausführte, das populäre Gemälde The Peaceful Kingdom (1833) von Edward Hicks. Vgl. Schnorbach (2001), S. 253 f. 948 EKW VIII, S. 265. 949 Ebd., S. 277 f. 950 Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.): 10 Jahre Vereinte Nationen von 1945 bis 1955. Deutschland und die Vereinten Nationen. Frankfurt a. M. 1956. Abbildung o. S. Die Grundsteinlegung des von der Rockefeller-Familie finanzierten Gebäudekomplexes am East River erfolgte zwar erst am 24. Oktober 1949; als Kästner, Lepman und Enderle den Plot der Konferenz der Tiere entwickelten, waren international renommierte Architekten allerdings schon seit einem Jahr dabei, das Hauptquartier für die Organisation zu entwerfen, worüber wiederum die internationale Presse rege berichtete. Es ist zu vermuten, dass der seit 1947 in Kanada lebende Illustrator Walter Trier die Entwürfe aus Zeitungsmeldungen kannte: Seine Zeichnung des »Hochhauses der Tiere« weist eine

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Tiere« in seiner Erzählung als das »bestimmt […] merkwürdigste und vielleicht […] größte Gebäude der Welt«⁹⁵¹ ein. In der Innovativität seiner Ausstattung steht es dem Hauptquartier der UNO (das geplantermaßen das 39-stöckige Sekretariatshochhaus, den Tagungsort der Generalversammlung und das Konferenzgebäude umfassen sollte), wie mit satirischen Mitteln verdeutlicht wird, um nichts nach: Es verfügt nicht nur über einen eigenen Hafen und Flugplatz, sondern enthält unter anderem auch das Hauptpostamt für Brieftauben, […] ein Institut zur Förderung begabter Affen, ein Konservatorium für Singvögel, eine Technische Hochschule für Spinnen, Biber und Ameisen, […] Konzertsäle, Schwimmbassins, Speisesäle für Fleischfresser, Speisesäle für Pflanzenfresser, Aufenthaltsräume für Wiederkäuer und vieles, vieles mehr.⁹⁵²

Gleichwohl liegt das Hauptaugenmerk der Tiere im weiteren Handlungsverlauf, anders als Kästner es der UN zu unterstellen scheint, weniger auf ihrer Repräsentation über Statussymbole als auf den politischen Zielen, die sie in ihrem Hochhaus in Angriff nehmen wollen. Während die »Tierdelegierten« ihre planmäßig »erst[e] und letzt[e]« Konferenz eröffnen,⁹⁵³ finden sich die »Staatshäupter, Staatspräsidenten, Ministerpräsidenten und ihr[e] Ratgeber« zugespitzter Weise zur »siebenundachtzigste[n]« Versammlung ein.⁹⁵⁴ Sind sämtliche Menschen beim Betreten ihres Tagungsortes mit »dicke[n] Aktenmappen« ausgestattet, so scheint dieser Bürokratismus den Tieren fremd zu sein: »Aktenmappen trug hier«, wie der Erzähler hervorhebt, »niemand.«⁹⁵⁵ Dies sind jedoch nicht die einzigen Divergenzen zwischen Tier- und Menschenpolitik, die sich dem Text entnehmen lassen. Die kontrastierende Darstellung der beiden Bündnisse setzt sich auch bei der Schilderung der Konferenzen als solchen fort. Denn im Gegensatz zu den Menschen, die sich nicht einmal auf eine Tagungs-, Geschäfts- oder Sitzordnung einigen können,⁹⁵⁶ verfolgen die Tiere unübersehbar ein gemeinsames Anliegen. Direkt zu Beginn seiner Eröffnungsansprache fasst der Eisbär Paul die von allen Anwesenden geteilte Motivation für die Zusammenkunft in Worte. Sie besteht darin, »den Kindern der Menschen zu helfen […] [,] [w]eil die Menschen selber diese ihre wichtigste Pflicht

frappierende Ähnlichkeit zu dem letztlich entstandenen UN-Sekretariatshochhaus auf. Siehe ebd. sowie EKW VIII, S. 280. 951 Ebd. 952 Ebd., S. 280 f. 953 Ebd., S. 291. 954 Ebd. 955 Ebd. 956 Vgl. ebd.

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vernachlässigen«.⁹⁵⁷ Ebenso klar und unmissverständlich ist auch die daraus resultierende Forderung formuliert, die er im Namen sämtlicher Tiere vorträgt: Wir verlangen einstimmig, daß es nie wieder Krieg, Not und Revolution geben darf! Sie [die Menschen, Anm. d. Verf.] müssen aufhören! Denn sie können aufhören! Und deshalb sollen sie aufhören!⁹⁵⁸

Der Eisbär lässt es jedoch nicht bei dieser bestechenden Argumentation bewenden, sondern proklamiert im Anschluss daran nichts Geringeres als das »[E]nde der [S]taatsidee«.⁹⁵⁹ Dabei verlangt er von den Menschen, »das wichtigste Hindernis, das es gibt, zu überspringen: nämlich die Grenzen zwischen ihren Ländern. Die Schranken müssen fallen.«⁹⁶⁰ Das Postulat, das Kästner seinem tierischen Helden ins Maul legt, greift augenfällig die Forderungen jener Zeitgenossen auf, die davon ausgingen, dass die Existenz von Nationalstaaten einen Weltfrieden dauerhaft unmöglich mache. Zugleich ist es aber auch aufschlussreich, die Forderung zu einer geistigen Traditionslinie in Bezug zu setzen, in der der Schriftsteller seine Konferenz der Tiere gegen Ende der 1960er Jahre selbst verorten sollte: Anlässlich der Verfilmung durch Curt Linda merkte der selbsternannte »Urenkel der deutschen Aufklärung«⁹⁶¹ an, dass das Ziel seiner Figuren »Immanuel Kants ›Ewigem Frieden‹ nicht unähnlich« sei.⁹⁶² Tatsächlich bergen die pazifistischen Ideale der Tiere bei näherer Betrachtung Reminiszenzen an die 1795 veröffentlichte Altersschrift des Philosophen, die sich mit den Möglichkeitsbedingungen eines dauerhaften »Frieden[s] unter Staaten« auseinandersetzt.⁹⁶³ Davon ausgehend, dass ein friedliches Miteinander der (als Staatsgemeinschaften verstandenen) »Völker« keineswegs ihrem Naturzustand entspricht,⁹⁶⁴ plädierte Kant für eine rechtliche Regelung inter-

957 Ebd., S. 294. 958 Ebd. 959 Ebd., S. 295. 960 Ebd. 961 So die Selbstzuschreibung des Schriftstellers in seiner PEN-Ansprache Kästner über Kästner. Siehe Kästner, Erich: Kästner über Kästner [1948]. In: EKW II, S. 223 – 328, hier S. 326. 962 Kästner (1969). 963 Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: ders.: Zum ewigen Frieden und Auszüge aus der Rechtslehre. Kommentar von Oliver Eberl und Peter Nielsen. Berlin 2011, S. 7– 66, hier S. 18. Die folgenden Ausführungen orientieren sich primär an Otfried Höffes Lesart des Zweiten Definitivartikels der Schrift, der sich dem internationalen Frieden widmet. Siehe Höffe, Otfried: Völkerbund oder Weltrepublik? In: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. 3., bearbeitete Auflage. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2011, S. 77– 93. 964 Vgl. Kant (2011), S. 18 f. Wie Höffe festhält, überträgt Kant mit dieser Beurteilung den von Thomas Hobbes auf Individuen bezogenen Begriff des Naturzustandes – in dem ohne verbindliche

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staatlicher Friedens-Beziehungen, die durch einen »Völkerbund« vollzogen werden könne.⁹⁶⁵ Seine Idee einer solchen freien Assoziation von Einzelstaaten, deren jeweilige Souveränität bestehen bleibt,⁹⁶⁶ beeinflusste nicht nur den 1920 gegründeten gleichnamigen Völkerbund, sondern bildet nach Otfried Höffe zudem einen wesentlichen Teil der Theoriegeschichte der Vereinten Nationen.⁹⁶⁷ Auch der internationale Zusammenschluss der Tiere in Kästners Erzählung wurde in der Forschung bereits als literarische Umsetzung des Kant’schen Idee eines Völkerbundes gedeutet.⁹⁶⁸ Allerdings fokussieren die Tierdelegierten mit ihrem Plädoyer für das »[E]nde der [S]taatsidee«⁹⁶⁹ offenbar eine Lösung, die die Weiterexistenz eines interstaatlichen Bündnisses schon auf begrifflicher Ebene unmöglich machen würde. In diesem Zusammenhang lohnt es, Kants Ausführungen noch einmal näher zu betrachten: In seiner Schrift stellt der Völkerbund lediglich ein »negative[s] Surrogat«⁹⁷⁰ dar, weil er keinerlei Staatscharakter hat und somit keine verbindliche Rechtssicherheit gewährleisten kann.⁹⁷¹ Einen »ewigen« (also nicht bloß auf einem unter Vorbehalt vereinbarten Waffenstillstand basierenden) Frieden sah der Philosoph hingegen nur in der »positiven Idee einer Weltrepublik«⁹⁷² gesichert, die er als »Völkerstaat« imaginierte, »der zuletzt alle Völker dieser Erde befassen würde«.⁹⁷³ Jedoch wäre die Gründung eines derartigen Völkerstaates von der Bereitschaft jedes Einzelstaates abhängig, sich (bis zu einem gewissen Maße) einer gemeinsamen Gesetzgebung zu unterwerfen und damit auf einen Teil

Gesetze ein ›Krieg aller gegen alle‹ herrsche – auf die Beziehung zwischen Staaten und erweitert damit dessen Dimension. Vgl. Höffe (2011), S. 80 f. 965 Vgl. Kant (2011), S. 25. Die bürgerliche Verfassung der Staaten, die den besagten Bund eingehen, soll wiederum, wie der Philosoph postuliert, eine republikanische sein. (Vgl. ebd., S. 20 – 25) Angesichts dieser Forderung, die laut Höffe (2011, S. 83) als Hommage an die junge Französische Republik zu verstehen ist, ließe sich, synonym zum »Völkerbund«, auch von einem »Republikenbund« (ebd., S. 80) sprechen. 966 Kant (2011, S. 25) spricht in diesem Kontext von einem »Föderalism freier Staaten«, auf die das Völkerrecht gegründet sein soll. Vgl. dazu auch Höffe (2011), S. 80. 967 Vgl. ebd. 968 Vgl. etwa Schmideler (2012), S. 243. 969 EKW VIII, S. 295. 970 Kant (2011), S. 29. 971 Vgl. dazu auch Höffe (2011), S. 85 f. 972 Kant (2011), S. 29. 973 Ebd. Anzumerken ist, dass die Idee der »Weltrepublik« beziehungsweise des »Völkerstaates« für Kant nicht konstitutiv mit einer Auflösung der beteiligten Einzelstaaten einhergeht (vgl. Höffe 2011, S. 85 f.), weshalb die Forderung nach der konsequenten Abschaffung von Staatsgrenzen, die die Tiere in Kästners Erzählung stellen, bei näherer Betrachtung noch über den Kant’schen Entwurf hinausweist.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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seiner Souveränität zu verzichten.⁹⁷⁴ Da Kant eine solche Bereitschaft gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht für gegeben hielt,⁹⁷⁵ bewarb er die Völkerbundidee, mit Höffe gesprochen, lediglich als »zweitbesten Weg«, wodurch jedoch »[d]as Ideal des Weltfriedens […] an visionärer Kraft erheblich ein[büßt]; an die Stelle des Hoffnung weckenden großen Entwurfs tritt die halbherzige Lösung.«⁹⁷⁶ Anders als Kant geben sich Kästners tierische Helden nicht mit ›halben Sachen‹ zufrieden: Sie nutzen das Völkerbundkonzept allein als sprichwörtliches Mittel zum Zweck und tragen das Ideal des »ewigen Friedens« unbeirrt voran. Freilich reagieren die Staatsoberhäupter, die die Versammlung der Tiere via Konferenzschaltung mitverfolgen, nicht weniger ablehnend auf deren kosmopolitische Forderung, als Kant es den Staaten im achtzehnten Jahrhundert in Bezug auf eine vermeintliche »Weltrepublik« unterstellte. Ad hoc wird ein Delegierter zum Hochhaus der Tiere entsandt, der als »Repräsentant der Kriegsmächte«⁹⁷⁷ fungiert und sich burleskerweise als »General Zornmüller«⁹⁷⁸ vorstellt. Auf eine verbale Auseinandersetzung mit dem Tierbündnis lässt sich der Militarist mit dem sprechenden Namen gar nicht erst ein. Stattdessen überreicht er eine Protestnote, in der sich die – bezeichnenderweise erstmals als Kollektiv agierenden – Staatsleute jegliche Einmischung in ihre Weltpolitik verbitten. Von Zornmüller dazu aufgefordert, in Form einer schriftlichen Erklärung zu antworten, üben die Tierdelegierten dezidierte Kritik am Bürokratismus der Menschen: Oskar »brüll[t]« dem General entgegen, dass sie »nicht zusammengekommen [sind], um Papier vollzuklecksen, sondern um den Kindern zu helfen«.⁹⁷⁹ Im Fortgang der Handlung versuchen die Tiere schließlich nicht länger, ihrem Ziel auf diplomatischem Wege näherzukommen. Ihre Entrüstung über die Weigerung der Staatshäupter, schlicht und einfach Frieden zu schließen, findet ihren

974 Vgl. ebd., S. 86. 975 So mutmaßte er, dass die Völker der Erde einen solchen Völkerstaat »nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen«. Kant (2011), S. 29. 976 Höffe (2011), S. 90. 977 Lepman, Jella zit. n. Schnorbach (2001), S. 256. Den 1948 geäußerten Vorschlag Lepmans, Zornmüller durch einen Russen und einen angelsächsischen Gegenspieler zu ersetzen, um »die große Spaltung zwischen Ost und West aufzuzeigen« (Lepman, Jella zit. n. ebd.) ließ Kästner unberücksichtigt, wodurch »die Figur des Militaristen«, so Schnorbach, »zeitlos aktuell« geblieben ist. Ebd. 978 EKW VIII, S. 296. 979 Ebd., S. 297. Besagte Bürokratismus-Kritik setzt sich auch fort, nachdem Zornmüller die Sitzung verlassen hat: In seiner Empörung über die Forderung des Delegierten bezeichnet der Elefant Oskar die Menschen als »Aktenfabrikanten«, »Tintenkleckser«, »Leitzordner« und »zweibeinig[e] Büroschemel«. Ebd.

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Ausdruck stattdessen in drei – streng genommen keineswegs pazifistischen⁹⁸⁰ – ›Aktionen‹, die Kästner selbst im Nachhinein als »etwas außerhalb der Legalität«⁹⁸¹ stehend charakterisierte. Um dem von der Gegenseite verfochtenen Bürokratismus Einhalt zu gebieten, üben die Tiere, juristisch betrachtet, zunächst Sachgewalt aus, indem tausende von Mäusen und Ratten zum Tagungsgebäude der Menschen strömen und »[s]ämtliche Akten der Konferenzteilnehmer, der Kommissionen, Unterkommissionen, Referenten und Sekretäre«⁹⁸² zernagen. Die Botschaft, die der Löwe Alois den Staatsleuten im Anschluss daran übermittelt, birgt eine erneute Reminiszenz an Kant, denn sie stellt dem menschlichen Bürokratismus den zentralen Handlungsmaßstab der Aufklärung gegenüber: »Eure Akten waren eurer Vernunft im Wege. Jetzt ist der Weg frei. Wir verlangen, daß ihr euch einigt.«⁹⁸³ Anders als von den Tieren erhofft, haben die Politiker jedoch kein Einsehen: Unter Mithilfe von Zornmüller lassen sie Kopien aller vernichteten Akten aus ihren Archiven herbeischaffen, die fortan von Militärs bewacht werden, welche die Weisung erhalten, »im Notfalle von den Waffen Gebrauch zu machen«.⁹⁸⁴ Beachtung verdient, dass die Haltung der Machthaber keineswegs der Einstellung der von ihnen regierten Völker entspricht. Immerhin reagieren diese, wie der Leser erfährt, überall auf der Welt »vergnüg[t]«,⁹⁸⁵ als sie in der Presse von den zernagten Akten erfahren. Die so verdeutlichte (und auch in Kästners zuvor behandelten Artikeln präsente) Kritik daran, dass die Delegierten nicht gemäß den Interessen des Großteils der von ihnen vertretenen Menschheit handeln,⁹⁸⁶ wird von den Tieren aufgegriffen. Diese gelangen zu dem Ergebnis, dass »die meisten Menschen […] viel netter und vernünftiger« sind als gedacht; das Problem liege vielmehr bei den Akten und dem Militär.⁹⁸⁷ Letztere Erkenntnis zieht die zweite große Intervention der Tiere nach sich, die, wie schon ihre erste ›Aktion‹, »Züge der

980 Diese Feststellung trifft zumindest dann zu, wenn man vom gegenwärtig gebräuchlichen Pazifismusbegriff ausgeht, der nach Buro (2008, S. 269) eine konsequente »Gewaltfreiheit bei der Lösung von Konflikten« beinhaltet. 981 Kästner (1969). 982 EKW VIII, S. 299. 983 Ebd. 984 Ebd., S. 300. 985 Vgl. ebd. 986 Diesen Kritikpunkt griff Kästner wenige Jahre später in seinem Kabarettbeitrag Die Acharner (frei nach Aristophanes) (EKW II, S. 296 – 308) noch einmal auf. In dem am 20. Juni 1951 in der Kleinen Freiheit uraufgeführten Zweiakter ließ er ›seinen‹ Amphitheos die Bürger Athens dazu auffordern, nicht auf die Feldherren zu bauen, wenn sie sich ein Ende des Peloponnesischen Krieges erhoffen: »Wollt ihr ehrlich Frieden, dann schickt Männer, die ihn ehrlich wollen! Detachiert nicht die Generäle! Sendet nicht die Gesandten! Sondern schickt die Geschickten!« Ebd., S. 299. 987 EKW VIII, S. 301.

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alttestamentarischen Plagen«⁹⁸⁸ aufweist. Nachdem tausende von Motten alle Uniformen der Welt vernichtet haben, ist es nunmehr der Stier Reinhold, der den Staatshäuptern – unter erneuter Bezugnahme auf das aufklärerische Ideal – mitteilt, dass ihre Uniformen »der Einigkeit und der Vernunft im Wege [stehen].«⁹⁸⁹ In der offiziellen Erklärung, die Zornmüller daraufhin abgibt, manifestiert sich schließlich, was sich implizit schon zuvor ankündigte – nämlich dass die Teilnehmer der menschlichen Friedenskonferenz im Grunde genommen eine hohe Affinität zum Krieg und Militarismus besitzen. So postuliert der General: Schon morgen werden alle Soldaten der Erde neue Uniformen tragen! Und was die Hauptsache ist: In Kanonen und Granaten können weder Motten noch Heuschrecken noch Krokodile Löcher fressen! […] Und wenn die Welt voll Motten wär – uns schreckt das nicht! Wenn wir keine Uniformen mehr besitzen, werden wir uns die Regimentsnummern und Rangabzeichen auf die Haut malen! Verstanden?⁹⁹⁰

Die Ansprache Zornmüllers beinhaltet bei näherer Betrachtung verschiedene Bezüge auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die sich als weitere antimilitaristische Spitzen Kästners begreifen lassen. Zum einen spielt der General offenbar auf die Textzeile »Und wenn die Welt voll Teufel wär« aus Martin Luthers Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott an, das insbesondere im Ersten Weltkrieg nationalistisch instrumentalisiert und als Kampflied gesungen wurde.⁹⁹¹ Zum anderen rufen seine Worte unwillkürlich Assoziationen zu den Tätowierungen der Waffen-SS wach. Ihre Ideale aufzugeben, kommt für die Tiere trotz der rigiden Positionierung des Generals nicht in Frage. Nach dem Scheitern ihrer Aktionen wider den menschlichen Bürokratismus und Militarismus wählen sie eine gänzlich andere Strategie, die nicht auf die äußeren Besitztümer, sondern auf das emotionale Wohlbefinden der Menschen abzielt: Über Nacht verstecken sie alle Kinder der Welt an zivilisationsfernen Orten, die die ›Großen‹ nicht kennen oder die ihnen nicht zugänglich sind.⁹⁹² Die in ihrer erpresserischen Ausrichtung an Aristophanes’ pazifistische Lysistrata erinnernde Maßnahme,⁹⁹³ sämtliche »Eltern und Lehrer 988 Schipperges (2008), S. 90. 989 EKW VIII, S. 303. 990 Ebd., S. 304 f. 991 Siehe weiterführend Fischer, Michael: Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Münster 2014. 992 Vgl. ebd., S. 310 f. Zur Beruhigung der jungen Leser wird in diesem Zusammenhang betont, dass es den Kindern in der Obhut der Tiere »rechtschaffen gut« (ebd., S. 310) geht und selbst die Kleinsten unter ihnen ihr Heimweh schnell vergessen. Einige von ihnen hoffen sogar, dass »der Streit« zwischen den Tieren und ihren Eltern »noch recht lange« dauern möge. Ebd., S. 312. 993 In der antiken Komödie bringen die Frauen Athens und Spartas ihre verfeindeten Männer dazu, den Krieg miteinander zu beenden, indem sie sich ihnen sexuell so lange verweigern, bis sie

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und alle Erwachsenen«⁹⁹⁴ so lange »kinderseelenallein«⁹⁹⁵ zurückzulassen, bis sämtliche Regierungen sich untereinander vertraglich verpflichten, »die Welt vernünftig und anständig zu verwalten«,⁹⁹⁶ führt letzten Endes zum Erfolg. Unter dem Druck der Öffentlichkeit lassen sich die Staatshäupter auf die von den Tieren gestellte Forderung ein und verpflichten sich vertraglich dazu, die Welt in Zukunft »vernünftig und anständig zu verwalten.«⁹⁹⁷ Der vorgelegte Friedenskontrakt kann als Konglomerat der unerfüllten politischen Ideale Kästners begriffen werden. Nicht von ungefähr lesen sich die in ihm angeführten Punkte, mit Steinlein gesprochen, zugleich wie »eine utopische UNCharta«:⁹⁹⁸ Die Unterzeichnenden verpflichten sich erstens, in kosmopolitischem Sinne, zur Beseitigung »alle[r] Grenzpfähle und Grenzwachen« und zweitens, im Geiste des Pazifismus, zur Abschaffung des »Militär[s] und alle[r] Schuß- und Sprengwaffen«.⁹⁹⁹ Als drittes situiert der Vertrag ein gänzlich neues Arbeitsgebiet der (planmäßig nurmehr mit Pfeil und Bogen ausgestatteten) Polizei, das als Seitenhieb auf die Nuklearforschung zu betrachten ist. So sollen die Gesetzeshüter künftig überwachen, dass Forschung und Technik »ausschließlich im Dienst des Friedens stehen« und es keine »Mordwissenschaften« mehr gibt.¹⁰⁰⁰ Darüber hinaus wird, viertens, der menschliche Bürokratismus eingedämmt, denn die Staatshäupter stimmen qua Unterschrift zu, die Anzahl der Büros, Beamten und Aktenschränke »auf das unerläßliche Mindestmaß herab[zuschrauben]«.¹⁰⁰¹ Ein von Humanität geleitetes Erziehungsideal manifestiert sich schließlich in der fünften und letzten Vertragsklausel, die vorsieht, dass Lehrer künftig die Rolle der »best-

bereit sind, Frieden zu schließen. Siehe Aristophanes: Lysistrata. Übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg. Stuttgart 2009. Von Schmideler (2012, S. 232) wird das genannte Motiv mit der berühmten Volkssage über den Rattenfänger von Hameln in Bezug gesetzt, in der die Einwohner der Stadt ihre Vertragsbrüchigkeit gegenüber einem Fremden mit dem Verlust ihrer Kinder bezahlen müssen. Allerdings hinkt dieser Vergleich insofern als der Rattenfänger, anders als die Tiere bei Kästner, aus Rache handelt und keine Bedingungen stellt, deren Erfüllung es den Menschen ermöglichen würde, ihre Kinder zurückzubekommen. 994 EKW VIII, S. 306. 995 Ebd. Das Verschwinden der Kinder lässt im Übrigen nicht einmal die Militaristen selber unberührt. So kommt sogar Zornmüller ins Grübeln und fragt sich, wo sein Enkel Philip sein mag, der doch – so ein weiterer antimilitaristischer Seitenhieb Kästners – »später einmal sein Nachfolger und mindestens Generaladmiral oder Admiralgeneral hätte werden sollen«. Ebd., S. 307. 996 Ebd., S. 308. 997 Ebd. 998 Steinlein (2008), S. 321. 999 EKW VIII, S. 314. 1000 Ebd. 1001 Ebd.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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bezahlten Beamten« einnehmen sollen, da sie »die höchste und schwerste Aufgabe« erfüllen müssen: »die Kinder zu wahren Menschen zu erziehen«.¹⁰⁰² Dass mit dem Inkrafttreten des Kontrakts eine bahnbrechende universelle Veränderung vor sich geht, markiert der Text geradezu überdeutlich: Sobald die Staatshäupter unterzeichnet haben, bricht »ein solcher Jubel auf der Erde aus, daß sich die Erdachse um einen halben Zentimeter ver[biegt].«¹⁰⁰³ Zur Entfaltung der ›eigentlichen‹ Friedensutopie benötigt Kästner nach diesem fulminanten Vorlauf nur noch wenige Sätze: [A]ls die Eltern hörten, die Kinder kämen zurück, sobald alle Grenzpfähle beseitigt wären, liefen sie im Dauerlauf an die Grenzen und sägten sämtliche Pfähle und Barrieren kurz und klein. Wo früher die Sperren gewesen waren, errichteten sie Blumenpforten und zogen Girlanden. Sogar die Polizei half tüchtig mit. Und nun gab es kein Hüben und Drüben mehr, und alle schüttelten einander die Hände. Und da kamen auch schon die Kinder wieder! Es war ein Umarmen und Lachen und Weinen, natürlich vor lauter Freude, wie noch nie auf der Welt.¹⁰⁰⁴

Wie weit der Schriftsteller außerhalb der Fiktion davon entfernt war, an die Realisierung einer solchen Utopie zu glauben, wird erkennbar, wenn man die KabarettTexte betrachtet, die er bald nach der Veröffentlichung der Konferenz der Tiere schrieb. Ihnen widmet sich das folgende Kapitel.

4.3.2 Über Atompilze und Exerzierobst ‒ Kästners pazifistische Stellungnahmen in der [K]leine[n] Freiheit Während Kästner es in den kabarettistischen Arbeiten, die er in den unmittelbaren Nachkriegsjahren für Die Schaubude verfasste, primär dabei beließ, allgemeine Warnungen vor erneuten Kriegen auszusprechen und die latente Begeisterungsfähigkeit der Menschen für den Militarismus zu thematisieren,¹⁰⁰⁵ hoben die Texte, die er ab 1951 für Die kleine Freiheit produzierte, wesentlich expliziter auf die zeitgenössischen militärpolitischen Entwicklungen ab. Mittlerweile hatte sich der

1002 Ebd. 1003 Ebd., S. 314 f. 1004 Ebd., S. 315. 1005 Man denke etwa an die Figur des ›Widersachers‹, die der Schriftsteller in sein Deutsches Ringelspiel 1947 integrierte (vgl. Kapitel 4.3), oder sein im Oktober 1946 in der Schaubude uraufgeführtes Spielzeuglied (EKW II, S. 96 – 98). Darin vergleicht Kästner die Männer, die sich immer wieder dazu hinreißen lassen, die Welt mit Kriegen zugrunde zu richten, mit Kindern, die »bevor man’s denkt« ihre Spielzeuge ruinieren, um sie sich dann »wieder heil« zu wünschen und dennoch »nicht gescheiter« zu werden. Ebd., S. 96 u. 98.

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Ost-West-Konflikt vor dem Hintergrund des Koreakrieges massiv verhärtet und auch die Bestrebungen zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik waren konkreter geworden.¹⁰⁰⁶ Wie Kästner den Kleinkunstrahmen, den Trude Kolmans Unternehmen ihm bot, einerseits dafür nutzte, den Zuschauern die Folgen eines möglichen Atomkrieges bewusst zu machen, und ihn andererseits als Forum für seine Kritik an den Remilitarisierungsabsichten der Bundesregierung einsetzte, wird im Weiteren exemplarisch anhand der Betrachtung je zweier Kabarettbeiträge des Autors aufgezeigt. Konträr zur utopischen Konferenz der Tiere tragen insbesondere jene Kästner’schen Texte, die das atomare Aufrüsten der Großmächte und dessen mögliche Folgen in den Fokus rücken, dezidiert dystopischen Charakter. Eine der bekanntesten dieser »endzeitlich gestimmten Visionen«¹⁰⁰⁷ ist das ab dem 10. April 1951 von Karl Schönböck dargebotene Gedicht Die Maulwürfe oder Euer Wille geschehe. Über drei jeweils vier Strophen umfassende Abschnitte hinweg blickt der lyrische Sprecher von einem zukünftigen Standpunkt aus darauf zurück, wie die Menschheit aus Angst vor atomaren Angriffen ein (in der Tat: maulwurfsähnliches) Dasein unterhalb der Erdoberfläche für sich wählte. Schon der erste dieser Abschnitte, der beschreibt, wie die Menschen, »krank von den letzten Kriegen«,¹⁰⁰⁸ in unter der Erde liegenden »Kellerstädte[n]«¹⁰⁰⁹ Schutz suchten, kreiert eine Atmosphäre nahezu pathologischer Nervosität und posttraumatischer Belastung. Man erfährt etwa, dass die Hinabsteigenden »erbrachen, wenn einer schrie«¹⁰¹⁰ und in ihrer Furcht selbst gewöhnliche Naturerscheinungen nicht mehr von den Anzeichen einer Kernwaffenexplosion zu unterscheiden vermochten. So erinnert sich der lyrische Sprecher: Ach, sie erschraken vor jeder Wolke! War’s Hexerei, oder war’s noch Natur? Brachte sie Regen für Flüsse und Flur? Oder hing Gift überm wartenden Volke, das verstört in die Tiefe fuhr?¹⁰¹¹

Der »Abschied für immer«,¹⁰¹² den die Menschen – ohne es zu ahnen – von der Erdoberfläche nehmen, wird im Weiteren wie eine rückläufige Schöpfungsge-

1006 Vgl. dazu auch Kapitel 4.3. 1007 Hug (2006), S. 58. 1008 Kästner, Erich: Die Maulwürfe oder Euer Wille geschehe! [1951] In: EKW II, S. 309 – 311, hier S. 309. 1009 Ebd. 1010 Ebd. 1011 Ebd. 1012 Ebd.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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schichte erzählt: Nachdem diejenigen, die sich die Erde der Bibel zufolge ›untertan machen‹¹⁰¹³ sollten, »aus Gottes guter Stube« verschwunden sind, stellt sich wortgetreu jener Zustand ein, der im 1. Buch Mose den Ausgangspunkt für sämtliche Schöpfungsakte beschreibt: »Und die Erde war wüst und leer.«¹⁰¹⁴ Der neue Alltag der Menschen, der im zweiten Abschnitt des Gedichts geschildert wird, gestaltet sich auf den ersten Blick kaum anders als zuvor, denn Kultur, Wirtschaft und sogar Nuklearwissenschaft werden in der Tiefe aufrechterhalten: Die Völker »lebten […] weiter, hörten Motteten, / teilten Atome, lasen Gazetten, / lagen in Betten und hielten die Bank.«¹⁰¹⁵ Dennoch wird die – schon aus literaturhistorischer Perspektive dystopisch konnotierte – »Neue Welt«¹⁰¹⁶ der ehemaligen Erdenbewohner bildlich als steril und wenig hoffnungsträchtig ausgewiesen; dem lyrischen Sprecher zufolge gleicht sie »gekachelten Träumen«.¹⁰¹⁷ Während die Erinnerungen an die Natur oberhalb der »Kellerstädte« zu Märchen für die nachfolgenden Generationen verkommen und der Glaube gänzlich in Vergessenheit gerät,¹⁰¹⁸ bleibt das Gefühl der Menschen, einer militärischen Bedrohungssituation ausgesetzt zu sein, latent vorhanden: Selbst unter der Erde hantieren »Fachleute […] [a]n Periskopen« und geben »acht, ob die anderen kämen.«¹⁰¹⁹ Eine solche Furcht vor Attacken der ›anderen‹ dürfte dem Kabarett-Publikum der frühen 1950er Jahre nur allzu bekannt gewesen sein, wurde die Sorge hinsichtlich (atomarer) Angriffe der ›Gegenseite‹ (respektive des ›Ostblocks‹) während des Kalten Krieges doch beständig durch den politischen Diskurs unterfüttert.¹⁰²⁰ Umso signifikanter ist, wie Kästners Text mit diesen Ängsten verfährt: Statt sie zutreffen zu lassen, dementiert er sie, denn wie der Rezipient erfährt »[kamen] die

1013 Vgl. 1. Mose 1, 28. Sämtliche der in diesem Kapitel angeführten Bibelzitate und -verweise beziehen sich auf: Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1972. 1014 EKW II, S. 309 sowie 1. Mose 1, 2. 1015 EKW II, S. 309. 1016 Ebd. Kästner spielt mit dieser Formulierung auf Aldous Huxleys berühmte Dystopie Schöne neue Welt [engl. Brave New World] aus dem Jahr 1932 an, deren Titel wiederum auf den Ausruf »O brave new world, that has such people in’t« (V. 186 – 187) der Herzogstochter Miranda im 5. Akt des Shakespeare’schen Dramas Der Sturm rekurriert. Siehe Huxley, Aldous: Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft. Übersetzt von Herberth E. Herlitschka. Frankfurt a. M. 1988 sowie Shakespeare, William: Der Sturm. Zweisprachige Ausgabe. Neu übersetzt von Frank Günther. München 1996. 1017 EKW II, S. 310. 1018 So wird beschrieben, wie die Mütter »nur manchmal« von Bäumen erzählen und »Himmel und Erde […] zur Fabel« werden. Auch vom »Turmbau zu Babel« und »Kain und Abel« weiß man, dem lyrischen Sprecher zufolge, alsbald »nichts mehr«. Ebd. 1019 Ebd. 1020 Vgl. auch Kapitel 4.3.

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anderen […] nie.«¹⁰²¹ Folglich gibt die Menschheit das friedliche Erdendasein, das sie durchaus führen könnte, in dem dystopischen Szenario allein wegen einer unbegründeten Befürchtung auf. Derweil verfallen »[d]roben«, wie im dritten und letzten Abschnitt des Gedichts nachgezeichnet wird, die Stätten menschlicher Zivilisation und die Natur erobert sich die Erde zurück.¹⁰²² Auch bricht niemand mehr die göttlichen Gebote und selbst die in der Schöpfungsgeschichte postulierte Herrschaft des Menschen über das Tierreich wird hinfällig.¹⁰²³ Denkt man an Kästners 1929 veröffentlichte Misanthropologie, dann könnte man fast zu dem Ergebnis gelangen, dass der Autor in seinem gut zwanzig Jahre später verfassten Kabarettbeitrag mit Genugtuung eine »Hautkrankheit des Erdenballs«¹⁰²⁴ verschwinden lässt. Demgegenüber steht allerdings die zutiefst melancholische letzte Strophe der Maulwürfe, die keineswegs einen erstrebenswerten Zustand schildert. Sie lautet: Nur einmal, im Frühling, durchquerten das Schweigen rollende Panzer, als ging’s in die Schlacht. Sie kehrten, beladen mit Kirschblütenzweigen, zurück, um sie drunten den Kindern zu zeigen. Dann schlossen sich wieder die Türen zum Schacht.¹⁰²⁵

Trotz dieses trostlosen Ausklangs offeriert Kästners »ökologische Vision vom Untergang der Menschheit«¹⁰²⁶ keinen triftigen Grund dafür, die menschliche Spezies zu bemitleiden – immerhin hat sie sich, wie der Beitrag verdeutlicht, selbst gegen das Leben entschieden, das sie im Einklang mit der Schöpfung hätte führen können. Auf diese Eigenverantwortung verweist auch der Titelzusatz des Textes, der den bekannten Vers aus dem Vaterunser in die 2. Person Plural verlagert: »Euer Wille

1021 EKW II, S. 310. Hervorhebung d. Verf. 1022 Während Brücken und Bahnhöfe einstürzen, steigt der personifizierte Wald durch die Fenster der Häuser, zertritt Maschinen und holt »Christus vom Hochaltar«. Ebd. 1023 Die elfte Strophe des Gedichts spielt sowohl auf den Abstieg Mose vom Berg Sinai als auch, ein weiteres Mal, auf den Auftrag an, den Gott dem Menschen in der Schöpfungsgeschichte mit auf den Weg gibt: »Nun galten wieder die ewigen Regeln. / Die Gesetzestafeln zerbrach keiner mehr. / Es gehorchten die Rose, der Schnee und der Bär. / Der Himmel gehörte wieder den Vögeln / und den kleinen und großen Fischen das Meer.« Ebd. Siehe auch 2. Mose 32, 19 sowie 1. Mose 1, 26. 1024 Als solches Übel charakterisiert der lyrische Sprecher in dem genannten Gedicht die über die Natur herfallenden Menschen. Siehe Kästner, Erich: Misanthropologie [1929]. In: EKW I, S. 147 f., hier S. 148. 1025 EKW II, S. 310. 1026 Mit diesen Worten bezieht sich Hanuschek (2003, S. 372) auf Die Maulwürfe.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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geschehe«.¹⁰²⁷ Anders als die Handlungsebene des Gedichts, die über eine vermeintliche Vergangenheit der Menschheit berichtet, heben diese drei Worte auf die Zukunft ab. Sie lesen sich in Anbetracht der ihnen folgenden Strophen nicht allein wie eine düstere Prophezeiung an die Menschheit, sondern können zugleich als impliziter Appell an die zeitgenössischen Rezipienten begriffen werden, sich nicht von der durch die Regierung geschürten Angst vor atomaren Angriffen verrückt machen und lähmen zu lassen, sondern aktiv auf ein friedliches Dasein auf der Erde Einfluss zu nehmen. Bei den Maulwürfe[n] handelt es sich wohlgemerkt nicht um den einzigen Text, in dem Kästner zur Steigerung des prophetisch-warnenden Gestus auf Bibelzitate und -verweise zurückgriff. Während er sich privatim als »deklarierten Rationalisten«¹⁰²⁸ betrachtete, bediente er sich auch in einer weiteren, wenig später verfassten Dystopie aus dem Fundus christlicher Anspielungshorizonte. Die Rede ist von der durch Karl von Feilitzsch vertonten und am 12. September 1951 in der [K]leine[n] Freiheit uraufgeführten Kantate »De minoribus«. Der traditionellen Form dieser Gattung entsprechend folgen innerhalb des Beitrags im Wechsel Chorgesang, Rezitative und Ariosi aufeinander; er integriert aber auch gesungene wie lyrische Berichte und Sprecheranteile ohne musikalische Untermalung. Der lateinische Titel, den Kästner gewählt hat, ist mehrdeutig: Einerseits lässt er sich mit den Worten »Über die Jüngeren« respektive »Nachkommen« übersetzen, andererseits kann er, pejorativ konnotiert, auch »Über eine kleinmütige Gesinnung« bedeuten.¹⁰²⁹ Letztere wird dem Publikum direkt zu Beginn der Kantate durch den Eingangschor vorgeführt, der Kriege zu unabwendbaren Naturereignissen erklärt: Kriege lassen sich nicht vermeiden. Kriege sind Stürme wie der Taifun. […] Kriege lassen sich nicht vermeiden. Der Mensch muß leiden. Er kann nichts tun.¹⁰³⁰

1027 EKW II, S. 309. In dem wohl bekanntesten Gebet des Christentums heißt es: »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.« Matthäus 6, 10. 1028 Mit dieser Formulierung sagte Kästner dem Verleger Karlheinz Deschner eine Mitarbeit an dessen geplanter Anthologie »Was halten Sie vom Christentum?« ab.Vgl. Kästner, Erich an Karlheinz Deschner. Brief vom 2. 8.1956. DLA Marbach/Nachlass Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. 1029 Vgl. zu diesen unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten von »minoribus« als Komparativ von »parvus«: Georges, Karl Ernst: »parvus«. In: ders.: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Unveränderter Nachdruck der 8. Auflage von 1918. Darmstadt 1998. Bd. 2, Sp. 1495 – 1498. 1030 Kästner, Erich: Die Kantate »De minoribus« [1951]. In: EKW II, S. 205 – 210, hier S. 205.

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Im Unterschied zum griechischen Chor der Antike verkündet der Kästner’sche Chor, als Stimme der breiten Masse fungierend, folglich keine moralischen Grundannahmen oder -einsichten: Statt den Menschen in die Handlungspflicht zu nehmen, entbindet er ihn von jeglicher moralischen Verantwortung für militärische Auseinandersetzungen. Dieser elegischen Selbstverortung in der Opferrolle korrespondiert eine klar ausgestellte Autoritätshörigkeit gegenüber den indoktrinierenden Botschaften der Militärs, denn der Chor beruft sich fürderhin darauf, dass Stürme sich auch nach »Ansicht der Generäle« selbst »Befehle [erteilen]«.¹⁰³¹ Wenngleich die Menschen sich damit abgefunden haben, dass weder rechtliche Vereinbarungen noch der Glaube¹⁰³² etwas an ihrem selbstzugeschriebenen ›Schicksal‹ zu ändern vermögen, quält sie noch eine Sorge, die auf die zweite Übersetzungsmöglichkeit des Titels der Kantate abhebt: Sie fragen sich, was »das nächste Mal« (sprich: beim nächsten Krieg) »aus den Kindern« werden soll.¹⁰³³ Bereits diese Problematik, die zum Ausgangspunkt der in den folgenden Rezitativen geschilderten Handlung wird, lässt an Kästners im vorangegangenen Kapitel betrachtete Tierparabel denken. Und auch den Bündnisgedanken der Erzählung greift die Kantate »De minoribus«, die schon Hanuschek als »Fassung der Konferenz der Tiere für Erwachsene«¹⁰³⁴ bezeichnete, auf. Wie eine Männerstimme im Tonfall der ›frohen Botschaft‹ des Lukasevangeliums¹⁰³⁵ verkündet, »begab es sich […] am Weihnachtstage des Jahres 1950 nach Christi Geburt«, dass die »[b]esten« Männer und Frauen »zusammentraten und Rats [sic] hielten«.¹⁰³⁶ Der Plan, den die kleine Elite, die nachfolgend einen »uneigennützigen Verein« zur Rettung ihrer Nachkommen gründet, entspinnt, folgt einer einfachen Erziehungslogik: »Wenn Vater und Mutter sich streiten, schickt man die Kinder aus dem Zimmer.«¹⁰³⁷ »[I]ns Große [übertragen]« bedeutet das für die Menschen, die jüngsten Einwohner sämtlicher Länder auf Inseln oder in »fruchtbar[e] Bezirke […] fern der Heerstraßen« zu evakuieren.¹⁰³⁸ Auch dieses Motiv weist unübersehbare Bezüge zur Die Konferenz

1031 Ebd. 1032 So heißt es in der zweiten Strophe weiter: »Was nützen Verträge? Was helfen Choräle? / Der Mensch muß leiden. Er kann nichts tun.« Ebd. 1033 Ebd. 1034 Hanuschek (2003), S. 372. Auf die ähnliche Motivik der Texte verweist auch Kiesel (1981), S. 143. 1035 Mit den Worten »Es begab sich aber zu der Zeit« beginnt in Lukas 2,1 die Erzählung über die Geburt Christi. Anders als das Evangelium vermittelt Kästners Kantate, wie auch Kiesel (1981, S. 144) festhält, jedoch alles andere als eine ›frohe Botschaft‹. Die zeitliche Verortung der beschriebenen Zusammenkunft im Kirchenjahr lässt darüber hinaus an die traditionelle Darbietung geistlicher Kantaten zum Weihnachtsfest denken. 1036 EKW II, S. 205. 1037 Ebd., S. 206. 1038 Ebd.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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der Tiere auf, beinhaltet aber auch eine entscheidende Diskrepanz zur Strategie der dort gezeichneten Helden: Immerhin stellt die Evakuierung der Kinder in der Tierparabel lediglich ein Druckmittel dar, um die Menschheit zum Friedensschluss zu zwingen. In der Kantate hält man den Frieden, wie eingangs verdeutlicht, hingegen gar nicht erst für möglich und strebt ihn folglich auch nicht aktiv an. Der hier gefasste – an die erweiterte Kinderlandverschickung während des Zweiten Weltkriegs erinnernde – Plan, die Heranwachsenden durch ihre räumliche Entfernung aus den gefährdeten Gebieten zu schützen, wird alsbald von »alle[n] Regierungen der Erde«¹⁰³⁹ anerkannt. Von Menschlichkeit oder Mitgefühl sind der Beschluss und seine Umsetzung allerdings nicht geprägt: In einem der nachfolgenden Sprechgesänge wird berichtet, dass es zunächst zu »Mütteraufständen« gekommen sei, die »niedergeschlagen« werden mussten, als der Haager Gerichtshof ¹⁰⁴⁰ postulierte, dass die Kindheit (und damit das Recht, in den »Kinderzonen« Schutz zu finden) »mit dem dreizehnten Jahr« ende.¹⁰⁴¹ Zudem empfinden die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft ihre Evakuierung, anders als die wohlumsorgten Kinder in der Konferenz der Tiere, keineswegs als vergnügliches Abenteuer.Vielmehr behandelt man sie, wortwörtlich, alles andere als human: »[W]ie Herden« werden sie bei Kriegsbeginn von Soldaten in Schiffe und Güterzüge »hinein[getrieben]«, wobei sie, »scheuen Pferden« gleich, um sich schlagen¹⁰⁴² – ein, wie der Sprecher unterstreicht, höchst undankbares Verhalten der Kinder, die »gar nicht gerettet werden [wollen]«, da sie »noch dumm« und »klein« seien.¹⁰⁴³ Im Gegensatz zu den verzweifelten Eltern in der Konferenz bleibt den Erwachsenen in der Kantate »De minoribus« keine Zeit, um sich »kinderseelenallein«¹⁰⁴⁴ zu fühlen. Kaum sind ihre Nachkommen ›entfernt‹, werden Gasmasken, ›eiserne Rationen‹, Zyankalikapseln und Bakterienminen verteilt und »die erste Bombe [fällt]«.¹⁰⁴⁵ Von diesem Moment an steigert sich die düstere Stimmung, die in den vorangegangenen (Sprech‐)Gesängen evoziert wurde, um ein Vielfaches. Spätestens die nachfolgenden – nunmehr laut Regieanweisung »ohne Musik«¹⁰⁴⁶ ge1039 Ebd., S. 205 f. 1040 Mit der Einbeziehung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag rekurriert Kästner im Übrigen erneut auf die UNO, stellt dieser doch das Hauptrechtsprechungsorgan der internationalen Organisation dar. 1041 EKW II, S. 207. 1042 Ebd., S. 208. 1043 Ebd. 1044 Kästner, Erich: Die Konferenz der Tiere. Ein Buch für Kinder und Kenner nach einer Idee von Jella Lepman [1949]. In: EKW VIII, S. 255 – 316, hier S. 306. 1045 EKW II, S. 208 f. 1046 Ebd., S. 209.

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sprochenen – Abschnitte lassen keinen Zweifel mehr daran offen, dass es sich bei der beginnenden militärischen Auseinandersetzung um einen Atomkrieg handelt. So wie die reinen Sprechtexte auf formaler Ebene mit der vorherigen musikalischen Aufmachung der Kantate brechen, markiert der Auftakt des geschilderten Krieges im Vergleich zu allen zuvor dagewesenen Dimensionen der ›Massenvernichtung‹ eine inhaltliche Zäsur. Der erste von drei im Weiteren zum Einsatz kommenden Sprechern bemerkt, er spare sich die Mühe zu erzählen, was folgte, da das Publikum dies wisse. »Zu erwähnen wäre«, wie er zynisch fortfährt, »allenfalls wie zäh die Völker waren«, die »den wissenschaftlichen Formeln länger [widerstanden], als man vorher vermutet und in den Laboratorien errechnet hatte.«¹⁰⁴⁷ Letztlich sei jedoch auch der »ansehnliche Prozentsatz« der zunächst Überlebenden »nicht davon[gekommen]«.¹⁰⁴⁸ Der zweite Sprecher nimmt diese Andeutung auf, indem er in Anspielung auf Ibsens Schauspiel Hedda Gabler ¹⁰⁴⁹ feststellt, man sei »nicht eben ›in Schönheit‹ [gestorben]«, um die Zuschauer schließlich nahezu süffisant zu fragen: »Wissen Sie, was Mutationen sind?«¹⁰⁵⁰ Hiernach beginnt die Entfaltung des eigentlichen Schreckensszenarios: Wer, im Schatten des zehntausend Meter hohen, glühenden, qualmenden Atompilzes, mit dem Leben davongekommen war, begann sich zu verändern. Der Körper fing an, mit sich selber zu spielen. Sinnlos und widerlich. Die Ohren schossen ins Kraut. Die Arme schrumpften wie Gras im Hochsommer. Der Rücken trieb Knollen, als trüge man Kohlensäcke.¹⁰⁵¹

Die drastische Bildlichkeit fortführend, berichtet ein dritter Sprecher davon, wie sich die Überlebenden mit letzter Kraft zu den (paradoxerweise verschont gebliebenen) »Kinderinseln«¹⁰⁵² schleppen und vergeblich versuchen, Zutritt zu erhalten. »Man musste sie«, wie er lakonisch zusammenfasst, »totschlagen. Aus sanitären Gründen. Ihr trauriges Ende war unvermeidlich.«¹⁰⁵³ Beachtung verdient, dass er dieses »traurig[e] Ende« im Weiteren nicht darauf zurückführt, dass Kriege sich »nicht vermeiden [lassen]«,¹⁰⁵⁴ wie der Chor es zu Beginn der Kantate postuliert hat.

1047 Ebd. 1048 Ebd. 1049 Im dritten Akt des Dramas aus dem Jahr 1890 überreicht die Titelheldin ihrem ehemaligen Geliebten Ejlert Løvborg, den sie zuvor durch einige Intrigen in Selbstmordgedanken gestürzt hat, eine Waffe um sich zu töten und bittet ihn, es möge »in Schönheit« geschehen. Ibsen, Henrik zit. n. Kurzkes Kommentar in EKW II, S. 451. 1050 EKW II, S. 209. 1051 Ebd. 1052 Ebd. 1053 Ebd. 1054 Ebd., S. 205.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Stattdessen schreibt er die Verantwortung für die Schreckensereignisse den Umgekommenen selbst zu: »Sie hatten die Kinder gerettet, ohne an die Menschen zu glauben. Das war ihr frommes Verbrechen.«¹⁰⁵⁵ Die eingangs vertretene Haltung der breiten Masse, der Mensch sei lediglich ein zur Passivität verdammtes Opfer seiner Umstände und könne gegen Kriege ebenso wenig tun wie gegen Naturkatastrophen, wird auf diese Weise, im wahrsten Sinne des Wortes, als Fehlglaube entlarvt. Die letzten, nun wieder musikalisch untermalten Passagen der Kantate erheben die (wie Die Maulwürfe von zukünftiger Warte aus erzählte) Begebenheit schließlich zur Prophezeiung. Eine Männerstimme resümiert: »Das war’s, was sich dereinst begab. / So sieht die Welt von morgen aus: / Halb Massengrab, halb Waisenhaus…«¹⁰⁵⁶ Das Fazit, das Kästner die Vortragenden aus dieser düsteren Vision ziehen lässt, wartet mit deutlichem moralischem Impetus auf und lässt sich als explizite Aufforderung verstehen, das atomare Aufrüsten der Großmächte nicht länger als unabänderlich hinzunehmen, sondern das erwartbare Untergangsszenario ernst zu nehmen: Männerstimme: Man darf nicht länger säumen. Frauenstimme: Komme, was mag, – mein Kind gehört zu mir. Frauenstimme: War’s nur geträumt? Dann laßt uns öfter träumen. Dann wissen Träume mehr von uns als wir.¹⁰⁵⁷

Wie bereits für die zuvor betrachtete Dystopie geltend gemacht, schwingen am Ende der Kantate allerdings auch Melancholie und maßlose Enttäuschung über die militärischen ›Errungenschaften‹ des zwanzigsten Jahrhunderts mit: Männerstimme: Wir haben’s weit gebracht. Männerstimme: Die Menschheit stirbt modern. Frauenstimme: Ich hab einmal gedacht, die Erde sei – ein Stern…¹⁰⁵⁸

1055 1056 1057 1058

Ebd., S. 209. Ebd., S. 210. Ebd. Ebd.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Vermutlich ist es gerade die in diesen letzten Versen transportierte Ernüchterung, die Leibinger-Kammüller dazu veranlasst hat, Die Kantate »De minoribus« als Beleg dafür heranzuziehen, dass Kästner »den Glauben an eine Neuorientierung der Menschheit« zu Beginn der 1950er Jahre »weitgehend verloren« habe.¹⁰⁵⁹ Zudem zeige der Text, so behauptet sie, dass der Schriftsteller zu der Überzeugung gekommen sei, »daß es keine Mittel gibt, Kriege zu verhindern.«¹⁰⁶⁰ Diese Deutung übergeht jedoch konsequent, dass die Kantate genau an der letztgenannten Sichtweise des Eingangschors durch den weiteren Gang der Handlung rigide Kritik übt. Auch die zeitgenössischen Feuilletons stießen sich nicht etwa an einer vermeintlich resignativen Haltung Kästners, sondern vielmehr an der »monotone[n] pädagogische[n] Manier«,¹⁰⁶¹ die sie ihm zuschrieben und die sie offenbar als unpassend für den kabarettistischen Aufführungsrahmen empfanden. Zum Beispiel hielt Max Christian Feiler im Münchner Merkur bedauernd fest, »gegen Kästners Hobby, in die hellen Bezirke des Kabaretts die düsteren Klänge eines Requiems einzuschmuggeln,« sei »wohl nichts auszurichten«.¹⁰⁶² Gunter Groll lobte derweil in der Süddeutschen Zeitung zwar die »suggestive[n], an Nerven und Nieren gehende[n] Töne« der Kantate, bemängelte aber ebenfalls, »daß Deutschlands größter lebender Satiriker« mit seinem »Lehrstück« einherkomme »wie des Kabaretts Klassenlehrer am Bußtag«.¹⁰⁶³ Größeren Anklang als die Kästner’schen Atomkriegs-Dystopien fanden indes jene Beiträge, in denen sich der Autor gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik aussprach. Das Publikum auf die drohende Wiederbewaffnung aufmerksam zu machen, gehörte zum festen Bestandteil sämtlicher Vorstellungen der [K]leine[n] Freiheit: Mit dem Vortrag des von Kästner verfassten und von Robert Gilbert vertonten Beitrags Der Titel des Programms bemängelten die Darsteller die politischen Entwicklungen in der jungen Bundesrepublik nicht allein, indem sie allabendlich verkündeten, dass es für »[d]ie große Freiheit […] nicht gereicht«¹⁰⁶⁴ habe. Sie sangen auch stets aufs Neue den in der dritten Strophe des Chansons verankerten Vers: »Wir dürfen, wenn’s so weitergeht, marschieren.«¹⁰⁶⁵

1059 Leibinger-Kammüller (1988), S. 76. 1060 Ebd. 1061 Feiler, Max Christian: Theater der »Kleinen Freiheit«: Man tut den Affen Unrecht. In: Münchner Merkur, 14.9.1951. 1062 Ebd. 1063 Groll, Gunter: Die »Kleine Freiheit« und die Affen. In: Süddeutsche Zeitung, 14.9.1951. 1064 Kästner, Erich: Der Titel des Programms [1951]. In: EKW II, S. 189. Vgl. auch Kapitel 3.2.2. 1065 EKW II, S. 189.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Als besonderen dramaturgischen Kniff konzipierte Kästner für das erste, ab dem 25. Januar 1951 gespielte Programm des Kabaretts überdies eine Rahmenhandlung,¹⁰⁶⁶ die vorsieht, dass die Mitglieder des Ensembles zwischen den einzelnen Programmnummern unter ihren eigenen Namen als Schauspieler auftreten, die eine Vorstellung über die Bühne bringen. Im Verlauf des Abends verkleinert sich die Truppe allerdings rapide, da nach und nach an fast alle Darsteller die Aufforderung herangetragen wird, ihre augenblickliche Tätigkeit niederzulegen und stattdessen militärisch relevante Positionen zu übernehmen. Als Erster berichtet Oliver Hassencamp seinen Kollegen, er habe einen Brief mit der Weisung bekommen, sich als Ingenieuroffizier nach Peenemünde zu begeben,¹⁰⁶⁷ also an jenen Ort, an dem die Heeresversuchsanstalt der Wehrmacht ab 1939 die V2-Rakete entwickelte. Wenige Kabarettbeiträge später erscheint ein »[f ]remder Herr«,¹⁰⁶⁸ der Karl Schönböck befiehlt, als Generaldirektor die Bochumer Walzwerke zu übernehmen: Nachdem das Demontageprogramm abgeschlossen sei, beginne »[m]orgen […] das Wiederaufbauprogramm«.¹⁰⁶⁹ Im selben Atemzug lässt der Fremde anklingen, dass die dort geplante Produktion Rüstungszwecken dienen werde: Wie er betont, handle es »sich nicht um Kuchenbleche«,¹⁰⁷⁰ die man herstellen wolle. In der zweiten Hälfte des Programms geht als nächstem Ensemblemitglied Herbert Weicker ein Einschreiben zu, das ihm eine Beförderung zum Stabsarzt anbietet, wobei ihm korrumpierend eine »[a]ngemessene Dienstwohnung«, »Kasinoverpflegung« und ein »Reitpferd mit Burschen« in Aussicht gestellt wird.¹⁰⁷¹ Bald darauf erhalten auch die weiblichen Ensemblemitglieder Ursula Herking, Hannelore Schützler und Christiane Maybach einen Anruf: Vom kommenden Tag an sollen sie an einer »Wehrmachtstournee für Garnisonen und Truppenübungsplätze«¹⁰⁷² teilnehmen. Die Rahmenhandlung, die Kästner entlang der Vorstellung verankert, lanciert folglich auf satirische Weise, dass die Vorbereitungen für einen kommenden Krieg bereits auf Hochtouren laufen und Waffenentwicklung, Rüstungsindustrie sowie medizinische Versorgung und Unterhaltungsangebote für die künftigen Soldaten in Gang gebracht werden. Pression und Verlockungen ›von oben‹, die die Bürger dazu bringen, sich erneut in ›kriegswichtige‹ Positionen zu begeben, sind, wie mittels der

1066 Siehe Kästner, Erich: Eine Rahmenhandlung für ein Kabarett im vierten Stock [1951]. In: EKW II, S. 390 – 399. 1067 Vgl. ebd., S. 391. 1068 Ebd., S. 395. 1069 Ebd. 1070 Ebd. 1071 Ebd., S. 396. 1072 Ebd., S. 398. Dass die neue Armee in Kästners Vorstellung erneut als »Wehrmacht« bezeichnet wird, unterstreicht, wie sehr er eine ›Auferstehung‹ des Militärs der NS-Zeit befürchtete.

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Zwischenspiele deutlich gemacht wird, genug vorhanden. Doch auch an der nötigen Autoritätshörigkeit der Einberufenen mangelt es keineswegs: Nicht von ungefähr lässt Kästner nur einen der Darsteller, nämlich Weicker, auf seinen Kollegen Bum Krüger hören, der ihm rät, »auf Zehenspitzen ab[zu]hauen«.¹⁰⁷³ Alle anderen Mitglieder des Ensembles sind dagegen – wahlweise sofort oder nach allenfalls kurzem Zögern – dazu bereit, den an sie gerichteten Appellen Folge zu leisten. Während Hassencamp sich etwa dazu verpflichtet fühlt, nach Peenemünde zu gehen, weil der Brief, der ihn erreicht, von »[seinem] alte[n] Oberst«¹⁰⁷⁴ stammt, steht Maybach laut Regieanweisung stramm, sobald sie realisiert, dass sich ein Offizier am anderen Ende der Telefonleitung befindet.¹⁰⁷⁵ Die Befürchtung, dass mit der Remilitarisierung auch demokratische Errungenschaften wie die Meinungsfreiheit aufs Neue brüchig werden, markiert Kästner schließlich am Ende der Rahmenhandlung: Nach seiner letzten Nummer wird Bum Krüger von einem Beamten, der zuvor inkognito im Publikum saß, verhört und festgenommen, nachdem er offen zugegeben hat, dass die pazifistischen Rollentexte seiner »privaten Überzeugung« entsprächen.¹⁰⁷⁶ »[Z]ur Bewährung« wird ihm die Möglichkeit in Aussicht gestellt, sich »zum Luftschutz zu melden.«¹⁰⁷⁷ Die Antwort des Beamten auf Krügers Frage, was nun, anstelle des Kabaretts, »hier oben in die vierte Etage« komme, gleicht einem finalen Seitenhieb auf Adenauers Politik der Westbindung – erhält der Darsteller doch zur Antwort: »Ein amerikanisches Hochgebirgsregiment!«¹⁰⁷⁸ Auch in die Folgeprogramme der [K]leine[n] Freiheit integrierte Kästner zahlreiche Beiträge, in denen er sich gegen die jüngsten militärpolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik wandte. Ganz besonders große Resonanz erzielte sein am 6. Dezember 1951 uraufgeführtes Solo mit unsichtbarem Chor,¹⁰⁷⁹ das von zeitgenössischen Kritikern hochgelobt¹⁰⁸⁰ und von verschiedenen anderen Kabaretts in

1073 Ebd., S. 397. 1074 Ebd., S. 391. Dieser Handlungsstrang lässt sich zugleich als Verweis auf die personellen Kontinuitäten im Bereich des Militärs verstehen. 1075 Vgl. ebd., S. 398. 1076 Ebd., S. 399. 1077 Ebd. 1078 Ebd. 1079 Siehe Kästner, Erich: Solo mit unsichtbarem Chor [1951]. In: EKW II, S. 224 – 229. Die Hauptrolle verkörperte bei den Aufführungen in der [K]leine[n] Freiheit Hans Nielsen. 1080 Siehe etwa H.M.: Kabarett mit Samthandschuhen. Die »Kleine Freiheit« wieder im Marquardt. In: Stuttgarter Nachrichten, 22. 2.1952 sowie [anonym]: Achtung, Kurve. In: Elegante Welt 3 (1952), o. S.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Berlin, Düsseldorf und Zürich nachgespielt wurde.¹⁰⁸¹ Die Handlung ist vor dem Prospekt eines Obst- und Gemüsegartens angesiedelt, auf dem der Zuschauer laut Regieanweisung Blumen, Bäume und Sträucher »in gedrillter Anordnung«¹⁰⁸² sieht. Diese Szenerie betritt ein General »in umgearbeiteter Uniformjacke«,¹⁰⁸³ der sich als Prototyp jener deutschen Militärs entpuppt, denen es 1945 gelang, ›unterzutauchen‹ und einer Bestrafung als Kriegsverbrecher zu entgehen. Gleich zu Beginn seines Vortrags weist der einstige Befehlshaber seinen Rückzug auf das Land »jovial, mit einer Art Stammtischhumor«¹⁰⁸⁴ als Strategie aus, auf die er zurückgegriffen habe, »als der Krieg sein Ende fand«: Statt der Generalstabskärtchen Obst und Blumen anzufert’gen, hieß zwar: Hoffnungen beerd’gen und herab vom hohen Pferdchen, doch es zeugte von Verstand.¹⁰⁸⁵

Obgleich er betont, dass es »das Gesündeste« gewesen sei, sich nach Kriegsende »unter [die] ›Stillen / im Land‹ auf dem Land«¹⁰⁸⁶ zu mischen, macht der ehemalige General keinen Hehl daraus, dass er sich nicht aus freien Stücken für diese Lebensführung entschieden hätte. Vielmehr sei ihm »gar keine Wahl« geblieben, als zur Tarnung »statt der Stiefel Schuhe« zu tragen.¹⁰⁸⁷ Dass seine Kriegsbegeisterung in Wirklichkeit ungebrochen und sogar von wahnhaften Zügen geprägt ist, wird für das Publikum alsbald ersichtlich, denn er erklärt, ein noch so winziger Garten habe es »militärisch in sich«:¹⁰⁸⁸ Ob Soldaten, ob Tomaten, für ’nen richt’gen General ist das ziemlich egal. Ist schließlich alles – Material.¹⁰⁸⁹

1081 Vgl. dazu Kästners Anmerkung im Auswahlband Die kleine Freiheit (EKW II, S. 224) sowie Hanuschek (2003), S. 372. 1082 So lautet die einführende Regieanweisung Kästners. Siehe EKW II, S. 224. 1083 Ebd. 1084 Ebd. 1085 Ebd. 1086 Ebd. Die dem Psalm 35,20 entlehnte Formulierung der »Stillen im Land« nutzten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die reformierten Pietisten in Preußen als Selbstbezeichnung. Vgl. Kurzkes Kommentar in EKW II, S. 454. 1087 EKW II, S. 224. 1088 Ebd., S. 225. 1089 Ebd.

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Diese vergegenständlichende Gleichsetzung, in der sich die inhumane Grundhaltung des Generals offenbart, wird im weiteren Verlauf des Solos aufgegriffen, als er die Obst- und Gemüsezucht auf eine Stufe mit der Disziplinierung einer militärischen Einheit stellt: »Der Schritt vom Spalierobst / zum Exerzierobst« sei »nur eine Frage der Führung.«¹⁰⁹⁰ Selbst seine Wahrnehmung der Pflanzen als solchen ist, wie auf wortspielerischer Ebene unterstrichen wird, von Grund auf militaristisch geprägt. So spricht er etwa von seiner »Baumfront« und – die Namen der Maréchal Niel-Rose und des französischen Kriegsministers Adolphe Niel verknüpfend – von seiner »Marschall-Niel-Division«, welche, »die Hände an der Rosennaht«, strammstehe.¹⁰⁹¹ Gleichwohl ist der General überzeugt davon, sich nicht mehr allzu lange mit seinem Gärtnerdasein begnügen zu müssen. Zufrieden konstatiert er, man sei »[f ]ern von blutigen Geschäften / […] wieder zu Pension und Kräften«¹⁰⁹² gekommen – eine Feststellung, die als Kästner’sche Spitze auf die jüngsten militärpolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik gedeutet werden kann. Immerhin war kurz vor dem Aufführungszeitpunkt das so genannte ›131er‹-Gesetz verabschiedet worden, das unter anderem Regelungen für die Versorgung ehemaliger Berufssoldaten auf den Weg brachte.¹⁰⁹³ Auch das zunehmende Interesse der westlichen Großmächte an der Wiederbewaffnung der BRD lässt der Beitrag nicht unkommentiert, denn der porträtierte Militarist bemerkt voller Vorfreude, nun sei »es wieder soweit«: In der Luft, zu Wasser und zu Lande, – ohne uns komm’n die andern nicht zu Rande! Noch ist’s ihnen etwas fatal. Doch sie brauchen uns wieder einmal.¹⁰⁹⁴

Zeichnet sich bereits in diesen Versen eine verzerrte Sichtweise des Generals auf die militärische Bedeutung seines Heimatlandes ab, so kommt er wenig später zu einem absurden Resümee über eine vermeintliche Dankbarkeit, zu der die übrigen Staaten den Deutschen verpflichtet seien. Laut Regieanweisung stellt er »stolz«¹⁰⁹⁵ die Fragen in den Raum, ob »die andern […] ohne uns / Weltkrieg Nummer eins begonnen« und »gewonnen« hätten; selbiges wiederholt er für »Weltkrieg Nummer

1090 1091 1092 1093 1094 1095

Ebd. Ebd., S. 226. Ebd. Vgl. dazu auch Kapitel 4.2. EKW II, S. 226. Ebd.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

395

zwei«.¹⁰⁹⁶ Die Verse beinhalten nicht nur die euphemistische Strategie des Militaristen, die Kriegsniederlagen seines eigenen Landes als großzügige Gesten gegenüber seinen Gegnern auszuweisen. In seinem Festhalten an den im Kaiserreich und NS-Staat verbreiteten Lügen, mit denen man den Ausbruch der – realiter von Deutschland initiierten – Angriffskriege rechtfertigte, offenbart sich zudem sein Hang zur Geschichtsfälschung. Nach dieser pointierten Vorführung der Ideologien, die weite Kreise der Gesellschaft nach 1945 weitertrugen, holt Kästner zu einer Attacke gegen die personellen Kontinuitäten im Militärwesen aus: Er lenkt den Blick auf den Bundesgrenzschutz, der im März 1951 unter der Ägide des Innenministers Robert Lehr ins Leben gerufen wurde. Jene erste bewaffnete Körperschaft der Bundesrepublik weist er implizit als ›Auffangbecken‹ für solche ›altgedienten‹ Militaristen wie den von ihm erdachten General aus. Letzterem ist in seiner Kriegsbegeisterung nämlich völlig gleichgültig, welcher Art von politischem System er dient:¹⁰⁹⁷ Unter Hitler hieß es »Wehrmacht«. Unter Doktor Lehr heißt’s »Lehrmacht«. Und ob Wehr – oder Lehr, ist ja völlig sekundär.¹⁰⁹⁸

Die provokante Formulierung wird wenig später noch einmal aufgegriffen, als der General, einen Vers des NS-Liedes Siehst du im Osten das Morgenrot aufgreifend,¹⁰⁹⁹ singt: »Ob nun Wehr, oder Lehr – / Deutschland, ans Gewehr!«¹¹⁰⁰ Bei diesem Appell angelangt erntet er allerdings Widerspruch von unerwarteter Seite: Der im Titel des Kabarettbeitrags benannte unsichtbare Chor ehemaliger Soldaten, der seine vorherigen Ausführungen immer wieder durch kurze, affirmative Reaktionen bestärkt hat,¹¹⁰¹ verweigert sich seinem Befehl mit den Worten 1096 Ebd., S. 226 f. 1097 Die Kritik an einer solchen ›Anpassungsbereitschaft‹ militärischer Größen griff Kästner 1956 im neunten Bild seiner Schule der Diktatoren noch einmal auf. Vgl. Kapitel 4.2.4. 1098 EKW II, S. 227. 1099 Die Strophen des 1931 von Arno Pardun verfassten und Joseph Goebbels gewidmeten Liedes enden jeweils mit dem Vers: »Volk ans Gewehr«. (Zit. n. Kurzkes Kommentar in EKW II, S. 455) Schon zuvor bezieht sich der General auf ein in beiden Weltkriegen gesungenes deutsches Kriegslied, als er festhält: »Hauptsache, daß wir wieder Ordnung kriegen. / Und daß wir wieder gegen England fliegen.« (EKW II, S. 228) Die Textzeile »Denn wir fahren gegen Engeland« findet sich im Refrain des von Hermann Löns erdachten Matrosenliedes Heute wollen wir ein Liedlein singen wieder. Vgl. Kurzkes Kommentar in EKW II, S. 228. 1100 EKW II, S. 228. 1101 Das bei seiner ersten Benennung explizit als »Soldatenchor« ausgewiesene Kollektiv kommentierte vorab etwa die Aussage, dem General sei nach dem Kriegsende keine Wahl geblieben, als

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»Ohne uns, ohne uns / ohne uns, Herr General!«.¹¹⁰² Nachdem der Militarist sich die »unerhört[e]«¹¹⁰³ Störung verbeten hat, zieht er das gesamte Register rhetorischer Praktiken, um die Masse doch noch zu einer erneuten Kriegsbereitschaft hin zu bewegen. Er beruft sich im Querschnitt durch die deutsche Militärgeschichte zunächst auf Friedrich den Großen und den Generaloberst der Waffen-SS Sepp Dietrich, dessen lebenslange Gefängnisstrafe wegen Kriegsverbrechen im Aufführungsjahr des Beitrags auf eine 25-jährige Haft abgemildert worden war.¹¹⁰⁴ Sodann versucht er, die ehemaligen Soldaten bei ihrer Ehre zu packen, indem er fragt, ob sie sich »ungestraft beleidigen«¹¹⁰⁵ lassen würden. Schließlich greift er den politischen Diskurs um die bundesdeutsche Remilitarisierung auf, denn er will von seinen Adressaten wissen, ob »der Mensch« sich, »gesetzt, es bleibt ihm keine Wahl«, »nicht eines Tages verteidigen« müsse.¹¹⁰⁶ Ungeachtet seiner Manipulationsversuche spitzt sich der Widerstand des unsichtbaren Kollektivs zu und wendet sich letzten Endes unmittelbar gegen seine Person – bevor ihm sein Monokel entgleitet und der Vorhang fällt, erteilt es ihm die unmissverständliche Absage: »Ohne SIE, ohne SIE, / ohne SIE, Herr General!«¹¹⁰⁷ Dass Kästner dem Chor, in dessen Haltung sich 1951 der Standpunkt zahlreicher Westdeutscher in Bezug auf die geplante Widerbewaffnung widerspiegelte, gerade die Formulierungen »Ohne uns« respektive »ohne SIE« in den Mund legte, dürfte nicht dem Zufall geschuldet sein, verweisen sie doch unmittelbar auf das Motto der »Ohne mich!«-Bewegung.¹¹⁰⁸ Obschon der Schriftsteller das Ziel, das die Akteure dieser ersten sozialen Bewegung in der Bundesrepublik verfolgten, eindeutig teilte und sich die Anspielung in seinem Kabaretttext als klare Solidaritätsbekundung lesen lässt, beteiligte er sich – nach der aktuellen Quellenlage zu urteilen – weder zum besagten Zeitpunkt noch in den Folgejahren aktiv an ihren öffentlichen Protestaktionen. Generell äußerte er sich nach seinem bereits 1952 einsetzenden

sich auf das Land zurückzuziehen, mit den Worten »Damals noch nicht! / Damals noch nicht, Herr General!« Und auch seine Fragen wie »Hätten sie denn ohne uns / Weltkrieg Nummer zwei begonnen?« / »Hätten sie denn ohne uns / Weltkrieg Nummer zwei gewonnen?« wurden mit einem konsequenten »Nein, Herr General!« beantwortet. Siehe ebd., S. 225 u. 226 f. 1102 Ebd., S. 228. 1103 Ebd. 1104 Im Text heißt es: »›Kerls, wollt ihr denn ewig leben?‹/ brüllte schon der große Friedrich. / Und das meinte noch Sepp Dietrich.« Ebd. 1105 Ebd. 1106 Ebd. 1107 Ebd., S. 228 f. 1108 Vgl. auch Kapitel 4.3.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Rückzug aus der Tätigkeit für Die kleine Freiheit ¹¹⁰⁹ über einige Jahre hinweg seltener als zuvor in politischen Angelegenheiten. Zum Leidwesen jener Feuilletonisten, die den ›kritischen‹ Kästner vermissten,¹¹¹⁰ konzentrierte er sich stattdessen verstärkt auf die (mediale) Vermarktung seiner kinderliterarischen Werke und die Erfüllung seiner repräsentativen Pflichten als PEN-Präsident.¹¹¹¹ Dennoch finden sich einzelne Texte aus dieser Zeit, die belegen, dass sich Kästners ablehnende Einstellung gegenüber der bundesdeutschen Außenpolitik und der in ihrem Rahmen angestrebten und letztlich auch durchgeführten Remilitarisierung keineswegs abschwächte: Man denke etwa an seinen bereits betrachteten [P]olitische[n] Eilbrief, in dem er Adenauer 1954 ein »wildes Anschmiegen an den großen Bruder überm großen Teich«¹¹¹² zum Vorwurf machte, oder an das neunte Bild seiner 1956 publizierten Schule der Diktatoren, in dem er zynisch auf das neue Militär und seine personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit anspielte.¹¹¹³ Besonders offensiv nutzte Kästner außerdem eine Rede, die er kurz nach der Wiederbewaffnung der BRD anlässlich einer Gedenkfeier zum 100. Geburtstag Heinrich Heines hielt, um sich gegen die jüngsten militärpolitischen Entwicklungen auszusprechen.¹¹¹⁴ In seinem Vortrag bemängelte er unter anderem die finanziellen Ausgaben, die der Staat in die Aufstellung der Bundeswehr statt in das Bildungswesen steckte. In diesem Zusammenhang charakterisierte er »das wahnwitzige Missverhältnis zwischen den jeweils asthmatisch mühsam bereitgestellten Summen für neue Schulbauten und den schneidig bewilligten Geldern für die künftigen Kasernen« als »politische Schizophrenie«.¹¹¹⁵ Mit einem überaus provo-

1109 Bereits im zweiten Bestandsjahr des Kabaretts verfasste Kästner nur noch einen neuen Text pro Programm. Vgl. auch Kapitel 3.2.2. 1110 Erwähnt sei in diesen Zusammenhang etwa der schon betrachtete Artikel, in dem Michael Lentz den Schriftsteller angesichts des Erfolgs seiner Kinder- und Unterhaltungsfilme fragte, wo »das Negative« bleibe (Lentz 1954, vgl. auch Kapitel 3.2.3.) oder die Kritik, die Karl Stankiewitz anlässlich der 1957 vollzogenen Uraufführung der Schule der Diktatoren verfasste und in der er mit dem Bild des »heiteren Himmel[s] unbeschwerter Filmerei« (Stankiewitz 1957, vgl. auch Kapitel 4.2.4.) nicht sehr positiv auf Kästners unpolitische Arbeiten der Vorjahre abhob. 1111 Zudem arbeitete Kästner in dieser Zeit an der Fertigstellung seiner Schule der Diktatoren und stellte, vor dem Hintergrund seines Berufsverbotes in der NS-Zeit, mit Hilfe seines Anwalts Christoph Breithaupt einen Antrag auf Wiedergutmachungszahlungen. Vgl. dazu auch Kapitel 4.2.2. 1112 Kästner, Erich: Ein politischer Eilbrief [1954]. In: EKW VI, S. 615 – 617, hier S. 615. Vgl. dazu auch Kapitel 4.2.3. 1113 Vgl. Kästner, Erich: Die Schule der Diktatoren. Eine Komödie [1956]. In: EKW V, S. 459 – 539, hier S. 530. Vgl. dazu auch Kapitel 4.2.4. 1114 Siehe Kästner, Erich: Heinrich Heine und wir [1956]. In: GSE 8, S. 237– 239. 1115 Ebd., S. 238. Mit einer ganz ähnlichen Kontrastierung zwischen den staatlichen Ausgaben für militärische und soziale Zwecke arbeitete Kästner bereits im 1952 verfassten Vorwort seines Auswahlbandes Die kleine Freiheit. Hier rekurrierte er (wie schon in seinem Solo mit unsichtbarem

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kanten Neologismus brachte Kästner im Anschluss daran den Widerspruch zum Ausdruck, den er zwischen der demokratischen Verfassung der Bundesrepublik und dem unabhängig von der Volksmeinung getroffenen Regierungsentscheid für die Wiederbewaffnung sah. So bezeichnete er die von ihm angesprochenen Probleme wörtlich als »Traktandum auf der Tagesordnung unserer ›Demokratur‹«.¹¹¹⁶ Eine vergleichbar harsche Kritik findet sich in Kästners ebenfalls 1956 veröffentlichter Anthologie Eine Auswahl. ¹¹¹⁷ Der Band, der sowohl vor 1933 als auch nach 1945 entstandene Texte des Autors vereint, enthält unter anderem die zuvor betrachteten Beiträge Die Maulwürfe und Solo mit unsichtbarem Chor. Im Vorwort der Sammlung erklärte der Verfasser, seine Auswahl reiche »von Anklagen gegen die Nachlaßverwalter des Ersten bis zu Warnungen vor den Formgestaltern des Dritten Weltkriegs« und »vom Elan eines jungen Menschen, der an die Macht des vernünftigen Wortes glaubte, bis zur Skepsis eines älteren Mannes, dem sein Kinderglaube abhanden kam.«¹¹¹⁸ Als Grund für seine Desillusionierung führte er einmal mehr die politisch-ideologischen Kontinuitäten an, von denen er sich umgeben sah: Man altert nicht von ungefähr. Man rennt nicht ungestraft ein Leben lang mit demselben Kopf gegen dieselben Wände. Immer wieder kommen Staatsmänner mit großen Farbtöpfen des Wegs und erklären, sie seien die neuen Baumeister. Und immer wieder sind es nur Anstreicher.¹¹¹⁹

Chor) auf die Gründung des Bundesgrenzschutzes und bemängelte: »Im laufenden Geschäftsjahr unserer Republik ist für den Kasernenbau zwischen Rhein und Elbe eine Summe vorgesehen worden, mit der statt dessen [sic] vierhundert Wohnungen errichtet werden könnten.« Auch wies er die Errichtung des Bundesgrenzschutzes ebenso wie die »Rückgabe des Kruppschen Vermögens« als Vorzeichen einer erneuten Partizipation der Bundesrepublik an Kriegen aus, denn er konstatierte: »Über den Satz ›Si vis pacem, para bellum!‹ lachen nicht einmal mehr die Lateinschüler, höchstens noch die Hühner. Man baut Flugzeuge und Panzer nicht, um sie eines Tages fabrikneu zu verschrotten.« Kästner, Erich: Nachträgliche Vorbemerkungen [1952]. In: EKW II, S. 190 – 193, hier S. 192. 1116 Ebd., S. 239. Hervorhebung d. Verf. 1117 Der Band wurde 1971 bei Atrium unter dem Titel Wer nicht hören will, muß lesen neu aufgelegt; die hier wiedergegebenen Zitate sind jener Neuausgabe entnommen. Siehe Kästner, Erich: Wer nicht hören will, muß lesen. Eine Auswahl. Zürich 1971. 1118 Ebd., S. 5. 1119 Ebd., S. 6. Die Bezeichnung »Anstreicher« diente Gegnern der NS-Diktatur über lange Zeit als Spottname für Hitler, der ursprünglich Kunstmaler werden wollte. Prominent wurde die Zuschreibung durch Brechts Lied vom Anstreicher Hitler. Siehe auch Brecht, Bertolt: Das Lied vom Anstreicher Hitler. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9: Gedichte 2. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a. M. 1982, S. 441 – 442.

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Verschiedene Biographen und Forscher nahmen diese und ähnliche Aussagen des Schriftstellers zum Anlass, um geltend zu machen, dass Kästner angesichts der politischen Entwicklungen in der jungen Bundesrepublik der Resignation anheimgefallen sei.¹¹²⁰ Übergangen wurde dabei jedoch immer wieder, dass seine persönliche Enttäuschung den Autor keineswegs dazu veranlasste, politisch zu verstummen.¹¹²¹ Im selben Paratext schrieb er etwa, auf sich selbst in der dritten Person Bezug nehmend: Er weiß nun, daß Dummheit unbelehrbar und Bosheit unbekehrbar ist. Das stimmt ihn resigniert. Er weiß aber auch, daß es viele einzelne gibt, denen das zusammengehörige Wort das Herz stärkt und den Rücken steift, weil sie plötzlich spüren, daß sie nicht allein sind. Und deswegen resigniert er nicht.¹¹²²

An diese Stellungnahme anknüpfend brachte Kästner die Hoffnung zum Ausdruck, dass »die in der zweiten Buchhälfte abgedruckten Beiträge« eine solche ›herzstärkende‹ und ›rückensteifende‹ Funktion erfüllen könnten.¹¹²³ Zugleich sah er sie als Antwort an diejenigen, die ihm vorwürfen, sich als Schriftsteller »zu sehr mit den Kindern ab[zugeben]«.¹¹²⁴ Wenngleich sein Vertrauen in die Wirkkraft literarischer Texte in den Folgejahren zusehends fragiler werden sollte,¹¹²⁵ fand Kästner letztlich neue Strategien um seine pazifistischen Standpunkte an die Öffentlichkeit zu bringen: Wie die beiden Folgekapitel aufzeigen, begann er, fast sechzigjährig, die diskursive Macht sozialer Bewegungen für sich zu nutzen.

1120 Vgl. etwa Kordon (1998), S. 278 sowie Leibinger-Kammüller (1988), die die Laufbahn Kästners ab 1945 bereits im Titel ihrer Dissertation mit den Worten Aufbruch und Resignation zusammenfasst. Siehe zu der in diesem Kontext nötigen Differenzierung zwischen dem Privatmann, dem Schriftsteller und dem Intellektuellen Kästner auch den Beitrag der Verfasserin: Pasuch, Nicole: Zwischen Resignation und politischer Intervention. Erich Kästner nach 1945. In: Kästner im Spiegel. Beiträge der Forschung zum 40. Todestag. Hg. von Sebastian Schmideler und Johan Zonneveld. Marburg 2014 (Erich Kästner Studien, Bd. 3), S. 207– 227. 1121 Erst in seinen allerletzten Lebensjahren zog Kästner sich verstärkt aus der Öffentlichkeit zurück. Vgl. dazu auch Kapitel 1. 1122 Kästner (1971), S. 5. 1123 Ebd., S. 6. 1124 Ebd. 1125 Vgl. dazu auch Hanuschek (2003), S. 419.

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4.3.3 Über Zauberlehrlinge und Freidenker ‒ Kästners Partizipation an der Bewegung gegen die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik Als Kästner im Juli 1958 von einem Journalisten gefragt wurde, wie es zu seinem Einsatz in der »Bewegung gegen den Atomtod« gekommen sei, antwortete er, seine »grundsätzliche Einstellung gegen den Militarismus und Krieg«, aus der er »noch nie einen Hehl gemacht« habe, ließe »doch gerade in der Gegenwart keine andere Entscheidung zu.«¹¹²⁶ Mit vergleichbarer Selbstverständlichkeit unterstrich er die Beweggründe für sein Engagement noch Jahre später, indem er betonte, ›mitzumachen‹ sei »keine Frage der Politik, sondern der Menschlichkeit und der Vernunft«¹¹²⁷ gewesen. Durch welche Aktivitäten und Äußerungsformen und mit welchen Weggefährten Kästner in den späten 1950er Jahren versuchte, dieses Werteverständnis zu vermitteln und den öffentlichen Diskurs um die nukleare Bewaffnung zu beeinflussen, wird im Weiteren untersucht. Den ›äußeren‹ Anlass für seine Partizipation an jener ›Etappe‹ der westdeutschen Friedensbewegung lieferte der lang angestrebte und am 25. März 1958 endgültig gefällte Beschluss der Bundestagsmehrheit, die Bundeswehr mit Trägerwaffen zum Transport nuklearer Sprengköpfe auszurüsten.¹¹²⁸ Auf diesen entscheidenden militärpolitischen Wendepunkt reagierte Kästner nicht, indem er sein Missfallen in Form literarischer oder journalistischer Beiträge zum Ausdruck brachte. Schon kurz vor dem offiziellen Entscheid des Bundestags unterschrieb er, neben zahlreichen weiteren Schriftstellern, Wissenschaftlern, Theologen und Oppositionspolitikern, einen Aufruf des von der SPD mitbegründeten Arbeitsausschusses Kampf dem Atomtod, der das »gesamte deutsche Volk ohne Unterschied des Standes, der Konfession oder der Partei« dazu aufforderte, sich der »lebensbedrohenden Rüstungspolitik zu widersetzen«.¹¹²⁹ Im selben Atemzug verlangten die Unterzeichnenden von der Regierung, »den Rüstungswettlauf mit atomaren

1126 Kästner, Erich zit. n. [anonym]: Atomkongreß trotz Verbot. »BZ am Abend« sprach mit Erich Kästner und Hans-Hellmut Kirst. In: BZ am Abend, 3.7.1958. Dass gerade eine DDR-Zeitung zu diesem Zeitpunkt ein solches Interesse an Kästners Engagement und seiner Motivation dazu zeigte, ist, wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels herausgestellt wird, nicht dem Zufall geschuldet. 1127 Kästner, Erich zit. n. Münch, Paul: In die Zange genommen: Erich Kästner. »Ich bin Schulmeister und stehe dazu«. In: Femina (Zürich), 15.12.1967, S. 40 – 42, hier S. 42. 1128 Vgl. dazu Kapitel 4.3. 1129 Arbeitsausschuss »Kampf dem Atomtod«: Kampf dem Atomtod. (Flugblatt) DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich /Archiv. Konvolut: Ordner 13. Zu den Unterzeichnenden gehörten neben Kästner – beispielsweise – Max Born, Gustav Heinemann, Carlo Schmid, Martin Niemöller sowie die Literaten Heinrich Böll, Walter Dirks und Stefan Andres. Nach Zonneveld (2011, Bd. 1, S. 750) ist Kästners Unterschrift auf den 10. März 1958 zu datieren.

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Waffen nicht mitzumachen, sondern als Beitrag zur Entspannung alle Bemühungen um eine atomwaffenfreie Zone in Europa zu unterstützen.«¹¹³⁰ Kästner versah aber nicht nur diese und weitere Resolutionen gegen die atomare Aufrüstung mit seiner Unterschrift:¹¹³¹ Wie schon bei seinem Kampf gegen die Verabschiedung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften¹¹³² trat er erneut in unmittelbaren Kontakt zu seinen Mitbürgern. Allerdings agierte er diesmal, anders als in den frühen 1950er Jahren, nicht in seiner offiziellen Position als PEN-Präsident. Die Ursache dafür lag mutmaßlich in der antikommunistischen Stimmungslage, die neben breiten Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung auch die bundesdeutsche PEN-Sektion durchzog¹¹³³ und die durch den politischen Kurs der CDU/CSU-Regierung gezielt unterfüttert wurde. Nur allzu deutlich hatte Franz Josef Strauß als Verteidigungsminister bereits seit 1957 betont, dass ein Verzicht auf die Atombewaffnung angesichts der Bedrohung durch den ›Ostblock‹ unmöglich sei.¹¹³⁴ Dass Kästner das Gros der ›alten‹ PEN-Garde bei seinem Einsatz gegen die nukleare Rüstungspolitik als Präsident der Sektion nicht hinter sich gehabt hätte, dürfte ihm klar gewesen sein. Statt mit der beziehungsweise im Namen der von ihm vertretenen Schriftstellervereinigung zu agieren, trat er dem am 31. März 1958 von Hans Werner Richter ins Leben gerufenen Münchener Komitee gegen Atomrüstung bei. Bereits bei der ersten öffentlichen Protestkundgebung des Komitees, die am 18. April 1958 im Circus Krone stattfand, hatte Kästner einen großen Auftritt. Der zeitgenössischen Berichterstattung zufolge waren bei diesem Anlass rund 10 000 Personen anwesend; während der Kronebau mit seinen 3000 Plätzen schon eine Stunde vor dem Beginn der zweieinhalbstündigen Veranstaltung überfüllt war, lauschten etwa 7000 Bundesbürger der Kundgebung via Lautsprecherübertragung auf der Straße.¹¹³⁵ Nachdem Hans Werner Richter die Teilnehmer begrüßt und –

1130 Ebd. 1131 Im April 1958 unterzeichnete er etwa einen Aufruf der Aktionsgemeinschaft Bayern – Kampf dem Atomtod und einen Aufruf von Persönlichkeiten des kulturellen Lebens gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Vgl. Zonneveld (2011), Bd. 1, S. 750. 1132 Siehe Kapitel 4.2.3. 1133 Man denke etwa an die clubinternen Proteste gegen die Aufführung Brechts anlässlich der Jahresversammlung des Zentrums der Bundesrepublik im Jahr 1957 oder die allgemeinen, antikommunistisch geprägten Vorbehalte gegenüber den ostdeutschen PEN-Mitgliedern, die die Geschichte der Sektion prägten. Vgl. Kapitel 3.2.5. 1134 Vgl. Wolfrum (2007), S. 139; vgl. auch Kapitel 4.3. 1135 Vgl. [anonym]: »Weder Atomrüstung noch Kommunismus!« Münchner Komitee gegen Atomrüstung startet mit eindrucksvoller Großkundgebung – Erich Kästner: Es hängt mir zum Hals heraus… In: Welt der Arbeit, 25.4.1958 sowie [anonym]: Tausendfacher Protest gegen die Atomrüs-

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den transnationalen Charakter der Bewegung unterstreichend – Solidaritätsadressen ausländischer Prominenter wie Bertrand Russell, John B. Priestley, JeanPaul Sartre, Jean Vilar, Max Frisch und Roberto Rossellini verlesen hatte,¹¹³⁶ sprachen sich verschiedene westdeutsche Personen des öffentlichen Lebens gegen die geplante Partizipation der Bundeswehr an der atomaren Bewaffnung aus. Unter ihnen waren unter anderem der bayerische SPD-Landesvorsitzende Waldemar von Knoeringen, die FDP-Landtagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher, der Landesvorsitzende des DGB Bayern Ludwig Rinsert sowie der Physikprofessor der Technischen Hochschule München Georg Joos.¹¹³⁷ Und auch Kästner betrat – laut Süddeutsche[r] Zeitung unter »tosende[m] Beifall«¹¹³⁸ – das Rednerpult, vor dem ein Plakat angebracht war, das einen über dem Deutschen Bundestag aufsteigenden Atompilz zeigte. Die Aufschrift, mit der es versehen war, parodierte offenkundig den jüngsten Wahlkampfslogan der CDU, die mit dem Ausruf »Keine Experimente!« im Vorjahr erfolgreich für den Erhalt der Unionsregierung geworben hatte. Das Komitee gegen Atomrüstung postulierte indes: »Keine Experimente – Keine Atomrüstung!«¹¹³⁹ Betrachtet man das erhaltene Typoskript der Ansprache, die Kästner an jenem Abend im Kronebau hielt,¹¹⁴⁰ dann fällt unmittelbar ins Auge, wie dezidiert sich der Schriftsteller darin in der Rolle des ›allgemeinen‹ Intellektuellen verortet: Direkt zu Beginn grenzt er seine Aussagen explizit von denen eines ›Experten‹, der sich innerhalb seiner Profession zu Wort meldet, ab, indem er konstatiert: »Ich bin ein Schriftsteller und verstehe nichts von Kernphysik.«¹¹⁴¹ Dass seine nachfolgenden Stellungnahmen zur Frage der atomaren Bewaffnung Gültigkeit haben, obwohl sie – im Sinne Lepsius’ – aus einer ›formal inkompetenten‹ Position heraus geäußert werden,¹¹⁴² untermauert er implizit durch einen Verweis auf seine bereits in den späten 1940er Jahren lancierten Warnungen vor der Atomforschung: Eine Formu-

tung. Massenansturm bei der Kundgebung im Circus Krone / Marsch durch die nächtlichen Straßen. In: Süddeutsche Zeitung, 21.4.1958. 1136 Vgl. ebd. 1137 Neben den Genannten ergriffen zudem der Direktor des Instituts für Publizistik an der Universität Münster Walter Hagemann, der Mediziner Karl-Heinz Stauder und die Sprecherin des sozialistischen Studentenbundes Erika Runge das Wort. Vgl. ebd. 1138 Ebd. 1139 Siehe die ebd. abgedruckte Pressefotografie. 1140 Da die Rede in bundesdeutschen Tageszeitungen stets nur in Teilen abgedruckt wurde, orientiert sich die folgende Analyse an dem im Nachlass des Autors erhaltenen Original-Typoskript der Ansprache: Kästner, Erich: o.T., n. dat. [April 1958]. Typoskript. DLA Marbach/Nachlass Kästner. A: Kästner, Erich / Archiv. Konvolut: Ordner 13. HS.1998.0003. Im Folgenden zitiert als Kästner (1958a). 1141 Ebd. 1142 Vgl. auch die Ausführungen zum ›allgemeinen‹ Intellektuellen in Kapitel 2.1.

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lierung aus der Konferenz der Tiere aufgreifend, hält er fest, dass er bereits von »Mordwissenschaften« gesprochen habe, »als die meisten Forscher noch an die sittliche Unverbindlichkeit ihrer Versuche und Ergebnisse glaubten«.¹¹⁴³ Den seit dieser Zeit eingetretenen Gesinnungswandel der Nuklearwissenschaftler verbildlicht Kästner im Anschluss daran – wie so oft – mit einer literarischen Reminiszenz: »[D]ie modernen Hexenmeister« hätten inzwischen »eingesehen, daß sie ihre Geheimnisse den politischen und militärischen Zauberlehrlingen nicht hätten preisgeben dürfen.«¹¹⁴⁴ Der Rückgriff auf Goethes berühmte Ballade ist nicht dem Zufall geschuldet: Indem er die Rolle des Zauberlehrlings, der die »Geister« in Abwesenheit seines Herrn »[a]uch nach [s]einem Willen leben« lassen will und sie letztlich nicht mehr unter Kontrolle bekommt,¹¹⁴⁵ auf die Regierenden und Militärs überträgt, lastet Kästner diesen Personengruppen immerhin eine überaus folgenträchtige Selbstüberschätzung im Umgang mit den Entwicklungen der Atomforscher an. Davor, dass letztere mittlerweile »überall […] ihre warnende Stimme [gegen den Einsatz der Kernwaffen, Anm. d. Verf.] erheben«, »verneigt« er sich hingegen rhetorisch.¹¹⁴⁶ Sein eigenes frühes Gespür für Gefahren, das ihn, seiner Argumentationslogik folgend, dazu berechtigt, sich trotz seiner mangelnden Fachkompetenz zur atomaren Aufrüstung zu äußern,¹¹⁴⁷ macht Kästner im weiteren Verlauf seiner Ansprache auch für die politische Sphäre im Allgemeinen geltend. Seine Einstiegsformel aufnehmend hebt er hervor: »Ich bin ein Schriftsteller und verstehe nichts von Politik. Gleichwohl habe ich, sooft ich mich im Laufe von dreißig Jahren politisch äußern konnte, nahezu immer rechtbehalten. Man prüfe meine Schriften!«¹¹⁴⁸ Diese selbstüberzeugte Behauptung lebte zweifellos von dem öffentlichen Bild, das 1143 Ebd. Eine implizite Gleichsetzung von Atom- und »Mordwissenschaften« findet sich in dem am Ende der Erzählung in Kraft tretenden Vertrag wieder, dessen zweiter Paragraph verankert, dass Forschung und Technik künftig »ausschließlich im Dienst des Friedens stehen« sollen. Kästner, Erich: Die Konferenz der Tiere. Ein Buch für Kinder und Kenner nach einer Idee von Jella Lepman [1949]. In: EKW VIII, S. 255 – 316, hier S. 314. Vgl. auch Kapitel 4.3.1. 1144 Kästner (1958a). 1145 Siehe Goethe, Johann Wolfgang: Der Zauberlehrling. In: ders.: Gedichte. Hg. und kommentiert von Erich Trunz. Jubiläumsausgabe. München 2007, S. 276 – 279, hier S. 276. 1146 Kästner (1958a). Wie die ›Göttinger Achtzehn‹ in der Bundesrepublik (vgl. Kapitel 4.3), sprachen sich in der Tat auch im Rahmen der internationalen Protestwellen zahlreiche prominente Forscher (wie etwa Bertrand Russell, Albert Einstein, Leopold Infeld und Józef Rotblat) gegen die atomare Bewaffnung aus. 1147 Mit seiner Betonung, schon früher als andere vor der Gefahr der Atomforschung gewarnt zu haben, folgt der Autor nicht von ungefähr einer typischen normativen Zuschreibung an Intellektuelle – man denke in diesem Zusammenhang etwa an den »avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen«, den Habermas (2008, S. 77) ihnen zuschreibt. Vgl. auch Kapitel 2.1. 1148 Kästner (1958a).

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Kästner nach 1945 sorgfältig von sich kreiert hatte: Ohne dass er sich näher erklärte, dürften die Besucher der Kundgebung bei dieser Aussage sowohl an sein Publikationsverbot in der NS-Zeit (ergo an die Jahre, in denen er sich nicht ›politisch äußern konnte‹) als auch an seine frühen Warnungen vor den Nationalsozialisten zu Beginn der 1930er oder vor der Wiederbewaffnung zu Beginn der 1950er Jahre gedacht haben. Ebenso wirkmächtig wie das Spiel mit der Rolle des Intellektuellen als ›Propheten‹, das Kästner in seiner Ansprache betreibt, ist seine Selbstplatzierung innerhalb des intellektuellen Kollektivs, die er im Anschluss daran vollzieht. So hält er fest, dass ihm »und allen anderen der Humanität und Freiheit dienenden Schriftstellern […] das Rechtbehalten zum Halse heraus«¹¹⁴⁹ hänge. Den ultimativen Charakter des gemeinsamen Protests unterstreicht er hiernach im Hinblick auf den schlimmstmöglichen Ausgang der aktuellen Problemlage: »Nun warnen wir wieder, und wenn man diesmal nicht auf uns hört, war diesmal das letzte Mal.«¹¹⁵⁰ Nach diesem nicht zuletzt selbstinszenatorischen ›Vorlauf‹ lenkt Kästner die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die nukleare Rüstungspolitik als solche, indem er zunächst – nun ausgewiesenermaßen in seiner eigenen Profession agierend – Auszüge aus seiner knapp sieben Jahre zuvor verfassten Kantate »De minoribus« verliest. Den Umstand, dass in dieser Atomkriegs-Dystopie lediglich die Erwachsenen den Tod finden,¹¹⁵¹ entschuldigt er als »poetische Lizenz«, die sich außerhalb der Fiktion nicht verwirklichen werde: »Die Kinder«, prognostiziert er sarkastisch, »werden nicht von ihren Eltern getrennt werden. Sie werden ihr Schicksal teilen dürfen.«¹¹⁵² Nach einem kurzen Verweis auf die seiner Ansicht nach ebenso berechtigten wie verspäteten Schuldgefühle jener amerikanischen Piloten, die die Atombombe über Hiroshima abwarfen und so zu »Massenmördern«¹¹⁵³ wurden, legt er den Fokus schließlich auf die militärpolitischen Entwicklungen der vorangegangenen Monate, die er als »absurd«¹¹⁵⁴ ausweist. Eine Krankheitsmetaphorik für die nukleare Aufrüstung bemühend, spricht er über das »wilde Fieber«, das Westeuropa »gepackt« habe.¹¹⁵⁵ Dass von England, Frankreich und der Bundesre-

1149 Ebd. 1150 Ebd. 1151 Vgl. auch die Analyse des Textes in Kapitel 4.3.2. 1152 Kästner (1958a). 1153 Ebd. Kästner unterstreicht in diesem Kontext, dass die Menschheit ›nichts davon habe‹, dass einer der Piloten nach seiner Ausführung des Befehls ins Kloster gegangen sei und ein anderer sich umgebracht habe, um danach zynisch zu ergänzen, dass die Genannten dies, »[w]enn überhaupt, […] besser […] vorher« (ebd.) getan hätten. 1154 Ebd. 1155 Ebd.

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publik eine atomare Bewaffnung angestrebt wird, markiert er angesichts des Versagens, das er den besagten Staaten in anderen politischen Belangen attestiert, als gleichsam größenwahnsinnig. In Anspielung auf die Suezkrise, den Algerienkrieg und die von ihm schon seit Jahren bemängelte westdeutsche Innenpolitik¹¹⁵⁶ moniert er: Man hat zwar durch die Suezpolitik die antiwestliche Arabische Union provoziert, man ist dabei, Algerien und Tunesien ins andere Lager zu treiben, man hat, bei uns daheim, nicht einmal ein praktikables Ladenschlußgesetz zustande gebracht, – aber Atomgroßmacht werden, das können sie alle!¹¹⁵⁷

Seine Befürchtung, dass der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion in Form eines Stellvertreterkrieges auf dem europäischen Kontinent eskalieren könne, malt Kästner in diesem Zusammenhang mit dem Hinweis darauf aus, dass angesichts der westeuropäischen Atombewaffnung eine »ostdeutsche, tschechoslowakische, ungarische und polnische Atombewaffnung […] noch viel näher« liege – man sei dabei, »aus Europa ein Atom-Korea zu machen!«¹¹⁵⁸ Bei seinen Kritikpunkten an der internationalen Rüstungspolitik belässt es Kästner allerdings nicht: Seine ungleich schärferen Angriffe gelten der Bonner Regierung. Dass ein norddeutscher Rosenzüchter seine jüngste florale Kreation kurz zuvor »Atombombe« getauft habe, bringt er ebenso unmittelbar wie höhnisch mit der Beeinflussung des Volkes durch den amtierenden Verteidigungsminister in Zusammenhang, der sich zuvor wiederholt für die Stationierung taktischer Nuklearwaffen in der BRD ausgesprochen hatte: »Der Gedankensprung von der […] Rose zum ›Strauß‹ ist nicht sehr groß.«¹¹⁵⁹ Generell wirft Kästner der Bundesregierung vor, von der Bevölkerung zu erwarten, dem »koordinierten, systematischen Untergang«, dem ihr militärpolitischer Beschluss seiner Ansicht nach Vorschub leistete, »zu[zu]sehen, ohne zu mucksen«.¹¹⁶⁰ Massiv sind insbesondere die Vorwürfe, die er den Unionspolitikern im Hinblick auf ihre Ablehnung der von der SPD angeregten Volksbefragung zur atomaren Bewaffnung¹¹⁶¹ macht: Er legt den Regierenden nichts Geringeres zur Last, als mit ihrem Veto »den von der Mehrheit der Wähler im guten Glauben ausgestellten Blankoscheck missbraucht« und die »De1156 Man denke etwa an Kästners [P]olitische[n] Eilbrief, in dem er der Bundesregierung bereits 1954 vorwarf, innenpolitische Missstände durch außenpolitische Slogans zu kaschieren. Vgl. Kapitel 4.2.3. 1157 Kästner (1958a). 1158 Ebd. 1159 Ebd. 1160 Ebd. 1161 Vgl. dazu Kapitel 4.3.

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mokratie untergraben« zu haben.¹¹⁶² Eine Meinungsumfrage durch EMNID habe »ja bereits ergeben, daß mehr als 80 % der Bevölkerung […] die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen ablehnen«.¹¹⁶³ Dieses Resultat nicht anzuerkennen und Volksbegehren und -entscheide als »verfassungswidrige Formen der Volksbefragung«¹¹⁶⁴ abzulehnen, widersprach offenbar grundlegend Kästners Demokratieverständnis, das ein stärkeres Mitspracherecht der Bevölkerung in politischen Fragen einschloss.¹¹⁶⁵ So stellt seine Ansprache die Frage in den Raum, ob die Majorität der Abgeordneten vor ihrem Beschluss gewusst habe, wie die Bevölkerung darüber denke: »Wenn Sie es nicht gewußt haben, waren sie«, wie Kästner lakonisch folgert, »gelinde gesagt, keine Politiker. Wenn sie es aber gewußt haben, dann waren sie, noch gelinder gesagt, keine Demokraten.«¹¹⁶⁶ Am Ende seiner Rede, die Hanuschek nicht zu Unrecht als Kästners wohl »wuchtigste[n] und substantiellste[n] Beitrag zur politischen Diskussion in der Bundesrepublik«¹¹⁶⁷ einordnet, holt der Schriftsteller schließlich mit einem weiteren literarischen Selbstzitat zu einer finalen Attacke auf die Unionsparteien aus. Um den »Patentchristen im Bundestag bei ihrer Gewissenforschung weiter[zu]helfen«,¹¹⁶⁸ trägt er das (seiner Angabe zufolge bereits 1956 verfasste) Epigramm Neues vom Tage vor. Im zeitlichen Kontext des Jahres 1958 verlesen, kommt der Vierzeiler einem höchst provokanten Vorwurf an die CDU/CSU gleich, sich mit ihrem militärpolitischen Vorgehen so weit von den in ihren Namen geführten christlichen Werten entfernt zu haben, dass sich selbst der ›Schöpfer‹ zur Distanzierung gezwungen sehen müsse. Die Verse lauten: Da hilft kein Zorn, da hilft kein Spott! Da hilft kein Fluchen und kein Beten! Die Nachricht stimmt: der Liebe Gott ist aus der Kirche ausgetreten!¹¹⁶⁹

1162 Kästner (1958a). 1163 Ebd. Konkret ergab die im Februar 1958 durchgeführte Erhebung durch EMNID, auf die Kästner hier rekurriert, dass 83 % der Bundesbürger die atomare Bewaffnung auf deutschem Boden ablehnten. Vgl. dazu auch Latsch, Gunther: Lieber tot als Soldat (Spiegel Special 1/2006) https://maga zin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/45964831 [letzter Zugriff: 12. 8. 2017]. 1164 Kästner (1958a). 1165 Diese Haltung verdeutlichte er bereits bei seinen Stellungnahmen gegen die (unabhängig von der Volksmeinung beschlossene) Wiederbewaffnung Westdeutschlands – man denke etwa an den von ihm eingeführten Neologismus der »Demokratur«. Siehe Kapitel 4.3.2. 1166 Kästner (1958a). 1167 Hanuschek (2003), S. 401. 1168 Kästner (1958a). 1169 Ebd.

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Diesem Schlusspunkt der Ansprache des Schriftstellers folgten, laut Berichterstattung der Norddeutschen Zeitung, nicht allein »lang anhaltender Beifall«, sondern auch Zurufe aus dem Publikum – man forderte: »Kästner ins Parlament!«¹¹⁷⁰ Nur wenige Wochen nach seinem Auftritt bei der der Großkundgebung des Komitees gegen Atomrüstung, die mit einem Schweigemarsch zum Platz der Opfer des Nationalsozialismus endete, griff Kästner jene Vorwürfe, die er der Bonner Regierung hinsichtlich ihrer Ablehnung einer Volksbefragung gemacht hatte, noch einmal auf. Am 20. Mai 1958 sprach er vor der Münchner Universität zu rund 2000 gegen die atomare Bewaffnung demonstrierenden Studierenden.¹¹⁷¹ Bei der Untersuchung der Rede sticht zunächst ein narrativer Kunstgriff hervor, denn der Autor trägt seine politische Haltung nicht in der Ich-Perspektive an seine Adressaten heran. Stattdessen richtet er ihnen Grüße eines »sehr alten Bekannten« aus, der sich jüngst in Westdeutschland »umgetan und umgesehen« und ihm seine Erlebnisse und Eindrücke geschildert habe:¹¹⁷² Sokrates. Nicht von ungefähr vermittelt Kästner seine Kritik an der Bundesregierung ausgerechnet aus der Warte jenes antiken Denkers, dem schon zu Lebzeiten nachgesagt wurde, »ein äußerst merkwürdiger Mensch« zu sein, der »die anderen durcheinander[brächte]«.¹¹⁷³ Sein ›Störungspotential‹ ging sogar so weit, dass er im Jahr 399 v. Chr. wegen Atheismus und Verführung der Jugend Athens zum Tod durch den Giftbecher verurteilt wurde.¹¹⁷⁴ Der Beginn der Kästner’schen Ansprache bezieht sich allerdings (noch) nicht auf den provokativen Charakter der historischen Persönlichkeit. Vielmehr stellt Kästner fest, man dürfe sich über Sokrates’ Reise in die Bundesrepublik »nicht weiter wundern« – schließlich sei er, »unter anderem, der Begründer und klassische Meister jener Disziplin, die man heute ›Meinungsforschung‹ nennt«.¹¹⁷⁵ Der einführende Verweis leistet zweierlei: Zum einen hebt er auf die durch Platon überlieferte Vorgehensweise des Philosophen ab, die Wahrheit durch geschicktes Fragen gemeinsam mit seinen jeweiligen Gesprächspartnern zu

1170 [anonym]: Erich Kästner warnt vor Atomtod. In: Norddeutsche Zeitung, 1.5.1958. 1171 An jenem Tag hatten auch in anderen westdeutschen Universitätsstädten tausende von Studierenden gegen die Atombewaffnung demonstriert. Vgl. dazu auch wfm: Unnötige Dissonanz. In: Die Welt, 22. 5.1958. 1172 Kästner, Erich: An die Studenten! Rede von Erich Kästner gehalten am 20. Mai vor der Münchner Universität. In: Die Kultur, 1.6.1958, S. 1. Im Folgenden zitiert als Kästner (1958b). 1173 Platon: Theätet. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Ekkehard Martens. Stuttgart 2003, S. 27. 1174 Vgl. etwa Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und Östliches Denken. 3. Auflage. München 1999, S. 21. 1175 Kästner (1958b).

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suchen.¹¹⁷⁶ Zum anderen lenkt er die Aufmerksamkeit auf die kontrovers diskutierte Volksbefragung zur atomaren Aufrüstung, die im weiteren Verlauf der Rede explizit zur Sprache kommt. Wie Sokrates Kästner erzählt habe, sei er »gerade aus Bonn« gekommen und habe »den Herren« dort »einige Fragen gestellt«.¹¹⁷⁷ Die nachfolgende Schilderung des fiktiven Dialogs zwischen dem Philosophen und den Politikern – die einer satirisch anmutenden Anwendung der sokratischen Methode auf die dritte Bundesregierung unter Adenauer gleicht – setzt bei ebenjener Frage an, die Kästner bereits bei seinem Vortrag im Circus Krone in den Raum gestellt hatte. So versucht ›sein‹ Sokrates zunächst herauszufinden, ob seine Gesprächspartner, als sie die atomare Ausrüstung der Bundeswehr durchsetzten, gewusst hätten, dass »die Mehrheit der Bevölkerung strikt dagegen«¹¹⁷⁸ sei. In diesem Zuge legt Kästners dem Denker sein eigenes, bereits vier Wochen zuvor gefälltes Urteil über die Unionspolitiker in den Mund, gestaltet es nun aber der sokratischen Rhetorik entsprechend aus: Sollten Sie es nicht gewusst haben, könnte man meinen, Sie seien keine besonders fähigen Politiker. Ich weigere mich, das zu glauben. Sollten Sie es aber gewusst haben, ließe sich fast vermuten, Sie seien keine sonderlich überzeugten Demokraten. Und das zu glauben, weigere ich mich erst recht. Helft mir, indem Ihr antwortet!¹¹⁷⁹

Nach kurzem Zögern der Regierenden wird Sokrates auf seine Aufforderung hin mitgeteilt, »[a]uch eine demokratische Regierung« müsse »notfalls den Schneid aufbringen, unpopulär zu handeln.«¹¹⁸⁰ Der Umstand, dass diese Aussage vom »jüngste[n] Minister« in der Runde getroffen wird, kann in Anbetracht der Geburtsjahre der Mitglieder des zum Zeitpunkt der Ansprache regierenden AdenauerKabinetts als erneuter Kästner’scher Seitenhieb auf Franz Josef Strauß gedeutet werden.¹¹⁸¹ Infolgedessen entbehrt auch die Antwort, die der Schriftsteller ›seinen‹

1176 Vgl. dazu auch Helferich (1999), S. 22. 1177 Kästner (1958b). 1178 Ebd. 1179 Ebd. 1180 Ebd. 1181 Knapp ein Jahr jünger als der 1916 geborene Verteidigungsminister war innerhalb der vom 29. Oktober 1957 bis zum 17. Oktober 1961 amtierende deutsche Bundesregierung lediglich der damalige Minister für das Post- und Fernmeldewesen Richard Stücklen. Die von Kästner angesprochene Haltung lässt sich jedoch eindeutig den Positionierungen von Strauß zuweisen, der während der Bundestagssitzung am 25. März 1958 angesichts der von der Opposition angestrebten Volksbefragung dezidiert auf die Grenzen der Volkssouveränität hingewiesen hatte. Vgl. dazu das Protokoll zur 21. Sitzung des Deutschen Bundestags in Bonn am 25. März 1958. https://dip21.bundestag.de/ dip21/btp/03/03021.pdf [letzter Zugriff: 31. 3. 2017].

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Sokrates geben lässt, keiner polemischen Spitze an den amtierenden Verteidigungsminister: Noch bevor der Philosoph den Politiker wohlmeinend darauf hinweist, dass dieser »Mut mit Übermut« und »die Demokratie mit der Oligarchie« verwechsle,¹¹⁸² spricht er ihn mit dem Namen »Alkibiades« an – und setzt ihn so mit jenem umstrittenen athenischen Feldherrn gleich, dessen nicht sehr weit gediehene Selbsterkenntnis der historische Sokrates, dem gleichnamigen Dialog Platons zufolge,¹¹⁸³ schon früh kritisiert haben soll. Die sich angesichts dieses Wortwechsels aufdrängende Schlussfolgerung, dass die Regierung der öffentlichen Meinung »wissentlich zuwidergehandelt«¹¹⁸⁴ habe, wird von den übrigen Politikern in der Runde allerdings sogleich dementiert: Sie behaupten, nichts von der öffentlichen Ablehnung der atomaren Bewaffnung gewusst zu haben. Das Volk zu befragen und den »Fehler [zu] korrigieren«, sei ihnen jedoch nicht möglich, da sie »der Verfassung Treue schuldig« seien.¹¹⁸⁵ Die auf diese Weise zum Ausdruck gebrachte Kritik an der Ignoranz, mit der die Regierung der Bevölkerungsmeinung begegnet, bestimmt auch den weiteren Verlauf des Dialogs, der vorführt, wie selbst die berühmte sokratische ›Hebammenkunst‹¹¹⁸⁶ an den Politikern scheitert: Die – dem Geist der athenischen Demokratie entsprechende¹¹⁸⁷ – Grundsatzfrage des Philosophen, was »Paragraphentreue [wäre], die dem Volk die Treue bräche«,¹¹⁸⁸ wird von den Ministern ebenso wenig beachtet wie seine anschließende Aufforderung, die Volksmeinung zu erfragen, da dies in ihrer Verfassung nicht verboten sei. Stattdessen beharren die Regierenden – ebenso wie ihre ›realen‹ Vorbilder im Jahr 1958 – darauf, dass die angestrebte Befragung im Grundgesetz »nicht ausdrücklich erlaubt« sei, was »den Streitfall« entscheide.¹¹⁸⁹ Anders als der historische Sokrates, der den Überlieferungen zufolge

1182 Kästner (1958b). 1183 Platon: Alkibiades I/II. In: ders.: Sämtliche Dialoge. Bd. 3. Hg. von Otto Apelt. Hamburg 2004. 1184 Kästner (1958b). 1185 Ebd. 1186 So lautet die Bezeichnung, die der antike Denker seiner ›Methode‹ den Schriften Platons zufolge zukommen ließ. Vgl. etwa Platon (2003), S. 31. 1187 Zwischen 508 und 322 v.Chr. herrschte in Athen eine direkte Demokratie, in der die Bürger die volle Gesetzgebungs-, Regierungs-, Kontroll- und Gerichtsgewalt ausübten. Erwähnenswert ist, dass der historische Sokrates dieser Volksherrschaft, anders als sein fiktives Pendant in Kästners Rede, keineswegs positiv gegenüberstand, da er es ablehnte, dass zentrale politische Entscheidungen in die Hände von Bürgern gelegt wurden. Vgl. dazu auch Vorländer, Hans: Grundzüge der athenischen Demokratie (Bundeszentrale für politische Bildung, 4. 5. 2017). https://www.bpb.de/izpb/248544/grund zuege-der-athenischen-demokratie?p=0 [letzter Zugriff: 31. 5. 2017]. 1188 Kästner (1958b). 1189 Ebd.

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nicht behauptet haben soll, letztgültige Antworten und Wahrheiten zu kennen,¹¹⁹⁰ scheut der Denker in Kästners Rede angesichts dieser Aussage keineswegs vor eindeutigen Postulaten zurück. Er bringt seine Ansicht zur Relevanz der Volksbefragung vielmehr entschlossen auf den Punkt, indem er den Herrschenden gegenüber konstatiert, in einer Verfassung könne, bei aller Weisheit derer, die sie verfassten, nicht alles berücksichtigt sein. Deshalb muss der Satz gelten: Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt. Und schon gar und erst recht bei Eurer Frage, die um Leben und Tod geht. Wenn Ihr stattdessen erklären und von Euern Richtern behaupten lassen wolltet, daß alles, was nicht ausdrücklich erlaubt wurde, verboten sei, dann nennt Euren Staat nicht länger eine Republik!¹¹⁹¹

Erneut kommt in dieser scharfen Beanstandung des Agierens der Bonner Regierung Kästners von der politischen Linie der Unionsparteien abweichendes Demokratieverständnis zum Ausdruck. Signifikant ist in diesem Zusammenhang zudem der Vorbehalt gegenüber der Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts, der sich manifestiert, wenn Sokrates gegenüber den Ministern von »Euren Richtern«¹¹⁹² spricht. Das Ende der Kästner’schen Rede rekurriert schließlich explizit auf die bis dahin noch nicht zur Sprache gebrachte sokratische Rolle als ›Störungsfaktor‹ im Sinne Schumpeters.¹¹⁹³ So berichtet der Schriftsteller seinen Zuhörern, ihr »gemeinsame[r] alte[r] Bekannte[r]«, dessen Grüße er ausgerichtet habe, sei bei der Verabschiedung darauf zu sprechen gekommen, dass er »die Jugend und die Zukunft [liebe]« und deswegen »als ›Freidenker, also als freier Denker und als Verführer der Jugend‹ zum Tode verurteilt« worden sei.¹¹⁹⁴ Mit seiner finalen Entgegnung – »Ein Glück für die Nachwelt und die Jugend […], daß Sie unsterblich sind!« – ehrt Kästner keineswegs allein den historischen Sokrates: Angesichts seiner eigenen intervenierenden Rolle zollt er zugleich dem zeitüberdauernden Stellenwert des kritischen Eingreifens und Hinterfragens als solchem seinen Tribut. Mit den anwesenden Demonstrierenden, die er zu Beginn seines Vortrags vertraulich als »Kommilitoninnen und Kommilitonen«¹¹⁹⁵ angesprochen hatte, sollte

1190 Seine »Weisheit« lag, wie sich mit Helferich (2003, S. 22) rekapitulieren lässt, gerade in der berühmten Sentenz »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« 1191 Kästner (1958b). 1192 Ebd., Hervorhebung d. Verf. 1193 Vgl. zur Charakterisierung des Intellektuellen als ›Störungsfaktor‹ Kapitel 2.1. 1194 Ebd. 1195 Kästner (1958b).

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Kästner sich nur wenige Wochen später noch auf eine gänzlich andere Art ›verbünden‹: Um die jüngsten politischen Entwicklungen zu kritisieren und an das Verantwortungsgefühl ihrer Mitbürger zu appellieren, hielt ein Teil der Studierenden vom 24. bis 26. Juni 1958 eine Mahnwache vor dem Münchner Universitätsbrunnen.¹¹⁹⁶ Am dritten Abend nahm Kästner an der friedlichen Protestveranstaltung teil. Eine Fotografie, die danach durch die gesamte west- wie ostdeutsche Presse ging, zeigt den fast Sechzigjährigen neben einer Studentin vor einem großen Transparent mit der Aufschrift: »Studenten stehen drei Tage lang Tag und Nacht gegen Atomrüstung«.¹¹⁹⁷ Doch nicht nur diese symbolische Positionierung wider den ›Atomtod‹ wurde in den Medien hervorgehoben. Schon vorab hatten verschiedene Presseorgane der BRD und DDR Auszüge und Zitate aus Kästners Ansprachen gegen die nukleare Bewaffnung abgedruckt und über die Kundgebungen, an denen er teilnahm, berichtet.¹¹⁹⁸ Bei der vergleichenden Betrachtung der Artikel wird erkennbar, wie gezielt die ostdeutschen Blätter die Interventionen des Schriftstellers in die bundesrepublikanische Politik für ihre Propagandazwecke nutzten. Beispielsweise vermerkte die Ost-Berliner National-Zeitung, dass Kästner zu jenen Literaten im Westen gehöre, die sich »zur Ehre der deutschen Literatur« gegen die atomare Aufrüstung zur Wehr setzen würden, und man »[m]it Genugtuung« erfahren habe, dass er an der »Bewegung gegen den Atomtod« teilhabe.¹¹⁹⁹ Und auch das Neue Deutschland betonte – ungeachtet der Tatsache, dass der Autor die Rüstungspolitik beider ›Blöcke‹ verurteilte – wie sehr er seinen Mitbürgern mit seiner Kritik an der Bundesregierung »aus dem Herzen gesprochen«¹²⁰⁰ habe. Dass Kästner realiter mitnichten im Namen des gesamten westdeutschen Volkes ›gegen Bonn kämpfte‹,¹²⁰¹ wie die DDR-Presse es ihren Lesern suggerierte, wird spätestens bei der Analyse des bundesrepublikanischen Pressespiegels deutlich. Wie kontrovers die Reaktionen auf die Protestbewegung im Allgemeinen und

1196 Vgl. [anonym]: Mahnwache in München. In: Wochenzeitung. Stimme des Friedens, 1.7.1958.Vgl. dazu auch [anonym]: Wache. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 28.6.1958. 1197 Vgl. etwa ebd. 1198 Siehe etwa Kästner, Erich: Neues vom Tage. In: Die Kultur, 1.5.1958; Kästner, Erich: Ich spreche als Schriftsteller. In: Der Sozialdemokrat. Monatsheft für Politik, Wirtschaft und Kultur 6 (1958), S. 21; [anonym]: Erich Kästner warnt vor Atomtod. In: Norddeutsche Zeitung, 1.5.1958; [anonym]: Bonns Argumente spotten der Beschreibung. In: Sächsisches Tageblatt, 1.5.1958 sowie [anonym]: »Es gibt nicht einmal Kinderinseln«: Erich Kästner: Bonner Witze als Antwort auf Lebensfragen lehne ich ab. In: National-Zeitung (Berlin-Ost), 1.5.1958. 1199 r.e.: Gegenwart und Literatur. In: National-Zeitung (Berlin-Ost), 18.5.1958. 1200 [anonym]: Westdeutschland kämpft um Freiheit der Entscheidung gegen Atomtod. In: Neues Deutschland (Berlin-Ost), 28.4.1958. 1201 Vgl. [anonym]: Das Volk kämpft gegen Bonn. In: Sächsische Zeitung, 25.4.1958.

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Kästners Engagement im Besonderen im Westen ausfielen, kann kaum genug unterstrichen werden. Während etwa die Welt der Arbeit als Wochenzeitung des Gewerkschaftsbundes¹²⁰² betont positiv über die »eindrucksvoll[e] Großkundgebung«¹²⁰³ im Circus Krone berichtete und Friedrich Rasche den Schriftsteller und die übrigen an den Protesten beteiligten Kulturschaffenden in der Nordwestdeutsche[n] Rundschau entschieden dafür lobte, »ehrlich […] für das [einzustehen], was ihr Gewissen als Wahrheit erkannt«¹²⁰⁴ habe, reagierten konservative Presseorgane überaus kritisch bis polemisch. Zum Beispiel hielt Emil Franzel Kästner und seinen Mitstreitern, die er in der Deutsche[n] Tagespost in summa als »früher[e] HitlerGegne[r]« bezeichnete, vor, nunmehr gegen die aktuelle Aufrüstung zu kämpfen, obwohl sie in der NS-Zeit noch von der Aufrüstung Englands, Frankreichs und der USA begeistert gewesen seien.¹²⁰⁵ Das Echo der Zeit bemängelte indes das »blasphemische« Kästner’sche Gedicht »vom Austritt Gottes aus der Kirche«¹²⁰⁶ und machte es dem Literaten zum Vorwurf, der DDR-Propaganda in die Karten zu spielen. So registrierte das Blatt süffisant, dass »die Kommunisten in Ost-Berlin« seine Reden »mit besonderem Vergnügen […] groß aufgemacht« hätten.¹²⁰⁷ Auffällig ist außerdem, wie gezielt Kästners Prestige als Kinderbuchautor in dem Artikel genutzt wurde, um seinen politischen Äußerungen die Kompetenz abzusprechen – hieß es doch, in Anspielung auf seine berühmte Selbstzuschreibung vor dem Zürcher PEN-Club: »Erich Kästner nennt sich gern den ›Urenkel der Aufklärung‹. Außerdem schreibt er Kinderbücher. Manchmal scheint er beide Ressorts zu verwechseln.«¹²⁰⁸ Vergleichbare diskursive Ausschluss- und Verknappungsstrategien, die den Autor auf sein eigentliches Tätigkeitsgebiet verwiesen, kommen auch in den zahlreichen westdeutschen Leserbriefen¹²⁰⁹ zum Tragen, die Kästner in jenen Monaten

1202 Der Gewerkschaftsbund gehörte zu den organisatorischen Trägern der Bewegung gegen die atomare Bewaffnung. Vgl. auch Kapitel 4.3. 1203 [anonym]: »Weder Atomrüstung noch Kommunismus!« Münchner Komitee gegen Atomrüstung startet mit eindrucksvoller Großkundgebung – Erich Kästner: Es hängt mir zum Hals heraus… In: Welt der Arbeit, 25.4.1958. 1204 Rasche, Friedrich: Der Propaganda-Verdacht. In: Nordwestdeutsche Rundschau, 19.4.1958. 1205 Franzel, Emil: Die Frage des Herrn von Knoeringen. In: Deutsche Tagespost, 25.4.1958. 1206 EdZ: Intelligenz im Sog der Propaganda. Atom-Propaganda zur Kirchenhetze missbraucht – Zwangsjacke für Intelligenz in der Sowjetzone. In: Echo der Zeit, 11.6.1958. 1207 Ebd. 1208 Ebd. 1209 Obgleich die Zuschriften aus dem Osten Deutschlands generell sehr viel positiver ausfielen, finden sich auch unter ihnen einzelne überaus kritische Stimmen. In diesem Zusammenhang sei etwa auf den anonymen Brief eines Lesers aus Sachsen verwiesen, der Kästner auf die »brutale geistige Unterdrückung« in der DDR hinwies und ihn aufforderte, sich öffentlich vom »bolsche-

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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zugingen. Ein Bundesbürger forderte ihn beispielsweise direkt im Betreff seines Schreibens dazu auf, »bei der Kunst« zu bleiben – »zur Politik« habe er »kein Talent!«¹²¹⁰ Auch in anderen Zuschriften wurde immer wieder kontrastiert, wie sehr man Kästners Kinderbücher geschätzt habe und wie »enttäuscht« man inzwischen von seinem Verhalten sei.¹²¹¹ Dass »Atomwaffen auf westdeutschem Gebiet« den »Atomtod für Deutschland« bedeuten würden, sei ein »[p]rimitive[r] Fehlschluss«, den »doch keiner ziehen« könne, »der sich der Philosophie der Aufklärung verpflichtet« fühle.¹²¹² Viele Verfasser reproduzierten darüber hinaus die Argumente der Regierung gegen die Volksbefragung und für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr¹²¹³ und brachten ihre von der CDU/CSU-Politik bestärkte antikommunistische Haltung ungefiltert zum Ausdruck. Beispielsweise trug ein Briefschreiber die Frage an Kästner heran, ob er überhaupt wisse, was es bedeute, in dem von ihm kritisierten System so frei schreiben und reisen zu können,¹²¹⁴ während ein anderer unumwunden konstatierte, dass »die Arbeiter- und Bauernmacht« ihm für seine Kritik an der atomaren Aufrüstung »schon längst die Zunge abgeschnitten« hätte.¹²¹⁵ Andere Bundesbürger dankten dem Autor hingegen emphatisch für seinen »Einsatz für die Humanität«¹²¹⁶ und bezeichneten ihn angesichts seiner Kritik an der Bundesregierung als »mutigen Mann«.¹²¹⁷ Man bat ihn, »die ganze Menschheit«

wistischen Deutschland«, das ihn sich »auf seine Fahnen geschrieben« habe, ihn aber »nur missbrauchen« würde, zu distanzieren. »Ein Leser aus Sachsen« an Erich Kästner. Brief vom 22.6.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 13. HS.1998.0003. 1210 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 21.4.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003. 1211 Siehe etwa [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 28.4.1958 und [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief o. D. [Mai 1958]. Jeweils: DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003. 1212 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 21.4.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003. 1213 So erklärte sich etwa einer der Briefschreiber nicht damit einverstanden, dass »bei uns Lieschen Müller über eine so wichtige Frage entscheiden solle« und hielt fest, der Friede könne nur »gesichert werden, wenn ein machtpolitisches Gleichgewicht zwischen Ost und West« bestehe. Ebd. 1214 Vgl. [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 20. 5.1958. DLA Marbach/ Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003. 1215 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 21.4.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003. 1216 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 20.7.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003. 1217 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 22.4.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003.

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weiter so »tapfer […] vorm Untergang zu retten«,¹²¹⁸ und betonte, sein Verdienst um das moralische Ansehen der Bundesrepublik stehe »turmhoch über den oft so geistlosen Tiraden« der »Bundestagsfunktionäre«.¹²¹⁹ Zwar behaupte er, er sei Schriftsteller und verstehe nichts von Politik – dann aber lege er los, »als verstünde er mehr als jeder andere davon«.¹²²⁰ Auch zahlreiche pazifistische Organisationen und Anti-Atom-Komitees anderer Bundesländer äußerten sich begeistert über seine politischen Interventionen und versuchten ihn für Vorträge im Rahmen ihrer eigenen Kundgebungen und Aktionen zu gewinnen.¹²²¹ Zu weiteren großen Auftritten sollte es für Kästner zunächst allerdings nicht kommen. Dies lag einerseits an seinem vollen Terminkalender,¹²²² war andererseits aber auch dem baldigen ›Versanden‹ der sozialen Bewegung nach dem Karlsruher Urteil gegen die angeregte Volksbefragung auf Bundesebene vom 30. Juli 1958 geschuldet.¹²²³ Gleichwohl positionierte sich der Schriftsteller in Interviews unbeirrt weiter gegen die nukleare Bewaffnung und für eine »Volksaufklärung« über die damit verbundenen Gefahren, die »in allen Sprachen und in verständlicher Weise angestrebt werden« müsse.¹²²⁴ Dabei sah er insbesondere »verlässliche Chemiker und Physiker« in der Pflicht, den Bürgern, »stets auf den neusten Stand gebracht, Auskunft über die wachsenden Erkenntnisse der Technik« zu geben.¹²²⁵ Inwiefern dieser Verweis auf das Wissen von Experten Kästners Kritik an der (inter)nationalen Rüstungspolitik weiter prägte, zeichnet das folgende Kapitel nach. Es beleuchtet, wie er in den 1960er Jahren erneut am kollektiven Protest gegen die Atomwaffen partizipierte – als einer der prominentesten Akteure der Ostermarschbewegung.

1218 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 29.4.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Ordner 13. HS.1998.0003. 1219 [anonymisierte Privatperson] an Erich Kästner. Brief vom 20.7.1958. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 13. HS.1998.0003. 1220 T.K.: Leserbrief. In: Deutsche Tagespost, 19. 5.1958. 1221 Vgl. die Vielzahl an Zuschriften entsprechender Organisationen im DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 13. HS.1998.0003. 1222 Vgl. etwa folgende Absagen, in denen sich Kästner explizit auf zeitliche Gründe berief: Kästner, Erich an den Berliner Arbeitsausschuss »Gegen den Atomtod«. Brief vom 1.8.1958 (Durchschlag) und Kästner, Erich an »Kampf dem Atomtod«/Baden Württemberg. Brief vom 14. 8.1958. (Durchschlag). Jeweils DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich / Archiv. Konvolut: Ordner 13. HS.1998.0003. 1223 Vgl. dazu auch Kapitel 4.3. 1224 Kästner, Erich zit. n. Rachinger (1959), S. 4. 1225 Kästner, Erich zit. n. ebd.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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4.3.4 Über gesunden Menschenverstand und den Weg auf die Straße ‒ Kästner und die Ostermarsch-Bewegung Im April 1961 trat Kästner – neben Intellektuellen wie Stefan Andres, Erich Kuby, Helmut Gollwitzer und Martin Niemöller – dem Hamburger Kuratorium Kampagne für Abrüstung – Ostermarsch der Atomwaffengegner bei. An den Ostertagen jenes Jahres initiierte das Kuratorium in Westdeutschland, parallel zu den internationalen Demonstrationen, insgesamt vier Protestzüge, an denen rund 20 000 Bundesbürger teilnahmen.¹²²⁶ Anlässlich der Abschlusskundgebung des süddeutschen Ostermarsches begrüßte der Schriftsteller die Demonstrierenden an ihrem Zielort, dem Münchner Königsplatz, und hielt eine Rede, die – wie schon seine frühere Ansprache im Circus Krone – mit einer Goethe-Reminiszenz aufwartet. In diesem Fall ist es »jen[e] Szene aus dem ›Faust‹, die gemeinhin ›Der Osterspaziergang‹ genannt wird«,¹²²⁷ mit der der Kästner’sche Vortrag einsetzt. Konkret gibt er folgendes Gespräch »zweier selbstzufriedener Bürger«¹²²⁸ wieder: »Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinanderschlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man abends froh nach Haus / Und segnet Fried und Friedenszeiten.« […] »Herr Nachbar, ja! So laß ichs auch geschehen; / Sie mögen sich die Köpfe spalten, / Mag alles durcheinandergehen; / Doch nur zu Hause bleibs beim alten!«¹²²⁹

Den zitierten Dialog nimmt Kästner zum Anlass, zwischen dem Osterspaziergang bei Goethe und dem Ostermarsch der Atomwaffengegner zu differenzieren. Dass die Folgen der nuklearen Rüstungspolitik, im Gegensatz zu einem in entfernten Ländern mit herkömmlichen Waffen ausgetragenen Krieg, jeden einzelnen Bundesbürger unmittelbar betreffen würden, verdeutlicht er, indem er den Unterschied

1226 Vgl. [anonym]: Der Widerstand wächst. Erich Kästner: »Unser friedlicher Streit für den Frieden geht weiter«. In: Deutsche Volkszeitung (Düsseldorf ), 14.4.1961. Bereits im Vorjahr hatten pazifistische Gruppen in Norddeutschland erstmals in der Bundesrepublik einen Ostermarsch zum Truppenübungsplatz Bergen-Hohne organisiert und sich so der Protesttradition britischer Atomwaffengegner angeschlossen. Vgl. Buro (2008), S. 273, vgl., auch Kapitel 4.3. 1227 Kästner, Erich: Ostermarsch 1961 [1961]. In: EKW VI, S. 662 – 667, hier S. 662. Mit dieser Auswahl griff Kästner erneut auf einen Text zurück, der nicht nur literaturhistorisch versierten Bürgern der Bundesrepublik ein Begriff war: Gerade durch die im Vorjahr herausgebrachte Verfilmung der Gründgens’schen Faust-Inszenierung von Peter Gorski dürfte der Stoff den Westdeutschen zum Zeitpunkt der Ostermarsch-Ansprache überaus präsent gewesen sein. 1228 Ebd. 1229 Ebd., S. 662 f. Siehe auch Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil / Urfaust. Hg. und kommentiert von Erich Trunz. München 1999, S. 34.

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stark macht, der »zwischen dem gemütlichen Köpfespalten ›hinten, weit, in der Türkei‹ und der Kernspaltung«¹²³⁰ bestehe. In diesem Zusammenhang kommt er auf die gewählte Aktionsform der Marschteilnehmer zu sprechen und definiert ihr gemeinsam verfolgtes Ziel: Im Namen aller Anwesenden fasst er zusammen, dass sie nicht hier seien, weil ihnen »keine hübschere Art der ›Freizeitgestaltung‹ einfiele«.¹²³¹ Vielmehr würden sie sich »der Demonstration als eines demokratischen Mittels« bedienen, um »die Regierungen an ihre Pflicht zu erinnern«.¹²³² Auch die Ursachen des kollektiven Protests kleidet Kästner in Worte: Angesichts der fehlenden Auseinandersetzung der Herrschenden mit den nur allzu leicht ausmalbaren katastrophalen Folgen ihrer Rüstungspolitik, attestiert er ihnen einen »Mangel an Phantasie« und »gesundem Menschenverstand«.¹²³³ Das Bild eines Kartenspiels bemühend unterstreicht er daraufhin, dass die genannten »Mangelkrankheiten«¹²³⁴ die Machthaber dazu bringen, den Ernst der weltpolitischen Lage zu verklären: »Ost und West spielen einen Dauerskat mit Zahlenreizen, als ginge es um die Achtel. Aber es geht ums Ganze!«¹²³⁵ Der so bemängelten Verantwortungslosigkeit der Politiker setzt Kästner im Weiteren die Aussagen eines anderen Atomwaffengegners und Intellektuellen entgegen, welchen er dezidiert als ›Experten‹ ausweist, indem er untermauert, dass er, »im Gegensatz zu [ihm selbst], ein Fachmann«¹²³⁶ sei. Die Rede ist von Carl Friedrich von Weizsäcker, der bereits in den späten 1950er Jahren zu den Unterzeichnern der prominenten Protestnote der ›Göttinger Achtzehn‹ gehörte. In seiner von Kästner zitierten Einleitung des kurz vor dem Ostermarsch erschienenen Taschenbuchs Kernexplosion und ihre Wirkungen ¹²³⁷ postulierte der Atomphysiker und Philosoph unter anderem, dass »die Entwicklung des technischen Zeitalters […] dem Bewusstsein des Menschen davongelaufen« sei, der von Begriffen aus denke und handle, »die früheren Zuständen der Menschheit angemessen waren, den

1230 EKW VI, S. 663. 1231 Ebd. Selbiges macht Kästner auch für Bertrand Russell geltend, der sich, »achtundsechzig Jahre alt, im Schneidersitz demonstrativ vors englische Verteidigungsministerium setzt«. (Ebd.) Mit dem Verweis auf Russells Aktivität betont er zugleich den transnationalen Charakter des kollektiven Protests. 1232 Ebd. 1233 Ebd. 1234 Ebd. 1235 Ebd. 1236 Ebd. 1237 Siehe Demming, Frank, Dirk-Michael Harmsen und Karl-Friedrich Saur (Hg.): Kernexplosion und ihre Wirkungen. Mit einer Einleitung von Carl Friedrich von Weizsäcker. Frankfurt a. M./ Hamburg 1961.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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heutigen aber nicht.«¹²³⁸ Im Kontext der verbreiteten Befürwortung der Atomrüstung stellte Weizsäcker die Prognose auf, dass ein Atomkrieg mit vollem Einsatz der derzeit existierenden Waffen »vielleicht 700 Millionen Menschen töten« und »einige weitere hundert Millionen mit Erbschäden zurücklassen« könne.¹²³⁹ »[N]ach der weitgehenden Zerstörung der hochindustriellen Weltmächte Amerika und Russland« habe »am ehesten China« die Chance, sich als »Weltdiktatur« zu etablieren, was »aller Voraussicht nach« mit einer Zerstörung der »Kultur und […] bürgerliche[n] Freiheit« gleichzusetzen sei.¹²⁴⁰ In Anbetracht dieser Vorstellung folgerte Weizsäcker, »[d]ie Zukunft jeder einzelnen Nation« hänge davon ab, dass die Menschen die gegenwärtige Unmöglichkeit einer »Souveränität im alten Sinne« begreifen würden: Die »Wünsche nach einer nationalen Atomrüstung« kämen einem »Missverstehen der Weltlage« gleich.¹²⁴¹ Gestützt auf diese – von ihm als Autoritätsargumente genutzten – Thesen konstatiert Kästner, dass der von ihm zitierte Intellektuelle nicht unter jenen »zwei Mangelkrankheiten«¹²⁴² leide, die er selbst zu Beginn seiner Ostermarsch-Ansprache den Regierenden zugesprochen hat: Konträr zu den Politikern charakterisiert er Weizsäcker als »Mann mit gesundem Menschenverstand«:¹²⁴³ Was die »Logik seiner Phantasie« hervorbringe, weist er als »tausendmal realistischer« aus als den »Routinetraum deutscher Generäle, Westdeutschland, wenn nicht gar die westliche Welt, […] mit taktischen Atomwaffen zu retten.«¹²⁴⁴ Der polemische Tonfall, mit dem Kästner auf die Militärs seines Heimatlandes abhebt, erreicht seinen Höhepunkt, als er deren »Siegeszuversicht« darauf zurückführt, dass sie »bekanntlich den Ersten und den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten.«¹²⁴⁵ Dieser Hinwendung zu den Fehleinschätzungen respektive Selbstüberschätzungen seiner Landsleute korrespondiert ein kurzer, aber aussagekräftiger Seitenhieb auf eine entscheidende Entwicklung innerhalb der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft. In einen Nebensatz lässt Kästner die »Besorgnis« einfließen, »die SPD könne eines Tages in die CDU eintreten«¹²⁴⁶ – eine Bemerkung, die durchaus als Ausdruck der Enttäuschung des Schriftstellers über die im Godesberger Programm signalisierte Koalitionsbereitschaft der Oppositionspartei begriffen werden kann. Wie langfristig das

1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246

Weizsäcker, Carl Friedrich von zit. n. EKW VI, S. 664. Weizsäcker, Carl Friedrich von zit. n. ebd. Weizsäcker, Carl Friedrich von zit. n. ebd. Weizsäcker, Carl Friedrich von zit. n. ebd., S. 664 f. Ebd., S. 663. Ebd., S. 665. Ebd. Ebd. Ebd.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Kästner’sche Ressentiment gegenüber diesem veränderten Kurs der SPD – die der Ostermarschbewegung von Anfang an ablehnend gegenüberstand¹²⁴⁷ – andauern sollte, beweist beispielhaft eine Korrespondenz mit Günter Grass aus dem Jahr 1965. Die Bitte des späteren Literatur-Nobelpreisträgers, sich gemeinsam mit ihm und Hans Werner Richter innerhalb des Wahlkampfes für die Partei zu engagieren,¹²⁴⁸ lehnte Kästner rigoros ab und verlautbarte: »[I]ch habe mein Leben lang SPD gewählt und mich immer schwarzgeärgert (bzw. rot). Seit Godesberg ist das äußerste, wozu ich fähig bin: schweigen.«¹²⁴⁹

1247 Nachdem die SPD durch ihren 1958 vollzogenen Rückzug aus der Kampagne Kampf dem Atomtod für das Ende der genannten Bewegung mitverantwortlich gewesen war, nahm sie zur Ostermarsch-Bewegung von vornherein eine abschätzige Haltung ein. Ebenso wie die Gewerkschaften warnte die Partei ihre Mitglieder sogar vor einer Teilnahme an den Demonstrationen; ihre Unterstellung, es handle sich um »kommunistisch initiierte Proteste«, traf, so Pfahl-Traughber (2012, S. 192), für die Anfangsphase der Ostermarsch-Bewegung allerdings nicht zu. 1248 Vgl. Grass, Günter an Erich Kästner. Brief vom 26.7.1965 (Durchschlag). Archiv der Akademie der Künste/Bestand Günter Grass/Signatur: Grass 3402. Der Brief von Grass belegt im Übrigen nicht nur, dass Kästner für andere Intellektuelle ein attraktiver Ansprechpartner zum Zweck gemeinsamer politischer Aktionen war, sondern gibt auch einen Hinweis darauf, dass seine Beliebtheit bei der jüngeren Generation, die er durch seine Kinderbücher erlangt hatte, eine Rolle dabei spielte: Offenbar erhoffte sich Grass, durch die Einbindung Kästners insbesondere junge Menschen für die Wahl der SPD gewinnen zu können, teilte er ihm doch mit: »Auf meiner ersten und ziemlich aufregenden Wahlreise habe ich immer wieder bemerken können, wie groß der Wunsch – besonders der Neuwähler – ist, auch von Ihnen in dieser Angelegenheit Rat und Hinweise zu erhalten.« Ebd. 1249 Kästner, Erich an Günter Grass. Brief vom 17. 8.1965. Archiv der Akademie der Künste/Bestand: Günter Grass/Signatur: Grass 10081. Erwähnenswert ist, dass Grass vor der nächsten Bundestagswahl im Jahr 1969 noch einmal versuchte, Kästner zu einer Partizipation am SPD-Wahlkampf zu bewegen, was dieser jedoch erneut ablehnte. (Vgl. Kästner, Erich an Grass, Günter. Brief vom 4.6. 1969 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003) Nichtsdestotrotz äußerte Kästner sich in einem im selben Jahr geführten Interview mit Adalbert Reif positiv über das Grass’sche ›Trommeln‹ für die SPD, während er betonte, selbst »ein überzeugter Individualist« zu sein. Darüber hinaus sei er »ein Linksliberaler, was es heute eigentlich gar nicht mehr gibt« und »Mitglied einer Partei, die es ebenfalls nicht gibt, denn wenn es sie gäbe, wäre [er] nicht ihr Mitglied« (Kästner zit.n. Reif, Adalbert: »Ich habe schon resigniert«. »Welt der Arbeit« sprach mit Erich Kästner zu seinem 70. Geburtstag. In: Welt der Arbeit, 21. 2.1969). Nach dem Beginn der Kanzlerschaft Willy Brandts stand Kästner der SPD allerdings wieder gewogener gegenüber als in den Vorjahren. So nahm er etwa gemeinsam mit anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an einem Empfang des neuen Bundeskanzlers teil (siehe dazu anonym: Empfang für Brandt in der Stuck-Villa. In: Süddeutsche Zeitung, 9. 2.1970). Vereinzelt bekannte er in den Folgejahren auch gegenüber Journalisten, »mit der jetzigen Bonner Regierung [zu sympathisieren]« (Kästner, Erich zit. n. Larisch, Karin: Er liebt die Katzen, weil sie nicht bellen. tz interviewte Erich Kästner in seinem Stammlokal. In: tz, 14./15. 8.1971). Im Oktober 1970 verfasste er schließlich – zum ersten und einzigen Mal – selbst eine Wahlanzeige, in der er die Bildungspolitik der CSU scharf kritisierte und sich im selben Atemzug für das Schulprogramm der SPD aussprach. Insbesondere mit seiner Bemerkung,

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Beim ›Schweigen‹ über die SPD bleibt es auch im weiteren Verlauf seiner Ansprache an die Ostermarschteilnehmer: Statt seine ›Besorgnis‹ über die Entwicklung der Partei näher zu begründen, lenkt Kästner den Fokus zurück auf den internationalen Raum. Unter Berufung auf aktuelle Berichterstattungen des FAZRedakteurs Adelbert Weinstein kommt er auf den Politikwissenschaftler und späteren US-Außenminister Henry Kissinger zu sprechen. Dieser hatte kurz zuvor die »Abschreckungstheorie«,¹²⁵⁰ laut derer die atomare Aufrüstung einen Atomkrieg verlässlich verhindern könne, mit dem Verweis darauf in Zweifel gezogen, dass ein solcher Krieg nichtsdestotrotz durch Zufall ausbrechen könne.¹²⁵¹ Inwiefern Kissingers kritische Positionierung seiner Ansicht nach einen »neuen Grund zur Hoffnung«¹²⁵² darstellt, bringt Kästners Vortrag den Zuhörern auf dem Münchner Königsplatz mit einem erneuten Rückgriff auf Goethes Zauberlehrling nah. Wesentlich konkreter als drei Jahre zuvor im Circus Krone bezieht der Autor die Quintessenz der Ballade auf die Differenzen zwischen den USA und die Sowjetunion und stellt damit einhergehend die Eventualität in den Raum, dass »die beiden Zauberlehrlinge« sich, vom Worte »Zufall« angeregt, […] ehrlich auf den Spruch besinnen, der allein aus dem Teufelskreis herausführen kann[.] […] Sollten Sie rechtzeitig den gesunden Menschenverstand, die Phantasie und den Mut aufbringen, zu den Atombomben und deren Generalvertretern zu sagen: »Besen! Besen! / Seids gewesen!«?¹²⁵³

Obgleich Kästner betont, dass »noch kein Anlaß zu einem feierlichen Dankgebet«¹²⁵⁴ gegeben sei, weist er eine solche Möglichkeit der Besinnung und Umkehr der Großmächte als »kleine[n] Lichtblick«¹²⁵⁵ aus. Wie schon in manchen seiner früheren Kabaretttexte unterstreicht er hiernach unter Zuhilfenahme eines biblischen Bildes und mit prophetischem Gestus, das Wort »Zufall« sei »nicht zurück-

die bayerischen Kirchtürme seien »beachtliche Sehenswürdigkeiten, aber als kulturpolitische Wach- und Kommandotürme denkbar ungeeignet« (Kästner, Erich: [Wahlanzeige für die SPD]. In: Abendzeitung, 2.10.1970), brachte der Schriftsteller zahlreiche seiner Landsleute aus dem konservativen Spektrum gegen sich auf. Vgl. dazu auch Hanuschek (2003), S. 403 f. 1250 EKW VI, S. 666. 1251 Vgl. ebd. 1252 Ebd., S. 665. 1253 Ebd., S. 666 f. 1254 Ebd., S. 667. Diese Bemerkung bezieht er explizit auf die bundesdeutschen »Heerführer und deren Wortführer«, denen er unterstellt, »wie Kinder« der »amerikanischen Wachtparade« zu folgen und etwaige Veränderungen im politischen Kurs der Großmächte in ihrem »Atomfeuereifer« gar nicht erst zu bemerken. Ebd. 1255 Ebd.

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4 Kästners politische Positionierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

zunehmen»:Es stehe »mit Feuerschrift an der Wand, unauslöschbar, ein mächtiges Hilfswort für unsere Sache.«¹²⁵⁶ Bereits der Umstand, dass er in der ersten Person Plural von »unserer Sache«¹²⁵⁷ spricht, demonstriert, wie gezielt Kästner das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den anwesenden Akteuren der Ostermarschbewegung zu stärken versucht. Auch der viel zitierte Ausspruch, mit dem seine Rede endet, kommt in diesem Sinne einer nahezu feierlichen Bekräftigung der gemeinsamen Überzeugungen und Ziele der Protestierenden gleich, die die zuvor aufgebaute, hoffnungsvolle Stimmung weiterträgt. Den Bogen zur kollektiven Protestform und den beiden in seinem Vortrag beschworenen Idealen zurückschlagend postuliert der Schriftsteller: Unser friedlicher Streit für den Frieden geht weiter. Im Namen des gesunden Menschenverstands und der menschlichen Phantasie. Resignation ist kein Gesichtspunkt!¹²⁵⁸

Wenngleich Kästner aufgrund seiner schweren Lungenerkrankung 1961 und 1962 nicht persönlich an den Ostermärschen teilnehmen konnte,¹²⁵⁹ setzte er sein Engagement gegen die internationale Rüstungspolitik im Sommer 1963, kaum dass er aus dem Sanatorium in Agra (Tessin) zurückgekehrt war, fort: Gemeinsam mit den Theologen Martin Niemöller und Friedrich Siegmund-Schultze sowie dem Publizisten und Zukunftsforscher Robert Jungk veröffentlichte er einen Appell, der die Öffentlichkeit dazu aufforderte, am 6. August zum Gedenken an den Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima an den Mahnwachen der Atomwaffengegner teilzunehmen und gemeinsam dafür einzutreten, daß die Kernwaffenversuche eingestellt werden, daß die Zahl der atomwaffenbesitzenden Länder nicht vergrößert wird, daß den atomwaffenlosen Ländern weder direkt noch indirekt

1256 Ebd. Im Buch Daniel 5, 1 – 30 wird berichtet, wie dem babylonischen König Belsazar sein baldiger Tod und der Untergang seines Reiches durch eine geheimnisvolle Schrift an der Wand geweissagt wird. 1257 EKW VI, S. 667. Hervorhebung d. Verf. 1258 Ebd. 1259 Vgl. dazu auch Kapitel 3.2.5. Vor dem Hintergrund des damit verbundenen, fast anderthalbjährigen Sanatoriumsaufenthalts finden sich aus dem Jahr 1962 und der ersten Hälfte des Jahres 1963 generell so gut wie keine politischen Positionierungen Kästners. Die in diese Zeitspanne fallende Spiegel-Affäre kommentierte er etwa nur telefonisch gegenüber einem Reporter der Abendzeitung. Dabei gab er an, über die Vorgänge »aufs äußerste betroffen« zu sein und sich »wegen der Pressefreiheit und über die Methoden der Untersuchungsbehörden, die bis zur Versiegelung der Redaktionsräume gehen«, Sorgen zu machen. Er verdeutlichte jedoch auch, dass er ein politisches und öffentliches Einschreiten gegen diese jüngsten Geschehnisse für unerlässlich hielt, indem er bemerkte, das »Allernotwendigste« sei, »daß sich sofort die Parteien und die zuständigen Journalistenund Schriftstellerverbände rühren.« Kästner, Erich zit. n. [anonym]: »…wie in einem Polizeistaat«. Bertrand Russell zur Aktion gegen den Spiegel. In: Abendzeitung, 30.10.1962.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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eine Verfügungsgewalt über atomare Vernichtungswaffen eingeräumt wird und daß der deutsche Boden im Rahmen einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa von Kernwaffen freigemacht wird.¹²⁶⁰

Im Folgejahr organisierte Kästner zusammen mit dem Göttinger Theaterintendanten Heinz Hilpert eine Kunstauktion im Münchner Theater an der Leopoldstraße, deren Erlös der Kampagne für Abrüstung zukam.¹²⁶¹ Und auch an den öffentlichen Aufrufen zur Teilnahme an den Ostermärschen, die zunehmend mehr Teilnehmer für sich verbuchen konnten, beteiligte er sich weiterhin. Diese ›außerliterarischen‹ Interventionsformen, derer er sich inzwischen nahezu ausschließlich bediente, markierte er selbst als gleichsam logische Entwicklung: Wenn man an »Ideale und Ziele« glaube, aber eine Skepsis hinsichtlich der Wirkkraft des Kabaretts beziehungsweise der Satire als solchen entwickle, bleibe, wie er einem Journalisten anlässlich seines 65. Geburtstages mitteilte, »nur der direkte Weg übrig« – der Weg »in die Öffentlichkeit« und »auf die Straße«.¹²⁶² Betrachtet man die westdeutschen Medienkommentare, die Kästners Engagement innerhalb der Ostermarschbewegung kritisch beurteilten, dann fällt auf, wie sich schon seit den frühen 1960er Jahren jene intellektuellenfeindliche Haltung ihren Weg bahnte, die der Autor anlässlich der Bücherverbrennung am Düsseldorfer Rheinufer im Jahr 1965 gezielt thematisieren sollte.¹²⁶³ Beispielsweise konstatierte der Kommentator des Bayerischen Rundfunks Winfried Martini, »die Wirkung der nuklearen Waffen sei so unvorstellbar, daß sich nur Psychopathen, Neurotiker oder nervöse Intellektuelle wie Kuby und Kästner auf die Dauer damit beschäftigen

1260 Kästner, Erich mit Robert Jungk, Martin Niemöller und Friedrich Siegmund-Schultze: Aufruf zum 6. August. In: Stimme der Gemeinde, 15.7.1963. Der Aufruf wurde nicht nur in verschiedenen bundesdeutschen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, sondern auch auf Flugblättern, die in den westdeutschen Großstädten verteilt wurden, verbreitet. Unter anderem wurden letztlich Mahnwachen in München, Frankfurt a. M., Darmstadt, Braunschweig und Hannover abgehalten.Vgl. dazu auch [anonym]: Aktionen in vielen Städten. Atomwaffengegner legen die Hände nicht in den Schoß – Mahnwachen zum Hiroshimatag. In: Deutsche Volkszeitung, Düsseldorf, 16. 8.1963. 1261 Zum Bedauern der Veranstalter war der Gewinn, der bei jener Versteigerung eingesandter Bilder und Plastiken verschiedener Künstler erzielt wurde, niedriger als erhofft: Der zeitgenössischen Berichterstattung zufolge brachte die Auktion »nur einige tausend Mark ein« und »[g]erade die Arbeiten[,] […] die im Sinne der Veranstalter stark politisch engagiert waren, fanden am wenigsten Interesse.« Stankiewitz, Karl: Atomkardinal abgelehnt. Bei der »Auktion für Abrüstung« war Politik nicht gefragt. In: Abendzeitung, 25. 3.1964. 1262 Kästner, Erich zit. n. Hanuschek (2003), S. 419. 1263 Vgl. Kapitel 4.2.5.

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können.«¹²⁶⁴ Auch die Vorwürfe hinsichtlich einer Vereinnahmung Kästners durch den Kommunismus, die bereits zur Zeit seiner Partizipation an der Bewegung gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr vorgebracht worden waren, wurden nun deutlich massiver. Schon vor seinem offiziellen Beitritt in das Ostermarsch-Kuratorium war der Name des Autors im so genannten ›Rotbuch‹ Verschwörung gegen die Freiheit aufgelistet worden. In der Publikation bezichtigte das von CDU-Politiker Rainer Barzel gegründete Komitee Rettet die Freiheit insgesamt 452 westdeutsche Prominente der »kommunistischen Untergrundarbeit«.¹²⁶⁵ In den Folgejahren beanstandete zudem der von Franz Josef Strauß herausgegebene Bayern-Kurier, der die gesamte Ostermarschbewegung als »pro-kommunistische Veranstaltung«¹²⁶⁶ abfertigte, explizit, dass »ein Schriftsteller wie Erich Kästner, der dem braunen Locken so gut widerstand [,] […] nun den roten Sirenen«¹²⁶⁷ folge. Die Cellesche Zeitung klassifizierte ihn und die übrigen Intellektuellen, die die Aufrufe zum Ostermarsch unterstützten, indes in Anspielung auf Lenin als »nützliche Idioten«, die sich »vor den Wagen des Kommunismus spannen lassen«.¹²⁶⁸ Derweil fiel die Berichterstattung über Kästners Unterstützung der westdeutschen Protestaktionen in den ostdeutschen Medien, wie schon in den späten 1950er Jahren, durchweg positiv aus.¹²⁶⁹ Wie sehr die Verantwortlichen in der DDR allerdings darauf bedacht waren, der ostdeutschen Bevölkerung nur jene Aussagen des Schriftstellers zugängig zu machen, die sich für ihre Propaganda nutzen ließen, belegt der Blick auf einen ›Autorenaustausch‹ im Februar 1967, den der infolge des Mauerbaus gegründete Verbindungsausschuss der beiden deutschen PEN-Zen-

1264 So die Wiedergabe der Aussagen Martinis durch Hentschel, Henky: Wie ein »Volksbund« den Kommunismus bekämpft. Drei Reden für den Frieden, für die Freiheit und gegen die Aufweichung. In: Frankfurter Rundschau, 20.7.1963. 1265 Im ›Rotbuch‹ wurden primär Personen benannt, die sich zuvor öffentlich gegen die nationale wie internationale atomare Rüstungspolitik ausgesprochen hatten. So fanden neben Kästner bspw. Max Born, Martin Niemöller, Heinz Hilpert, Helmut Gollwitzer, Ernst Rowohlt und auch der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbene Hans Henny Jahnn Erwähnung. Vgl. dazu [anonym]: Ist es schon wieder soweit? Die »bösen« Intellektuellen als verdächtig diffamiert. In: Westdeutsches Tageblatt, 14. 2.1962; vgl. auch Schnell (2003), S. 119. 1266 [anonym]: Sie marschieren wieder…und die Pankower lachen sich ins Fäustchen. In: BayernKurier, 21.4.1962. 1267 Weissenborn, Fritz: »Ostermarsch« wie alle Jahre. In: Bayern-Kurier, 17.4.1964. 1268 [anonym]: Nützliche Idioten. In: Cellesche Zeitung, 25. 3.1967. 1269 Siehe etwa [anonym]: Schlechtwettertage für Bonn. In: Leipziger Volkszeitung, 5.4.1961, [anonym]: 20 Ostermärsche als Antwort. Gollwitzer, Baade, Kästner, Born und Enzensberger rufen auf. In: Der Morgen, 19. 3.1964, Otto, Werner: Atomwaffengegner vor Aktionen. Schon mehr als 2500 Persönlichkeiten Westdeutschlands unterzeichneten Ostermarschaufruf. In: Neues Deutschland, 7. 2.1964 und [anonym]: CSU attackiert Schriftsteller. In: Spandauer Volksblatt, 9.12.1965.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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tren¹²⁷⁰ organisiert hatte. Nach langem und – angesichts der äußerst angespannten innerdeutschen Lage – alles andere als unkomplizierten Vorlauf ¹²⁷¹ hielt Anna Seghers am 9. Februar eine Lesung in der Universität ihrer früheren Studienstadt Heidelberg ab, während Kästner gut eine Woche später, am 17. Februar, in seiner Geburtsstadt Dresden las. Anders als in der Bundesrepublik, in der man die Veranstaltung mit der 1947 remigrierten Schriftstellerin in den Medien frühzeitig ankündigte,¹²⁷² wurde Kästners Auftritt im Gobelinsaal der Sempergalerie weder durch Presseorgane der DDR noch durch Plakate beworben.¹²⁷³ Die rund 400 Karten für die Lesung waren fast ausschließlich an SED-Funktionäre vergeben worden, während die Dresdner Stadtverwaltung Interessenten auf deren Anfragen hin

1270 1963 hatte der Exekutivrat des Internationalen PEN dafür plädiert, die Konflikte zwischen den west- und ostdeutschen Autoren respektive den beiden PEN-Zentren angesichts der zugespitzten politischen Situation zu bereinigen und eine Wiedervereinigung der Clubs ins Auge zu fassen. Die offizielle Gründung eines Verbindungsausschusses, der durch die Planung gemeinsamer Veranstaltungen die Beziehungen und den Austausch zwischen den Mitgliedern der beiden Zentren fördern sollte, erfolgte jedoch erst im Oktober 1964 auf der Exekutivsitzung in Budapest. Wenngleich der Ausschuss letztlich nur wenige Jahre Bestand hatte – nachdem sich das ehemalige PEN-Zentrum Ost und West im April 1967 offiziell in das PEN-Zentrum Deutsche Demokratische Republik umbenannte, verstand es sich als Repräsentant eines eigenen Landes, das keinen Verbindungsausschuss mehr benötigte – wurden gemeinsam initiierte Veranstaltungen noch eine Zeit lang fortgesetzt. Vgl. Hanuschek (2004), S. 263 – 266, vgl. auch Kapitel 3.2.5. 1271 Wie Hanuschek (ebd., S. 266) zusammenfasst, korrespondierte Kästner zuvor »über Monate mit den verhandelnden Präsidiumsmitgliedern, weil er auf dem dann auch erfolgten chronologischen Ablauf bestand: Zuerst müsse Anna Seghers’ Termin feststehen und ihre Reisemöglichkeiten garantiert sein, dann erst wolle er seinen Lesetermin in Dresden setzen.« Neben daraus resultierenden Terminverschiebungen kam es zu weiteren organisatorischen Schwierigkeiten, als Anna Seghers den Plan fasste, im Anschluss an ihre Lesung in der Bundesrepublik zu einer Lesung nach Zürich weiterzureisen und Ingeburg Kretzschmar, die Generalsekretärin des ostdeutschen PEN, ihre westdeutschen Kollegen aufforderte, die Sachlage bezüglich der Ausreisemöglichkeit für die DDRBürgerin von der Bundesrepublik in die Schweiz zu klären. Die Darmstädter PEN-Sekretärin Renate Steinmann versuchte daraufhin über das Baden-Württembergische Innenministerium, die Grenzschutzdirektion in Koblenz und schließlich sogar über das Bundesinnenministerium die Reisemöglichkeit für Seghers abzuklären, was die entsprechenden Instanzen unter Berufung auf die Gesetzeslage aber ausschlossen. Letztlich sagte Seghers ihre Lesung in Zürich ab, erhielt ihre Zusage für die Lesung in Heidelberg jedoch aufrecht. Vgl. ebd., S. 266 – 268. 1272 Bei der ausverkauften Lesung der Autorin waren, dem Heidelberger Tageblatt zufolge, knapp 1000 Besucher zugegen; Seghers gab an jenem 9. Februar 1967 Auszüge aus ihrer Erzählung Das Obdach und den Romanen Das siebte Kreuz und Transit zum Besten und wurde vom Publikum mit »stürmische[m] Beifall« bedacht. Siehe [anonym]: Ovationen für Anna Seghers in Heidelberg. Die Schriftstellerin aus Ost-Berlin las im überfüllten Hörsaal aus eigenen Werken. In: Heidelberger Tageblatt, 11. 2.1967. 1273 Vgl. [anonym]: Berufliches: Erich Kästner. In: Der Spiegel 10 (1967), S. 142.

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mitteilte, dass sie nicht wisse, wann der Autor zugegen sei.¹²⁷⁴ Erst zwei Tage nach der Veranstaltung erwähnten ostdeutsche Zeitungen wie Der Tagesspiegel, Der Morgen oder das Bauern-Echo in ihren Kurzmitteilungen, dass Kästner in Dresden gelesen habe.¹²⁷⁵ Wie Zonneveld nachweisen konnte, räumte der zu jener Zeit im Kulturbund für Literaturveranstaltungen aktive Germanist Günter Jäckel retrospektiv ein, »der Moralist und Satiriker« sei »ein unsicherer Kandidat« geblieben, »wenn man den verordneten Denkmustern von Parteilichkeit und sozialistischem Realismus folgte«.¹²⁷⁶ Daher habe man es für »besser« gehalten, »den Besuch offiziell zu übergehen.«¹²⁷⁷ Im Gegensatz zur Münchner Abendzeitung, die in Anbetracht der vor der ostdeutschen Öffentlichkeit geheim gehaltenen Lesung Kästners in Dresden von einem Affront sprach,¹²⁷⁸ äußerte sich der Schriftsteller selbst zu keinem Zeitpunkt öffentlich über den Abend des 17. Februar 1967, an dem er neben Auszügen aus Notabene 45 und seiner Kindheitsautobiographie Als ich ein kleiner Junge war auch einige bislang in der DDR unveröffentlichte Gedichte wie die Atomkriegs-Dystopie Die Maulwürfe oder Euer Wille geschehe gelesen hatte.¹²⁷⁹ Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang jedoch ein Kästner’scher Brief an den Dresdner Studenten Ulrich Gaitzsch, der ihm davon berichtet hatte, wie schwer es gewesen sei, Infor-

1274 Vgl. ebd. Wie Carmen Ulrich unter Einbeziehung von Archivalien des ostdeutschen PEN-Clubs herausstellen konnte, war »dieser Rahmen, der die Öffentlichkeit ausschloss und die Lesung vor einer vorsortierten, literarisch wenig interessierten Zuhörerschaft zur Farce werden ließ«, allerdings keineswegs von vorneherein vom Präsidium des ostdeutschen Zentrums fokussiert worden: »Vielmehr verweisen die Korrespondenzen« laut Ulrich »auf eine seit November 1966 von der Kulturbehörde verordnete Abschottung vom westdeutschen PEN, die offensichtlich politischen Veränderungen in beiden deutschen Teilstaaten geschuldet war, jedoch gegenüber den PEN-Mitgliedern nicht begründet wurde«. Ulrich, Carmen: Kleiner Grenzverkehr mit Hindernissen. Erich Kästner und Anna Seghers 1967. In: Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Hg. von Sven Hanuschek und Gideon Stiening. Berlin 2021 (Erich Kästner Studien, Bd. 6), S. 201 – 221, hier S. 217. 1275 Siehe [anonym]: Erich Kästner. In: Der Tagesspiegel, 19. 2.1967, [anonym]: Erich Kästner las in Dresden. In: Der Morgen, 19. 2.1967 und [anonym]: Erich Kästner in Dresden. In: Bauern-Echo, 19. 2. 1967. 1276 Jäckel, Günter zit. n. Zonneveld (2012), S. 289. 1277 Jäckel, Günter zit. n. ebd. 1278 Vgl. Ulrich (2021), S. 202. 1279 Vgl. Zonneveld (2012), S. 289 f. Diese durchaus provokante Textauswahl, in der sich nicht nur Kästners melancholischer Blick auf seine Geburtsstadt vor ihrer Bombardierung im Zweiten Weltkrieg und ihrem nachfolgenden Aufbau zu einer sozialistischen Stadt, sondern auch sein politisch-demokratisches Verständnis von Geschichte und seine Kritik an den jüngeren militärpolitischen Entwicklungen offenbarte, blieb in der DDR-Presse unerwähnt. Vgl. Ulrich (2021), S. 215 f.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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mationen über die bevorstehende Lesung zu erhalten.¹²⁸⁰ In seinem Antwortschreiben ließ Kästner seinen Ärger über den Ausschluss der Öffentlichkeit von der Veranstaltung erkennbar werden, indem er zugab, dass der Abend seinen Erwartungen »ganz und gar nicht entsprochen«¹²⁸¹ habe. Aus der Korrespondenz geht allerdings zugleich hervor, dass er keine Chance gesehen hatte, sich gegen den geschlossenen Charakter der Lesung aufzulehnen – hielt er doch fest, es habe »keine Möglichkeit« gegeben, »auf irgendeine Weise zweckvoll zu intervenieren.«¹²⁸² Mehr als die tatsächliche Anwesenheit des Schriftstellers kam der DDR-Propaganda in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Tatsache zupass, dass Kästner sich in der Bundesrepublik schon seit Längerem öffentlich gegen das militärpolitische Vorgehen der US-Amerikaner in Südostasien ausgesprochen hatte: Bereits im Dezember 1965 gehörte er, neben 150 weiteren westdeutschen Schriftstellern und Wissenschaftlern, zu den Unterzeichnern einer Erklärung über den Krieg in Vietnam,¹²⁸³ die den USA vorwarf, zusehends einen »Krieg gegen das vietnamesische Volk«¹²⁸⁴ zu führen. Auch postulierten die Intellektuellen, dass die »amerikanische Intervention […] die Gefahr eines großen Krieges in Asien« erhöhe, »der leicht zu einem dritten Weltkrieg führen« könne.¹²⁸⁵ In Anbetracht dieser Befürchtung solidarisierten sie sich ausdrücklich mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und jenen »amerikanischen Professoren und Dozenten […], die für die sofortige Beendigung des Krieges und für die Neutralisierung ganz Vietnams« eintraten.¹²⁸⁶ Konservative westdeutsche Zeitungen übten an Kästner und seinen Mitstreitern

1280 Gaitzsch hatte, wie Zonneveld (2012, S. 290 f.) nachzeichnet, über westdeutsche Verwandte von der geplanten Lesung erfahren. Obschon die Kultur-Abteilung des Dresdner Stadtrats ihm auf seine konkrete Anfrage hin mitgeteilt hatte, dass nur ›ein gewisser Kreis‹ zu der Lesung eingeladen worden sei, versuchte er Einlass zu erhalten, was ihm letztlich, da viele der ›geladenen Gäste‹ nicht erschienen waren, auch glückte. 1281 Kästner, Erich an Ulrich Gaitzsch. Brief vom 11. 3.1967 zit. n. Zonneveld (2012), S. 291. 1282 Kästner, Erich zit. n. ebd. 1283 Die Erklärung war von ehemaligen Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Westberlin verfasst worden, die mittlerweile zu Wissenschaftlichen Assistenten avanciert waren. (Vgl. Gilcher-Holtey 2001, S. 37) Zu den Unterzeichnenden gehörten neben Kästner etwa Günther Anders, Ingeborg Bachmann, Ernst Bloch, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried, Helmut Gollwitzer, Jürgen Habermas, Walter Jens, Wolfdietrich Schnurre, Martin Walser und Peter Weiss. Siehe auch den Abdruck: Erklärung über den Krieg in Vietnam. In: Die andere Zeitung, 9.12.1965. 1284 Ebd. 1285 Ebd. 1286 Ebd.

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umgehend nach der Veröffentlichung der Erklärung scharfe Kritik.¹²⁸⁷ Signifikant ist, dass dabei die gleichen diskursiven Verknappungsstrategien bemüht wurden, die man den Kulturschaffenden bereits bei ihrer Ablehnung der atomaren Aufrüstung entgegengebracht hatte: Einerseits stellte man die Kompetenz ihrer Aussagen in Abrede, anderseits sagte man ihnen kommunistische Motive für ihr Handeln nach. So urteilte etwa der Bayern-Kurier, die »schriftstellerische[n] Amateurpolitiker« hätten mit ihrem Protest gegen die US-Politik eine »getarnte Aufforderung zum Selbstmord des Westens« gegeben.¹²⁸⁸ Ungeachtet solcher Angriffe ließ Kästner im Dezember des Folgejahres, gemeinsam mit anderen Mitgliedern des zentralen Ausschusses der Kampagne für Abrüstung – Ostermarsch der Atomwaffengegner, einen weiteren Appell für Frieden in Vietnam ¹²⁸⁹ als Großanzeige in der Zeit abdrucken. Unmittelbar vor dem Tag der Menschenrechte forderten die Verfasser, neben einer »sofortigen Beendigung von Terror und Folter, des Gas- und Chemikalienkrieges und der Bombardierung NordVietnams«, von der Bundesregierung, »dem Krieg Amerikas in Vietnam jede moralische und finanzielle Unterstützung [zu versagen]«.¹²⁹⁰ Darüber hinaus riefen die Mitglieder der Organisation »alle Bürger guten Willens« dazu auf, »diese Forderungen zu verbreiten und durchzusetzen«, wobei sie explizit an den Gerechtigkeitssinn der Öffentlichkeit und deren »Mitgefühl für die Menschen in Vietnam« appellierten.¹²⁹¹ Für die Teilnehmer einer Anti-Vietnamkriegs-Demonstration, die das Ostermarsch-Kuratorium (das sich kurz zuvor in Kampagne für Abrüstung und Demokratie umbenannt hatte)¹²⁹² am 15. März 1968 in München initiierte, verfasste Kästner, der an besagtem Tag in Zürich war,¹²⁹³ schließlich seine wohl bekannteste Grußadresse.¹²⁹⁴ Darin spannte er einen Bogen von seiner ersten großen politischen

1287 Neben den Intellektuellen standen vor allem die studentischen Gruppen, die gegen die militärischen Handlungen der USA in Vietnam protestierten, im Fokus der Kritik Vgl. dazu auch GilcherHoltey (2001), S. 37. 1288 Bayern-Kurier zit. n. EB/ap/lnw: Das Wort Pinscher fiel diesmal nicht. Intellektuelle abermals als Zielscheibe. In: Kölner Stadtanzeiger, 9.12.1965. 1289 Siehe Kampagne für Abrüstung – Ostermarsch der Atomwaffengegner: Appell für Frieden in Vietnam. In: Die Zeit, 9.12.1966. 1290 Ebd. Eine solche Unterstützung hatte Erhard den USA anlässlich seines Besuches in Washington im Dezember des Vorjahres versichert. Vgl. dazu auch Gilcher-Holtey (2001), S. 38. 1291 Kampagne für Abrüstung – Ostermarsch der Atomwaffengegner: Appell für Frieden in Vietnam. In: Die Zeit, 9.12.1966. 1292 Vgl. auch Kapitel 4.3. 1293 Vgl. dazu Kästner, Erich an Kurt Maschler. Brief vom 14. 3.1968. In: Kästner (2003), S. 488 f. 1294 Siehe Kästner, Erich: Gegen den Krieg in Vietnam. Zur Münchner Demonstration am 15. März 1968. In: GSE 8, S. 333 f., hier S. 334.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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Stellungnahme nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart, indem er mit einem Selbstzitat aus seiner NZ-Reportage Streiflichter aus Nürnberg einstieg. Unmittelbar nach dem Auftakt des Militärtribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher hatte er, wie er anlässlich der Demonstration in München noch einmal wiedergab, in den Raum gestellt, dass der Krieg aussterben könne »[w]ie die Pest und die Cholera«, wenn es »nicht nur diesmal«, sondern »in jedem künftigen Falle« gelingen würde, »die Verantwortlichen zur Verantwortung [zu] ziehen«.¹²⁹⁵ Wie er 1968 – also 23 Jahre später – resümierte, sei »[a]us der Hoffnung, man könne eines Tages, z. B. heutzutage, über die Sünde und Schande von damals lächeln, […] nichts geworden«: »Die Zukunft« habe »wieder einmal nicht begonnen«, sondern sei »vertagt« worden.¹²⁹⁶ Dass diese recht allgemein gehaltene Formulierung sich nicht allein auf gegenwärtige militärische Auseinandersetzungen wie den Krieg in Vietnam beziehen, sondern ebenfalls an die noch immer ›unbewältigte‹ NS-Vergangenheit denken ließ, war angesichts des Adressatenkreises, an den sich Kästner wandte, höchstwahrscheinlich nicht dem Zufall geschuldet. Immerhin partizipierte zu dieser Zeit bereits nahezu das gesamte Spektrum der außerparlamentarischen Linken – die sich gleichermaßen am politischen Kurs der USA und der unzureichenden Aufarbeitung der NS-Verbrechen stieß – an den Aktionen der Ostermarschbewegung.¹²⁹⁷ Einhergehend mit der Bitte, dafür zu sorgen, dass die Zukunft »auf der Tagesordnung«¹²⁹⁸ bleibe, verwies Kästner die Demonstrierenden überdies noch einmal auf zwei der von ihm in den Vorjahren schon häufig bekräftigten und seiner Ansicht nach allzu oft missachteten Ideale respektive Werte: den »gesunde[n] Menschenverstand« und »die Humanität«, die weder »der Hanswurst der Politik« noch »der dumme August der Geschichte« seien.¹²⁹⁹ Abschließend richtete er einen konkreten »Wunsch«¹³⁰⁰ an seine Adressaten, für dessen Verständnis es wichtig ist, sich die Entwicklungen innerhalb der sozialen Bewegungen in den ersten Jahrzehnten Bundesrepublik vor Augen zu führen: Während bis 1968 »friedliche Formen des Protests im Sinne der Bürgerrechte in einem demokratischen Verfassungsstaat« im Vordergrund standen, kam es nun immer öfter »zu ›begrenzten Regelverletzungen‹ […], die verstärkt zu Konflikten mit der Polizei und zu gewalttätigen Auseinan-

1295 Ebd. Siehe auch Kästner, Erich: Streiflichter aus Nürnberg [NZ, 23.11.1945]. In: EKW VI, S. 493 – 500, hier S. 500 sowie Kapitel 4.1.1. 1296 GSE 8, S. 334. 1297 Vgl. dazu auch Kapitel 4.3. 1298 GSE 8, S. 334. 1299 Ebd. 1300 Ebd.

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dersetzungen führten«.¹³⁰¹ Wie der Schluss seiner Grußadresse offenbart, empfand Kästner die kollektive soziale Intervention gegen das Vorgehen der nationalen wie internationalen Politik als begründet und unerlässlich. Gleichwohl verdeutlichte er unmissverständlich, dass er alle nicht im Einklang mit der demokratischen Verfassung seines Landes stehenden Protestformen ablehnte. So endete seine Botschaft an die Gegner des Vietnamkriegs mit den Worten: »Bleiben Sie vernünftig und unerbittlich! Und dieser Wunsch gilt auch in der Umkehrung: Bleiben Sie unerbittlich und vernünftig!«¹³⁰² Eine vergleichbare Haltung vertrat Kästner, wie abschließend erwähnt sei, auch in einem Interview, das er der Münchner Abendzeitung im Folgejahr gab. Hierin sympathisierte er offen mit der »heute noch bekannteste[n] ›sozialen Bewegung‹ in der Geschichte der Bundesrepublik«¹³⁰³ – der 68er Bewegung –, indem er konstatierte, dass es »ganz klar und notwendig« sei, dass »die Studenten […] anfangen mussten, zu bohren, zu provozieren«.¹³⁰⁴ Er verschwieg dabei allerdings nicht, dass er keineswegs sämtliche ihrer »Methoden«¹³⁰⁵ begrüße. »[E]twas außerhalb der Legalität«¹³⁰⁶ stehende Aktionen, wie der Autor sie den Helden seiner Konferenz der Tiere innerhalb der Fiktion zur Erlangung des Friedens zugestanden hatte, kamen für ihn im realen Leben nicht in Frage.

1301 Pfahl-Traughber (2012), S. 192 f. 1302 GSE 8, S. 334. 1303 Pfahl-Traughber (2012), S. 192. 1304 Kästner, Erich zit. n. Eiswaldt, Edith: Es muß etwas geschehen. Ein Gespräch mit Erich Kästner. In: Abendzeitung, 9.9.1969. 1305 Kästner, Erich zit. n. ebd. Explizite Beispiele für solche »Methoden« führte der Schriftsteller in jenem Interview wohlgemerkt nicht an, sondern beließ es, wie schon in seiner Grußadresse Gegen den Krieg in Vietnam, bei dieser Andeutung. Als er zwei weitere Jahre später, 1971, nach der ersten Welle der linksterroristischen Aktionen der RAF von Mitgliedern der Organisation Amnesty International dazu befragt wurde, wie er zu der Zunahme politischer Gewalttaten in der Bundesrepublik stehe, wurde Kästner indes deutlicher und führte aus: »Intoleranz erzeugt Intoleranz. Regimes, deren Macht auf gewaltsamer Unterdrückung beruht, müssen es sich gefallen lassen, wenn sich die Unterdrückten mit den gleichen Mitteln wehren. Meiner Ansicht nach fehlen aber in der BRD hierfür die Voraussetzungen.« Kästner, Erich zit. n. [anonym]: Genehmigter Text eines Interviews Münchner Mitglieder von Amnesty International mit Herrn Dr. Erich Kästner am 19.4.1971 in der Münchner Gaststätte Leopold (Abschrift). A: Kästner, Erich/Archiv/Mappe 67 zum Konvolut: Ordner 19. HS.1998.0003. 1306 Kästner (1969).

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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4.3.5 Zwischenfazit Die Ablehnung des Krieges und jeglicher Form des Militarismus, die Kästner schon in seinen Gedichten der 1920er und frühen 1930er Jahren vertreten hatte, stellt zweifelsohne die stärkste thematische Konstante innerhalb der politischen Positionierungen des Autors dar. Überblickt man die schriftlichen, mündlichen und symbolischen Aussagen, mit denen er nach 1945 Stellung zum atomaren Auf- und ›Wettrüsten‹ der Großmächte, zur Remilitarisierung der Bundesrepublik, zur Ausrüstung der Bundeswehr mit Trägerwaffen zum Transport nuklearer Sprengköpfe und zur US-amerikanischen Kriegsführung in Vietnam bezog, dann wird deutlich, dass er von seinem pazifistischen Standpunkt zeitlebens nicht abwich. Dass die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht den Auftakt eines dauerhaften Friedens darstellen könne, wie viele seiner Mitmenschen es sich 1945 erhofften, bezweifelte Kästner schon bald nach dem Kriegsende in seinen journalistischen und kabarettistischen Texten. Das Ideal einer friedlichen, staatenlosen Welt, in der Politiker vernunftgeleitete Entscheidungen treffen und die Interessen der von ihnen vertretenen Menschen wahren, ließ er in seiner Konferenz der Tiere Wirklichkeit werden. Im wirklichen Leben glaubte der Schriftsteller allerdings nicht an die Realisierbarkeit einer solchen Utopie. Ebenso wie viele seiner Mitbürger hielt er den Ausbruch eines dritten Weltkrieges in Anbetracht des spätestens ab 1947 manifest gewordenen Ost-West-Konflikts für nicht unwahrscheinlich. Seine Warnung vor den möglichen Folgen der atomaren Bewaffnung der Großmächte formulierte er nachdrücklich im Rahmen seiner schriftstellerischen Tätigkeit für Die kleine Freiheit. Die hier zur Aufführung gebrachten dystopischen Beiträge Kästners verwiesen die Zuschauer überdies auf die menschliche Eigenverantwortung für eine friedliche Zukunft. Darüber hinaus nutzte der Autor das Kabarett der frühen 1950er Jahre, um seine massive Kritik an der Planung eines westdeutschen Militärbeitrags, die mit der Westintegrationspolitik Adenauers einherging, an die Öffentlichkeit zu bringen. Insbesondere die Diskrepanz, die er zwischen der demokratischen Verfassung der Bundesrepublik und der letztlich unabhängig von der Volksmeinung getroffenen Entscheidung für eine Remilitarisierung des Landes sah, machte der Schriftsteller auch in den Folgejahren mehrfach zum Thema seiner öffentlichen Äußerungen. An den Protestaktionen der sozialen Bewegung gegen die Wiederbewaffnung beteiligte er sich nach heutiger Quellenlage allerdings noch nicht aktiv, obgleich er die Zielsetzung ihrer Akteure teilte. Eine zentrale Veränderung der Positionierungsformen, derer sich Kästner bediente, löste der im März 1958 gefällte Bundestagsentscheid über die Ausrüstung der Bundeswehr mit Trägerwaffen zum Transport nuklearer Sprengköpfe aus. Dass die Bonner Regierung an der atomaren Rüstungspolitik partizipieren wollte, die eine vor 1945 noch ungeahnte Dimension der Kriegsführung und ›Massenvernichtung‹

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ermöglichte, empörte den Autor noch nachdrücklicher als ihre in den Vorjahren gefällten militärpolitischen Beschlüsse. Fast sechzigjährig begann er, die diskursiven Einwirkungsmöglichkeiten auf die Öffentlichkeit zu nutzen, die der Netzwerkcharakter und die Aktionsformen sozialer Bewegungen bargen. Die Funktion, den Gegnern der politisch-militärischen Entwicklungen »das Herz [zu] stärk[en] und den Rücken [zu] steif[en]«,¹³⁰⁷ die er 1956 noch seinen literarischen Texten zugesprochen hatte, versuchte er von nun an auf andere Weise zu gewährleisten. Als kollektiver respektive Bewegungsintellektueller¹³⁰⁸ agierend, unterschrieb und verfasste er nicht nur pazifistische Resolutionen und Aufrufe zur Teilnahme an Demonstrationen und Mahnwachen. Er nahm auch persönlich an diesen Protestveranstaltungen teil. Neben solchen symbolischen Interventionen in die Politik wandte er sich im Rahmen verschiedener Großkundgebungen des Komitees gegen Atomrüstung (1958) und der Kampagne für Abrüstung – Ostermarsch der Atomwaffengegner (ab 1961) mit Ansprachen an die Öffentlichkeit. Indem er die Ursachen des kollektiven Protests definierte und gemeinsame Ziele der Protestierenden formulierte, bestimmte Kästner die kognitive Konstitution der Bewegung gegen die Atombewaffnung und der Ostermarschbewegung entscheidend mit. Explizit stellte er sich den im politischen Diskurs verankerten und von vielen Westdeutschen übernommenen Annahmen wie der, dass (atomare) Aufrüstung den Frieden sichere, entgegen. Auch warf er der Regierung seines Landes mehrfach vor, die öffentliche Meinung zu ignorieren. Damit transportierte er zugleich ein Demokratieverständnis, das von einem größeren politischen Mitspracherecht der Bevölkerung ausging, als es in der Bundesrepublik gegeben war. Hervorzuheben ist außerdem, was der Schriftsteller im Zuge seines Engagements für eine kernwaffenfreie Zukunft nicht sagte: Den von den USA lancierten und von den Unionsparteien in der Bundesrepublik übernommenen antikommunistischen Diskurs, der die Denk- und Wahrnehmungsweisen der Bundesbürger im Laufe der betrachteten Nachkriegsjahrzehnte zusehends prägte, bestärkte er in der Öffentlichkeit zu keinem Zeitpunkt. Stattdessen wandte er sich konsequent gegen die Rüstungspolitik in Ost und West. Diese Konsequenz Kästners blendeten die ostdeutschen Presseorgane allerdings gezielt aus, wenn sie über sein Engagement innerhalb der von ihm mitgetragenen sozialen Bewegungen berichteten. Seine Stellungnahmen nutzte die DDR dezidiert für ihre Propaganda gegen die Bundes-

1307 Kästner (1971), S. 5. Vgl. auch Kapitel 4.3.2. 1308 Überträgt man Ron Eyermans Definitionsansatz zum Intellektuellen, der vermittelt über Organisationen und Kommunikationsnetze der transnationalen 68er-Bewegung agiert (vgl. Kapitel 2.1.), auf die Interventionen der Akteure der Friedensbewegung in der jungen Bundesrepublik, lässt sich auch Kästners Engagement ab den späten 1950er Jahren als das eines »Bewegungsintellektuellen« beschreiben.

4.3 Kästners Einsatz für den Frieden

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republik. Dort wiederum fungierte der Schriftsteller im Sinne Schumpeters als ›Störungsfaktor‹, der zunehmend zur Zielscheibe harscher Angriffe konservativer westdeutscher Zeitungen und erzürnter Bundesbürger avancierte, die den politischen Kurs der USA und der Bonner Regierung verteidigten. Ihm wurde – wie zahlreichen seiner intellektuellen Mitstreiter – nicht allein vorgeworfen, sich vom Kommunismus vereinnahmen zu lassen. Man griff auch zu weiteren diskursiven Ausschluss- respektive Verknappungsstrategien, indem man seine formale Inkompetenz in politischen Fragen betonte und ihn auf seine Position als (Kinder‐)Literat reduzierte. Kästner selbst machte bei seinen öffentlichen Auftritten auf Protestkundgebungen freilich keinen Hehl daraus, sich außerhalb seiner eigentlichen Profession zu äußern. Seine Stellungnahmen legitimierte er durch Anspielungen auf die Bewahrheitung seiner politischen Prognosen in der Vergangenheit ebenso wie durch Rekurse auf die kritischen Aussagen von ›Experten‹ aus der Atomforschung. In der Tradition des ›allgemeinen‹ Intellektuellen brachte er seine Argumente unter Berufung auf universelle Werte und Ideale vor, die er teilweise bereits in seinen früheren pazifistischen Texten betont hatte. So stellte er den (militär)politischen Zielen und Maßnahmen der nationalen wie internationalen Machthaber immer wieder Vernunft, Humanität, Gerechtigkeit und den ›gesunden Menschenverstand‹ gegenüber. Zugleich betonte er regelmäßig die Berechtigung und Notwendigkeit von kollektiven politischen Interventionen als solchen und die Bedeutung ihres gewaltfreien Vorgehens. Auf diese Weise prägte Kästner die demokratische Protestkultur in der jungen Bundesrepublik entscheidend mit.

5 Fazit Am Beginn dieser Studie stand die von Kästner erdachte Glosse über eine Zugreise, in deren Verlauf sich einige Fahrgäste bei ihren Mitreisenden und dem Bahnpersonal unbeliebt machen, indem sie, ohne etwas vom Eisenbahnwesen zu verstehen, die Fahrtrichtung hinterfragen. Inwiefern der Schriftsteller selbst ab 1945 im übertragenen Sinne zu jenen Menschen gehörte, die sich in spezifischen Situationen außerhalb ihrer eigentlichen Profession öffentlich zu Wort meldeten, um Kritik zu üben und Verhaltensalternativen anzumahnen, untersuchten die vorangegangenen Kapitel. Unter der Zielsetzung, Kästners Rolle als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg zu beleuchten und evident zu machen, wurden nacheinander seine berufliche Laufbahn und seine politischen Positionierungen in ihren historischen, gesellschaftlichen und diskursiven Zusammenhängen betrachtet. Die Erkenntnisse, die in den einzelnen Untersuchungsschritten gewonnen werden konnten, sollen im Folgenden noch einmal rekapituliert und unter thematischen wie chronologischen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Entsprechend der Annahme der Intellektuellenforschung, dass die Reichweite und die Wirkungschancen eines Intellektuellen maßgeblich von dem Prestige abhängen, das er in seinem eigenen Tätigkeitsbereich gewonnen hat, wurde als erstes Kästners Nachkriegskarriere als Journalist und Schriftsteller rekonstruiert. Dabei konnten, in Anlehnung an Bourdieu, zugleich Strukturen und Dynamiken innerhalb des kulturellen und insbesondere des literarischen Feldes der unmittelbaren Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik sichtbar gemacht werden. In der Zeit, als dieser gesellschaftliche Handlungsbereich der heteronomen Steuerung durch die Siegermächte unterlag, erfüllte Kästner eine notwendige Voraussetzung, um sich am kulturellen Neuaufbau Deutschlands beteiligen zu können: Da er in seinen literarischen Texten schon vor 1933 Kritik an den Nationalsozialisten geübt hatte und als ›verbotener Autor‹ des ›Dritten Reichs‹ bekannt war, stufte man ihn als ›politisch unbelastet‹ ein. Neben diesem – nach Kriegsende unermesslich wertvollen – symbolischen Kapital verfügte der Schriftsteller jedoch auch über entscheidende kulturelle und soziale Ressourcen. Die zunächst nicht auf das Ausland ausgedehnten Publikationsverbote, denen er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme unterlag, hatten seiner internationalen Bekannt- und Beliebtheit als Literat keinen endgültigen Abbruch getan. Vielmehr waren seine Werke in den Ländern der westlichen Besatzungsmächte weiterhin rege rezipiert worden und die nach Deutschland entsandten Offiziere erkannten das Potential, das seine rhetorischen Fähigkeiten für den von ihnen fokussierten demokratischen Wiederaufbau des besiegten Landes bargen. Gerade Kästners in der Weimarer Republik entstandene Bekanntschaften und Freundschaften zu zahlreichen späteren Exilliteraten, https://doi.org/10.1515/9783111112169-007

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die ihn nach ihrer Emigration als Vertreter des ›anderen Deutschlands‹ betrachteten, erwiesen sich in diesem Zusammenhang als ›Türöffner‹ . Seine günstigen Ausgangsbedingungen nutzend, nahm Kästner ab 1945 verschiedene einflussreiche Positionen im kulturellen Feld ein. Insbesondere als Feuilletonleiter der Neue[n] Zeitung war er nicht nur mit ›äußeren‹ wie ›inneren‹ Emigranten und Vertretern der ›jungen Generation‹ vernetzt – er schuf auch Vernetzungen zwischen diesen Akteursgruppen und gestaltete durch die Veröffentlichung ihrer Texte die Heterogenität des wiederaufblühenden Kulturbetriebes maßgeblich mit. Durch die Herausgabe der Jugendzeitschrift Pinguin war er darüber hinaus aktiv an der ›Umerziehung‹ der in der NS-Zeit geborenen respektive sozialisierten Generation beteiligt. Großes öffentliches Prestige brachten ihm außerdem seine repräsentative Position als Präsident des (west)deutschen PEN-Clubs und seine Tätigkeit als Kabarettautor ein. Die bedeutendsten und langlebigsten Publikumserfolge konnte Kästner allerdings mit seinen Kinderbüchern und deren filmischen Adaptionen feiern. Mit seinen Wieder- und Neuveröffentlichungen für Erwachsene gelang es ihm im Vergleich dazu nur für einen begrenzten Zeitraum, an seine Karriere in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Dass er in diesem Bereich seines Schaffens auf lange Sicht einen Bedeutungsverlust erlitt, ist, wie die Untersuchung gezeigt hat, nicht allein darauf zurückzuführen, was Kästner publizierte beziehungsweise nicht publizierte: Die autonomeren Strukturen, die sich innerhalb des literarischen Feldes der jungen Bundesrepublik allmählich ausdifferenzierten, konnte er nicht in dem Maße gewinnbringend zu seinem Vorteil nutzen, wie manch andere, bis heute bekannte Nachkriegsautoren es vermochten. Gerade in diesem Verlauf der Kästner’schen Nachkriegskarriere liegen, wie sich zusammenfassen lässt, wichtige Gründe dafür, dass sein politisches Eingreifen ab 1945 heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Ausgerechnet in seinem kinderliterarischen Werk, also jenem Bereich seines Schaffens, für den er bis in das einundzwanzigste Jahrhundert hinein besonders berühmt geblieben ist, zeigte sich der Schriftsteller – mit Ausnahme der Konferenz der Tiere – nahezu unpolitisch. Darin, dass es ihm nicht mehr gelang, politisch-literarische Texte für Erwachsene zu verfassen, die Eingang in die Literaturgeschichtsschreibung gefunden hätten, unterscheidet er sich signifikant von Literaten wie beispielsweise Böll oder Grass, die nicht allein als Intellektuelle, sondern zugleich als renommierte politische Schriftsteller in Erinnerung geblieben sind. Auch konnte er im Gegensatz zu den genannten Autoren nicht von einem solch wirkmächtigen Netzwerk wie der Gruppe 47 profitieren, deren Mitglieder bis heute mit großer Selbstverständlichkeit als politisch-kritische Akteure der Nachkriegszeit eingeordnet werden. Dass die Kästner-Forschung sich über lange Zeit vornehmlich den (kinder)literarischen Publikationen und insbesondere dem neusachlichen Frühwerk des Schriftstellers zuwandte, trug schließlich ein Übriges dazu bei, seine Rolle als Intellektueller nach

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dem Zweiten Weltkrieg in der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung verblassen zu lassen. Um dem politischen Wirken des Autors ab 1945 gerecht zu werden, bedurfte es eines interdisziplinären Zugriffs, der es ermöglichte, seine schriftlichen, mündlichen und symbolischen Stellungnahmen gleichberechtigt einzubeziehen und unter Berücksichtigung ihrer historisch-diskursiven Kontexte zu analysieren. So konnte in der vorangegangenen Untersuchung unter Bezugnahme auf die deutsche wie französische Intellektuellensoziologie, die Feldtheorie und die Historische Diskursanalyse nachgewiesen werden, dass – und wie – Kästner den Umstand, dass er bis zu seinem Tod eine vielbeachtete Person des öffentlichen Lebens war, nutzte, um sich in politische und gesellschaftliche Prozesse einzumischen. Entscheidenden Einfluss darauf, dass der Schriftsteller schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als ›moralische Instanz‹ wahrgenommen wurde, hatte seine in zahlreichen Texten, Interviews und Ansprachen betriebene Selbstinszenierung: Regelmäßig präsentierte sich Kästner in der Rolle eines weitsichtigen politischen Mahners, der schon vor 1933 vor den ›Nazis‹ gewarnt und seine Heimat trotz sämtlicher Restriktionen durch ihr Regime nicht verlassen hatte, um ›Augenzeuge‹ zu bleiben. Ebendieser Verbleib im NS-Deutschland prägte allerdings nicht nur maßgeblich, wie er sich selbst ab 1945 darstellte, sondern auch, wie er sich politisch positionierte. Anders als seine nach der nationalsozialistischen Machtübernahme emigrierten Kollegen hatte er nach dem Zusammenbruch der Diktatur keineswegs die Sprecherposition eines ›Außenstehenden‹ inne – ein Umstand, der im Foucault’schen Sinne zugleich die Grenzen dessen, was für ihn sagbar war, definierte. Über eine moralische Mitverantwortung aller Deutschen für die in den Vorjahren begangenen Verbrechen oder über die Legitimität kultureller Betätigung zwischen 1933 und 1945 zu sprechen, hieß für Kästner stets auch, über sich und seine eigene Position in diesen Jahren zu sprechen. Seinem Selbstverständnis als Leidtragender des NS-Regimes, aber auch seinen feldinternen Interessen folgend, setzte er sich strikt gegen tatsächliche wie antizipierte Kollektivschuldvorwürfe an die deutsche Bevölkerung zur Wehr und verzichtete darauf, die Aktivitäten Kulturschaffender im ›Dritten Reich‹ per se zu verurteilen. Seine explizit wie implizit exkulpierenden Stellungnahmen kamen den Sichtweisen und Interessen der meisten Deutschen nach dem Kriegsende insofern entgegen, als sie es ihnen erlaubten, sich nicht als Täter zu definieren. Doch im Gegensatz zur Mehrheit seiner Landsleute wollte Kästner die nationalsozialistische Vergangenheit weder ›schönreden‹ noch vergessen, sondern allem voran dafür sorgen, dass sie sich nicht wiederholt. Obgleich er die deutschen und europäischen Juden als Opfer des in der NS-Zeit begangenen Völkermordes parallel zu vielen anderen Intellektuellen erst in den frühen 1960er Jahren explizit in den Fokus der Betrachtung rückte, thematisierte er das Ausmaß der in den

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Konzentrationslagern begangenen Verbrechen schon bald nach dem Ende der Diktatur. Nicht minder schnell plädierte er für die Ahndung dieser Verbrechen und stellte sich dem gesellschaftlich verbreiteten Diktum über eine »Siegerjustiz« der Besatzungsmächte entgegen. Auch die zu Tage tretenden ideologischen Kontinuitäten der nationalsozialistischen Herrschaftszeit beanstandete er, ebenso wie einzelne personelle Kontinuitäten im Kulturbetrieb, bereits, als sie vom Gros der Bevölkerung noch widerstandslos akzeptiert beziehungsweise mitgetragen wurden. Dabei wies er den konsequenten Bruch mit jeglichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen, die vom NS-Regime bestärkt worden waren oder dessen Etablierung seiner Ansicht nach erst ermöglicht hatten, als notwendige Voraussetzung für den Aufbau und Erhalt der Demokratie aus. Außerdem warnte Kästner, der sich als Literat schon vor 1933 dezidiert pazifistisch geäußert hatte, bald nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands vor der Möglichkeit erneuter Kriege und übte nur wenig später Kritik am Scheitern der internationalen Friedenspolitik, das sich für ihn im aufziehenden Ost-West-Konflikt manifestierte. Von den übergreifenden Zielen, die der Autor mit seinen oftmals von Ironie, Sarkasmus und Zynismus geprägten Stellungnahmen bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit verfolgte, rückte er auch nach der Gründung der Bundesrepublik nicht ab. Bis in seine letzten Lebensjahre hinein galt sein Einsatz der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, der Verteidigung der Demokratie und der Bewahrung des Friedens. Führt man sich die besagten thematischen Konstanten innerhalb der politischen Positionierungen des Schriftstellers vor Augen, dann treten die Entwicklungen und Veränderungen, die bezüglich der strukturellen Bedingungen und der Adressatenkreise seiner Stellungnahmen aufgezeigt werden konnten, umso deutlicher in Erscheinung: Unmittelbar nach dem Ende der NS-Herrschaft stellte sich Kästner zunächst in den Dienst der von den westlichen Siegermächten angestoßenen Reeducation. Zwar stand er durchaus nicht allen Vorgehensweisen der Besatzer affirmativ gegenüber, sondern bemängelte sowohl ihre Zonenpolitik als auch ihren Umgang mit den deutschen Kriegsgefangenen. Ihre Ziele, die Bevölkerung zu einer Auseinandersetzung mit den in den Vorjahren begangenen Verbrechen zu bewegen und sie zu mündigen und demokratiefähigen Menschen ›umzuerziehen‹ , teilte und unterstützte er gleichwohl mit großer Entschlossenheit. Als Mitarbeiter der amerikanischen Neue[n] Zeitung genoss er dabei einen gewissen Grad an ›Professionsschutz‹ . In der jungen Bundesrepublik mischte Kästner sich hingegen außerhalb seiner Profession in politische Prozesse ein. Hauptgegenstand seiner Kritik war nun nicht länger das Verhalten seiner Mitbürger. Freilich ging er weiterhin gegen den Opportunismus, die ›Rückwärtsgewandtheit‹ und die ›Verdrängungsfreude‹ an, die er

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der westdeutschen Gesellschaft attestierte. Im Fokus seiner Attacken standen allerdings mehr und mehr die innen- wie außenpolitischen Entscheidungen der CDU/ CSU-Regierung. Mit zunehmender Vehemenz sprach sich Kästner im Laufe der 1950er und 1960er Jahre gegen die Verabschiedung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, gegen die mit dem Westintegrationskurs Adenauers einhergehende Remilitarisierung und schließlich auch gegen die Partizipation der Bundesrepublik an der nuklearen Rüstungspolitik der Großmächte und die Notstandsgesetzgebung aus. Dabei machte er es den Regierenden mehrfach rigoros zum Vorwurf, die Volksmeinung respektive die in der Verfassung verankerten Werte zu ignorieren und so die Demokratie zu ›untergraben‹ . Neben den westdeutschen Unionspolitikern wurden in jenen Jahrzehnten allerdings auch die Großmächte zur Zielscheibe seiner Angriffe. Allem voran protestierte der Schriftsteller gegen ihr atomares ›Wettrüsten‹ im Zuge des Kalten Krieges und das militärische Vorgehen der USA in Vietnam. Die Vorbehalte, die er den ehemaligen Alliierten nach dem Ende der Besatzungszeit offen entgegenbrachte, zeigten sich überdies in seiner Art und Weise, über ihr Verhalten zu Beginn der NS-Diktatur zu urteilen – lastete er ihnen doch retrospektiv die Unterstützung Hitlers und damit einhergehend eine Mitverantwortung für die alsbald begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Eine weitere zentrale Veränderung lässt sich hinsichtlich der Positionierungsformen geltend machen, derer sich Kästner bediente. In der unmittelbaren Nachkriegszeit brachte er seine Wertsetzungen, Situationsanalysen und kritischen Sichtweisen vorrangig in journalistischen und literarischen Texten zum Ausdruck. Demgegenüber nutzte er seit den frühen 1950er Jahren zunehmend auch und in den 1960er Jahren schließlich fast gänzlich andere Möglichkeiten, um sich diskursiv verankerten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die er ablehnte, entgegenzustellen: Er unterschrieb und verfasste Resolutionen, Appelle und offene Briefe und wandte sich mit öffentlichen Ansprachen immer häufiger direkt an seine Mitbürger. Als Forum für diese unmittelbare Einflussnahme dienten ihm Protestkundgebungen und manches Mal auch seine eigenen Lesungen. Zudem bediente er sich symbolischer Protestformen wie der Teilnahme an Mahnwachen und Demonstrationen. Setzt man diese Entwicklung zu dem nachgezeichneten Karriereverlauf des Schriftstellers in Beziehung, dann bleibt zu bestätigen und zu unterstreichen, was Hanuschek über die politische ›Radikalisierung‹ Kästners in der Bundesrepublik vermerkte: Sie vollzog sich außerhalb seines literarischen Werkes.¹

1 Vgl. Hanuschek (2012) S. 98. Gerade diese Erkenntnis stützt im Übrigen auch die zu Beginn dieser Studie vertretene These, dass jene wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich weitestgehend auf

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Wie nun lässt sich Kästner mit seinen Zeitdiagnosen und politischen Interventionen innerhalb der Intellektuellen-Profile verorten, die dem analytischen Bezugsrahmen dieser Studie zugrunde gelegt wurden? Bediente er sich, mit Schumpeter gesprochen, »der Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes«,² dann bezog er sich über die betrachteten Jahrzehnte hinweg für gewöhnlich auf die Denker beziehungsweise das Gedankengut der Aufklärung. Seine Argumentationen lebten von der Berufung auf Werte wie Vernunft, Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Humanität. In bestimmten Situationen agierte Kästner jedoch nicht (nur) in dieser klassischen Rolle des ›allgemeinen‹ Intellektuellen, der sich außerhalb seiner Profession äußert. Mit seinem Protest gegen die Verabschiedung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in den frühen 1950er Jahren und seiner Beanstandung der behördlich genehmigten Bücherverbrennung am Rheinufer im Jahr 1965 verteidigte er, im Sinne Bourdieus, zugleich auch die Autonomie, die sein eigenes kulturelles Produktionsfeld – unter seiner Mitwirkung – nach 1945 Schritt für Schritt wiedererlangt hatte. Darüber hinaus trat er sowohl im Rahmen der ›Schmutz und Schund‹ -Debatte und der Debatte gegen die Notstandsgesetze als auch innerhalb der sozialen Bewegungen, an denen er seit den späten 1950er Jahren partizipierte, als Intellektueller auf, der sich gezielt in Gruppenzusammenhänge einordnet beziehungsweise diese zu schaffen versucht. Damit steht Kästner zugleich repräsentativ für eine zentrale intellektuellengeschichtliche Entwicklungslinie vom ›allgemeinen‹ hin zum kollektiven respektive Bewegungsintellektuellen: Um die Wirkungsmacht ihrer Interventionen zu steigern, vernetzten sich Kulturschaffende, Wissenschaftler und phasenweise auch Oppositionspolitiker in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend, um die Wirkungsmacht ihrer Interventionen zu steigern. Dass Kästner sich im Rahmen der kollektiven Protestveranstaltungen gegen die atomare Aufrüstung auf die Urteile ›spezifischer‹ Intellektueller aus der Nuklearforschung bezog, ist ebenfalls charakteristisch für diesen Prozess. Der Schriftsteller nahm die besagten Intellektuellen-Rollen im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte allerdings nicht nur mit immer größerem Selbstbewusstsein und immer größerer Selbstverständlichkeit ein. Er reflektierte vermehrt auch den Stellenwert intellektuellen Eingreifens für die Demokratie. Damit einhergehend problematisierte er in den 1960er Jahren mehrfach die zunehmende öffentliche Diffamierung Intellektueller, in der sich die Weigerung der Regierenden und breiter Teile der Bevölkerung abzeichnete, Kritik und Veränderungsimpulse als Teil de-

die Analyse der literarischen Werke Kästners beschränkten, seinem politischen Wirken nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht gerecht werden konnten. 2 Schumpeter (1950), S. 237.

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mokratischer Verständigungs- und Aushandlungsprozesse zu begreifen. Für Kästner war und blieb es nach der zwölfjährigen Diktaturerfahrung indes eines der höchsten Güter der Demokratie, offen widersprechen und seine politischen Ansichten vertreten zu können. Vor diesem Hintergrund begnügte er sich nicht damit, Dinge ›sagbar‹ zu machen, die den vorherrschenden politischen Diskursen zuwiderliefen. Er trug auch zu dem von Wolfrum konstatierten ›Lernprozess‹ der Demokratie bei, indem er versuchte, die Bevölkerung ›zum Sprechen‹ zu bringen und ihre Vorbehalte gegen politische Entscheidungen offen zu zeigen – ermutigte er sie doch, Resolutionen zu unterschreiben und für ihre Meinung auf die Straße zu gehen. Wie enorm in der bundesdeutschen Gesellschaft der späten 1950er und 1960er Jahre analog zu dem von Kästner bestärkten Widerspruchsgeist das Klima der Kritikfeindlichkeit zunahm, konnte im Verlauf der Untersuchung exemplarisch anhand der Betrachtung der zunehmend kontroversen Reaktionen auf die politischen Stellungnahmen des Schriftstellers herausgestellt werden. Die kritischen Stimmen, die gegen ihn laut wurden, demonstrieren nachdrücklich, dass er innerhalb der untersuchten Diskurse – die stets auch Kämpfe um die Deutungshoheit von Begriffen wie »Gerechtigkeit«, »Freiheit« und »Toleranz« waren – durchaus das Risiko einging, das symbolische Kapital, das er nach dem Krieg akkumuliert hatte, zugunsten seiner politischen Überzeugungen zu ›verspielen‹ . Vertreter konservativer Presseorgane und zahlreiche Bundesbürger, die hinter den Entscheidungen ihrer Regierung standen, griffen nicht allein die von ihm vertretenen Aussagen als solche an. Sie sprachen ihm auch vehement die Fähigkeit und Legitimation ab, sich überhaupt in politischen Fragen zu äußern. Im Zuge diskursiver Ausschluss- und Verknappungsstrategien wurde er nicht selten auf seine Position als (Kinder‐)Literat reduziert oder, der antikommunistischen Stimmungslage entsprechend, bezichtigt, sich durch ›den Osten‹ vereinnahmen zu lassen. Zahlreiche andere Intellektuelle sahen in Kästner hingegen einen wertvollen Mitstreiter für ihre Interventionen und Bundesbürger wie Journalisten, die den nationalen wie internationalen politischen Entwicklungen ebenso kritisch gegenüberstanden wie er, feierten seinen Mut und sein Bemühen, »wenigstens die ›kleine Freiheit‹ zu verteidigen«, weil sie die Meinung teilten, dass »aus der großen nichts geworden [war]«.³ Man könnte auch sagen: Sie feierten einen ›Störenfried‹ , der schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs damit begonnen hatte, öffentlich zu hinterfragen, ob der Zug in die richtige Richtung fährt.

3 Mit diesen Worten bezog sich Ernst Trost, in Anspielung auf Kästners berühmtes Eröffnungslied der [K]leine[n] Freiheit, auf dessen politische Interventionen in den 1960er Jahren. Siehe Trost, Ernst: Unbequemer Vormittag mit Erich Kästner. In: Kronen Zeitung, 19.9.1966.

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I Primärliteratur

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c) Weitere Dokumente: [anonym]: Genehmigter Text eines Interviews Münchner Mitglieder von Amnesty International mit Herrn Dr. Erich Kästner am 19. 4. 1971 in der Münchner Gaststätte Leopold (Abschrift). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv/Mappe 67 zum Konvolut: Ordner 19. HS.1998.0003. Breithaupt, Christoph: Antrag auf Zuerkennung von Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen. Schreiben vom 29. 1. 1954 (Kopie). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Wiedergutmachung. HS.2002.0154. Göthberg, Lennart: Begegnung mit Erich Kästner. Übersetzt von E. Stieve. o.D. [1946]. Typoskript. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Archiv. Konvolut: Ordner 4. HS.1998.0003. Kästner, Erich: Akten-Notiz (PEN) vom 1. Februar 1949. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner/PEN/Schmutz- und Schundgesetz. HS.1998.0003. Kästner, Erich: Unbedenklichkeitserklärung für Fritz Hippler vom 25. 3. 1947 (Durchschlag). DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich. HS.1998.0003. Presseausweis der Neuen Zeitung für Erich Kästner, o.D. [Oktober 1945]. DLA Marbach/Nachlass Erich Kästner. A: Kästner, Erich/Neue Zeitung. HS.2002.0154.

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IV Filme Das doppelte Lottchen. Nach dem gleichnamigen Kinderbuch. Regie: Josef von Báky. Drehbuch: Erich Kästner. Carlton-Film (Günther Stapenhorst), BRD 1950. Das fliegende Klassenzimmer. Nach dem gleichnamigen Kinderbuch. Regie: Kurt Hoffmann. Drehbuch: Erich Kästner. Carlton-Film (Günther Stapenhorst), BRD 1954. Der kleine Grenzverkehr. Regie: Hans Deppe. Drehbuch: Berthold Bürger (d. i. Erich Kästner). UFA, Deutschland 1943. Die Konferenz der Tiere. Nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Erich Kästner. Regie und Drehbuch: Curt Linda. Linda-Film-Produktion, BRD 1969. Die verschwundene Miniatur. Nach dem gleichnamigen Roman. Regie: Carl-Heinz Schroth. Drehbuch: Erich Kästner. Carlton-Film (Günther Stapenhorst), BRD 1954. Drei Männer im Schnee. Nach dem gleichnamigen Roman. Regie: Kurt Hoffmann. Drehbuch: Erich Kästner. Ring-Film, Österreich 1955. Emil und die Detektive. Nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner und einem Entwurf von Billy Wilder. Regie und Drehbuch: Robert A. Stemmle. Berilona-Film GmbH, BRD 1954. Münchhausen. Regie: Josef von Báky. Drehbuch: Berthold Bürger (d. i. Erich Kästner). UFA, Deutschland 1943. Pünktchen und Anton. Nach dem gleichnamigen Roman und Theaterstück von Erich Kästner. Regie: Thomas Engel. Drehbuch: Maria Osten-Sacken und Thomas Engel. Rhombus-Film GmbH, RingFilm, BRD/ Österreich 1953. Salzburger Geschichten. Regie: Kurt Hoffmann. Drehbuch: Erich Kästner. Georg Witt-Film GmbH, BRD 1956.

Personenregister Acheson, Dean 355 Adenauer, Konrad 135, 184, 201 f., 254, 290 f., 306 f., 320, 354 – 356, 358, 392, 397, 408, 429, 436 Adorno, Theodor W. 158, 237, 255 Ahlers-Hestermann, Friedrich 296 Aichinger, Ilse 180 Aigner, Ernst 265 Amadeus, Peter (d. i. Günther Schwill) 99 Ambesser, Axel von 104, 109 Anders, Günther 425 Andersch, Alfred 50, 92, 144 f., 149, 155, 165, 236 Andres, Stefan 304, 400, 415 Apitz, Bruno 160, 188 Arendt, Hannah 213 Aristophanes 378 – 380 Arnheim, Rudolf 59 – 61, 78, 89 f., 269 Asscher-Pinkhof, Clara 205, 245 – 247 Attlee, Clement Richard 45 Bächler, Wolfgang 92 Bachmann, Ingeborg 148, 163, 180, 425 Báky, Josef von 68, 74, 130 f., 133 Barrie, J. M. 128 Barth, Emil 178 Bartsch, Inge 104 Barzel, Rainer 422 Baudelaire, Charles 32, 88 Bauer, Walter 178 Baumann, Hans 120 Becher, Johannes R. 89, 169 – 178 Beck, Hansjürg 101 Becker, Willi 329 – 334, 341 f. Beckmann, Max 87 Beheim-Schwarzbach, Martin 178, 188 Benedikt, Heinrich (d. i. Benno Wundshammer) 99 Benjamin, Walter 62 Benn, Gottfried 164, 276 – 278 Berendsohn, Walter A. 169 Bergengruen, Werner 88 Bergsträsser, Ludwig 181 https://doi.org/10.1515/9783111112169-009

Bevin, Ernest 355 Biederstaedt, Claus 133 Bielenberg, Christabel 160 Birkenfeld, Günther 172, 174 Bloch, Ernst 425 Blocherer, Karl 265 f. Böll, Heinrich 3, 161, 163, 166, 188, 190, 332, 343, 347, 400, 425, 433 Borchert, Wolfgang 51, 92, 97 Borée, Carl Friedrich 177 f. Bormann, Martin 209, 313 Born, Max 347, 358, 400, 422 Borsody, Eduard von 250 Bouché, Pony (d. i. Margot Schönlank) 102, 113, 156, 169, 308 f. Bouhler, Philipp 274 f. Bracken, Brendan 218 Brandt, Willy 190, 331, 418 Braun, Eva 282 f. Braun, Hanns 178, 321, 324 Brecht, Bertolt 52, 59 – 61, 75 f., 89, 139, 146, 184 f., 398, 401 Breithaupt, Christoph 270, 397 Brendler, Barbara 321 f. Brentano, Bernhard von 278 Breton, André 366 Breuer, Jochen 114 Brod, Max 89 Bronnen, Arnolt 68, 278 Brücher, Hildegard 122 Brühl, Hans (d. i. Martin Kessel und Erich Kästner) 74 Brühl, Helmuth 95, 154 Brunner, Fritz 123 Bry, Curt 114 Bucerius, Gerd 187 Buck, Pearl S. 88, 97 Buckwitz, Harry 184 f. Buhre, Werner 58, 74, 95, 269 Bürger, Berthold (d. i. Erich Kästner) 68, 132 f. Burkhardt, Fritz 265 Burman, Ben Lucien 176

466

Personenregister

Burnham, James Byrnes, James F.

174 372

Camus, Albert 88, 328, 366 Carossa, Hans 278 Carver, David 186 f. Celan, Paul 163 Chagall, Marc 87 Chaplin, Charlie 134 Chaval (d. i. Yvan Francis Le Louarn) Churchill, Winston 45, 218 Claudius, Matthias 104, 208 Clemenceau, Georges 243 Connelly, Marc 176 Croce, Benedetto 87 Crosby, Bing 279 Czettritz-Lohmüller, Annemarie 99

Enderle, Luiselotte 65, 69, 71 f., 80 f., 89, 94 f., 122, 124, 137, 146, 178, 373 Engel, Thomas 132 Enoch, Kurt 271 – 273 Enzensberger, Hans Magnus 3, 148, 163, 188, 347, 422, 425 Erhard, Ludwig 87, 291, 331 – 333, 335 f., 426 Eschenburg, Theodor 99 Eulenberg, Herbert 170, 172 312

Dahlke, Paul 133, 271 Daum, Reinhold 272 f. Davis, Garry 365 – 368 de Gaulle, Charles 45 Deschner, Karlheinz 385 Dibelius, Otto 337 Dietrich, Sepp 396 Dirks, Walter 3, 50, 254, 400 Disney, Walt 136 Döblin, Alfred 89, 162, 205 Dönhoff, Marion Gräfin 187 Dönitz, Karl 211 – 213 Donkersloot, Nicolaas Anthonie 181 Dor, Milo 92 Dos Passos, John 88, 205, 213 f. Durian, Wolf 57, 120 Dürrenmatt, Friedrich 162, 309 Ebermayer, Erich 273 – 276 Edschmid, Kasimir 174 – 180, 182, 189 f. Eggebrecht, Axel 88, 172, 178 Eich, Günter 163, 180 Eichmann, Adolf 213, 245 Einstein, Albert 65, 87, 366, 403 Einstein, Siegfried 335 f. Eisenhower, Dwight D. 83, 85 Eliasberg, Wladimir G. 223 f. Eliot, George 97 Ende, Michael 128

Fallada, Hans 59, 161 Farjeon, Eleanor 128 Feiler, Max Christian 390 Feilitzsch, Karl von 114, 385 Feuchtwanger, Lion 60 f., 168 Finck, Werner 88, 104 Finkh, Ludwig 274 Flake, Otto 196 Fleischer, Jack M. 86, 95 Foerster, Eberhard (d. i. Eberhard Keindorff und Erich Kästner) 74 Forst, Willy 287 Foster Dulles, John 356 France, Anatole 96 Franco, Francisco 258, 372 Frank, Anne 246 Frank, Bruno 106 Frank, Hans 212 Frank, Leonhard 89 Frank, Willy 240 Franzel, Emil 412 Franzen, Erich 78 f., 89 – 91, 278 Freisler, Roland 249 Freud, Sigmund 224 Frick, Wilhelm 212 Fried, Erich 425 Friedenthal, Richard 175 f., 178, 180 f. Friedmann, Hermann 170, 172 f., 175 – 180 Friedrich der Große 55, 396 Friese, Achim 70 f. Frisch, Max 91 f., 162, 402 Fritzsche, Hans 211 f. Fromm, Erich 87 Fulda, Ludwig 301 Funk, Walther 212 f. Gaiser, Gerd

164, 278

Personenregister

Gaitzsch, Ulrich 424 f. Gebhardt, Hertha von 120 Geigenberger, Otto 265 Geitlinger, Ernst 265 f. George, Manfred 89 f. Gerlach, Walter 358 Gide, André 88 Gilbert, Robert 114 f., 390 Giraudoux, Jean 88 Glaeser, Ernst 66, 68 Globke, Hans 254 Goebbels, Joseph 21, 65, 68, 138, 270 f., 274 f., 277, 287, 302, 313, 395 Goes, Albrecht 88 Goethe, Johann Wolfgang von 63, 163, 369, 403, 415, 419 Goldschmidt-Jenter, Rudolf 324 Gollwitzer, Helmut 347, 415, 422, 425 Göring, Hermann 211 – 213, 313 Gorski, Peter 415 Göthberg, Lennart 82, 260 Gottschalk, Rudolf 324, 335 f. Goyert, Georg 180 Grass, Günter 3, 148, 161, 163, 166, 188, 328, 331 f., 336 – 338, 343 f., 418, 433 Groll, Gunter 112, 156, 269, 390 Gründgens, Gustaf 287, 415 Günther, Isa 130 Günther, Jutta 130 Haagen, Margarethe 104 Habe, Hans 83 – 86, 93, 97, 232 Hagemann, Walter 402 Hahn, Otto 358 Hamm-Brücher, Hildegard 402 Hansen, Max 60 Harden, Maximilian 88 Harich, Wolfgang 77 Harlan, Veit 75, 271, 279, 285 – 289 Hassencamp, Oliver 104, 114, 391 f. Haupt, Ullrich 157 Hauptmann, Gerhart 88 Hausenstein, Wilhelm 196 Haushofer, Albrecht 97 Hausmann, Manfred 88, 196 Heine, Heinrich 325 f., 397 Heinemann, Gustav 400

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Heinzelmann, Gerhard 272 Heisenberg, Werner 358 Heißenbüttel, Helmut 163 Held, Hans Ludwig 122 Hemingway, Ernest 88 Hennecke, Hans 178 Hepp, Fred 321 Herking, Ursula 104, 110, 114, 234, 391 Hermann-Neiße, Max 168 Hermlin, Stephan 176, 188 Heß, Rudolf 211 – 213 Hesse, Hermann 59 Heuss, Theodor 87, 298 Heym, Stefan 85 Heyn, Immanuel 301 Hicks, Edward 373 Hildesheimer, Wolfgang 163, 180 Hill, Roland 348 Hillers, Hans Wolfgang 249 Hilpert, Heinz 421 f. Himmler, Heinrich 243 Hindenburg, Paul von 65 Hippler, Fritz 67, 269 f., 287, 349 Hitler, Adolf 21, 43, 49, 64 – 66, 68, 75, 133, 138, 151 f., 164, 197 f., 201, 206, 209, 218 f., 226 f., 237, 243, 245, 248, 251, 253, 264, 270, 273, 277 – 283, 293, 302 f., 313, 339, 346, 395, 398, 436 Hobbes, Thomas 140, 375 Hochhuth, Rolf 166, 331 f. Höcker, Paul Oscar 274 Hoffmann, Heinrich 282 Hoffmann, Kurt 131 – 133 Hofmann, Werner 335 f. Hofmannsthal, Hugo von 52, 163 Hölderlin, Friedrich 97 Höllerer, Walter 165 Holsboer, Wilhelm 106 Horney, Brigitte 250 Huch, Ricarda 88 Huelsenbeck, Richard 269 Huizinga, Johan 87 Hürlimann, Bettina 123 Huxley, Aldous 383 Huxley, Julian 87 Hymmen, Friedrich Wilhelm 272

468

Personenregister

Ibsen, Henrik 388 Immermann, Eva 104 Infeld, Leopold 403 Jäckel, Günter 424 Jackson, Robert H. 200, 219 – 221, 223 Jacobi, Hansres 194 Jacobs, Monty 59 Jahnn, Hans Henny 162, 172, 178, 422 Jansen, Werner 274 Jaspers, Karl 50, 200 f., 205, 220 Jens, Walter 165, 331, 425 John, Karl 104 Johnson, Uwe 161 Johst, Hanns 274 Joos, Georg 402 Jung, Carl Gustav 221 – 226, 229, 272, 274, Jünger, Ernst 164, 276 – 278, 337 Jungk, Robert 420 f. Jungnickel, Max 274 Jürgs, Michael 335 Just, Gilbert 341 Kaiser, Jakob 176 Kaiser, Joachim 165 Kaléko, Mascha 97 Kalenter, Ossip 60, 181 Kaltenbrunner, Ernst 209 Kant, Immanuel 375 – 378 Karasek, Hellmuth 165 Kasack, Hermann 88, 162, 172, 178, 190 Kaschnitz, Marie-Luise 88 Kästner, Ida 63, 101, 124 Keilhack, Irma 306 Keindorff, Eberhard 74, 269 Keitel, Wilhelm 211, 213 Kemmer, Emil 291 Kennedy, Bill 83 Kerr, Alfred 88, 139, 168, 205 Kessel, Martin 74, 88 Kesten, Hermann 57, 59 – 61, 78, 87, 89, 159, 184 f., 190 f., 278, 321 Kiaulehn, Walter 88 Kiesinger, Kurt Georg 254, 256 Kindler, Helmut 284 Kirst, Hans Hellmuth 130 Kissinger, Henry 419

Klarsfeld, Beate 256 Klee, Paul 87, 266 Klein, Theo 340 Kleist, Heinrich von 97 Klinger, Paul 271 Knauf, Erich 60 Knoeringen, Waldemar von 402 Koeppen, Wolfgang 162, 166, 180 Kogon, Eugen 50, 200, 254 Kolb, Anette 89 Kolbenhoff, Walter 92, 164 Kollwitz, Käthe 65, 87 Kolman, Trude 113, 117 f., 382 Kramer, Stanley 134 Kratz, Männe 238 – 240, 247 Krauß, Werner 287 f. Krell, Max 89, 156 Kretzschmar, Ingeburg 186 f., 423 Krüger, Bum 104, 114, 392 Krüger, Hellmuth 104, 107 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 209 Krüss, James 128 f., 136 Kuby, Erich 50, 415, 421 Kurtz, Melchior (d. i. Erich Kästner) 133, 149 Kutscher, Artur 269 Lampel, Martin 62 Lamprecht, Anton 265 Lange, Horst 88, 180 Langer, Ilse 170 Langewiesche, Marianne 180 Langgässer, Elisabeth 172 Langhoff, Wolfgang 91 Le Bon, Gustave 241 Ledig, Gerd 161 Ledig-Rowohlt, Heinrich Maria 96, 100 f., 296 f. Lehmann, Hans 85 Lehmann, Wilhelm 178 Lehr, Robert 395 Lembke, Robert 85 Lenin, Wladimir Iljitsch 422 Lentz, Michael 135, 397 Lenz, Siegfried 331 Leonhardt, Rudolf Walter 163, 188 Lepman, Jella 121 – 124, 128, 368, 373, 377 Lessing, Gotthold Ephraim 52, 147, 194 Levi, Primo 160

Personenregister

Lewis, Sinclair 88 Ley, Robert 209 Linda, Curt 135 f., 369, 375 Lindgren, Astrid 123, 128 f. Lion, Ferdinand 276 Löbel, Bruni 114 London, Jack 97 Löns, Hermann 395 Lorentz, Kay 114, 330 – 332, 336, 343 f. Lorentz, Lore 114, 330 – 332, 336, 343 f. Lüders, Günther 113, 133 Lüth, Erich 287 Luther, Martin 379 Luxemburger, Hans 303 Malachowsky, Leo von 96 Mankiewicz, Joseph L. 134 Mann, Erika 205, 214 Mann, Heinrich 59, 65 f., 89, 159, 168 Mann, Klaus 78, 83, 271 Mann, Thomas 60, 88 f., 139, 159, 161 f., 170, 195 – 198 Marcuse, Ludwig 89, 167 Marian, Ferdinand 75 Martial 147 Martini, Winfried 421 f. Maschler, Kurt 120, 426 Matthießen, Wilhelm 120 Maugham, William Somerset 88, 97 Maurer, Monica 133 Maybach, Christiane 391 f. Mayer, Hans 165, 188 Meckel, Christoph 148 Mehring, Walter 60 f. Meier, Heinrich Christian 186 Meinecke, Eva Maria 114 Meinecke, Friedrich 200 Meister, Ernst 148 Mendelssohn, Peter de 60, 83, 155, 159, 162, 205, 213 f. Meyer, Rolf 250 Michael, Friedrich 60, 137, 154 Mitscherlich, Alexander 87 Mohler, Armin 337 – 339 Molo, Walter von 196 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 372 Montaigne, Michel de 88

Moore, Clement Clarke 122 Morlock, Martin 114 Mostar, Hermann (d. i. Gerhart Hermann) Müller-Gast, Alfred 330 – 334

469

99

Nabokov, Vladimir 328 Natonek, Hans 60 f., 90 Neudeck, Heinz 303 Neumann, Günter 114, 154 Neumann, Robert 59, 83 Neuner, Robert (d. i. Werner Buhre und Erich Kästner) 74 Neurath, Konstantin von 212 Nick, Edmund 60, 104, 108 – 111, 114, 234 Niel, Adolphe 394 Nielsen, Hans 392 Niemöller, Martin 400, 415, 420 – 422 Nietzsche, Friedrich 259 Noack-Mosse, Eva 99 Nossack, Hans Erich 88, 161 f., 178 Ohser, Erich 56, 60 Olden, Rudolf 168 Opitz, Karlludwig 186 Oppenheimer, Robert 16 Oprecht, Emil 124 Ossietzky, Carl von 60 Osten-Sacken, Maria von der 132 Osthoff, Otto 103 f., 106 f. Otto, Hans 224 Ould, Hermon 167, 169 – 171, 174 f. Pabel, Hilmar 99, 101 Papen, Franz von 212 Pardun, Arno 395 Pechel, Rudolf 170, 174 Penzoldt, Ernst 88, 169, 172 f., 176, 298 Pfeiffer-Belli, Erich 322 Picard, Max 200 Pinthus, Kurt 59, 89 Piper, Klaus 180, 188 Piscator, Erwin 56 Planck, Max 87 Platon 407, 409 Plievier, Theodor 170, 172, 174 Polgar, Alfred 60, 89, 278 Pollatschek, Walther 125

470

Personenregister

Preis, Kurt 117 Preußler, Otfried Priestley, John B. Quest, Hans

128 402

114

Rabenalt, Arthur Maria 103 Raddatz, Fritz J. 165 Raeder, Erich 211 – 213 Rasche, Friedrich 412 Rassy, Gustav Christian 274 Redslob, Edwin 196 Regius, E. F. 297 Regnier, Charles 114 Reich-Ranicki, Marcel 57, 78, 165, 188, 335 f. Reif, Adalbert 418 Reifferscheidt, Friedrich M. 321 Reindl, Ludwig Emanuel 102, 322 Remarque, Erich Maria 89 Renn, Ludwig 172 Reschke, Willi 125 Ribbentrop, Joachim von 211, 213 Richter, Hans Werner 3, 50, 92, 104, 161, 164, 180, 331, 401, 418 Ridder, Helmut 347 Riefenstahl, Bertha Ida 282 Riefenstahl, Leni 280 – 285 Ringelnatz, Joachim 104 Rinsert, Ludwig 402 Roosevelt, Franklin D. 45 Rosenbach, Detlev 334, 340 Rosenberg, Alfred 211 Rossellini, Roberto 402 Rotblat, Józef 403 Rousseau, Jean-Jacques 371 Rowohlt, Ernst 422 Rühmkorf, Peter 331 Ruhrberg, Karl 340 f. Runge, Erika 402 Russell, Bertrand 87, 402 f., 416, 420 Saalfeld, Martha 178 Sagan, Françoise 328 Sahl, Hans 269 Saroyan, William 88, 97 Sartre, Jean-Paul 8, 12, 15, 52, 88, 296, 402 Sauckel, Fritz 212

Schaefer, Oda 88, 180 Schallück, Paul 331 Schenzinger, Karl Aloys 120 Schirach, Baldur von 211, 272 Schlichter, Rudolf 265 f. Schmid, Carlo 255, 298 – 300, 303, 400 Schmidt, Arno 162, 166 Schmidt, Eberhard 43, 67 f., 80, 103 Schmidt, Jochen 335 Schmidt, Manfred 99 Schmiele, Walter 180, 184 f., 188, 190 Schnabel, Ernst 51, 165 Schnack, Anton 275 Schneider, Reinold 172 Schneider-Schelde, Rudolf 169, 172 Schnog, Karl 97 Schnurre, Wolfdietrich 92, 188 f., 425 Schoenberger, Franz 78 Scholl, Hans 249 Scholl, Sophie 249 Schönböck, Karl 104, 114, 382, 391 Schrems, Theobald 279 f. Schröder, Rudolf Alexander 296 Schroth, Carl-Heinz 132 Schulz, Klaus-Peter 332 Schumacher, Kurt 87 Schumann, Karl 325 Schündler, Rudolf 103 f., 106 f., 112 f. Schützler, Hannelore 391 Schweikart, Hans 180, 308, 320 f., 323 Schweitzer, Albert 366 Schwenzen, Per 114 Scott, Catherine Amy Dawson 167 Seebohm, Hans-Christoph 333 Seghers, Anna 89, 161, 172, 423 f. Seyß-Inquart, Arthur 211 Shakespeare, William 208, 383 Shelley, Percy Bysshe 88 Shirer, William 214 Sidow, Max 186 Siegmund-Schultze, Friedrich 420 f. Silex, Karl 332 Silone, Ignazio 241, 309 Simons, Carl-Werner 339 Smith, Howard 214 Söderbaum, Kristina 285 Sokrates 407 – 410

Personenregister

Sombart, Nicolaus 92 Speer, Albert 211 Stalin, Josef 45, 184, 321 Stankiewitz, Karl 324, 397 Stauder, Karl-Heinz 402 Steinbeck, John 52, 88, 205 Steinmann, Renate 423 Stemmle, Robert A. 132 Sternberger, Dolf 50, 88, 172, 190, 336 Sternfeld, Wilhelm 175, 180 Steuben, Fritz 120 Strauß, Franz Josef 358, 401, 405, 408, 422 Streatfeild, Noel 181 Streicher, Julius 211 Strittmatter, Erwin 188 Stücklen, Richard 408 Suhrkamp, Peter 21 Süskind, Wilhelm Emanuel 97, 322 Temple, Shirley 124 Thielicke, Helmut 236 Thiess, Frank 196, 198 Thorak, Josef 282 Toller, Ernst 60, 65, 76, 168 Tralow, Johannes 169, 172 f., 176 – 178 Trenker, Luis 283 Trier, Helene 269 Trier, Walter 123 f., 136, 370, 373 Tröndle, Hugo 265 Trost, Ernst 438 Truman, Harry S. 45, 354 Tucholsky, Kurt 59 f., 62, 71, 76, 88, 104, 139, 141 f. Twain, Mark 88, 97 Uhse, Bodo 188 Usinger, Fritz 88 Valéry, Paul 88 Veith, Helga 118 Verhoeven, Paul 104 Vethake, Kurt 131 Victor, Walter 60 f., 79 Viertel, Berthold 89, 146 Vilar, Jean 402 Voltaire 13 f., 194

Vriesland, Victor Emanuel van 181 f. Vring, Georg von der 178, 180 Walden, Matthias 342 – 345 Wallenberg, Hans 85 f., 232 Walser, Martin 425 Wedekind, Kadidja 146, 269 Wedekind, Pamela 114 Weicker, Herbert 391 f. Weidemann, Alfred 120 Weigel, Helene 89 Weinstein, Adelbert 419 Weisenborn, Günther 170, 172, 177 f., 186 Weiskopf, Franz Carl 89 Weiss, Peter 160, 331, 344, 425 Weizsäcker, Adolf 224 Weizsäcker, Carl Friedrich von 358, 416 f. Weller, Curt 56 Wells, Herbert George 61, 307 Werner, Bruno E. 94, 190 Wetterling, Horst 335 f. Weyrauch, Wolfgang 164 Whitman, Walt 88 Wiechert, Ernst 88, 170 f. Wiegler, Paul 172 Wieland, Christoph Martin 369 f. Wiesenthal, Simon 216 f. Wild, Heinrich 180 Wilder, Billy 132 Wilder, Thornton 52, 88 Wirsing, Giselher 271 f. With, Claire 100 f. Witsch, Joseph 185 Witt, Herbert 104, 109 Wolf, Friedrich 62, 172 Wolfe, Thomas 88 Wollenberger, Werner 114 Wulf, Joseph 246 Zehrer, Hans 336 Ziegler, Adolf 282 Zielesch, Fritz 99 Ziller, Jochen 321 Zuckmayer, Carl 52, 60, 79, 89, 97, 185 Zweig, Arnold 60 f., 65, 176, 188 Zweig, Stefan 59, 88 Zwerger, Rudolf von 272

471

Register der Werke Erich Kästners § 218 62 Abendgebet 1943 147 Affen führen keine Kriege 136, 369, 375, 378, 428 Als ich ein kleiner Junge war 128, 424 An die Studenten! 407 – 410 Anschließend an Notiz »Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff« 1, 344 Ansprache zum Schulbeginn 265 Arthur mit dem langen Arm 58 Auf dem Nachhauseweg 111 Aufruf zum 6. August 420 f. Begegnung mit Tucho 141 f. Bei Durchsicht meiner Bücher 138 – 141, 154, 183, 326 Besuch aus Zürich 91 Betrachtungen eines Unpolitischen 89, 197 f. Brief an den Weihnachtsmann 64 Brief an die Freiburger Studenten 288 f. Brief aus Paris, anno 1935 64 Briefe in die Röhrchenstraße 274 Darmstädter Theaterfrühling 94 Das Blaue Buch 71 f., 103, 150 – 152, 157, 160, 226 f., 230 f., 237 – 240, 247, 261 f. Das doppelte Lottchen 68, 124 – 127, 129 – 131, 134 Das drohende Schmutz- und Schundgesetz. Ein paar Beispiele? Bitte sehr! 304 Das fliegende Klassenzimmer 67, 120, 129, 131 – 132, 271 Das Führerproblem, genetisch betrachtet 64, 138 Das goldene Dach 74 Das große Geheimnis 68, 124 Das Leben ohne Zeitverlust 111, 262 – 264, 316 Das lebenslängliche Kind 74 Das letzte Kapitel 62, 113 Das Lied vom Warten 111, 233 – 235 Das Märchen von den kleinen Dingen 229 f. Das Märchen von der Vernunft 362 – 366 https://doi.org/10.1515/9783111112169-010

Das Schwein beim Friseur 128 Das Spielzeuglied 111, 381 Das verhexte Telefon 58 Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee 58, 120, 129 Der Abgrund als Basis 100 Der gestiefelte Kater 128 Der kleine Grenzverkehr 68, 73, 132, 270 Der kleine Mann 128 f. Der kleine Mann und die kleine Miss 128 f. Der Mond auf der Schulbank 365 Der tägliche Kram 65, 100, 156 f., Der tägliche Kram. Chansons und Prosa 1945 – 1948 108, 145 f., 268 Der Titel des Programms 115 f., 390, 438 Der Trojanische Wallach 293 – 295, 302 Der Zauberlehrling 125, 156 Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer zu Wasser und zu Lande 128 Deutsche Gedenktafel 1938 147 Deutsches Ringelspiel 1947 111 f., 352, 381 Deutschland 1948. Adresse an die Großmächte 147, 236 f. Die Acharner (frei nach Aristophanes) 378 Die andre Möglichkeit 63, 138, 259 Die Augsburger Diagnose. Kunst und deutsche Jugend 265 – 268 Die Chinesische Mauer 65 Die Doppelgänger 125, 156 Die dreizehn Monate 148 Die Einbahnstraße als Sackgasse 259, 261, 345 f. Die Entwicklung der Menschheit 62 Die große Zeit 113 Die Hammelkomödie 249 Die Jugend als Vorwand 292, 371 Die Kantate »De Minoribus« 116, 385 – 390, 404 Die Klassiker stehen Pate 123 Die kleine Freiheit. Chansons und Prosa 1949 – 1952 146, 157, 288, 393, 397 Die Konferenz der Tiere 123 f., 129, 135 – 137, 362, 368 – 382, 386 f., 403, 428 f., 433

474

Register der Werke Erich Kästners

Die literarische Provinz 233, 277 Die lustige Witwe 111 Die Maulwürfe oder Euer Wille geschehe 116, 382 – 385, 389, 398, 424 Die Schildbürger 128 Die Schildbürger. Lehrstück mit Gesang 232 f. Die Schuld und die Schulden 94, 218 – 221, 226, 277 Die Schule der Diktatoren 3, 102, 149 f., 241, 256, 308 – 325, 327, 395, 397 Die These von der verlorenen Generation 100 Die Tretmühle 63 Die verschwundene Miniatur 72 f., 125, 132 Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke 73, 76, 120, 138 Drei Männer im Schnee 67, 72 – 76, 78, 125, 132 – 134, 263, 269, 271 Ein Brief an alle Kinder der Welt 122 Ein Brief Erich Ebermayers. Ein politisches und sittliches Dokument 273 – 275 Eine Auswahl 398 Eine Rahmenhandlung für ein Kabarett im vierten Stock 391 f. Eine unbezahlte Rechnung 60 Ein Mann gibt Auskunft 56, 62, 113, 138, 147 Ein politischer Eilbrief 306 – 308, 397, 405 Elegie mit Ei 105 Emil und die Detektive 57 f., 66 f., 70, 119 f., 123 – 125, 129, 132, 240 f. Emil und die drei Zwillinge 73, 129 Eurydike in Heidelberg 94 Fabian. Die Geschichte eines Moralisten 59, 61, 64, 72, 135 f., 142 – 145,153, 155, 159, 162, 226, 234, 258, 263, 290, 293, 308, 310, 327 Frau nach Maß 74 Friedrich der Große und die deutsche Literatur 55, 153 Ganz rechts zu singen 64, 138 Gedanken eines Kinderfreundes 351 f. Gegen den Krieg in Vietnam 426 – 428 Georg und die Zwischenfälle 68, 73, 125, 132 Gesammelte Schriften für Erwachsene 73, 152 f. Gesang zwischen den Stühlen 56, 64, 138 Gescheit, und trotzdem tapfer 100, 228 f., 256 f.

Gespräch an der Haustür 105 Gespräch mit Zwergen 94, 258 – 261, 271 – 273 Gullivers Reisen 128 Harlan oder die weiße Mütze 285 f. Heinrich Heine und wir 289, 397 f. Herz auf Taille 56, 105, 138, 147, 328 Ich spreche als Schriftsteller Inferno im Hotel 73 Ist Politik eine Kunst? 226

402 – 406, 411

Kästner über Kästner 194, 375 Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? 63, 77, 104 f., 138, 351 Kinder suchen ihre Eltern 101, 232 Kleine Chronologie statt eines Vorworts 106, 146 Kurz und bündig. Epigramme 147, 236 Lärm im Spiegel 56, 138 Leben in dieser Zeit 60, 104 Leben und Taten des scharfsinnigen Ritters Don Quichotte 128 Lesestoff, Zündstoff, Brennstoff 328, 331, 333, 341 Liebe und Treue 262 Lied einer alten Frau am Briefkasten 111 Marktanalyse 276 – 278 Marschlied 1945 109 – 111, 234 Marschliedchen 64, 138, 140 f., 303 Max und sein Frack 55 Mein Wiedersehen mit Berlin 233, 273 Misanthropologie 61, 384 Moral 73 Münchener Theaterbrief 93, 108 f. Münchhausen 68 f., 73 – 75, 130, 132 f., 270 Nachtgesang des Kammervirtuosen 56 Nachträgliche Vorbemerkungen 115, 398 Neues vom Tage 406, 411 Notabene 45 44, 72, 81, 139, 144, 150 – 152, 158, 160, 205, 227, 230 f., 237 f., 247, 262, 334, 424

Register der Werke Erich Kästners

O du mein Österreich 227 f. Ostermarsch 1961 415 – 420 Pfiffe im Kino 257 Politik und Liebe 280 – 285 Primaner in Uniform 63, 351 Prosaische Zwischenbemerkung 57 Pünktchen und Anton 58, 117, 120, 125, 129, 131 f., 271 Rede zur Verleihung des Georg Büchner-Preises 1957 326 Reise in die Gegenwart 94, 170 f. Reisender aus Deutschland 233 Resignation ist kein Gesichtspunkt 244 f. Seine Majestät Gustav Krause 74 Sergeant Waurich 63, 67 Sogenannte Klassefrauen 77 Solo mit unsichtbarem Chor 116, 392 – 396, 397 f. Spatzen und höhere Tiere 279 f. Splitter und Balken 218, 221 – 226 Stimmen aus dem Massengrab 63, 77, 138, 351 Stimmen von der Galerie 365 – 368 Stoffproben 250 f. Streiflichter aus Nürnberg 94, 205 – 217 351, 427

Till Eulenspiegel

475

73, 128

Über das Auswandern 100 Über das Verbrennen von Büchern 183, 318, 325 – 328 334, 347 Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner? 59, 61, 135 Unser Weihnachtsgeschenk 94, 226, 228 – 230, 232 Verdun, viele Jahre später 63, 351 Verwandte sind auch Menschen 74 Von der deutschen Vergeßlichkeit 231 [Wahlanzeige für die SPD] 418 f. Wahres Geschichtchen 250 Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann 268 f. Wer nicht hören will, muß lesen. Eine Auswahl 398 f. Wert und Unwert des Menschen 239 – 244, 309, 314 Wiegenlied 105 Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers Zu treuen Händen 133, 149

264 f.