Heldensagen [Reprint 2021 ed.]
 9783112463567, 9783112463550

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Heldensagen. Sonderdruck aus dem

Deutschen Lesebuch für höhere Mädchenschulen von

Karl Hessel.

Dritter Teil. — Siebente Klasse. — 9. Auflage.

Bonn 1910.

A. Marcus und E. Webers Verlag.

Inhalt. —»-------

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Sette

Die Nibelungen..........................................................................................3 Die Götter der Griechen....................................................................... 19 Herkules........................................................................................................ 25 Dädalus und Ikarus............................................................................ 32 Aus der Sage von Troja....................................................................... 35 Odysseus................................................................................................... 41 Aneas........................................................................................................ 59 Sagen von der Gründung Roms...................................................... 61

Die Arbeiten des Herkules sind aus Niebuhr, Heroensagen, Hettors Abschied und Hektors Tod aus Beckers Weltgeschichte.

Heldensagen 1. Die Nibelungen.

1. Wie Kriemhilde und Siegfried aufwuchsen.

Zu alten Zeiten wohnten am Rhein die Burgunden, Worms war ihre Hauptstadt. Der König Dankrat war gestorben, und sein ältester Sohn Gunther herrschte nun über das Volk; Gernot und Giselher, seine beiden Brüder, standen ihm treu zur Seite; die alte Königin, Frau Ute, lebte still und zurückgezogen mit ihrem einzigen Töchter­ lein Kriemhilde, die zu einer holden Jungfrau erblüht tvar. Am Königshof weilten viele Helden, vor allem Gunthers Ohm, der starke Hagen aus Tronje, mit seinem Bruder Dankwart, der war der Marschall, und seinem Neffen Ort­ wein aus Metz, der war Truchseß. Gere und Eckewart waren Markgrafen, Volker von Alzei verstand das Geigen­ spiel, Sindold war Schenke, Kämmerer Hunold. Kriemhilde träumte einmal, daß sie einen starken Falken sich aufgezogen hätte, den griffen ihr zwei Aare. Daß sie den Falken, der ihr so wert war, so verliere« mußte, das machte ihr im Traum solches Herzeleid, wie sie es nie zuvor gefühlt hatte. Am andern Morgen er­ zählte sie das ihrer Mutter Ute, die sagte, der Falke sei ihr künftiger Gemahl, den wolle Gott behüten vor solchen« Unheil, wie der Traum es gezeigt hatte. Kriemhilde war

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sehr bekümmert über diese Rede und sagte, sie wolle lieber immer ohne Mannes Minne bleiben bis an ihr Ende. Zur selben Zeit wuchs in Santen am Niederrhein ein Jüngling heran, der hieß Siegfried. Sein Vater Siegntunö und seine Mutter Siegelinde waren das Königs­ paar in jenen Landen. Siegfried ward ritterlich erzogen, und als er erwachsen war, wurde ihm und seinen Alters­ genossen edler Herkunft das Schwert verliehen unter großen Festlichkeiten; aber Siegfried überstrahlte alle Jünglinge an Schönheit, Kraft und Mut. Er fuhr in fremde Lande, bestand dort viele Abenteuer und erfocht reiche Siege. 2.

Wie Siegfried nach Worms kam. Siegfried bekam Kunde von dem schönen Königstöch­ terlein zu Worms, und er gedachte dorthin zu reiten, um sie zur Gemahlin zu gewinnen. Seinem Vater und seiner Mutter war das bitter leid, denn sie fürchteten, Sieg­ fried könnte in Streit kommen mit den starken Recken zu Worms. Er ließ aber nicht ab von seinem Begehren und wollte nicht mit einem Heere dorthin fahren, sondern selbzwölfter. Da rüstete man ihn und elf Ritter herrlich aus, gab ihnen prächtige Pferde, die mit rotem Gold und Seide aufgezäumt waren; lichte Panzer, feste Helme und breite Schilde hatten die Helden, und wie sie in Worms einritten, staunten alle und hätten gern gewußt, wer die fremden Gäste wären. Hagen aber, der alle Lande kannte, sagte, das müsse Siegfried sein. Er wußte auch von ihm, daß er im Land der Nibe­ lungen gewesen sei, wo er den Brüdern Schilbung und Nibelung den gewaltigen Nibelungenhort teilen sollte, der in einem hohlen Berg lag, von Zwerg Alberich bewacht. Man gab ihm für sein Richteramt das Schwert Balmung, das dem alten Nibelungenkönig gehört hatte. Aber er konnte es mit der Teilung den Brüdern nicht recht machen, so daß diese zuletzt den Siegfried bestritten. Er erschlug im

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Kampfe die beiden Brüder mit dem Schwerte Balmung, aber den Schatz wollte Alberich nicht hergeben. Siegfried war stärker als Alberich, er gewann ihm die Tarnkappe ab, die das kostbarste Stück des ganzen Schatzes war, und Alberich schwur ihm Eide, daß er immerdar sein Knecht

bleiben wolle. Ein andermal, das wußte Hagen auch, hätte Siegfried einen Linddrachen getötet und in dessen Blut sich gebadet, da wäre seine Haut hörnern und unverwund­ bar geworden. Das alles wußte Hagen, und er riet, man solle die Helden gut aufnehmen. Siegfried aber forderte trotzig, er wolle mit Gunther um die Herrschaft kämpfen zu Worms und zu Santen, aber er wurde besänftigt, als Gunther sprach, er solle sein Freund sein, und er wolle alles mit ihm teilen. Da blieb denn Siegfried mit seinem Gefolge ein Jahr lang zu Worms, und wenn im Hofe der Königs­ burg Ritterspiele zur Kurzweil gepflogen wurden, da schaute Kriemhild durch die Fenstergitter zu, ungesehen von Sieg­ fried, und ihr gefiel der starke Jüngling über die Maßen. Auch Siegfried gedachte der Minniglichen immerdar, aber zu sehen bekam er sie nicht. 3. Wie Siegfried mit Gunther in den Krieg zog und zum erstenmal Kriemhilde sah.

Da geschah es, daß der Sachsenkönig Lüdeger und Lüdegast, der Dänenkönig, den Burgunden Fehde ansagten. Aber Siegfried machte den drei Königen zu Worms Mut und erbot sich ihnen im Streite beizustehen. Da unter­ nahmen sie die Heerfahrt, und Siegfried entschied den Sieg, nachdem er mit eigener Hand die zwei feindlichen Könige überwunden und gefangen hatte. Mit hohen Ehren wurden die Sieger in Worms empfangen. Und nun veranstaltete Gunther ein großes Fest, wo auch die Frauen erscheinen durften, und Kriemhilde sollte den Siegfried begrüßen. Das tat sie mit freundlichen Wor-

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ten; sie leuchtete aus allen Frauen, wie der lichte Vollmond vor den Sternen schwebt, ihre rosenfarbenen Wangen gaben lieblichen Schein, und Siegfried mußte sie immer ansehen und dachte in seinem Herzen, sie stände so hoch und hehr da, daß er nicht wagen dürfe um sie zu werben. Er be­ gehrte Urlaub und wollte heim reiten nach Santen. Giselher aber sagte, er solle doch hier bleiben, er dürfe auch ferner­ hin mit all den schönen Frauen öfter zusammensein. Da blieb Siegfried. 4. Wie Gunther mit Siegfrieds Hilfe Brun­ hilde gewann.

Es war aber eine Königstochter fern über Meer ge­ sessen, auf dem Jsenstein, die hieß Brunhilde, sie war schön und über die Maßen stark; wer um sie werben wollte, der mußte ihr drei Spiele abgewinnen, sonst verlor er sein Haupt. Als König Gunther davon hörte, wollte er niemand anders zum Weib gewinnen, als Brunhilde. Er ging den Siegfried an, mit ihm die Heerfahrt nach Jsenland zu wagen, der antwortete, er wolle es tun, wenn er zum Lohne Kriemhilde zur Ehe bekäme. Da gelobte ihm Gunther, er wolle ihm Kriemhilde geben, sobald Brunhilde nach Worms gekommen sei. Mit dreißig Frauen nähte nun Kriemhilde in sieben Wochen kostbare Gewänder aus weißer arabischer Seide und grünem Zazamanker, durchwirkt mit Hermelin, Gold und Edelgestein, auch wurde ein Schiff ausgerüstet, darin fuhr nun Gunther mif Siegfried, Hagen und Dankwart den Rhein hinab, Siegfried lenkte das Schiff. Rosse und reiche Speise hatten sie auch, Siegfried führte aus seinem Schatze die Tarnkappe oder Nebelkappe mit, die machte den, der sie trug, unsichtbar und verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Nach zwanzig Tagen sahen sie die Burg Jsenstein .aus dem Meere aufsteigen und landeten bald in Jsenland. Brunhilde begrüßte die vier Helden mit Mißtrauen und

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redete vor allem Siegfried an, weil er der Herrlichste war. Sie sagte, wenn er um ihre Minne gekommen sei, so müsse er erst mit ihr kämpfen, und wenn er besiegt würde, verlöre er sein Leben. Siegfried sagte, nicht er, sondern Gunther begehre ihre Minne, Gunther sei sein Herr und König, sie andere seien nur Gunthers Mannen. Die Jungfrau aber rüstete bald die Spiele zu, und wie sie dastand im Streitgewande aus Seide von Assagaug, am weißen Arm einen Schild, den vier Helden nicht hätten tragen können, in der Hand einen mächtigen Speer, den drei Männer aus ihrem Banne mit Mühe herbeigeschleppt hatten, da zitterten die Helden aus Burgundenland, und Hagen sagte: das ist des Teufels Weib! Gunther aber wünschte, er wäre daheim geblieben zu Worms am Rheine. Siegfried jedoch hatte sich heimlich ins Schiff begeben und die Tarnkappe umgehängt, da stand er denn ungesehen Gunther zur Seite und flüsterte ihm Trost zu, er wolle für ihn streiten, Gunther solle nur Bewegungen machen, als ob er es sei, der kämpfe. Und nun nahm Siegfried Gunthers Schild und fing damit den wuchtigen Speer auf, den Brunhilde herüber­ schickte. Das Feuer sprang aus dem Schilde, und beide Recken strauchelten, dem Siegfried schoß das Blut aus dem Munde. Aber sie erhoben sich beide wieder, und Siegfried warf den Speer gegen Brunhilde zurück; er kehrte ihn um, daß nicht die Speerspitze die Jungfrau töten solle, und doch traf der Wurf die starke Maid so, daß sie zur Erde sank. Da nahm sie den gewaltigen Wurfstein und schleuderte ihn zwölf Klafter weit von sich, sie selbst aber sprang dem fliegenden Steine nach und erreichte ihn. Das war das zweite und dritte Spiel. Siegfried aber warf den Stein noch viel weiter und erreichte ihn auch im Sprunge, obwohl er den Gunther noch in seinen Armen trug, als er sprang.

Da erklärte die Königin Brunhilde sich für besiegt und war bereit, mit Gunther nach Worms zu ziehen als

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seine Gemahlin. Doch erst wolle sie ihre Vettern und Lehens­ leute befragen; ihre Boten ritten nach allen Seiten hin, um sie herbeizurufen. Da fürchtete Hagen, daß man die Burgunden verraten wolle. Aber Siegfried sagte, sie sollten getrost sein, er wolle Hilfe herbeiholen. Da fuhr er mit dem Schiffe hinweg, in die Tarn­ kappe gehüllt, daß niemand ihn sah, und es schien, als fahre das Schiff von selber durch das wilde Meer. Er fuhr aber in das Land der Nibelungen, das ihm gehörte, und sein treuer Zwerg Alberich rüstete tausend Mann aus und viele Schiffe, mit denen kam Siegfried in kurzer Frist nach Jsenland und sagte, diese Helden wären ihr Gefolge, das nachgekommen wäre. Brunhilde wagte nun kein Widerwort mehr, sie über­ gab die Herrschaft ihrem Mutterbruder, der sollte ihr Vogt sein, bis sie vielleicht einmal wiederkäme. Dann schiffte sie sich mit den Burgunden ein und nahm zweitausend Necken mit, auch Frauen und Mägdelein als Gefolgschaft. Sie sollte aber niemals wieder nach Jsenstein zurückkehren.

5.

Wie Siegfried sich mit Kriemhilde vermählte und Gunther mit Brunhilde. Als sie über das Meer gesegelt waren, mußte Sieg­ fried voraufreiten, um die frohe Botschaft schon früher nach Worms zu bringen, und Ortwein solle Gestühle am Rhein errichten lassen, auf daß die Schiffe festlich emp­ fangen würden, wenn sie nach Worms kämen. Wie drängte sich alles am Rheinesufer, als sie endlich kamen! Die Königin Ute und Kriemhilde umarmten und küßten Brun-. Hilde in Liebe, als sie ans Land stieg, Kampfspiele wurden gehalten, Preise verteilt und eine große Hochzeit angerichtct. Gunther sagte seiner Schwester Kriemhilde, er hätte sie einem Recken zum Weib versprochen, ob sie den wolle. Kriemhilde sagte, sie wolle sich gerne dem verloben, welchen Gunther ihr erkoren hätte. Da neigte sich Siegfried und

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schloß sie in seine Arme vor aller Augen. Und gleich am selben Tage war eine doppelte Hochzeit in Jubel und Freude. Die stolze Brunhilde aber weinte beim Hochzeitsfeste und sagte zu ihrem Gemahl, sie müsse weinen, weil die Königstochter Kriemhilde dem Eigenholden Gunthers zum Weibe gegeben werde. Gunther sagte ihr, Siegfried sei ein König und hätte Burgen und weites Land, da be­ ruhigte sie sich. Als aber am Abend der Hochzeit Gunther und Brunhilde allein in der Kammer waren, erwachte die alte Kampfeslust und Stärke in Brunhilde, sie drückte ihrem Gemahl die Hände, daß das Blut unter den Nägeln heraussprang, dann band sie ihm die Arme mit ihrem Gürtel und hängte ihn an einem Haken auf, der an der Wand herausragte. Da hing er die ganze Nacht, und erst am Morgen band sie ihn los auf sein dringendes Flehen hin.

Da ging Gunther zu Siegfried und bat ihn, er möge ihm noch einmal helfen gegen diese schreckliche Jungfrau. So hüllte sich denn Siegfried am andern Abend nochmals in die Tarnkappe und kämpfte in Gunthers Gemach mit Brunhilde. Er sprach kein Wort dabei, denn Brunhilde sollte ja meinen, Gunther kämpfe mit ihr. Nach gewaltigem Ringen unterlag zuletzt Brunhilde, und sie sagte, jetzt habe sie erkannt, daß Gunther stärker wäre als sie und eines Weibes Meister sein könne, von nun an wolle sie sein folgsames Weib sein. Da schlüpfte Siegfried aus der Kam­ mer, er nahm aber Brunhildens Gürtel mit und einen Ring, den er beim Kampfe ihr vom Finger gestreift hatte.

Siegfried nahm nun Urlaub von Gunther und zog mit seinem Weibe Kriemhilde nach Santen. Gunther wollte seiner Schwester tausend Mannen mitgeben als Lehens­ leute, die sollte sie sich aussuchen. Sie schickte zu Hagen, er solle mit ihr ziehen, da geriet Hagen in Zorn und sagte, ihn könne Gunther nicht vergeben, sie solle sich andere suchen. Da ging der Markgraf Eckewart und fünfhundert Mannen mit nach Santen. Siegmund und Siegelinde wein-

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ten vor Freude, als ihr Sohn in so hohen Ehren wieder heim kam. Nach einiger Zeit starb die Königin Siege­ linde, und der alte König Siegmund übergab seinem Sohne Siegfried Krone und Herrschaft; und das Land der Nibe­ lungen war ihm auch untertan mit all seinen Schätzen. So lebte das Königspaar zehn Jahre lang in hohem Glück, sie bekamen ein Söhnlein, das hießen sie Gunther, und das Kind Gunthers wurde Siegfried genannt.

6. Vom Streit der Königinnen.

Da geschah es, daß Brunhilde zu Gunther sprach: Alle deine Dienstleute kommen an deinen Hof, nur Sieg­ fried nicht. Wenn er auch weit wohnt, so ist es doch seine Dienstpflicht, daß er sich einmal zeigt. Ich möchte auch Kriemhilde gerne Wiedersehen, weil ich ihrer so gern ge­ denke. Ersinne doch eine Festlichkeit und lade sie dazu ein! Das gefiel Gunther wohl, und er sandte Boten nach Nor­ wegen in das Land der Nibelungen, wo Siegfried jetzt wohnte. Und Hagen sprach: „Hei! wenn dereinst der Nibe­ lungen Hort in das Burgundenland kommen sollte!" Als der alte König Siegmund seinen Kindern zuredete, sie sollten der Einladung folgen, wenn es auch weit sei, und er wolle selber mitfahren, da sagte Siegfried zu, daß er zur Zeit der Sonnenwende nach Worms kommen werde mit seinem Weib und seinem Vater und vieler Gefolg­ schaft. Wie freute man sich in Worms dieser Botschaft, wie wurde gerüstet, wie arbeiteten alle Frauen, wie herrschte Runold, der Küchenmeister, über seine Untertanen, die Kessel, Häfen und Pfannen, alles zum festlichen Empfang der Gäste aus Nibelungenland! Endlich kamen sie, aber Kriemhildens Söhnlein war nicht dabei, man hatte es daheim gelassen bei seinen Pflegern. Mit hohen Ehren und gewaltigem Jubel wur­ den die Gäste empfangen, wie man bisher nie gesehen hatte. In Kurzweil zerrannen die Stunden, das Gesinde lag in

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Herbergen, und bei Tische saßen wohl zwölfhundert Recken, also daß viele reiche Kleider vom Weine naß wurden. Posaunen, Flöten und Drommeten klangen, und die Wände hallten wieder von all dem Getöse.

Brunhilde aber lag es immer in Gedanken, daß Sieg­ fried ihr damals, als er mit Gunther nach Jsenland ge­ kommen war, selbst gesagt hatte, er sei der Untertan Gunthers. Und als einmal die beiden Frauen zusammen einem Kampfspiel zusahen, da gab es einen Streit zwischen ihnen, weil Kriemhilde ihren Mann rühmte und Brun­ hilde hochmütig sagte, er sei ja doch nur der Dienstmann ihres Gemahls. Da sagte Kriemhilde in Zorn: Man wird ja sehen, daß wir nicht weniger sind als ihr, noch heute werde ich beim Kirchgang vor dir in den Dom treten, denn das ist mein Recht!

Und wie man nun zur Kirche ging, da kam Brun­ hilde mit ihren Frauen von der einen Seite, und von ihr geschieden kam Kriemhilde mit ihren Frauen von der anderen Seite, und wie Kriemhilde zuerst zur Pforte hin­ einschreiten wollte, sagte Brunhilde: Es soll die Frau eines Dienstmannes nicht vor der Königin gehen. Kriemhilde entflammte in Hellem Zorn und sagte: Dich hat nicht Gunther bezwungen, sondern Siegfried, mein lieber Mann. Und um es zu beweisen, zeigte sie ihr den Ring und den Gürtel, die Siegfried einst der Brunhilde entrissen hatte. Und wie Brunhilde noch dastand, zitternd und wort­ los, da schritt Kriemhilde stolz an ihr vorüber und ging vor ihr in den Dom. Von diesem Augenblick an war die Freundschaft in Haß verkehrt; es war umsonst, daß Gunther und Sieg­ fried die beiden Frauen versöhnen wollten, der grimme Hagen schürte die Glut noch mehr, er sagte: Siegfried soll sterben, denn er ist schuld, daß meine Herrin heute gelästert wurde. Und alle Tage wiederholte es Hagen zu Gunther: Wenn Siegfried nicht mehr lebte, dann würde dir manches Land untertan werden!

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7. Wie Siegfried verraten ward. Zweiunddreißig Boten kamen angeritten zu Worms, die kündigten Fehde an von feiten der Könige Lüdegast und Lüdeger, die früherhin Siegfried gefangen hatte. Da erschraken die Burgunden, aber Siegfried war sofort be­ reit, diesen Krieg mitzumachen samt seinem Gefolge; der alte König Siegmund sollte derweilen zu Worms bleiben.

Kriemhilde war sehr traurig, denn sie fürchtete, ihr Trauter käme nicht wieder. Sie ließ Hagen zu sich ent­ bieten und bat ihn, er möge auf Siegfried achten. Überall sei er unverwundbar, seit er sich einstmals im Blute des Drachen gebadet habe, nur an einer Stelle nicht, wo ein breites Lindenblatt auf ihn gefallen sei, so daß das Drachen­ blut diese Stelle nicht berührt hätte. Hagen gelobte, er werde Siegfried mit seinem Schilde schützen, nur solle sie ein kleines Zeichen auf sein Gewand nähen, damit er wisse, wo die verwundbare Stelle sei.

Und als sie andern Tags ausrücken wollten, da er­ blickte Hagen ein seidenes Kreuzchen auf Siegfrieds Waffen­ rock, gerade zwischen den Schulterblättern des Helden. Nun kamen zwei neue Boten von Lüdeger, die sagten, daß die Feinde doch lieber Frieden halten wollten. Aber das alles hatte der arge Hagen nur ersonnen. Die zweiunddreißig Boten und die zwei Boten hatte Hagen selbst geschickt, er wollte nur Siegfrieds verwundbare Stelle wissen, denn er wollte ihn umbringen. Und Gunther wußte um diesen Plan. Da hieß es: wenn wir nicht in den Krieg ziehen, dann wollen wir in den Odenwald und eine große Jagd dort halten. Siegfried küßte zum Abschied Kriemhilde. Die wollte ihn nicht von ihrer Seite lassen, sie hatte geträumt, wie zwei wilde Schweine über die Heide jagten und die Blumen alle sich rot färbten, und dann wieder waren zwei Berge auf Siegfried gefallen. Sie wußte, daß Hasser sie beide umgaben, darum. ahnte ihr 'Herz Verrat und Trug.

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Siegfried aber umfing sie mit den Armen; das sollte das letztemal sein, daß er sie herzte. Danach ritt er von dannen.

Im Odenwalde gab es eine lange und lustige Jagd, da war Wild von allen Arten und viele Jäger und Hunde. Als die Jagd geendet war, hatte Siegfried das meiste Wild erlegt und hatte sogar einen Bären lebendig gefangen, den er dann zur Kurzweil in der Küche losließ, die man auf­ geschlagen hatte, um die Jäger nach der Jagd zu erquicken. Da es aber an Wein fehlte, der versehentlich in den Spessart geschickt war, wie Hagen vorgab, da fragte der durstige Siegfriev nach einem Quell, um an einem Trünke Wassers sich zu erlaben. Hagen sagte, ein frischer Quell sprudele nicht weit von hier, sie wollten um die Wette dorthin laufen. Da sprangen die drei davon, Siegfried, Hagen und Gunther, Siegfried in Waffenrüstung voraus, die beiden in leichter Gewandung folgten. Hagen schaute immer nach dem seidenen Kreuzchen.

8.

Von Siegfrieds Tod. Da kamen sie ans Brünnlein, Siegfried legte die Waffen nieder, aber er wollte den König Gunther erst 'trinken lassen, weil er sein Wirt war. Und während sich Gunther niederneigte, trug Hagen Bogen und Schwert Siegfrieds zur Seite, dann sprang er zurück und nahni den Wurfspeer des Helden in seine Hand. Und wie Sieg­ fried gebückt vor dem Brünnlein stand und trank, da schaute Hagen noch einmal dahin, wo das Kreuzlein blinkte, dann stieß er ihm mit allen Kräften den Spieß in den Rücken, daß er im Herzen stecken blieb und das Herzblut heraus­ sprang. Siegfried sprang tobend vom Brunnen auf und griff nach seinen Waffen, die waren aber verschwunden, da rannte er mit dem Schildrande den Hagen an, der strauchelte und fiel nieder, und die Schildesschläge, die auf ihn nie­ derfielen, weckten den Widerhall.

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Aber Siegfrieds Farbe war schon erblichen, er konnte nicht mehr stehen, seines Leibes Stärke war zergangen, er fiel in die Blumen nieder und sprach leise seine letzten Worte. Er klagte über die treulosen Freunde, und als Gunther jammerte über die Missetat, da sagte Siegfried, durch ihn sei ja die Tat geschehen, da solle er nicht noch heuchlerisch klagen. „Aber mich dauert Frau Kriemhilde, mein Weib, und mein kleines Söhnlein. Edler König, ver­ letzt Kriemhilde nicht, die ja Eure Schwester ist!" Die Blumen und das Gras waren vom Blute naß, und der Held war tot. Sie trugen ihn auf dem Schilde zu den Jagdgenossen, und man wollte sagen, Schächer hätten ihn erschlagen. Aber Hagen sprach: Mich soll es nicht kümmern, wenn die Wahrheit der bekannt wird, die meine Herrin Brun­ hilde so gekränkt hat.

9.

Wie Siegfried bestattet wurde. Es war Nacht, als man mit dem toten Helden zu Worms ankam, und Hagen ließ ihn vor die Kammertür legen, wo Kriemhilde ruhte. Als sie beim Morgengrauen erwachte und zur Mette in den Dom gehen wollte, wie sie pflegte, da schrie ein Kämmerer, vor dem Gemach läge ein toter Ritter. Kriemhilde wußte sofort, daß es Sieg­ fried sei, denn sie gedachte an Hagens Worte, er wolle ihn schützen, und an Brunhildens Haß. Da war es für ewig vorbei für sie mit Lust und Fröhlichkeit. Sie ließ sich zur Leiche führen und hob Siegfrieds schönes Haupt mit ihrer weißen Hand empor. Meuchelmörder haben dich erschlagen! so jammerte sie, im Rücken ist die Todeswunde! Sie weckte Siegmund, der nun mit ihr klagte. Kriemhilde ließ den Toten auf einer Bahre in den Dom tragen, und alle schritten daran vorüber. Aber wie Hagen an der Bahre vorbei ging, bluteten die Wunden wieder. Drei Tage lang wurde gesungen und gebetet und

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geklagt, dann kam das Begräbnis. Ein Sarg war geschmiedet worden, darin ruhte der Held. Ehe er ins Grab versenkt wurde, ließ Kriemhilde den Sarg nochmals aufbrechen und küßte noch einmal den vielgeliebten Gemahl unter blutigen Tränen, dann sank sie in eine lange, tiefe Ohnmacht.

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Was weiter geschah, bis Kriemhilde ins Heunenland kam. König Siegmund kehrte heim, aber die schmerzer­ füllte Kriemhilde wollte zu Worms bleiben bei ihrer Mutter Ute, denn sie konnte sich von ihrem Gemahl auch im Tode nicht trennen. Den Hagen sah sie nicht wieder, und mit Gunther redete sie kein Wort. Nur mit Giselher, ihrem jüngsten Bruder, redete sie, denn der war immer lieb und gut gegen sie und suchte sie zu trösten. Sie ließ sich ein Haus zimmern am Dom, damit sie immer dort beten könne, wo ihr Freund begraben lag. x Wie nun ihr Schmerz gar nicht nachließ, riet Hagen, man solle den Nibelungenhort holen, der ihr ja gehöre, das werde sie vielleicht trösten. Und man holte vom Zwerg Alberich den Schatz. Da versöhnte sie sich mit Gunther, aber im tiefsten Herzen blieb sie ihm doch gram. Als sie nun mit vollen Händen Gold und Kleinode verschenkte, den Armen und ihren Freunden, da fürchtete Hagen, sie würde sich allzugroßen Anhang machen im Lande und end­ lich Rache nehmen können an denen, die sie in dies Leid gebracht hätten. Er verschaffte sich darum den Schlüssel zum Schatze, nahm den Schatz heimlich weg und versenkte ihn bei Lochheim in den Rhein. Die Mutter Ute zog in einen Siedelhof beim Kloster Lorsch, und bei ihr wohnte nun auch Kriemhilde; Siegfrieds Sarg nahm sie mit und ließ ihn in der Klosterkirche zu Lorsch beisetzen. Von nun ab nannte man Gunther, weil er im Besitz des Nibelungenschatzes war, den Herrn der Nibelungen, auch alle seine Mannen wurden die Nibelungen genannt.

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So vergingen dreizehn Jahre, da starb im Hennen­ lande die Königin Helke, des Heidenkönigs Etzels Ge­ mahlin. Und als nach einer Weile Etzel sich nochmals ver­ mählen wollte, rühmte ihm sein Markgraf Rüdiger die Königswitwe Kriemhilde so lange, bis Etzel den Rüdiger nach Worms sandte, daß er um Kriemhilde werben sollte.

Sie zögerte lange, denn sie konnte Siegfried nie ver­ gessen, aber als Rüdiger ihr mit Eiden gelobte, daß er in allen Nöten ihr beistehen wolle, da zuckte es durch ihre Gedanken, daß sie vielleicht mit Rüdigers Hilfe dereinst an dem Mörder Siegfrieds sich rächen könne, und sie sagte: Ja, ich will König Etzels Gemahlin werden, wenngleich er ein Heide ist. So fuhr sie denn mit Rüdiger ins Heunenland, ihre Brüder Giselher und Gernot ritten mit bis an die Donau. Im Heunenland wurde Kriemhilde mit hohen Ehren be­ grüßt, und ein glänzendes Hochzeitsfest wurde gefeiert. 11.

Wie die Nibelungen ins Heunenland ritten. Sieben Jahre vergingen, und Kriemhilde hatte ein Söhnlein bekommen, das bekam die Christentaufe und wurde Ortlieb genannt. Da drang sie in Etzel, ihren Gemahl, er möge ihre Freundschaft einmal einladen ins Heunen­ land, auch Hagen müsse dabei sein. Sie verhehlte aber, was eigentlich ihre Absicht sei. Da sandte Etzel zwei Hen­ nen, die Spielleute Schwemme! und Werbet, nach Worms mit Botschaft und Briefen, alle möchten zur Sonnwend­ zeit sich in seinem Lande einfinden zu großen Spielen und Festlichkeiten. Der finstere Hagen argwöhnte Schlimmes, aber er wollte nicht feige erscheinen und sagte zu, daß er mitkommen wollte. Er sorgte aber, daß alle wohl­ gerüstet waren und mit großem Heergefolge ausritten. Als sie über die Donau wollten, da suchte er lange am Gestade nach einer Fähre. Er sah zwei Meerweibcheu,

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die badeten und hatten ihre Schwanengewänder ans Ufer gelegt. Die nahm Hagen fort und wollte sie ihnen erst wiedergeben, wenn sie ihm weissagten. Das taten sie den» und sagten, keiner von ihnen würde die Heimat Wieder­ sehen, nur der Kapellan. Als sie nun die Fähre gefunden hatten und Hagen mit dem Kapellan als letzter überfuhr, ergriff er den Ärmsten und schleuderte ihn in die Fluten. Aber Gott errettete den Kapellan, daß er am jenseitigen Ufer, von wo sie gekommen waren, ans Land trieb. Da werkte Hagen, daß die Meerweibchen Wahrheit gesprochen hatten, er zertrümmerte in Wut das Fährboot, und seine Mienen wurden von nun an noch finsterer, als sie schon immer gewesen waren. Zu Bechlarn, wo Graf Rüdiger wohnte, wurden die Burgunden gastlich empfangen, sie mußten vier Tage blei­ ben, und weil Rüdigers holdes Töchterlein dem Giselher so gut gefiel, verlobte er sich mit ihr und versprach, auf der Rückreise sie als sein Weib mit an den Rhein zu nehmen. Das sollte aber niemals geschehen.

Endlich kamen sie in das Heunenland, und Kriemhild« sah vom Fenster aus, wie all ihre alten Freunde einritten. Insgeheim aber gedachte sie, wie wohl ihre Rache ergehen könne an Hagen. Wer ein Held ist, der denke an mein Herzeleid, so ermahnte sie ihre Getreuen.

12.

Von Kriemhildens Rache. Alle Nibelungen grüßten freundlich die Königin, nur Hagen blieb stumm auf einer Steinbank im Hofe sitzen, als Kriemhilde vorüberschritt; in grausigem Hohn hatte er das blanke Schwert Balmung, das einst Siegfrieds Schwert gewesen war, über seine Kniee gelegt; als Kriemhilde ihm zurief, er hätte den Siegfried erschlagen, da sagte er trotzig: ja, er hätte das getan, das möge rächen, wer da wolle. Kriemhilde fragte, ob man ihr den Nibelungenhort mitge-

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bracht hätte, der ihr gehöre. Da antwortete Hagen, der läge im • Rhein bis zum jüngsten Tage, wo, das werde er niemals sagen. Das war so bittere und herbe Rede, daß nur Unheil daraus entspringen konnte, und die schreck­ lichste Rache begann. Zwar wollte Kriemhilde den Hagen allein treffen, aber alle Nibelungen schwuren, daß sie ein­ ander nicht verlassen wollten, besonders gelobte Volker, der Spielmann von Alzei, er wollte mit Hagen alle Gefahr gemeinsam bestehen. So kam es zu einem wilden Kampfe, der beim Eintritt der Dunkelheit erst ruhte, aber am frühen Morgen wieder anhub. Alle Helden vom Rhein wurden er­ schlagen, und zuletzt waren nur noch Gunther und Hagen ani Leben. Dietrich von Bern, der dem Etzel untertan war, kämpfte mit Hagen und brachte ihn gebunden zu Kriemhilde. Sie versprach Hagen, er solle sein Leben be­ halten, wenn er ihr sage, wo der Nibelungenhort läge. „So lange einer meiner Herrn lebt," erwiderte Hagen, „sage ich das nimmermehr!" Da ließ Kriemhilde ihrem Bruder Gunther, der auch gefangen und gebunden war, das Haupt abschlagen und brachte es dem Hagen. Jetzt müsse er sagen, wo der Schatz wäre. Hagen aber sagte: „Wo der Schatz ist, das weiß jetzt nur Gott und ich, du wirst es niemals erfahren!" — „Dann habe ich nur noch einen Trost," sagte Kriemhilde, „das ist Balmung, das Schwert meines Siegfried, den ich niemals vergessen kann." Und sie zog das Schwert aus der Scheide, sie schwang es mit den Händen und schlug Hagen das Haupt ab. Das konnte der alte Hildebrand, Etzels Dienstmann, nicht ansehen, daß Hagen, nach Siegfried der stärkste und kühnste Held, von der Hand eines Weibes wehrlos den Tod erlitten hatte. In grimmem Zorne sprang er hinzu, es half Kriemhilde nichts, daß sie so ängstlich schrie, sie sank zu Boden, von Hildebrands Schwert zerhauen. So endete die Liebe mit Leide.

Die Götter der Griechen.

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2. Die Götter der Griechen.

1.

Die Griechen verehrten viele Götter, aber jeder Volks­ stamm für sich doch nur wenige, nur seine besonderen Schutzgötter, zu denen gebetet wurde in Not, denen man dankte im Glück, denen man Opfer brachte, denen man Tempel baute, worin sie im Bilde wohnten. Die Athener verehrten hauptsächlich die Athena, nach der ihre Stadt ja genannt worden war. Es war eine Jungfrau, bewehrt mit Helm, Schild und Speer, sie hatte große, strahlende, auch im Dunkeln leuchtende Augen, wie eine Eule. Die Eule war denn auch ihr heiliges Tier, und Eulen wurden in Athen überall gehalten, wie bei uns andere Vögel in Käfigen. Die Athena war die Göttin, die ihre Freunde int Krieg und im Frieden beschützte, die den Olbaum ge­ schenkt hatte und gedeihen ließ; sie hatte den Webstuhl erfunden, sie verstand alle Künste und alle Weisheit. Sie >var eigentlich die verkörperte Weisheit des höchsten Gottes selbst; man sagte, ihre Geburt sei so geschehen, daß sie völlig erwachsen und in voller Rüstung aus dem Haupte des Zeus herausgesprungen sei. Dieser Zeus, der Vater der Götter und Menschen, wurde als oberster Gott in ganz Griechenland angebetet. Man dachte sich ihn wie einen kräftigen Mann, die Stirn sorgenvoll gefurcht, immer ernst, das Haupt von lockigem Haar umwallt, mit einem nicht zu langen, lockigen Voll­ bart. Die Römer nannten ihn Jupiter, und seine Tochter Athena nannten sie Minerva. Zeus lenkte alle Erschei­ nungen in der Luft, er sammelte die Wolken, er ließ blitzen, donnern und regnen. Er herrschte gerecht und milde. Der Adler war sein heiliges Tier und sein Bote. Die Hera, von den Römern Inno genannt, war die Götterkönigin, die Gemahlin des Zens. Sie war eine stolze Schönheit, streng, hoheitsvoll und unnahbar, selbst Zeus fürchtete sich, sie zu erzürnen. Ihr heiliges Tier war der Pfau, der paßte zur Hera.

Heldensagen.

Poseidon, der Gott des Meeres, war dem Zeus sehr ähnlich an Gestalt, nur daß sein Bart nicht so lockig war, denn er war immer naß vom Meerwasser. Poseidon war der Bruder des Zeus. Da Griechenland fast ganz vom Meer umspült ist, viele Buchten und Meerbusen tief ins Land einschneiden, auch zahlreiche Inseln dazu ge­ hören, so nlußten die Griechen viel auf dem Meere fahren, und die Gunst des Meergottes war für sie sehr wichtig. Poseidon fuhr auf dem Meere immer hin und her in einem Muschelwagen, in der Hand einen Dreizack, der seine Waffe war. Stieß er mit diesem gegen Felsen, so gab es ein Erdbeben, drum nannte man ihn auch den Erd­ erschütterer. Auf der Meerenge von Korinth und anderswo am Meergestade hatte er Heiligtümer; die Fichte, genau ge­ sagt die Strandkiefer, war ihm geweiht. Bei den Römern hieß dieser Gott Neptun.

2. Zu Delphi und anderswo verehrte man den Gott Apollo. Eigentlich war er die Sonne, die man göttlich verehrte, weil sie den Menschen ja alles bringt, was sie zum Leben brauchen, Licht und Wärme und was damit zusammenhängt. Apollo oder Helios lenkte die Sonne, die war ein Wagen, von vier leuchtenden Sonnenrossen gezogen. Apollo war von strahlender Schönheit und von großer Stärke. Sein Gesicht war bartlos. Wie die Sonne Strahlen wirft, so schoß er Pfeile, damit konnte er seine Feinde töten. Er weissagte auch, besonders in seinem Tempel zu Delphi. Dort saß eine Priesterin auf einem ehernen Drei­ fuß, die stieß unzusammenhängende Worte aus, man glaubte, auf Eingebung des Apollo; die Priester brachten diese Worte in Zusammenhang, und das war die Antwort des Gottes, wenn Leute in irgend einer wichtigen Sache ihn um Rat gefragt hatten. Das nannte man das Orakel des Apollo zu Delphi. Da man die Dichter für eine Art von gottbegeisterten Propheten hielt, so beschützte Apollo auch

Die Götter der Griechen.

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die Dichter. Der Lorbeer war die ihm heilige Pflanze. In seinem Gefolge waren unter andern neun Jungfrauen, die man Musen nannte; wenn sie die Musen anriefen, dann fanden die Dichter die schönsten Verse, die Sänger die bezauberndsten Töne, den Erfindern fielen die tiefsten Gedanken ein. Sonne und Mond gehören eng zusammen, sie sind gleichsam Geschwister. So verehrten denn die Griechen den Mond als Zwillingsschwester des Apollo, die nannten sie Artemis. Sie war sanft und milde; in Kleinasien hielt man diese Artemis zugleich für die große Beherrscherin der freien Natur, die Göttin des Waldes, die Beschützerin der wilden Tiere. Wollte ein Jäger ein Tier erlegen, so betete er zur Artemis, daß sie ihm von all den Tieren, die ihr ja gehörten, einige überlassen möchte. Darum nennt man sie auch wohl die Göttin der Jagd. Ihr lateini­ scher Name war Diana. Noch andere Gestirne wurden von den Griechen als Götter betrachtet, so der schönste aller Sterne, der Mor­ genstern. Wenn der Schiffer den Morgenstern in der Mor­ gendämmerung aus dem Meere aufsteigen sah, dann fiel er auf seine Kniee und betete, denn jetzt war er froh, jetzt mußte die Reise ohne Gefahr von statten gehen, so dachte er, denn der Glücksstern hatte ja geleuchtet. Darum hieß es, dieser Stern wäre die Glücksgöttin, die Göttin der Schönheit, Anmut und Liebe; sie sei geboren aus dem Schaume des Meeres, die Göttin Aphrodite. Auf eini­ gen Inseln, besonders auf der großen Insel Cypern, stan­ den Tempel der Aphrodite. In Rom wurde diese Göttin auch Venus genannt, und ihr Söhnchen Eros hieß dort Amor, Man dachte ihn sich als kleinen Knaben mit Flügeln, bewaffnet mit Bogen und Pfeilen. Damit ver­ wundete er die Menschen, manchmal leicht, manchmal tödlich.

Am Himmel steht auch ein sehr heller, rötlich leuch­ tender Stern, den die Römer Mars nannten, so heißt der

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Heldensagen.

Stern auch bei uns. Die Griechen aber nannten ihn A r e s. Weil sein Licht rot ist, so dachte man, dieser Stern sei blutig und sähe gern Blut; so hielt man dies Gestirn für den Gott des Krieges. Doch ist uns nicht bekannt, daß ihm irgendwo ein Tempel gewidmet worden wäre. Er war gefürchtet, aber man betete nicht zu ihm. Um so eifriger beteten die Schiffer zu dem hellen Zwillingsgestirn, Kastor und Pollux, dann hatten sie gute Fahrt.

3.

Den Landleuten war es wichtig, die Demeter an­ zurufen, denn sie ließ die Feldfrüchte gedeihen, besonders das Getreide; die Römer nannten sie Ceres. Sie war die Schwester des höchsten Gottes Zeus. Da nun die Pflanzen zu ihrem Wachstum auch Wurzeln haben müssen, die unter der Erde im Dunkeln wachsen, und da die Griechen das ganze Gebiet unter der Oberfläche der Erde das Reich der Unterwelt benannten, so legten sie sich diese merkwürdige Lebensweise der Pflanzen so zurecht: sie sag­ ten, die Tochter der Demeter, genannt Proserpina, sei beim Spiel auf einer Wiese eines Tages von Pluto oder Hades, dem Gotte der Unterwelt, geraubt und in die Unterwelt entführt worden. Dort hätte Pluto sie zu seiner Gemahlin gemacht. Seitdem nun beschützten die beiden Göttinnen, Mutter und Tochter, gemeinsam das Getreide, die Deme­ ter von oben her die Halme und Ähren, die Proserpina von der Unterwelt her die Wurzeln. In Ägypten, wo seit uralten Zeiten viele Künste ge­ übt wurden, das Bauen, die Bearbeitung von Metallen und Ton zu Waffen, Geräten und Gefäßen von allerlei Art, glaubte man, ein bestimmter Gott hätte diese Dinge die Menschen gelehrt. Diesen ägyptischen Gott nahmen nun auch die Griechen in ihren Götterkreis auf und nannten ihn Hephästos, die Römer nannten ihn später Vulkan. Nach ihm heißen noch heute die feuerspeienden Berge Vul-

Die Götter der Griechen.

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falte, und die Griechen glaubten auch, im Ätna auf der Insel Sizilien wäre die Schmiedewerkstatt des Hephästos. Er verfertigte für Götter und auch zuweilen für Men­ schen, die er liebte, Waffen und Geräte. Weil er aber immer am Amboß stand und mit dem Feuer zu tun hatte, so war er nicht schön wie die andern Götter, sondern von Ruß geschwärzt und hinkte auch. Ein Sohn des Zeus, Hermes, von den Römern Merkur genannt, hatte die Seelen der verstorbenen Men­ schen in die Unterwelt zu geleiten. Dort lebten sie als Schatten ein freudloses Leben weiter, nur einzelne, welche sich durch ein frommes Leben ausgezeichnet hatten, kamen in die elysäischen Gefilde, wo es sehr schön war, nur lagen sie freilich auch in der Unterwelt. Weil Hermes beständig zwischen Erde und Unterwelt hin- und hereilte, ward er der Götterbote. Er war ein schlanker, kraftvoller Jüng­ ling. Darum beteten auch die Jünglinge zu ihm um Stär­ kung ihrer Kraft und Gewandtheit bei den Leibesübungen. In jedem Hause erschien der Herd als der Ort des Friedens und der Geselligkeit. Um das warme Feuer konnte man sich im Kreis herumsetzen und sich allerlei erzählen, denn in den anderen Gemächern waren keine Öfen. Dar­ um galt der Herd selbst als der Altar einer Göttin, die hieß Hestia, römisch Vesta; sie war die Schwester des Zeus.

4. Wie bei uns, wenn wir den Sagen und Märchen glauben, viele übermenschliche und mächtige Wesen die ganze Natur erfüllen, Elfen, Zwerge und Kobolde, Feen, Riesen und Nixen, ganz so glaubten auch die Griechen, es gäbe überall Götter und Göttinnen von geringerer Macht, aber immerhin doch viel mächtiger als die Menschen, und vor allen Dingen, sie waren unsterblich. Im Wald und an den Quellen wohnten Nymphen, das waren Götter­ mädchen, in den Flüssen wohnten Flußgötter, im Meere Tritonen und zahllose Gestalten, halb Mensch, halb Fisch,

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Heldensagen.

in einsamen Gegenden gab es die ziegenbeinigen Sathren, deren oberster. Herr, Pan, anch so aussah, und Zentau­ ren, die halb Pferd, halb Mensch waren; die Morgen­ röte war eine Göttin mit Rosenfingern, sie hieß Eos, römisch Aurora; die drei Parzen spannen den Schicksals­ faden jedes Menschen, schnitt die dritte Parze den Faden ab, dann starb der Mensch. Den Dionysos, römisch Bacchus, dürfen wir auch nicht vergessen, den Gott des Weines, der mit einem großen Gefolge von göttlichen Wesen den Erdkreis durchzog, überall Freude und laute Lust weckte und die Menschen begeisterte, wo er sich zeigte.

Und was gab es nicht alles beim Hades, in der Unter­ welt, für geheimnisvolle Dinge zu schauen! Freilich ein lebender Mensch kam dort nicht hin, nur dem Herkules und dem Orpheus soll es gelungen sein. Aber bei all der Fülle von göttlichen Wesen betete jeder einzelne Grieche nur zu wenigen Göttern, jeder Ort hatte nur wenige oder nur einen Tempel. Der Tempel war eigentlich nur ein heiliger Bezirk, der der Gottheit geweiht war, eingehegt mit Zaun oder Mauer; drinnen stand ein Altar, auf dem die Opfer dargebracht wurden, und Priester oder Priesterinnen wohnten in der Nähe als Wächter. Weihgeschenke stellte man umher, und wenn zu­ letzt Geld genug vorhanden war, dann wurde auch wohl ein Tempelhaus gebaut und eine Bildsäule der Gottheit hineingestellt. Der Altar stand immer int Freien vor dem Tempel, und wenn ein Fest war zu Ehren des Gottes, dann opferte man Tiere auf dem Altar; die Nieren und das Fett und einige besonders gute Stücke vom Fleisch ver­ brannte man für den Gott, der wohlgefällig den empor­ steigenden Duft einsog, das übrige wurde als Opfermahl­ zeit von den Menschen verzehrt. Oft gingen auch Leute in das Tempelhaus, legten sich auf den Boden und schliefen. Träumten sie dabei etwas, so glaubten sie, der Gott hätte ihnen den Traum gesandt, um ihnen seinen Willen zu offenbaren und ihnen zu raten, was sic tun sollten.

Herkules. Der höchste Berg in Griechenland ist der Olymp, der so hoch ist, daß sein Gipfel immer von Wolken verhüllt und fast das ganze Jahr mit Schnee bedeckt ist. Dort auf der höchsten Spitze des Olymp wäre die Wohnung der Götter, so glaubte man. Dort stand die herrliche Burg des Zeus, und manch­ mal ließ er alle Götter dorthin rufen zu einer Versamm­ lung oder zu einem Feste. Dann aßen sie Ambrosia und tranken Nektar, und Hebe, die Tochter des Zeus, mußte einschenken. Nur die Götter der Unterwelt durften nie­ mals dorthin kommen. Die andern nannte man auch die olympischen Götter. Und das sind eben die sechs Götter und sechs Göttinnen, von denen wir hauptsächlich erzählt haben. Alle sahen aus wie Menschen, nur viel größer und schöner und stärker, und alle waren unsterblich, und sie wurden auch niemals älter, Zeus blieb immer ein älterer Mann und Eros immer der kleine, mutwillige Knabe.

S. Herkules. Herkules war der Sohn des höchsten Gottes Zeus,.seine Mutter Alkmene war aber eine sterbliche Königstochter. Herkules war von übermenschlicher Stärke, schon in der Wiege erdrückte er zwei mächtige Schlangen, die ihn um­ bringen wollten. Sein ganzes Leben war Mühe und Ar­ beit. Ihn haßte die Götterkönigin Hera, darum hatte sie es so geordnet, daß er dem feigen und schwachen König Eurystheus dienen mußte. Was dieser befahl, mußte Herku­ les tun, erst als er auf des Königs Befehl zwölf Arbeiten glücklich vollendet hatte, ward er von seinem Dienste frei. Als Herkules starb, erhob ihn Zeus zu sich in den Himmel und gab ihm die Göttin Hebe zur Gemahlin. In Griechen­ land erzeigte man dem Herkules göttliche Ehren, opferte ihm und betete zu ihm. Wir wollen uns einige der zwölf Arbeiten des Herkules erzählen lassen:

Herkules. Der höchste Berg in Griechenland ist der Olymp, der so hoch ist, daß sein Gipfel immer von Wolken verhüllt und fast das ganze Jahr mit Schnee bedeckt ist. Dort auf der höchsten Spitze des Olymp wäre die Wohnung der Götter, so glaubte man. Dort stand die herrliche Burg des Zeus, und manch­ mal ließ er alle Götter dorthin rufen zu einer Versamm­ lung oder zu einem Feste. Dann aßen sie Ambrosia und tranken Nektar, und Hebe, die Tochter des Zeus, mußte einschenken. Nur die Götter der Unterwelt durften nie­ mals dorthin kommen. Die andern nannte man auch die olympischen Götter. Und das sind eben die sechs Götter und sechs Göttinnen, von denen wir hauptsächlich erzählt haben. Alle sahen aus wie Menschen, nur viel größer und schöner und stärker, und alle waren unsterblich, und sie wurden auch niemals älter, Zeus blieb immer ein älterer Mann und Eros immer der kleine, mutwillige Knabe.

S. Herkules. Herkules war der Sohn des höchsten Gottes Zeus,.seine Mutter Alkmene war aber eine sterbliche Königstochter. Herkules war von übermenschlicher Stärke, schon in der Wiege erdrückte er zwei mächtige Schlangen, die ihn um­ bringen wollten. Sein ganzes Leben war Mühe und Ar­ beit. Ihn haßte die Götterkönigin Hera, darum hatte sie es so geordnet, daß er dem feigen und schwachen König Eurystheus dienen mußte. Was dieser befahl, mußte Herku­ les tun, erst als er auf des Königs Befehl zwölf Arbeiten glücklich vollendet hatte, ward er von seinem Dienste frei. Als Herkules starb, erhob ihn Zeus zu sich in den Himmel und gab ihm die Göttin Hebe zur Gemahlin. In Griechen­ land erzeigte man dem Herkules göttliche Ehren, opferte ihm und betete zu ihm. Wir wollen uns einige der zwölf Arbeiten des Herkules erzählen lassen:

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Heldensagen.

1. Der Löwe von Nemäa.

Herkules trat vor den König Eurystheus und sagte ihm, daß er alles tun wolle, was er ihm befehlen würde. Da sagte der König Eurystheus, er solle nach Nemea gehen und den Löwen totschlagen. Nemea war ein Tal mit einem dichten Walde zwischen hohen Bergen im Lande des Eurystheus; in dem Walde wohnte ein sehr böser Löwe, dessen Fell war so stark, daß kein Eisen ihn verwunden konnte, und wenn die Hirten Spieße auf ihn warfen, so fielen sie nieder, ohne dem Löwen Schaden zu tun, und der Löwe sprang auf sie und zerriß sie. Herkules stellte sich im Walde, wie die Jäger es tun, hinter die Bäume, daß ihn das Raubtier nicht sehe, wenn er schießen wollte. Da kam der Löwe durch den Wald; er hatte Rinder ge­ fressen, und sein Maul und seine Mähne waren ganz blutig, er leckte sich mit seiner großen Zunge das Blut, welches ihm am Maul saß, und brüllte. Wenn ein Löwe im Walde brüllt, so klingt es wie Donner, und die Erde zittert. Mit seinem Schwanz schlug er sich die Seiten und die Bäume. Herkules schoß, aber der Pfeil sprang ab. Herkules schoß noch einmal, aber auch der Pfeil konnte nicht durch die Haut des Löwen dringen, und wenn er auf einen ge­ harnischten Mann geschossen hätte, so würde der Pfeil durch den Panzer und durch den Körper des Mannes ge­ gangen sein. Da sah der Löwe Herkules und sprang auf ihn zu. Wenn ein Löwe springt, so macht er sich krumm, legt sich mit der Brust auf die Erde und zieht den Schweif zwischen die Hinterbeine; er kann so weit springen, als die Stube mit dem Ofen lang ist. Herkules wickelte seinen Mantel um den linken Arm, um ihn abzuhalten, und in die rechte Hand nahm er eine große Keule, die er sich im Walde gehauen hatte, und mit der schlug er den Löwen auf den Kopf. Der Löwe aber blieb nicht tot, sondern stand auf den Füßen, er war aber ganz erschrocken. Da sprang Herkules über ihn und faßte seinen Hals zwischen

Herkules.

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seine beiden Arme und hob ihn auf und erwürgte ihn; mit den Füßen stand er auf den Hinterbeinen des Löwen. Als der Löwe tot war, zog er ihm das Fell ab und hing es sich um, den Rachen des Löwen setzte er sich auf den Kopf, als ob es ein Helm wäre, und das Fell von den Vor­ derfüßen knotete er um seinen Hals zusammen. Seine Keule war zerbrochen, als er den Löwen auf den Kopf geschlagen hatte; so stark waren die Knochen des Tieres. Da hieb er sich eine andere Keule, und so ging er immer mit der Keule und dem Löwenfell. Nun kam Herkules wieder zurück nach Tirhns und ließ dem Könige sagen, daß der Löwe tot sei. Da fürchtete Eurystheus sich sehr vor ihm und ließ sich unter der Erde eine Kammer von Erz machen, in die ging er hinunter, wenn Herkules kam, und es war ein Gitter daran, durch das sprach er mit ihm und befahl ihm, hinzugehen und die Hydra von Lerna tot zu schlagen. 2.

Die Hydra von Lerna. Diese Hydra war eine große Schlange, so lang wie ein Schiff, die hatte neun Köpfe und wohnte im Sumpf von Lerna. Herkules setzte sich auf einen Wagen, und sein Freund Jolaus lenkte die Pferde, und sie fuhren hin nach Lerna. Die Hydra verkroch sich vor Herkules, der nahm seinen Bogen und wickelte Werg mit Pech und Schwefel um die Pfeile, zündete das an und schoß damit auf die Hydra in das Loch hinein, wo sie sich unter der Erde verkrochen hatte. Da fuhr sie aus dem Loch heraus und auf Herkules zu. Herkules packte sie mit der einen Hand um den Hals, wo die neun Köpfe saßen, sie wand sich aber mit ihrem langen Schwanz um sein eines Bein. Herkules schlug mit seiner Keule auf die Köpfe und schlug sie entzwei, wenn aber ein Kopf zerschlagen war, so wuchsen zwei andere wieder heraus. Nun schlug er immer mit der Keule

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Heldensagen.

auf die Köpfe der Hydra, und immer wuchsen wieder neue heraus, und er wäre nicht mit ihr fertig geworden, wenn nicht sein Freund Jolaus bei ihm gewesen wäre. Der hieb Bäume um und legte die Stücke zusammen und machte ein großes Feuer; nun nahm er große brennende Stücke, und wenn Herkules einen Kopf zerschlagen hatte, so brannte er ihn damit, dann wuchsen keine anderen wieder heraus. Als alle Köpfe entzwei geschlagen waren, war die Hydra tot, und Herkules tauchte die Spitzen seiner Pfeile in ihr Blut, das war so giftig, daß, wenn der Pfeil die Haut nur ritzte, so starb der Mensch oder das Tier. Das war der zweite Kampf, den Herkules auf Befehl des Eurystheus voll­ brachte, wie Apollo es ihm befohlen hatte. 3. DerEbervomErymanthus.

Darauf verlangte Eurystheus, daß er den wilden Eber vom Erymanthus lebendig bringen sollte. Der Erymanthus ist ein Berg in Arkadien, da wohnte dieser Eber und lief in alle Kornfelder und Gärten und verwüstete die, und wenn die Leute mit Spießen gegen ihn gingen, so warf er sie nieder und verwundete sie mit seinen großen Hauern, daß sie starben. Da ging Herkules auf den Erymanthus und dachte, daß der Eber gegen ihn laufen sollte, wie gegen andere Jäger, und dann wollte er ihn greifen; aber der Eber ward bange vor ihm und lief weg. Herkules lief ihm nach, und der Eber immer vor ihm her und sprang in der Angst in eine tiefe Schlucht, die war voll Schnee; denn auf den Bergen von Arkadien liegt tiefer Schnee wie auf den Alpen. Da hafte Herkules eine Schlinge von einem starken Tau ge­ macht, und die warf er ihm um die Beine und den Leib, als er zappelte, um herauszukommen; er zog ihn herauf zu sich, warf das Tier auf seine Schultern und trug ihn nach Tiryns. Der Eber lag auf dem Rücken, mit den Beinen in die Höhe, und grunzte und schlug mit dem Kopf und den Beinen, aber er konnte sich nicht losmachen.

Herkules.

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4. Der Gürtel der Hippolyta.

Die Amazonen waren ein Volk von lauter Weibern, die auf Pferden ritten und Krieg führten und so tapfer waren wie Helden; ihre Königin hieß Hippolyta, diese hatte einen kostbaren Gürtel von Gold mit Edelsteinen, den hatte ihr Mars geschenkt. Von diesem Gürtel hatte Eurystheus gehört, und er wollte ihn für seine Tochter Admeta haben; deshalb befahl er Herkules, daß er ihn bringen solle. Herku­ les ließ in Griechenland bekannt machen, daß er gegen die Amazonen in den Krieg ziehen wolle, und daß tapfere Männer mit ihm gehen könnten. Er ging mit einem Schiff und nahm die, welche zu ihm gekommen waren, mit sich. Als er nach dein Lande der Amazonen gekommen war, ließ er der Königin Hippolyta wissen, weswegen Euryst­ heus ihn geschickt habe. Hippolyta wußte, daß Herkules Eurystheus gehorchen müsse, weil Apollo es ihm befohlen

hatte, und wollte ihm den Gürtel schenken; aber die Ama­ zonen wollten es nicht leiden und griffen Herkules und seine Gefährten an. Da ward eine große Schlacht gefoch­ ten, die auf vielen Basreliefen abgebildet ist. Die Ama­ zonen fochten zu Pferde und Herkules und seine Beglei­ ter zu Fuß, und wenn Herkules nicht gewesen wäre, so würden die Frauen gesiegt haben. Aber Herkules schlug sie in die Flucht und nahm Hippolyta gefangen; er tat ihr aber nichts zu Leide und ließ sie wieder los, als er

ihren Gürtel bekommen hatte.

5. Die Äpfel der Hesperiden.

Da befahl Eurystheus dem Herkules, daß er ihm die goldenen Äpfel der Hesperiden bringen sollte. Als Juno

Hochzeit mit dem Jupiter machte, schenkte sie ihm goldene Äpfel, die legte er in die Erde im Garten der Nymphen, die Hesperiden heißen, und daraus wuchsen Bäume, die wie-

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Heldensagen.

der goldene Äpfel trugen. Die hätten viele gern stehlen mögen, und deswegen mußten die Hesperiden selbst den Gar­ ten bewachen und hielten einen großen Drachen darin, der hundert Köpfe hatte. Herkules aber wußte gar nicht, wo der Garten sei, und mußte erst viele Tage umher­ gehen, bis er erfuhr, wo der sei. Auf dem Wege begegnete ihm Antäus, der war ein Sohn der Erde und gewaltig stark, der rang mit allen, die er antraf und brachte sie um; denn wenn einer so stark war, daß er Antäus zu Boden warf, so sprang er gleich wieder auf, weil die Erde seine Mutter war und ihn immer stärker machte, wenn er sie berührte, und wenn er den Gegner niedergeworfen hatte, so brachte er ihn um. Wie Herkules das merkte, daß Antäus stärker ward, wenn er ihn auf die Erde warf, so hob er ihn zwischen seinen Armen in die Höhe, daß er die Erde auch nicht mit den Füßen berührte, und drückte die Arme so fest, daß Antäus starb. Dann kam er an den Kaukasus, das ist ein sehr hoher Berg gegen Sonnenaufgang; an einer Wand dieses Berges, die ganz steil war und so hoch, daß niemand hinauskommen konnte, hatte Jupiter den Gott Prometheus mit Ketten anschmieden lassen, zur Strafe dafür, daß er das himm­ lische Feuer den Menschen auf die Erde gebracht hatte. Alle Tage kam ein Adler, der ihm in die Seite hackte. Herkules nahm seinen Bogen und schoß den Adler tot und bat Jupiter, daß er Prometheus loslassen solle, und das tat Jupiter, und Prometheus kam wieder auf den Olympus zu den andern Göttern.

Endlich kam Herkules zu Atlas, der am Rand der Erde stand und das Himmelsgewölbe mit seinen Schultern trug, daß es nicht auf die Erde falle. Atlas war ein Riese, ein Vatersbruder der Hesperiden, und Herkules bat ihn, daß er seine Nichten überreden möchte, ihm Äpfel zu schenken. Herkules fürchtete sich nicht vor dem Drachen

Herkules.

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und würde den auch totgeschlagen haben; aber er wollte den Nymphen die Äpfel nicht mit Gewalt nehmen. Atlas ging für ihn zu den Hesperiden, und bis er wiederkam, nahm Herkules das Himmelsgewölbe auf seine Schultern. Die Hesperiden gaben ihrem Oheim drei Äpfel, die sollte er Herkules geben, wenn er verspräche, daß sie sie wieder bekommen sollten; denn alle wußten, daß Herkules hielt, was er versprach. Als Atlas zurückkam, wollte er Herkules immer stehen und den Himmel halten lassen, aber Herkules drohte, daß er ihn fallen lassen wollte, und da nahm ihn Atlas wieder und gab die Äpfel. Herkules trug sie zu Eurystheus und sagte ihm, daß er versprochen habe, sie wiederzugeben; Eurystheus hätte sie gern behalten, er wußte aber, daß Jupiter alsdann Herkules erlauben würde, ihn zu strafen, und so gab er sie wieder an Herkules, der brachte sie der Minerva, und die schickte sie an die Hesperi­ den. Das war die elfte Arbeit.

6. Der Höllenhund Cerberus.

Nun war noch eine Arbeit übrig, und wenn die vollendet war, so war der Herkules frei, und Eurystheus hatte ihm nichts mehr zu befehlen. Da gebot er, ihm den Hund Cerberus aus der Unterwelt heraufzubringen. Herkules ging an den Tänarus. Das ist ein hohes Vorgebirge in Griechenland, und in dem Felsen sind große Spalten und Höhlen, durch die inan in die Unterwelt hin­ absteigen kann, und da ging Herkules immer tiefer hinunter, bis er an den Fluß Styx kam, der um die ganze Unter­ welt herumfließt, wo Pluto König war. Über den Fluß geht keine Brücke, sondern Charon fährt mit einem Boot hinüber und herüber. Charon sagte, Herkules sei gar zu groß und schwer, und das Boot könne ihn nicht tragen, aber er mußte gehorchen.

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Heldensagen.

Pluto und Proserpina begrüßten Herkules freundlich und sagten ihm, er könne den Cerberus gern mitnehmen, wenn er ihn zwingen könnte und versprechen wollte, ihn wiederzubringen. Cerberus war so groß wie ein Elephant und hatte drei Köpfe und an den Köpfen eine Mähne von Schlangen, und sein Schwanz war eine große Schlange. Herkules hatte seine Rüstung angelegt, die Vulkan ihm geschenkt hatt'e, wickelte die Löwenhaut fest um sich und packte Cerberus beim Hals und zog ihn fort; die Schlange, die der Schwanz des Hundes war, biß ihn immer, aber Herkules ließ nicht los und stieg durch die Höhlen wieder hinauf, durch die er herabgekommen war, und als Cerberus herauskam und Licht sah, ward er erst ganz wütend, und der Schaum lief ihm aus dem Munde, und.wohin er fiel, wuchsen giftige Kräuter, woran die, welche sie essen, sterben. Alle, die den Cerberus sahen, flohen, und Eurystheus verkroch sich. Darauf brachte Herkules den Hund wieder zurück und gab ihn an Charon, daß er ihn mit seinem Boot an das andere Ufer des Styx fahren sollte. Das war die zwölfte und letzte Arbeit, und nun war Herkules wieder frei.

4. Dädalus und Ikarus. Die alten Ägypter gestalteten ihre Götterbilder so, daß Mensch und Tier sich darin gleichsam vermischten: einem Gott gaben sie einen Sperberkopf, einem andern Widder­ hörner, einem dritten einen Stierkopf. Der Sperberkopf bedeutete das allsehende Auge des Gottes, Widderhörner und Stierkopf die übermenschliche Stärke. Auch auf der großen Insel Kreta ward in uralten Zeiten, als König Minos dort herrschte, ein Wesen gött­ lich verehrt, das war ein Mensch mit einem Stierkopf. Es hieß der Minotaurus, und Menschenopfer wurden ihm dargebracht. Nur war der Minotaurus kein Bild, son­ dern er lebte. Der König Minos ließ ihm ein un­ terirdisches Haus bauen, das ersann der berühmteste

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Heldensagen.

Pluto und Proserpina begrüßten Herkules freundlich und sagten ihm, er könne den Cerberus gern mitnehmen, wenn er ihn zwingen könnte und versprechen wollte, ihn wiederzubringen. Cerberus war so groß wie ein Elephant und hatte drei Köpfe und an den Köpfen eine Mähne von Schlangen, und sein Schwanz war eine große Schlange. Herkules hatte seine Rüstung angelegt, die Vulkan ihm geschenkt hatt'e, wickelte die Löwenhaut fest um sich und packte Cerberus beim Hals und zog ihn fort; die Schlange, die der Schwanz des Hundes war, biß ihn immer, aber Herkules ließ nicht los und stieg durch die Höhlen wieder hinauf, durch die er herabgekommen war, und als Cerberus herauskam und Licht sah, ward er erst ganz wütend, und der Schaum lief ihm aus dem Munde, und.wohin er fiel, wuchsen giftige Kräuter, woran die, welche sie essen, sterben. Alle, die den Cerberus sahen, flohen, und Eurystheus verkroch sich. Darauf brachte Herkules den Hund wieder zurück und gab ihn an Charon, daß er ihn mit seinem Boot an das andere Ufer des Styx fahren sollte. Das war die zwölfte und letzte Arbeit, und nun war Herkules wieder frei.

4. Dädalus und Ikarus. Die alten Ägypter gestalteten ihre Götterbilder so, daß Mensch und Tier sich darin gleichsam vermischten: einem Gott gaben sie einen Sperberkopf, einem andern Widder­ hörner, einem dritten einen Stierkopf. Der Sperberkopf bedeutete das allsehende Auge des Gottes, Widderhörner und Stierkopf die übermenschliche Stärke. Auch auf der großen Insel Kreta ward in uralten Zeiten, als König Minos dort herrschte, ein Wesen gött­ lich verehrt, das war ein Mensch mit einem Stierkopf. Es hieß der Minotaurus, und Menschenopfer wurden ihm dargebracht. Nur war der Minotaurus kein Bild, son­ dern er lebte. Der König Minos ließ ihm ein un­ terirdisches Haus bauen, das ersann der berühmteste

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Dädalus und Ikarus.

Künstler, der damals lebte, Dädalus. Der Bau hatte so verworrene und durcheinanderlaufende Gänge, daß die armen Opfer, die hineingeführt wurden, sich notwendig ver­ irren mußten und niemals wieder den Ausgang fanden. Dann kam der Minotaurus und fraß sie. Der Bau aber hieß das Labyrinth. Minos wollte nicht, daß Dädalus anderswo das Ge­ heimnis dieses kunstvollen Bauwerks verriete, darum ließ er ihn nicht aus Kreta fortziehen, sondern hielt ihn in strenger Haft. Da saß er denn mit seinem Söhnchen Ikarus in einem hohen Turm und sann, wie er mit seinem Kinde entfliehen könne. Minos hat mir den Weg Übers Meer versperrt, so will ich denn den Weg durch die Luft neh­ men, die kann der König nicht sperren! so sprach Dädalus zu sich. Er beobachtete nun genau den Flug der Vögel, und wie ihre Flügel eingerichtet sind, womit sie sich durch die Lüfte tragen lassen. Er verschaffte sich Vogelfedern und legte sie so neben­ einander, daß ein riesengroßer Flügel entstand, zuerst lange Federn, dann immer kürzere, und alles in Bogen und gewölbt. Mit Fäden und mit Wachs wurden die Federn zusammengehalten. Der Knabe stand dabei und sah ver­ wundert das Kunstwerk sich bilden, er half das gelbe Wachs kneten und blies zum Spiel in die Flaumfedern, daß sie sich bewegten.

Als ein Flügelpaar vollendet war, legte Dädalus es an, prüfte die Schwingen, und siehe da! es ging ganz gut, er hob sich, schwebte und lernte bald auch steuern. Voller Freude schuf er nun auch ein kleineres Flügelpaar, legte es dem Knaben an und übte mit ihm so lange, bis er zuletzt auch schweben und steuern konnte. Dann belehrte er ihn, daß er immer hinter dem Vater her fliegen müsse, nur nicht tiefer, damit nicht die feuchte Luft die Flügel beschwere und er hinabgezogen würde ins Meer. Aber er dürfe auch nicht zu hoch fliegen, denn dann käme er der Sonne zu nahe, und das Wachs könne leicht schmelzen. 3

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Heldensagen.

Und als nun alles fertig war, gab er unter Tränen dem Söhnlein einen Abschiedskuß, und dann schwang er sich vom Turm hinab. Ikarus folgte, und sie flogen hin­ tereinander, wie wenn ein Vogel sein ungeübtes Junge zum ersten Fluge ausführt. Unten aber standen die Men­ schen und staunten. Die Angler ließen ihre Angel, die Hirten lehnten sich auf ihren Stab und starrten in die Luft, die Pflüger hielten ihr Gespann an und sahen hin­ auf, alles lief zusammen, und einer rief dem andern zu: Seht einmal, da fliegen Götter, die wollen die Menschen besuchen! Dann kamen sie ans Gestade des Meeres, und kühn und sicher ging es nun über der brausenden, unend­ lichen Flut dahin.

Als Ikarus sich immer sicherer fühlte, da wurde er übermütig, denn er war.ja noch ein Knabe. Er wollte gern einmal sehen, wie es droben aussähe in dem strahlen­ den Himmelsblau; aber da geschah das, was der Vater befürchtet hatte, die Sonne brannte heißer und heißer, und nun ging es — tropf, tropf! Das Wachs schmolz und troff hinunter ins Meer. Ehe Ikarus es merkte, lösten sich die einzelnen Federn seiner Flügel voneinander, sie fingen nicht mehr die Lüfte auf, er schwang vergebens die nackten Arme und rief vergebens seinen Vater um Hilfe an. Er sank immer schneller, bis auf das blaue Meer, da verschwand er in der schrecklichen Tiefe. Jetzt sah der Vater sich um, aber er erblickte den Ikarus nicht mehr. Ikarus! rief er, wo bist du? wo soll ich dich suchen? Endlich sah er tief unten auf dem Meere Federn schwimmen, da erkannte er, was geschehen war. Eine kleine Insel war in der Nähe, dorthin senkte Dädalus seinen Flug und wartete, ob der Leichnam des Ikarus nicht angetrieben käme. Und als das endlich geschah, da bestattete er den Leib auf der Insel und gab ihr zum Andenken an sein unglückliches Kind den Namen Jkaria. Dann legte er wieder seine Flügel an und flog weiter bis nach Sizilien. Dort blieb er bis an sein Ende.

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Troja.

5. Aus der Sage von Troja. 1. Wie die Griechen vor Troja zogen.

Als der König Peleus mit der Meergöttin Thetis Hochzeit machte, waren viele Götter dazu geladen, nur Eris nicht, weil sie die Göttin der Zwietracht war. Sie kam aber trotzdem an die Schwelle des Hochzeitshauses und warf einen goldenen Apfel hinein, darauf stand: Der Schönsten! Die Götterkönigin Hera, Athena und Aphrodite wollten eine jede den Apfel haben. Sie gingen nun auf den Berg Ida und fragten den Sohn des Königs Priamos von Troja, Paris, der dort die Herde weidete, wer von ihnen die Schönste sei. Heimlich hatte Aphrodite ihm vbrher gesagt, wenn er sie als die Schönste erkläre, solle er das schönste Weib auf der Erde zur Frau bekommen. Da gab Paris der Aphrodite den Apfel. Im Zorn schieden Hera und Athena. Nun galt Helena, die Gattin des Königs Menelaos in Sparta, als die schönste Frau auf Erden. Das hatte Paris vernommen, er reiste darum nach Sparta und kehrte als Gast beim König ein. Durch schmeichlerische Worte überredete er zuletzt die Helena, daß sie mit ihin Ziehen solle nach Troja. Das geschah denn auch, und eines Tages war der Gast mitsamt der Königin verschwunden.

Menelaos ging zu allen Fürsten in Griechenland, sie sollten ihm helfen, sein Weib dem frechen Räuber wie­ der abzunehmen. Alle waren empört über die frevelhafte Verletzung des heiligen Gastrechts und sagten ihm Hilfe zu. Die Fürsten wählten sich Agamemnon, den Bruder des Menelaos, den König von Mykene, zu ihrem obersten Feldherrn und zogen auf vielen Schiffen in die Ebene vor Troja. Aber die Helena bekamen sie nicht. 3*

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Heldensagen.

Da lagen denn die griechischen Heere zehn lange Jahre vor der Stadt und konnten sie nicht erobern. Der tapferste aller Griechen war Achilles, der Sohn des Peleus und der Meergöttin Thetis, der erfahrenste war der alte Nestor, der listigste Odysseus; des Achilles Herzensfreund war Patroklos. Von den fünfzig Söhnen des Priamos war Paris wohl der schönste, aber der tapferste war Hektor. & 2.

Hektors Abschied. Hektor verließ den heißen Kampf auf einige Zeit und ging zur Stadt, damit seine Mutter zur Göttin Athena um Abwendung der furchtbar vordringenden Griechen flehe. Als er dies vollbracht hatte und nun wieder hinaus wollte, begegnete ihm am Tore seine sittsame und verständige Gattin Andromache mit einer Sklavin, die ihr das kleine, unmündige Knäblein nachtrug. Das zärtliche Weib vergoß Tränen bei seinem Anblick, nahm sanft seine Hand und sprach zu ihm: „O mein Trautester, dich tötet noch dein Mut. Bleib doch einmal bei uns und erbarme dich des unmündigen Kindes und deines elenden Weibes. Ach, wenn ich dich verliere, wer soll mich schützen? Meine Mutter ist gestorben, meinen Vater und sieben Brüder hat Achilles in Cilicien erschlagen, und du gehst nun auch von mir, da die Griechen schon unsere Mauern bestürmen. O, bleib doch hier auf dem Turme!" „Liebes Weib," versetzte Hektor, „wie kann ich? Ruht nicht auf mir die Errettung der Stadt, und sieht nicht alles Volk auf mich? Müßte ich mich nicht vor den Weibern schämen, wenn sie mich zuschauend auf der Mauer erblick­ ten? Freilich wird auch mein Bemühen wohl fruchtlos sein, denn mir sagt es mein Geist: kommen wird der Tag, da Troja in Asche versinkt und Priamos edles Geschlecht er­ lischt. Und dann wehe dir, armes Weib, wenn ein stolzer Achäer dich als Sklavin wegführt, daheim in Argos für seine Frau zu weben oder aus der fernen Quelle Wasser

Troja.

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zu holen, und die Leute dich neugierig anschauen und sagen: das war Hektors Gemahlin, die hochgeehrte Trojaner­ fürstin, als jene berühmte Stadt noch stand. — Ach, das zu hören! Unglückliches Weib! Und ich kann dich nicht aus der Knechtschaft erretten, denn ich vernehme deine Klage nicht mehr, und meine Asche deckt der Totenhügel!"

Jetzt wandte er den wehmütigen Blick von der Gattin auf den zarten Knaben im Arme der Dienerin. Als er aber die Hände nach ihm ausstreckte, fürchtete sich das Kind vor dem Helmbusch und drückte sein Köpfchen fest an den Busen des Mädchens. Da nahm der Vater den Helm ab und setzte ihn auf die Erde, und nun schauete er dem Knäblein freundlich ins Gesicht, und es folgte ihn« willig in seine Arme. Da wiegte er es auf und ab mit herzlicher Vaterfreude, küßte es und wandte brünstig flehend den Blick zum Himmel. „Gütige Götter," rief er, „erfüllt mir das eine: laßt dies mein Knäblein stark und brav werden, daß es mächtig vorstrebe vor anderen und seinem Volke ein tapfrer Hort sei, daß die Männer, wenn er vom Treffen heimkehrt, sagen: der übertrifft noch den Vater. Des müsse sich dann die gute Mutter erfreuen!"

Er sprach's und gab das Kind der weinenden Gattin, die es sanft an ihren Busen drückte, lächelnd in Tränen. Auch ihn ergriff unbezwingliche Wehmut. Er streichelte das gute Weib mit der Hand und sagte tröstend: „Arme Fran, du mußt auch nicht gar zu traurig sein. Des Menschen Leben ruht in der Hand der Götter, und keiner wird mich wider mein Geschick zu den Toten hinabsenden. Wem aber das Los einmal fällt, der muß folgen, er sei edel oder gemein. Geh nur jetzt an deine Geschäfte, besorge Spindel und Webstuhl und halte die dienenden Weiber zum Fleiß an. Der Krieg ist das Geschäft der Männer, und mir ge­ ziemt er unter allen Trojanern am meisten." Er nahm seinen Helm auf und eilte von dannen. Auch sie ging mit dem Kinde, doch stand sie oft still, ihm nachzusehn. Erst in ihrem Gemach ergoß sich der volle

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Heldensagen.

Strom der Tränen, und mit ihr schluchzten die Sklavinnen, denn sie alle liebten sie und den edlen Hektor; es ward viel von ihm gesprochen, und den Frauen ahnte nichts Gutes; sie betrachteten ihn als einen, der schon gestorben war.

3. HektorsTod.

Was bisher den Ausgang des Krieges so lange ver­ zögert hatte, war besonders ein Zwist zwischen Agamemnon und Achilles, der die Folge hatte, daß der letztere eine zeitlang an dem Kriege gar keinen Teil nahm. Nur erst, da sein Herzensfreund Patroklos vom Hektor erschlagen ward, erhob dieser Löwe sich wieder, allen zum Verderben. Fürchterlich war sein Wüten in der Schlacht, einen nach dem andern durchbohrte seine nie fehlende Lanze oder er­ reichte sein flüchtiger Fuß. Dieser eine jagte den Trojanern mehr Schrecken ein, als alle anderen zusammen genommen. Ihn aber konnte alles Blut der Erschlagenen nicht sättigen, bis er nicht an dem Mörder seines Freundes seine Rache gestillt hatte. Diesen suchte er allenthalben auf dem weiten Gefilde; aber Hektor entzog sich ihm den ganzen Tag. Erst am Abend, als sich die Scharen der Trojaner in die Stadt zurückzogen, faßte er ein Herz und beschloß, den Wüten­ den zu erwarten.

Doch als er nun den Feind wie mit Göttergewalt daherstürmen sah, entsank ihm der Mut wieder, und er wandte sich zur Flucht. Wie die Taube, die ein Habicht verfolgt, so floh er längs der Stadtmauer hin; aber Achilles, laut jauchzend, setzte ihm mit raschen Schenkeln nach. Bald rechts, bald links sprang der vordere ab, den Hintern Läufer zu ermüden; aber umsonst. Dreimal jagte ihn Achilles unt die Stadt herum; endlich stand er er­ schöpft still und rief jenem zu:

. „Halt, Sohn des Peleus, länger entfliehe ich dir nicht. Ich will dir stehen, ich töte dich nun oder falle. Aber

Troja.

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laß uns vor den allsehenden Göttern einen Bund beschwören, daß der Sieger den Getöteten nicht mißhandle." „Kein Bund ist zwischen uns beiden!" rief Achilles entgegen. „Macht auch der Löwe mit Rindern, der Wolf mit Lämmern Verträge? Jetzt gedenke des Kampfs! Aber ich hoffe, du sollst mir nicht entrinnen." Wort und Wurf war eins. Doch Hektor, schnell aufs Knie sich werfend, vermied die entsetzliche Lanze, die weit über ihn hin in den Sand fuhr. Freudig aufspringend rief er aus: „Gefehlt, du göttlicher Achilles! Jetzt wahre deine Brust, du törichter Schwätzer!" Und mit gewaltigem Krachen fuhr Hektors Spieß in Achilles Schild. Leider war dieser Schild undurchdring­ lich, und Achilles, der den Spieß schnell ergriff, stieß ihn dem Unglücklichen in die Kehle, daß er sinnlos nieder­ stürzte.

Sterbend wiederholte Hektor noch die Bitte, seinen Leichnam nicht zu schänden, aber bei-Achilles war kein Erbarmen. Er durchstach ihm die Füße zwischen Ferse und Knöchel, zog einen Riemen hindurch und knüpfte ihn an den Hinterteil seines Wagens. So schleifte er ihn längs dem Tore hin, zum bittersten Schmerz des alten Vaters und aller übrigen Trojaner, die oben auf der Mauer stan­ den, und eilte dann mit ihm dem Lager zu, wo er ihn, unkenntlich gemacht durch Blut und Staub, unter freiem Himmel den Hunden zum Fraße liegen ließ.

Jetzt erst nahm er das feierliche Leichenbegängnis seines Freundes Patroklos vor. Diesen wollte er ehren, wie noch kein Freund geehrt worden wäre, und zu dem Ende lud er alle Griechen zu dieser festlichen Handlung ein. Ein großer Scheiterhaufen ward aufgebaut; in der Mitte desselben ward Patroklos rein gewaschener Leich­ nam gelegt und ringsum die Leiber zwölf gefangener Tro­ janer, die Achilles lebendig ergriffen und mit eigner Hand am Grabe seines Freundes geschlachtet hatte. Daß er Hek­ tors Leichnam nicht mit verbrannte, geschah aus Zorn,

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Heldensagen.

er wollte diesem die Ehre des Feuers nicht gönnen. Als der Holzstoß niedergebrannt war, wurden die Knochen des Freundes aus der Asche hervorgesucht und mit Fett ver­ mischt in eine goldene Urne gelegt, die man zuletzt unter einen weitragenden Grabeshügel vergrub. Hierauf ordnete Achilles, dem Freunde zu Ehren, ritter­ liche Spiele an seinem Grabe an und setzte für die Sieger köstliche Preise, Sklavinnen, Pferde, Maultiere, Kessel, Becken, Trinkschalen, Goldbarren, Harnische und dergleichen aus. Die Spiele bestanden im Wagenrennen, im Wettlauf, im Ringen, im Scheibenwerfen, im Lanzenwurf und im Faustkampf. Aber noch immer war dem leidenschaftlichen Sinne des Achilles kein Genüge geschehen. In einer schlaf­ losen Nacht erhob er sich von seinem Lager, spannte seine Rosse an und schleifte Hektors Leichnam noch dreimal um des Freundes Totenhügel. 4.

Trojas Untergang. Der alte Priamos fuhr des Nachts auf einem mit Maultieren bespannten Wagen hinaus in das griechische Lager und bat den Achilles unter Tränen, er möge ihm wenigstens den Leichnam Hektors überlassen, damit er ehr­ lich bestattet werde. Achilles ließ sich erbitten, und Pria­ mos bereitete seinem Sohn ein feierliches Begräbnis. Aber bald darauf fiel Troja. Der starke Achilles wurde durch einen Pfeilschuß getötet, den Paris sandte, Apollo, der Freund der Trojaner, lenkte den Pfeil. Da fertigten die Griechen auf den Rat des schlauen Odysseus ein riesen­ großes hölzernes Pferd, das war hohl, und ijt ihm verbargen sich viele bewaffnete Männer. Die Griechen waren aus dem Lager verschwunden, sie stellten sich, als wären sie nach Hause gefahren. Als die Trojaner das Lager leer sahen, stürzten sie alle vor Freuden heraus; sie hielten das hölzerne Pferd für ein Geschenk an die Götter und be­ schlossen, es in die Stadt Troja zu bringen. Als Lao-

Troja.

Odysseus.

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tonn, der Priester des Poseidon, die Trojaner warnte und sagte, man könne den Griechen nicht trauen, kamen zwei Schlangen aus dem Meere aufgestiegen, wanden sich um Laokoon und seine beiden Söhne und bissen alle drei tot. Da sagten die Trojaner, das sei eine Rache der Götter für das Mißtrauen, das Laokoon gehabt hätte, und das Pferd wurde nun unter lautem Jubel an Stricken zur Stadt gezogen. Weil das Tor zu niedrig war, wurde ein Teil der Stadtmauer eingerissen. Am Abend wurden große Jubelfeste in Troja gefeiert wegen des Abzugs der Feinde, und dann sanken alle sorgenlos in tiefen Schlaf.

Da kletterten die bewaffneten Männer aus dem hölzernen Pferd heraus, zeigten ihren Freunden, die unter­ dessen zurückgekommen waren, den Weg durch die nieder­ gerissene Stelle der Stadtmauer, und es begann in den Straßen Trojas eine wilde Schlacht. Was nicht fiel unter der Schärfe des Schwertes, das wurde gefangen nach Griechenland geschleppt, zuletzt ging ganz Troja in Flam­ men auf; die Kostbarkeiten, die in der Stadt waren, wur­ den von den Griechen erbeutet und mitgenommen. Aber nicht alle Griechen kamen in die Heimat zurück, einige erst nach langer Irrfahrt, und manche, die glücklich zurück­ kamen, fanden daheim Unheil und Elend.

6. Odysseus. 1. Wie die Götter beschlossen, daß Odysseus heimkehren sollte.

Alle Götter waren im Olymp versammelt, im Palaste des Zeus, des Götterkönigs, nur der Meergott Poseidon nicht. Der war zu einem Opferschmaus in ein fernes Land gefahren, weit über dem Meer. Athena freute sich, daß Poseidon nicht da war, denn nun konnte sie doch ihren Vater Zeus bitten, er möge Hermes als Boten zur Nymphe Kalypso senden mit dem Befehl, sie müsse den Odysseus

Troja.

Odysseus.

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tonn, der Priester des Poseidon, die Trojaner warnte und sagte, man könne den Griechen nicht trauen, kamen zwei Schlangen aus dem Meere aufgestiegen, wanden sich um Laokoon und seine beiden Söhne und bissen alle drei tot. Da sagten die Trojaner, das sei eine Rache der Götter für das Mißtrauen, das Laokoon gehabt hätte, und das Pferd wurde nun unter lautem Jubel an Stricken zur Stadt gezogen. Weil das Tor zu niedrig war, wurde ein Teil der Stadtmauer eingerissen. Am Abend wurden große Jubelfeste in Troja gefeiert wegen des Abzugs der Feinde, und dann sanken alle sorgenlos in tiefen Schlaf.

Da kletterten die bewaffneten Männer aus dem hölzernen Pferd heraus, zeigten ihren Freunden, die unter­ dessen zurückgekommen waren, den Weg durch die nieder­ gerissene Stelle der Stadtmauer, und es begann in den Straßen Trojas eine wilde Schlacht. Was nicht fiel unter der Schärfe des Schwertes, das wurde gefangen nach Griechenland geschleppt, zuletzt ging ganz Troja in Flam­ men auf; die Kostbarkeiten, die in der Stadt waren, wur­ den von den Griechen erbeutet und mitgenommen. Aber nicht alle Griechen kamen in die Heimat zurück, einige erst nach langer Irrfahrt, und manche, die glücklich zurück­ kamen, fanden daheim Unheil und Elend.

6. Odysseus. 1. Wie die Götter beschlossen, daß Odysseus heimkehren sollte.

Alle Götter waren im Olymp versammelt, im Palaste des Zeus, des Götterkönigs, nur der Meergott Poseidon nicht. Der war zu einem Opferschmaus in ein fernes Land gefahren, weit über dem Meer. Athena freute sich, daß Poseidon nicht da war, denn nun konnte sie doch ihren Vater Zeus bitten, er möge Hermes als Boten zur Nymphe Kalypso senden mit dem Befehl, sie müsse den Odysseus

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Heldensagen.

endlich in seine Heimat entlassen. Poseidon zürnte näm­ lich dem Odysseus, weil er den Polyphem geblendet hatte, den Sohn des Poseidon, und wollte ihn darum verderben, wenn er auf dem Meere in seine Heimat Ithaka zurück­ fahren sollte. Athena sagte, wenn doch alle Götter die Heimkehr des Odysseus wollten, dann müsse sich der eine Poseidon darein fügen. Zeus stimmte zu, und Athena selbst schwebte hinunter nach Ithaka, sie nahm die Gestalt eines Mannes aus Ithaka an und trat in die Halle des Odysseus, wo sein junger Sohn Telemach saß, das Haupt traurig gesenkt, mitten unter der Schar übermütiger Freier. Diese Männer betrachteten seit Jahr und Tag des Odysseus Palast als ihr eigenes Haus, schmausten, tranken und spielten nach Herzenslust und quälten die Gemahlin des Odysseus, Pene­ lope, sie sollte einen von ihnen zum Gemahl wählen, weil ja ihr Gatte, der vor zwanzig Jahren fortgezogen war in den Kampf gegen Troja, längst tot sein müsse. Athena riet nun dem Telemach, er solle die Freier aus dem Haus weisen und solle mit einem Schiff nach Pylos fahren und nach Sparta, um den alten Nestor und den Menelaos nach seinem Vater zu befragen. Telemach gefiel dieser Rat, und er sagte sofort den Freiern, sie sollten das Haus seines Vaters verlassen. Aber die Freier höhnten und spotteten ihn aus, Antinoos an der Spitze. Sie wollten alle lieber bleiben.

Am andern Tag fuhr Telemach zu Nestor, der ihm aber keine Kunde von feinem Vater geben konnte. Ähnlich ging es in Sparta, wo Helena ihn tröstete und Mene­ laos wenigstens das Eine wußte, daß ein Weissager ihm einmal verkündet hätte, Odysseus sei nicht tot, sondern werde von einer Nymphe Kalypso auf einer Insel zurück­ gehalten. Athena selbst begleitete den Telemach auf dieser Reise, in Gestalt des treuen Mentor aus Ithaka, der ein Freund des Odysseus gewesen war. Als die Freier von der Seefahrt des Telemach erfuhren, beschlossen sie, ihm

Odysseus.

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mit Schiffen aufzulanern und ihn auf seiner Heimfahrt in der Nähe von Ithaka zu ermorden. 2. Wie Odysseus von Kalypsowegfuhr und Schiffbruch litt.

Als Hermes, der Götterbote, von Zeus geschickt, auf die Insel kam, fand er den Odysseus am Felsgestade sitzen, da blickte er immerfort da hinaus, wo Ithaka lag, über das weite, wüste Meer, weinte und wünschte, er könnte wenigstens den Rauch aufsteigen sehen von seiner lieben Heimat. Aber Ithaka war dafür viel zu weit. Kalypso wohnte in einer großen Felsengrotte, Pappeln und Zypressen standen umher, Weinstöcke rankten sich den Fels hinan, schwer mit köstlichen Trauben belastet, Habichte, Baum­ eulen und Krähen nisteten in den Bäumen, vier klare Quellen rieselten über grüne Wiesen, wo Veilchen blühten. Die Göttin bewirtete den Hermes mit Speis und Trank, aber als er seinen Auftrag ausgerichtet hatte, klagte sie laut, denn sie hätte gern den Odysseus als Gemahl behalten. Dennoch widersprach sie nicht, sie suchte den Odysseus auf, der immer noch gramvoll aufs Meer blickte, und teilte ihm den Ratschluß der Götter mit. Er dürfe sich ein Floß zimmern, sagte sie, um darauf heimwärts zu fahren, denn ein Schiff gäbe es nicht auf diesem Eiland. Da fällte sich denn Odysseus Bäume und baute sich ein Floß mit Mast und Steuer und Segel. Am fünften Tag war alles vollendet, Kalypso brachte einen Schlauch mit Wein und einen mit Wasser, auch einen Korb voll Speisen, da fuhr Odysseus ab. Als er achtzehn Tage gefahren war, sah er das Land der Phäaken. Da fügte es sich, daß Poseidon aus Äthiopien zurück­ fuhr. Wie er so über das Meer blickte, bemerkte er ein ein­ sames Floß, darauf saß ein einziger Mann, und wie er noch genauer hinsah, erkannte er den Odysseus, den er so haßte. Da erzürnte der Meergott, er wühlte mit seinem Dreizack die

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Heldensagen.

Salzflut auf und sammelte Wolken am Himmel. Nacht legte sich auf das Meer, und zu gleicher Zeit bliesen Winde aus Ost und Süd, aus Westen und Norden, die Wogen wälzten sich hoch und höher heran, das Floß wirbelte im Kreis, das Steuer und der Mast zerbrachen, das Segel flatterte fort ins Meer hinaus, und Odysseus hielt sich nur noch mit Mühe an den Balken. Da tauchte die Meergöttin Leukothea wie ein Schwan aus den Wellen, warf ihm ihren Schleier zu und sagte: „Zieh all deine Gewänder aus und hülle dich in diesen Schleier, damit kann man nicht untergehen, dann wirf dich ins Meer, und wenn du ans feste Land getrieben bist, wirf mir meinen Schleier wieder zurück in die Wellen, aber mit abgewandtem Antlitz!" Das tat er und schwamm dahin, in den Schleier gehüllt. Poseidon war inzwischen verschwunden, das benutzte Athena, sie hemmte schnell alle Winde außer dem Nordwind, der trieb den Schiffbrüchigen am dritten Tage auf einen Strand. Er warf den Schleier ins Meer, wie ihn Leukothea geheißen hatte, dann arbeitete er sich bis in eine Waldung, die er vor sich sah, und warf sich todmüde ins Laub. Schlamm und Seegras deckten ihn an Stelle der Kleidung, er kroch unter Blätter und sank in tiefen Schlaf. 3. Wie Odysseus bei den Phäaken gastlich ausge­ nommen wurde.

Auf der Insel Scheria herrschte der König Alkinoos über das Volk der Phäaken. In jener Nacht eilte Athena ins Schlafgemach Nausikaas, des Königstöchterleins, und flüsterte ihr die Mahnung zu, morgen mit ihren Mäg­ den an den Meeresstrand zu fahren, um feine Gewänder, Gürtel und Teppiche zu waschen. Mit reichlicher Speise versehen, auch mit einem geißledernen Schlauch voll Weins, fuhren sie in aller Frühe mit einem Maultiergespann hin­ aus. Als die Wäsche in den gemauerten Waschgruben ge-

Odysseus.

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stampft und dann im Meer gespült war, wurde sie zum Trocknen an den Strand ausgebreitet, die Mädchen aber erquickten sich an Speise und Trank und vergnügten sich dann mit Tanz und Ballspiel. Auf einmal flog ein Ball in das Meer, und die Mädchen kreischten darüber so hell auf, daß die Berge widerhallten.

Davon erwachte Odysseus, und er wußte nicht, ob die Stimmen von Nymphen kämen oder von Menschenmädchen, Um Gewißheit zu erhalten, brach er Zweige ab, damit ver­ hüllte er sich, und trat dann aus dem Walde heraus, da kreischten die Jungfrauen erst recht auf und flohen vor dem wilden Meermann. Nur Nausikaa behielt Mut, und Odysseus redete sie an; er sagte, er sei ein armer schiff­ brüchiger Mann, der zwanzig Tage umhergetrieben sei auf der Salzflut; sie sollte ihm Kleider geben und den Weg nach der Stadt weisen. Da warf die Königstochter ihm Gewänder zu, und Odysseus wusch sich von Schlamm rein und erschien dann in dem weiten, faltigen Mantel, das Haupthaar mit Ol gesalbt, vor den Mädchen. Voller Begier aß und trank er, was man ihm reichte.

Dann wurde die reine Wäsche auf den Wagen ge­ legt, und Nausikaa lenkte selbst die Mäuler, auf dem Wagen stehend. Die Mägde und Odysseus folgten zu Fuß. So kamen sie, als die Sonne.eben untergehen wollte, in den Königshof. Der Fremdling wurde als Gast herrlich be­ wirtet und flehte die Königin an, sie möge ihn heim­ senden. Das wurde ihm versprochen. Nach dem Mahle erzählte er seine Meerfahrt auf dem Floß, Namen und Herkunft nannte er nicht, danach fragte auch keiner. Dann ließ ihm die Königin in der Halle ein Lager bereiten mit purpurnen Polstern.

Am andern Morgen gab es Kampfspiele zu Ehren des Gastes, es wurden Reigentänze veranstaltet, und ein Sänger sang Lieder von den Taten der Helden und Götter. Nach dem Abendschmaus sang er wieder, diesmal von den Taten der Griechen vor Troja, von dem hölzernen Roß

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Heldensagen.

und von Odysseus. Da kamen dem edlen Dulder die Tränen, und er seufzte und griff nach dem Purpurvorhang vor ihm, damit wischte er die Augen, daß niemand ihn weinen sähe. Aber der König hatte es doch bemerkt, er hieß den Sänger aufhören; denn nicht allen sei sein Lied zur Lust, Schwermut und Betrübnis habe es in dem werten Gast erweckt. „Sage mir, edler Fremdling," so wandte sich der König jetzt an Odysseus, „wer du bist, dein Land, dein Volk und deine Geburtsstadt. Denn unsre Schiffe sollen dich ja doch in die liebe Heimat tragen, darum müssen wir das wissen. Ist dir vielleicht ein Verwandter gefallen vor Troja, weil die Lieder von Troja dich so traurig ge­ macht haben?" Da sagte der Fremdling: „Ich bin ja der Odysseus, von dem eben der Sänger gesungen hat, daß er das hölzerne Roß ersonnen habe, durch das Troja nach zehn Jahren endlich erobert wurde, der Sohn des Laertes, der Beherrscher von Ithaka. Und ich bin immer noch nicht in meine Heimat zurückgelangt nach Trojas Untergang. Immer bin ich seitdem umhergeirrt auf dem öden Meer und auf Inseln. Ich will euch all die Irrfahrten erzählen, die ich bestanden, seit ich von Troja wegzog." Da blickten alle mit Staunen auf die hohe Heldengestalt und lauschten mit Spannung. Wir wollen auch etwas hören von seinen Irrfahrten.

4. Wie Odysseus den Kyklopen blendete.

Mit vielen Schiffen war Odysseus mit seiner Mann­ schaft weggesegelt von Troja ab, der Heimat zu. Aber ein Orkan kam und verschlug sie zu den Lotusessern nach Afrika, wo sie gastlich ausgenommen wurden. Ungern fuhren die Gefährten weiter, denn süßen Lotus zu essen, bei dessen Genuß man alles Schlimme vergaß, was man erduldet hatte, das gefiel ihnen gar zu gut.

Odysseus.

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Sie landeten dann an der Insel der Kyklopen. Gegen­ über lag ein einsames Eiland, das menschenleer schien. Odysseus wollte es erkunden und fuhr mit seinem Schiff hinüber. Sie entdeckten dort am Meeresufer, hoch auf einem Felsen, eine Grotte, mit Lorbeer umwuchert, vor der zahl­ reiche Ziegen und Schafe lagerten, ringsum war ein Ge­ hege von mächtigen Steinen, Fichten und Eichen. Odysseus stieg mit zwölf der tapfersten Gefährten hinauf, sie nahmen einen Schlauch mit voll süßen, dunkelroten Weines, denn sie dachten, damit könnten sie sich vielleicht die Leute, die dort wohnten, geneigt machen. Sie fanden die Höhle offen, aber von Bewohnern war nichts zu erblicken. Ringsum standen Körbe voll Käse, Melkeimer voll Milch und große Kannen voll Molken; in Ställen waren viele Lämmer und Zicklein eingesperrt. Sie entzündeten ein Feuer und aßen von dem Käse, und als es Abend ward, kam ein baumlanger Riese herein, der hatte nur ein Auge, mitten auf der Stirn. Er war vom Stamme der Kyklopen, das heißt auf deutsch Rund­ augen, und er war der Eigentümer und einzige Bewohner der Höhle. Mit Gekrach warf der Riese ein Bündel Holz zur Erde, das er zur Feuerung mitgebracht hatte, dann trieb er viele Schafe und Ziegen herein. Aber den Ein­ gang zur Höhle verschloß er mit einem Felsen, so groß, daß nicht zweiundzwanzig vierräderige Wagen ihn weg­ gefahren hätten. Nun entzündete er den Holzstoß, das war die Beleuchtung zur Abendmahlzeit. Wie er dann die Schafe und Ziegen melkte, entdeckte der Ungeschlachte die Fremden und brüllte sie an, wer sie wären. Odysseus sagte, sie kämen von Troja, ihr Schiff hätte Poseidon zerschmettert, und sie allein seien übrig geblieben von allen Gefährten, er niöge ihnen ein Gastgeschenk reichen.

Da griff das Ungeheuer zwei Männer heraus, fraß sie auf, wie ein Löwe tut, nichts ließ er übrig, auch nicht die Knochen. Dann trank er ganze Kübel voll Milch und entschlief. Gern hätte ihn Odysseus jetzt mit dem Schwerte

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Heldensagen,

durchbohrt, aber wer hätte ihnen dann den Stein von der Türe gewälzt? Am Morgen verzehrte der Niese nochmals zwei Männer zum Frühstück, dann trieb er die Herde aus und legte den Felsblock vor den Eingang. Odysseus sah drinnen die ge­ waltige Keule des Ungeheuers liegen, groß wie ein Schiffs­ mast, aus Holz vom Olbaum; da glätteten sie das eine Ende mit Messern und spitzten es, indem sie es im Feuer drehten, damit wollten sie dem Riesen sein einziges Auge ausbohren. Am Abend ging es gerade wie gestern: der Kyklop kam und schloß die Tür, zündete Feuer an, melkte, fraß zwei Menschen und wollte dann seine Milch trinken. Da schenkte Odysseus aus seinem Schlauch eine hölzerne Kanne voll Wein und bot dem Kyklopen den Trunk. Der schmeckte ihni so, daß er dreimal die Kanne leerte. Er fragte beit Fremden nach seinem Namen, dann wollte er ihm ein Gastgeschenk reichen. „Niemand ist mein Name," sagte Odysseus, „Niemand nennen mich alle Leute." Da grinste das Ungetüm und sagte: „Niemand, dich freß ich zuletzt, das soll dein Gastgeschenk sein," da taumelte er trunken und entschlief mit Geschnarch. Schnell wurde der Pfahl in der Flamme gedreht, und als die Spitze glühte und funkelte, da faßten alle die Keule und stießen machtvoll die Spitze in das Auge des Riesen; alsbald dröhnte ein grauenvolles Schmerzgeheul. Das hallte so laut, daß ringsum die Kyklopen erschrocken vor die Höhle kamen und fragten, was da wäre. „Niemand tut mir etwas," schrie der Kyklop, „Niemand bringt mich um." Da lachten die Nachbarn und sagten: „Du dummer Polyphem, was brauchst du dann so zu schreien, wenn dir niemand was zu leid tut!" Da gingen sie wieder heim. Als es dämmerte, setzte sich der Kyklop an den Ein­ gang, nahm den Felsblock weg und tappte nach den hin­ ausziehenden Tieren, um die Fremdlinge zu finden. Aber Odysseus hatte jedesmal drei Widder mit Reisig anein-

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andergebunden und unter jedes mittlere Tier einen der Männer gebunden. Aber den mächtigsten Schafbock hatte er sich selber ausgesucht, den faßte er am Rücken und wälzte sich unter seinen Bauch, die Hände fest in die Woll­ flocken gedreht. Jedes Tidr betastete der Riese, ob jemand darauf säße, aber er dachte nicht, daß auch jemand darunter hängen könne. Als zuletzt auch der stärkste Widder langsam hinausging, denn er trug eine schwere Last, be­ fühlte ihn Polyhem sorgsam und sagte: „Liebes Tierlein, sonst bist du immer der erste, warum kommst du denn jetzt zuletzt? Und warum gehst du so langsam? Das tust du sicher aus Trauer über die Blendung deines Herrn." Dann ließ er den Widder hinausgehen. Als die Herde eine Strecke von der Höhle entfernt war, ließ zuerst Odysseus seinen Widder los, dann löste er auch die Freunde. Und als sie im Schiff saßen, höhnte er laut den Kyklopen, der riß im Zorn einen Fels vom Gebirge los und schleuderte ihn dem Schalle nach. Dicht hinter den: Steuer fiel der Block ins Meer, daß das Meer hoch auf­ schwoll und das Schiff ans Ufer zurückwarf.

Als sie wieder weggerudert waren, doppelt so weit wie vorhin, rief noch einmal Odysseus: „Höre, KyUop, wenn du gefragt wirst, wer dich geblendet hätte, dann sage: Odysseus, des Laertes Sohn aus Ithaka, hat das getan!" Da hob der Kyklop die Hände und rief: „Poseidon, du bist mein Vater, erhöre mich, gib, daß dieser Odysseus nicht mehr heimkehrt in sein Land Ithaka." Und Poseidon hörte das Gebet. Da nahm Polyphem einen noch größeren Fels­ block und warf ihn mit allen Kräften dem Schiff nach, daß der Stein wieder dicht hinter dem Steuer ins Meer sauste, und das Schiff wurde wieder ans Ufer zurückge­ trieben. Sie ruderten aber aus Leibeskräften und kamen bald zu den andern Schiffen, doch beraubt der lieben Ge­ nossen.

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Abenteuer bei Äolos und Kirke, und Fahrt an den Eingang zur Unterwelt. Es dauerte nicht lange, so kamen sie an eine schwim­ mende Insel, wo Äolos wohnte, der Beherrscher der Winde. Er nahm sie gastlich auf und schenkte dem Odysseus zum Abschied einen Schlauch, darin waren alle widrigen Winde verschlossen, daß sie den Schiffen nichts anhaben konnten. Er blies ihnen den Zephyr, den sanften Westwind, in die Segel, da flogen sie unaufhaltsam dahin und sahen endlich nach neun Tagen und Nächten die Feuerwachen auf Ithakas Vorgebirge. Odysseus stand am Steuer, schlaflos, aber nun glaubte er, sei seine Wachsamkeit nicht mehr not, und er entschlummerte vor Müdigkeit. Die Gefährten waren neu­ gierig, welche Schätze an Gold und Silber wohl im Schlauch wären, sie öffneten ihn, und siehe! da fuhren alle Winde heraus, die Schiffe wirbelten durcheinander und flogen dann wieder nach Westen bis zur schwimmenden Insel des Äolos. Mit Schmähworten jagte der sie von sich, er sagte, sie seien vom Zorne der Götter verfolgt, ihnen könne nie­ mand helfen.

Da steuerten sie weiter und kamen an eine schöne Insel, wo die schönlockige Göttin Kirke wohnte. Zwei Tage rasteten sie in einer lieblichen Bucht, wo es menschenleer war. Dann erklomm Odysseus einen Felsen, um zu er­ kunden, ob keine Menschen da wären. Er erlegte einen mächtigen Hirsch und brachte ihn den Genossen. Dann schickte er eine ganze Schar auf weitere Kundschaft. Er selbst ging nicht mit. Sie kamen vor Kirkes Palast, da umringten sie Wölfe und Bären, die wie Hunde sie freund­ lich wedelnd begrüßten. Aus dem Palaste aber trat Kirke in strahlender Götterschönheit. Mit schmeichelnden Worten geleitete sie die Frem­ den in die Halle und setzte ihnen Speise und Trank vor; als ihnen aber ein Weinmus gerade besonders schmeckte.

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schlug sie mit ihrem Zauberstab auf sie, da wurden alle zu borstigen Schweinen; man jagte sie in die Kosen und gab ihnen Eicheln, die Mast der erdaufwühlenden Schweine. Nur einer war zeitig geflohen, der erzählte dem Odysseus alles.

Nun begab sich dieser allein auf den Weg, in der Hoffnung, er könne die Freunde erlösen. Da begegnete ihm der Gott Hermes, der offenbarte ihm alle Ränke der Zauberin; dann riß er ein Kräutlein aus der Erde, das hatte eine schwarze Wurzel und eine milchweiße Blüte und hieß Moly: wenn er das genossen, könne der Zauber ihm nicht schaden. Als nun Odysseus zu Kirke kam und sie ihm auch Weinmus gereicht hatte wie den anderen, da schlug sie ihn auch mit dem Stab und rief auch wieder: „Marsch, in den Schweinekofen!" aber er blieb ein Mensch, drang mit dem Schwerte auf Kirke ein und zwang sie, die Freunde wieder in Menschen zu verwandeln. Von da ab war auch Kirke wie verwandelt. Sie be­ handelte alle die Jrrfahrer liebreich und gastlich und ent­ ließ sie erst nach einem vollen Jahre. Sie hieß den Odysseus unbekümmert hinaussegeln auf das Meer, dann kämen seine Schiffe ganz von selbst an den Eingang zur Unterwelt. Dort solle er den abgeschiedenen Geistern opfern und. nach dem Schatten des Sehers Tiresias rufen, der stiege dann herauf und sagte ihm, was er weiter tun solle. Sie handelten nach Kirkes Geheiß, fanden alles genau so, wie sie gesagt hatte, und befragten den Schatten des Tiresias. Der sagte, wenn sie auf die Insel Thrinaksa kämen, wo die Herden des Sonnengottes weideten, und wenn sie diese Herden nicht antasteten, dann würden sie glücklich heim gelangen. Wenn sie aber von den Rindern welche töteten, dann würden alle Schiffe untergehen und alle Gefährten umkommen, nur Odysseus allein käme spät, auf fremdem Schiss, nach Ithaka. Er weissagte auch, wie sein Schicksal sein würde bis zu seinem Tode. Odysseus sprach auch mit den Schatten vieler Helden, die vor Troja

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Heldensagen.

gefallen waren, und mit dem Schatten seiner Mutter und schaute alle Geheimnisse der Unterwelt.

6. Abenteuer bei den Sirenen, an der Charhbdis und Skylla. Sie steuerten zur Insel der Kirke zurück, da gab die Göttin ihnen genau an, wie sie die Gefahren der Sirenen, der Skylla und Charybdis vermeiden könnten. Dann ging es weiter, wie sie glaubten, der Heimat zu. Sie nahten der Insel der Sirenen, das waren schöne Jungfrauen, die herrlich sangen, nur hatten sie Vogel­ füße und fraßen die Leute, die sie durch ihren Gesang auf ihre Insel gelockt hatten. Nach Kirkes Rat verstopfte Odysseus den Gefährten t>ie Ohren mit Wachs, nur sich selbst nicht. Dafür ließ er sich fest an den Mastbaum binden. Da kamen lockende Töne an sein Ohr: „Komm, lenke das Schiff ans Land, preiswerter Odysseus, unsere Honigstimmen zu hören. Wir wissen alles, was auf Erden geschah, und was die Himmlischen sinnen. Jeder kehrt weiser zurück von hier; komm, lenke das Schiff ans Land, preiswerter Odysseus!" So sangen sie.

Wirklich glaubte Odysseus den Sängerinnen und winkte den Freunden zu, sie sollten ihn doch losbinden. Aber er hatte ihnen vorher streng befohlen, wenn er vielleicht winken sollte, dann sollten sie ihn nur noch fester binden. Das taten sie denn auch, und so entrannen alle den locken­ den Sirenen.

Nun kamen sie in die Meerenge an der Insel Thrinakia. Auf der einen Seite war eine wilde Brandung, die hieß Charybdis, da wurde abwechselnd das Wasser wie in einen Trichter eingesogen, daß man in einen schwarzen Abgrund hinabsah, und dann wieder mit Gezisch und Donnern ausgespieen, daß der Gischt zum Himmel hinauf­ spritzte; die Schiffe, die in diesen Wirbel hineingerieten,

Odysseus.

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wurden in die Tiefe gerissen und kamen nur als Trümmer wieder in die Höhe.

Vermied man aber die Charybdis, dann kam man der Skylla ganz nahe, die gerade gegenüber in einer Felsen­ kluft lauerte. Das war ein Ungeheuer mit zwölf Füßen und sechs Hälsen, auf jedem Hals saß ein Kopf mit drei Reihen von Zähnen; dies Untier schnappte nach den Vor­ überfahrenden, um sie zu fressen. Odysseus hatte seinen Freunden nur von dem Wirbel erzählt, denn den hielt er für die schlimmere Gefahr, und weil sie dem Wirbel auswichen, kamen sie der Skylla so nahe, daß sie sechs tapfere Genossen wegschnappte. Das war der erbarmens­ werteste Anblick, den Odysseus auf allen seinen Irrfahrten hatte. So wurden ihrer immer weniger.

Jetzt hatten sie Thrinakia vor sich und hörten schon die Rinder des Sonnengottes brüllen. Sie landeten, und trotz aller Ermahnungen ihres Gebieters stürzten sich die halb verhungerten Männer auf die schönen Herden und schlachteten so viele Rinder, als sie zum Mahl zu bedürfen glaubten.

Voll banger Ahnung ging Odysseus wieder zu Schiffe, und wirklich, die Rache des Sonnengottes kam nur allzu­ schnell. Dunkle Gewitternacht legte sich auf das Meer, die Stürme heulten, und zuletzt sandte Zeus einen Blitz, daß alle Schiffe krachend auseinander barsten und die See­ fahrer wie die Seevögel die Schiffe umschwammen, aber einer nach dem andern versank in die Tiefe. Nur Odysseus hatte sich an den Mast geklammert, als dieser zersplittert ins Meer gesunken war. Da saß er denn rittlings und trieb und trieb, bis er in der zehn­ ten Nacht an die Insel getrieben kam, wo die Nymphe Kalypse wohnte. Diese nahm ihn freundlich auf und be­ wirtete ihn gastfrei, aber sie ließ ihn nicht los, sieben lange Jahre.

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Heldensagen.

7. Wie Odysseus in seine Heimat ;urückkehrte. Tiefe Stille herrschte in der Halle, als der edle Dulder seine Erzählung geendet hatte, mit Entzücken hatten alle gelauscht und bewegten nun nochmals alles in ihren Ge­ danken. Am andern Tage rüstete Alkinoos ein Schiff und ließ viele kostbare Gastgeschenke an Bord schaffen. Odysseus schaute den ganzen Tag nach der Sonne, ob sie nicht bald sinken wolle, denn abends sollte das Schiff abfahren. Endlich dunkelte es, noch ein Ehrentrunk in der Runde, Händedruck und herzliche Abschiedsworte, dann ging es wirk­ lich der Heimat zu, endlich, endlich! Die ganze Nacht hindurch flog das Schiff dahin, und der Dulder schlief friedlich und tief. Als im Osten der helle Stern aufstieg, der die Morgenröte anmeldet, nahte das Schiff dem Eiland Ithaka. In einer lieblichen Felsen­ bucht warf es die Anker aus, und die phäakischen Männer trugen den süßschlummernden Helden sanft ans Land. Da war eine Grotte, ein Heiligtum der Nymphen, dort leg­ ten sie den Schläfer ins weiche Gras, stellten all die herr­ lichen Gastgeschenke im Kreise um ihn und entfernten sich still. Als die Sonne hoch am Himmel stand, erwachte Odysseus. Er erkannte die Heimat nicht und weinte heftig, denn er meinte, er sei wiederum betrogen und an irgend einer einsamen Insel ausgesetzt worden. Da trat Athena zu ihm in Gestalt eines Hirten und sagte auf seine Frage, wo er wäre, dies Land sei Ithaka. Zugleich hob sie den Nebel, der die Landschaft verhüllte, da erkannte er alles genau. Nun war er also daheim, aber noch harrten seiner viele Gefahren. 8. Wie Odysseus sein Heim und die Seinen wie d ersah. Athena nahm ihre göttliche Gestalt wieder an und sprach dem Zagenden Mut ein, sie erzählte ihm, wie es

Odysseus.

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in seinem Hause zuginge und gab Rat, wie er die Freier seiner Gattin Penelope vertreiben solle. Sie rührte ihn an, da schrumpfte seine Heldengestalt zusammen, und er

wurde zu einem kraftlosen Greise, der war in Felle und Lumpen gekleidet und hatte einen verschabten, vielfach ge­ flickten Ranzen auf dem Rücken. So wanderte er zur Be­ hausung des Sauhirten Eumäos. Er wagte nicht, sich diesem zu entdecken, weil er seine Treue erst prüfen wollte; darum speiste er ihn mit Märchen ab und erfundenen Geschichten. Aber es zeigte sich, daß Eumäos seinem alten Herrn treu ergeben war und das Treiben der Freier von Herzen haßte.

Andern Tages kam auch Telemach zu Eumäos. Er hatte auf Athenas Rat einen andern Rückweg genommen, als er vorher gesagt hatte, und war so den Nachstellungen der Freier entgangen. Seinem Sohn entdeckte sich Odysseus, der geriet ganz außer sich vor Freude, und sie beide be­ schlossen den Tod der Freier. Telemach ging zur Stadt, um seiner Mutter Bericht zu geben über seine Reise. Eumäos folgte mit Odysseus nach.

Bor dem Tor des Palastes lag auf dem Miste ein alter Hund, der kaum noch die Glieder regen konnte, es war Argos, den Odysseus sich dereinst aufgezogen hatte. Der erkannte seinen Herrn trotz aller Verkleidung nach zwanzig Jahren wieder, er wedelte ihm freundlich mit dem Schweif und versuchte zu ihm zu kriechen, aber er war zu schwach dazu. Odysseus wischte sich eine Träne aus dem Auge bei dem Anblick solcher Treue. Und nun betrat er sein Heim wieder, wonach er sich so lange Jahre gesehnt hatte. Er durfte nicht hineintreten, nur an die Schwelle durfte er sich stellen und blickte in die Halle, wo die Freier tafelten, wohl hundert an Zahl. Ein anmaßender Bettler, namens Jros, war gewohnt, hier zu sitzen und von den Abfällen der Tafel sich zu sättigen, der empfing den neuen Mitesser, dafür hielt er den Frem­ den, mit Schimpfen und Drohworten. Aber wie Odysseus ihm einen einzigen, wie er meinte, sanften Schlag gab.

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Heldensagen.

fiel Jros zu Boden, und ein purpurner Blutstrom ent­ stürzte seinem Munde, da war er still. Die Freier lach­ ten laut und erlaubten dem fremden Manne zu bleiben, ja sie gaben ihm sogar einen gebratenen, mit Fett und Blut gefüllten Ziegenmagen, zwei Brote und eine Kanne Wein. Als jedoch nach einer Weile der Fremdling anfing von Odysseus zu reden, da warf der freche Antinoos mit einem Fußschemel nach ihm. Doch Telemach nahm ihn in Schutz, denn wenn der fremde Bettler auch schlecht ge­ kleidet war und einen vielfach geflickten Ranzen hatte, so war er doch sein Gast.

Ms Penelope von dem Fremdling hörte, ließ sie ihn einladen, die Nacht im Palaste zu bleiben; denn am Abend wollte sie ihn ausfragen, ob er vielleicht etwas von ihrem Gemahl wisse. Dann kam sie selbst in den Saal zu den Freiern und kündigte ihnen an, morgen solle ein Bogen­ kampf entscheiden, wen sie zum Gemahl nehmen wolle. Es lag. aber in der Bodenkammer, sorgsam verwahrt, das Schießzeug des Odysseus, ein mächtiger Bogen aus Horn, Köcher und viele Pfeile, auch zwölf Äxte> die dereinst dem König Odysseus zum Kampfspiel gedient hatten. Er pflegte sie alle zwölf in einer Reihe aufzustellen, so daß, mit einer Richtschnur gerichtet, die zwölf Ösen der Äxte genau in einer Linie standen. Dann pflegte er durch alle zwölf Ofen seine Pfeile zu jagen. Wem von den Freiern dies Spiel gelänge, aber mit dem Bogen des Odysseus, der solle Penelopes zweiter Gemahl werden. Da freuten sich die Freier, denn jeder dachte, ein solcher Schuß wäre für ihn kinderleicht. Als es Abend geworden war und alle Freier sich ent­ fernt hatten, stieg Penelope wieder hinab in den Saal zu dem Fremdling. Odysseus wollte sich noch nicht ent­ decken, darum erzählte er, daß er aus Kreta sei, wo er den Odysseus gesehen hätte. Er beschrieb ihn so genau, daß Penelope ihm alles glaubte, er wußte auch allerlei

Odysseus.

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von des Odysseus Irrfahrten. Jetzt, so sagte er, weile ihr Gatte bei den Phäaken, die versprochen hätten, ihn auf einem Schiff nach Ithaka zu bringen. Jeden Augenblick könne er kommen. Trotzdem erkannte Penelope ihren Ge­ mahl nicht, denn Athena hatte ihn ja alt und unansehn­ lich gemacht. Penelope ließ die alte Schaffnerin Eurykleia kommen, die einst des Odysseus Amme gewesen war, die sollte ihm die Füße waschen. Beim Waschen glitt ihre Hand über seine Knie, wie erschrak sie da! Sie hatte eine Narbe ge­ fühlt, die sie sehr wohl kannte, ein Eber hatte sie einst auf der Jagd dem jungen Odysseus mit dem Hauer ge­ rissen. Sie stieß in ihrem freudigen Schreck das Wasch­ becken um, denn sie wußte jetzt, daß der Bettler Odysseus wäre. Der aber hielt ihr rasch den Mund zu und flüsterte, sie dürfe das Geheimnis jetzt noch nicht verraten. Penelope hieß nun dem Fremdling ein Lager im Vor­ saal bereiten und ging selbst in ihr Schlafgemach. Odysseus bestärkte sie noch, sie solle ja den Wettkampf morgen an­ ordnen. Sein Herz schlug freudig, denn er hatte die Treue seiner Gattin erkannt. 9. Wie Odysseus an den Freiern schreckliche Rache nahm.

Am andern Tage war das Fest des Neumondes und der Tag der Entscheidung, darum erschienen die Freier früher als sonst beim Gelage. Beim Schmause waren sie lauter und übermütiger als jemals. Wieder höhnten sie den fremden Mann, und einer warf sogar einen Kuh­ fuß nach ihm. Und dann lachten sie wieder alle mit ver­ zerrtem Grinsen, und einige weinten und klagten, es wäre ganz dunkel um sie her. Es war, als ob sie das schnell nahende Verhängnis im ahnenden Geiste schon erblickten. Da trat Penelope ein, in den Händen den Bogen des Odysseus. Auch den Köcher und die zwölf Äxte brachte

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Heldensagen.

sie, und man stellte die Äxte auf, wie es sich gehörte. Jedoch keiner der Freier konnte den Bogen spannen, auch Telemach versuchte es vergeblich. Die Freier riefen nach Fett, damit wollten sie den harten Bogen schmieren.

Da bat der Fremdling, ob er es versuchen dürfe den Bogen zu spannen. Mit Hohn und Entrüstung wurde ihm geantwortet, aber Telemach erlaubte es doch. Da streifte der Bettler seine Lumpen zurück, daß zwei sehnige, mächtige Arme bloß wurden, denn Athena verlieh ihm wieder jugendliche Kraft und Schönheit. Alle starrten ihn ent­ setzt an, schlimmer Ahnung voll. Wie im Spiel spannte er seinen alten, vertrauten Bogen, und schwirrend flog der Pfeil durch alle zwölf Äxte. Der Schütze stand auf der Schwelle des Saales, der Köcher mit den Pfeilen lag neben ihm, und er rief mit schrecklicher Stimme in den Saal hinein: „Jetzt wähle ich mir ein anderes Ziel, das noch kein Schütze getroffen hat, möge Apollo mir Ruhm gewähren!"

Da schwirrte der Pfeil, und Antinoos sank zu Boden, tödlich verwundet. Die Freier meinten zuerst, der Pfeil hätte durch einen unglücklichen Zufall getroffen, aber da rief der zürnende Odysseus: „Ich bin gekommen, um die Schmach meines Hauses zu rächen, ich bin Odysseus!" Und schon flog ein dritter Pfeil und traf einen Freier; Pfeil um Pfeil kam geflogen, und keiner verfehlte sein Ziel. Umsonst Tumult und Entsetzen und flehende Worte.

Ehe die Geschosse zu Ende gingen, schlüpfte Telemach mit Eumäos und dem treuen Rinderhirten durch ein Seitenpförtlein, und sie holten die bereitliegenden Waffen. Nun kämpften vier gerüstete Männer gegen die Freier, die sich umsonst wehrten mit Tischen und Schemeln, einige auch mit Schwertern. In dem gewaltigen Getümmel fielen nach und nach alle Freier, nur des Heroldes schonte der schreck­ liche Rächer und des Sängers, der flehend die hellklingende Harfe emporhielt. Die waren ja auch keine Freier.

Odysseus. Nneas.

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Dann ward der Saal gereinigt von all den Toten und dem Blut, und als Odysseus sich gebadet und gesalbt, ging er zu Penelope, die ihn endlich erkannte und selig in ihre Arme schloß. Am anderen Tage suchte der Held seinen alten Vater Laertes auf, den er im Baumgarten traf, wo er in harter Feldarbeit seinen Gram zu vergessen suchte. Als er er­ kannte, daß sein Sohn wirklich zurückgekommen sei, da entschwanden dem Greis die Sinne, und er sank in Ohn­ macht zur Erde. Bald aber erholte er sich und gab ver­ ständigen Rat, wie man die Freunde und Verwandten der toten Freier versöhnen könne. Als diese wirklich, ange­ stiftet von dem Vater des Antinoos, Rache nehmen woll­ ten, da trat Athena selbst in die Mitte der Zürnenden, und mit ihrer klugen Rede besänftigte sie alle. Sie glich dem treuen Mentor an Gestalt und an Stimme.

7. Äncas. Als Troja unterging, gelang es einem einzigen von all den fünfzig Söhnen des Königs Priamos, dem Äneas, aus der brennenden Stadt zu entkommen. Er trug seinen alten Vater Anchises auf dem Rücken und führte sein Söhn­ lein Ascanius an der Hand. Im Getümmel ging ihm Kreusa, seine Gattin, auf immer spurlos verloren. Am Meeresstrand fand sich nach und nach ein Häuflein flüchti­ ger Trojaner zusammen, und bis zum nächsten Frühjahr hatten sie sich zwanzig Schiffe gebaut, auf denen segelten sie in das wilde Meer hinaus, um sich eine neue Heimat zu suchen. Nach mancherlei Irrfahrten landeten sie an der Küste von Nordafrika, in Karthago. Dort herrschte die Königin Dido, die war eine Königstochter aus dem Lande Phönizien. Sie war eine Witwe und wollte, ähnlich wie die Kalypso den Odysseus, den Helden Äneas bei sich be­ halten, daß er ihr Gemahl sein solle. Aber Zeus schickte den Hermes zu Äneas mit dem Befehl, er müsse weiter-

Odysseus. Nneas.

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Dann ward der Saal gereinigt von all den Toten und dem Blut, und als Odysseus sich gebadet und gesalbt, ging er zu Penelope, die ihn endlich erkannte und selig in ihre Arme schloß. Am anderen Tage suchte der Held seinen alten Vater Laertes auf, den er im Baumgarten traf, wo er in harter Feldarbeit seinen Gram zu vergessen suchte. Als er er­ kannte, daß sein Sohn wirklich zurückgekommen sei, da entschwanden dem Greis die Sinne, und er sank in Ohn­ macht zur Erde. Bald aber erholte er sich und gab ver­ ständigen Rat, wie man die Freunde und Verwandten der toten Freier versöhnen könne. Als diese wirklich, ange­ stiftet von dem Vater des Antinoos, Rache nehmen woll­ ten, da trat Athena selbst in die Mitte der Zürnenden, und mit ihrer klugen Rede besänftigte sie alle. Sie glich dem treuen Mentor an Gestalt und an Stimme.

7. Äncas. Als Troja unterging, gelang es einem einzigen von all den fünfzig Söhnen des Königs Priamos, dem Äneas, aus der brennenden Stadt zu entkommen. Er trug seinen alten Vater Anchises auf dem Rücken und führte sein Söhn­ lein Ascanius an der Hand. Im Getümmel ging ihm Kreusa, seine Gattin, auf immer spurlos verloren. Am Meeresstrand fand sich nach und nach ein Häuflein flüchti­ ger Trojaner zusammen, und bis zum nächsten Frühjahr hatten sie sich zwanzig Schiffe gebaut, auf denen segelten sie in das wilde Meer hinaus, um sich eine neue Heimat zu suchen. Nach mancherlei Irrfahrten landeten sie an der Küste von Nordafrika, in Karthago. Dort herrschte die Königin Dido, die war eine Königstochter aus dem Lande Phönizien. Sie war eine Witwe und wollte, ähnlich wie die Kalypso den Odysseus, den Helden Äneas bei sich be­ halten, daß er ihr Gemahl sein solle. Aber Zeus schickte den Hermes zu Äneas mit dem Befehl, er müsse weiter-

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Heldensagen.

segeln, denn Italien solle seine neue Heimat werden, und seine Nachkommen sollten dort eine Stadt bauen, die würde einst noch mächtiger werden wie Troja. Damit war Rom gemeint. Als Äneas Karthago verlassen hatte, nahm sich die Königin Dido in Verzweiflung das Leben, indem sie sich auf einem Scheiterhaufen selbst verbrannte. Äneas aber landete zunächst auf der Insel Sizilien, wo ihn ein Mann gut aufnahm, der früher in Troja sein Gastfreund gewor­ den war. Der alte Vater Anchises war auf der Irrfahrt gestorben, und als Äneas in Sizilien zu Ehren des Abge­ schiedenen Kampfspiele gefeiert hatte, wollten viele Ge­ nossen, der langen Meerfahrt müde, auf der schönen Insel bleiben. Als Äneas nicht wollte, verbrannten sie im Zorn die Schiffe. Da ließ Äneas die Schwachen und Weiber zurück und fuhr auf neuerbauten Schiffen mit auserwählten Gefährten weiter nordwärts, bis sie an der Mündung des Tiberstromes landeten, im Gebiete des Königs Latinns. Lavinia, die Tochter des Königs, war durch Schicksals­ spruch dazu bestimmt, die Gattin eines Fremden zu wer­ den, trotzdem hatte ihre Mutter sie mit dem Turnus ver­ lobt, dem König der Rutuler, während der Vater sie dem Äneas zur Gattin versprach. Da entspann sich eine er­ bitterte Fehde, die damit endete, daß Äneas siegte und sich mit Lavinia vermählte. Nach des Latinus Tode wurde Äneas König über das lateinische Land.

Nach ihm herrschte sein Sohn Askanius, und der er­ baute sich die Stadt Albalonga als Herrschersitz, das be­ deutet das lange Alba. Denn es lag am Albanersee, einem kreisrunden Bergsee, dessen Ufer wie die Wände eines Trich­ ters steil aufsteigen, so daß kaum Platz bleibt für eine Stadt. Die Häuser erstreckten sich darum in einer einzigen Gasse lang am Ufer hin.

Gründung Roms.

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8. Sagen von der Gründung Roms. 1.

Wie Rom erbaut wurde.

Es vergingen Jahrhunderte, und aus dem Stamm des Äneas herrschten zuletzt zwei Brüder in Albalonga. Der jüngere, Amulius, entriß seinem Bruder Numitor die Herrschaft, und als Rhea Silvia, die Tochter des Numi­ tor, Zwillingsknaben gebar, da fürchtete Amulius, diese Knäblein könnten ihn vom Throne stoßen, wenn sie ein­ mal groß geworden wären. Darum nahm er die Zwillinge ihrer Mutter weg, ließ sie in ein Körbchen verpacken und in die Tiber werfen. Aber der Strom trug das Körbchen gegen einen Feigenbaum, dessen Zweige über das Wasser hingen, da verfing sich das Körbchen in den Zweigen. Eine Wölfin kam und säugte die Kinder, so daß sie am Leben blieben. Dann fand sie ein Hirte, nahm sie voll Mitleid mit sich nach Hause und zog sie auf, als wären es seine eigenen Kinder. Er nannte sie Romulus und Remus. Die Zwillinge wurden groß und zeichneten sich vor allen Hirten aus durch Stärke, Kühnheit und Wildheit. Als sie mit den Hirten des abgesetzten Königs Numitor einen Streit hatten, wurde Remus gefangen vor Numitor gebracht. Und nachdem dieser ihn ausgefragt hatte, erkannte er, daß Remus sein Enkel sein müsse, und voller Freude behielt er ihn bei sich. Da hörte denn auch Romulus von seiner Herkunft, und die beiden sammelten alle Hirten um sich, zogen gegen Albalonga und töteten den Amulius, da wurde ihr Großvater wieder König über die Lateiner. Zum Dank schenkte er den Zwillingsenkeln den Berg Palatin an der Tiber, dicht bei der Stelle, wo damals das Körbchen am Feigenbaum hängen geblieben war. Auf diesem Berg wollte nun Romulus eine Stadt bauen. Er begann damit, daß er einen Graben um die Bergeshöhe zog und eine Mauer dahinter errichtete. Remus spottete über das niedrige Mäuerchen und sprang darüber. Da ergrimmte Romulus so, daß es zu heftigem Streit kam

Heldensagen.

zwischen den Brüdern und Romulus zuletzt im Zorne den Remus erschlug. Er herrschte nun allein über sein neu­ gebautes Städtchen, das noch keine Häuser hatte. Um Leute herbeizulocken, die sich dort ansiedeln sollten, erklärte er die Stadt, die er nach seinem eigenen Namen Rom genannt hatte, als Freistätte für alle, die wegen eines Verbrechens verfolgt würden. Da sammelte sich denn allerlei Volks in Rom, die einen hatten gestohlen, andere waren Räuber ge­ wesen, andere hatten Menschen umgebracht aus Habgier oder im Drange der Leidenschaft, vielleicht auch aus Mordlust, noch andere waren unschuldig Verfolgte. Als Geburtstag von Rom wurde der 21. April alljährlich als Festtag ge­ feiert. Siebenhundertdreiundfünfzig Jahre vor Christi Ge­ burt ward Rom gegründet, über tausend Jahre lang hat man die Jahre nach Roms Gründung gezählt. Auf römi­ schen Münzen und sonstwo findet man oft eine Wölfin abgebildet, an der zwei Knäblein saugen, das galt als das Wahrzeichen Roms. 2.

Der Raub der Sabinerinnen. Frauen gab es keine in der Stadt des Romulus, und sie konnte doch ohne Frauen nicht bestehen. Niemand aus der Umgegend wollte seine Tochter einem Römer zum Weibe geben, denn sie sagten, die Römer wären ein zusammen­ gelaufenes Gesindel. Da ersannen die Römer eine List. Sie bereiteten Kampfspiele und Wettrennen vor, dazu luden sie die Quiriten ein, welche das Nachbarstädtchen bewohnten, eine halbe Stunde von Nom gelegen, auf dem Hügel Quirinal. Die Quiriten gehörten zu dem Volksstamm der Sabiner. Die Römer sagten aber ausdrücklich, die Sabiner müßten auch ihre Frauen und Töchter mitbringen. Die kamen auch gerne' mit, denn an Wettkämpfen hatten die Frauen und Mädchen großes Wohlgefallen. Als nun die Spiele der bewaffneten Römer im besten Gange waren, auf der Ebene

Gründung Roms.

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am Fuße der neuen Stadt, da packte jeder junge Römer eine junge Sabinerin und lief mit ihr in die Stadt. Und wie alle drinnen waren, schlossen sie die Tore zu und ließen niemand mehr herein. Die Sabiner standen draußen, schimpften und drohten, aber was half ihnen das? Man öffnete ihnen doch nicht die Tore, und endlich zogen sie voller Wut ab. Bald kamen sie wieder und legten sich mit einem Heere vor Nom, um es zu belagern. Da er­ schienen auf den Mauern alle geraubten Sabinerinnen und riefen herunter, es gefalle ihnen ganz gut hier, sie wollten nicht mehr nach Hause, sondern bei ihren Männern bleiben. Nun gab es ein großes Versöhnungsfest, die Römer und die Quinten schlossen Frieden und Bündnis. Ja, noch mehr: sie beschlossen, es solle eine große Mauer die beiden Nachbarstädte umschließen, und sie wollten dann eine einzige Stadt sein, darüber solle abwechselnd ein Römer und dann ein Sabiner König sein. Der Hügel, auf den, das eigentliche Rom lag, hieß Palatin. Zwischen dem Pala­ tin und dem Quirinal war ein kleiner, aber steiler Fels­ hügel, der hieß Kapitol, der war auch von der Stadt­ mauer mit umschlossen, auf diesem Kapitol sollten Götter­ tempel gebaut werden; am Fuß des Kapitols die Ebene, genannt das Forum, sollte Marktplatz werden, dort sollten Verkaufsbuden aller Art stehen, dort sollte Gericht gehal­ ten werden, sollte das Volk zur Beratung sich versammeln und sollten bei Festen Wettspiele veranstaltet werden. Und so geschah es. Nun war Rom eine große Stadt geworden, seine Mauern umschlossen drei Hügel. In den folgenden Zeiten wurden noch vier andere Hügel mit in die Stadt einbeschlossen, und Rom wurde darum auch die Sieben­ hügelstadt genannt. Aber die Stadt auf dem Palatin, welche nach Romulus genannt war, galt immer als das echte, alte Rom. Dort bauten sich auch die römischen Kaiser ihre prächtige Wohnung, die nannten sie nach dem Berge Palatium, und daraus sind die deutschen Benennungen Palast und Pfalz entstanden.

Druck von Julius Beltz, Hofbuchdrucker, Langensalza.